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https://de.wikipedia.org/wiki/Sonnentau
Sonnentau
Die Gattung Sonnentau (Drosera) zählt zur Familie der Sonnentaugewächse (Droseraceae) und bildet mit ihren über 200 Arten die zweitgrößte Gattung fleischfressender Pflanzen. Charakteristisch sind die mit Klebedrüsen besetzten Blätter der Pflanzen, die ihr den Fang von Beute und so das Gedeihen auch auf sehr nährstoffarmen Böden ermöglichen. Die Gattung ist annähernd weltweit verbreitet; Hauptverbreitungsgebiete sind Australien, Südamerika und Südafrika. Zahlreiche der Arten sind durch den Menschen gefährdet. Einige wenige Arten allerdings werden als Zierpflanzen geschätzt. Beschreibung Sonnentauarten sind selten ein-, meist aber mehrjährige krautige Pflanzen, rosettenbildend, aufrecht oder kletternd mit einer Wuchshöhe von einem bis einhundert Zentimetern, je nach Art. Kletternde Sonnentau-Arten können jedoch eine wesentlich größere Länge erreichen, über 3 Meter sind berichtet worden (Drosera erythrogyne). Sie können nachweislich ein Alter von über 50 Jahren erreichen. Die Gattung ist so sehr auf die Aufnahme von Stickstoff durch Insektenfänge spezialisiert, dass ihr, zumindest bei den Zwergsonnentauarten, das Enzym Nitratreduktase vollständig fehlt, das Pflanzen normalerweise zur Aufnahme von bodengebundenem Nitrat benötigen. Vegetative Vermehrung findet durch oberirdische Ausläufer, Stolonen, oder – je nach Wuchsform – durch Knollenbildung oder Brutschuppen statt. Wuchsformen Die Gattung lässt sich in verschiedene Wuchsformen einteilen: Temperierte Formen: Hierzu zählen alle in Europa vorkommenden Arten. Die Pflanzen ziehen zur Überwinterung in eine Überwinterungsknospe, einen sogenannten Hibernakel ein, aus dem sie im Frühjahr wieder austreiben (= Hemikryptophyt). Interessanterweise existieren von einigen solchen Arten auch Formen unter subtropischen bis tropischen Bedingungen, die keine Winterruhe einlegen und dementsprechend auch keine Hibernakel ausbilden (Langblättriger Sonnentau, Mittlerer Sonnentau). Subtropische Formen: Die Pflanzen haben unter klimatisch annähernd gleich bleibenden Bedingungen eine ganzjährige Vegetationsperiode. Zwergdrosera: Eine Gruppe von rund 40 australischen Arten, die sich durch Zwergwuchs, die Bildung von Brutschuppen und die Ausbildung einer dichten Behaarung im Herzen der Rosette auszeichnen. Diese dient der Pflanze dazu, sich vor der intensiven Sonne im australischen Sommer zu schützen. Sie entspricht der Sektion Bryastrum. Knollendrosera: Über vierzig australische Arten ziehen zur Überdauerung eines extrem trockenen Sommers in eine unterirdische Knolle ein, aus der sie im Herbst wieder austreiben. Diese sogenannten Knollendrosera werden weiter unterteilt in aufrechtwachsende, kletternde und rosettenförmige Arten. Die Gruppe entspricht weitgehend der Untergattung Ergaleium. Petiolaris-Komplex: Eine tropische Gruppe australischer Arten, die unter gleich bleibend hohen Temperaturen, aber in wechselfeuchten Bedingungen lebt. Einige der 14 Arten der Gruppe haben dazu spezielle Strategien herausgebildet, zum Beispiel eine dichte Behaarung, die gleichermaßen vor Austrocknung schützt wie zum Auffangen von Kondenswasser aus der Luft dient; dies ist etwa beim Morgentau der Fall. Sie entspricht weitgehend der Sektion Lasiocephala. Obwohl nicht durch eine Wuchsform im strengen Sinne definiert, wird häufig noch eine weitere Gruppierung angeführt: Queenslanddrosera: Eine kleine Gruppe dreier eng verwandter Arten (Drosera schizandra, Drosera prolifera und Drosera adelae), die bei extrem hoher Luftfeuchtigkeit und geringer Lichtintensität in tropischen Regenwäldern im Norden des australischen Bundesstaates Queensland gedeihen und dort endemisch sind. Sie bevorzugen allerdings unterschiedliche Mikrohabitate und kommen nie gemeinsam vor. Wurzeln Das Wurzelsystem der meisten Sonnentau-Arten ist nur schwach ausgeprägt. Es dient hauptsächlich der Verankerung der Pflanze im Untergrund und zur Wasseraufnahme; für die Nährstoffversorgung sind die Wurzeln nahezu bedeutungslos. Einige südafrikanische Arten speichern in ihrer Wurzel Wasser und auch Nährstoffe. Bei manchen australischen Arten sind zu diesem Zwecke Knollen als Speicherorgane angelegt; sie dienen zur Überdauerung der Pflanze in extremer Trockenheit. Die Pfahlwurzeln von Zwergsonnentauarten sind oft extrem verlängert im Verhältnis zu ihrer Größe, eine ein Zentimeter große Pflanze kann eine Pfahlwurzel von bis zu 15 Zentimetern Länge ausbilden. Stämmchenbildende Zwergsonnentauarten bilden häufig im Alter Stützwurzeln aus, die von der Krone herab zum Boden wachsen. Blätter Innerhalb der Gattung haben sich zahlreiche, teils sehr verschiedene Blattformen entwickelt, mit oder ohne Stiel. Die ungewöhnlichste Form hat dabei sicher die ein- bis mehrfach gegabelte Drosera binata. Je nach Art ist das gesamte Fangblatt unterschiedlich stark beweglich und unterstützt so den Fangvorgang, so kann der Kap-Sonnentau (Drosera capensis) sein Blatt um mehr als 360° biegen und seine Beute dadurch nahezu völlig einschließen. Siehe auch: Emergenzen bei Drosera Drüsen- oder Leimtentakel Unabhängig von ihrer Form zeichnen sich alle Sonnentauarten durch ihre mit klebrigen Sekreten besetzten Tentakel auf den Blättern aus, die bei allen Arten der Gattung bewegt werden können. Die Leimtentakel am Blattrand sind oft stark verlängert. Es handelt sich um gestielte Drüsen, die ein klebriges, zuckerhaltiges Sekret absondern, dessen Schimmern Insekten anzieht, die dann am Sekret kleben bleiben. Die Tentakeln in der unmittelbaren Umgebung um die Beute neigen sich daraufhin ebenfalls in Richtung des Fangs und verstärken so die Haftung und spätere Verdauung. Die gefangenen Tiere finden entweder durch Erschöpfung den Tod oder ersticken am zähen Sekret, das in ihre Tracheen einsickert und diese verstopft. Die Tentakel sondern derweil Enzyme wie Esterase, Peroxidase, Phosphatase und Protease ab, die nun die Beute langsam zersetzen und die darin enthaltenen Nährstoffe lösen. Die so gelösten Nährstoffe werden dann von den auf der Blattoberfläche sitzenden Drüsen aufgenommen und für den Wachstumsprozess verwendet. Letztere können bei einigen Arten aber auch fehlen, so zum Beispiel bei Drosera erythrorhiza. Schnelltentakel Der Begriff Schnelltentakel wurde Anfang des Jahrtausends von Jan Schlauer geprägt, weil diese aufwärts schnellen und dabei gleichzeitig sehr schnell sein können. Es handelt sich dabei um trockene, besonders lange Tentakel am Blattrand die bei Berührung, durch eine Biegung um 180°, die Beute rücklings in die Leimtentakel im Blattzentrum schleudern. Dieses Fangsystem wird auch als Katapult-Leimfalle bezeichnet. Die Bewegung findet in einer Gelenkzone statt, deren Funktion und Morphologie jedoch unterschiedlich ausfällt. Im Gegensatz zu den in alle Richtungen beweglichen, senkrecht auf der Blattoberfläche stehenden Leimtentakeln, können sich Schnelltentakel nur aufwärts oder abwärts bewegen, das jedoch aufgrund der breiten Basis recht kraftvoll und schnell. Sie kommen nur in der Untergattung Drosera vor. Viele Arten bilden zumindest als Sämlinge Schnelltentakel, bei ausgewachsenen Pflanzen kommen sie jedoch nur noch bei Arten mit einer basalen Rosette vor während sie bei aufrecht wachsenden Arten fehlen. Ihre Geschwindigkeit, Funktion und Morphologie unterscheidet sich in verschiedenen Sektionen. Für die Dauer des Fangvorgangs wurden bei Zwergdrosera (Sektion Bryastrum) Zeiten im zehntel-Sekunden Bereich gemessen. Am schnellsten ist der Vorgang bei D. glanduligera, wo er nur 75 ms dauert (Zum Vergleich: Venusfliegenfalle: 100 ms). Allerdings handelt es sich bei dieser Art um nur einmalig funktionierende Tentakel, da durch hohen hydraulischen Druck Zellen der Gelenkzone zerstört werden. Bei allen anderen Arten begeben sich die Tentakel nach einiger Zeit wieder in ihre Ausgangsposition. Nichtdrüsige Emergenzen Einige Arten (Sektion Arachnopus) haben neben den Fangtentakeln auch modifizierte Tentakeln entwickelt mit teils noch ungeklärter Funktion. Diese scheiden weder Fangsekrete noch Enzyme aus und unterscheiden sich in Größe und Struktur deutlich von Fangtentakeln. Im Falle von Drosera hartmeyerorum dienen sie möglicherweise der Anlockung durch ihre auffällige Färbung. Die auf den Fangblättern über die ganze Blattfläche verteilten Emergenzen von Drosera indica sind zwischen 0,1 und 1,0 mm klein, pilzförmig und besitzen bei australischen Varietäten einen halbkugelförmigen gelben Kopf, während afrikanische Varietäten einen transluziden, gewellt tellerförmigen Kopf aufweisen. Diese sind so klein, dass sie mit bloßem Auge kaum wahrnehmbar sind, eine optische Attraktivität für Insekten gilt daher als eher unwahrscheinlich. Bei Drosera hartmeyerorum befinden sich die gut sichtbaren, 3–4 mm großen, leuchtend gelben Emergenzen konzentriert an der Blattbasis der immer dunkelroten Fangblätter sowie über den dunkelroten sichelförmigen Brakteen des Blütenstandes, wo sie eine regelrechte Lichterkette bilden. Sie zeigen eine komplexe Struktur: Auf einem transparenten Tentakelstiel sitzt als Kopf eine aus wabenförmigen, transparenten Riesenzellen gebildete, linsenartige Struktur, die einfallendes Licht auf ein kompaktes, leuchtend gelbes Zentrum fokussiert. Fällt nun Licht auf die Emergenzenköpfe, leuchten diese hellgelb auf. Besonders durch die auf den roten Brakteen des Blütenstandes sitzenden „Linsententakel“ entsteht durch Lichteinfall eine regelrechte gelbe Lichterkette. Da Insekten eine andere Farbwahrnehmung haben, ist das Dunkelrot der Pflanze für sie ein fast schwarzer Hintergrund, vor dem die Emergenzen kontrastreich leuchten. Blüten, Früchte und Samen Die Blüten des Sonnentaus stehen, wie bei fast allen Karnivoren üblich, meist an sehr langen Blütenständen über der Pflanze, damit mögliche Bestäuberinsekten nicht durch die Blätter gefangen werden. Die meist ungegabelten Blütenstände sind in der Regel Wickel, deren Blüten sich einzeln öffnen und meist nur kurz blühen. Entscheidend für die Öffnung der Blüte ist vor allem die Intensität der Sonne; die Blütenstände sind außerdem „heliotrop“, wenden sich also zur Sonne hin. Des Weiteren wurde ein Schließen der Blüten bei mechanischer Stimulation beobachtet. Die radiären, zwittrigen Blüten sind immer einfach und fünfzählig; nur zwei Arten fallen diesbezüglich aus dem Rahmen, nämlich die vierzählige Drosera pygmaea und die acht- bis zwölfzählige Drosera heterophylla. Die Blüten der meisten Arten sind ausgesprochen klein (unter 1,5 cm), einige wenige (Drosera regia und Drosera cistiflora) haben jedoch Blüten mit einer Größe von bis zu vier Zentimetern Durchmesser. In der Regel sind Sonnentaublüten weiß oder rosa. Eine etwas größere Farbvielfalt herrscht bei den australischen und afrikanischen Arten; dort kommen vereinzelt auch orange (Drosera callistos), rote (Drosera cistiflora), gelbe (Drosera zigzagia) oder gar violett-metallicfarbene (Drosera microphylla) vor. Die Fruchtknoten sind oberständig. Es werden Kapselfrüchte mit sehr vielen kleinen Samen gebildet. Viele Sonnentauarten sind selbstbefruchtend; häufig werden große Mengen an Samen produziert. Die Samen sind schwarz, staubfein und lichtkeimend, verlieren aber schnell an Keimfähigkeit. Fast alle Arten sind Windstreuer, bei einigen wenigen Arten (Drosera felix, Drosera kaieteurensis) gibt es eine spezielle Verbreitungsform, bei denen die Samen durch den „Aufschlag“ eines Regentropfens aus der Samenkapsel herausgeschleudert werden (Regentropfen- oder Splash-Cup-verbreitung). Arten temperierter Zonen sind Frostkeimer. Verbreitung Die Areale der Gattung erstrecken sich insgesamt von Kanada im Norden bis Neuseeland im Süden. Die Hauptverbreitungsgebiete sind mit annähernd 50 Prozent aller Arten Australien, Südamerika mit zwanzig bis dreißig Arten sowie das südliche Afrika. Einige wenige Arten kommen großflächig in Eurasien und Nordamerika vor; diese Areale sind aber eher als Randgebiet der Gattung anzusehen, ebenso wie die äußersten arktischen Vorkommen. Möglicherweise ist die evolutionäre Trennung der Gattung auf das Auseinanderdriften der ehemals als Superkontinent Gondwana zusammengehörenden Kontinente zurückzuführen, aber auch eine nachfolgende Zerstreuung über weite Entfernung hin wird diskutiert. Dabei wird als Ursprung der Gattung Australien oder Afrika angenommen. In Europa existieren (neben den Naturhybriden Drosera × obovata und Drosera × eloisiana) nur drei Arten: der Rundblättrige Sonnentau (D. rotundifolia), der Langblättrige Sonnentau (D. anglica) und der Mittlere Sonnentau (D. intermedia). Häufig wird die Gattung als kosmopolitisch bezeichnet, also als weltweit vorkommend. Der Botaniker Ludwig Diels, Autor der bisher einzigen Monographie über die Familie, bezeichnete dies jedoch als „arge Verkennung ihrer höchst eigentümlichen Verbreitungsverhältnisse“, obwohl die Sonnentau-Arten „einen beträchtlichen Teil der Erdoberfläche besetzt“ hielten. Insbesondere wies er auf ihr Fehlen in nahezu allen ariden Zonen, zahlreichen tropischen Regenwaldgebieten, an der amerikanischen Pazifikküste, in Polynesien, dem Mittelmeerraum und Nordafrika hin sowie auf die sehr geringe Artenvielfalt in temperierten Zonen, zum Beispiel Europa und Nordamerika. Habitate Sonnentauarten wachsen in der Regel in saisonal feuchten, seltener dauernassen Gebieten mit nährstoffarmen, sauren Böden und viel Sonne, z. B. in Mooren, Heiden, Sümpfen, im Wallum, Fynbos, auf Inselbergen, aber auch in Marschland und an den Ufern von Fließgewässern. Viele Formen wachsen gemeinsam mit Torfmoosen, die dem Untergrund Nährstoffe entziehen und ihn zugleich versauern, wodurch sie das Wachstum möglicher Konkurrenten behindern. Allerdings ist die Gattung in ihren Habitatansprüchen sehr variabel; in einzelnen Fällen schaffen Arten es sogar, in sehr untypischen Gebieten wie Regenwäldern, Wüsten (z. B. Drosera burmannii und Drosera indica) oder auch in Biotopen mit starker Beschattung zu siedeln (Queenslanddrosera). Auch die temperierten Arten, die über den Winter Hibernakel ausbilden, stellen eine solche Form der Anpassung an abweichende Habitate dar, da die Arten der Gattung üblicherweise eher warme Klimata bevorzugen und nur bedingt frosthart sind. Gefährdung Alle heimischen Drosera-Arten stehen in Deutschland, Österreich und der Schweiz unter Naturschutz. Auch in anderen europäischen Ländern wie Finnland, Ungarn, Frankreich oder Bulgarien sind Drosera-Arten gesetzlich geschützt. In Mitteleuropa stellte über lange Zeit die Nutzung der Lebensräume durch Trockenlegung und Torfabbau die Hauptgefährdung dar. Dadurch sind in zahlreichen Regionen die Bestände dieser empfindlichen Pflanzen inzwischen verschollen bzw. ausgestorben. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass einmal verlorene Standorte nicht mehr durch Wiederansiedelung zurückgewonnen werden können, da der ökologische Spielraum hinsichtlich der Standortfaktoren sehr eng begrenzt ist. Durch den verstärkten gesetzlichen Schutz der Moore und Anmoore sowie die Bemühungen um deren Renaturierung konnte der Rückgang des Sonnentaus zwar gebremst werden, dennoch sind die meisten Sonnentau-Arten weiterhin stark gefährdet. Das relativ unscheinbare Erscheinungsbild sowie der kleine, niedrige Wuchs dieser Pflanzen erschwert generell die Schutzbemühungen vor Ort. Oft werden Sonnentaugewächse im Gelände übersehen oder gar nicht erkannt. In zwei der drei Hauptverbreitungsgebiete, in Südafrika und Australien, unterliegen die dortigen Lebensräume der Sonnentaue starkem Nutzungsdruck durch den Menschen. Insbesondere expandierende Siedlungsgebiete (Queensland, Perth, Kapstadt) sowie die Trockenlegung von Feuchtgebieten für die Land- und Forstwirtschaft gefährden die häufig nur in isolierten Gebieten existierenden Bestände. Auch durch die Dürren, die sich in Teilen Australiens bereits mehr als zehn Jahre hinziehen und vermutlich eine Folge der globalen Erwärmung sind, fallen zunehmend Standorte trocken, dies stellt ebenfalls mittelbar eine Bedrohung der dortigen Arten dar. Gerade die nur in äußerst eng umgrenzten Standorten zu findenden Arten unterliegen durch die Absammlung von Wildpflanzen der größten Gefahr von Totalverlusten. Aufgrund massiven Raubbaus für den Export in Madagaskar gilt Drosera madagascariensis als stark gefährdet, jährlich werden dort 10–200 Millionen Pflanzen für Vermarktungszwecke abgesammelt. Phylogenetik Das folgende Kladogramm stellt die Beziehungen zwischen den verschiedenen Sektionen bzw. Untergattungen anhand der Analysen von Rivadavia u. a. 2003 dar. Die monotypische Sektion Meristocaulis wurde nicht in die Untersuchungen mit einbezogen, so dass ihre Stellung in diesem System unklar ist, neuere Untersuchungen stellen sie aber in die Nähe der Sektion Bryastrum bzw. gliedern sie dort ein. Da die Sektion Drosera polyphyletisch ist, taucht sie mehrfach innerhalb des Kladogramms auf ( * ). Diese phylogenetische Untersuchung hat die Notwendigkeit einer Revision der Gattung noch deutlicher werden lassen. Systematik Die Gattung Drosera wird nach Seine & Barthlott, 1994, ergänzt um Revisionen und Neubeschreibungen in drei Untergattungen und elf Sektionen aufgeteilt, Grundlage für diese sind morphologische Merkmale. Seit Jahrzehnten werden immer neue Arten entdeckt und beschrieben, noch in den 1940ern waren erst etwas über 80 Arten bekannt, 2018 bereits 244. Zahlreiche australische Arten wurden vor allem durch den Australier Allen Lowrie erstbeschrieben. Seine diesbezügliche Taxonomie wurde zwar 1996 durch den deutschen Botaniker Jan Schlauer in Frage gestellt, diese hat sich aber nicht durchgesetzt. Sektionen und Arten der Gattung Drosera Verwendung Heilpflanze Im Sonnentau sind verschiedene medizinisch wirksame Inhaltsstoffe enthalten, nämlich Naphthochinonderivate (Plumbagin, Droseron, Ramentaceon) und Flavonglykoside (Quercetin, Myricetin, Kampferöl). Sonnentau wurde gegen Reizhusten, zur Herzstärkung und als Aphrodisiakum, aber auch zur Behandlung von Sonnenbrand und gegen Sommersprossen verwendet. Als Hustenmedizin wurde er Anfang der 1990er Jahre noch in 200–300 zugelassenen Präparaten der Medizin eingesetzt, zumeist in Kombination mit weiteren Wirkstoffen. Unter den Präparaten sind heutzutage auch einige aus der als Heilmethode deklarierten, jedoch nach gegenwärtigen Stand der Wissenschaft wirkungslosen Homöopathie vertreten, wobei Sonnentau und andere Wirkstoffe als sogenannte Urtinktur verwendet werden. Auf Wildsammlungen in Deutschland wird allerdings mittlerweile verzichtet; stattdessen werden entweder Gebiete in Madagaskar, Spanien, Frankreich, Polen und dem Baltikum abgeerntet oder es wird Sonnentau aus deutschen Zuchten verwendet, dort vor allem die schnellwüchsigen Arten Drosera madagascariensis, Drosera ramentacea, aber auch der Rundblättrige und der Mittlere Sonnentau. Gewebezucht Die, durch den Sonnentau gebildeten klebrigen Sekrete (adhäsive Stoffe) finden bereits in der Biomedizin Anwendung. Sie sind ein natürliches Hydrogel und damit biokompatibel sowie gewebeähnlich. Da sich mit dem Sekret Zellen aneinanderkleben lassen, eignet es sich optimal für die Züchtung von Gewebe. Zierpflanzen Durch ihre Karnivorie und die als anmutig empfundenen Fangblätter sind Sonnentauarten beliebte Zierpflanzen. Die meisten Arten haben allerdings aufgrund meist schwieriger Haltungsbedingungen oder der komplizierten Vermehrung nur geringe Marktchancen. Wenige, robuste Arten sind jedoch neben der Venusfliegenfalle als geläufige Karnivoren für den Massenmarkt mittlerweile in vielen Gartencentern oder Baumärkten erhältlich, insbesondere der Kap-Sonnentau und Drosera aliciae. Auch die anderen Sonnentauarten werden von einem weltweiten, mehrere Tausende starken, Kreis von Sammlern kultiviert; es befinden sich derzeit so gut wie alle Arten in Kultur. Da viele Sonnentau-Arten sehr eng begrenzte Verbreitungsgebiete haben und auch in diesen selten sind, hat dies durch starke Absammlungen zu Rückgang und Gefährdung einiger Arten beigetragen. Sonnentau-Arten als Nahrungsmittel Bei den australischen Aborigines stellen die Knollen der dort heimischen Knollendrosera ein beliebtes Nahrungsmittel dar. Etymologie und Geschichte Der botanische Name entstammt dem griechischen «δρόσος», «drosos» für „Tau“. Der deutsche Name ist eine Übersetzung des älteren botanischen Namens «ros solis». All diese Namen leiten sich vom glänzenden Aussehen der zahlreichen Drüsensekrettropfen an der Spitze der Tentakel ab, die an morgendliche Tautropfen erinnern. 1539 beschrieb Hieronymus Bock einheimische Sonnentau-Arten: Nach Bock wurden die Sonnentau-Arten, wie auch das Goldene Frauenhaarmoos im 16. Jh. hauptsächlich im Sympathiezauber der Volksmedizin verwendet. Aus der Sicht der gelehrten Medizin ordnete er sie dem von Dioskurides beschriebenen «adianton» zu. Danach hatten sie folgende Wirkungen: Harn und Harnwegssteine treiben, den Haarwuchs befördern, Heilung von Erkrankungen der Brust, der Leber, der Milz und der Haut. Die Alchemisten verwendeten zur Darstellung der Materia prima u. a. Sonnentau-Arten, das Goldene Frauenhaarmoos und Schöllkraut. Auswahlkriterium war die gold-gelbe Farbe dieser Pflanzen. Wie den Maientau betrachteten die Alchemisten auch die Drüsensekretstropfen der Sonnentaupflanze («ros solis») als „mit astralem Samen geschwängertes Wasser“. Nachweise A. Correa, D. Mireya, Tania Regina Dos Santos Silva: Drosera (Droseraceae). (= Flora Neotropica Monograph. Band 96). New York 2005, ISBN 0-89327-463-1. (spanisch, englisch) Charles Darwin: Insectenfressende Pflanzen. Stuttgart 1876. Ludwig Diels: Droseraceae. In: Adolf Engler (Hrsg.): Das Pflanzenreich. 4, 112, 1906, S. 109. Allen Lowrie: Carnivorous Plants of Australia. Bände 1–3, Nedlands, Western Australia, 1987–1998. (englisch) Einzelnachweise Weiterführende Literatur Charles Darwin: Insectenfressende Pflanzen. In: Ch. Darwin's gesammelte Werke. Band 8, E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876; Text der deutschen Ausgabe auf Wikisource Weblinks Sonnentaugewächse Fleischfressende Pflanze
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rostock
Rostock
Rostock [] ist eine norddeutsche kreisfreie Groß-, Hanse- und Universitätsstadt an der Ostsee. Sie liegt im Landesteil Mecklenburg des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Mit Einwohnern ist sie die bevölkerungsreichste Stadt Mecklenburg-Vorpommerns und als einzige Großstadt eines der vier Oberzentren im Bundesland. Die Stadt Rostock führt die Bezeichnung Hanse- und Universitätsstadt. Das Stadtgebiet erstreckt sich rund 16 Kilometer auf beiden Seiten der Warnow bis zu deren Mündung in die Ostsee im Stadtteil Warnemünde. Die Innenstadt liegt auf dem linken Ufer des Flusses. Geprägt wird Rostock durch seine Lage am Meer, seinen Hafen sowie die Universität Rostock, die 1419 gegründet wurde und zu den ältesten Hochschulen Deutschlands zählt. Der für den Fährverkehr und Güterumschlag bedeutende Rostocker Hafen sowie der größte deutsche Kreuzfahrthafen in Warnemünde liegen im Stadtgebiet. Die 1991 begründete Hanse Sail hat sich zu einer der großen maritimen Veranstaltungen im Ostseeraum entwickelt. Rostock wurde am 24. Juni 1218 das Lübische Stadtrecht bestätigt. Seit 1283 Mitglied der Hanse, blühte die Stadt in den folgenden Jahrhunderten durch den Freihandel auf. Aus jener Zeit sind eine Reihe von Bauten der Backsteingotik erhalten. Viele weitere Baudenkmäler in Rostock zeugen von der überregionalen Bedeutung der Stadt in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Durch den Niedergang der Hanse, den Dreißigjährigen Krieg und den Stadtbrand von 1677 wurde Rostock jedoch zurückgeworfen, und die Einwohnerzahl verringerte sich auf ein Drittel, wovon sich die Stadt erst seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert vollständig erholen konnte. Die Stadt gehörte bis 1918 zum Großherzogtum und dann zum Freistaat Mecklenburg-Schwerin. Rostock war als größte Stadt Mecklenburgs stets der wirtschaftliche Mittelpunkt des Landes. Neben der Haupt- und Residenzstadt Schwerin war Rostock mit seiner Universität auch ein Zentrum von Kultur und Wissenschaft in Mecklenburg. Jahrhundertelang dominierte die maritime Wirtschaft die Stadt. Mit der Gründung der Flugzeugwerke Arado 1921 und Heinkel 1922 wurde Rostock dann auch ein bedeutender Technologiestandort, was die Stadt in den 1940er Jahren allerdings zu einem wichtigen Ziel des Luftkriegs im Zweiten Weltkrieg machte. In der DDR-Zeit war Rostock von 1952 bis 1990 Bezirksstadt; der Hafen wurde zum bedeutendsten der DDR ausgebaut und die Stadt systematisch durch neue Stadtgebiete erweitert, bis sie auf über 250.000 Einwohner anwuchs. Nach 1990 verlor Rostock etwa ein Fünftel seiner Einwohner durch Abwanderung, zudem hat sich die Rostocker Wirtschaft erheblich verändert: Die Bedeutung der Schiffbauindustrie ging stark zurück; viele neue Arbeitsplätze entstanden im Tourismus und im Dienstleistungssektor; größter Arbeitgeber der Stadt ist nun die Universität mit der Universitätsklinik. Geographie Lage Rostock liegt ungefähr in der nördlichen Mitte Mecklenburg-Vorpommerns. Das Stadtgebiet erstreckt sich beiderseits des Unterlaufs der Warnow. Der Fluss verläuft überwiegend in Nord-Süd-, nur im Bereich der Rostocker Innenstadt in Ost-West-Richtung. Nahe der Rostocker Innenstadt verbreitert sich der Flusslauf zur Unterwarnow, was den Namen der Stadt („Flussverbreiterung“) erklärt. Vor der Mündung in die Ostsee beim Ortsteil Warnemünde weitet sich die Unterwarnow in Richtung Osten weiter zum Breitling aus. Südlich davon befindet sich der Rostocker Seehafen. Der größte bebaute Teil Rostocks befindet sich am linken Ufer der Warnow. Dazu zählen die Innenstadt, die im 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entstandenen Wohngebiete Kröpeliner-Tor-Vorstadt und Hansaviertel sowie die ab 1960 entstandenen Wohngebiete Südstadt südlich der Innenstadt, Reutershagen, Evershagen, Lütten Klein, Groß Klein, Schmarl und Lichtenhagen zwischen der Innenstadt und Warnemünde. Der Teil der Stadt rechts der Warnow wird durch den Überseehafen, Gewerbestandorte und den ca. 6000 ha großen Küstenwald Rostocker Heide geprägt. Hinzu kommen in Dierkow und Brinckmansdorf Siedlungsgebiete aus der Zeit zwischen den Weltkriegen, Großsiedlungen aus den 1980er Jahren in Dierkow und Toitenwinkel sowie einige ländliche Ortsteile. Rostocks größte Ausdehnung von Nord nach Süd beträgt 21,6 km und von Ost nach West 19,4 km. Die Länge der Stadtgrenze (ohne Küste) beträgt 97,9 km. Rostocks Küste selbst hat eine Länge von 18,5 km. Davon ist zusammen ca. 7 km Badestrand auf beiden Seiten der Warnowmündung, der übrige Küstenbereich besteht aus Naturstrand und der Steilküste Stoltera westlich von Warnemünde. Die Warnow im Stadtgebiet erstreckt sich über 16 km. Die Geografie der Altstadt, aber auch die der Gegend um Warnemünde haben sich im Laufe der Zeit verändert. Wo heute Am Strande eine Hauptverkehrsstraße verläuft, war früher tatsächlich Strand, und lange Brücken führten in das schiffbare Wasser. Um die Stadt verlief außerdem lange ein Wassergraben zum Schutz, der – nutzlos geworden – im Zuge der Entfestigung und des Ausbaus des Stadthafens korrigiert wurde. Auf alten Fotos und Abbildungen sind noch die heute nicht mehr vorhandenen Brücken vor dem Petritor und vor dem Kröpeliner Tor zu sehen. Dabei wurde neben dem Fischer-Hafen der Haedge-Hafen mit dem Kohlenkai – heute „Haedge-Halbinsel“ – gebaut. Darüber hinaus ist auch der Abfluss der Warnow in Warnemünde verändert worden. War es früher der Alte Strom, ist es heute der Neue Strom, der auch deutlich ausgebaut wurde. Auch der Breitling wurde mit der Anlage großer Hafenbecken verändert. Rostock wird vom Landkreis Rostock umgeben, der die Regiopolregion Rostocks bildet. Unmittelbare Nachbargemeinden sind im Nordosten die amtsfreie Gemeinde Graal-Müritz, im Osten das Amt Rostocker Heide (mit den Gemeinden Gelbensande, Rövershagen, Mönchhagen, Bentwisch und Blankenhagen), im Südosten das Amt Carbäk (mit Broderstorf und Roggentin), im Süden die amtsfreie Gemeinde Dummerstorf. Im Süden bis in den Nordwesten grenzt Rostock an das Amt Warnow-West (mit den Gemeinden Papendorf, Kritzmow, Lambrechtshagen, sowie Elmenhorst/Lichtenhagen), unterbrochen nur von einer kurzen Angrenzung an das Amt Bad Doberan-Land mit der Gemeinde Admannshagen-Bargeshagen. Die Agglomeration Rostock hat rund 243.000 Einwohner. Die nächstgelegenen Metropolregionen sind Hamburg im Westen, Stettin im Osten, Kopenhagen-Malmö im Norden und Berlin im Südosten. Stadtgliederung Ortsteile Das Stadtgebiet Rostocks ist in 31 Ortsteile gegliedert. Zu statistischen Zwecken sind diese in 21 Stadtbereiche (A bis U) zusammengefasst. Weiterhin sind die Ortsteile auf fünf Ortsamtsbereiche verteilt, für die jeweils ein Ortsamt zuständig ist. Hier werden Einwohnerangelegenheiten (z. B. Meldungen) bearbeitet. Eingemeindungen Nach der Gründung der Stadt und der Vereinigung der Stadtteile erwarb Rostock im 13. Jahrhundert die große Rostocker Heide sowie einige nahe gelegene Dörfer und Gutsstellen (Bartelsdorf, Bentwisch, Broderstorf, Kassebohm, Kessin, Rövershagen, Riekdahl, Stuthof, Willershagen und Gragetopshof). Die meisten dieser Orte wurden jedoch später wieder als eigenständige Gemeinden geführt und nicht oder erst im 20. Jahrhundert wieder dem Stadtgebiet Rostocks angeschlossen. Im 14. Jahrhundert erwarb die Stadt das Dorf Warnemünde und erhielt so Zugang zum Meer. Bis in das 20. Jahrhundert hinein war Warnemünde eine Rostocker Exklave. Ein geschlossenes Stadtgebiet besteht seit 1934. Man kann somit drei Stufen der Stadtentwicklung festhalten: die erste im 13. und 14. Jahrhundert, die zweite nach der Industrialisierung, also in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die dritte nach dem Zweiten Weltkrieg. Klosteranlagen gehörten im Übrigen lange nicht zum eigentlichen Stadtgebiet, selbst wenn sie innerhalb der Stadtmauern lagen. Das Kloster zum Heiligen Kreuz beispielsweise – das im Übrigen über erheblichen Grundbesitz in Rostock und Mecklenburg verfügte, wie das Dorf Schmarl mit der Hundsburg – konnte erst durch die Verfassung des Freistaates Mecklenburg-Schwerin von 1920 aufgelöst werden. Immer wieder gibt es auch kleinere Änderungen an der Gesamtfläche des Stadtgebiets. In den 1970er Jahren wurde die Autobahn Berlin–Rostock gebaut und in diesem Zusammenhang wurden zum Beispiel Flächen der Stadt zugeordnet, die heute zu Alt Bartelsdorf und Riekdahl gehören (ca. 2 km²). 1980 ging ein Teil der Rostocker Heide nach Graal-Müritz (ca. 1 km²), ein Jahr später ein Stück der Gemarkung Sievershagen nach Rostock (auch etwa 1 km²). Die jüngsten Flächenänderungen wurden aufgrund der Inkommunalisierung von Flächen der Ostsee vorgenommen. Der neu gebaute Yachthafen Hohe Düne hat eine Fläche von etwa 0,3 km². 2009 erfolgte außerdem die erste Anpassung der Gebietsgrenze an die Ostseeküste seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Kleine Änderungen wurden bei Bodenneuordnungsverfahren an der Kreisgrenze zu Elmenhorst/Lichtenhagen vorgenommen. Unabhängig von Eingemeindungen und der Änderung an der Zuordnung von Flurstücken ändert sich die Gesamtfläche der Stadt, die aus aktuellen Messungen resultieren, die mit exakteren Methoden vorgenommen werden und Fehler in historischen Messungen korrigieren. Die jüngsten Messungen weisen der Stadt eine Gesamtfläche von 181,275 km² aus. 1 Bereits 1264 wurde ein „Rostocker Warnemünde“, ein Seehafen beim heutigen Hohe Düne, dem städtischen Recht unterstellt. Klima Geschichte Die Ausführungen entstammen dem Werk Rostocks Stadtgeschichte, hrsg. vom Direktor des Stadtarchivs Karsten Schröder (siehe Literatur). Ergänzungen siehe Einzelnachweise. Name Der Name Rostock lässt sich bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen: auf rastokŭ, eine slawische (altpolabische) Bezeichnung, die etwa „Auseinanderfließen“ in Bezug auf den Fluss Warnow bedeutet. Vom 12. bis zum frühen 14. Jahrhundert tauchen Varianten von Rozstoc über Rostoch, Rotstoc, Rotstoch, Rozstoc, Roztoc, Rozstok und Rostok auf – und um 1366 schließlich Rostock. Namenszusätze sind seit den 1920er-Jahren bekannt: bis 1945 Seestadt, ab 1990 Hansestadt und seit 2018 Hanse- und Universitätsstadt Rostock. Mittelalter Entstehung der Stadt Archäologische Funde belegen für die Zeit ab dem 8. Jahrhundert slawische Handwerker- und Handelsplätze rechts der Warnow (zwischen dem heutigen Dierkow und Gehlsdorf). Spätestens im 12. Jahrhundert existierte eine Fürstenburg der Kessiner mit einer frühstädtischen Marktsiedlung. Als erster sicherer Beleg Rostocks gilt die Chronik Gesta Danorum (um 1200). Darin berichtet der Däne Saxo Grammaticus über die Zerstörung der slawischen Fürstenburg 1161 durch König Waldemar I. und die Unterwerfung des Fürsten Pribislaw und dessen Belehnung durch den Sachsenherzog Heinrich den Löwen 1167. Unter den neuen Burgen des neuen Vasalls befand sich auch die urbs Rozstoc, die sich neben der nahegelegenen Burg Kessin allmählich zu einem zweiten Schwerpunkt des Landes Mecklenburg entwickelte. Den Ausgangspunkt der Stadtwerdung Rostocks bildete die Siedlung auf dem höher gelegenen linken Warnowufer. Hier ließen sich im 12. Jahrhundert Handwerker und Kaufleute nieder, hier gewährte Fürst Nikolaus I. 1189 den Mönchen des Klosters Doberan Zollfreiheit auf dem Rostocker Markt. Es ist dies auch die erste urkundliche Erwähnung Rostocks. Die erste urkundliche Erwähnung der Stadt Rostock stammt vom 24. Juni 1218, als Heinrich Borwin I. das lübische Stadtrecht bestätigte. Schon bald dehnte sich die Stadt von der Petrikirche ausgehend nach Süden aus und erhielt mit dem Quartier um die Nikolaikirche eine weitere Pfarrei. Neue Ansiedlungen entstanden im Westen mit der Marienkirche als Pfarrkirche und eigenem Markt sowie noch weiter nach Westen eine Neustadt, deren Mittelpunkt die Jakobikirche war. Von 1262 bis 1265 vereinigten sich die drei Siedlungen. Der mittlere Siedlungskern wurde zum Verwaltungszentrum der Stadt mit Stadtrat, Gericht und neuem Rathaus. Zum Schutz wurde eine ringförmige Stadtmauer errichtet. Von ihr sind bis heute das Steintor, das Kröpeliner Tor, das Mönchentor und das Kuhtor erhalten. Den raschen Aufstieg Rostocks zur bedeutendsten Stadt Mecklenburgs konnten selbst die Stadtbrände 1250 und 1265 nicht aufhalten. Stärkung erfuhr das Zentrum der Herrschaft Rostock durch Handelsprivilegien und Rechte wie das Fischereirecht auf der Unterwarnow. 1252 konnte der Stadtforst Rostocker Heide, 1264 der Seehafen bei Warnemünde (Hohe Düne), 1278 die Hundsburg bei Schmarl und 1286 die Wendische Wyk rechts der Warnow erworben werden. Damit war u. a. der angestrebte freie Zugang zur zwölf Kilometer entfernten Ostsee gesichert. Hansestadt Bereits 1259 hatte Rostock ein Bündnis mit den Ratsherren der Städte Lübeck, Stralsund, Wismar und Kiel geschlossen. Der Wendische Städtebund gilt als Keimzelle der Deutschen Hanse; eine Verstärkung durch weitere Städte erfolgte 1283 im Rostocker Landfrieden genannten Vertrag. Bis zum letzten Hansetag 1669 nahm Rostock – in Konkurrenz mit Stralsund um die Rolle der bedeutendsten Hansestadt an der Ostsee hinter Lübeck – eine führende Rolle ein. Bedeutend dafür waren Kaufleute, die Handelsbeziehungen zu den Städten Riga (Rigafahrer) und Visby auf der Insel Gotland unterhielten, sowie der Heringshandel der Schonenfahrer auf der Schonischen Messe. Hinsichtlich des Handels mit Norwegen konzentrierten sich die Rostocker Wiekfahrer auf die Kontrolle der Faktoreien in Oslo und Tønsberg am Oslofjord. Das einzige eigene Produkt, das Rostock in nennenswertem Umfang ausführte, war Bier. Blütezeit und Universität Als die territoriale Herrschaft Rostock 1323 endete, hatte der Stadtrat bereits mehrere Aufstände der Handwerker- und Bürgerschaft überstanden. Das 14. Jahrhundert gilt im Allgemeinen als eine Zeit des Aufblühens der Stadt: 1323 konnte das Fischerdorf Warnemünde ganz erworben werden, 1325 erhielt die Stadt das Münzrecht, 1358 die volle Gerichtsbarkeit. Die im 13. Jahrhundert begonnenen Bauten, insbesondere die vier Pfarrkirchen (s. o.) und einige Klöster, wurden vollendet, das Rathaus durch neue Ecktürme, spitzbogige Blenden und Kreisrosetten architektonisch aufgewertet. Die Hansestadt war am Gipfel ihrer Autonomie angekommen. Mit etwa 14.000 Einwohnern zählte sie um 1410 zu den größten Städten in Norddeutschland. Ein weiteres sichtbares Zeichen der Bedeutung Rostocks war die 1419 gegründete älteste Universität Nordeuropas. Sowohl die Landesherren als auch der Stadtrat verfolgten mit der Gründung das Ziel, ihre jeweilige Machtposition zu festigen. Trotz mehrerer Auszüge infolge politischer Wirren sollte die Rostocker Hochschule für zwei Jahrhunderte eine führende Rolle in der Wissenschaft im norddeutschen und baltischen Raum spielen. Auf der anderen Seite führten soziale Konflikte zu Machtkämpfen zwischen den Patrizierfamilien und der übrigen Stadtbevölkerung. Mit der Rostocker Domfehde, bei der sich die Bürgerschaft dem Landesherrn geschlagen geben musste, endete 1491 ein Jahrhundert zahlreicher Unruhen und Aufstände. Der Stadt sollte nur eine kurze Ruhe vergönnt sein; schon drei Jahrzehnte später sah sie sich neuen Auseinandersetzungen ausgesetzt. Frühe Neuzeit Reformation Acht Jahre hatte der Widerstand gegen die reformatorischen Predigten Joachim Slüters gewährt, bevor der Stadtrat ihn im April 1531 überraschend aufgab und die Lehren Martin Luthers in allen vier Hauptkirchen für verbindlich erklärte. Die Universität sowie die Klöster Zum Heiligen Kreuz, St. Johannis und die Kartause in Marienehe blieben der alten Lehre hingegen treu. Erst Herzog Johann Albrecht I. setzte 1549 das lutherische Bekenntnis für alle Landstände durch und löste 1552 fast sämtliche mecklenburgischen Klöster auf. In Rostock war damit das Schicksal des Kartäuserklosters Marienehe besiegelt. Das Nonnenkloster zum Heiligen Kreuz widersetzte sich bis 1584, dem Zeitpunkt seiner Umwandlung in ein Damenstift der stadtbürgerlichen Oberschicht. Kämpfe gegen den Rat und neuer Wohlstand Der Rat kam 1534 nicht umhin, den im Rahmen der dänischen Grafenfehde eingerichteten Bürgerausschuss aus 64 Kaufleuten und Handwerkern anzuerkennen. Zwar konnte er nach der Niederlage Lübecks 1535 die alten Verhältnisse wiederherstellen, doch sollte er sich auch in Zukunft in allen strittigen Fällen einer Opposition gegenübersehen. Dem Landesherren war bereits die Union der Landstände 1523 selbstbewusst gegenübergetreten, nun, 1565, verweigerte die Stadt dem mit dem Rat verbündeten Fürsten Johann Albrecht I. den formalen Huldigungseid. Die Folge war dessen bewaffneter Einzug, die Auflösung des Sechzigerrats, die Vernichtung des Bürgerbriefes, das Einreißen der südlichen Mauer inklusive des Steintors und die Errichtung einer herzoglichen Festung. Der schwelende Konflikt zwischen Stadt und Landesherrn wurde erst mit den Rostocker Erbverträgen von 1573 und 1584 beigelegt. Rostock erkannte die landesherrliche Oberhoheit insbesondere hinsichtlich der Gerichtsbarkeit und der Steuerzahlung an. Die Bemühungen um die Reichsunmittelbarkeit waren damit endgültig gescheitert, die verhasste Festung konnte jedoch geschleift und das Steintor wieder aufgebaut werden. Neben den weiterhin von ratsfähigen Patriziern gestellten Rat trat 1583/84 ein neuer Bürgerausschuss, das Hundertmänner-Kollegium. Es setzte sich aus 40 Handwerkern, 40 Brauherren und 20 weiteren Kaufleuten zusammen. Nach mehreren Jahrhunderten voller Unruhen war damit erstmals langfristig eine innere Befriedung der Stadt erreicht. Anders als bei früheren Bürgerausschüssen gelang es den Landesherren kaum noch, den Rat und das Kollegium gegeneinander auszuspielen, wenngleich die Zusammenarbeit beider Gremien nicht immer spannungsfrei verlief. Der neue Wohlstand übertraf selbst die mittelalterliche Blütezeit. Die Hansestadt, deren Wirtschaft vom Seehandel und dem Brauwesen bestimmt war, zog zahlreiche Zuzügler aus ganz Norddeutschland an. Besonders angesehen waren die Universitätsprofessoren und der Stadtsyndikus, der sich neben dem Bürgermeister behauptete. Man wohnte bevorzugt in Marktplatznähe und am liebsten in der Mittelstadt. Kriege, Stadtbrand und Ansprüche der Herzöge Mecklenburgs Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) führte unwiderruflich das Ende der Hanse herbei. Zunächst war Mecklenburg kaum betroffen, doch mit dem Kriegseintritt Dänemarks griffen die Auseinandersetzungen auf Norddeutschland und 1627 auf das Herzogtum über. Der neue Lehnsherr Wallenstein zwang die Stadt Rostock durch das bewährte Mittel einer Blockade Warnemündes in die Knie und baute sie zur Garnisonsstadt aus. Um den Hafen behaupten zu können, wurde eine Schanze angelegt. Das Jahr 1631 markiert das Ende der kaiserlichen Besatzung und den Beginn der „Schwedenzeit“. Für Rostock hatte auch dieser Machtwechsel kaum Folgen; so erlebte etwa die Universität trotz der unruhigen Zeiten eine Blüte. Waren das Land und die Dörfer Mecklenburgs Gewalt und Plünderungen der Soldateska wehrlos ausgesetzt, boten die Rostocker Stadtmauern vielen Flüchtlingen Schutz. Der Seehandel ging allerdings drastisch zurück. Am schwersten traf die Stadt der Schwedenzoll vor Warnemünde. Zugleich bröckelte der Hansebund beträchtlich. Aufgrund der wachsenden Interessenunterschiede der Städte verlor auch Rostock den hansischen Rückhalt und musste alleine gegen die politischen Kräfte bestehen. In diese Phase der Stagnation brach über Nacht die Katastrophe herein: Ein verheerender Stadtbrand vernichtete 1677 fast die gesamte Altstadt und einen beträchtlichen Teil der nördlichen Mittelstadt – insgesamt etwa 700 Häuser und Buden, ein Drittel aller Gebäude der Stadt. Besonders schwer wog die Zerstörung des Zentrums des Rostocker Brauwesens. Die Zahl der Brauhäuser sank von knapp 200 auf unter 100, die Einwohnerzahl, die Ende des 16. Jahrhunderts 14.000 betragen hatte, ging auf 5.000 zurück. Rostock versank im Dämmerschlaf. Das Wiedererwachen bewirkten die absolutistischen Absichten der Schweriner Herzöge. Positiv und negativ: Einerseits versprach die Erhebung zur herzoglichen Residenz 1702 die Förderung der Wirtschaft, andererseits drohte ein Verlust der politischen Selbständigkeit. Zudem wurde die Stadt zum Magneten für Plünderungen durch dänische und schwedische Truppen im Großen Nordischen Krieg (1700–1721). Doch es sollte noch schlimmer kommen: Herzog Karl Leopold ließ 1715 Rat und Hundertmännerkollegium festsetzen und das städtische Eigentum beschlagnahmen; 1760 ging das herzogliche Professorenkollegium nach Bützow; 1788 erkannte ein erneuerter Erbvertrag mit dem mecklenburgischen Herzog dessen Gewalt an. Damit war Rostock endgültig zu einer Landstadt Mecklenburgs geworden. Der Rat behielt jedoch weitgehende Privilegien und Rechte, insbesondere bezüglich Stadtregiment, Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Finanzhoheit. Ende des 18. Jahrhunderts strebte die Seeschifffahrt Rostocks einer neuen Blüte zu. Statt Malz und Bier wurde nun vorrangig Getreide transportiert. Langes 19. Jahrhundert Langes 19. Jahrhundert bezeichnet die Zeitspanne von 1789 bis 1914. Franzosenzeit und Industrialisierung Der Seehandel blieb die wirtschaftliche Triebfeder der Stadt. Während der Franzosenzeit (1806–13) konnte das Leben in Rostock allerdings nicht in den gewohnten Bahnen verlaufen. Vor allem zwischen Oktober 1806 und Frühjahr 1809 traf die Kontinentalsperre den Handel und die Schifffahrt empfindlich. Der in Rostock geborene preußische Generalfeldmarschall Blücher gehörte zu den herausragenden Persönlichkeiten der anschließenden Befreiungskriege (1813–1815). Ab etwa 1820 machte der Rat den Bedürfnissen von Schiffbau und Schifffahrt Platz: Teile der Stadtmauer wurden geschleift, Stadttore verschwanden, feste Brücken ersetzten die Zugbrücken. Auch die Umgestaltung des Hopfenmarkts schritt voran. Zu den Barockbauten, die bereits an die Stelle der hansischen Häuser getretenen waren, gesellten sich bald klassizistische Bauwerke. Straßen wurden gepflastert, Überlandverbindungen angelegt. Hauptprofiteure waren Händler und die Post. Die Schiffe für die größte Handelsflotte im Ostseeraum wurden überwiegend in Rostocker Werften gebaut. 1850 erfolgte der Anschluss an das deutsche Eisenbahnnetz. Die Industrialisierung hatte nicht nur positive Seiten: In den unteren Schichten der Gesellschaft führten neben Missernten im Land auch Verelendung und Arbeitslosigkeit zu einer unruhigen Stimmung. Im Zuge der Märzrevolution wurden liberale Forderungen nach einer Demokratisierung des bestehenden politischen und wirtschaftlichen Systems laut. Mit nur kurzem Erfolg: Bereits 30 Monate nach der Reformierung des alten Ratssystems 1849 setzte der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin das alte Hundertmännergremium wieder ein. Norddeutscher Bund und Gründerzeit Mitte des 19. Jahrhunderts zählte Rostock etwa 30.000 Einwohner. Die Wirtschaft profitierte von einigen Reformen im Norddeutschen Bund: Das Gesetz über die Freizügigkeit gewährte ab 1868 jedem Bundesangehörigen die Niederlassungsfreiheit. Die Gewerbeordnung beendete 1869 den Zunftzwang durch die Einräumung der Gewerbefreiheit. 1890 wurde die 1850 gegründete „Schiffswerft und Maschinenfabrik“ Tischbein & Zeltz als „Neptun“-Werft zum ersten industriellen Großbetrieb Mecklenburgs. Andere wachsende Wirtschaftszweige waren die chemische Industrie, der Landmaschinenbau sowie das Bauwesen und der Dienstleistungssektor. Warnemünde hatte sich seit der Aufnahme des Badebetriebs 1821 zu einem der bedeutendsten Seekurorte in Deutschland entwickelt. Mit der Reichsgründung 1871 begann auch in Rostock der dynamische Entwicklungsprozess der Gründerzeit. Die rasante Wirtschafts- und Einwohnerentwicklung zwang in allen Bereichen zur umfassenden Modernisierung der Infrastruktur. Die Stadt wurde in westlicher Richtung um das Arbeiterviertel Kröpeliner-Tor-Vorstadt und südlich um das Villenviertel Steintor-Vorstadt erweitert. Vereine waren schnell auf nahezu allen Feldern des öffentlichen Lebens aktiv. Politisch blieb die Wahl des Rates auf eine relativ kleine Gruppe von Bürgern beschränkt. Die zuvor für lange Zeit bedeutungslos gewordene Universität, deren Kontrolle 1827 vollständig auf den Großherzog übergegangen war, erlebte derweil in der zweiten Jahrhunderthälfte einen Wiederaufschwung und konnte bis 1900 wieder zu den übrigen deutschen Hochschulen aufschließen. Kurzes 20. Jahrhundert Kurzes 20. Jahrhundert bezeichnet die Zeitspanne vom Ersten Weltkrieg bis 1989. Erster Weltkrieg und Weimarer Republik Während des Ersten Weltkriegs gingen Rohstoffe und Lebensmittel zu einem großen Teil an die Front. Die zunehmende Not entlud sich ab 1917 in Unruhen, Streiks und der Gründung von Ortsgruppen rechts- und linksorientierter Parteien. Auslöser der Novemberrevolution und infolgedessen des Sturzes der Monarchie war der Kieler Matrosenaufstand, in dem Marineeinheiten Kriegsschiffe in ihre Gewalt brachten und das Ende des Krieges forderten. Der Funke sprang auf die Bevölkerung über – nach Warnemünde auch in Rostock. Die Zeit der Weimarer Republik war geprägt von der Machtlosigkeit der Politik gegenüber wirtschaftlichen und sozialen Krisen. Die Inflation warf 1923 die gerade sich erholende Wirtschaft wieder zurück, gleichermaßen die Weltwirtschaftskrise 1929. In den guten Jahren gab der Flugzeugbau in Warnemünde mit den beiden neugegründeten Unternehmen Heinkel und Arado neue Impulse. Die Neptun-Werft dagegen entwickelte sich Mitte der 1920er-Jahre zum Problemfall. Eine wichtige Rolle spielte der Fremdenverkehr: Hotels, Pensionen, Gaststätten und Einzelhandel profitierten von der steigenden Zahl der Badegäste in Warnemünde. Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg Mit der Gleichschaltung der Länder wurden sämtliche KPD-Mandate aufgehoben und die Stadtverordnetenversammlung auf der Grundlage der Reichstagswahl vom März 1933 neu zusammengesetzt. In Rostock war die NSDAP stärkste Partei und erhielt zudem die Mandate der DVP und des Christlich-Sozialen Volksdiensts. Folglich setzte sich der neue Stadtrat aus 15 Abgeordneten der NSDAP, 12 der SPD und 8 der Kampffront Schwarz-Weiß-Rot zusammen. Bereits im Juni 1933, kurz nach dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, dem Berufsbeamtengesetz und dem reichsweiten Verbot der SPD, waren die Nationalsozialisten im Stadtrat unter sich. Ihren Abschluss fand die Machtübernahme der NSDAP in Rostock mit der Umsetzung der Deutschen Gemeindeordnung im Herbst 1935. Die Universität galt bereits seit Sommer 1933 als „arisiert“. Jüdische Unternehmen wie die EMSA-Werke von Max Samuel wurden bis Mitte 1939 systematisch verdrängt. Beim Novemberpogrom 1938 brannte auch die Rostocker Synagoge. Das Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft überlebten in der Stadt nur 14 jüdische Bürger. An die Opfer erinnern seit 2000 in den Boden eingelassene Denk- und Stolpersteine. Die Aufrüstung der Wehrmacht brachte Rostock einen deutlichen wirtschaftlichen Aufschwung. Gewinner waren die Unternehmen Heinkel, Arado und Neptun. 1935 erreichte die Einwohnerzahl die 100.000er-Marke. Die Stadterweiterung erfolgte in erster Linie Richtung Westen. Außerhalb entstanden die Siedlungen Dierkow und Reutershagen. Während des Zweiten Weltkriegs kam man dem akuten Arbeitskräftebedarf in der Rüstungsindustrie mit Dienstverpflichtungen sowie dem Einsatz ausländischer Kriegsgefangener, Zwangsarbeiter und Häftlingen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück nach. Als Zentrum der Rüstungsindustrie des Dritten Reichs wurde Rostock bereits ab Juni 1940 bombardiert. Am Ende des Krieges waren fast 25 % der Wohnhäuser vollständig zerstört, weitere ca. 60 % beschädigt. Ebenso zerbombt waren das Stadttheater, das Post- und Telegrafenamt, das Oberlandes- und das Amtsgericht, das Landratsamt, zwei Kliniken, drei Schulen und zahlreiche kulturhistorische Bauten. Am 1. Mai 1945 zog die Rote Armee nahezu kampflos in die Stadt ein. DDR-Zeit Mecklenburg wurde eines von fünf Ländern der Sowjetischen Besatzungszone. In Rostock lebten nur noch 69.000 Menschen, große Teile der Stadt waren zerstört. Die Besatzungsmacht begann, einen Teil der existierenden Betriebe zu demontieren. In der Nachkriegszeit galt es v. a., die Häuser und die Wirtschaft wieder aufzubauen. Ein erstes Zeichen setzte 1946 die Industrieausstellung „Rostock baut auf“. Bis 1950 war die Bevölkerung durch Heimkehrer, Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und weiterer Zuwanderer wieder auf Vorkriegsniveau angewachsen. Am 7. Oktober 1949 wurde die SBZ zum Staatsgebiet der neu gegründeten Deutschen Demokratischen Republik. Bei der ersten freien Wahl zur Rostocker Stadtverordnetenversammlung 1946 hatte die aus SPD und KPD vereinigte SED gegenüber den bürgerlichen Parteien LDPD und CDU nur durch das Mandat des Frauenausschusses die Mehrheit erreicht. Der trotz seiner Kritik an der Zwangsvereinigung zum Oberbürgermeister eingesetzte Albert Schulz war im Sommer 1949 zurückgetreten und in den Westen geflohen. Von seinen Nachfolgern ging kein Widerstand aus. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung aufgrund des Mangels an Unterkünften und der schlechten Versorgung mit Konsumgütern, der Enteignungswelle unter dem Decknamen Aktion Rose etc. mündete 1953 in den Aufstand des 17. Juni. Zur Beruhigung lenkte man ein: Stromsperren wurden aufgehoben, einige Geschäfte an ihre Besitzer zurückgegeben und die Renten und Löhne erhöht. Durch die Verwaltungsreform 1952 zur Bezirksstadt erhoben, erfuhr Rostock alsbald eine systematische Aufwertung. In den Folgejahren entwickelte sich die Stadt zum Schiffbau- und Schifffahrtszentrum des Landes. Neben den Werften waren 1949 das Dieselmotorenwerk (DMR), 1950 das spätere Fischkombinat und 1952 die Deutsche Seereederei entstanden. Zwischen 1957 und 1960 folgte der Überseehafen Rostock. Seit 1955 wurde in Rostock die Ostseewoche ausgerichtet, nach der Leipziger Messe die wichtigste Großveranstaltung der DDR mit internationalem Akzent. Im Gegensatz zu Industrieanlagen wurden Wohnungen zunächst jedoch nur schleppend neu errichtet. Einen raschen Wiederaufbau erfuhr lediglich die stark zerstörte Östliche Altstadt. Schwerpunkt des Städtebaus war ab 1953 der Ausbau der Langen Straße zur sozialistischen Achse. Das Entstehen neuer Sportstätten und öffentlicher Gebäude wäre ohne die unentgeltlich geleistete Wiederaufbauarbeit kaum möglich gewesen. Ebenso halfen die Mitglieder von Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft im Wohnungsbau mit. 1953 bzw. 1958 begann der Bau zweier großer Neubaugebiete in Reutershagen. 1960 zählte Rostock über 158.000 Einwohner. Rostock wuchs in den 1960er und 1970er Jahren weiter. 1971 wurde die 200.000er-, 1987 die 250.000er-Marke überschritten. Die industrielle Plattenbauweise ermöglichte ein rasantes Bautempo. In dreieinhalb Jahrzehnten entstanden neun Großwohnsiedlungen mit rund 54.000 Wohnungen, in denen mehr als die Hälfte aller Rostocker wohnte. Große Teile der Altbausubstanz wurden dagegen dem Verfall preisgegeben. Anfang der 1980er-Jahre riss man die nach dem Krieg nur dürftig reparierte Nördliche Altstadt nahezu komplett ab. Die Wohnbauten wurden ersetzt durch weitgehend an das historische Stadtbild angepasste Plattenbauten. Den Höhepunkt der baulichen Umgestaltung bildete das Fünf-Giebel-Haus am Universitätsplatz (1984–86). Ab 1989/90 Während der Umbruchszeit 1989 waren die Rostocker Kirchen Anlaufstellen oppositioneller Kräfte, die sich in der Marienkirche zu Mahngottesdiensten unter der Leitung von Pastor Joachim Gauck versammelten. Die erste Donnerstagsdemonstration fand am 19. Oktober statt. Ende November wurde in Rostock ein Runder Tisch gebildet, um aktiv den politischen Umbruch mitzugestalten. Nach der Deutschen Wiedervereinigung 1990 hatte die Stadt mit enormen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen und erlebte einen starken Bevölkerungsrückgang um ungefähr 50.000 Einwohner, der erst nach 2000 zum Stillstand kam. Als ein Tiefpunkt dieser Zeit müssen die ausländerfeindlichen Ausschreitungen von Lichtenhagen im August 1992 gewertet werden, an denen sich mehrere hundert teilweise extremistische Randalierer und bis zu 3000 applaudierende Zuschauer beteiligten, und die als die massivsten rassistisch motivierten Übergriffe der deutschen Nachkriegsgeschichte gelten. Rostock richtete die Internationale Gartenbauausstellung 2003 (IGA) aus und unterhält auf dem Gelände seither auch eine Kongress- und Messehalle (HanseMesse). Eine gemeinsame Bewerbung mit Leipzig um die Austragung der Olympischen Sommerspiele 2012 misslang 2004 schon in der internationalen Vorauswahl durch das IOC. Der G8-Gipfel 2007 fand im 22 km entfernten Seebad Heiligendamm statt. Im September 2012 wurde mit dem Darwineum eine Evolutionsausstellung im Rostocker Zoo eröffnet. 2018 feierte die Stadt das Doppeljubiläum 800 Jahre Rostock und 600 Jahre Universität. Anlässlich dieses Jubiläums gab die Deutsche Post AG eine Sonderbriefmarke im Nennwert von 70 Eurocent heraus. Bevölkerung Da Rostock lange Zeit nicht über seine Grenzen hinauswuchs, blieb die Einwohnerzahl vom Mittelalter bis in das 19. Jahrhundert konstant bei maximal 11.000 bis 14.000 Personen. Erst mit der Industrialisierung begann diese schnell zu wachsen und überschritt 1935 die Grenze von 100.000, wodurch Rostock zur Großstadt wurde. Bis 1940 stieg die Bevölkerungszahl dann auf 129.500. Auf Grund des Zweiten Weltkriegs sank diese bis Mai 1945 um etwa die Hälfte auf 68.928, stieg dann aber mit der Zuwanderung deutscher Vertriebener aus den Ostprovinzen schnell an. 1971 wurde die Zahl von 200.000 Einwohnern überschritten. 1988 erreichte die Bevölkerungszahl der Stadt mit rund 254.000 ihren Höchststand. Nach der Wende in der DDR verlor die Stadt wegen hoher Arbeitslosigkeit, des Wegzugs vieler Einwohner in das Umland und des Geburtenrückgangs mit 55.000 Personen 22 Prozent ihrer Bewohner. 2007 stieg die Bevölkerung Rostocks wieder auf über 200.000 Personen an, zum Jahresende lebten 200.413 Menschen in der Stadt. Bis Ende 2022 stieg die Einwohnerzahl auf 209.920. Im Zuge des Bevölkerungswachstums nimmt auch die Bedeutung des Immobilienmarktes und im Speziellen des Wohnungsmarktes in Rostock und seiner Regiopolregion zu, die Miet- und Eigentumspreise steigen in attraktiven Wohnlagen wie in urbanen Blockrandvierteln und Villenkolonien konstant. Zudem entstehen an vielen Stellen im Stadtgebiet Neubauviertel. Politik Bürgermeister An der Spitze der Stadt stand seit dem 13. Jahrhundert der Rat mit zunächst 10, später 24 Ratsherren. Den Vorsitz hatte der Proconsules beziehungsweise Bürgermeister. Im 19. Jahrhundert gab es sogar drei Bürgermeister. Seit 1925 trägt der Bürgermeister den Titel Oberbürgermeister. Dieser wurde über Jahrhunderte vom Rat der Stadt gewählt. Seit 2002 wird er direkt vom Volk gewählt. Die Amtszeit beträgt zurzeit sieben Jahre. Bei der ersten direkten Wahl des Oberbürgermeisters 2002 setzte sich Arno Pöker (SPD) in der Stichwahl gegen den Konkurrenten der CDU durch. Pöker hatte das Amt bereits seit 1995 inne. Am 31. Oktober 2004 trat Pöker vom Amt des Oberbürgermeisters zurück. Der Grund für den Rücktritt war die breite Kritik an seinem Führungsstil und an der Finanzierung der Internationalen Gartenbauausstellung 2003. Bis zur Amtsübernahme des direkt gewählten Nachfolgers übernahm Ida Schillen (PDS) das Amt kommissarisch und war damit die erste Frau in diesem Amt. Zum Oberbürgermeister der Hansestadt Rostock wurde am 27. Februar 2005 Roland Methling (parteilos) im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit gewählt, bei der Wahl am 5. Februar 2012 wurde er erneut im ersten Wahlgang gewählt. Die folgende Bürgermeisterwahl in Rostock fand am 26. Mai 2019 statt. Der bisherige OB Roland Methling trat aus Altersgründen nicht erneut an. Die meisten Stimmen erhielt der von FDP und CDU unterstützte parteilose Kandidat Claus Ruhe Madsen (34,6 %), gefolgt von Steffen Bockhahn (Linke, 18,9 %) und Chris Müller-von Wrycz Rekowski (SPD, 13,2 %). Sieger der Stichwahl zwischen Madsen und Bockhahn am 16. Juni 2019 wurde Claus Ruhe Madsen mit 57,1 %. Er trat sein Amt im September 2019 an und schied im Juni 2022 aus, als er Wirtschaftsminister der Landesregierung von Schleswig-Holstein im Kabinett Günther II wurde. Kommissarischer Oberbürgermeister war seitdem Chris von Wrycz Rekowski (SPD). Die erste Runde der daraufhin notwendig gewordenen Oberbürgermeisterwahl fand am 13. November 2022 statt. Dabei errang die Kandidatin der Linken, Eva-Maria Kröger, mit 25,3 % die relative Mehrheit der abgegebenen Stimmen, gefolgt von Michael Ebert, der von CDU, FDP und UFR unterstützt wurde und 23,6 % der Stimmen erreichte und der Leiterin des Staatlichen Bau- und Liegenschaftsamts in Rostock, Carmen-Alina Botezatu, die für die SPD antrat und 16,5 % der Stimmen gewann. Damit wurde eine Stichwahl zwischen Kröger und Ebert nötig, welche am 27. November 2022 stattfand und in der sich Kröger mit 58,4 % gegen Ebert durchsetzte. Kröger ist seit der Amtsübernahme am 1. Februar 2023 Oberbürgermeisterin Rostocks. Damit änderte die Stadt den Behördennamen der Stadtverwaltung in „Hanse- und Universitätsstadt Rostock, Die Oberbürgermeisterin“. Bürgerschaft Die Stadtvertretung trägt aus hanseatischer Tradition die Bezeichnung Bürgerschaft und wird auf 5 Jahre gewählt. Die Bürgerschaft besteht seit 1994 aus 53 Abgeordneten. Bei der ersten Wahl nach der politischen Wende 1989/1990 waren es 130 Sitze. Die Wahl zur Bürgerschaft fand am 26. Mai 2019 parallel zur Wahl des Oberbürgermeisters und im Rahmen der Kommunalwahlen in Mecklenburg-Vorpommern 2019 statt. Das Wahlergebnis ergab folgende Sitzverteilung: Die Linke 11, Bündnis 90/Die Grünen 10, CDU und SPD jeweils 8, AfD 5, UFR 4, Rostocker Bund und die FDP je 2, Die PARTEI, Freie Wähler und Aufbruch 09 jeweils ein Mitglied der Bürgerschaft. Der für den UFR in die Bürgerschaft gewählte OB Roland Methling kündigte vor der konstituierenden Sitzung an, sein Mandat nicht wahrzunehmen. Die LINKE und die PARTEI schlossen sich zu einer Fraktion zusammen, ebenso wie die CDU und drei Abgeordnete des Wählerbündnisses Unabhängige Bürger für Rostock. Auch FDP und Aufbruch 09 bilden seither eine gemeinsame Fraktion. Im rechten Lager wechselten mehrere Abgeordnete die Partei. In der Folge reduzierte sich die Zahl der AfD-Abgeordneten, erfolgte die Auflösung der Fraktionsgemeinschaft von RB/FW und die Führung des Namens Rostocker Bund. Die endgültige Sitzverteilung geht aus dem nebenstehenden Balkendiagramm hervor (Stand: 3. Juli 2019). Seit dem Austritt eines Mitglieds am 2. September 2020 besteht die RB-Fraktion aus 5 Mitgliedern. Der Ausgetretene wurde „Freier Wähler“ mit einem Sitz. Seit dem Austritt eines AfD-Mitglieds im März 2021 hat die Partei nur noch zwei Sitze inne. Die Bürgerschaft wählt ein Mitglied zum Präsidenten / zur Präsidentin. Dieses repräsentative Amt wurde 1990 durch die damalige Volkskammer der DDR eingeführt (Gesetz über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise in der DDR). Zunächst hauptamtlich wahrgenommen, wird es seit der Änderung der Kommunalverfassung 1994 ehrenamtlich ausgeführt. Der Präsident der Bürgerschaft leitet die Sitzungen, bereitet diese vor und vertritt die Bürgerschaft nach außen. Als Beschwerdekommission ist das Präsidium der Bürgerschaft zudem zuständig für die Behandlung von Angelegenheiten der Einwohnern, denen in der DDR-Vergangenheit Unrecht zugefügt wurde, sowie für Beschwerden allgemeiner Art. Seit dem 3. Juli 2019 ist Regine Lück (Die Linke) Präsidentin der Bürgerschaft. Verwaltung Rostock ist neben Schwerin eine von zwei kreisfreien Städten in Mecklenburg-Vorpommern. Als solche nimmt Rostock neben den Aufgaben als Gemeinde zusätzlich die eines Landkreises wahr. Die Verwaltung ist in den Bereich des Oberbürgermeisters und drei Senatsbereiche gegliedert. Beim Oberbürgermeister sind die Bereiche Zukunft, Wirtschaft, Grundsatz angesiedelt, drei Senatoren bearbeiten die Gebiete Finanzen, Verwaltung und Ordnung, Bau und Umwelt sowie Jugend und Soziales, Gesundheit, Schule und Sport. Die Ortsteile der Stadt sind zu insgesamt 19 Ortsteilvertretungen zusammengefasst. Diese Gremien heißen Ortsbeiräte und werden von der Bürgerschaft der Stadt Rostock nach jeder Kommunalwahl durch die Bürgerschaft neu bestimmt. Die Sitzverteilung erfolgt dabei auf Basis des Kommunalwahlergebnisses in den jeweiligen Ortsbereichen. Ihre Mitgliederzahl schwankt je nach Größe ihres Zuständigkeitsbereichs zwischen 9 und 13. Die Ortsbeiräte sind zu wichtigen Angelegenheiten in ihren Ortsteilen zu hören und sind vor allem beratend tätig. Eine endgültige Entscheidungskompetenz hat jedoch nur die Bürgerschaft der Gesamtstadt. Städtepartnerschaften Rostock unterhält seit 1987 eine deutsch-deutsche Städtepartnerschaften mit Bremen, in deren Rahmen nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung Aufbauhilfe von Bremen für Rostock geleistet wurde, die aber seitdem in gegenseitigem Einverständnis ruht und lediglich bei besonderen Anlässen durch Besuche und aktive Beteiligung beider Seiten gewürdigt wird. Rostock unterhält zudem innerhalb der Europäischen Union Städtepartnerschaften mit Stettin in Polen seit 1957, Turku in Finnland seit 1959, Dünkirchen in Frankreich seit 1960, Riga in Lettland seit 1961, Antwerpen in Belgien seit 1963, Aarhus in Dänemark seit 1964, Göteborg in Schweden seit 1965, Rijeka in Kroatien und Warna in Bulgarien seit 1966. 2014 wurde anlässlich des 25. Jahrestags der Maueröffnung eine Städtepartnerschaft mit dem dänischen Guldborgsund geschlossen. Außerhalb der Europäischen Union gibt es Städtepartnerschaften mit Bergen in Norwegen seit 1965, Dalian in der Volksrepublik China seit 1988 und Raleigh (North Carolina) in den USA seit 2001. Rostock ist Teil der internationalen Städtegemeinschaft Neue Hanse und Mitglied im Konvent der Bürgermeister. Wappen, Flagge und Logo Stadtwappen Die Hansestadt Rostock hatte in ihrer Geschichte drei verschiedene Wappen. Das sogenannte Sigillum war seit 1257 das Stadtsiegel Rostocks und zeigt einen gekrönten Stierkopf, der später das Mecklenburger Wappen wurde. Das aufgrund seiner sicheren Aufbewahrung als Secretum bezeichnete Wappen, das nur einen Greifen zeigt, ist erstmals 1307 belegt. Der Greif ist das herrschaftliche Zeichen der Rostocker Fürsten. Das heute gültige Wappen, das Signum ist 1367 als Siegelstempel entstanden. In seiner heutigen Form wurde das Wappen allerdings erst am 10. April 1858 durch Großherzog Friedrich Franz II. eindeutig festgelegt. Bis zu dem Zeitpunkt hatten lange verschiedene Wappen, welche von den Siegeln entlehnt worden waren, miteinander konkurriert. Die Blasonierung des offiziellen Wappens findet sich in der Hauptsatzung der Hansestadt Rostock: „Das Stadtwappen ist ein geteilter Schild; oben in Blau ein schreitender goldener Greif mit aufgeworfenem Schweif und ausgeschlagener roter Zunge; unten von Silber über Rot geteilt“ Silber und Rot sind die Farben der Hanse. 1993 ist aus dem Stadtwappen im Rahmen eines Wettbewerbs ein Logo entwickelt worden. Flagge Im Laufe der Geschichte hat sich die Stadtflagge mehrmals verändert. Eine Rostocker Hanseflagge ist erstmals 1418 belegt. In der heutigen Form wurde sie zuletzt in der Hauptsatzung von 1991 vom Rat der Stadt festgelegt. Die Stadtflagge besteht aus drei waagerechten Streifen. Der obere Streifen zeigt die Farbe Blau. Er nimmt die Hälfte der Flaggenhöhe ein und ist mit einem zum Liek gewendeten, schreitenden goldenen (gelben) Greifen mit aufgeworfenem Schweif und ausgeschlagener roter Zunge belegt. Der mittlere Streifen zeigt die Farbe Silber (Weiß), der untere Streifen die Farbe Rot. Die beiden unteren Streifen nehmen je ein Viertel der Höhe ein. Die Höhe des Flaggentuchs verhält sich zur Länge wie 3:5. Logo Das Logo der Hansestadt Rostock zeigt den Rostocker Greif mit zwei segelartigen Formen, die die Stadtfarben Blau, Weiß und Rot bilden. Unter der Abbildung steht „Hanse- und Universitätsstadt Rostock“. Es wurde im Rahmen eines Wettbewerbes im Juli 1993 von der Werbeagentur FAB Kommunikation entwickelt. Es soll als Erkennungsfaktor dienen und ein optisches Zeichen sein, dass in der Öffentlichkeit automatisch mit der Hansestadt Rostock verbunden werden soll. Kultur und Sehenswürdigkeiten Stadtbild, Baudenkmale und Sehenswürdigkeiten Trotz aller Zerstörungen, die vor allem der Stadtbrand von 1677 und die Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs, aber auch die Stadtplanung infolge des Wachstums im 19. Jahrhundert und zur Zeit der DDR verursachten, verfügt Rostock über einen reichen Altbaubestand und einen relativ geschlossenen historischen Stadtkern. Besonders hervorzuheben sind Gebäude im Stil der Backsteingotik aus der Zeit der Hanse. Die größte Kirche ist St. Marien im Stadtzentrum, ein Hauptwerk der norddeutschen Backsteingotik, geprägt von einem mächtigen Westbau mit Turmmassiv. Der Bau der dreischiffigen Basilika, die aber den Charakter eines Zentralbaus hat, begann um 1290 und war um die Mitte des 15. Jahrhunderts abgeschlossen. St. Marien weist eine besonders reiche Ausstattung auf. Eine frühgotische Vorgängerkirche wurde erstmals 1232 urkundlich erwähnt. In der Östlichen Altstadt stehen die St.-Petri-Kirche am Alten Markt, deren Umgebung die Keimzelle Rostocks darstellt, sowie die frühgotische Nikolaikirche. Ferner ist die Kirche des Klosters zum Heiligen Kreuz im westlichen Stadtzentrum erwähnenswert. Außerhalb der Stadtmauern befinden sich die Heiligen-Geist-Kirche in der Kröpeliner-Tor-Vorstadt und die Kirche Warnemünde, die beide im neogotischen Stil des 19. und frühen 20. Jahrhunderts errichtet wurden. Dem gotischen Rathaus aus dem 13. und 14. Jahrhundert wurde 1727 eine barocke Fassade vorgesetzt. Beispiele prachtvoller gotischer Kaufmannshäuser sind das Hausbaumhaus, das Kerkhoffhaus, das Ratschow-Haus oder das Krahnstöverhaus in der Großen Wasserstraße. Zahlreiche im Kern mittelalterliche Bürgerhäuser wurden später barock oder klassizistisch überformt, vor allem in repräsentativen Lagen wie am Neuen Markt, in der heutigen Kröpeliner Straße oder am heutigen Universitätsplatz (früher Hopfenmarkt). Von der Rostocker Stadtbefestigung sind heute noch drei mittelalterliche Stadttore aus Backstein (Steintor, Kuhtor, Kröpeliner Tor) und eines aus klassizistischer Zeit (Mönchentor), ein Wehrturm (Lagebuschturm), größere Teile der Stadtmauer auf einer Länge von insgesamt etwa 1300 Metern, teilweise mit Wieckhäusern, sowie Teile des Festungswalls erhalten. Markante Bauten des 19. Jahrhunderts sind unter anderem das neugotische Ständehaus, das Hauptgebäude der Universität am Universitätsplatz im Stil der Neorenaissance. Im frühen 20. Jahrhundert wurde die Stadt stark erweitert, dabei entstand unter anderem ein Villenviertel in der Bahnhofsvorstadt (mit der Zeeckschen Villa als einem wegweisenden Bauwerk dieser Zeit) und das Arbeiterquartier Kröpeliner-Tor-Vorstadt. Zu den zahlreichen Bauten aus der Zeit der Industrialisierung zählt der Wasserturm von 1903. Eine Reihe von stadtbildprägenden Bauten wurde im Krieg zerstört, einige weitere auch in den 1950er und 1960er Jahren abgerissen. Mit der Langen Straße entstand in den 1950er Jahren eine repräsentative Magistrale im Stil des Sozialistischen Klassizismus unter Einbeziehung von Elementen der Backsteinarchitektur. Größere Wohngebiete entstanden in den 1960er und 1970er Jahren im Süden und vor allem im Nordwesten der Stadt. Weitere Plattenbaugebiete folgten in den 1980er Jahren im Nordosten Rostocks. Mehrere von Ulrich Müther entworfene Hyparschalen-Bauten wurden um 1970 in Rostock gebaut. Dazu zählen die Gaststätte „Kosmos“ in der Südstadt, der „Teepott“ in Warnemünde oder die Christuskirche südwestlich der Innenstadt, die als Ersatz für die 1971 abgerissene katholische Kirche am Schröderplatz diente. Ende der 1990er Jahre entstand unter Leitung von Gerkan, Marg und Partner hinter der Gründerzeitfassade des ehemaligen Hotels „Rostocker Hof“ eine der innerstädtischen Einkaufspassagen in Rostock. Dasselbe Architekturbüro zeichnete auch für das städtebauliche Konzept und die Bauten der IGA 2003 verantwortlich. Das Büro des dänischen Architekten Henning Larsen entwarf die sachlich-modernen Gebäude des Max-Planck-Instituts am Stadthafen, das 2001 fertiggestellt wurde, und der Universitätsbibliothek in der Südstadt (2004). 2005 entstand im Stadtzentrum der postmoderne Bau der Deutschen Med vom deutsch-amerikanischen Architekten Helmut Jahn. Weitere Sehenswürdigkeiten sind der Botanische Garten, der Park der ehemaligen IGA, die Rostocker Heide mit dem „Gespensterwald“ und der Rostocker Zoo im Naherholungsgebiet Barnstorfer Wald, der seit 2012 mit dem Darwineum eine besondere Attraktion bietet. Auch der Neue Friedhof – als Flächendenkmal unter Schutz stehende Parkfriedhofsanlage – ist mit seinem wertvollen Baumbestand einen Besuch wert. Im maritim geprägten Warnemünde sind der Alte Strom mit einer Reihe kleiner Fischerhäuser und der Leuchtturm von 1898 Wahrzeichen dieses Stadtteils. In den 1920er und 1930er Jahren entstanden als bedeutende Einzelbauwerke des Neuen Bauens das Kurhaus Warnemünde. Am Teepott beginnt die Seepromenade. Der Strand ist über drei Kilometer lang, steinfrei und wird in Richtung Steilküste Stoltera immer schmaler. Musik Rostock bietet, vor allem durch die Hochschule für Musik und Theater (HMT, siehe unten) und durch das A-Orchester Norddeutsche Philharmonie am Volkstheater Rostock, eine reiche Musikszene auf hohem Niveau. Das wichtigste Orchester der Stadt ist die Norddeutsche Philharmonie am Volkstheater, der größte Klangkörper des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Neben der Mitwirkung an den musikalischen Oper-, Operetten-, Musical- und Ballettaufführungen werden auch die regelmäßig stattfindenden Philharmonischen Konzerte gut besucht. Regelmäßig finden Konzerte nicht nur im Großen Haus, sondern auch im Barocksaal und der Nikolaikirche statt. Am Volkstheater ist auch die Rostocker Singakademie, eine aus Berufssängern und Laien bestehende Chorvereinigung tätig. Tragende Säulen der Aufführungen von klassischer Musik in Rostock sind die Kantoreien der St.-Johannis-Kirche, der Marienkirche und der Kirche Warnemünde. Die verschiedenen Chöre dieser Kantoreien bestreiten neben der musikalischen Begleitung der Gottesdienste eine rege Konzerttätigkeit mit Aufführungen von Kantaten, Motetten und Oratorien teilweise in Begleitung international namhafter Solisten und Orchester. Seit 1991 finden im ganzen Land jährlich im Sommer die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern als ein Festival klassischer Musik statt. Zu den Spielorten in Rostock gehört während des Sommers auch eine alte Schiffbauhalle der Neptun-Werft. Mit der Pasternack Big Band ist in Rostock eine der wenigen noch existierenden Big Bands in Norddeutschland beheimatet. Es gibt weiterhin kleinere aktive und ambitionierte Jazz-Ensembles und Bands, wie Swing for Fun, The Marching Saints, die Breitling-Stompers, Ipanema und Fritzings Dixie Crew, die unterschiedliche Genres und Stilistiken bedienen und sich harmonisch in die Jazz-Szene Norddeutschlands einfügen. Die Reihe Jazzdiskurs stellt regelmäßig bekannte und unbekannte Formationen und Solisten aus allen Stilrichtungen des Jazz vor, im Bogarts Jazz Club (ansässig in der Kneipe und Kleinkunstbühne „Ursprung“) gibt es Blues und Rock, Dixieland, Bebop oder Modern Jazz. Der Jazzclub Rostock e. V. wirkt auf eine Entwicklung der Jazzmusik in Rostock und Umgebung hin. Jährlich findet in Rostock ein fünftägiger Jazz-Workshop für traditionellen Jazz, Mainstream, modernen Jazz, zeitgenössischen Jazz und Blues statt. Überregional bekannt und aktiv ist der Shantychor Die Blowboys. Theater Bis in das 19. Jahrhundert hinein traten wandernde Schauspielgruppen in Rostock auf den Marktplätzen, in angemieteten Sälen oder Gasthöfen auf. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts diente das Ballhaus am Johannisplatz als Aufführungsstätte, ehe 1786 das Städtische Komödienhaus entstand, das 1880 durch einen Brand zerstört wurde. Das Stadttheater südöstlich des Steintors wurde 1895 eingeweiht und im April 1942 durch britische Luftangriffe zerstört. Das Rostocker Volkstheater entwickelte sich ab 1952 zu einer der profiliertesten Bühnen der DDR. Ambitionierte Pläne für einen Neubau wurden seit den 1970er Jahren diskutiert, aber nie verwirklicht. Stattdessen wurden das in den 1940er Jahren als provisorische Spielstätte eingerichtete Große Haus allmählich ausgebaut und erweitert. Heute verfügt das Volkstheater über die drei Spielstätten Großes Haus, das Theater im Stadthafen sowie die Kleine Komödie und deckt die Sparten Schauspiel, Musiktheater/Oper, Ballett und Philharmonie ab. Speziell für Kinder und Jugendliche gibt es ein Kindertheater und einen Theaterjugendclub. Die äußerst angespannte Haushaltslage Rostocks führt zu ständig größer werdenden Einsparungsforderungen an das Theater, die seine Existenz als vollwertiges Vier-Sparten-Theater in Frage stellen. Neben dem städtischen Volkstheater bereichert auch die 1991 gegründete freie Compagnie de Comédie in der Bühne 602 die Rostocker Theaterlandschaft mit Musical, Schauspiel, Komödie, Konzerten und Märchen. Seit fast 90 Jahren gibt es die Niederdeutsche Bühne Rostock, die in der Bühne 602 und im Theater im Stadthafen mit regelmäßig zwei Premieren pro Spielzeit auftritt. Das jüdische Theater Mechaje ist seit 1997/1998 Bestandteil des Rostocker Theaterlebens. Kinos Die ersten Rostocker Kinos gingen bereits während der Stummfilm-Zeit an den Start. In der Anfangszeit wurden dafür bekannte Lokalitäten zu Kinosälen umfunktioniert. Von insgesamt neun Lichtspieltheatern in Rostock und Warnemünde überstanden nur sechs den Zweiten Weltkrieg: Capitol, Hansa-Theater, Metropol, Palast-Theater (ab 1953 Theater des Friedens), Union-Theater (nach einem Umbau Kino Café Camera) und Park-Lichtspiele in Warnemünde wurden auch in der DDR betrieben. Bis heute überlebt haben nur zwei dieser Kinos. Als Programmkino zeigt das Lichtspieltheater Wundervoll (Li.Wu.) seit 1993 künstlerisch und politisch ambitionierte Filme. Die beiden Spielstätten in der Kröpeliner-Tor-Vorstadt sind das 2012 wieder eröffnete Metropol und die 2014 errichtete Frieda23. Die Frieda23 ist außerdem zentrale Spielstätte Rostocker Filmfestivals. Das CineStar Capitol wartet mit 4 Kinosälen und 1089 Sitzplätzen auf. Für die Vorführung kommerziell geprägter Blockbuster wurde 1996 im Ortsteil Lütten Klein das erste CineStar Multiplex-Kino Mecklenburg-Vorpommerns errichtet: mit 7 Leinwänden und 1996 Sitzplätzen. Zoo Der Zoo Rostock wurde 1899 gegründet und erstreckt sich auf einer Fläche von 56 Hektar im Barnstorfer Wald. Mit rund 4500 Tieren und 450 verschiedenen Tierarten ist er der größte Zoo an der deutschen Ostseeküste. Dazu zählen Eisbären, Großkatzen (Löwen, Schneeleoparden, Jaguare), Erdmännchen, Pinguine, Seebären, Gorillas, Orang-Utans und viele andere. Im September 2012 wurden mit dem Darwineum des Zoos eine Evolutionsausstellung und eine neue Bleibe vor allem für die Primaten eröffnet, 2018 wurde mit dem Polarium eine neue moderne Anlage zur Beheimatung unter anderem der Eisbären und Pinguine errichtet. Museen Die von einem Verein privat betriebene Kunsthalle ist das größte Ausstellungshaus für zeitgenössische Kunst in Mecklenburg-Vorpommern. Sie war der erste und einzige Neubau eines Kunstmuseums in der DDR. In der Sammlung sind vor allem bedeutende Kunstwerke aus den Regionen Mecklenburg und Vorpommern, sowie Werke des Spätexpressionismus und der Neuen Sachlichkeit vertreten. Das Kulturhistorisches Museum im Kloster zum Heiligen Kreuz, ist eines der größten und bedeutendsten Museen in Mecklenburg-Vorpommern. Das Museum beherbergt u. a. eine Sammlung von rund 70 Gemälden niederländischer Malerei des 16. bis 19. Jahrhunderts, die zu den wichtigsten in Norddeutschland zählt. Eine Dauerausstellung zur Rostocker Stadtbefestigung im Kröpeliner Tor sowie die Societät Rostock maritim (ehemals Schiffbaumuseum samt Traditionsschiff Typ Frieden) zeigen (kultur-)historische Exponate. Das Kempowski-Archiv ist als Literaturmuseum dem Leben und Werk Walter Kempowskis gewidmet. Die Dokumentations- und Gedenkstätte des BStU in der ehemaligen U-Haft der Stasi setzt sich mit der Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auseinander und erinnert an die Opfer. Sie ist eine der am besten erhaltenen Untersuchungshaftanstalten des MfS. Außerhalb des Stadtzentrums gibt es das Heimatmuseum Warnemünde, das Schiffbau- und Schifffahrtsmuseum auf dem Traditionsschiff Typ Frieden in Rostock-Schmarl und den Forst- und Köhlerhof Wiethagen. Literatur Das Literaturhaus Rostock im Peter-Weiss-Haus widmet sich schwerpunktmäßig der Förderung von Autoren und der Stärkung der Lesekompetenz bei Kindern und Jugendlichen. Regelmäßig finden Lesungen, Workshops, Schreibwerkstätten und Ausstellungen statt. Das Haus richtet jährlich die Peter-Weiss-Woche aus. 2010 wurde in Rostock auf Initiative zahlreicher Wissenschaftler der Johnson-Forschung mit Unterstützung der Universität und der Stadt Rostock die Uwe-Johnson-Gesellschaft gegründet. Veranstaltungen Die größte regelmäßige Veranstaltung in Rostock ist die Hanse Sail. Sie steht in der Tradition der Internationalen Ostseewoche, deren Hauptveranstalter Rostock von 1958 bis 1975 war. Sie findet jährlich im August statt und zieht bis zu einer Million Besucher an. Der Weihnachtsmarkt ist der größte Norddeutschlands. Zu Pfingsten findet seit 1390 der Rostocker Pfingstmarkt statt. Er entwickelte sich von einer frühneuzeitlichen Handels- und Warenmesse zu einem Volksfest. Bis in die 1930er Jahre war der Pfingstmarkt die größte Veranstaltung seiner Art in Rostock. Erst in den 1960er Jahren wurden der Weihnachtsmarkt und andere Veranstaltungen wichtiger. Am Jahresbeginn findet der Kabarettistenwettbewerb Der Rostocker Koggenzieher statt, ab Ende März bis in den Juni der Bücherfrühling an der Warnow, der viele Lesungen und Ausstellungen bietet, seit April 2004 außerdem die halbjährlich stattfindende Literaturshow Prosanova, im April und Oktober ist Rostocker Kulturwoche. Im Mai feiert die Kröpeliner-Tor-Vorstadt das Stadtteilfest Blaumachen. Ebenfalls im Mai findet das Kurzfilmfestival FiSh statt. Im Juni ist Ostseejazz-Festival, im Juli dann der Rostocker Sommer mit Musik, Folklore, Literatur und am Strand die Veranstaltungsreihe Sommer der Kulturen, darüber hinaus auch Warnemünder Woche und der Rostocker Christopher Street Day. Im September finden schließlich das Boulevardfest und das Rostocker Hafenfest statt, gefolgt von der Rostocker Lichtwoche Anfang November, bevor das Veranstaltungsjahr mit dem Rostocker Weihnachtsmarkt im November/Dezember und den großen Silvesterfeuerwerken im Stadthafen und Warnemünde endet. Alle zwei Jahre wird für kulturelles Engagement und für Leistungen, die das Geistes- und Kulturleben der Hansestadt Rostock wesentlich bereichern, der Kulturpreis der Hansestadt Rostock verliehen. 2018 feiert die Hansestadt Rostock ihr 800-jähriges Stadtjubiläum und richtete zudem das Landesfest Mecklenburg-Vorpommern-Tag aus. Rostock erhielt den Zuschlag, die Bundesgartenschau 2025 auszurichten. Wirtschaft Im Jahre 2016 erbrachte Rostock innerhalb der Stadtgrenzen ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 7,218 Milliarden € und belegte damit Platz 52 innerhalb der Rangliste. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 34.910 € (Mecklenburg-Vorpommern: 25.454 €, Deutschland 38.180 €). Das BIP je Erwerbsperson beträgt 62.689 €. 2016 wuchs das BIP der Stadt nominell um 0,9 %, im Vorjahr betrug das Wachstum 1,1 %. In der Stadt sind 2017 ca. 115.100 Erwerbstätige beschäftigt. Die Gesamtverschuldung der Stadt lag Ende 2021 bei ca. 1,32 Mrd. Euro (6.353 €/Kopf). Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 7,3 % und damit unter dem Durchschnitt von Mecklenburg-Vorpommern von 7,6 % (im benachbarten Landkreis Rostock betrug sie 5,6 %). Im Zukunftsatlas 2019 wird Rostock auf Rang 224 von 401 kreisfreien Städten und Landkreisen geführt. Damit belegt die Stadt den Spitzenplatz innerhalb Mecklenburg-Vorpommerns. Wirtschaftsgeschichte Die Rostocker Wirtschaft erlebte immer wieder Strukturwandel. Die Hanse und der damit verbundene Freihandel in Europa bescherten der Stadt einen enormen wirtschaftlichen Aufstieg. Ihre Kirchtürme gehörten zu dieser Zeit zu den höchsten Gebäuden der Welt. Dieser Aufstieg versiegte erst, als der Atlantikhandel an Bedeutung zunahm: Der Hansebund war einer enormen Konkurrenz ausgesetzt und konnte sich nicht länger gegen die Fürsten behaupten. Machtkämpfe während des Dreißigjährigen Krieges ließen die Stadt wirtschaftlich ausbluten und mündeten in einem großen Stadtbrand, von dem sich Rostock lange nicht erholte. Erst die Industrialisierung schuf neue Infrastruktur in der Stadt. Im Zweiten Weltkrieg wurden aber wirtschaftliche Strukturen zerstört und Industrien wie der Flugzeugbau zunächst nicht wieder etabliert. Nach dem Krieg hatte die Stadt als größter Ostseehafen mit dem wichtigsten Werftenstandort des neuen DDR-Staates eine besondere Bedeutung. Mit der Wiedervereinigung stand die Stadt dann vor der Herausforderung, die vorhandene Infrastruktur den veränderten ökonomischen Bedingungen anzupassen. Während dieses Prozesses verloren zunächst zahlreiche Beschäftigte ihre Arbeit. Im 21. Jahrhundert hat sich Rostock wirtschaftlich erholt und beherbergt einige Wachstumsbranchen im Stadtgebiet, auch im Bereich der Spitzentechnologien. Bedeutende Wirtschaftszweige und Unternehmen Rostock ist heute das wirtschaftliche Zentrum Mecklenburg-Vorpommerns und eines von vier Oberzentren des Landes. Der größte öffentliche Arbeitgeber der Stadt ist gegenwärtig die Rostocker Universität. Der Dienstleistungssektor gewinnt immer mehr an Bedeutung, so siedeln sich Unternehmen der Informationstechnologie, Callcenter, touristische und kreative bzw. online agierende Dienstleister an. Ein wichtiger Wirtschaftszweig für Rostock ist die Maritime Wirtschaft, auch wenn die Fischverarbeitung (Fischkombinat Rostock) nach der Wiedervereinigung stark an Bedeutung verlor und der Schiffbau (Neptun-Werft, Warnow-Werft) sich neu finden musste. Die Rostocker Werften blieben aber erhalten, das Unternehmen MV Werften meldete am 10. Januar 2022 Insolvenz an. Heute (2013) sind im Dienstleistungsbereich die Reedereien Scandlines, AIDA Cruises, Scandferries, Deutsche Seereederei und F. Laeisz von Bedeutung, im produzierenden und verarbeitenden Gewerbe unter anderem Schiffselektronik Rostock, Tamsen Maritim, Liebherr-MCCtec Rostock, sowie die Warnemünder Werften Nordic Yards (ehemals Warnowwerft) und Neptun-Werft. Das Kreuzfahrtunternehmen AIDA Cruises im Rostocker Stadthafen hatte 2012 als größter Arbeitgeber rund 6000 Beschäftigte. In Rostock sind mehrere Frosttrawler deutscher Tochtergesellschaften des niederländischen Fischereikonzerns Parlevliet & Van der Plas beheimatet, darunter mit Maartje Theadora der größte Trawler Europas. Der börsennotierte Windenergieanlagenhersteller Nordex war 2009 das umsatzstärkste Unternehmen des Landes Mecklenburg-Vorpommern. 2007 wurde die Aktie in den (Mitte 2021 eingestellten) ÖkoDAX aufgenommen. Nordex ist (Stand März 2022) im Technologiewerteindex TecDax gelistet. Ein überregional bekanntes Unternehmen ist die Hanseatische Brauerei Rostock GmbH, die unter anderem das mit mehreren DLG-Goldmedaillen ausgezeichnete Bier Rostocker Pils braut und im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern vermarktet. Mit der Wiedereinführung der Marke Mahn & Ohlerich Ende 2011 wird an Georg Mahn und Friedrich Ohlerich erinnert, die die Brauerei 1878 gründeten. Die Gesellschaft für Wirtschafts- und Technologieförderung Rostock mbH – Rostock Business lenkt seit ihrer Gründung im Jahr 2003 die Wirtschaftsförderung in Rostock. Mit der Stadt wurde dazu ein Geschäftsbesorgungsvertrag geschlossen. Gesellschafter sind das Wohnungsunternehmen WIRO, die Hafenentwicklungsgesellschaft HERO Rostock Port und die Rostocker Versorgungs- und Verkehrs-Holding GmbH (RVV). Ziele der Gesellschaft sind die Erhöhung der Wahrnehmbarkeit der Region durch Stadt- und Standortmarketing, allgemeine Aufgaben der Wirtschaftsförderung für die Hansestadt Rostock, Investorenansprache und Akquisition von Unternehmen, Betreuung der ortsansässigen Unternehmen und Existenzberatungsleistungen, sowie Unterstützung und Koordinierung der Technologieförderung. Die Versorgung der Hansestadt Rostock wird mittels der Rostocker Versorgungs- und Verkehrs-Holding GmbH (RVV) gestaltet. Dafür haben sich die RVV als Organträger, die Stadtwerke Rostock und die Rostocker Straßenbahn AG (RSAG) zu einem Querverbund zusammengeschlossen. Luft- und Raumfahrt Rostock hat eine bedeutende Geschichte als Standort der Luft- und Raumfahrtindustrie. Schon der renommierte Astronom Tycho Brahe studierte im 16. Jahrhundert an der Universität Rostock. Der Standort Rostock war zu Vorkriegszeiten eine der innovativsten Produktionsstätten für Luftfahrzeuge weltweit. Im Stadtteil Warnemünde entstand mit den Ernst Heinkel Flugzeugwerken 1922 einer der größten Flugzeugbauer der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Firma brachte der Stadt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den endgültigen Durchbruch in Sachen Industrialisierung, Rostock wurde moderne Großstadt und Technologie-Standort. Die Heinkel He 178 war das weltweit erste Düsenflugzeug und hatte ihren Jungfernflug am 27. August 1939 über Rostock-Marienehe. Seit 1921 gab es in Warnemünde zudem die Arado Flugzeugwerke. Ebenfalls zunächst in Warnemünde und ab 1934 in Ribnitz war der Walther-Bachmann-Flugzeugbau ansässig. Für die Aufrüstungspolitik ab 1933 wurden die meisten Firmen teilenteignet bzw. mussten auf Militärfertigung umstellen. Zu DDR-Zeiten wurden ab 1961 alle verbleibenden Unternehmen der Branche enteignet und z. B. auf landwirtschaftliche Produktion umgerüstet, oder vollständig liquidiert. Nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 konnte sich die Branche im Großraum Rostock wieder etablieren. Mehrere Airbus-Zulieferer mit insgesamt rund tausend Mitarbeitern haben sich rund um Rostock angesiedelt, wie die RST Rostock-System-Technik GmbH, die sich am 2007 eröffneten Zentrum für Luft- und Raumfahrt des Technologieparks Warnemünde befindet. Dort wird gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) auch an der Entwicklung der europäischen Satellitennavigation Galileo gearbeitet, mit dem Projekt „Sea Gate“ für Schiffssteuerung. Auch Edag, die luratec AG, Assystem, Ferchau Engineering und Diehl Aerospace sind am Standort Rostock. Der BDI schlug 2019 vor, im Raum von Rostock einen Weltraumbahnhof zu errichten, der dann in der Lage ist, kleinere Satelliten von Deutschland aus starten zu lassen. Dieser Vorschlag wurde unter anderem vom Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier unterstützt und geprüft. Tourismus Der Tourismus ist für Rostock von großer Bedeutung. 2011 übernachteten gut 1,5 Millionen Gäste in der Stadt, davon fast 900.000 in Warnemünde. Der Anteil ausländischer Gäste machte sowohl in absoluten Zahlen als auch hinsichtlich der Übernachtungen deutlich unter zehn Prozent aus. Kreuzfahrten Für Rostock und die Region sind die Kreuzfahrten von Bedeutung. 2017 wurden bei 190 Anläufen von 36 verschiedenen Kreuzfahrtschiffen 892.000 Passagiere abgefertigt. Begünstigt wird die Situation durch den Flughafen Rostock-Laage, den guten Anschluss an Berlin, Hamburg und Skandinavien als Touristenziele und das 2005 eröffnete Kreuzfahrtterminal. Seit mehreren Jahren nutzt die deutsche Reederei AIDA Cruises Warnemünde als Basishafen für Ostseekreuzfahrten. Auch die spanische Pullmantur nutzt Rostock inzwischen als Basis für ihre Ostseekreuzfahrten. Costa Crociere und MSC Kreuzfahrten nutzen seit 2010 bzw. 2014 Warnemünde neben Kopenhagen als Basishafen für Nordeuropa-Kreuzfahrten. Die Norwegian Cruise Line und die amerikanische Reederei Princess Cruises ermöglichen auf Ostseekreuzfahrten den Zustieg in Warnemünde. Durch zahlreiche Kreuzfahrt-Schiffsanläufe steigt im Raum Warnemünde in der Kreuzfahrtsaison die Belastung durch Rußpartikel. So wurden 2013 nach einer NABU-Studie 300.000 Feinstpartikel pro cm³ gemessen. Damit werde die übliche Verschmutzung in urbanen Räumen um das 60-fache überschritten. Gemessen an der Anzahl der Personen, die sich auf einem Schiff befinden, ist der Ausstoß im Vergleich zum Beispiel zu Automobilen allerdings gering. Die Reedereien vermelden, dass es kontinuierliche Verbesserungen und klare Ausstiegsszenarien gibt. Seit 2015 wird durch die seitdem in Nord- und Ostsee geltenden SECA-Auflagen der weniger belastende Dieselkraftstoff statt des Schweröls eingesetzt. Rußpartikelfilter seien allerdings noch nicht serienreif und neue Motoren würden erst in neuen Schiffsgenerationen verbaut. Medien Das erste periodisch erscheinende Nachrichtenblatt in Rostock, der Auszug der Neuesten Zeitungen erschien ab 1711. 1846 wurde daraus die Rostocker Zeitung, die Zeitung des liberalen Bürgertums der Stadt. Lange auflagenstärkste Zeitung des Landes war der 1881 gegründete Rostocker Anzeiger. Im 20. Jahrhundert spiegelten die Zeitungen vorwiegend die politischen Gruppen wider. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts finden sich im linken politischen Spektrum die sozialdemokratische Mecklenburgische Volkszeitung und die kommunistische Volkswacht, im rechten die völkische Mecklenburger Warte und der nationalsozialistische Niederdeutsche Beobachter. Zur Zeit der DDR wurde die Medienlandschaft vom Staat bestimmt und so erschien als Organ der SED die Volkszeitung, die ab 1946 Landeszeitung und dann 1953 Ostsee-Zeitung heißen sollte. Für die CDU erschien der Demokrat, für die LDPD die Norddeutsche Zeitung, und für die NDPD die Norddeutschen Neuesten Nachrichten. Nach der Wende wurde Der Demokrat an den Verlag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verkauft und wie die Norddeutsche Zeitung 1991 eingestellt. Überlebt haben dagegen die Ostsee-Zeitung (OZ) und die Norddeutschen Neuesten Nachrichten (NNN), die heute als regionale Tageszeitungen in Rostock erscheinen. Daneben gibt das Boulevardblatt Bild eine Regionalausgabe für Mecklenburg-Vorpommern heraus. Es gibt mehrere Online-Stadtmagazine wie Rostock Heute und das Rostocker Journal, außerdem regelmäßig erscheinende kostenlose Anzeigenmagazine. Als Monatspublikationen kommen regelmäßig das 0381-Stadt & Kulturmagazin, das Stadtmagazin Piste Rostock und HRO Live heraus. Das 1994 gegründete Magazin Stadtgespräche erscheint quartalsweise. Die Stadt ist Sitz eines Regionalstudios des NDR, das Beiträge für den Hörfunk und das Fernsehprogramm produziert. Zwei regionale Fernsehsender berichten aus Rostock, der Privatsender tv.rostock und der Bürgerfernsehsender rok-tv (Rostocker Offener Kanal). Ebenfalls in Rostock ansässig ist der seit 2012 sendende landesweite Privatfernsehsender MV1. Im Sommer 2005 ging Radio Lohro, ein nicht kommerzielles Stadtradio für die Region Rostock, auf Sendung. Ebenfalls aus der Hansestadt senden die landesweiten Privatsender Ostseewelle und Antenne MV. Mit einer Rostocker Zweigstelle ist die Deutsche Presse-Agentur (dpa) vertreten. Schutzgebiete Im Stadtgebiet befinden sich fünf ausgewiesene Naturschutzgebiete (Stand Februar 2017). Verkehr Hafen Nach Kriegsende wurde der stark zerstörte Stadthafen, der jahrhundertelang der Haupthafen Rostocks war, in mehrjähriger Arbeit wieder instand gesetzt. Das Wirtschaftswachstum der DDR und der Aufbau einer großen staatlichen Handelsflotte erforderten jedoch den Bau eines neuen, leistungsfähigen Hochseehafens, der 1960 außerhalb der bebauten Stadt am Breitling in Betrieb genommen wurde. Dazu wurde in Warnemünde ein neuer Zugang zur Ostsee gebaggert. Um an die Bedürfnisse der DDR- und Ostblock-Wirtschaft angepasst zu sein, wurde der Überseehafen ständig aus- und umgebaut und erreichte 1989 mit über zwanzig Millionen Tonnen Umschlag – überwiegend Massenschüttgütern – sein bis dahin bestes Ergebnis. Mit der deutschen Einheit begann der mühevolle Weg, den ausschließlich auf DDR-Bedürfnisse ausgelegten Hafen so umzugestalten, dass er einen akzeptablen Platz im Ensemble der deutschen Häfen finden konnte. In den vergangenen 15 Jahren hat der Überseehafen sein Erscheinungsbild und sein Leistungsangebot deshalb stark verändert. Aufgrund des modernen Ölhafens, der Anlagen für den Getreide-, Kohle-, Düngemittel- und Zementumschlag und des Terminals für den Export von Zucker, Holz, Schrott und Stückgütern ist er nach wie vor ein universaler Umschlagplatz. Der Überseehafen ist – gemessen am jährlichen Güterumschlag – der zweitgrößte deutsche Ostseehafen nach dem in Lübeck und nach Puttgarden ist er derjenige mit der zweithöchsten Zahl an Reisenden (ca. 2 Mio. Passagiere). Passagierfähren verkehren nach Gedser (Dänemark) und Trelleborg (Schweden). Seit dem 30. August 2021 gibt es eine weitere Fährverbindung für den Passagier und Frachtverkehr von Rostock nach Nynäshamn (Schweden). Einmal pro Woche soll bei dieser Verbindung die Fähre einen Zwischenstopp in Visby auf Gotland (Schweden) einlegen. Eigentümer der Hafeninfrastruktur ist die Hafen-Entwicklungsgesellschaft Rostock mbH (HERO), ein Gemeinschaftsunternehmen des Landes Mecklenburg-Vorpommern und der Hansestadt Rostock. Der Hafenbetrieb wird durch die Seehafen Rostock Umschlagsgesellschaft mbH, die sich in privatem Besitz befindet, und weitere Unternehmen durchgeführt. 2013 wurden über die Rostocker Hafenanlagen insgesamt 23,2 Millionen Tonnen Güter umgeschlagen (2012: 22,7 Mio. t, 2011: 24 Mio. t), davon 21,4 Mio. t im Rostocker Überseehafen. Auf der Adria-Baltikum-Achse gibt es dazu Güterzugsverbindungen zwischen dem Hafen Rostock und dem Endpunkt der maritimen Seidenstraße um den Knotenpunkt Triest. Rostock gehört neben Brunsbüttel, Stade und Wilhelmshaven zu den Städten, die im Gespräch für ein Flüssigerdgasterminal sind, 50 Umweltverbände und Bürgerinitiativen sprechen sich dagegen aus. Öffentlicher Personennahverkehr 1881 ging die erste Pferdebahn mit Waggons auf Schienen in Betrieb. Bereits zu Anfang gab es drei verschiedene Strecken. 1904 nahm die erste elektrische Straßenbahn der Rostocker Straßenbahn AG ihren Betrieb auf. 1944 wurde die RSAG nach Ablauf der Konzession zur Städtischen Straßenbahn Rostock, aus der 1951 der VEB Nahverkehr Rostock hervorging. 39 Jahre später erfolgte die Wiedergründung der Rostocker Straßenbahn AG (RSAG). Der Öffentliche Personennahverkehr wird durch die S-Bahn Rostock der Deutschen Bahn (Regio Nordost), durch Straßenbahnen und Omnibuslinien der RSAG bedient. Es gibt sechs Straßenbahn-, 22 Stadtbus- und zwei Nachtbus-Linien. Zwei Fährlinien verkehren über die Warnow: eine Personenfähre zwischen dem Stadtzentrum und Gehlsdorf sowie eine Autofähre zwischen Warnemünde und Hohe Düne. Regionalbuslinien erschließen das Umland. Sie werden von rebus Regionalbus Rostock GmbH und weiteren Unternehmen innerhalb des Verkehrsverbundes Warnow (VVW) betrieben, der 1997 gegründet wurde. Ab 2006 gab es Planungen, durch eine Verknüpfung von Schienenstrecken der Straßenbahn, Regionalbahn und S-Bahn ein Stadtbahnsystem herzustellen. Diese Überlegungen wurden auch aus wirtschaftlichen Gründen verworfen. Eisenbahn Der größte und wichtigste Personenbahnhof der Stadt ist der Rostocker Hauptbahnhof, ein überregionaler Eisenbahnknoten. Im Fernverkehr verbinden ICE und Intercity-Züge Rostock u. a. mit Hamburg, dem Ruhrgebiet, Stuttgart, Stralsund, Berlin, München, Dresden und Leipzig. Einzelne Fernverkehrszüge bedienen darüber hinaus den Bahnhof Warnemünde. Rostock verfügt über ein eigenes S-Bahn-Netz. Dessen Hauptachse verbindet die Innenstadt mit den nördlichen Großwohnsiedlungen wie Lütten Klein und Warnemünde. Die S-Bahn-Züge verkehren in den Spitzenzeiten alle 7½ Minuten. S-Bahn-Züge über Schwaan oder Laage nach Güstrow fahren stündlich, samstags, sonn- und feiertags alle 2 Stunden. Straßen Rostock liegt an den Autobahnen A 19 (Rostock–Autobahndreieck Wittstock (Dosse)–Berlin) und A 20 (Stettin–Stralsund–Rostock–Lübeck), die im Autobahnkreuz Rostock miteinander verknüpft sind, und an den Bundesstraßen B 103, B 105 und B 110. Die Autobahnen und die Bundesstraßen 103 und 105 bilden zusammen mit dem Warnowtunnel einen Schnellstraßenring in und um Rostock. Der Warnowtunnel wurde 2003 als Verbindung der westlich und östlich der Unterwarnow gelegenen Stadtteile zwischen Schmarl und Oldendorf eröffnet. An seinem östlichen Ende beginnt die A 19, das Westende ist mit der Schnellstraße vom Rostocker Zentrum nach Warnemünde verbunden. Der Tunnel ist der erste privat finanzierte und mautpflichtige Straßentunnel Deutschlands. Ging man in den Planungen zunächst von 22.000 Durchfahrten pro Tag aus, hat sich die Verkehrsbelegung heute bei rund 12.000 Durchfahrten eingependelt. Damit konnten sich die Erwartungen bisher bei weitem nicht erfüllen. Als Konsequenz daraus wurde das Finanzierungsmodell nachträglich angepasst. Von 1998 bis 2007 wurde auch das innerstädtische Straßennetz mit dem Neu- und Ausbau der Arnold-Bernhard-Straße und der August-Bebel-Straße sowie der Verbindung vom Schröderplatz zum Warnowufer grundlegend neu gestaltet. Parallel dazu wurden die früher verkehrsreichen Plätze Neuer Markt und Doberaner Platz für den Kfz-Durchgangsverkehr gesperrt. Fahrradverkehr Rostock ist an zahlreiche nationale und internationale Radfernwege angeschlossen: unter anderem an den Ostseeküsten-Radweg (verläuft als EuroVelo Route 10 einmal um die Ostsee zu Städten wie Kiel, Stralsund und Danzig), an den Radweg Berlin-Kopenhagen (u. a. über Güstrow und Gedser) und an den Iron-Curtain-Trail (verläuft durch 14 Länder entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs von Norwegen bis ans Schwarze Meer). Im Mai 2019 erfolgte am Südstadt-Campus der erste Spatenstich für ein insgesamt 28 Kilometer langes Radschnellwegenetz zwischen Hauptbahnhof und Warnemünde sowie von Evershagen nach Dierkow. 2024 sollen wesentliche Abschnitte verfügbar sein. Das erste Teilstück bis zur Erich-Schlesinger-Straße wurde ein Jahr später freigegeben. Die Initiative Corona-sichere Rad- und Gehwege führte auch in Rostock zur Einrichtung eines Pop-up-Radwegs: Im Mai 2020 hatten die Fahrradfahrer knapp 150 Meter einer Autospur am Mühlendamm etwa drei Stunden lang für sich. Für das darüber hinaus erklärte Ziel, mehr Radwege in der Innenstadt einzurichten, kämpft der im Sommer 2018 gegründete Radentscheid Rostock. Am 6. November 2021, zwei Jahre nach dem Auftrag der Bürgerschaft an den Oberbürgermeister, die zehn Ziele des Radentscheids möglichst weitgehend umzusetzen, musste die Initiative jedoch feststellen, die Menschen sähen „keine wahrnehmbaren Veränderungen“. Immerhin würde die „Fastlane Fahrradstadt“ im Dezember endlich ihre Arbeit aufnehmen. Als „Modellprojekt zur Verkehrswende und Fahrradstadt Rostock“ wurde die Fahrradstraße Lange Straße trotz Kritik des Radentscheids am 1. Mai 2022 für ein Jahr umgesetzt. Den Gegenvorschlag, eine Auftrennung in Radweg und Kfz-Straße, lehnte die Stadt aus verkehrstechnischen Gründen ab. Flugverkehr Etwa 25 Kilometer südöstlich von Rostock befindet sich in Nähe des Laager Ortsteils Weitendorf der der Flughafen Rostock Airport. 1993 wurde der zivile Flugverkehr auf dem früher ausschließlich militärisch genutzten Flughafen aufgenommen. Über die Rostocker Versorgungs- und Verkehrsholding GmbH (RVV) ist die Hansestadt mit 54,1 % als Gesellschafter am Betrieb des Flughafens beteiligt. Ganzjährig verbindet Lufthansa Rostock mit dem Drehkreuz München. Bis 2019 bediente Germanwings die Strecken Köln/Bonn–Rostock und Stuttgart-Rostock. Im Sommerflugplan 2014 verband außerdem Germania Rostock mit Hurghada, Warna und Palma de Mallorca. Die türkische Ferienmetropole Antalya wurde sowohl von Germania als auch von Tailwind Airlines bedient. 2014 wurden 169.946 Passagiere abgefertigt. Im Zivilbereich gewinnt der Flughafen u. a. als Zubringer für den Kreuzfahrttourismus an Bedeutung, für weitere Urlaubsflüge, sowie für Geschäftsflüge im deutschsprachigen Raum. Bildung und Öffentliche Einrichtungen Bundes- und Landeseinrichtungen Gerichte: Landgericht Rostock, Oberlandesgericht Rostock, Arbeitsgericht Rostock, Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern, Sozialgericht Rostock Bundeseinrichtungen: Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH), Johann Heinrich von Thünen-Institut sowie eine Filiale der Bundesbank Landeseinrichtungen: Landesamt für Landwirtschaft, Lebensmittelsicherheit und Fischerei Mecklenburg-Vorpommern, Landesamt für Straßenbau und Verkehr Mecklenburg-Vorpommern, Landesgesundheitsamt Mecklenburg-Vorpommern, Landesinstitut für Schule und Ausbildung Mecklenburg-Vorpommern, Landesprüfungsamt für Bautechnik Mecklenburg-Vorpommern, Landesversorgungsamt Mecklenburg-Vorpommern, Lehrerprüfungsamt Mecklenburg-Vorpommern, Staatliches Amt für Umwelt und Natur Rostock, Staatliches Schulamt Rostock, Amt für Raumordnung und Landesplanung Mittleres Mecklenburg Dienststelle des Deutschen Wetterdienstes Weitere Einrichtungen: Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern, Handwerkskammer Ostmecklenburg-Vorpommern, IHK Rostock Maritime Einrichtungen und Marine Bundesforschungsanstalt für Fischerei Einer der zwei Hauptsitze des BSH Wetterstation des DWD Wasserschutzpolizeidirektion Mecklenburg-Vorpommern Bundespolizeiamt Rostock Marinekommando, oberste Kommandobehörde der Deutschen Marine in der Hanse-Kaserne im Hansaviertel Rostock (seit Oktober 2012) Weitere militärische Einrichtungen in der Stadt sind der Marine-Stützpunkt Hohe Düne mit der Schnellbootflottille, dem Korvettengeschwader, einer Außenstelle der MAD-Stelle 1 und der Sportfördergruppe der Deutschen Marine. Bildung 18 Grundschulen vier regionale Schulen elf Gesamtschulen sechs Gymnasien Waldorfschule neun Förderschulen zwölf Berufsschulen eine Volkshochschule zwei Musikschulen sieben sonstige Schulen und Nebenstellen, mit unter anderem der Kunstschule, der Sternwarte und der Zooschule Das Musikgymnasium Käthe Kollwitz ist ein allgemeinbildendes Gymnasium mit einem Musikförderzweig. Für die außerschulische musikalische Ausbildung gibt es das Konservatorium und die Welt-Musik-Schule „Carl Orff“. Daneben existieren weitere private Musikschulen. Hochschule und Forschung Universität Rostock 2019 feierte die Universität Rostock ihr 600-jähriges Bestehen. Die 1419 gegründete Einrichtung ist die drittälteste Universität Deutschlands und die älteste und traditionsreichste Hochschule im Ostseeraum. Als klassische Universität umfasste sie von Anfang an die juristische, die philosophische und die medizinische Fakultät, 1432 erfolgte die Erweiterung um den Fachbereich Theologie. Das anfangs hohe Ansehen verlieh der Einrichtung bereits nach kurzer Zeit den Beinamen „Leuchte des Nordens“. Nach einem Niedergang im 17. und 18. Jahrhundert erlebte die Hochschule seit 1860 einen Aufschwung und konnte wieder Anschluss an die übrigen deutschen Universitäten gewinnen. In der DDR erfuhren Forschung und Unterricht dann eine Veränderung zulasten der klassischen und zugunsten der technischen Fächer. 1976 wurde die Universität zu Ehren des 1960 verstorbenen Politikers Wilhelm Pieck umbenannt und behielt diesen Namen bis zum Ende der DDR. Nach der Rückbenennung im Jahr 1990 wurden bis 2004 mehrere Neustrukturierungen vorgenommen, durch die die Hochschule wieder zur Volluniversität wurde. Heute gliedert sich die Uni in neun Fakultäten (in der Reihenfolge der Zahl der Studierenden): Philosophische Fakultät, Universitätsmedizin Rostock, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Fakultät für Informatik und Elektrotechnik, Fakultät für Maschinenbau und Schiffstechnik, Agrar- und Umweltwissenschaftliche Fakultät, Theologische Fakultät, Juristische Fakultät. Eine Besonderheit ist die zusätzliche Interdisziplinäre Fakultät: Sie verbindet Forschende und Studierende aller Fachrichtungen in vier Departments: „Leben, Licht und Materie“, „Maritime Systeme“, „Altern des Individuums und der Gesellschaft“ sowie „Wissen – Kultur – Transformation“. Mit über 150 Studiengängen und Teilstudiengängen gehört die Universität zu den Hochschulen Deutschlands mit dem breitesten Fächerspektrum. Die Zahl der Universitätsbeschäftigten beträgt ca. 2.300, darunter etwa 280 Professoren. Im Wintersemester 2019/20 waren an der Universität Rostock 13.004 Studierende immatrikuliert. Hochschule für Musik und Theater 1947 wurde eine Hochschule für Musik, Theater und Tanz gegründet, die später als Außenstelle der Berliner Hochschule „Hanns Eisler“ Studenten der Musik ausbildete. Aus dieser Tradition heraus wurde 1994 die Hochschule für Musik und Theater Rostock (HMT) geschaffen. 2001 erhielt sie einen beachtenswerten Neubau auf den Ruinen des vormaligen Katharinenstifts. An der Hochschule studieren etwa 500 Studenten. Die Hochschule ist eine der jüngsten ihrer Art in Deutschland. Sie fühlt sich stark mit entsprechenden Einrichtungen in Vilnius, Riga und Tallinn verbunden und kooperiert auch mit den Hochschulen in Krakau, Danzig und Posen. Hochschule Wismar Der Bereich Seefahrt der Hochschule Wismar mit dem maritimen Simulationszentrum ist in Warnemünde ansässig. Fachhochschule des Mittelstands Die Fachhochschule des Mittelstands (FHM) wurde im Jahr 2000 in privater Trägerschaft gegründet und bietet speziell auf den Mittelstand ausgerichtete, staatlich anerkannte Studiengänge aus den Bereichen Medien, Journalismus, Marketing, Informatik und Wirtschaft an. Die FHM hat ihren Verwaltungssitz in Bielefeld mit Niederlassungen in Bamberg, Düren, Hannover, Köln, Frechen, Berlin, Waldshut-Tiengen und in Rostock. Sonstige Forschungseinrichtungen Max-Planck-Institut für demografische Forschung Leibniz-Institut für Ostseeforschung, 1992 hervorgegangen aus dem Institut für Meereskunde Warnemünde Institute der Fraunhofer-Gesellschaft: das Institut für Graphische Datenverarbeitung, das Institut für Großstrukturen in der Produktionstechnik und das Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie Leibniz-Institut für Katalyse, 2006 hervorgegangen aus dem Zusammenschluss der Institute für Organische Katalyseforschung und für Angewandte Chemie Berlin-Adlershof. Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), bildet mit Greifswald einen gemeinsamen Standort Institut für Ostseefischerei, Fachinstitut des Johann Heinrich von Thünen-Instituts Bibliotheken und Archive Die Universitätsbibliothek Rostock wurde 1569 gegründet und verfügt über einen Bestand von ca. 2,2 Mio. Bänden. Sie ist verantwortlich für die universitäre Versorgung von Forschung, Lehre und Studium und dient als große wissenschaftliche Bibliothek in Mecklenburg-Vorpommern auch der regionalen und überregionalen Literaturversorgung. Die Stadtbibliothek Rostock ist mit einem Gesamtbestand von ca. 150.000 Medien, verteilt auf mehrere Stadtteilbibliotheken, die zweitgrößte Bibliothek der Stadt. Von Bedeutung sind Bibliothek und Nachlass der Schriftsteller Walter Kempowski und Uwe Johnson. Während das Kempowski-Archiv durch den Verein Kempowski-Archiv Rostock – Ein bürgerliches Haus verwaltet wird, werden Bibliothek und Nachlass von Uwe Johnson durch die Uwe Johnson-Forschungsstelle der Universität Rostock und die Universitätsbibliothek Rostock erschlossen und für die wissenschaftliche Nutzung bereitgestellt. Im Stadtarchiv Rostock finden sich Dokumente zur Geschichte der Stadt und deren Umland. Die Liste von Bibliotheken und Archiven in der Region Rostock gibt eine Übersicht über öffentlich zugängliche Bibliotheken, Archive und Spezialsammlungen der Stadt und der Region Rostock. Garnison in Rostock Rostock war Garnisonsstadt für die preußische Armee, Reichswehr, Wehrmacht und die Nationale Volksarmee der DDR. Aus der Zeit der Monarchie stammte die Infanteriekaserne an der Ulmenstraße (DDR-Bezeichnung: Fiete-Schulze-Kaserne/6. Grenzbrigade Küste, heute Universität Rostock). Bei der Aufrüstung der Wehrmacht entstanden zwei Kasernenneubauten an der heutigen Kopernikusstraße/Tschaikowskistraße. (DDR-Bezeichnung für die von der 8. MotSchützendivision genutzten Areale: westlich Erich-Mühsam-Kaserne, heute aufgelassen; östlich Wilhelm-Florin-Kaserne, heute Hanse-Kaserne der Bundeswehr) Religionen Die große Mehrheit der Rostocker ist konfessionslos. Im Dezember 2020 waren von den 209.755 Einwohnern 9,6 % (20.091) evangelisch und 3,2 % (6.795) katholisch. 87,2 % (182.483) hatten eine sonstige oder keine Konfession. Christentum Als Anhänger der slawischen Mythologie setzten sich die Wenden lange gegen die gewaltsame Christianisierung zur Wehr. Spätestens jedoch mit Fürst Pribislaw wurde das Christentum in Mecklenburg eingeführt. Zeugen dieses neuen Glaubens waren im 13. Jahrhundert vier Hauptkirchen: Petrikirche, Nikolaikirche, Marienkirche und Jakobikirche. 1432 wurde an der Universität die Theologische Fakultät eingerichtet. Die verstärkte Laienfrömmigkeit gegen Ende des Mittelalters führte zur Gründung zahlreicher Beginenhäuser und Konvente. Das Hospital St. Georg bestand vom 13. bis 19. Jahrhundert. Reformation Nachdem der Kaplan der Petrikirche, Joachim Slüter, 1525 ein niederdeutsches Gesangbuch mit lutherischen Liedern herausgegeben hatte, begann in Rostock die Reformation. Slüter setzte sie bis 1531 durch, sein Nachfolger Johann Oldendorp führte den Prozess ab 1532 fort. Gleichzeitig entwickelten sich auch die anderen Hansestädte zu bürgerlichen Zentren dieser Konfession. Mit der einhergehenden Unterdrückung des Katholizismus wurden die Katholiken als „Papisten“ beschimpft. Rostock bekam einen eigenen Superintendenten und ein eigenes Geistliches Ministerium. Seither ist der evangelische Glaube die vorherrschende Religion. Die evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden der Stadt gehören zur Propstei Rostock im Kirchenkreis Mecklenburg der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (Nordkirche). Neuer Katholizismus 1872 begründeten Katholiken die erste katholische Pfarrgemeinde seit der Reformation und errichteten 1909 die Christuskirche am Schröderplatz. Die Gemeinde gehörte – wie ganz Mecklenburg – zunächst zum Apostolischen Vikariat der Nordischen Missionen, dessen Jurisdiktion dauernd mit dem Bischofsstuhl zu Osnabrück verbunden war. 1930 wurde das Gebiet offiziell Teil des Bistums Osnabrück. Die Aufteilung des Dekanats Mecklenburg in einen westlichen, einen mittleren und einen östlichen Konferenzbezirk erfolgte 1941. Die Grenzziehung nach dem Zweiten Weltkrieg erschwerte dem Osnabrücker Bischof die Wahrnehmung seiner Amtsgeschäfte in Mecklenburg. So entstand 1946 das Bischöfliche Kommissariat Schwerin, aus dem 1973 das Bischöfliche Amt Schwerin mit einem Weihbischof als „residierendem Bischof“ hervorging. Als Ersatz für die 1971 gesprengte Christuskirche wurde ein Neubau im Häktweg errichtet. Seit 1995 gehören die Rostocker Katholiken zum neugegründeten Erzbistum Hamburg. Die Pfarrgemeinden der Stadt Rostock sind Teil des Dekanats Rostock des Erzbischöflichen Amtes Schwerin innerhalb des Erzbistums. Freikirchen Zu den Freikirchen zählen zwei Evangelisch-Freikirchliche Gemeinden (Baptisten und Brüdergemeinde), eine Freie evangelische Gemeinde, die Evangelisch-methodistische Kirche St. Michaelis, eine Adventgemeinde, das „Christliche Zentrum“ (Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden) und das charismatische „Gospelzentrum“. Ferner gibt es die Landeskirchliche Gemeinschaft, eine pietistische Gemeinschaftsbewegung innerhalb der evangelisch-lutherischen Landeskirche. Die Neuapostolische Kirche ist mit zwei Gemeinden vertreten. Die Gemeinde mit der größeren Mitgliederzahl befindet sich seit 2013 im Hansaviertel an der Einmündung Parkstraße/Voßstraße. Die andere Gemeinde befindet sich in Warnemünde im Wiesenweg. Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist mit der Kirchengemeinde der Seligen Xenia von St. Petersburg vertreten. Die Gemeinde der Berliner Diözese befindet sich seit 2000 in der Stadt, seit 2006 in der Thünenstraße 9. Auch die Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage (auch Mormonen genannt) ist mit einer Gemeinde vertreten, sowie die Christengemeinschaft, die auf der Anthroposophie von Rudolf Steiner basiert und sich in der Pauluskirche versammelt. Zwei Gemeinden der Zeugen Jehovas nutzen gemeinsam einen Königreichssaal (Gemeindesaal) in der Schweriner Straße. Eine Katholisch-apostolische Gemeinde besteht seit Ende des 19. Jahrhunderts in der Paulstraße. Judentum Seit 1868, nach dem Beitritt Mecklenburg-Schwerins zum Norddeutschen Bund, durften sich wieder Juden in der Stadt niederlassen. Schnell bildete sich die Israelitische Gemeinde Rostock, die sich 1870 den Alten Jüdischen Friedhof am Rande des Alten Friedhofs, dem heutigen Lindenpark, einrichtete, wo sie bis 1942 ihre Mitglieder bestattete. Die Weihe der in der Augustenstraße errichteten Synagoge hatte 1902 stattgefunden. Sie wurde in der Reichspogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 von Nationalsozialisten niedergebrannt. Schon vorher waren unter dem Druck viele Juden ausgewandert, einige hatten sich das Leben genommen. Jüdischer Besitz wurde „arisiert“. Zur „Endlösung der Judenfrage“ wurden die in Rostock verbliebenen 70 Gemeindemitglieder von 1942 bis 1944 in Konzentrationslager deportiert, fast alle kamen dort ums Leben. An Opfer des Holocaust aus Rostock erinnern in den Boden vor ihren Wohnhäusern oder Wirkungsstätten eingelassene Gedenkplatten, die der Verein der Freunde und Förderer des Max-Samuel-Hauses e. V. seit 2001 in Kooperation mit der Stadt setzen lässt. Die heutige Jüdische Gemeinde Rostock unter Vorsitz von Juri Rosov zählt 540 Mitglieder und hat ein Gemeindezentrum mit Synagoge. 1996 richtete sie auf einem Abschnitt des 1977 eröffneten Westfriedhofs Rostocks den Neuen Jüdischen Friedhof ein. Islam In Rostock leben rund 2000 Muslime. Es gibt eine Moschee in der Erich-Schlesinger-Straße, deren Trägerverein der Islamische Bund in Rostock e. V. ist. Bereits im Jahr 2016 gab es Bedenken, dass diese Moschee sich radikalisieren würde. Im Jahr 2019 wurde bekannt, dass sich die Stadt Rostock und der Islamische Bund auf eine neue Moschee am Holbeinplatz geeinigt hatten. Gegen diesen Bau gab es massive Bedenken und Proteste von Anwohnern aus dem Viertel, kritisiert wurde auch, dass es keine Information über die bereits lange laufenden Gespräche mit der islamischen Gemeinde gab. Unter anderem hatte die AfD zum Protest gegen den Moscheebau aufgerufen. An der Demonstration nahmen 250 Personen teil, auch der islamfeindliche Extremist Michael Stürzenberger. An dem Protest gegen die AfD nahmen 1000 Personen teil. Im Vorfeld kam es zu mehreren beleidigenden muslimfeindlichen Aussagen des AfD Landeschefs Dennis Augustins. Er hatte Muslime pauschal als „Halbaffen“ und „Krebsgeschwür“ bezeichnet. In einer Nacht vor den Protesten wurde eine Schweinekopf auf dem geplanten Moschee-Gelände abgelegt. Im Nachgang haben sich die Fraktionen von CDU, UFR/FDP, Rostocker Bund/Graue/Aufbruch 09, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke und SPD gegen religiösen und politischen Extremismus positioniert und einen „Trialog der Religionen“ auf „neutralem Boden“ gefordert. Europäisches Jugendtreffen Vom 27. Dezember 2022 bis 1. Januar 2023 fand in Rostock das Europäische Jugendtreffen der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé statt. 5000 Jugendliche nahmen an diesem 45. Treffen teil. Mit 2.600 jungen Erwachsenen kamen die meisten Teilnehmer aus Deutschland. Es folgen Polen (650), Kroatien (250) und Frankreich (240). Die Bruderschaft von Taizé, die ihren Sitz im französischen Burgund hat, lädt seit 1978 zur Jahreswende zu Europäischen Jugendtreffen ein, an denen teils bis zu 100.000 junge Leute teilnahmen. Im Mittelpunkt der Treffen stehen Gesänge, Meditationen, Workshops und Gottesdienste. Erstmals seit zwei Jahren kann das Treffen wieder in Präsenz stattfinden – zuletzt war dies wegen der Corona-Pandemie nicht möglich. In Deutschland wurde es zuletzt 2011 mit rund 28.000 Teilnehmenden in Berlin veranstaltet. Sport Wichtige Sportvereine Fußball 1905 wurden der Rostocker FC 1895, FC Alemannia 1903 und FC Germania 1901 in den Mecklenburgischen Fußball-Bund aufgenommen. Seit 1899 gab es zudem den Internationalen FC. Besondere Erfolge konnte jedoch bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg kein Rostocker Fußballverein erringen. Während der Saison 1954/55 beschloss die DDR-Sportführung, die Mannschaft der sächsischen BSG Empor Lauter noch während der Saison nach Rostock zu delegieren. 1965 wurde die Fußballabteilung als F.C. Hansa Rostock aus dem SC Empor Rostock ausgegliedert. 32 Jahre lang spielte Hansa in der DDR-Oberliga. In der Saison 1990/91 wurde Hansa letzter Meister sowie FDGB-Pokal-Sieger der DDR und qualifizierte sich für die Fußball-Bundesliga und für den Europapokal der Landesmeister. Hansa gehörte seitdem insgesamt zwölf Jahre lang der 1. und acht Jahre lang der 2. Bundesliga an. 2010 stieg der Verein erstmals in die 3. Liga ab. Hansa trägt seine Spiele im Ostseestadion aus. Die zweite Mannschaft von Hansa Rostock spielt in der viertklassigen Fußball-Regionalliga Nordost. Eine Liga darunter in der Oberliga Nord spielt der Rostocr FC. In der Verbandsliga Mecklenburg-Vorpommern, treten der SV Warnemünde und der FC Förderkader René Schneider an. Der SV Hafen Rostock 61 ist inzwischen der einzige Rostocker Verein in der Landesliga, während ehemals erfolgreiche Vereine wie der PSV Rostock nur noch in unterklassigen Ligen wie der Landesklasse spielen. Zu DDR-Zeiten hatten die BSG Schifffahrt/Hafen Rostock (heute SV Hafen Rostock 61) und die TSG Bau Rostock (heute Rostocker FC) 17 bzw. 13 Jahre lang in der zweitklassigen DDR-Liga gespielt, die BSG Motor Warnowwerft Warnemünde (SV Warnemünde) trat sechs, der SG Dynamo Rostock (Polizei-SV Rostock) zwei Jahre in der Liga an. Im Jugendbereich gehört die A-Jugend von Hansa Rostock der A-Junioren-Bundesliga seit deren Gründung 2003 an und wurde 2010 Deutscher Meister. Die B-Jugend spielte von der Gründung der B-Junioren-Bundesliga 2007 vier Jahre lang ebenfalls in der höchsten Liga, stieg aber 2011 in die Regionalliga ab. Die BSG Post Rostock war in den 1970er und 1980er Jahren einer der erfolgreichsten Frauenfußballvereine der DDR und wurde 1990 letzter Meister und Pokalsieger der DDR. 1995/96 spielte das inzwischen zum Polizei-SV Rostock gewechselte Team eine Saison lang in der Frauen-Bundesliga, stieg aber unmittelbar wieder ab. Mittlerweile spielt die Mannschaft als Abteilung dem SV Hafen Rostock 61 in der Verbandsliga. Ebenfalls in der Verbandsliga tritt der Rostocker FC an. Als Abwandlung des Fußballs gibt es mit den Rostocker Robben auch eine Beachsoccer-Mannschaft. Diese wurde mit dem Sieg in der German Beach Soccer League 2013 erster Deutscher Meister im Zuständigkeitsbereich des DFB und konnte sich im selben Jahr für die folgende Spielzeit des Euro Winners Cup qualifizieren. Bis 2017 folgten drei weitere Deutsche Meistertitel. Als Sponsor werden sie außerdem durch den Rapper Marteria unterstützt. Handball Die Männermannschaft des Handball-Clubs HC Empor Rostock wurde zehnmal DDR-Meister und 1982 Europapokalsieger der Pokalsieger sowie Vereins-Europameister. 1979 stand Empor im Finale des Europapokals der Landesmeister. Von 1991 bis 1993 spielte Empor in der Handball-Bundesliga. Heute spielt die Männer-Mannschaft in der 3. Liga. Das Frauenteam wurde dreimal DDR-Meister im Hallenhandball. Das Team des Rostocker HC spielte bis 2010 in der 2. Handball-Bundesliga Nord und seitdem in der 3. Liga. Wassersport Rostock ist ein Zentrum für Schwimmer und Wasserspringer. Neben den klassischen Sportarten bietet sich Rostock wegen seiner exponierten Lage auch für das Segeln oder Rudern an und gilt als gutes Segelrevier an der deutschen Ostseeküste. Die Hochleistungssportler im Schwimmen, Wasserspringen und im Kanurennsport starten oder starteten in der Regel für den SC Empor, die Ruderer für den 1990 aufgelösten ASK Vorwärts Rostock. Viele der erfolgreichen Sportler sind heute bei Empor als Trainer aktiv. Bei den Schwimmern konnten vor allem im Langstreckenbereich bereits zahlreiche Erfolge erschwommen werden, wie zuletzt von Britta Kamrau-Corestein, die zwischen 2002 und 2007 viermal Weltmeisterin auf der 10-km- und der 25-km-Distanz wurde. Peggy Büchse wurde 2000 und 2001 zweimal Weltmeisterin über 5 bzw. 10 km. Nils Rudolph war Anfang der 1990er Jahre einer der weltweit schnellsten Sprinter über die 50-m-Distanz und feierte seinen größten sportlichen Erfolg bei den Europameisterschaften 1991 in Athen mit dem Gewinn der Goldmedaille. Im Wasserspringen war Christa Köhler 1973 Weltmeisterin und holte 1976 die olympische Silbermedaille. 1970 wurde Heidi Becker Europameisterin im Kunstspringen vom Drei-Meter-Brett. 1996 gewann Annika Walter die Silbermedaille vom 10-Meter-Turm, Dörte Lindner gewann bei den Olympischen Spielen 2000 die Bronzemedaille. Martina Proeber war 1980 Olympiazweite im Kunstspringen. Die Kanurennsportlerin Ramona Portwich gewann unter anderem Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen in Seoul 1988, 1992 und 1996. Ebenfalls olympisches Gold gewann 1992 Anke von Seck. Zwischen 1978 und 1981 gewann Roswitha Eberl sechs Weltmeistertitel. Der Ruderer Stephan Krüger startet für den Olympischen Ruderclub Rostock von 1956 und wurde 2009 Weltmeister im Doppelzweier. Ulrich Karnatz startete für den ASK Vorwärts Rostock und wurde 1976 und 1980 Olympiasieger sowie 1977, 1978 und 1979 Weltmeister im Achter. Klaus Kröppelien gelang 1980 der Olympiasieg im Doppelzweier. Die Unterwasserrugbymannschaft UWR 071 Rostock spielt seit 2000 im Ligabetrieb mit und erreichte in der Saison 2012/2013 den Aufstieg in die höchste Spielklasse, der 1. Bundesliga Nord. Die Wasserballer der HSG Warnemünde spielen in der drittklassigen Oberliga Schleswig-Holstein/Mecklenburg-Vorpommern. Leichtathletik Der 1. LAV Rostock ist der bedeutendste Leichtathletikverein der Stadt und einer der wichtigsten in Norddeutschland. Zahlreiche erfolgreiche Sportler waren oder sind beim 1. LAV aktiv, zum Beispiel die Marathon-Europameisterin 2006 Ulrike Maisch. Der Profi-Triathlet Andreas Raelert ist amtierender Triathlon-Europameister auf der Mitteldistanz sowie Vize-Weltmeister auf der Ironman-Distanz. Sein Bruder Michael Raelert ist jeweils zweifacher Welt- (2009 und 2010) und Europameister (2010, 2012) auf der Mitteldistanz. Christian Schenk erzielte seinen größten Erfolg mit dem Olympiasieg 1988 im Zehnkampf. 1980 in Moskau wurde Marita Koch Olympiasiegerin über 400 Meter und 1983 in Helsinki dreifache Weltmeisterin, dazu kamen sechs Titel bei Europameisterschaften zwischen 1978 und 1986. Die Sprinterin Silke Möller war unter anderem Doppelweltmeisterin 1987. Hansjörg Kunzes größter Erfolg war die Bronzemedaille im 5000-Meter-Lauf bei den Olympischen Sommerspielen 1988. Die Speerwerferin Steffi Nerius startete bis 1991 für Empor Rostock und gewann 2004 die olympische Silbermedaille sowie 2009 den Weltmeistertitel. Weitere Sportarten Die Rostocker Nasenbären spielten von 2008 bis 2010 und 2013 in der Inline-Skaterhockey-Bundesliga. Seit 2014 spielen sie in der 2. Inline-Skaterhockey-Bundesliga Nord. Die Mannschaft Rostock Griffins spielt American Football derzeit in der GFL 2 Nord (2. Bundesliga). Jeweils in der 3. Liga der Frauen und der Männer spielen die Volleyballer des SV Warnemünde. Drittklassig sind auch die Rostock Piranhas (offiziell: Rostocker Eishockey Club), die in der Oberliga Nord spielen. Die Basketball-Herren der EBC Rostock Seawolves spielen in der Saison 2018/2019 erfolgreich in der ProA (2. Liga). Der Radrennfahrer Jan Ullrich war zweimal Weltmeister im Einzelzeitfahren sowie Sieger im olympischen Straßenrennen 2000 und gewann als erster und bisher einziger Deutscher 1997 die Tour de France. Aufgrund seiner Verwicklung in den Dopingskandal Fuentes wurde er jedoch 2012 vom Internationalen Sportgerichtshof (CAS) rechtskräftig des Dopings schuldig gesprochen, und alle Erfolge Ullrichs seit dem 1. Mai 2005 wurden annulliert. 1968 wurden die beiden Ringer Lothar Metz und Rudolf Vesper vom ASK Vorwärts Rostock Olympiasieger. Der Ringer Heinz-Helmut Wehling wurde 1970 Europameister und 1977 Weltmeister. Rugby: Im Oktober 1993 entstanden am späteren Albert-Schweitzer-Gymnasium in Dierkow die Dierkower Elche. Sie gehören als Sparte zum SV Dynamo Rostock. Die Männermannschaft spielt in der Saison 2015/2016 in einer Spielgemeinschaft mit der Uni Greifswald und dem Freibeuter RC Wismar in der Verbandsliga Nord. Die Dierkower Elche haben Ende der 1990er Jahre mit Sabine Juchelka und Manuela Jost zwei Nationalspielerinnen hervorgebracht. Im Judo war der VfK Bau Rostock zwölf Mal bei nationalen Meisterschaften unter den Besten. Nachwuchsförderung und Trainingszentren Die CJD Jugenddorf-Christophorusschule Rostock hat einen Förderzweig für Leistungssportler. Sie führt damit die Tradition der Kinder- und Jugendsportschule Rostock fort. Die Christophorusschule hat sowohl den Rang einer Eliteschule des Sports als auch einer Eliteschule des Fußballs. Die Sportlerklassen werden von Schülern besucht, die in den Jugendabteilungen der Rostocker Leistungssportvereine aktiv sind, vor allem von Short Trackern des ESV Turbine Rostock, Jugendspielern des HC Empor Rostock, Leichtathleten des 1. LAV Rostock, Fußballspielern des FC Hansa Rostock, Ruderern, Schwimmern und Turmspringern. Im Olympiastützpunkt Mecklenburg-Vorpommern in Rostock trainieren Sportler vor allem in den Schwerpunktsportarten Rudern, Short Track und Wasserspringen. Weitere Sportarten sind Flossenschwimmen, Fußball, Handball, Leichtathletik, Segeln, Schwimmen, Triathlon. Special Olympics 2021 bewarb sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin für Special Olympics Dominikanische Republik ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns. Persönlichkeiten Ehrungen Die Hansestadt vergibt an Persönlichkeiten, die sich um die Stadt verdient gemacht haben, seit 1990 folgende Ehrungen: die Verleihung des Ehrenbürgerrechtes (Liste der Ehrenbürger von Rostock) die Eintragung in das Ehrenbuch der Hansestadt Rostock den Kulturpreis der Hansestadt Rostock den Unternehmerpreis der Hansestadt Rostock den Umweltpreis der Hansestadt Rostock „Joe Duty“ den Sozialpreis der Hansestadt Rostock Weitere Persönlichkeiten Siehe auch Literatur Beiträge zur Geschichte der Stadt Rostock Bd. 1 (1895) bis 22 (1941). Hrsg. v. Verein für Rostocks Altertümer Neue Folge, Heft 1 (1981) bis 9 (1989). Hrsg. v. Stadtarchiv Rostock und dem Kulturhistorischen Museum der Stadt Rostock. Bd. 23 (1999) bis [zuletzt erschienen] 31 (2011). Hrsg. v. Verein für Rostocker Geschichte e. V. Karl-Friedrich Olechnowitz: Rostock. Von der Stadtrechtsbestätigung im Jahre 1218 bis zur bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49. Hinstorff, Rostock 1968. Klaus Armbröster: Rostock – Warnemünde. Stadtführer. Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2014, ISBN 978-3-95462-246-7. Hans Bernitt: Zur Geschichte der Stadt Rostock. Rostock 1956, Neuauflage: BS-Verlag, Rostock 2001, ISBN 978-3-935171-40-3. Dörte Bluhm: Rostock – meine Stadt. Vom slawischen Handelsplatz zur Ostseemetropole. 800 Jahre Baugeschichte an der Warnow. WIRO, Rostock 2005. Walter Ohle: Rostock. (Kunstgeschichtliche Städtebücher), Leipzig 1970. Klaus Armbröster, Joachim Lehmnann, Thomas Cardinal von Widdern (Hrsg.): 800 Jahre Rostock. Elf historische Rundgänge zum Stadtjubiläum. Hinstorff, Rostock 2018, ISBN 978-3-356-02195-0. Filme Die Stadt der sieben Türme. D 1936 Die Seestadt Rostock. Aufnahmen: Agnes Heyn Vom Alex zum Eismeer. Mit dem Trawler ROS 206 „Guben“ unterwegs von der Ostsee in die Barents-See, DEFA Studio für Wochenschau und Dokumentarfilme – Progress Film-Vertrieb, 1954, Regie: Karl Gass Wir bauen unser Tor zur Welt. DEFA, DDR 1958. Buch/Regie: Heinz Reusch, Musik: Eberhard Schmidt Jubiläum einer Stadt – 750 Jahre Rostock. Kurz-Dokumentarfilm, DDR 1968. Regie: Winfried Junge, Musik: Günter Kochan Zur See. – eine neunteilige Fernsehserie, die im Auftrag des Fernsehens der DDR von 1974 bis 1976 unter anderem auf dem Lehr- und Frachtschiff J. G. Fichte der Deutschen Seereederei produziert wurde. Mit DDR-Fischern im Atlantik.: Teil 1. Fisch ist unser Leben und Teil 2. Rolling Home. Dokumentarfilm zum Fischkombinat Rostock / DDR-Fernsehen 1988 (Mit ROS 313 „Willi Bredel“, ROS 337 „Ludwig Renn“ u. a. im USA-Schelf) Rostock von ganz unten. NDR, D 1993 DDR ahoi! Teil 1. Kleines Land auf großer Fahrt. (mdr-Ausstrahlung per 15. März 2011 / 25. Mai 2010) / Teil 2. Unterwegs auf allen Meeren (mdr-Ausstrahlung per 22. März 2011 / 1. Juni 2010) / mdr / TV-Mitschnitte zur Seefahrernation DDR mit den Hafenstädten Rostock, Stralsund und Wismar. Weblinks Offizielles Stadtportal der Hanse- und Universitätsstadt Rostock Webpräsenz der Stadtverwaltung der Hansestadt Rostock Rostock auf stadtpanoramen.de Einzelnachweise Regiopolregion Ort in Mecklenburg-Vorpommern Hansestadt Ort mit Seehafen Kreisfreie Stadt in Mecklenburg-Vorpommern Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern Deutsche Universitätsstadt Masterplan-Kommune Ehemalige Kreisstadt in Mecklenburg-Vorpommern Ersterwähnung 1189 Deutscher Ortsname slawischer Herkunft
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schuppentiere
Schuppentiere
Die Schuppentiere oder Tannenzapfentiere (Manidae) sind eine Säugetierfamilie, die zudem eine eigene Ordnung, die Pholidota, bildet. Die Familie besteht aus drei rezenten Gattungen mit acht Arten, von denen vier in Ost-, Süd- und Südostasien und vier in Afrika südlich der Sahara leben. Es handelt sich um insektenfressende Tiere mit Spezialisierung auf Ameisen und Termiten, die durch Grabkrallen, eine röhrenförmige Schnauze mit zahnlosem Kiefer sowie eine lange Zunge an diese Ernährungsweise angepasst sind. Einzigartig unter den Säugetieren ist ihre Körperbedeckung mit großen, überlappenden Hornschuppen. Die Schuppentiere leben je nach Art am Boden oder auf Bäumen; meist sind sie nachtaktiv. Die genaue Lebensweise ist aber nur unzureichend erforscht. Sie bevorzugen sowohl Wälder als auch teils offene Landschaften in Tieflagen und mittleren Gebirgshöhen. Im Bedrohungsfall können sie sich zu einer Kugel einrollen. Auf diese Eigenschaft bezieht sich auch das ursprünglich malaiische Wort Peng-guling, dessen Abwandlung pangolin überwiegend im englischen und französischen Sprachraum als umgangssprachliche Bezeichnung für ein Schuppentier Verwendung findet. Die heutige Familienbezeichnung Manidae wurde 1821 eingeführt. In der frühen Forschungsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts galten die Schuppentiere als nahe Verwandte der Ameisenbären und Gürteltiere. Mit ersteren teilen sie das zahnlose Maul und die lange Zunge. Dabei führte vor allem das Fehlen der Zähne zum Aufstellen eines Taxons namens Edentata, in dem alle drei Tiergruppen lange Zeit geführt wurden. Erst moderne molekulargenetische Untersuchungen erbrachten ab Mitte der 1980er Jahre, dass die Schuppentiere mit den Raubtieren näher verwandt sind. Die Ähnlichkeiten mit Ameisenbären und Gürteltieren beruhen demnach auf Konvergenz. Der Verlust der Zähne und die spezialisierte Lebensweise bewirken, dass Schuppentiere nur selten fossil nachgewiesen werden. Die frühesten Vertreter der Manidae sind aus dem Pliozän vor rund 5 Millionen Jahren bekannt; ihnen nahestehende Formen traten aber schon im Mittleren Eozän vor etwa 47 Millionen Jahren auf. Alle acht heutigen Arten der Schuppentiere gelten in ihrem Bestand als mehr oder weniger bedroht und sind international geschützt. Hauptsächliche Ursachen für die Bedrohung sind der Verkauf des Fleisches als exotische Nahrungsspezialität einerseits und die Verwendung der Schuppen sowie anderer Körperteile in lokalen rituellen Bräuchen wie auch der Traditionellen Chinesischen Medizin andererseits. Schuppentiere werden deshalb intensiv bejagt und zählen zu den am häufigsten illegal gehandelten Säugetieren. Merkmale Äußerer Körperbau Schuppentiere haben einen langgestreckten Körper mit kurzen Gliedmaßen, kleinem, zugespitztem Kopf und langem Schwanz. Die Kopf-Rumpf-Länge variiert je nach Art, bei kleineren Vertretern wie dem Weißbauch- (Phataginus tricuspis) und dem Langschwanzschuppentier (Phataginus tetradactyla) liegt sie zwischen 25 und 43 cm; die größte Art ist das Riesenschuppentier (Smutsia gigantea) mit 67 bis 81 cm. Der Schwanz wird zwischen 25 und 70 cm lang. Bei den baumbewohnenden Schuppentieren übertrifft der Schwanz die restliche Körperlänge; bei den anderen ist er gleich lang oder kürzer. Das Gewicht variiert zwischen 1,6 und 33 kg, wobei die Männchen meist größer sind als die Weibchen. Fossil trat mit Manis palaeojavanica im Pleistozän Südostasiens eine Art auf, die rund 2,5 m Gesamtlänge erreichte und damit die bisher größte bekannte Schuppentierart repräsentiert. Der Kopf der Schuppentiere ist klein und konisch geformt. Die Augen sind klein und von wulstigen, drüsenfreien Lidern geschützt. Ohrmuscheln fehlen bei den afrikanischen Arten, bei den asiatischen ist oft nur ein verdickter Kamm vorhanden. Die Nase ist über eine Hautfalte (Plica alaris) verschließbar, was von Vorteil ist, wenn die Tiere ihre Schnauzen zur Nahrungsaufnahme in Insektenbauten stecken. Namensgebendes Merkmal stellt die unter Säugetieren einmalige Körperbedeckung aus großen Hornschuppen dar, die die Oberseite des Kopfes, den Rumpf, die Außenseiten der Gliedmaßen (bei manchen Arten ohne die Unterarme) und die Ober- und Unterseite des Schwanzes bedecken. Nur das Gesicht, der Bauch und die Innenseite der Gliedmaßen sind unbeschuppt und weisen eine graue, derbe Haut auf, die mit weißen, braunen oder schwarzen Haaren bedeckt ist. Bei afrikanischen Schuppentieren sind die Schuppen auf der Rückseite der Schwanzspitze irregulär oder paarig angeordnet, bei den asiatischen immer regulär in nur einer Reihe. Auf der Unterseite der Schwanzspitze hingegen besitzen baumlebende Schuppentiere eine freie, von horniger Haut bedeckte Fläche; bei bodenlebenden ist die Panzerung geschlossen. Zwischen den Schuppen der Rückenpanzerung wachsen nur bei asiatischen Arten einzelne Haare. Die Gliedmaßen erscheinen kurz und kräftig und enden in jeweils fünf Zehen (pentadactyl). Die Vorderbeine zeigen Anpassungen an eine grabende Lebensweise, indem die mittleren drei Finger mit langen, gebogenen Krallen versehen sind, von denen die mittlere noch einmal deutlich größer ist. Die Krallen des ersten und des fünften Fingers sind dagegen verkleinert und werden beim Graben nicht eingesetzt. Die Hinterbeine sind kräftiger und etwas länger, die fünf Zehen weisen ebenfalls Krallen auf. Allgemein sind die Vorderfußkrallen der bodenlebenden Schuppentiere länger und weniger stark gekrümmt als die der baumlebenden; letztere wiederum haben deutlich längere Hinterfußkrallen, die die Fortbewegung in den Bäumen unterstützen. Schädelmerkmale Der Schädel erreicht Längen zwischen 6 und 16 cm. Er ist generell konisch geformt mit einem röhrenförmig gestalteten, nach vorn sich etwas verengenden und leicht verlängerten Rostrum. Da die Nahrung nicht gekaut wird, ist die Kaumuskulatur zurückgebildet, wodurch nur wenige Knochenerhebungen als Muskelansatzstellen ausgebildet sind. Dadurch wirkt der Schädel sehr glatt, er gehört damit zu den am einfachsten gebauten Schädeln innerhalb der Säugetiere. Ein auffälliges Kennzeichen ist der nicht vollständig ausgebildete Jochbogen, ein Merkmal, das die Schuppentiere mit den ebenfalls auf Ameisen und Termiten spezialisierten Ameisenbären Südamerikas teilen und häufig als Anpassung an diese Ernährungsweise gilt. Allerdings treten bei einigen Schuppentieren, etwa dem Chinesischen Schuppentier, manchmal geschlossene Jochbögen auf. Weitere allgemeine Charakteristika finden sich in den lang ausgezogenen Nasenbeinen und den gegenüber den Scheitelbeinen großen Stirnbeinen. Zähne fehlen komplett, der Unterkiefer ist nur als eine einfache Knochenspange ausgebildet mit schwach entwickelten, nach hinten weisenden und kugelig geformten Gelenkenden, die nur wenig Raum für die Bewegung des Unterkiefers zulassen. Die Symphyse des Unterkiefers formt eine flache Oberfläche, über die die Zunge gleiten kann. Allerdings tritt als Kennzeichen aller Schuppentiere am hinteren Ende der Symphyse ein Paar knöcherner, konisch spitzer Erhebungen auf, die Ähnlichkeiten zu einem Eckzahn aufweisen. Schuppenpanzer Der Schuppenpanzer macht zusammen mit der restlichen Haut etwa ein Viertel bis ein Drittel des gesamten Körpergewichts aus. Er besteht aus 160 bis 290 Einzelschuppen, von denen knapp die Hälfte auf den Schwanz entfallen. Sie sind beweglich und überlappen einander dachziegelartig. Dabei sind sie in Reihen angeordnet, deren Anzahl am Rumpf zwischen 13 und 25 variiert. Die Färbung der Schuppen reicht von dunkelbraun über olivgrün bis gelblich. Sie sind von dreieckiger bis V-förmiger Gestalt; große Schuppen weisen Längen und Breiten von 7 bis 8 cm auf. Auf der Oberfläche finden sich längs gerichtete Rippeln, zudem sind sie mit scharfen Rändern ausgestattet. Die größten Schuppen befinden sich in der Regel auf dem Rücken mit nach hinten zeigender Spitze. Im zusammengerollten Zustand stehen die scharfen Enden ab ähnlich wie bei einem halb geöffneten Tannenzapfen. Der Schuppenpanzer schützt weniger vor Ameisen- oder Termitenbissen oder Hautparasiten als vielmehr vor Verletzungen, die durch größere Raubtiere oder beim unterirdischen Graben entstehen. Die Schuppen bestehen aus Keratin. Es handelt sich somit um verhornte Bildungen der Epidermis, die auf nach hinten umgebogenen Ausstülpungen der Dermis sitzen. Im Querschnitt lassen sich drei Lagen unterscheiden: Die obere Dorsalplatte (Rückenplatte) nimmt etwa ein Sechstel der Dicke ein und besteht aus abgeplatteten, stark verhornten Zellen. Die Zwischenplatte, die den größten Raum beansprucht, wird aus weniger stark abgeplatteten, verhornten Zellen geformt. Die Ventralplatte (Bauchplatte) bildet die Unterseite der Schuppe und ist nur wenige Zellen stark. Alle drei Platten bilden sich aus unterschiedlichen epidermalen Keimgebieten. Die Abwesenheit von Filamenten zeigt auf, dass die Schuppen nicht, wie früher angenommen, verklebten Haaren entsprechen. Sie lassen sich von ihrer Struktur her vielmehr mit den Fingernägeln der Primaten vergleichen und wachsen wie diese beständig, was die Abnutzung ausgleicht. Dadurch unterscheiden sie sich auch von der Schuppenhaut der Schuppenkriechtiere, die mitunter jährlich gewechselt werden muss. Es wird vermutet, dass der Schuppenpanzer schon früh in der Entwicklung der Schuppentiere ausgebildet war – älteste Hinweise stammen mit Eomanis aus dem Mittleren Eozän vor rund 47 Millionen Jahren, gefunden in der Grube Messel in Hessen. Möglicherweise bildete sich zuerst eine Beschuppung des Schwanzes, was als homologe Entwicklung zu einigen Vertretern der Nagetiere wie der Hausmaus beziehungsweise der Nutria oder auch der Spitzhörnchen anzusehen wäre, erst später erfolgte eine vollständige Panzerung des Körpers. Skelettmerkmale Die Anzahl der Wirbel variiert von Art zu Art und reicht von 48 beim Steppenschuppentier (Smutsia temminckii) bis zu über 70 beim Langschwanzschuppentier. Insgesamt besteht die Wirbelsäule je nach Art aus 7 Hals-, 12 bis 15 Brust-, 5 bis 6 Lenden-, 2 bis 4 Kreuz- und 21 bis 50 Schwanzwirbeln. Die Tiere können sich gut einrollen, da das Becken sehr kurz und das Darmbein nach außen gebogen ist und die Lendenwirbel verlängert sind. Die Schwanzwirbel weisen an der Unterseite Chevronknochen auf, die als Ansatzfläche für die kräftige Schwanzmuskulatur dienen, da der Schwanz beim Einrollen schildartig um den Körper geschlungen wird. Der Schwertfortsatz am hinteren Ende des Brustbeins ist bis in die Beckenregion vergrößert und dient als Ansatzstelle für die komplizierte Zungenmuskulatur. Vor allem der Oberarmknochen ist für die grabende und baumkletternde Lebensweise besonders kräftig ausgebildet. Er besitzt ein sehr breites Ellenbogengelenk und – typisch für Schuppentiere – eine kräftige Crista deltoidea, die als Knochenkamm den Schaft umgreift und als Ansatzstelle für die Schultermuskulatur fungiert. Am Oberschenkelknochen ist der dritte Rollhügel (Trochanter tertius), eine weitere Muskelansatzstelle am Schaft, weit nach unten an die Gelenkenden versetzt und so kaum sichtbar. Bei sehr urtümlichen Pholidota befindet sich dieser deutlich höher und markant herausragend am Schaft. Ein weiteres besonderes Kennzeichen sind die jeweiligen letzten Glieder der Zehen der Vorder- und Hinterfüße (jeweils Phalanx III), die eine langgestreckte Form aufweisen und am Ende tiefe Einkerbungen besitzen, in denen die Krallen einhaften. Innere Organe Sehr charakteristisch ist die wurmförmige und mit klebrigem Speichel bedeckte Zunge, mit der die Nahrung aufgenommen wird. Sie kann beim Riesenschuppentier bis zu 70 cm lang sein und bis zu 25 cm ausgestreckt werden, beim Chinesischen Schuppentier wird sie bis zu 41 cm lang bei einem Durchmesser von bis zu 1,1 cm. Ihre komplexe Muskulatur besteht aus längs und radial verlaufenden Muskelfasern. Im Ruhezustand liegt der vordere Teil der Zunge zusammengerollt im Mundraum, die Oberfläche ist im vorderen Bereich durch konische Papillen aufgeraut, an der Spitze befinden sich pilzförmige Geschmackspapillen. Die Zunge ist nicht wie bei anderen Säugetieren mit dem Zungenbein, sondern über ein äußeres Muskelsystem, das teilweise der Zungenbeinmuskulatur homolog entspricht, mit dem hinteren Teil des Brustbeins verbunden. Das Zungenbein besitzt bei den Schuppentieren eine andere Funktion: Mit ihm werden die an der Zunge klebenden Insekten am Eingang der Speiseröhre abgeschabt. Die Speicheldrüsen sind vergrößert und erstrecken sich bis in die Brust- und Achselregion. Der muskulöse Magen übernimmt das mechanische Zerkleinern der Insekten. Er ist mit verhorntem und geschichtetem Plattenepithel ausgestattet, was ihn vor den Bissen und dem Gift der Ameisen und Termiten schützt. Die stark vergrößerte Pförtnermuskulatur zermahlt die verschluckte Nahrung und ist dafür zur besseren Zerkleinerung mit verknöcherten Stacheln (Pylorusdornen) versehen – zusätzlich werden kleine Steinchen verschluckt. Die Magendrüsen sind sehr lang und schlauchförmig; sie bilden Drüsenpakete, die sich durch einen zentralen Gang zum Pförtner hin entleeren. Der gesamte Darmtrakt erreicht beim Chinesischen Schuppentier eine Länge von 5,2 m und einen Durchmesser von rund 1 cm. Er ist schlauchförmig gewunden und zeigt keine Unterschiede zwischen Dünndarm und Dickdarm, nur bei einigen Individuen befindet sich eine leichte Verdickung oder gewundene Bildung im hinteren Bereich, die möglicherweise den Übergang vom Dünn- zum Dickdarm anzeigt. Ein Blinddarm ist nicht ausgebildet. Schuppentiere haben Analdrüsen, deren Duftsekret zur Kommunikation und möglicherweise zur Verteidigung eingesetzt wird. Die Weibchen haben eine zweihörnige Gebärmutter (Uterus bicornis). Männchen haben einen kleinen Penis, aber keinen Hodensack – die Hoden liegen unter der Haut. Das Gehirn ist sehr einfach gebaut und klein, es macht etwa beim Malaiischen Schuppentier nur rund 0,2 bis 0,5 % des Körpergewichtes aus. Einzig der Riechkolben ist gut entwickelt, dementsprechend spielt der Geruchssinn bei der Nahrungssuche und bei der Kommunikation mit Artgenossen eine wichtige Rolle. Dem Aufbau des Gehirns zufolge – hier hauptsächlich auf das Kleinhirn bezogen – sind asiatische Arten etwas urtümlicher als afrikanische. Verbreitung und Lebensraum Schuppentiere leben in Afrika südlich der Sahara sowie in Süd-, Südostasien und im südlichen Ostasien. In Afrika erstreckt sich ihr Verbreitungsgebiet von Senegal und dem Sudan bis Südafrika. In Asien sind sie von Pakistan und Nepal über Indien und die Indochinesische Halbinsel bis hin zum südlichen Festlandchina und von der Malaiischen Halbinsel bis nach Borneo und auf die Philippinen verbreitet. Die Schuppentiere bewohnen somit primär tropisch geprägte Regionen. Ihr Lebensraum umfasst eine Vielzahl von Landschaftstypen, wie Au- und Sumpfwälder, aber auch Regenwälder, offene Savannen und Buschländer sowie mosaikartig gestaltete Vegetationsgebiete. Weiterhin tolerieren sie auch vom Menschen genutzte Sekundärlandschaften wie Plantagen, Gartenlandschaften und Farmgebiete, die genug Schutz in Form von Bäumen oder Felsen und Baue enthalten müssen. Die Tiere meiden aber menschliche Siedlungsgebiete und Ackerland und reagieren sensibel auf Pestizide. Dabei nutzen die Schuppentiere Flach- und Hochländer, in den Nilgiri-Bergen in Indien ist das Vorderindische Schuppentier (Manis crassicaudata) bis in Höhenlagen um 2300 m nachgewiesen. Grundvoraussetzung für die Anwesenheit der Schuppentiere sind neben einer dichten Untergrundvegetation ausreichende Nahrungsgrundlagen an Ameisen und Termiten sowie Wasser. Aufgrund der vielfältig genutzten Landschaften und teilweise Spezialisierung auf unterschiedliche Nahrungsgruppen kommt es bei sympatrisch auftretenden Arten nur selten zum Überlappen der einzelnen genutzten ökologischen Nischen. In einzelnen Fällen findet aber auch eine verstärkte Nischenbildung statt. So nutzt das Langschwanzschuppentier verstärkt Gewässergebiete in Regionen mit dem gleichzeitig auftretenden Weißbauchschuppentier. Das Chinesische Schuppentier (Manis pentadactyla) lebt weiterhin im nördlichen Vietnam, wo auch das Malaiische Schuppentier (Manis javanica) verbreitet ist, prinzipiell in Höhen über 600 m. Auch mit anderen hochspezialisierten Insektenfressern, etwa dem afrikanischen Erdferkel (Orycteropus), kommt es aufgrund der starken Nischenbildung kaum zu Überschneidungen in den gleichen genutzten Landschaften. Lebensweise Fortbewegung und Sozialverhalten Generell ist die Lebensweise und das Sozialverhalten der Schuppentiere nur wenig erforscht. Sie leben meist einzelgängerisch, lediglich in der Paarungszeit kommt es kurzzeitig zu Paarbindungen. Die Hauptaktivität findet während der Dämmerung oder Nacht statt, vereinzelt können Tiere auch tagsüber beobachtet werden. Die einzelnen Individuen sind weitgehend ortsgebunden und nutzen Aktionsräume, die bei Männchen mit 30 bis 43 ha deutlich größer sind als bei Weibchen mit 3 bis 7 ha. Dabei überschneidet das Gebiet eines männlichen Tieres mehrere von weiblichen, bei einigen Arten kann auf eine gewisse Territorialität geschlossen werden, da die Männchen ihr Revier aktiv gegen Konkurrenten verteidigen. Für die Kommunikation unter Artgenossen spielt vermutlich das Sekret der Analdrüsen eine wichtige Rolle, ebenso wie bei der Kennzeichnung der Territorien. Die bodenbewohnenden Arten ziehen sich zur Ruhe in Erdbaue zurück, die sie entweder selbst gegraben oder von anderen Tieren übernommen haben. Diese Baue befinden sich häufig in Ameisen- oder Termitenhügeln, zwischen Wurzeln oder in Vertiefungen, die durch umgefallene Bäume entstanden sind. Generell liegen sie in dichter Vegetation. Meist erstrecken sich die Baue mehrere Meter weit unter der Erde und enden in einer runden Kammer mit bis zu 2 Metern Durchmesser. Der Eingang des Baues wird mit Schlamm versperrt, wenn das Tier anwesend ist. Meist beziehen Schuppentiere einen Bau für mehrere Tage hintereinander und suchen oder graben einen neuen, wenn das Nahrungsangebot zurückgegangen ist. Die baumbewohnenden Arten nutzen dagegen Baumhöhlen. Weibliche Tiere entfernen sich in der Regel weniger weit von ihren Bauen als männliche, allgemein ist bei beiden Geschlechtern der Aktionsradius eher gering. Am Boden bewegen sich die Schuppentiere überwiegend langsam und behäbig fort, die Hand kann mit der Außenkante oder den Fingerknöcheln aufgesetzt werden. Charakteristisch ist das Hin- und Herschwingen des Kopfes im vierfüßigen Gang, wobei sich der Kopf zur dem Führungsbein gegenüberliegenden Seite bewegt. Dieses Schwingen entsteht dadurch, dass aufgrund der dichten Bedeckung der Vorderbeine durch den Schuppenpanzer die Schultermuskulatur anders angeordnet ist als bei ungepanzerten Säugetieren. Einzelne Muskeln überdecken das Schulterblatt vollständig und schränken so dessen Bewegungen ein, der schwingende Kopf führt dadurch einen Ausgleich herbei. Bodenlebende Schuppentiere, speziell aber das Steppenschuppentier, können sich auch auf den Hinterbeinen fortbewegen und balancieren den Körper mit dem Schwanz aus, der dann den Boden nicht berührt. Generell sind Schuppentiere befähigt, auf Bäume zu klettern. Die eigentlich baumbewohnenden Arten bewegen sich dabei raupenartig zuerst mit den Vorder-, dann mit den Hinterbeinen fort, wobei der Rücken beständig gebeugt und gestreckt wird. Der Schwanz dient als Greiforgan und ist häufig um den Stamm oder einen Ast gewickelt, die Schuppen sind abgespreizt und verankern das Tier so an der Rinde. Teilweise wird er auch als Angel eingesetzt, wenn ein Schuppentier den Baum oder Ast wechselt. Weiterhin gelten Schuppentiere als gute Schwimmer, allen voran das Langschwanzschuppentier. Dazu nehmen sie extra Luft auf, so dass der Körper mit dem schweren Schuppenpanzer zur Hälfte aus dem Wasser ragt und führen seitwärts schlängelnde Bewegungen mit dem Schwanz aus. Ernährung Die Nahrung der Schuppentiere besteht in erster Linie aus Ameisen und Termiten (Myrmecophagie), wobei sie äußerst selektiv vorgehen. Nur größere Arten wie das Riesenschuppentier oder das Vorderindische Schuppentier nehmen gelegentlich auch andere Insekten oder sonstige Wirbellose zu sich, etwa Käfer, Schaben oder Würmer. Dabei vertilgen die Tiere einen vergleichsweise großen Anteil an Biomasse, der bei 300 bis 400 g pro Tag für die kleinsten Vertreter und bei 2 kg für die größten liegt. Die Nahrung wird mit dem außergewöhnlich guten Geruchssinn aufgespürt, wobei der Boden ständig mit der Nase abgesucht wird, teilweise graben Tiere auch Tunnel, um Nester zu erreichen. Mit den Grabkrallen brechen die Schuppentiere Insektenbauten oder Baumrinde auf, und mit der klebrigen Zunge nehmen sie ihre Nahrung zu sich. Die Augen, Ohren und Nasenlöcher sind verschließbar und verhindern das Eindringen von Insekten während des Fressens. Insekten, die auf den Körper gelangen, werden abgeschüttelt. Beim Fressen erheben sie sich meist auf die Hinterbeine. In der Regel dauert der Fressvorgang mehrere Stunden, der Bau wird dabei nicht vollständig zerstört. Meist kehrt ein Tier mehrmals hintereinander über mehrere Tage hinweg zum selben Ameisen- oder Termitennest zurück, erst wenn die Beute deutlich rarer wird, sucht es sich einen anderen. Fortpflanzung Über das Paarungsverhalten der Schuppentiere ist wenig bekannt. Es ist höchstwahrscheinlich nicht jahreszeitlich gebunden, möglicherweise mit Ausnahme des Chinesischen Schuppentiers. Bei dieser Art kämpfen mehrere Männchen im Spätsommer oder Herbst sehr aggressiv um das Paarungsvorrecht. In der Regel durchstreifen männliche Tiere jede Nacht mehrere weibliche Territorien auf der Suche nach brunftigen Weibchen, was sie anhand der Duftspuren erkennen. Vor allem beim Weißbauch- und beim Langschwanzschuppentier wurden Paarungsrituale beobachtet. So unternehmen Männchen und Weibchen Scheinwettkämpfe mit Schlägen Brust gegen Brust, bis sich das weibliche Tier unterwirft. Meist klammert sich das Weibchen dann an den Schwanz des Männchens, der es zum Paarungsplatz zieht. Während der Paarung sind die Schwänze der Tiere miteinander verflochten. Paare teilen sich dann über mehrere Tage einen Rastplatz. Die Tragzeit liegt bei afrikanischen Schuppentieren bei 130–150 Tagen, bei asiatischen ist sie möglicherweise kürzer und dürfte zwei bis drei Monate dauern. In der Regel bringt das Weibchen ein einziges Neugeborenes zur Welt, das bei den meisten Arten sehr weit entwickelt ist. Das Geburtsgewicht liegt je nach Art zwischen 70 und 425 g, die Geburtslänge zwischen 15 und 30 cm. Die Neugeborenen haben geöffnete Augen, die Schuppen sind nicht überlappend und zunächst weich, sie härten in den ersten Lebenstagen aus. Weibchen haben ein Paar achselständige Zitzen, mit denen das Junge gesäugt wird. Bei den baumlebenden Arten verbleibt das Jungtier in der ersten Woche in einer Baumhöhle, erst dann klettert es auf die Schwanzwurzel des Muttertiers und kann so bis zur Entwöhnung getragen werden. Bei den bodenbewohnenden Arten kommen die Jungen unterirdisch zur Welt und bleiben dort etwa zwei bis vier Wochen, bis sie die Höhle an den Schwanz der Mutter geklammert erstmals verlassen. Bei Gefahr rutscht es in der Regel auf die Bauchseite und das Muttertier bedeckt es mit dem Schwanz. Nach zwei bis vier Wochen, spätestens aber nach drei Monaten nimmt das Jungtier erstmals feste Nahrung zu sich, oft wird es zunächst auf der Schwanzwurzel der Mutter zu den Nahrungsquellen getragen. Nach rund fünf Monaten erfolgt die Trennung von der Mutter, die Geschlechtsreife tritt mit ein bis zwei Jahren ein. Das höchste bekannte Alter eines Schuppentieres in menschlicher Obhut betrug etwas mehr als 19 Jahre. Verteidigung Schuppentiere sind eher scheue und vorsichtige Tiere. Im Bedrohungsfall versuchen sie zunächst, den schützenden Unterschlupf zu erreichen. Gelingt ihnen das nicht, können sie sich zu einer Kugel einrollen. Dabei wird der muskulöse Schwanz über den ungeschützten Bauch und das Gesicht gelegt, um diese Regionen vor Angriffen zu bewahren. In zusammengerolltem Zustand richten sie auch die Schuppen auf, deren scharfe Kanten einen zusätzlichen Schutz bieten. Kleinere Arten verzahnen außerdem die Schwanzschuppen mit denen des Nackens, so dass die Tiere kaum aufgerollt werden können. Darüber hinaus können mit dem Schwanz rasche Verteidigungsschläge ausgeteilt werden, die dank der scharfen Schuppenkanten besonders effektiv sind. Es gibt einen Bericht aus Indonesien, wonach sich ein Schuppentier zu einer Kugel einrollte und einen Abhang hinunterrollte. Dabei legte es 30 Meter in 10 Sekunden zurück. Eine weitere Verteidigungsmethode ist das Versprühen eines übelriechenden Sekretes aus den Analdrüsen, ähnlich den Skunks. Die langen Krallen werden nicht zur Verteidigung eingesetzt. Systematik Äußere Systematik Die Schuppentiere (Manidae) stellen die heute einzige Familie aus der Ordnung der Pholidota dar. Nach modernen molekularbiologischen Untersuchungen sind die Schuppentiere die nächsten lebenden Verwandten der Raubtiere (Carnivora), beide Ordnungen bilden gemeinsam das höhere Taxon der Ferae. Sie sind damit Teil der Überordnung der Laurasiatheria, einer der vier Hauptlinien der Höheren Säugetiere. Die Trennung der Raubtiere von den Schuppentieren fand genetischen Analysen zufolge möglicherweise schon in der Oberkreide vor mehr als 80 Millionen Jahren oder aber im beginnenden Paläozän vor knapp 65 Millionen Jahren statt. Die Pholidota enthalten neben den heutigen Schuppentieren noch zwei nahe verwandte, allerdings ausgestorbene Familien, die Eomanidae und die Patriomanidae, letztere werden als die Schwestergruppe der Manidae angesehen. Die nächste verwandte Großgruppe bilden die Palaeanodonta. Diese ebenfalls ausgestorbene Säugetiergruppe ist aus dem Paläozän und Eozän vorwiegend aus Nordamerika, seltener aus Europa und Ostasien bekannt und wird in drei Familien unterteilt, die Escavadodontidae, die Epoicotheriidae und die Metacheiromyidae. Möglicherweise muss aber auch Ernanodon aus Ostasien in die Palaeanodonta eingeschlossen werden. Dieses bildete ursprünglich die monotypischen Ernanodonta, nach Analysen eines nahezu vollständigen Skeletts steht es aber Palaeanodon näher. Die Palaeanodonta wiesen gleichfalls Anpassungen an eine grabende und insektenfressende Lebensweise auf, etwa kräftige Gliedmaßen mit großen Krallen sowie verkleinerte, wenig spezialisierte Zähne mit einer nur dünnen Schicht an Zahnschmelz. Aufgrund der teils noch urtümlichen Merkmale wie ausgebildete Zähne könnten sie auch die Vorläufer der Pholidota darstellen. Die Ähnlichkeit ist so stark, dass die Palaeanodonta und die Pholidota heute zusammen in dem übergeordneten Taxon Pholidotamorpha zusammengefasst werden. Innere Systematik Die Familie der Schuppentiere gliedert sich heute in acht Arten, die sich auf drei Gattungen verteilen. Die Gattung Manis umfasst dabei die asiatischen Arten sowie einige belegte fossile Formen aus dem eurasischen Raum. Smutsia hingegen stellt die afrikanischen Bodenschuppentiere, während Phataginus die afrikanischen baumbewohnenden Schuppentiere enthält. Diese Untergliederung in mehrere Gattungen kann auch morphologisch anhand einzelner Schädel- oder Fußskelettmerkmale untermauert werden. So findet sich ein genereller Unterschied zwischen asiatischen und afrikanischen Schuppentieren in der Länge des Rostrums, welches bei ersteren markant gestreckter ist als bei letzteren. Auch der vordere Jochbogenansatz zieht bei den asiatischen Schuppentieren länger aus als bei den afrikanischen. Nach kladistischen Untersuchungen von Skelettmerkmalen unter Einbeziehung aller fossilen Formen der Pholidota stehen die asiatischen Schuppentiere als Schwestergruppe den afrikanischen gegenüber. Erstere werden als monophyletisch angesehen, letztere bilden wiederum zwei eigenständige Gruppen. Aus diesem Grund wurden die asiatischen Schuppentiere in die Unterfamilie der Maninae gestellt, die beiden afrikanischen Gattungen repräsentieren dagegen zwei Unterfamilien, die Smutsiinae und die Phatagininae. Die anatomisch festgestellte grundlegende Zweiteilung der Schuppentiere in einen asiatischen und einen afrikanischen Strang sowie die Aufgliederung von letzterem finden ihre Entsprechungen in den seit den 2010er Jahren zunehmend durchgeführten genetischen Untersuchungen. Diesen zufolge begann die stärkere Diversifizierung der Schuppentiere mit der Abspaltung der Linie der Maninae von der der afrikanischen Schuppentiere im Mittleren oder Oberen Eozän vor gut 46,9 bis 37,9 Millionen Jahren. Die afrikanische Gruppe wiederum spaltete sich möglicherweise im Verlauf des Oligozäns bis zum Übergang ins Miozän vor etwa 29,6 bis 22,9 Millionen Jahren auf. Es gibt allerdings auch Ansätze, in denen die einzelnen Arten nur einer einzigen Gattung, in diesem Fall Manis, zugehören, wohingegen die anderen Gattungen nur den Status einer Untergattung besitzen. Der Gliederungsversuch wird aber seit den genetischen Untersuchungen zunehmend abgelehnt. Andere hingegen unterschieden nur die asiatischen (Manis) und afrikanische Formen (Phataginus), was morphologisch begründet wurde. Daneben wurde auch die Ansicht geäußert, dass die afrikanischen Baumschuppentiere in zwei Gattungen aufgespalten werden können, in Phataginus und Uromanis, womit insgesamt vier Gattungen bestünden, ein Modell, dass teilweise auch von der IUCN verfolgt wurde. In der Vergangenheit gab es allerdings auch Vorschläge mit bis zu sechs Gattungen. Der Vorschlag einer Gliederung in drei Gattungen wurde erstmals Ende der 1990er Jahre gemacht und konnte in der Folgezeit durch mehrere kladistische Untersuchungen untermauert werden. Überblick über die rezenten und fossilen Arten der Schuppentiere Innerhalb der Familie der Manidae werden heute acht rezente und mehrere fossile Arten in drei Gattungen unterschieden: Familie: Manidae Gray, 1821 Unterfamilie: Maninae Gray, 1821 Manis (= Pangolinus, Paramanis, Pholidotus) Linnaeus, 1758 † Manis hungarica Kormos, 1934 † Manis lydekkeri Dubois, 1908 † Manis palaeojavanica Dubois, 1907 Manis pentadactyla Linnaeus, 1758 (Chinesisches Schuppentier oder Ohrenschuppentier) Manis crassicaudata Geoffroy, 1803 (Vorderindisches Schuppentier) Manis javanica Desmarest, 1822 (Malaiisches Schuppentier) Manis culionensis (de Elera, 1915) (Palawan-Schuppentier) Unterfamilie: Smutsiinae Gray, 1873 Smutsia Gray, 1865 † Smutsia olteniensis Terhune, Gaudin, Curran & Petculescu, 2021 Smutsia gigantea (Illinger, 1815) (Riesenschuppentier) Smutsia temminckii (Smuts, 1832) (Steppenschuppentier) Unterfamilie: Phatagininae Gaubert, 2017 Phataginus (= Phatagin, Triglochinopolis, Uromanis) Rafinesque, 1821 Phataginus tricuspis (Rafinesque, 1821) (Weißbauchschuppentier) Phataginus tetradactyla (Linnaeus, 1766) (Langschwanzschuppentier) Genetische Daten weisen darauf hin, dass das Weißbauchschuppentier möglicherweise mehrere kryptische Arten enthält. Unterstützt wird dies auch durch schädelmorphologische Befunde. Einige Wissenschaftler gehen daher von mehr als einem Dutzend Arten an Schuppentieren aus. Die Gültigkeit der ausgestorbenen Arten Manis hungarica und Manis lydekkeri wird teilweise angezweifelt, da ihre jeweiligen Beschreibungen lediglich auf isolierten Phalangen beruhen. Innerhalb der Ordnung Pholidota können zusätzlich noch folgende ausgestorbene Familien und Gattungen unterschieden werden: Eurotamandua Storch, 1981 Euromanis Gaudin, Emry & Wible, 2009 Familie: Eomanidae Storch, 2003 Eomanis Storch, 1978 Familie: Patriomanidae Szalay & Schrenk, 1998 Necromanis Filhol, 1893 Patriomanis Emry, 1970 Cryptomanis Gaudin, Emry & Pogue, 2006 Forschungsgeschichte Taxonomie Der Name der Familie der Schuppentiere, Manidae, wurde im Jahr 1821 von John Edward Gray eingeführt. Gray beschrieb die Merkmale der Maniden folgendermaßen: Die Beschreibung bezog sich damals aber neben den heutigen Schuppentieren auch auf die Ameisenbären, die Gray mit in die Manidae eingliederte, vier Jahre später trennte er die Ameisenbären von den Schuppentieren, sah beide jedoch als Untergruppe der Gürteltiere an. Für die Familienbezeichnung Manidae stand der Gattungsname Manis Pate. Dieser wurde 1758 von Linnaeus in seinem Werk Systema Naturae erstmals verwendet. Er erwähnte mit M. pentadactyla nur eine Art, von der er aufgrund der Angabe der präzisen Zehenanzahl ein Exemplar gesehen haben muss. Die Bezeichnung Manis geht auf die Manen zurück (lateinisch manes), römische Totengeister, und bezieht sich dabei auf die nachtaktive und meist versteckte Lebensweise. Der vor allem umgangssprachlich im englischen Sprachraum häufig verwendete Begriff pangolin leitet sich aus dem Malaiischen her, wo Peng-guling so viel wie „Einroller“ bedeutet und einerseits die Befähigung sich einzurollen wiedergibt, andererseits auch die einfache Fangmöglichkeit durch Menschen hervorhebt. Die Edentata-Problematik – Zur systematischen Stellung der Schuppentiere Ursprünglich wurden die Schuppentiere und teilweise die mit ihnen verwandten Gruppen (Palaeanodonta) aus anatomischen und morphologischen Gründen in ein nahes Verwandtschaftsverhältnis mit den Nebengelenktieren (Xenarthra) gestellt. So haben die Ameisenbären (Vermilingua) eine vergleichbar zahnlose, langgestreckte Schnauze mit verlängerter Zunge, einen reduzierten Jochbogen und Grabkrallen, während die Gürteltiere (Dasypoda) eine ähnliche Körperpanzerung besitzen und teilweise auch strikte Insectivoren darstellen. Im Gegensatz zu den wenig diversen Schuppentieren und ihren Vorgängern stellen die Xenarthra sowohl heute als auch in ihrer stammesgeschichtlichen Vergangenheit eine sehr formenreiche Gruppe dar, die jedoch weitgehend auf Südamerika beschränkt ist. Aufgrund des Auftretens der typischen xenarthrischen Gelenke (Xenarthrale oder Nebengelenke) an den hinteren Brustwirbeln und an den Lendenwirbeln galten sie schon lange als natürliche Gruppe. Tatsächlich war aber bis teilweise in die 1980er Jahre hinein die Vorstellung eines Taxons Edentata (Zahnlose) weit verbreitet. Die Edentata zeichneten sich dabei entweder durch den Verlust aller Zähne oder aber durch die Entwicklung eines homodonten Gebisses bei gleichzeitiger weitgehender Reduktion des Zahnschmelzes aus. Dadurch wichen die Edentata von den meisten Höheren Säugetiere mit ihrem charakteristisch heterodonten Gebissaufbau ab. Das Taxon Edentata geht auf Étienne Geoffroy Saint-Hilaire und Georges Cuvier zurück, die 1795 den Begriff eingeführt hatten (beide verwendeten dabei die von Félix Vicq d’Azyr bereits 1792 gebrauchte Bezeichnung „Edentati“ erneut), und bestand ursprünglich aus den Schuppentieren, den Ameisenbären und den Gürteltieren, drei Jahre später fügte Cuvier noch die Faultiere und das afrikanische Erdferkel (Orycteropus) hinzu. Vor der Etablierung der Edentata hatte bereits Gottlieb Conrad Christian Storr im Jahr 1780 die genannten Gruppen mit Ausnahme des Erdferkels unter der Bezeichnung Mutici vereint, während Linnaeus noch keine Beziehungen dieser untereinander erkannt hatte. Vielmehr sah Linnaeus in seinem Werk Systema Naturae aus dem Jahr 1758 die Gattung Manis, die heutigen asiatischen Schuppentiere, in der Nähe der Elefanten, aber auch der Ameisenbären und Faultiere, während er gleichzeitig die Gürteltiere an die Seite der Insektenfresser und Schweine stellte (das Erdferkel war zu seiner Zeit noch nicht bekannt). Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde erkannt, dass die einzelnen Mitglieder der Edentata keine natürliche Gruppe bildeten. Thomas Henry Huxley verwies 1872 das Erdferkel in eine eigene Ordnung, die Tubulidentata, ebenso wie die Schuppentiere. Da sein favorisierter Name Squamata aber bereits durch die Schuppenkriechtiere präokkupiert war, gilt Max Wilhelm Carl Webers 1904 geprägter Begriff Pholidota heute als Bezeichnung für die Ordnung der Schuppentiere. Im Jahr 1889 etablierte wiederum Edward Drinker Cope für die südamerikanischen Vertreter und damit der eigentlichen Kerngruppe der Edentata den Überbegriff Xenarthra. Die Zusammensetzung und systematische Stellung der Edentata wurden im weiteren Verlauf der Forschungsgeschichte unterschiedlich bewertet. Vor allem William Diller Matthew brachte 1918 die Palaeanodonta in die Edentata ein. Er erkannte basierend auf anatomischen Merkmalen auch die nahe Verwandtschaft der Schuppentiere mit den Palaeanodonta und sah letztere als Vorfahren der ersteren an. George Gaylord Simpson gliederte in seiner Studie zur Klassifizierung der Säugetiere aus dem Jahr 1945 die Pholidota und damit die Schuppentiere (aber nicht die Palaeanodonta) aus den Edentata aus, er sah beide Gruppen zudem nicht in einem sehr engen Verwandtschaftsverhältnis, weiterhin plädierte er für die Gleichsetzung der Begriffe Edentata und Xenarthra. Robert J. Emry wiederum vereinte im Jahr 1970 die Palaeanodonta mit den Schuppentieren unter den Pholidota und verwies dabei auf die bereits von Matthew vorgetragenen Argumente. Zudem betonte er, wie Simpson vor ihm, die unterschiedliche paläogeographische Verbreitung der Nebengelenktiere und der Pholidota, aufgrund dessen beide Gruppen keinen gemeinsamen stammesgeschichtlichen Vorfahren haben können. Etwa im selben Zeitraum sah Malcolm C. McKenna die Edentata als synonym zu den Xenarthra und stellte sie als Schwestergruppe allen übrigen Höheren Säugetieren, die er als Epitheria zusammengefasste, gegenüber. Er bescheinigte außerdem den Pholidota (und den Tubulidentata) ein nur entferntes Verwandtschaftsverhältnis zu den Nebengelenktieren. Allerdings erneuerten Mitte der 1980er Jahre Wissenschaftler um Michael J. Novacek die enge Verwandtschaft der Xenarthra und Pholidota innerhalb der Edentata und sahen die Edentata in der gleichen Position wie McKenna vorher. Andere Forscher wiederum betrachteten zu der Zeit die Edentata als synonym zu den Pholidota und dem Erdferkel und schlossen die Nebengelenktiere aus. Ebenfalls Mitte der 1980er Jahre ergaben Untersuchungen basierend auf immunologischen Eigenschaften erstmals eine nähere Verwandtschaft der Schuppentiere mit den Raubtieren, ein Ergebnis, das sich innerhalb der bisherigen anatomischen Analysen nicht widerspiegelte. Nachfolgende Untersuchungen konnten dies bestätigen, woraufhin 1998 die Pholidota mit den Carnivora unter dem Taxon Ferae vereint wurden. Als eines der wenigen gemeinsamen morphologischen Merkmale konnte dabei ein verknöchertes Tentorium cerebelli zwischen dem Groß- und Kleinhirn herausgearbeitet werden. Mehrere molekulargenetische Untersuchungen untermauerten weiterhin nicht nur die enge Beziehung zwischen Schuppentieren und Raubtieren, sondern führten auch zu einer neuen Gliederung der Höheren Säugetiere in vier Überordnungen, wobei die Ferae einen Platz in den Laurasiatheria neben den Paarhufern und Unpaarhufern erhielten. Die Nebengelenktiere dagegen stehen an der Basis der Entwicklung der Höheren Säugetiere, ähnlich wie es McKenna Mitte der 1970er Jahre bereits prognostiziert hatte. Nach dem heutigen Verständnis beruhen die Ähnlichkeiten zwischen Schuppen- und Nebengelenktieren somit auf Konvergenz und nicht auf Verwandtschaft und ergeben sich aus den ähnlichen Lebensweisen der beiden Gruppen. Das Taxon Edentata wird demzufolge heute nicht mehr geführt. Gelegentlich wird der Begriff noch als informeller Terminus für zahnlose Tiere genutzt, zu denen innerhalb der Säugetiere neben den Ameisenbären und den Schuppentieren dann auch die Bartenwale und die Ameisenigel zu zählen sind. Stammesgeschichte Fossile Reste der Schuppentiere sind allgemein sehr selten. Ursachen liegen unter anderem in der Ökologie der Tiere selbst, etwa der bevorzugte waldreiche Lebensraum, die einzelgängerische Lebensweise und die niedrige Populationsdichte. Erschwerend hinzu kommt der entwicklungsgeschichtlich frühe Verlust der Zähne, die am häufigsten erhaltenen Überreste von Säugetieren, die für die genaue Zuordnung von Fossilfunden meist unabdingbar sind. Dadurch werden manchmal einzelne Skelettelemente übersehen, obwohl an diversen Fundstellen Reste von Maniden präsent sein können. Die Pholidota stellen eine alte Ordnung dar, die ältesten unzweifelhaften Vertreter sind aus dem Mittleren Eozän vor etwa 47 Millionen Jahren aus der Grube Messel überliefert. Hierzu gehören mehrere vollständige Skelette, die den Gattungen Eomanis und Eurotamandua zugewiesen werden. Im Körperbau mit ihren ausgeprägten Grabkrallen und dem zahnlosen Kiefer entsprachen diese frühen Vertreter den heutigen Schuppentieren schon sehr gut. Bei Eomanis, einem rund 50 cm langen Tier, gelang zudem auch der erste Fossilnachweis von Schuppen. Stammesgeschichtlich stehen diese beiden Gattungen zusammen mit Euromanis, ebenfalls aus Messel, an der Basis der Entwicklung der Pholidota und repräsentieren die Gruppe der „Eomanidae“. Deutlich näher verwandt mit den heutigen Schuppentieren sind dagegen die Patriomanidae, die aus dem Oberen Eozän von Nordamerika und Ostasien bekannt sind. Hierzu gehört unter anderem Patriomanis, von dem zwei nahezu vollständige Teilskelette und vier weitere Individuen aus der White-River-Formation von Wyoming und der Renova-Formation von Montana vorliegen; es stellt den einzigen bisher entdeckten Vertreter in Nordamerika dar. Des Weiteren ist Cryptomanis zu nennen, das anhand eines schädellosen Skelettes aus der Shara-Murun-Formation der Inneren Mongolie in der Volksrepublik China beschrieben wurde. In Europa war später Necromanis vom Oligozän bis zum Mittleren Miozän verbreitet. Von dieser Gattung sind wenigstens drei Arten benannt. Das gesamte Fundmaterial verteilt sich auf mehr als ein Dutzend Individuen, darunter ein nahezu vollständiges Skelett aus Saulcet im Allierbecken in Frankreich und zwei Teilskelette aus einer Spaltenfüllung bei Petersbuch nahe Eichstätt in Süddeutschland. Einige wenige Knochenreste stammen auch aus Solnhofen oder Weisenau bei Wiesbaden in Deutschland, von Dolnice bei Cheb in Tschechien und aus El Papiol in Katalonien. Zwei Endphalangen des Vorder- und Hinterfußes aus der Gebel-Qatrani-Formation des Fayyum in Ägypten, die die typischen Einkerbungen für die Krallen der heutigen Schuppentiere zeigen, gehören einem noch unbeschriebenen Vertreter der Schuppentiere aus dem Unteroligozän von Afrika an und werden auf rund 31 Millionen Jahre datiert. Dem Fossilbericht zufolge entstanden die Pholidota demzufolge im nördlichen Bereich Eurasiens, möglicherweise in einem eher westlichen Areal, und erreichten später via Ostasien auch Nordamerika. Ein solcher Entstehungsraum ist auch konsistent mit der heutigen Zuweisung der Pholidota zu den Laurasiatheria, denen allgemein ein Ursprung auf eher nördlicher gelegenen Landmassen, die ursprünglich den Kontinent Laurasia bildeten, zugesprochen wird. Die bisher bekannten Fossilfundstellen mit Resten der frühesten Schuppentiere liegen dabei rund 1000 km nördlich der heutigen nördlichsten Verbreitungsgrenze der rezenten Vertreter. Die Manidae treten erstmals im Pliozän auf, doch auch hier sind Fossilfunde meist rar. In den Beginn des Pliozäns datiert ein nahezu vollständiges Skelett eines großen Schuppentieres aus der Varswater-Formation von Langebaanweg im südwestlichen Südafrika. Es zeigt einige pathologische Veränderungen, vor allem am Vorderbein, ähnelt aber in seinen Proportionen der Gliedmaßen deutlich dem Riesenschuppentier. Der gleichen Art wird ein Radius aus der Warwire-Formation vom Albertsee in Uganda zugeschrieben, der aber etwas jünger ist. Beide Funde gehören Tieren an, die etwas kleiner waren als das heutige Riesenschuppentier. Aus dem Oberpliozän stammt Manis hungarica, der einzige europäische Vertreter. Dieser wurde anhand einer 5 cm langen, allerdings fragmentierten Endphalanx des rechten Mittelfingers aus Villány im südlichen Ungarn beschrieben und mit den asiatischen Schuppentieren in Verbindung gebracht, der Fund ist aber mittlerweile verloren. Ein nahezu vollständiger Oberarmknochen ist von der Basis eines 1,5 m mächtigen siltigen Sandes im Tal von Valea Grăunceanului in Rumänien überliefert. Der Fund wurde zusammen mit dem Primaten Paradolichopithecus und dem giraffenartigen Tier Mitilanotherium dokumentiert und gehört in dem Übergang vom Pliozän zum Unteren Pleistozän, dem Mittleren Villafranchium. Im Jahr 2021 als Smutsia olteniensis beschrieben, stellt er den bisher jüngsten Beleg eines Schuppentiers in Europa und den einzigen Vertreter der Gattung Smutsia außerhalb Afrikas dar. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts führte ein aus 28 Knochen bestehendes Teilskelett mit teils artikulierten Resten des Schädels und der Vorder- und Hinterbeine zur Beschreibung von Manis palaeojavanica, das im Mittelpleistozän in Südostasien lebte. Der Fund, der nur auf wenigen Quadratmetern streute, stellt ein Individuum einer Art dar, der mit bis zu 2,5 m Gesamtlänge die bisher größten bekannten Schuppentiere angehören; sie sind etwa ein Drittel größer als das Riesenschuppentier. Nachgewiesen wurde die Art erstmals in der frühmittelpleistozänen „Kedung-Brubus-Fauna“ der indonesischen Insel Java, von wo auch der Rest eines frühmenschlichen Schädels stammt, Die Funde sind etwa 800.000 Jahre alt, auf ein ähnliches Alter wird auch die Fauna von Citarum im Westen Javas geschätzt, wo ein Fragment eines rechten Oberschenkelknochens von Manis palaeojavanica herstammt. Weitere Funde dieser Art in Form einiger Fußknochen liegen auch in den wesentlich jüngeren, auf ein Alter von rund 40.000 Jahren angesetzten Faunenresten der Niah-Höhlen auf Borneo vor, wo sie zusammen mit dem deutlich kleineren Malaiischen Schuppentier auftrat. Eine weitere fossile Form des Pleistozäns ist mit Manis lydekkeri aus den Carnul-Höhlen bei Madras in Indien berichtet worden. Hier liegt aber nur eine Phalanx vor, die wenig von denen den heutigen Schuppentieren abweicht. In der Nelson Bay Cave in Südafrika kamen einige Reste zum Vorschein, die ursprünglich dem Steppenschuppentier zugewiesen wurden und welche mit einem Alter von 12.000 bis 18.000 Jahren in das Oberpleistozän gehören. Es ist aber fraglich, ob die Funde tatsächlich ein Schuppentier repräsentieren. Schuppentiere und Menschen Bedrohung und Schutz Aufgrund ihrer Lebensweise haben Schuppentiere einen positiven ökologischen Nutzen, indem sie die Größe und Ausbreitung von Ameisen- und Termitenpopulationen regulieren, was auch dem Menschen zugutekommt. Allerdings unterliegen die Schuppentiere einem starken Jagddruck seitens des Menschen. In Afrika gilt das Fleisch der Tiere als Delikatesse und wird teilweise als Bushmeat genutzt. Vor allem im westlichen Afrika zählt Schuppentierfleisch zu den teuersten Spezialitäten und die Tiere werden meist lebend auf Märkten verkauft. Zusätzlich finden Schuppentiere Verwendung in der lokalen Medizin. Knochen und Schuppen dienen bei den Yoruba und den Awori in Westafrika unter anderem zur Linderung von Magenbeschwerden, aber auch zur Potenzsteigerung bei Männern und zur Regulierung des Menstruationszyklus bei Frauen. Vielfach werden den Tieren magische Eigenschaften nachgesagt, so dass einzelne Körperteile aus unterschiedlichsten Gründen als Talismane oder Glücksbringer eingesetzt werden. In der Chinesischen Medizin im östlichen Asien spielen die Schuppen ebenfalls eine wichtige Rolle. Sie gelten dort als Aphrodisiakum und antiseptisches Mittel, wurden zur Behandlung von Geisteskrankheiten und Nervenleiden empfohlen und kommen bei der Behandlung von Vergiftungen, Entzündungen, Rheuma, Asthma, Durchblutungsstörungen und in jüngerer Zeit auch gegen Brustkrebs zum Einsatz. Die Schuppen werden dabei in Stücken oder zu Pulver zermahlen gehandelt. Die Bestände der Schuppentiere sind rückläufig. Verantwortlich dafür ist in erster Linie die extensive Jagd. Alle Arten stehen unter lokalem Schutz, darüber hinaus sind sie im Washingtoner Artenschutz-Übereinkommen (CITES) seit 2016 in Anhang I gelistet, welcher die Arten mit dem höchsten Bedrohungsstatus beinhaltet. Seit 2000 gilt zudem die zero annual export quota des CITES, eine Bestimmung, die jeden internationalen Handel mit Schuppentieren oder deren Körperteilen verbietet. Allerdings ist ein reger, teils weltweit operierender Schwarzmarkt vorhanden und immer wieder werden große Schmuggelmengen entdeckt, allein im Februar und März 2008 wurden insgesamt 23 t an tiefgefrorenen Schuppentieren in Vietnam und im gleichen Jahr weitere 14 t in Indonesien sichergestellt. Mit geschätzt über einer Million gewilderter Tiere im Zeitraum zwischen 2004 und 2014 sind Schuppentiere laut IUCN die am meisten illegal gehandelten Säugetiere der Welt. Im Juli 2017 gelang chinesischen Behörden in Shenzhen die mit einem Gesamtgewicht von 12 Tonnen landesweit bislang größte Konfiszierung von Schuppen. Anfang Januar 2018 konfiszierte der Zoll in der taiwanischen Hafenstadt Kaohsiung einen Container aus Malaysia mit 13 Tonnen tiefgefrorener ausgenommener Schuppentiere (rund 4000 Individuen). Der Verkaufswert wurde auf 2.000 NT$ (etwa 55 Euro) pro Kilogramm geschätzt. Der internationale Handel mit Schuppentieren ist seit Januar 2017 komplett verboten. Des Weiteren sind vor allem die Landschaftszerstörung durch Abholzung der Wälder und Verkehrsunfälle Bedrohungsfaktoren für die einzelnen Populationen, deren exakter Status aufgrund der versteckten Lebensweise nur schwer zu ermitteln ist. Dadurch ist es wahrscheinlich, dass einzelne lokale Bestände bereits erloschen sind, so etwa beim Riesenschuppentier in Ruanda oder beim Steppenschuppentier im Oranje-Freistaat Südafrikas, ebenso wie beim Vorderindischen Schuppentier in Bangladesch und beim Chinesischen Schuppentier auf der Insel Hainan. Als problematisch erweist sich darüber hinaus die Aufzucht von Schuppentieren in zoologischen Einrichtungen. Zwar wurden seit den 1870er Jahren Schuppentiere in zahlreichen Zoos weltweit gehalten, in der Regel starben die Tiere aber nach wenigen Jahren. Ursachen lagen meist in der nicht akzeptierten Nahrung. Zudem erzeugten sie kaum Nachwuchs. Zum Erfolg führte eine neue Nahrungsstrategie im Zoo von Taipeh, wo im November 1998 erstmals in diesem Zoo ein Chinesisches Schuppentier zur Welt kam. Die IUCN listet die vier afrikanischen Arten als „gefährdet“ (vulnerable), von den asiatischen Vertretern gelten das Palawan-Schuppentier und das Vorderindische Schuppentier als „stark gefährdet“ (endangered) und das Chinesische Schuppentier sowie das Malaiische Schuppentier als „vom Aussterben bedroht“ (critically endangered). Zu den wichtigsten Maßnahmen zählt ein aktives Beobachtungsprogramm, um die genaue Verbreitung der einzelnen Schuppentierpopulationen zu studieren (monitoring), verbunden mit einer genaueren Untersuchung der ökologischen Bedürfnisse der Tiere in freier Wildbahn wie auch in zoologischen Einrichtungen. Darüber hinaus haben aber auch die Schulung und Sensibilisierung der örtlichen Bevölkerung sowie der Regierungsvertreter Vorrang zuzüglich der Erkundung der Mechanismen des weltweiten Handels. Schuppentiere als mögliche Krankheitsüberträger Forscher vermuten, dass Schuppentiere als Zwischenwirt für das Corona-Virus in Frage kommen und somit an der Entstehung der COVID-19-Pandemie beteiligt waren. Die Übereinstimmungen im Genom des aus dem Malaiischen Schuppentier isolierten Pangolin-CoV mit dem beim Menschen wirkenden SARS-CoV-2 und dem bei Fledertieren als weiteren möglichen Zwischenwirt festgestellten Bat-CoV liegen bei jeweils rund 91 %. Literatur P. Gaubert: Order Pholidota. In: Don E. Wilson und Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Volume 2: Hooved Mammals. Lynx Edicions, Barcelona 2011, ISBN 978-84-96553-77-4, S. 82–103 Timothy J. Gaudin, Robert J. Emry und John R. Wible: The Phylogeny of Living and Extinct Pangolins (Mammalia, Pholidota) and Associated Taxa: A Morphology Based Analysis. Journal of Mammalian Evolution 16, 2009, S. 235–305 Ronald M. Nowak: Walker’s Mammals of the World. Johns Hopkins University Press, Baltimore, 1999, S. 1–1936 (1239–1242) Einzelnachweise Weblinks
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https://de.wikipedia.org/wiki/Aarau
Aarau
Aarau , im schweizerdeutschen Ortsdialekt , ist eine Mittelstadt und Einwohnergemeinde im Schweizer Kanton Aargau. Sie ist Hauptort dieses Kantons und gleichzeitig des Bezirks Aarau. Die Stadt liegt 39 Kilometer südöstlich von Basel, 38 km westlich von Zürich, 67 km nordöstlich von Bern (jeweils Luftlinie) und ist Teil der Nordwestschweiz. Die Stadt am rechten Ufer der Aare liegt am Nordrand des Schweizer Mittellandes und am Übergang zum Jura-Gebirge. Die westliche Stadtgrenze bildet gleichzeitig die Grenze zum Kanton Solothurn. Aarau zählt über 21'000 Einwohner und ist damit die bevölkerungsreichste Gemeinde des Kantons. In der engen Agglomeration wohnen rund 80'000 Personen, im Wirtschaftsraum Aarau gut 220'000. Zwischen 1240 und 1250 von den Grafen von Kyburg gegründet, erhielt Aarau im Jahr 1283 von den Habsburgern das Stadtrecht. Ab 1415 war Aarau eine Untertanenstadt Berns und nach Einführung der Reformation im Jahr 1528 einer der Tagsatzungsorte der Eidgenossenschaft. Von März bis September 1798, im ersten Jahr der Helvetischen Republik, war Aarau die erste Hauptstadt der Schweiz. Seit 1803 ist Aarau Kantonshauptstadt und erfüllt seither als bedeutendes Verwaltungs-, Handels- und Dienstleistungszentrum zahlreiche zentralörtliche Funktionen. 2010 wurde das benachbarte Rohr eingemeindet. Zu den Sehenswürdigkeiten zählen das Schlössli, heute Teil des Stadtmuseums Aarau und der Obere Turm aus dem 13. Jahrhundert, die spätgotische Stadtkirche, das Rathaus und die Altstadt mit barocken Giebelhäusern und spätgotischen Häuserreihen. Geographie Stadtgliederung und Landschaft Die Aarauer Altstadt steht auf einem Felskopf aus Kalkstein, der auf zwei Seiten steil abfällt, in die Flussniederung des Aaretals vorstösst und dadurch eine Engstelle bildet. Neuere Stadtquartiere erstrecken sich auf der östlich und südlich an diesen Felskopf anschliessenden Hochterrasse sowie beidseits der von Westen nach Osten fliessenden Aare. Der Fluss bildet die Grenze zwischen zwei unterschiedlich geprägten Landschaften, dem Schweizer Mittelland auf der Südseite und dem Kettenjura auf der Nordseite. Im Norden steigt das Gelände steil zum Hungerberg an, der an seiner Nordflanke vom Rombachtal begrenzt wird. Gegen Süden hin steigt die Hochterrasse allmählich zu den bewaldeten Hügelzügen Distelberg und Gönhard an, die zugleich die natürliche Grenze zum Suhrental bilden. Im Westen verläuft im Roggenhausertal und im Schachen die Grenze zum Kanton Solothurn. Durch zwei schmale Inseln wird die Aare in zwei Flussarme getrennt. Westlich der Kettenbrücke liegt die 2,3 Kilometer lange Schacheninsel, östlich davon die 1,9 Kilometer lange Zurlindeninsel. Beide Inseln sind durchschnittlich 50 bis 100 Meter breit und entstanden durch das Ausbaggern von Gewerbekanälen. Von Südosten nach Nordwesten fliesst der Stadtbach, ein im 13. Jahrhundert angelegter künstlicher Wasserlauf. Ursprünglich durch das an mehreren Stellen an die Oberfläche tretende Grundwasser, heute auch von Suhre, Uerke und einigen Seitenbächen gespeist, durchquert er die Stadt und mündet nach vier Kilometern in die Aare. Östlich der Suhre, die bis 2009 die Gemeindegrenze zu Rohr bildete, erstreckt sich eine ausgedehnte Schotterebene. Sie ist von zahlreichen kleinen Wasserläufen durchzogen, ehemaligen Seitenarmen der einst stark mäandrierenden Aare. Nördlich von Rohr wurde 2008/09 der Hochwasserschutzdamm auf rund 900 Metern Länge zurückversetzt, um durch Überschwemmungen die einstige Flussauenlandschaft wieder entstehen zu lassen. Diese war bis in die 1930er Jahre aufgrund der Kanalisierung der Aare sukzessive zurückgedrängt worden. Die Gesamtfläche der Gemeinde beträgt 1234 Hektaren. Davon sind 400 Hektaren bewaldet und 614 Hektaren überbaut. Die angrenzenden Gemeinden im Kanton Aargau sind Erlinsbach AG im Nordwesten, Küttigen im Norden, Biberstein im Nordosten, Rupperswil im Osten, Buchs und Suhr im Südosten sowie Unterentfelden im Süden. Im Westen liegen im Kanton Solothurn die Gemeinden Eppenberg-Wöschnau und Erlinsbach SO. Die höchste Stelle ist mit der Hungerberg an der Grenze zu Küttigen, der tiefste Punkt liegt auf am Ufer der Aare nordöstlich von Rohr. Das Siedlungsgebiet von Buchs, der beiden Erlinsbach, Küttigen und Suhr ist mit jenem von Aarau zusammengewachsen. Klima Aarau liegt in der gemässigten Klimazone. Prägend für das Klima sind einerseits Winde aus westlichen Richtungen, die oft Niederschlag heranführen, andererseits die Bise (Ost- oder Nordostwind), die meist mit Hochdrucklagen verbunden ist, aber in allen Jahreszeiten kühlere Witterungsphasen verursacht als im Mittel zu erwarten wären. Der in den Alpentälern und am Alpenrand wichtige Föhn zeigt im Normalfall keine besonderen klimatischen Auswirkungen auf Aarau. Die nächstgelegene Messstation von MeteoSchweiz befindet sich in der Nachbargemeinde Buchs auf einer Höhe von Für die Normalperiode 1991–2020 beträgt die Jahresmitteltemperatur 10,0 °C. Der kälteste Monat ist der Januar mit durchschnittlich 1,2 °C, der wärmste der Juli mit 19,4 °C. Es gibt durchschnittlich 14,0 Hitzetage über 30 °C und 14,1 Eistage unter 0 °C. Die jährliche Niederschlagsmenge beträgt rund 920 mm, wobei besonders in den drei Sommermonaten aufgrund der Konvektion höhere Mengen gemessen werden als während der übrigen Jahreszeiten. Das Maximum wird im Mai, Juli und August mit je 98 mm erreicht, das Minimum im Februar mit 53 mm. Geschichte Vorgeschichte und Antike In Aarau wurden verschiedene Spuren einer Besiedlung während der Jungsteinzeit gefunden, darunter eine kleine Siedlung auf dem Hungerberg. Beim heutigen Bahnhof existierte am Ende der Bronzezeit (etwa um 1000 v. Chr.) eine weitere Siedlung, bei Rohr existierten mehrere Getreidelager. Für die Latènezeit lässt sich zwar keine Besiedlung nachweisen, doch bündelten sich auf Aarauer Gemeindegebiet Wege von den Jurapässen Benkerjoch, Salhöhe und Schafmatt zu einem gemeinsamen Übergang der Aare. Die Römer nutzten den Aarauer Raum ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. als Verkehrsknotenpunkt. Der Verlauf der Bahnhofstrasse entspricht ungefähr jenem der Römerstrasse zwischen dem Legionslager Vindonissa (Windisch) und der Stadt Aventicum (Avenches). Hier dürfte sich eine Mansio befunden haben, während im östlichen Bereich der späteren Altstadt eine Siedlung existierte. 1976 fanden Taucher in der Aare Teile einer Brücke, welche die Verbindung zu den Jurapässen herstellte. Besonders die Salhöhe, über die Augusta Raurica erreicht werden konnte, scheint eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Eine Nebenstrasse führte ostwärts zum Vicus Lindfeld bei Lenzburg, untergeordnete Wege ins Suhrental und ins Wynental. Es gab mehrere Gutshöfe in der Nachbarschaft, beispielsweise auf dem Kirchberg bei Küttigen und bei Oberentfelden. 1919 fand man bei Bauarbeiten auf dem Areal des Kantonsspitals zahlreiche Terra-Sigillata-Keramikgefässe aus dem 2. und 3. Jahrhundert. Im Jahr 259 durchbrachen die Alamannen den Obergermanisch-Raetischen Limes, erst zwei Jahrzehnte später konnten die Römer die Kontrolle über das Gebiet zurückerlangen. Die dezimierte Bevölkerung zog weg und drängte sich andernorts in befestigte Kastelle. Auf dem Aarauer Felskopf entstand zur rückwärtigen Sicherung des Donau-Iller-Rhein-Limes eine Warte. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts zogen sich die Römer endgültig zurück. Entstehung der Stadt Die Alamannen begannen sich zu Beginn des 7. Jahrhunderts dauerhaft niederzulassen und gründeten eine dörfliche Siedlung, die mehrere hundert Jahre später den Namen «zen Husen» (bei den Häusern) trug und aus der sich die Vordere Vorstadt entwickelte. Im Oberholz am Distelberg wurde im 9. Jahrhundert Eisenerz abgebaut. Im 10. und 11. Jahrhundert entstand im heutigen Telliquartier, an einer Furt über die Aare, eine Kirche, deren Reste 1936 bei Bauarbeiten zum Vorschein kamen und 1959/60 genauer untersucht wurden. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts scheint die Kirche sorgfältig abgetragen worden zu sein, nur das Fundament blieb erhalten. Um 1236/37 entstand das Schlössli, eine Turmburg am Rande eines weiteren Siedlungsschwerpunktes. Dieser gehörte zu Beginn des 13. Jahrhunderts zusammen mit Buchs und Rohr zu einem von Suhr aus verwalteten Twing. Landesherren waren die Kyburger, die im Jahr 1173 das Erbe der Lenzburger angetreten hatten und sowohl über die Blutgerichtsbarkeit als auch über die niedere Gerichtsbarkeit verfügten. Zwischen 1240 und 1250 gründeten die Kyburger Grafen Hartmann IV. und Hartmann V. auf dem Felskopf über der Aare die Stadt Aarau. Der früheste Beleg des Ortsnamens stammt aus dem Jahr 1248 (Arowe). Er setzt sich zusammen aus dem Flussnamen Aare (in den ältesten Belegen Arula, Arola, Araris) und dem Wort Au (mhd. ouwe, ahd. ouwa ‚Land am Wasser‘). Der älteste gesicherte Hinweis auf das Bestehen einer städtischen Siedlung stammt aus dem Jahr 1256. Vierzehn Jahre später wurde das Kloster St. Ursula gegründet, eine Filiale des Damenstiftes Schänis. Der «Turm Rore» diente als Sitz des kyburgischen Amtsmannes. Im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts entstand auch der Vorgängerbau der Stadtkirche, Aarau blieb aber bis 1568 Teil der Grosspfarrei Suhr. 1263 erlosch das Geschlecht der Kyburger. Agnes von Kyburg, die keine männlichen Verwandten mehr hatte, verkaufte 1273 die gesamten Ländereien an ihren Patenonkel Rudolf I. von Habsburg. Am 4. März 1283 hielt er in Luzern einen Hoftag ab. Dabei bestätigte er das bereits geltende Marktrecht und verlieh Aarau zusätzlich das Stadtrecht. Es basierte auf dem Stadtrecht Winterthurs von 1264, beinhaltete aber einige Einschränkungen. So durften die Aarauer den Schultheissen vorerst nicht selbst bestimmen. 1301 gaben sie sich eine autonome Satzung. 1337 erreichten die Stadtbürger bei Herzog Albrecht II. die Abschaffung der Steuervorrechte des Adels, steuerfrei blieb einzig der Turm Rore als herrschaftliches Lehen. Es entwickelte sich ein durchlässiges Patriziat aus Landadeligen, Grundbesitzern und Handwerkern. Aarau blieb 1375 beim Feldzug der Gugler verschont, im Gegensatz etwa zum benachbarten Lenzburg. 1386 fielen über ein Dutzend Aarauer Bürger in der Schlacht bei Sempach, darunter der Schultheiss. Zwei Jahre später verwüsteten Berner Truppen die unbefestigte Vorstadt, anfangs 1389 verschiedene umliegende Dörfer. Herrschaft der Berner Herzog Friedrich IV. fiel 1415 beim Konzil von Konstanz in Ungnade, nachdem er Gegenpapst Johannes XXIII. zur Flucht verholfen hatte. König Sigismund forderte die Eidgenossen auf, den Aargau im Namen des Reiches zu erobern. Aarau wurde daraufhin von Truppen aus Bern und Solothurn belagert. Die Stadt leistete zunächst Widerstand, wobei das Spital in der Vorstadt in Brand geriet. Nach zwei Tagen kapitulierten die Aarauer am 20. April 1415 und mussten den neuen Herren Treue schwören. Im Gegenzug durften sie ihre erworbenen Freiheiten behalten. Sigismund erklärte Aarau zur Freien Reichsstadt, doch war diese Massnahme von geringer Bedeutung, da Bern am 1. Mai 1418 die Pfandschaft über die eroberten Gebiete im Berner Aargau übernahm. Die Solothurner erhielten für ihre Hilfe eine finanzielle Entschädigung, doch die Berner grenzten sie allmählich aus und waren ab 1461 Alleinherrscher. Innerhalb des Staates Bern hatte Aarau als so genannte Munizipalstadt eine Sonderstellung. Sie war keiner Landvogtei zugeordnet und besass grosse Autonomie. An der Spitze stand der Schultheiss, der ab Mitte des 14. Jahrhunderts von der Gemeindeversammlung gewählt wurde und dessen Amtszeit ab 1522 auf zwei Jahre beschränkt war. Häufig wechselten sich jedoch Schultheiss und Statthalter gegenseitig ab. Zusammen mit sieben weiteren Personen bildeten sie den «Kleinen Rat», der die verschiedenen Verwaltungsaufgaben übernahm. Darunter stand der «Mittlere Rat» mit 18 Mitgliedern, der eine Kontrollfunktion ausübte. Alle Räte stammten aus den Reihen des 45-köpfigen Magistrats («Rät und Burger»), der zugleich als nieder- und hochgerichtliche Instanz auftrat. Dem Magistrat, der sich im Verlaufe des 16. Jahrhunderts herausbildete, gelang es, die Gemeindeversammlung zu entmachten, und Ämter wurden nur noch innerhalb regimentsfähiger Familien vergeben. Bereits in habsburgischer Zeit versuchte Aarau eine eigene Gerichtsherrschaft aufzubauen. Schultheiss Ulrich Trutmann erwarb 1312 privat die niedere Gerichtsbarkeit über Unterentfelden, 1411 gelangte sie in den Besitz der Stadt. 1417 erwarb Aarau von den verarmten Kienbergern die Herrschaft Königstein, verkaufte sie aber 1453 aus unbekannten Gründen wieder. Der Teil westlich des Erzbaches mit Nieder- und Obererlinsbach gelangte an die Falkensteiner und fünf Jahre später an Solothurn, der östliche Teil mit Erlinsbach und Küttigen an die Johanniterkommende in Biberstein. Häufige Streitigkeiten über die Bodennutzung veranlassten Aarau, 1576 die Rechte über Unterentfelden an Bern zu verkaufen, im Austausch gegen einen Anteil an den Zolleinnahmen in Biberstein. Davon ausgenommen war Roggenhausen, ein seit 1527 zu Aarau gehörender Steckhof. Aarau war verpflichtet, Truppen zu stellen und an den Berner Feldzügen teilzunehmen. Im Mai 1449, in der Schlussphase des Alten Zürichkrieges, unternahm eine von Hans von Rechberg und Thomas von Falkenstein angeführte Söldnertruppe einen Raubzug ins Aaretal. Das städtische Regiment konnte sie über die Staffelegg zurückdrängen, geriet aber bei Wölflinswil in einen Hinterhalt und verlor 19 Mann. 1523 begann Leutpriester Andreas Honold mit der Verbreitung von reformatorischem Gedankengut, wurde aber ein Jahr später abgesetzt. Bei der Berner Disputation im Januar 1528 setzten sich die Anhänger der Reformation endgültig durch, woraufhin Bern die neue Konfession konsequent in sämtlichen Untertanengebieten einführte. In allen Städten und Landvogteien fanden pro forma konsultative Abstimmungen statt. Am 1. März 1528 sprachen sich in Aarau 146 Bürger für die Reformation aus, 125 stimmten dagegen. Daraufhin kam es in der Stadtkirche zu einem Bildersturm. Ab 1529 fanden in Aarau aufgrund der zentralen Lage zwischen Basel, Bern und Zürich regelmässig Tagsatzungen der reformierten Orte statt. Gesellschaft und Wirtschaft in der frühen Neuzeit Während der Berner Herrschaftszeit zählte Aarau in der Regel zwischen 1000 und 1200 Einwohner. Die Stagnation ist auf mehrere Epidemien zurückzuführen. An der Pest starben beispielsweise 1549/50 über 100 Personen, 1630 um die 700 (etwa die Hälfte der Stadtbevölkerung) und 1667 nochmals 120. Im Jahr 1764 starben 126 Personen an der Ruhr. Wirtschaftlicher Mittelpunkt waren die Märkte. Wochenmärkte sind seit 1443 urkundlich belegt, die Zahl der Jahrmärkte stieg bis 1578 auf sieben und blieb danach konstant. Das Einzugsgebiet war jedoch aufgrund mehrerer nahe gelegener Städte eng begrenzt. Spätestens ab 1620 existierte eine «Bruderschaft», eine Vereinigung einheimischer Händler und Krämer zur Abwehr von Konkurrenz. Auswärtige Marktfahrer mussten eine Mitgliedschaft erwerben, wenn sie ihre Waren anbieten wollten. Für den Salzhandel waren ab 1574 die Stadtbehörden allein zuständig, bis Bern hundert Jahre später das Monopol an sich zog. Von grosser Wichtigkeit waren auch Gewerbetreibende und Handwerker. Überregionale Bedeutung besassen aber nur Kirchenglockengiesser und Messerschmiede. Es existierten zwar Handwerksvereinigungen, zur Gründung politisch einflussreicher Zünfte kam es jedoch nie. Im Gegensatz zu anderen Städten spielte auch die Landwirtschaft eine gewisse Rolle, da Aarau über viel gutes Ackerland verfügte. 1777 ergab eine Vermessung eine nutzbare Fläche von 2180 Jucharten (725 Hektaren). Der Weinbau war relativ unbedeutend; am Hungerberg gab es einen 60 Jucharten grossen Rebberg. Ab dem frühen 18. Jahrhundert etablierte sich in Aarau die Textilindustrie. Aus dem Jahr 1703 ist die Gründung einer Wolltuchfabrik überliefert, später kamen das Weben von Baumwolle und die Seidenfabrikation hinzu. Die erste Indiennedruckerei entstand 1755. Zahlreiche Zugewanderte betätigten sich als Fabrikanten. Dazu gehörten die Frey aus Lindau und die Herosé aus Speyer. Diese wohlhabenden und gebildeten Kreise hatten wenig politische Macht und mussten sich auf andere Weise profilieren. Insbesondere das Bildungswesen bot ihnen die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen. 1787 konnten die Industriellen schliesslich eine grundlegende Reform des städtischen Schulwesen durchsetzen, die im Geiste der Aufklärung stand. Revolutionsjahre Forderungen nach Gleichheit und Menschenrechten nach Beginn der Französischen Revolution fanden in Aarau grossen Anklang. Die Industriellen, die das Aufbrechen der erstarrten Verhältnisse anstrebten, verbreiteten ihre Ansichten in der Bevölkerung. Am 27. Dezember 1797 fand in Aarau die letzte Tagsatzung der alten Eidgenossenschaft statt. Zwei Wochen später liess sich der französische Gesandte Joseph Mengaud nieder, um die revolutionäre Stimmung weiter anzuheizen, da hier der Gegensatz zwischen hohem Bildungsniveau und fehlenden politischen Rechten besonders augenfällig war. Die Anhänger der alten Ordnung erneuerten am 25. Januar 1798 im Aarauer Schachen vor 25'000 Zuschauern den Bundesschwur. Dieser symbolische Akt vermochte jedoch nicht die offensichtliche Hilflosigkeit des Ancien Régime gegenüber den sich anbahnenden Entwicklungen zu kaschieren. Zu Beginn des Jahres 1798 rückten die Franzosen immer weiter vor, und das Ende der Berner Herrschaft war absehbar. Aarau revoltierte am 30. Januar und weigerte sich, Soldaten zum Schutze Berns zu entsenden. Ein von Major Daniel Pfleger angeführter «Sicherheitsausschuss» stürzte den Stadtrat. Doch schon am 4. Februar nahm die dritte Berner Division die Stadt kampflos ein und setzte den alten Rat wieder ein, während die Anführer der Aarauer Revolution ins befreite Baselbiet flohen. Dieser Rückschlag war nur von kurzer Dauer: Einen Monat später, am 5. März, kapitulierte Bern nach der verlorenen Schlacht am Grauholz, und in Aarau gelangten die Revolutionäre wieder an die Macht. Mitte März 1798 besetzten französische Truppen die Stadt. Vom Fenster des Rathauses rief Peter Ochs am 12. April 1798 die Helvetische Republik aus. Der Senat des neuen Staates wählte Aarau am 3. Mai aufgrund der revolutionären Gesinnung zur provisorischen Hauptstadt und somit zur ersten Hauptstadt der Schweiz überhaupt. Das Parlament nutzte das Rathaus als Tagungsort, das Direktorium bezog das Haus zum Schlossgarten. Doch Aarau war schlicht zu klein, um die Funktionen einer Hauptstadt problemlos ausführen zu können. Bereits am 20. September zogen Direktorium und Parlament nach Luzern um. Aarau war Hauptort des gleichnamigen Distrikts und des Kantons Aargau, der aber nur die ehemaligen Berner Untertanengebiete umfasste (ohne den westlich der Wigger gelegenen Teil). Die revolutionäre Stimmung verflog rasch. Dazu trug vor allem der Zweite Koalitionskrieg im Jahr 1799 bei, als Hunderte französischer Soldaten in der Stadt einquartiert wurden. Als sich die Franzosen für einige Monate aus der Schweiz zurückzogen, hatten die Anhänger der alten Ordnung die Oberhand. Während des Stecklikriegs kapitulierte Aarau am 14. September 1802 vor aufgebrachten und plündernden Bauern aus der Umgebung. Fünf Wochen später beendeten die wieder einrückenden Franzosen die anarchischen Zustände. Bedeutungszuwachs als Kantonshauptstadt Am 19. Februar 1803 ordnete Napoleon Bonaparte in der Mediationsakte die Verschmelzung der Kantone Aargau, Baden und Fricktal an. Aarau blieb Hauptstadt des erweiterten Kantons Aargau. Dieser Beschluss hatte eine verstärkte Bautätigkeit zur Folge. Die Stadt entwickelte sich auch zum intellektuellen und kulturellen Mittelpunkt des Kantons. Ihren Beitrag dazu leisteten einerseits die anfangs von Stadtbürgern getragene Kantonsschule (das erste nichtkirchliche Gymnasium der Schweiz), andererseits die Aargauer Kantonsbibliothek, deren Grundstein mit dem Kauf der Sammlung Zurlauben gelegt wurde. 1812 erweiterte Aarau seinen Gemeindebann auf Kosten der Nachbargemeinde Suhr. Das neu hinzugekommene Gebiet war die «Ehefäde», ein 1553 erstmals erwähnter, landwirtschaftlich genutzter Sonderbezirk. Dieser schmale Landstreifen gehörte zuvor steuerrechtlich und politisch zu Suhr, die meisten Grundstücke waren aber im Besitz Aarauer Bürger gewesen und von diesen auch bewirtschaftet worden. Aarau bezahlte dafür eine Entschädigung von 11'000 Franken. Damals kam es auch zu kleineren Grenzberichtigungen mit Küttigen; weitere folgten 1911 und 1930 mit Buchs sowie 1915 mit Rohr. Während der Restauration war Aarau ein bedeutendes Zentrum des Liberalismus in der Schweiz. Hier konnten Zeitungen und Bücher erscheinen, die andernorts der Zensur unterlagen oder ganz verboten waren. Insbesondere der Verlag Sauerländer und sein Hauptautor Heinrich Zschokke taten sich hervor. Ab den 1820er Jahren war die Stadt auch Zufluchtsort für politische Flüchtlinge aus Preussen und anderen deutschen Staaten. Dennoch gab es auch im Kanton Aargau restaurative Tendenzen. Nachdem die Regierung Forderungen verschiedener Komitees und Volksversammlungen ignoriert hatte, kam es zum Freiämtersturm. Rund 6'000 Bewaffnete zogen am 5./6. Dezember 1830 vom Freiamt aus nach Aarau und nahmen die Stadt kampflos ein. Sie besetzten das Zeughaus, umstellten das Regierungsgebäude und zwangen die Regierung zu Verfassungsreformen. In Aarau gegründete gesamtschweizerische Institutionen förderten die Schaffung eines Bundesstaates: 1824 entstand anlässlich des ersten Eidgenössischen Schützenfestes der Schweizerische Schützenverein, 1832 anlässlich des ersten Eidgenössischen Turnfestes der Schweizerische Turnverband. Der Eidgenössische Sängerverein wurde 1842 gegründet, der Schweizerische Gemeinnützige Frauenverein folgte 1888. Hauptschauplatz der Novelle «Das Fähnlein der sieben Aufrechten», mit der Gottfried Keller die Errungenschaften des Schweizer Bundesstaates feierte, ist das Eidgenössische Freischiessen, das 1849 in Aarau stattfand. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts beherrschte noch das Handwerk das wirtschaftliche Geschehen, wurde aber bald von der Textilindustrie abgelöst. Diese profitierte von der Kontinentalsperre, welche die starke britische Konkurrenz vorübergehend ausschaltete und eine rasche Mechanisierung ermöglichte. 1810 eröffnete Johannes Herzog die erste mechanische Spinnerei des Kantons. Ein Dutzend Unternehmen in dieser Branche folgten, die aufgrund des tiefen Lohnniveaus konkurrenzfähig waren. Das grösste war die Hunziker & Co., die zeitweise über 2'400 Heimarbeiterinnen in der Region beschäftigte. Verkehrsknoten und Industriestadt Bei einer Überschwemmung im September 1831 brach die aus dem Mittelalter stammende Holzbrücke über der Aare zusammen. Aufgrund von Kompetenzstreitigkeiten und inkompetenten Bauleitern nahm der Neubau über sieben Jahre in Anspruch und war erst im Oktober 1838 vollendet. Während dieser Zeit musste der Verkehr durch Fähren abgewickelt werden. Im Juli 1843 brach die neue Brücke bei einem erneuten Hochwasser ebenfalls zusammen. Nach fünf Jahren Diskussionen und zwei Jahren Bauzeit wurde im Dezember 1850 die Kettenbrücke dem Verkehr übergeben, eine Hängebrücke aus stählernen Gliederketten (1948/49 durch eine Betonbrücke ersetzt). Am 9. Juni 1856 eröffnete die Schweizerische Centralbahn die Eisenbahnstrecke von Aarau über Olten nach Emmenbrücke, die Strecke der Schweizerischen Nordostbahn von Aarau nach Brugg folgte am 1. Mai 1858. Die ursprünglich vorgesehene Linienführung entlang der damals noch wild fliessenden Aare wurde aus Sicherheitsgründen zugunsten eines Tunnels unter dem Schanzhügel aufgegeben. Entlang der Hauptstrecke Bern–Zürich war der Bahnhof Aarau nur eine Durchgangsstation. Da das Projekt eines Tunnels unter der Schafmatt nicht zustande kam, übernahm die idealer gelegene Stadt Olten die Rolle eines nationalen Knotenpunktes. Aarau musste sich damit begnügen, ein regionaler Knotenpunkt zu werden. Die Schweizerische Nationalbahn nahm am 6. September 1877 die kurze Zweigstrecke nach Suhr in Betrieb. Vom Bau der Aargauischen Südbahn erhoffte sich Aarau neue Impulse, doch die zwischen 1874 und 1882 etappenweise errichtete Strecke mit Anschluss zur Gotthardbahn konnte die hohen Erwartungen nicht erfüllen, da sich andere Verkehrsströme bereits etabliert hatten. Kurz nach der Jahrhundertwende wurden zwei elektrische Strassenbahnen eröffnet, am 19. November 1901 die Aarau-Schöftland-Bahn und am 5. März 1904 die Wynentalbahn nach Menziken. Beide Bahnen fusionierten 1958 zur Wynental- und Suhrentalbahn (WSB). In den 1850er Jahren vollzog sich ein radikaler Strukturwandel. Aufgrund der protektionistischen Zollpolitik der Nachbarstaaten brach die Textilindustrie vollständig zusammen. An die Stelle einiger dominierender Grossbetriebe in einer einzigen Branche traten Mittelbetriebe, die unterschiedlichste Produkte herstellten. Durch den raschen Niedergang der Textilindustrie geriet Aarau gegenüber anderen Städten ins Hintertreffen. Eine weitere Strukturschwäche offenbarte sich mit dem Wegfall billiger Heimarbeitskräfte in der Region durch vermehrte Auswanderung. Die lokalen Finanzinstitute Aargauische Bank (1913 zur Kantonalbank umgewandelt) und Aargauische Kreditanstalt (1919 in der Bankgesellschaft aufgegangen) konnten nicht genügend Kapital bereitstellen, mit dem die Stadt ihren Rückstand hätte aufholen können. Neue Industriezweige, die in Aarau entstanden, waren unter anderem die Herstellung von Reisszeug (Kern & Co.), Zement (Fleiner & Co., Jura-Cement-Fabriken), Schuhen (Filiale der im nahen Schönenwerd domizilierten Bally, Fretz & Cie.), Stahlguss (Oehler & Cie.) und Grafik (Trüb AG). Nach einer Krise in den 1870er Jahren kam es um die Jahrhundertwende zu einer weiteren Gründungswelle in den Bereichen Elektrotechnik (Kummler & Matter, Sprecher + Schuh) und Nahrungsmittelverarbeitung (Chocolat Frey). Alle diese Betriebe konnten jedoch den relativen Bedeutungsverlust Aaraus nicht wettmachen. Umso energischer trieb die Stadt Projekte voran, welche die zentralörtlichen Funktionen stärkten. Dazu gehörten der Ausbau der Aarauer Kaserne (1876 zum Hauptstandort der fünften Infanteriedivision erhoben), die Gründung des Lehrerseminars (1873) und des Kantonsspitals (1882) sowie die Erweiterung der Kantonsschule (1896). Entwicklung seit dem 20. Jahrhundert Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs traf Bevölkerung und Wirtschaft gleichermassen unvorbereitet. Aufgrund der hohen Inflation verarmten weite Teile der Bevölkerung, was die Stadt vor grosse sozialpolitische Probleme stellte. Da in Aarau zusätzlich Hunderte von Soldaten stationiert waren, konnte sich in der zweiten Jahreshälfte 1918 die Spanische Grippe besonders rasch ausbreiten; die Behörden registrierten 2440 Erkrankte, etwa ein Prozent der Bevölkerung erlag der Epidemie. Der Landesstreik im November 1918 verlief ohne Zwischenfälle, eine Bürgerwehr sorgte für Ruhe und Ordnung. 1914 stellten die verarmten Nachbargemeinden Rohr und Unterentfelden das formelle Begehren, eingemeindet zu werden. Die Stadt Aarau bekämpfte dieses Vorhaben, weil sie befürchtete, den Steuerfuss erhöhen zu müssen. Sie erklärte sich aber 1919 nach langen Verhandlungen bereit, Unterstützungsbeiträge zu bezahlen. Die Zahlungen wurden bis 1950 geleistet. Um den akuten Mangel an Wohnraum zu lindern und gleichzeitig den Einfluss der Spekulation auf die Siedlungsentwicklung zu begrenzen, betrieb die Stadt ab 1916 eine gezielte Bodenpolitik. Bis 1953 erwarb sie eine Landfläche von insgesamt 86 Hektaren und verkaufte die erschlossenen Parzellen zu günstigen Konditionen weiter, wobei die Bauarbeiten innert eines Jahres beginnen mussten. Auf diese Weise entstanden Wohnquartiere, die nach einheitlichen Kriterien geplant waren und – ähnlich den Idealen der Gartenstadt-Bewegung – einen grossen Grünflächenanteil aufwiesen. Wohnbaugenossenschaften kamen erst ab den 1930er Jahren vermehrt zum Zuge. Ein im Jahr 1920 vom Grossen Rat genehmigtes Projekt einer Hafenanlage an der Aare, die der Güter-Binnenschifffahrt dienen sollte, wurde nie verwirklicht. Die Zwischenkriegszeit war von starken Konjunkturschwankungen geprägt, welche die Aarauer Industrie einer harten Belastungsprobe aussetzten. Besonders stark war sie ab 1929 von der Weltwirtschaftskrise betroffen. Die Arbeitslosenzahlen stiegen zwischenzeitlich markant an und einzelne Betriebe gingen in Konkurs. Vor allem die Gewerbetreibenden litten unter der Flaute. Im Zweiten Weltkrieg war Aarau von den üblichen Massnahmen wie Verdunkelung und Rationierung betroffen. Im Rahmen der Anbauschlacht wurde die landwirtschaftlich nutzbare Fläche von 50 auf 122 Hektaren ausgeweitet. Mit Ausnahme der Explosion eines versehentlich von den Alliierten abgefeuerten Geschosses Ende Dezember 1944 blieb die Stadt von Schäden verschont. Nach dem Krieg dehnte sich die überbaute Fläche weiter aus. Bald waren sich die Stadtbehörden jedoch bewusst, dass mit der bisher üblichen Gartenstadt-Bauweise die Baulandreserven rasch erschöpft sein würden, weshalb sie eine rationellere Nutzung des Bodens anstrebten. Stadtammann Erich Zimmerlin und Architekt Hans Marti entwickelten die Bauordnung der Stadt Aarau, die 1959 in Kraft trat und als eines der ersten modernen Baurechts- und Planungsinstrumente der Schweiz gilt. Sie ermöglichte die Verdichtung der altstadtnahen Bereiche sowie den Bau von Wohnblöcken und -hochhäusern an der Peripherie. Auf der letzten Baulandreserve der Stadt entstand zwischen 1971 und 1991 in drei Etappen die Grosswohnsiedlung Telli, ebenfalls nach Plänen von Hans Marti. Vorgesehen waren ursprünglich vier lang gestreckte Wohnzeilen und drei Hochhäuser. Aufgrund des Konkurses der verantwortlichen Generalunternehmung kam der Bau von zwei Hochhäusern nicht zustande. Ab den 1960er Jahren arbeiteten mehr Menschen in Dienstleistungsbetrieben und in der kantonalen Verwaltung als in der Industrie, die allmählich an Bedeutung zu verlieren begann. Der Kanton versuchte, das unaufhaltsam scheinende Wachstum in die richtigen Bahnen zu lenken. Geplant war eine polyzentrische Stadt mit dem Namen Aarolfingen (Aarau–Olten–Zofingen), die 330'000 Einwohner zählen sollte. Doch die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre bereitete diesen Grossstadtträumen ein rasches Ende. In den 1980er und 1990er Jahren erlebte Aarau einen weiteren durchgreifenden Strukturwandel: Mehrere renommierte Industrieunternehmen wurden aufgelöst, andere verlegten ihre Produktion in die Vororte. Dennoch blieb Aarau ein bedeutender Wirtschaftsstandort. Ehrgeizige Verkehrsprojekte wie eine sechsspurige Umfahrungsstrasse dem Ufer der Aare entlang oder ein Nord-Süd-Tunnel unter dem Kasernenareal wurden zu den Akten gelegt. Verwirklicht wurden hingegen die Teilverlegung der WSB in einen Tunnel, der Ausbau wichtiger Kreuzungen, ein Autobahnzubringer und ein Einbahnring im Stadtzentrum. In einer Volksabstimmung am 24. Februar 2008 votierten die Stimmberechtigten von Aarau und Rohr für die Fusion beider Gemeinden auf den 1. Januar 2010. Somit ist Aarau mit etwas mehr als 20'400 Einwohnern nunmehr die bevölkerungsreichste Stadt des Kantons. Stadtbild und Architektur Altstadt Die gut erhaltene Altstadt ist das Ergebnis einheitlicher Planung der Kyburger. Um die beiden sich kreuzenden Hauptgassen (Rathausgasse bzw. Kirchgasse/Kronengasse) sind vier Häusergevierte angeordnet, die als «Stöcke» bezeichnet werden. Darum herum ist ein Gassenring mit einer weiteren Häuserzeile gelegt. Im 14. Jahrhundert wurde die Stadt in zwei Etappen konzentrisch erweitert (davon ausgenommen blieb die Nordflanke). Dabei trug man die alte Stadtmauer ab oder integrierte sie in neu errichtete Gebäude. Als Ersatz entstand ein zweiter äusserer Mauerring. An der Süd- und Ostseite, wo der Felskopf flach in die Hochterrasse übergeht, befand sich ein breiter Graben, der die Stadt von der unbefestigten Vorstadt trennte. Zu einem grossen Teil geht die Bausubstanz der Altstadt auf Bauvorhaben im 16. und 17. Jahrhundert zurück, als fast alle aus dem Mittelalter stammenden Gebäude ersetzt oder aufgestockt wurden. Die architektonische Entwicklung fand im späten 18. Jahrhundert ihren Abschluss, als die Stadt sich merklich auszudehnen begann. Die Altstadthäuser sind überwiegend im spätgotischen Stil. Eine Besonderheit sind rund 70 Dachgiebel mit bemalten Unterseiten (Ründen), weshalb Aarau auch als «Stadt der schönen Giebel» bezeichnet wird. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts empfand man, dem damaligen Zeitgeist entsprechend, die mittelalterlichen Befestigungsanlagen als einengend. Nachdem bereits das gering befestigte Aaretor verschwunden war, wurde 1812/13 auch das Laurenzentor abgebrochen. 1820 schleifte man die Stadtmauern, schüttete den Graben zu und wandelte ihn zu einer Allee um. Ältester Teil der Stadtbefestigung ist das Schlössli an der nordöstlichen Ecke der Altstadt, aber knapp ausserhalb des einstigen Mauerrings gelegen. Dieser 25 Meter hohe Wohnturm entstand in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts kurz vor der Stadtgründung und besteht aus grob behauenem Megalithmauerwerk. Etwas jünger, aber im selben Baustil, ist der Turm Rore. Nachdem er 1517 sein Privileg als Freihof verloren hatte, wurde er bis 1520 in das neu erbaute Rathaus integriert. Ebenfalls im Zusammenhang mit der Stadtgründung steht die Errichtung des Oberen Turms neben dem südlichen Stadttor. Er wurde um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert aufgestockt und dominiert mit einer Höhe von 62 Metern das Stadtbild. Ebenfalls erhalten geblieben sind das Haldentor im Westen und ein kurzer Mauerzug mit dem Pulverturm an der Südwestecke. Die Stadtkirche steht am nordwestlichen Rand der Altstadt, unmittelbar an der Kante des Felskopfes. Sie entstand von 1471 bis 1478 gemäss den Vorgaben der Bettelordensarchitektur und präsentiert sich als schlichte dreischiffige Basilika. Der Kirchturm stammt vom Vorgängerbau und wurde 1426/27 errichtet. Auf dem Platz vor der Kirche steht der 1643 geschaffene Gerechtigkeitsbrunnen. Weitere architektonisch herausragende Gebäude sind das ehemalige Kloster St. Ursula an der Golattenmattgasse, das Haus zum Erker an der Rathausgasse, das Christkatholische Pfarrhaus am Adelbändli, die Alte Schaal an der Metzgergasse und die Zunftstube an der Pelzgasse. Von der Kettenbrücke aus führt der Philosophenweg fast einen Kilometer lang flussabwärts der Aare entlang. Vorstädte Die sich in Richtung Süden erstreckende Vorstadt ist zum Teil älter als die Altstadt selbst. Sie ging aus der Siedlung «zen Husen» hervor und wurde im 14. Jahrhundert markant erweitert, blieb aber stets unbefestigt. Auch hier weisen die Häuser zum Teil die typischen bemalten Ründen auf. In der Vorderen Vorstadt sticht besonders das 1693 erbaute Saxer-Haus hervor. In der parallel verlaufenden Hinteren Vorstadt ist neben verschiedenen Bürgerhäusern auch der neugotische Affenkasten zu finden. Den Abschluss dieser Strasse bildet die 1608 errichtete Obere Mühle. Von der Altstadt aus führt in einem weiten Bogen die Laurenzenvorstadt in östlicher Richtung. Diese Strasse steht im Zusammenhang mit der Ernennung Aaraus zur Helvetischen Republik im Jahr 1798. Der Stadtrat beauftragte den elsässischen Architekten Johann Daniel Osterrieth, ein repräsentatives Regierungsviertel zu planen. Nach kurzer Zeit legte er den Plan d’Agrandissement de la commune d’Aarau (Erweiterungsplan der Gemeinde Aarau) vor. Vorgesehen waren mehrere Regierungsgebäude, eine Kirche, ein Theater und eine Kaserne. Da die Regierung nach nur einem halben Jahr wegzog, wurden schliesslich nur die klassizistischen Neuen Häuser an der Nordseite verwirklicht. Während das Haus zum Schlossgarten, Meyerhaus und das Amthaus damals bereits existierten, entstanden weitere klassizistische Bauten erst im Verlaufe der nächsten Jahrzehnte. Dazu gehören das Säulenhaus und das Hauptgebäude der Infanteriekaserne. Übriges Stadtgebiet Nach der Eröffnung des Bahnhofs im Jahr 1858 entwickelte sich die Bahnhofstrasse zur Hauptverkehrsachse und bedeutendsten Einkaufsstrasse der Stadt. Um ihre hohe Bedeutung zu unterstreichen, entstanden mehrere repräsentative, teils sogar monumentale Bauwerke im spätklassizistischen und historisierenden Stil. Erwähnenswert sind insbesondere die Hauptpost, Bankgebäude, das Naturama und die Gebäude der Alten Kantonsschule. Etwas zurückversetzt ist die katholische Pfarrkirche St. Peter und Paul. Eine Besonderheit sind die Meyerschen Stollen, ein kilometerlanges Netz unterirdischer Wasserkanäle, das Johann Rudolf Meyer zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Geheimen als Zuleitung zum Antrieb seiner Seidenbandfabrik errichten liess. An der Kreuzung von Bahnhofstrasse und Vorderer Vorstadt befindet sich der Aargauerplatz. An dessen Südseite steht das Regierungsgebäude, der Sitz der Kantonsregierung. Es entstand zwischen 1811 und 1834 durch den Umbau und die Erweiterung des bereits seit 1739 bestehenden Gasthauses Löwen. Seiner hinteren südlichen Fassade zugewandt ist das 1826/28 errichtete Grossratsgebäude, in welchem der Grosse Rat, das Kantonsparlament, tagt. Ergänzt wird das Regierungsviertel an seiner Westseite durch die modernen Bauten der Aargauer Kantonsbibliothek und des Aargauer Kunsthauses; dahinter erstreckt sich der Rathausgarten, eine kleine Parkanlage mit mehreren Skulpturen. Im Nordosten der Stadt entstand die nach modernen Grundsätzen gestaltete Grosswohnsiedlung Telli. In vier lang gestreckten, hohen Wohnzeilen lebt rund ein Achtel der Bevölkerung Aaraus. Zu dieser «Stadt in der Stadt» gehören auch ein Einkaufszentrum und das Telli-Hochhaus, in dem ein Teil der kantonalen Verwaltung untergebracht ist. Ebenfalls im Telliquartier zu finden ist der Telliring. Dieser von Bäumen umgebene kreisrunde Rasenplatz gilt als erste öffentliche Turnanlage der Schweiz. Das Gebiet südlich der Bahnhofstrasse ist von einer gartenstadtähnlichen Überbauung mit zahlreichen Grünflächen geprägt. Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten in dieser Gegend sind das Herosé-Stift, der Friedhof Rosengarten und das Francke-Gut. Am Südhang des Hungerbergs nördlich der Aare befindet sich die Villa Blumenhalde. Wappen Die Blasonierung des Stadtwappens lautet: «Unter rotem Schildhaupt in Weiss rot bewehrter und gezungter schwarzer Adler.» Das städtische Siegel von 1270 zeigte einen Adler und eine dreiblättrige Linde mit Blüten. Eine Abbildung des Wappens in der Tschachtlanchronik von 1470 kommt ohne die Linde aus, dagegen ist erstmals ein rotes Schildhaupt über dem Adler zu sehen. Der Adler verdankt seine Verwendung als Wappentier der Stadt Aarau einer volksetymologischen Umdeutung des Namens als «Au des Aars». Bevölkerung Die Einwohnerzahlen entwickelten sich wie folgt (bis und mit 2000 ohne Rohr): Die folgenden Angaben beziehen sich jeweils auf die Summe der Gemeinden Aarau und Rohr. Am lebten Menschen in Aarau, der Ausländeranteil betrug % und lag damit unter dem kantonalen Durchschnitt von %. Gemäss der Volkszählung von 2015 stammten von den damals 4142 Einwohnern mit ausländischer Staatsbürgerschaft 19,9 % aus Deutschland, 12,5 % aus Italien, 8,8 % aus Kosovo, 5,9 % aus der Türkei, 5,4 % aus Serbien, je 3,5 % aus Kroatien und Spanien, je 3,2 % aus Portugal, Sri Lanka und Bosnien und Herzegowina, 2,5 % aus Österreich sowie 2,0 % aus Mazedonien. 84,5 % der Befragten gaben bei der Volkszählung 2000 Deutsch als ihre Hauptsprache an. Es folgten 3,3 % Italienisch, 2,9 % Serbokroatisch, 1,4 % Spanisch, 1,1 % Französisch, je 1,0 % Albanisch und Türkisch sowie je 0,5 % Englisch und Portugiesisch. Die Entwicklung der Einwohnerzahl verlief seit 1800 kontinuierlich; innerhalb von 150 Jahren wuchs die Bevölkerung um mehr als das Sechsfache. 1960 wurde mit 17'045 der vorläufige Höchststand erreicht, bis 2000 nahm die Einwohnerzahl jedoch wieder um über 8 % ab. Drei Gründe waren dafür ausschlaggebend: Erstens hatte die Stadt mit der Fertigstellung der Grosswohnsiedlung Telli keine nennenswerten Baulandreserven mehr. Zweitens sank die Anzahl der Personen pro Haushalt, wodurch der vorhandene Wohnraum weniger stark genutzt wurde. Drittens absorbierten die angrenzenden Agglomerationsgemeinden das Bevölkerungswachstum und zahlreiche Aarauer zogen aus der Stadt «ins Grüne». Nach der Jahrtausendwende konnte dieser Negativtrend gestoppt werden. Durch die vermehrte Umnutzung brach liegender Industriegebäude für Wohnzwecke wird die vorhandene Bebauung besser ausgenutzt, ausserdem kamen durch die Eingemeindung von Rohr mehr als 3000 Einwohner hinzu. Die Bevölkerung Aaraus war nach Einführung der Reformation im Jahr 1528 fast ausschliesslich reformiert. Durch die Einwanderung aus der übrigen Schweiz und vor allem aus dem Ausland nahm der Anteil der Menschen römisch-katholischer Konfession ab dem 19. Jahrhundert kontinuierlich zu. Bedingt durch die Einwanderung aus Südosteuropa und der Türkei sind sunnitische Muslime im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zur drittgrössten Glaubensgemeinschaft angewachsen. Bei der Volkszählung 2015 bezeichneten sich 31,6 % als reformiert und 23,0 % als römisch-katholisch; 45,4 % waren konfessionslos oder gehörten anderen Glaubensrichtungen an. Politik und Recht Die Politische Gemeinde (im Kanton Aargau Einwohnergemeinde genannt) nimmt sämtliche kommunalen Aufgaben wahr, die nicht durch übergeordnetes Recht zum Wirkungskreis eines anderen Gemeindetyps (beispielsweise der Kirchgemeinden der Landeskirchen) erklärt worden sind. Legislative Anstelle einer in kleineren Gemeinden üblichen Gemeindeversammlung vertritt seit 1970 das von den Aarauer Stimmberechtigten gewählte Gemeindeparlament, der Einwohnerrat, die Anliegen der Bevölkerung. Er besteht aus 50 Mitgliedern, die für jeweils vier Jahre im Proporzwahlverfahren gewählt werden. Ihm obliegt das Genehmigen des Steuerfusses, des Voranschlages, der Jahresrechnung, des Geschäftsberichts und der Kredite. Ebenso erlässt er Reglemente, kontrolliert die Amtsführung der Exekutive und entscheidet über Einbürgerungen. Die Einwohnerräte können parlamentarische Vorstösse (Motion, Postulat, kleine Anfrage) einreichen. Tagungsort ist der Saal des Grossratsgebäudes. Die rechts stehende Grafik zeigt die Sitzverteilung nach der Wahl vom 28. November 2021. Bei den letzten sechs Wahlen erzielten die Parteien folgende Sitzzahlen: Auch auf der Ebene der Einwohnergemeinde finden sich verschiedene Elemente der direkten Demokratie. So stehen der Bevölkerung fakultative und obligatorische Referenden sowie die Volksinitiative zu. Exekutive Ausführende Behörde ist der siebenköpfige Stadtrat. Er wird vom Volk für jeweils vier Jahre im Majorzverfahren gewählt. Der Stadtrat führt und repräsentiert die Einwohnergemeinde. Dazu vollzieht er die Beschlüsse des Einwohnerrates und die Aufgaben, die ihm vom Kanton zugeteilt wurden. Die Sitzungen finden im Rathaus statt. Als Vorsteher der Exekutive übt der Stadtpräsident seine Tätigkeiten im Vollamt aus, die übrigen Stadträte im Nebenamt. Die sieben Stadträte der Amtsperiode 2022–2025 sind: Hanspeter Hilfiker (FDP), Stadtpräsident Werner Schib (Die Mitte), Vize-Stadtpräsident Angelica Cavegn Leitner (Pro Aarau) Franziska Graf (SP) Suzanne Marclay (FDP) Silvia Dell'Aquila (SP) Hanspeter Thür (GPS) Judikative Für Rechtsstreitigkeiten ist in erster Instanz das Bezirksgericht Aarau zuständig. Aarau ist Sitz des Friedensrichterkreises I, der fünf Gemeinden im Norden des Bezirks umfasst. Nationale Wahlen Bei den Schweizer Parlamentswahlen 2019 betrugen die Wähleranteile in Aarau: SP 26,4 %, FDP 16,7 %, SVP 16,3 %, Grüne 14,7 %, glp 10,9 %, CVP 5,7 %, EVP 3,6 %, BDP 2,5 %, Team 65+ 1,1 %. Ortsbürger Der Ortsbürgergemeinde gehören jene Einwohner an, die das Bürgerrecht von Aarau besitzen. Ihre Hauptaufgabe ist die Verwaltung des Ortsbürgervermögens, dessen Ursprung in den Bürgergütern liegt, die aus der Zeit des Ancien Régime übernommen wurden. Beispielsweise ist die Ortsbürgergemeinde im Besitz von 623 Hektaren Wald in Aarau und angrenzenden Gemeinden, der durch ein eigenes Forstamt bewirtschaftet wird. Zu ihrem Eigentum gehören auch eine Kiesgrube in Staufen, ein Rebberg in Herznach sowie diverse Grundstücke und Liegenschaften. Legislative ist die Ortsbürgerversammlung, Exekutive der Stadtrat der Einwohnergemeinde (dem auch Nicht-Ortsbürger angehören). Partnerschaften Partnerstädte Aaraus sind Neuenburg, das niederländische Delft und das deutsche Reutlingen. Die Partnerschaft mit Delft begann 1969 mit gegenseitigen Austauschbesuchen. Kontakte zu Reutlingen bestanden schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg, wurden 1970 vorerst auf technischer Ebene reaktiviert und 1986 formell besiegelt. Nach ersten Kontakten im Jahr 1984 begann 1997 offiziell die Partnerschaft mit Neuchâtel. Aarau trägt seit September 2017 das Label «Energiestadt GOLD», das vom Forum «Association European Energy Award» verliehen wird. Wirtschaft Struktur Aarau, einst ein bedeutendes industrielles Zentrum, wird seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Dienstleistungssektor dominiert. Die wirtschaftlichen Tätigkeiten konzentrieren sich auf das Stadtzentrum sowie auf die Industrie- und Gewerbezonen Torfeld und Telli. Gemäss der im Jahr 2015 erhobenen Statistik der Unternehmensstruktur (STATENT) werden in mehr als 2400 Betrieben über 33'000 Arbeitsplätze angeboten, davon 0,1 % in der Landwirtschaft, 9,2 % in der Industrie und 90,7 % im Dienstleistungssektor. Dies bedeutet, dass Aarau bedeutend mehr Arbeitsstellen als Einwohner zählt. Mehr als die Hälfte der in Aarau arbeitenden Menschen lebt in den Agglomerationsgemeinden oder in der weiteren Umgebung. Dadurch entstehen an Werktagen grosse Pendlerströme, die regelmässig zu Verkehrsstaus führen. Keine Schweizer Stadt besitzt mehr Arbeitsplätze im Verhältnis zur Einwohnerzahl als Aarau. Aufgrund ihrer Kleinräumigkeit stösst die Stadt zunehmend an Wachstumsgrenzen. Die Agglomeration liegt in der Mitte des so genannten «goldenen Dreiecks» zwischen Zürich, Bern und Basel und bekundet Mühe, sich zwischen diesen Grossstädten als eigenständiges Wirtschaftszentrum zu behaupten. Ansässige Unternehmen Mit Abstand grösster Arbeitgeber ist die kantonale Verwaltung. Sie zählt mehrere Tausend Beschäftigte, deren Arbeitsplätze überwiegend auf die Verwaltungszentren Behmen, Buchenhof und Telli-Hochhaus konzentriert sind. Das zweite Standbein der städtischen Wirtschaft ist das Gesundheitswesen. Es gibt zwei Krankenhäuser, das staatliche Kantonsspital Aarau und die Hirslanden Klinik Aarau. Bedeutendster in Aarau verbliebener Industriebetrieb ist die Schweizer Niederlassung von Rockwell Automation, die auf Automatisierungstechnik spezialisiert ist. In den Bereichen Identifikationstechnik und Sicherheitstechnik tätig ist die aus einer Druckerei hervorgegangene Trüb AG, die vor allem für die Herstellung von Personalausweisen bekannt ist. Aarau besitzt eine über 600-jährige Tradition im Bereich des Kirchenglockengiessens, die heute von der Firma H. Rüetschi fortgeführt wird. In Aarau befindet sich der Hauptsitz des Verlags- und Medienunternehmens AZ Medien. Zu diesem gehören die Aargauer Zeitung, Radio Argovia, Tele M1 und der AT Verlag. Ein weiterer bedeutender Verlag ist der Verlag Sauerländer. Mit Sendestudios vertreten sind auch das Schweizer Fernsehen und das Schweizer Radio DRS sowie der nichtkommerzielle Radiosender Kanal K. Ihren Hauptsitz in Aarau haben auch die beiden grössten Banken des Kantons (Neue Aargauer Bank und Aargauische Kantonalbank), die Vorsorgeeinrichtungen GastroSocial und Aargauische Pensionskasse sowie weitere Unternehmen wie AEW Energie, Jura-Holding, Pneu Egger und DB SCHENKERhangartner. Märkte und Messen Jeden Samstagmorgen findet im Graben am Rande der Altstadt ein Gemüsemarkt mit regionalen Produkten statt. Ebenfalls dort wird in der letzten Septemberwoche der MAG (Markt Aarauer Gewerbetreibender) veranstaltet, an dem regionale und überregionale Firmen ihre Produkte feilbieten. Am gleichen Ort jeweils am ersten Mittwoch im November bietet der «Rüeblimärt» alle Spielarten und Produkte von und aus Karotten an. Im Schachen findet jeweils im Frühjahr die AMA (Aargauer Messe Aarau) statt, die grösste Aargauer Publikums- und Erlebnismesse. Verkehr und Infrastruktur Strassen Aarau ist ein bedeutender Verkehrsknotenpunkt. Südlich der Stadt verläuft die A1, die wichtigste Autobahn der Schweiz. Die Anschlussstelle Aarau-West befindet sich rund fünf Kilometer südlich bei Oberentfelden. Der sechs Kilometer östlich gelegene Anschluss Aarau-Ost bei Hunzenschwil ist über eine vierspurige Schnellstrasse (T5) erreichbar. Die Stadt ist Schnittpunkt mehrerer wichtiger Hauptstrassen. Die wichtigste ist die Hauptstrasse 5 von Lausanne über Neuenburg, Solothurn und Aarau nach Koblenz. Sie kreuzt sich mit der Hauptstrasse 23 von Aarau über Beromünster und Sumiswald nach Kirchberg sowie mit der Hauptstrasse 24 von Frick über die Staffelegg und Aarau nach Sursee. Letztere führte bis Dezember 2010 über die Kettenbrücke; seit der Eröffnung der Umfahrung von Küttigen und einer neuen Aarebrücke bei Rohr wird der Nord-Süd-Verkehr grossräumig umgeleitet. Bereits im März 2003 wurde die Ostumfahrung der Altstadt mit dem Sauerländertunnel eröffnet; die Altstadt selbst ist seit März 2006 weitgehend vom Durchgangsverkehr befreit. Neben der Staffelegg können von Aarau aus zwei weitere Jurapässe erreicht werden, das Benkerjoch und die Salhöhe. Öffentlicher Verkehr Knotenpunkt des öffentlichen Verkehrs ist der 1858 eröffnete Bahnhof Aarau der Schweizerischen Bundesbahnen. Er gehört zu den meistfrequentierten des Landes, wurde 2010 komplett neu erbaut und liegt an der wichtigen Ost-West-Hauptlinie zwischen Zürich und Bern. Diese Eisenbahnlinie unterquert in zwei parallel verlaufenden, knapp 700 Meter langen Tunnels den Schanzhügel mit dem Regierungsviertel. Es verkehren direkte Schnellzüge u. a. nach Zürich, Bern, Basel und Genf. Eine weitere SBB-Linie, die Aargauische Südbahn führt über Lenzburg nach Rotkreuz. Aarau ist der Ausgangspunkt zweier schmalspuriger Strecken der Wynental- und Suhrentalbahn (WSB). Diese strassenbahnähnlichen Vorortsbahnen verkehren nach Menziken im Wynental und Schöftland im Suhrental. Die SBB-Bahnstrecke Aarau–Suhr wurde 2004 stillgelegt und umgespurt, seit 2010 wird sie von WSB-Zügen in Richtung Menziken befahren. Die Verkehrsgesellschaft Aargau Verkehr, Eigentümerin der WSB, betreibt mit ihrer Tochtergesellschaft Busbetrieb Aarau mehrere Stadtbuslinien, welche auch die Vororte erschliessen. Zusätzlich führen zwei Postautolinien über die Jurahöhen nach Frick, eine über das Benkerjoch, die andere über die Staffelegg. An Wochenenden verkehren eine Nacht-S-Bahn (Winterthur–Zürich HB–Baden–Lenzburg–Aarau) sowie Nachtbusse vom Bahnhof aus in verschiedene Gemeinden in der Umgebung. In Aarau kreuzen sich drei Radwanderwege: die Nord-Süd-Route, die Aare-Route und die Mittelland-Route. Versorgung Die Eniwa AG (bis 2018: Industriellen Betriebe Aarau) versorgt die Stadt mit Elektrizität, Erdgas und Trinkwasser. Das Unternehmen mit über 300 Mitarbeitern ist eine Aktiengesellschaft mit Holdingstruktur, an der die Stadt Aarau und 21 weitere Gemeinden beteiligt sind. Sie entstand 1947 durch die Zusammenlegung der gemeindeeigenen Elektrizitäts- und Wasserwerke sowie des bisher privaten Gaswerks. Jahrhundertelang versorgte der Stadtbach Aarau mit Trinkwasser. Er diente aber auch zum Antreiben von Wasserrädern und zur Versorgung von Gewerbebetrieben, was eine schlechte Wasserqualität zur Folge hatte. 1854 starben 81 Menschen an der Cholera, bei damals rund 4'000 Einwohnern. Erst als der Regierungsrat 1855 mit dem Wegzug der Kantonsbehörden nach Brugg drohte, nahm die Stadt die Planung einer modernen Wasserversorgung in Angriff. 1857 begann der Bau eines Stollens, der die Stadtbachquelle direkt anzapfen sollte. Die Arbeiter stiessen dabei aber auf eine weitaus ergiebigere Quelle, den Grundwasserstrom der Suhre. Somit verfügte Aarau ab 1860 über die erste Grundwasserfassung der Schweiz. Ab 1900 stand nach dem Bau eines Reservoirs eine Hochdruckwasserversorgung zur Verfügung, mit der auch die höher gelegenen Quartiere erschlossen werden konnten. 1943, 1955 und 1962 wurde die Wasserversorgung mit dem Bau dreier weiterer Grundwasser-Pumpwerke nahe der Aare ausgebaut. Zwar war Ende der 1850er Jahre die Müllabfuhr eingeführt worden, doch die zahlreichen Ehgräben und Sickergruben in der Altstadt blieben vorerst bestehen, so dass immer noch die Gefahr von Epidemien bestand. 1910 war das Kanalisationsnetz in seinen Grundzügen fertiggestellt, doch die Abwässer wurden ungeklärt in die Aare geleitet. 1966 nahm die Abwasserreinigungsanlage nahe der Suhremündung in der Telli ihren Betrieb auf; heute reinigt sie die Abwässer von zwölf Gemeinden. 1858 begann die Gasbeleuchtungsgesellschaft mit der Produktion von Stadtgas, hauptsächlich zu Beleuchtungszwecken, im geringen Umfang auch für den Antrieb von Maschinen. 1870 erfolgte die Umstellung von Holz- auf Steinkohlevergasung. Ab 1893 verlagerte das Gaswerk seine Tätigkeit zunehmend von der Beleuchtung zur Wärmeproduktion. Grund dafür war die Konkurrenz durch die im selben Jahr in der Oberen Mühle eröffnete «Kraftstation». Im darauf folgenden Jahr wurde das städtische Kraftwerk Aarau, eines der ältesten Laufwasserkraftwerke der Schweiz, in Betrieb genommen (heutiger Betreiber: Eniwa AG). Bereits 1883 war das Kraftwerk Rüchlig erbaut worden, das aber jahrzehntelang ausschliesslich für die Jura-Cement-Fabriken Strom produzierte. 1965 wurde Aarau an das Erdgasnetz des Gasverbundes Mittelland angeschlossen, zwei Jahre später stellte das unwirtschaftlich gewordene Gaswerk seinen Betrieb ein. Bildung Aarau ist der bedeutendste Bildungsstandort des Kantons, so dass es den meisten Kindern und Jugendlichen möglich ist, ihre gesamte Schulzeit hier zu absolvieren. Die vom Volk gewählte siebenköpfige Schulpflege trägt die Verantwortung für die ordentliche Erfüllung sämtlicher Aufgaben der Volksschule und ist primär auf strategischer Ebene tätig. Für operative Aufgaben setzt sie Schulleitungen ein, welche die pädagogische, personelle und administrative Leitung im Rahmen der ihr übertragenen Kompetenzen übernehmen. In Aarau gibt es sieben Kindergärten mit 14 Abteilungen und fünf Schulzentren (Aare, Gönhard, Schachen, Telli, Zelgli). Es werden sämtliche Stufen der obligatorischen Volksschule unterrichtet, bestehend aus der Primarschule bis zum 5. Schuljahr sowie – je nach Leistungsvermögen – der Realschule, der Sekundarschule und der Bezirksschule bis zum 9. Schuljahr. Ausserdem werden eine Heilpädagogische Sonderschule und eine Musikschule geführt. Der Stadtteil Rohr verfügt über vier Kindergärten und zwei Schulhäuser (Brunnbach, Stäpfli) mit Primar-, Real- und Sekundarschule. Aarau ist Standort zweier Kantonsschulen (Gymnasien), deren Abschluss (Matura) zum Universitätsstudium berechtigt. Die 1802 eröffnete Alte Kantonsschule ist das älteste nichtkirchliche Gymnasium der Schweiz. Die Neue Kantonsschule besteht seit 1979 und ist aus dem Lehrerinnenseminar hervorgegangen. Weitere Schulen von Bedeutung sind die kantonale Berufsschule, die Grafische Fachschule, die Volkshochschule und die Maturitätsschule für Erwachsene. Weitere Fachhochschulen sind die TDS Aarau – Höhere Fachschule Theologie, Diakonie, Soziales und die Fachschule für Gesundheitsberufe H+. Hinzu kommen verschiedene Privatschulen und Angebote für Erwachsenenbildung. Das 2009 eröffnete Zentrum für Demokratie Aarau ist ein interdisziplinäres Institut der Universität Zürich zur Demokratieforschung. Schon bald nach der Stadtgründung existierte in Aarau eine Lateinschule. 1270 wurde erstmals ein Schulmeister (scolasticus) urkundlich erwähnt. Nach Einführung der Reformation 1528 lag der Schwerpunkt des Lehrplans bei der Vorbereitung auf ein theologisches Studium in Bern. Im selben Jahr ist erstmals die Existenz einer «deutschen Schule» nachweisbar, die als Vorgängerin der heutigen Volksschule gilt. Ab 1622 wurden Knaben und Mädchen gewöhnlich getrennt unterrichtet. Als Schullokale dienten verschiedene Gebäude, darunter das ehemalige Kloster St. Ursula. Ab 1787 erhielten die Knaben im späteren Amthaus Unterricht, die Mädchen ab 1815 in der «Töchterschule» am Graben. Mit zunehmendem Wachstum der Stadt erwiesen sich diese Gebäude bald als zu klein. 1875 wurde das Pestalozzischulhaus eröffnet, 1911 das Zelglischulhaus. 1935 folgte der erste Kindergarten, 1952 das Gönhardschulhaus. In den 1970er Jahren entstanden schliesslich die Schulhäuser Aare, Schachen und Telli. Kultur Das 1959 eröffnete Aargauer Kunsthaus besitzt eine der grössten und bedeutendsten Sammlungen Schweizer Malerei. Schwerpunkte bilden die Werke der Maler Caspar Wolf, Johann Heinrich Füssli, Ferdinand Hodler, Cuno Amiet und Giovanni Giacometti. Der moderne Anbau (2001–03) wurde vom renommierten Architekturbüro Herzog & de Meuron und dem Künstler Rémy Zaugg gestaltet. Ein weiteres Museum von nationaler Ausstrahlung ist das Naturama, das 1922 eröffnete Aargauische Naturmuseum. Es befasst sich mit der Tier- und Pflanzenwelt des Aargaus, mit Fossilien und Mineralien und mit Fragen der Ökologie. Den Grundstock bilden Sammlungen bekannter Persönlichkeiten wie Heinrich Zschokke und Friedrich Frey-Herosé, die dem Kanton vermacht wurden. Das Stadtmuseum im Schlössli befasst sich mit der Geschichte der Stadt Aarau und bietet zusätzlich eine Ausstellung über zeitaktuelle Themen, aber auch Vermessungsinstrumente und Fotografie. Aarau besitzt zwei Bibliotheken, die Stadtbibliothek (seit 1776) und die Aargauer Kantonsbibliothek (seit 1803). Weitere kulturelle Institutionen sind die Bühne Aarau in der Tuchlaube und ab Herbst 2021 in der Alten Reithalle, der Kunstraum Aarau, das Forum Schlossplatz, der KUK von 1883 (Kultur- und Kongresshaus sowie Heimat des Aarauer Orchestervereins ab 1889), die Stadtkirche (klassische Konzerte), das Jugendkulturhaus Flösserplatz, das alternative Kulturzentrum KiFF (Kultur in der Futterfabrik), das Jugendkulturhaus Flösserplatz und der Jugendarbeit im Wenk. In Aarau gibt es zwei kommerzielle Kinos, das Kino Ideal mit vier Sälen und das Kino Schloss mit zwei Sälen. Das Kino Freier Film ist ein auf alternative Filme spezialisiertes Programmkino und ist in der ehemaligen Druckerei Sauerländer untergebracht. Folgende Festivals finden regelmässig in Aarau statt: das CIRQU Aarau – ein Festival zum zeitgenössischen Zirkusschaffen, das fanfaluca als Jugendtheaterfestival, das jazzaar sowie das Musig in der Altstadt. Als wichtigster Aarauer Festtag gilt das als Maienzug bezeichnete Kinder- und Jugendfest. Dieser Brauch hat eine über 400-jährige Tradition und findet jeweils am ersten Freitag im Juli statt. Höhepunkt ist der Umzug der Schulkinder. Der Maienzug-Vorabend am Tag davor hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem grossen Volksfest entwickelt. Fester Bestandteil des Maienzugs ist mittlerweile auch das Musikfestival Chrutwäje Openair. Ein weiterer traditioneller Brauch ist der Bachfischet im September: Mit einem Räbenlicht-Umzug begleiten die Kinder den Stadtbach, der nach der alljährlichen Reinigung wieder geflutet wird. Weitere Veranstaltungen sind der Aargauer Rüeblimärt (seit 1982) sowie seit 2005 die Musig i de Altstadt, wobei vorwiegend Rock- und Bluesbands in verschiedenen Restaurants spielen. Sport und Freizeit Das Schachenquartier am westlichen Stadtrand ist das sportliche Zentrum Aaraus. Es ist Standort der Pferderennbahn Schachen, auf der mehrmals jährlich vielbeachtete Rennen ausgetragen werden. Ebenfalls im Schachen befinden sich das Schwimmbad, eine Leichtathletikanlage mit Finnen- und Tartanbahn, eine Reithalle sowie die Schachenhalle für die Austragung verschiedener Hallensportarten. Ein zweiter Schwerpunkt ist die Sportanlage der Alten Kantonsschule im Telliquartier, die neben Turnhallen eine weitere Leichtathletikanlage sowie ein Hallenbad umfasst. In einer ehemaligen Fabrikhalle im Telliquartier ist das Rolling Rock domiziliert, eine Freizeitanlage mit Kletterwand, Skatepark und Hockeyfeld. Das 1924 eröffnete Stadion Brügglifeld liegt knapp jenseits der südöstlichen Stadtgrenze auf Suhrer Gemeindegebiet. Es war Austragungsort einiger Spiele der U-16-Europameisterschaft 1991 und der U-19-Europameisterschaft 2004. Geplant ist der Ersatz des Stadions durch einen Neubau auf dem brachliegenden Industriegelände Torfeld Süd. Das erste Projekt scheiterte im September 2005 an der Urne; Hauptgrund der Ablehnung war die vorgesehene Mantelnutzung mit einem neuen Einkaufszentrum. Ein zweites Projekt mit einer deutlich verkleinerten Einkaufsfläche wurde im Februar 2008 hingegen angenommen. Das neue Stadion hätte 2015 eröffnet werden sollen, doch Einsprachen und Finanzierungsprobleme führten dazu, dass der Baubeginn bis heute nicht erfolgt ist (Stand: 2019). Neben dem Stadion Brügglifeld, ebenfalls auf Suhrer Boden, befindet sich eine überdachte Kunsteisbahn. Dieser Eishalle, in der mehrere Spiele der B-Gruppe der Eishockey-Weltmeisterschaft 1976 ausgetragen wurden, ist eine Curlinghalle angegliedert. Im Schachen fand 1964 und 2007 das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest statt. Insbesondere letztere Ausgabe setzte neue Massstäbe, da eigens für diesen Zweck eine temporäre Arena errichtet wurde, die Platz für 47'000 Zuschauer bot. Der Telliring war 1832 Austragungsort des ersten Eidgenössischen Turnfestes. Weitere Turnfeste folgten in den Jahren 1843, 1857, 1882, 1932, 1972 und 2019. Der Schweizerische Turnverband hat in der Stadt seinen Hauptsitz. Der Sportverein mit der weitaus grössten Bekanntheit ist der FC Aarau. Er wurde 1902 gegründet und spielt in der zweithöchsten Liga der Schweiz (Challenge League). Bisher wurde der FC Aarau dreimal Schweizer Meister (1912, 1914, 1993) und einmal Cupsieger (1985). Ein weiterer bekannter Verein ist der HSC Suhr Aarau in der Nationalliga A der Swiss Handball League. Der Vorgänger dieses Handballvereins, der TV Suhr, gewann 1999 und 2000 die Schweizer Meisterschaft. Der EHC Aarau spielt in der 1. Liga, der höchsten Eishockey-Amateurklasse des Landes. Die ausgedehnten Wälder um Aarau sind beliebte Naherholungsgebiete. Drei Kilometer südwestlich des Stadtzentrums befindet sich der ganzjährig geöffnete Wildpark Roggenhausen. Die gemeinnützige Stiftung «Aarau eusi gsund Stadt» (Aarau unsere gesunde Stadt) betrieb auf lokaler und regionaler Ebene Gesundheitsförderung und Prävention, wobei sie vor allem sportliche Aktivitäten förderte. 2016 übernahm die Stadt ihre Aufgaben. 1990 richtete die Astronomische Vereinigung Aarau einen Planetenweg ein. Er ist sechs Kilometer lang, führt von der Echolinde aus durch den Wald nach Kölliken und stellt das Sonnensystem im «planetaren Massstab» von 1:1 Milliarde dar. Persönlichkeiten Aarau ist der Geburts- und Wohnort zahlreicher bekannter Persönlichkeiten. Als weltweit bekannteste Personen, die in Aarau geboren wurden, gelten der Ernährungswissenschaftler Max Bircher-Benner, der Erfinder des Birchermüesli, sowie Hans Herzog, General der Schweizer Armee. Die bekanntesten Einwohner sind Nobelpreisträger Albert Einstein (der hier die Kantonsschule besuchte), Bundesrat Friedrich Frey-Herosé und Schriftsteller Heinrich Zschokke. Literatur Heinrich Boos: Urkundenbuch der Stadt Aarau. Mit einer historischen Einleitung, Register und Glossar, sowie einer historischen Karte. Sauerländer, Aarau 1880. Weblinks Offizielle Website der Stadt Aarau Aarau Info Einzelnachweise Ort im Kanton Aargau Ort an der Aare Schweizer Gemeinde Hauptort eines Kantons (Schweiz) Ortsbild von nationaler Bedeutung im Kanton Aargau Ehemalige Hauptstadt (Schweiz) Gegründet in den 1240er Jahren Stadtrechtsverleihung 1283
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https://de.wikipedia.org/wiki/Frankfurt-H%C3%B6chst
Frankfurt-Höchst
Höchst (bis 1928 Höchst am Main) ist ein Stadtteil von Frankfurt am Main mit Einwohnern. Er liegt etwa 8,2 km westlich der Hauptwache an der Mündung der Nidda in den Main. Höchst war im Gegensatz zu den meisten anderen Stadtteilen eine alte Stadt mit Stadtrecht seit 1355 und ist bis heute das wichtigste städtische Subzentrum im Frankfurter Westen. 1928 wurde Höchst nach Frankfurt eingemeindet. Bis 1987 war Höchst Verwaltungssitz eines eigenen Landkreises, der seit 1928 den Namen Main-Taunus-Kreis trägt. Höchst ist Zentrum des Ortsbezirks Frankfurt-West mit 120.000 Einwohnern. Der Name Höchst wurde durch die Hoechst AG (1863–1999) weltweit bekannt. Mit einer Unterbrechung von 27 Jahren zwischen 1925 und 1952 war Höchst Sitz des Chemie- und Pharmakonzerns. Dessen ehemaliges Stammwerk ist heute als Industriepark Höchst einer der größten Industriestandorte Deutschlands. Bedeutendstes Baudenkmal Höchsts ist die karolingische Justinuskirche, die in wesentlichen Teilen aus dem 9. Jahrhundert stammt. Die gut erhaltene Höchster Altstadt steht seit 1972 unter Denkmalschutz. Die meisten Fachwerkhäuser auf mittelalterlichem Stadtgrundriss stammen aus der Zeit nach dem großen Stadtbrand von 1586. Geographie Lage Höchst liegt im Westen des Frankfurter Stadtgebiets auf einer Anhöhe des rechten Mainufers auf . Der Fluss beschreibt in Höhe der Niddamündung einen Bogen nach Norden, an dessen äußerer Seite die Höchster Altstadt liegt. Das Steilufer fällt zum Main rund zehn Meter ab. Höchst grenzt an die Stadtteile Sindlingen, Zeilsheim, Unterliederbach, Sossenheim und Nied, alle auf dem nördlichen Mainufer gelegen. Nachbarn südlich des Mains sind Frankfurt-Schwanheim und die Stadt Kelsterbach. Nach Norden steigt das Gelände sanft Richtung Unterliederbach an, jenseits des Stadtgebietes geht es in die Ausläufer des Vordertaunus über. Richtung Nied fällt die Topografie nach Osten deutlich auf das zehn Meter tiefere Niveau des Mains ab. In Richtung Westen nach Zeilsheim und Sindlingen bleibt das Geländeniveau im Mittel unverändert. Stadtteilgliederung Der Stadtteil Höchst umfasst das ehemalige Höchster Stadtgebiet vor den Eingemeindungen von Unterliederbach, Sindlingen und Zeilsheim im Jahr 1917. Die Höchster Gemarkung gliedert sich in die Altstadt, die Neustadt, die Innenstadt und das Westend, das Oberfeld sowie das Unterfeld. Die Höchster Altstadt liegt zwischen der Königsteiner Straße im Osten, der Leverkuser Straße im Westen, der Melchiorstraße im Norden und dem Main im Süden. Sie bildet den Kern der historischen Stadt Höchst mit dem Höchster Schloß, der Justinuskirche und den historischen Bauwerken entlang der alten Höchster Hauptstraße, die seit 1928 Bolongarostraße heißt. Die Altstadt ist in ihrer Struktur seit der frühen Neuzeit fast unverändert geblieben, wie der Vergleich von alten und neuen Stadtplänen zeigt. 1768 wurde östlich der Altstadt die Höchster Neustadt als Stadterweiterung gegründet. Sie erstreckt sich östlich der Königsteiner Straße in Richtung Nied. Prägende Bauten sind der Bolongaropalast und das ehemalige Kreishaus des Main-Taunus-Kreises an der Bolongarostraße. Das Gelände wurde erst mit dem Anwachsen Höchsts seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in größerem Umfang baulich entwickelt. Die Höchster Innenstadt und das Westend wurden seit der Gründerzeit erschlossen. Das Gebiet liegt westlich und nördlich der Altstadt zwischen Unterliederbach und dem Höchster Unterfeld. Es wird nördlich durch die Bahntrasse mit dem Höchster Bahnhof begrenzt. Die Bebauung des Westends ist durch Wohnhäuser der Gründerzeit und des Jugendstils geprägt. Das Unterfeld erstreckt sich im Westen des Stadtteils in Richtung Sindlingen. Auf dem ursprünglich landwirtschaftlich genutzten Areal entstand seit den 1860er Jahren das Werksgelände der Hoechst AG, heute der Industriepark Höchst, der rund die Hälfte der Höchster Gemarkung einnimmt. Im Oberfeld entstand 1908 der Höchster Stadtpark. Die bauliche Erschließung des zwischen der Königsteiner Straße im Osten und der Trasse der Taunus-Eisenbahn im Süden liegenden Areals erfolgte seit den 1920er Jahren. Hier entstand das Höchster Krankenhaus, die französischen Besatzungstruppen errichteten Kasernen und Wohnhäuser. Die Kaserne wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den amerikanischen Besatzungstruppen übernommen und nach deren Abzug 1992 in Wohnraum umgewandelt. Geschichte Höchst entstand an der Kreuzung frühgeschichtlicher Verkehrswege. Unmittelbar unterhalb der Mündung der Nidda in den Main, zweier damals schiffbarer Flüsse, schiebt sich eine Hangkante fast bis ans Flussufer heran. Das Plateau ist hochwassersicher und war gut zu verteidigen. Am Fuße des Hangs führte eine Furt durch den Main, oben verlief eine vorrömische Altstraße, die Antsanvia oder Hohe Straße, eine Vorläuferin der späteren Elisabethenstraße, zum Taunus führte der Linien- oder Lindenweg, von dem die Weinstraße in die Wetterau abzweigte. Eine Besiedelung des Hochplateaus über dem Main lässt sich seit der Jungsteinzeit nachweisen. Zur Römerzeit entstand um die Zeitenwende ein römisches Kastell. Gegen 260 gaben die Römer die rechtsrheinischen Gebiete in dieser Region auf, die Siedlung fiel wüst. Es gibt keine Hinweise auf eine kontinuierliche Besiedlung nach dem römischen Abzug. Hinweise auf eine Besiedlung der Hochfläche über der Niddamündung gibt es erst wieder aus dem 8. Jahrhundert. 790 wurde zum ersten Mal das fränkische Dorf Hostat (hohe Stätte) im Lorscher Codex urkundlich erwähnt. Um 830, wenige Jahrzehnte nach der Ersterwähnung, wurde die weitgehend erhaltene Justinuskirche errichtet, eine der ältesten Kirchen in Deutschland. Das Dorf entwickelte sich in der Folge westlich der Justinuskirche beiderseits der alten Hauptstraße. Über 1000 Jahre gehörte Höchst zu Kurmainz, dem Territorium des Erzbischofs von Mainz. Das Mainzer Rad im Wappen des Stadtteils erinnert daran. Zur Erhebung von Zöllen am Main errichtete die Mainzer Herrschaft in Höchst eine Zollburg. Um die Burg herum begann sich das Dorf langsam zu entwickeln. 1355 verlieh Kaiser Karl IV. dem Dorf Hoisten (Höchst) die Stadtrechte. In einer weiteren Urkunde bekräftigte Karl IV. 1356 die Stadterhebung und verlieh der jungen Stadt das Marktrecht. Grund für die Stadterhebung waren der Machtkampf zwischen Mainz und Frankfurt und die Erhebung des Höchster Mainzolls. Die in Höchst erhobenen Zölle waren für den finanzschwachen mainzischen Staat eine wichtige Einnahmequelle. Da die Handelsstadt Frankfurt durch den Mainzoll ihre wichtigste Lebensader bedroht sah, zerstörten die Frankfurter 1396 Stadt und Burg Höchst, die aber bald danach wiederaufgebaut wurden. Im 15. Jahrhundert wurde die Stadt zweimal erweitert. Beim Großen Stadtbrand 1586 wurde die Hälfte der Stadt zerstört. Im Dreißigjährigen Krieg wurde auch Höchst in Mitleidenschaft gezogen. In der Schlacht bei Höchst am 20. Juni 1622 schlugen die Kaiserlichen Truppen unter der Leitung von Johann T’Serclaes von Tilly die Braunschweiger. 1631 besetzten die Schweden unter Gustav II. Adolf die Stadt; 1635 folgte die Besetzung durch Bernhard von Weimar, wobei das gotische Schloss zerstört wurde. Im 18. Jahrhundert blühte in Höchst am Main der Handel. 1746 erfolgte die Gründung der Höchster Porzellanmanufaktur, die bis 1796 in Betrieb war. Die italienische Handelsfamilie Bolongaro richtete 1771 ein Handelskontor ein und ließ den Bolongaropalast erbauen. 1768 wurde auf Dekret von Kurfürst Emmerich Josef östlich der Altstadt die Höchster Neustadt gegründet. 1803 wurde Höchst im Rahmen des Reichsdeputationshauptschlusses Teil des Herzogtums Nassau. 1839 erhielt Höchst Anschluss an eine der ersten deutschen Eisenbahnen, die Taunusbahn. 1863 wurde das Unternehmen Theerfarbenfabrik Meister, Lucius & Co. in Höchst gegründet, es wuchs unter dem Namen Farbwerke Höchst und später als Hoechst AG zu einem der größten Chemie-Konzerne Deutschlands heran. Infolge des Deutschen Krieges kam Höchst 1866 mit dem bisherigen Herzogtum Nassau zu Preußen. 1885 wurde die Stadt Kreisstadt des neu gegründeten Landkreises Höchst der preußischen Provinz Hessen-Nassau. Am 1. April 1917 wurden die Gemeinden Unterliederbach, Sindlingen und Zeilsheim in die Stadt eingemeindet. Nach dem Ersten Weltkrieg war Höchst 1918 bis 1930 von französischen Truppen besetzt. Am 1. April 1928 kam die Stadt Höchst am Main als Stadtteil zu Frankfurt am Main, die neuen Höchster Stadtteile waren fortan Frankfurter Stadtteile. Hauptgrund der Eingemeindung war die Vereinigung der Hoechst AG mit anderen großen Chemieunternehmen zur I.G. Farben, die ihren Sitz in Frankfurt am Main haben sollte. Aus den Restgemeinden des Landkreises Höchst und weiteren umliegenden Gemeinden wurde der Main-Taunus-Kreis gegründet, dessen Kreisverwaltung sich bis 1987 in Höchst befand. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Höchster Altstadt bei den Luftangriffen auf Frankfurt am Main nur leicht beschädigt. Bei Luftangriffen im Jahr 1940 wurden vier Häuser zerstört, 13 Menschen starben dabei. 1945 wurden Höchst und Frankfurt von amerikanischen Truppen besetzt. American Forces Network (AFN) richtete sich im Höchster Schloß ein und blieb dort bis 1963. Einige Vereinbarungen aus dem 1928 geschlossenen Eingemeindungsvertrag wurden nach Protesten der Höchster Bevölkerung erst zu Beginn der 1950er Jahre erfüllt. 1957 fand zum ersten Mal das Höchster Schloßfest statt, ein kultureller Höhepunkt der Region. Nachdem Teile der Höchster Altstadt bereits 1959 geschützt worden waren, wurde 1972 die gesamte Altstadt unter Denkmalschutz gestellt. Seinen Status als Kreisstadt des Main-Taunus-Kreises verlor Höchst im Jahr 1980 durch einen Beschluss des Hessischen Landtags; die Kreisverwaltung verlegte 1987 ihren Sitz in die neue Kreisstadt Hofheim am Taunus. Neben einem kontinuierlichen Bevölkerungsrückgang setzte auch eine wirtschaftliche Abwärtsentwicklung in Höchst ein. Der Stadtteil hat den Ruf eines Industriebezirks mit schlechter Wohnqualität und einer problematischen Bevölkerungsstruktur. Um dem entgegenzuwirken, wurden seitens der Stadt Frankfurt seit Beginn der 1990er Jahre erst einzelne Förderungsmaßnahmen ergriffen und mit dem Jahr 2006 ein Rahmenplan zur Förderung und Stadtentwicklung Höchsts beschlossen. Bevölkerung Zahlenmäßige Entwicklung Seit Ende des 17. Jahrhunderts sind regelmäßige Bevölkerungszahlen aus Höchst bekannt. Der Dreißigjährige Krieg hatte die Stadt zwar arg in Mitleidenschaft gezogen, aber bei der Bevölkerung nur geringe Verluste verursacht. So hatte Höchst im Jahr 1609 408 Einwohner und im Jahr 1668 waren es 450. Nachdem der Dreißigjährige Krieg einen wirtschaftlichen Niedergang auch für Höchst mit sich gebracht hatte, stieg durch die wirtschaftliche Blüte von Handel und Handwerk im 18. Jahrhundert die Einwohnerzahl langsam von 537 im Jahr 1700 auf 816 99 Jahre später an. Erst nach dem Ende der Napoleonischen Kriege setzte eine stärkere wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung ein, so dass in der Nassauischen Zeit zwischen 1818 und 1866 die Bevölkerung von 1.617 auf 3.200 Einwohner anwuchs. Durch die Gründung und den wirtschaftlichen Aufstieg der späteren Farbwerke Höchst stieg die Einwohnerzahl sprunghaft von 6.517 im Jahr 1885 auf über 14.000 im Jahr 1905. 1914 zählte die Kernstadt Höchst gut 17.000 Einwohner. Durch Eingemeindung Unterliederbachs, Sindlingens und Zeilsheims nach Höchst stieg die Zahl der Einwohner der neuen Stadt Groß-Höchst schlagartig auf 32.000. 1950 verzeichnete Höchst, bedingt durch den Zuzug von Kriegsflüchtlingen, 20.000 Einwohner. Die Zahl sank in den kommenden Jahren langsam bis auf gut 11.800 im Jahr 1981. Das Frankfurter Statistische Jahrbuch meldet für das Jahr 2000 12.000 Einwohner, bis zum 31. Dezember 2004 stieg die Zahl leicht auf gut 13.100. Zum Jahresende 2006 lebten in Höchst 13.500 Menschen, zwei Jahre später waren es 13.800 Einwohner. Bevölkerungsstruktur Zum Jahresende 2005 weist das Frankfurter Statistische Jahrbuch für Höchst 13.093 Einwohner aus, davon hatten 12.881 ihren Hauptwohnsitz dort. In Höchst lebten 6.494 Frauen und 6.599 Männer. Gut 3.900 Einwohner Höchsts waren unter 25 Jahre alt, in der Altersgruppe von 25 bis 55 Jahren gab es circa 6.400 Einwohner, und etwas mehr als 2.300 Höchster waren über 55 Jahre alt. Mit 7.985 Einwohnern stellten deutsche Staatsangehörige die größte Bevölkerungsgruppe, 5.103 Einwohner waren Ausländer. Damit betrug der Anteil ausländischer Bürger an der Höchster Bevölkerung 39 Prozent. Davon stellten die Türken mit 1.015 Einwohnern die größte Gruppe, gefolgt von 519 Italienern und 480 Serben. Die weiteren Nationalitäten, unter anderem Bosnier, Griechen, Spanier und Polen, waren mit ungefähr 200 bis 300 Einwohnern je Bevölkerungsgruppe vertreten. Religion Es liegen keine genauen Zahlen über die Zugehörigen der einzelnen Religionsgruppen in den Stadtteilen vor, da die Stadt Frankfurt in den öffentlich zugänglichen Statistischen Jahrbüchern nur eine Frankfurter Gesamtstatistik auflistet. Ungefähre Zahlen für Höchst lassen sich aus der Höchster Geschichte, der vorhandenen Literatur und aus der Bevölkerungsstruktur schließen sowie den Frankfurter Kirchlichen Jahrbüchern entnehmen. Die beiden größten Religionsgruppen in Höchst sind Christen und Muslime verschiedener Konfessionen. Hinzu kommt das thai-buddhistische Kloster Wat Bodhi-Dhamm an Rand der Höchster Altstadt, das 2003 eröffnet wurde. Sonstige Religionen sind nicht oder mit keiner nennenswerten Gruppierung vertreten. Christentum Höchst ist als ehemals mainzisches Territorium traditionell und mehrheitlich katholisch. Die Reformation wirkte sich in Höchst nicht aus. Die Pfarrkirche war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Justinuskirche. 1908 wurde St. Josef geweiht, die seitdem die Höchster Pfarrkirche ist. Die Pfarre zählt heute 3428 Gemeindeglieder. Zur katholischen deutschen Bevölkerung kommen italienische und polnische Katholiken. Die italienischen Katholiken haben in Frankfurt eine eigene Gemeinde Comunità Cattolica Italiana, die auch ein Gemeindezentrum in Nied betreibt. Erst mit der beginnenden Industrialisierung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kam es zu einem nennenswerten Zuzug evangelischer Christen. Zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde eine evangelisch-reformierte Gemeinde gegründet und die evangelische Stadtkirche Höchst 1882 eingeweiht. Die Höchster evangelische Gemeinde ist Teil der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Mit 2129 Gemeindegliedern gehört sie zu den mittelgroßen Gemeinden in Frankfurt. Von 1965 bis 1999 bildete der Nordbezirk unter dem Namen Christophorusgemeinde eine eigene Gemeinde. Zu den evangelischen Freikirchen in Höchst zählen die Baptistengemeinde mit 170 Gemeindegliedern und die evangelisch-methodistische Rufergemeinde mit 110 Mitgliedern. Islam Seit den 1960er Jahren zogen viele Arbeitnehmer aus islamischen Ländern nach Höchst. Die allermeisten Muslime sind Türken. Im Stadtteil gibt es vier Moscheen, Träger einer der Moscheen ist die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion. Außerdem gibt es eine türkischsprachige alevitische Gemeinde. Der Gesamtanteil der Muslime an der Höchster Bevölkerung lag nach einer Schätzung der Stadt Frankfurt für das Jahr 2006 mit ungefähr 2.400 Personen bei 18,3 Prozent. Jüdische Gemeinde Lange Zeit gab es in Höchst eine kleine jüdische Gemeinde. Die ersten jüdischen Familien wurden zur Mitte des 17. Jahrhunderts in Steuerlisten erwähnt. Eine erste Synagoge befand sich in der Badstubengasse in unmittelbarer Nähe der Justinuskirche. Die Gemeinde errichtete 1905 auf der Ostseite des Höchster Bürgerparks, seit 1923 der Höchster Markt, eine Synagoge. Während der Novemberpogrome 1938 wurde die Höchster jüdische Gemeinde zerstört, die Synagoge niedergebrannt und durch einen Luftschutzbunker ersetzt. Die jüdische Bevölkerung Höchsts, für 1925 wird eine Zahl von 184 genannt, konnte entweder ins Ausland fliehen, oder sie wurde in Konzentrationslager deportiert und dort ermordet. An die Synagoge erinnert eine Gedenktafel auf dem Ettinghausen-Platz. Dieser wurde 2010 nach der Familie Ettinghausen benannt, eine der ältesten jüdischen Familien in Höchst, die im Wirtschafts- und Vereinsleben sowie in der Kommunalpolitik aktiv war. Zum Gedenken an die deportierten und ermordeten Höchster Juden und andere Verfolgte des Nationalsozialismus wurden mehrere Stolpersteine im Stadtteil gesetzt. Die Höchster jüdische Gemeinde wurde nach 1945 nicht wieder aufgebaut, alle jüdischen Einwohner Höchsts gehören heute der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main an. Politik Höchster Bürgermeister bis 1928 Bürgermeister in Höchst gab es seit der frühen Neuzeit. Nach den Chroniken waren im jährlichen Wechsel zwei Bürgermeister gleichzeitig im Amt. Zwischen 1866, als Höchst preußisch wurde, und 1887 hatte Höchst ehrenamtliche Bürgermeister. Im Jahr 1888 war Eugen Gebeschus der erste hauptamtliche Bürgermeister der Stadt. Bruno Müller, der letzte Höchster Bürgermeister, wurde nach der Eingemeindung nach Frankfurt 1928 Stadtrat. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg gab es während der französischen Besatzung zeitweilig keinen Bürgermeister in Höchst. Ernst Janke war 1919 von der französischen Militärverwaltung ausgewiesen worden, die Leitung der Stadtverwaltung wurde abwechselnd von Beigeordneten wahrgenommen, bis 1922 Bruno Asch das Amt übernahm. Liste der Höchster Bürgermeister seit 1860: Andreas Adelon, Bürgermeister von 1860 bis 1869, auf seine Initiative ist die Gründung des Chemiewerks Meister, Lucius und Brüning zurückzuführen Wilhelm Lina, Bürgermeister von 1869 bis 1873 Konrad Glatt, Bürgermeister von 1874 bis 1882 Peter Anton Bied († 1889), letzter ehrenamtlicher Bürgermeister von 1882 bis 1887 Eugen Gebeschus (1855–1936), erster hauptamtlicher Bürgermeister von 1888 bis 1893, anschließend Oberbürgermeister der Stadt Hanau Wilhelm Karraß, Bürgermeister von 1893 bis 1899 Viktor Palleske (1860–1935), Bürgermeister von 1899 bis 1911, auf seine Initiative wurde der 1908 eingeweihte Höchster Stadtpark angelegt Ernst Janke (wechselnd auch als August Wilhelm Albert Janke bezeichnet, 1873–1943), Bürgermeister von 1911 bis 1923, 1917 von Wilhelm II. zum Oberbürgermeister ernannt, während seiner Amtszeit erfolgte die Gründung Groß-Höchsts durch Eingemeindung der umliegenden Orte Bruno Asch (1890–1940), seit 1920 Wirtschaftsdezernent in Höchst, Bürgermeister von 1923 bis 1925 Bruno Müller (* 1889), Bürgermeister von 1926 bis 1928 Stadtteilpolitik ab 1928 Dem § 5 des Eingemeindungsvertrags entsprechend wurde Höchst ab 1928 ein eigener Kommunal-Wahlkreis und Verwaltungsbezirk innerhalb Frankfurts. Der Bezirk hatte eine eigene Bezirksvertretung als kommunale Bürgervertretung. Insgesamt sah der Vertrag eine für einen Stadtteil sehr große Eigenständigkeit vor. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde Höchst zu einem abhängigen Verwaltungsbezirk Frankfurts, da eine so weitgehende kommunale Eigenständigkeit nicht zum zentralistischen Führerprinzip der neuen Machthaber passte. Die Bezirksvertretung existierte nur noch formal und wurde 1945 aufgelöst. Mit dem Wiederaufbau kommunaler Selbstverwaltung nach 1945 wurde auch die Verwaltungsstruktur in Frankfurt neu geregelt. Die politische Struktur der Bezirke war durch die Hessische Gemeindeordnung aus dem Jahr 1952 vorgegeben. Frankfurt fasste die westlichen Stadtteile zum Bezirk Frankfurt-West zusammen, das zuständige Gremium ist der Ortsbeirat (OBR) 6. Der regelmäßige Sitzungsort des OBR 6 ist der Kapellensaal im Bolongaropalast. Der Palast war seit 1909 Rathaus der Stadt Höchst, hier befindet sich auch der Sitz der Frankfurter Bezirksverwaltung für die westlichen Stadtteile. Um der aus dem Eingemeindungsvertrag herrührenden Sonderstellung der westlichen Stadtteile zu entsprechen, richtete die Stadt Frankfurt ein eigenes Dezernat für die Belange der westlichen Stadtteile ein. Dessen Leitung hat seit 1966 der Oberbürgermeister beziehungsweise die Oberbürgermeisterin Frankfurts inne. Das Dezernatsbüro befindet sich im Bolongaropalast, hier werden auch regelmäßige Bürgerfragestunden veranstaltet. Wappen Blasonierung: Das Höchster Wappen zeigt ein silbernes Rad mit sechs regelmäßig angeordneten, verschnörkelten Speichen auf rotem Grund. Sowohl auf dem Radkranz als auch der Nabe sitzt am Ende jeder Speiche je ein Nagel. Auf früheren Abbildungen des Wappens sind die Nägel nicht enthalten. Höchst war zwischen 790 und 1802 gut 1000 Jahre Teil des Herrschaftsgebiets des Erzbistums Mainz. Wie bei vielen Orten, die zu Kurmainz gehörten, leitet sich auch das Höchster Wappen vom Mainzer Rad ab. Wirtschaft und Infrastruktur Einzelhandel Die Königsteiner Straße, zwischen Dalbergplatz und Bolongarostraße seit 1990 Fußgängerzone, ist ein wichtiger Einzelhandelsstandort. Weitere Einkaufsstraßen sind die Hostatostraße und die Bolongarostraße. Die Einkaufsstadt Höchst leidet allerdings sehr unter der Konkurrenz des nur drei Kilometer entfernten Main-Taunus-Zentrums (MTZ). Das in der Gemarkung der Gemeinde Sulzbach liegende MTZ ist eines der ersten und größten deutschen Einkaufszentren. Zudem ziehen weitere verkehrsgünstig gelegene Fachmarktzentren in den Umlandgemeinden Kriftel und Eschborn Kunden ab. Dem gegenüber steht ein in der Region kaum vorhandenes Angebot an handwerklichen und dienstleistungsorientierten Ladengeschäften. Zum unübersehbaren Symbol der Krise wurde die Schließung des Warenhauses Hertie in der Königsteiner Straße Ende 2001. In ihm befanden sich in den folgenden Jahren ausschließlich Restposten-Geschäfte und Ein-Euro-Läden. Ende 2006 wurde das Gebäude des früheren Kaufhauses Schiff verkauft. Der Gebäudekomplex, dessen älteste Teile noch auf das Jahr 1928 zurückgehen, wurde bis zum Ende 2008 komplett abgerissen und dort ein neues, kleines Einkaufszentrum im Sommer 2010 eröffnet. Zur Revitalisierung der Einkaufsstadt war seitens der 2010 aufgelösten Interessengemeinschaft Handel und Handwerk (IHH) in der Höchster Innenstadt die Einrichtung eines Business Improvement District (BID) geplant. Die IHH ließ dieses Projekt im Februar 2009 fallen. Der Stadtteil Frankfurt Höchst wurde als einer von drei deutschen Standorten für das europäische Interreg IVb Forschungsprojekt Managing District Centers in North West Europe (MANDIE) ausgewählt. Dem entgegen stehen Pläne des nahegelegenen MTZ, das Erweiterungen geplant hat. Sulzbach und Frankfurt ringen um eine Entscheidung, die vor allem für Höchst sozialverträglich ist. Die Stadt Frankfurt beschloss im Jahr 2006 in einem Rahmenplan für Höchst, in den folgenden zehn Jahren die Stadtentwicklung Höchsts mit 20 Millionen Euro zu fördern, um Höchst wieder zu einem attraktiven Wohn- und Geschäftsstandort zu machen. Ein über die Zeit unverändert wesentlicher Bestandteil des Höchster Einzelhandels, der auch viele Kunden aus dem Umland anzieht, ist der an drei Tagen in der Woche stattfindende Höchster Wochenmarkt. Der ursprünglich auf einen Dienstag festgelegte Markttag fand ab dem 18. Jahrhundert auch freitags statt, der Samstag kam später hinzu. Der Markt feierte 2006 sein 650-jähriges Bestehen. Unternehmen Höchst war bis 1999 Sitz der Hoechst AG, die seit 2004 ein Bestandteil von Sanofi-aventis ist. Das Werksgelände wurde zum Industriepark Höchst umgewandelt, der von dem Industriedienstleister Infraserv Höchst betrieben wird. Auf dem Gelände des Industrieparks sind noch zahlreiche ehemalige Tochterunternehmen der Hoechst AG ansässig. Nach dem Frankfurter Flughafen ist der Industriepark Höchst die zweitgrößte Arbeitsstätte in Frankfurt, hier arbeiten etwa 22.000 Menschen in über 90 Unternehmen. Das zweite große Industrieunternehmen waren die 1911 als Tochterunternehmen der Elektrizitäts-AG vormals W. Lahmeyer & Co. gegründeten Main-Kraftwerke (MKW). Sie sind heute als Süwag Energie AG eine Tochtergesellschaft der Innogy. Die Main-Kraftwerke betrieben in direkter Nachbarschaft der Altstadt ein Kohlekraftwerk am Mainufer. 2004 wurde das 1999 stillgelegte Kraftwerk nach einem Brand komplett abgerissen. Die Höchster Porzellanmanufaktur war ein Porzellanhersteller, der in den Jahren 1748 bis 1798 produzierte und dann in Konkurs ging. Das Unternehmen wurde 1946 auf Betreiben des Höchster Historikers Rudolf Schäfer wiederbelebt. Durch finanzielle Unterstützung der Hoechst AG und der Dresdner Bank konnte das Projekt erhalten werden. Die Manufaktur stellt Porzellane mit anspruchsvollen Handmalereien her. Die Deutsche Bahn ist mit einer Außen- und Innenreinigungsanlage für die Konzernunternehmen DB Regio und DB Fernverkehr am Nordrand des Güterbahnhofs vertreten. Ehemalige Unternehmen Ein bekanntes ehemaliges Unternehmen war die 1871 gegründete Anlagen- und Maschinenfabrik H. Breuer & Co., kurz Breuer-Werke genannt. Sie wurden 1923 von Buderus übernommen und 1969 an Krauss-Maffei verkauft. Die Ada-Ada-Schuh AG war ein anderes bekanntes Unternehmen. Der Schuhhersteller ging aus der 1900 gegründeten Schuhfabrik R. & W. Nathan oHG hervor, die 1937 „arisiert“ wurde. Das Unternehmen, das seinen Sitz in der Nähe des Höchster Bahnhofs hatte, existierte bis 1966. Der Möbelhersteller Wesner hatte bis zum Jahr 2007 sein Möbelhaus in Höchst. Das aus der Tradition der Holzverarbeitung und Möbelherstellung im Vordertaunus stammende Unternehmen wurde 1906 gegründet. Der Konkurrenzkampf auf dem Möbelmarkt brachte dem Traditionsunternehmen das Ende. Die Schnupftabakfabrik der Gebrüder Bolongaro wurde Ende des 18. Jahrhunderts in der Höchster Neustadt eröffnet. Sie legte den Grundstein für die bis weit ins 19. Jahrhundert reichende Blüte der Tabakverarbeitung in Höchst. Medien Die lokale Medienlandschaft in Höchst wird von den Frankfurter Tageszeitungen bestimmt. Neben der Frankfurter Rundschau, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Frankfurter Neuen Presse ist dies vor allem das Höchster Kreisblatt (HK). Die 1849 gegründete Zeitung berichtet traditionell aus Höchst, dem Frankfurter Westen und dem ehemaligen Landkreis Höchst. Das HK gehört seit Juli 1965 zur Zeitungsgruppe der Frankfurter Neuen Presse. Neben diesen Tageszeitungen gibt es mehrere lokale und regionale Anzeigenblätter. Verkehr Öffentlicher Personenverkehr Der Höchster Bahnhof ist ein Knoten im Regionalverkehr der Taunusbahn und der Main-Lahn-Bahn. Hier halten zahlreiche Regionalbahnen und Regional-Express-Züge von Frankfurt nach Wiesbaden und Limburg. Weitere wichtige Verbindungen bieten zwei S-Bahn-Linien Richtung Frankfurter Innenstadt. Die S1 fährt von Wiesbaden über Hauptbahnhof nach Ober-Roden und die S2 von Niedernhausen nach Dietzenbach. Die Königsteiner Bahn fährt als Regionalbahn 12 über Kelkheim nach Königstein in den Vordertaunus. Die Sodener Bahn verbindet als Regionalbahn 13 Bad Soden am Taunus mit Höchst. Mit der Regionaltangente West ist eine S-Bahn von Bad Homburg über den Höchster Bahnhof zum Frankfurter Flughafen und weiter nach Neu-Isenburg beschlossen. Seit 1952 fahren Straßenbahnen nach Höchst, zurzeit die Linie 11 nach Fechenheim. Der Anschluss an das Frankfurter Straßenbahnnetz wurde den Höchstern im Eingemeindungsvertrag zugesagt; dort ist jedoch von einer Linie über den Höchster Bahnhof bis nach Zeilsheim die Rede. Verwirklicht wurde dies erst nach dem Zweiten Weltkrieg und nur bis zur Zuckschwerdtstraße ganz im Osten von Höchst, was nicht ganz den Vorstellungen der Einwohner entsprach. Im aktuellen Gesamtverkehrsplan der Stadt Frankfurt ist eine Verlängerung zum Höchster Bahnhof oder alternativ durch die Bolongarostraße zur Königsteiner Straße vorgesehen. Auch die Integration der Strecke in das U-Bahn-Netz (Linie U5) ist im Gespräch. Höchst besaß bereits vor der Eingemeindung ein eigenes Omnibusnetz, das es in die Verbindung mit Frankfurt einbrachte. In Frankfurt gab es damals nur wenige Buslinien, die meisten Relationen bediente die Straßenbahn. Das Höchster Busnetz ist entsprechend den Bedingungen des Eingemeindungsvertrages bis heute weitgehend erhalten, die relative Eigenständigkeit kommt auch durch die 50er-Liniennummern zum Ausdruck. Die Buslinien X53 (über Zeilsheim), 58 und X58 verbinden Höchst mit dem Flughafen. Straßenverkehr Der Stadtteil besitzt keinen direkten Anschluss an die Autobahn. Die Anschlussstelle Höchst der BAB 66 liegt etwa zwei Kilometer vom Ortskern entfernt im nördlich angrenzenden Frankfurt-Unterliederbach. Da lange Zeit die Hauptachsen Hostatostraße und Bolongarostraße durch die Höchster Kernstadt die einzige direkte innerstädtische Durchgangsverbindung von Zeilsheim und Sindlingen nach Nied, Griesheim und das südmainische Schwanheim waren, ist der Durchgangsverkehr in Höchst entsprechend hoch. Die 1928 vertraglich vereinbarte Mainbrücke zwischen Höchst und dem südlichen Mainufer wurde erst 1994 eröffnet. Seit 2007 gibt es über die Leunabrücke einen Anschluss zur Bundesstraße 40. Die autobahnähnlich ausgebaute Schnellstraße tangiert Höchst südlich und soll in Zukunft die Höchster Altstadt vom Durchgangsverkehr befreien. Eine Verkehrszählung im Sommer 2008 ergab allerdings, dass die neue Umgehung nur wenig angenommen wird, so dass Höchst weiterhin einer starken Belastung mit Durchgangsverkehr ausgesetzt ist. Schifffahrt Die Mainzer Erzbischöfe ließen in Höchst jahrhundertelang Mainzoll erheben. Der Zoll wurde erst 1866 abgeschafft. Durch die Zollstelle, an der die Mainschiffe anlegen und pausieren mussten, war Höchst eine wichtige Anlandestelle am Untermain. Mit Ausbau des Mains zur Wasserstraße seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wuchs das Frachtaufkommen auf dem Main. Viele Güter erreichten Höchst auf dem Wasserweg. Daher wurde das flache Höchster Mainufer um zwei Meter aufgeschüttet und zu einem Parallelhafen ausgebaut. Im Höchster Hafen wurden vor allem Holz für die Möbelindustrie des Vordertaunus sowie Kohlen für die Industrie und das Kraftwerk umgeschlagen. Der Höchster Hafen war bis 1982 in Betrieb. Seit dem frühen 17. Jahrhundert gibt es zwischen Höchst und dem Schwanheimer Unterfeld eine Fährverbindung. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde eine Wagenfähre beschafft, die bis 1992 in Betrieb war. Die alte Fähre wurde stillgelegt und durch ein neues, kleineres Fahrzeug ersetzt. Die Mainfähre Höchst ist seitdem eine reine Personenfähre für Fußgänger und Radfahrer. Bildung Höchst hat einen Schulverbund aus drei Gymnasien, das seit 1975 bestehende Friedrich-Dessauer-Gymnasium als Oberstufenschule, die 1874 gegründete Helene-Lange-Schule, ehemals eine Höhere-Töchter-Schule, als Unter- und Mittelstufengymnasium und die Leibnizschule, deren Anfänge als Realschule bis ins Jahr 1818 zurückreichen, ebenfalls ein Unter- und Mittelstufengymnasium. Im alten Gebäude der Leibnizschule ist heute die Robert-Koch-Schule, eine Realschule, untergebracht. Hinzu kommen die Hostatoschule als Haupt- und Grundschule, die Robert-Blum-Schule als Grundschule sowie die Kasinoschule (Förderschwerpunkt: Lernen) und die Fritz-Redl-Schule (Förderschwerpunkt: emotionale und soziale Entwicklung) als Förderschulen. Die Paul-Ehrlich-Schule ist eine technisch-wissenschaftliche Berufsschule im Stadtteil. Erwachsenenbildung wird von der Außenstelle Höchst der Volkshochschule Frankfurt am Main angeboten, die im Gebäude des Friedrich-Dessauer-Gymnasiums untergebracht ist. Dort befindet sich ebenfalls die Stadtteilbücherei Höchst der Stadtbücherei Frankfurt. Hinzu kommen noch 24 Kinderbetreuungseinrichtungen für Kinder aller Altersgruppen, die von privaten, konfessionellen und städtischen Institutionen getragen werden. Kultur und Sehenswürdigkeiten Theater und Kino Mit dem vom Bund für Volksbildung seit 1987 betriebenen Neuen Theater Höchst, das in einem ehemaligen Kinosaal in der Emmerich-Josef-Straße untergebracht ist, besitzt Höchst eine in Frankfurt bekannte Kleinkunstbühne. Dem Neuen Theater angeschlossen ist das kommunale Kino Filmforum Höchst. Regelmäßige Veranstaltungen Ein bedeutendes kulturelles Ereignis ist das Höchster Schloßfest, das seit 1957 jährlich stattfindet. Es beginnt Mitte Juni und dauert vier Wochen. In dieser Zeit finden zahlreiche Veranstaltungen wie das Altstadtfest, eine Kerb am Mainufer, das Jazz-Festival im Schloss und ein großes Abschlussfeuerwerk statt. Das Höchster Schloßfest lockt jedes Jahr zahlreiche Besucher aus der Region nach Höchst. Der Höchster Orgelsommer ist eine Konzertreihe, die jährlich in der Justinuskirche stattfindet. Die Orgel der Justinuskirche wurde 1988 zum 125-jährigen Firmenjubiläum als Spende der Hoechst AG erneuert und ist mit 43 Registern eines der wertvollsten Instrumente in Frankfurt. Seit 2004 fand während des Spätsommers im Garten des Bolongaropalastes das Theaterfestival Barock am Main. Der Hessische Molière statt. Es werden die von Wolfgang Deichsel und Rainer Dachselt in südhessische Mundart übertragenen Stücke des Dramatikers Molière aufgeführt. Protagonist und künstlerischer Leiter des Festivals ist Michael Quast. Wegen der Renovierung des Bolongaropalasts ist die Spielstätte derzeit im Hof der Höchster Porzellanmanufaktur. Museen Im Kronberger Haus befindet sich seit 1994 das Höchster Porzellanmuseum, eine Außenstelle des Historischen Museums (Frankfurt am Main). Hier werden ungefähr 1000 Stücke Fayencen und Porzellane aus der ersten Zeit der Höchster Porzellanmanufaktur gezeigt. Weiter Ausstellungsstücke sind im 1. Stock des Bolongaropalastes zu besichtigen. Im Glockenspielhaus am Dalbergplatz befindet sich das Frankfurter Uhren- und Schmuckmuseum. Hier werden in fünf Räumen Uhren und Schmuckstücke verschiedener Epochen gezeigt. Das Firmenmuseum der Hoechst AG und das Museum des Höchster Geschichtsvereins, die sich im Höchster Schloß befanden, wurden zum Jahresende 2006 geschlossen. Sie sollen nach dem Umbau des Bolongaropalastes dort ihren Platz finden. Vereine (Auswahl) In Höchst gibt es eine große Anzahl sportlich, kulturell und sozial aktiver Vereine. Im 1954 gegründeten Vereinsring Höchst e. V. sind über sechzig Vereine organisiert. Der Vereinsring selbst richtet seit 1957 das Höchster Schloßfest aus. Die Initiative Pro Höchst ist ein Zusammenschluss aus Unternehmen, Vereinen und Einzelpersonen, die sich für die Förderung des Stadtteils einsetzt. Die seit 1971 existierende Bürgervereinigung Höchster Altstadt e. V. setzt sich für den Erhalt der Altstadt Höchst ein. Sie wurde 1977 für ihre Arbeit mit der Walter-Möller-Plakette der Stadt Frankfurt für Verdienste um das Gemeinwohl in Frankfurt am Main ausgezeichnet. Die Freiwillige Feuerwehr Höchst 1852 e. V. ist eine der ältesten Feuerwehren Deutschlands. Das Feuerwehrhaus befindet sich in der Palleskestrasse (Schießplatz). Der Höchster Schwimmverein wurde 1893 gegründet und zählt heute über 1.900 Mitglieder. Der Verein für Geschichte und Altertumskunde Ffm.-Höchst e. V. wurde Ende des 19. Jahrhunderts von Höchster Bürgern gegründet, um das geschichtliche Erbe der Stadt Höchst zu erforschen und zu erhalten. Langjähriger Vorsitzender des Vereins war der Höchster Journalist und Historiker Rudolf Schäfer. Die Höchster Schnüffler un’ Maagucker e. V. ist ein Zusammenschluss von einzelnen Bürgern und Bürgerinitiativen, die sich für den Umweltschutz engagieren und insbesondere der Politik des Industrieparks Höchst kritisch gegenüberstehen. Bauwerke Altstadt In der Höchster Altstadt, die den Zweiten Weltkrieg ohne nennenswerte Schäden überstanden hat, befinden sich eine Reihe bedeutender Baudenkmäler. Die Mainseite Höchsts wird von der im 14. Jahrhundert entstandenen Stadtmauer mit dem Maintor geprägt. Die um 830 entstandene karolingische Justinuskirche mit ihrer dreischiffigen Basilika und dem hochgotischen Chor aus dem 15. Jahrhundert ist das älteste Bauwerk Frankfurts. Das Höchster Schloß, 14.–16. Jahrhundert, war die Residenz der Mainzer Erzbischöfe. Der Schlossturm ist ein Wahrzeichen Höchsts. Der Höchster Schloßplatz mit seinen Fachwerkhäusern gilt vielen Frankfurtern als der schönste Platz Frankfurts. Im ehemaligen Gasthaus Der Karpfen waren unter anderem Dürer, Goethe und Mozart zu Gast. Gut erhaltene Einzelbauten sind die zur Zeit der Renaissance entstandenen Adelshöfe Dalberger Haus und Kronberger Haus. Beide sind dem Höchster Porzellan verbunden, im Dalberger Haus befindet sich eine Verkaufsstelle der Höchster Porzellanmanufaktur, im Kronberger Haus das Porzellanmuseum des Historischen Museums Frankfurt. Ebenfalls aus der Zeit der Renaissance stammt das Greiffenclausche Haus, ehemals ein Adelshof und heute ein Wohnhaus. Weitere Baudenkmale sind das spätgotische Haus Zum Anker, seit Jahrhunderten Gaststätte und Wohngebäude, das ehemalige Antoniterkloster und das Alte Rathaus, beide heute zu Wohnzwecken genutzt. Neustadt In der 1768 als Stadterweiterung gegründeten Höchster Neustadt ist der barocke Bolongaropalast das prägendste Bauwerk. Nach einer wechselvollen Geschichte als Familiensitz der Bolongaros sowie später als Industrie- und Wohngebäude diente er seit 1908 als Rathaus der Stadt Höchst und nach der Eingemeindung nach Frankfurt als Außenstelle der Stadtverwaltung in den westlichen Stadtteilen. Das 1892 im klassizistischen Stil erbaute Kreishaus war bis 1928 Sitz der Kreisverwaltung des Landkreises Höchst. Ab 1928 diente das Haus dem Main-Taunus-Kreis bis zum Umzug nach Hofheim am Taunus als Verwaltungssitz. Seitdem steht das Gebäude leer. Sonstige Bauten Die meisten Bauten des Höchster Westends stammen aus der Gründerzeit und dem frühen 20. Jahrhundert. Besondere Bauten sind die zwischen 1877 und 1882 in rotem Backstein im Stil der Neorenaissance erbaute evangelische Stadtkirche an der Leverkuser Straße und die 1908 errichtete neuromanische Josefskirche in der Hostatostraße. Der Jugendstilbau des Bahnhofs Höchst, 1914 eingeweiht, war der letzte öffentliche Bau in der Stadt Höchst vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Das zwischen 1920 und 1924 nach dem Entwurf von Peter Behrens erbaute expressionistische Verwaltungsgebäude der Farbwerke Hoechst AG ist der Öffentlichkeit nicht mehr frei zugänglich. Außerhalb Höchsts stehen auf Unterliederbacher Gemarkung der Kuppelbau der Jahrhunderthalle Hoechst, der zwischen 1961 und 1963 errichtet wurde, und die 1988 eröffnete Ballsporthalle. Parkanlagen Am Rande des Höchster Oberfeldes befindet sich der 14,6 Hektar große Höchster Stadtpark. Der 1908 angelegte Park geht auf eine Anregung des damaligen Bürgermeisters Palleske zurück. Mit seinem alten Baumbestand ist er ein beliebtes Naherholungsziel der Höchster und Nieder Bürger. Zwischen dem Höchster Bahnhof und dem Dalbergplatz erstreckt sich entlang der Bahnlinie die in den 1920er Jahren entstandene Bruno-Asch-Anlage, eine der wenigen expressionistischen Gartenanlagen Deutschlands, die seit 2003 unter Denkmalschutz steht. Seit 2011 sind die einst schlecht erhaltene Parkanlage und seit 2013 der dazugehörige Seiler-Brunnen nach aufwendiger Restaurierung wiederhergestellt. Der Park an der Wörthspitze, der bereits im Stadtteil Nied liegt, ist der nominelle Ausgangspunkt des Frankfurter Grüngürtels. Die in den 1930er Jahren angelegte Parkanlage wurde zuvor landwirtschaftlich genutzt. Seit 1911 verbindet eine Fußgängerbrücke die Wörthspitze mit dem Höchster Niddaufer. Weitere Grünflächen, die der Erholung und der Auflockerung des Stadtbildes dienen, sind die Rudolf-Schäfer-Anlage an der Einmündung der Leverkuser Straße in die Bolongarostraße, Standort des Bismarck-Denkmals, und der Brüningpark, der sich von Bolongarostraße entlang der westlichen Stadtmauer zum Main erstreckt. Das Batterie genannte Höchster Mainufer wurde im Jahr 2006 in erheblichen Teilen vom Parkplatz zu einer Grünanlage mit einem Biergarten und Liegeflächen umgestaltet. Persönlichkeiten Persönlichkeiten, die in Höchst geboren wurden Johann Kaspar Riesbeck (1754–1786), Schriftsteller Gerhard Adolf Aschbach (1793–1842), Jurist und Politiker Joseph Aschbach (1801–1882), Historiker Otto Thilenius (1843–1927), Mediziner und Balneologe Gustav Travers (~1846–1892), Diplomat Carl Chun (1852–1914), Zoologe und Tiefseeforscher Adolf von Eck (1860–1923), Jurist und Abgeordneter des Provinziallandtages der Provinz Hessen-Nassau Meta Quarck-Hammerschlag (1864–1954), Frauenrechtlerin Gustav von Brüning (1864–1913), Chemiker, Industriemanager, Politiker Richard Biringer (1877–1947), Maler und Bildhauer Karl Wach (1878–1952), Architekt Frieda Düsterbehn-Reuting (1878–1954), Höchster Mundartdichterin Georg Jung (1878–1958), Heimatforscher Jakob Rauch (1881–1956), katholischer Geistlicher Hans Fischer (1881–1945), Chemiker und Mediziner, Nobelpreis für Chemie 1930 Hans Schmidt (1886–1959), Chemiker und Hochschullehrer Adolf Schindling (1887–1963), Unternehmer Heinrich Scharp (1899–1977), Journalist und Historiker Johann Schellheimer (1899–1945), Widerstandskämpfer Heinrich König (1900–1942), römisch-katholischer Priester, Märtyrer Alfred Missong (1902–1965), Publizist Kurt Kleinschmidt (1904–1989), Jurist im Bankwesen Joachim Lutz (1906–1954), Maler und Journalist Erich Altwein (1906–1990), SPD-Politiker Werner Hessenland (1909–1979), Schauspieler Hans Körbel (1909–1947) Arzt, als Kriegsverbrecher hingerichtet Hans Adolf Weidlich (1909–1988)Chemiker, Mediziner, Hochschullehrer und Autor zur Philatelie Albert Hahn (1910–1995), Künstler und wissenschaftlicher Zeichner Ivo Veit (1910–1984), Rundfunkregisseur, Schauspieler und Kabarettist Hellmut Brunner (1913–1997), Ägyptologe Rudolf Schäfer (1914–1985), Historiker und Journalist Gerhard Wolfgang Jensch (1920–1990), Profi-Schachspieler Heinz Ulzheimer (1925–2016), Leichtathlet Joki Freund (1926–2012), Jazzmusiker Hans Burggraf (1927–2001), CDU-Politiker Friedrich Hanssmann (1929–2021), Ökonom und Hochschullehrer Karl Malkmus (1929–1997), Künstler Herbert Schlitt (1929–2019), Physiker und Professor für Regelungstechnik Wolfgang Bender (1931–2017), katholischer Theologe Helmut Frank (1933–2015), CDU-Politiker Georg Badeck (1938–2004), CDU-Politiker Peter Oster (* 1946), Mediziner, Professor für Geriatrie Eva Christina Vollmer (1947–2004), Kunsthistorikerin, Musikwissenschaftlerin und Germanistin Margit Bach (* 1951), Leichtathletin Klaus-Werner Wagner (* 1953), Koch Michael Lederer (* 1955), Leichtathlet Martina Hund-Mejean (* 1960), Volkswirtin, Finanzchefin bei Mastercard Ortwin Passon (* 1962), Schwulen-, HIV/AIDS- und Bareback-Aktivist Klaus Reichert (* 1963), Moderator, Autor, Künstler Christoph Winterer (* 1967), Kunsthistoriker und Handschriftenforscher Patricia Patek (* 1968), Fotomodell und Schönheitskönigin Daniel Fischer (* 1976), Radio- und Fernsehmoderator Tristan Brübach (1984–1998), Mordopfer Persönlichkeiten, die zeitweilig in Höchst gelebt oder gearbeitet haben Diether von Isenburg (1412–1482), Erzbischof von Mainz Goswin von Orsoy (1450–1515), Generalpräzeptor des Antoniterordens Adam Friedrich von Löwenfinck (1714–1754), Begründer der Höchster Porzellanmanufaktur Johann Peter Melchior (1747–1825), Bildhauer und Porzellanmaler Familie Bolongaro, zwischen 1771 und 1783, italienische Tabakfabrikanten Carl Friedrich Wilhelm Meister (1827–1895), Mitbegründer der Hoechst AG Eugen Lucius (1834–1903), Mitbegründer der Hoechst AG Adolf von Brüning (1837–1884), Mitbegründer der Hoechst AG Gustav Dürr (1853–1908), Ingenieur und Industrieller Eugen Gebeschus (1855–1936), Bürgermeister von Höchst Adolf Haeuser (1857–1938), Generaldirektor der Hoechst AG Friedrich Stolz (1860–1936), Chemiker der Hoechst AG Gustav Weißkopf (1874–1927), Motorflugpionier Amalie Froehlich (1876–1938), Abgeordnete im ersten preußischen Landtag Ludwig Hermann (1882–1938), Chemiker und Unternehmer Carl Lautenschläger (1888–1962), Chemiker und Mediziner Ernst Majer-Leonhard (1889–1966), Pädagoge und Schulleiter Bruno Asch (1890–1940), Wirtschaftsdezernent und Bürgermeister von Höchst Walter Kolb (1902–1956), SPD-Politiker und Frankfurter Oberbürgermeister Valentin Jost (1920–2007), SPD-Politiker und Landrat des Main-Taunus-Kreises in Hessen Erhard Bouillon (* 1925), Vorstand und Aufsichtsrat der Hoechst AG Rudolf Scharp (1925–2013), Grafiker Helmut Gerstenberg (1926–1983), Ingenieur und Erfinder Rosemarie Fendel (1927–2013), Schauspielerin Literatur Amtliche Dokumente Eingemeindungsvertrag zwischen der Stadtgemeinde Frankfurt am Main und der Stadtgemeinde Höchst am Main von 1928; frankfurt.de (PDF; 88 kB) abgerufen am 25. Feb. 2020 Anlage zum Eingemeindungsvertrag von 1928; frankfurt.de (PDF; 89 kB) abgerufen am 25. Feb. 2020 Gesamtverkehrsplan Frankfurt am Main, Ergebnisbericht 2004. stvv.frankfurt.de (PDF; 25 MB) Stadtplanungsamt Frankfurt am Main (Hrsg.): Rahmenplan Höchst 2006. Städtebauliche Rahmenplanung; Revitalisierung der Innenstadt. Frankfurt am Main 2006: Stadt Frankfurt am Main. (Ergebnisbericht des Magistrats) Bücher Wilhelm Frischholz: Alt-Höchst. Ein Heimatbuch in Wort und Bild. Hauser, Frankfurt am Main 1926. Markus Grossbach: Frankfurt-Höchst. Geschichte 1860–1960. Bildband. Sutton, Erfurt 2001. Wilhelm Grossbach: Alt Höchst auf den zweiten Blick. Impressionen aus einer alten Stadt. Frankfurt-Höchst 1980: Höchster Verlagsgesellschaft. Wilhelm Grossbach: Höchst am Main. Gestern, heute, morgen. Frankfurt am Main 2006: Frankfurter Sparkasse. Michael König: Die Krise großstädtischer Subzentren. Bedeutungsverlust gewachsener Nebenzentren mit eigener städtischer Tradition. Gründe, Situation und mögliche Auswege am Beispiel von Frankfurt-Höchst. TU Berlin, Institut für Stadt- und Regionalplanung, Berlin 2007, ISBN 978-3-7983-2042-0 (= ISR Graue Reihe; Band 3). Volltext kobv.de Franz Lerner: Frankfurt am Main und seine Wirtschaft: Wiederaufbau seit 1945. Ammelburg, Frankfurt am Main 1958. Wolfgang Metternich: Die städtebauliche Entwicklung von Höchst am Main. Stadt Frankfurt und Verein für Geschichte und Altertumskunde, Frankfurt-Höchst 1990. Günter Moos: Rundgang durch das alte Frankfurt-Höchst. Wartberg, Gudensberg-Gleichen 2001. Rudolf Schäfer: Höchst am Main. Frankfurter Sparkasse von 1822, Frankfurt am Main 1981. Rudolf Schäfer: Chronik von Höchst am Main. Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1986. Weblinks Chronik von Höchst. In: Stadtportal Frankfurt am Main. 360°-Rundumansichten aus Höchst Einzelnachweise Hochst Hochst Ersterwähnung 790
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https://de.wikipedia.org/wiki/Brig-Visp-Zermatt-Bahn
Brig-Visp-Zermatt-Bahn
|} Die Brig-Visp-Zermatt-Bahn (BVZ) – offizielle Eigenbezeichnung von 1991 bis 2002 BVZ Zermatt-Bahn – ist eine meterspurige Schmalspurbahn im Schweizer Kanton Wallis. 1891 als Visp-Zermatt-Bahn (VZ) eröffnet, ging sie am 1. Januar 2003 zusammen mit der Furka-Oberalp-Bahn (FO) in der Matterhorn-Gotthard-Bahn (MGB) auf. Die 44 Kilometer lange Bahnstrecke ist Bestandteil der Route des nach St. Moritz verkehrenden Glacier-Express und verbindet den autofreien Urlaubsort Zermatt mit den Gemeinden Visp und Brig-Glis im Rhonetal. Geschichte Planung, Bau und Betriebsaufnahme Das Bergdorf Zermatt erlangte nach der Erstbesteigung des Matterhorns durch Edward Whymper 1865 erstmals grössere Bekanntheit in Europa. Die Zahl der Übernachtungen nahm fortan kontinuierlich zu, obwohl der Ort selbst nur mittels eines langwierigen Fussmarsches durch das unwirtliche Mattertal erreichbar war. Ein einfacher Saumpfad führte lange Zeit nur bis St. Niklaus. Dennoch verzeichnete man in Zermatt in den 1880er-Jahren bereits bis zu 12'000 Touristen pro Jahr. Um den Tourismus im Tal und insbesondere in Zermatt selbst zu fördern, kamen daher bald erste Pläne auf, eine Eisenbahnlinie zu errichten, die den aufstrebenden Kurort mit dem Rhonetal verbinden sollte. Am 21. September 1886 erteilte der Bundesrat dem Bankhaus Masson, Chavannes & Co. in Lausanne sowie der Basler Handelsbank eine erste Konzession. Der ursprüngliche Antrag sah eine von Visp nach Zermatt führende Schmalspurbahn mit 750 mm Spurweite und gemischtem Adhäsions- und Zahnradbetrieb vor. Die Spurweite wurde schliesslich auf Drängen des Bundesrates auf Meterspur geändert. Die Bahn sollte jeweils über die Sommermonate von Anfang Juni bis Ende September betrieben werden, da man die Risiken eines Betriebes im Hochgebirgswinter nicht zu bewältigen vermochte. Zudem bestand lediglich im Sommer Aussicht auf ein hohes Passagieraufkommen, da Wintertourismus zur damaligen Zeit noch keine grosse Bedeutung besass. Der Bundesrat behielt sich jedoch eine Ausdehnung der Betriebszeit vor, ebenso legte er fest, dass für Einheimische vergünstigte Tarife angeboten werden sollten. Planung und Bau übertrugen die beteiligten Bankhäuser der Eisenbahngesellschaft Suisse-Occidentale–Simplon (SOS), die im Sommer 1887 umfangreiche Vermessungsarbeiten im Mattertal durchführte. Am 10. Oktober 1888 entstand als Betriebsgesellschaft die Compagnie du Chemin de Fer de Viège à Zermatt SA. Die genaue Streckenführung und Betriebsweise war zunächst Gegenstand intensiver Diskussionen. Die Suisse-Occidentale–Simplon schlug eine reine Adhäsionsbahn mit einer Maximalsteigung von 45 ‰ vor, während der am Bau der Gotthardbahn beteiligte Ingenieur Ernest von Stockalper gemäss der ursprünglichen Planung eine kombinierte Adhäsions- und Zahnradbahn vorschlug. Eine zur Bestimmung der idealen Betriebsweise aufgestellte Expertenkommission besuchte zu diesem Zweck zahlreiche Zahnradbahnen in der Schweiz und Deutschland, unter anderem die Brünigbahn und die mit dem Zahnstangensystem Abt ausgestattete Rübelandbahn im Harz. Die Bereisungen führten zur Entscheidung, die Bahnlinie mit dem auf der Rübelandbahn angewendeten System auszustatten und Maximalsteigungen von 125 ‰ vorzusehen. Insgesamt sollten sechs Streckenabschnitte mit einer Gesamtlänge von 7450 m mit Zahnstange ausgestattet werden. Der Baubeginn erfolgte am 27. November 1888 in Visp. Die Bauausführung wurde dem Westschweizer Bauunternehmer Julius Chappuis übertragen, während die SOS den Landerwerb und die Beschaffung des Rollmaterials vornahm. Der Erwerb des notwendigen Landes gestaltete sich insbesondere im Bereich der Gemeinden Stalden und St. Niklaus als schwierig, da die ansässige Bevölkerung an einem Verkauf nicht interessiert war und so langwierige Enteignungsverfahren erforderlich wurden. Auch war das Land im gesamten Tal in unzählige und zum Teil winzige Grundstücke unterteilt, deren tatsächliche Besitzer meist nicht in offiziellen Dokumenten verzeichnet waren. Das Fehlen einer Strasse machte es erforderlich, das Baumaterial fast ausschliesslich über das bereits fertiggestellte Bahntrassee an die Baustellen zu transportieren. Am 3. Juli 1890 konnte schliesslich der Bahnbetrieb auf dem ersten Teilabschnitt zwischen Visp und Stalden aufgenommen werden. Bereits am 26. August desselben Jahres erreichten die ersten Züge St. Niklaus, ein ungewöhnlich strenger Winter verzögerte in den folgenden Monaten jedoch die Fertigstellung des restlichen Streckenabschnittes. Erst am 18. Juli 1891 konnte die Gesamtstrecke bis Zermatt dem Betrieb übergeben werden. Erste Betriebsjahre Die Visp-Zermatt-Bahn (VZ) übertrug die Betriebsführung der Suisse-Occidentale-Simplon, da so die Möglichkeit bestand, das Personal während der Betriebsunterbrechung im Winter an anderen Stellen einzusetzen. Dieses Abkommen wurde von der Nachfolgegesellschaft Jura-Simplon-Bahn (JS) und schliesslich auch durch die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) noch bis 1920 beibehalten. Die Passagierzahlen stiegen seit der Eröffnung kontinuierlich an und übertrafen bereits nach kurzer Zeit die zur Bauzeit aufgestellten Prognosen deutlich. Gleichzeitig hatte die Bahn aber auch mit zahlreichen Unwettern zu kämpfen, die den Betrieb immer wieder für Tage lahmlegten. Die Eröffnung der Gornergratbahn 1898, des Simplontunnels 1906 und der Lötschbergbahn 1913 brachten auch der Visp-Zermatt-Bahn weitere Fahrgäste. Der Aufwärtstrend fand jedoch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein jähes Ende. Die ausländischen Touristen blieben der Schweiz fern, während der Kohlepreis massiv anstieg. Das Passagieraufkommen sank auf das Niveau von 1891 zurück. Der Fahrplan musste erheblich reduziert und die Fahrpreise stark erhöht werden, dennoch war ein kostendeckender Betrieb nicht mehr möglich. Enthielt der Sommerfahrplan 1914 noch sechs Zugpaare pro Tag zwischen Visp und Zermatt, fuhren nach Kriegsausbruch lediglich noch drei, ab 1918 sogar nur zwei Zugpaare. 1918 betrug der Gesamtverlust rund 971'000 Franken. Nach Kriegsende stiegen die Fahrgastzahlen zunächst nur langsam wieder an. Inmitten des sich abzeichnenden Aufschwungs zerstörte am 24. September 1920 ein Hochwasser rund 300 Meter des Trassees zwischen Visp und Ackersand, nachdem bereits im Winter 1919/20 die Matter Vispa durch Lawinen und Erdrutsche auf das Bahntrassee bei Kipfen umgelenkt worden war und schwere Verwüstungen angerichtet hatte. Das daraus resultierende Defizit, das bislang letzte in der Geschichte der Bahn, nahmen die SBB zum Anlass, die auslaufenden Verträge nicht zu verlängern und die Betriebsführung zum 1. Januar 1921 an die VZ abzugeben. Diese ging daraufhin eine Direktionsgemeinschaft mit der Gornergratbahn ein. Gleichzeitig wurde in Zusammenarbeit mit Zermatter Hoteliers ein Büro eingerichtet, das erstmals internationale Werbung für den Touristenort Zermatt betrieb. 1927 erreichten die Passagierzahlen wieder das Vorkriegsniveau, 1931 erzielte die Bahn mit 227'845 beförderten Personen einen neuen Rekord, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg überboten werden sollte. Lückenschluss, Elektrifizierung und Ganzjahresbetrieb Die Rettung der Brig-Furka-Disentis-Bahn Die Visp-Zermatt-Bahn selbst hatte den Ersten Weltkrieg unbeschadet überstanden. Grundlegend anders stellte sich die Situation jedoch bei der bei Kriegsausbruch noch nicht fertiggestellten Brig-Furka-Disentis-Bahn (BFD) dar. Diese hatte bis 1915 lediglich den Streckenabschnitt von Brig nach Gletsch fertigstellen können und musste 1923 Konkurs anmelden. VZ-Direktor Auguste Marguerat ergriff die Initiative zur Erhaltung der Bahnlinie. Es bildete sich ein Syndikat, das durch den Bund und die Kantone Wallis, Uri, Graubünden sowie Waadt unterstützt wurde. Am 4. April 1925 konnten Bahnanlagen und Fahrzeuge für 1,75 Millionen Franken ersteigert werden. Am 17. April erfolgte die Neugründung der Furka-Oberalp-Bahn AG (FO) mit einem Aktienkapital von 3,3 Mio. Franken. Bereits am 4. Juli 1926 konnte der Betrieb auf der Gesamtstrecke bis Disentis aufgenommen werden. Die FO selbst unterstand zunächst der Direktion der VZ, erst am 1. Januar 1961 wurde sie als eigenständiger Betrieb ausgegliedert. Lückenschluss Brig–Visp Mit der Betriebsaufnahme der Furka-Oberalp-Bahn wurde es zum Nachteil, dass die meterspurige VZ in Visp durch 8 km allein in Normalspur ausgeführte Bahnstrecke vom Westende des zusammenhängenden bünden-urnerischen Meterspurnetzes (FO in Brig) getrennt war. Zudem mussten seit Eröffnung der Lötschbergbahn 1913 die Reisenden aus Richtung Bern sowohl in Brig als auch in Visp umsteigen; ein Zustand, der als umständlich empfunden wurde. Zahlreiche Projekte einer meterspurigen Bahnlinie von Visp nach Brig waren bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts vorgeschlagen worden, die meisten sahen eine Weiterführung in Richtung Furka oder Grimsel vor, realisiert wurde aber schliesslich nur die spätere Furka-Oberalp-Bahn mit Ausgangspunkt in Brig. 1919 reichte der Hotelier Alexander Seiler ein Konzessionsgesuch für eine meterspurige Strassenbahn von Visp nach Brig ein, welche der Erschliessung der zwischen den beiden Ortschaften gelegenen kleineren Siedlungen dienen sollte. Das Projekt wurde eingestellt, nachdem die SBB erklärten, an ihrer Normalspurstrecke zwei Haltepunkte einzurichten. Da die SBB der Ankündigung nicht nachkamen, wurde der Konzessionsantrag 1925 erneut eingereicht. Kurz darauf übernahm ein aus der VZ, der FO und den Visper Lonza-Werken bestehendes Komitee das Projekt. Unter der Leitung der VZ wurde es in eine parallel zur SBB-Strecke verlaufende Verbindungsbahn umgewandelt, die keine Zwischenhaltestellen mehr aufweisen und allein der Verknüpfung von VZ und FO dienen sollte. 1928 stellte das Komitee einen entsprechend abgewandelten Konzessionsantrag, der unter der Massgabe, eine Zwischenhaltestelle einzurichten, am 28. September 1928 genehmigt wurde. Der durchgehende Betrieb von Brig nach Zermatt konnte schliesslich am 5. Juni 1930 aufgenommen werden. Kurioserweise führte dies nicht unmittelbar zu einer Namensänderung der Visp-Zermatt-Bahn. Erst zum 1. Juni 1962 wurde der Name auf Compagnie du Chemin de Fer de Brigue–Viège–Zermatt (Brig-Visp-Zermatt-Bahn) geändert. Die drei nun gleismässig verbundenen Schmalspurbahnen Visp-Zermatt-Bahn, Furka-Oberalp-Bahn und Rhätische Bahn nutzten die Verbindung zur Einrichtung eines durchgehenden Schnellzuges von St. Moritz nach Zermatt. Am 25. Juni 1930 verliess erstmals der inzwischen weltweit bekannte Glacier-Express den Bahnhof von Zermatt. Elektrifizierung Unter dem Eindruck der während des Ersten Weltkrieges enorm gestiegenen Kohlepreise diskutierte man bald nach Kriegsende eine Elektrifizierung der Bahn, um von teuer importierter Kohle unabhängig zu werden. Eine 1919 in Auftrag gegebene Studie empfahl die Verwendung von Gleichstrom mit einer Spannung von 1500 bis 3000 Volt. Um Kosten zu sparen, sollten Teile der Dampflokomotiven für den Bau von Elloks verwendet werden, zeitweise erwog man die Beschaffung von Triebwagen. Da in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Preise für Kupfer und die erforderlichen elektrischen Anlagen noch immer extrem hoch waren, musste der Plan mit Rücksicht auf die nach wie vor angeschlagene Finanzlage der VZ aufgegeben werden. Erst 1927 kamen erneut Pläne für die Umstellung auf elektrischen Betrieb auf. Nun sollte jedoch hochgespannter Wechselstrom mit einer Frequenz von  Hz verwendet werden. Dies bot unter anderem den Vorteil, lediglich einen Einspeisungspunkt bei Visp installieren zu müssen, was die Kosten für elektrische Anlagen gegenüber den ursprünglichen Plänen drastisch reduzierte. Erwägungen, das Stromsystem der SBB mit 15'000 Volt unverändert zu übernehmen, mussten schnell fallen gelassen werden. Insbesondere die Rhätische Bahn, die seit 1913 auf der Engadiner Linie elektrischen Betrieb mit 11'000 Volt Wechselstrom erfolgreich durchführte, betonte die Vorteile einer geringeren Spannung. So konnte man im Engadin Lokomotiven mit luftgekühlten Transformatoren verwenden, während solche für 15'000 Volt eine schwere Ölkühlung erforderlich machten, die das Gewicht der Lokomotiven erheblich erhöhen würde. Zudem sei bei der Verwendung eines einheitlichen Stromsystems im Falle einer Elektrifizierung der Furka-Oberalp-Bahn ein problemloser durchgehender Betrieb möglich. Dies führte zur Entscheidung, auch auf der Visp-Zermatt-Bahn eine Spannung von 11'000 Volt zu verwenden. Für die Elektrifizierung der Bahnanlagen und die Beschaffung von Elektrolokomotiven wurde ein Budget von 1,7 Mio. Franken aufgestellt. Die Energieversorgung übertrug man den SBB, die sich vertraglich verpflichteten, in Visp Wechselstrom mit einer Spannung von 15'000 Volt bereitzustellen. Dieser wurde dort auf die benötigte Spannung heruntertransformiert. Für die Beförderung der Züge wurden fünf Elektrolokomotiven des Typs HGe 4/4 bei SLM, SIG und MFO beschafft. Ab dem 1. Oktober 1929 konnten schliesslich alle fahrplanmässigen Züge elektrisch befördert werden. Von den insgesamt acht vorhandenen Dampfloks des Typs HG 2/3 konnten die fünf ältesten Exemplare ausgemustert werden, der Rest blieb als Reserve und für die Schneeräumung weiter im Dienst. Aufnahme des Winterbetriebs Bereits 1907 kamen seitens der Talbevölkerung und der Zermatter Hoteliers Forderungen auf, die Visp-Zermatt-Bahn auch im Winter zu betreiben. SBB und VZ lehnten dies jedoch aufgrund der daraus resultierenden hohen Kosten und daher mangelnden Rentabilität ab. Auch die Unfallgefahr durch Lawinen und Hochwasser betrachtete man als unkalkulierbares Risiko. Zudem bestand seitens der VZ lange Zeit die Ansicht, dass Zermatt als Wintersportort ohnehin nicht geeignet sei. Der Walliser Staatsrat, der dem Winterbetrieb positiv gegenüberstand, prüfte daher die Möglichkeit, die Betriebspflicht der VZ zumindest für den Streckenabschnitt von Visp nach St. Niklaus auf die Wintermonate auszudehnen. Da der Konzessionstext im Bezug auf die Betriebszeit jedoch eindeutig formuliert war und eine Konzessionsänderung gegen den Willen des Inhabers in Ermangelung eines Präzedenzfalles nicht durchführbar erschien, unterblieben weitere Anstrengungen bis 1914. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde die Forderung nach durchgehendem Betrieb vorerst obsolet. Weitere Bestrebungen zum durchgehenden Betrieb nahm man erst Mitte der 1920er-Jahre auf. Zermatter Hotels blieben im Winter 1927/28 erstmals durchgehend geöffnet. Die VZ hatte zwischenzeitlich die Bedeutung Zermatts für den Wintersport erkannt und zeigte sich kooperativer. Am 30. Oktober 1928 nahm sie erstmals den fahrplanmässigen Winterbetrieb bis St. Niklaus auf. Im folgenden Winter verkehrte erstmals ein Zugpaar pro Tag bis Zermatt, sofern die Witterungsverhältnisse einen Betrieb zuliessen. Diese Betriebsweise konnte bis Ende 1930 beibehalten werden, im Januar und Februar 1931 machten zahlreiche Lawinen einen regelmässigen Betrieb jedoch unmöglich. Es wurde deutlich, dass ein geregelter Winterbetrieb ohne Schutzbauten nicht durchführbar wäre, woraufhin es 1932 zum Abschluss eines Vertrags zwischen dem Kanton Wallis und der VZ kam. Dieser sah den durchgehenden Winterbetrieb der VZ vor, im Gegenzug verpflichtete sich der Kanton, die Errichtung von Schutzbauten zu 50 % zu subventionieren. Diese wurden im Herbst 1933 planmässig fertiggestellt, im folgenden Winter konnte so erstmals ein durchgehender Winterbetrieb auf der gesamten Strecke angeboten werden. Zweiter Weltkrieg, Nachkriegszeit und Aufschwung Der Kriegsausbruch 1939 hatte weit weniger dramatische Auswirkungen auf den Bahnverkehr, als es noch 1914 der Fall gewesen war. Zwar blieben auch diesmal die ausländischen Touristen dem Mattertal fern, jedoch stellten Schweizer Ausflügler, die sich dank der zuvor eingeführten Erwerbsersatzordnung auch während des Krieges Reisen leisten konnten, sowie Militärtransporte die Auslastung der Kapazitäten sicher. Dank der Elektrifizierung hatten auch die erneut stark gestiegenen Kohlepreise keine Auswirkungen mehr auf den Bahnbetrieb. Während der Kriegsjahre stiegen die Fahrgastzahlen kontinuierlich an und erreichten 1945 mit 265’473 beförderten Personen einen neuen Höhepunkt. Nach Kriegsende stiegen die Fahrgastzahlen weiter stark an. 1961 überschritten die Passagierzahlen erstmals die Millionengrenze, brachen 1963 wegen einer Typhus-Epidemie in Zermatt jedoch kurzfristig wieder ein. Auch der Güterverkehr stieg insbesondere durch Kraftwerksbauten im Saastal und bei Zermatt massiv an. Die VZ nutzte den Aufschwung zur sukzessiven Modernisierung des Bahnbetriebs: Zwischen 1958 und 1989 wurden mit Ausnahme der Kipfenbrücke, die nach der Zerstörung durch eine Lawine 1947 als Stahlbrücke neu errichtet worden war, alle grösseren Brücken durch Stahlbetonkonstruktionen ersetzt, was eine Erhöhung der Achslast erlaubte. Das Rollmaterial wurde ebenso erneuert. Die grösstenteils noch aus der Dampflokzeit stammenden Personenwagen mit offenen Plattformen ersetzte man zwischen 1955 und 1963 durch moderne in Leichtstahlbauweise gefertigte Personenwagen mit Mitteleinstieg. Die Lokomotiven aus der Zeit der Elektrifizierung wurden zwischen 1960 und 1965 durch fünf Personentriebwagen ergänzt. Zur Erhöhung der Sicherheit installierte man zwischen 1965 und 1966 auf der gesamten Strecke ein von Brig aus ferngesteuertes Streckenblocksystem. Die Lawinenschutzbauten an der gesamten Strecke wurden ebenso kontinuierlich erweitert. Die Verwüstung des Bahnhofes von Zermatt am 4. Januar 1966 gab den Anlass, den gesamten Bahnhof grundlegend umzubauen und lawinensicher zu überdachen. Noch im selben Jahr wurde im nördlichen Teil eine Lawinengalerie errichtet. Die Bauarbeiten an einer lawinensicheren Überdachung der Bahnsteige begannen 1982 und endeten 1989. Die Öffnung der Talstrasse bis Täsch 1971 resultierte in einem neuen Schwerpunkt des Passagieraufkommens. Zahlreiche Touristen fahren seither mit dem eigenen Auto bis Täsch, wo sie auf die Züge der BVZ umsteigen müssen, da die Strasse nach Zermatt bis heute für den Autoverkehr geschlossen ist und nur mit Sondergenehmigung befahren werden darf. Zur Bewältigung des zusätzlichen Passagieraufkommens richtete man ab Mai 1972 einen Pendelverkehr zwischen Täsch und Zermatt ein. Dieser befördert seitdem rund zwei Drittel aller in Zermatt eintreffenden Fahrgäste. Mit der Inbetriebnahme von vier Gepäcktriebwagen Deh 4/4 1975 und 1976 und dazu passenden Steuerwagen konnten auf dieser wichtigen Verbindung erstmals Pendelzüge eingesetzt werden, auch die Züge auf der Gesamtstrecke von Brig nach Zermatt wurden seitdem in zunehmender Zahl als Pendelzug geführt. Weitere Modernisierung und Fusion mit der FO Die 1980er-Jahre waren durch weiter zunehmende Fahrgastzahlen geprägt. Insbesondere der anhaltende Erfolg des seit 1982 ganzjährig verkehrenden Glacier-Express, dessen Fahrgastzahlen von rund 20'000 im Jahr 1982 auf 269'830 im Jahr 2005 anstiegen, trug zur Auslastung der Bahnlinie und der Bekanntheit Zermatts bei. Zur Bewältigung des gestiegenen Verkehrsaufkommens baute man den Bahnhof von Zermatt zwischen 1982 und 1989 grundlegend um. Sämtliche Bahnsteiggleise erhielten eine lawinensichere Überdachung, die Westseite der Gleisanlagen wird seitdem durch eine 300 Meter lange massive Lawinenmauer begrenzt. Das Bahnhofsgebäude aus dem Eröffnungsjahr wurde abgerissen und durch einen grösseren Neubau ersetzt. Als zweite grössere Baumassnahme erfolgte zwischen 1983 und 1984 die Errichtung des Depots Glisergrund bei Brig, das teilweise die beengten Depotanlagen am Bahnhof Visp ersetzte. Die Furka-Oberalp-Bahn ergänzte das Gelände bis 1998 um eine weitere Wartungshalle. Das komplette Depotgelände nimmt heute eine Fläche von rund 50'000 m² ein. Der Bergsturz von Randa Die grösste Katastrophe in der Geschichte der BVZ ereignete sich im Jubiläumsjahr 1991. Am 18. April um 6:45 Uhr lösten sich aus der Wartfluh nordwestlich von Randa rund 15 Millionen Kubikmeter Fels und verschütteten die Matter Vispa, Teile des Weilers Lerch sowie 100 Meter des Bahntrassees. Es kamen keine Personen zu Schaden, da der Weiler Lerch unbewohnt war und sich zum Zeitpunkt des Bergsturzes kein Zug im betroffenen Streckenabschnitt aufhielt. Ein nach Zermatt fahrender Güterzug blieb jedoch wenige hundert Meter nördlich der Unglücksstelle liegen, nachdem der Fahrstrom wegen der Schäden an der Fahrleitung und des daraus resultierenden Kurzschlusses ausgefallen war. Der Personen- und Güterverkehr wurde kurzfristig auf die unversehrt gebliebene Strasse verlegt. Zwischen Herbriggen und Randa verkehrten Busse als Schienenersatzverkehr, zwischen Randa und Zermatt fuhren die Züge im Pendelverkehr. Ab dem 22. April waren wieder durchgehende Güterzuge möglich, für die von der Furka-Oberalp-Bahn eine Diesellok des Typs HGm 4/4 angemietet wurde. Der Personenverkehr blieb vorerst eingestellt, da weitere Bergstürze nicht ausgeschlossen werden konnten. Am 9. Mai stürzten erneut grosse Felsmassen ins Tal, die das Bahntrassee auf 250 Metern verschütteten und auch die Talstrasse unpassierbar machten. Zudem staute der Schuttkegel die Matter Vispa auf, wodurch der untere Dorfteil langsam überschwemmt wurde. Nach heftigen Niederschlägen stand am 18. Juni 1991 auch der Bahnhof unter Wasser. Sofort begann die Planung einer neuen Streckenführung für Schiene und Strasse, die das Katastrophengebiet umgehen sollte. Das neue, insgesamt 2860 m lange Bahntrassee konnte am 1. August 1991 eröffnet werden. Ein schweres Gewitter am 8. August führte jedoch zur Verstopfung des neu ausgehobenen Flussbettes der Matter Vispa durch angespültes Geschiebe, was eine zweite Überschwemmung des Bahnhofs zur Folge hatte. Nachdem das Wasser in ausreichendem Masse abgeflossen war, konnte der Bahnbetrieb am 10. August wieder aufgenommen werden. Der Gesamtschaden an den Bahnanlagen betrug 16,5 Mio. Franken, wovon 13,59 Mio. durch die Naturschadenhilfe nach dem Eisenbahngesetz des Bundes gedeckt werden konnten. Die ursprünglich für den Juli 1991 vorgesehenen Jubiläumsfeiern mussten wegen der Streckenunterbrechung in den Oktober verschoben werden. Gleichzeitig erfolgte die Umbenennung der Brig-Visp-Zermatt-Bahn in BVZ Zermatt-Bahn, um stärker auf den wichtigsten Ort an der Strecke hinzuweisen. Wandel zur Matterhorn-Gotthard-Bahn Zum 1. Januar 2003 fusionierte die BVZ mit der benachbarten Furka-Oberalp-Bahn zur Matterhorn-Gotthard-Bahn. Gleichzeitig erfolgte die Aufspaltung in die Geschäftsbereiche Matterhorn Gotthard Verkehrs AG (Personenbeförderungskonzession, Rollmaterial, Wartung, Strassenverkehr), Matterhorn Gotthard Infrastruktur AG (Infrastrukturkonzession, Trassee, Gebäude) sowie der Matterhorn Gotthard Bahn AG als für Management und Personal verantwortliche Konzernleitung. Alle Konzerngesellschaften gehören der aus der BVZ hervorgegangenen BVZ Holding sowie dem Bund und den Kantonen Wallis, Uri und Graubünden. Die Fusion der beiden Bahnen ermöglichte die Umsetzung zahlreicher Ausbaumassnahmen. Bis Ende 2006 wurde das Pendelzugterminal in Täsch grundlegend umgebaut und die Anzahl der überdachten Parkplätze auf 1700 erhöht. Im Zusammenhang mit der Eröffnung des Lötschberg-Basistunnels erfolgt der vollständige Umbau des Bahnhofs Visp. Die Gleise der MGB sind dazu ab 2005 vom Bahnhofsvorplatz neben die bestehenden Normalspurgleise verlegt worden, um die Umsteigewege zu den Reisezügen der SBB zu minimieren. Im Jahr 2017 konnten die beiden Kreuzungsstellen Sefinot und Schwiedernen in Betrieb genommen werden. Auswirkungen des Durchgangsbahnhofs Brig Im Jahr 2007 konnte die MGB den Durchgangsbahnhof Brig dem Betrieb übergeben. Seither sind die Strecken der ehemaligen FO und der BVZ ohne Spitzkehre miteinander verbunden. Wegen der asymmetrischen Anordnung der Magnete zur Betriebsartenüberwachung für Zahnstangen- und Adhäsionsbetrieb ergab sich ein Problem. Damit die Fahrzeuge durchgehend verkehren können, hat die MGB die kürzere der beiden von Brig ausgehenden Strecken umgebaut. In der Nacht vom 1. auf den 2. Dezember 2007 verschob sie die streckenseitigen Betriebsarten-Überwachungsmagnete zwischen Visp und Zermatt auf die andere Gleisseite. Damit die Anordnung der Fahrzeug- und Gleismagnete wieder übereinstimmte, mussten die Triebfahrzeuge und Steuerwagen über die noch vorhandene Strecke via Naters gewendet werden. Wegen der Anordnung der Steuerleitungen wurden auch die Wagen gedreht. Unverändert blieb die Stellung der im Verkehr Täsch–Zermatt eingesetzten Pendelzüge mit den Triebwagen BDSeh 4/8. Bei diesen Triebzügen und den talseitig eingesetzten Steuerwagen der HGe-4/4-II- und Deh-4/4-Pendelzüge mussten die Magnete und die Steuerleitung versetzt werden. Streckenbeschreibung Brig – Visp Ausgangspunkt der Strecke nach Zermatt ist seit 1930 der Bahnhof Brig. Bis zur Fusion beider Bahnen befand sich dieser im Besitz der FO, die BVZ musste daher ein Benutzungsentgelt zahlen. Der 1915 von der damaligen Brig-Furka-Disentis-Bahn errichtete Bahnhof verfügt über drei Bahnsteiggleise und liegt auf dem Vorplatz des normalspurigen Bahnhofes von Brig, von wo Anschluss an die Züge von BLS und SBB in Richtung Lötschberg, Genfersee und Simplon besteht. Mit der Eröffnung des Lötschberg-Basistunnels steigt ein grosser Teil der Reisenden mit Ziel Zermatt und Richtung Rhonetal in Visp um. Brig ist ein Durchgangsbahnhof, der vorherige Zustand als Kopfstation wurde mit der Eröffnung einer direkten Ausfahrt nach Osten in Richtung Goms beendet. Die neue Streckenführung, die am 1. Dezember 2007 erstmals befahren wurde, ersetzte einen mit zahlreichen Bahnübergängen ausgestatteten Streckenabschnitt durch Naters. Von Seiten der Stadt Brig wird angestrebt, die Anlage auf dem Bahnhofplatz vollständig aufzuheben und die Schmalspurzüge in den Normalspurbahnhof einzuführen. Entlang der Strecke nach Visp waren früher die 2001 stillgelegten Depotanlagen der FO und eine Wagenhalle, die auch von der BVZ mitbenutzt wurde, angeordnet. Im Anschluss daran überquert das Trassee die Saltina auf einer aus dem Jahr 1930 stammenden Eisenbrücke. Hiernach verläuft die Meterspurlinie weitgehend parallel zur Rhonetalstrecke der SBB entlang des südlichen Rhoneufers. Westlich des Briger Ortsteils Glis befinden sich die zwischen 1984 und 1998 errichteten Depot Glisergrund (ex BVZ) und Werkstätte Glisergrund (ex FO), welche heute einen Grossteil des Rollmaterials der MGB beherbergen. Rund vier Kilometer westlich von Brig liegt die Ausweichstelle Gamsensand, die auch über Gütergleise für die Befüllung von Kesselwagen verfügt. Die frühere Haltestelle Gamsen lag rund 300 Meter östlich der Ausweiche, sie wurde Anfang der 1990er-Jahre aufgegeben, nachdem die dort beginnende Seilbahn nach Mund stillgelegt worden war. Bereits auf Visper Gemarkung befindet sich die nächste Haltestelle Eyholz. Sie wurde 1999 angelegt und dient hauptsächlich der Erschliessung eines nahegelegenen Einkaufszentrums. Die Strecke passiert das weitläufige Industriegelände der Lonza und erreicht nach rund neun Kilometern den Bahnhof von Visp. Der zurückgelegte Streckenabschnitt verläuft in einem leichten Gefälle, insgesamt liegen zwischen Brig und Visp rund 21 Meter Höhenunterschied. Visp – Stalden Der Meterspurbahnhof von Visp lag wie auch in Brig ursprünglich vor dem Empfangsgebäude des SBB-Bahnhofes. Südlich der beiden Bahnsteiggleise schlossen sich die umfangreichen Depot- und Werkstattanlagen der BVZ an. Für den Passagierverkehr errichtete die VZ zur Betriebsaufnahme 1890 lediglich eine hölzerne Wartehalle, da alle übrigen Einrichtungen wie Toiletten oder Wartesaal bereits im Empfangsgebäude der Jura–Simplon (bis 1889 Suisse-Occidentale–Simplon) vorhanden waren. Der grundlegende Umbau der Bahnhofsanlage begann 2006. Da abzusehen war, dass nach der Fertigstellung des Lötschberg-Basistunnels der Grossteil der Fahrgäste in Visp in die Züge nach Zermatt umsteigen würde, wurden Schmalspur- und Normalspur-Gleise näher zusammengeführt. Den Zügen der MGB stehen seither drei Perronkanten zur Verfügung. Das Schmalspur-Gleis 3 liegt unmittelbar neben dem neuen Normalspur-Gleis 4. Das Empfangsgebäude sowie das gesamte Depotareal der BVZ wurden parallel dazu abgerissen, die Instandhaltung der Schienenfahrzeuge wird seitdem ausschliesslich in der Werkstätte Glisergrund durchgeführt. Die feierliche Eröffnung des neuen Umsteigeknotens erfolgte am 16. und 17. Mai 2008. Die Ausfahrt aus dem Bahnhof erfolgt in einer engen Linkskurve, zusätzlich geht das Trassee in ein starkes Gefälle über, um die Kantonsstrasse 9 zu unterqueren. Die zwischen 1972 und 1975 errichtete Unterführung bildet zudem den tiefsten Punkt der gesamten Linie. Die Strecke verlässt nun das Rhonetal und wechselt in das bis zum Endpunkt Zermatt durchfahrene Mattertal. Das Trassee verläuft hier nur leicht ansteigend parallel zur Talstrasse auf der östlichen Talseite bis zur Ortschaft Ackersand. Der dortige Haltepunkt wird nicht mehr bedient, als Ausweichstelle ist die Station jedoch nach wie vor für den Bahnbetrieb erforderlich. Ein benachbartes Wasserkraftwerk verfügte lange Zeit über ein vom Haltepunkt abgehendes Anschlussgleis. Im unmittelbaren Anschluss überquert die Bahnlinie mittels einer 1974 errichteten Spannbetonbrücke die Vispa. Kurz darauf beginnt der erste Zahnstangenabschnitt, das Trassee führt nun mit der Maximalsteigung von 125 ‰ an der westlichen Talflanke empor und erreicht kurz darauf den Bahnhof von Stalden-Saas. Mit der neuen Kreuzungsstelle Sefinot, die sich auf dem Netz der Matterhorn-Gotthard-Bahn im Vispertal zwischen Visp und Stalden-Saas bei Bahn-Km 12.718 befindet, ist am 25. August 2017 das erste Projekt des Bahn-Ausbauschritts 2025 (AS 2025) in Betrieb genommen worden. Die Kreuzungsstelle Sefinot ermöglicht einen stabilen Halbstundentakt auf der stark frequentierten Strecke von Visp nach Zermatt und kostete rund 8 Millionen Franken. Stalden – St. Niklaus Der auf rund 800 Metern über dem Meer liegende Bahnhof von Stalden erstreckt sich s-förmig entlang des südwestlichen Ortsrandes. Der Bahnhof selbst hatte lange Zeit grosse Bedeutung als Ausgangspunkt der Postautolinien in das Saastal und erhielt daher auch ein grosszügig dimensioniertes Empfangsgebäude, das zweitgrösste an der Strecke nach jenem in Zermatt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen Pläne zum Bau einer weiteren Eisenbahnlinie nach Saas-Fee auf, die in Stalden von der bestehenden Strecke abzweigen sollte; der Erste Weltkrieg vereitelte jedoch diese Pläne. Die Bedeutung des Bahnhofes, der seit 1931 die offizielle Bezeichnung Stalden-Saas trägt, hat allerdings seit den 1950er-Jahren abgenommen, da die Postautolinien ihren Ausgangspunkt seither in Brig haben. Die Busse halten jedoch auch weiterhin am Bahnhof Stalden und stellen den Anschluss an die Züge nach Zermatt her. Unmittelbar neben den Gleisanlagen befindet sich zudem die Talstation der Luftseilbahn nach Staldenried. Die beiden Gleise sind seit 1986 durchgehend mit Zahnstangen ausgestattet, da sich unmittelbar vor und hinter der Station Steigungsstrecken anschliessen. Der bei Ackersand beginnende Zahnstangenabschnitt setzt sich hinter Stalden noch einige Hundert Meter weiter fort. Die Strecke verläuft anschliessend vergleichsweise flach weiter entlang auf der rechten Seite des sich zunehmend verengenden Tales, während die Matter Vispa rund 150 Meter tiefer durch eine enge Schlucht fliesst. Der folgende Abschnitt weist die ersten noch relativ kurzen Tunnelabschnitte, sowie die grösste Brücke an der Strecke auf. Der 67 Meter lange Mühlebachviadukt überspannt das namensgebende Gewässer in einer Höhe von 43 Metern. Die ursprüngliche Eisenfachwerkkonstruktion wurde 1959 durch eine Spannbeton-Bogenbrücke ersetzt. Bei Kilometer 19,8 wird schliesslich der Bahnhof von Kalpetran erreicht. Der eigentliche Ort besitzt nur wenige Gebäude, die wichtigste Einrichtung am Bahnhof ist die hier beginnende Luftseilbahn zum Bergdorf Embd. Hinter dem Bahnhof trifft die Bahnstrecke erneut auf die Matter Vispa und wechselt auf die linke Talseite. Die dazu errichtete Kipfenbrücke musste mehrfach erneuert werden: Die ursprüngliche 30 Meter lange Eisen-Fachwerkkonstruktion wurde 1945 durch eine Lawine zerstört. Ein daraufhin eingebautes Provisorium wurde 1947 durch eine stählerne Fischbauchträgerbrücke ersetzt, die ihrerseits 1999 erneut durch eine Lawine zerstört wurde. Ein als Ersatz eingebauter Stahlträger wurde im Herbst 2007 durch eine weiter flussabwärts errichtete 146 Meter lange Betonbrücke ersetzt, die auch die Strasse nach Kalpetran aufnimmt. Mit der Eröffnung der insgesamt 1,2 km langen Neubaustrecke wurden zudem die letzten auf offener Strecke vorhandenen Gleisbögen mit 80 Metern Kurvenradius beseitigt. Wenige Meter hinter der Kipfenbrücke beginnt der zweite Zahnstangenabschnitt. Die folgende Streckenführung durch die Kipfenschlucht gilt als landschaftlich reizvollster Abschnitt der gesamten Strecke. Bahnlinie und Matter Vispa verlaufen hier auf engstem Raum unmittelbar nebeneinander. Der gesamte Streckenabschnitt wurde mehrfach durch Hochwasser und Lawinen teils erheblich beschädigt. Zur Vermeidung weiterer Schäden wurde die Matter Vispa daher seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend reguliert und das Bahntrassee durch massives Mauerwerk geschützt. Inmitten der Schlucht richtete man 1999 die vollautomatische Kreuzungsstelle Kipferwald ein. Das obere Ende der Kipfenschlucht markiert die Sellibrücke, auf der die Matter Vispa zum dritten Mal überquert wird. Kurz darauf endet die Zahnstange, und das Trassee führt entlang der rechten Seite des sich erweiternden Tals zum 1126 Meter über dem Meer gelegenen St. Niklaus. Seit Stalden wurden insgesamt 327 Höhenmeter überwunden. St. Niklaus – Randa – Täsch Der Bahnhof St. Niklaus erstreckt sich entlang des westlichen Ortsrandes und verfügt über zwei Bahnsteiggleise sowie ein Nebengleis mit Laderampe. Das Bahnhofsgebäude entspricht einem standardisierten Typ, der in ähnlicher Form auch in Täsch vorhanden war. Der Bahnhof ist Ausgangspunkt der Postautolinie zum Ferienort Grächen, der sich über der rechten Talseite auf einem Hochplateau erstreckt und über eine serpentinenreiche Strasse mit dem Tal verbunden ist. Kurz hinter dem Bahnhof beginnt der nächste Zahnstangenabschnitt. Dieser führt hinauf zum Blattbachtunnel, einem 1931 errichteten 130 Meter langen Lawinenschutzbauwerk. Die ursprünglich an dieser Stelle vorhandene offene Streckenführung musste aufgegeben werden, da die Eisenbahnbrücke über den Blattbach seit ihrem Bau mehrfach von Lawinen und Hochwasser zerstört worden war. Zur Umgehung des problematischen Streckenteils wurde daher in offener Bauweise das Tunnelgewölbe erstellt und anschliessend mit Erde überdeckt. Gleichzeitig konnte so auch die Ausfahrt des dritten Zahnstangenabschnitts vor Witterungseinflüssen geschützt werden. Die Bahnlinie wechselt im Anschluss daran erneut die Talseite und passiert das Ausgleichsbecken eines bei Herbriggen befindlichen Wasserkraftwerks. Die in unmittelbarer Nähe dazu gelegene Kreuzungsstation Mattsand wurde für den Kraftwerksbau 1956 errichtet und wird seit 1964 für Zugkreuzungen verwendet. Der nahegelegene Bahnhof von Herbriggen weist neben zwei Bahnsteiggleisen auch ein Anschlussgleis für ein Unterwerk des Kraftwerks auf. Das ursprüngliche Stationsgebäude existiert nicht mehr, es wurde 1966 durch einen Neubau ersetzt. Der folgende Streckenabschnitt nach Randa wird vor allem durch den Bergsturz von 1991 geprägt, der das bestehende Trassee auf 250 Metern verschüttete und umfangreiche Streckenneubauten erforderlich machte. Hinter Herbriggen folgt die Strecke zunächst weiter dem Verlauf der Matter Vispa in Talmitte. Kurz vor dem Schuttkegel beschreibt die Trassee jedoch eine scharfe Linkskurve und verläuft gemeinsam mit der Talstrasse am äussersten Rand des Talbodens, um das durch weitere Bergstürze bedrohte Gelände möglichst weiträumig zu umfahren. Südlich des Schuttkegels geht das Trassee in ein Gefälle mit 120 ‰ Neigung über und erreicht wieder die ursprüngliche Streckenführung entlang der Matter Vispa. Die gesamte Umfahrungsstrecke ist mit Zahnstangen ausgestattet. Hier befindet sich seit 1991 auch das einzige Gefälle in Fahrtrichtung Zermatt, das Zahnstangen erforderlich macht. Die Bahnstrecke verläuft bei Randa entlang des westlichen Ortsrandes. Der Bahnhof weist zwei Bahnsteiggleise und ein Gütergleis auf, das Bahnhofsgebäude stammt noch aus dem Eröffnungsjahr 1891 und wurde bis heute nur geringfügig umgebaut. Südlich von Randa durchquert die Strecke den Weiler Wildi, wo sich von 1960 bis 1966 ein Ladegleis für den Kraftwerksbau der Grande Dixence befand. Im Anschluss trifft sie wieder auf die Matter Vispa und verläuft auf der weiteren Route nach Täsch unmittelbar parallel zu dieser entlang des Talgrundes. Bahnhof Täsch Der Bahnhof von Täsch hat seit den 1970er-Jahren eine besondere Bedeutung als Endpunkt der von Kraftfahrzeugen befahrbaren Talstrasse. Ursprünglich ein einfacher zweigleisiger Kreuzungsbahnhof, wurde das Gelände 1975 durch ein separates Bahnsteiggleis für Pendelzüge nach Zermatt erweitert. Das Bahnhofsgebäude von 1891 erhielt gleichzeitig einen modernen Anbau, der die Billettschalter beherbergte, während die Wiesen um den Bahnhof in Parkplätze umgewandelt wurden. Ab 2005 baute man die gesamte Bahnhofsanlage grundlegend um; es entstand unter der Bezeichnung Matterhorn Terminal Täsch ein dreistöckiges Parkhaus mit 2000 Autostellplätzen, das auch die Billettschalter beinhaltet. Das bisherige Bahnhofsgebäude und der Pendelzugbahnsteig wurden dabei abgerissen. Die neue Bahnhofsanlage weist zwei Gleise für den durchgehenden Verkehr und eine zweigleisige Bahnsteighalle für die Pendelzüge auf. Östlich davon schliesst sich ein überdachter Parkplatz für Reisebusse an. Täsch – Zermatt Hinter Täsch folgt die Bahnlinie zunächst weiter dem Verlauf der Matter Vispa. Unmittelbar vor der 1964 aus Beton neu errichteten Täschsandbrücke, über die das Trassee zum letzten Mal auf die rechte Talseite wechselt, wird die gleichnamige Kreuzungsstelle passiert, welche im Sommer 2007 zur Steigerung der Streckenkapazität eingerichtet wurde. Im Anschluss beginnt der fünfte und letzte Zahnstangenabschnitt, um die finalen Höhenmeter bis Zermatt zu bewältigen. Während der Fluss zunehmend in einer Schlucht verschwindet, verläuft die Strecke entlang des rechten Talhanges. Zwischen Täsch und Zermatt ist der Grossteil des Trassees durch Galerien vor Lawinen geschützt, von 5612 Metern Strecke sind 2221 Meter durch Verbauungen und Tunnel überdacht. Etwa auf halber Strecke befindet sich die 1972 parallel zur Eröffnung des Pendelzugverkehrs in Betrieb genommene Kreuzungsstelle Kalter Boden, hier endet auch der letzte Zahnstangenabschnitt. Fast alle Züge müssen wegen der starken Auslastung des Streckenabschnittes hier die Kreuzung mit einem Gegenzug abwarten. Nach rund zwei Kilometern erreicht die Strecke schliesslich den nördlichen Ortsrand von Zermatt. Hier befindet sich ein Ladegleis für Beton und andere Baumaterialien, das der Versorgung des Zermatter Bauhofes dient. Der anschliessende kurze Spissfluhtunnel unterquert den Heliport der Air Zermatt, kurz darauf erreicht die Bahnlinie den Bahnhof von Zermatt. Bahnhof Zermatt Das Erscheinungsbild des Bahnhofs von Zermatt ist durch die Umbauten der 1980er-Jahre geprägt. Um Passagiere und Rollmaterial vor Lawinen zu schützen, wurde bis 1989 eine massive Überdachung aus Beton errichtet, die die insgesamt sechs Gleise des Bahnhofes überspannt. Das am Westrand des Bahnhofes gelegene Gleis 1 verfügt über eine Untersuchungsgrube und ist nicht öffentlich zugänglich, hier werden vor allem die Pendelzüge gewartet. Gleis 2 wurde für den Pendelverkehr nach Täsch eingerichtet und verfügt nach dem Prinzip der Spanischen Lösung an beiden Seiten über Bahnsteige, um einen schnellen Fahrgastwechsel zu ermöglichen. Die Gleise 3 bis 5 dienen dem regulären Zugverkehr nach Brig und verfügen über je einen Bahnsteig. Gleis 6 ist hauptsächlich für den Stückgutverkehr vorgesehen und endet an der Gepäckhalle des Bahnhofsgebäudes. Es ist kürzer als die übrigen Gleise, verfügt jedoch auch über einen gemeinsamen Bahnsteig mit Gleis 5. Das heutige Bahnhofsgebäude wurde zu Anfang der 1990er-Jahre im regionalen Holzbaustil errichtet. Es erinnert in seinen Proportionen an das ehemalige Bahnhofsgebäude von 1891 und ist in drei Bereiche gegliedert. Der südliche Teil umfasst unter anderem das Bahnhofsrestaurant, während im mittleren Gebäudeteil die Billettschalter und Gepäckausgabe angeordnet sind. Nördlich schliesst sich die in Betonbauweise errichtete Gepäckhalle an. Der Bahnhof der Gornergratbahn befindet sich auf der gegenüberliegenden Strassenseite, er verfügt über ein Verbindungsgleis zum Bahnhof der MGB, um Gütertransporte und Fahrzeugüberführungen abwickeln zu können. Nördlich der Bahnhofshalle befinden sich umfangreiche Gleisanlagen, die hauptsächlich für den Güterverkehr und zum Abstellen von Fahrzeugen genutzt werden. Die Bahnhofseinfahrt wurde nach der Lawine von 1966 mit einer massiven Lawinengalerie überbaut. Die sogenannte Schafgrabengalerie ist zweigleisig angelegt und ermöglicht auch das sichere Abstellen von Fahrzeugen. Östlich daran schliessen sich offene Abstellgleise an, die wegen der skizzierten Gefährdung im Winter nur eingeschränkt benutzt werden können. Fahrplan Der Fahrplan 2007 sah 15 tägliche Zugpaare zwischen Brig und Zermatt vor. Mit Ausnahme der Züge am frühen Morgen und am späten Abend wurde in beiden Richtungen ein Stundentakt angeboten, die Züge hielten an allen Bahnhöfen. Nach der Inbetriebnahme des Lötschberg-Basistunnels im Dezember 2007 wurde Visp zum Hauptumsteigepunkt aus allen Richtungen. Der Fahrplan wurde verdichtet und am Abend ausgebaut; an Wintersamstagen gibt es einen fast durchgehenden Halbstundentakt im Abschnitt Visp–Zermatt. Die Fahrzeit beträgt hier 63 bis 69 Minuten. Während der Hochsaison von Mai bis Oktober verkehren zusätzlich zum normalen Zugsangebot vier Glacier-Express-Züge, die lediglich in Zermatt, Visp und Brig, teils auch in St. Niklaus, halten, in der Wintersaison ist es ein tägliches Zugspaar. Seit dem 14. Dezember 2014 besteht zwischen Zermatt und Brig (und weiter bis Fiesch) zwischen 7.30 Uhr und 20 Uhr ein Halbstundentakt. Pendelzüge mit Abteilen für Gepäcktrolleys verkehren zwischen Täsch und Zermatt zwischen 6 Uhr und 1 Uhr, bis 22 Uhr in einem 20-Minuten-Takt. Freitags bis sonntags herrscht durchgehender Betrieb. Güterverkehr Ungewöhnlich für eine Schmalspurbahn ist der bis heute sehr intensive Güterverkehr. Dieser beschränkt sich jedoch auf die Versorgung Zermatts, das nach wie vor von Lastwagen nur beschränkt angefahren werden kann. Da die restlichen Gemeinden des Mattertals über die Talstrasse mit Lastwagen versorgt werden können, spielt der Bahnverkehr für sie keine Rolle. Die einzige grössere Ausnahme war lange Zeit der Transport der sogenannten Embder Steinplatten, die in der Region als traditionelles Material zum Decken von Dächern verwendet werden. Diese gelangten über Materialseilbahnen von den Steinbrüchen bei Embd zu zwei Ladegleisen in der Kipfenschlucht, von wo sie per Bahn nach Visp weitertransportiert wurden. Die wichtigsten Transportgüter nach Zermatt sind Lebensmittel, Baumaterialien und Heizöl, aber auch Kerosin für die Air Zermatt. Auch andere Konsumgüter werden per Bahn transportiert, ebenso Touristengepäck. Umladeanlagen existieren am Bahnhof Visp, wo Container von Lastwagen und normalspurigen Güterwagen auf schmalspurige Transportwagen umgeladen werden. Im Gamsensand, zwischen Visp und Brig, befinden sich Anlagen zum Befüllen von Kesselwagen. Der Bahnhof von Zermatt verfügt seit 1983 über teilweise unterirdische Anlagen zum Umschlag von Mineralölprodukten, die Entladestelle für Düsenkraftstoff befindet sich talwärts auf Höhe der Helikopterbasis. Der Grossteil des Güteraufkommens wird in standardisierten Containern transportiert, für die vier- und zweiachsige Tragwagen vorhanden sind. Nicht in Containern transportierte Fracht wird in Visp in Schiebewandwagen umgeladen und in Zermatt mittels Elektrofahrzeugen dem Empfänger zugestellt. Für nicht nässeempfindliche Güter sind mehrere offene Güterwagen verschiedener Typen vorhanden. Der Öltransport erfolgt in vier- oder zweiachsigen Kesselwagen. Klassische gedeckte Güterwagen spielen im normalen Betrieb keine Rolle mehr. Während der Hochsaison verkehren in beiden Richtungen bis zu drei reine Güterzüge pro Tag, hinzu kommen weitere an Reisezüge angehängte Güterwagen. Ein Teil der Güterwagen ist für den Verkehr auf der Gornergratbahn geeignet. Mittels zweier spezieller Triebwagen des Typs Bhe 4/4 können so Güter ohne Umladen bis auf den Gornergrat befördert werden. Rollmaterial Lokomotiven und Triebwagen Die Grundlage des Betriebs bildeten vier 1890 in Betrieb genommene Dampflokomotiven des Typs HG 2/3. Zwischen 1893 und 1908 kamen vier weitere Maschinen hinzu. Mit der Elektrifizierung der Strecke 1929 konnten die fünf ältesten Exemplare ausgemustert werden, während drei Lokomotiven als Reserve vorerst erhalten blieben. Nach 1941 verblieb lediglich die Lok Nr. 7 als fahrdrahtunabhängige Reserve im Bestand, heute kommt sie als Museumslok zum Einsatz. Für den elektrischen Betrieb wurden 1929 und 1930 insgesamt fünf vierachsige Elektrolokomotiven HGe 4/4 I beschafft, 1939 kam eine sechste Lokomotive mit neu gestalteten Aufbauten hinzu. Die sechs Maschinen wurden 1960 und 1965 durch insgesamt fünf Doppeltriebwagen der Typen ABDeh 6/6 und ABDeh 8/8 ergänzt. 1975 und 1976 trafen vier schwere Gepäcktriebwagen des Typs Deh 4/4 im Mattertal ein. Die Inbetriebnahme von fünf modernen Elektrolokomotiven des Typs HGe 4/4 II 1990 ermöglichte die schrittweise Ausrangierung der veralteten HGe 4/4 I, lediglich die Loks Nr. 15 und 16 bleiben als Museumsfahrzeuge und Reserve erhalten. Eine weitere Modernisierung erfolgt seit 2003 mit der Beschaffung von Niederflur-Gelenktriebwagen der Firma Stadler. Die ersten vier Triebwagen BDSeh 4/8 verkehren seit 2003 bzw. 2005 im Pendelverkehr zwischen Täsch und Zermatt. Fünf weitere Exemplare, eingerichtet für den Verkehr Visp–Zermatt, sind 2007/08 in Betrieb genommen worden; zwei davon als dreiteilige ABDeh 4/8, drei als vierteilige ABDeh 4/10. Personenwagen Die Visp-Zermatt-Bahn beschaffte von Anfang an ausschliesslich vierachsige Personenwagen aller drei Klassen, die durch die Schweizerische Industrie-Gesellschaft (SIG) gefertigt wurden. Modernisierungen erfolgten teilweise noch vor dem Ersten Weltkrieg durch den Aufbau neuer Wagenkästen. Für den Einsatz im Glacier-Express beschaffte die VZ 1931 die ersten beiden Personenwagen mit geschlossenen Plattformen. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte eine umfassende Modernisierung ein. Insgesamt 26 Personenwagen mit Mitteleinstieg in Leichtmetallbauweise wurden zwischen 1955 und 1963 in Betrieb genommen. Sie stellen eine verkürzte Variante eines ursprünglich auf der Brünigbahn eingesetzten Wagentyps dar, 1990 wurden sie durch von der Brünigbahn gebraucht erworbene Wagen des Ursprungstyps ergänzt. Zwischen 1968 und 1975 folgte eine weitere Kapazitätserweiterung durch die Beschaffung von sogenannten Einheitswagen, auch hier wählte man einen zuvor von der Brünigbahn beschafften Wagentyp. In Kombination mit den vier zwischen 1975 und 1976 beschafften Gepäcktriebwagen und dazu kompatiblen Steuerwagen konnte so erstmals ein Pendelzugbetrieb angeboten werden. Die jüngste Innovation stellen die 1993 gemeinsam mit der Furka-Oberalp-Bahn beschafften Panoramawagen dar, die hauptsächlich im Glacier-Express zum Einsatz kommen. Nach der Fusion zur Matterhorn-Gotthard-Bahn wurde das Konzept weiter ausgebaut und in Kooperation mit der Rhätischen Bahn auf die Saison 2006 hin insgesamt 24 weitere Panoramawagen beschafft. Farbgebung Die Dampflokomotiven waren ursprünglich schwarz gestrichen. Die Museumslokomotive HG 2/3 Nr. 7 trägt seit Ende der 1980er-Jahre einen grün-schwarzen Anstrich. Die Personenwagen, Elektrolokomotiven und Triebwagen waren anfangs einfarbig in einem dunklen Rotton gestrichen, der im Laufe der Zeit schrittweise aufgehellt wurde. Seit 1982 war zusätzlich ein längs unterhalb der Fenster verlaufender schmaler Silberstreifen üblich. Im Jubiläumsjahr 1991 gab sich das Unternehmen ein neues Logo, das nach und nach auf den Fahrzeugen angebracht wurde, auf den Reisezugwagen innert etwa fünf Jahren, auf den HGe 4/4″ aber erst 1999/2000. Nach der Umwandlung zur Matterhorn Gotthard Bahn wurde bei Personenwagen und Personentriebwagen die Seitenwand unterhalb der Fenster weiss bedeckt. Die Lokomotiven und Gepäcktriebwagen sind seither einheitlich rot gestrichen. Beim Neuanstrich von Fahrzeugen wird bei gleicher Farbaufteilung das etwas hellere MGB-Rot verwendet. Eine einheitliche Farbgebung für Güterwagen existiert nicht. Hölzerne Fahrzeugteile sind jedoch in der Regel dunkelbraun lackiert, während Komponenten aus rostfreien Leichtmetallen unlackiert bleiben. Kesselwagen erhalten eine dunkelgraue Lackierung des Kessels. Die glatten Seitenflächen moderner Schiebewandwagen werden häufig für Werbeaufschriften genutzt. Liste der Triebfahrzeuge Literatur Wolfgang Finke: Die Fahrzeuge der Zermattbahnen in über 1100 Fahrzeugzeichnungen (Ein Buch auf DVD). Verlag tram-tv, Köln 2010, ISBN 978-3-9813669-0-7 Jutta Giese, Carl Asmus: Eisenbahnen am Matterhorn. Über 100 Jahre Brig-Visp-Zermatt. In: Eisenbahn-Journal, Special 2/91, Merker-Verlag, Fürstenfeldbruck 1991, ISBN 3-922404-18-9 Beat Moser, Urs Jossi: Matterhorn Gotthard Bahn (Teil 1). In: Eisenbahn-Journal, Special 1/2006, Verlagsgruppe Bahn, Fürstenfeldbruck 2006, ISBN 3-89610-157-9 Remo Perren, Luzius Theler, Thomas Andermatten (Fotos); Brig-Visp-Zermatt-Bahn (Hrsg.): Zermatt-Bahn. Vom Tal zum Berg. Rotten-Verlag, Visp 1991. Theo Stolz, Dieter Schopfer: Brig-Visp-Zermatt. Geschichte und Rollmaterial. Theo Stolz, Wabern 1983, ISBN 3-907976-00-2 Bernard Truffer (Hrsg.): Der Bergsturz von Randa 1991. Eine Dokumentation. 2. Auflage. In: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft Oberwallis, Band 2. Naturforschende Gesellschaft Oberwallis, Brig 1999. Brig-Visp-Zermatt-Bahn (Hrsg.): 75 Jahre Brig-Visp-Zermatt-Bahn. 3. Auflage. Imprimerie Vaudoise, Lausanne 1979. Ilona Eckert und Autorenkollektiv: 100 Jahre Brig-Visp-Zermatt-Bahn. Abenteuer Eisenbahn: Gornergratbahn. In: Eisenbahn-Kurier Special Nummer 22, EK-Verlag, Freiburg in Breisgau 1991. 100 Jahre Brig-Visp-Zermatt-Bahn. In: LOKi 1, Spezial, Fachpresse Goldach Hudson, Goldach 1991 Weblinks Matterhorn Gotthard Bahn BVZ Holding AG Elektrifikation der Zahnradbahn Visp-Zermatt. In: Schweizerische Bauzeitung. Band 94 (1929), Heft 16 (E-Periodica.ch, PDF; 3,3 MB) Einzelnachweise Bahngesellschaft (Schweiz) Zahnradbahn in der Schweiz Spurweite 1000 mm Bahnstrecke im Kanton Wallis Brig-Glis Visp
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https://de.wikipedia.org/wiki/Das%20Leben%20des%20Brian
Das Leben des Brian
Das Leben des Brian (Originaltitel: ) ist eine Komödie der britischen Komikergruppe Monty Python aus dem Jahr 1979. Der naive und unauffällige Brian, zur selben Zeit wie Jesus geboren, wird durch Missverständnisse gegen seinen Willen als Messias verehrt. Weil er sich gegen die römischen Besatzer engagiert, findet er schließlich in einer Massenkreuzigung sein Ende. Die Satire zielt auf den Dogmatismus religiöser und politischer Gruppen. Insbesondere christliche, aber auch jüdische Vereinigungen reagierten mit scharfen Protesten auf die Veröffentlichung. Die folgenden Aufführungsboykotte und -verbote in Ländern wie den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich oder Norwegen fachten die Kontroverse um Meinungsfreiheit und Blasphemie weiter an. Obwohl der Vorwurf der Blasphemie von praktisch allen Seiten entkräftet wurde, ist die Satire nach wie vor bei Christen umstritten und gilt aufgrund ihrer rezeptionsgeschichtlichen Bedeutung als Paradebeispiel für die Reibungspunkte zwischen künstlerischer Meinungsfreiheit und Religionstoleranz. Filmkritiker und die Pythons selbst bezeichnen Das Leben des Brian aufgrund seiner kohärenten Geschichte und intellektuellen Substanz als das reifste Werk der Komikergruppe. Zahlreiche Umfragen bestätigen den anhaltenden Erfolg beim Publikum. Das Abschlusslied wurde weit über den Filmkontext hinaus bekannt. Das British Film Institute wählte Das Leben des Brian auf Platz 28 der besten britischen Filme aller Zeiten. Daneben rangiert er auf Platz 2 der Liste der 100 besten britischen Filme, die das Magazin Empire 2016 veröffentlichte. Handlung Brian ist der uneheliche Sohn der Jüdin Mandy Cohen und des römischen Centurio Nixus Minimax. Er wird in der gleichen Nacht geboren wie Jesus, im direkt benachbarten Stall. Unter seiner herrischen Mutter wächst er zu einem unauffälligen jungen Mann heran und verliebt sich in die idealistische Judith, die sich in der jüdischen Widerstandsgruppe „Volksfront von Judäa“ gegen die römischen Besatzer engagiert. Um Judith nahe zu sein, tritt Brian der Gruppe bei und beteiligt sich an deren Einbruch in den Palast von Pontius Pilatus. Sie wollen Pilatus‘ Frau entführen und so das römische Imperium zu Fall bringen. Der Versuch scheitert jedoch, weil eine der vielen verfeindeten Widerstandsgruppen zur selben Zeit im Palast auftaucht und ebenfalls Pilatus‘ Frau entführen will. Es kommt zum Kampf, alle Beteiligten sterben bis auf Brian, der verhaftet und vor Pilatus gebracht wird. Im Verlauf des Verhörs bekommt die Palastgarde wegen Pilatus' Sprachfehler einen Lachanfall, und Brian kann entkommen. Auf seiner wilden Flucht stürzt er von einem Turm, wird aber von einem vorbeifliegenden Alienschiff aufgefangen, das kurz darauf an derselben Stelle abstürzt. Brian steigt unverletzt aus dem Wrack. Nach einem weiteren Sturz findet er sich auf einem der vielen Rednerpodeste neben dem belebten Marktplatz wieder. Um nicht aufzufallen, versucht Brian, es den zahlreichen Propheten auf den anderen Podesten gleichzutun. Sein unbeholfenes Gestotter weckt umso mehr Interesse bei den Zuhörern. Als die Soldaten, die ihm nach wie vor auf den Fersen sind, endlich abziehen, macht Brian sich aus dem Staub, doch seine Zuhörer folgen ihm. Sie interpretieren jedes Missgeschick und jede Banalität als ein von Brian vollbrachtes Wunder und erklären ihn zu ihrem Messias. Er wird sie erst los, als sie einen Eremiten als vermeintlichen Ketzer fortschleppen, um ihn hinzurichten. Die folgende Nacht verbringt er mit Judith, die seine Gefühle inzwischen zu erwidern scheint. Als er am nächsten Morgen aus dem Fenster blickt, ist der Platz davor mit seinen Jüngern überfüllt, die auf weitere Heilsbotschaften warten. Brian versucht erfolglos, sie wegzuschicken. Er wird von den Römern entdeckt, erneut verhaftet und zum Tod am Kreuz verurteilt. Die kurz darauf durch Volksentscheid erfolgte Begnadigung schlägt fehl, weil ein anderer sich im Scherz als Brian ausgibt und freigelassen wird. Anstatt einen Befreiungsversuch zu unternehmen, beglückwünschen Judith und die anderen Mitglieder der Volksfront von Judäa ihn zu seinem selbstlosen Martyrium. Ein gut gelaunter Mitgekreuzigter stimmt schließlich das Lied Always Look on the Bright Side of Life an, und alle singen mit, am Ende auch Brian. Produktionsgeschichte Drehbuchentwicklung Die Mitglieder der Komikergruppe Monty Python trafen sich anlässlich einer Werbetour für ihren Film Die Ritter der Kokosnuß Anfang 1976 in Amsterdam. In einer Bar machten Eric Idle und Terry Gilliam Scherze über Jesus, der als gelernter Schreiner ans Kreuz genagelt wurde. Schon bei der Premiere jenes Films in New York hatte Idle eine Idee für ein neues Projekt: Jesus Christus – Gier nach Ruhm. Das provokante Thema schien den Pythons, die zu diesem Zeitpunkt bereits ihre Solo-Karrieren vorantrieben, vielversprechend genug, um sich wieder zusammenzufinden. Auch der überraschende kommerzielle Erfolg von Die Ritter der Kokosnuß wirkte motivierend auf die Gruppe. Seit der Zusammenarbeit an hatten sich feste Autorenteams etabliert: Michael Palin entwarf seine Sketche meist mit Terry Jones, John Cleese arbeitete mit Graham Chapman, während Eric Idle und Terry Gilliam die beiden Einzelgänger der Gruppe waren. Bei den ersten Autorentreffen Ende 1976 lasen sich die Pythons willkürlich zum Thema geschriebene Szenen vor, und die Gruppe entschied, was sie mochte und was nicht. Die Pythons entwickelten bald die Idee eines vergessenen, ungeschickten 13. Apostels mit Namen Brian, der zu allen göttlichen Ereignissen zu spät kommt. Doch über Jesus selbst konnten und wollten die Pythons aus Respekt keine Witze machen, was sich für die Arbeit an der Komödie als hinderlich erwies. Im Zuge ihrer intensiven Recherchen stießen sie auf die Tatsache, „dass damals in Judäa das Messiasfieber grassierte“, wie Michael Palin berichtete. Auf dieser Grundlage kreierten sie eine Figur, die zwar eine zu Jesus parallel verlaufende Lebensgeschichte hatte, aber eindeutig nicht Jesus war. Brian von Nazaret, der fälschlicherweise für einen Messias gehalten wird, etablierte sich als beherrschendes Leitmotiv. Während der weiteren Autorentreffen in kreativer Atmosphäre drängten Gilliam und Jones nach eigener Aussage am meisten darauf, aus den einzelnen Sketchen eine stimmige Geschichte zu machen. Als schließlich Michael Palin seinen Sketch über einen Pontius Pilatus mit einem Sprachfehler vorlas, war das entscheidende Element für den Film gefunden. Auch Jesus selbst tauchte wieder im Skript auf: Die Witze entzündeten sich nicht an ihm, sondern richteten sich gegen die Zuhörer der Bergpredigt. Um einen komischen Zugang zur Kreuzigung zu finden, mussten sich die Autoren Terry Jones und Michael Palin auf die damalige Alltäglichkeit dieser Hinrichtungsmethode konzentrieren. „Manchmal wurden 500 bis 600 Leute an einem Tag gekreuzigt. […] Wir spielten mit der Idee, dass es Unfälle gibt und Sachen falsch laufen […]“ Die Suche nach einem befriedigenden Schlusspunkt gestaltete sich besonders schwierig. Eric Idles Idee, den Film mit einer leichtfüßigen, musikalischen Gesangseinlage am Kreuz zu beenden, wurde schließlich auch vom skeptischen Terry Jones akzeptiert. Basierend auf dem bisherigen Material entstand jene Szene, in der Brian am Fenster seinen Anhängern zuruft, sie sollen für sich selbst denken. Jones: „In ihr liefen sozusagen die Fäden der Geschichte zusammen.“ Als Titel des neuen Films setzte sich neben den Alternativen Brian of Nazareth und Monty Python’s Brian der Vorschlag Monty Python’s Life of Brian durch. Im Januar 1978 verbrachten die sechs Autoren zwei Wochen in einem Strandhaus auf Barbados, um das Drehbuch zu beenden. Auch die Besetzung wurde fixiert. Jahre später erinnerte sich Michael Palin: „Das Leben des Brian war die letzte gute Gruppenerfahrung, was das Texten betrifft.“ Weil allen bewusst war, sich auf sensiblem Terrain zu bewegen, brachte Graham Chapman das fertige Drehbuch zu einem ihm bekannten Kanoniker der Königin. Befriedigt nahmen die Pythons zur Kenntnis, dass er es mit Vergnügen und ohne Einwände gelesen hatte. Vorproduktion Finanzierungsschwierigkeiten Die Mitglieder von Monty Python arbeiteten am Skript, ohne die Finanzierung geregelt zu haben. Tatsächlich begann sich Barry Spikings, Mitarbeiter von EMI, für das Projekt zu interessieren, als er auf Barbados zufällig auf Eric Idle traf. Wenig später sicherte er John Goldstone, der von den Pythons als ihr Produzent gewählt wurde, die nötigen Geldmittel zu. Doch zwei Tage vor dem geplanten Abflug zu den Dreharbeiten in Tunesien erteilte EMI-Vorstand Bernard Delfont dem Projekt eine Absage: Er hatte das Drehbuch gelesen und empfand es als anstößig. Zu diesem Zeitpunkt war der Produktionsvertrag noch nicht unterzeichnet; Gelder in der Höhe des Budgets von Monty Pythons wunderbare Welt der Schwerkraft waren aber bereits investiert. Monty Python musste nun einerseits seine Ansprüche auf die bisherigen Ausgaben vor Gericht durchsetzen, die der Gruppe schließlich zugestanden wurden. Die Suche nach einem neuen Produzenten stellte sich als schwierig heraus – wohl weil der Stoff potenziellen Produzenten zu brisant erschien. Eric Idle berichtete seinem Freund, dem Ex-Beatle George Harrison, von den Schwierigkeiten, die benötigten rund vier Millionen Dollar aufzutreiben. Daraufhin stellte Harrison das Geld aus eigenen Mitteln zur Verfügung: Er gründete mit seinem Geschäftsführer Denis O’Brien HandMade Films, um den Film zu produzieren, „offenbar nur deshalb, weil er den Film sehen wollte“. Besetzung und Regie Auf die Besetzung einigten sich die Pythons während der letzten Schreibphase. Oft spielten die Autoren ihr eigenes Material, es sei denn, es sprach etwas dagegen. „Wir waren zu 80 Prozent Autoren und zu 20 Prozent Schauspieler, und als Autoren war uns sehr wichtig, dass das stimmte. […] Unsere Egos als Schauspieler interessierten uns weniger“, sagte John Cleese über den meist unkomplizierten Besetzungsvorgang. Bei Life of Brian kam es dennoch zu größeren Besetzungsdiskussionen. Eine schwierige Frage war die adäquate Besetzung der Figur des Jesus. Schließlich einigte man sich auf Ken Colley und schlug etwa den von John Cleese vorgeschlagenen George Lazenby aus. Cleese sorgte für weitere Diskussionen, als er die Hauptrolle übernehmen wollte. Er begründete dies mit seinem Bestreben, „eine Figur von Anfang bis zum Ende eines Films durchzuhalten“. Michael Palin vermutete, Cleese habe sich „opfern“ und so verhindern wollen, dass Graham Chapman die Titelrolle übernahm. Bereits seit Jahren litt die Zusammenarbeit mit Chapman an dessen Alkoholismus. Doch besonders Terry Jones favorisierte Chapman: In der vorangegangenen Produktion war ihm seine glaubwürdige Ausstrahlung in der Rolle des Artus aufgefallen. „Das war für mich in der Comedy enorm wichtig – wichtiger, als dass der Hauptdarsteller witzig war.“ Graham Chapman beschloss seinerseits, sich seinem Suchtproblem zu stellen, und stand einen Entzug durch. Nicht nur seine nun konzentrierte Arbeitsweise als Schauspieler wirkte sich positiv auf die Dreharbeiten aus: Der studierte Mediziner kümmerte sich nach Drehschluss um die Gesundheit der Kollegen am Set. Eric Idle fasste zusammen: „Graham wurde geradezu ein Heiliger.“ In der vorangegangenen Produktion Die Ritter der Kokosnuß hatte sich die Gruppe entschieden, Terry Jones und Terry Gilliam gemeinsam Regie führen zu lassen. Unüberbrückbare künstlerische Differenzen zwischen den beiden hatten das Arbeitsklima jedoch nachhaltig belastet. Daher einigten sich die Pythons diesmal auf Jones als alleinigen Regisseur. Der visuell versierte Gilliam, der stets für die Animationen verantwortlich gewesen war, übernahm das Produktionsdesign. Gilliam, der bei Jabberwocky mit „echten Schauspielern“ gearbeitet und seine Karriere als Spielfilmregisseur begonnen hatte, zeigte sich mit dieser Lösung sehr zufrieden. Auch Terry Jones sprach später von einer idealen Kombination, unter der er jederzeit wieder arbeiten würde. Produktionsdesign Von Anfang an verfolgten die Pythons mit Das Leben des Brian ambitionierte Ziele. Michael Palin: „[Wir wollten] bei Das Leben des Brian nicht nur ein paar Späße vor bemalten Kulissen in den Shepperton Studios filmen, sondern uns um Statisten bemühen, die wirklich wie Juden oder Araber aussahen, und um echte Hitze, damit es authentischer würde. Es gab so viele Bibelschinken, die aussahen, als hätte man sie in Nordengland gedreht.“ Jones und Gilliam entschieden sich für Tunesien als Drehort. Dort konnten sie von Franco Zeffirellis Mehrteiler Jesus of Nazareth (1978) profitieren, der ebenfalls im tunesischen Monastir entstanden war: Für die Dreharbeiten stand ein Großteil von Zeffirellis Kulissen sowie der Kostüme und Requisiten zur Verfügung. Weitere Römerkostüme und Requisiten für Life of Brian stammten aus dem Fundus des Kostümverleihs Tirelli und der Cinecittà in Rom. Als Kostümbildner fungierten Charles Knode und Hazel Pethig, die bereits bei Monty Python’s Flying Circus in dieser Funktion tätig waren. Maggie Weston, die Frau von Terry Gilliam, war als Maskenbildnerin Teil des Produktionsteams. Die unter der Leitung Gilliams neu erstellten Bauten waren im Wesentlichen ein Hypokaustum, durch das die Widerstandskämpfer in Pilatus’ Palast einbrechen sollten, einige Statuen, die wie die Steine für den Steinigungs-Sketch aus Styropor geformt wurden, und einige Zubauten, etwa bei der Ruine eines Amphitheaters, die als Kolosseum benutzt wurde. Besonders stolz schien Gilliam auf die Gestaltung von Pilatus’ Audienzsaal zu sein: „[…] sie zeigten, wie die römische Ordnung das jüdische Chaos zu besiegen versuchte.“ Zu Gilliams Verbitterung konnte man die aufwendige und teure Kulisse im fertigen Film kaum sehen, was zu neuerlichen Verstimmungen zwischen ihm und Terry Jones führte. Dreharbeiten Nach den Proben begannen am 16. September 1978 die fünfwöchigen Dreharbeiten in Tunesien. Entscheidungen bei der Arbeit an einem Monty-Python-Film traf die Gruppe meist nach gemeinsamen Diskussionen. Pythons, die nicht vor der Kamera standen, gaben als Zuschauer hilfreiche Kritik. Dass die Schauspieler die Autoren ihrer Texte waren, half bei den Dreharbeiten. Eric Idle: „Man muss nichts lernen, weil man es andauernd gelesen hat.“ Als erste Szene wurde die Steinigung gedreht, die an den Festungsmauern des Ribats in Monastir und damit an derselben Stelle aufgenommen wurde, an der auch Zeffirelli die Steinigungsszene für Jesus of Nazareth inszeniert hatte. John Cleese erinnerte sich später gern an die schon zu Beginn effiziente Arbeitsatmosphäre: „Besucher des Sets hätten glauben können, wir wären in der fünften Drehwoche.“ Die intensive Vorbereitung von Terry Jones rang den kritischen Pythons Respekt ab, auch wenn Jones, der wie alle mehrere Rollen spielte, mitunter in Frauenkleidern oder splitternackt Regieanweisungen geben musste. Michael Palin rückblickend: „Man nimmt [Regieanweisungen] dann nicht sehr ernst.“ Kameratechnisch verliefen die Arbeiten sehr unkompliziert. Laut Terry Jones wurden 50 bis 60 Prozent des Films mit einer 35-mm-Handkamera gefilmt, um sich aufwendige Auf- und Abbauten des Stativs zu ersparen. Als einzige schwer zu realisierende Einstellung entpuppte sich die Szene mit Michael Palin als Ex-Leprakrankem, der Brian ein Almosen entlocken möchte, obwohl Jesus seine Krankheit durch ein Wunder längst geheilt hat. Er verfolgt Brian von der Stadtmauer bis zu dessen Wohnung – ein Weg durch das Gewühl des Marktplatzes, den der Kameramann John Stanier bei sengender Hitze mit einer schweren Kamera in der Hand im Rückwärtsgang filmen musste. Nach intensiver Arbeit am Drehbuch fanden während des Drehs kaum Dialogänderungen oder Improvisationen statt. Eine der Ausnahmen war jene Szene, in der sich die Revolutionäre vor den Legionären während der Hausdurchsuchung verstecken sollten. Eric Idle und Terry Gilliam als sprachgestörte Gefängniswärter, die Michael Palin als geduldigen, liebenswerten Centurio bedrängen, nahmen sich in ihrer Szene ebenfalls Raum für ausgedehnte Improvisation. Eine große Überraschung bereitete den Pythons das Auftauchen von Spike Milligan. Der altgediente Komiker () stieg zufällig im selben Hotel ab, um erstmals nach Kriegsende die Schlachtfelder zu besuchen, auf denen er im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte. Die Pythons boten ihrem Vorbild, mit dem sie zum ersten Mal näher zu tun hatten, eine kleine Rolle im Film an. In der Szene, in der die Anhängerschaft Brians um die Bedeutung der verlorenen Sandale streitet, gab Milligan den zur Besonnenheit mahnenden Alten, an dem die besessene Gruppe achtlos vorbeizieht. Milligan selbst verließ zum Erstaunen der Pythons in der Mittagspause eigenmächtig den Drehort, um seinen Urlaub fortzusetzen, obwohl weitere Aufnahmen geplant waren. Auch George Harrison übernahm eine kleine Rolle, als er das Team besuchte und sich bislang gefilmtes Material ansah: John Cleese stellt ihn im Film als den Mann vor, der Brian „am Sonnabend seinen Berg für ’ne Predigt zur Verfügung“ stellt. Massenszenen Den aufwendigen Massenszenen stellte sich Terry Jones sehr früh. Bereits in der ersten Drehwoche fanden die Dreharbeiten für Pontius Pilatus’ Rede an die Bürger von Jerusalem statt: Rund 450 tunesische Statisten sollten sich wegen des Sprachfehlers des Pilatus vor Lachen zu Boden werfen. Terry Jones engagierte einen lokalen Komiker, aber kaum jemand lachte. Also machte Jones vor, was er von der Statistenmenge wollte, warf sich auf den Rücken und fing an, laut zu johlen vor Lachen. Wie Jones berichtete, machte es ihm die Menschenmenge enthusiastisch nach. Doch weil keine Kamera lief, ging dieser spontane Moment für den Film verloren. „Das war eine der verrücktesten Situationen meines Lebens.“ Die Szene unter Brians Fenster, die wenige Tage später gefilmt wurde, kam zwar mit weniger Statisten aus, war jedoch komplizierter: Die Masse musste unisono einen Dialog mit Brians Mutter führen. Man gewann eine Handvoll englischer Urlauber als Statisten und platzierte sie in den vorderen Reihen hinter den Schauspielern. Die anderen rund 200 Komparsen waren Tunesier, die kein Englisch sprachen. Terry Jones rief die Sätze, die von der Menge im Chor gesprochen werden sollten. Er hatte vor, die Szene nachzusynchronisieren, aber „die Menschenmenge war perfekt. Sie wussten nicht, was sie riefen. Sie riefen einfach zurück, was sie von mir gehört hatten. Und das haben wir schließlich benutzt.“ Am Beginn dieser Sequenz öffnet Graham Chapman als Brian nichtsahnend sein Schlafzimmerfenster und steht nackt vor seiner fanatischen Anhängerschar. Eric Idle berichtete, die arabischen Frauen seien „schockiert und außer sich“ gewesen. Terry Jones erläuterte später, dass Chapman separat gefilmt werden musste, weil sich hauptsächlich muslimische Frauen, denen es verboten ist, einen nackten Mann zu sehen, unter den Statisten befanden. Im Oktober wurde mit der Bergpredigt schließlich die letzte Szene gedreht, die eine besonders große Anzahl an Statisten benötigte. Die Dreharbeiten fanden in Matmata südlich von Gabès statt, jener Wüste, in der auch die Wüstensequenzen des ersten Star-Wars-Films entstanden. Terry Jones bemühte sich, in der weiten Wüstenlandschaft mit nur rund 200 Statisten die Illusion einer gewaltigen Zuhörerschaft zu erzeugen. Kenneth Colley in der Rolle Jesu stand auf einem Hügel, die Kamera wurde auf einem weiteren Hügel aufgestellt. Auf beiden Erhebungen wurden die Statisten verteilt; das Tal dazwischen blieb menschenleer, konnte jedoch von der Kamera nicht eingesehen werden. So sollte der Eindruck entstehen, dass die Menschenmenge auch das Tal ausfüllen würde. Bei der Szene im Kolosseum, die in den letzten Drehtagen in Karthago entstand, wurde der Mangel an kostspieligen Statisten laut Terry Gilliam durch Kreativität wettgemacht: „Es sollte eine Nachmittagsvorstellung sein, die sich niemand anschaut. […] Wir hatten immer kleine Budgets. Anstatt Dinge direkt anzugehen, muss man sich was überlegen. Und das ist letztendlich immer interessanter.“ Kreuzigung Die dreitägigen Dreharbeiten zur Kreuzigungsszene verliefen erwartungsgemäß anstrengend. Kurz vor Drehbeginn hatte es stark geregnet, es war windig und kalt. Der erkrankte John Cleese konnte durchsetzen, als Gekreuzigter in eine dicke Decke eingewickelt zu werden. Gilliam ließ für jeden Schauspieler ein eigenes Kreuz mit Fußhalterungen und Fahrradsitzen konstruieren: „Wir hatten also alles festgelegt, aber Terry [Jones] änderte seine Meinung und setzte alle auf die falschen Kreuze. Es war also wirklich schmerzhaft.“ Um die Frage, wie authentisch die Darstellung der Kreuzigung sein durfte, wurde im Team viel gestritten. „Es gab einige Leute in der Gruppe, die Angst hatten, dass es zu realistisch sein würde, und dass das vom Humor ablenken würde“, erzählte Terry Gilliam, der mit spritzendem Blut beim Festnageln der Hände kein Problem gehabt hätte. Laut Terry Jones führte die Unschlüssigkeit dazu, dass zwei Versionen gedreht wurden. Weil jene mit den Nägeln bei den Testvorführungen auf Entsetzen stieß, griff Jones beim Endschnitt auf die Einstellungen zurück, in denen die Hände nur festgebunden wurden. Das Abschlusslied änderte Komponist und Interpret Eric Idle noch während der Drehzeit, nachdem er die erste, ernst vorgetragene Version am Drehort vorgespielt hatte: „Zwar mochte ihn jeder, und alle applaudierten, aber ich dachte: ‚Irgendetwas stimmt damit noch nicht.[…]‘“ Idle war bald sicher, dass das Lied fröhlich und unbekümmert interpretiert werden müsste. Im mit Matratzen gedämmten Hotelzimmer nahm er den Gesang noch einmal auf. Diese in Tunesien gesungene Hauptstimme ist neben dem professionell eingespielten und arrangierten Orchester im Film zu hören. Animationen und Spezialeffekte Für die optischen Trickeffekte war Terry Gilliam verantwortlich. So ließ er für das aus der Entfernung aufgenommene Jerusalem eine etwa vier Meter hohe, bemalte Schablone anfertigen. Für das Jerusalemer Kolosseum hielt die Ruine eines Amphitheaters in Karthago her. Die fehlende Imposanz glich ein Matte Painting mit architektonisch eindrucksvollen Bögen aus – eine Filmtricktechnik, die auch bei einer Einstellung zum Einsatz kam, die Pilatus’ Palastmauern vollgeschmiert mit antirömischen Graffiti zeigt. Weil die antiken Mauern nicht beschmiert werden durften, baute Terry Gilliam für Aufnahmen, in denen kein Matte Painting eingesetzt werden konnte, eine eigene Mauerkulisse davor. Gilliams Hauptfunktion bei Monty Python lag seit deren Gründung in der Herstellung humorvoller Animationen, die einzelne Sketche miteinander verbinden sollten. Bei Das Leben des Brian gab es aufgrund der stringenten Handlung keinen Bedarf für diese surrealistischen Kurztrickfilme. Stattdessen animierte Gilliam, wie üblich mit ausgeschnittenen Figuren und unter eigener Regie, für Das Leben des Brian einen aufwendigen Vorspann. „Man muss es mehrmals sehen, um alles mitzukriegen. Da steckt eine Geschichte drin. Diese kleine Figur sitzt im Himmel, in Gottes Land, und wird auf die Erde gestoßen und macht ein paar Abenteuer durch.“ Bei allem Stolz auf seine Animation sah Gilliam seine Zukunft längst im Realfilm. Mit der Entscheidung, eine von Gilliam inszenierte Science-Fiction-Sequenz in den Film einzubauen, kamen die Pythons nicht nur Gilliams Ambitionen entgegen: Der Humor der Pythons sollte sich stets durch Unberechenbarkeit auszeichnen. In der vielbeachteten Sequenz fällt der flüchtende Brian von einem Turm, als ein zufällig vorbeirasendes Raumschiff ihn rettend auffängt. Die Außerirdischen liefern sich, mit Brian an Bord, eine wilde Weltraumschlacht mit einem feindlichen Raumschiff, ehe ihr Raumschiff getroffen auf die Erde zurast und in Jerusalem aufprallt, wo Brian dem Wrack unverletzt entsteigt. Als die Trümmer gebaut werden mussten, war das Filmbudget erschöpft. Gilliam improvisierte mit nicht mehr benötigten Kulissenteilen und Fundstücken vom Schrottplatz. Die Einstellungen mit Brian im Raumschiff entstanden in London, zwei Monate nach Ende der Dreharbeiten in Tunesien. „Das Ganze wurde in einem Raum von sechseinhalb mal achteinhalb Meter gedreht. Dort bauten wir das Innere des Raumschiffs auf, schüttelten es durch und kreierten diese verrückten Geschöpfe.“ Nicht nur wegen des engen Raums brachten die Arbeiten für Graham Chapman einigen Stress. Er lebte zu diesem Zeitpunkt in Los Angeles und durfte aus steuerlichen Gründen nicht länger als 24 Stunden in England sein. Etwa acht davon verbrachte er in der Box, ehe er erschöpft zurückflog. Der anschließenden Arbeit an der Weltraumschlacht näherte sich Gilliam betont spielerisch. Weil er keine Spezialeffekt-Experten hatte, um etwa die Raumschiffexplosion beim Aufprall auf einen Asteroiden zu realisieren, „gingen wir in ein Scherzartikelgeschäft und kauften alle explodierenden Zigarren, die sie hatten, kratzten das Pulver raus und bastelten eine kleine Bombe.“ Für die Soundeffekte nahm er ein Motorrad beim Gasgeben auf. „Wir haben bei diesen Filmen gelernt, wie man diese Dinge macht“, erzählte Terry Gilliam, der sich nach eigenen Angaben wie ein gut bezahlter Filmstudent fühlte. Nachbearbeitung Am Ende der Dreharbeiten stand ein mit über zwei Stunden Spielzeit deutlich zu langer Film. Die geplante Einstiegsszene mit von Schafen schwärmenden Hirten und die Frau von Pontius Pilatus, die den Revolutionären eine wilde Verfolgungsjagd liefert, wurden herausgeschnitten. Auch eine der umstrittensten Szenen wurde entfernt: Eric Idle schrieb und spielte Otto, Anführer des Suizidkommandos der „Judäischen Volksfront“, der in Brian den „Führer“ sucht, der Israel vom „Abschaum nichtjüdischer Menschen befreit“, um einen tausendjährigen Judenstaat zu gründen. Schließlich schlug Eric Idle selbst vor, die Szene herauszuschneiden: Die Figur wurde nach seiner Ansicht zu spät eingeführt und störe die Balance des Films. Regisseur Terry Jones und John Cleese pflichteten ihm bei, nur Terry Gilliam unterstellte Idle Angst vor den jüdischen Produzenten Hollywoods: „Ich meinte: ‚Wir haben die Christen vor den Kopf gestoßen, jetzt sind die Juden dran.‘“ Robert Hewison wies in seinem Buch ebenfalls darauf hin, dass mit dem „Juden-Nazi Otto“ Probleme mit der jüdischen Lobby in den Vereinigten Staaten vorbestimmt gewesen seien, was zu Problemen im Verleih hätte führen können. In einem Interview bereute Terry Jones später, diese „prophetische“ Szene geschnitten zu haben. Ottos letzter Auftritt ließ sich nicht eliminieren: Als Brians Mutter und Judith den gekreuzigten Brian aufsuchen, sind die Leichen des „fliegenden Suizidkommandos“ am Boden und beim Schlusslied mit wippenden Füßen zu sehen. Mit dem vollendeten Film zeigten sich die Pythons dennoch außergewöhnlich zufrieden. Michael Palin fasste zusammen: „Wir hatten tatsächlich das Gefühl, mit Das Leben des Brian eine Sprosse nach oben geklettert zu sein.“ Synchronisation Die deutsche Synchronisation entstand 1980 in den Ateliers der Berliner Synchron. Für Dialogbuch und Synchronregie zeichnete Arne Elsholtz verantwortlich. Elsholtz sah bei der Besetzung der einzelnen Stimmen davon ab, den zumeist in mehreren Rollen agierenden Darstellern jeweils nur einen deutschen Sprecher zuzuordnen. Diese Entscheidung führte dazu, dass etwa John Cleese in seinen verschiedenen Rollen von insgesamt drei Sprechern synchronisiert wurde, die ihrerseits mehrere Rollen anderer Schauspieler sprachen (siehe Tabelle unten). Einige Pythons spielten in der Steinigungsszene Frauen, die sich als Männer verkleiden. In der deutschen Fassung werden auch die männlichen Frauen-Darsteller von Frauen gesprochen. Pontius Pilatus, der im englischen Original das „r“ nicht artikulieren kann, kämpft in der deutschen Fassung mit den „B“-, „D“- und „Sch“-Lauten. Rezeption Widerstand vor der Veröffentlichung Bei den Dreharbeiten sorgte ein Urteil im Vereinigten Königreich für Aufsehen und in der Folge für Sorge bei allen Beteiligten des Projekts: Die religiöse Organisation Nationwide Festival of Light erreichte vor den Gerichten des Landes die erste Verurteilung wegen Blasphemie seit 55 Jahren. Nicht nur wurde der Herausgeber der Homosexuellen-Zeitschrift Gay News zu neun Monaten Haft wegen Veröffentlichung eines gotteslästerlichen Gedichts verurteilt (das Urteil wurde später in eine Geldstrafe umgewandelt): Die obersten juristischen Instanzen bestätigten die Rechtsauffassung, wonach kein Wille zum Begehen einer Blasphemie vorliegen müsse, um wegen religions- und gotteslästerlicher Taten verurteilt werden zu können. Die Arbeit am Film war noch nicht abgeschlossen, als Nationwide Festival of Light in den Besitz mehrerer Drehbuchseiten gelangte und in einem Brief an den Vorsitzenden des British Board of Film Classification (BBFC) warnte: „Sie wissen selbst um die Folgen heimtückischer Schmähungen Gottes, Christi und der Bibel.“ Ein Gutachten des Anwalts John Mortimer, mit dem die Pythons den Film schließlich zur Prüfung beim BBFC einreichten, schätzte das Klagerisiko als gering ein. Dabei führte Mortimer neben dem prinzipiell unbedenklichen Drehbuch besonders die Popularität der Komikergruppe ins Feld. Die Passage, wonach die Szenen des Ex-Leprakranken und die Frage nach Mandys Jungfräulichkeit religiöse Gefühle verletzen könnten, redigierte er auf Wunsch der Pythons in seiner dem BBFC übermittelten Einschätzung. Eine noch größere Angriffsfläche bot das Buch zum Film, das neben dem Drehbuch die entfallenen Szenen enthielt und pünktlich zur Premiere verkauft werden sollte. Verleger im Vereinigten Königreich, den Vereinigten Staaten und Kanada haderten lange mit der Entscheidung, ob und wie das Buch veröffentlicht werden könne. Als problematisch beschrieben Gutachter vor allem die Szene mit dem Ex-Leprakranken, der sich über Jesus als „verdammten Wohltäter“ beschwert, und eine Szene im Anhang: Darin muss eine Frau ihrem Freund erklären, mit jemandem geschlafen zu haben, der sich als „Heiliger Geist“ ausgegeben habe. Nach Rücksprachen weigerten sich die Pythons regelmäßig, Änderungen vorzunehmen. Als der Film in den Vereinigten Staaten und Kanada, später auch von dem BBFC ohne weitere Bedenken im Hinblick auf mögliche blasphemische Inhalte freigegeben wurde, entschieden sich die Verleger angesichts der bevorstehenden Premieren für die Publikation von Monty Python’s Life of Brian (of Nazareth)/Montypythonscrapbook. Die beauftragte englische Druckerei weigerte sich jedoch, den kontroversen Anhang zu drucken, weshalb die englische erste Auflage von zwei anderen Firmen hergestellt werden musste. Premieren Kontroverse Vereinigte Staaten Die Uraufführung des schon vor dessen Veröffentlichung wegen Religionsbeleidigung umstrittenen Films fand am 17. August 1979 im New Yorker Cinema One statt. Freigegeben wurde der Film für Kinder unter 17 Jahren nur in Begleitung eines Erwachsenen („Restricted“). Der Grund, die Premiere in den USA abzuhalten, fand sich nicht zuletzt in der verfassungsrechtlich verankerten Meinungsfreiheit. Umgehend nach der Veröffentlichung gab es zum Teil wütende Reaktionen jüdischer, katholischer und protestantischer Vereinigungen. Der orthodoxe Rabbiner Abraham Hecht, Präsident der Rabbinical Alliance of America, gab zwei Tage nach der Premiere der Besorgnis Ausdruck, dieser Film sei derart beleidigend, dass „weitere Aufführungen zu Gewaltausbrüchen führen könnten“. Dass erste deutliche Kommentare von jüdischer Seite kamen, überraschte die Pythons, die im fertigen Film Angriffe auf das Judentum ausgeklammert hatten. Laut Terry Jones stellte sich heraus, dass die Verwendung eines jüdischen Gebetsschals, den John Cleese in der Steinigungsszene als Hohepriester trägt, der Hauptgrund dafür war. Andere Vertreter des Judentums bezeichneten die Äußerungen Hechts dagegen als „Gefahr für die Gedankenfreiheit“. Bald brachten Christen Abneigung gegen den Film zum Ausdruck: In einem landesweit ausgestrahlten Radiokommentar bezeichnete der Protestant Robert E. A. Lee Life of Brian als „einen abscheulichen und widerlichen Angriff auf religiöse Gefühle“. Die Erzdiözese von New York der römisch-katholischen Kirche hielt die Komödie wegen Verspottung der Person Christi für einen „Akt der Blasphemie“. Pater Sullivan vom Roman Catholic Office for Film and Broadcasting hatte ein Jugendverbot erwartet und sah es als Sünde für Katholiken an, sich den Film anzusehen. Versuche des Komitees Citizens Against Blasphemy („Bürger gegen Blasphemie“), eine Strafverfolgung einzuleiten, blieben erfolglos. Dafür trafen sich am 16. September Juden und Christen verschiedener Konfessionen vor dem Firmensitz der Warner Bros. zu einem Protestmarsch zum Premierenkino Cinema One. Auf Plakaten stand zu lesen, Life of Brian sei „ein bösartiger Angriff auf das Christentum“. In einer Rede äußerte sich Rev. Roger Fulton unter anderem zu „amoralischen Aspekten“ des Films: „Die Mutter des Messias (Brian) wird im direkten Widerspruch zur Heiligen Schrift von einem Mann in Frauenkleidern dargestellt […] Immer wieder wird männlichen Begierden Ausdruck gegeben, sich in eine Frau zu verwandeln.“ Nachdem Richard Schickel in der Zeitschrift Time in seiner wohlwollenden Filmkritik sinngemäß festgestellt hatte, diese aggressive Satire sei dazu gut, eigene Überzeugungen und Werte in Frage zu stellen, hielt ihm der Kolumnist William F. Buckley in der New York Post die Frage entgegen: „Meint Herr Schickel, wir bräuchten gelegentlich einen Holocaust? Oder, falls wir gerade auf einen Holocaust verzichten müssten, sollten die Leute von Monty Python wenigstens eine Komödie über Auschwitz machen? Sollten die Typen in die Gaskammer gehen und, sagen wir, einen Mambo tanzen? Angeführt von Anne Frank?“ Die teilweise in scharfer Form geführte Debatte löste sich auch insofern vom Filminhalt selbst, als die meisten Kritiker und Aktivisten Life of Brian nicht gesehen hatten und auf die Schilderungen anderer vertrauten. Laut Hewison kam sogar das Gerücht in Umlauf, während der Dreharbeiten sei ein Kind misshandelt worden. Als der Film im September und Oktober landesweit in die Kinos kam, nahmen einige Kinobetreiber die Komödie aus Rücksicht vor Protesten nicht ins Programm. Für große Aufregung sorgte Life of Brian insbesondere in den Staaten des sogenannten „Bible Belt“ im Südosten der Vereinigten Staaten. In Columbia, South Carolina, setzte sich der republikanische Senator Strom Thurmond dafür ein, dass der Film aus den lokalen Kinos verschwand. Der Absetzung folgten wütende Proteste mit Plakaten wie „Lasst Brian wiederauferstehen, kreuzigt die Zensoren“. Auch in den meisten Städten Louisianas, Arkansas und Mississippis wurden Vorführungen abgesagt bzw. abgesetzt, nachdem Staatsanwälte Klagen gegen Kinobetreiber angedroht hatten bzw. der Druck religiöser Proteste zu groß wurde. Andere kirchliche Vereinigungen nahmen hingegen eine betont liberale Haltung ein. Ob Proteste stattfanden und wie die Kinobetreiber darauf reagierten, war meist von lokalen Befindlichkeiten abhängig. Der überwiegende Teil der Kinos des Landes konnte den Film problemlos zeigen und sich dank medienwirksamer Proteste über hohe Einnahmen freuen. Das Premierenkino Cinema One etwa verzeichnete Rekordeinnahmen. Vereinigtes Königreich Ende August 1979, als der Film in den Vereinigten Staaten bereits angelaufen war, fällte die BBFC ihre Entscheidung, Life of Brian ohne weitere Beanstandungen ab 14 Jahren freizugeben (Zertifikat ‚AA‘). Die Empfehlungen der BBFC müssen von den jeweiligen englischen Gemeinden jedoch nicht übernommen werden. Bezüglich der empfohlenen Altersfreigabe, die von jedem Gemeinderat selbst bestimmt werden kann, entschied sich der Filmverleih CIC für eine strenge Regelung: In Gemeinden, die den Film mit einem Jugendverbot belegten, würde der Film nicht zur Aufführung gebracht. Indessen versuchte Festival of Light Vorführungen zu verhindern oder zumindest stark einzuschränken. Damit die Einnahmen aus dem „kranken“ Film, der ständig zwischen „Sadismus und völliger Blödheit“ schwanke, sich nicht wie in den Vereinigten Staaten wegen öffentlicher Proteste erhöhten, wählte man die Methode, örtliche Gremien von einem Filmverbot zu überzeugen. Auch eine Klage wegen Blasphemie stand vorerst nicht mehr im Raum: Die Erfolgsaussichten vor Gericht schienen zu gering. Zur Premiere am 8. November 1979 im Plaza Cinema in London versammelten sich Demonstranten vor dem Kino und sangen Kirchenlieder. Am 9. November rief der Erzbischof von York, Stuart Yarworth Blanch, alle Christen und besorgten Bürger dazu auf, die zuständigen Gremien vor Ort vor dem Film zu warnen, „so wie in anderen Fällen, bei denen es so scheint, dass ein Film die Menschlichkeit entwertet“. In der abendlichen Fernsehsendung Friday Night Saturday Morning vom 9. November diskutierten John Cleese und Michael Palin vor Studiopublikum mit dem Bischof von Southwark, Mervyn Stockwood, und Malcolm Muggeridge, einem bekannten Schriftsteller und Anhänger der Erweckungsbewegung. Muggeridge bezeichnete es als „billig und abgeschmackt“, wie der Film die „Menschwerdung Gottes“ verspotte; Stockwood bezeichnete jede Behauptung, mit Brian sei nicht Jesus gemeint, von vornherein als „Quatsch“. Besonders empörte sich Muggeridge über die „abstoßende“ Abschlussszene, in der „eine Menge Gekreuzigter […] eine Revuenummer singt“. Palin zeigte sich von den Äußerungen sichtlich getroffen und irritiert. Er beharrte auf der Feststellung, dass die Komödie die Menschen nicht vom Glauben abbringen, sondern nur unterhalten wolle: „Viele verlassen das Kino fröhlich und lachen darüber. Ohne dass ihr Glaube erschüttert wurde.“ Bischof Stockwood spielte dennoch in seinem Schlusswort auf den Judaslohn an: „Sie bekommen Ihre 30 Silberlinge, da bin ich sicher.“ Erst Anfang 1980 kam Life of Brian landesweit in die Kinos. Die Verleihfirma CIC hoffte im Vorfeld darauf, dass bis dahin der Vorwurf der Blasphemie genügend entkräftet sein würde. Außerdem sollte eine Kollision mit den weihnachtlichen Feiertagen vermieden werden. Doch wie in den Vereinigten Staaten erfuhr die Kontroverse mit dem landesweiten Vertrieb neuen Aufschwung. Bischöfe mehrerer englischer Städte protestierten, und Festival of Light stellte der Church of England Material gegen den Film zur Verfügung, das verteilt wurde. Mehrere englische Gemeinden sprachen ein Aufführungs- oder Jugendverbot aus – auch ohne den Film gesehen zu haben, wie etwa in West Yorkshire oder East Devon, wo ein Stadtrat sich rechtfertigte: „Man muss keinen Schweinestall sehen, um zu wissen, dass er stinkt.“ Den Verboten folgten Proteste gegen Zensur und für Meinungsfreiheit. Letztlich sprachen sich von den über 370 Gemeinden zehn für ein Verbot und 27 für ein X-Rating aus, womit der Film aufgrund der Vorgaben des Verleihs ebenfalls nicht gezeigt werden konnte. Der Verbreitung der Komödie schadete dies nur bedingt: Wieder andere Nachbargemeinden ließen die Komödie zu, meist sogar ohne sie vorab geprüft zu haben. Wie in den Vereinigten Staaten beflügelte die Kontroverse den Erfolg von Life of Brian an den Kinokassen. Andere Staaten In Kanada warfen die kommenden Konflikte im Juni 1979 ihre ersten Schatten voraus, als eine Radiosendung über die Dreharbeiten zu Life of Brian vor der Ausstrahlung verboten wurde. Der Film selbst passierte die Zensurbehörde ohne weitere Bedenken wegen Blasphemie. Allerdings musste erstmals auf dem Werbematerial zum Film neben der Altersfreigabe („Restricted“ – ab 17 Jahren in Begleitung eines Erwachsenen) die zusätzliche Warnung zu lesen sein, dass der Film religiöse Gefühle verletzen könne. Die in Sault Ste. Marie eingebrachte Klage eines Geistlichen gegen das lokale Kino ließ der Staatsanwalt nicht zur Anhörung zu. In Australien beschäftigte Life of Brian das Parlament, nachdem ein römisch-katholischer Priester in Queensland die Zensoren zu einem Verbot des Films bringen wollte, diese sich aber weigerten. Der Kulturminister bestätigte die Rechtsauffassung der Zensurbehörde, meinte jedoch, der „schmuddelige und geschmacklose“ („grubby and tasteless“) Film sollte nach Möglichkeit keine große Verbreitung finden. Nicht zuletzt dank der Aufregung stieß Brian zu den zehn erfolgreichsten Kinofilmen des Landes vor. In Irland blieben laut Hewison Versuche, Brian durch die Zensurbehörde zu bekommen, von vornherein aus. Allerdings konnte der Soundtrack, eine von den Pythons bearbeitete Hörspielfassung des Films, aufgrund einer Gesetzeslücke problemlos eingeführt werden. Als ein beliebter Fernsehprediger auf die Schallplatte aufmerksam machte, indem er sagte, „wer diese Platte […] lustig findet, muss gestört sein“, sah sich der Vertrieb nach Zeitungsberichten, Protestschreiben und Drohanrufen gezwungen, die Einfuhr einzustellen. In Italien kam der Film aus unbekannten Gründen nicht in die Kinos. Ob dies aus der katholischen Tradition des Landes zu erklären ist, konnte etwa Hewison in seiner genauen Chronologie der Kontroverse in Monty Python: The Case Against nur vermuten. In Spanien, Frankreich und Belgien, ebenfalls stark katholisch geprägt, gab es keine wesentlichen Widerstände gegen die Aufführung. Auch in Österreich, Deutschland, der Schweiz, Griechenland, Dänemark, Schweden und Israel wurde der Film ohne Probleme zugelassen. Die Zensurbehörde in Norwegen sorgte für ein Novum, als sie mit Life of Brian erstmals in der Geschichte des Landes eine Komödie verbot. Daraufhin warben Kinos im benachbarten Schweden: „Der Film ist so witzig, dass er in Norwegen verboten wurde.“ Tatsächlich begründeten die norwegischen Zensoren ihre Entscheidung damit, dass die Massenkreuzigung am Ende, aber auch die Bergpredigt am Beginn des Films religiöse Gefühle verletzen könnten. Das überraschende Verbot sorgte für mediale Aufregung, und die Filmzensoren selbst bemühten sich, zusammen mit dem norwegischen Filmverleih einen Kompromiss zu finden. Dem Vorschlag, während der Kreuzigungsszene das Bild auszublenden und nur die Tonspur laufen zu lassen, stimmten die Pythons nicht zu. Ein halbes Jahr später durfte der unveränderte Film schließlich, wie üblich, in Originalfassung mit norwegischen Untertiteln gezeigt werden – mit der einzigen Beschränkung, strittige Passagen nicht zu übersetzen. Säkulare Kritik Auch Filmbesprechungen in der säkularen Presse widmeten sich zu einem guten Teil der Kontroverse, für die viele Filmkritiker Verständnis zeigten. Richard Schickel meinte, Life of Brian sei alles andere als eine „handzahme Parodie“, und spricht von einem „Angriff der Pythons auf die Religion“. Gegensätzliche Ansichten äußerte etwa Roger Ebert, der sich Stanley Kauffmann von der New Republic anschloss, wonach Christus den Film wohl sehr genossen hätte: „Life of Brian ist auf so vergnügliche Art harmlos, dass es fast schon blasphemisch ist, ihn ernst zu nehmen.“ Zwar stimmten viele Filmkritiker darin überein, dass sich Life of Brian nicht über Jesus, sondern über Bibelfilme lustig mache. Doch in der Einschätzung der komödiantischen Qualität gingen die Meinungen der Filmkritiker stark auseinander. So schienen Amerikaner nicht nur Probleme mit den britischen Akzenten zu haben, wie sie etwa das Branchenblatt Variety monierte. Der amerikanische Kritiker Roger Ebert meinte zudem: „Der eigenartige, britische Humor der Truppe ist für Amerikaner manchmal schwer zugänglich.“ Dessen ungeachtet genossen etwa Richard Schickel (Time) und Vincent Canby (New York Times) die Komödie: „Der Film ist wie ein Luftkissenfahrzeug, vollgetankt mit komischer Energie“, das über manch schwache Stelle ungeachtet hinwegfege. Im kanadischen Magazin Maclean’s pflichtete Lawrence O’Toole jenen bei, die den Film beleidigend fanden, allerdings „mehr wegen seiner Banalität als seiner Blasphemie“. In seiner Kritik im Spiegel äußerte sich Wolfgang Limmer ähnlich: Die religiöse Aufregung sei zu viel für „einen schwachen Film. Denn der einstmals böse und skurrile Witz der Monty Phytons [sic] ist hier zu tatterhaftem, langweiligem Klamauk verkommen.“ Mit Gags auf dem „Niveau pubertärer Klosprüche“ sei Life of Brian „ein trauriger Nachruf auf die Monty Pythons“. Nachwirkungen Als direkte Folge der guten Aufnahme des Films beim Publikum wurde in Hollywood die Komödie Wholly Moses! produziert, die mit Dudley Moore in der Hauptrolle bereits 1980 in die Kinos kam. Die Pythons selbst nutzten das Angebot, ihren nächsten Film für das Hollywood-Studio Universal zu produzieren. Bei der Arbeit zu Monty Python’s Meaning of Life verfügten sie zwar über ein Vierfaches des Budgets, das sie für Life of Brian aufwandten, doch konnte sich der zuletzt wieder aufgeflammte Teamgeist nicht mehr einstellen; es blieb das letzte gemeinsame Filmprojekt der stilbildenden Komikergruppe. Auch Jahrzehnte nach der Fertigstellung ist der Publikumserfolg von Life of Brian beträchtlich. 2006 wies eine Umfrage des Senders Channel 4 Life of Brian als „beste Komödie aller Zeiten“ aus. Eine 2007 durchgeführte Online-Umfrage der britischen Fernsehzeitschrift Radio Times kürte die Komödie zum „besten britischen Film aller Zeiten“. Das British Film Institute wählte Das Leben des Brian im Jahr 1999 auf Platz 28 der besten britischen Filme aller Zeiten. Phrasen und Zitate – etwa „Jeder nur ein Kreuz“ oder „Er hat Jehova gesagt“ – fanden Einzug in die Alltagskultur. Ein erfolgreiches Eigenleben entwickelte Eric Idles Abschlusslied: Always Look on the Bright Side of Life nahm, soweit festgestellt werden kann, seinen Weg von englischen Fußballstadien in die Hitparade: 1991 belegte das Lied im Vereinigten Königreich Platz zwei. Auch in den österreichischen Charts erreichte der Song Platz zwei. Statt Bildern der Gekreuzigten, die nach wie vor ein Tabu darstellen, zeigt das Musikvideo Szenen aus Monty Python’s Flying Circus. In einem 2007 geführten Interview gab Eric Idle an: „Der Song gehört zu den zehn meist gewünschten Begräbnisliedern der letzten 15 Jahre.“ Zusammen mit dem Komponisten John Du Prez schuf Eric Idle das Oratorium Not the Messiah. Das Werk basiert auf dem Film, beinhaltet das berühmte Lied und wurde im Juni 2007 im Rahmen des Luminate Festivals in Toronto uraufgeführt. Der außergewöhnliche Erfolg und die Kontroverse um Mel Gibsons Film Die Passion Christi bot den Pythons eine gute Gelegenheit, Life of Brian 2004 wieder in die Kinos zu bringen. Von Kritikern wurde die Satire nach 25 Jahren als erfrischend empfunden: „Genau das, was The Passion of the Christ fehlte: Mehr Gesangs- und Tanznummern.“ Der New Yorker brachte zum Ausdruck, in Life of Brian finde sich „kein bisschen Blasphemie“. In der walisischen Stadt Aberystwyth ging man lange davon aus, dass ein Aufführungsverbot bestehe. Als sich Darstellerin Sue Jones-Davies (Judith), die 2008 zur Bürgermeisterin der Stadt gewählt worden war, für die Aufhebung dieses angeblichen Aufführungsverbots einsetzte, stellte sich jedoch heraus, dass zwar 1981 ein Ausschuss im County Ceredigion den Film begutachtet und Teile als „gänzlich inakzeptabel“ bezeichnet hatte, die Aufführung aber trotzdem erlaubt worden war. In der Folge fand in Aberystwyth eine Sonderaufführung unter Beteiligung von Terry Jones und Michael Palin statt. In öffentlichen Debatten um die Freiheit der Kunst und insbesondere des satirischen Humors nimmt Life of Brian einen prominenten Platz ein. 2001 protestierte der britische Komiker Rowan Atkinson mit Verweis auf die Komödie der Pythons gegen schärfere Strafen wegen Religionskritik, die im neuen Anti-Terror-Gesetz enthalten seien. In der 2006 in Deutschland geführten Debatte um die satirische Zeichentrickserie Popetown nahmen Medien und Beteiligte ebenfalls Bezug zu Life of Brian. Einigen Beobachtern und Kommentatoren drängten sich auch Parallelen zur Kontroverse um Life of Brian und den Mohammed-Karikaturen auf. Die Pythons selbst geben sich skeptisch, ob ein Film wie Life of Brian heutzutage gedreht werden könnte. „Heute würde wohl jeder zwei Mal drüber nachdenken.“ Im Oktober 2011 wurde der von der BBC in Auftrag gegebene Fernsehfilm Holy Flying Circus ausgestrahlt, der sich satirisch mit der Kontroverse von 1979 auseinandersetzt. Ein Mitglied der Initiative Religionsfrei im Revier organisiert seit 2013 jeweils am Karfreitag in Bochum eine öffentliche Aufführung des Films. Dies ist nach Auffassung des Oberlandesgerichts Hamm ein Verstoß gegen § 6 des geltenden Feiertagsgesetzes in Nordrhein-Westfalen. Es verhängte deshalb ein Bußgeld, gegen das der Betroffene eine Verfassungsbeschwerde eingelegt hatte. Diese wurde mit Entscheid vom 6. Dezember 2017 abgewiesen, weil die Antragsteller es unterlassen hatten, eine Ausnahmegenehmigung zu beantragen. Eine solche Genehmigung wurde seit 2018 regelmäßig erteilt. Der Film wird nach wie vor von der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) als „nicht feiertagsfrei“ eingestuft. Filmanalyse Inszenierung Dramaturgie Die aus den Evangelien bekannte Lebensgeschichte Jesu Christi dient als Rahmen und Subtext der Geschichte Brians: „Beide Geschichten beginnen mit einer Geburt im Stall und steuern auf die Kreuzigung auf Geheiß des Pontius Pilatus zu.“ Laut W. Barnes Tatum kann Life of Brian somit zur Tradition der Jesus-Filme gezählt werden, die Motive der neutestamentlichen Erzählung widerspiegelten und neu interpretierten. Ungewöhnlicherweise verlaufe diese alternative Geschichte parallel zu der Jesu. Jesus selbst trete nur zu Beginn des Films in Erscheinung, auch um deutlich zu machen, dass mit Brian nicht Jesus gemeint sei, obwohl es zwischen beiden deutliche Parallelen gebe. Life of Brian gilt als der am besten strukturierte Film der Komikergruppe Monty Python. Anders als bei vorherigen oder nachfolgenden Produktionen sind die einzelnen Python-typischen Sketche dem Ablauf der Geschichte untergeordnet. In dieser engagiert sich Brian erst in einer jüdischen Widerstandsgruppe, wird daraufhin verhaftet und befindet sich dann die meiste Zeit auf der Flucht – erst vor den Römern, dann vor seiner geistlichen Anhängerschaft. Der finale, etwa 20-minütige Kreuzigungs-Sketch verwebt mehrere kleinere Sketche miteinander, in der alle wesentlichen Figuren auftauchen. Für die einzige Irritation innerhalb der sonst recht schlüssigen Dramaturgie sorge das plötzliche Auftauchen eines mit Aliens besetzten Raumschiffes. Auf Tatum wirkt es, als „konnte sich die Truppe nicht mehr zurückhalten“. James Berardinelli sieht jedoch mit der plötzlichen Rettung Brians durch ein Raumschiff die üblichen Deus-ex-machina-Konventionen üblicher Filmdramaturgie parodiert. Das Abschlusslied Always Look on the Bright Side of Life, das die Gekreuzigten singen, drückt nach Meinung vieler Filmwissenschaftler im Text die philosophische Grundhaltung des Films und des gesamten Schaffens der Monty Pythons aus. Visueller Stil In seiner Kritik anlässlich der Wiederaufführung stellt Rob Thomas (Capital Times) fest, Life of Brian wirke optisch so sehr wie ein klassisches Bibel-Epos, dass man „fast erschrickt, John Cleeses Augen unter einem Römerhelm hervorblitzen zu sehen“. Tatsächlich betrieb das Team unter Produktionsdesigner Terry Gilliam viel Aufwand, um eine möglichst realistische und glaubhafte Atmosphäre der damaligen Zeit einzufangen. Dreck und Schmutz sind dabei ein ebenso wichtiges gestalterisches Mittel wie die im Szenenbild oft präsente Wäsche auf der Wäscheleine, die den Einstellungen Betriebsamkeit vermitteln sollte. Die Ambition, ein „Heldenepos“ zu drehen, stieß allerdings an Grenzen. Zwar legte Regisseur Terry Jones Wert auf die genretypische Ästhetik von satten Farben und brach auch mit der Vorstellung, Komödien möglichst hell abzulichten: Der Sketch, in dem ein Zenturio Brian beim Beschmieren der Palastwände erwischt und ihm Nachhilfe in lateinischer Grammatik gibt, findet in der Dunkelheit statt. Davon abgesehen wurde auf originelle oder episch wirkende Aufnahmen weitgehend verzichtet, um nicht von der Komik abzulenken. „Die Kamera wurde positioniert wie bei einer Fernsehshow“, stellte Produktionsdesigner Gilliam mit Unbehagen fest, weil seine aufwendigen Sets deswegen kaum zu sehen sind. Terry Gilliam versuchte auch, diese „Begrenzung durch Komik“ so gut wie möglich zu umgehen, indem er in eigener Regie immer wieder möglichst weite Kameraeinstellungen von der Umgebung machte, um ein Gefühl der Größe zu vermitteln: „Wenn man die großen Einstellungen richtig macht, wirken sie nach und man kann sich auf die Geschichte konzentrieren…“ Nahaufnahmen wurden prinzipiell vermieden, weil man in Komödien die Beziehung zwischen den Figuren in möglichst einer Einstellung sehen müsse. Terry Gilliam: „Wir zoomen nicht überall drauf. Wir machen keine außergewöhnlichen Einstellungen. Es ist eine Komödie. Das ist zumindest unsere Theorie von Komödien, und wir bleiben dabei.“ Stil Bis heute teilen die Pythons nicht die Ansicht vieler Filmkritiker, mit Life of Brian eine Parodie auf Bibelfilme oder Ähnliches abgeliefert zu haben. Im Filmmagazin Schnitt pflichtet Florian Schwebel dieser Ansicht bei: „Eigentlich obligatorische, für Persiflagen perfekte Plotelemente wie Versuchungen, der Verrat durch einen Jünger oder die Auferstehung werden nicht einmal verulkt.“ Terry Jones vermutet, Life of Brian wirke deshalb parodistisch, weil die Figuren darin im Gegensatz zu klassischen Bibelepen eine betont alltägliche Sprechweise pflegen. Eric Idle bezeichnete das Projekt schon in der Entwicklungsphase als „biblische Komödie“: Die Gruppe wollte sich mit dem Bibelmythos, der die westliche Welt prägte, humoristisch auseinandersetzen. James Berardinelli beschreibt den typischen Python-Stil als Mischung von „klugem, einsichtigem Humor mit markigen Dialogen und himmelschreiender Albernheit“. Die verschiedenen Stile, die die sechs Autoren und Schauspieler einbringen, scheinen es Kritikern und Filmwissenschaftlern oft schwer zu machen, die Wirkung zu beschreiben. In der Capital Times stand zu lesen: „Einige der Witze sind auf ziemlich pubertärem Niveau, etwa der Sprachfehler von Pontius Pilatus. Andere wieder sind bemerkenswert geistreich, etwa wenn ein gekreuzigter Mann keinen Samariter im ‚jüdischen Bereich‘ haben will.“ (“Some of the jokes are pretty juvenile, like the speech impediment of Pontius Pilate. Others are pretty high-minded, like the crucified man who doesn’t want a Samaritan in ‘the Jewish section.’”) Andrea Nolte merkt in ihrer Besprechung für Reclam einen „Mangel an Subtilität“ an, lobt aber gleichzeitig die „Bandbreite komischer Charaktere, von denen einige zu den subtilsten und besten gehören, die die Pythons je erfunden haben“: etwa der Ex-Leprakranke, der sich über das Wunder seiner Heilung beschwert, weil sie ihn um seine Einnahmequelle als Bettler bringt, oder der Zenturio, der Brian eine Nachhilfe in Latein gibt, anstatt ihn für sein antirömisches Graffito zu verhaften. Nach der Beobachtung Michael Palins kommt gerade in der genannten Szene der typische „Schulhumor“ der Pythons zum Tragen: Lehrer und andere Autoritätspersonen sind im Werk der Monty Pythons oft Ziel des Spotts. John Cleese, der diesen Sketch hauptsächlich schrieb, war selbst zwei Jahre als Lateinlehrer tätig. „Das ist John, wie er leibt und lebt. Er hat die wunderbare Fähigkeit, Szenen aus seinem emotionalen Leben schreiben zu können, die tatsächlich eine Bedeutung haben“, meinte Idle, der die Stärken der anderen Autoren eher im Umgang mit Albernheiten sieht. John Cleese wiederum mutmaßte, bei diesem Sketch viel vom Stil Jones’ und Palins übernommen zu haben, die oft absurde Streitereien über völlig Unwichtiges thematisierten. Von „obszöner Respektlosigkeit“ ist in vielen Besprechungen die Rede. Doch im Zentrum der Satire, die offenbar so viel Freude am Tabubruch zur Schau stellt, scheint sich ebenso viel Ernsthaftigkeit zu finden: „[…] die sonst so begnadete Knallcharge Graham Chapman spielt bis zum letzten homerischen Lachen nichts als Verwirrung und Leid.“ Themen und Motive Bibel Die Darstellung Jesu in zwei kurzen Szenen zu Beginn des Films orientiert sich stark an der christlichen Ikonografie: Die Widerstandskämpfer verließen die wortgetreu vorgetragene Bergpredigt verärgert, weil ihnen Jesus zu friedfertig war: „Selig sind offenbar so ziemlich alle, die ein persönliches Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo haben […]“ Über die respektvolle Darstellung Jesu hinaus suggeriert der Film nach Auffassung der meisten Rezipienten auch nicht, dass es keinen Gott gebe oder Jesus nicht Gottes Sohn sei. Der Auftritt eines von Jesus geheilten Leprakranken bestätige die Evangelien, denen zufolge Christus Wunder vollbracht habe. Nach den Einleitungsszenen verschwindet zwar jeder direkte Bezug auf Jesus, doch dient dessen Lebensgeschichte teils als Rahmen und Subtext der Geschichte Brians. Dass Brian der uneheliche Sohn eines Römers ist, könnte auf die polemische Legende anspielen, Jesus sei der Sohn des römischen Soldaten Panthera. Brian selbst spricht, als er sich als Prophet ausgeben muss, von den „Lilien auf dem Felde“ oder artikuliert in Klarheit: „Richtet nicht über andere, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.“ Die Annahme, dass Brian zusammenhanglos wiederholt, was er von Jesus aufgeschnappt hat, liegt nahe. Neben Jesus kommt noch eine weitere in den Evangelien namentlich genannte Person vor: Pontius Pilatus verkommt im Film „zur absoluten Witzfigur“. Obwohl es im Vorfeld der Kreuzigung Anspielungen auf Barabbas gibt, findet sich in Life of Brian keine Figur, die Judas oder Kajaphas entspräche. „Ob beabsichtigt oder nicht, die Entscheidung, Kajaphas nicht zu verkörpern, beugt der Möglichkeit vor, den Film als antisemitisch aufzufassen.“ Dass die Kreuzigung, ein Hauptmotiv der christlichen Ikonografie, innerhalb der Erzählweise des Films von ihrem historischen Kontext aus betrachtet und als routiniert durchgeführte Massenkreuzigung inszeniert wird, sorgte unter gläubigen Christen für Irritationen. Glaube und Dogmatismus Erklärtes Ziel der Satire ist nach übereinstimmenden Beobachtungen von Filmwissenschaftlern und Äußerungen der Pythons nicht Jesus und seine Lehre, sondern religiöser Dogmatismus. Die Bergpredigt zu Beginn des Films macht diesen Zugang deutlich: Nicht nur die schlechte Akustik erschwert das Verständnis der Aussagen Jesu. Die Zuhörer scheiterten daran, das Gesagte richtig und sinnvoll zu interpretieren: Als Jesus „Blessed are the peacemakers“ („Selig sind die Friedfertigen“) spricht, verstehen die Zuhörer das phonetisch ähnliche „Cheesemakers“ („Käser“) und interpretieren dies wiederum als Metapher und Seligsprechung aller, die „Molkereiprodukte erzeugen“. Im Sinne des Philosophen David Hume persifliert Life of Brian die starke Neigung der Menschen, an das Außergewöhnliche und Fantastische zu glauben. Als Brian seine Predigt abbricht und sich von den Zuhörern abwendet, fasst die Menge es so auf, dass Brian das Geheimnis ewigen Lebens nicht preisgeben wolle, und folgt ihm auf Schritt und Tritt. In ihrem Bedürfnis, sich einer Autorität zu unterwerfen, erklärt die Menschenmenge Brian erst zum Propheten und schließlich zum Messias. Die Gläubigen versammeln sich in Massen unter Brians Fenster, um einen göttlichen Segen zu erhalten. Hier spricht Brian nach übereinstimmenden Angaben die Kernbotschaft des Films aus: „Ihr sollt niemandem folgen. Ihr sollt selbständig denken.“ Als nach der Veröffentlichung viele Gläubige gegen Life of Brian protestierten, sahen die Pythons diese Kernaussage der Satire bestätigt. Terry Jones meinte, Life of Brian „ist nicht Blasphemie, sondern Häresie“, da er sich gegen die kirchliche Autorität wende, während der Glaube an Gott unangetastet bliebe: „Christus sagt all diese wundervollen Dinge über Friede und Liebe, doch zweitausend Jahre lang bringen sich die Leute gegenseitig in seinem Namen um, weil sie sich nicht einigen können, wie oder in welcher Reihenfolge er es gesagt hat.“ Als die Anhängerschaft über die richtige Interpretation einer von Brian verlorenen Sandale streitet, ist das laut Terry Jones „die Geschichte der Kirche in drei Minuten“. Auch Kevin Shilbrack war der Ansicht, tatsächlich könne man „fromm sein und dennoch mit dem Film vollkommen glücklich sein“. Dass Dogmatismus in den Reihen der politischen Linken Ziel des Spotts ist, ging in der Kontroverse meist unter. Laut John Cleese entstanden damals im Vereinigten Königreich schier unüberschaubar viele linke Organisationen und Parteien, die eher sich gegenseitig bekämpften als den politischen Gegner – weil es ihnen so wichtig war, „dass ihre Lehre rein war“. Der Anführer der „Volksfront von Judäa“ macht im Film klar: „Die einzigen, die wir noch mehr hassen als die Römer […] sind die von der Scheiß „Judäischen Volksfront“ Verstrickt in ständige Debatten und deren genaue Protokollierung lesen diese „recht vertrottelten Revolutionäre“ schließlich Brian am Kreuz eine ausgefeilte Erklärung vor, anstatt ihn zu retten. So akzeptieren sie indirekt die Besatzer und deren Hinrichtungsmethoden als Schicksal, das man zu ertragen hat. Kaum Beachtung in den Besprechungen fand auch der Seitenhieb auf die Frauenbewegung, die in den 1970er-Jahren begann, auf sich aufmerksam zu machen. Widerstandskämpfer Stan möchte – in der Sprache der politischen Aktivisten – „sein Recht als Mann“ nutzen, eine Frau zu sein. Weil niemandem das Recht, Babys zu bekommen, genommen werden dürfe, akzeptiert die Gruppe ihn nun fortwährend als „Loretta“. Außerdem setzt sich infolgedessen als neue Sprachregelung „Geschwister“ statt „Bruder“ bzw. „Schwester“ durch. Individualismus und Sinnlosigkeit Die große Anhängerschar Brians folgte ihm bis zum Schlafzimmerfenster. Irritiert von der Verehrung, die sie ihm entgegenbringt, erklärt er der gläubigen Menschenmasse: „Ihr braucht mir nicht zu folgen. Ihr braucht niemandem zu folgen. Ihr seid alle Individuen. […] Lasst euch von niemandem sagen, was ihr zu tun habt.“ Diese oft rezipierte Szene ist laut Edward Slowik „zweifellos einer jener seltenen Momente“, in dem die Pythons „offen und direkt ein philosophisches Konzept“ ausdrücken. Schon die Fernsehserie Monty Python’s Flying Circus, für die sich die Komikergruppe Ende der 1960er-Jahre formierte, basierte in ihrem Humorverständnis auf Individualismus und Unangepasstheit. Life of Brian bringt die existenzialistische Auffassung, wonach jeder selbst dem eigenen Leben Sinn geben müsse, auf den Punkt. Brian kann man demnach als Existenzialisten in der Tradition Friedrich Nietzsches und Jean-Paul Sartres bezeichnen: Er ist aufrichtig sich selbst und anderen gegenüber und führt, so gut er kann, ein „authentisches Leben“. Allerdings ist Brian zu naiv, um als Held im Sinne Albert Camus’ zu gelten. In der Auffassung Camus’ findet die Suche nach dem Sinn des eigenen Lebens in einer zutiefst absurden, sinnlosen Welt statt. Der „absurde Held“ rebelliert gegen diese Sinnlosigkeit und bleibt seinen Zielen treu, obwohl er weiß, dass sein Kampf langfristig ohne Wirkung bleibt. Brian hingegen ist nicht in der Lage, die Sinnlosigkeit seiner Situation zu erkennen, und kann deshalb auch nicht darüber triumphieren. Dass die Welt absurd ist und jedes Leben ohne übergeordneten Sinn gelebt werden muss, ist – da ist sich Kevin Shilbrack in Monty Python and Philosophy sicher – die Grundauffassung des Films. Die vorletzte Strophe des populären Liedes Always Look on the Bright Side of Life würde diese Botschaft klar ausdrücken: Das Finale bringt zum Ausdruck, dass die Hinrichtungen ohne Sinn und Zweck seien. Es gebe „keinen Hinweis, dass ihre Tode irgendeine Bedeutung hätten oder eine bessere Welt auf sie warten würde“. Auf dieser Ebene könnte zwar behauptet werden, dass Life of Brian ein Weltbild vertritt, das jenem der Religion von Grund auf widerspricht: „Das Universum antwortet auf die menschliche Suche [nach Sinn und Glück] mit Stille.“ Doch als Gegengewicht zum Nihilismus bietet Life of Brian, laut Kevin Shilbrack, Humor, der sich wiederum auch mit Religion vertrage: „Gegen die Sinnlosigkeit kommt man nicht an, aber man kann über sie lachen.“ Bühnenadaption Not the Messiah: He’s a Very Naughty Boy ist ein komisches Oratorium, das auf dem Film Monty Python’s Life Of Brian basiert. Geschrieben und komponiert wurde das Werk von Monty-Python-Mitglied Eric Idle und dem Komponisten und Trompeter John Du Prez. Die Uraufführung fand 2007 auf dem Luminato Festival in Toronto statt. Die deutsche Fassung trägt den Filmtitel Monty Python's Das Leben des Brian und wurde 2021 in München am Staatstheater am Gärtnerplatz erstaufgeführt. Literatur Primärliteratur Monty Python: Das Leben Brians. Drehbuch und apokryphe Szenen. Wilhelm Heyne Verlag (Taschenbuchausgabe), München 1994, ISBN 3-453-07154-9 Sekundärliteratur Darl Larsen: A Book about the Film Monty Python’s Life of Brian. Rowman & Littlefield Publishers, 2018, ISBN 978-1-5381-0365-4 Joan E. Taylor: Jesus and Brian. Exploring the Historical Jesus and his Times via Monty Python’s Live of Brian. Bloomsbury T&T Clark, London u. a. 2015, ISBN 978-0-567-65831-9 Gary L. Hardcastle und George A. Reisch (Hrsg.): Monty Python and Philosophy. Carus Publishing Company, Illinois 2006, ISBN 0-8126-9593-3 Heinz-B. Heller und Matthias Steinle (Hrsg.): Filmgenres: Komödie. Philip Reclam, Stuttgart 2005, S. 381–384, ISBN 3-15-018407-X Monty Python, Bob McCabe: Die Autobiografie von Monty Python. Verlagsgruppe Koch GmbH/Hannibal, Höfen 2004, S. 272–307, ISBN 3-85445-244-6 W. Barnes Tantum: Jesus at the movies. Polebridge Press, Santa Rosa 1997, revised and expanded 2004, S. 149–162, ISBN 0-944344-67-4 Andreas Pittler: Monty Python. Über den Sinn des Lebens. Wilhelm Heyne Verlag, München 1997, S. 152–162, ISBN 3-453-12422-7 Kim “Howard” Johnson: The first 200 years of Monty Python. Plexus Publishing Limited, London 1990, S. 205–213, ISBN 0-85965-107-X Robert Hewison: Monty Python: the case against. Eyre Methuen Ltd, London 1981, S. 58–95, ISBN 0-413-48650-8 Weblinks Komplettes Textskript (deutsch) Tonträger mit der Filmmusik Einige Szenen des Films auf dem (in englischer Originalfassung: Romans Go Home, He’s Not The Messiah, Stoning, Biggus Dickus, Hermit und Always Look On The Bright Side of Life). Einzelnachweise Filmtitel 1979 Britischer Film Filmparodie Satirefilm Neues Testament im Film Außerirdische im Film Monty Python
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang%20Borchert
Wolfgang Borchert
Wolfgang Borchert (* 20. Mai 1921 in Hamburg; † 20. November 1947 in Basel) war ein deutscher Schriftsteller. Sein schmales Werk von Kurzgeschichten, Gedichten und einem Theaterstück machte Borchert nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der bekanntesten Autoren der Trümmerliteratur. Mit seinem Heimkehrerdrama Draußen vor der Tür konnten sich in der Nachkriegszeit weite Teile des deutschen Publikums identifizieren. Kurzgeschichten wie Das Brot, An diesem Dienstag oder Nachts schlafen die Ratten doch wurden als musterhafte Beispiele ihrer Gattung häufige Schullektüre. Der Vortrag der pazifistischen Mahnung Dann gibt es nur eins! begleitete viele Friedenskundgebungen. Wolfgang Borchert schrieb schon in seiner Jugend zahlreiche Gedichte, dennoch strebte er lange den Beruf eines Schauspielers an. Nach einer Schauspielausbildung und wenigen Monaten in einem Tourneetheater wurde Borchert 1941 zum Kriegsdienst in die Wehrmacht eingezogen und musste am Angriff auf die Sowjetunion teilnehmen. An der Front zog er sich schwere Verwundungen und Infektionen zu. Mehrfach wurde er wegen Kritik am Regime des Nationalsozialismus und sogenannter Wehrkraftzersetzung verurteilt und inhaftiert. Auch in der Nachkriegszeit litt Borchert stark unter Erkrankungen und einer Leberschädigung. Nach kurzen Versuchen, erneut als Schauspieler und Kabarettist aktiv zu werden, blieb er ans Krankenbett gefesselt. Dort entstanden zwischen Januar 1946 und September 1947 zahlreiche Kurzgeschichten und innerhalb eines Zeitraums von acht Tagen das Drama Draußen vor der Tür. Während eines Kuraufenthalts in der Schweiz starb er mit 26 Jahren an den Folgen seiner Lebererkrankung. Bereits zu Lebzeiten war Borchert durch die Radioausstrahlung seines Heimkehrerdramas im Januar 1947 bekannt geworden, doch sein Publikumserfolg setzte vor allem postum ein, beginnend mit der Theateruraufführung von Draußen vor der Tür am 21. November 1947, einen Tag nach seinem Tod. Leben Ausbildung und erste literarische Versuche Wolfgang Borchert wurde als einziges Kind des Volksschullehrers Fritz Borchert (1890–1959) und dessen Ehefrau, der plattdeutschen Heimatschriftstellerin Hertha Borchert (1895–1985), in Hamburg-Eppendorf geboren. Während der Sohn zeitlebens ein sehr enges Verhältnis zur Mutter hatte, soll das Verhältnis zum später kränkelnden Vater konfliktbeladen gewesen sein. Sowohl die Sehnsucht nach der Mutter als auch schwache und hilflose Vaterfiguren sind häufige Motive in Borcherts späterem Werk. 1928 wurde Borchert in die Erikaschule in Hamburg-Eppendorf eingeschult, an der auch sein Vater unterrichtete. 1932 wechselte er auf die Oberrealschule Eppendorf an der Hegestraße. Am 7. März 1937 wurde Borchert in der St.-Johannis-Kirche konfirmiert, trat jedoch drei Jahre später aus der Kirche aus. Die kulturelle Aufgeschlossenheit der Familie brachte Wolfgang Borchert früh in Kontakt mit Literatur und Kunst. Daraus resultierte auch seine frühe Auflehnung gegen jede Obrigkeit – ob schulische, staatliche oder familiäre –, die die Freiheit der Kunst einzuschränken versuchte. Im Alter von 15 Jahren begann Borchert Gedichte zu schreiben. Seine literarische Produktivität war beträchtlich, er verfasste oft fünf bis zehn Gedichte am Tag. Später bekannte Borchert in einem Brief, dass er seine Texte „nie während des Schreibens erarbeite oder erkämpfe“, sie entständen eher als „ein kurzer Rausch“. Er brauche „zu einem Gedicht kaum mehr Zeit, als nötig ist, die gleiche Menge Worte aus einem Buch abzuschreiben. Hinterher feilen oder ändern kann ich nicht“. Der junge Dichter nannte sich in Anlehnung an sein großes Vorbild Rainer Maria Rilke „Wolff Maria Borchert“ und betrachtete sich als „Genie“. Seine Arbeiten entsprangen stets auch einem Drang zur Selbstdarstellung. Er trug seine Lyrik den Eltern vor oder warb mit ihr um Frauen, schickte sie der mit seiner Mutter befreundeten Schauspielerin Aline Bußmann, später deren Tochter Ruth Hager, seiner unglücklich umschwärmten Jugendliebe. Borcherts Jugendwerke waren geprägt von starkem Pathos sowie wechselnden literarischen Vorbildern wie Rilke oder Hölderlin; andere Gedichte imitierten Benn, Trakl oder Lichtenstein. Laut Peter Rühmkorf gab der jugendliche Borchert kaum Anlass zu literarischen Hoffnungen, denn er sei zu dieser Zeit ein „Allesversucher und Nichtskönner“ gewesen. 1938 publizierte Hugo Sieker im Hamburger Anzeiger Borcherts erstes Gedicht. Es beginnt mit den Versen: Ein Jahr zuvor, im Dezember 1937, war eine Inszenierung von Shakespeares Hamlet im Hamburger Thalia Theater mit Gustaf Gründgens in der Hauptrolle zu einem prägenden Erlebnis für den jungen Borchert geworden. Die Aufführung weckte in ihm den Wunsch, selbst Schauspieler zu werden. Noch in einem Brief von 1946 wertete Borchert den damaligen Theaterbesuch als „Ursache zu meinem Theaterfimmel“. In der Folge schrieb Borchert 1938 mit 17 Jahren sein erstes Drama Yorick der Narr, eine Variation des Hamlet-Stoffs. Ein Jahr später folgte die zusammen mit seinem Freund Günter Mackenthun verfasste Komödie Käse, eine Persiflage auf den Nationalsozialismus, und 1940 das dramatische Gedicht Granvella. Der schwarze Kardinal. Borcherts kaum bekannten und unaufgeführt gebliebenen Jugenddramen wurden erst 2007 als Privatdruck publiziert. Während Borchert sich seiner neu entdeckten Liebe zur Literatur und dem Theater verschrieb, waren die schulischen Leistungen des ehemals guten Schülers kontinuierlich schlechter geworden, sodass schließlich seine Versetzung gefährdet war. Im Dezember 1938 ging er ohne Abschluss nach der Obersekunda von der Oberrealschule ab. Sein letztes Zeugnis wies Noten von „befriedigend“ in Deutsch bis zu „ungenügend“ in Mathematik auf, begleitet vom Urteil: „Wolfgang zeigt fast die ganze Zeit eine zu geringe häusliche Mitarbeit. Es ist eine viel stärkere Anspannung aller Kräfte notwendig.“ Auf Betreiben seiner Eltern begann Borchert 1939 eine Buchhändlerlehre bei Heinrich Boysen, nebenbei jedoch verfolgte er weiterhin seine Leidenschaft und nahm Schauspielunterricht bei Helmuth Gmelin. Im April 1940 kam Borchert, nachdem die Familie in den Stadtteil Hamburg-Alsterdorf umgezogen war, erstmals in Konflikt mit der Staatsmacht. Er wurde von der Gestapo festgenommen und über Nacht gefangen gehalten und verhört. Ihm wurde vorgeworfen, in seinen Gedichten die Homosexualität zu verherrlichen und ein Verhältnis mit einem jungen Mann namens Rieke zu haben. Einige Zeitzeugen berichteten tatsächlich von einem regelmäßigen Besucher dieses Namens in der Buchhandlung Boysen, andere unterstellten den Polizisten, die von Borchert in einem Brief gepriesene „Rilke-Liebe“ falsch entziffert und missinterpretiert zu haben. Möglicherweise waren auch gesellschaftskritische Schriften Borcherts an die Gestapo gelangt oder die Familie wurde seit einer Denunziation gegen Hertha Borchert aus dem Jahr 1934, die der Familie „eine sonderbare Stellung der nationalsozialistischen Bewegung gegenüber“ vorwarf, überwacht. Seiner Jugendliebe Ruth Hager berichtete Borchert, dass seine Post oft von der Gestapo geöffnet werde. Er setzte jedoch sorglos hinzu: „nun, sie werden es schon wieder lassen.“ Noch im gleichen Brief versandte er einige der politisch beanstandeten Verse. Auch mit regimekritischen Künstlerkreisen wie dem Hamburger Musenkabinett pflegte er weiterhin unerschrocken Umgang. Im Dezember 1940 brach Borchert seine Lehre ab und konzentrierte sich fortan auf die Schauspielausbildung, die er am 21. März 1941 mit einer Abschlussprüfung bestand. Bereits am 3. April wurde er von der Landesbühne Osthannover engagiert, einem Tourneetheater mit Sitz in Lüneburg. Obwohl er hauptsächlich kleine Rollen spielte und sein schauspielerisches Talent von Kollegen als nur bescheiden eingeschätzt wurde, sprach Borchert von den folgenden drei Monaten als „einer kurzen, wunderbaren Theaterzeit“, zu der auch seine Liebesbeziehung zur Schauspielerin Heidi Boyes (1917–2016) beitrug. Im Juni 1941 beendete Borcherts Einberufung zum Kriegsdienst nach eigenen Worten die „schönste Zeit“ seines Lebens. In einem Brief klagte der junge Schauspieler, er fühle sich aus seinem „Lebenstraum gerissen“. Zweiter Weltkrieg Vom Juli bis September 1941 durchlief Borchert seine Grundausbildung bei der Panzer-Nachrichten-Ersatz-Abteilung 81 in Weimar-Lützendorf. Er litt unter dem militärischen Drill, gleichzeitig erwachte sein Widerstandsgeist, der sich in zahlreichen Briefen an Verwandte und Freunde Ausdruck verschaffte. Auf einer Postkarte mit dem Bild seiner Kaserne grüßte er offen „[a]us einem der schönsten Zuchthäuser des Dritten Reichs“. Borcherts Einheit nahm als Teil der Heeresgruppe Mitte am deutschen Angriff auf die Sowjetunion teil; am 10. September 1941 fuhr Borchert aus Weimar ab, erreichte später Pytalowo und Witebsk. Im Dezember wurde er an die Front bei Smolensk abkommandiert. Viele spätere Kurzgeschichten thematisierten Borcherts Fronterfahrung. So griff er in Jesus macht nicht mehr mit eine Episode auf, in der er zum Ausmessen von Gräbern für die Gefallenen abkommandiert worden war. In Der viele viele Schnee beschrieb er einen einsamen Postengang im russischen Winter: „Und der Schnee, in dem er stand, machte die Gefahr so leise. So weit ab. […] Das macht verrückt. Diese ewige Stille. Diese ewige!“ Am 23. Februar 1942 kehrte Borchert von einem solchen Postengang mit einer Schussverletzung der linken Hand zurück. Der linke Mittelfinger musste amputiert werden. Nach Borcherts Angaben war unmittelbar vor ihm ein sowjetischer Soldat aus einem Deckungsgraben aufgetaucht. Im Handgemenge habe sich ein Schuss aus der eigenen Waffe gelöst, worauf sein Gegenüber geflohen sei. Borcherts Vorgesetzter äußerte in einem Vermerk den Verdacht der Selbstverstümmelung. Der Vorfall wurde auch nach dem Krieg nie aufgeklärt. Borcherts Umfeld bezweifelte eine vorsätzliche Verletzung, da er als Schauspieler seinen Händen eine hohe Bedeutung beigemessen habe und sich der drakonischen Strafen für Selbstverstümmelung bewusst gewesen sei. Borchert selbst schwieg zu den Geschehnissen. Mit Diphtherie wurde Borchert ins Heimatlazarett nach Schwabach verlegt, wo er am 3. März 1942 eintraf. Kaum genesen, wurde er am 25. Juni noch im Städtischen Krankenhaus wegen des Vorwurfs der Selbstverstümmelung verhaftet. Der Prozess fand am 31. Juli in Nürnberg statt. Die Anklage forderte die Todesstrafe, das Gericht entschied jedoch auf Freispruch. Allerdings blieb Borchert weiterhin in Untersuchungshaft, da die zusammengetragenen belastenden Indizien, insbesondere Borcherts briefliche Korrespondenz mit ihrer unverhohlen geäußerten Kritik, zu einer Anklage wegen Verstoßes gegen das Heimtückegesetz führten. In einem zweiten Prozess wurde Borchert zu acht Monaten Gefängnis verurteilt, das Urteil anschließend auf Antrag der Verteidigung in sechs Wochen verschärften Arrest mit anschließender sogenannter „Frontbewährung“ umgewandelt. Seine Erlebnisse im Nürnberger Militärgefängnis bildeten die Basis seiner späteren Erzählung Die Hundeblume. Noch kurz vor seinem Tod bestätigte Borchert in einem Brief, „daß es diesen Hundeblumen-Mann gibt, daß er 21 Jahre alt war und 100 Tage in einer Einzelzelle saß mit dem Antrag des Anklagevertreters auf Tod durch Erschießen!“ Am 8. Oktober 1942 wurde Borchert aus der Haft entlassen. Er kehrte zum Ersatztruppenteil in Saalfeld zurück und wurde dann nach Jena versetzt. Im November 1942 traf er erneut an der Front ein und nahm als Melder an den Kämpfen um Toropez teil. Borchert zog sich bei den Einsätzen Erfrierungen zweiten Grades an beiden Füßen zu und wurde im Feldlazarett behandelt. Hinzu kamen ein fieberhafter Infekt, anhaltende Gelbsucht sowie der Verdacht auf Fleckfieber, der sich jedoch nicht bestätigte. Im Januar 1943 wurde Borchert ins Seuchenlazarett Smolensk verlegt, aus dem nach seinen Worten „täglich ein halbes Dutzend Tote rausgetragen wurden“. Den Lageraufenthalt baute er später in seine Erzählung An diesem Dienstag ein. Noch immer nicht imstande zu gehen, wurde Borchert im März zur Genesung ins Reservelazarett Elend im Harz überstellt, wo ihm auch Heimaturlaube ermöglicht wurden. Seine Fronterlebnisse verarbeitete Borchert in einer Erinnerung an einen gefallenen Kameraden, die unter dem Titel Requiem für einen Freund am 19. Juli 1943 als erster veröffentlichter Prosatext Borcherts im Hamburger Anzeiger erschien. Dennoch blieb die Lyrik weiterhin seine Hauptausdrucksform, so auch im Gedicht Brief aus Rußland aus dieser Zeit: Wenige Wochen nach dem ersten Hamburg-Besuch fand Borchert auf einem erneuten Heimaturlaub im August 1943 die Stadt völlig verändert vor. Durch Bombenangriffe, die erst einige Tage zurücklagen, waren weite Teile Hamburgs zerstört. Borcherts Betroffenheit über die ausgedehnte Trümmerlandschaft klang in einer späteren Erzählung über den kanadischen Fliegerfeldwebel Bill Brook und den gleichnamigen Hamburger Stadtteil nach: „Nur die Schornsteine stachen wie Leichenfinger in den Spätnachmittagshimmel. Wie Knochen eines riesigen Skelettes. Wie Grabsteine.“ Dennoch bewahrte sich Borchert seinen Tatendrang und seinen Humor. Er nutzte den Urlaub für Gedichte über seine Heimatstadt und Auftritte mit komischen Versen im Kabarett Bronzekeller. Auch nach der Abreise beschäftigte ihn das Schicksal Hamburgs. In einem Brief aus dem Oktober 1943 erkundigte er sich: „was macht unsere Ruinenstadt? Lebt sie noch? Ich glaube, wir sind dazu verpflichtet, sie nicht sterben zu lassen – wir müssen sie wieder aufbauen.“ In vielen Texten setzte Borchert seiner Geburtsstadt ein literarisches Denkmal. So schwärmte er in Hamburg: „Hamburg! Das ist mehr als ein Haufen Steine, unaussprechlich viel mehr! […] Das ist unser Wille, zu sein: Hamburg!“ Zurückgekehrt zu seiner Einheit in Jena wurde Borchert, noch immer unter Fieberanfällen leidend, für frontdienstuntauglich erklärt. Das Zeugnis seines Kompaniechefs, demzufolge Borcherts komödiantische Einlagen im Krieg wiederholt die Moral der Kompanie aufgerichtet hätten, ermöglichte die Versetzung zum Fronttheater einer Truppenbetreuung. Borchert selbst fühlte sich „fünf Minuten vor einem so herrlichen Ziel“, als er in der Nacht des 30. November in einer Durchgangskompanie in Kassel-Wilhelmshöhe vor seinen Stubenkameraden in ausgelassener Stimmung eine Goebbels-Parodie vorführte, die das Sprichwort „Lügen haben kurze Beine“ auf Goebbels’ Klumpfuß bezog. Am nächsten Tag zeigte ihn ein Denunziant an; Borchert wurde festgenommen und zurück nach Jena überführt. Noch an den offenen Ton und den Galgenhumor aus den Lazaretten gewöhnt, war er überrascht von der Heftigkeit der Reaktion auf seine Vorführung. In einem Brief an seinen Anwalt Curt Hager betonte er, dass er sich „keineswegs schuldig fühle für so ein Staatsverbrechen“, er habe „schlimmstens eine Dummheit“ begangen. Im Januar 1944 kam Borchert zur Untersuchungshaft ins Zellengefängnis Lehrter Straße in Berlin-Moabit. Er litt unter den schlechten Haftbedingungen, sowohl was die sanitären Zustände als auch was die Verpflegung betraf, jedwede ärztliche Versorgung wurde ihm verweigert. Pro Zelle waren fünf bis sechs Mann zusammengesperrt, teils politische Häftlinge, teils zivile Straftäter; immer wieder kam es zu tätlichen Auseinandersetzungen. Ein homosexueller Mithäftling, angeklagt des Mordes an seiner Tante, fand später Eingang in Borcherts Kurzgeschichte Unser kleiner Mozart. Auch einige der Angeklagten des Attentats vom 20. Juli 1944 wurden im Moabiter Zellengefängnis inhaftiert und von den Wächtern vor den Augen der anderen Gefangenen schikaniert. Am 21. August fand Borcherts Verhandlung vor dem Zentralgericht des Heeres statt. Er wurde wegen Wehrkraftzersetzung zu einer Gefängnisstrafe von neun Monaten verurteilt, unter Anrechnung von fünf Monaten Untersuchungshaft. Das Urteil wurde am 4. September rechtskräftig und Borchert gleichzeitig „Strafaufschub zwecks Feindbewährung“ bewilligt. Seine Einstufung als „bedingt kriegsverwendungsfähig“ bewahrte ihn vor dem erneuten Einsatz an der Front. Borchert verbrachte die letzten Kriegsmonate in der Garnison in Jena. Seine wiedergewonnene Freiheit wurde, wie er in einem Brief bekannte, überschattet von „den Nachwehen meiner Berliner Zeit, denn ich habe keinen guten oder frohen Gedanken.“ Verstärkt suchte Borchert Zuflucht in der Kunst. Erstmals spielte er mit dem Gedanken, nach dem Krieg Schriftsteller zu werden, und erfand das Pseudonym „Kai Wasser“, das er später jedoch nie verwendete. Daneben begann er in seiner freien Zeit zu malen. Als am 29. März 1945 amerikanische Truppen Frankfurt am Main besetzten, kam es zu einem letzten Einsatz seiner Einheit, doch die führungslosen Soldaten ergaben sich bei Frankfurt ohne Widerstand. Während der Überführung in französische Gefangenschaft gelang Borchert die Flucht vom Lieferwagen. Er schlug sich 600 Kilometer zu Fuß nach Norden durch und erreichte, schwer krank und völlig erschöpft, am 10. Mai 1945 Hamburg. Nachkriegszeit In der Nachkriegszeit war Borchert beseelt vom Verlangen, die verlorene Zeit nachzuholen. In einem Brief schrieb er einem Freund: „Ich werde nach diesen Jahren mit N. S. Einheitsfrisur und Einheitscharakter und Mittelmäßigkeit etwas ganz Verrücktes aushecken!!!“ Borchert befreundete sich mit Künstlern wie Curt Beckmann und Rosemarie Clausen. Obwohl noch immer von seiner Gelbsucht und den Fußverletzungen geplagt, wurde er in der Theater- und Kabarettszene Hamburgs aktiv. Er schrieb Texte für das Kabarett Janmaaten im Hafen seines späteren Verlegers Bernhard Meyer-Marwitz, doch Borcherts körperliche Verfassung ließ nur den Auftritt in der ersten Vorstellung am 27. September 1945 zu. Es blieb sein letzter Bühnenauftritt. Als das von Borchert mitbegründete Hinterhoftheater Die Komödie in Hamburg-Altona am 11. November eröffnete und einen guten Monat später wieder schloss, war er bereits bettlägerig und konnte sich in der Wohnung seiner Eltern nur noch an die Wände gestützt fortbewegen. Die Premiere von Lessings Nathan der Weise im Hamburger Schauspielhaus, deren erste Proben er als Regieassistent an der Seite von Helmuth Gmelin begleitet hatte, fand am 21. November ohne ihn statt. Dennoch hielt Borchert an der Hoffnung fest, eines Tages wieder auf der Bühne zu stehen. In einem „Antrag auf Ausstellung eines Ausweises für politisch, rassisch und religiös durch den Nazismus Verfolgte“ vom Mai 1946 gab er als Beruf „Schauspieler“ an, und auch in einem Brief aus dem Mai 1947 zu seinem Erfolg als Schriftsteller betonte er noch: „von Haus aus bin ich Schauspieler.“ Anfang Dezember 1945 wurde Borchert ins Hamburger Elisabeth-Krankenhaus eingeliefert. Seine Fieberanfälle verschlimmerten sich und ließen den anfänglich noch auf baldige Genesung Hoffenden immer mutloser werden. In dieser Situation wandte er sich dem Schreiben zu. Datiert auf den 24. Januar 1946 entstand Borcherts erster umfangreicher Prosa-Text, die Erzählung Die Hundeblume. Peter Rühmkorf wertete die Erzählung als ersten meisterlichen Text Borcherts. Dabei sei sie keine Folge einer allmählichen Entwicklung des Talents, sondern stelle eine „unvermittelte Geburt des Vermögens“ dar, in der Borchert stilistische Fertigkeiten demonstriere, die er zuvor nicht habe erkennen lassen. Die plötzliche literarische Entfaltung ging einher mit Borcherts Wechsel von Lyrik zu Prosa als hauptsächlicher Ausdrucksform. Borchert selbst urteilte im März 1946 über seine Erfahrungen in der neu entdeckten Literaturgattung: „Ich muß mich erst an Prosa gewöhnen – Prosa geht mir zu langsam, ich bin zu sehr an Tempo gewöhnt.“ Die Hundeblume wurde am 30. April und 4. Mai 1946 in gekürzter Fassung in der Hamburger Freien Presse veröffentlicht. Heinrich Maria Ledig-Rowohlt wurde auf die Erzählung aufmerksam und stellte die Publikation einer Kurzgeschichtensammlung in Aussicht, falls Borchert weitere Hundeblumen bieten könne. Anfang April wurde Borchert aus dem Krankenhaus entlassen, ohne dass sich sein Zustand gebessert hatte. Eine Röntgenbestrahlung hatte nicht angeschlagen, Penicillin war nur in geringen Mengen zu beschaffen gewesen, die entzündete Leber schwoll immer stärker an. Borchert nahm die Entlassung mit Zynismus: „Da die vorhandenen deutschen Mittel die Krankheit nicht heilen können, wurde der Patient als nicht geheilt entlassen.“ Auch in der Wohnung seiner Eltern blieb Borchert pflegebedürftig und bettlägerig. Seine Tage teilten sich in Fieberanfälle und obsessive Arbeit. Halb sitzend verfasste er in seinem Krankenbett eine Geschichte nach der anderen. Da Papier knapp war, schrieb er in Schulhefte oder auf Rückseiten von Briefen. Borcherts Vater tippte nach Feierabend die Geschichten auf der Schreibmaschine ab. Auf einer nachträglich in Basel entstandenen Auflistung finden sich bis Jahresende 1946 29 Prosatexte, 1947 folgten weitere 21 Arbeiten. Allerdings blieb diese Liste unvollständig. Ohne dass sich eine klare Entwicklung erkennen ließ, sprangen die Sujets zwischen leichten und schweren Texten, zwischen Kurzgeschichten und Prosa-Manifesten – Borchert bezeichnete sie ohne Unterscheidung als „Storys“. Viele hielt er für ungeeignet zur Veröffentlichung, und er bekannte in einem Brief: „im Ganzen befriedigt mich meine Arbeit nicht. In dem Moment, wo ich schreibe, muß ich es tun. Es zwingt mich!!! Hinterher sehe ich beim Anblick des Geschriebenen aber keine Notwendigkeit mehr und finde alles journalistisch und literarisch!!!“ Im Dezember 1946 entstand Borcherts erste Buchpublikation. Bernhard Meyer-Marwitz’ Hamburgische Bücherei veröffentlichte die Gedichtsammlung Laterne, Nacht und Sterne mit 14 Gedichten aus der Zeit zwischen 1940 und 1945, die allesamt um Borcherts Heimatstadt Hamburg kreisen, in einer Auflage von 3000 Exemplaren. Folgende Verse leiteten das Buch ein: Im Spätherbst 1946 – Rühmkorf datiert den Zeitpunkt dagegen auf Januar 1947 – schrieb Wolfgang Borchert in einer Zeitspanne von acht Tagen sein Drama Draußen vor der Tür nieder. Anschließend lud er Freunde ein und deklamierte das Stück in einer dreistündigen Lesung. Die beeindruckten Freunde wollten versuchen, das Stück auf die Bühne zu bringen. Das Manuskript gelangte auch zum Nordwestdeutschen Rundfunk, wo sich der Chefdramaturg Ernst Schnabel für eine Hörspieladaption interessierte. Borcherts ursprüngliche Fassung wurde für den Rundfunk bearbeitet, teilweise gekürzt und am 2. Februar 1947 eingesprochen. Am 13. Februar erfolgte die Ausstrahlung im Abendprogramm. Borchert selbst konnte die Sendung wegen einer Stromsperre nicht empfangen, doch das Hörspiel wurde im weiten Ausstrahlungsgebiet des NWDR ein unmittelbarer Erfolg. Als Reaktion erhielt der Sender eine ungewöhnlich hohe Zahl von Hörerbriefen, deren Spektrum von Begeisterung bis zu Empörung reichte. Viele Hörer bekundeten, der Autor habe ihnen aus der Seele gesprochen. In der Folge interessierten sich verschiedene Theater für eine Bühnenaufführung, allen voran Ida Ehre, die Gründerin und Leiterin der Hamburger Kammerspiele, die das Stück für den November 1947 zur Uraufführung annahm. Der Erfolg von Draußen vor der Tür änderte Borcherts Leben grundlegend. In der Folge erhielt der Kranke zahlreiche Briefe und Besuche, verschiedene Verleger erkundigten sich nach weiteren Arbeiten. Borchert schloss einen Vertrag mit dem Rowohlt Verlag, der 1949 sein Gesamtwerk publizierte. Im Juni 1947 erschien in der Hamburgischen Bücherei Borcherts erste Kurzgeschichtensammlung Die Hundeblume, im November 1947 die zweite Sammlung An diesem Dienstag, jeweils in einer Startauflage von 5000 Exemplaren und mit der baldigen Folge einer zweiten Auflage. Borchert selbst nahm im Juni des Jahres einen regelrechten „Borchert-Rummel“ wahr. Er schrieb auch über das Jahr 1947 hinweg zahlreiche Kurzgeschichten und plante einen Roman unter dem Titel Persil bleibt Persil, der jedoch nicht über das Anfangsstadium hinauskam. Sein Leben und Arbeiten blieb überschattet von der Krankheit. Nach dem kalten Winter litt der fiebernde Borchert nun unter dem heißen Sommer 1947. In einem Brief bekannte er: „Ich will keine Zeile mehr schreiben können, wenn ich nur mal über die Straße gehen dürfte, mal wieder Straßenbahn fahren – und an die Elbe gehen“. Seine Hoffnung setzte er auf einen Kuraufenthalt in der Schweiz, den ihm seine neu gewonnenen Verleger Ernst Rowohlt, Henry Goverts und Emil Oprecht ermöglichen wollten, doch die Beantragung der Ausreisegenehmigung und des Schweizer Visums zögerte sich hinaus, erschwerend kam die notwendige Hinterlegung von 5000 Schweizer Franken für den Aufenthalt Borcherts hinzu. Die Grenzen waren geschlossen, die Militärbehörden mussten die Fahrt durch die Besatzungszonen genehmigen, deutsches Geld durfte nicht in die Schweiz überwiesen werden. Schließlich reiste Borchert am 18. September per Zug aus Hamburg ab. Henry Goverts nahm den Kranken an der Schweizer Grenze in Empfang. Borcherts Gesundheitszustand ließ den ursprünglich geplanten Weitertransport nach Davos nicht zu. Stattdessen wurde er ins nahe gelegene Basler St. Claraspital eingeliefert. Borchert, der sich im fremden Land wie im katholisch geführten Krankenhaus unwillkommen und isoliert fühlte, ahnte bereits: „Ich werde nicht mehr aufstehen. Ich kann nicht mehr.“ Sein Zustand verschlechterte sich von Tag zu Tag, Borchert litt an Krampfanfällen und es traten erste innere Blutungen auf. Dennoch empfing der Todkranke noch eine Reihe von Besuchern und arbeitete weiterhin. Der Prosatext Dann gibt es nur eins!, laut Bernhard Meyer-Marwitz wenige Tage vor Borcherts Tod geschrieben, gilt als letzte in Basel entstandene Arbeit und wird vielfach als Borcherts Vermächtnis gewertet. Er ist in einem Aufruf an die Leser gerichtet: Wolfgang Borchert starb am 20. November 1947. Die pathologische Untersuchung ergab, dass er an einer überempfindlichen Leber gelitten hatte, die durch andauernde Ernährungsmängel immer stärker geschädigt worden und am Ende zu enormer Größe angeschwollen war. Der Pathologe äußerte Erstaunen, „daß dieser junge Mensch hat so lange leben und arbeiten können.“ Die von Emil Oprecht organisierte Trauerfeier fand im Krematorium des Basler Friedhofs am Hörnli statt. Einen Tag nach Borcherts Tod, am 21. November 1947, fand die Uraufführung von Draußen vor der Tür in den Hamburger Kammerspielen statt. Erst kurz vor Premierenbeginn erreichte die Todesmeldung die Mitwirkenden, der Regisseur Wolfgang Liebeneiner informierte das Publikum, in dem sich auch Borcherts Eltern befanden. Die Uraufführung wurde ein großer Erfolg. Nachdem Borcherts Urne nach Hamburg überstellt worden war, fand am 17. Februar 1948 unter reger Anteilnahme auf dem Ohlsdorfer Friedhof die Beisetzung statt. Das Grab Wolfgang Borcherts und seiner Eltern befindet sich am Stillen Weg beim westlichen Ende des Friedhofs Ohlsdorf in der Sektion AC 5/6. Es wurde vom Hamburger Senat im Jahr 2010 geschützt, indem es in die Liste der „Grabstätten von öffentlichem Interesse“ aufgenommen wurde. Künstlerisches Schaffen Literarische Position und Einflüsse Wolfgang Borchert gilt heute als einer der bekanntesten Vertreter der so genannten Kahlschlags- oder Trümmerliteratur. Schriftsteller dieser wenige Jahre währenden Literaturepoche nach dem Zweiten Weltkrieg antworteten auf den Zusammenbruch der alten Strukturen und die traumatischen Erfahrungen des Krieges mit der Forderung nach einer Tabula rasa in der Literatur. Das Ziel eines inhaltlichen und formalen Neuanfangs sollte eine ungeschönte und wahrhaftige Darstellung der Realität sein. Allerdings widersprachen auch Stimmen dieser Kategorisierung Borcherts, die sein Werk auf seinen zeitlichen Bezug reduziere. So sah Gordon J. A. Burgess, zeitweiliger Vorsitzender der Internationalen Wolfgang-Borchert-Gesellschaft, Borcherts Werke zu Unrecht „als Schullektüre und Trümmerliteratur herabgewürdigt[…]“. Sowohl stilistisch als auch thematisch war Borchert stark vom Expressionismus beeinflusst, der im ersten Vierteljahrhundert des 20. Jahrhunderts für die deutsche Literatur prägend gewesen war, während expressionistische Strömungen in der Literatur in der Zeit des Nationalsozialismus unterdrückt und ihre Künstler verfolgt worden waren. Oft wurde Borchert als später Nachfahre, Erbe oder gar als Epigone des Expressionismus gewertet. Für Hans Mayer etwa war der von Borchert propagierte literarische Neubeginn bloß eine „Novität aus zweiter Hand“. Borcherts moralisch motivierter und gefühlsbetonter Protest verwies ebenso auf den Stil des Expressionismus wie seine repetitive und expressive Sprache. Sein Theaterstück Draußen vor der Tür folgte dem Muster eines Stationendramas, das ausgehend von August Strindberg das expressionistische Drama bestimmt hatte. Wie bewusst Borchert die Tradition der zurückliegenden Literaturepoche aufgriff, ist nicht bekannt, allerdings waren ihm deren Werke vertraut. In einem Jugendbrief von 1940 erklärte er: „Ich bin Expressionist – mehr noch in der inneren Anlage und Geburt als in der Form.“ Sieben Jahre später, im Mai 1947, verwies Borchert auf eine andere literarische Tradition, indem er jetzt Autoren amerikanischer Short Stories wie Ernest Hemingway und Thomas Wolfe als seine Lieblingsautoren angab. Auch Alfred Andersch benannte bereits 1948 deren Einfluss: „Gepriesen seien die Freunde, die ihm Wolfe, Faulkner, Hemingway in die Hand gaben. Hätte er das, was er zu sagen hatte, mit den Stilmitteln Wiecherts oder Carossas, Hesses oder Thomas Manns ausdrücken können?“ Dass Wolfgang Borchert von amerikanischen Short Stories beeinflusst gewesen sei und ob er sie überhaupt kannte, war vor der Veröffentlichung von Borcherts Briefen immer wieder bezweifelt worden, allerdings erkannte Werner Bellmann einen deutlichen Stilwechsel von den frühen Lyrismen und Sentimentalitäten zu den späteren Texten, die von Aussparungen, sorgfältiger Komposition, Lakonie und Understatement bestimmt waren. Eine Untersuchung Kerstin Möller Osmanis wies eine Rezeption der Texte Ernest Hemingways bei Borchert wie anderen deutschen Nachkriegsautoren nach, sowohl was die Übernahme einzelner Charakteristika des Stils wie auch der Erzählform angeht. Die Priorität der Nachkriegsliteratur habe aber auf ihrem inhaltlichen Engagement gelegen, weswegen es zu keiner künstlerischen Auseinandersetzung und der Suche eines eigenen Stils gekommen sei. Manfred Durzak sah Borcherts Kurzgeschichten in amerikanischer Tradition im Zentrum seiner Prosa, deren Spanne von satirisch überzeichneten Grotesken über den Krieg bis zu handlungslosen Monologen – von Rühmkorf als „Art von Infinitesimalprosa“ bezeichnet – reiche. Beispielhaft aus Borcherts Werk griff Heinrich Böll Das Brot heraus, nach seinem Urteil ein „Musterbeispiel für die Gattung Kurzgeschichte, die nicht mit novellistischen Höhepunkten und der Erläuterung moralischer Wahrheit erzählt, sondern erzählt, indem sie darstellt.“ Poetik Neben klassischen Kurzgeschichten finden sich in Borcherts Prosawerk ab 1946 auch Texte, die eher als programmatische Verkündigungen oder Manifeste des Autors zu verstehen sind. In diesen Texten gab Borchert neben seinen weltanschaulichen Ansichten auch Auskunft über seine Poetik. In Das ist unser Manifest machte er sich zum Sprachrohr einer jungen Generation, die nach der Niederlage des Zweiten Weltkriegs mit der Vergangenheit abrechnet und vor dem Nichts stehend ihre Zukunft plant. Seine Forderung nach einer Erneuerung suchte auch nach einer neuen Ästhetik durch den unmittelbaren Ausdruck, einer Wahrheit, die nicht gemildert oder beschönigt werden dürfe: Zugleich setzte er dem Nihilismus der Stunde Null den Auftrag eines neuen utopischen Denkens entgegen, aus dem eine zukünftige Gesellschaft entstehen könne: Im Prosatext Der Schriftsteller umriss Borchert dessen Rolle in der Gesellschaft, die er mit einem Haus verglich, in dem der Schriftsteller den einsamen Raum der Dachkammer bewohne, um aus dieser herausgehobenen Warte die Gesellschaft zu benennen und ihr gleichzeitig als Kritiker und Mahner zu dienen: Eine grundsätzliche Skepsis gegenüber den Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache formulierte Borchert im Text Im Mai, im Mai schrie der Kuckuck. In einer Zeit, für deren existenzielles Erleben die Sprache fehle, wurde für Borchert das Schweigen zur heroischen Tat: Doch auch hier verharrte Borchert nicht in Resignation, sondern suchte die Möglichkeiten eines literarischen Neubeginns, der sich in sprachlicher Reduktion und Einfachheit ausdrückte. Der Schriftsteller wurde zum Chronisten, der die Wirklichkeit durch seine Beschreibung festhielt: Urs Widmer betonte in seiner Dissertation, Borchert habe sein in Dies ist unser Manifest formuliertes Sprachideal nur eingeschränkt erreicht. Seine Texte erreichten eine Bandbreite von kargem Notieren der Wirklichkeit bis zu literarischer Wortakrobatik, so dass sie wirkten wie von verschiedenen Verfassern geschrieben. Doch gerade in dieser extremen Stilisierung beider Ausprägungen versuche Borchert, sprachlich die negative Realität zu bewältigen. Horst Ohde sah in der Stilisierung auch den Versuch, Sprachzweifeln und Sprachnot zu begegnen, die bei Borchert eine doppelte Ursache haben: in der individuellen Entwicklung des jungen Autors, noch nicht zum souveränen Umgang mit der Sprache gefunden zu haben, und in der kollektiven Erfahrung der Nachkriegszeit, die alte Sprache beschädigt oder verloren zu sehen. Stil Borcherts Stil ist geprägt durch kurze, abgehackte Sätze, ein Stakkato, das durch Ellipsen, Parataxen, eigenwillige Interpunktion und die Verwendung von Konjunktionen und Adjektiven als Satzbeginn entsteht. Beispielhaft eine Textstelle aus Stimmen sind da in der Luft – in der Nacht: „In der Bahn aber saßen sie, warm, atmend, erregt. Fünf oder sechs saßen da, Menschen, verloren, einsam im Novembernachmittag. Aber dem Nebel entronnen. Saßen unter tröstlichen trüben Lämpchen. Leer war es in der Bahn. Nur fünf waren da, ganz vereinzelt, und atmeten.“ Die schnelle Abfolge der Sätze soll oft die Erregung der Figuren zum Ausdruck bringen oder Spannung erzeugen. Die Wiederholung von Satzgliedern unterstreicht die Dringlichkeit des Gesprochenen. Häufig steigert Borchert die Intensität seiner Sätze durch das Stilmittel der Klimax, gelegentlich schwächt er sie durch die Antiklimax ab, so etwa in der unterschiedlichen Charakterisierung der beiden Hauptfiguren in Schischyphusch: „Mein Onkel, Säufer, Sänger, Gewaltmensch, Witzereißer, Zotenflüsterer, Verführer, kurzzungiger sprühender, sprudelnder, spuckender Anbeter von Frauen und Kognak.“ Dagegen der Kellner: „Tausendmal im Gartenlokal an jedem Tisch einen Zentimeter in sich hineingekrochen, geduckt, geschrumpft.“ Zur Hervorhebung setzt Borchert Alliterationen ein. Daneben zeichnet sich seine Wortwahl durch Komposita, Neologismen und virtuos verwendete Attribute aus, so erneut in Schischyphusch: „Breit, braun, brummend, basskehlig, laut, lachend, lebendig, reich, riesig, ruhig, sicher, satt, saftig – mein Onkel!“ Rhetorische Figuren, die sich durch Borcherts Werk ziehen, sind die Personifikation, wenn etwa in Die drei dunklen Könige eine Latte aufseufzt und eine Tür weint, verschiedene Formen von Metaphern, der Vergleich, die Hyperbel und die Allegorie, etwa in Draußen vor der Tür: „Wie die Fliegen kleben die Toten an den Wänden des Jahrhunderts. Wie die Fliegen liegen sie steif und vertrocknet auf der Fensterbank der Zeit.“ Obwohl Borchert in seinem Werk überwiegend das Leid der Opfer des Krieges beschreibt, finden sich auch humoristische Elemente in einigen Kurzgeschichten, insbesondere in Schischyphusch und Der Stiftzahn oder Warum mein Vetter keine Rahmbonbon mehr ißt. Aber auch Borcherts Drama bedient sich der Ironie, des Sarkasmus und der Satire. Die Alltagssprache verleiht den Personen Authentizität und soll sie als Durchschnittsmenschen kennzeichnen. Alle Texte Borcherts arbeiten mit Symbolen, insbesondere mit Farbsymbolik, die Gegensätze und Emotionen unterstreicht, die Handlung atmosphärisch widerspiegelt oder zum Teil sogar ersetzt. Während Grün zumeist als Zeichen des Lebens und der Hoffnung verwendet wird und auch Gelb in der Regel lebensbejahend wirken soll, steht Rot selten für die Farbe der Liebe, sondern eher für den Krieg, Blau sowohl für Kälte als auch für die Nacht. Die nichtbunten Farben sind überwiegend negativ besetzt: Grau kennzeichnet das Unbestimmte und deutet auf Pessimismus hin, Weiß dient häufig als Symbol für Krankheit oder Kälte, Schwarz als Omen von Düsternis und Bedrohung. Handlungselemente und Figuren Der ungarische Germanist Károly Csúri arbeitete eine Grundstruktur heraus, der die Erzählungen Wolfgang Borcherts überwiegend komplett oder in Teilen folgten. Danach durchlaufe die „ideale Borchert-Geschichte“ folgende Stadien: Anfangszustand: der Protagonist befinde sich in einem „harmonischen Stadium virtuell-zeitloser Geborgenheit (oder Schein-Geborgenheit)“. Übergangszustand: der Protagonist gerate in einem Zwiespalt „in dem disharmonischen Stadium zeitlich-historischen Ausgestoßenseins (oder Schein-Ausgestoßenseins)“. Endzustand: durch ambivalente Vermittlerfiguren wird erneut ein – teilweise nur scheinbar harmonisches – „Stadium virtuell-zeitloser Geborgenheit (oder Schein-Geborgenheit)“ aufgezeigt, wobei die Rückkehr des Protagonisten in dieses Stadium oft unmöglich oder scheinbar unmöglich wird. Dabei beginnen viele Geschichten Borcherts bereits im Übergangszustand, aus dem heraus der Anfangs- und der Endzustand erst im Ablauf konstruiert werden müssen. Die Protagonisten in Borcherts Werken sah der bulgarische Germanist Bogdan Mirtschev zumeist als Vertreter einer bestimmten Generation, die sich oft in Auflehnung gegen Autoritätspersonen befinden. Sie werden als Prototypen von Menschen in innerer Not gezeichnet, wobei ihre persönliche Lebenskrise weniger eine Kriegsfolge sei als das Ergebnis von Einsamkeit, Lebensangst und dem Mangel an Liebe und Geborgenheit. Dabei seien sie nicht auf der Suche nach einem Ausweg aus ihrer Not, sondern verharrten in Pessimismus und Verzweiflung. Borcherts Protagonisten leiden oft an Unruhe- oder Angstzuständen und fühlen sich von ihrer Umwelt bedroht. Ihre Reaktion weise Kennzeichen von Regression auf, dem Rückzug in die Kindheit. Sie gehören, wie von Mirtschev aus Zitaten Borcherts zusammengestellt, einer „Generation ohne […] Behütung“ an, zu früh „ausgestoßen aus dem Laufgitter des Kindseins“, und beklagen nun ihr „Kuckucksschicksal“, ihr „Kuckuckslos, dieses über uns verhängte Verhängnis“. Unfähig zu längerfristigen Beziehungen befinden sie sich fortwährend auf der Flucht: „Es gibt kein Tal für eine Flucht. Überall treff ich mich. Am meisten in den Nächten. Aber man türmt immer weiter. Das Tier Liebe greift nach einem, aber das Tier Angst bellt vor den Fenstern, […] und man türmt.“ Die Ursache sei oft ein Schuldkomplex, der sich, obwohl von ihnen behauptet, nicht an einer konkreten, einzelnen Schuld festmachen lasse, sondern aufgrund von Einbildung und Missverständnissen entstehe. Dennoch zeichne Borchert nur selten das Bild eines endgültigen Scheiterns, sondern biete seinen Helden am Ende einen Ausweg aus ihrer Krisensituation. So gelinge dem lebensmüden Mann aus Das Holz für morgen die Sühne und Rückkehr zu denen, die ihn brauchen. Und im Gespräch über den Dächern treffe einer der Dialogpartner die Entscheidung zum Weiterleben „aus Trotz. Aus purem Trotz.“ Die zwischenmenschlichen Beziehungen von Borcherts Figuren untersuchte der amerikanische Germanist Joseph L. Brockington. In Borcherts Erzählungen sei zumeist ein Mensch durch die verstörende Kriegserfahrung von seinen Mitmenschen isoliert und entfremdet. Ein zweiter Mensch gehe auf ihn zu. In der Begegnung liegen drei Möglichkeiten: Die Menschen gehen aneinander vorbei, seien nicht in der Lage ihre Isolation zu überwinden. Eine typische Kurzgeschichte für diese Lösungsmöglichkeit sei Die Hundeblume mit dem täglichen Aneinandervorbeigehen der Häftlinge beim Hofgang. Zwar sei ein Mensch bereit, sich von der Vergangenheit und der Isolation zu befreien, sein Mitmensch aber nicht. Dies sei die häufigste Wendung, deren sich die Autoren der Nachkriegsliteratur bedient haben. In Borcherts Werk findet sie sich in der Beziehung Beckmanns zum Mädchen in Draußen vor der Tür sowie in Kurzgeschichten wie Bleib doch Giraffe oder Die traurigen Geranien. Die dritte, optimistische Möglichkeit, dass beide Menschen im Kontakt zueinander die Vergangenheit hinter sich lassen und sich gemeinsam der Zukunft zuwenden, habe Borchert in der Begegnung des Jungen mit dem alten Mann aus Nachts schlafen die Ratten doch gewählt. Rezeption Bedeutung in der Nachkriegszeit Während Borcherts Veröffentlichungen zunächst nur geringes Interesse hervorgerufen hatten, machte ihn die Erstausstrahlung der Hörspielfassung seines Dramas Draußen vor der Tür am 13. Februar 1947 im Nordwestdeutschen Rundfunk quasi über Nacht bekannt. Als Reaktion auf die Ausstrahlung erhielt der Sender eine ungewöhnlich hohe Zahl von Hörerbriefen, deren Spektrum von begeisterter Zustimmung bis zu heftiger Ablehnung reichte. In den anschließenden Wochen wiederholte der NWDR das Hörspiel und alle anderen westdeutschen und West-Berliner Sender folgten. Borcherts Biograf Helmut Gumtau bemerkte, Borchert „hatte das Glück der rechten Stunde, und er fand den Darsteller, durch den die Sendung zum Ereignis wurde – Hans Quest“, und er fügte hinzu: „Der Erfolg war nicht im Dichterischen begründet“. Die Uraufführung von Draußen vor der Tür in den Hamburger Kammerspielen am 21. November 1947, einen Tag nach Borcherts Tod, ließ seine Popularität postum weiter anwachsen. So resümierte die Kritik des Spiegel: „Selten hat ein Theaterstück die Zuschauer so erschüttert wie Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür.“ Hellmuth Karasek wertete die Uraufführungen von Draußen vor der Tür gemeinsam mit Carl Zuckmayers Des Teufels General und Günther Weisenborns Die Illegalen als den „Beginn des Dramas in der Bundesrepublik“. Für Borcherts Biografen Gordon J. A. Burgess legten die zeitgenössischen Rezensionen dar, dass der Erfolg von Borcherts Stück in erster Linie auf seinen Zeitbezug und das Ansprechen einer zeitgemäßen Moral zurückzuführen war. Auch die Tatsache des frühen Todes seines Verfassers trug zu seinem Ruf bei, der von der Wahrnehmung einer Einheit zwischen dem tragischen Leben Borcherts und seinem Werk bestimmt war. Bald wurden Vergleiche mit dem ebenfalls früh verstorbenen Georg Büchner gezogen. Jan Philipp Reemtsma sah den Grund für die positive Aufnahme des Dramas auch im abwehrenden Umgang Borcherts mit der Schuldfrage, und er wertete: „Draußen vor der Tür lieferte die Formeln und Bilder, mit deren Hilfe sich ein deutsches Publikum von seiner Vergangenheit lossagen konnte, ohne die Frage nach Verantwortung und Schuld zu stellen, geschweige denn beantworten zu müssen.“ Vielfach wurde die besondere Rolle betont, die Borcherts Werk in der unmittelbaren Nachkriegsgesellschaft spielte. Die fehlende literarische Verarbeitung der Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs hatte Hans Werner Richter im September 1946 in der Zeitschrift Der Ruf in der Frage zusammengefasst: „Warum schweigt die Jugend?“ Ernst Schnabel, der Chefdramaturg des NWDR, nahm mit seiner Ankündigung von Borcherts Hörspiel auf diese Erwartung Bezug: „Hundertmal haben wir die Frage gehört: Warum schweigt die Jugend? Hat sie nichts zu sagen? – Und heute kündigen wir das Hörspiel Draußen vor der Tür von Wolfgang Borchert an. Auf dieses Stück haben wir gewartet oder vielmehr genauer: auf diesen Autor.“ Bernhard Mayer-Marwitz wertete im Nachwort zu Borcherts Gesamtwerk: „Borchert gab dieser Jugend ihre Stimme zurück, er fand sich mit ihr im gemeinsamen Schicksal und half ihr, diesem Schicksal zu begegnen. Dieses Verdienst wog in jenen Tagen schwerer als gefälligere literarische Leistungen.“ Günter Blöcker schloss sich in seiner kritischen Einschätzung der literarischen Fähigkeiten Borcherts dem Urteil an, „daß Borcherts Versuche mindestens so stark aus den biographischen Begleitumständen und der zeitpsychologischen Situation lebten wie vom Talent.“ Für Bettina Clausen fungierte Borchert nach dem Ende des Dritten Reichs als das „kollektiv so dringend benötigte Identifikationsmodell“, die Verschmelzung von Tod und Ruhm in seiner Person wurde zum Symbol des neuen Zeitgeistes, Borchert ein bis heute überdauernder Mythos. Wandlung der Aufnahme Im Unterschied zu vielen anderen Werken der so genannten Trümmerliteratur, die keine Bedeutung über ihren zeitgeschichtlichen Kontext hinaus erlangten, wurde Borcherts Werk auch über seine Entstehungszeit hinaus gelesen, gespielt und besprochen. Wulf Köpke stellte 1969 fest, Borcherts Werke hätten „von allem, was um 1946 und 1947 von der jungen Generation geschrieben worden ist, am besten die Zeit überdauert“. Dabei verlagerte sich das Interesse der Germanistik in den 1950er und 1960er Jahren von Borcherts Drama auf seine Prosa, und seine Kurzgeschichten wurden erst in ihrer Bedeutung für die Nachkriegsliteratur untersucht, später als exemplarische Beispiele ihrer Gattung zur häufigen Schullektüre. Mit der wachsenden Wahrnehmung Borcherts als „Schulbuchautor“ und „leichter Autor“ ging das Interesse an wissenschaftlichen Untersuchungen seines Werks in Deutschland zurück. Stattdessen fand die Borchert-Forschung in späteren Jahren überwiegend im Ausland statt. Rolf Michaelis spottete: „Den widerborstigen Schlacks kriegen und kriegen die Literaturwissenschaftler nicht – wie Dürrenmatt gesagt hätte – in eines ihrer Einmachgläser.“ In der DDR wandelte sich die Bewertung Borcherts in den 1960er Jahren. Der zuerst wegen seiner Kritik an der Nachkriegsgesellschaft abgelehnte Borchert wurde nun als Kämpfer gegen Imperialismus und Faschismus gefeiert. Der 1972 vom Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED herausgegebene Band Theater der Zeitenwende legte fest: „Das antifaschistische Bewußtsein […] war der neuralgische Punkt auch im humanistischen Menschenbild Borcherts“. Demgegenüber sah der luxemburgische Medienwissenschaftler Alexandre Marius Dées de Sterio Borchert „getragen von einem fast naiv-gläubigen Vertrauen in das Individuum“, wobei er die sozialen Gesetzmäßigkeiten verkenne. Darum sei er ein bürgerlicher Humanist, „der in einer Gesellschaft, deren Widersprüche er ahnt, aber nicht versteht, bei den meisten kein Gehör finden kann.“ Ein Text Borcherts hatte allerdings in besonderem Maße eine gesellschaftliche und politische Wirkung: der Appell Dann gibt es nur eins! mit seiner wiederholten Formel „Sag NEIN!“. Michael Töteberg bezeichnete ihn als den „bekanntesten Text Borcherts“, der „als leidenschaftliche Mahnung und Warnung“ bis in die Gegenwart „nie seine Aktualität verlor“ und auf zahlreichen Demonstrationen der Friedensbewegung deklamiert wurde. Einfluss, Ehrungen und Nachlass Borcherts Einfluss auf andere Schriftsteller begann mit seiner Bedeutung für die Gruppe 47. Noch im November 1947 hatte Hans Werner Richter, ohne Kenntnis der schweren Krankheit Borcherts, ihn zur zweiten Tagung der jungen Autorengruppe eingeladen. Alfred Andersch bezeichnete die komplette Ausrichtung der frühen Gruppe 47 als „Borchertismus“, und er führte weiter aus: „Zweifellos war in den Hungerjahren, die dem Zweiten Weltkrieg folgten, ein Stil, wie ihn Wolfgang Borchert einmalig und endgültig geprägt hat, bei den meisten Schriftstellern, die damals zu schreiben begannen, in nuce vorhanden.“ Heinrich Böll bekannte sich im Nachwort zur Taschenbuchausgabe von Draußen vor der Tür zu Wolfgang Borchert, der in seinen Texten ausdrückte, „was die Toten des Krieges, zu denen er gehört, nicht mehr sagen konnten“. Auch spätere Autoren wie Dieter Wellershoff fühlten sich durch die Leseerfahrung von Borcherts Texten „elektrisiert“, und Wilhelm Genazino führte aus: „Ich las Wolfgang Borcherts Heimkehrerstück Draußen vor der Tür und fühlte mich sogleich als betrogener Soldat.“ Jan Philipp Reemtsma revidierte seine jugendliche Faszination später und sah in Borcherts Texten eine pubertäre „Neigung zu Kitsch in Gefühlen und Gedanken“. Dagegen erhob Jürgen Fuchs Borcherts Zitat „Wir werden nie mehr antreten auf einen Pfiff hin“ zum Motto seines Widerstands in der DDR. Im Jahr 2006 zitierte der Spielfilm Das Leben der Anderen Borcherts Gedicht Versuch es in der 1970er Vertonung der Weimarer Folkjazzformation Bayon: Zum Gedenken an Wolfgang Borchert wurden in seiner Heimatstadt Hamburg mehrere Erinnerungsstätten errichtet. Zwei von ihnen – am Eppendorfer Marktplatz und an der Eppendorfer Landstraße – zitieren den Text Dann gibt es nur eins! Am Schwanenwik an der Außenalster befindet sich ein übermannshoher Obelisk mit einem Zitat aus Generation ohne Abschied. In der Tarpenbekstraße wurde ein ehemaliger Luftschutzbunker in die Subbühne – Ein anderes Mahnmal für Wolfgang Borchert umgebaut. 2023 wurde in Hamburg-Eppendorf ein Park an der Eppendorfer Landstraße nach ihm benannt. Bis 1997 gab es sieben nach Borchert benannte Schulen. In Münster heißt ein privates Theater seit 1982 Wolfgang Borchert Theater. Die HADAG hat ein 1956 gebautes Fährschiff Typ 00 1981 auf Wolfgang Borchert umbenannt. 1993 geht dieser Schiffsname auf ein neues größeres Fährschiff über, das auf der Elbe verkehrt. Im November 2002 wurde der Asteroid (39540) Borchert nach ihm benannt. Wolfgang Borcherts Mutter Hertha, die nach dem Tod ihres Sohnes dessen Nachlass verwaltete, gründete das Wolfgang-Borchert-Archiv und übergab es 1976 der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. 1987 wurde die Internationale Wolfgang-Borchert-Gesellschaft ins Leben gerufen, die regelmäßig ein Jahresheft zur aktuellen Forschung publiziert. Aus Anlass des 75. Geburtstags Wolfgang Borcherts gab die Deutsche Post 1996 eine Briefmarke heraus. Zum 100. Geburtstag 2021 erinnerte die Stadt Hamburg mit vielen digitalen Vorstellungen an den Schriftsteller. Werke Dramen Draußen vor der Tür, Drama/Hörspiel 1947 Daneben existieren noch drei wenig bekannte Jugenddramen, publiziert in: Jugenddramen. Privatdruck der Internationalen Wolfgang-Borchert-Gesellschaft e. V., Hamburg 2007. Yorick der Narr, 1938 Käse. Die Komödie des Menschen, gemeinsam mit Günter Mackenthun 1939 Granvella. Der schwarze Kardinal, 1941 Neben Draußen vor der Tür wurde bisher nur Käse (erstmals am 27. Februar 2015 durch das Theater Wasserburg) aufgeführt. Gedichte Laterne, Nacht und Sterne. Gedichte um Hamburg, 1946 Weitere nachgelassene Gedichte wurden veröffentlicht in Das Gesamtwerk von 1949 sowie in der erweiterten Ausgabe von 2007 (insgesamt 51). Kurzgeschichten Erzählsammlung Die Hundeblume, 1947 Erzählsammlung An diesem Dienstag, 1947 Nachgelassene Erzählungen aus Das Gesamtwerk, 1949 Erzählsammlung Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlaß, 1962 Die Erzählsammlung stand vom 9. Mai bis zum 17. Juli 1962 auf dem Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Publikationen Wolfgang Borchert: Das Gesamtwerk. Rowohlt, Hamburg 1949. (Die im Artikel für die Seitenangaben verwendete Ausgabe entspricht der Auflage vom Mai 1986, ISBN 3-498-09027-5.) Wolfgang Borchert: Das Gesamtwerk. Rowohlt, Reinbek 2007, ISBN 978-3-498-00652-5. (Erweiterte und revidierte Neuausgabe, hrsg. von Michael Töteberg, unter Mitarbeit von Irmgard Schindler; als Taschenbuch ebd. 2009, ISBN 978-3-499-24980-8). Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür und ausgewählte Erzählungen. 94. Aufl., Rowohlt, Reinbek 2012, ISBN 978-3-499-10170-0. Wolfgang Borchert: Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlass. Rowohlt, Reinbek 1995, ISBN 3-499-10975-1. Wolfgang Borchert: Allein mit meinem Schatten und dem Mond. Briefe, Gedichte und Dokumente. Rowohlt, Reinbek 1996, ISBN 3-499-13983-9. Vertonungen Berthold Goldschmidt: Noble little soldier’s wife…, für Bariton und Xylophon, 1948 Wilhelm Keller: Laterne, Nacht und Sterne, Gedichte um Hamburg, Chorzyklus, 1953. Gottfried von Einem: Sieben Lieder nach verschiedenen Dichtern op. 19 (darin: „Auf dem Nachhauseweg 1945“ nach Wolfgang Borchert), 1956. Andre Asriel: Großstadt für Singstimme und Klavier, 1957. Tilo Medek: Versuch es. Vier Lieder für mittlere Singstimme und Klavier, 1961. Lothar Graap: Fünf Lieder nach Gedichten von Wolfgang BorcherT für eine Singstimme und Klavier op. 19, 1963. Udo Zimmermann: Fünf Gesänge für Bariton und Kammerensemble (Texte: Wolgnag Borchert), 1964 Rainer Kunad: Bill Brook. Oper, 1965. Ruth Zechlin: Sieben Lieder für mittlere Stimme und Klavier nach Texten von Wolfgang Borchert, 1966. Jürgen Golle: 7 Lieder nach Gedichten von Wolfgang Borchert für Gesang und Klavier, 1972. Enjott Schneider: Dass Dein lieben Liebe war – Wolfgang Borchert-Liederbuch für Sopran (Tenor) und Streicher, 1987. Bernd Lange und Bayon: Gespräch über den Dächern. Literarische Klangbilder von Wolfgang Borchert, 1997. Marc Pendzich: Borchert. Begegnungen mit dem Gedichtzyklus „Laterne, Nacht und Sterne“ für Alt-Stimme und kleines Orchester, 1997. Bertold Hummel: Fantasia poetica in memoriam Wolfgang Borchert für Viola und Hackbrett, 2001. Jörn Arnecke: Wieder sehen (Oper auf der Textgrundlage von Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“), 2001. Christian Geissendörfer / Windstill: Hamburg! – Lieder und Musik nach Gedichten von Wolfgang Borchert, 2002. Norbert Linke: Borchert-Lieder. Zyklus für Gesang und Klavier, 2006. Johannes Kirchberg: Meine Seele ist noch unterwegs, 17 Chansons nach Gedichten von Wolfgang Borchert, 2012. Christoph Nils Thompson: The Borchert Quintets, 5 Sätze für Bläserquintett, 2015. Frederic Rzewski: Sag Nein! für 4-st. Chor, 2015. Martin Schmeding: Improvisation on Traumszene from Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür für Orgel, 2017. Wolfgang Friederich: Ich sage Ja (Text: Wolfgang Borchert), (o. J.) Arthur Furer: Albumblatt („Was morgen ist“) für Solostimme und Klavier, (o. J.; Aufführung 2006 nachgewiesen). Literatur Biografien Katrein Brandes: Hans Werner Richter – Wolfgang Borchert: zwei Schriftsteller im 2. Weltkrieg. Ihre Kriegseinsätze und die Umsetzung in Literatur. Paderborn 2018. Gordon Burgess: Wolfgang Borchert. Ich glaube an mein Glück. Aufbau, Berlin 2007, ISBN 978-3-7466-2385-6. Helmut Gumtau: Wolfgang Borchert. Köpfe des XX. Jahrhunderts. Colloquium, Berlin 1969. Peter Rühmkorf: Wolfgang Borchert. (= Rowohlts monographien; 58). Rowohlt, Reinbek 1961 (zuletzt 9. Aufl., bearb. v. Wolfgang Beck, Rowohlt, Reinbek 2007), ISBN 3-499-50058-2. Claus B. Schröder: Wolfgang Borchert. Die wichtigste Stimme der deutschen Nachkriegsliteratur. Heyne, München 1988, ISBN 3-453-02849-X. Ada-Verena Gass: Kann Mutti mir eine Geschichte von sich schicken? (zu Ursprüngen und Entwicklungen seiner Familie), Hamburg., Mai 2021, Privatedition, 14 Seiten mit Illustrationen. Im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek und im Katalog der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Biografischer Roman Frauke Volkland: Dies kostbar kurze Leben. Ein Borchert-Roman. Osburg Verlag, Hamburg 2020, ISBN 978-3-95510-231-9. Über Borcherts Werk Gordon Burgess, Hans-Gerd Winter (Hrsg.): „Pack das Leben bei den Haaren“. Wolfgang Borchert in neuer Sicht. Dölling und Gallitz, Hamburg 1996, ISBN 3-930802-33-3. Gordon J. A. Burgess (Hrsg.): Wolfgang Borchert. Christians, Hamburg 1985, ISBN 3-7672-0868-7. Kåre Eirek Gullvåg: Der Mann aus den Trümmern. Wolfgang Borchert und seine Dichtung. K. Fischer, Aachen 1997, ISBN 3-89514-103-8. Alfred Schmidt: Wolfgang Borchert. Sprachgestaltung in seinem Werk. Bouvier, Bonn 1975. (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft; 186), ISBN 3-416-01085-X. Götz Fritz Adam Seifert: Wolfgang Borchert – Die Musik in seinem Leben und Werk (Diss.), University of Louisiana 1978. Rudolf Wolff (Hrsg.): Wolfgang Borchert. Werk und Wirkung. Bouvier, Bonn 1984, ISBN 3-416-01729-3. Englischsprachige Sekundärliteratur Gordon J. A. Burgess: The life and works of Wolfgang Borchert. Studies in German Literature, Linguistics, and Culture. Camden House, Rochester 2003, ISBN 978-1-57113-270-3. James L. Stark: Wolfgang Borchert’s Germany. Reflections of the Third Reich. Univ. Press of America, Lanham 1997, ISBN 0-7618-0555-9. Erwin J. Warkentin: Unpublishable works. Wolfgang Borchert’s literary production in Nazi Germany. Camden House, Columbia 1997, ISBN 1-57113-091-8. Weblinks Sag NEIN ! Testament gegen den Krieg Plakat mit Porträtfoto von Wolfgang Borchert Internationale Wolfgang-Borchert-Gesellschaft Wolfgang-Borchert-Archiv bei der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg (Ulrich Goerdten) Linkliste auf dem Hamburger Bildungsserver Wolfgang Borchert - Leben und Werk, eine Sendung von radioWissen, BR2 am 15. Dezember 2020 (mp3, 23 Minuten) Heide Soltau: 20. November 1947 – Todestag des Schriftstellers Wolfgang Borchert In: WDR5, ZeitZeichen, 20. November 2022, (Podcast, 14:56 Min., verfügbar bis 20. November 2099). Einzelnachweise Autor Hörspielautor Nachkriegsliteratur Literatur (20. Jahrhundert) Literatur (Deutsch) Literatur (Norddeutschland) Lyrik Kurzgeschichte Drama Schriftsteller (Hamburg) Militärperson (Heer der Wehrmacht) Person im Zweiten Weltkrieg (Deutsches Reich) NS-Opfer Person als Namensgeber für einen Asteroiden Bestsellerautor (Deutschland) Deutscher Geboren 1921 Gestorben 1947 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich%20III.%20%28HRR%29
Heinrich III. (HRR)
Heinrich III. (* 28. Oktober 1016 oder 1017; † 5. Oktober 1056 in Bodfeld, Harz) aus der Familie der Salier war von 1039 bis zu seinem Tod 1056 König und seit 1046 Kaiser im römisch-deutschen Reich. Bereits in jungen Jahren wurde Heinrich von seinem Vater Konrad II. 1028 zum Mitkönig erhoben und mit den Herzogtümern Bayern und Schwaben ausgestattet. Der Übergang der Königsherrschaft nach dem Tod seines Vaters erfolgte im Gegensatz zu anderen Machtwechseln in ottonisch-salischer Zeit reibungslos und Heinrich setzte die Politik seines Vorgängers in den vorgegebenen Bahnen kontinuierlich fort. Seine Amtszeit führte zu einer bis dahin unbekannten sakralen Überhöhung der Königsherrschaft. So wurde während Heinrichs Regentschaft der Speyerer Dom zum damals größten Gotteshaus der abendländischen Christenheit ausgebaut. Gegenüber den Herzögen setzte Heinrich seine Auffassung von der amtsrechtlich begründeten Verfügungsgewalt über die Herzogtümer durch und sicherte damit deren Kontrolle. In Lothringen führte dies zu jahrelangen Auseinandersetzungen, aus denen Heinrich als Sieger hervorging. Doch auch in Süddeutschland formierte sich in den Jahren 1052 bis 1055 eine mächtige Oppositionsgruppe. 1046 beendete Heinrich das Papstschisma, befreite das Papsttum aus der Abhängigkeit vom römischen Adel und legte die Grundlage für dessen universale Geltung. Seine Regierungszeit wurde lange Zeit als Höhepunkt mittelalterlicher Kaiserherrschaft beurteilt und sein früher Tod als Katastrophe für das Reich angesehen. Jüngere Beiträge sprechen hingegen vom Beginn einer Krise der salischen Monarchie in den Spätjahren seiner Regierungszeit. Leben bis zum Herrschaftsantritt Herkunft und Familie Heinrich wurde wohl eher 1016 und nicht 1017 als Sohn Konrads des Älteren, des späteren Kaisers Konrad II., und Giselas von Schwaben geboren. Heinrichs jüngere Schwestern Beatrix (ca. 1020–1036) und Mathilde (nach Jahresmitte 1025–Beginn 1034) blieben unvermählt und starben früh. Heinrichs Vater entstammte einem rheinfränkischen Adelsgeschlecht, dessen Besitz und gräfliche Rechte schon seit Generationen in der Gegend um Worms und Speyer lagen; zudem war Konrad Urenkel des 955 auf dem Lechfeld in der Schlacht gegen die Ungarn gefallenen Konrads des Roten und über dessen Gattin Liutgard mit den Ottonen verwandt. Heinrichs Mutter Gisela war bereits zweimal verwitwet. Ihr Vater Hermann von Schwaben hatte bei der Königswahl des Jahres 1002 erfolglos eigene Ansprüche geltend gemacht. Giselas Mutter Gerberga war eine Tochter des burgundischen Königs Konrad und eine Enkelin des westfränkischen karolingischen Herrschers Ludwig IV. Heinrichs Geburt fällt in eine schwierige Situation für die salische Familie. Erst zwei Monate zuvor war Konrad in eine blutige Fehde verwickelt worden und konnte sich nur auf die Unterstützung von Freunden und Verwandten verlassen. Das Verhältnis zu Heinrich II. war für Konrad wegen seiner Ehe mit Gisela von Schwaben, die von manchen Zeitgenossen als Verwandtenehe abgelehnt wurde, angespannt. Konrad verlor die kaiserliche Huld und es schien zunächst so, dass Konrad noch nicht einmal Herzog werden könne. Festigung der Dynastie und Sicherung der Nachfolge Nach dem Tod Heinrichs II., des letzten männlichen Vertreters der ottonischen Dynastie, konnte sich Konrad 1024 bei einer Versammlung der Großen in Kamba als Herrscher durchsetzen. Dabei waren es neben Konrads Abstammung von Otto I. – die er allerdings mit seinem Konkurrenten Konrad dem Jüngeren teilte – die Charaktereigenschaften virtus und probitas (Tüchtigkeit und Rechtschaffenheit), die Konrad die breite Zustimmung einbrachten. Als erster salischer Herrscher baute Konrad seinen Sohn Heinrich systematisch als Nachfolger auf. Bischof Brun von Augsburg und von etwa Mai 1029 bis zum Juli 1033 Bischof Egilbert von Freising kümmerten sich um die Erziehung Heinrichs. Sicher wirkte auch der Kapellan und Historiograph Wipo zeitweise bei der Erziehung mit. Am Hof des Augsburger Bischofs Brun erhielt Heinrich eine gute Bildung. Als Bruder Kaiser Heinrichs II. war er sicher die geeignete Person, um dem Thronfolger herrscherliche Traditionen und imperiales Gedankengut zu vermitteln. Anfang 1026 zog Konrad von Aachen über Trier nach Augsburg, wo sich das Heer für den Italienzug sammelte. Für den Zeitraum der Abwesenheit des Herrschers wurde Heinrich der „Vormundschaft“ (tutela) Bruns anvertraut. Bereits zu dieser Zeit regelte Konrad die Nachfolge. Mit Zustimmung der Fürsten bestimmte er seinen Sohn Heinrich im Falle seines Todes zum Nachfolger. Nach Konrads Rückkehr aus Italien übertrug er in Regensburg am 24. Juni 1027 das durch den Tod Heinrichs V. bereits seit Februar 1026 vakante Herzogtum Bayern seinem Sohn. Die Verleihung des Herzogtums an einen noch nicht zehnjährigen, nicht aus Bayern stammenden Königssohn war ohne Vorbild. 1038, ein Jahr vor Konrads Tod, übernahm Heinrich auch das schwäbische Herzogtum. Bereits im Februar 1028 enthalten die Interventionen Heinrichs in den Diplomen seines Vaters den Zusatz „einziger Sohn“. Die Übertragung der Königswürde folgte auf einem Hoftag in Aachen zum Osterfest 1028. Mit Zustimmung der Fürsten und des ‚Volkes‘ wurde Heinrich zum König erhoben und von Erzbischof Pilgrim von Köln geweiht. Wenige Monate später zeigt die erste Kaiserbulle Konrads an einem Diplom vom 23. August 1028 für das Stift Gernrode auf dem Revers das Bild des Kaisersohnes mit der Umschrift Heinricus spes imperii (Heinrich, Hoffnung des Reiches). Heinrichs Hervorhebung auf der Bulle mit dem Hinweis auf das Imperium, dessen Krone er einst tragen werde, deutet die Vorstellung vom Mitkaisertum vorsichtig an. Die von Konrad beabsichtigte feste Verankerung von Königsherrschaft und Kaisertum in seinem Haus ging noch weiter. Im Frühjahr 1028 ging eine Gesandtschaft an den Kaiserhof in Byzanz. In Anlehnung an ottonische Tradition suchte Konrad zunächst nach einer byzantinischen Kaisertochter für Heinrich. Erst nach dem Scheitern dieses Plans wurde Heinrich zu Pfingsten 1035 auf dem Bamberger Hoftag mit Gunhild, der Tochter des anglo-skandinavischen Königs Knut des Großen, verlobt. Ein Jahr später, wiederum zu Pfingsten, fand in Nimwegen die Hochzeit statt. Im Jahr 1027 traf Konrad mit dem kinderlosen König Rudolf von Burgund in der Nähe von Basel zusammen, um mit ihm die Übertragung des Königreichs Burgund nach Rudolfs Tod zu regeln. Möglicherweise wurde auch bestimmt, dass Heinrich im Falle des vorzeitigen Todes seines Vaters in den Vertrag eintreten sollte. Nach zwei groß angelegten Kriegszügen gegen seinen Widersacher Odo von der Champagne schloss Konrad in einem demonstrativen Krönungsakt am 1. August 1034 den Erwerb Burgunds ab. Damit begann die Zeit der „Trias der Reiche“ (tria regna), also der Zusammenfassung der Königsherrschaften in Deutschland, Italien und Burgund zum Imperium unter der Herrschaft des deutschen Königs und Kaisers. Im Herbst 1038 hielt Konrad II. in Solothurn Hof. Dabei übertrug er das Regnum Burgundiae an seinen Thronfolger. Der Huldigungsakt diente dabei vor allem zur Sicherung der Nachfolge des jungen Saliers in einem neu erworbenen Herrschaftsbereich. Mit der Wahl, Huldigung und Akklamation durch die Burgunder konnten die Salier herausstellen, dass die Herrschaft auf dem Erbweg und nicht durch einen Gewaltakt an sie gelangt sei. 1038 hielt sich Heinrich mit seinem Vater in Italien auf. Auf der Rückkehr starb Heinrichs erste Gemahlin Gunhild, die kurz zuvor die Tochter Beatrix geboren hatte. Obgleich Heinrich rechtmäßig König war, musste er sich mit der Praxis der Herrschaftsführung im Lauf der Zeit erst vertraut machen. Als erste selbstständige Handlung ist ein Friedensschluss mit den Ungarn aus dem Jahr 1031 überliefert. Dieser war die Konsequenz eines im Vorjahr gescheiterten Vorstoßes Konrads II. und brachte Gebietsverluste zwischen Fischa und Leitha mit sich. 1033 führte Heinrich erfolgreich einen militärischen Zug gegen Udalrich von Böhmen durch. Auch gegen den Willen des Vaters konnte er eine eigenständige Position behaupten. Als Konrad 1035 versuchte, Herzog Adalbero von Kärnten zu stürzen, verweigerte ihm Heinrich die Unterstützung. Erst als sich Konrad seinem Sohn unter Tränen zu Füßen geworfen und inständig darum gefleht hatte, dem Reich keine Schande zu bereiten, gab Heinrich seinen Widerstand auf. Heinrich rechtfertigte sich, indem er darauf verwies, er habe Adalbero einen Eid geschworen. Als Konrad 1039 in Utrecht starb, bedeutete dies für Königtum und Reich keinerlei Gefahr. Der Machtübergang war der einzige ungefährdete Thronwechsel in der ottonisch-salischen Geschichte. Heinrich III. war von seinem Vater auf seine zukünftigen Aufgaben als König durch die Designation, die Erhebung zum Herzog von Bayern, die Königskrönung in Aachen, die Übertragung des Herzogtums Schwaben und den Erwerb Burgunds bestens auf die eigenständige Königsherrschaft vorbereitet worden. Den Leichnam seines Vaters geleiteten Heinrich und seine Mutter mit dem Hofgefolge nach Köln und von dort über Mainz und Worms nach Speyer. Nach Wipo zeigte er seine „demütigende Ehrerbietung“ dadurch, dass „er selbst an allen Kirchenportalen und zuletzt auch bei der Beisetzung des Vaters Leib auf seine Schultern hob“. Der Seele seines Vaters ließ er durch Trauerfeiern und Memorialleistungen Unterstützung zukommen. Konrad wurde unter hohen Ehren im Speyerer Dom beigesetzt. Die Sorge um das Seelenheil seines Vaters bewog Heinrich zu zahlreichen Schenkungen. Am 21. Mai 1044 machte Heinrich dem Utrechter Dom eine bedeutende Stiftung für das Seelenheil seines Vaters. Den Kanonikern des Aachener Marienstiftes machte Heinrich zur Auflage, den Todestag seines Vaters und den seiner 1038 verstorbenen Frau Gunhild mit Messfeiern und ausgedehnten Nachtoffizien jedes Jahr gebührend zu begehen. Königs- und Kaiserherrschaft Herrschaftsantritt Der Regierungswechsel vollzog sich ohne Schwierigkeiten. Lediglich von Gozelo von Lothringen wird berichtet, dass er zunächst überlegt habe, die Huldigung zu verweigern. Seine Haltung führte jedoch zu keinen ernsthaften Konflikten. Obwohl Heinrich bereits Mitkönig war, wurden nach dem Tod seines Vaters die üblichen Formalakte vollzogen. So fand in Aachen eine Thronsetzung statt und auch von Huldigungen wird berichtet. Ein Umritt zur Herrschaftsgewinnung und -anerkennung wie noch unter Heinrich II. und Konrad II. fand aber nicht statt. Allerdings hat Heinrich 1039/40 alle Reichsteile aufgesucht und Regierungshandlungen vorgenommen. Anders als am Beginn der Regierung seines Vaters 1024 gab es bei Heinrichs Herrschaftsantritt keine Unruhen oder Opposition in Italien. Der Konflikt zwischen Erzbischof Aribert von Mailand und seinem Vater Konrad wurde von Heinrich schnell beigelegt, nachdem sich Aribert 1040 auf einem Hoftag in Ingelheim unterworfen und dem König gehuldigt hatte. Nach dem Tod seiner ersten Gemahlin Gunhild dauerte es fünf Jahre, bis sich Heinrich entschloss, eine neue Ehe einzugehen. Vergeblich blieb das Angebot des Großfürsten Jaroslaw I. von Kiew, ihm seine Tochter als Gemahlin zu geben. Im Sommer 1043 warb Heinrich um Agnes von Poitou, eine Tochter Herzog Wilhelms V. von Aquitanien. Die Werbung wurde erfolgreich von Bischof Bruno von Würzburg vorgetragen. Auf die Verlobung im burgundischen Besançon erfolgte in Mainz die Krönung zur Königin. Ende November 1043 fand in Ingelheim die feierliche Vermählung statt. Streng kirchlich gesinnte Kreise brachten Bedenken gegen diese Ehe vor, denn die Brautleute waren als Nachkommen Heinrichs I. nach kanonischem Recht zu nahe miteinander verwandt. Diese Eheverbindung sollte einer weiteren Sicherung der deutschen Herrschaft in Burgund dienen, denn der Großvater der Braut war jener Graf Otto Wilhelm gewesen, der zu Zeiten Heinrichs II. das Vermächtnis Rudolfs III. von Burgund am meisten bekämpft hatte. Konflikte mit Böhmen und Ungarn In seinen Anfangsjahren war Heinrich zunächst an der Aufrechterhaltung der Hegemonialstellung im Osten Europas interessiert. Veranlassung zum Eingreifen in Böhmen gab Břetislav I., der versuchte, seinen Herrschaftsbereich nach Norden hin auszudehnen. 1039 fiel er in Polen ein, eroberte und zerstörte Krakau und zog mit seinen Truppen in Gnesen ein. Die Reliquien des heiligen Adalbert ließ Břetislav nach Prag überführen, um seinen Anspruch auf das Erbe Bolesław Chrobrys zu untermauern. Da Polen unter deutscher Lehnshoheit stand, bedeutete dies einen Angriff auf den römisch-deutschen Herrscher. Im Oktober 1039 bereitete Heinrich daher unter Führung Ekkehards II. von Meißen einen Feldzug vor. Břetislav lenkte ein, versprach, sich Heinrichs Forderungen zu beugen, und stellte seinen Sohn Spytihněv als Geisel. Der Böhme kam im Lauf des folgenden Jahres seinen Verpflichtungen allerdings nicht nach, sondern rüstete zur Verteidigung und versicherte sich der Unterstützung der Ungarn. Im August unternahm Heinrich daher einen Feldzug gegen Böhmen, erlitt dabei jedoch eine schwere Niederlage. Die meisten Krieger des Aufgebots fanden den Tod, die Fuldaer Totenannalen nennen zahlreiche Einzelschicksale. Ein Verhandlungsangebot im folgenden Jahr wurde von Heinrich dennoch mit der Forderung nach bedingungsloser Unterwerfung beantwortet. Die Kämpfe wurden im August 1041 wieder aufgenommen. Böhmen wurde dieses Mal von Westen und Norden angegriffen. Im September 1041 vereinigten sich die Heere vor Prag. Zur Schlacht kam es nicht, denn Břetislav sah sich nun auf sich alleine gestellt. Sein Bundesgenosse Peter von Ungarn war in der Zwischenzeit gestürzt worden. Um weitere Verwüstungen seines Landes zu verhindern, blieb Břetislav nur die Unterwerfung. Im Oktober 1041 erschien er auf dem Hoftag zu Regensburg, überbrachte reiche Geschenke und zahlte den schuldig gebliebenen Tribut. Auf Bitten seines Schwagers, des Markgrafen Otto von Schweinfurt, wurde er daraufhin wieder mit dem Herzogtum Böhmen belehnt. Seine polnischen Eroberungen musste er abtreten und die deutsche Lehnsoberhoheit anerkennen, Schlesien aber durfte er behalten. Die ältere Forschung betrachtete die Auseinandersetzungen mit Böhmen als Ausgangspunkt für eine straffere Organisation der Grenzlande. Heinrich soll sich dabei als vorausschauender Gründer von Marken ausgezeichnet haben, mit deren Hilfe die Grenzen planmäßig gesichert werden sollten. So wurden die Marken Cham, Nabburg, eine böhmische Mark und eine sogenannte Neumark, die sich im Südosten gegen Ungarn gerichtet haben soll, seiner „staatsschöpferischen“ Initiative zugeschrieben. Diese Einschätzung wurde von Friedrich Prinz allerdings bezweifelt. Die Herrschaftskonzeption habe gerade in den Grenzräumen des Reiches zu höchst gefährlichen Situationen geführt, unnötige Feindschaften hervorgerufen und bereits bestehende verschärft. Dagegen erkannte jüngst Daniel Ziemann in der Ungarnpolitik des Saliers keine „größer angelegten politischen Konzeptionen“. Im Verlauf der militärischen Aktionen gegen Böhmen rückte auch Ungarn in Heinrichs Blickfeld. Nach dem frühen Tod seines Sohnes Heinrich hatte Stephan I. seinen Neffen Peter, den Sohn seiner Schwester und des venezianischen Dogen Ottone Orseolo, adoptiert und zum Thronfolger bestimmt. Ein Umsturz führte jedoch Sámuel Aba, einen Schwager Stephans, an die Macht; die Hintergründe sind nicht zu erhellen. Peter, der noch 1039/40 auf der Seite Břetislavs gestanden und damit zu den Gegnern Heinrichs gezählt hatte, fand sich 1041 auf dem Regensburger Hoftag als Flüchtling ein. Sámuel Aba fiel im Frühjahr 1041 in Kärnten und die bayerische Ostmark ein. Dies provozierte Heinrichs Gegenreaktionen, die zum Rückgewinn der im Frieden von 1031 an Stephan abgetretenen Gebiete zwischen Fischa, Leitha und March führten. Am 5. Juli 1044 schlug der König die zahlenmäßig überlegenen Ungarn in der Schlacht von Menfö an der Raab. Nach der Schlacht warf sich Heinrich barfuß und in ein Büßergewand gehüllt vor einer Kreuzesreliquie zu Boden und forderte sein ganzes Heer auf, dasselbe zu tun. Wenig später zog er barfuß durch Regensburg und dankte Gott für seine Hilfe im Kampf. Die Kirchen der Stadt wurden mit Schenkungen bedacht. Peter wurde in Stuhlweißenburg erneut inthronisiert und erkannte die Lehnsoberhoheit des Reiches an. Sámuel Aba wurde nach seiner Gefangennahme als Hochverräter hingerichtet. Langfristig stabilisiert werden konnten die Verhältnisse in Ungarn damit jedoch nicht. Als Heinrich seinen Romzug antrat, war Peter bereits durch den aus der Verbannung heimgekehrten Andreas, einen Neffen Stephans I., gestürzt worden. Andreas bemühte sich um eine Normalisierung der Beziehungen zum Reich, um seine Herrschaft zu konsolidieren. Nach dem Bericht Hermanns von der Reichenau bot er dem Kaiser Unterwerfung, jährlichen Tribut und ergebenen Dienst an, „wenn er ihm erlaube, sein Reich zu behalten“. Heinrichs vorrangiges Ziel war es jedoch, Andreas zu bezwingen, um seinen Schützling Peter zu rächen. Zwei Feldzüge, die er in den Jahren 1051 und 1052 unternahm, blieben erfolglos. 1052 vermittelte Papst Leo IX. einen Frieden. Dieser erwies sich als nachteilig für das Reich, als Beeinträchtigung des honor regni, wie die Annales Altahenses kritisch bemerkten. Heinrich war am Ende seiner Herrschaft weit entfernt davon, Ungarn, Böhmen und Polen in lehnsrechtlicher Abhängigkeit zu halten. Selbst seiner böhmischen Vasallen konnte er sich nicht mehr sicher sein, da der 1055 erhobene Herzog Spytihněv II. engere Beziehungen zu Ungarn knüpfte. Förderung Speyers Im März 1043 starb Kaiserin Gisela. Bei ihrer feierlichen Bestattung in Speyer trat der König barfuß und im Büßergewand auf, warf sich mit kreuzförmig ausgestreckten Armen vor den Versammelten zu Boden und rührte durch sein Weinen alle Anwesenden zu Tränen. Die Forschung spricht für diese Zeit vom „christomimetischen Königtum“. Die Könige eiferten der demütigen Selbstverleugnung Christi nach und bewiesen so ihre Befähigung für das Königsamt. Heinrich förderte Speyer ungleich stärker als sein Vater Konrad. Frühestens Ende 1045 oder kurz vor dem Aufbruch nach Italien zur Kaiserkrönung schenkte er der Kirche mit dem Codex Aureus Escorialensis ein prachtvolles Evangeliar, das auch als Speyerer Evangeliar bekannt ist. Die Herrscherbilder zählen zu den prächtigsten des Mittelalters. Sie zeigen die salische Dynastie, wie sie sich 1045 herausgebildet hatte. Auf dem linken Bild ist die erste Generation mit Kaiser Konrad II. und seiner Gemahlin Gisela dargestellt. Der Prachtkodex beginnt mit den Tränen des Kaisers, mit seiner Reue und Bußfertigkeit. Konrad erfleht die Gnade Gottes. Das rechte Bild stellt die zweite Generation mit Heinrich III. und seiner Gemahlin Agnes dar. Die Hl. Maria thront als Himmelskönigin vor dem Speyerer Dom, der ihr geweiht ist. Heinrich III., der regierende Herrscher, beugt sich vor ihr und überreicht ihr das goldene Evangelienbuch. Die Stiftungsintention der Herrscherbilder ist umstritten. Johannes Fried vermutet, dass eine Schwangerschaft der Agnes und damit der Wunsch nach einem Thronfolger den konkreten Anlass bildeten. Agnes hatte Ende September/Anfang Oktober 1045 als erstes Kind eine Tochter zur Welt gebracht. Zur selben Zeit erkrankte Heinrich so schwer, dass man mit seinem Tod rechnen musste. Die Fortdauer des gesamten salischen Königshauses schien gefährdet. Mit diesen Bildern sollte Maria, die Schutzpatronin des Speyerer Domes, gnädig gestimmt werden. Agnes wurde ihrer Fürbitte anvertraut, damit sie einen Nachkommen zur Welt bringen möge. Dagegen verweist Mechthild Black-Veldtrup auf die bevorstehende Romfahrt und die gefährlichen Begleitumstände, nicht zuletzt im Hinblick auf die Reisestrapazen der schwangeren Königin. Ludger Körntgen betont die Aspekte der Memoria: Liturgisches Gedenken der Lebenden und Verstorbenen. Im Codex Aureus findet sich auch der Satz: Speyer wird im Glanz erstrahlen durch König Heinrichs Gunst und Gabe (Spira fit insignis Heinrici munere regis). Nach dem Tod der Mutter wurde der Dom erheblich ausgebaut und um ein Drittel vergrößert. Mit einer Gesamtlänge von 134 Metern stieg er zum größten Gotteshaus der abendländischen Christenheit auf. Ebenfalls ausgebaut wurde die salische Grablege. Der König legte ein Gräberfeld an, das mit 9 × 21 m in keinem anderen Gotteshaus des Reiches seinesgleichen fand. Es wurde Platz für künftige Bestattungen von Herrschern geschaffen, womit die Weichen für eine kontinuierliche Königsgrablege gestellt wurden. Heinrich ist fast jedes Jahr an „seinem geliebten Ort“ bis zum Osterfest 1052 nachzuweisen. Zum Osterfest 1052 kam es dann allerdings zu Zerwürfnissen zwischen Heinrich und dem Speyerer Bischof Sigebod, die sich offenbar auf die Grablege im Dom bezogen. Der zeitgenössische Bericht Hermanns von der Reichenau gibt an, dass Heinrich Speyer „mehr und mehr geringschätzte“. Eine gegenüber anderen Historikern deutlich reduzierte Bedeutung des Domes für Heinrich III. nimmt Caspar Ehlers an. Speyer sei seit Heinrichs Kaiserkrönung 1046 zunehmend in den Hintergrund getreten. So sind von insgesamt elf Urkunden für Speyer lediglich zwei Kaiserurkunden überliefert. Goslar trat dafür als neuer Mittelpunkt in den Vordergrund. Die Intestatbestattung Heinrichs in Goslar, die Körperbestattung in Speyer verdeutlichen nach Ehlers die Vorbehalte, die Heinrich gegenüber Speyer hatte. Das letzte Bild, das Heinrich selbst um die Mitte des 11. Jahrhunderts in Auftrag gab, ist im sogenannten Codex Caesareus überliefert. Heinrich und seine Gemahlin stehen, wie schon im Codex Aureus, allein bei Christus, wieder gebeugt und demütig. Auf keinem der von ihm in Auftrag gegebenen Bilder sind Große in der Nähe. Es ist das letzte Herrscherbild dieser Art aus dem Mittelalter überhaupt. Kaiserkrönung und Reformpapsttum Die Jahre 1044 bis 1046 markierten für das Papsttum eine Zeit schwerer Krisen. Die Ursachen sind in den Auseinandersetzungen der römischen Adelsfraktionen um die Stadtherrschaft zu finden, in denen die Päpste selbst Partei waren. Im Herbst 1044 wurde Papst Benedikt IX. aus dem Geschlecht der Tuskulaner infolge der römischen Adelskämpfe vertrieben. An seine Stelle wählten Anfang des Jahres 1045 die Crescentier ihren Parteigänger Bischof Johannes von Sabina zum Papst Silvester III. Benedikt IX. gelang es jedoch im März 1045, Silvester zu verdrängen und den Papstthron zurückzuerobern. Aus unbekannten Gründen trat Benedikt seine Würde jedoch am 1. Mai 1045 an den Erzpriester Johannes Gratianus von St. Johann an der Porta Latina für eine hohe Geldzahlung ab. Der neue Papst nahm den Namen Gregor VI. an. Nach heutigem Forschungsstand zog Heinrich wegen der Kaiserkrönung nach Rom und nicht um das Papstschisma zu beenden. Als Zeitpunkt für den Aufbruch zum Italienzug im Jahre 1046 bestimmte Heinrich die Tage um den 8. September, den Tag Mariä Geburt. Bei dieser Gelegenheit machte er der Kirche von Speyer eine Reihe von Schenkungen. Als erster römisch-deutscher Herrscher konnte Heinrich Italien betreten, ohne auf Widerstand zu stoßen. Am 25. Oktober 1046 fand eine Synode in Pavia statt, die sich vor allem gegen den Verkauf kirchlicher Ämter wandte. Um den 1. November traf Heinrich mit dem seit mehr als einem Jahr amtierenden Papst Gregor VI. zusammen. Die Gespräche verliefen zunächst offenbar reibungslos, denn in Piacenza haben sich beide in eine Gebetsverbrüderung eingetragen. Der König scheint dann allerdings Informationen erhalten zu haben, die den Verdacht weckten, dass sich Gregor VI. die Papstwürde erkauft hatte. Dies warf ein grundlegendes Problem auf: Sollte die Kaiserkrone über jeden Zweifel erhaben sein, bedurfte Heinrich eines Coronators, dessen Würde und Rechtmäßigkeit außer Frage stand. So ließ der König am 20. Dezember 1046 eine Synode in Sutri einberufen. Sie ist als erste Reformsynode der Regierungszeit Heinrichs III. anzusehen, die sich das Ziel setzte, gegen die Simonie vorzugehen. Die Synode kam zu dem Ergebnis, dass Benedikt IX., der nicht anwesend war, kein Papst mehr sei. Der erschienene Silvester erhielt eine Strafe, deren Maß unbekannt ist. Gregor VI. führte als amtierender Papst den Vorsitz, zog jedoch so viel Kritik auf sich, dass er unter dem Druck der Versammlung zum Rücktritt bereit war und den Weg für einen neuen, unbelasteten Papst frei machte. Am 24. Dezember 1046 wurde erneut eine Synode in Rom abgehalten, die das in Sutri begonnene Reformwerk fortführte, Benedikt IX. förmlich absetzte und einen neuen Papst wählte. Heinrichs Wunschkandidat Erzbischof Adalbert von Hamburg-Bremen lehnte ab und schlug seinen Freund, Bischof Suidger von Bamberg, vor. Daraufhin wurde Suidger am 25. Dezember 1046 als Clemens II. zum Papst erhoben. Unmittelbar im Anschluss daran krönte der neue Papst Heinrich und seine Gemahlin Agnes zu Kaiser und Kaiserin. Für Agnes setzte sich seit diesem Zeitpunkt in der Kanzlei die Bezeichnung Consors Regni durch, Heinrich ließ sich zusätzlich den spätantiken Titel Patricius Romanorum übertragen. Der Patricius galt traditionell als Schutzherr Roms und war berechtigt, an der Erhebung des Papstes mitzuwirken. So konnte der neue Kaiser nachträglich sein Handeln rechtfertigen. Im Januar 1047 wurden auf der nach Rom einberufenen Synode der Kauf kirchlicher Ämter scharf verurteilt und Beschlüsse über das Vorgehen gegen simonistische Priester gefasst. Noch im selben Monat stieß Heinrich, begleitet von Clemens II., zur Klärung der politischen Lage in den lombardischen Fürstentümern nach Süditalien vor. Er entzog Waimar IV., der nach der Vormachtstellung in diesem Raum strebte, das Fürstentum Capua und übertrug es erneut Pandulf IV., der einst von Konrad II. abgesetzt worden war. Hauptgrund für diese Maßnahme dürfte gewesen sein, dass Pandulf in enger Verbindung mit den Tuskulanern stand und mit seiner Macht Rom und dem Kirchenstaat gefährlich werden konnte. Gleichzeitig wurden die Normannenführer Rainulf mit Aversa und Drogo von Hauteville mit seinem apulischen Landbesitz belehnt. Diese Bestimmung ging zu Lasten der rechtlichen Ansprüche des Byzantinischen Reiches, dem die Normannen Teile Apuliens bereits entrissen hatten. Damit traten zum ersten Male Normannenführer in eine unmittelbare Lehnsbindung zum Reich und erreichten eine Legalisierung ihres eroberten Landbesitzes. Offenbar versuchte Heinrich ein Gleichgewicht zwischen normannischen und einheimischen Führern herzustellen. Bestand hatte diese Neuordnung jedoch nicht; schon bald erschien Waimar erneut als Lehnsherr der Normannen. Noch vor dem Sommer 1047 kehrte Heinrich nach Deutschland zurück. Mit der Erhebung Papst Clemens II. wurde eine Entwicklung eingeleitet, die auf eine Verklammerung des Reiches mit der Kirche zulief. Clemens und seine Nachfolger waren Mitglieder des Reichsepiskopats gewesen und behielten auch nach ihrer Erhebung zum Papst ihr Bistum. Dies ergab die Möglichkeit, auch den römischen Bischofssitz enger in das Beziehungsgeflecht der Reichskirche einzubeziehen. Auf Clemens folgte 1047/48 Bischof Poppo von Brixen als Papst Damasus II. und 1048/49 Bischof Bruno von Toul als Papst Leo IX. Mit dem fünfjährigen Pontifikat Leos IX. erreichte der Kampf um die Missstände in der Kirche (Priesterehen, Simonie) einen ersten Höhepunkt. Leo sammelte Persönlichkeiten in seinem Umfeld wie den Lütticher Domkanoniker Friedrich, den späteren Papst Stephan X., der Kanzler der römischen Kirche wurde, Hugo Candidus, Geistlicher am Frauenkloster Remiremont, Humbert, Mönch der Abtei Moyenmoutier, der es zum Kardinalbischof von Silva Candida brachte, aber auch den jungen römischen Kleriker Hildebrand, den späteren Papst Gregor VII. Sie alle waren vom Geiste kirchlicher Erneuerung geprägt. Mit dem Pontifikat Leos IX. erhielten Bemühungen um Zentralisierung und hierarchische Ordnung der gesamten Kirche Auftrieb. Das Papsttum begann sich aus der regionalen Gebundenheit an den römisch-mittelitalienischen Raum zu lösen und entwickelte sich zu einer institutionell verankerten Primatsgewalt. Leo bereiste Süditalien, Deutschland und Frankreich und suchte selbst die Grenzregionen Ungarns auf. Während seiner fünfjährigen Regierungszeit tagten in Deutschland, Frankreich und Italien zwölf von ihm persönlich geleitete Synoden, die die Reform des Klerus zum Thema hatten. Das Bemühen um die kirchliche Erneuerung wurde von Kaiser Heinrich III. unterstützt. Seine Herrschaft orientierte sich ebenfalls stark an kirchlichen Normen und kanonischen Schriften. Heinrich bekämpfte die Simonie, und die Priestersöhne erhielten – wohl gegen den Willen der meisten Reichsbischöfe – keine Chance ein Bischofsamt zu bekommen. Auf der Mainzer Synode vom Oktober 1049 wurde ein enges Zusammenwirken der beiden höchsten Gewalten deutlich. Doch gelang es Leo einige Jahre später nicht, die Unterstützung Heinrichs gegen die expandierenden Normannen in Süditalien zu erhalten. Am 18. Juni 1053 erlitt das päpstliche Heer bei Civitate im Norden Apuliens eine vernichtende Niederlage (Schlacht von Civitate). Leo geriet in die Gefangenschaft der Normannen und starb bald nach seiner Freilassung. Heinrich bewirkte im folgenden Jahr die Erhebung eines vertrauten Ratgebers, des Bischofs Gebhard von Eichstätt, als Papst Viktor II. Reichspolitik Adelspolitik Als Herzog Konrad der Jüngere von Kärnten am 20. Juli 1039 starb, besetzte Heinrich auch dieses Herzogtum zunächst nicht wieder. Die drei süddeutschen Herzogtümer Bayern, Schwaben und Kärnten standen damit in der Verfügungsgewalt des Königs. Nie zuvor hatte ein römisch-deutscher Herrscher bei seinem Regierungsantritt eine so breite Machtbasis besessen. Bayern wurde 1042 ohne eine Wahl der einheimischen Großen in Basel an den Luxemburger Heinrich VII. vergeben. 1045 übertrug der König Schwaben an den Ezzonen Otto II. Heinrich konnte dadurch seine Position am Niederrhein ausbauen, denn Otto überließ ihm die Suitbertinsel (Kaiserswerth) und Duisburg. Die führende Rolle der Ezzonen in der Reichspolitik veranschaulichen die Überlegungen einer Gruppe von Fürsten, den Ezzonen Heinrich zum Nachfolger Heinrichs III. zu bestimmen, als dieser im Herbst 1045 so schwer erkrankte, dass man mit seinem Tod rechnete. Doch Heinrich wurde wieder gesund. 1047 erhielt der schwäbische Graf Welf III. das Herzogtum Kärnten. Alle neu ernannten Herzöge waren Landfremde. Damit waren sie auf die Unterstützung durch die königliche Zentralgewalt angewiesen. Der Amtscharakter blieb so gewahrt, die Erblichkeit der Herzogswürde und die Bildung neuer Herzogsdynastien konnte verhindert werden. Bereits 1047 starben die neuen Herzöge in Bayern und Schwaben. Anfang 1048 übertrug Heinrich das Herzogtum Schwaben an Otto (III.) von Schweinfurt aus der fränkischen Linie der Babenberger. Bayern wurde im Februar 1049 gegen die gewohnte Mitbestimmung des bayerischen Adels und dazu noch an einen Landfremden, den Ezzonen Konrad, vergeben. Schon bald muss es zu Unstimmigkeiten zwischen dem Kaiser und dem neuen Bayernherzog gekommen sein. Laut dem Gründungsbericht der Abtei Brauweiler war der Grund für die spätere Absetzung Konrads die Tatsache, dass er die Ehe mit einer der Kaisertöchter verschmäht habe und gegen den Willen Heinrichs Judith von Schweinfurt heiratete. Doch sind die Hintergründe für die auslösenden Konflikte wohl eher in unterschiedlichen Auffassungen über Heinrichs Ungarnpolitik zu finden. Die Adelsfraktion um den Herzog Konrad hat wohl einen Ausgleich mit den Ungarn angestrebt. Der Onkel des Kaisers, der Bischof Gebhard III. von Regensburg, spielte bei der Absetzung Konrads eine entscheidende Rolle. Gebhard galt als Exponent einer ungarnfeindlichen Position. Zwischen Gebhard und Konrad soll spätestens ab 1052 eine offene Feindschaft bestanden haben. Gegen die sich formierende Opposition ging Heinrich energisch vor. Ostern 1053 wurden beide Parteien vor Gericht geladen. Am 11. April folgte auf dem Merseburger Hoftag der Urteilsspruch gegen Konrad. Er wurde für schuldig befunden und als Herzog von Bayern abgesetzt. Heinrich beauftragte den Bischof Gebhard I. mit der Leitung des Herzogtums. Noch 1053 gelang es dem abgesetzten Herzog Konrad, zum ungarischen Gegner zu fliehen und breite Kreise Bayerns gegen den Herrscher zu sammeln und zu mobilisieren. 1055 schloss sich eine Gruppe mächtiger Fürsten in den süddeutschen Herzogtümern gegen die autoritäre Herrschaft des Königs zusammen, darunter ausgerechnet der Bischof von Regensburg, der mächtige Herzog Welf III. und der abgesetzte Herzog Konrad I. von Bayern. Die Gründe bleiben im Dunkeln; die Verschwörer planten, Heinrich zu ermorden. Als Nachfolger war Konrad I. vorgesehen. Der geplante Königsmord offenbart größte Spannungen im Ordnungssystem. Niemals zuvor hatte es im fränkisch-deutschen Herrschaftsbereich solche Vorgänge gegeben. Der Umsturz wurde jedoch durch den plötzlichen Tod Welfs III. und Konrads I. vereitelt. Die Niederaltaicher Annalen schrieben dies göttlichem Eingreifen zu. Nach dem Gründungsbericht des seit 1051 den Kölner Erzbischöfen gehörenden Ezzonenklosters soll Heinrich den Giftmord an Konrad seinem Koch in Auftrag gegeben haben. Doch fehlen parallele Quellen, die derartige Vorwürfe auch nur andeuten. Bischof Gebhard von Regensburg wurde vorgeladen, überführt und inhaftiert, bald darauf jedoch wieder freigelassen und im folgenden Jahr vom Kaiser in Gnaden aufgenommen. Verschlechterung der salisch-billungischen Beziehungen Nach vorherrschender Forschungsmeinung verschlechterten sich zwischen Heinrich III. und Sachsen die Beziehungen. Sachsen wurde von Egon Boshof, Wolfgang Giese und Stefan Weinfurter als der Ort der frühesten Opposition gegen den Salier angesehen. Dagegen hat jüngst Florian Hartmann das Herzogtum Sachsen analysiert und eine nahezu konfliktfreie Zeit in dieser Region festgestellt. Die Vorstellung von aufständischen Sachsen unter Heinrich III. basiere vor allem auf der Heranziehung von Quellen, die zu späterer Zeit verfasst wurden und unter dem Eindruck des Sachsenkrieges berichten. Während der Herrschaft Konrads II. und Heinrichs III. war das Verhältnis der Salier zu den Billungern zunächst von Gleichgültigkeit geprägt. Sachsen erhielt den Charakter eines Nebenlandes. Ein Vorgang im Jahr 1047 markiert nach Gerd Althoff einen Wendepunkt in den salisch-billungischen Beziehungen. In diesem Jahr besuchte Heinrich den Erzbischof Adalbert von Bremen und hielt sich dabei auch auf dem Königshof in Lesum auf. Als Grund für diesen Besuch nennt Adam von Bremen, man habe „die Treue der Herzöge erkunden wollen“. Gerade noch rechtzeitig konnte der Kaiser vor einem Anschlag bewahrt werden. Der Billunger Graf Thietmar, der Bruder Herzog Bernhards II. von Sachsen, soll ein Attentat vorbereitet haben. Durch einen Vasallen des Grafen wurde Heinrich dieser Anschlag offenbart. Geklärt werden sollte die Anschuldigung in Pöhlde mit einem gerichtlichen Zweikampf. Dass dabei mit dem Billunger Thietmar ein Hochadliger gegen seinen eigenen Vasallen antrat, war unüblich; Heinrich ließ dies jedoch zumindest zu oder hat es vielleicht sogar selbst verlangt. Im Zweikampf starb der Billunger an seinen Wunden, worauf dessen Sohn den Vasallen in seine Gewalt brachte und tötete. Dies wiederum rächte der Kaiser, indem er Thietmars Sohn lebenslang ins Exil schickte und seine Güter konfiszierte. Die Härte und Konsequenz, mit der Heinrich III. gegen den Billunger und dessen Sohn vorging, verschlechterte die Beziehungen zu den Billungern. Nach Florian Hartmann hingegen folgte aus diesen Ereignissen keine Empörung der Billunger gegen Heinrich. Vielmehr habe ein halbes Jahr später Herzog Bernhard die Vergabe eines Wildbanns an die Bremer Kirche unterstützt. Unter Heinrich setzte eine neuartige Behandlung von Konflikten zwischen König und Großen ein, die sich von der Praxis in ottonischer Zeit erheblich unterschied. Im gütlichen Vergleich hatten sich bislang die Gegner des Königs bei der Beendigung von Auseinandersetzungen bereit erklärt, Genugtuung durch Unterwerfung zu leisten, woraufhin der König Milde und Verzeihen walten ließ. Dieses eingespielte Ritual akzeptierte Heinrich III. nicht mehr. Die Konsequenzen für die Betroffenen fielen nun erheblich härter aus. Erstmals wurde unter Heinrich für Majestätsverbrechen (contemptor imperatoris), also für jede Auflehnung gegen den Herrscher, die Todesstrafe festgesetzt. Das Verhalten und die Reaktionen der Billunger machen deutlich, dass sie das gegen ihre Verwandten angewandte Verfahren nicht billigten. Für Unmut sorgte auch der energische Ausbau des Reichsgutes in Sachsen, wo die Salier kein Hausgut besaßen. Alle Versuche der Könige, die Verwaltung zu straffen und den Ausbau des Reichsgutes voranzutreiben, lösten dort Widerstand aus. Für den Unterhalt des königlichen Hofes wurde der sächsische Besitz intensiver genutzt. Nach der Ansicht eines süddeutschen Chronisten entwickelte sich Sachsen zur „coquina imperatoris“ („Küche des Kaisers“). Bereits unter Heinrich II. war die Königspfalz von Werla nach Goslar verlegt worden. Heinrich III. förderte Goslar mit mehreren Privilegien, da der Silberbergbau dem Königtum erhebliche Einkünfte verschaffte. Die neue Pfalz mit dem Pfalzstift St. Simon und Judas wurde ein zentraler Ort der Reichsverwaltung. Die Spannungen mit den Sachsen vertieften sich jedoch durch die Einsetzung Adalberts zum Erzbischof von Hamburg-Bremen. Adalbert entwickelte sich zu einem erbitterten Gegner der Billunger. Ihn selbst, seine Kirche und die Kirchenleute hätten die Billunger mit tödlicher Feindschaft verfolgt. Herzog Bernhard betrachtete den Erzbischof von vorneherein als seinen Gegner, der zu seiner Überwachung und als Spion in seine Gebiete geschickt sei, „um Fremden und dem Kaiser die Schwächen des Landes zu verraten“. Auseinandersetzungen in Lothringen In Lothringen hatte Herzog Gozelo seit 1033 sowohl über Niederlothringen als auch über Oberlothringen geherrscht. Sein Tod am 19. April 1044 führte zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Heinrich und Gozelos jüngerem Sohn Gottfried dem Bärtigen über die Nachfolgeregelung. Aus den spärlichen Quellen lässt sich der konkrete Sachverhalt kaum erhellen. Nach der Darstellung der Annales Altahenses und Hermanns von der Reichenau scheint es so, dass sich Gottfried dem Willen des Vaters ebenso wie der Verfügung des Königs widersetzte. Gozelo hatte Gottfried bereits zu seinen Lebzeiten das Herzogtum Oberlothringen übertragen. Niederlothringen wurde jedoch an seinen jüngeren Sohn Gozelo II. – trotz dessen Feigheit (ignavus) und Unfähigkeit (quamvis ignavo) – vergeben. Der Annalist von Niederaltaich schreibt allerdings eindeutig allein dem König die Entscheidung zu, das Herzogtum Niederlothringen nach dem Tod Gozelos an dessen älteren Sohn zu vergeben. Heinrich III. wollte Gottfried nur Oberlothringen zuerkennen. Offenbar nutzte er durch den Tod Gozelos I. die Gelegenheit, den lothringischen Machtkomplex zu zerschlagen. Beim Tod seines Vaters 1044 erhob Gottfried der Bärtige Widerspruch und wollte zusätzlich die Herzogswürde von Niederlothringen. Gottfried berief sich auf seine bisherige bedeutende Stellung und wohl auch auf den Willen seines Vaters. Als weiteres Argument dürfte das Idoneitätsprinzip in den folgenden Auseinandersetzungen eine Rolle gespielt haben, da die Unfähigkeit Gozelos II., dem der König Niederlothringen zur Verwaltung gegeben hat, von Hermann von Reichenau bezeugt wird. Heinrich blieb in den Konflikten unnachgiebig und verlangte die Anerkennung Gozelos II. als Herzog, obwohl Gottfried seine Bereitschaft erklärte, jede von ihm verlangte Gegenleistung zu erbringen, wenn er nur beide Herzogtümer behalten könne. Für Heinrich war der Amtscharakter der herzoglichen Würde entscheidend und in Wahrung seiner Amtshoheit verfügte er über die Zwischengewalten nach seinem Ermessen. In den folgenden Konflikten soll sich Gottfried mit Heinrich I. von Frankreich verbündet haben. Dieser Hochverrat, wie die Annales Altahenses ihn überliefern, ist von Egon Boshof in einer grundlegenden Studie bezweifelt worden. Durch Fürstenspruch wurden Gottfried seine Reichslehen aberkannt, was den Verlust beider Lothringen bedeutete. Im Winter 1044 begann Heinrich den Feldzug. Gleichzeitig brachen in Burgund Unruhen aus, die jedoch ohne größeres Zutun des Königs beendet worden konnten. Bereits im Januar 1045 konnte Heinrich die Unterwerfung der burgundischen Rebellen entgegennehmen. In den Konflikten wurde Gottfried politisch isoliert. Heinrich gelang es, die führenden Familien Lothringens, besonders die Ezzonen, aber auch die Lützelburger für sein Anliegen zu gewinnen. Auch der lothringische Episkopat erwies sich als zuverlässiger Rückhalt des Königs. Auf einem Hoftag in Goslar im Frühjahr 1045 nahm Heinrich die Huldigung eines Sohnes Balduins V. von Flandern entgegen und übertrug ihm ein Flandern benachbartes Grenzgebiet, auf das Gottfried Anspruch erhoben hatte. Damit gewann er Balduins Neutralität, leistete aber zugleich der flandrischen Expansion ins Reich Vorschub. Die militärischen Auseinandersetzungen zogen sich noch längere Zeit hin, da eine schwere Hungersnot die kriegführenden Parteien zur Einschränkung ihrer Aktionen zwang. Erst im Juli 1045 unterwarf sich Gottfried und wurde von Heinrich im Giebichenstein in Gewahrsam genommen. Eine Entscheidung auf einem Aachener Hoftag im Mai 1046 sprach ihm nach seiner Entlassung aus der Haft das Herzogtum Oberlothringen zu. Als Garantie für zukünftiges Wohlverhalten musste er seinen Sohn als Geisel stellen. Niederlothringen wurde dem Lützelburger Friedrich übertragen, wodurch die Lützelburger als Nutznießer aus den Auseinandersetzungen hervorgingen. Sie geboten nun über zwei Herzogtümer und konnten mit dem Bistum Metz eine Schlüsselstellung in Oberlothringen behaupten. Um die Mitte des Jahres galt die Lage so weit als beruhigt und gefestigt, dass Heinrich Vorbereitungen für den Italienzug treffen konnte. Gottfried hat sich offenbar über seine Unterwerfung hinaus intensiv um eine Aussöhnung mit Heinrich bemüht. Umso schwerer musste ihn die Brüskierung treffen, als der Kaiser am Grabe der Apostelfürsten – wohl aus Anlass seiner Kaiserkrönung – eine Indulgenz verkündete und öffentlich seinen Gegnern und Feinden verzieh, Gottfried jedoch ausdrücklich ausnahm. Der Ausschluss aus dem Akt der Vergebung widersprach der kaiserlichen Friedenspolitik zutiefst und verdeutlicht, wie tief das Misstrauen Heinrichs gegenüber Gottfried gewesen sein muss. Wahrscheinlich nach Heinrichs Rückkehr aus Italien im Mai 1047 begann Gottfried mit den Vorbereitungen zu einer erneuten Empörung. Mehr zufällig als bewusst geplant fanden sich Gottfried, Dietrich von Holland, Balduin V. von Flandern und Graf Hermann vom Hennegau zu einer Koalition zusammen. In den folgenden militärischen Auseinandersetzungen wurden die Kaiserpfalz Nimwegen und Verdun zerstört. Heinrich konnte den Aufstand durch ein Treffen mit Heinrich I. von Frankreich und durch Absprachen mit den Dänen und Angelsachsen, die Flottenhilfe zusagten, einkreisen. Im folgenden Jahr gelang ihm die Wende. Im Januar 1049 fiel Dietrich von Holland. Nachdem Gottfried 1049 von Papst Leo IX. exkommuniziert worden war, unterwarf er sich im Juli dieses Jahres in Aachen dem Herrscher und musste daraufhin auf sein Herzogtum verzichten. Dass Gottfried unter den Fürsten noch immer Fürsprecher fand, deutet darauf hin, dass sie durchaus das Recht des Lothringers erwogen haben. Gottfried wurde unter der Obhut des Erzbischofs Eberhard in Trier inhaftiert. Im Herbst war auch Balduin von Flandern bezwungen. Heinrich hatte damit die bislang größte Gefahr seiner Herrschaft bestanden und sein Ziel erreicht, ein übergroßes Herzogtum zu zerschlagen und einer besseren Kontrolle der Zentralgewalt zu unterwerfen. Auf lange Sicht gestalteten sich die Verhältnisse für das Reich allerdings nachteilig. Die Schwächung der lothringischen Herzogsgewalt führte dazu, dass der herrschaftsbildende Adel immer weniger kontrolliert werden konnte. Die Nachfolger Gottfrieds im geteilten Herzogtum besaßen nicht die Basis, um die Interessen des Reiches machtvoll vertreten zu können. Die politische Zersplitterung des westlichen Grenzraumes führte zu einer Machteinbuße des Reiches. Nutznießer war vor allem Graf Balduin V. von Flandern. Nach seiner Entlassung aus der Haft suchte Gottfried bald nach Wegen, um eine neue Machtstellung aufzubauen. Ohne Absprache mit dem Kaiser heiratete er Beatrix von Tuszien, die Witwe des 1052 ermordeten Markgrafen Bonifatius von Tuszien. Die enorme Machtstellung, die er damit in Oberitalien erreichte, veranlasste Heinrich im Frühjahr 1055 zum zweiten Italienzug. Gottfried setzte sich rasch in seine lothringische Heimat ab, Beatrix und ihre Tochter Mathilde wurden gefangen genommen und Ende 1055 in das Reich geführt. Gemeinsam mit dem seit dem 13. April 1055 amtierenden Papst Viktor II. wurde zu Pfingsten eine Reformsynode in Florenz abgehalten. Viktor wurden von Heinrich das Herzogtum Spoleto und die Markgrafschaft Fermo übertragen. Mit den langobardischen Fürstentümern und Byzanz wurden Verhandlungen über das Problem der normannischen Expansion aufgenommen, über das Ergebnis ist jedoch nichts bekannt. Im November 1055 kehrte Heinrich nach Deutschland zurück. Das wichtigste Ziel, die Festigung der Herrschaft in Italien, war erreicht worden. Die Normannenfrage blieb allerdings ungeklärt. Kirchenpolitik Heinrich III. stärkte die Bischofskirchen auf Kosten der Reichsklöster. Den Bischöfen von Bamberg, Brixen, Minden, Köln und Passau bestätigte er die Übertragung ehemaliger Reichsabteien und Eigenklöster. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Maßnahmen zur Stärkung der verbliebenen Reichsklöster eingestellt wurden. Schutz und Förderung dieser Klöster waren untrennbar mit dem Wohl und dem Bestand von König und Reich verbunden (stabilitas regni vel imperii). Die Ausstattung der Klöster und Stifte mit Besitzungen und Rechten diente nicht nur der Sicherung des Seelenheils des Königs, sondern garantierte auch den Fortbestand des Reiches. Vor allem aber wurden die Bischofskirchen des Reichs gefördert. In den Jahren 1049 bis 1052 erhielt Hildesheim sechs größere Schenkungen. An Halberstadt gingen im selben Zeitraum drei Schenkungen. Der Regierungspraxis seiner Vorgänger folgend, baute Heinrich die Reichskirche durch Verleihung und Bestätigung von Immunitäten, Forsten, geldlich nutzbaren Hoheitsrechten und Grafschaften weiter aus. Die Reichskirche war dadurch in der Lage, die aus den Schenkungen von Besitz und Rechten resultierenden Leistungen für den Herrscher wirkungsvoll zu leisten und den Königsdienst (servitium regis) zu erfüllen. Die Arengen der Diplome betonen gelegentlich, dass der Herrscher für alle Kirchen des Reiches Sorge zu tragen und jede einzelne in ihrer Aufgabe, dem Dienst für Gott, zu fördern habe. In allen schwierigen Situationen während seiner Herrschaft erwies sich die Reichskirche als feste Stütze. Auf die Erhebung der Bischöfe und der Vorsteher der Reichsabteien und Reichsstifte übte Heinrich maßgeblichen Einfluss aus. Die königlichen Entscheidungen standen dabei durchaus in Einklang mit der kirchlichen Reformströmung. Bei der Nachfolgeregelung 1042 in Eichstätt akzeptierte Heinrich den von Bischof Gebhard von Regensburg vorgeschlagenen Kandidaten Konrad nicht, da er Sohn eines Priesters war. Heinrich achtete zudem auf hohe Qualität der Amtsträger. Sie mussten die kirchlichen Gesetze kennen und in ihren Kirchen anwenden. Im Zeremoniell der Bischofserhebung führte er eine bedeutende Neuerung ein. Als erster Herrscher verwandte er bei der Investitur neben dem Stab den Ring. Der Ring ist ein geistliches Zeichen, das die Vermählung des Bischofs mit seiner Kirche symbolisiert. Unter seinem Sohn führte dieser Akt unter dem Schlagwort investitura per annulum et baculum (Investitur mit Ring und Stab) zu massiven Konflikten mit den Vertretern der gregorianischen Reform. Bis 1042, dem Todesjahr Poppos, des Patriarchen von Aquileia, führte dieser eine weitgehend eigenständige Territorial- und Kirchenpolitik. Sie war von scharfen, auch außenpolitischen Konflikten geprägt, in die er auch Konrad II. hineingezogen hatte. Schon 1027 hatte er zur Durchsetzung seines Anspruchs als Patriarch die Rivalin Grado zerstören lassen, erneut geschah dies im Jahr 1044. Damit drohte eine offene Auseinandersetzung mit Venedig, auf dessen Territorium Grado lag. Tatsächlich eroberte die Stadt nach Poppos Tod Grado zurück. Karl Schmid ist einer der wenigen, die diesen kaum beforschten Vorgang kommentierten: „Symptomatisch mit Blick auf Aquileja und seinen Vorrang als Patriarchat ist es, daß Heinrich III. Poppos antigradensische und damit antivenezianische Politik nach dessen Tod […] nicht fortgesetzt hat“. Die Verklammerung der Hofkapelle mit der Reichskirche wurde unter Heinrich weiter verstärkt, die Effizienz der Hofkapelle im Königsdienst erreichte ihren Höhepunkt. 1040 wurden die Spitzenämter neu geregelt. Seit 965 hatte der Mainzer Erzbischof mit der Würde des Erzkaplans das höchste geistliche Amt der Hofkapelle bekleidet. Als Erzkaplan war er gleichzeitig Erzkanzler des ostfränkisch-deutschen Reiches. Zur Zeit Heinrichs wurde der Mainzer Erzbischof Bardo in den Urkunden vermehrt Erzkanzler genannt. Das Amt des Erzkapellans wurde von dem des Erzkanzlers getrennt. Schließlich wurde der Titel archicapellanus durch capellarius ganz ersetzt. Gleichzeitig wurde die Funktion des obersten Kapellans in der Hofkapelle von einem führenden Hofgeistlichen ausgeübt. Er war den Weisungen des Herrschers in viel stärkerem Maße unterworfen und war ständig am Hof präsent. Dies steigerte die Effektivität der Verwaltung. Mit dem Erlöschen des Amtes des Erzkapellans rückte der Erzkanzler an die Spitze der geistlichen Hofämter. Der Erzkanzler für Deutschland, der Mainzer Erzbischof, besaß das Privileg, neben dem Kaiser sitzen zu dürfen (primatus sedendi), und dokumentierte damit seinen Vorrang gegenüber den anderen Großen. Für den italischen Reichsteil hatte der Kölner Erzbischof Hermann II. das Amt des Erzkanzlers inne. Für Burgund führte Heinrich III. ein weiteres Erzkanzleramt ein und übertrug es dem Erzbischof Hugo von Besançon. Durch die Gründung von Pfalzstiften in seiner Lieblingspfalz Goslar und in Kaiserswerth bewirkte Heinrich III. eine noch engere Verbindung von königlichem Herrschaftszentrum und Kirche, wodurch sich die personelle Basis der königlichen Hofkapelle verbreiterte. Die Pfalz Goslar mit dem Pfalzstift St. Simon und Judas wurde zum wichtigsten Ausbildungszentrum. Neun Urkunden für das Pfalzstift sind erhalten. Sie sind sämtlich Schenkungen, mit denen das Pfalzstift reich ausstattet wurde. Mit den Aposteln Simon und Judas wählte Heinrich Tagesheilige seines Geburtstages (28. Oktober) als Stiftspatrone. Die Bedeutung, die Heinrich seinem Geburtstag zumaß, ist für einen mittelalterlichen Herrscher ungewöhnlich, da in dieser Zeit nicht der Geburts-, sondern der Todestag – als Beginn des Lebens in Gott – von Bedeutung war. Unter Heinrich III. wurden besonders viele Kapelläne zu Bischöfen ernannt. Die „Kapellan-Bischöfe“ sollten Garant für besonders enge Bindungen zwischen den Bischofskirchen und dem Herrscherhof sein. Die Kapelläne, die in der Verwaltung und Rechtspflege tätig waren, vollbrachten auf diesem Gebiet Meisterleistungen. Das Leistungsvermögen der Hofkanzlei führte dazu, dass die mittelalterliche Königsurkunde zu dieser Zeit ihren Höhepunkt erreichte. Friedensprogramm Rechts- und Friedenswahrung gehörten zu den wichtigsten Pflichten des Königs. Die Vorstellung eines „Friedens durch Herrschaft“ stammte aus der antiken Welt und war im frühen Mittelalter intensiv erörtert worden, in der ottonischen Zeit jedoch in den Hintergrund geraten. Mit Heinrich trat diese Vorstellung wieder hervor. Der Kerngedanke seines Königtums war die Friedensidee. In Wipos Tetralogus wird der Herrscher aufgefordert, die kaiserliche Ordnungsaufgabe tatkräftig anzugehen. Den gesamten Erdkreis (totus orbis) solle er dem gottgefälligen und gottgewollten umfassenden Frieden (pax) zuführen. Der König wird als „Urheber des Friedens“ (auctor pacis) und „Hoffnung des Erdkreises“ (spes orbis) gefeiert. Zu den Grundlagen von Heinrichs Friedensbefehlen gehörten Buße und Barmherzigkeit. Mit seinem Bußweinen war auch immer das Gebot eines allgemeinen Friedens an alle verbunden. Schon über seinen Aufenthalt in Burgund 1042 berichten die Chronisten, dass er den Frieden gesichert habe, ohne allerdings nähere Auskunft über die Art seines Vorgehens zu geben. Auf der Konstanzer Synode im Oktober 1043, wenige Wochen nach dem siegreichen Ungarnfeldzug, habe Heinrich das Volk zum Frieden ermahnt. Am Ende der Synode habe er noch ein königliches Edikt erlassen, mit dem er „einen seit vielen Jahrhunderten nicht bekannten Frieden“ anordnete. Es ist ungewiss, was die unmittelbare Triebkraft für die Friedensidee war. Möglicherweise waren es Anregungen aus dem südfranzösisch-burgundischen Raum, wo sich die Gottesfriedensbewegung weit ausgebreitet hatte. Im Zusammenschluss von Bischöfen und Fürsten wurden dort bestimmte Personengruppen sowie gewisse kirchliche Festtage und Zeitabschnitte unter besonderen Schutz gestellt (pax Dei und treuga Dei). Die ausgeprägte Frömmigkeit des zweiten salischen Herrschers sowie die burgundische Herkunft seiner ebenfalls als überaus fromm geschilderten Gemahlin sprechen für Einflüsse von dieser Seite. Allerdings sollte im Unterschied zur Gottesfriedensbewegung dieser Frieden keineswegs zusammen mit den Großen des Reiches beschlossen werden, sondern allein durch herrscherliche Anordnung. Besonders heftige Angriffe auf diese Friedenskonzeption kamen aus kirchlichen Kreisen. Abt Siegfried von Gorze vertritt in einem Brief aus dem Jahre 1043 die Ansicht, dass Heinrich durch seine Eheschließung mit Agnes eine Sünde begehe. Ziel des Schreibens war vor allem der Nachweis, dass Heinrich und Agnes zu nah verwandt seien und die geplante Ehe somit kanonisch unzulässig sei. Die Argumentation des Hofes, dass man dadurch das deutsche und das burgundische Reich zu einer großen Friedenseinheit zusammenführen könne, bezeichnete Siegfried als irrig und verderblich. Der Abt sprach von einem verderblichen Frieden (pax perniciosa), weil er in Ungehorsam vor den kanonischen und somit den göttlichen Gesetzen zustande käme. Thronfolgeregelung und früher Tod Aus seiner ersten Ehe mit Gunhild hatte Heinrich eine Tochter namens Beatrix. Seiner zweiten Ehe entstammten die drei Töchter Adelheid (1045), Gisela (1047) und Mathilde (1048). In vorbildlicher Weise kümmerte sich das Paar um die Pflege der salischen Memoria in den sächsischen Damenstiften. Beatrix wurde mit sieben Jahren 1044/45 Vorsteherin der Stifte Quedlinburg und Gandersheim. Auch Adelheid wurde früh zur Erziehung an den Quedlinburger Konvent gegeben und leitete später mehr als 30 Jahre lang Gandersheim und Quedlinburg als Äbtissin. 1047 forderte Erzbischof Hermann von Köln dazu auf, für die Geburt eines Kaisersohnes zu beten. Am 11. November 1050 kam nach siebenjähriger Ehe der lang ersehnte präsumptive Thronfolger zur Welt. Seine Geburt wurde mit dem Stoßseufzer endlich begrüßt. Die Eltern wählten den Namen des Großvaters Konrad für den Sohn. Noch am Weihnachtsfest 1050 ließ der kaiserliche Vater die anwesenden Großen dem noch ungetauften Sohn die Treue schwören. Am Osterfest (31. März 1051) vollzog Erzbischof Hermann in Köln die Taufe. Der Reformabt Hugo von Cluny übernahm die Patenschaft und plädierte für die Umbenennung des Kindes in Heinrich. Die Wahl Hugos als Taufpate des Thronfolgers dokumentiert die enge Anbindung des salischen Herrscherhauses an die religiösen Strömungen dieser Zeit. Als der Kaiser seinen dreijährigen Sohn im Jahr 1053 in der Königspfalz Trebur (südlich von Mainz auf der rechten Seite des Rheins) zum Nachfolger im Königsamt wählen ließ, brachten die Wähler einen in der Geschichte der Königswahl noch nie dagewesenen Vorbehalt zum Ausdruck. Sie wollten dem neuen König nur folgen, wenn er ein gerechter Herrscher werde (si rector iustus futurus esset). Ein Jahr später wurde das Kind am 17. Juli 1054 in Aachen von Erzbischof Hermann von Köln zum König gekrönt und geweiht. Wenig später wurde auch die Versorgung des 1052 geborenen zweiten Sohnes Konrad geregelt: Ihm wurde das Herzogtum Bayern übertragen. Der Zweitgeborene war wohl als „Personalreserve“ für die nicht mehr anzufechtende Nachfolge des Erstgeborenen gedacht. Wohl im Sommer 1054 brachte Agnes mit Judith noch eine Tochter zur Welt. Nachdem der zweite Sohn Konrad bereits am 10. April 1055 gestorben war, übertrug Heinrich 1055 privato iure seiner Gemahlin auf unbestimmte Zeit das bayerische Herzogtum, ohne auf das Wahlrecht der Großen Rücksicht zu nehmen. Heinrich III. leitete auch die spätere Heirat seines Nachfolgers noch verbindlich in die Wege. Am Weihnachtsfest 1055 wurde der Thronfolger in Zürich mit Bertha aus dem Hause der Markgrafen von Turin verlobt. Die Ehe diente dem Ziel, das Turiner Markgrafenhaus gegen das mit Heinrich verfeindete lothringisch-tuszische Herzogs- und Markgrafenhaus zu stärken und an das salische Kaiserhaus zu binden. Heinrich starb unerwartet am 5. Oktober 1056 mit 39 Jahren nach einer kurzen, schweren Krankheit in der Königspfalz Bodfeld am Harz, wo er sich zur Jagd aufgehalten hatte. Auf dem Totenbett sorgte er ein letztes Mal dafür, dass die Großen durch eine erneute Wahl des Sohnes dessen Thronfolge bestätigten. Laut den Niederaltaicher Annalen habe das Reich Ruhe und Frieden genossen, „als Gott den von ihm begnadeten Kaiser aus Zorn über unsere Sünden mit der schweren Krankheit belegte“. Die inneren Organe bestattete man in der Pfalzkirche St. Simon und Judas in Goslar. Der Leichnam wurde nach Speyer überführt und am 28. Oktober 1056 an der Seite des Vaters beigesetzt. Beide Kirchen waren von Heinrich mit besonderer Fürsorge bedacht worden, insbesondere in Speyer pflegte man in der folgenden Zeit sein Andenken. In einem Nekrolog (Necrologium Benedictoburanum) werden seine wichtigsten Schenkungen für die Speyerer Kirche vermerkt. Bei Gottfried von Viterbo ist Heinrich das erste Mal mit dem Beinamen niger (der Schwarze) verzeichnet. Im 19. Jahrhundert verschwand der Beiname allmählich. Die Regierungsgeschäfte für Heinrichs gleichnamigen Sohn führte zunächst dessen Mutter Agnes von Poitou weiter. Doch geriet ihre Herrschaft immer mehr in die Kritik vor allem reformorientierter Geistlicher wie des Erzbischofs Anno von Köln. Wirkung Urteile der Zeitgenossen Die Beurteilungen durch die Zeitgenossen ergeben ein uneinheitliches Bild. Anders als sein Vater hat Heinrich III. keinen Historiographen gefunden, der das Urteil der Nachwelt dominiert hätte. Konrads Hofhistoriograph Wipo hat in seinem zu Weihnachten 1041 überreichten Tetralog, einer Art Kaiserspiegel, und in seinen Proverbia die Aufgaben des Herrschers beschrieben und dabei die Grundzüge einer Königsethik entwickelt. Bildung, Wissenschaft und Weisheit erscheinen hier als Voraussetzung für gerechtes Regieren. Bern von Reichenau beschreibt Heinrich in seinen Widmungsschreiben als unbesiegbaren Friedensbringer, als gütigsten und gerechtesten Weltherrscher sowie als Verbreiter des Glaubens und Ruhm der Könige. Von Heinrichs Herrschaft erhoffte er sich den Beginn eines neuen Zeitalters der Eintracht und des Friedens. Lob und Preisdichtungen rühmen Heinrich als friedliebenden Herrscher und vergleichen ihn mit dem alttestamentlichen König David. Dieser Vergleich findet sich zwar schon in der Merowinger- und Karolingerzeit und auch Heinrich II. und Konrad II. waren bereits als David gepriesen worden, doch begegnet der Verweis auf David unter Heinrich III. besonders häufig. Mit David wurde die Vorstellung vom Beginn eines Goldenen Zeitalters verknüpft. Der Hofgelehrte und Lehrer Heinrichs, Wipo, verglich seinen Schüler mehrmals mit König David. In der Liedersammlung von Cambridge sind zwei Davidlieder enthalten. Selbst Petrus Damiani, der Reformer und Gelehrte am päpstlichen Hof, feierte Heinrich als Erneuerer des Goldenen Zeitalter Davids. Deutlich im Kontrast zu den im Umkreis des Hofs entstandenen Werken stehen einige zumeist spätere Stimmen, die aus dem Kreis der Kirchenreformer stammen und vor dem Hintergrund der voranschreitenden Kirchenreform Kritik an Heinrichs Maßnahmen in Rom äußern. In der Schrift „De ordinando pontifice“ (Über die Papsterhebung) wird Heinrich vehement die Befugnis abgesprochen, einen Papst ab- oder einzusetzen, denn Priester, Bischof und Papst seien über alle Laien gestellt. In den Taten der Lütticher Bischöfe (Gesta episcoporum Leodicensium) ist eine ähnliche Kritik überliefert. Von Bischof Wazo von Lüttich wird berichtet, er habe die Absetzung Gregors VI. verurteilt, da der Papst auf Erden von niemandem gerichtet werden könne. Dies sind die ersten Belege für die in der Mitte des 11. Jahrhunderts beginnende Debatte um Stellung und Legitimation des Königs. Man begann die Sakralität des Herrschers von der der Geistlichen abzugrenzen und schließlich abzuwerten. Heinrichs Herrschaftsstil zog jedoch nicht nur die Kritik der Kirchenreformer auf sich. Nach dem Bericht des Mönches Otloh von St. Emmeram in seinem ungefähr 1063 entstandenen Liber Visionum (Buch der Visionen) habe Gott selbst den Kaiser mit dem Tod bestraft, da dieser die so wichtige Herrschertugend, den Armen zu helfen und sich ihrer Anliegen anzunehmen, ignoriert habe. Stattdessen habe er sich Geldgeschäften hingegeben, also einer Beschäftigung, die das Gegenteil eines idealen Herrscherverhaltens war. Den Anliegen der Bittsteller sich als König zu verschließen erwies sich in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts als schwerwiegender Kritikpunkt, wenn es um die Eignung der Königsherrschaft ging. Kritik kam aber auch von einer ganz anderen Seite: Die Großen des Reiches zeigten sich mit dem Herrschaftsstil unzufrieden. Heinrichs Zeitgenossen bemerkten eine zunehmende Härte des Herrschers im Umgang mit Gegnern. Der Chronist Hermann von Reichenau schrieb zum Jahr 1053: „Zu dieser Zeit murrten sowohl die Großen des Reiches wie auch die weniger Mächtigen immer häufiger gegen den Kaiser und klagten, er falle schon seit langem von der anfänglichen Haltung der Gerechtigkeit, Friedensliebe, Frömmigkeit, Gottesfurcht und vielfältigen Tugenden, worin er doch alltäglich Fortschritte hätte machen sollen, mehr und mehr ab zu Eigennutz und Vernachlässigung seiner Pflichten und werde bald viel schlechter sein.“ Allerdings fehlen Berichte, welche konkreten Handlungen des Herrschers diese Kritik hervorriefen. Dem konservativen Lampert von Hersfeld ging es in seinen Annalen um die Erhaltung der alten, christlich-monastischen und politischen Werte, die er in der Regierungszeit Heinrichs III. noch verkörpert sah. Doch auch Lampert vermerkte nach dem Tod des Herrschers eine tiefe Verstimmung in Sachsen wegen Heinrichs Verhalten. Zum Jahr 1057 berichtete er von den Plänen sächsischer Fürsten, den jungen Heinrich IV. zu ermorden. Als Grund werden die Ungerechtigkeiten genannt, die den Sachsen von seinem Vater zugefügt worden seien. Man müsse befürchten, dass der Sohn in Charakter und Lebensart den Spuren seines Vaters folgen werde. Forschungsgeschichte Heinrich III. wurde auch in der Geschichtswissenschaft sehr unterschiedlich beurteilt. Dies liegt zum einen am uneinheitlichen Bild der Quellen und zum anderen an den Kontroversen über Bedeutung und Folgen des sogenannten Investiturstreits, der die Zeit seines Sohnes und Nachfolgers prägte. Die Zeit Heinrichs III. galt und gilt vielen Historikern als ein Höhepunkt der Kaisergeschichte des Mittelalters. Für die Forschung des 19. Jahrhunderts erreichte unter Konrad II. und insbesondere unter dessen Sohn die deutsche Kaiserherrlichkeit ihren Zenit. Albert Hauck schrieb in seiner Kirchengeschichte Deutschlands, dass Deutschland nach Karl dem Großen keinen mächtigeren Herrscher gehabt habe als Heinrich. Zu einem sehr ausgewogenen Urteil kam Ernst Steindorff in seinen „Jahrbüchern des deutschen Reiches“. Für die einzelnen Ereignisse versuchte er stets mehrere Perspektiven zu berücksichtigen. Sein Fazit betonte die Stellung Heinrichs III. zwischen seinem Vater, der „Nation und Reich auf eine Stufe der Macht und des Gedeihens“ gehoben habe, und dem „Zerfall des Reiches, der Dynastie und der Nation“, den Steindorff in der Zeit der Nachfolger Heinrichs verortete. Heinrichs früher Tod mit 39 Jahren wurde in der Geschichtsforschung lange als „Katastrophe größten Ausmaßes“ für das Reich gewertet. Paul Kehr meinte, dass Heinrich alle Gefahren wacker bekämpft habe. Die lothringisch-tuszische Verbindung habe er unschädlich gemacht und das Papsttum unter seiner Kontrolle gehabt. Für Kehr war daher der Todestag Heinrichs III. „ein schwarzer Tag für die deutsche Geschichte“. Die günstige Beurteilung Heinrichs III. erreichte 1956 unter Theodor Schieffer ihren Höhepunkt. Auf Schieffers Arbeiten beziehen sich bis heute alle Darstellungen, auch wenn sie zu anderen Ergebnissen kommen. Schieffer bezeichnete Heinrichs Tod als „Katastrophe größten Ausmaßes“. Für Schieffer war Heinrich die „Schlüsselgestalt der Reichs- und Kirchengeschichte“. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzog die Forschung eine Wende in der Beurteilung des zweiten salischen Herrschers. Egon Boshof zeichnete 1979 für die zweite Hälfte der Regierungszeit Heinrichs das Bild eines Reichs in der Krise. Gegen den zunehmend „autokratischen Regierungsstil“ Heinrichs III. opponierten die Fürsten, die diesem Modell den herkömmlichen Anspruch auf Teilhabe an der Herrschaft entgegengestellt hätten. Die allmählich einsetzende Diskussion „um das rechte Verhältnis von königlicher und geistlicher Gewalt“ habe sich „in letzter Konsequenz zu einem Angriff auf die Grundlagen des theokratischen Königtums“ ausweiten müssen. Den Ergebnissen Boshofs folgend zog Friedrich Prinz „ein eher ernüchterndes Fazit“ für die Regierungszeit Heinrichs. Prinz stellte in seiner Darstellung stärker Heinrichs Persönlichkeit und seine Entscheidungen in den Blickpunkt. In seiner Personalpolitik habe der König vor allem bei der Besetzung der Herzogtümer keine glückliche Hand besessen. Für die letzten Jahre stellte Prinz fast „bürgerkriegsähnliche Zustände“ fest. Stefan Weinfurter bettete seine strukturgeschichtliche Darstellung in ein Konzept von miteinander im Konflikt stehenden „Ordnungskonfigurationen“ ein. Rituale im Rahmen der vom König vertretenen „Ordnungskonfigurationen“, wie das sogenannte „Bußweinen“, das rituelle, öffentlich vollzogene Weinen des Herrschers, und sein auf Nachahmung Christi begründeter Friedensbefehl haben demnach ihre Integrationskraft verloren und liefen anderen zeitgenössischen Vorstellungen fundamental zuwider. Vertreten und, langfristig gesehen, auch durchgesetzt wurden andere „Ordnungskonfigurationen“, wie das aus adliger Herrschaftsbegründung erwachsene „konsensuale Prinzip“, also die Teilhabe der Fürsten an den Reichsangelegenheiten. Ähnliches gelte auch für das in kirchlichen Kreisen gültige „funktionale Ordnungsdenken“, die Einteilung der Gesellschaft in funktionale Gruppen, welche dem König keinen Platz mehr im ordo ecclesiasticus (Ordnung der Kirche) zugewiesen und somit zu einer Entsakralisierung beigetragen habe. In einer der jüngsten Überblicksdarstellungen zählt Egon Boshof Heinrichs Regierungszeit dennoch „fraglos zu den glanzvollsten Epochen der mittelalterlichen Geschichte“, denn „in seiner Herrschaft vollendete sich jene Ordnung des harmonischen Zusammenwirkens von weltlicher und geistlicher Gewalt“. In jüngerer Zeit rückte Heinrich III. wieder verstärkt in das Interesse der Forschung. Dies erklärt sich vor allem mit der auch öffentlich wahrgenommenen Diskussion um sein Geburtsjahr 1016 oder 1017 und dem damit verbundenen Jubiläum. Im Jahr 2015 wurde mit der Arbeit der Regesten des zweiten salischen Königs begonnen. In Bochum wurde im Oktober 2016 das Jubiläum mit einer Fachtagung begangen. In der Goslarer Kaiserpfalz wurde 2017 anlässlich des 1000. Geburtstags Heinrichs III. eine Vortragsreihe gehalten. Vom 3. September 2017 an bis zum 28. Februar 2018 zeigte die Kaiserpfalz Goslar die Ausstellung „1000 Jahre Heinrich III. Die ‚Kaiserbibel‘ zu Gast in Goslar“. Zu den Exponaten gehört als Leihgabe das um 1050 entstandene Evangeliar „Codex Caesareus Goslariensis“. Quellen Adam von Bremen: Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum. In: Werner Trillmich, Rudolf Buchner (Hrsg.): Quellen des 9. und 11. Jahrhunderts zur Geschichte der Hamburgischen Kirche und des Reiches. (FSGA 11), 7., gegenüber der 6. um einen Nachtrag von Volker Scior erweiterte Auflage, Darmstadt 2000, S. 137–499, ISBN 3-534-00602-X. Annales Altahenses maiores. Hrsg. v. W. v. Giesebrecht, E.L.B. Oefele, Monumenta Germaniae historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum [4], 2. Aufl. 1891. Digitalisat Hermann von Reichenau: Chronicon. In: Rudolf Buchner, Werner Trillmich (Hrsg.): Quellen des 9. und 10. Jahrhunderts zur Geschichte der Hamburgischen Kirche und des Reiches. (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 11), Darmstadt 1961, S. 615–707. Lampert von Hersfeld: Annalen. Lateinisch und deutsch. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe; 13). Die Urkunden Heinrichs III. (Heinrici III. Diplomata). Herausgegeben von Harry Bresslau und Paul Kehr. 1931; 2. unveränderte Auflage Berlin 1957. Digitalisat (DD H. III) Literatur Überblickswerke Egon Boshof: Die Salier. 5., aktualisierte Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2008, ISBN 3-17-020183-2, S. 91–164. Hagen Keller: Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont. Deutschland im Imperium der Salier und Staufer 1024 bis 1250 (= Propyläen-Geschichte Deutschlands. Bd. 2). Propyläen-Verlag, Berlin 1986, ISBN 3-549-05812-8. Stefan Weinfurter: Das Jahrhundert der Salier 1024–1125: Kaiser oder Papst? Thorbecke, Ostfildern 2004, ISBN 3-7995-0140-1. Darstellungen Matthias Becher: Heinrich III. (1039–1056). In: Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hrsg.): Die deutschen Herrscher des Mittelalters. Historische Porträts von Heinrich I. bis Maximilian I. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50958-4, S. 136–153. Jan Habermann (Hrsg.): Kaiser Heinrich III. Regierung, Reich und Rezeption (= Beiträge zur Geschichte der Stadt Goslar/Goslarer Fundus. Bd. 59). Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2018, ISBN 978-3-7395-1159-7. Gerhard Lubich, Dirk Jäckel (Hrsg.): Heinrich III. Dynastie – Region – Europa (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Bd. 43). Böhlau, Köln u. a. 2018, ISBN 978-3-412-51148-7. Johannes Laudage: Heinrich III. (1017–1056). Ein Lebensbild. In: Das salische Kaiser-Evangeliar, Kommentar Bd. 1. Herausgegeben von Johannes Rathofer. Verlag Bibliotheca Rara, Madrid 1999, S. 87–145. Rudolf Schieffer: Heinrich III. 1039–1056. In: Helmut Beumann (Hrsg.): Kaisergestalten des Mittelalters. Beck, München 1984, ISBN 3-406-30279-3, S. 98–115. Ernst Steindorff: Jahrbücher des Deutschen Reichs unter Heinrich III. 2 Bände. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1963, ND von 1874 und 1881 (bislang einzige Biographie Heinrichs III.). Lexikonartikel Weblinks Veröffentlichungen zu Heinrich III. im Opac der Regesta Imperii Anmerkungen Kaiser (HRR) König (HRR) Herzog (Bayern) Herzog (Kärnten) Markgraf (Verona) Familienmitglied der Salier Person (Goslar) Walhalla Herrscher (11. Jahrhundert) Geboren im 11. Jahrhundert Gestorben 1056 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Seetaucher
Seetaucher
Die Seetaucher (Gaviiformes, Gaviidae, Gavia) sind eine Ordnung, Familie und Gattung der Vögel. Es handelt sich um tag- und nachtaktive, an Gewässer gebundene Vögel, die in fünf Arten die Taiga und Tundra der Holarktis bewohnen. Die gemäßigten Zonen werden für gewöhnlich nur auf dem Zug und in den Winterquartieren erreicht. Historisch wurden die Seetaucher mit den Lappentauchern als Taucher zusammengefasst, sind mit diesen jedoch tatsächlich nicht näher verwandt. Äußere Merkmale Seetaucher sind große Schwimm- und Tauchvögel mit einer Körperlänge von 53 bis 91 Zentimetern und einer Flügelspannweite zwischen 106 und 152 Zentimetern. Ihr Gewicht liegt zwischen 1 und 6,4 Kilogramm; die großen Arten sind damit erheblich schwerer als Gänse. Von den Lappentauchern unterscheiden sie sich vor allem durch vollständige Schwimmhäute, welche die drei nach vorn gerichteten Zehen des anisodactylen Fußes verbinden, sowie durch einen auch äußerlich gut sichtbaren, wenn auch nur kurzen Schwanz. Seetaucher haben einen stromlinienförmigen Körper, der exzellent an das Wasserleben angepasst ist. Die Beine setzen weit hinten am Körper an und tragen kräftige Füße, was den Antrieb im und unter Wasser perfektioniert. Ihr Gefieder ist im Brutkleid bei den meisten Arten auf der Oberseite schachbrettartig schwarz-weiß gefärbt, nur beim Sterntaucher ist es einfarbig graubraun. Auf der Unterseite ist es bei allen Arten fast weiß. Es ist sehr dicht und isoliert gut gegen die Kälte der arktischen und subarktischen Gewässer. Kopf und Hals sind bei allen Arten sehr farbenprächtig. Im Winter wird das auffällige Prachtkleid durch ein schlichteres Ruhekleid ersetzt. Männchen sind etwas größer und schwerer als Weibchen; ein sichtbarer Geschlechtsdimorphismus besteht ansonsten nicht. Junge Seetaucher ähneln ganzjährig adulten Vögeln im Ruhekleid; erst im Alter von etwa drei Jahren zeigen sie das typische Prachtkleid der Altvögel. Stimme Der charakteristische „Gesang“ der Seetaucher ist ein extrem lautes und melodisches Heulen, das weit trägt und zu den lautesten Rufen gehört, die in den arktischen Breiten zu hören sind. Dieser Gesang wird nur zur Brutzeit geäußert und dient der Revierabgrenzung. Beim Sterntaucher rufen beide Partner, bei den anderen Arten nur die Männchen. Ein anderer Ruf ist ein Warnruf, der bei Gefahr ausgestoßen wird. Bei Stern-, Pracht- und Pazifiktaucher ist dieser ein rabenartiges Krächzen, bei Eistaucher und Gelbschnabeltaucher ein „kreischendes Lachen“. Revierruf des Eistauchers Warnruf des Eistauchers Verbreitung und Lebensraum Seetaucher bewohnen im Wesentlichen den Norden der Holarktis, also die Tundra und Taiga in Kanada, Alaska, Grönland, Skandinavien und Russland. Mit dem Sterntaucher und dem Prachttaucher brüten zwei der fünf Arten auch in Nordeuropa; die Südgrenze der Vorkommen beider Arten liegt in Europa im Norden Irlands, im nördlichen Schottland sowie im Süden von Norwegen und Schweden. Der Eistaucher brütet vor allem in Nordamerika, daneben auch in Grönland und auf Island; der Gelbschnabeltaucher bewohnt den Nordosten Sibiriens und den äußersten Norden Amerikas. Seetaucher verbringen ihr ganzes Leben auf dem Wasser oder in dessen unmittelbarer Nähe. Die Brutplätze befinden sich bei den großen Arten an tiefen Seen der Tundren und borealen Zonen, beim Sterntaucher auch an kleinen Seen und Teichen. Wenn die Möglichkeit besteht, werden als Nistplätze kleine Inseln innerhalb der Seen bevorzugt. Sterntaucher und Gelbschnabeltaucher brüten in seltenen Fällen auch an geschützten Meeresbuchten oder in Flussdeltas. Die Winterquartiere liegen je nach Art an den Küsten Europas, Asiens und Nordamerikas; in Europa umfassen sie unter anderem Nord- und Ostsee sowie das nördliche Mittelmeer, in Nordamerika reichen sie südwärts bis Niederkalifornien und Florida, in Asien die chinesische Küste hinunter bis Hainan. Die grönländischen und isländischen Populationen des Eistauchers sind im Winter an europäischen Küsten zu beobachten und nur ausnahmsweise auf großen Seen im Binnenland. Häufiger sind aber Stern- und Prachttaucher, die im Winter in großer Zahl an mitteleuropäische Küsten kommen. Vor allem auf dem Herbstzug rasten beide Arten einzeln oder in kleinen Trupps auch tief im mitteleuropäischen Binnenland, meist auf großen Seen. Vor allem die nordsibirischen Populationen des Prachttauchers weisen dabei ein besonders interessantes Zugverhalten auf. Im Herbst wandern sie zum Schwarzen Meer, im Frühling führt ihr Zugweg sie zunächst zur Ostsee und von dort aus zum Weißen Meer. Ein solches Zugverhalten, bei dem Vögel auf anderem Weg als im Herbst ins Brutgebiet zurückkehren, wird als Schleifenzug bezeichnet und ist bisher nur für wenige Vogelarten belegt. Der Gelbschnabeltaucher ist in Mitteleuropa Irrgast, der Pazifiktaucher wurde bisher nicht nachgewiesen. Lebensweise Fortbewegung Seetaucher sind ausgezeichnete Taucher, die bis zu 75 Meter tief tauchen und bis zu acht Minuten unter Wasser bleiben können. Meist beträgt die Tauchtiefe aber nur zwei bis zehn Meter, und nur selten wird eine Tauchdauer von einer Minute überschritten. Seetaucher beginnen einen Tauchvorgang durch gerades Abtauchen, ohne wie manche andere Wasservögel (z. B. Lappentaucher) einen vorwärts gerichteten Sprung zu vollführen. Unter Wasser nutzen sie die Füße als Antrieb; die Flügel werden nur selten zur Hilfe genommen. Auf dem Land bewegen sich Seetaucher dagegen sehr unbeholfen fort. Sie können nicht für längere Zeit aufrecht stehen, sondern müssen sich hierbei mit der Brust abstützen. Die Beine ermöglichen keine watschelnde Bewegung; stattdessen vollführen sie kurze, froschartige Sprünge, die kraftraubend sind und nur das Zurücklegen geringer Entfernungen ermöglichen. Trotz der relativ kurzen Flügel sind Seetaucher gute Flieger und können große Distanzen zurücklegen. Ihr Flugbild ist durch einen gestreckten Hals gekennzeichnet, bei dem der Kopf etwas tiefer als der Körper gehalten wird; die Füße ragen nach hinten über den Schwanz hinaus. Fast immer heben Seetaucher von der Wasseroberfläche ab und landen auf dieser. Für den Start benötigen sie einen langen Anlauf. Lediglich der relativ kleine Sterntaucher ist in der Lage, von festem Land aufzufliegen. Ernährung Ganz überwiegend fressen Seetaucher kleine oder mittelgroße Fische, die sie auf Tauchgängen erbeuten und meistens noch unter Wasser schlucken. Für gewöhnlich stellt weitere Nahrung nur seltene Beikost dar; dies können Frösche, Krebstiere, Weichtiere, Würmer oder Wasserinsekten sein. Es gibt jedoch Fälle, in denen Seetaucher an fischfreien Seen brüten und dann zeitweise ihre Ernährung ganz auf Weichtiere oder Insekten umstellen. Seetaucher haben eine sehr dehnbare Speiseröhre, die ihnen das Schlucken relativ großer Beute ermöglicht. Eistaucher können bis 45 Zentimeter große und ein Kilogramm schwere Forellen oder sogar Flundern schlucken. Das Schlucken großer Beutetiere kann in sehr seltenen Fällen misslingen; so hat man schon Seetaucher gefunden, die an (zu) großen Fischen erstickt sind. Fortpflanzung Seetaucher leben in Monogamie. Die Paare suchen alljährlich zur Brutzeit die Reviere des Vorjahres auf und bleiben auch während des Zuges und in den Winterquartieren zusammen. Seetaucher brüten nicht in jedem Jahr; etwa in jedem vierten Jahr setzen die Paare mit der Brut aus. Ein komplexes Balzritual gibt es bei Seetauchern nicht. Bei Paaren, die sich neu finden, kommt es zu einer Reihe synchroner Bewegungen auf dem Wasser, bei älteren Paaren sind selbst diese wenigen ritualisierten Verhaltensweisen noch eingeschränkter. Die Begattung findet am Ufer statt. Oft wird mit der Paarung gleich nach der Ankunft in den Brutrevieren begonnen, und dies setzt sich über die nächsten Tage fort. Findet sie immer wieder an derselben Stelle statt, kann hierdurch eine Mulde im Boden entstehen, die dann später oft als Nest genutzt wird. Das Nest wird aus Wasserpflanzen und Moosen errichtet. Immer befindet es sich in unmittelbarer Ufernähe, fast nie weiter als einen Meter vom Wasser entfernt. Im Revierverhalten unterscheidet sich der Sterntaucher von den größeren Arten. Letztere sind territorial und verteidigen das Revier aggressiv gegen alle Eindringlinge. Dagegen liegen die Nester der Sterntaucher oft dicht beieinander, und nur die unmittelbare Umgebung des Nestes wird verteidigt. Meistens reichen Drohgebärden aus, um einen Eindringling zu vertreiben. Selten kommt es zu einem Kampf, der dann aber äußerst heftig geführt wird und mit dem Tod eines Kontrahenten durch Ertränken oder Schnabelhiebe enden kann. Es werden ein bis drei, in den meisten Fällen zwei Eier gelegt. Beide Eltern brüten. Nach dem Schlüpfen verbleiben die Jungen etwa drei Tage im Nest, ehe sie ins Wasser gehen. Sie sind in diesem jungen Alter bereits schwimm- und tauchfähig; oft ruhen sie auch auf dem Rücken der Eltern. Bis ins Alter von sieben Wochen und manchmal darüber hinaus werden die Jungen von den Altvögeln gefüttert. Einer der Jungvögel erweist sich meistens früh als der stärkere und ergattert die meiste Nahrung für sich. Wenn kein reichliches Nahrungsangebot vorhanden ist, hat dies oft den Tod des schwächeren Jungen zur Folge. Die Kenntnisse zur Lebenserwartung der einzelnen Arten sind bisher unbefriedigend. Stern- und Prachttaucher werden älter als zehn und manchmal sogar älter als zwanzig Jahre. Bei einem Prachttaucher wurde ein Alter von 28 Jahren nachgewiesen. Hingegen ist beim Eistaucher bisher kein Exemplar bekannt geworden, das ein Lebensalter von mehr als acht Jahren erreicht hätte. Dies ist aber sicher nicht das tatsächliche maximale Alter. Fressfeinde Ausgewachsene Seetaucher haben wenige Fressfeinde; lediglich große Greifvögel wie Seeadler können gelegentlich einen Seetaucher erbeuten. Seetaucher sind durchaus wehrhaft durch ihre dolchartigen Schnäbel: Im Jahr 2020 wurde ein Fall bekannt, bei dem ein Seetaucher einen Seeadler – der eines seiner Küken gerissen hatte – mit einem Stich ins Herz tötete. Jungvögel fallen manchmal auch Raben und Krähen, Möwen, Raubmöwen, Ottern oder großen Fischen zum Opfer. Menschen und Seetaucher Besonders die Völker nördlicher Länder pflegen seit langem eine Beziehung zu diesen Vögeln. Die Inuit jagen Seetaucher und verarbeiten Häute und Federn zu Kleidungsstücken. Diese mäßige Jagd hat nie die Bestände gefährdet. In Schottland galt es als schlechtes Omen, den Revierruf eines Seetauchers zu hören. Während es in der deutschen Sprache keinen althergebrachten Namen für diese Vogelfamilie gibt, sind sie im Englischen als loons bekannt. Diese Bezeichnung wird vor allem in Nordamerika verwendet; in Schottland wird sie auf den Eistaucher angewandt. Die Familie ist in Großbritannien schlicht als divers bekannt. Die Bezeichnung loon stammt wahrscheinlich vom altnordischen lomr, was mit dem deutschen Wort „lahm“ verwandt ist und sich auf die unbeholfene Fortbewegung an Land bezogen haben könnte. Keine Art der Seetaucher ist in ihrem Bestand bedroht. Dennoch sind bei allen Arten Bestandsrückgänge durch menschliche Einflüsse im arktischen Ökosystem zu verzeichnen. Die Zerstörung von Ufern, die Verschmutzung von Gewässern und das Auslegen von Treib- und Stellnetzen, in denen sich die Tiere verfangen und ertrinken, sind dafür verantwortlich. In Nordamerika wurde festgestellt, dass ganze Populationen von Eistauchern zu einem toxischen Grad mit Quecksilber belastet sind, das sie über Fische aufgenommen haben. Fossilgeschichte Die Seetaucher sind eine sehr alte Vogelgruppe. Während die ältesten sicher diesem Taxon zuzuordnenden Fossilien aus dem Miozän stammen, gibt es weit ältere Funde, deren tatsächliche Zugehörigkeit zu den Seetauchern jedoch umstritten ist. Von diesen sind die ältesten Neogaeornis wetzeli, von dem allerdings nur Fragmente eines Mittelfußknochens (Tarsometatarsus) überliefert sind, und Polarornis sp., bekannt durch Schädelfragmente und vielleicht synonym mit Neogaeornis; beide Fossilien entstammen der oberen Kreide. Aufgrund starker Ähnlichkeiten mit dem Knochenbau moderner Seetaucher wurden sie diesen oft zugeordnet; andere Wissenschaftler halten diese Verwandtschaft für sehr unwahrscheinlich und sehen in Neogaeornis einen mesozoischen Wasservogel, der in konvergenter Evolution ähnliche Merkmale wie die Seetaucher entwickelt hat. Aus dem Eozän und Oligozän sind die Gattungen Gaviella und Colymboides aus Europa und Nordamerika überliefert, die sehr frühe Vertreter der Gaviiformes repräsentieren könnten. Colymboides ist aber wahrscheinlich ein paraphyletisches Sammelbecken von Formen, die durch die Abwesenheit von für die rezente Gattung Gavia typischen Merkmalen definiert ist. Die Gattung Gavia ist seit dem frühen Miozän bekannt. Neben den fünf rezenten Arten wurden zehn fossile Arten beschrieben. Aus dem unteren Miozän stammt auch Petralca, dessen einziges bekanntes Fossil bis 2017 als Vertreter der Alkenvögel (Alcidae) interpretiert wurde. Systematik Äußere Systematik Seetaucher sind mit keiner anderen Vogelfamilie nahe verwandt. Deshalb werden sie auch als einzige Familie einer Ordnung Gaviiformes geführt. Traditionell wurden die Seetaucher in die Nähe der Lappentaucher (Podicipedidae) gestellt, mit denen sie in äußerer Erscheinung und Lebensweise einige Gemeinsamkeiten haben. Schon Carl von Linné ordnete 1758 in der Systema Naturae beide Gruppen einer Gattung Colymbus zu, die er bei den Anseres einordnete, einer Ordnung, die in seinem System nahezu alle Wasservögel umfasste. Dies übernahmen weitere Zoologen, beispielsweise Johann Karl Wilhelm Illiger, der Colymbus zusammen mit den Alkenvögeln und den Pinguinen 1811 in die Familie Pygopodidae stellte. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurden Lappen- und Seetaucher erstmals auf zwei Familien verteilt, aber immer noch für verwandt gehalten. Leon Gardner war 1925 der erste Zoologe, der die Verwandtschaft von See- und Lappentauchern anzweifelte. Nach späteren Analysen beruhen alle Ähnlichkeiten zwischen See- und Lappentauchern auf konvergenter Evolution; eine engere Verwandtschaft der beiden Taucher-Familien miteinander wird nicht mehr angenommen. Durch neuere DNA-Analysen wurden Seetaucher in ein entferntes Verwandtschaftsverhältnis mit Röhrennasen, Pinguinen oder Fregattvögeln gestellt. Keine dieser Hypothesen ist gesichert, und die Schwestergruppe der Seetaucher bleibt unbekannt. Innere Systematik Alle heute lebenden Seetaucher werden einer einzigen Gattung Gavia zugeordnet, die die einzige Gattung der Familie Gaviidae und der Ordnung Gaviiformes ist. Hierher gehören nach traditioneller Sichtweise vier, nach neuen Erkenntnissen fünf Arten: Eistaucher, G. immer Gelbschnabeltaucher, G. adamsii Prachttaucher, G. arctica Sterntaucher, G. stellata Pazifiktaucher, G. pacifica Der Pazifiktaucher wurde ursprünglich als Unterart des Prachttauchers beschrieben, wird jetzt aber meist als eigenständige Art geführt. Ein mögliches Kladogramm der Seetaucher sieht aus wie folgt: Literatur Josep del Hoyo u. a.: Handbook of the Birds of the World. Band 1: Ostrich to Ducks. Lynx Edicions, Barcelona 1992, ISBN 84-87334-10-5. Einzelnachweise Weblinks
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https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte%20der%20Stadt%20Z%C3%BCrich
Geschichte der Stadt Zürich
Die Stadt Zürich bestand als Turicum schon zu römischer Zeit, stieg aber erst im Mittelalter in die Reihe der grösseren Schweizer Städte auf. Die Herrscher des Heiligen Römischen Reiches erwählten die Stadt an der Limmat als Standort für zwei bedeutende geistliche Stiftungen um die Kultstätten der Stadtpatrone Felix und Regula, die Zürich prägten: Das Grossmünster- und das Fraumünsterstift. 1262 sicherte das Privileg der Reichsunmittelbarkeit die nicht fühlbare Herrschaft eines fernen deutschen Königs. Zürichs Beitritt in verschiedenste Bünde – unter anderem in die entstehende Eidgenossenschaft 1351 und den Konstanzer Bund 1385 – schützte die Stadt längerfristig vor den Expansionsgelüsten lokaler Adelsgeschlechter, allen voran der Habsburger. Zusammen mit Bern bestimmte Zürich zeitweise als Vorort die Politik des aufstrebenden Staatenbundes der Eidgenossenschaft. Seit der Reformation Ulrich Zwinglis gehört Zürich zu den geistigen Zentren des reformierten Bekenntnisses. Dem Status des «Rom an der Limmat» kam es zu, dass sich Zürich seit 1648 im gleichen Rang wie Venedig als souveräne Stadtrepublik betrachtete. Im 18. Jahrhundert galt Zürich hingegen eher als «Athen an der Limmat», dank vieler Gelehrter wie etwa Johann Heinrich Pestalozzi, Johann Kaspar Lavater und Johann Jakob Bodmer sowie seiner wichtigen Position als Handelsstadt. Erst nach massivem äusseren Druck erlangte die beherrschte Landschaft mit der Gründung des Kantons Zürich schrittweise Gleichberechtigung. Seit dem 19. Jahrhundert ist Zürich das Wirtschafts- und Finanzzentrum der Schweiz. Name, Wappen, Siegel Hauptartikel: Wappen des Kantons und der Stadt Zürich Das älteste Indiz für den Namen Zürich in seiner lateinischen Form stammt aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. und ist auf einem Grabstein zu lesen, der 1747 auf dem Lindenhof in Zürich gefunden wurde. Auf diesem Stein wird mit der Bezeichnung STA{TIONIS} TURICEN{SIS} auf eine römische Zollstation Turicum hingewiesen. Die Herkunft des Namens ist nicht endgültig geklärt, er ist aber auf alle Fälle vorlateinisch. Am wahrscheinlichsten ist eine Ableitung *Turīcon zum keltischen Personennamen Tūros. Die bekannten frühmittelalterlichen lateinischen Namensformen für Zürich sind Turigum (807), T(h)uregum und Thuricum (898). Der erste Beleg für eine deutsche Namensform, nämlich Ziurichi, erscheint im 7. Jahrhundert beim Geographen von Ravenna; später finden sich Schreibungen wie Zurih (857) und Zurich (924). Im zürichdeutschen Dialekt heisst die Stadt Züri . Der vor allem im 17. und 18. Jahrhundert verwendete Name Tigurum war eine zeitgenössische Neuschöpfung und sollte auf die Tiguriner verweisen, einen Teilstamm der Helvetier. Die ersten bekannten Siegel des Stadtrates von Zürich hängen an zwei Urkunden von 1225 und 1230. Sie tragen die Umschrift sigillum consilii thuricensium und führen die beiden Stadtheiligen Felix und Regula aus der Thebäischen Legion. In den Händen tragen sie ihre Köpfe, die von einem Nimbus umgeben sind. Sicher ab 1348 tritt noch Exuperantius, der Diener von Felix und Regula, zum Stadtsiegel hinzu. Die definitive Umschrift dieses Siegels lautet sigillum civium thuricensium. Die Stadtgemeinde Zürich führt seit 1798 in ihrem Siegel den schräg geteilten Schild, überhöht von einer Mauerkrone, mit einem oder zwei Löwen als Schildhalter. Das Stadtwappen, der von Silber und Blau schräg geteilte Schild, ist zum ersten Mal auf einem Siegel des Hofgerichts Zürich von 1389 nachgewiesen. Sicher belegt ist die bis heute gebräuchliche Fahne erst seit 1434. Auf den Münzen und Stadtansichten von Zürich war der Wappenschild der Stadt ursprünglich vom Reichswappen und der Reichskrone bekrönt. Der Wappenschild wird seit dem 15. Jahrhundert von zwei Löwen gehalten. Zuweilen halten die Löwen je ein blau-weisses Banner, wobei eines die drei Stadtheiligen zeigt. Gegen 1700 fallen Reichswappen- und krone weg, während die Löwen als Schildhalter bleiben. Der Löwe wurde als «Zürileu» zum Zürcher Wappentier. Das aktuelle Wappen der Stadt zeigt den schräg geteilten Schild, überhöht von einer Mauerkrone, mit zwei Löwen als Schildhalter. Die Stadt Zürich war sowohl königliche wie herzogliche Münzstätte. Die älteste urkundliche Erwähnung der Münzstätte stammt aus dem Jahr 972, die älteste Münze ist ein karolingischer Denar mit der Aufschrift LUDOVICUS REX, RS. HADTUREGUM. König Heinrich III. verlieh im 11. Jahrhundert auch der Fraumünsterabtei das Münzrecht. Ihr Münzbann umfasste den Zürichgau und das Gebiet um den Walensee bis Sargans, die Innerschweiz bis zum Gotthard, den Aargau bis Huttwil und den Thurgau bis zur Mur. Die Münzen, die in Zürich geprägt wurden, weisen verschiedene Symbole und Beschriftungen auf. Die Fraumünsterabtei prägte nur Pfennige, die zuerst viereckig, dann nach 1400 rund waren. 1524 ging das Münzrecht der Abtei an die Stadt über. Dieser hatte König Sigmund 1425 bereits das Münzrecht bestätigt. Ab dem 16. Jahrhundert erschien das Wappen der Stadt mit dem Reichswappen auf den Münzen, etwa auf dem Zürcher Taler und dem Dukat, teilweise bereits mit den beiden Löwen als Schildhalter. Die Umschrift lautete MONETA TURICENSIS CIVITATIS IMPERIALIS. Später verschwand das Reichswappen und die Umschrift änderte in MONETA REIPUBLICÆ TIGURINÆ. Der Zürcher Schild wurde nun von einem oder zwei Löwen gehalten, der einzelne Löwe hielt entweder ein Schwert oder eine Reichsapfel. Auf der Kopfseite wurden meist entweder Ansichten von Zürich oder Sprüche aufgeprägt, etwa DOMINE CONSERVA NOS IN PACE, IUSTITIA ET CONCORDIA oder PRO DEO ET PATRIA. Die selbständige Münzprägung der Stadt Zürich endete 1798. Altertum Die frühesten Spuren menschlicher Siedlungstätigkeit im Bereich der heutigen Stadt Zürich sind Reste von Feuchtbodensiedlungen der Egolzwiler Kultur (4430–4230 v. Chr.), die sich im Gebiet des westlichen Seebeckens nachweisen lassen. Die Fundplätze, die auch während der späteren Jungsteinzeit, während der Bronzezeit und der frühen Eisenzeit bis 700 v. Chr. besiedelt waren, erstrecken sich vom Uferbereich teilweise bis 500 m in den heutigen See hinaus. Siedlungsstellen konnten archäologisch nachgewiesen werden am linken Seeufer beim Alpenquai, Bauschänzli, der Breitingerstrasse und in Wollishofen (Haumesser, Bad) sowie am rechten Seeufer beim Kleinen und Grossen Hafner, am Utoquai und an der Seehofstrasse. Zwischen Rentenanstalt und Mythenschloss am linken Seeende wurden 1994 gut erhaltene neolithische Kulturschichten von drei ehemaligen Seeufersiedlungen archäologisch untersucht. Sie konnten der Pfyner Kultur (3800–3600 v. Chr.), der Horgener Kultur (3150 v. Chr.) und der Schnurkeramischen Epoche (2680–2548 v. Chr.) zugeordnet werden. Von 250 Holzproben für die dendrochronologische Datierung sind deren 128 so genau, dass sie Schlagdaten der Eichenpfähle zwischen 2972 und 2681 v. Chr. sichern. Viele angekohlte, liegende Hölzer und fundreiche Holzkohleschichten belegten eine Brandkatastrophe auf dem ganzen Siedlungsareal, das sich über 240 m erstreckte. Die «Pfahlbaudörfer» bestanden aus zweischiffigen, 5 × 3 m messenden Hütten, wie sie noch 100 Jahre später am gegenüber liegenden Ufer an der Mozartstrasse nach dem gleichen Bauschema gebaut wurden. Der grösste Teil dieser Ufersiedlungen versank in der Spätbronzezeit im See, als der Pegel von ca. 404 auf ca. 407 m ü. M. anstieg, wahrscheinlich weil der Schuttkegel der Sihl im Bereich des Hauptbahnhofs den See aufstaute. In der Eisenzeit verlagerte sich im Raum Zürich die Siedlungstätigkeit auf Terrassen entlang der Flüsse und des Sees. Aus der Hallstattzeit (8. bis 5. Jh.) sind Funde und Grabhügel in Riesbach (Burghölzli), und Witikon (Egglen), Höngg (Heiziholz), Altstetten (Hard), Affoltern-Seebach (Jungholz) dokumentiert. Aus der Latènezeit (5. bis 1. Jh.) sind Funde und Gräber in Aussersihl (Bäckerstrasse), Enge (Gablerschulhaus), Altstetten (Hard) und Witikon nachgewiesen. Aus dem 1. Jh. stammen Einzel- und Münzfunde aus dem Bereich der Altstadt. Im Kanton Zürich ist bis heute nur eine Zentralsiedlung aus der Eisenzeit sicher belegt, die sich auf dem Plateau des Uto-Kulm auf dem Üetliberg befand und mit Wallanlagen geschützt war. Die keltischen Helvetier siedelten in und um Zürich, wie Funde beim Rennweg zeigen. Auf dem Lindenhof und auf dem Uetliberg bestanden wahrscheinlich keltische Oppida. Die strategisch und handelstechnisch günstige Lage sowie Münzfunde lassen auf die Existenz eines Handelsplatzes schliessen. Die keltische Siedlung von ca. sieben Hektaren lag um den Lindenhofhügel. Aus der Zeit der römischen Eroberung des östlichen Helvetiens 15 v. Chr. stammt ein frühaugusteischer Militärstützpunkt auf dem Lindenhof, an den sich später eine Zivilsiedlung mit Militärstation anschloss. Der offene Marktflecken (vicus) Turicum gehörte nach der Sicherung der römischen Herrschaft zunächst zur Provinz Gallia Belgica dann nach ihrer Gründung um 85 v. Chr. zur Provinz Germania superior. Turicum war als vicus nicht befestigt, hatte aber eine Zollstation des gallischen Zolls (Quadragesima Galliarum). Waren und Reisende wurden dort vor dem Übertritt in die Provinz Raetia abgefertigt, wenn sie auf der Römerstrasse zwischen Vindonissa und Curia bzw. auf der schiffbaren Route zwischen Walensee und Rhein verkehrten, und ein Zoll von 2,5 Prozent erhoben. Die Bedeutung von Turicum liegt jedoch fast ausschliesslich in seiner Lage am Ausfluss des Zürichsees begründet, da hier die Güter von See- auf Flussschiffe umgeladen werden mussten. Auch lag Turicum an keiner wichtigen römischen Hauptstrasse. Der antike Name Turicum und die Tatsache, dass dort eine Zollstation vorhanden war, ist nur dank der Grabinschrift für Urbicus, Sohn des lokalen Zollvorstehers, überliefert, die 1747 auf dem Lindenhof gefunden wurde. Bedeutend war wahrscheinlich auch der Hafen, da damals Waren auf Kähnen wahrscheinlich bis nach Walenstadt geführt werden konnten. Der römische Ort lag am Fuss des Lindenhofs, eines zentralen Hügels, auf einer Insel zwischen den Flüssen Sihl, und Limmat bzw. dem Zürichsee. Bis heute konnten nur wenige archäologische Spuren des römischen Zürich ergraben werden. Darunter befinden sich Überreste einer Thermenanlage (Thermengasse), Gräbern und Spuren von Handwerksbetrieben, Wohnhäusern sowie von Gebrauchsgegenständen und Schmuck aber auch von Kultanlagen, so einem Rundbau an der Storchengasse, ein Viergötterstein auf dem Lindenhof sowie eine Kultanlage auf der Wasserkircheninsel. Wahrscheinlich befanden sich auf dem St.-Peter-Hügel und dem Sihlbühl Tempelanlagen, ein Heiligtum stand weiter auch auf dem Grossen Hafner, einer ehemaligen Insel im See. In der Nähe des heutigen Rathauses befand sich eine Brücke. Aus spätrömischer Zeit stammen die Überreste eines mit acht bis zehn Türmen bewehrten Kastells auf dem Lindenhof. Teile der Lindenhof-Stützmauer stammen ebenfalls aus römischer Zeit. Um den römischen Vicus, der von ca. 250 bis 350 Menschen bewohnt war, gruppierten sich eine Reihe von Gutshöfen, die im 1. Jahrhundert angelegt wurden. Nachgewiesen sind auf dem Gebiet der heutigen Stadt solche Anlagen in Albisrieden (Hochfeld/Galgenacker), Altstetten (Loogarten), Oerlikon (Irchel), Wipkingen (Waidstrasse) und Wollishofen (Gässli/Seestrasse). Ab 260 n. Chr. begannen die Einfälle der Alamannen in das Gebiet der heutigen Schweiz. Nach der Reichsreform von Kaiser Diokletian ab 286 kam Turicum zur Provinz Maxima Sequanorum in der Präfektur Gallia. Auf dem Lindenhof wurde im 4. Jahrhundert unter Diokletian oder Konstantin I. im Rahmen der Befestigung der Rheingrenze ein Kastell errichtet. Auch der Üetliberg wurde wieder als Beobachtungsposten und Zufluchtsort genutzt. Im Jahr 401 wurde das Kastell wie das ganze Gebiet nördlich der Alpen von den römischen Truppen geräumt. Über das weitere Schicksal der gallo-römischen Bevölkerung und der Siedlung Turicum gibt es keine gesicherten Erkenntnisse. Der vicus und das Kastell bestanden wohl in bescheidenem Rahmen als romanische Kontinuitätsinsel weiter und wurde schrittweise durch neue Bevölkerungsschichten alemannisch-fränkischer Herkunft aufgesiedelt. Aufgrund der archäologischen Befunde kann eine Zerstörung der Siedlungsstrukturen in Zürich ausgeschlossen werden. Die römische Siedlung hat sich wohl bis ins Frühmittelalter kaum verändert. Römische Strassen, Gebäude und Infrastruktur wurden weiterbenutzt. Belege für die Kontinuität der ansässigen romanischen Bevölkerung und für eine Zuwanderung im Frühmittelalter liefern vor allem die in Zürich gefundenen Gräberfelder aus dieser Zeit, u. a. in Aussersihl (Bäckerstrasse), bei St. Peter (Chormauern, St.-Peter-Hügel) sowie im sog. Hofgräberfeld an der Spiegelgasse/Obere Zäune. Diese Gräberfelder wurden offenbar im 11./12. Jh. zugunsten der Friedhöfe von St. Peter, des Grossmünster und des Fraumünsters aufgegeben. Frühmittelalter Während der Einwanderung der Alamannen in den heutigen Kanton Zürich blieb das Kastell auf dem Lindenhof bestehen. Die älteste schriftliche Quelle, die auf ein Castrum Turico verweist, ist eine Vita der Heiligen Felix und Regula aus dem späten 8. Jahrhundert n. Chr. Neben dem Kastell könnte aber auch die eigentliche Siedlung Zürich mit diesem Verweis gemeint gewesen sein. Auch in der Vita S.Galli führt die Missionsreise des Columbans durch Alamannien im Jahr 610 durch das castellum Turegum. Der Geograph von Ravenna führt schliesslich in der erhaltenen lateinischen Übersetzung aus dem 9. Jahrhundert ein Ziurichi im Ortsverzeichnis für das Gebiet der Alamannen. Die älteste urkundliche Erwähnung Zürichs findet sich in einer Urkunde des Klosters St. Gallen vom 27. April 806/07/09/10, die in vico publico Turigo ausgestellt wurde. Das heisst also nicht im Kastell, sondern wahrscheinlich in der dörflichen Siedlung Zürich, die noch nicht ummauert war. Das Kastell blieb im Frühmittelalter und teilweise im Hochmittelalter einer der wesentlichen Kristallisationspunkte der Besiedlung Zürichs, da sich hier in der Pfalz der Sitz der weltlichen Herrschaft befand. Nach der definitiven Eingliederung Alamanniens in das Reich der Franken 730 wurde das Gebiet um Zürich bei der fränkischen Reichsteilung dem östlichen Teilreich Ludwig des Deutschen zugeordnet. Für 741/46 lässt sich ein erster Graf im karolingischen Zurihgauuia nachweisen. Das Kastell Zürich bildete den Mittelpunkt eines umfangreichen Reichsgutskomplexes, der vom Aargau über Uri bis in die Ostschweiz reichte. In dieser Zeit erstarkte vermutlich das zwischenzeitlich zurückgedrängte aber nie völlig aus den alten Siedlungszentren verdrängte Christentum erneut. Leider gibt es aus dieser Übergangszeit neben archäologischen Funden nur spärliche Quellen und einige Legenden. Eine besagt, der alamannische Herzog Uotila habe auf dem Üetliberg residiert und diesem so den Namen gegeben. Eine andere erzählt davon, dass Karl der Grosse in Zürich eine Pfalz gehabt und sogar dort residiert habe. Nicht nur durch eine Sage, sondern auch urkundlich ist belegt, dass der ostfränkische König Ludwig der Deutsche am 21. Juli 853 mit einer in Regensburg ausgefertigten und besiegelten Urkunde ein bestehendes Frauenkloster in vico Turegum mit grossem Landbesitz, Immunität und einer eigenen Gerichtsbarkeit ausstattete und seiner ältesten Tochter Hildegard überschrieb. Damit begründete er das königliche Eigenkloster Fraumünster. Die entsprechende Stiftungsurkunde ist die älteste Urkunde im Besitz des Staatsarchivs Zürich. Zur gleichen Zeit wurde wahrscheinlich auch eine karolingische Pfalz auf der Basis der römischen Befestigungsanlagen auf dem Lindenhof errichtet. Die übrigen kirchlichen und klösterlichen Zentren der frühmittelalterlichen Siedlung Zürich, das Grossmünster, Fraumünster und St. Peter waren zu dieser Zeit wohl nur von einfachen Einfriedungen mit Wall und Graben umgeben. Jedenfalls scheint die Begründung der städtischen Siedlung Zürich im Frühmittelalter auf die Franken und nicht auf die Alamannen zurückzugehen. Das wohl älteste sakrale Zentrum der Zürcher Altstadt ist die archäologisch seit dem ausgehenden 8. oder frühen 9. Jahrhundert fassbare und seit 857 urkundlich belegte Kapelle und später Kirche St. Peter. Sie krönt den südlichen Ausläufer des Lindenhofhügels und hat damit den prominentesten Platz der Zürcher Kirchen. Ihr Sprengel umfasste die Stadt am linken Ufer mit Ausnahme der näheren Umgebung des Fraumünsters und das Umland von Kilchberg bis Schlieren. Die Chronisten Heinrich Brennwald und Gerold Edlibach bezeichneten die ausserhalb der Stadtmauern (St. Annagasse) gelegene, 1218 erstmals erwähnte, St. Stephanskirche bzw. -kapelle als die älteste Pfarrkirche Zürichs. Sie war zweifellos frühen Ursprungs, ob sie jedoch die wirklich die erste Kirche Zürichs war, lässt sich nicht belegen. Die letzten Reste der 1528 abgebrochenen Gebäude verschwanden 1909. Etwa zur selben Zeit entstand wohl ein erster Konvent bei den Gräbern der Heiligen Felix und Regula an der Stelle des heutigen Grossmünsters. Die beiden Heiligen seien der Legende zufolge auf der Wasserkirchen-Insel hingerichtet worden und dann kopflos den Hang hinaufgewandelt bis an die Stelle des Grossmünsters, wo sie begraben worden sein sollen. Ob der Legende ein wahrer Kern zugrunde liegt ist umstritten. Etwa um 1480 kam noch die Episode zur Legende hinzu, die Heiligen seien am Standort von St. Stephan gerädert worden. Die Propstei St. Felix und Regula, seit 1322 bekannt unter der Bezeichnung «Grossmünster», ist zwar urkundlich erst seit 924/31 belegt, geht aber wohl ins 8. Jahrhundert zurück. Die Legende von Felix und Regula aus dieser Zeit berichtet bereits von einer seit alters bestehenden Wallfahrt, was die Existenz eines Konvents bei den Gräbern nahelegt. Um 870 wandelte der ostfränkische König Karl III. den Konvent in ein Chorherrenstift um, wahrscheinlich zur selben Zeit, als die wichtigsten Reliquien von Felix und Regula in die 874 geweihte Kirche der Abtei Fraumünster übertragen wurden. Die Gründungslegende des Grossmünsterstifts um Karl den Grossen bezieht sich also wahrscheinlich auf seinen Urenkel Karl III., dessen Präsenz in Zürich jedoch urkundlich nicht nachgewiesen werden kann. Zwischen Grossmünster und Fraumünster entstand damit eine «Prozessionsachse» zwischen der Grablege der Heiligen im Grossmünster, der Hinrichtungsstätte auf der Wasserkirchen-Insel zu den Reliquien in der Fraumünsterkirche. Als königliche Stiftungen besassen das Grossmünster wie das Fraumünster ausgedehnte Ländereien. Neben Albisrieden, Schwamendingen, Fluntern, Höngg, Meilen besass das Grossmünsterstift Streubesitz bis an den Rhein, die Reuss und den oberen Zürichsee. Neben der Kathedrale war das Grossmünster im Mittelalter das bedeutendste Stift im Bistum Konstanz. Sein Sprengel umfasste ursprünglich das Gebiet rechts der Limmat bis zur Glatt. Die Abtei Fraumünster besass neben dem Grundbesitz in und um die Stadt Zürich beträchtlichen Landbesitz im Urnerland, den Hof Cham, den Albiswald, d. h. den heutigen Sihlwald inklusive des Gebiets zwischen Horgen und Albisrieden am östlichen Hang des Albis, Langnau und das Reppischtal. Sein Sprengel beschränkte sich jedoch auf seine nähere Umgebung in der Stadt. Die Güter der Abtei Fraumünster und des Chorherrenstiftes Grossmünster um Zürich wurden durch Ministeriale aus der Umgebung verwaltet: Die Herren von Hottingen, Mülner, Manesse, Biber, Brun, Kloten, Trostberg, Schönenwerd u. a. Die Vogteigewalt über das Reichsgut und die Güter der beiden Stifte übte ein Reichsvogt aus, der nicht den Grafen des Zürichgaus, sondern direkt dem deutschen König unterstand. Die Entwicklung zur Reichsstadt Die frühmittelalterliche Stadt stellen sich die Archäologen heute als einen Ort mit mehreren Zentren vor. Das Fraumünster, das Grossmünster, die Peterskirche und die Pfalz waren mit Einfriedungen und Wallanlagen umgeben. Dazwischen entwickelte sich im 9./10. Jahrhundert eine städtische Siedlung, die ab dem 10. Jahrhundert als civitas bezeichnet wurde. Die Bedeutung der befestigten Pfalz zeigt unter anderem auch, dass um 940 herum das Kloster Disentis seine Reliquien und Bücher vor den Ungarn in Zürich in Sicherheit brachte. Impulse für die Stadtentwicklung gab eine Vergrösserung der Pfalz im 11./12. Jahrhundert unter den Ottonen und den Saliern. Zürich war seit der Eroberung durch den Herzog von Schwaben nach der Schlacht bei Winterthur 919 mit seiner Pfalz einer der Hauptorte des Herzogtums in Schwaben. Dass die Herrschaft über Zürich von verschiedensten weltlichen und geistlichen Gewalten beansprucht wurde, veranschaulicht die Münzprägung. Die ältesten aufgefundenen Münzen, die in Zürich geprägt wurden, tragen den Namen des ostfränkischen Königs Ludwig IV., daneben zeigte König Rudolf II. von Burgund seine Herrschaftsansprüche auf Zürich durch entsprechende Münzen an, abgelöst von den schwäbischen Herzögen Hermann I. bis Ernst II. sowie den deutschen Königen aus der Dynastie der Ottonen. König Heinrich III. übertrug schliesslich das Münzrecht anlässlich der Neuverleihung der schwäbischen Herzogswürde um 1045 an das Fraumünster. Neben dem Münzrecht zeichneten auch der seit alters vorhandene Zoll und das Marktrecht Zürich bereits im Frühmittelalter als überregionales Handelszentrum aus. Unter den deutschen Königen und Zähringer Herzögen entwickelte sich Zürich im 11. und 12. Jahrhundert zum bedeutendsten Marktort für die Zentral- und Ostschweiz mit Handelsverbindungen nach Norditalien und über den Rhein bis nach Holland und Flandern. Die Herzöge von Schwaben, die sich im 10. und 11. Jahrhundert oft an der Limmat aufhielten, standen in direkter Konkurrenz zu den deutschen Königen. Während für die karolingische Zeit keine königliche Anwesenheit in Zürich belegt ist, zeichneten ab 952 bzw. 1027 die ottonischen und salischen Könige und Kaiser die Stadt durch ihre häufige Anwesenheit aus. Zuerst Otto I. und Heinrich II. nur in schwäbischen, dann ab 1018 von letzterem erstmals in Angelegenheiten des Reiches. Mehrfach fanden Feste und Reichstage in der Pfalz auf dem Lindenhof statt, so der Reichstag an Pfingsten 1052, den Kaiser Heinrich III. mit Adligen aus der Lombardei abhielt, oder die Verlobung seines Sohnes Heinrich IV. an Weihnachten 1055. Wahrscheinlich liess Heinrich III. in Zürich nach dem Vorbild der Pfalz in Goslar einen Neubau mit Palas und Saal errichten. Die Pfalz Zürich trat damit von der Rolle eines schwäbischen Vorortes in die Rolle eines Vorortes des Reiches, besonders für Reichstage in Angelegenheiten der Teilreiche Burgund und Italien nördlich der Alpen zu beraten waren. Bischof Otto von Freising nannte Zürich in den Gesta Friderici imperatoris im Rückblick auf diese Zeit nobilissimum Sueviae oppidum, also die vornehmste Stadt Schwabens. An ihrem Stadttor prange die Inschrift Nobile Turegum multarum copia rerum – Zürich, edel durch Fülle an vielen Dingen. Ende des 12. Jahrhunderts wurde die wichtige Stellung Zürichs mit dem Bau einer ersten Stadtbefestigung unterstrichen. Die Herrschaft über die Stadt Zürich und die geistlichen Stifte übte im Mittelalter eigentlich der deutsche König bzw. der Herzog von Schwaben aus. Die königlichen Herrschaftsrechte wurden an einen Reichsvogt delegiert. Dieses lukrative Amt war zwischen den vornehmsten Adelsgeschlechtern im damaligen Herzogtum Schwaben umstritten, namentlich den Zähringern und den Lenzburgern. Die Grafen von Lenzburg hielten seit der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts die Vogteien über das Gross- und das Fraumünster in erblichem Besitz. Erst als die Lenzburger 1172 ausstarben, fiel die Vogtei über Gross- und Fraumünster endgültig an die Zähringer. Mit ihrem Anspruch auf das Herzogtum Schwaben ab 1079 beanspruchten sie damit die gesamte politische Herrschaft über Zürich. Als die Zähringer zugunsten der Staufer auf das Herzogtum Schwaben verzichteten, erhielten sie vom Kaiser zur Entschädigung Zürich als direktes Reichslehen, so dass Zürich definitiv ganz unter zähringische Hoheit kam. Damit verlor die Pfalz Zürich auch ihre wichtige Funktion an der Schnittstelle der tria regna, Deutschland, Burgund und Italien. Die staufischen Herrscher behandelten die italienischen Angelegenheiten fortan in Konstanz. Herzog Berchtold IV. von Zähringen, ab 1173 Reichsvogt von Zürich, gilt als Stifter des Pfründer („Hausbrüder“) und „arme lüte, die so krank und siech an ihr libe sint, daß sy das Almusen nit gesichen mögen“, aufnehmenden Heilig-Geist-Spitals am Zähringerplatz (bis 1842), aus dem 1804 das Kantonsspital hervorging. Berchtold V. führte dann bereits den Titel eines Kastvogts und sah sich laut einer seiner Urkunden von 1210 als Inhaber sämtlicher Hoheitsrechte des Reichs in Zürich. Als Kastvogt war wohl einerseits die noch von den Lenzburgern ausgebaute Pfalz auf dem Lindenhof sein Amtssitz, andererseits aber auch das Amtshaus «zum Loch» beim Grossmünster. Im Gegensatz zu anderen Städten unter zähringischer Herrschaft, kam es in Zürich jedoch nicht zu einer planmässigen Stadterweiterung. Nach dem Aussterben der Zähringer 1218 teilte König Friedrich II. die Reichsvogtei auf. Die Gebiete rechts der Limmat gingen an die Grafen von Kyburg, diejenigen links der Limmat an die Freiherren von Eschenbach-Schnabelburg. Das Gebiet der Stadt mit den angrenzenden Siedlungen Hottingen, Fluntern, Ober- und Unterstrass, Wiedikon, Aussersihl, Stadelhofen, Trichtenhausen, Zollikon, Küsnacht und Goldbach fielen an die Fraumünster-Abtei. Gross- und Fraumünster wurden reichsunmittelbar. 1219 stellte Friedrich II. dem Fraumünster, dessen Untertanen und den Bürgern von Zürich eine Urkunde aus, die fast zwingend auch die Reichsunmittelbarkeit der Stadt impliziert, da er den Ausdruck, «de gremio oppidi nostri» verwendete – also von der «Schar unserer Stadt» sprach. Mit der Urkunde erhielt der Rat der Stadt Zürich erstmals formale, rechtliche und politische Kompetenzen für eine kommunale Selbstverwaltung. Zürich wurde eine Reichsstadt. Das Amt eines Reichsvogtes von Zürich war nun zeitlich zuerst auf vier, dann auf zwei Jahre beschränkt. Seine Aufgabe war die Friedenswahrung und die Ausübung der Hohen Gerichtsbarkeit sowie der Schutz der königlichen Güter. In der Regel wurden die Reichsvögte aus dem Kreis der mächtigen Zürcher Geschlechter der Biber, Bockli, Brun, Glarus, Manesse, Mülner oder Wisso ernannt. Eigentliche «Stadtherrin» von Zürich war nach 1218 die jeweilige Äbtissin des Fraumünsters. Friedrich II. verband den Titel einer Fraumünsteräbtissin 1245 mit dem Reichsfürstenstand. Ihre formellen Kompetenzen umfassten das an die Stadt bzw. Ministerialgeschlechter verliehene Zoll-, Markt- und Münzrecht, sie setzte den Schultheissen als Vorsteher des Niedergerichts ein und hatte ein Mitspracherecht bei der Wahl des Reichsvogtes. Bis 1433 bestätigte sie die Stadtverfassung und vertrat die Stadt zeitweise gegen aussen. Für die entstehende Stadtgemeinde war sie neben dem Reich die wichtigste Legitimationsquelle. In Konkurrenz zum Fraumünster standen die Kaufleute der Stadt, die ein eigenes Kaufmannsrecht mit Selbstverwaltung ihrer beruflichen Interessen besassen sowie das Grossmünster, das versuchte, durch die Erhebung Karls des Grossen zum Gründervater seinen politischen Status zu erhöhen. Beide geistlichen Stifte schafften es jedoch nicht, wie beispielsweise das Kloster St. Gallen, sich im 13. Jahrhundert die Grundlagen für einen spätmittelalterlichen Territorialstaat zu verschaffen, weil sie weder die politisch-rechtliche Vormundschaft ihrer Vögte, ab dem 14. Jahrhundert die Habsburger, noch die Kontrolle durch die Stadt abschütteln konnten. 1220 finden sich erstmals Spuren eines Stadtrates, der seit 1225 ein eigenes Siegel führte. Auf dem Siegel war neben Felix und Regula auch deren Diener Exuperantius abgebildet. Dieser steht wohl für den Rat und die Bürgerschaft Zürichs, die neu neben das Gross- und das Fraumünster traten. Das Siegel verkörperte die eigene Rechtspersönlichkeit der Bürgerschaft und des Stadtrates. Die Umschrift des Siegels lautete «sigillum consilii et civium Thuricensium». Fortlaufend gingen verschiedene Herrschaftsrechte der Fraumünsterabtei zuerst als Pfand, später zu freier Verfügung an den Stadtrat über. Dieser Vorgang wurde durch den Kampf zwischen Kaiser Friedrich II. und dem Papsttum begünstigt. Weil die geistlichen Stifte zu Rom hielten, während die Bürgerschaft der Partei des Kaisers folgte, wurden die geistlichen Personen samt der Äbtissin 1247/49 sogar aus der Stadt vertrieben, was zur Festigung der politischen Stellung der Bürgerschaft führte. Neben dem Rat wird ab der Mitte des 13. Jahrhunderts auch die Bürgerschaft wichtiger, so dass zur Wende ins 14. Jahrhundert sich die Formel rat und die burger von Zürich in wichtigen Rechtsdokumenten bereits durchsetzte. Um 1250 wurde mit dem Richtebrief zum ersten Mal eine Sammlung aller damals in Zürich geltenden Gesetze angelegt, also das Stadtrecht schriftlich niedergelegt. Das Hauptziel der Satzung war, den Frieden und das Wohl der Bürger innerhalb der Stadtmauern zu gewährleisten. Zu diesem Zweck wurde die Ahndung der Verbrechen gegen Leib und Leben, Massnahmen gegen das Fehdewesen sowie die Kompetenzen von Rat, Gericht sowie Polizeimassnahmen geregelt. Explizit verboten waren Schwurverbände innerhalb der Bürgerschaft, was sich gegen Zünfte und Gesellschaften richtete. Durch eine spezielle «Ordnung und Satzung der Pfaffheit» wurde auch der Klerus dem Richtebrief unterworfen, allerdings sollten nur Laien vom Stadtrat abgeurteilt werden und Geistliche vor einem Chorgericht des Grossmünsterstifts. Der Stadtrat bestand noch ausschliesslich aus Ritterbürtigen und Patriziern, d. h. ratsfähigen Bürgerfamilien, ein Bürgermeisteramt bestand noch nicht. 1262 wurde die rechtliche Stellung der Stadt noch einmal gefestigt, als der deutsche König Richard von Cornwall nicht nur wie seine Vorgänger die Privilegien der beiden geistlichen Stifte, sondern gleichzeitig auch die Reichsfreiheit der Bürgerschaft ausdrücklich bestätigte. Damit wurde Zürich definitiv zur Reichsstadt. Die entsprechenden Privilegien liess sich die Stadt später wiederholt vom jeweiligen Reichsoberhaupt bestätigen, zuletzt 1521 durch Kaiser Karl V. Während des Interregnums 1256–1273 suchte Zürich Schutz bei Graf Rudolf IV. von Habsburg und schloss sich dem Rheinischen Städtebund an und beschwor den ersten schwäbischen Landfrieden von 1281. Mit aller Deutlichkeit kam die selbständige Stellung der Stadt 1267 in der Fehde mit den Freiherren von Regensberg zum Ausdruck. In einem langen Kleinkrieg konnte Zürich mit Unterstützung der Habsburger seine Position gegen die Regensberger behaupten. Dabei wurden 1268 unter anderem die regensbergische Stadt Glanzenberg beim Kloster Fahr und vielleicht auch die Üetliburg zerstört. Nachdem Rudolf 1273 deutscher König geworden war, kam es jedoch zu einer schnellen Entfremdung Zürichs von den Habsburgern, da Rudolf habsburgische Ministeriale als Reichsvögte einsetzte und in ungewohnter Weise Reichssteuern einzog. Nach Rudolfs Tod 1291 schloss Zürich deshalb eine befristete Koalition mit Uri und Schwyz gegen Habsburg. Herzog Albrecht I. von Österreich eröffnete deshalb eine Fehde gegen Zürich, aus welcher der Chronist Johannes von Winterthur folgende Episode überliefert: Die Zürcher zogen zu einem Kriegszug gegen Winterthur, der zu einem regelrechten Desaster wurde. Es seien so viele Männer gefallen, dass Zürich praktisch schutzlos zurückgeblieben sei. Herzog Albrecht I. versuchte deshalb Zürich einzunehmen und legte ein Heer vor die Stadtmauern. In dieser verzweifelten Situation hätten sich die Zürcherinnen als Krieger verkleidet und seien geführt von Hedwig ab Burghalden mit langen Spiessen auf den Lindenhof gezogen. Die Belagerer hätten geglaubt, ein starkes Heer sei irgendwie in die Stadt gelangt und hoben die Belagerung auf. Tatsächlich zog Zürich im April 1292 gegen die habsburgische Stadt Winterthur ins Feld, musste dann aber nach sechsmonatiger Belagerung vor Albrecht I. kapitulieren. Danach wurde der Einfluss der Ritter auf den Stadtrat stark zugunsten der habsburgfreundlichen Kaufleute eingeschränkt, die seit 1293 die Mehrheit im Rat stellten. Zürich musste als Folge der Niederlage auch das Bündnis mit Uri und Schwyz aufgeben, erhielt aber von Albrecht den Sihlwald, der bisher den Herren von Eschenbach als Vogtei zugewiesen war. Zürich hielt danach während längerer Zeit die Treue zu Habsburg und unterstützte unter anderem auch Herzog Leopold I. von Österreich im Morgartenkrieg gegen die Eidgenossenschaft. Der rechtliche und wirtschaftliche Aufstieg der Stadt Zürich im 12. Jahrhundert spiegelte sich in einer bedeutenden baulichen Erweiterung. Als sichtbare Zeichen der sich entwickelnden städtischen Autonomie entstanden die ersten Steinhäuser und Adelstürme, vier grosse Klöster der Bettelorden der Dominikaner (Predigerkloster, Oetenbach), Franziskaner (Barfüsserkloster), Augustiner in Konkurrenz zu den etablierten geistlichen Zentren Grossmünster und Fraumünster und ein erstes Rathaus an der Limmat. Ende des 13. Jahrhunderts wurde das ganze Stadtgebiet mit der zweiten Stadtbefestigung (→Stadtbefestigung von Zürich) umgeben, wie sie auf dem Murerplan von 1576 dokumentiert ist. In dieser Zeit war Zürich wahrscheinlich unter Patronage der Fraumünsteräbtissin Elisabeth von Wetzikon ein Zentrum des Minnegesangs, dokumentiert durch die die berühmte Manessische Liedersammlung, die durch eine Sammlung der städtischen Patrizierfamilie Manesse in Zürich begründet wurde. Die Zürcher Adelsinventare der Zeit zählen im Umfeld der Stadt fünf hochadlige Familien (Zähringer, Nellenburger, Lenzburger, Kyburger, Habsburger), rund 25 Adelsgeschlechter freiherrlichen und gut 90 Geschlechter ritterlichen Standes, letztere überwiegend Ministeriale der geistlichen und weltlichen Herren der Region. Um 1300 hatte Zürich zwischen 8'000 und 9'000 Einwohner. Die Bevölkerung bestand aus «Stadtadligen», d. h. in der Stadt ansässigen Ministerialen und Rittern, «Burgern», d. h. reichsunmittelbaren Fernkaufleuten und zu Reichtum gelangten Bürgerfamilien, sowie fast rechtlosen Handwerkern und Leibeigenen. Eine spezielle Gruppe bildeten die rund 200–300 Juden, Cawertschen und Lombarden (südfranzösische und italienische Geldverleiher), die durch Kreditwesen und Geldhandel zum Teil zu Wohlstand gekommen waren, aber keine politischen Rechte hatten. Die wirtschaftliche und demographische Entwicklung Zürichs erreichte im 13. und 14. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt. Zürich war einer der bedeutendsten Marktorte im oberdeutschen Raum mit Handelsverbindungen nach Norditalien und über den Rhein in den niederdeutschen Raum. Die Zürcher Münzen und Masse waren zwischen Oberrhein und Alpen bestimmend und die Stadt hatte eine eigene Textilindustrie ausgebildet. Wollwaren, Leinenstoffe und verarbeitete Seidenprodukte wurden weiträumig exportiert. Ausdruck bzw. Folge dieser wachsenden wirtschaftlichen Potenz war die wachsende jüdische und lombardische Minderheit, die den für den Handel wichtigen Kredit verfügbar machten. Folge dieser Entwicklung waren die zunehmende kulturelle Bedeutung Zürichs, da wohlhabende Familien das Kunstschaffen förderten, und eine zunächst friedliche territoriale Expansion durch systematische Käufe von Land und Rechten entlang der Handelswege. Voraussetzung für diese Blüte war ein gutes Einvernehmen mit den regional bedeutenden Adelsgeschlechtern, vor allem den Habsburgern, und der überregionalen Reichsgewalt. Die Brunsche Zunftverfassung und der Beitritt zur Eidgenossenschaft 1336–1400 Wie in vielen Städten entlud sich auch in Zürich im 14. Jahrhundert die Spannung zwischen den wirtschaftlich aufstrebenden, rechtlosen Handwerkern und den politisch bestimmenden alten Ritter- und Bürgergeschlechtern in einem politischen Umsturz. 1336 erhoben sich die Handwerker unter der Führung des Ritters Rudolf Brun und mit finanzieller Unterstützung des reichsten Zürchers Gottfried Mülner und vertrieben den bisherigen Stadtrat von der Macht. Im Ersten Geschworenen Brief wurde am 16. Juli 1336 durch Brun nach dem Vorbild des Strassburger Schwörbriefs eine neue Verfassung für Zürich vorgelegt, die 1337 von wittelsbachischen Kaiser Ludwig IV. bestätigt wurde (→Brunsche Zunftverfassung): Die Handwerker wurden in 13 neu gegründeten Zünften organisiert, die Ritterschaft und die Geldaristokratie in der sog. Konstaffel. Der 26-köpfige Stadtrat bestand fortan aus je 13 Vertretern der Zünfte sowie der Konstaffel, die halbjährlich neu bestellt wurden. Im Zentrum der neuen Ordnung stand das Amt des auf Lebzeiten gewählten Bürgermeisters, der überdies weitreichende Kompetenzen bei der Bestellung der Stadträte erhielt und dem die Bürgerschaft Gehorsam schwören musste. Das Hauptresultat der sog. Zürcher Zunftrevolution war also neben der Zulassung der Handwerkerzünfte der Aufstieg Rudolf Bruns zum zeitweiligen Alleinherrscher Zürichs. Die durch Brun geschaffene Verfassung blieb trotz mehrfacher Revisionen des Geschworenen Briefs in ihren Grundzügen bis 1798 in Kraft. Die abgesetzten Räte und ihre Familien wurden aus der Stadt verbannt, organisierten aber mit der Unterstützung der Grafen von Rapperswil den Widerstand gegen Brun und die neue Zürcher Verfassung. Rudolf Brun scharte derweil die Stadtbürger durch Hetze gegen die ansässigen Juden hinter sich, die im Richtebrief zur Gewährung von Darlehen an die Bürger verpflichtet waren. Am 24. Februar 1349 wurden alle männlichen Juden Zürichs in einem Pogrom getötet. Wahrscheinlich wurden sie in ein Haus gesperrt, das dann in Brand gesetzt wurde. Frauen und Kinder überlebten und flohen. Die Synagoge an der heutigen Froschaugasse wurde zerstört. Den Besitz der Juden teilten sich Stadt und König, alle Schulden der Bürger bei den Juden wurden aufgehoben. Bald siedelten sich jedoch erneut Juden in Zürich an. 1436 beschloss dann der Rat, die Juden endgültig auszuweisen. 1350 misslang ein Handstreich der Opposition gegen Brun auf die Stadt, die Mordnacht von Zürich. Angesichts zunehmender aussenpolitischer Schwierigkeiten suchte Brun schliesslich Unterstützung bei den Habsburgern. Die Zerstörung und Plünderung der Stadt Rapperswil durch Brun veranlasste jedoch Herzog Albrecht II. zum Vorgehen gegen Zürich, da er der Schutzherr und ein Verwandter des Rapperswiler Grafen Johann II. aus dem Haus Habsburg-Laufenburg war. In dieser Situation suchte Brun ein Bündnis mit den zu dieser Zeit politisch isolierten vier Waldstätten. Am 1. Mai 1351 beschworen die Bürger von Zürich ein ewiges Bündnis mit der Eidgenossenschaft. Die Hauptlast im Krieg mit Herzog Albrecht II. von Habsburg trug trotzdem Zürich. 1351, 1352 und 1354 wurde die Stadt erfolglos von habsburgischen Truppen belagert. Erst 1355 kam ein Friede zwischen Zürich und Habsburg zustande. Brun erwies sich als rücksichtsloser Taktiker, denn er schloss den Frieden ohne die Eidgenossen zu beteiligen. Nach Bruns Tod 1360 führten seine Nachfolger dessen Territorialpolitik weiter. Im 15. Jahrhundert profitierte Zürich schliesslich von der Gegnerschaft der Luxemburger und der Habsburger im Reich. Mehrere Herrscher aus dem Haus Luxemburg überliessen Zürich wichtige Hoheitsrechte, um die Stadt gegenüber den Habsburgern zu stärken. Noch unter Brun gelang es 1353 das kaiserliche Privileg zu erhalten, dass Zürich nicht mehr vor auswärtige Gerichte geladen werden konnte. Ein weiterer wichtiger Schritt war die Übertragung einer ganzen Reihe von Reichsrechten durch Kaiser Karl IV. 1362 und 1365. Unter anderem überliess der Kaiser Zürich den Zürichsee bis nach Hurden samt Fischerei- und Schifffahrtsrechten, die Anwartschaft auf das Erbe der Rapperswiler Grafen, ferner das Recht, adlige Herren der Landschaft ins zürcherische Burgrecht aufzunehmen, und die sehr wichtige Befugnis, im Umkreis von drei Meilen ledig gewordene Reichslehen einzuziehen und neu zu besetzen. Damit war die Möglichkeit gegeben, die umliegenden Gebiete der einstigen Reichsvogtei Zürich unter die Oberhoheit der Stadt zu bringen. Durch das Bündnis mit der Eidgenossenschaft bezog Zürich denn auch wiederholt eine anti-habsburgische Position, so im Sempacherkrieg 1386–1388. Im Jahr 1400 verlieh König Wenzel dem Stadtrat das Recht, den Reichsvogt als Vorsitzenden des Blutgerichtes selbst zu wählen und befreite Zürich von der Reichssteuer. 1415 folgte die Befreiung vom Reichs- und Landgericht, 1431 das Privileg, die Blutgerichtsbarkeit in seinem Herrschaftsgebiet selbst verleihen zu dürfen. Kaiser Sigismund krönte diese Privilegierung schliesslich 1433 mit dem Recht, Erlasse jeder Art letztinstanzlich und gültig zu verabschieden und der Verleihung der Lehenshoheit über die Reichslehen Kyburg, Regensberg und Grüningen. Damit wurde die Stadt durch geschicktes Taktieren zwischen den Luxemburgern, Habsburgern und der Eidgenossenschaft in ihrem Herrschaftsbereich durch kaiserliche Privilegierung faktisch unabhängig. Als Folge der Auseinandersetzungen zwischen der Eidgenossenschaft und Habsburg kam es in der Stadt zu Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern beider Seiten. Die eidgenössisch gesinnten Zünfte erwirkten eine Reihe von Beschlüssen, den Zweiten Geschworener Brief von 1393, um die Macht der habsburgfreundlichen Stadtadligen und Kaufleute zu brechen. Seit dieser Zeit wurde Zürich von zwei Räten, dem «Kleinen» und dem «Grossen» Rat (auch Rat der Zweihundert genannt) aus Vertretern der Zünfte, der Stadtadligen und der Kaufleute regiert. Die Mitglieder beider Räte waren faktisch lebenslang gewählt und ergänzten sich selbst durch Kooptation. Zürich wurde damit zu einer «Zunftaristokratie». Der Preis der Brunschen Politik war der Zusammenbruch des Zürcher Fernhandels und der Seidenindustrie. Durch die politische Entmachtung der bisher dominierenden Kaufleute wurde dieser handelsfeindliche und handwerksfreundliche Trend bestätigt. Entwicklung des Stadtstaates bis zur Reformation Hauptartikel: Territoriale Entwicklung Zürichs Die endgültige Abwendung von Habsburg und die Sicherung des Übergewichts der Handwerkerzünfte führte zu einem Rückgang der Exportindustrie und des Handels. Der alte, von Kaufleuten beherrschte Rat hatte versucht, von der aus der Westschweiz und von Basel limmataufwärts nach Zürich und von da über Chur nach Italien führenden Handelsstrasse eine möglichst grosse Strecke unter zürcherische Kontrolle zu bringen. Die Zünfte wollten hingegen ein möglichst grosses Hinterland um die Stadt herum beherrschen, das einen Teil der Produktion der städtischen Zünfte aufnehmen konnte und die Versorgung der Stadt mit Rohstoffen und Getreide sicherstellte. Ende des 14. Jahrhunderts verfügte die Stadt jedoch erst über wenige direkte Herrschaftsgebiete ausserhalb der Stadt, vor allem entlang des Zürichsees und im Limmattal. Diese Besitzungen waren das Resultat einer manchmal eher zufälligen Erwerbspolitik. Die Stadt Zürich sicherte ihren Einfluss ausserhalb ihrer Mauern durch die Vergabe von Pfahlbürgerrechten an Bewohner umliegender Dörfer und Kleinstädte und den Abschluss von Burgrechten mit Adligen und Klöstern. Ein weiteres Mittel zur Ausdehnung des städtischen Einflusses war der Erwerb von Herrschaftsrechten durch städtische Adelsgeschlechter (Gerichtsherrschaften). Unter Bürgermeister Rudolf Brun begann Zürich dann direkt Untertanengebiete zu erwerben. Dies wurde dadurch möglich, dass die Habsburger aus Geldnot ihren rechtsrheinischen Besitz in kleineren Bestandteilen an regionale und stadtzürcherische Adelsgeschlechter verpfändeten wie z. B. die Brun und Mülner. An der Wende des 14. zum 15. Jh. kamen etliche dieser Adelsgeschlechter ihrerseits in Geldnot und gaben ihre habsburgischen Pfandschaften gegen Geld an die Stadt Zürich weiter. Die Stadt gelangte so in den Besitz der Herrschaften Greifensee, Grüningen und Regensberg und Maschwanden-Eschenbach-Horgen. Ergänzt wurden diese Gebiete durch den Kauf der Reichsvogteien in und um Zürich um 1400. Dazu kam die wachsende Nachfrage nach Burgrechten mit Zürich bei Klöstern, Städten, Gemeinden und Adligen, weil die Verlagerung der habsburgischen Politik weg von der Ostschweiz und die Krise der habsburgischen Macht überhaupt den landesherrlichen Schutz Zürichs effektiver und die Karrieremöglichkeiten attraktiver erscheinen liess. Die Burgrechte beinhalteten oft nicht nur gegenseitigen militärischen Beistand, sondern verpflichteten den Schutznehmer auch seine Burgen für Zürich offenzuhalten, sich der städtischen Gerichtsbarkeit unterzuordnen und enthielten manchmal auch ein Vorkaufsrecht der Stadt. Im Zusammenhang mit dem vom König Sigismund ausgerufenen Reichskriegs gegen Herzog Friedrich IV. von Österreich besetzte die Stadt Zürich 1415 Teile des habsburgischen Aargaus (Kelleramt, Freiamt Affoltern) und begann mit einer zielstrebigen Territorialpolitik, die ebenfalls mit königlicher Unterstützung zur Übernahme der habsburgischen Grafschaft Kyburg und der landenbergischen Herrschaft Andelfingen führte. Sigismund verlieh Zürich 1433 auch den Blutbann über alle ehemals habsburgischen Gebiete. Weiter machte die Stadt Zürich ihr Hoheitsrecht über alle Gebiete geltend, mit deren Besitzern sie in einem Burgrecht stand, z. B. die Herrschaft Wädenswil des Johanniterordens oder die Gemeinden Rüschlikon, Meilen, Fluntern und Albisrieden des Chorherrenstifts Grossmünster. Wenn der Stadtrat ein Gebiet für Zürich kaufte, musste er die althergebrachten Rechte und die Verwaltungsordnung des erworbenen Gebiets respektieren. So wurde jede Erwerbung zu einem eigenen Verwaltungsbezirk, was eine recht uneinheitliche und unübersichtliche Verwaltungsgliederung des städtischen Herrschaftsgebiets ergab. Es wurde nach der Art der Verwaltung zwischen Ober- und Landvogteien unterschieden. Jeder Versuch der Stadt, eine Vereinheitlichung ihres Herrschaftsgebiets zu erreichen, wurde von den Bewohnern der betroffenen Gebieten als Eingriff in ihre «alten Freiheiten» gesehen und heftig bekämpft. Das uneinheitliche Bild wurde dadurch vervollständigt, dass innerhalb des Herrschaftsgebiets der Stadt zahlreiche Gerichtsherrschaften fortbestanden, in denen Private oder Klöster die niedergerichtlichen Kompetenzen innehielten. Die Expansion der Stadt Zürich führte zum Konflikt mit Schwyz am oberen Zürichsee über die Kontrolle der Grafschaft Uznach, der Grafschaft Sargans und der Herrschaft Gaster, der im Alten Zürichkrieg mündete. Zürichs Bürgermeister Rudolf Stüssi erklärte 1439 Schwyz den Krieg. Die übrigen Eidgenossen unterstützten dabei Schwyz, weshalb Stüssi 1440 auf einen vorläufigen Waffenstillstand einwilligte. Stüssi verhandelte danach mit Kaiser Friedrich III. und erreichte die Zusage, Zürich gegen eine Rückgabe der Grafschaft Kyburg an Habsburg die Grafschaften Uznach und Toggenburg zu übertragen sowie militärische Unterstützung durch Habsburg. Nach dem neuerlichen Ausbruch der Feindseligkeiten erlitt Zürich in der Schlacht bei St. Jakob an der Sihl am 22. Juli 1443 eine Niederlage, Bürgermeister Stüssi fiel. Zürich wurde letztlich nur durch den Einfall der Armagnaken in die Eidgenossenschaft gerettet. Nach deren Rückzug und dem Sieg der Eidgenossen über ein habsburgisches Heer bei Bad Ragaz kam es 1450 zum Friedensschluss: Zürich verlor die Höfe an Schwyz und musste seine Expansionspläne ins Linthgebiet aufgeben. Heftige innere proeidgenössische und prohabsburgische Auseinandersetzungen im Inneren Zürichs fanden nun ihr Ende. Der lange Krieg und die wiederholten Plünderungen der Landschaft durch die Eidgenossen fügten der Wirtschaft Zürichs empfindlichen Schaden zu. Dadurch wurde auch eine Abkehr der Zürcher Nobilität vom Fernhandel eingeleitet. Stattdessen strebten die ratsfähigen Familien nun in den Dienst der Stadt als Vögte oder Beamte und wurden zu einem «Verwaltungspatriziat». Adliger Lebenswandel, Repräsentation, die Erwerbung von kaiserlichen Wappenbriefen sowie der Ritterschlag gehörten dabei zum üblichen äusseren Merkmal dieser neuen städtischen Oberschicht. Die Bevölkerung ging während des Zürichkrieges von 7000 auf unter 5000 zurück, die erste Blütezeit Zürichs war damit definitiv zu Ende, Zürich drohte in den Rang einer Kleinstadt zurückzufallen. Bei der Eroberung des Thurgaus (1460) und im Waldshuterkrieg (1468) kämpfte Zürich wieder an der Seite der Eidgenossenschaft und stieg wegen seiner wirtschaftlichen und militärischen Bedeutung gegen Ende des 15. Jahrhunderts zum Vorort der alten Eidgenossenschaft auf. Zürich berief die Tagsatzung ein und führte deren Vorsitz bis zum Ende der Alten Eidgenossenschaft 1798. Mit der Erwerbung von Winterthur (1467), Stein am Rhein (1459/84) und Eglisau (1496) wurde das Territorium abgerundet. In den Burgunderkriegen spielte Zürich unter Bürgermeister Hans Waldmann eine führende Rolle. Alle Bemühungen Waldmanns, die Stellung Zürichs in der Eidgenossenschaft weiter auszubauen, scheiterten aber am Widerstand Berns und der Landkantone. Nach dem Waldmannhandel, einer innerstädtischen Intrige, kam es 1489 zu einer Erhebung der Bauern im zürcherischen Herrschaftsgebiet und zur Hinrichtung von Hans Waldmann. Durch Vermittlung der Eidgenossenschaft kam in den Waldmannschen Spruchbriefen eine Verständigung mit der Landschaft zustande. Die Zugeständnisse an die Bauern waren unbedeutend, allerdings kamen dadurch die Bestrebungen die Herrschaft über die Landschaft zu vereinheitlichen und zu zentralisieren zu einem Ende. Eine Regierungsbeteiligung der Landschaft kam zwar nicht zustande, bei wichtigen Entscheidungen wurde aber ein Mitwirkungsrecht der Landschaft etabliert. Diese Einrichtung spielte während der Mailänderkriege und der Reformation eine wichtige Rolle. Trotzdem hatte die von Zürich beherrschte Landschaft faktisch keine politischen Rechte und wurden je nach Status von lokal residierenden Landvögten oder von in der Stadt lebenden Obervögten regiert, die aus der Zürcher Nobilität stammten und vom Stadtrat eingesetzt wurden. Die feudalen Rechte der Grundherrschaft in den Untertanengebieten waren meistens in der Hand der Stadt oder von städtischen Familien und die damit verbundenen Geldzahlungen und Frondienste wurden bis ins 19. Jahrhundert nötigenfalls mit Gewalt eingefordert. Auf das Leben in der Landschaft wirkten sich zudem eine steigende Zahl von städtischen Verordnungen (→Mandate) aus, die einerseits moralische (z. B. Tanz-, Spielverbot, Kleiderordnung) andererseits wirtschaftspolitische Ziele hatten (z. B. Gewerbeordnung, Einschränkung des Reislaufens und der Auswanderung). Diese sog. «Sittenmandate» führten bisweilen zu offenem Widerstand in der Landschaft, wie im Waldmannhandel, als das Verbot zur Haltung von grossen Jagdhunden für Bauern zum Aufstand führte. Zürich vertrat auch nach Waldmanns Sturz in der Eidgenossenschaft die Interessen Habsburgs, während Bern für Frankreich Einfluss nahm. Der Versuch Kaiser Maximilians, die Eidgenossenschaft wieder enger mit dem Reich zu verbinden, veranlasste einen Frontwechsel und Zürich beteiligte sich am Schwabenkrieg 1499. Während der Mailänderkriege (1500–1522) stand Zürich auf der Seite des Papstes und bekämpfte die Werbung von eidgenössischen Söldnern für Frankreich. Die eidgenössischen Kriegszüge nach Mailand zwangen Zürich erneut, auch die Bevölkerung der Landschaft zum Kriegsdienst aufzubieten, was nach einer Volksbefragung zunächst geduldet wurde. Nach der Niederlage bei Marignano (1515), in der etwa 800 Zürcher von Stadt und Land fielen, kam es aber auf der Landschaft erneut zu einem Aufstand, da die Söldnerführer aus der Stadt für das Desaster verantwortlich gemacht wurden. Der sog. Lebkuchenkrieg konnte im Dezember 1515 durch die exemplarische Hinrichtung einiger Söldnerführer beigelegt werden. Im Spätmittelalter war Zürich mit durchschnittlich etwa 5000 Einwohnern eine grössere Mittelstadt wie etwa Bern, Schaffhausen, Luzern oder St. Gallen. Basel und Genf hatten als Grossstädte um die 10'000 Einwohner. Nach der grossen Pest von 1348/49 ging die Bevölkerung bis Mitte des 15. Jh. bis unter 4000 Einwohner zurück, bevor wieder ein Wachstum einsetzte. Innerhalb der Stadt ging die Zahl der adligen Geschlechter zurück und auch die bürgerlichen Patriziergeschlechter nahmen stark ab zugunsten der Zunftbürger. Nach 1378 war die Mitgliedschaft in einer Zunft Voraussetzung für die Erteilung des Bürgerrechts und fast alle zünftigen Gewerbe wurden umgekehrt bis Ende des 15. Jh. an die Mitgliedschaft in einer Zunft gebunden. Das Zürcher Bürgerrecht kostete um 1400 ca. sieben Gulden, wobei auch noch ein schwankender Beitrag zu den städtischen Baukosten erhoben wurde. Zürichs Finanzkraft war im Spätmittelalter noch eher bescheiden. Gemessen am Durchschnittsvermögen von 243,6 Gulden im Jahr 1417 lag Zürich hinter Freiburg i. Ü. (320 Gulden, 1445), Bern (373 Gulden, 1448) und Basel (ca. 400 Gulden, 1429). Laut der Steuerregister des 15. Jh. gehörten etwa ein Drittel der Einwohner zur Unterschicht (Gesellen, Dienstboten, alleinstehende Frauen, arme Handwerker) mit einem Vermögen von bis zu 15 Gulden, ein weiteres Drittel zur gehobenen Unterschicht (Handwerker), rund ein weiteres Drittel zur Mittelschicht mit Vermögen bis 1000 Gulden. Übrig blieb eine Oberschicht von rund 5 Prozent der Bevölkerung mit Vermögen bis über 10'000 Gulden. Sie hielten rund zwei Drittel des Gesamtvermögens, während die Unterschicht und die gehobene Unterschicht mit rund zwei Dritteln der Bevölkerung rund fünf bis zehn Prozent des Gesamtvermögens hielten. Reformation 1519–1531 Durch die Verdichtung der Herrschaft in der Hand des städtischen Rates zu Ende des Mittelalters erhielt der Stadtstaat auch immer Macht- und Kontrollbefugnisse im kirchlichen Bereich. Während des Abendländischen Schisma von 1378 bis 1417 stand Zürich mit der Eidgenossenschaft zu Papst Urban VI. und seinen Nachfolgern. Das Schisma begünstigte noch die Übernahme kirchlicher Kompetenzen durch den Rat, was sich auch im 15. Jh. fortsetzte. Der Papst gestand dem Rat eine Mitwirkung bei der Besetzung der Pfründen der geistlichen Stifte zu und 1479 erhielt die Stadt einen «Jubiläumsablass» nach dem Vorbild des Jubiläumsablass von Rom von 1475, um den Neubau der Wasserkirche zu finanzieren. Zur Propagierung dieses Ablass wurde im Predigerkloster die erste Druckerei Zürichs eingerichtet. Das enge Verhältnis Zürichs zum Papsttum begründete sich vor allem durch das Bedürfnis der Päpste nach eidgenössischen Söldnern für ihre Italienpolitik. 1512 erhielt Zürich anlässlich des Pavierzuges wie andere Orte der Eidgenossenschaft ein Juliusbanner verliehen. Da Zürich der Vorort der Eidgenossenschaft war, liess sich deshalb der päpstliche Legat Matthäus Schiner vorübergehend in Zürich nieder, womit die Stadt vorübergehend zum Zentrum der päpstlichen Politik nördlich der Alpen wurde. Noch 1514 sicherte der in der Stadt lebende päpstliche Gesandte denjenigen, die alle sieben Kirchen Zürichs besuchten, den gleichen Ablass zu wie den Besuchern der sieben Hauptkirchen Roms. Der Zürcher Bürgermeister und Heerführer Marx Röist zählte zu den grössten Pensionsbezügern der Kurie und sein Sohn Kaspar Röist wurde Kommandant der Schweizergarde und fiel 1527 im Sacco di Roma. Konfliktreicher gestaltete sich das Verhältnis zum Bischof von Konstanz, dem die Stadt kirchenrechtlich unterstand. Seine Gerichtshoheit über den Klerus und allgemein die Hoheit geistlicher Gerichte über Laien beanspruchte der Rat zunehmend für sich, auch mischte er sich in Steuerfragen und in der Besetzung von Pfründen in bischöfliche Bereiche ein. 1506 unterwarf der Rat den Klerus schliesslich offiziell der städtischen niederen Gerichtsbarkeit. Auch die Klöster und Stifte im städtischen Herrschaftsbereich waren Ende des 15. Jh. völlig unter die Vormundschaft der Stadt gefallen, selbst bei der Neuwahl der Äbtissin des Fraumünsters und bei der Besetzung der geistlichen Pfründen des Grossmünsterstift hatte der Rat nun ein Mitspracherecht. Am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert war das Reislaufen für Zürich und die ganze Eidgenossenschaft das grösste politische und wirtschaftliche Problem. Einerseits profitierte zwar die Nobilität und auch der Staat finanziell vom Handel mit Söldnern, andererseits führte die mit diesem Wirtschaftszweig einhergehende Korruption, der Bevölkerungsverlust und der moralische Niedergang zu unübersehbaren Missständen. Zürich setzte sich deshalb bereits 1508 vergeblich an der Tagsatzung der Eidgenossenschaft dafür ein, die individuelle Verdingung zum Solddienst sowie den Abschluss privater Gestellungsverträge für Söldnerheere zu verbieten. Nach schweren Verlusten der Zürcher Truppen in der Schlacht von Novara 1513 und der Niederlage der Eidgenossen bei Marignano vergrösserte sich die Zahl der Kritiker am Söldnerwesen noch einmal. Deshalb wurde 1518 Ulrich Zwingli, ein bekannter Kritiker des Söldnerwesens, als Gemeindepfarrer ans Grossmünster berufen. Zwingli begann mit der Unterstützung des Rates ab 1520 im Herrschaftsgebiet Zürichs die Reformation einzuführen. Dabei liess Zwingli jeweils wichtige Schritte in Disputationen vor dem Rat durch Kirchenleute, die unterschiedliche Meinungen vertraten, kontrovers diskutieren, wonach der Rat über die Massnahmen und ihre Umsetzung selbstständig entschied. Im Zuge der zweiten Zürcher Disputation im Herbst 1523 führte dieses vorsichtige und schrittweise Vorgehen zum Aufbegehren radikalerer reformatorischer Gruppen und zur Konstituierung der ersten Täufergemeinde um Felix Manz und Konrad Grebel. Die Auseinandersetzung mit den Täufern endete 1527 mit der Hinrichtung von Felix Manz durch Ertränken in der Limmat und der Ächtung und Vertreibung ihrer Anhänger aus dem Herrschaftsbereich der Stadt. 1525 verfasste Zwingli seine Ansichten in einem ersten Glaubensbekenntnis, eine Einigung mit der deutschen Reformation unter Luther scheiterte jedoch 1529 im Marburger Religionsgespräch. (→Reformation und Gegenreformation in der Schweiz) Die vom Stadtrat im Zuge der Reformation durchgesetzte Auflösung der Klöster im Herrschaftsgebiet Zürichs und die Übernahme kirchlichen Güter und Rechte in den städtischen Besitz löste Unruhen in der Landschaft aus. Die Bauern verlangten die Aufhebung der Leibeigenschaft und der mit ihr verbundenen Lasten, Ablösbarkeit der Grundzinsen, Abschaffung der kleinen Zehnten, Abschaffung aller durch den Rat in der Verwaltung der Landschaft eingeführten Neuerungen und Wiederherstellung der Sonderrechte und alten Gebräuche. Die blutige Niederwerfung der Bauernaufstände in Süddeutschland vor Augen, willigten die Bauern in einen Kompromiss mit der Stadt ein: Die Leibeigenschaft und der kleine Zehnt wurden abgeschafft, allerdings nur, falls letzterer nicht einem Herren von ausserhalb des städtischen Machtbereichs gehörte. Durch die Säkularisation der Klöster und geistlichen Stiftungen gelangte die Stadt zu ausgedehntem Grundbesitz und hohen Einkünften, so dass Steuern in Zürich bis ins 19. Jahrhundert nur noch ausnahmsweise erhoben werden mussten. Durch die Reformation ging die Aufsicht über die Kirche, die Schule und das Armenwesen von der katholischen Kirche auf die Stadt Zürich über. Die damit verbundenen Ausgaben wurden aus den Einkünften der ehemaligen Klöster und Stifte bestritten. Als staatliche Behörde über der Kirche wirkten der aus den städtischen Geistlichen bestehende und vom Antistes präsidierte Examinatorenkonvent und die Synode der Geistlichen des gesamten stadtzürcherischen Gebietes. Der Examinatorenkonvent erhielt zudem die Aufgabe, den Stadtrat bei allen wichtigen Entscheidungen zu «beraten», damit dieser keine der Bibel zuwiderlaufende Entscheidungen fällen konnte. Faktisch wurden also nach der Reformation die politischen Organe der Stadt Zürich von der reformierten Geistlichkeit kontrolliert. Zwingli selbst bekleidete in Zürich nie ein politisches Amt, er machte seinen Einfluss von der Kanzel aus geltend. Die fünf inneren Orte der Eidgenossenschaft setzten der Reformation heftigen Widerstand entgegen und versuchten, dem «ketzerischen» Zürich die Bünde zu kündigen. Andererseits kam es zu einem stärkeren Zusammenrücken der reformierten eidgenössischen Städte St. Gallen, Schaffhausen, Basel und Bern sowie der zugewandten Städte Mülhausen und Biel. Sogar nach Konstanz und Strassburg wurden Verbindungen geknüpft. Schliesslich schlossen die reformierten Orte 1528 mit Konstanz das Christliche Burgrecht zur Verteidigung der Reformation. Die katholischen Orte schlossen ihrerseits 1529 die «Christliche Vereinigung» mit Habsburg. Als die katholischen Orte die Ausbreitung der Reformation in den gemeinen Herrschaften und in der Fürstabtei St. Gallen mit Gewalt verhinderten, erklärte Zürich auf Drängen Zwinglis den Krieg. Der Erste Kappelerkrieg (1529) endete ohne militärische Konfrontation in einer Vermittlung (Erster Kappeler Landfriede). Zwingli und der Stadtrat führten weiter erfolglose Bündnisverhandlungen mit europäischen Mächten und unterstützten aktiv die Reformation in den gemeinen Herrschaften. Als Zürich das Toggenburg in seiner Auflehnung gegen den Abt von St. Gallen offen unterstützte, kam es 1531 zum Zweiten Kappelerkrieg gegen die katholischen Orte. Zürich erlitt bei Kappel am Albis eine Niederlage, bei der auch Zwingli ums Leben kam. Der Zweite Kappeler Landfriede von 1531 beendete die weitere Ausbreitung der Reformation in der Eidgenossenschaft. Der neue Glaube wurde durch Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger gefestigt, der 1536 das erste Helvetische Bekenntnis der reformierten Kirche und 1549 den Consensus Tigurinus mit Calvin erarbeitete. Heinrich Bullinger war 1531–1575 und Rudolf Gwalther 1575–1586 Antistes, wie der Vorsteher der damaligen reformierten Kirche Zürichs hiess. Sie pflegten zahlreiche Kontakte europaweit, besonders zu Vertretern der englischen Staatskirche. Während ihrer Zeit wurden viele evangelische Flüchtlinge aus dem Tessin, Italien, Frankreich und England aufgenommen. Diese trugen in der Folge durch Handwerk, Produktion noch unbekannter Textilien und Handel wesentlich zum wirtschaftlichen Gedeihen Zürichs bei. Die Führung der reformatorischen Bewegung ging nach der Niederlage bei Kappel allerdings an Genf und Bern über. In Zürich verbreitete sich eine politische Nüchternheit, die nach Gordon A. Craig zum Inbegriff des Zürcher Stils wurde: «eine Bescheidenheit in den Zielen, die man sich setzte, eine Bereitschaft, sich am Machbaren und Greifbaren zu orientieren und hochgesteckten Zielen und grandiosen Ambitionen abzuschwören». Diese Haltung und die negative Haltung zum Söldnerwesen zogen einen Bedeutungsschwund Zürichs nach sich. Im Vergleich mit Bern, Genf oder Basel war Zürich bis ins 19. Jahrhundert von provinziellem Format, was sich insbesondere in den öffentlichen Bauten und der Lebensweise der Mehrheit der Bürger sowie im kulturellen Leben zeigte. Frühe Neuzeit: Zürich im Ancien Régime Die Zeit nach der Reformation beendete die stürmische Phase der militärischen Expansion der Alten Eidgenossenschaft und damit auch des Territoriums der Stadt Zürich. Weitere Erwerbungen erfolgten nur noch durch Kauf, die bedeutenderen davon waren die Vogtei Laufen (1544), die Johanniterherrschaft Wädenswil (1549) sowie die Landvogtei Sax-Forstegg im Rheintal (1615). Die konfessionelle Spaltung der Eidgenossenschaft dauerte nach den Kappelerkriegen an. Zürich blieb mit den anderen reformierten Städten Süddeutschlands verbunden. 1584 ging Zürich zusammen mit Bern ein Bündnis mit Genf ein und erneuerte auch die Verbindung mit Mülhausen und Strassburg. Zürcher Truppen zogen wiederholt zur Unterstützung dieser Städte aus. Überhaupt wurde Zürich im 16. Jahrhundert durch das Wirken Heinrich Bullingers zu einem Zentrum der calvinistisch-reformierten Welt. Glaubensflüchtlinge aus Frankreich (Hugenotten) und dem Tessin liessen sich an der Limmat nieder; sie bewirkten eine wirtschaftliche und geistige Blüte der Stadt, da sie neue Wirtschaftszweige (Textilindustrie) und Wissen aus ihrer Heimat mitbrachten. Im 16. und 17. Jahrhundert schloss sich die Bürgerschaft der Stadt immer mehr gegen aussen ab, indem sie ständig schärfere Vorschriften für die Neuaufnahme von Bürgern erliess. Dieser Abschliessung entsprach auch das aristokratische und absolutistische Gebaren des Stadtrates. Die zuvor praktizierte Beteiligung der Zünfte und der Landschaft an der Regierung kam zu einem abrupten Ende. 1624 beschloss beispielsweise der Rat der Stadt unter dem Eindruck des Dreissigjährigen Krieges, grosse Summen in die Errichtung einer modernen, dritten Stadtbefestigung zu investieren. Die Finanzierung sollte über eine Steuer erfolgen, die ohne vorhergehende Befragung der Landschaft ausgeschrieben wurde. Die darauf ausbrechenden Unruhen wurden rücksichtslos durch den Einsatz von Militär gebrochen, insbesondere in den Landvogteien Wädenswil und Freiamt. Die Bevölkerung der Landschaft war danach für längere Zeit derart eingeschüchtert, dass während des Bauernkrieges von 1653 im Herrschaftsgebiet von Zürich die Lage so ruhig blieb, dass sogar Truppen gegen die Berner und Luzerner Bauernschaft geschickt werden konnten. Seit der Bestätigung der Unabhängigkeit der Schweiz vom Deutschen Reich im Rahmen des Westfälischen Friedens (1648) bezeichnete sich Zürich auch nicht mehr als «Reichsstadt Zürich», sondern selbstbewusst als «Republik Zürich». Zürich rückte damit auf die gleiche Stufe auf wie die souveränen Stadtrepubliken Venedig und Genua. Als äusseres Zeichen der neuen Stellung wurde ein neues, prunkvolles Rathaus gebaut, das 1698 zum fünfzigjährigen Jubiläum des Westfälischen Friedens eingeweiht wurde. Innenpolitisch signalisierte das Rathaus den Abschluss der Oligarchisierung des Stadtregiments. Da Zürich die Schutzmacht der reformierten Gläubigen in der Schweiz war, entstanden immer wieder Konflikte mit den katholischen Orten. Als Schwyz 1655 alle reformierten Familien aus Arth vertrieb, intervenierte Zürich erneut militärisch im Ersten Villmergerkrieg gegen die katholischen Orte der Innerschweiz, erhielt von reformierter Seite allerdings nur Unterstützung von Bern. Dies und die unglückliche Kriegsführung führten zu einer neuerlichen Niederlage Zürichs. Die Vormacht der katholischen Orte schien bestätigt. Etwas mehr als fünfzig Jahre später intervenierte Zürich 1712 wiederum zusammen mit Bern zugunsten reformierter Untertanen unter katholischer Herrschaft, diesmal im Toggenburg. Der Zweite Villmergerkrieg ging jedoch zugunsten der reformierten Städte aus und brachte das Ende der katholischen Vormacht in der Alten Eidgenossenschaft. Das 18. Jahrhundert war eine Blütezeit des Geisteslebens und der Kultur in Zürich. Der deutsche Dichter Wilhelm Heinse stellte erstaunt fest, dass es in Zürich über 800 Bürger gäbe, die etwas hätten drucken lassen. Als Motor des Zürcher Geistesleben wirkten zahlreiche Gesellschaften aller Art, in denen unbehelligt von der Zensur diskutiert und geschrieben wurde. In jener Zeit gab es in Zürich bereits mehrere Zeitungen, die wöchentlich erschienen. Die 1780 gegründete «Zürcher Zeitung» besteht als «Neue Zürcher Zeitung» (seit 1821) bis heute. Die 1771 gegründete Zürcher Freimaurerloge «Modestia cum Libertate» besteht ebenfalls heute noch und hat ihr Domizil am Lindenhof. Goethe soll 1779 bei seinem Besuch in Zürich den Anstoss zum Beitritt zu den Freimaurern erhalten haben. Im Gegensatz zur Westschweiz und Bern wurde in Zürich das neue Gedankengut der Aufklärung nicht ausschliesslich über Frankreich, sondern vor allem über Deutschland, die Niederlande und England bezogen. Die deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff waren dabei entscheidend. Die Vorliebe der Zürcher Gelehrten für das englische Denken setzte einen bewussten Kontrapunkt gegen das französisch beeinflusste Bern und war auch Gegenstand des bekannten Literaturstreits der Zürcher Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger mit dem deutschen «Literaturpapst» Johann Christoph Gottsched. Die Konzentration von bedeutenden Persönlichkeiten des Geisteslebens in Zürich brachte der Stadt eine gewisse Berühmtheit ein. Insbesondere das Wirken des Literaturkritikers und Geschichtsprofessors Johann Jakob Bodmer war dafür verantwortlich. Er war als «Vater der Jünglinge» der Lehrer von zwei Generationen von bedeutenden Philosophen, Kulturschaffenden und Künstlern; unter anderen des Dichters und Malers Salomon Gessner, des Theologen und Physiognomen Johann Caspar Lavater, des Malers Johann Heinrich Füssli und des Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi. Die Verbindung zwischen Bodmer und Jean-Jacques Rousseau trug besonders zur Verbreitung von dessen Philosophie in der Limmatstadt bei. Fast alle Zürcher Geistesgrössen «pilgerten» zum berühmten französischen Philosophen, der im neuenburgischen Môtiers im Exil lebte. Besonders Leonhard Usteri der Älteste (der Grossvater von Leonhard Usteri) pflegte engen Kontakt zu Rousseau, es gelang ihm jedoch nicht, ihn zu einem Umzug an die Limmat zu bewegen. Über die Verbindung zu Usteri gelangte nur das Herbar Rousseaus nach Zürich, das sich heute im Besitz der Zentralbibliothek befindet. Im Bereich der Naturwissenschaften ist der Arzt und Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer hervorzuheben. Auf die Verwaltung und das Staatswesen hatte das neue Gedankengut nur bedingten Einfluss. Der Landvogt von Greifensee und Eglisau, Salomon Landolt setzt zwar ein Beispiel für eine rationale Verwaltung seiner Vogtei, von einem aufgeklärten Absolutismus in Zürich kann jedoch nicht die Rede sein. Ganz im Gegenteil kam es zu einer Erstarrung der veralteten mittelalterlichen Formen und zur Machtkonzentration in den Händen weniger «regimentsfähiger» Familien. Europaweite Beachtung erhielt dafür der Bauer Jakob Gujer, genannt Kleinjogg, aus der Zürcher Landschaft, der unter Anlehnung an physiokratische Theorien eine grundlegende Reform der Landwirtschaft anzuregen versuchte. Seine Ansichten wurden von Hans Caspar Hirzel, der mit allen damaligen Koryphäen der deutschen Literatur in Verbindung stand, einem europaweiten Publikum dargelegt. Bei einem Besuch Klopstocks bei Hirzel kam es zu der in einer bekannten Ode Klopstocks besungenen Bootsfahrt auf dem Zürichsee. Hirzel war 1762 Mitbegründer und erster Vorsteher der Helvetischen Gesellschaft. Die lange Friedensperiode zwischen 1712 und dem Zusammenbruch der Stadtrepublik 1798 erhöhte den materiellen Wohlstand beträchtlich. Insbesondere die Familien, die im Grosshandel mit Seide und Baumwolle tätig waren, profitierten von den weitreichenden Handelsbeziehungen, der stabilen politischen Ordnung und der tiefen Besteuerung. Der grösste politische Skandal der Zeit zeigt gleichzeitig die Grenzen der kulturellen Öffnung auf. Als der Theologe Jakob Heinrich Meister seine religionspsychologische Schrift «De l’origine des principes religieux» veröffentlichte, in der er den Offenbarungsglauben massiv angriff und damit die Gedanken Voltaires aufnahm und weiterentwickelte, wurde er aus dem Herrschaftsgebiet Zürichs verbannt, sein Name aus der Bürgerliste gestrichen und sein Buch durch den Henker verbrannt. Meister erhielt dafür zwar das Lob Voltaires, musste jedoch längere Zeit in Paris im Exil verbringen. Die politischen Verhältnisse in der Stadtrepublik Zürich waren im 18. Jahrhundert durch Reformwünsche von verschiedenen Seiten geprägt. Die aufstrebende Schicht der Baumwoll- und Seidenfabrikanten konnte sich dank ihrer reichen Geldmittel gegen den Willen der Handwerker der Stadt immer mehr Einfluss in den Räten verschaffen. Auf Druck der Zünfte und der Landbevölkerung kam es deshalb schon 1713 zu einer Verfassungsrevision, die aber mit dem Sechsten Geschworenen Brief nur geringfügige Änderungen brachte: Der Einfluss der Geldaristokratie wurde etwas eingedämmt, aber die Grundzinsen und Zehnten wurden nicht abgeschafft. Der Rat regierte danach immer selbstherrlicher und absolutistischer über die Bürger der Stadt hinweg. 1777 schloss er mit Frankreich ein Bündnis, ohne überhaupt die Bürgergemeinde zu befragen. Auf der Landschaft wurde das Regiment der Stadt durch zahlreiche Mandate wirksam, die bis in alle Einzelheiten das religiöse und sittliche Leben der Untertanen regelten. Weiter wachten die städtischen Behörden streng über das Monopol der Stadt auf wirtschaftlichem Gebiet: Die Ausübung aller Handwerke, die nicht dem alltäglichen Bedürfnisse der Landbevölkerung, sondern der Fabrikation von Luxus- oder Exportgütern dienten, waren streng verboten. Auch jegliche Betätigung im Aussenhandel war den Bürgern der Stadt vorbehalten. Arbeit brachte lediglich das Verlagssystem, bei dem reiche Stadtbürger, die sogenannten Verleger, Tausende von Handwerkern der Landschaft in Heimarbeit Rohprodukte verarbeiten liessen. Die Veredelung der hergestellten Güter, vor allem Seide und Baumwolle, und der Verkauf waren aber den städtischen Herren vorbehalten. Trotzdem brachte das Verlagssystem insbesondere den Gemeinden am Zürichsee, im Oberland und im Freien Amt gewissen Wohlstand und liess eine gebildete Oberschicht in der Landschaft entstehen, die nach Gleichberechtigung mit den Stadtbürgern strebte. Nach der Französischen Revolution (1789) gelangte die ländliche Oberschicht mit Bittschriften an den städtischen Rat. Sie forderte eine Verfassung für die Landschaft, die Beseitigung des wirtschaftlichen Monopols der Stadt, die Abschaffung der Feudallasten sowie bessere Bildungs- und Karrieremöglichkeiten. Diese Bittschriften fielen jedoch nicht auf fruchtbaren Boden: Als beispielsweise 1794 das sogenannte Stäfner Memorial verfasst wurde, liess der Rat die Führer der Bewegung verhaften und verurteilen, noch bevor die Bittschrift der Regierung überhaupt vorgelegt werden konnte. Die Auseinandersetzung um diese Vorkommnisse, der Stäfner Handel, mobilisierte die gesamte Landschaft und auch die Stadt, wo ein kleiner Teil von aufgeklärten Bürgern Reformen nach französischem Vorbild verlangten. Die Erregung in der Bevölkerung nahm nicht mehr ab und als 1798 die Franzosen von Westen her in die Alte Eidgenossenschaft einmarschierten, wurde die alte Ordnung gestürzt. Der aus der Verbannung zurückgekehrte radikale Führer der Landschaft, der Stäfner Johann Kaspar Pfenninger, erzwang den Rücktritt des Rates. Eine mehrheitlich aus Vertretern der Landschaft zusammengesetzte Landeskommission wurde einberufen, um eine Verfassung für Zürich auszuarbeiten. Bevor sie ihre Arbeit beenden konnte, mussten sich Zürich und seine Landschaft am 29. März 1798 der von Frankreich diktierten helvetischen Verfassung unterwerfen. Damit hörte die Republik Zürich auf zu existieren. Ihr Gebiet wurde als Kanton Zürich zu einem Verwaltungsbezirk der Helvetischen Republik. Zürich in der Helvetischen Republik (1798–1803) und der Mediation (1803–1815) Die Helvetische Revolution beendete die Verwaltungseinheit von Stadt und Kanton Zürich. Mit der Annahme der Helvetischen Verfassung am 29. März 1798 unterzog sich Zürich der neuen Rechtsordnung und wählte am 26. April die Munizipalität (Stadtbehörde) von Zürich, einen Tag später wurde die Stadt kampflos von französischen Truppen besetzt. Während der Koalitionskriege kam es 1799 zwischen französischen und österreichisch-russischen Armeen zweimal zu Kämpfen in der Umgebung Zürichs. In der Ersten Schlacht bei Zürich am 4. Juni 1799 wurde die Stadt von österreichischen Truppen besetzt. Die Zweite Schlacht bei Zürich am 25./26. September 1799 brachte den Franzosen den Sieg. Die wohlhabenden Familien Zürichs mussten zur «Befreiung» durch Frankreich erhebliche Summen beitragen und verloren durch die Aufhebung der Feudallasten lukrative Einkommensquellen. Die einfache Bevölkerung war durch die Einquartierungen und Requirierungen der durchziehenden Armeen betroffen. Da auch Handel und Wirtschaft unter den Wirren erheblich litten, war die helvetische Behörde in Zürich fast nur damit beschäftigt, den finanziellen Ruin des neuen Kantons abzuwenden und neues Geld aufzutreiben. Bei einem allfälligen Sieg der anti-französischen Koalition drohte zudem die Rückkehr der alten aristokratischen Regierung. Eine erste Volkszählung in der Helvetischen Republik ergibt für Zürich im Jahr 1800 eine Zahl von rund 10'000 Einwohnern. Die Wirren in der Regierung der Helvetischen Republik wirkten sich zudem auf die Kantone aus: Zwischen 1800 und 1802 kam es zu einer Reihe von Staatsstreichen innerhalb des helvetischen Direktoriums, bei denen jeweils eine radikal-revolutionär und unitarisch gesinnte Regierung eine konservative, föderale ablöste und umgekehrt. Nach dem Abzug der französischen Truppen im Juli 1802 siegte in Zürich die konservative Partei. Die helvetische Regierung versuchte während des Stecklikrieges vergeblich, durch eine Belagerung und Beschiessung Zürichs im September 1802 die Stadt wieder zum Gehorsam zu zwingen – erst ein neuerlicher Einmarsch der Franzosen in die Stadt beendete die Wirren. Durch die Mediationsverfassung wurde der Kanton Zürich als politische Einheit wiederhergestellt. Die Kantonsverfassung von 1803 gewährte der Stadt politische Vorrechte (Grosser Rat: 11'000 Stadtbewohner bestimmten 75 Grossräte, 182'000 Landbewohner 120 Grossräte; Kleiner Rat: 15 Vertreter von Zürich, 2 Vertreter von Winterthur, 8 Vertreter der Landschaft). Mit der neuen Verfassung wurde auch die Stadtgemeinde Zürich gegründet. Am 25. Juni 1803 konstituierte sich erstmals der 15-köpfige Stadtrat. Bei der Ausscheidung der Vermögen von Stadt und Kanton erhielt die Stadt mit der Aussteuerungsurkunde vom 1. September 1803 vom Kanton die Güter des Fraumünsteramtes, den Sihlwald, den Adlisberg und die Hard sowie Vermögenswerte. In der Landbevölkerung erregte die teilweise Wiedereinführung der alten Ordnung, besonders der Grundzinsen und Zehnten Unmut, der sich im Bockenkrieg Luft machte. Dieser Aufstand konnte nur dank einer eidgenössischen Militärintervention niedergeschlagen werden. Die konservative Wende wurde auch durch die Wiedereinführung des Zunftzwangs besiegelt. Gleichzeitig beginnt die Industrialisierung Zürichs mit der Gründung der ersten mechanischen Baumwollspinnerei mit angegliederter Maschinenfabrik in der Neumühle vor der Niederdorfporte durch Hans Kaspar Escher. Innerhalb der Schweiz war Zürich durch die Mediationsverfassung ein Vorort der Schweiz geworden, wodurch der Zürcher Bürgermeister der Mediationszeit, Hans von Reinhart, zweimal den Titel «Landammann der Schweiz» führte und die Eidgenossenschaft und Zürich bei wichtigen Ereignissen der Zeit, so der Kaiserkrönung Napoleons oder dem Wiener Kongress vertreten durfte. 1807 gestattete der kleine Rat erstmals seit der Reformation wieder eine katholische Gemeinde in Zürich. -siehe auch Restauration und Regeneration 1815–1839: Das Ende der städtischen Vorherrschaft im Kanton Nach dem Sturz Napoleons gab sich Zürich, dessen Regierung immer noch auch diejenige des Kantons war, eine neue Verfassung. Die politische Gleichheit der Landschaft mit der Stadt blieb zwar theoretisch erhalten, praktisch waren jedoch zwei Drittel des Grossen Rates mit Stadtbürgern besetzt. In leitenden Funktionen fand sich nun eine neue Schicht von vermögenden, aristokratischen städtischen Grossbürgern, die eine unangefochtene Vorrangstellung in Regierung, Justiz und Verwaltung innehielt und auch die Kirchenhierarchie über das Wahlrecht kontrollierte. Die Landschaft erreichte nun zwar endgültig die wirtschaftliche Gleichberechtigung mit der Stadt, die Zunftverfassung blieb aber bestehen und wurde einfach auf die Handwerker in den Landstädten und Dörfern ausgedehnt. Es erfolgte eine Einteilung der Landschaft in Bezirke, die von Oberamtmännern verwaltet wurden, die wie ehemals die Landvögte richterliche und ausführende Gewalt in einer Hand vereinten und auch ihren Amtssitz in den Schlössern der Landvögte hatten. Die Bauern der Landschaft waren mit der neuen Verfassung am wenigsten zufrieden, da die Abgaben auf ihren Gütern bestehen blieben und nun zu einer Haupteinnahmequelle des Staates wurden. Die städtisch beherrschte Regierung bedeutete für die Landschaft weitere Nachteile. Die Regierung verschleppte zum Beispiel den dringenden Ausbau der Infrastruktur der sich stark industrialisierenden Landschaft, weil dadurch der Konkurrenzdruck auf die städtischen Betriebe abgeschwächt werden konnte. Überhaupt war die konservative Regierung war der Mangel an Innovation und Initiative die grösste Schwäche der konservativen Regierung, die sich nach Karl Dändliker eines «an Stagnation schleifenden Schlendrians» befleissigt habe. Die bäuerliche Opposition wurde somit noch mit den ländlichen Fabrikanten verstärkt, die eine zeitgemässere Wirtschaftsordnung wünschten. Zusammen mit liberalen Stadtzürcher Politikern wie Paul Usteri und Ludwig Meyer von Knonau forderte die bäuerliche Opposition eine moderne Regierung mit Gewaltenteilung, Wirtschaftsfreiheit, Volkssouveränität und Abschaffung der Zehnten und Grundzinsen. Zentrum der liberalen Opposition war das Politische Institut in Zürich, das 1807 von Meyer und Usteri als erste juristische Hochschule der Stadt gegründet worden war, ihre Sprachrohre waren die Neue Zürcher Zeitung und der Schweizerische Beobachter. Beide Blätter feierten den Unabhängigkeitskampf der Griechen, berichteten über den Vormarsch liberaler Ideen im Ausland und kommentierten die konservative Politik in Deutschland kritisch. 1829 erzwang die Opposition in einem günstigen Moment die Pressefreiheit, als nach dem Skandal um den Zusammenbruch der Bank Finsler der konservative Staatsrat Hans Konrad Finsler zurücktreten musste. Die gesetzgeberische Initiative ging nun wieder vom Staatsrat an den Grossen Rat über. Die Berichterstattung der von der Zensur befreiten Zeitungen über die Julirevolution in Paris 1830 förderte die revolutionäre Stimmung in Zürichs Landschaft wieder kräftig. Die Initiative zur Reform ging von den Seegemeinden aus, die den aus Deutschland geflüchteten liberalen Juristen Ludwig Snell veranlassten in der «Küsnachter Denkschrift» einen liberalen Verfassungsentwurf vorzulegen. Nach der Volksversammlung in Uster am 22. September 1830 (Ustertag) beschloss die Regierung, einer Revolution zuvorzukommen und eine neue Verfassung ausarbeiten zu lassen. Die verfassungsgebende Versammlung lehnte sich eng an Snells Entwurf an und legte 1831 eine Verfassung vor, die liberale Kernforderungen verwirklichte. Zürich wurde zum «Freystaat mit repräsentativer Verfassung» und war als liberaler Musterstaat Vorbild für die liberalen in ganz Westeuropa. Das Prinzip der Volkssouveränität wurde festgesetzt, wenn auch nur indirekt, indem der Grosse Rat als Stellvertreter des Volkes die Regierung ausübte. Weiter wurde Gewaltenteilung und die Abschaffung der Zehnten, indirekte Steuern und die politische Gleichheit aller Kantonsbürger festgeschrieben und der Zunftzwang abgeschafft. Die politische Vorherrschaft der Stadt wurde gebrochen, indem nun zwei Drittel der Sitze im Grossen Rat der Landschaft zustanden. Das Bildungswesen wurde durch das liberale Bildungsgesetz von 1832 ebenfalls gründlich umgestaltet: Zur Säkularisierung der Volksschule wurde ein Lehrerseminar in Küsnacht gegründet und als Krönung der Reform 1833 auf Initiative von Johann Caspar von Orelli und Friedrich Ludwig Keller die Universität Zürich ins Leben gerufen. Sie nahm ihren ersten Sitz in den Gebäuden des ehemaligen Augustinerklosters am Fröschengraben. Als Mittelstufe zwischen Volksschule und Universität wurde 1832 die Kantonsschule gegründet, die für Knaben zwei Ausbildungsgänge anbot, das Gymnasium und die Industrieschule. Die Ausbildung der Mädchen blieb den Gemeinden überlassen. Die Stadt Zürich baute deshalb die Töchterschule, die sie 1803 übernommen und 1832 in eine Mädchensekundarschule umgestaltet hatte, immer weiter aus, so dass sie ab 1875 als «Höhere Töchterschule» eine städtisch finanzierte Parallelausbildung zur Kantonsschule für Männer darstellte. Die als «Töchti» bekannte städtische Institution nahm grosszügigerweise immer mehr Mädchen aus Gemeinden ausserhalb der Stadtgrenzen auf, so dass diese schliesslich mehr als die Hälfte der Schülerinnen stellten. Gustav Albert Wegmann baute 1839–1842 bzw. 1850–1853 für die Kantonsschule und für die Höhere Töchterschule an der Rämistrasse bzw. beim Grossmünster zwei Schulhäuser, die bis heute erhalten sind. Während die Universität Zürich 1864 europaweit relativ früh ihre Pforten für Frauen öffnete, blieb die Kantonsschule mit der Ausnahme des Jahres 1920 bis zur Übernahme der Töchterschule durch den Kanton Zürich 1976 eine reine Männerschule. Das sichtbare Ende der städtischen Vorherrschaft war die am 30. Januar 1833 von der neuen Regierung beschlossene Schleifung der Zürcher Stadtbefestigung. Damit sollte die Scheidung von Stadt und Land für alle sichtbar beendet werden. Die Stadt verlor aber auch die Möglichkeit, sich gegen eine Erhebung der Landschaft zu wehren. Natürlich wurde dadurch auch der Verkehr zwischen dem wirtschaftlichen Zentrum des Kantons und der Landschaft bedeutend erleichtert. Die Schleifung der Schanzen begann am 16. Juli 1833 und endete 1903 mit dem Abbruch des Ötenbachbollwerkes in der Nähe des heutigen Hauptbahnhofs. Im Unterschied zu vielen anderen Schweizer Städten hat sich in Zürich kein Turm der mittelalterlichen Stadtbefestigung erhalten. Einzig unbedeutende Reste der Befestigungen können noch besichtigt werden. Die neue Kantonsregierung bestand darauf, dass der Kantonsrat weiter im alten Rathaus der Stadt seinen Sitz haben sollte. Dessen Inbesitznahme durch eine von der Landschaft dominierte Regierung galt wie die Schleifung der Stadtmauern als wichtiges Symbol des Endes der städtischen Vormachtstellung. Der Vorsitzende der Zürcher Regierung führte noch bis zur Verfassungsänderung von 1869 den Titel «Amtsbürgermeister von Zürich», während die Stadtverwaltung seit 1803 von einem Stadtpräsidenten geleitet wird. Die Stadtverwaltung zog vom Rathaus in das ehemalige städtische Bauhaus und in den Kappelerhof um, die beide die Bezeichnung «Stadthaus» erhielten. Die rasche Modernisierung des Kantons Zürich erregte schnell Widerstände im ganzen Kanton: Das städtische Kleingewerbe sah sich nach der Einführung der Handels- und Gewerbefreiheit durch die wirtschaftliche Gleichberechtigung der Landschaft bedroht; die Heimarbeiter und Handwerker der Landschaft sahen die radikale Regierung als verantwortlich für die Bedrohung der Hand- und Heimarbeit durch Fabriken und Maschinen; die Pfarrer und religiöse Kreise sahen den Bestand des reformierten Glauben durch die Säkularisierung der Volksschule untergraben, denn bisher unterstand das Unterrichtswesen der reformierten Kirche. Über die Berufung des Reformtheologen David Friedrich Strauss an die theologische Fakultät der Universität Zürich (Straussenhandel) kam es im Frühjahr 1839 zu einer Sammlung der konservativen Opposition. Obschon die Regierung die Berufung von Strauss widerrief, hielt die Erregung an. Angespornt durch das Gerücht, es seien bereits Hilfstruppen aus dem ebenfalls radikal-liberalen Bern im Anzug, um die Landschaft zu unterwerfen, wurde die Stadt am 5./6. September 1839 durch einen bewaffneten Haufen aus der Landschaft gestürmt. Nach chaotischen Strassengefechten im Fraumünsterquartier ging die Macht an eine konservative Regierung über. Friedrich Ludwig Keller, der Führer der radikal-liberalen Partei (Züriputsch) ging ins Exil nach Preussen. Das liberale Zürich im 19. Jahrhundert Die neue konservative Regierung verlor rasch an Popularität, so dass bereits 1845 die radikal-liberale Partei wieder im Grossen Rat die Mehrheit übernahm. Eine konservative Wende und ein Stopp der Reformen gelangen nicht. Der energische liberale Winterthurer Politiker Jonas Furrer übernahm den Vorsitz der Regierung und Zürich wurde zu einem Zentrum der modernen, sich immer rascher industrialisierenden liberalen Schweiz. Es war bezeichnend, dass die erste ganz in der Schweiz liegende Bahnlinie, die am 7. August 1847 eröffnete (Spanischbrötlibahn), von Zürich nach Baden führte. Nach dem Sonderbundskrieg stieg der liberale Zürcher Politiker Alfred Escher zu einem der bedeutendsten Politiker der Schweiz auf. Der «Eisenbahnkönig» gründete mehrere Privatbahnen, darunter die Gotthardbahn sowie die Schweizerische Kreditanstalt. Dank Escher wurde Zürich zum Mittelpunkt von Handel und Verkehr in der Ostschweiz und verdrängte Basel und Genf von ihrer dominierenden Stellung in der schweizerischen Banken- und Versicherungsbranche. Zürich unterlag jedoch bei der Auswahl des schweizerischen Regierungssitzes der Stadt Bern, da diese der französischsprachigen Schweiz näher gelegen war, und blieb nur die wirtschaftliche Hauptstadt der Schweiz. Als Entschädigung sollte Zürich dafür die neu einzurichtende schweizerische Bundesuniversität erhalten; da die französischsprachige Schweiz, die eine Germanisierung ihrer Intelligentsia befürchtete, dagegen opponierte, wurde dieses Projekt nicht verwirklicht. Als Kompromiss und auf Drängen Eschers erhielt Zürich immerhin den Sitz der «Eidgenössischen Polytechnischen Schule» (heute Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, ETH) zugesprochen. Zwischen 1858 und 1864 erbaute Gottfried Semper an prominenter Lage über der Altstadt das Hauptgebäude der ETH, das weithin sichtbar an der Stelle der einstigen Schanzen den Beginn einer neuen Epoche symbolisierte. Das Gebäude beherbergte anfangs in einem Seitenflügel auch noch die Universität Zürich, bis diese 1914 ihren ebenfalls prominenten Bau direkt neben der ETH beziehen konnte. Im Jahr 1871 führte der Tonhallekrawall zu einer militärischen Bundesintervention. Nach der Schleifung der Stadtmauern begann sich die Stadt Zürich über den alten Stadtkern hinaus in die Aussengemeinden auszudehnen. Die Bevölkerungsentwicklung war dank der starken Entwicklung der Industrie, des Banken- und des Versicherungssektors durch ein starkes Wachstum gekennzeichnet. 1871 zählte Zürich mit den heute zur Stadt gehörenden Gemeinden 56'700, im Jahre 1930 251'000 Einwohner. Zur Vereinfachung der Verwaltung wurden 1893 eine Reihe von Vororten eingemeindet. Durch die sogenannte Erste Stadterweiterung wuchs Zürich über seine mittelalterliche Kernstadt hinaus ins Umland. Wollishofen, Enge, Leimbach, Wiedikon, Aussersihl, Wipkingen, Oberstrass, Unterstrass, Fluntern, Hottingen, Riesbach und Hirslanden wurden zu Quartieren von «Gross-Zürich». Dies brachte Verschiebungen im traditionellen Parteiengefüge mit sich, da die Stadt nicht mehr länger durch Bürger und Handwerker, sondern durch Arbeiter und Angestellte geprägt war. 1899 spaltete sich die Sozialistische Partei der Schweiz (SPS) von der liberalen Bewegung ab, wodurch auf der anderen Seite die bürgerlichen liberalen und demokratischen Parteien zusammenfanden. Die Stadt Zürich war vor allem zur Jahrhundertwende durch den Antagonismus zwischen den bürgerlichen und der sozialistischen Partei geprägt. Wiederholt kam es zu Streiks und Unruhen, die jeweils durch den Einsatz von Militär und Polizei niedergeschlagen wurden. Die Kaserne der schweizerischen Armee wurde unter anderem aus diesem Grund 1873 im sich entwickelnden Arbeiterquartier Aussersihl neu angelegt. Zürich als Stadtgemeinde entstand eigentlich erst 1803, als durch die Mediationsverfassung das Untertanenverhältnis der Landgemeinden aufgehoben wurde und die Stadt die Stellung einer Munizipalgemeinde erhielt. Zürich erhielt einen Stadtpräsidenten und einen Stadtrat mit 15 Mitgliedern, zu denen 1814 noch ein Wahlkollegium und eine Generalversammlung der Bürger stiessen. 1830 wurde die Gemeindestruktur durch eine Gemeindeversammlung der Bürgerschaft ergänzt. Durch das kantonale Gemeindegesetz von 1866 entstand die Einwohnergemeinde, deren Organe der engere Stadtrat (7 Mitglieder) und die Gemeindeversammlung waren. Die Stadterweiterung von 1893 hatte eine Erweiterung des Stadtrates auf neun Mitglieder zur Folge, die Gemeindeversammlung wurde durch das Gemeindereferendum und den grossen Stadtrat ersetzt, der seit 1913 nach dem Proporzverfahren gewählt wird. Auch kennt Zürich neben der politischen Gemeinde nur noch die Kirchgemeinden. Mit der demokratischen Verfassung von 1869 übernahm der Präsident des Regierungsrates den Vorsitz über die Regierung des Kantons Zürich, womit der Titel «Amtsbürgermeister von Zürich» für den Vorsitzenden der Kantonalzürcher Regierung verschwand. Das letzte Überbleibsel der alten Verbindung von Stadt und Kanton ist der Tagungsort des kantonalzürcherischen Parlaments im ehemaligen Rathaus der Stadtrepublik. Als Sitz der Gemeindebehörden dient heute das Stadthaus, das 1900 in einem Neubau an der Stelle der Abteigebäude des Fraumünsters erbaut wurde. Das Gemeindeparlament tagt jedoch bis heute im ehemaligen Rathaus. Siehe auch: Schweizerische Nordbahn, Alfred Escher Der Ausbau Zürichs zur Grossstadt um die Jahrhundertwende Trotz des Abrisses der Stadtbefestigungen (1830) wuchs Zürich zunächst nur langsam über die Altstadt hinaus und bis in die 1860er Jahre veränderte sich nicht viel. Dann begann mit dem Aufstieg des «Systems Escher» für Zürich die «grosse Bauperiode», die das Gesicht der Innenstadt bis heute prägt. Seit 1864 wandelte sich der frühere Fröschengraben zur Bahnhofstrasse, die nach dem Vorbild eines französischen Boulevards zur Pulsader der neuen Stadt werden sollte. Sie begann am Bahnhof, der seit 1847 bestand. Jakob Friedrich Wanner baute dieses erste Bahnhofsgebäude bis 1871 in das heute noch bestehende monumentale Gebäude um. Wanner errichtete zwei Jahre später auch ein ähnlich monumentales Gebäude für die Kreditanstalt am Paradeplatz. Am Seeufer plante und verwirklichte Arnold Bürkli, Stadtbaumeister von 1860 bis 1882, grosszügige Seeuferpromenaden, den nach ihm benannten Bürkliplatz und die Quaibrücke beim heutigen Bellevue, die am Silvester 1884 eingeweiht wurde. Bürkli sanierte auch das Zürcher Abwassersystem – ein grosses Werk angesichts des Typhus und der Cholera, die damals auch Zürich heimsuchten. Das bürgerliche Zürich schickte sich an, die gesamte Altstadt zu «sanieren», d. h. abzureissen und nach dem Geschmack des Historismus wieder aufzubauen. Das Kratzquartier am See musste als erstes weichen, mit ihm auch die Gebäude des Fraumünsterklosters und des alten Kornhauses an der Limmat. An ihrer Stelle errichtete man die ehemalige Fraumünsterpost (1895–1898) und das neue Stadthaus (1898–1900). Letzteres sollte aber eigentlich nur als Provisorium dienen, bis eine grosszügige neue Anlage bei der Urania fertiggestellt würde. Typisch für Zürich hat das Provisorium bis heute Bestand. Im Nordwesten der Stadt wurde zum Bau eines neuen Rathauses, zugehöriger Amtshäuser und Geschäftsbauten das Kloster Oetenbach mitsamt dem Hügel, auf dem es stand, abgerissen. Das projektierte Rathaus wurde jedoch nie fertiggestellt. Im Zuge der Stadterweiterung wurde um 1865 die Stampfenbachstrasse quer durch die Gartenanlage des Beckenhofs gebaut und der untere Teil parzelliert, nur das Südparterre des Gartens blieb unverändert. Aus der Modernisierung Zürichs entstand parallel die Sehnsucht nach der «guten alten Zeit», der die bürgerlichen Familien der Stadt mit der Einrichtung des Sechseläutens ein Denkmal setzten. Seit dem endgültigen Ende der politischen Funktion der Zünfte 1866 ziehen an diesem Fest alljährlich die Mitglieder der folkloristischen gegenwärtigen Zünfte in alten Kostümen durch die Stadt. Gleichzeitig war Zürich die erste Stadt im deutschsprachigen Raum, die Frauen ein vollwertiges Studium (mit Abschluss) ermöglichte. Die erste Absolventin war 1867 die Russin Nadezda Suslova. 1881 hatten die Gemeinden Zürich, Riesbach und Enge den Bau der Quaianlagen als Gemeinschaftswerk beschlossen. Die Ausführung wurde einer besonderen «Quaiunternehmung» übertragen und Arnold Bürkli zum leitenden Ingenieur berufen. In fünfjähriger Bauzeit wurden 216‘256 m² Land angeschüttet (Auffüllmaterial war der Abraum aus dem Tunnel der SBB Stadelhofen – Letten), Brücken über Limmat und Schanzengraben geschlagen und ein Arboretum angelegt. An der von Bürkli neu gestalteten Seepromenade wurden zahlreiche repräsentative Bauten errichtet. 1893–1895 wurde die Tonhalle im Stil des Pariser Trocadéro gebaut (teilweise abgebrochen 1938); daneben entstanden luxuriöse Apartmenthäuser, das Rote und das Weisse Schloss (1890–1894). Als Abschluss für die Bahnhofstrasse wurde 1880 ein repräsentatives Börsengebäude anstelle des letzten Turmes der Stadtbefestigung errichtet. Die rechte Seite der Stadt war vom Bauboom weniger betroffen. Hier konzentrierten sich die Neubauten auf die Rämistrasse, wo ab 1865 die «Zürcher Akropolis» das Hauptgebäude der ETH, die Kantonsschule und schliesslich noch die Universität (1914) platziert wurden. Am Heimplatz und am Bellevue siedelte sich mit dem Schauspielhaus und dem Opernhaus die Kultur an. Während also unmittelbar um die Altstadt prunkvolle Neubauten entstanden und am See wie am Zürichberg sich das Grossbürgertum in Appartementhäusern und Villen niederliess, wurden für die Arbeiterklasse im Sihlfeld, in Affoltern, Aussersihl, Wipkingen, Unterstrass und Riesbach grosse Mietskasernen-Quartiere errichtet. Limmatabwärts hatte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Industrie niedergelassen. Die Wohnbevölkerung Zürichs und der umliegenden Gemeinden wuchs sprunghaft. Die Altstadt beherbergte etwa um 1800 rund 10'000 Einwohner – 1900 waren es 25'920. Aussersihl hatte um 1800 nur 702 Einwohner, 1900 waren es bereits 52'089. Im Ganzen wuchs die Stadt von 17'243 Einwohnern (1800, inkl. später eingemeindete Vororte) bis auf 150'703 Einwohner (1900). Im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde auch die Verkehrsinfrastruktur der Stadt im Wesentlichen erstellt. Es entstanden zahlreiche Tramlinien sowie Eisenbahnverbindungen an beiden Seeufern und nach Oerlikon. Das Strassennetz der Stadt Zürich ist ebenfalls bis heute annähernd dasjenige des 19. Jahrhunderts geblieben – mit den bekannten Problemen. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges fand der Bauboom ein abruptes Ende. Viele Projekte wurden nicht mehr ausgeführt, beispielsweise das Rathaus an der Urania, die Überbauung der Sechseläutenwiese oder die Anlage eines neuen Kantonsparlaments beim Neumarkt. Siehe auch: Arnold Bürkli, Gottfried Semper, Gustav Gull Zürich während des Ersten Weltkrieges und der Zwischenkriegszeit Während des Ersten Weltkrieges war die Situation in Zürich angespannt. Insbesondere seit der Ankunft von Lenin im Februar 1916 entwickelte sich die Limmatstadt zum Zentrum der linksradikalen Agitation der deutschsprachigen Schweiz. Im April 1917 reiste Lenin schliesslich zurück nach Russland, um dort die Oktoberrevolution anzuführen. Die zurückgebliebenen radikalen Sozialisten wollten nun auch in der Schweiz baldmöglichst einen revolutionären Umsturz herbeiführen. Gleichzeitig galt aber auch der Führer des bürgerlichen Gegenpols jener Zeit, General Ulrich Wille als Zürcher, weshalb gerade in Zürich der «Klassenkampf» am heftigsten geführt wurde. Im Herbst 1918 entsandte der Bundesrat wegen der unruhigen Lage im Umfeld des Landesstreiks ein grösseres Truppenaufgebot nach Zürich, wodurch sich die momentane Krise aber eher noch verschärfte. Im Gegensatz zu anderen Städten kam es jedoch gerade in Zürich während des Landesstreiks zu keinen blutigen Zusammenstössen zwischen Militär und Streikenden. Die Anwesenheit von zahlreichen ausländischen Intellektuellen in Zürich führte während des Ersten Weltkrieges zu einer starken Befruchtung des lokalen Kulturlebens. James Joyce verfasste den grössten Teil seines Romans «Ulysses» in Zürich und ein kleiner Kreis von Intellektuellen begründete den Dadaismus. Es ist umstritten, inwiefern Schweizer Künstler die Einflüsse von aussen aufgenommen haben – immerhin veröffentlichte der Zürcher Eduard Korrodi 1918 in seinen «Schweizerischen Literaturbriefen» einen Aufruf zu einer Erneuerung der Schweizer Literatur. Der sogenannte Zürcher Expressionismus konzentrierte sich aber auf wenige Werke z. B. «Aufbruch des Herzens» von Karl Stamm, «Ein Rufer in der Wüste» von Jakob Bosshart oder «Die neue Schweiz» von Leonhard Ragaz. In den «goldenen» Zwanziger Jahren beschleunigte sich das rasante Wachstum der Stadt in ihren Aussenbezirken. In der Innenstadt, insbesondere im Talacker, entstanden moderne Geschäftsviertel mit Gebäuden im Stil des Bauhauses und der klassischen Moderne. Als Aushängeschilder galten insbesondere die Sihlporte und das neue Börsengebäude (1930). In den Aussenquartieren entstanden gleichzeitig ausgedehnte Wohnsiedlungen des genossenschaftlichen Wohnungsbaus. Das weitere Wachstum der Stadt und die finanziellen Probleme einiger Vorortsgemeinden führte 1929 zum Versuch, eine weitere Eingemeindung durch eine kantonale Volksinitiative herbeizuführen. 22 Vororte sollten in die Stadt Zürich einbezogen werden. Die Initiative wurde jedoch verworfen, weil einerseits die reichen Seegemeinden Kilchberg und Zollikon diese nicht wollten und andererseits in den Landgemeinden die Furcht vor einem weiter erstarkten Roten Zürich zu gross war. Als Kompromiss wurde 1931 eine kleine Eingemeindung angenommen, die mit einem innerkantonalen Finanzausgleich gekoppelt war. Am 1. Januar 1934 gingen Albisrieden, Altstetten, Höngg, Affoltern, Seebach, Oerlikon, Schwamendingen und Witikon in der Gemeinde Zürich auf. Durch die neue Gemeindeordnung wurde die Legislative der Gemeinde, der bisherige Grosse Stadtrat in Gemeinderat umbenannt. Da die bürgerlich geprägten Vororte die Dominanz des «Roten Zürich» und Steuererhöhungen fürchteten, blieb bis heute eine weitere politische Erweiterung der Stadt unmöglich, obschon die unkontrollierte «Wucherung» der Stadtagglomeration ungebremst anhielt. 1928 erreichte die Sozialdemokratische Partei erstmals eine absolute Mehrheit in Stadtrat (Exekutive) und Gemeinderat (Legislative). Die Stadt Zürich wurde so zum «Roten Zürich», zum sozialdemokratischen Aushängeschild der Schweiz. Dem Sozialdemokraten Emil Klöti gelang es, den amtierenden demokratischen Stadtpräsidenten Hans Nägeli, der seit 1917 im Amt war, in einer Kampfwahl zu verdrängen. Die sozialdemokratische Dominanz hielt bis 1949 an. Die sozialdemokratische Regierung wurde während der Weltwirtschaftskrise mehrfach schwer geprüft. Einerseits war Zürich als Industriestadt von der Arbeitslosigkeit besonders schwer betroffen, andererseits befand sich die sozialdemokratische Regierung in einer heiklen politischen Lage, wenn Streikaktionen und Arbeitskämpfe ein Eingreifen der staatlichen Ordnungsmacht nötig machten. Weit über Zürich hinaus für Aufmerksamkeit sorgte etwa die blutige Eskalation des Streiks der Heizungsmonteure 1932, bei dem die Polizei beim Helvetiaplatz von den Schusswaffen Gebrauch machte. Die Folge war ein toter, und viele schwerverletzte Arbeiter, was zu lautstarken Klagen über die «Blutnacht» gegen die sozialdemokratische Zürcher Regierung führte. Mit dem Aufkommen des Faschismus in Italien und des Nationalsozialismus im Deutschen Reich strömten wieder Emigranten nach Zürich. Zu den berühmtesten gehörten Ignazio Silone, Wolfgang Langhoff oder Thomas Mann. Das Schauspielhaus und der Europa-Verlag von Emil Oprecht wurden zu einem Treffpunkt der Emigranten und damit auch zur Zielscheibe der Kritik der Frontisten, der schweizerischen Nationalsozialisten. Das Schauspielhaus entwickelte sich durch die ausländische Prominenz zur weltweit bedeutendsten deutschsprachigen Bühne und zehrte noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg von diesem Ruf. Kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges fand in Zürich eine Landesausstellung statt, die als «Landi» 1939 zu einem wichtigen Element der geistigen Landesverteidigung umgedeutet wurde. Die Landesausstellung war ursprünglich als Schau der modernen Schweiz geplant, wurde jedoch zu einer «Manifestation nationalen Selbstbehauptungswillens der Schweiz». Tausende von Schweizerinnen und Schweizern besuchten in Zivil oder als Militärangehörige diese Ausstellung, wodurch sie zu einem Teil des kollektiven Gedächtnisses der sogenannte «Aktivdienst-Generation» wurde. In Zürich trafen aber auch die ideologischen Gegensätze der Zwischenkriegszeit hart aufeinander. Im Herbst 1938 eskalierte die Lage nach einem Fackelzug der Nationalen Front in einer Massenschlägerei. Die Stadt verbot darauf Kundgebungen der Nationalen Front wie auch der kommunistischen Partei KPS. Auch den Priestern und Pfarrern wurde nahegelegt, dass sie «ihre Wortverkündungen freihalten sollen von jeder Vermischung mit politischen Anschauungen». Erlaubt waren nur noch Kundgebungen gegen «unschweizerische Umtriebe», die ganz im Sinne der geistigen Landesverteidigung standen. Einer der meistzitierten Anlässe dieser Art war der Vortrag «Das Gebot der Stunde», den Karl Meyer am 22. September 1938 vor 3000 Zuschauern hielt. Erst der Ausbruch des Krieges 1939 beendete Aufruhr und Streiks für längere Zeit. Siehe auch: Landesstreik, Rotes Zürich Der Zweite Weltkrieg und Nachkriegszeit 1939–1968 Die Stimmung blieb bei Kriegsausbruch zuerst relativ ruhig. Erst als am 10. Mai 1940 bekannt wurde, dass die deutsche Wehrmachtstruppen die Grenzen zu Holland und Belgien überschritten hatten, kam es zu einer regelrechten Massenpanik. Vor allem die oberen Schichten verliessen die Stadt in Richtung Innerschweiz. Aber auch viele Emigranten und Juden versuchten sich vor einem befürchteten Einmarsch aus dem Hitlerreich in Sicherheit zu bringen. Mit fortschreitender Dauer des Krieges wuchs die Sorge vor dem Bombenkrieg. Zürich verfügte praktisch über keine öffentlichen Schutzräume und die Keller der meisten Häuser boten nur bedingt Schutz. Glücklicherweise wurde die Stadt nur Opfer versehentlicher Bombenabwürfe, so am 27. Dezember 1940 und am 4. März 1945. Bis heute wird aber weiter spekuliert, die Bomben seien ein «Warnschuss» wegen der Waffenlieferungen gewesen, die von der Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon, im Volksmund «Oerlikon-Bührle», an das Dritte Reich gingen. Der «Plan Wahlen», der eine Steigerung der Selbstversorgung der Schweiz mit Nahrungsmitteln zu erreichen suchte, hatte zur Folge, dass auf allen grösseren freien Flächen in Zürich Äcker angelegt sowie über 1000 Hektaren Wald gerodet und in Landwirtschaftsfläche umgewandelt wurden. Weitere Probleme waren die Kohleknappheit und die vom Deutschen Reich aufgezwungene Verdunkelung. Sinnbild des Burgfriedens der Parteien in der Schweiz war 1943 die Wahl des sozialdemokratischen Zürcher Stadtpräsidenten Ernst Nobs in den Bundesrat. Damit entstand die Konkordanz der schweizerischen Bundesratsparteien, die schliesslich in der sogenannten Zauberformel mündete. Da die sozialdemokratische Stadtregierung für die unmittelbare Nachkriegszeit mit einer hohen Arbeitslosigkeit rechnete und die Stadtkasse gut gefüllt war, erhöhte man die Sozialausgaben grosszügig und förderte den Wohnungsbau massiv. Die ersten Gemeinderatswahlen nach dem Krieg brachten denn auch einen neuerlichen Grosserfolg der Sozialdemokratie. Nachfolger von Ernst Nobs als Stadtpräsident wurde Adolf Lüchinger. Die Zeit unmittelbar nach dem Krieg brachte Zürich viel Neues, aber auch Ängste. Neu waren die zahlreichen amerikanischen GI's, welche in ihren Ferien Zürich besuchten. In einer vielbeachteten Rede verkündete Winston Churchill am 19. September 1946 in der Aula der Universität seine Vision von einem vereinigten Europa. Auf der anderen Seite figurierten viele Zürcher Industriebetriebe auf schwarzen Listen der Alliierten und befürchteten Sanktionen. Die hohe Nachfrage nach Arbeitskräften brachte seit den 1950er Jahren zunehmend ausländische Arbeitskräfte und damit fremde Kulturen nach Zürich. Das Kriegsende brachte Zürich nicht die befürchtete Arbeitslosigkeit, sondern einen Boom sondergleichen: Vollbeschäftigung und explosives Wachstum von Bebauung, Verkehr und Wohlstand. Erstes sichtbares Zeichen der neuen Zeit war die Bewilligung von 37 Millionen Franken durch das Stimmvolk für die Errichtung des interkontinentalen Flughafens Zürich-Kloten am 5. Mai 1946. Seit 1949 führte die nationale Fluggesellschaft Swissair regelmässige Flüge zwischen Zürich und New York durch. Ganze Stadtquartiere wie der Kreis 4 verwandelten sich durch die starke Zuwanderung von bisher schweizerisch geprägten Arbeiterquartieren in multikulturelle Schmelztiegel. Dieser Wandel weckte bei vielen eingesessenen Schweizern Ängste und schürte soziale Spannungen. Dazu kam die Wohnungsnot und die rasche Veränderung und Modernisierung der Jugend. Zahlreiche zeitgenössische Filme wie «Bäckerei Zürrer» oder «Hinter den sieben Gleisen» zeigen das damalige Zürich mit all seinen Problemen. Das Wachstum der Bevölkerung hielt bis 1962 an und brachte der Stadt mehrere «Jahrringe» von Wohnüberbauungen, vor allem in Richtung Albisrieden/Altstetten und im Norden in Oerlikon und Schwamendingen. Bahnbrechend für den Wohnungsbau waren damals die Wohnhochhäuser der Architekten Karl Flaz und Albert H. Steiner im Lochergut und am Letzigraben. Auch die Innenstadt erfuhr weitere Veränderungen. Im Talacker mussten praktisch alle Patrizierhäuser neuen Geschäftsbauten weichen. Besonders tragisch war der Abriss des 1816/19 von Hans Conrad Stadler erbauten «Haus Sihlgarten», dessen Erhaltung in einer Volksabstimmung scheiterte. Prägend war weiter die «Aktion Freie Limmat». Alle störenden Einbauten in die Limmat sollten beseitigt werden und beiderseits eine moderne, breite Strasse den zunehmenden Autoverkehr aufnehmen. Aus diesem Grund wurden 1949 und 1950 alle Gebäude am unteren und oberen Mühlesteg abgerissen; die alte Fleischhalle beim Rathaus musste ebenfalls weichen. Die Werdinsel, auf der das alte Kaufhaus Globus stand, die mit der Bahnhofsbrücke und einer kleineren Brücke, dem «gedeckten Brüggli», mit dem Rest der Stadt verbunden war, wurde grundlegend umgestaltet. Heute fliesst anstelle der Limmat der Verkehr unter dem erweiterten Bahnhofplatz hindurch, die Insellage ist verloren. Anstelle des einstigen Kaufhauses Globus steht heute noch das sogenannte «Globus-Provisorium», das ursprünglich eigentlich nach dem Umzug des Globus an den Löwenplatz hätte abgerissen werden sollen. Die heute international wieder salonfähigen Trams waren in Zürich während der Nachkriegszeit mehrfach bedroht. 1962 lehnte das Stimmvolk die sogenannte Tiefbahn-Vorlage ab, die vorsah, in der Innenstadt alle Trams unter die Erde zu verlegen. Danach konzentrierte sich der Stadtrat auf den Bau einer U-Bahn, die jedoch 1973 in einer Volksabstimmung ebenfalls scheiterte. Vom damaligen Verkehrskonzept konnte bis heute einzig die S-Bahn verwirklicht werden. Überhaupt ist die Verkehrspolitik in Zürich von nicht umgesetzten Projekten geprägt. Die Verknüpfung der Autobahnen A1 und A3 in der Innenstadt im sogenannten Ypsilon am Zusammenfluss von Sihl und Limmat wurde 1960 in die Nationalstrassenplanung aufgenommen. Dazu sollten die Autobahnen als «Stadtautobahnen» ins Zentrum geführt werden, die A3 auf Stelzen über dem Fluss Sihl von der Brunau bis zum Hauptbahnhof. Zweimal verloren die Gegner dieser Pläne 1974 und 1977 Volksabstimmungen, trotzdem wurden die Pläne nie vollständig verwirklicht. Der Südast des Ypsilon, die Sihlhochstrasse, endet bis heute im Sihlhölzli, der Nordast mit dem Milchbucktunnel bei der Limmat, der Westast an der Hardbrücke. Die Autobahnen wurden stattdessen mit Umfahrungen verknüpft, 1985 die A1 von Bern nach St. Gallen mit der Nordumfahrung, 2009 die A3 von Chur und die A4 von Luzern mit der A1 durch die Westumfahrung bzw. den Üetlibergtunnel. Nach dem Burgfrieden der Kriegszeit brachen die politischen Konflikte 1945 erneut aus. Arbeitskonflikte und Streiks drohten das soziale Klima erneut zu vergiften. Besonders anlässlich des kommunistischen Umsturzes in Prag 1948 oder des Ausbruchs des Koreakrieges kam es zu Protesten und Konflikten zwischen Anhängern der kommunistisch-orientierten Partei der Arbeit und bürgerlichen Antikommunisten. Der Stimmungsumschwung in der Bevölkerung angesichts der kommunistischen Bedrohung Westeuropas brachte 1949 auch das Ende des «Roten Zürich». Nach dem Tod Adolf Lüchingers wurde der bürgerliche Emil Landolt zum Stadtpräsidenten gewählt. Im folgenden Jahr büsste die SP auch ihre Mehrheit im Stadtrat ein, blieb aber stärkste Partei. Aus diesem Grund bedeutete auch die folgende «Ära Landolt» bis 1966 keinen grundlegenden Wechsel in der Kommunalpolitik. Neu war allenfalls die nötige Kompromissbereitschaft in den politischen Lagern, wenn es galt, wichtige Fragen zu entscheiden. Der aufkommende Antikommunismus erlebte seinen Höhepunkt anlässlich des Ungarnaufstandes im Jahr 1956. In Zürich fanden mehrere grosse Solidaritätskundgebungen für die Ungarn statt. Politisch bedeutete der Ungarnaufstand das Ende der Partei der Arbeit als starke politische Kraft in Zürich. Die neue Wehrbereitschaft und eine neue geistige Landesverteidigung, nun gegen Links, fanden ihren Ausdruck in einer breit verankerten Armeebegeisterung. Zu einem der vielen Armeedefilees der damaligen Zeit in Dübendorf im Herbst 1963 fanden sich 300'000 Zuschauer ein. Siehe auch: Geistige Landesverteidigung, Flughafen Zürich, Oerlikon-Bührle, Hochhäuser in Zürich Globus- und Opernhauskrawalle, Jugendprobleme und Drogenszene Die Phase der Hochkonjunktur der unmittelbaren Nachkriegszeit begann sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre abzuschwächen. Vielerorts kam Unbehagen auf. So kritisierte Karl Schmid in seiner Schrift «Unbehagen im Kleinstaat» die Stimmung des Kalten Krieges und die Jugend verlangte nach einer kritischeren Hinterfragung von Autorität. Unter dem Begriff «Die Unwirtlichkeit unserer Städte» (Alexander Mitscherlich) wurden die negativen Folgen der Suburbanisierung und die immer weitergehende Zerstörung der alten Bausubstanz in der Innenstadt thematisiert. Gleichzeitig bewahrte die Stadt politisch mit dem langjährigen Stadtpräsidenten Sigmund Widmer 1966–1982 erstaunliche Kontinuität. Als Signal für die 68er-Bewegung in Zürich gelten die politische Affäre um den Polizisten «Meier 19» und das Rolling-Stones-Konzert im Hallenstadion von 1967 (1. Monsterkonzert), das in wüsten Krawallen endete. Im Sommer 1968 kam es auch an der Zürcher Universität zu Demonstrationen nach französischem und deutschem Vorbild. Seit 1963 waren auch in Zürich kritische Studierende organisiert; im Frühling 1968 erfolgte dann die Gründung der Fortschrittliche Arbeiter und Studentenschaft (FASS). In der Nacht vom 31. Mai auf den 1. Juni 1968 kam es im Anschluss an ein Konzert von Jimi Hendrix (2. Monsterkonzert) im und vor dem Hallenstadion zu massiven Ausschreitungen zwischen Konzertbesuchern und der Polizei, die in Erinnerung an das Rolling-Stones-Konzert im Vorjahr mit einem Grossaufgebot angerückt war. Die FASS kritisierte den harten Polizeieinsatz heftig. Im leerstehenden Globus-Provisorium organisierte die FASS darauf ein zweitägiges Fest, das mit einer illegalen Besetzung der Liegenschaft endete. Sie sollte als «Autonomes Jugendzentrum» der Jugend der Stadt den nötigen Raum für eine alternative Kulturentwicklung bieten und solange besetzt bleiben, bis die Stadtbehörden ein geeigneteres Lokal für Grossveranstaltungen bereitstellen würden. In den bürgerlichen Kreisen der Stadt kam es darauf zu empörten Reaktionen, insbesondere die NZZ setzte sich für eine harte Linie ein. Der Stadtrat leitete solcherart unter Druck gesetzt Gegenmassnahmen ein, die ab dem 26. Juni 1968 in mehrtägigen Strassenschlachten zwischen Polizei und Demonstranten endeten, den sogenannten Globuskrawallen, in denen die Polizei mit massivem Gewalteinsatz die Jugendbewegung zu zerschlagen suchte. Die zweite Krawall-Welle erlebte Zürich zu Beginn der 1980er Jahre. Sie werden als «Achtziger-Jahre-Unruhen», «Opernhauskrawalle» oder «Jugendunruhen» bezeichnet. Im Zentrum dieser Auseinandersetzungen zwischen der Stadtregierung, der Polizei und der sogenannten Jugendbewegung stand die Verfügbarkeit von Räumlichkeiten für die alternative Jugendkultur. Die Jugendlichen forderten, dass die Stadtbehörden das Kulturzentrum Rote Fabrik in Wollishofen oder ein anderes Gebäude für ein Autonomes Jugendzentrum zur Verfügung stellen müssten. Zu ersten Krawallen kam es anlässlich eines Volksfestes am 30. Mai 1980, an dem für eine Zustimmung zu einer 61 Millionen-Franken-Subvention für die Renovation des Zürcher Opernhauses geworben werden sollte. Die Proteste richteten sich dagegen, dass Millionen für «etablierte», aber nichts für die «alternative» Kunst ausgegeben werde. Das Bob-Marley-Konzert am selben Tag heizte die Stimmung zusätzlich an. Im Unterschied zu den 68er-Unruhen waren nicht Akademiker die Träger des Protests, sondern eine «Jugendbewegung», wie sie sich selbst nannte. Nach mehreren Wochen anhaltender Strassenschlachten (dokumentiert im Film «Züri brännt» des Videoladen Zürich) gab der Stadtrat am 28. Juni 1980 nach und übergab eine leerstehende Fabrik an der Limmatstrasse (beim heutigen Carparkplatz) als Autonomes Jugendzentrum (AJZ) an die Jugendbewegung. Das Zentrum wurde von der Stadtzürcher SPS, den beiden Landeskirchen und der Pro Juventute geleitet. Als am 4. September 1980 die Polizei mit massivem Aufgebot in der Nacht das AJZ stürmte, durchsuchte und 140 dort übernachtende Jugendliche festnahm, kam es am 5. September 1980 zu den bis dahin schwersten Unruhen in der Geschichte der Stadt Zürich. Wegen der anhaltenden Probleme mit Drogen, den ständigen Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei und den Protesten aus der Bevölkerung beschloss der Zürcher Stadtrat am 23. März 1982, das AJZ, den «Schandfleck von Zürich», zu schliessen und abzureissen. Hauptproblem des AJZ war der unkontrollierbare Konsum harter Drogen, die Geburtsstunde der offenen Drogenszene in Zürich. Die Schliessung war aber auch Ausdruck einer politischen Trendwende. Bei den Gemeinderatswahlen im Frühjahr 1982 ergab sich zum ersten Mal seit 53 Jahren wieder eine bürgerliche Mehrheit. Stadtpräsident Sigmund Widmer musste nach 16 Amtsjahren den Hut nehmen und wurde von Thomas Wagner abgelöst. In seinem Lied Auf der Flucht (aus dem Album «Einzelhaft» von 1982) nimmt Falco auf die Situation in der Stadt Bezug: «Zürich, Limmatquai / Neunzehnhundertachtzig zwei / Alles ist in Ordnung / Nichts an Platz / Ein Ende hat's mit dem Rabatz [...] Und am Seeufer kein Feuer, aha». Die «Endlösung der Zürcher Jugendfrage» (so der Titel einer behördenkritischen Publikation von 1983) löste neue Unruhen aus. Noch bis in die 1990er Jahre bleiben in Zürich die offene Drogenszene, zuerst am Platzspitz, dann am Bahnhof Letten und die Verwahrlosung des ganzen Kreis 5 ein grosses Problem. Zum neuen Sammelpunkt der alternativen Jugendszene entwickelten sich zwischen 1991 und 1993 die seit 1989 leerstehenden Gebäude der Fabrik Wohlgroth beim Bahnhof Zürich. Deren riesenhaftes Graffiti «Zureich» als Parodie auf das Bahnhofsschild «Zürich» der SBB wurde zeitweise fast schon zu einem alternativen Wahrzeichen von Zürich. Siehe auch: 68er-Bewegung, Jugendbewegung, Globuskrawall, Jugendunruhen in der Schweiz Zürich wird gebaut! – Die 1990er Jahre und die Jahrtausendwende Nach der konservativen Wende 1982 sah sich der Stadtrat politisch zunehmend blockiert, was insbesondere angesichts der dringenden Probleme der Stadtentwicklung problematisch war. In der Innenstadt verdrängten Büros und Einkaufszentren zunehmend die Einwohner und die alten Kleinbetriebe, in den Kreisen 4 und 5 drohte die völlige Verslumung, weil einerseits die grossen Industriebetriebe die Stadt verliessen oder verschwanden und andererseits die Drogenszene und die sie begleitende Kriminalität ganze Quartiere unbewohnbar machten. Grosse Neubauprojekte wie die Neugestaltung des Areals der alten Infanterie-Kaserne (Volksabstimmung vom 12. Dezember 1973) oder HB-Südwest wie auch die Neugestaltung der Industriebrachen zögerten sich hinaus oder waren blockiert. Problematisch war auch weiterhin die Verkehrssituation. Vereinzelt gelang es zwar, einzelne Quartiere ganz oder teilweise vom Durchgangsverkehr zu befreien, wie das Niederdorf, Gesamtlösungen oder Perspektiven gab es jedoch keine. Die langjährige Baudirektorin der Stadt Zürich, Ursula Koch, fasste die Situation im berühmt gewordenen Satz «Zürich ist gebaut» zusammen. Erst durch die Wahl von Josef Estermann (SP) zum Stadtpräsidenten 1990 änderte sich die Lage wieder. Unter seiner Regierung gelang es, die politische Blockade zu überwinden und pragmatische Lösungen durchzusetzen. Im Februar 1992 wurde die offene Drogenszene auf dem Platzspitz («Needlepark») geräumt. Dies führte kurzfristig zu einer Verlagerung der Drogenszene in den Kreis 5 und den stillgelegten Bahnhof Letten, der jedoch nach der Einführung der sogenannten «Heroingestützten Behandlung», d. h. der Abgabe von Heroin an Schwerstsüchtige, 1995 ebenfalls geräumt wurde. Seither konnte eine Neubildung der offenen Drogenszene erfolgreich verhindert werden. Den Ruf Zürichs als Ausgehmetropole und Partystadt begründete die Liberalisierung des Gastgewerbegesetzes 1998, wodurch die sogenannte Bedürfnisklausel aufgehoben wurde. Seither ist die Zahl der Gastro-Betriebe nicht mehr beschränkt, was innerhalb kürzester Zeit zu einer starken Belebung des Nacht- und Partylebens führte. Gleichzeitig endete damit die Hochzeit der illegalen Partys und Bars. Der faktische Baustopp in Zürich endete 1992 mit der ersten neuen Bau- und Zonenordnung (BZO) seit 1893 (Kernzone) bzw. 1963 (restliches Stadtgebiet). Die Neubebauung der Industriebrachen in «Zürich West» kam zwar bereits unter Ursula Koch in Gang (Technopark 1991–1993, Steinfels-Areal 1993), als eigentlicher Auslöser des bis heute andauernden Baubooms muss aber die Initiative des «Stadtforums» durch Stadtpräsident Estermann 1996 angesehen werden. Damit wurde ein runder Tisch etabliert, der die verhärteten Fronten im Kampf um die Bau- und Zonenordnung aufweichte und Gespräche zwischen den städtischen Behörden und den privaten Bauherrschaften erlaubten. Mit dem neuen Baudirektor Elmar Ledergerber begannen 1998 dann die grossflächigen Umgestaltungen auf den weitläufigen Arealen der ehemaligen Industriebetriebe in Zürich West, in der Enge (Sihlcity) und in Oerlikon. Zürich wurde durch die rasante Modernisierung seit Mitte der 1990er Jahre zu einer pulsierenden Metropole, der die städtische Tourismusorganisation den Slogan «Downtown Switzerland» verpasste. Seit der Jahrtausendwende werden in Zürich auch wieder Hochhäuser gebaut, der 2011 fertiggestellte Prime Tower beim Bahnhof Hardbrücke ist mit 126 m das zweithöchste Gebäude der Schweiz. Mit dem Getreidesilo von Swissmill (118 m) ist ein weiteres Gebäude über 100 m in der Stadt entstanden. Der langfristige Verlust von zahlreichen Arbeitsplätzen in Zürich durch das Verschwinden der Industrie und den Niedergang der Swissair wurde grösstenteils durch das Wachstum des Dienstleistungsbereichs, insbesondere des Bankensektors kompensiert. Die Abhängigkeit der Stadt Zürich vom Geschäftsgang der Banken und Versicherungen hat sich dadurch noch einmal dramatisch verschärft. Bis zu 50 % der Steuereinkünfte der Stadt Zürich stammen mittlerweile aus dem Bankensektor. Seit den 1950er Jahren wurde der motorisierte Individualverkehr zu einem immer grösseren Problem für Zürich. Zur Befreiung der Stadt vom Durchgangsverkehr war seit 1960 eine Kreuzung von drei Autobahnen Richtung Winterthur/St. Gallen, Bern/Basel und Chur über dem Platzspitz vorgesehen. Teile der Autobahn sollten auf Stelzen über der Sihl von der Enge ins Zentrum geführt werden. Das Projekt mit der Bezeichnung «Ypsilon» kam jedoch nur teilweise zur Ausführung. 1974 wurde die unvollendete Sihlhochstrasse eröffnet, die den Verkehr der Autobahn A3 in das Quartier Wiedikon führt. 1985 folgte die Fertigstellung des Nordrings, so dass der Durchgangsverkehr zwischen St. Gallen und Bern um die Stadt herumgeführt werden konnte. Bis zur Eröffnung des Westrings 2009 wurde aber weiter der Verkehr zwischen Bern/Basel und Chur durch die Stadt geführt. Nach dem momentan geltenden «Zürcher Modell» soll vorläufig auf die Verbindung der Autobahnenden durch einen «Stadttunnel» (zwischen Schwamendingen und Sihlhölzli) und einen «Westast» (zwischen Hard und Milchbucktunnel) verzichtet werden. Die Verkehrssituation in Zürich in den 1980er und 1990er Jahren war nicht zuletzt deshalb dramatisch, weil 1973 die geplante U-Bahn für Zürich vom Stimmvolk abgelehnt worden war (mit dem Tramtunnel Milchbuck–Schwamendingen wurde nur ein kurzer Abschnitt verwirklicht) und die etwa 1960 einsetzende Stadtflucht die Problematik verschärften. Die Eröffnung der Zürcher S-Bahn 1990 brachte zwar eine gewisse Entlastung, verstärkte jedoch den Pendlerstrom via Bahn aus dem Zürcher Oberland und dem Sihltal in die Stadt und bewirkte im Endeffekt nicht die gewünschte Umlagerung vom Individualverkehr auf die Schiene. Die chaotischen Verkehrsverhältnisse bremsten ab etwa 1980 die Landflucht zwar, bis 1989 sank aber die Bevölkerung bis auf 355 901, bevor die Revitalisierung der Innenstadt um die Jahrtausendwende eine Trendwende bewirkte. Das seither anhaltende markante Wachstum wird bis ca. 2020 dazu führen, dass die Stadtbevölkerung die bisherige Rekordmarke von 1962 von 440 180 Personen erreichen wird. Die steigende Nachfrage nach Wohnraum und die anhaltende gute wirtschaftliche Entwicklung bewirkte in den 2000er Jahren den Zuzug verhältnismässig wohlhabender Bevölkerungsgruppen in die Innenstadt, wo es deshalb teilweise zu einer Verdrängung der bisherigen Wohnbevölkerung kam. Für diesen Prozess wurde 2009 der Begriff «Seefeldisierung» geprägt, obwohl auch andere Stadtquartiere betroffen waren. Gerade wegen der konstant hohen Steuereinnahmen der natürlichen Personen und den hohen Erträgen aus Grundstückgewinnsteuern befindet sich die Stadt jedoch trotz der weltweiten Finanzkrise 2009 und sinkenden Erträgen aus dem Bankensektor finanziell in einer vergleichsweise guten Lage und es konnten sogar moderate Überschüsse erwirtschaftet werden. Die von bürgerlichen Parteien Ende 2018 geforderte Senkung des Steuerfusses fand jedoch keine Mehrheit im Gemeinderat. Siehe auch Liste der Zürcher Persönlichkeiten – berühmte Zürcher und Zürcherinnen Liste der Bürgermeister der Stadt Zürich – vollständige Liste der Bürgermeister und Stadtpräsidenten Archäologische Fenster in Zürich Kirchen und Klöster in der Stadt Zürich im Mittelalter Territoriale Entwicklung Zürichs – Liste der Ober- und Landvogteien der Stadt Zürich Literatur Regine Abegg, Christine Barraud Wiener: Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich. Die Stadt Zürich, Band II.I. Altstadt Links der Limmat, Sakralbauten. 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Kleinspecht
Der Kleinspecht (Dryobates minor, Syn.: Dendrocopos minor) ist eine Vogelart aus der Gattung der Buntspechte (Dendrocopos). Diese gehören zur Unterfamilie der Echten Spechte in der Familie der Spechte (Picidae). Die Art zählt mit einer Körperlänge von rund 15 cm zu den kleinsten Echten Spechten. Sie ist in 11 Unterarten über die gesamte westliche und nördliche Paläarktis bis an die asiatische Pazifikküste verbreitet. In Mitteleuropa ist der Kleinspecht ein verbreiteter, aber nicht häufiger Brutvogel. Wie viele kleine Spechte sucht der Kleinspecht seine Nahrung vor allem im äußeren Astbereich der Baumkronen und ist daher nur schwer festzustellen. Von einigen Autoren wird er gemeinsam mit drei in Nordamerika vorkommenden Kleinspechten der Gattung Dryobates zugerechnet. Aussehen Der Kleinspecht ist ein typischer Vertreter der Buntspechte mit schwarz-weiß kontrastierendem Gefieder, trotzdem ist er in der West- und Zentralpaläarktis auf Grund seiner Kleinheit unverwechselbar. Obwohl nur etwa gimpelgroß, wirkt der kompakte, kurzhalsige und kurzschwänzige, rundliche Vogel wuchtiger und größer. Der Kleinspecht ist der einzige europäische und westasiatische Buntspecht, der keine Rot- oder Rosazeichnung in der Steißgegend und an den Unterschwanzdecken aufweist. Auch die sonst bei allen Buntspechten, außer dem Weißrückenspecht, auffälligen weißen Schulterflecken fehlen beim Kleinspecht. In der Rückenansicht erinnert er an den Weißrückenspecht, von dem er sich aber ebenfalls durch seine Kleinheit deutlich unterscheidet. Männchen der in Mitteleuropa heimischen Unterart D. m. hortorum tragen eine ziegelrote, schwarz gerandete Kappe. Das weiße, zuweilen leicht cremegelbe Gesicht ist von einem deutlichen schwarzen Zügel, einem Bartstreif und einem Wangenstreif gesäumt; letzterer verbindet sich aber nicht mit dem schwarzen Nackenband. Die Stirn ist weiß, der für die Körpergröße des Spechtes mit bis zu 18 Millimetern recht lange Schnabel ist schiefergrau. Die Schultern sind schwarz, der Rücken ist weiß und weist eine leiterartige, schwarze Bänderung auf. Die Verteilung der Weiß- und Schwarzanteile des Rückens stellt eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zwischen den Unterarten dar. Die Oberseite der Hand- und Armschwingen ist auf schwarzem Grund deutlich weiß gebändert. Der zusammengelegte Schwanz ist auf der Oberseite schwarz, auf der Unterseite weiß, mit schwarzer Bänderung. Die beiden äußersten Steuerfedern sind weiß und tragen deutliche schwarze Abzeichen. Die Unterseite dieser Unterart ist sehr hell, fast weiß; nur die Brust zeigt einen leicht gelblichen Farbton. Die Flanken sind deutlich schwarz längsgestrichelt. Die Geschlechter unterscheiden sich im Gewicht nicht, in der Farbzeichnung nur durch die Färbung des Scheitels, der beim Weibchen bis auf eine cremeweiße, individuell sehr unterschiedlich große, Stirnpartie, einheitlich schwarz ist. Diese isabellfarbene Zeichnung über dem Schnabelansatz reicht beim Weibchen bis zum Vorderscheitel, bei der Nominatform und der in Mitteleuropa verbreiteten Rasse D. m. hortorum bis zur Mitte des Oberschädels. Das Jugendgefieder ähnelt dem Weibchengefieder, ist aber blasser. Maße und Körpermasse Die Länge des Kleinspechtes variiert zwischen den Unterarten: Die Unterart D. m. kamtschatkensis ist mit bis zu 16 Zentimetern die größte, D. m. quadrifasciatus mit knapp 14 Zentimetern die kleinste. Die Spannweite liegt zwischen 24 und 28 Zentimetern. Das Gewicht beider Geschlechter schwankt zwischen 20 und 25 Gramm. Alter Der älteste Ringvogel in Mitteleuropa war ein mind. 10-jähriges Weibchen in Schweden. Zudem wurde in der Schweiz ein 7 Jahre und 3 Monate altes Exemplar gefunden. Ein im Geburtsjahr beringter Vogel wurde nach etwa sechs Jahren 60 Kilometer von Beringungsort entfernt wiedergefunden. Verwechslungsmöglichkeiten In Europa, West-, Südwest- und in Zentralasien bestehen keine Verwechslungsmöglichkeiten. Lediglich im äußersten Ostasien überlappt das Verbreitungsgebiet des Kleinspechtes mit zwei ähnlich großen Buntspechten, dem Kizukispecht (Dendrocopos kizuki) und dem Grauscheitelspecht (Dendrocopos canicapillus). Der erstere hat bei sonst ähnlichem Aussehen deutlich braune Ohrdecken und eine braune Brust, letzterer unterscheidet sich durch einen deutlich grauen Scheitel und braune Gesichtszeichnungen vom Kleinspecht. Stimme Beide Geschlechter des Kleinspechtes sind fast während des gesamten Jahres sehr ruffreudig. Der Höhepunkt der gesanglichen Aktivität liegt jedoch im Spätwinter und im zeitigen Frühjahr. Da der Specht sich häufig in den Baumkronen aufhält und einige seiner Lautäußerungen eher leise sind, kann er leicht überhört werden. Hauptruf beider Geschlechter, vor allem aber des Männchens, ist ein gereihtes, helles, auf einer Tonhöhe bleibendes Kikikiki, das aus mindestens 8, meist aber mehr (bis zu 20) Einzelelementen besteht. Es erinnert entfernt an die Rufreihe des Turmfalken, ist aber etwas leiser, höher und die Einzelelemente folgen schneller aufeinander. Häufig und das ganze Jahr über ist ein buntspechttypisches Kixen vernehmbar; es ist heller und leiser als das anderer Buntspechte. In Aggressions- und sonstigen Erregungssituationen kann es zum Schelten gereiht werden. Der typische Kontaktruf, der allerdings nur aus unmittelbarer Nähe wahrgenommen werden kann, ist ein einfaches, kurzes Chack oder Tjak. Beide Geschlechter des Kleinspechtes trommeln. Dieser Instrumentallaut dient vor allem im Spätwinter und im zeitigen Frühjahr der Revierabgrenzung. Meist dienen dürre Äste als Resonanzkörper, gelegentlich aber auch Metallabdeckungen von Telegraphenmasten oder Fernsehantennen. Die leisen, hohen, sehr schnellen und gleichmäßigen Trommelwirbel bestehen aus bis zu 30 Schlägen und dauern fast 2 Sekunden. Bis zu 15 Wirbel können in einer Minute erfolgen. Das Trommeln der Weibchen ist etwas langsamer und kürzer; die Abstände zwischen den Wirbeln sind größer. Verbreitung Das große Verbreitungsgebiet des Kleinspechts reicht von Nordafrika, wo die Art in einem kleinen Restvorkommen in Ostalgerien und Tunesien vertreten ist, über Spanien, Portugal und Frankreich, ganz Mitteleuropa und den größten Teil Nordeuropas quer durch Russland bis Kamtschatka, Sachalin, Hokkaidō, die Mandschurei und Nordkorea. Im Nordwesten erreicht die Art England und Wales, brütet aber nicht in Schottland und Irland. Im Süden und Südosten sind weite Teile Italiens, Ungarn und der Balkan, die Küstengebirge der Türkei, das Kaukasusgebiet und Transkaukasien sowie der Nordiran und Teile des Zagros-Gebirges besiedelt. Bis auf ein kleines Vorkommen im Süden Sardiniens kommt die Art auf keiner Mittelmeerinsel vor. Dänemark ist erst seit den frühen 1960er Jahren Brutgebiet; es wird kontinuierlich von Norden mit Vögeln der Nominatform und vom Süden mit Spechten der Unterart D. m. hortorum besiedelt. Im Winter befinden sich in Dänemark wichtige Winterquartiere nordeuropäischer Vögel. Die Nordgrenze folgt weitgehend der Waldgrenze und fällt von etwa 70 Grad Nord in Norwegen nach Osten stetig bis auf 60 Grad Nord ab. Die Südgrenze wird von den Steppen und Wüstengebieten Zentral- und Ostasiens gebildet. Die dichteste Verbreitung liegt in der planaren und collinen Stufe. Bedeutend seltener brüten Kleinspechte in Mitteleuropa in höhergelegenen Gebieten. Der höchstgelegene Brutplatz in Mitteleuropa wurde in Österreich auf 1.440 Metern im Toten Gebirge in der Steiermark festgestellt. Am Olymp sind Brutplätze aus über 1.600 Metern Höhe bekannt. Regelmäßig bis an 2.000 Metern Höhe und darüber brüten Kleinspechte im Kaukasus und im Nordiran. Wanderungen Der Kleinspecht ist abhängig von seinem Vorkommen Standvogel, Strichvogel oder Zugvogel. Nordische Populationen ziehen regelmäßig nach Süden; so überwintern viele schwedische und norwegische Kleinspechte auf Jütland und in Norddeutschland. Gelegentlich kommt es, meist parallel zu Buntspechtinvasionen, zu starken Einflügen nordischer Kleinspechte nach Mitteleuropa; die letzte große Invasion fand im Winter 1962/1963 statt, als einige Kleinspechte der Nominatform auch am Randecker Maar festgestellt wurden. In Mitteleuropa sind die Vögel der Unterart D. m. hortorum weitgehend Standvögel. Das Jugenddispersal ist wenig erforscht, Ansiedlungen in Distanzen von mehr als 20 Kilometern vom Geburtsort scheinen jedoch häufig vorzukommen. Lebensraum Der Kleinspecht stellt relativ hohe Ansprüche an seinen Lebensraum. Er bevorzugt Waldgebiete und Gehölze mit einem guten Bestand an alten, grobborkigen Laubbäumen. Weichholzarten wie Pappeln, Weiden und Erlen sind wichtig, ebenso ein hoher Anteil an stehendem Totholz und Bäumen in ihrer Zerfallsphase. Weiterhin sind einige hohe, isoliert stehende Laubbäume wichtige Requisiten eines guten Kleinspechthabitats. Solche Biotope findet die Art am ehesten in Auwaldgebieten, in Erlenbrüchen oder feuchten Eichen-Hainbuchenwäldern, in forstwirtschaftlich vernachlässigten Waldgebieten oder in der collinen und montanen Stufe in sonnenexponierten laubholzreichen Hanglagen mit hohem Totholzanteil. Im Norden und in der östlichen borealen Zone bewohnt er lockere Birken- und Erlengehölze, im Süden vor allem lichte Eichenwälder. Bis auf wenige Ausnahmen, vor allem in Griechenland, meidet die Art geschlossene reine Nadelwälder, kann sich aber in Nadelwäldern mit einem hohen Laubholzanteil halten. Auch reine Buchenwälder werden nur gelegentlich als Bruthabitat gewählt. Als Sekundärhabitate besiedelt der Kleinspecht Parks, Streuobstwiesen, Friedhöfe, manchmal selbst größere Gärten, wenn die vorhandenen Nahrungsressourcen ausreichen und Möglichkeiten zum Höhlenbau bestehen. Die Siedlungsdichten sind sehr unterschiedlich: In Optimalhabitaten kann der Kleinspecht Siedlungsdichten wie der Buntspecht erreichen, also bis zu 2 Brutpaare auf 10 Hektar, doch solche Werte sind absolute Sonderfälle. Im Allgemeinen ist der Raumbedarf bedeutend größer. Die durchschnittliche Reviergröße liegt zwischen 50 und 100 Hektar; diese Nahrungsreviere werden jedoch während der Brutzeit auf einen intensiv genutzten Kernbereich eingeengt. Systematik Die systematische Stellung der Art ist zurzeit etwas unübersichtlich. Von den meisten Autoren wird der Kleinspecht gemeinsam mit anderen Buntspechten in der recht umfangreichen Gattung Dendrocopos vereinigt, in der kleine bis mittelgroße Baumspechte von überwiegend schwarz-weißem Federkleid zusammengefasst sind. Die 20 Vertreter der Gattung Dendrocopos kommen in Eurasien sowie in Nordafrika vor. Bis vor wenigen Jahren war Dendrocopos mit verwandten, vor allem nearktischen Arten in der Gattung Picoides vereint. Andere Autoren fassen noch immer alle holarktischen Buntspechte unter dem Gattungsnamen Picoides zusammen. Neuere DNA-Untersuchungen ergaben eine nahe Verwandtschaft des Kleinspechtes mit Dryobates cathpharius und dem Dunenspecht (Picoides pubescens) sowie zwei weiteren kleinen nearktischen Arten, P. nuttallii (Nuttallspecht) und P. scalaris (Texasspecht). Es wird für möglich erachtet, dass Vorfahren des Kleinspechtes von der Nearktis kommend die Paläarktis besiedelten, demnach wäre der Kleinspecht einer der wenigen alten Rücksiedler unter den Vogelarten. Diese Verwandtschaftsverhältnisse berücksichtigt die deutsche wissenschaftliche Namensgebung, die den Kleinspecht in die Gattung Dryobates stellt, ein Gattungsname, der früher für die oben erwähnten kleinen amerikanischen Verwandten gebräuchlich war. Es wurden über 20 Unterarten beschrieben, von denen zurzeit elf anerkannt sind. In den Kontaktzonen vermischen sich die meisten Unterarten und bringen intermediär gefärbte Nachkommen hervor. Es werden zwei Gruppen unterschieden: die nördliche Gruppe mit drei Unterarten und die südliche Gruppe mit acht Unterarten. Insgesamt sind die Unterschiede geringfügig und fließend. D. m. minor: Die Nominatform kommt im nördlichen Kontinentaleuropa bis zum Ural vor. Die Unterseite dieser großen Unterart ist sehr hell, fast weiß; die schwarzen Abzeichen des weißen Rückens sind sehr reduziert. D. m. kamtschatkensis (Malherbe 1861): Die nördlichste und der Bergmannschen Regel folgend die größte und hellste Unterart. Die Unterseite ist reinweiß, die Flankenstrichelung fehlt fast völlig. Auch der Rücken ist weiß, ohne jegliche Schwarzzeichnung. Sie kommt vom Ural bis ins südliche Anadyr-Gebiet und auf Kamtschatka vor. D. m. amurensis (Buturlin 1908): Diese ebenfalls große Unterart ist auf der Unterseite grauweiß. Im Übrigen ähnelt sie sehr der Nominatform. Sie kommt im Amur- und Ussurigebiet, in der nordöstlichen Mandschurei, in Nordostkorea, auf Sachalin und auf Hokkaido vor. D. m. hortorum (C. L. Brehm 1831): Diese Unterart ist von Frankreich über Mitteleuropa bis nach Polen, südwärts in der Schweiz und in Ungarn verbreitet. Sie vermittelt zwischen den nördlichen und den südlichen Unterarten. Sie ist etwas kleiner als die Nominatform, der Rücken ist ansatzweise dunkelgrau gebändert, die Unterseite ist grau behaucht, die Brust zeigt einen leicht gelblichen Farbton. D. m. buturlini (Hartert 1912): Diese am Mittelmeer verbreitete Unterart, deren nördlichste Vorkommen in der Südschweiz liegen, findet man lückenhaft in Spanien, sowie in Südfrankreich, auf dem Balkan und in Griechenland. Sie unterscheidet sich von D. m. hortorum durch die wesentlich dunklere und an den Flanken stärker längsgestreifte Unterseite. D. m. ledouci (Malherbe 1855): Diese kleine Unterart kommt nur in einigen Verbreitungsinseln im Maghreb vor. Sie ist sehr umstritten, da vor allem die spanischen buturlini nicht von ihr zu unterscheiden sind. In der Regel zeigen sie einen einheitlich schwarzen Schnabel und eine leicht hellbraune Brust. D. m. comminutus (Hartert 1912): Kommt ausschließlich in England und in Wales vor. Sie ist dort neben dem Grünspecht und dem Buntspecht die einzige Spechtart. Auch diese Unterart ist buturlini sehr ähnlich, aber durchschnittlich etwas kleiner; die Flankenstreifung ist undeutlicher als bei buturlini. D. m. danfordi (Hargitt 1883): Auch diese kleine Unterart des östlichen Griechenlands und der Türkei ist buturlini sehr ähnlich. Im Normalfall ist die Zeichnung der Unterseite noch etwas dunkler, fast hellbraun. Bei typischen Exemplaren reicht der Wangenstreifen bis zum schwarzen Nackenband, sodass die cremefarbenen Ohrdecken fast völlig schwarz gerahmt sind. D. m. colchicus (Buturlin 1908): Diese im Kaukasus und Transkaukasus vorkommende Unterart ist etwas größer als die vorhergehende, unterscheidet sich sonst aber kaum von ihr. D. m. quadrifasciatus (Radde 1884): Diese Unterart kommt nur im südöstlichen Aserbaidschan am Kaspischen Meer vor. Sie ist die kleinste Unterart und weist mit 12 Millimeter den kürzesten Schnabel auf. Sie wirkt auf der Oberseite ziemlich dunkel, auch die Unterseite ist dunkler als bei buturlini, die Flanken sind noch deutlicher gestreift. Die äußeren Steuerfedern sind deutlich und großflächig schwarz gebändert. D. m. morgani (Zarudny & Loudon 1904): Diese Unterart bewohnt den Nordwestiran und isoliert nördliche Teile des Zāgros-Gebirges. Sie unterscheidet sich von allen anderen Unterarten durch den langen, sehr dünnen Schnabel und die braune Kehle bei sonst weißer Brust und Bauchseite. Das schwarze Wangenband berührt immer die Nackenregion. Die rote Federpartie des Männchens ist auf den Vorderkopf beschränkt. Nahrung Die Nahrung des Kleinspechtes besteht fast während des gesamten Jahres aus kleinen baumbewohnenden Insekten. Im späten Frühjahr und Sommer können verschiedene Arten der Blattläuse zur Hauptnahrung werden, daneben werden kleine Schmetterlingsraupen, Käfer und Käferlarven, Nachtfalter und deren Larven sowie in geringerem Maße auch Schnecken, zum Beispiel Schüsselschnecken, verzehrt. Auch für die Jungenaufzucht sind Blattläuse die wichtigsten Beutetiere. Baumbewohnende Ameisen, insbesondere die Glänzendschwarze Holzameise oder die Fremde Wegameise, spielen in den nördlichen Populationen nur eine geringe Rolle, können aber für einige südliche Unterarten einen wichtigen Nahrungsbestandteil bilden. Große Rossameisen und ihre Entwicklungsstadien werden nur dann gefressen, wenn deren Nester zuvor von einer anderen Spechtart geöffnet wurden. Gelegentlich werden auch Gallen, vornehmlich die der Gemeinen Eichengallwespe und der Gemeinen Rosengallwespe, aufgehackt und die Larven gefressen. Im Spätherbst und Winter besteht die Hauptnahrung aus Käfern, vornehmlich Bockkäfern, Rüsselkäfern und Borkenkäfern, die unter der Rinde oder auf Blättern überwintern. Auch holzbewohnende Larven werden im Winter verzehrt. Dabei stehen solche Arten im Vordergrund, die zuerst unter der Rinde leben und sich erst später einbohren, wie die des Blauen Scheibenbocks. Pflanzliche Nahrung spielt nur eine untergeordnete Rolle. Im Frühjahr werden Baumsäfte, die aus Ringelstellen anderer Spechte oder aus Rindenverletzungen austreten, ausgebeutet. Gelegentlich wurden Kleinspechte bei der Aufnahme verschiedener Beeren oder beim Picken an reifen Früchten beobachtet. Koniferensamen scheinen nur bei den nördlichen Unterarten eine gewisse Rolle zu spielen. Im Winter erscheinen Kleinspechte vereinzelt an Futterhäuschen, wo sie insbesondere das Fett von Meisenkugeln und Sonnenblumensamen verzehren. Nahrungserwerb Der Kleinspecht sucht seine Nahrung vor allem im Kronenbereich, sehr häufig auf dünnen, äußeren Ästen. An Stammabschnitten ist er seltener zu sehen, auf dem Boden fast nie. Die Nahrung wird vor allem durch schnelles, rastlos wirkendes Absuchen von Zweigen und Blättern, sowie durch Stochern in grobborkiger Rinde gewonnen. Während des Stocherns hackt der Kleinspecht immer wieder kleine Stellen auf, gelangt dadurch aber nur in äußere Rindenbereiche. Die Hackaktivitäten werden während der Wintermonate intensiver, wenn die Kleinspechtnahrung vor allem aus holzbewohnenden Käferlarven und unter der Rinde überwinternden Käfern besteht. Sehr häufig hängt der Specht kopfunter an einem dünnen Zweig, um Blätter auf der Unterseite absuchen zu können. Seine Bewegungen sind kleiberartig flink, oft ist er kopfunter auf Zweigen oder Stammabschnitten zu sehen. Fluginsekten erbeutet er recht geschickt durch schnelle Ausfallflüge, gelegentlich verbringt er einige Zeit nur damit, von einer günstigen Warte aus schwärmende Insekten zu jagen. Ansonsten ist die Verweildauer in einem Astabschnitt meist nur kurz: häufige Ortswechsel im Kronenbereich sind für diese Art charakteristisch. Vegetabile Nahrung wird direkt vom fruchttragenden Baum oder Strauch aufgenommen, indem zum Beispiel Äpfel oder Pflaumen, gelegentlich auch Oliven angepickt, oder Beeren vom Strauch gepflückt werden. Im Winter werden häufig Schilfgebiete aufgesucht und Schilfstängel aufgehackt, die verschiedenen Insekten als Überwinterungsquartier dienen; auch die trockenen Halme von Beifuß oder verschiedene Kardenarten öffnet der Kleinspecht auf der Suche nach überwinternden Insekten. Schmieden legt der Kleinspecht nicht an; zu bearbeitende Nahrungsobjekte werden in die nächstbeste Spalte geklemmt und dort aufgehackt. Verhalten Wie alle Spechte ist auch der Kleinspecht tagaktiv; seine Aktivität beginnt kurz vor Sonnenaufgang und endet kurz nach Sonnenuntergang. Die Aktivitätsgipfel liegen in den frühen Vormittagsstunden und am späteren Nachmittag. Außerhalb der Brutzeit liegen dazwischen ausgedehnte Ruhe- und Putzphasen. Schlechtwetter verkürzt die Tagesaktivität, bei starkem Regen suchen Kleinspechte auch während der mittäglichen Ruhestunde eine Schlafhöhle auf. Die Nächte werden immer in selbstgezimmerten Schlafhöhlen verbracht, ganz selten sucht der Kleinspecht verlassene Höhlen anderer Spechte oder Nistkästen auf. Der morbide Zustand der Höhlenbäume zwingt die Art zu einem fortlaufenden Nachbau geeigneter Schlafhöhlen. Während der Ruhezeiten reinigt und putzt der Kleinspecht sorgfältig sein Gefieder; mehrmals wurde Staubbaden beobachtet, gekäfigte Vögel baden auch intensiv im Wasser, wobei der Kopf ganz untergetaucht und anschließend unter Flügelschlagen der Körper benetzt wird. Territoriales und antagonistisches Verhalten Männliche Kleinspechte sind, sofern sie nicht durch Witterungsbedingungen zum Verstreichen gezwungen sind, ganzjährig territorial. Weibchen sind tendenziell mobiler, verbleiben aber nach Möglichkeit ebenfalls im Brutrevier, in dem ein loser Kontakt zum letztjährigen Brutpartner erhalten bleiben kann; so können ehemalige Brutpartner Schlafhöhlen in unmittelbarer Nachbarschaft nutzen. Inwieweit Weibchen außerbrutzeitliche Reviere beanspruchen, ist nicht bekannt. Während der Brutzeit wird das Revier von beiden Partnern gegen Artgenossen energisch verteidigt. Selbst auf unvollständig abgespielte Klangattrappen reagieren Kleinspechte unmittelbar, meist mit Annäherung und akustischer Präsenz, zuweilen auch mit direktem Anflug. Dabei ist auffällig, dass Weibchen eher aggressiv auf eindringende Geschlechtsgenossinnen reagieren und sie auch direkt angreifen, während sich Männchen gegenüber revierfremden Männchen aggressiver verhalten. Neben dem direkten Anflug, der auch zu Körperkontakten führt, werden jedoch auch oft ritualisierte Verhaltensweisen, vor allem die Einfrier-Position gezeigt: dabei sitzen die Kontrahenten nahezu bewegungslos auf einem Ast einander gegenüber, sträuben die Kopffedern und spreizen Arm- und Handschwingen sowie die Steuerfedern. Insgesamt ist der Kleinspecht trotz seiner Kleinheit ein durchaus robuster und wehrhafter Vogel, der auch gegenüber größeren Spechten – vor allem gegenüber dem Buntspecht, der zu den wesentlichsten Feinden der Art zu zählen ist – seine Höhle zuweilen durchaus mit Erfolg zu verteidigen weiß. Kleinere Höhlenplatzkonkurrenten wie Halsbandschnäpper oder Kleiber vertreibt er meist erfolgreich. Gegenüber seinem Hauptflugfeind, dem Sperber, versucht er meist in den dichten Kronenbereich zu fliehen, wohin ihm der Greifvogel nicht folgen kann. Brutbiologie Balz und Paarbildung Kleinspechte werden am Ende ihres ersten Lebensjahres geschlechtsreif. Sie führen eine Saisonehe, Wiederverpaarungen alter Brutpartner sind auf Grund der Standorttreue der Art jedoch häufig. Ein loser Partnerkontakt bleibt häufig auch während der Wintermonate bestehen. Sukzessive Polyandrie, bei der ein Weibchen seine Eier in die Höhlen von zwei Männchen legt, scheint nicht selten zu sein; gelegentlich dürfte aber auch Polygynie vorkommen. Auch kooperatives Brüten dürfte in seltenen Fällen stattfinden. Wie bei den meisten Spechten sind sexuell motivierte Verhaltensweisen nicht klar von territorialen und antagonistischen zu trennen. Die Trommelaktivität und längere Rufreihen beginnen bei mildem Winterwetter bereits wieder im Dezember, werden in der Folge intensiver und erreichen im März und April ihren Höhepunkt. Schon im Spätwinter können Weibchen darauf mit Annäherung und Trommelantworten reagieren, worauf die Männchen eindrucksvolle, gleitend-schwebende Schauflüge zeigen, bei denen in der Gleitphase der Schwanz oft gestelzt ist. Oft führen diese Balzflüge zu einem Baum mit einer bereits vorhandenen oder begonnenen Bruthöhle. Diese wird vom Männchen mit geöffneten Schwingen und demonstrativem Klopfen angezeigt; das Weibchen kann mit hängenden, zitternden Flügeln folgen, gelegentlich hackt es auch symbolisch an der Bruthöhle. Damit ist die Anpaarung vollzogen und es kommt bald darauf, Ende März und im April, zu Kopulationen in der Nähe der Bruthöhle. Niststandort und Höhlenbau Der Kleinspecht zimmert seine Höhlen fast ausschließlich in Bäume, die sich in einer fortgeschrittenen Zerfallsphase befinden, sehr häufig auch in abgestorbenen, oft recht dünnen Seitenästen. Bei einer Höhlenanlage in weitgehend horizontalen Ästen zeigt das Einflugloch immer nach unten. Als Nistbäume kommen eine Reihe von Baumarten in Frage, fast immer sind es Bäume mit weichen Hölzern, wie verschiedene Weidenarten, Pappeln, Erlen oder Birken. Häufig werden auch Obstbäume, insbesondere Apfelbäume genutzt, sofern der jeweilige Zerfallszustand einen Höhlenbau ermöglicht. Nisthöhlen in Nadelbäumen wurden sehr selten festgestellt. Auf Grund der Hinfälligkeit der jeweiligen Nistbäume wird meist jedes Jahr eine neue Bruthöhle angelegt. Beide Partner arbeiten an ihrer Fertigstellung, das Männchen allerdings intensiver als das Weibchen. Im Durchschnitt beträgt die Dauer des Höhlenbaus zwei Wochen, wobei ein Volumen von fast einem Liter ausgemeißelt wird. Ersatzhöhlen können jedoch auch in weniger als einer Woche fertiggestellt werden. Kleinspechthöhlen können in sehr niedrig gelegenen Stammabschnitten von einem bis zwei Metern angelegt werden, befinden sich aber meist in größerer Höhe von 5–8, nicht selten auch in über 20 Metern Höhe. Die Höhle selbst ist bei einer Weite von durchschnittlich 10 Zentimetern 12–18 Zentimeter tief; das Einflugloch ist bei einem mittleren Durchmesser von 34 Millimetern weitgehend kreisrund. Gelege und Brut Die Eiablage beginnt im Mitteleuropa Mitte April, frische Vollgelege können hier bis Ende Mai gefunden werden. In Nordeuropa und Sibirien beginnt die Legeperiode frühestens Anfang Mai und reicht bis in den Juni, in den südlichen Brutgebieten liegt der Brutbeginn noch im März. Kleinspechte brüten nur einmal im Jahr, nur bei frühem Gelegeverlust kommt es zu einem meist kleineren Nachgelege. Ein Vollgelege besteht aus 4–6, in Ausnahmefällen aus bis zu 9 reinweißen, anfangs durch den durchscheinenden Dotter rosa behauchten, kurzovalen Eiern mit einer durchschnittlichen Größe von 19 × 14,5 Millimetern. Die im Tagesabstand gelegten Eier werden ab dem vorletzten von beiden Partnern fest bebrütet, wobei wie bei fast allen Spechten das Männchen während der Nachtstunden auf dem Gelege sitzt. Nach durchschnittlich 11 Tagen schlüpfen die Jungen; sie werden von beiden Eltern gehudert und gefüttert. Die Nestlingszeit beträgt ungefähr 20 Tage, ab dem 14.–15. Tag erscheinen die Nestlinge zur Futterübergabe am Einflugloch. In dieser Zeit bis zum Ausfliegen sind die Jungvögel akustisch sehr auffällig. Gegen Ende der Nestlingszeit reduzieren die Eltern die Fütterungen merklich, landen oft mit Futter im Schnabel in der Nähe der Nisthöhle und ermutigen so die Nestlinge zum Ausfliegen. Nach dem Ausfliegen werden die Jungvögel noch etwa zwei Wochen von den Eltern, manchmal in zwei Gruppen aufgeteilt, betreut. Danach zerstreut sich der Familienverband; die Jungvögel dismigrieren meist nur über kurze Distanzen. Bestand und Gefährdung Die Bestandssituation des Kleinspechtes ist sehr schwer einzuschätzen. Er ist auf Grund seiner geringen Größe und seiner Lebensweise in den Baumkronen nicht leicht festzustellen, zusätzlich kann die Trommel- und Rufaktivität individuell sehr verschieden sein, sodass vor allem Einzelbrüter auch akustisch wenig auffallen. So fehlt über weite Gebiete seriöses Zahlenmaterial, das eine genaue Bestandseinschätzung ermöglichen würde. Das gilt vor allem für die außereuropäischen Brutgebiete. Die IUCN sieht zwar Hinweise für einen leichten Bestandsrückgang, stuft die Art jedoch noch als (=least concern – nicht gefährdet) ein. Auch Birdlife Europe sieht keinen Anlass zur Sorge und bewertet den Bestand in Europa mit gesichert (secure). Die Rote Liste der Brutvögel Deutschlands stuft die Art als „gefährdet“ (Stufe 3) ein. Regional sind die Bestandstrends unterschiedlich. In Südosteuropa scheinen die meisten Kleinspechtpopulationen zu schrumpfen; die Gründe dafür liegen wohl in großflächiger Lebensraumveränderung, insbesondere in der Trockenlegung von Feuchtgebieten und der Rodung alter Streuobstwiesen. Zusätzlich kommt die Bevorzugung der Fichte in Aufforstungen zwar dem Buntspecht zugute, nicht aber dem Kleinspecht. Auch im zentralen Mitteleuropa gehen die Bestände zurück; hier wird unter anderem auch die Konkurrenz zum sich regional stark ausbreitenden Buntspecht als Grund genannt, der wohl der wesentlichste Nestprädator des Kleinspechtes ist. Diesen negativen Entwicklungen stehen Bestandszunahmen in den Niederlanden und in Dänemark gegenüber, wo der Kleinspecht erst seit 1960 beziehungsweise seit 1964 Brutvogel ist. Auch in Schleswig-Holstein, in Mecklenburg-Vorpommern und in Brandenburg nehmen die Bestände zu. Kurzfristig waren auch durch das großflächige Ulmensterben Bestandszunahmen dieser Spechtart zu verzeichnen. Weltweite Bestandseinschätzungen existieren nicht. In Europa wird der Brutbestand auf etwa 220.000 Paare geschätzt. Die bedeutendsten Vorkommen liegen in Deutschland (16.000–32.000 Paare), Polen (20.000–40.000), Weißrussland (12.000–20.000) und Ungarn (20.000–30.000). In Österreich und der Schweiz liegt der Brutbestand bei ungefähr je 3.000 Paaren. Literatur Hans-Günther Bauer, Peter Berthold: Die Brutvögel Mitteleuropas. Bestand und Gefährdung. 2., durchgesehene Auflage. AULA Verlag, Wiesbaden 1997, ISBN 3-89104-613-8, S. 294. Mark Beaman, Steve Madge: Handbuch der Vogelbestimmung. Europa und Westpaläarktis. Eugen Ulmer Verlag, 1998, ISBN 3-8001-3471-3, S. 535f. Hans-Heiner Bergmann, Hans-Wolfgang Helb: Die Stimmen der Vögel Europas. BLV, München 1982, ISBN 3-405-12277-5. Michael Dvorak et al. (Hrsg.): Atlas der Brutvögel Österreichs. Umweltbundesamt 1993, ISBN 3-85457-121-6, S. 266f. Factsheet auf BirdLife International Wulf Gatter: Vogelzug und Vogelbestände in Mitteleuropa. AULA Verlag, Wiebelsheim 2000, ISBN 3-89104-645-6. Urs N. Glutz von Blotzheim (Hrsg.): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Bearbeitet u. a. von Kurt M. Bauer und Urs N. Glutz von Blotzheim. Band 9. Columbiformes-Piciformes. 2., durchgesehene Auflage. AULA Verlag, Wiesbaden 1994, ISBN 3-89104-562-X, S. 1095–1115 (HBV). Gerard Gorman: Woodpeckers of Europe. A Study to European Picidae. Bruce Coleman, Chalfont 2004, ISBN 1-872842-05-4, S. 144–154; S. 44; S. 35. A. J. Helbig: Anmerkungen zur Systematik und Taxonomie der Artenliste der Vögel Deutschlands. In: Limicola. 19 (2005): 112–128. Jochen Hölzinger, Ulrich Mahler: Die Vögel Baden-Württembergs. Nicht-Singvögel 3. Ulmer, Stuttgart 2001, ISBN 3-8001-3908-1, S. 469–486. Index der wissenschaftlichen Vogelnamen José Luis Romero, Julio Pérez: Two cooperative breeding cases in Lesser Spotted Woodpecker Dendrocopos minor. In: Journal of Ornithology. Volume 149, Number 1/Januar 2008. Peter Südbeck et al.: Methodenstandards zur Erfassung der Brutvögel Deutschlands. Radolfzell 2005, ISBN 3-00-015261-X, S. 456–457. Amy C. Weibel, William S. Moore: Molecular Phylogeny of a Cosmopolitan Group of Woodpeckers (Genus Picoides) Based on COI and cyt b Mitochondrial Gene Sequences. In: Molecular Phylogenetics and Evolution. Vol. 22, No. 1, January, S. 65–75, 2002. Artikel pdf engl. Hans Winkler, David Christie, David Nurney: Woodpeckers. A Guide to Woodpeckers, Piculets and Wrynecks of the World. Pica Press, Robertsbridge 1995, ISBN 0-395-72043-5, S. 258–260. Weblinks www.kleinspecht.de Kleinspecht bei der Schweizerischen Vogelwarte Sempach Javier Blasco-Zumeta, Gerd-Michael Heinze: Geschlechts- und Altersbestimmung (PDF-Datei, englisch) Federn des Kleinspechts Einzelnachweise Spechte
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https://de.wikipedia.org/wiki/Frauenmantel
Frauenmantel
Frauenmantel (Alchemilla) ist eine Pflanzengattung innerhalb der Familie der Rosengewächse (Rosaceae). Die Arten sind in der Alten Welt in Europa, Asien und Afrika verbreitet und gedeihen vorwiegend in den Gebirgen. Stark behaarte Formen werden auch als Silbermantel bezeichnet. Sie sind krautige bis strauchförmige Pflanzen, ihre Blüten sind klein, unscheinbar und kronblattlos. Die Fortpflanzung erfolgt überwiegend, bei den europäischen Arten fast ausschließlich, agamosperm (über ungeschlechtliche Samenbildung). Von den etwa 1000 Arten sind rund 300 in Europa heimisch. In Europa wurden die Arten als Volksarzneipflanzen verwendet. Einige Arten liefern ein gutes Viehfutter, sehr wenige werden als Zierpflanzen kultiviert. Beschreibung Erscheinungsbild und Indument Die Frauenmantel-Arten sind sommergrüne Zwerg- oder Halbsträucher oder ausdauernde krautige Pflanzen. Die Sprossachsen sind oberirdisch, manchmal teilweise verholzt. Ihre Verzweigung erfolgt monopodial. Die Hauptachse ist liegend, bildet Adventivwurzeln und ist mit Blattstiel- und Nebenblattresten besetzt. An der Spitze der Hauptachse befindet sich eine Grundblattrosette. Die oberirdischen vegetativen Pflanzenteile sind häufig behaart. Die Haare (Trichome) sind stets unverzweigt und meist gerade; Drüsenhaare sind sehr selten (Indument). Wurzeln Die Hauptwurzeln werden relativ bald nach der Keimung durch sprossbürtige Adventivwurzeln abgelöst. Die Stärke der Bewurzelung hängt vom Feuchtigkeitsgrad des Untergrunds ab, ist aber auch je nach Sektion unterschiedlich. Bei der Sektion Alpinae, die aus Felsspaltenbewohnern besteht, bildet die Sprossachse nur in größeren Abständen Wurzeln aus, während die Sektionen Erectae und Ultravulgares stark wurzeln. Bei der Sektion Pentaphylleae sind die Wurzeln dicht büschelig angeordnet. Sprossachse Bei den aufrecht wachsenden, tropischen Sträuchern sind die Achsen (mit Ausnahme des Blütenstands) meist alle gleich ausgebildet. Die bei den europäischen Arten, aber auch vielen tropischen, auftretende Verdickung des Markzylinders in der liegenden Grundachse sowie die Differenzierung in Lang- und Kurztriebe gilt als abgeleitetes Merkmal. Der aufrechte (orthotrope) Wuchs gilt als die ursprüngliche Wuchsform, die Keimpflanzen auch der kriechenden Arten wachsen im ersten Jahr meist aufrecht. Auch erwachsene Pflanzen bilden einzelne, kurze aufrechte Seitensprosse. Diese sind durch die geringe Bewurzelung schlecht ernährt und sterben bei Frosttrocknis ab. Blätter Die Laubblätter sind in Blattstiel und Blattspreite gegliedert. Die Blattspreiten sind gelappt bis gefingert und am Rand gezähnt. In der Knospe sind die Blätter mehrfach gefaltet, jeder Blattlappen einzeln, sodass ein Fächer entsteht. Der gefältelte Fächer ist auch an entfalteten Blättern häufig zu erkennen. Die Nebenblätter können mit dem Blattstiel sowie auf der gegenüberliegenden Seite der Sprossachse miteinander verwachsen sein, bei den mitteleuropäischen Arten ist dies stets der Fall. Die Nebenblätter bilden so eine Tute. Die Verwachsung der Nebenblätter miteinander ist nie vollständig, der offene Teil zwischen den Zipfeln wird als Tuteneinschnitt bezeichnet. Als dritte Form der Verwachsung können die beiden Nebenblätter über dem Blattstiel miteinander verwachsen sein, dies wird als Öhrchen sind verwachsen bzw. frei bezeichnet. Folgende Blattmerkmale werden innerhalb der Gattung als ursprünglich angesehen: ein kurzer, rinniger Blattstiel mit kollateralen Leitbündeln, eine geringe Anzahl der Blattlappen und Blattzähne, eine geringe Teilungstiefe und kurze Zähne. Die Nebenblätter übernehmen beim Frauenmantel die Funktion von Knospenschuppen: Sie schützen den Vegetationskegel und junge Achsen. Dabei gibt es zwei taxonomisch relevante Knospentypen: beim ersten Typ ist die junge Blattspreite von ihrer eigenen Tute umgeben; beim zweiten Typ ist das entstehende Blatt nur von der Tute des nächstälteren Blattes umgeben, seine Blattspreite ist immer außerhalb der eigenen Tute. Neben den oben beschriebenen Verwachsungen gibt es eine weitere Schutzvariante: die Nebenblätter vertrocknen bei einigen Sektionen rasch und bilden eine mehrschichtige, mehrjährige Isolierschicht (Tunika) um die jungen Achsen. Die Blätter besitzen am Ende der Blattzipfel Wasserspalten (passive Hydathoden). Aus diesen wird in der Nacht flüssiges Wasser abgeschieden (Guttation). Blütenstand Die Blütenstandsachsen werden seitenständig gebildet. Als ursprüngliche Form des Blütenstands werden armblütige Pleiochasien angesehen. Von diesen führten Entwicklungslinien einerseits zu größeren Blütenständen, andererseits zu verarmten, teilweise nur ein- oder zweiblütigen Blütenständen. Der ganze Blütenstand ist eine geschlossene Thyrse, die jedoch je nach Anordnung unterschiedlich wirken kann: rispenähnlich, trauben-, doppeltraubenähnlich usw. Er setzt sich aus unterschiedlich vielen Gliedern zusammen (zwei bis zehn), abhängig von der Sektion. Bei den tropischen Sträuchern sind die unteren Teilblütenstände stärker betont (basiton), ebenso bei der Sektion Alpinae und Pentaphylleae. Blütenstände der Sektion Erectae sind breit, relativ kurz und spirrenförmig, die der Sektion Ultravulgares eher traubig und schmal. Blüten Die Blüten sind klein und von grüner oder gelblicher Farbe. Vergleichsweise große Blüten gelten als ursprünglich. Innerhalb einer Pflanze stehen die größeren Blüten an den unteren, armblütigen Blütenständen, die kleineren an den reichblütigen Stängeln. Obergrenze für den Blütendurchmesser ist meist bei fünf bis sechs Millimetern, bei Sektion Erectae bei sieben Millimetern. Die Blüten sind vierzählig, bei den Sektionen Ultravulgares und Pentaphylleae kommen regelmäßig fünfzählige Endblüten vor. An den Endzweigen von Blütenständen können auch drei- oder zweizählige Blüten vorkommen. Der Blütenbecher ist eine Verwachsung der Kelchblätter und wird häufig als Kelchbecher bezeichnet. Er ist zylindrisch, glocken- oder krugförmig. Die frei bleibenden Kelchzipfel werden in der Literatur meist als „Kelchblätter“ bezeichnet. Dabei geht eine geringe Verwachsung der Kelchblätter immer mit langen freien Kelchzipfeln einher. Dies gilt als ursprüngliches Merkmal. Der (selten fehlende) Außenkelch wird bei Frauenmantel nicht als Nebenblattbildung, sondern als Ausstülpung der Kelchblätter interpretiert. Kronblätter fehlen. Nach innen folgt ein Diskus, der aus etlichen Saftspalten Nektar absondert, der in länglichen Portionen austritt. Die vier Staubblätter stehen innerhalb des Diskus auf Lücke (alternierend) zu den Kelchblättern. Sie werden als umgebildete Kronblätter gedeutet, was durch verschiedene atavistische Formen gestützt wird. Die ursprünglichen Staubblattkreise sind demnach verschwunden. Der Pollen ist tricolporat (drei Keimfurchen/poren), der Umriss ist in Polansicht dreieckig. Bei wenigen Sippen der Gattung gibt es mehrere freie Fruchtblätter (bis zu zehn). Bei mehreren afrikanischen Sektionen sind zwei Fruchtblätter vorhanden. Die eurasischen Arten haben nur ein Fruchtblatt, selten haben einzelne Blüten zwei. Der Griffel steht aufrecht, die Narbe kann einseitig hakig oder löffelförmig sein. Früchte Die Früchte sind einsamige Nüsschen (bei Blüten mit nur einem Fruchtblatt wäre der Ausdruck Achäne korrekter, wird aber bei Frauenmantel praktisch nicht verwendet). Bei etlichen Arten besitzt es einen Schnabel. Das Nüsschen ist dabei ganz oder teilweise vom in reifem Zustand dünnen und trockenen Blütenbecher eingeschlossen. Chromosomen und Inhaltsstoffe Die Chromosomen bei Alchemilla sind sehr klein und zahlreich, was viele Zahlenangaben unsicher macht. Die in Mitteleuropa niedrigste gesicherte Chromosomenzahl ist 2n = 96. Die höchste Zahl in Mitteleuropa besitzt Alchemilla fissa mit 2n = 152. Alchemilla faeroensis hat 2n = 182–224. Bei der afrikanischen Alchemilla johnstonii (Sektion Geraniifoliae) wurde 2n = 32 ermittelt. Als Chromosomengrundzahl wird vielfach x = 8 angegeben. Alle heutigen europäischen Arten sind hoch polyploid. Die Pflanzen sind reich an Gerbstoffen. Daneben wurde weitere Bitterstoffe sowie ätherische Öle nachgewiesen. Die Samen sind reich an fetten Ölen. In allen Pflanzenteilen kommen Calciumoxalat-Drusen vor. Ökologie Alchemilla-Arten wachsen als Chamaephyten oder Hemikryptophyten. Blütenökologie Die Blüten sind proterandrisch (vormännlich). Sie sind Tag und Nacht geöffnet. Ein Schauapparat ist nicht ausgebildet, lediglich bei der Sektion Erectae mit dichtem, gelbem Blütenstand ist einer vorhanden. Insekten werden vom käse- oder pferdeapfelähnlichen Geruch der Blüten angelockt. Die Besucher sind ähnlich denen von Doldenblütlern (Apiaceae), jedoch wesentlich weniger zahlreich. In Tieflagen wurden Wanzen, Florfliegen, Dipteren, Hymenopteren und Käfer als Blütenbesucher beobachtet, im Gebirge sind es vorwiegend dungbesuchende Fliegen. Fortpflanzung Die überwiegende Anzahl der Arten, in Mitteleuropa fast alle, pflanzen sich ungeschlechtlich fort, indem sie ihre Samen ohne Befruchtung, also agamosperm, bilden. Aufgrund der hohen Ploidiezahl läuft ihre Meiose nicht normal ab. Bei der Pollenbildung gibt es Meiosestörungen: Die Tetradenteilungen werden nicht ausgeführt, oder die Pollenkörner sind abnorm geformt, leer oder zumindest nicht keimfähig. Bei manchen Arten wie Alchemilla lapeyrousii verkümmern schon die Antheren. Die Staubbeutel öffnen sich meist schlecht, und der Pollen bildet eine verklumpte Masse. Der Embryosack entsteht ohne Meiose (apospor) aus den diploiden (= sporophytischen) Zellen des Nucellus. Die Eizelle ist daher ebenfalls diploid und entwickelt sich ohne Befruchtung weiter zum Embryo (diploide Parthenogenese). Der Embryo kann auch aus anderen Zellen des Embryosacks oder des Nucellus entstehen. Bei einigen Arten kommt auch Polyembryonie vor (mehrere Embryonen in einem Samen). Das Endosperm entwickelt sich ebenso ohne die übliche doppelte Befruchtung. Die apogamen Embryonen wurden bei mehreren Arten schon in den Blütenknospen gefunden, sodass eine Fremdbestäubung ausgeschlossen wird. Bei afrikanischen Arten gibt es vielfach normal entwickelten Pollen, aber auch hier gibt es schon apomiktische Embryosackentwicklung. Fast alle mitteleuropäischen Arten vermehren sich agamosperm. Beispiele für heimische, sich sexuell fortpflanzende Arten sind Alchemilla pentaphyllea und einige wenige Arten der Artengruppe Alchemilla hoppeana agg. Ausbreitung Als Ausbreitungseinheiten (Diasporen) dienen die ganzen fruchtenden Blüten. Die reifen Nüsschen bleiben im Kelchbecher, bis dieser verwittert. Die Kelchblätter sowie behaarte Teile der Blüte dienen dazu, dass die Diaspore im Fell von Tieren haften bleibt (Epizoochorie). Nasse Früchte bleiben auch an Schuhen und Tierhufen haften. Für felsbewohnende Arten werden sogar Kolkraben als Verbreiter angegeben. Phänologie Die Alchemilla-Arten halten keine echte Winterruhe, Arten der Sektion Alpinae überwintern häufig mit voll entfalteten Blättern, kaukasische Arten bilden häufig Blätter schon im Januar. Die Blütenstände werden vielfach nicht in der gleichen Vegetationsperiode (sylleptisch) gebildet wie die Tragblätter, aus deren Achseln sie entspringen. Meist entstehen sie erst in der nächsten Vegetationsperiode (opistholeptisch). Die Achsen der Blütenstände entspringen dann unterhalb der Blattrosette. Die sylleptische Blütenbildung erfolgt normalerweise im Herbst, die Blüte wird in Mitteleuropa dann oft vom Winter unterbrochen oder überhaupt in das Frühjahr verschoben. In milden Wintern können Arten auch im Winter durchblühen. Die Arten verhalten sich dabei wie Kurztagspflanzen: sie legen die Blütenstände im Kurztag an, können im Kurztag aufgrund der niederen Temperaturen nicht blühen und verlegen das Blühen daher in den wärmeren Langtag. Im Langtag werden nur vegetative Seitensprosse gebildet. Krankheiten und Herbivore Häufig treten bei Alchemilla-Arten Virosen auf, die von saugenden Insekten übertragen werden. Von Bedeutung sind Rostpilze der Gattung Trachyspora, die die Pflanzen auch zum Absterben bringen können, sowie in Afrika der Rostpilz Joerstadia. Der Echte Mehltau Sphaerotheca aphanis befällt besonders Arten mit weichen Blättern. Die einzige bekannte an Alchemilla schmarotzende Blütenpflanze ist die Quendel-Seide (Cuscuta epithymum). An Herbivoren sind Blasenfüße, Zikaden, Blattläuse und Schmetterlingsraupen erwähnenswert. Eulenraupen (Noctuidae) bringen durch Wurzelfraß Pflanzen zum Absterben. Verbreitung Die Gattung Alchemilla ist fast ausschließlich in der Alten Welt verbreitet und hier besonders in den Gebirgen. Im Himalaya sind nur wenige Arten vertreten. Im Norden Eurasiens kommt sie auch in der Ebene vor. In Trockengebieten fehlt sie. Die Gebirge Ostafrikas stellen ein Mannigfaltigkeitszentrum bezüglich Wuchsformen und Verwandtschaftsgruppen dar. In den temperaten Gebieten ist ein Zentrum in Vorderasien, das rund 500 Arten beherbergen dürfte. Im Gebiet nördlich des Kaukasus kommen rund 60 Arten vor, in Sibirien 40 und in Zentralasien rund 20. In Japan ist eine Art endemisch. In den Karpaten kommen rund 70 Arten vor (40 endemisch), in den Alpen 150, auf der Iberischen Halbinsel etwa 50. Vier Arten reichen bis in das arktische Nordamerika (Grönland, Labrador, Neufundland), eine mit europäischen Sippen verwandte Art wächst im Atlas. Im Norden reicht das Areal bis zum 70. Breitengrad, in den Alpen steigt die Gattung bis 3200 m, im Elburs-Gebirge bis 3760 m. Mehrere mitteleuropäische Arten, besonders Alchemilla xanthochlora, wurden in Nordamerika, Neuseeland und Australien eingeschleppt. In Mitteleuropa besitzen Gebiete, die während der letzten Eiszeiten unvergletschert geblieben sind, den höchsten Artenreichtum: südlicher Jura, Savoyen, Unterwallis, Freiburger Kalkalpen, Vispertäler (Wallis), Aostatal, Hohe Tauern, Dolomiten und Steirisches Randgebirge. In diesen Gebieten finden sich die meisten Endemiten. Die Höchstzahl an Arten in Europa wird auf der Gemmialp im Wallis erreicht, wo auf zwei Quadratkilometern rund 50 Arten vorkommen. Standortbedingungen Die Alchemilla-Arten benötigen eine gute Wasserversorgung, viel Licht sowie im Winter Schneeschutz oder milde Winter. Die Samen sind Frost- und Lichtkeimer. Bei den strauchförmigen Arten wurde Mykorrhiza beobachtet. Die hochalpinen Arten vermehren sich vorwiegend vegetativ, da die Früchte in den meisten Jahren nicht ausreifen. Frauenmantel bilden auf gedüngten Wiesen oft Massenvorkommen. Diese raschwüchsigen Arten sind trittverträglich und können bei guter Wasserversorgung den zur Verfügung stehenden Stickstoff rasch verwerten. Dadurch sind sie auf diesen Standorten recht konkurrenzstark, besonders auf Geflügelweiden. Systematik Die Gattung Alchemilla wird innerhalb der Familie der Rosengewächse (Rosaceae) in die Unterfamilie Rosoideae und in die Tribus Potentilleae gestellt. Innerhalb dieser wird sie noch manchmal zusammen mit den Gattungen Lachemilla und Aphanes in eine eigene Subtribus Alchemillinae gestellt. Manche Autoren haben diese drei Gattungen als Untergattungen von Alchemilla geführt, manche auch nur Lachemilla abwechselnd zu einer der beiden übrigen Gattungen gestellt. Systematik der Gesamtgattung Die Systematik der Gesamtgattung beruht weitestgehend auf den Arbeiten von Werner Rothmaler aus den 1930er Jahren. Er gliederte die Gattung aufgrund morphologischer Merkmale in sieben Sektionen. 2004 wurden von Notov und Kusnetzova einige von Rothmalers Untersektionen zu Sektionen erhoben, sodass es jetzt nach dieser Systematik zehn Sektionen gibt. Bis auf die letzten beiden Sektionen, die eurasisch verbreitet sind, sind alle auf die Tropen und Subtropen beschränkt: Sektion Subcuneatifoliae Sektion Geraniifoliae Sektion Grandifoliae Sektion Longicaules Sektion Villosae Sektion Pedatae (= Rothmalers Untersektionen Pedatae und Cryptanthae) Sektion Schizophyllae Sektion Parvifoliae Sektion Brevicaules Untersektion Chirophyllum Untersektion Heliodrosum Untersektion Calycanthum Sektion Pentaphylleae Systematik der europäischen Sippen Zumindest für die europäischen Gattungen gibt es eine modernere, von Sigurd Fröhner stammende Systematik, die die beiden Sektionen Brevicaules und Pentaphylleae im Sinne Rothmalers abgelöst hat. In Eurasien gibt es vier Hauptgruppen von Alchemillen, die den Rang eigenständiger Sektionen besitzen. Die vier Hauptgruppen sind durch Merkmalskomplexe gekennzeichnet (die mit dem Anfangsbuchstaben der Sektion bezeichnet werden): Sektion Erectae (E): Es sind hochwüchsige Halbsträucher mit einer langlebigen Grundachse. Die Nebenblätter sind am Blattstiel verwachsen. Der Blütenbecher ist kurz und die Kelch- und Außenkelchblätter lang. Sektion Ultravulgares (U): Es sind mittelwüchsige Halbsträucher mit kurzlebiger Grundachse. Die Nebenblätter sind nicht mit dem Blattstiel verwachsen. Der Blütenbecher ist lang, die Kelchblätter kurz, die Außenkelchblätter noch kürzer. Sektion Alpinae (A): Es sind seidig behaarte Zwergsträucher mit langlebiger Hauptachse. Die Nebenblätter sind häutig, am Blattstiel und gegenüber miteinander verwachsen. Die Blätter sind tief geteilt, die Blütenstände sind Wickel, der Außenkelch klein. Sektion Pentaphylleae (P): Es sind kahle oder schwach steifhaarige Halbsträucher bis Stauden mit einer kurzlebigen Hauptachse. Die Nebenblätter sind dicklich und kaum verwachsen. Die Blätter sind bis zum Grund geteilt und grob gezähnt. Die Blüten stehen in Scheindolden. Der Außenkelch ist klein oder fehlend. Bei allen europäischen Arten wird angenommen, dass sie alten hybridogenen Ursprungs sind. Dies ergibt sich aus morphologischen, anatomischen, embryologischen, ökologischen und chorologischen Daten. Dieser Prozess ist auch bereits lange abgeschlossen, mindestens seit der Periode vor der letzten Eiszeit. So sind etwa keine postglazialen Endemiten bekannt. Zudem sind alle von ihrer Morphologie denkbaren Elternarten der einzelnen Bastardarten hochpolyploid und apomiktisch, können also nicht die Eltern sein. Die einzelnen Arten sind aufgrund der Apomixis als genetischer Barriere wirksam voneinander getrennt, wenn sie zusammen mit nahe verwandten Arten am gleichen Standort wachsen. Häufiger als diese Hauptgruppen sind Arten mit gemischten Merkmalen. Es sind dies sekundäre, hybridogen entstandene Sippen. Sie tragen demnach die Merkmale von zwei oder drei der Hauptgruppen. Es sind 13 der theoretisch möglichen 15 Merkmalskomplexe auch verwirklicht und werden von Fröhner ebenfalls im Range von Sektionen geführt (in Klammern die Merkmalskomplexe aus den Hauptgruppen). Die Zuordnung der Arten folgt Fröhner (1995), wobei Änderungen der Sektionszuordnung und neue Arten aus Fischer (2008) übernommen wurden (für Arten der Sektionen mit eigenem Artikel, siehe dort): Sektion Erectae (E) Sektion Alchemilla (EU) (Arten früher zu Alchemilla vulgaris agg.) Sektion Coriaceae (EUP) (Arten früher zu Alchemilla vulgaris agg.) Sektion Calycinae (EP) (Arten früher zu Alchemilla fissa agg.) Zerschlitzter Frauenmantel (Alchemilla fissa ) Julisch-Frauenmantel (Alchemilla venosula ) (inklusive Alchemilla gracillima ) Sektion Decumbentes (UP) (Arten früher zu Alchemilla vulgaris agg.) Niederliegender Frauenmantel (Alchemilla decumbens ) Langöhrchen-Frauenmantel (Alchemilla flaccida ) Westtiroler Frauenmantel (Alchemilla hirtipes ) Rotscheidiger Frauenmantel (Alchemilla rubristipula ) Dünner Frauenmantel (Alchemilla tenuis ) Sektion Ultravulgares (U) (Arten früher zu Alchemilla vulgaris agg.) Sektion Plicatae (UAP) (Arten früher teils zu Alchemilla vulgaris agg., teils zu Alchemilla hybrida agg.) Sektion Pubescentes (UA) Paiches Frauenmantel (Alchemilla paicheana ) Sektion Splendentes (EUA) Täuschender Frauenmantel (Alchemilla fallax ) St.-Gingolph-Frauenmantel (Alchemilla gingolphiana ) Schimmernder Frauenmantel (Alchemilla splendens ) Sektion Flabellatae (EAP) Spitzblüten-Frauenmantel (Alchemilla acutata ) Bona-Frauenmantel (Alchemilla bonae ) Krain-Frauenmantel (Alchemilla carniolica ) Fächer-Frauenmantel (Alchemilla flabellata ) Schweizer Frauenmantel (Alchemilla helvetica ) Unterwalliser Frauenmantel (Alchemilla infravallesia ) Jaquets Frauenmantel (Alchemilla jaquetiana ) Kerners Frauenmantel (Alchemilla kerneri ) Matrei-Frauenmantel (Alchemilla matreiensis ) Strahlenteiliger Frauenmantel (Alchemilla radiisecta ) Sektion Glaciales (AP) (Arten früher vorwiegend zu Alchemilla vulgaris agg.) Sektion Alpinae (A) (Arten früher teils zu Alchemilla vulgaris agg., teils zu Alchemilla conjuncta agg.) Sektion Pentaphylleae (P) mit nur einer Art: Schnee-Frauenmantel (Alchemilla pentaphyllea ) Die traditionelle Einteilung der ganzblättrigen Arten nach ihrer Behaarung in mehrere Serien (Glabrae, Subglabrae, Splendentes, Hirsuta, Hteropodae, Pubescentes) wurde von obiger Gliederung abgelöst. Die Unterteilung in Artengruppen (wie Alchemilla vulgaris agg.) wurde ebenso aufgegeben und deren Arten den obigen Sektionen zugeteilt. Bei den Sektionen ist jeweils angeführt, aus welchen Artengruppen ihre Arten kommen. Molekulare Phylogenetik DNA-Sequenzanalysen von 100 Arten der drei Gattungen Alchemilla, Lachemilla und Aphanes, die alle Sektionen umfassten, ergaben, dass Lachemilla und Aphanes monophyletisch, also natürliche Verwandtschaftsgruppen sind. Alchemilla zerfiel jedoch in zwei Kladen. Die Zusammenhänge sind in folgendem Kladogramm dargestellt: Die Arten der Gattung Alchemilla sind getrennt in die eurasischen Arten (Eualchemilla-Klade) und in die afrikanischen Arten (Afromilla-Klade). Der Eualchemilla-Klade ist noch in zwei Subkladen unterteilt, den Lobed-Klade mit Arten mit gelappten Blättern und den Dissected-Klade mit vorwiegend Arten mit zerteilten Blättern. Innerhalb dieser Gruppen gab es keine Auflösung in weitere Kladen mehr. Die Gattung Alchemilla im klassischen Sinn ist somit paraphyletisch. Gehrke u. a. (2008) schlagen vor, Aphanoides und Lachemilla in Alchemilla einzugliedern. Die Trennung von Alchemilla in zwei Gattungen halten sie aufgrund fehlender morphologischer Trennungsmerkmale für nicht angebracht. Die Aufrechterhaltung der Subtribus Alchemillinae ist nach Gehrke auch nicht angebracht, da dadurch die Subtribus Fragariinae paraphyletisch wäre. Nutzung Die ganzblättrigen Alchemilla-Arten bilden ein gutes Mähfutter. Sie werden auch frisch gerne vom Vieh gefressen, weniger gern vom Geflügel. Die alpinen Zwergsträucher hingegen gelten als Weideunkraut, da sie häufig Massenbestände bilden und nur von Schafen und Ziegen gefressen werden, nicht von anderem Vieh. In der Volksmedizin werden die Arten zur Behandlung von Wunden, Blutungen, Frauenkrankheiten, Geschwüren, Bauchschmerzen, Nierensteinen, Kopfschmerzen und anderen Beschwerden verwendet. Dabei werden alle mitteleuropäischen Arten als Volksarzneipflanzen und als Kult- bzw. Zauberpflanzen verwendet. Volkstümlich wird bei den Frauenmänteln dabei nur zwischen dem (behaarten) „Silbermantel“ oder „Alpen-Sinau“ und dem eher kahlblättrigen „Frauenmantel“ unterschieden. Behaarte Alchemilla-Arten werden in Steingärten und Parks als Zierpflanzen verwendet. Beispiele sind Alchemilla mollis, das jedoch leicht zum Unkraut entarten kann, Alchemilla speciosa und Alchemilla conjuncta (häufig als Alchemilla splendens bezeichnet). Namen und Volksnamen Der Name Alchemilla leitet sich vom Begriff Alchemie ab und wurde erstmals 1485 im Gart der Gesundheit verwendet. Er bedeutet so viel wie kleine Alchemistin. Die Alchemisten verwendeten die Guttationstropfen auf den Blättern für ihre Versuche. Der deutsche Trivialname „Frauenmantel“ bezieht sich auf die Ähnlichkeit der gefältelten Blätter mit dem Mantel auf mittelalterlichen Mariendarstellungen. In Nassau und im Böhmerwald heißt es auch „Liebfrauenmantel“. Alchemilla alpina und ähnliche Arten werden als „Silbermänteli“, „Silberchrut“ oder ähnlich bezeichnet. Auf die gefältelten Blätter beziehen sich Namen wie „Zugmantel“ (in Schlesien), „Krausemäntelchen“ (Oberharz) und „Röckli“ (Schweiz). Ebenfalls auf die Blattform spielen Namen wie „Hiadl“ (Böhmerwald), „Dächlichrut“ (Schweiz) oder „Regendächle“ (Schwaben) an. Die Guttationstropfen führten zum Namen „Sinau“ (von Sinn-Tau = Immertau), „Taublatt“, „Taubecher“ usw. Dies Tropfen wurden auch mit den Blutstropfen des gekreuzigten Jesus oder den Tränen der Maria verglichen. Die Blätter werden auch mit Gänse- und mit Löwenfüßen verglichen. Nach ihrem Standort auf Weiden werden sie zudem als „Schweinsrose“ (Ostpreußen) und „Gänselgrün“ bezeichnet. Ihre Verwendung als Arzneipflanze schlug sich in Namen wie „Ohmkraut“, „Wundwurz“ (Kärnten), „Mutterkraut“, „Milchkraut“, „Frauentrost“, „Aller Fraue Heil“ bzw. „Allerfrauenheil“ nieder. Auch wurde der Frauenmantel (Sanicula europaea) gemäß Heinrich Marzell als „Großer Sanikel“ bezeichnet. Botanische Geschichte Die Gattung Alchemilla wurde von Carl von Linné 1753 in seinem Werk Species Plantarum aufgestellt. Als erste außereuropäische Art entdeckte Thunberg 1792 Alchemilla capensis (Erstbeschreibung 1823). Der Erste, der Gliederungen innerhalb der Gattungen vornahm, war Robert Buser 1892, der auch viele europäische Arten erstbeschrieb. Die heute noch am weitesten verbreitete Systematik wurde von Werner Rothmaler in den 1930er Jahren erarbeitet, der das System von Buser verfeinerte. In den 1990er Jahren hat Sigurd Fröhner die Gliederung der europäischen Arten für die „Flora von Mitteleuropa“ und die „Flora Iberica“ völlig überarbeitet und die oben dargestellte Sektionsgliederung erarbeitet. Notov und Kusnetzova haben 2004 die Gliederung der afrikanischen Sektionen überarbeitet. 2008 wurde die erste molekulare Phylogenetik von Gehrke u. a. publiziert. Geschichte Das leontopodium oder pedeleonis des Dioskurides, des Plinius (beide 1. Jh.) und des Pseudo-Apuleius (4. Jh.) wurde vom Gart der Gesundheit des 15. Jahrhunderts und von den Vätern der Botanik des 16. Jahrhunderts als Frauenmantel gedeutet. Folgende Heilwirkungen und Besonderheiten des leontopodium wurden von den antiken und spätantiken Autoren angegeben: wirkt als Liebeszauber (Dioskurides), ruft wahnwitzige Träume hervor (Plinius), dient zur Behandlung von Geschwülsten (Dioskurides), zieht eingedrungene Gegenstände heraus (Plinius). Als synaw wurde der Frauenmantel erstmals sicher greifbar im spätmittelalterlichen Buch von den gebrannten Wässern des Gabriel von Lebenstein. Lebenstein empfahl die innere Anwendung des Destillats aus dem Frauenmantel bei denen, die „inwendig geprochen“ sind. Im Mainzer Gart der Gesundheit von 1485 wurde das Kapitel alchemilla synauwe erstmals mit einer naturgetreuen Abbildung des Frauenmantels illustriert. Hier erschien auch erstmals der lateinische Name alchemilla. In seinem Kleinen Destillierbuch von 1500 nannte Hieronymus Brunschwig für das Destillat aus der ganzen Pflanze (Wurzel und Kraut) folgende Anwendungen: äußerlich zum Löschen „böser Hitze“ in Wunden, mit einem Tuch auf die Brüste der Frauen aufgelegt, damit sie „hert und strack“ werden, innerlich für „gebrochen lüt“. Die Väter der Botanik (Brunfels, Bock und Fuchs) übernahmen diese Anwendungsempfehlungen in ihre Kräuterbücher. Vom 16. bis 19. Jahrhundert wurde das Frauenmantelkraut jedoch nur noch in der Volksmedizin verwendet. Die Kommission E des ehemaligen Bundesgesundheitsamtes veröffentlichte 1986 eine (Positiv-)Monographie über Frauenmantelkraut, in der „leichte unspezifische Durchfallerkrankungen“ als Indikation angegeben werden. Über das Alpenfrauenmantelkraut liegt eine (Null-)Monographie aus dem Jahr 1992 vor, für die Wirksamkeit bei den beanspruchten Anwendungsgebieten (als harntreibendes, krampfstillendes, herzstützendes Mittel, bei Frauenleiden) liegen keine Beweise vor. Die Anwendung stellt aber kein Risiko dar. Historische Abbildungen Belege Soweit nicht unter Einzelnachweisen angegeben, basiert der Artikel auf folgenden Unterlagen: Sigurd Fröhner: Alchemilla. In: Hans. J. Conert et al. (Hrsg.): Gustav Hegi. Illustrierte Flora von Mitteleuropa. Band 4 Teil 2B: Spermatophyta: Angiospermae: Dicotyledones 2 (3). Rosaceae 2. Blackwell 1995, ISBN 3-8263-2533-8, S. 13–242. B. Gehrke, C. Bräuchler, K. Romoleroux, M. Lundberg, G. Heubl, T. Eriksson: Molecular phylogenetics of Alchemilla, Aphanes and Lachemilla (Rosaceae) inferred from plastid and nuclear intron and spacer DNA sequences, with comments on generic classification. In: Molecular Phylogenetics and Evolution. Band 47, 2008, S. 1030–1044. (PDF) (Molekulare Phylogenetik). Einzelnachweise Weblinks Bestimmungshilfen bei Bestimmungskritische Taxa zur Flora von Deutschland Frauenmantel als Heilpflanze
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Geschichte Kanadas
Die Geschichte Kanadas umfasst die Entwicklungen auf dem Gebiet des heutigen Staates Kanada von der Urgeschichte bis zur Gegenwart. Sie reicht mehr als zwölf Jahrtausende zurück. Um diese Zeit boten sich den frühen menschlichen Bewohnern des heutigen Kanadas durch das Ende der letzten Eiszeit günstigere Lebensmöglichkeiten. Dabei entwickelten sich in einem langen Prozess unter Einwanderung weiterer Gruppen aus Asien sehr stark voneinander abweichende Kulturareale, die von den Inuit, die sich den arktischen Bedingungen angepasst hatten, über Wildbeuter- und halbnomadische bis zu bäuerlichen Kulturen der First Nations reichten, wie die Indianer des Landes genannt werden. Starke kulturelle Veränderungen, weitläufige Verdrängungsprozesse und Nomadisierung wurden durch das von Spaniern mitgebrachte Pferd, durch die Kriege der Irokesen und durch Europäer bereits zwischen 1500 und 1700 ausgelöst. Dabei brach eine Vielzahl indigener Völker, wie in ganz Amerika, durch eingeschleppte Krankheiten zusammen, vor allem durch Pocken. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden die Indianer (First Nations) durch Zwangsmittel und Verträge in Reservate abgedrängt, um europäischen Einwanderern Platz zu machen. Dabei kam es zu Konflikten zwischen Briten und Franzosen im Osten, zu denen im Westen Konflikte zwischen Spaniern, Briten und Russen kamen. 1763 verloren die Franzosen ihre Kolonie Neufrankreich an die Briten. Zwei Jahrzehnte später wurden die britischen Kolonien weiter im Süden unabhängig, womit die USA entstanden. Den frankophonen Bewohnern des britisch gebliebenen Teils Nordamerikas, die vor allem in der Provinz Québec lebten, machte London eine Reihe von Konzessionen. Die Frankokanadier unterstützten daraufhin die britische Kolonialmacht in zwei Kriegen erfolgreich gegen die USA. Den Westen und Norden verwaltete die private Handelsgesellschaft der Hudson’s Bay Company (HBC) von 1821 bis 1869/71 als Monopolist. Der Expansionsdrang der USA veranlasste London, dem verbliebenen Gebiet 1867 weitgehende Selbstständigkeit einzuräumen. Bis 1873 schlossen sich die britischen Kolonien zwischen Atlantik und Pazifik dieser Kanadischen Konföderation an, die zudem 1869 begann, das riesige Gebiet der HBC aufzukaufen und Verträge mit den Indianern zu schließen. Britisches Kapital und eine enge Bindung an das Britische Empire sorgten für einen massiven Ausbau der Infrastruktur Kanadas in Form von Kanälen, Straßen und vor allem Eisenbahnen. Damit sollte das dünn besiedelte, riesige Land stärker integriert und gegen immer wieder aufkeimenden Separatismus sowie Strömungen, die den Anschluss an die USA forderten, abgesichert werden. Zudem förderte dies den Warenaustausch innerhalb des Landes und mit dem Empire, und es erleichterte die Besiedlung. Seit der Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg verlor Großbritannien den Status als Weltmacht an die USA. Kanada lehnte sich immer stärker an seinen südlichen Nachbarn an und trat 1994 einer Freihandelszone mit den USA und Mexiko bei (NAFTA). Dennoch sind sowohl britische Traditionen als auch die der Ureinwohner weiterhin allgegenwärtig. Dies drückt sich sowohl in den politischen Strukturen als auch in der Kultur aus, oder etwa darin, dass Nunavut 1999 eine ausgeprägte Autonomie für die dort überwiegend lebenden Inuit erlangte. Auch haben viele First Nations, wie in Kanada die Indianerstämme genannt werden, eigene Territorien. Doch halten die Auseinandersetzungen um die Nutzungsrechte an. Insgesamt bewirkte das französische Vorbild, dass auch anderen Regionalkulturen das „Recht auf Andersartigkeit“ zusteht. Besiedlung und Kulturareale (vor 10.000 v. Chr. bis zum 16. Jahrhundert) Früheste Spuren bis zur archaischen Phase Genetische und klimageschichtliche Untersuchungen legen nahe, dass sich die frühen indianischen Einwanderer entlang der Küste relativ schnell ausbreiteten und von dort ins Binnenland wanderten. Möglicherweise folgte eine Gruppe der Westküste, die andere dem eisfreien Korridor zwischen Rocky Mountains und Hudson Bay. An der Little John Site im westlichen Yukon fand man die ältesten menschlichen Spuren in Kanada; sie reichen bis 12000 v. Chr. zurück. Im nördlichen Yukon sind die Funde in den Bluefish-Höhlen die ältesten. Diese frühe arktische Kultur breitete sich an der Küste entlang südwärts aus, möglicherweise auch entlang des Yukon. In der Charlie-Lake-Höhle nahe Fort St. John fanden sich Werkzeuge aus der Zeit ab etwa 10.500 v. Chr. Dort fanden sich zudem zwei Raben – einer mit Grabbeigaben –, die vor 9.000 bzw. 10.000 Jahren beigesetzt wurden. Ebenfalls aus der Zeit ab etwa 9.000 v. Chr. stammen Funde bei Banff und in Saskatchewan, aber auch bereits in Québec. Die ältesten menschlichen Überreste wurden auf ca. 7800 v. Chr. datiert (On Your Knees Cave auf der Prince-of-Wales-Insel). An der Westküste fanden sich Artefakte aus der Zeit um 8000 bis 9000 v. Chr. (Far West Point). Dieser frühen Phase folgte die archaische Phase, genauer die frühe (ca. 8000 bis 6000 v. Chr.) und die mittlere archaische Phase (ca. 6000 bis 4000 v. Chr.). Vermutlich folgten die Plano-Gruppen, die als Nachfolger der Clovis- und Folsom-Kulturen gelten, im Osten Karibu-Herden der Vereisungsgrenze entlang, Gruppen aus dem Westen erreichten um 7500 v. Chr. das südliche Ontario. Dort fanden sich Speerschleudern (Atlatl), eine technologische Neuerung, die um 8000 v. Chr. entstanden war. Projektilspitzen, Bohrer und vor allem Hausspuren tauchen bereits um 6000 v. Chr. in Vermont auf (John’s Bridge Site in Swanton). Schwerpunkte dieser Kulturen waren der untere Sankt-Lorenz-Strom und die Großen Seen. Die ersten größeren Monumente stellen Grabhügel dar, die Burial Mounds. Erstmals ist eine gesellschaftliche Hierarchie entlang des Eriesees, am südlichen Huronsee, am Ontariosee sowie am Sankt-Lorenz-Strom oberhalb der heutigen Stadt Québec greifbar (etwa 5500 v. Chr. bis 1000 v. Chr.). Die Plano-Kulturen auf den Great Plains umfassen den riesigen Raum zwischen den küstenfernen Gebieten British Columbias und den Nordwest-Territorien sowie dem Golf von Mexiko. Neue Waffentechnologien und weitläufiger Handel sind kennzeichnend. Das Rohmaterial einiger Steinwerkzeuge und -waffen stammte aus weit im Süden gelegenen Gebieten, wie Chalzedon aus Oregon und Obsidian aus Wyoming. Manitoba lag immer noch unter einem Eispanzer, doch entwickelten sich erste Siedlungskammern (Refugia) und bewohnbare Erhebungen, die über die Eisgrenze hinausragten (Nunatuks bzw. Nunataker), wie etwa in Süd-Alberta (Agate Basin culture). Hier wurden noch um 8000 v. Chr. Pferde gejagt; sie verschwanden ebenso wie die Megafauna. Erst später teilte sich der riesige Kulturraum erkennbar in zwei Großräume auf, die Frühe Shield- und die Frühe Plains-Kultur. Am South Fowl Lake an der Grenze zwischen Ontario und Minnesota wurden Funde gemacht, die auf eine Bearbeitung elementaren Kupfers bereits um 4800 v. Chr. hindeuten. Im Westen wurde die wohl mindestens bis 9000 v. Chr. zurückreichende Besiedlung durch die Frühe Plateaukultur überlagert. Die zunehmenden Lachswanderungen an der Küste waren aber wahrscheinlich, entgegen früheren Annahmen, nicht die Ursache. Die dortigen Kulturen reichen mindestens bis 8000 v. Chr. zurück. Der älteste Fund auf Vancouver Island (Bear Cove) belegt die Jagd auf Meeressäuger. Abgesehen von Haida Gwaii, das um 7500 v. Chr. besiedelt wurde und mit den Haida eine der ältesten ortskonstanten Bevölkerungen der Welt tragen, wurden viele küstennahe Artefakte durch den stark steigenden Meeresspiegel zerstört. Dieser wurde wiederum von den schmelzenden Eismassen am Ende der letzten Eiszeit ausgelöst. Der älteste nachweisbare Handel mit Obsidian, einem für die Waffen- und Werkzeugherstellung wichtigen vulkanischen Glas, reicht über 10.000 Jahre zurück und basierte auf einer Lagerstätte am Mount Edziza (2.787 m) in Nord-British-Columbia. Der äußerste Norden ist erst um 2.500 v. Chr. punktuell besiedelt worden, der Norden Ontarios erst um 2000 v. Chr. Von etwa 4000 bis 1000 v. Chr. Ab 2500 v. Chr. lassen sich im Westen Siedlungen nachweisen, dazu erste Anzeichen sozialer Differenzierung. Hausverbände bestanden, die sich saisonal zur Jagd in großen Gruppen zusammenfanden. Auch in den Plains lassen sich Dörfer nachweisen. Pfeil und Bogen kamen wohl vor 3000 v. Chr. aus Asien in den Nordwesten, wo die Erfindung lange verharrte, dann an die Ostküste gelangte, um erst rund drei Jahrtausende später den Westen zu erreichen. Begräbnisstätten finden sich im Osten, Grabhügel stellen die frühesten Monumentalbauwerke Kanadas dar. Sie gehen auf die Maritime Archaic People bzw. Red Paint People (wegen des Gebrauchs roten Ockers) zurück. Die vor 4000 v. Chr. in Zentral-Labrador ansässigen Gruppen wichen einer Kälteperiode nach Süden aus, um 2250 v. Chr. zogen Inuit, die um 3000 v. Chr. aus Sibirien kommend Nordamerika erreicht hatten, bis in diese Gegenden südwärts. An den Großen Seen lassen sich nun Hunde nachweisen (in Utah bereits um 8000 v. Chr.), die beerdigt wurden. Das Laurentian Archaic hatte sein Zentrum um Québec und in Ontario und reichte vielleicht bis etwa 5500 v. Chr. zurück. Das Ottawa-Tal gilt als Zentrum der Kupferproduktion. Die Cree, Ojibwa, Algonkin, Innu und Beothuk, die in den frühen europäischen Quellen fassbar sind, gehen wohl auf Gruppen der Shield-Kultur zurück. Um 2000 v. Chr. bestanden komplexe Begräbnisrituale mit kupfernen Beigaben, Werkzeugen und Ocker. Die Handelsbeziehungen reichten bis nach Dakota. Jahreszeitliche Wanderzyklen von großer Kontinuität werden fassbar. Bei den Plainskulturen lassen sich zwischen etwa 6000 v. Chr. und der Zeitenwende gravierende Veränderungen feststellen. Die Trockenphasen wurden milder, die noch heute existierende Bisonart setzte sich durch, Hunde wurden als Trage- und Zugtiere eingesetzt und erhöhten damit die Mobilität, das Tipi setzte sich durch, und eine Kochtechnik mit heißen Steinen gestattete die Herstellung von Pemmikan, was wiederum das Überdauern von Mangelphasen erleichterte. Die Mittlere Plateau-Kultur zwischen Rocky Mountains und pazifischem Küstengebirge entwickelte um 2500 v. Chr. einen Haustyp, der teilweise in die Erde eingetieft wurde. Die Ernährung basierte zunehmend auf Lachs. Die heutigen Binnen-Salish lassen sich mit dieser Kultur eng in Verbindung bringen. Als wichtigste kulturelle Veränderung gilt der Übergang von der Nichtsesshaftigkeit zu einer Halbsesshaftigkeit mit festen Winterdörfern und sommerlichen Wanderzyklen um 2000 v. Chr. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich an der Westküste, deren Kulturen sich mit den Küsten-Salish in Beziehung bringen lassen. Die Gesellschaftshierarchie prägte sich deutlicher aus, einige Gruppen hatten besseren Zugriff auf Ressourcen, Reichtum wurde angehäuft und der Handel nahm zu. Gegen Ende der Epoche lassen sich erstmals Plankenhäuser nachweisen. Die Salish waren darüber hinaus bereits vor 1600 v. Chr. auch Bauern – wie man von den Katzie weiß. Die Nuu-chah-nulth auf Vancouver Island entwickelten hochseetüchtige Kanus, mit denen sie auf Waljagd gingen. Im Gegensatz dazu hielt sich an Yukon und Mackenzie eine Kultur weiträumiger Jagd mit extremer Beweglichkeit kleiner Gruppen. Auch hier vermehrten Lachszüge über den Yukon und seine Nebenflüsse Größe und Zahl der Siedlungskammern. Zwischen 5000 und 2000 v. Chr. gab es eine Südwanderung der Inuitkulturen. Bis zu den ersten dauerhaften Kontakten mit Europäern (um 1500) Die Herstellung von Tongefäßen erreichte das Gebiet des heutigen Kanada wohl auf dem Weg von Südamerika über Florida. Pfeil und Bogen kamen aus Asien und wurden wahrscheinlich erstmals von Paläo-Eskimos eingesetzt. Osten Die ethnischen Gruppen, die hinter den Artefakten der jüngeren Kulturphasen standen, dürften die Vorfahren der heutigen Mi’kmaq, Welastekwíyek und Passamaquoddy sein. Mit den Keramikgefäßen ab etwa 500 v. Chr. endete an der Ostküste die archaische Phase, die von den Woodland-Perioden abgelöst wurde. Manche Dörfer waren wohl schon ganzjährig bewohnt. Von der rund 1700 km entfernten Adena-Kultur kamen Beerdigungspraktiken, mündliche Traditionen der Mi’kmaq reichen bis in diese Epoche zurück. Die Frühe Woodland-Periode erstreckte sich auch an den Großen Seen und dem Sankt-Lorenz-Strom von etwa 1000 v. Chr. bis 500 n. Chr. Auf diese Kultur gehen wohl die Irokesen zurück, aber auch einige der Algonkin-Gruppen. Dabei nahm die Bedeutung des Kürbisses nun erst deutlich zu, obwohl dieser bereits punktuell um 4000 v. Chr. angepflanzt wurde, wie etwa in Maine. Zwischen Ontario- und Eriesee sowie New York brachten einige Gruppen die Feuerstein-Fundstätten unter ihre Kontrolle. Die Onondaga-Feuersteine wurden bis 500 v. Chr. für Pfeile gebraucht. Zudem breiteten sich die aus dem Ohiotal kommenden Burial Mounds aus, ausgedehnte Begräbnishügel, wie etwa der rund 60 m lange Otonabee Serpent Mound, der heute im Schnitt 1,70 m hoch ist. Kanadischer Schild Die auf die Mittlere Schild-Kultur zurückgehenden Kulturen unterschieden sich nur in ihren Werkzeugen, weniger in ihrer Lebensweise, wenn auch der östliche Zweig Tongefäße übernahm. Hier zeigen sich bis nach Zentral-Labrador die Einflüsse der Adena-Kultur. Ihre typischen Mounds erscheinen auch in der westlichen Schild-Kultur (Laurel), beispielsweise im Süden Ontarios. Der Fernhandel mit Chalzedon aus Oregon und Obsidian aus Wyoming hing vom Flusstransport mit Kanus ab. Die einzigen bekannten menschlichen Überreste stammen aus zwei Grabhügeln im Norden von Minnesota, auf die möglicherweise die Stämme der nördlichen Algonkin-Kultur im südlichen Manitoba und im angrenzenden Ontario zurückgehen. Wahrscheinlich kam es aufgrund der Domestizierung von Wildreis zu einer herausgehobenen Schicht von Landbesitzern (Psinomani-Kultur). Der Süden Ontarios war in die Fernhandels-Beziehungen der Hopewell-Kultur eingebunden. Im Umfeld des Ontariosees wurde Kupfer gefunden, das im ganzen Osten Nordamerikas verbreitet wurde. Plains und Prärien Die späte Plains-Kultur lebte in hohem Maße von Büffeln. Ortsnamen wie Head-Smashed-In Buffalo Jump weisen auf die Treibertechnik bei der Jagd hin. Dabei scheinen die Prärien bis etwa 650 v. Chr. zugunsten von Wäldern geschrumpft zu sein. Spätestens ab ca. 500 v. Chr. begann der Bogen die Speerschleuder abzulösen. Hier kommen Mounds nur in Dakota vor. In Montana ließen sich Zeltdörfer von 100 ha Fläche und rund tausendjähriger Nutzungsdauer nachweisen, die Steinringe um die Tipis nutzten. Fernhandel war weit verbreitet und reichte westwärts bis zum Pazifik. Offenbar gab es bereits heilige Plätze, an denen Schamanen metaphysische Mächte beschworen. Im Norden überwogen kleinere nomadische Gruppen, während sich im Süden ein Zyklus saisonaler Wanderungen durchgesetzt hatte, deren Mittelpunkt feste Dörfer waren. Plateau Die späte Plateau-Kultur war durch Kleinräumigkeit gekennzeichnet. In Erdlöchern wurden Vorräte angelegt, heiße Steine dienten zum Backen und Kochen, so dass Kochgefäße unnötig waren. Die ausgedehnten Lachszüge lieferten den überwiegenden Teil des Nährwerts. Die Fische wurden durch Trocknung im Wind konserviert. Die Dörfer wurden größer und die Bevölkerung nahm zu, manche dieser Großdörfer waren über tausend Jahre jeden Winter bewohnt. Pfeil und Bogen tauchten erst spät auf. Der Zugriff auf Ressourcen hing am Ansehen, das zunehmend erblich wurde. Um 2500 v. Chr. lässt sich das sogenannte Pit House („Grubenhaus“) nachweisen, das teilweise in die Erde gegraben wurde und eine extensivere Bevorratung ermöglichte. Westküste Die Küstenkultur wurde zwischen 500 v. und 500 n. Chr. als Ranggesellschaft von Süden nach Norden strenger. Eine Schicht führender Familien beherrschte den Handel sowie den Zugang zu Ressourcen und hatte die politische und spirituelle Macht. Viele Funde lassen sich nun Einzelstämmen zuordnen, wie etwa den Tsimshian, die spätestens 2000 v. Chr. um Prince Rupert lebten. Auch hier tauchen erstmals Begräbnishügel auf. Erst um 400 n. Chr. erreichte der Bogen diese Region. Die Dörfer wurden zahlreicher und offenbar größer, außer denen an der Straße von Georgia. Die heutigen Küsten-Salish lassen sich auf die Marpole-Kultur zurückführen, reichen aber vermutlich erheblich weiter zurück. Die Kultur war bereits von der gleichen sozialen Differenzierung, von Plankenhäusern, in denen mehrere Familien lebten, von Lachsfang und -trocknung, reichen Schnitzwerken von mitunter monumentalen Ausmaßen, komplexen Zeremonien und Clanstrukturen gekennzeichnet. Die Toten erhielten zwischen 500 und 1000 n. Chr. immer öfter ihre letzte Ruhestätte in Bäumen, Pfählen, Grabhäusern und Höhlen. In einigen Regionen herrschten Steinhaufengräbern (cairns) vor, wie etwa um Victoria. Um 500 bis 700 n. Chr. tauchten vermehrt befestigte Dörfer auf – vor allem im Süden mit ausgehobenen Wassergräben, im Norden mit Palisaden. Diese kriegerische Phase erstreckte sich bis weit in die Zeit der europäischen Kolonisierung und endete erst mit der schweren Pockenepidemie von 1862. Nordwesten Frühe Funde, wie am Anne Lake bei Whitehorse, reichen bis 8000 v. Chr. zurück. Hier erschwerten das extreme Klima und starke vulkanische Aktivität dauerhafte Ansiedlung. Der Taye Lake-Komplex lässt sich zwischen 4000 und 1000 v. Chr. fassen, während der Taltheilei-Komplex vermutlich auf Zuwanderung aus British Columbia und Yukon zurückgeht, eine Wanderung, die bis über die Hudson Bay hinausreichte und möglicherweise die Vorgänger der Inuit dort verdrängte. Mit den Athabasken verbinden sich Fundstellen im Entwässerungsgebiet des Mackenzie ab 1000 v. Chr. bis ca. 700 n. Chr. Dabei nimmt man an, dass die als Old Chief Creek bezeichnete Phase im nördlichen Yukon die späteren Gwich'in hervorbrachte, die Taye-Lake-Phase im südlichen Yukon hingegen die Tutchone. Erste Europäer Ende des 10. Jahrhunderts waren Skandinavier aus Island oder Norwegen die ersten Europäer, die nachweislich den amerikanischen Kontinent erreichten. Als erster Entdecker gilt Bjarni Herjólfsson, der 985 oder 986 auf der Fahrt nach Grönland vom Kurs abkam und von „bewaldeten Hügeln im Westen“ berichtete. Rund zehn Jahre später landete das Schiff von Leif Eriksson auf Vinland, das wahrscheinlich der Insel Neufundland entspricht. Die Skandinavier konnten sich jedoch nicht dauerhaft in diesem Gebiet halten und zogen sich in den Jahren nach 1020 infolge von Auseinandersetzungen mit den von ihnen „Skrælingar“ genannten Ureinwohnern zurück. Archäologisch lässt sich seit 2021 die Anwesenheit von Europäern für das Jahr 1021 dendrochronologisch nachweisen. Der nächste namentlich bekannte Europäer, der nachweislich im heutigen Kanada landete, war am 24. Juni 1497 Giovanni Caboto (John Cabot), ein Italiener in englischen Diensten. Sein Schiff landete 1497 an einer nicht sicher bestimmbaren Stelle an der Ostküste, glaubte sich in China und nahm drei Mi’kmaq nach England mit und erklärte das Land zum englischen Besitz. Ein Jahr später brach er mit sechs Schiffen zu einer weiteren Expedition auf, von der er jedoch nicht wiederkehrte. 1498 befuhr der Portugiese João Fernandes Lavrador die Küste der wahrscheinlich nach ihm benannten Labrador-Halbinsel. In Lissabon hielt man die Cabot-Reise für eine Verletzung des 1494 abgeschlossenen Vertrags von Tordesillas, der dieses Gebiet Portugal zuschrieb, und rüstete unter Führung von Gaspar Corte-Real drei Schiffe aus. Sie landeten 1501 in Labrador oder auf Neufundland und nahmen 57 Beothuk gefangen, die sie nach Lissabon brachten und verkauften. Ende des 15. Jahrhunderts wird Neufundland auf portugiesischen Karten als „Terra dos Corte Reais“ (Land der Corte-Real) bezeichnet. Gaspar Corte-Real kehrte nie zurück, doch schon 1506 erhob der portugiesische König Manuel I. eine Abgabe auf den Kabeljau von Neufundland. Weitere Seefahrer erkundeten die Küste, doch es waren Franzosen, die als erste ins Landesinnere vorstießen. Die Expedition von Jacques Cartier erkundete 1534/1535 das Gebiet um den Sankt-Lorenz-Strom und nahm es für Frankreich in Besitz. Erste Siedlung in Neufrankreich war das 1600 gegründete Tadoussac. Die Siedlung musste zwar aufgegeben werden, blieb aber als Handelsposten bestehen. Spätestens Anfang des 16. Jahrhunderts lockten die reichen Fischgründe vor der Küste Neufundlands Fischer aus dem Baskenland, aus Portugal, Frankreich und von den britischen Inseln an. Sie gründeten kleinere Siedlungen an der Küste, in denen Stockfisch getrocknet und dadurch transportbereit gemacht wurde. Um 1530 gründeten baskische Fischer eine Walfangstation in der Red Bay, die rund 70 Jahre bestand und zeitweise über 900 Einwohner hatte. Indianer und Europäer, britisch-französische Rivalität Erste Kontakte und Handelsaktivitäten 1519 begann der Pelzhandel und die Küstenstämme tauschten Pelze gegen Messer, Äxte, Beile und Kessel. 1524 unternahm der Italiener Giovanni da Verrazzano im Auftrag Franz I. eine erste Forschungsexpedition an die Ostküste Nordamerikas, während der er zwischen South Carolina und der Kap-Breton-Insel segelte. Jacques Cartier, der 1541 in der Chaleur-Bucht ankerte, wurde bereits von zahlreichen Mi’kmaq-Kanus umringt, deren Besatzung mit Biberpelzen winkte. Die Stämme der Ostküste führten bald wegen der Handelskontakte Krieg untereinander. Cartier hatte auch am oberen Sankt Lorenz Pelze bei den Irokesen eingetauscht (1534/35) und lange Zeit florierte der Handel trotz fehlender Handelsstützpunkte. Ein Fluss- und Wegenetz, auf dem Indianer Handel betrieben, existierte schon sehr lange. Auftreten von Samuel de Champlain (bis 1635) Algonkins bzw. Susquehannock und Montagnais forderten Samuel de Champlain 1601 bei der Landung bei Tadoussac zur Unterstützung gegen die Irokesen auf. 1609 unterstützten die Franzosen die Huronen gegen Irokesen, mit denen diese seit Generationen im Krieg lagen. Diese Entscheidung, die trotz mehrerer Gelegenheiten nie revidiert wurde, brachte die Irokesen dauerhaft gegen die Franzosen auf. Um die sich anschließenden Kriege führen zu können, beschafften sie sich im Tausch gegen Pelze europäische Waffen bei den mit ihnen verbündeten Niederländern, die als Kolonialmacht von Neu-Amsterdam, dem späteren New York, und von Fort Oranje aus agierten. Jacques Cartier war dort, wo heute Québec und Montreal stehen, zwar auf die beiden Irokesendörfer Stadacona und Hochelaga gestoßen. Sie waren jedoch zu Champlains Zeit verschwunden. Einer der wichtigsten Verbündeten der Franzosen blieben die Huronen, die Irokesen verbanden sich bald mit den Engländern, die ihrerseits die Niederländer verdrängten. 1604 errichtete eine Flottenexpedition, an der Champlain teilnahm, die erste Siedlung auf Saint Croix Island an der Mündung des St. Croix River. Sie wurde ein Jahr später nach Port Royal verlegt. Bald folgten weitere befestigte Anlagen. Die Verlagerung der Kolonie nach Port Royal ins Gebiet der Mi’kmaq brachte 1607 die Penobscot gegen sie auf. Der Tarrantiner-Krieg (1607–1615) war Ausdruck ihrer Rivalität im Pelzhandel. 1608 gründete Champlain die Stadt Québec mit 31 Siedlern, von denen jedoch nur neun mit Hilfe der Indianer den ersten Winter überlebten. 1613 mussten sich die Händler von Port Royal nach Tadoussac zurückziehen, weil Engländer ihre Kolonie niedergebrannt hatten. Champlain zog den Ottawa aufwärts, um Verbündete zu gewinnen. Nachdem er nach Frankreich zurückgekehrt war, übergab er ein Gebiet von rund 30 % der Fläche Neufrankreichs an die Jesuiten in Form einer Seigneurie. Als Champlain 1615 eine Festung der Onondaga angriff, wurde er jedoch zurückgeschlagen. 1627 reiste er nach Paris und überzeugte Kardinal Richelieu davon, dass es sich lohne, die Kolonie zu unterstützen. So gründete man die Gesellschaft der 100 Assoziierten, auch Compagnie de la Nouvelle France genannt, um Auswanderer zu ermutigen. Doch die Zahl der Siedler blieb gering. 1630 hatte Québec 100 Einwohner, 1640 immerhin 359. Dabei wurde das feudalistische System Frankreichs auf die Kolonie übertragen, das Land in Grundherrschaften aufgeteilt. Auch die jesuitische Mission wurde so mit Lebensmitteln und Baumaterial versorgt. Zudem durften nur Katholiken in Neufrankreich leben. Da bereits 1628 Schotten nach Akadien gekommen waren, vor allem aber um 1630 Engländer in die Kolonie Neufundland zuzogen, kam es zum Krieg, in dessen Verlauf Québec 1629–1632 von Engländern besetzt wurde. Die einheimischen Beothuk wurden in den Krieg hineingezogen und dabei ausgerottet. 1634 errichtete Laviolette bei Trois-Rivières einen Handelsposten. Missionare errichteten Posten entlang der Großen Seen. Die Huronen zählten rund 20.000 Angehörige, die Petun (Tionontati) schätzt man für 1623 auf über 10.000, die Neutralen auf der Niagara-Halbinsel auf etwa 40.000 Menschen. Sie nahmen zwar nicht an den Kriegen zwischen Huronen und Irokesen teil, doch bekriegten sie die von ihnen vertriebenen Algonkin, die zu dieser Zeit als Feuer-Nationen bezeichnet wurden. 1650 vernichteten die Irokesen die Huronen. Englisch-französische Konkurrenz Eine der stärksten treibenden Kräfte war keineswegs die politische Dominanz oder die wirtschaftliche Ausbeutung des neuen Kontinents, sondern die Suche nach der Nordwestpassage, die den atlantischen mit dem pazifischen Ozean verbindet; das galt auch schon für Cartier. Dadurch hoffte man, einen kurzen Weg nach Süd- und Ostasien zu finden und den Weltmächten Portugal und Spanien dort Konkurrenz machen zu können. Martin Frobisher unternahm dazu 1576 bis 1578 Reisen, ähnlich wie John Davis (1585–1587), William Baffin (1612–1616), Thomas James (1631–1632) und Luke Fox (1631). Baffin und James kamen zu dem Schluss, dass keine Passage existierte. Henry Hudson nahm, als er 1609 die Passage suchte, die nach ihm benannte Hudson Bay für England in Besitz. Champlain geriet 1629 in englische Gefangenschaft, Québec wurde bis 1632 britisch. Das entstehende Machtvakuum nach Champlains Tod (1635) füllte der Bischof von Québec. Er veranlasste 1642 ein utopisches, christliches Siedlungsprojekt, die Ville-Marie, den Ausgangspunkt von Montreal. Die Laval-Universität wurde 1635 gegründet. Nach der Freigabe des individuellen Handels mit den Indianern ab 1652 zogen zahlreiche junge Männer als Waldläufer (coureurs des bois) aus, die unter den Indianern lebten, während neue Forts entstanden. 1672 wurde ihre Zahl auf 300 bis 400 geschätzt, was rund einem Zehntel der waffenfähigen Bevölkerung entsprach. Voyageurs, deren Zahl bis 1738 auf mindestens 1000, bis 1810 auf rund 3.000 anstieg, transportierten Waren, Tiere und Menschen ab 1779 im Auftrag der North West Company. Dabei spielten die Flüsse eine wichtige Rolle. Folgerichtig setzten Stämme wie die Kichesipirini auf der im Ottawa River gelegenen Isle des Allumettes bereits um 1630 ein Zwischenhandelsmonopol durch. Um 1660 kamen große Mengen von Pelzen aus dem Gebiet des Oberen Sees und gelegentlich von den Lakota. Seit etwa 1660 versuchten Médard des Groseilliers und sein Schwager Pierre-Esprit Radisson den durch die Vernichtung der Huronen zusammengebrochenen Pelzhandel wieder zu beleben. Doch Frontenac versuchte diesen Handel für Frankreich zu monopolisieren und Abgaben einzuziehen. Dazu ließ er die erste dauerhafte Siedlung in Ontario anlegen, ein Fort an der Stelle des heutigen Kingston. Die Pelzhändlergruppe wandte sich an London, 1670 entstand die Hudson’s Bay Company, die Pelze an Fort Frontenac vorbeischleuste. 1686 versuchten Franzosen im Gegenzug den englischen Handelsposten niederzubrennen. Zwar scheiterte die Suche nach der Westgrenze des Kontinents, doch wurden Kontakte zu Indianern bis an den oberen Mississippi, kurzzeitig sogar bis nach Santa Fe im spanischen Gebiet, aufgenommen. Pierre Gaultier de Varennes et de la Vérendrye verdankte dem Cree Auchagah dabei eine Karte des Gebiets zwischen Oberem und Winnipegsee. Zusammen mit seinen vier Söhnen und einem Neffen errichtete er eine Reihe von Forts und erreichte 1738 den Missouri. Doch er starb, bevor er zu einer erneuten Suche nach dem Weg zum Pazifik aufbrechen konnte. Der Interessengegensatz zwischen England und Frankreich wurde nicht nur durch konfessionelle Gegensätze, sondern vor allem durch die unterschiedlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle verstärkt, die nach Amerika übertragen und dort weiterentwickelt wurden. England hatte infolge der Glorreichen Revolution von 1688 das feudale Regiment entscheidend geschwächt und in den Neuengland-Kolonien wurde der Feudalismus formell 1776 abgeschafft. Damit wurde Eigentum individualisiert, Freizügigkeit galt für alle, die keine Sklaven waren, Abgaben und Dienste verschwanden und Arbeit wurde zunehmend zur Ware. In den französischen Gebieten hingegen wurde der Feudalismus erst 1854 aufgehoben. Bis dahin herrschte unfreie Arbeit auf dem Land vor, dazu eine langsamere ökonomische Entwicklung, eine feudale Hierarchie mit starker Abhängigkeit von wenigen Familien, die ihren Mittelpunkt in Frankreich sahen. Darüber hinaus stand die merkantilistische Wirtschaftspolitik einer selbstständigen Entwicklung Neufrankreichs ablehnend gegenüber. So unterstützte Richelieu ab 1627 zwar die Einrichtung einer Handelsgesellschaft, die die Kolonisierung und den Handel mit Pelzen vorantreiben sollte, aber nur, weil es diese in Frankreich nicht gab. 1704 verbot Paris folgerichtig die Herstellung von Pelzhüten, die möglichst nur in Frankreich hergestellt werden sollten. Dabei blieb die Zahl der französischen Siedler mangels Förderung gering, während England zwar ein wenig später, aber dann umso energischer auf Kolonisierung setzte. Sowohl in Neuengland als auch in Neuschottland dominierte dabei das System der Crown Grants, also der Ausstattung durch die Krone, und der Quit-Rents, der dazugehörigen Geldabgaben. Nur während einer kurzen Phase unter dem Intendanten Jean Talon bestand von 1665 bis 1672 eine starke staatliche Förderung. Nun kamen jährlich rund 500 Neuankömmlinge, dazu zwischen 1663 und 1672 700 bis 900 unverheiratete Frauen aus Frankreich. 1668 kamen außerdem rund 2000 Soldaten mit dem Carignan-Salières-Regiment, von denen 446 als Siedler blieben, rund 100 als Soldaten. Darüber hinaus wurden 1500 Siedler angeworben. So stieg die Bevölkerung durch zahlreiche in der Kolonie geborene Kinder zwischen 1720 und 1760 von 24.500 auf 70.000. Nach 1700 wurde die Entwicklung zunehmend vom Konflikt mit Großbritannien überschattet. Wie überlegen die britischen Kolonien waren, zeigte sich darin, dass 1750 in Neuengland bereits rund eine Million weiße Siedler lebten. Krieg um Handelsmonopole Den überwiegenden Teil der Felle brachten die Indianer in den Handel. Die Irokesen überjagten allerdings die Biber im Hudson-Tal und drängten daher zur Jagd weiter nordwärts, woraus die Biberkriege entstanden. 1641 boten sie den Franzosen Frieden an, doch diese wollten ihre huronischen Verbündeten nicht fallen lassen. Franzosen infizierten Huronen unwissentlich mit Masern, Grippe und Pocken; rund zwei Drittel der Huronen starben daran. 1648 begannen die Niederländer, Gewehre direkt an die Irokesen zu verkaufen. Im folgenden Jahr gelang diesen ein Sieg über die Huronen, bei denen nicht nur zahlreiche Gegner getötet wurden, sondern auch eine Gruppe von Jesuiten. Die Huronen flohen und suchten die Hilfe der Anishinabe-Konföderation an den Großen Seen. Auch die Petun entgingen den Kriegszügen nicht und wurden 1650 vernichtet, die Neutralen 1655. Eine weitere Gruppe, die heutigen Wyandot, floh nach Norden, dann nach Westen und schließlich nach Oklahoma. Das Vakuum im Handel mit den Franzosen füllten bald die Ottawa. Algonkin war eine Händlersprache, deren Bezeichnung schließlich auf alle Stämme dieser Sprachfamilie überging. Wenige Jahre nach der Vernichtung der Huronen und anderer Stämme begannen die Irokesen unter Führung der Mohawk und einer Stammeskoalition um die Mahican (andere Schreibweise: Mohegan), die Franzosen direkt anzugreifen. Montreal war 1660 nicht mehr sicher. Im Westen waren die Seneca führend. Sie vertrieben die Attawandaron oder „Neutralen“. Dann vernichteten sie bis 1656 den Stamm der Erie weitgehend, der am östlichen Südufer des Eriesees gelebt hatte. Mit ihrem Vorgehen lösten die Irokesen umfangreiche Völkerwanderungen aus, die westwärts bis zu den Rocky Mountains und weit in den Südwesten der USA reichten. Die Neuankömmlinge lösten dort wiederum neue Konflikte aus. Einigen Vertriebenen gelang es durch Übernahme des Pferdes, Gebiete zu erschließen, die ohne die aus spanischen Beständen stammenden Reittiere nicht bewohnbar gewesen wären. Sie veränderten auch die Techniken der Kriegführung und der Jagd. Zahlreiche Stämme waren etwa ab 1730 mehr als ein Jahrhundert lang Reiternomaden. Gesellschaft von Neufrankreich und die Irokesenkriege (1663 bis 1701) Bis 1663 unterstanden die französischen Gebiete der Handelsgesellschaft Compagnie de la Nouvelle France (Gesellschaft von Neufrankreich). Diese war jedoch nicht in der Lage, für Schutz gegen die Irokesen zu sorgen. Eines der wichtigsten Tauschgüter, der Biberpelz, war die Ursache für andauernde Auseinandersetzungen. Diese Pelze standen nur unter starken Schwankungen zur Verfügung. Frankreich versuchte, Montreal zum einzigen Handelszentrum für Pelze zu machen. Dies war jedoch für die Irokesen nicht tragbar, deren Führer inzwischen selbst vom Tauschhandel abhingen, denn sie gewannen Prestige durch das Verschenken begehrter Waren, die sie überwiegend gegen Pelze erhielten. Für die Führungsgruppen unter den Indianern wurde die Frage der Pelzmonopole zur Existenzfrage. So griffen sie 1687 Montreal an, 1689 kam es zum Massaker von Lachine, bei dem 97 Franzosen getötet wurden. Insgesamt kam bei dem Krieg etwa jeder zehnte Franzose ums Leben, also rund 250 bis 300. Dadurch, dass die Engländer 1664 den Niederländern Neu-Amsterdam hatten abnehmen können, waren die Engländer in deren Rolle geschlüpft und versorgten seither die Irokesen mit Waffen. Als der König-William-Krieg ausbrach (1689 bis 1697), wurde damit eine Kette von Stellvertreterkriegen ausgelöst, die England und Frankreich mit Hilfe ihrer indianischen Verbündeten austrugen. Am Ende des Krieges, einem Nebenkrieg des Pfälzischen Erbfolgekriegs, kam es ab 1698 zu Verhandlungen und 1701 zum Großen Frieden von Montreal mit den Irokesen. Damit endete der letzte der sogenannten Biberkriege, die seit 1640 anhielten. Zur Bekämpfung der Irokesen hatte Frankreich ab 1665 das mehr als tausend Mann umfassende Carignan-Salières-Regiment entsandt, das seit 1659 gegen die Osmanen im Einsatz gewesen war. Die Männer kamen überwiegend aus Savoyen, Piemont und Ligurien. In Neufrankreich musste das Regiment auf Befehl von Daniel de Rémy de Courcelle im Januar 1666 einen Winterfeldzug führen, bei dem 400 Mann erfroren, ohne einen Irokesen gesehen zu haben. Im Herbst gelang es ihnen, fünf verlassene Dörfer niederzubrennen, doch waren es die Pocken, die die Irokesen zwangen, um Frieden zu ersuchen. Der überwiegende Teil des Regiments zog 1668 wieder ab, jedoch erhielten Pierre de Sorel, Antoine Pécaudy de Contrecœur und François Jarret de Verchères riesige Grundherrschaften (seigneuries) am Richelieu-Fluss. Frankreich setzte ein oberstes Verwaltungsgremium ein, das dem französischen Seefahrtsminister unterstand. Es bestand aus dem Gouverneur, der für politisch-militärische Unternehmungen verantwortlich war, einem Superintendenten, dem Verwaltung, Rechtsprechung und Wirtschaft oblagen, und dem Bischof von Québec. Die Machtkämpfe zwischen Chevalier de Mercy und Bischof François de Laval beendete der erste Intendant Jean Talon (1665 bis 1672). Er versuchte möglichst viele der Soldaten im Lande anzusiedeln und unterstützte die Besiedlung. Zudem ließ Ludwig XIV. fast tausend Frauen („Töchter des Königs“ genannt), vor allem aus Paris und Rouen, ausstatten und in die Kolonie bringen. Bis 1673 wuchs die Bevölkerung um rund 9000 Menschen an. Die Nachkommen zahlreicher angeworbener Siedler und Schuldknechte wurden allerdings als gesellschaftlich niedriger stehende „engagés“ bezeichnet – 1665 stellten sie ein Viertel der männlichen Bevölkerung über 14 Jahren. Ehen zwischen französischen Kolonisten und Indianerinnen wurden ebenfalls gefördert. Aus deren Nachkommen gingen die Métis hervor, die bis heute Französisch oder Michif sprechen. Sie bilden seit 1982 eine staatlich anerkannte ethnische Gruppe. Hudson’s Bay Company, Kriege um Neufrankreich Gegen den englischen Einfluss errichteten die Franzosen zahlreiche Forts, unter ihnen 1673 Fort Frontenac. Alle Männer zwischen 16 und 65 mussten Militärdienst leisten. Zwar beruhigte sich die Lage für einige Zeit, doch 1683 begann abermals ein Krieg, den die Franzosen allerdings nun nach Art der Guerilla führten, die sie von den Irokesen kannten. Nachdem die französische Krone 1674 die direkte Herrschaft über die Kolonie übernommen hatte, erforschten René Robert Cavelier de la Salle, Louis Joliet und Jacques Marquette das Hinterland und befuhren den Mississippi. Sie schufen damit eine Grundlage für ein Kolonialreich, das sich bis an den Golf von Mexiko erstreckte. Es entstand eine Kette von Forts und Ansiedlungen vom Sankt-Lorenz-Strom zu den Großen Seen und von dort entlang des Mississippi bis nach Louisiana. Die Kolonie hatte jedoch größte Mühe, Geld für Soldaten aufzubringen. Dieses Geld wurde im Sommer zusammen mit Handelswaren aus Frankreich geschickt. Doch 1685 kam das Geld mit acht Monaten Verspätung an, so dass sich die Soldaten bei Siedlern verdingen und mit Spielkarten „bezahlt“ werden mussten. Was anfangs gut funktionierte, wurde ab 1690 jährlich praktiziert, führte aber zum Wertverfall, so dass die Inflation für 1713 auf 300 bis 500 % geschätzt wird. Nun versuchte man sich mit Krediten zu behelfen, doch Bargeld wurde so rar, dass der König 1729 auf Ersuchen der Kaufleute wieder die Ausgabe von Spielkarten gestattete. Doch um 1755 war das Vertrauen in diese Art der Geldpolitik erschöpft. Der Handel reduzierte sich auf Tauschhandel. Dazu kam, dass die Bevölkerung begann, die wenigen Münzen zu horten und zu verstecken. Der Queen Anne’s War von 1702 bis 1713 war, ähnlich wie schon früher, ein Stellvertreterkrieg, diesmal des Spanischen Erbfolgekrieges. Ähnliches gilt für den King George’s War (1740 bis 1748) und den Österreichischen Erbfolgekrieg. Schließlich kam es während des Siebenjährigen Krieges von 1756 bis 1763 in Nordamerika zum Britisch-Französischen Krieg. Zwischen 1713 und 1740 gelang es Neufrankreich, seinen Handel trotz des Monopolverlustes und seiner prekären Infrastruktur – die Sankt-Lorenz-Mündung war nur so lange offen, wie Louisbourg, eine Festungsstadt mit mehreren tausend Einwohnern, standhielt – auszubauen. Der Chemin du Roy („Königsweg“) verband Québec und Montreal über Land, Montréal wurde stark befestigt, ebenso wie die Stadt Québec. Québec wurde 1722 zu einer eigenständigen Kolonie innerhalb Neufrankreichs, seine Einwohnerzahl war auf 24.594 gestiegen, und stieg bis 1760 auf 70.000. Ein britischer Versuch, mit Hilfe der Irokesen die Kolonie während des Pfälzischen Erbfolgekriegs zu erobern (erfolglose Belagerung von Québec 1690), wehrten die Franzosen unter der Führung des Gouverneurs Frontenac ab. Im Gegenangriff vertrieben die Franzosen die Briten bis 1697 u. a. von der Hudson Bay, aus Neufundland und aus Neuschottland. Im Frieden von Utrecht musste Frankreich 1713 den Festlandteil von Akadien abtreten. 1745 griff William Shirley, der Gouverneur des britischen Massachusetts, Louisbourg an. Zwar musste die Festung im Frieden von Aachen 1748 zurückgegeben werden, doch schon 1749 wurde die Ohio Company of Virginia gegründet, die britische Kolonisten ins von Frankreich beanspruchte Ohio-Tal brachte. Mit dem Beginn des Siebenjährigen Krieges standen rund 70.000 Franzosen gegen inzwischen rund eine Million britische Siedler. 1759 eroberten Briten Québec. Der Bau französischer Forts bei Niagara, am Lake Champlain und am Allegheny River (Fort Duquesne) führte 1754 in Nordamerika noch vor dem Beginn des Siebenjährigen Kriegs zum offenen Ausbruch von Feindseligkeiten. Im Franzosen- und Indianerkrieg gelangen den Franzosen zunächst einige Abwehrerfolge (z. B. in den Schlachten am Monongahela (1755) und bei Ticonderoga (1758)), doch siegten die Briten unter General James Wolfe am 13. September 1759 in der Schlacht auf der Abraham-Ebene, wo der französische Oberkommandierende Louis-Joseph de Montcalm ums Leben kam. Die Briten eroberten daraufhin die Stadt Québec und 1760 unter dem Kommando von Jeffrey Amherst auch Montreal. Zögerliche Versuche, der bedrängten Kolonie aus Frankreich Hilfe zu schicken, wurden durch die britische Flotte unterbunden. Im Pariser Frieden vom 10. Februar 1763 trat Frankreich Kanada und seine akadischen Restgebiete (Prince Edward Island, Kap-Breton-Insel) an Großbritannien ab. Zwischen 1755 und 1763 wurden rund 12.000 französischsprachige Akadier aus ihrer Heimat vertrieben. Viele flohen nach Québec und New Brunswick, andere kehrten später zurück oder zogen bis nach Louisiana, wo sie die Cajun-Kultur begründeten. Britische Kolonialherrschaft Bis zur Unabhängigkeit der USA Im Quebec Act von 1774 reorganisierten die Briten die Kolonie als Provinz Québec. Der Bevölkerung kam man entgegen, indem der französische Code civil neben dem britischen Common Law seine Geltung behielt sowie die französische Muttersprache und die Ausübung der „Religion der Kirche von Rom“ geschützt wurden. Amerikanische Revolutionäre betrachteten das Gesetz als eines der Intolerable Acts (unerträgliche Gesetze), da die Grenzen Québecs weit nach Westen und Süden in die Interessensphäre der Dreizehn Kolonien verschoben wurden. 1760 wurde Neufrankreich einer Militärregierung unterstellt, die Jeffrey Amherst führte, dem die Eroberung Louisbourgs gelungen war. Er beendete 1761 die Austeilung von Geschenken an die Häuptlinge, wodurch er ihre durch Weiterverschenken gesicherte Position untergrub. Den Kolonialmächten feindlich gesinnte Gruppen fürchteten, dass Amherst den Verkauf von Waffen beschränkte, um sie langfristig zu entwaffnen. Amherst sah sich bald dem Pontiac-Aufstand gegenüber, und er scheute sich nicht, über Pocken als Waffen zumindest zu korrespondieren. Die britische Regierung grenzte mit der Königlichen Proklamation von 1763 indianische und britische Landansprüche gegeneinander ab. Der überwiegende Teil der französischen Führungsschicht ging nach Frankreich, viele Akadier wurden deportiert. Die Güter wurden zumeist eingezogen, der Kontakt zu Frankreich abgeschnitten. Frankreich seinerseits unterstützte den Kampf der Amerikaner gegen Großbritannien im Unabhängigkeitskrieg. Infolge des Indianeraufstands unter Pontiac änderte die Regierung ihre Politik gegenüber den Franzosen. Als amerikanische Truppen unter Richard Montgomery nach Montreal vordrangen, ergriffen die Franko-Amerikaner nicht ihre Partei, sondern verteidigten Québec und schlugen die Eindringlinge in der Schlacht von Québec am 31. Dezember 1775 zurück. (→ Invasion von Kanada (1775)). Die französisch-katholische Mehrheit (rund 90.000 Einwohner) geriet im Westen in die Minderheit, als nach dem Ende des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges mehr als 50.000 Flüchtlinge, als Loyalisten bezeichnet, angesiedelt wurden. Zugleich bildete ihre Anwesenheit ein Hindernis für eine Übernahme Kanadas durch die USA oder eine Rückgabe an Frankreich. Da sie überwiegend an den Großen Seen lebten, bildete sich so ein zweiter Siedlungskern, der sich in Konfession, Wirtschaftsweise, Kultur und Sprache unterschied. Das Land für die Loyalisten war jedoch keineswegs unbewohnt. 1790 gaben Wyandot, Ojibwa, Potawatomi und Ottawa Land mit einer Gesamtfläche von 1.344.000 Acre auf. Bis 1827 kamen nochmals fast 3.000.000 Acre hinzu. Das Verfassungsgesetz von 1791 richtete deshalb zwei Provinzen ein, das englisch geprägte Oberkanada und das französische Niederkanada mit jeweils selbstständigen Verwaltungen. Der Ottawa-Fluss bildete die Grenze zwischen beiden. Für den Westen war zudem keine clergy reserve vorgesehen, Land, das seit 1791 dem Unterhalt des anglikanischen Klerus' gedient hatte. Es wurde damit frei für industrielle Nutzung und Siedlung. Die seigneurie royale, die 1627 eingeführte Ordnung, bei der ein Lehnsherr vom König Land erhielt und dies gegen Dienste und Abgaben weiterverlieh, bestand jedoch fort. Die Mehrheit der irokesischen Stämme der Mohawk und Cayuga, die auf der Seite der Briten gekämpft hatten, verblieb in Kanada oder zog dorthin. Ihre Gebiete bildeten einen weiteren Siedlungskern, doch machte die Zuwanderung aus Europa sie schnell zu einer kleinen Minderheit. Der Westen: Pockenepidemien, regionale Handelsmonopole, Hudson’s Bay Company Die Krankheiten, allen voran Pocken, die den Indianern im Osten so schwer zu schaffen machten, eilten den Europäern voraus westwärts und trafen Stämme, die noch gar nicht mit Europäern in Berührung gekommen waren. Mit Handels- und Entdeckungsfahrten kamen ab den 1770er-Jahren auch erste Spanier und Briten an die Pazifikküste, wo 1775 eine schwere Pockenepidemie ausbrach, der bis 1862 weitere folgten. Im Zusammenwirken mit weiteren Krankheiten wie Masern, Grippe und Tuberkulose richteten sie umfassende Schäden an. Der Brite James Cook war der erste Entdecker, der in Kontakt mit den lokalen Indianern kam. Die nachfolgenden Europäer zog eher der gewinnträchtige Handel mit Pelzen, vor allem Fischotter, in das Gebiet zwischen Washington und Alaska, bei dem sich Handelsmonopole dreier Stämme der Nuu-chah-nulth unter Führung von Maquinna, Wickaninnish und Tatoochatticus (Tatoosh) entwickelten. Russen, die von Alaska her kamen, Amerikaner, Spanier und Briten konkurrierten um Einfluss, einigten sich aber 1790 darauf, keine Handelsniederlassungen mehr zu gründen. Innerhalb von drei Jahrzehnten erschöpften die zahlreichen Händler und die für sie überwiegend jagenden Indianer wichtige Pelztierbestände. Um diese stritten sich bald die großen Handelsgesellschaften, wie die North West Company, die XY Company und die Hudson’s Bay Company (HBC), die sich 1821 endgültig durchsetzte. Sie übernahm nach der Verschmelzung mit der North West Company die kolonialstaatlichen Aufgaben und gründete erste dauerhafte Handelsstützpunkte. Die Provinzhauptstadt Victoria wurde 1843 als Fort der HBC gegründet, die im Westen bis 1871 vorherrschte. Sie schloss auch die ersten Verträge mit den Indianern (Douglas-Verträge). Allerdings musste sie sich 1846, nachdem Großbritannien und die USA sich im Oregon-Kompromiss auf den 49. Breitengrad als Grenze geeinigt hatten, nordwärts zurückziehen. Zweiter Krieg gegen die USA Ein erneuter Versuch der USA, Kanada im Britisch-Amerikanischen Krieg von 1812 bis 1814/15 (in der Historiographie der Kontrahenten War of 1812 genannt) zu erobern, scheiterte. Der Widerstand gegen die Invasoren spielte eine wichtige Rolle bei der Entstehung eines gemeinsamen Nationalgefühls, zumal die Amerikaner die Hauptstadt York, das spätere Toronto, 1813 sechs Tage besetzten und zerstörten. Dabei brannten sie auch das Parlamentsgebäude nieder. Herausragende Figuren dieses Kampfes, wie Generalmajor Sir Isaac Brock und Laura Secord, sind in Kanada bis heute populär. Der Krieg fand ganz überwiegend auf der Niagara-Halbinsel statt, zwischen Erie- und Ontariosee. Die Amerikaner konnten keines ihrer Kriegsziele erreichen, Washington, der Sitz der Regierung, wurde am 24. August 1814 sogar niedergebrannt, die Library of Congress verbrannte dabei. Das Gedicht, auf das die 1931 eingeführte Nationalhymne der USA (The Star-Spangled Banner) zurückgeht, entstand in der Endphase des Krieges. Erst der Friede von Gent stellte den status quo der Vorkriegszeit wieder her. 1817 einigten sich Großbritannien und die USA darauf, die Großen Seen von Kriegsschiffen frei zu halten (Rush-Bagot-Vertrag). 1818 legten die Kriegsgegner weitere Konflikte im Londoner Vertrag bei. Die vor den Amerikanern geflohenen, etwa 2000 mit Großbritannien verbündeten Irokesen, überwiegend Mohawk und Cayuga, die Joseph Brant (Thayendanegea, 1743–1807) nach Ontario geführt hatte, unterstützten 1812 die Briten erneut. 1785 zählte man 1.785 Irokesen, die im Reservat der Six Nations of the Grand River lebten, einem Gebiet von 675.000 Acre westlich des Ontariosees, das jedoch durch Verkäufe auf 45.000 Acre zusammenschmolz. Brant wurde 1802 ein geschlossenes Gebiet am Grand River gegeben (so nannte man den Ottawa), genauer um das heutige Brantford, das nach ihm benannt ist. Eine zweite Gruppe hatte sich 1784 in Tyendinaga, benannt nach dem Mohawknamen Brants, angesiedelt, unweit von Kingston. Wenige Jahre bevor die Irokesen politisch fast jede Bedeutung verloren, denn sie wurden nach 1815 schnell zu einer kleinen Minderheit, griffen sie entscheidend in die militärischen Auseinandersetzungen ein, wie Carl Benn 1998 nachweisen konnte. Dies gilt etwa für die Schlacht von Queenston Heights am 13. Oktober 1812. Wirtschaft und Gesellschaft, Anschluss an die USA oder Selbstverwaltung Im frühen 19. Jahrhundert wurde Holz zu einem wichtigen Exportgut. Das Holz der Weymouths-Kiefer wurde zu Flößen zusammengebunden und über den Ottawa zum Seehafen Québec befördert. Das reichlich vorhandene Eichenholz war schwerer als Wasser und musste deshalb mit leichterem Kiefernholz zusammengebunden werden. Auf dem Rückweg beförderten die Frachtschiffe bis zu 200 Einwanderer preiswert nach Kanada, weil weder Salz noch Ziegel den Stauraum der westwärts fahrenden Schiffe ausfüllen konnten. Zwischen 1815 und 1819 führten die Hudson’s Bay Company und die konkurrierende North West Company den Pemmikan-Krieg, einen bewaffneten Handelskonflikt um die Kontrolle der Red-River-Kolonie und die Vorherrschaft im Fellhandel. 1821 wurden die beiden Gesellschaften zwangsweise verschmolzen und unter dem Namen der Hudson’s Bay Company fortgeführt. Aristokratische Familien dominierten das von der Kolonialverwaltung eingesetzte Parlament und die Wirtschaft. Moderate Reformer wie Robert Baldwin und Louis-Hippolyte La Fontaine forderten eine „verantwortliche Regierung“ (responsible government), die die Interessen der Bevölkerung stärker berücksichtigte als die Großbritanniens. Radikale Reformer wie William Lyon Mackenzie oder Louis-Joseph Papineau forderten die Unabhängigkeit und die Einrichtung einer Republik. Mackenzie und Papineau organisierten die Rebellionen von 1837 in Ober- und Niederkanada, die jedoch rasch niedergeschlagen wurden. Mackenzie ließ sich auf der Navy Island im Niagara River nieder und rief dort mit 200 Anhängern am 13. Dezember 1837 die Republik Kanada aus; sie mussten Mitte Januar 1838 in die USA fliehen. Im Verlauf der Kämpfe wurde ein Schiff namens Caroline die Niagarafälle hinabgestürzt und zwei Amerikaner kamen starben (→ Caroline/McLeod-Affäre). 1842 entschuldigte sich die britische Regierung für die Verletzung des amerikanischen Territoriums. Generalgouverneur Lord Durham verfasste 1839 den Bericht über die Lage in Nordamerika, worin er eine verstärkte Selbstverwaltung und eine parlamentarische Regierungsform vorschlug. Gleichzeitig sollte das Englische zur alleinigen Amtssprache erhoben werden, weil er hoffte, dass die Frankokanadier dadurch assimiliert würden. Diese Vorschläge wurden mit dem Act of Union 1840 umgesetzt. Aus der Vereinigung von Ober- und Niederkanada entstand 1841 die gemeinsame Provinz Kanada. 1848 änderte London seine merkantilistische Wirtschaftspolitik. So wurden die Getreidegesetze (Corn Laws) liberalisiert. Die Tories im Osten, die von merkantilistischen Bestimmungen profitiert hatten, reagierten empört mit dem Montreal Annexation Manifesto, das zum Anschluss an die USA aufforderte. Als 1849 eine neue Steuer, die zur Entschädigung der nicht verurteilten Aufständischen von 1837 erhoben werden sollte, eingeführt wurde, kam es in Montreal, das von 1843 bis 1849 Hauptstadt der Provinz war, zu zweitägigen Straßenkämpfen (Montreal Riots); dabei ging das Regierungsgebäude am 25. April 1849 in Flammen auf. Einen Monat später beschloss die Regierung, die Hauptstadt zu verlegen. In den nächsten Jahren wechselten sich Toronto und Québec im Status der Provinzhauptstadt ab. Königin Victoria entschied 1857, dass Ottawa, an der Grenze zwischen französischem und englischem Sprachgebiet gelegen, Hauptstadt des entstehenden Dominions Kanada werden sollte. 1851 lebten in Canada West über 950.000 Einwohner, in Canada East 890.000, in ganz Kanada 2.436.000. Damit hatte der englischsprachige Westen den französischsprachigen Osten überflügelt. Eine weitere Gruppe, schwarze Sklaven aus den USA, kam seit langem nach Kanada, denn dort war die Sklaverei 1834 abgeschafft worden. In Neufrankreich gab es spätestens seit 1629 Sklaven, im Jahr 1759 zählte man genau 3.604, von denen 1.132 aus Afrika stammten, die übrigen aus Neuengland oder von den Westindischen Inseln. Die meisten lebten in Montreal. Zwar brachten die Loyalisten rund 2000 Sklaven mit, doch wenige Jahrzehnte später lebten 3500 freie Schwarze in Kanada. Ab 1793 begann man die Sklaverei in Oberkanada Schritt für Schritt abzuschaffen. 1803 stellte Richter William Osgoode fest, Sklaverei sei mit dem britischen Recht unvereinbar. Doch erst 1834 wurde sie im gesamten britischen Imperium abgeschafft (→ Sklaverei in Kanada). Noch 1796 kamen jamaikanische Maroons nach Kanada, die Spaniern und Briten entflohen waren, 1813 bis 1816 wurden 2000 aus den USA während des Krieges von 1812 geflohene Sklaven in Neuschottland angesiedelt. Mit der 1780 gegründeten Underground Railroad wurden bis 1862 über dreißigtausend Sklaven aus den Südstaaten befreit und nach Kanada gebracht. Zeitweise kamen pro Jahr 1000 Sklaven. Mit der Einwanderung nach 1960 wurde diese „original black population“ zur Minderheit gegenüber den schwarzen Neuzuwanderern. Nachdem Großbritannien und die USA sich 1846 auf den 49. Breitengrad als Grenze von den Großen Seen bis zum Pazifik geeinigt hatten, schuf die britische Regierung zwei weitere Kolonien, British Columbia 1848 und Vancouver Island 1849. Beide wurden 1866 vereinigt. 1854 einigte sich London mit den USA auf die Abschaffung vieler Schutzzölle, so dass Holz, Fisch und Getreide dorthin ausgeführt werden konnten. Der Export, vor allem nach Großbritannien, wurde durch den Bau von Kanälen und durch die Grand Trunk Railway nach Montreal und weiter nach Halifax gefördert. Dieser Austausch von Gütern und Kapital, dazu die entsprechenden Interessengruppen, wurde bis zur Weltwirtschaftskrise zum wichtigsten Integrationsfaktor für Kanada. Dominion Gründung Als sich das Verhältnis zwischen Großbritannien und den USA während des Sezessionskriegs bis knapp an den Ausbruch eines Krieges verschlechtert hatte, erkannten führende Politiker die Notwendigkeit, möglichen amerikanischen Angriffen auf Kanada einen starken Bundesstaat entgegenzustellen. In drei Konferenzen (Charlottetown-Konferenz, Québec-Konferenz und Londoner Konferenz) wurde über die Schaffung einer Kanadischen Konföderation beraten. Daraus resultierte das Gesetz über Britisch-Nordamerika (British North America Act), das am 1. Juli 1867 in Kraft trat. Es schuf das Dominion of Canada als Bundesstaat. Zur Provinz Kanada (die heutigen Provinzen Ontario und Québec) kamen New Brunswick und Nova Scotia hinzu. Das Parlament erklärte 1879 den 1. Juli zum Nationalfeiertag; zuerst als Dominion Day und ab 1982 als Canada Day. Rupert’s Land und die Nordwestlichen Territorien, Aufstände und Verträge Die neue Bundesregierung unter Premierminister John Macdonald kaufte 1869 von der Hudson’s Bay Company das Gebiet Rupert's Land und das Nordwestliche Territorium, die zu den Nordwest-Territorien vereinigt wurden. Vor allem die Métis lehnten eine Besiedlung des Westens unter den von London vorgegebenen Bedingungen jedoch entschieden ab und erhoben sich 1869/70 in der Red-River-Rebellion. Ihnen schlossen sich einige Cree unter Häuptling Big Bear an. Die Aufständischen unter Louis Riel bildeten eine Übergangsregierung, deren Forderungen die Bundesregierung jedoch ablehnte. Nach der militärischen Niederlage floh Riel in die USA. Im Aufstandsgebiet entstand 1870 mit dem Inkrafttreten des Manitoba Act die Provinz Manitoba, deren Rechtsordnung die Interessen von Englisch- und Französischsprachigen, Indianern und Métis, Katholiken und Protestanten ausgleichen sollte. In den dünn besiedelten Gebieten der Nordwest-Territorien schloss die Regierung 1871 einen Vertrag mit sieben Indianerstämmen, den ersten der elf sogenannten Numbered Treaties. Darin wurden den ethnischen Gruppen Reservate (reserves) zugewiesen, um Land für die geplante Besiedlung mit Europäern, vor allem Briten, zu räumen. Dabei ging man von dem Konstrukt aus, dass die britische Königin ihre Untertanen um die Einverständniserklärung bitte, das Land für Siedlung und Einwanderung zu öffnen. Innerhalb von sechs Jahren folgten weitere sechs Verträge, zu denen sich über 170 Stämme bereitfanden, vor allem weil ihre Lebensgrundlage, die Büffel, praktisch ausgerottet war. Der zuständige Indianerkommissar Edgar Dewdney setzte das Druckmittel des Hungers ein, um die Stämme, die Widerstand leisteten, zum Einlenken zu zwingen. Der Abschluss der übrigen Verträge zog sich bis 1921 hin; sämtliche Verträge sind bis heute gültig. Nur das Yukon-Gebiet und der überwiegende Teil British Columbias blieben ohne Verträge. Ausdehnung bis an den Pazifik und Ausbau der transkontinentalen Eisenbahn 1871 schloss sich British Columbia an der Pazifikküste dem Dominion an, 1873 trat auch Prince Edward Island der Konföderation bei, nachdem es sechs Jahre zuvor einen Beitritt abgelehnt hatte. Ebenfalls 1873 gründete Macdonald die North West Mounted Police als Vorgängerin der Royal Canadian Mounted Police, um in den weitläufigen Nordwest-Territorien kanadisches Recht durchzusetzen und den Anspruch Kanadas auf das Gebiet zu untermauern. Auch einigte man sich 1872 mit den USA auf den genauen Grenzverlauf zwischen British Columbia und Washington, genauer gesagt bei der Aufteilung der San Juan Islands, nachdem es 1859 wegen Unklarheiten der Zugehörigkeit der Inselgruppe zum Schweinekonflikt gekommen war. Unter teils konservativen, teils liberalen Politikern erlebte Kanada einen raschen wirtschaftlichen Aufschwung. Eine wichtige Rolle hierbei spielte der Eisenbahnbau, der die Prärieprovinzen erschloss. Sie entwickelten sich in der Folge zu einer „Kornkammer der Welt“. Die private, aber staatlich geförderte Canadian Pacific Railway vollendete 1886 die transkontinentale Eisenbahnverbindung und stieg zum wichtigsten Unternehmen Kanadas auf. Sie war für British Columbia das Hauptmotiv zum Beitritt gewesen. Entlang ihrer Trassen belebte sie Schifffahrt, Industrien und Siedlungen, förderte aber auch Insiderhandel und Korruption im Zusammenhang mit Grundstückskäufen. Kanada unterhielt dabei weiterhin enge Wirtschaftsbeziehungen zu Großbritannien, sichtbar u. a. an der Senkung von Zöllen für britische Waren 1896 und daran, dass der überwiegende Teil des Kapitals für den Ausbau der Infrastruktur aus London stammte. Nordwest-Rebellion, Einfluss der USA, Sprachenstreit Nach der Red-River-Rebellion von 1869 bis 1870, auf die die Regierung reagierte, indem sie im Manitoba Act fast allen Forderungen nachkam, zogen viele Métis weiter nach Westen. Aber auch dort begannen Rinderbetriebe mit größerer Effizienz ihre Produkte zu verdrängen. Die freie Vergabe von Land bedrohte zudem ihre Siedlungs- und Lebensweise. Da der Wert der immer gleich großen Landstücke sehr stark schwankte, entschieden zudem Insiderinformationen, an die die Métis ohne Regierungs- und Unternehmenskontakte nicht gelangen konnten, über die erfolgreiche Spekulation mit Grund und Boden. So fühlten sie sich übervorteilt und setzten sich zur Wehr. Louis Riel kehrte aus dem Exil zurück und führte 1885 die Nordwest-Rebellion an. Der Aufstand brach jedoch nach schweren Gefechten zusammen und Riel wurde am 16. November desselben Jahres wegen Hochverrats hingerichtet. Dies verstärkte Spannungen zwischen den englischen und französischen Kanadiern, da letztere mit den überwiegend Französisch sprechenden Métis sympathisiert hatten. Bereits seit 1858 waren Goldsucher an den Fraser River in British Columbia gezogen (→ Fraser-Canyon-Goldrausch). Die dort noch herrschende Hudson’s Bay Company, die ihr Hauptquartier 1846 aus Fort Vancouver nach Victoria auf Vancouver Island verlegt hatte, fürchtete bereits eine Übernahme der Regierungsgewalt durch die zahlreichen US-Amerikaner, die dort eintrafen. Weitere Goldfunde lockten vor allem Männer aus Kalifornien an, aber auch aus Europa. Auch der Sprecher des dortigen Parlaments, John Sebastian Helmcken, sprach sich zeitweise für einen Anschluss an die USA aus, zumal Washington 1867 das angrenzende Alaska von Russland kaufte. Im Zuge des Klondike-Goldrauschs, der zeitweise über 100.000 Menschen in die Region lockte, wurde 1898 das Yukon-Territorium von den Nordwest-Territorien abgetrennt; eine Polizeitruppe versuchte, die Entwicklung zu kontrollieren und stellte Grenzposten. Gegenüber den Indianern schlug man eine Politik der Missionierung und Segregation ein. 1905 erfolgte die Gründung der Provinzen Alberta und Saskatchewan. Der Manitoba-Schulstreit drohte von 1890 bis 1896 erneut das Land entlang der Sprachen- und Konfessionsgrenze zu spalten. Ontario begrenzte im Juli 1912 mit dem Reglement 17 den Gebrauch der französischen Sprache nach dem ersten Schuljahr und verbot ihn sogar nach dem vierten. Diese Regelung konnte nie vollständig umgesetzt werden und wurde 1927 aufgehoben. Ähnliche Auseinandersetzungen prägten Neubraunschweig und auch die Nordwest-Territorien. Erste Massenmedien s. a. Geschichte der kanadischen Zeitungen Die erste Zeitung auf dem Gebiet Kanadas war die Halifax Gazette, die 1752 erschien. William Brown und Thomas Gilmore aus Philadelphia gründeten die zweisprachige Quebec Gazette als erste Zeitung in Québec. 1785 entstand das heute älteste Blatt, die Montreal Gazette. Die frühen Zeitungen hingen weitgehend von Zuwendungen der Regierung und von Anzeigenerträgen ab, kaum von Käufern und Abonnenten. Dies sollte sich in Kanada als Dauerzustand erweisen. Zeitungen wurden vielfach zur Durchsetzung von Gruppeninteressen gegründet. So waren die 1805 und 1811 gegründeten City Mercury und in Montréal der Herald Sprachrohre der dortigen Händlereliten, während Le Canadien (1806) und La Minerve (1826) die Frankophonen vertraten. Gegen diese Kolonial- und Händlereliten wiederum richtete sich in Ober-Kanada der Colonial Advocate, den William Lyon Mackenzie herausbrachte, und der die Reform- und Farmergruppen vertrat. Schließlich hingen die Blätter von Parteien ab, insbesondere den Reformern und den Konservativen, und zwar meist als Organe bestimmter politischer Führer. So war der 1844 gegründete Toronto Globe die Stimme des Reformers George Brown, der Toronto Mail hingegen wurde zur Stimme von John Macdonald, dem ersten Premier Kanadas. Jede größere Stadt hatte ein liberales und ein konservatives Blatt. Bis in die 1930er Jahre hinein blieben die Quebecer Blätter dabei von der jeweiligen Regierung abhängig. Blätter, die nicht einer der Führungsgruppen angehörten, wie die kommunistische Presse, wurden immer wieder verboten. In Québec erließ die Regierung Maurice Duplessis den Padlock Act, der ihre Zeitungen traf. Der erste Versuch einer Tageszeitung, der Montréal Daily Advertiser, bestand nur von 1833 bis 1834. Doch 1873 gab es bereits 47 Tageszeitungen, 1913 gar 138. Die Verbreitung des Radios ab den 1930er Jahren und des Fernsehens ab den 1950er Jahren kostete die Zeitungen viele Werbekunden, so dass 1953 nur noch 89 Tageszeitungen existierten. 1986 erholte sich die Zahl wieder auf 110, doch nur noch acht Städte hatten zwei oder mehr Tageszeitungen. Vom Ersten Weltkrieg bis zur staatlichen Souveränität Erster Weltkrieg Obwohl die kanadische Politik langfristig auf eine völlige Unabhängigkeit abzielte, unterstützte das Land Großbritannien im Burenkrieg und im Ersten Weltkrieg. Die Truppen der Canadian Expeditionary Force kämpften bei Ypern, an der Somme, bei Passchendaele. Die Schlacht bei Arras, bei der diese Truppen 1917 im Alleingang einen bedeutenden Höhenzug (Vimy Ridge) eroberten, gilt als eines der identitätsstiftenden Ereignisse der Nation. Der Ort Ladysmith verdankt seinen Namen einem Ort, der im Burenkrieg bekannt wurde. 330.000 von rund acht Millionen Kanadiern standen unter Waffen, über 60.000 starben. Die Soldaten waren Freiwillige. Viele Frankokanadier, Mennoniten, Quäker und Pazifisten lehnten die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Juli 1917 ab, weshalb nur wenige Männer tatsächlich eingezogen wurden. Nur 24.132 von 124.588 Rekruten erreichten den französischen Kriegsschauplatz. Während des Krieges konnten die Kanadierinnen das Frauenwahlrecht durchsetzen, das 1916 auf Provinz- und 1918 auf Bundesebene eingeführt wurde. Den Indianern blieb dieses Recht bis 1960 vorenthalten. Bereits 1876 hatte Emily Stowe den Women’s Literary Club in Toronto gegründet, der 1883 seinen Namen in Women’s Suffrage Association änderte. Analog zu den britischen Suffragetten setzten sie sich für das Frauenwahlrecht ein, ab 1907 unter dem Namen Canadian Suffrage Association landesweit. Parallel dazu entstand ab 1874 in Winnipeg die Woman’s Christian Temperance Union, die zu ihrem ursprünglichen Ziel der Prohibition das Wahlrecht hinzunahm. Führend war hier Nellie McClung, die 1912 Gründungsmitglied der Political Equality League wurde. Im Januar 1916 setzte Manitoba das Frauenwahlrecht durch. Nachdem andere Provinzen gefolgt waren, erging auf Bundesebene zunächst der Wartime Elections Act von 1917, der das Wahlrecht für Frauen in der Armee und für Ehefrauen von Soldaten vorsah. Mit dem Women’s Franchise Act von 1918 folgte das Wahlrecht auf Bundesebene für alle Frauen ab 21. Ein Jahr vor Beginn des Krieges kam es zu einer extremen Dürre. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, stieg der Export steil an. Nun wurde massiv für eine Ausweitung des Agrarlandes, für Investitionen in Landmaschinen gesorgt. Ab 1915 steuerte ein Imperial Munitions Board die Produktion von Militärgütern. Er beschäftigte 1917 250.000 Arbeiter. 1918 bestanden 40 % der Industrieproduktion aus Waffen und Munition. Finanzminister Thomas White wehrte sich gegen Steuererhöhungen, doch 1916 erhob die Regierung eine Steuer auf Geschäftsgewinne, 1917 eine Einkommensteuer. Sie wurde nicht wieder abgeschafft. Die Kosten für Bildung, Gesundheit, Wohlfahrt lasteten zunehmend auf den Provinzen, während die Einnahmen der Bundesregierung zuflossen. Dennoch stieg der Schuldenberg von 463 Millionen auf 2,46 Milliarden Pfund. Die Grand Trunk Pacific Railway und die Canadian Northern Railway wurden von der Regierung aufgekauft. In British Columbia öffnete der Panamakanal erstmals die Ostküste den dortigen Produkten. Zudem wurde nun Weizen aus Alberta billiger über Vancouver transportiert als über den Osten. Vancouvers Einwohnerzahl stieg von 29.000 im Jahr 1901 binnen dreißig Jahren auf 247.000. Damit war sie die drittgrößte Stadt Kanadas. 1914 bis 1918 prägten Rationierung und Preiskontrollen den Alltag; erhebliche Summen für Kriegsanleihen konnten in Kanada selbst aufgebracht werden. Im Versailler Vertrag und im Völkerbund trat Kanada als eigenständiger Staat auf; seit 1927 hat es eine Botschaft in der US-Hauptstadt Washington. Zwischenkriegszeit, Verstädterung, Souveränität Die Weizenpreise fielen von 1918 bis 1929 um rund 75 %. Die Zahl der in der Landwirtschaft Tätigen ging zurück. Zugleich verstädterte das Land zunehmend. In Québec stieg der Anteil der Städter von 1891 bis 1931 von 29 auf 60 %, in Ontario von 35 auf 63 %. Die Progressive Partei nahm sich der Interessen der Prärieprovinzen an. Sie unterstützte den liberalen Premierminister William Lyon Mackenzie King, der 1926 in der Folge der King-Byng-Affäre wiedergewählt wurde. Das Maritimes Rights Movement verlangte nach weniger Bundesmacht, Québec wurde zu einer Hochburg des Separatismus. 1919 schlossen sich die verschiedenen Gewerkschaften hingegen zu einer Einheitsgewerkschaft zusammen. Erst seit 1872 war ihre Existenz mit dem Trade Unions Act gesichert. Um 1900 war mit rund 100.000 Mitgliedern kaum jeder zehnte Arbeiter organisiert. Dieser Organisationsgrad stieg erst in den 1940er-Jahren auf 20 bis 30 % und erreichte 1954 mit 34 % seinen Höhepunkt. Mit dem Statut von Westminster wurde Kanada 1931 ein souveräner Staat, an dessen Spitze der König bzw. die Königin von Großbritannien steht und der dadurch Teil des britischen Commonwealth of Nations blieb. 1934 entstand die Bank of Canada als eigene Staatsbank, 1935 schloss Kanada einen Handelsvertrag mit den USA ab. Weltwirtschaftskrise Als engster Handelspartner der Vereinigten Staaten litt Kanada besonders stark unter der Weltwirtschaftskrise. Die Arbeitslosigkeit in den USA stieg bis auf 25, die in Kanada bis auf 27 %. Die konservative Regierung von Richard Bedford Bennett (1930–1935) versuchte, die Krise durch hohe Zölle und hohe Staatsausgaben zu bekämpfen. Aufgrund der angespannten Haushaltslage musste das Konjunkturprogramm jedoch zurückgefahren werden. 1935 errang die Liberale Partei unter Mackenzie King erneut die Mehrheit der Wählerstimmen. Seine Regierung initiierte ein Wohnungsbauprogramm und eine Arbeitsmarktverwaltung, die Canadian Broadcasting Corporation (1936) und die Trans-Canada Airlines als Vorläufer der Air Canada (1937). Erst 1939 konnte die Wirtschaftsleistung von 1929 wieder erreicht werden, die Große Depression galt als beendet. Die Weltwirtschaftskrise veränderte das politische System. Einige Mitglieder der Progressiven Partei gründeten die Social Credit Party, die ein freiwirtschaftliches Programm vertrat. Andere Mitglieder fusionierten mit der Labour Party zur sozialistischen Co-operative Commonwealth Federation. Auch die Kommunistische Partei Kanadas genoss zeitweise hohe Aufmerksamkeit, ihr Führer Tim Buck wurde zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt, die Partei wurde 1941 verboten. In den 1930er-Jahren entstand der kanadische Sozialstaat, der von Politikern aller Parteien weiterentwickelt wurde. In Kanada gingen Ende 1928 die Exporte zurück, erst 1929 folgten die Importe. Der Kapitalzufluss überschritt erst 1930 den Höhepunkt. Das Nationaleinkommen fiel von 1929 bis 1933 von 4,3 auf 2,3 Milliarden Dollar. Allein in den einst geförderten Agrarregionen fiel das Einkommen von 600 auf 200 Millionen (von 1928 bis 1932). Dementsprechend steil stiegen die Ausgaben der Provinzen für die Wohlfahrt, denn die Verstädterung entzog den Kanadiern zunehmend die Möglichkeit, auf die Ressourcen des Bodens zurückzugreifen. Gleichzeitig wurden zahlreiche Aufgaben kommunalisiert oder von den Provinzen übernommen, wie die Gas- und die Stromversorgung. Die öffentliche Meinung neigte zu staatlichen Interventionen und Investitionen. Dabei entwickelte die Krise nicht nur enorme soziale und parteipolitische Sprengkraft, sondern sie drohte den Staat zu zerspalten. Der Premierminister von British Columbia Thomas Dufferin Pattullo versuchte 1934 an der Spitze der westlichen Provinzen eine nationale Arbeitslosenversicherung einzurichten. Er forderte den Zugriff der Provinzen auf die von der Bundesregierung eingezogene Einkommensteuer und den „rationalen Gebrauch des nationalen Kredits“, darüber hinaus setzte er ein Gesetz durch, das der Provinzregierung in Victoria ähnliche Rechte übertrug, wie der Bundesregierung in Ottawa. Als Ottawa Sparmaßnahmen forderte, drohte Pattullo mit der Abspaltung der Provinz. Auch Maurice Duplessis, Premierminister von Québec, war separatistischen Gedanken nicht abgeneigt, die auch an der Ostküste Verfechter fanden. Letztlich setzten jedoch die sogenannten Ottawa Men einen Kurs durch, der für Schutzzölle, Unterbieten von Standards und Preisen sowie Abwertungen sorgte, um das Land wirtschaftlich überlebensfähig zu halten. Zudem wurde letztmals auf Großbritannien als Kapitalquelle gesetzt. Großbritannien vereinbarte durch die Imperial Trade Conference Zollsenkungen. Hingegen vereinbarte Kanada 1935 mit den USA einen verstärkten Freihandel untereinander. Die ökonomische Anbindung an die USA setzte sich ab Ende der 1930er-Jahre durch, eine Entwicklung, die der Zweite Weltkrieg und der Niedergang des Britischen Empire beschleunigten. Zweiter Weltkrieg Premierminister Mackenzie King hielt den Ausbruch eines erneuten Weltkrieges bis zum 1. September 1939, dem Tag des deutschen Angriffs auf Polen, für unwahrscheinlich. Die Kriegserklärung gegen das Deutsche Reich erfolgte erst am 10. September, um Kanadas Unabhängigkeit gegenüber Großbritannien herauszustellen. Kriegsbeteiligung und Streit um die Wehrpflicht Kanadische Soldaten kämpften 1941 in Hongkong, 1942 bei Dieppe, 1943 in Italien – hier waren 92.757 Kanadier im Einsatz, 5764 starben – und 1944 in der Normandie bei der Invasion des Juno Beach – im Nordwesten Europas waren 237.000 Kanadier im Einsatz, 11.336 kamen ums Leben. 249.663 Kanadier dienten in der Royal Canadian Air Force (RCAF), rund 17.101 starben, in der Royal Canadian Navy starben 2024 der über 100.000 Eingesetzten. 1945 übernahmen kanadische Soldaten die Befreiung der Niederlande, und waren auch in Norddeutschland beteiligt. Insgesamt dienten 1.159.000 Männer und Frauen während des Krieges freiwillig in den Streitkräften, 44.093 verloren dabei ihr Leben. Je länger der Krieg andauerte, desto weniger Freiwillige meldeten sich für den Kriegseinsatz. Premierminister Mackenzie King versprach den Wählern, dass es keinen Zwang zur Wehrpflicht geben werde. Am 21. Juni 1940 wurde der National Resources Mobilization Act verabschiedet, der die Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht zur Verteidigung Kanadas ermöglichte. Englischsprachige Kanadier forderten die aktive Beteiligung auf den Kriegsschauplätzen, während die Frankokanadier jeden Einsatz außerhalb Kanadas ablehnten. Am 27. April 1942 fand eine Volksabstimmung über die Einführung der Wehrpflicht statt. Die französischsprachigen Einwohner Québecs leisteten gewaltsamen Widerstand gegen jede Einberufung. Erst 1944 wurden die ersten Wehrpflichtigen eingezogen. Von den 13.000 eingezogenen Wehrpflichtigen erreichten nur noch 2463 die Front, wo 69 von ihnen starben. (→ Wehrpflichtkrise von 1944) Internierung japanischer und deutscher Kriegsgefangener Nach dem Angriff Japans auf Pearl Harbor wurden alle 22.000 japanischstämmigen Kanadier entschädigungslos enteignet und bis Kriegsende in Lagern („detention camps“) im Landesinneren interniert. Zwar wehrten sich die Royal Canadian Mounted Police, das Militär und die Experten der Far Eastern Division des Außenministeriums, doch der in British Columbia unter Politikern vorherrschende Rassismus setzte sich durch, die Politik in Ottawa steuerte dem nicht entgegen. In British Columbia lebten 1941 rund 95 % der als „Japs“ Bezeichneten, die dort kein Wahlrecht besaßen. Treibende Kraft der Kampagne zur Vertreibung aller Japaner war Ian Mackenzie. 20.881 Japaner wurden allein in Hastings Park festgehalten, davon gingen rund 12.000 in Gefangenenlager. Etwa 4.000 wurden nach Kriegsende nach Japan deportiert, 4.700 lebten nun östlich von Alberta, nur 6.776 lebten im Januar 1947 in British Columbia. Erst 1988 erfolgte eine förmliche Entschuldigung der kanadischen Regierung. Die britische Regierung bemühte sich, deutsche Kriegsgefangene in den Dominions unterzubringen, insbesondere in Kanada, während italienische Gefangene in Großbritannien blieben. Die Überführungen begannen im Juni 1940. Sie wurden in Lagern weitab der Städte untergebracht und dort häufig im Straßenbau eingesetzt. Im Herbst 1942 befanden sich 8.940 deutsche Gefangene in Kanada, in Großbritannien hingegen nur noch 300. Die kanadische Regierung widersetzte sich dabei Churchills Auffassungen, etwa in der Frage der Fesselung von Gefangenen. Zugleich gelang es Nazi-Offizieren innerhalb der Lager erhebliche Macht auszuüben. Das größte Lager befand sich in Medicine Hat in Alberta, das für mehr als 12.000 Gefangene vorgesehen war. Die höheren Offiziere wurden im Kriegsgefangenenlager Bowmanville unweit von Toronto untergebracht, insgesamt 880. Es ist das einzige erhaltene Kriegsgefangenenlager Kanadas, es soll jedoch abgerissen werden. Außerdem wurde von den Seeleuten der deutschen Handelsmarine, die von den Alliierten zwischen 1939 und 1946 weltweit interniert wurden, mehr als die Hälfte nach Kanada verbracht. „Kein anderes Land hielt während des Zweiten Weltkriegs eine auch nur annähernd ähnlich große Anzahl deutscher Seeleute in Gewahrsam.“ Nach Kriegsende wurden die Gefangenen aus Kanada und den USA zumeist nach Großbritannien verbracht, wo sich Mitte 1946 300.000 Gefangene befanden. Jüdische Zuwanderung 1871 lebten nach dem ersten Zensus 1115 Juden in Kanada, davon 409 in Montreal, 157 in Toronto, 131 in Hamilton, der Rest verstreut am Sankt-Lorenz-Strom. Auch in Victoria lebten rund hundert Juden, die durch den Fraser-Canyon-Goldrausch (ab 1858) und den Klondike-Goldrausch angezogen worden waren. 1862 entstand in Victoria die erste Synagoge Kanadas. Henry Nathan junior, der bei den Beitrittsverhandlungen British Columbias zu Kanada 1871 eine Rolle gespielt hatte, war das erste jüdische Mitglied des Parlaments. Die Jewish Colonization Association brachte zahlreiche russische Juden, die ab 1881 vor Pogromen flohen, nach Kanada. Die Mehrheit lebte in Montreal und Toronto, wenn auch einige in den Prärieprovinzen Landwirtschaft betrieben. 1918 entstand mit dem Canadian Jewish Congress eine Organisation, die die jüdischen Interessen in Kanada vertrat. 25.000 kanadische Juden beteiligten sich an den Wahlen von Delegierten. Dort wurde eine Einwanderungsorganisation gegründet, die Jewish Immigrant Aid Society. Jedoch gelang es diesen Verbänden nicht, die Grenzen für Flüchtlinge vor dem nationalsozialistischen Regime in Deutschland zu öffnen. Wachsender Einfluss der Bundesregierung, Widerstand der Provinzen Wie das Justizkomitee des britischen Privy Council bestimmt hatte, erhielt die Regierung für die Dauer des Krieges uneingeschränkte Gewalt. Unmittelbar nach Beginn des Krieges stieg die Beschäftigung um 12 %, die industrielle Produktion verdoppelte sich, die Ausgaben stiegen von 0,5 auf 5 Milliarden Dollar. Die Zahl der Beschäftigten im Bundesdienst stieg auf 115.000 und hatte sich damit beinahe verdreifacht. Lagen die Ausgaben im Fiskaljahr 1939–40 noch bei 118.291.000 Dollar, so stiegen sie im nächsten Jahr auf 752.045.000, auf dem Höhepunkt im Jahr 1943–44 auf 4.587.023.000. Die Gesamtausgaben von 1939 bis 1950 beliefen sich auf 21.786.077.519,12 Dollar. Mit den genannten Maßnahmen der Kulturförderung und der politischen Propaganda bis hin zur Verlagerung des Archivs der Hudson’s Bay Company von London nach Kanada stärkte die Regierung das Nationalgefühl gegen die partikularen Kräfte in den Provinzen. Gegen die Übernahme aller Aufgaben der Provinzen durch Ottawa setzten sich diese jedoch erfolgreich zur Wehr. Das Radioprogramm wurde landesweit nur von der Canadian Broadcasting Corporation (CBC) ausgestrahlt, den privaten Sendern wurde nur eine regionale Ausstrahlung gestattet. Auch beim 1952 entstandenen Fernsehen nahm die CBC die Regulierungsaufgaben wahr und wurde zugleich der bedeutendste Sender. Wie beim Radio dienten private Netzwerke als Distributoren für CBC-TV. Ziel waren „Schutz, Bereicherung und Stärkung der kulturellen, politischen, sozialen und ökonomischen Struktur Kanadas“. Nachkriegszeit Kalter Krieg, Anschluss von Neufundland und Ausbau des Sozialstaats Kanada wurde zunehmend in die Kriegsanstrengungen der USA im Konflikt mit der Sowjetunion eingebunden. So entstanden Militärbasen und Beobachtungsstationen, da der kürzeste Weg zum Gegner über den Nordpol und Kanada führte. In Labrador, im Yukon und in Alberta kam es zu diesem Zweck zu Umsiedlungen und zur zwangsweisen Sesshaftmachung der letzten nomadischen Völker. Immerhin erhielten die Ureinwohner in mehreren Provinzen das Wahlrecht, 1960 auch im Bund. Doch erst im Laufe der 70er Jahre wurde das auf internatartigen Einrichtungen basierende Schulsystem, für das sich der Premierminister im Juni 2008 entschuldigte, abgeschafft, das für die Vernichtung zahlreicher Sprachen und kultureller Eigenheiten verantwortlich ist. Im Jahre 1949 wurde das bislang selbstständige Dominion Neufundland aus finanziellen Gründen nach einer Volksabstimmung zur zehnten kanadischen Provinz. Dabei votierten in einer Stichwahl 52 % der Wähler für den Anschluss an Kanada, 48 % für die Unabhängigkeit. Der Zweite Weltkrieg erhöhte den politischen Einfluss der Bundesregierung, die einen Sozialstaat mit Kindergeld, Krankenversicherung und Rentenversicherung aufbaute. Die durch Rüstungsausgaben stabile Konjunktur wurde durch neue Ölfunde in Alberta (1947) noch verstärkt. Der Begriff welfare state für Wohlfahrts- oder Sozialstaat tauchte 1941 zum ersten Mal in Kanada auf, er stammte von William Temple, dem Erzbischof von Canterbury. Zwar gab es schon im 19. Jahrhundert Maßnahmen, die Bevölkerung gegen Gewalt, Willkür und Unwägbarkeiten zu schützen, indem etwa Verarmte Unterstützung erhielten, und auch auf offenbar Arbeitsunfähige wurde Rücksicht genommen. Doch erst der Schutz der Kinder vor Ausbeutung und Vernachlässigung brachte tiefere staatliche Eingriffe in die vorhandenen Gesellschaftsstrukturen, sieht man von den Eingriffen in die Verhältnisse der Ureinwohner ab. Die einsetzende Industrialisierung brachte starke Gegensätze hervor, so dass der Staat in Verteilungskonflikte eingriff, meistens zugunsten der Unternehmer. Der erste Schritt zu einem Sozialversicherungssystem erfolgte mit dem Workmen's Compensation Act von 1914. Während des Ersten Weltkriegs mussten Invalide und alleinstehende Mütter unterstützt werden. 1919 bis 1924 bemühte man sich um ein Hausbauprogramm, erst 1927 konnte man sich zu einem Rentenversicherungssystem durchringen. Kranke über 70 waren damit erstmals materiell abgesichert. Erst die Weltwirtschaftskrise erzwang eine Arbeitslosenversicherung (Dominion Unemployment Relief), die mit der Einrichtung von Camps einherging, in denen Arbeitslose, oftmals in abgelegenen Gebieten, mit Straßenbauarbeiten und ähnlichem beschäftigt wurden. Bennett’s New Deal, den Premierminister Richard Bedford Bennett 1935 in Radioansprachen ankündigte, gilt als Wende zum Sozialstaat. Der Bund sollte sich um die Versicherungssysteme, vor allem gegen Arbeitslosigkeit kümmern, die Provinzen um Personen, die nicht im Arbeitsmarkt unterzubringen waren, und um allgemeine soziale Dienstleistungen. Mit dem Zweiten Weltkrieg akzeptierten die meisten Kanadier staatliche Interventionen (ca. 1941–74). 1951–52 erhielten erstmals alle über 70-jährigen eine Rente, alle über 65, wenn die öffentlichen Kassen dies gestatteten. Erstmals erhielten auch Indianer Sozialleistungen. Mit dem Unemployment Assistance Act folgte eine volle Arbeitslosenversicherung, es folgte die Förderung von Krankenhäusern, von Bildung und Ausbildung. Mit dem Canada Pension Plan, einem beitragsbasierten Rentensystem, dem Canada Assistance Plan, einem umfassenden Plan zur Absicherung, und Medicare, einer Gesundheitsversicherung und -versorgung, wurde das System abgerundet. Der National Housing Act sah ab 1964 niedrig verzinste Kredite für den Hausbau vor. Außerdem führte man das bis heute gültige Punktesystem für Immigrationswillige ein, das die persönlichen Fertigkeiten, Erfahrungen und das Alter berücksichtigt. Im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre wurde das System fortgeführt, aber durch Abgabensysteme, erhöhte Zugangshürden, Privatisierung teilweise ausgehöhlt. Im Oktober 1994 diskutierte das Papier Improving Social Security in Canada die Balance zwischen Staatsausgaben und Wohlfahrt grundlegend. Der Canada Assistance Plan lief danach 1996 aus. Er wurde durch Canada Health and Social Transfer (CHST) ersetzt. Die Regierung beschnitt 1994–98 Ausgaben in Höhe von 6,3 Milliarden Dollar. Food Banks Canada, eine gemeinnützige Organisation, sorgt für Armenspeisung, wobei 2008 über 700.000 Menschen von ihnen versorgt wurden, davon 37 % Kinder. Ähnlich zugenommen hat das Problem der Obdachlosigkeit in den großen Städten. Sie ist oftmals verbunden mit Drogenabhängigkeit, Prostitution sowie Kriminalität. Aktivere Außenpolitik Die Vereinigten Staaten wurden endgültig der wichtigste wirtschaftliche und außenpolitische Partner Kanadas. Kanada war 1945 Gründungsmitglied der Vereinten Nationen und 1949 der NATO. Im Koreakrieg (1950–1953) und während der Sueskrise übernahm es die diplomatische Vermittlung zwischen den USA und deren Gegnern. Dafür erhielt Außenminister Lester Pearson 1957 den Friedensnobelpreis. Im Koreakrieg sollte die Canadian Army Special Force (CASF) die UN-Truppen gegen Nordkorea unterstützen. Nachdem MacArthurs US-Truppen die Gegner über die alte Grenze zwischen Nord und Süd zurückgetrieben hatten, erwartete die kanadische Regierung ein Ende des Krieges, doch die Amerikaner marschierten weiter nach Norden. Das 2nd Battalion of the Princess Patricia’s Canadian Light Infantry ging im Dezember 1950 nach Korea, ihm folgte die CASF. Von den 21.940 Soldaten und 3.600 Navy-Angehörigen kamen 312 ums Leben, über 1.200 wurden verletzt. Am 26. Juli 1956 verstaatlichte der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser den seit 1869 von Briten und Franzosen kontrollierten Sueskanal. Israelische Truppen marschierten daraufhin Richtung Kanal. Lester Bowles Pearson, 1948–57 kanadischer Außenminister, schlug erstmals die Entsendung von UN-Truppen vor, der kanadische General Eedson Louis Millard Burns übernahm ihre Führung. Vor allem der Druck aus den USA zwang die Briten, die das UN-Mandat missachtet hatten, sich zurückzuziehen, und den Kanal aufzugeben. Niedergang der Eisenbahn zugunsten von Flugzeug und Auto, einsetzender Ölboom Die Infrastruktur, die noch weitgehend auf Eisenbahnen basierte, wurde zwischen 1948 und 1952 durch den Trans-Canada Highway ergänzt, die staatlichen Trans-Canada Air Lines wurden 1937 gegründet und nahmen 1939 ihren Postbetrieb von Küste zu Küste auf. Der Sitz der meisten Bundesinstitutionen war Montreal. Doch diese waren, abgesehen von Trans-Canada, im Niedergang. Hatten die Eisenbahnen 1951 noch 70 Millionen Passagierkilometer erbracht, so waren es acht Jahre später nur noch 60. Die Fluggesellschaften hingegen steigerten sich im gleichen Zeitraum von 700 Millionen auf über 3 Milliarden. Waren 1950 2,6 Millionen Autos registriert, so verdoppelte sich ihre Zahl bis 1959. Dabei spaltete sich das Land ökonomisch weiter aufgrund der gewaltigen Ölfunde. Ontario erhielt 1953 eine petrochemische Industrie, mit der Trans Mountain Pipeline kam Erdöl nach Vancouver, das vor allem in Kalifornien nachgefragt wurde, während ab Montreal ostwärts die Abhängigkeit vom transatlantischen Öl weiterhin bestand. Während die atlantischen Provinzen und Québec weiterhin stark auf Europa ausgerichtet waren, orientierte sich Ontario auf die aufstrebenden industriellen Zentren der USA, allen voran Detroit, Chicago und New York. Der Westen hingegen erhielt zunehmend Zugang zum Weltmarkt, war stark an die Prärieprovinzen angebunden und profitierte vor allem von Kalifornien. Aufhebung rassistischer Gesetze, verstärkte Einwanderung Seit etwa 1600 hatte die europäische Einwanderung mit den ersten Siedlungen begonnen, doch wurde sie nur zeitweilig gefördert, nur wenige strebten in den Norden. Mit der Deportation der Akadier kamen erstmals Gruppen von Deutschen und Schweizern nach Neuschottland, wie etwa nach Lunenburg. Eine erste größere Einwanderungswelle stellten die Loyalisten dar. Sie waren zugleich politische Flüchtlinge, denen weitere Wellen folgten, wie etwa ab 1848 aus Europa. Die erste umfangreiche Einwanderungswelle kam aus Irland, das 1845 bis 1849 unter einer katastrophalen Hungersnot litt. Die katholischen Iren lebten oftmals in eigenen Quartieren und arbeiteten in den neu entstehenden Industrien, waren jedoch ärmer als die britische Bevölkerung. Viele von ihnen wanderten weiter in die USA, zumal die britische Politik eher ländliche Einwanderung förderte. Von dort kamen ab 1858 zahlreiche Goldsucher in den Westen Kanadas, eine Entwicklung, die mit dem Klondike-Goldrausch ihren Höhepunkt fand. Um einen Ausgleich zu schaffen, förderte die Regierung die britische Einwanderung. Kanada förderte, vor allem seit Wilfrid Laurier, die massive Immigration in die ländlichen Regionen, die den Indianern durch erzwungene Verträge abgenommen worden waren. Innenminister Clifford Sifton förderte dabei nicht nur die britische, bäuerliche Einwanderung, sondern auch die aus den USA. Erst dahinter rangierten Franzosen, Belgier, Niederländer, Skandinavier, Schweizer, Finnen, Russen, Zuwanderer aus Österreich-Ungarn, Deutsche, Ukrainer und Polen. Am wenigsten wünschte man Italiener, Südslaven, Griechen und Syrer, Juden, Asiaten, Zigeuner und Schwarze. Vor allem gegen Chinesen kam es zu rassistischen Gesetzen und zu Ausschreitungen. So mussten sie Kopfgelder zahlen, es wurden Begrenzungsabkommen geschlossen sowie Reisebeschränkungen. Frauen durften oftmals gar nicht einreisen, um eine dauerhafte Ansiedlung zu verhindern. Gegen die Zuwanderung schwarzer Amerikaner ging man vor, indem man behauptete, medizinische Gründe würden diese ausschließen. Die Provinzen hatten dabei Mitspracherechte. So unterhielt Québec ein eigenes Einwanderungsministerium, das die Rückkehr emigrierter Frankokanadier förderte. Während des Ersten Weltkriegs kam es zu Enteignungen deutschen Eigentums, wie sie sich während des Zweiten Weltkriegs gegen Japaner richteten. Die Weltwirtschaftskrise bewirkte, dass Einwanderung als schädlich betrachtet wurde, und sogar politische Flüchtlinge, wie etwa Juden aus Deutschland, wurden rigoros abgewiesen. Die anziehende Kriegswirtschaft und vor allem der Boom der Nachkriegsjahre ließen den Arbeitsmarkt anwachsen, so dass Einwanderung wieder gefördert wurde. Dies galt vor allem für Europa, nun aber auch verstärkt für Südeuropa, allen voran Italien, Griechenland und Portugal. Die Einwanderer gingen nun in die Industrieregionen, kaum mehr aufs Land, wie frühere Generationen. Die gemeinsamen Anstrengungen während des Krieges führten zudem dazu, dass die rassistischen Gesetze bis Ende der 1960er-Jahre abgeschafft wurden. Stattdessen wurde ein Punktesystem eingeführt, das Alter, Bildung, Englisch- und Französischkenntnisse sowie den Arbeitsmarkt berücksichtigte. Schon seit 1971 kommt die Mehrheit der Einwanderer nicht mehr aus Europa. Selbstständige, gut ausgebildete und sofort einsetzbare Immigranten werden heute bevorzugt. Sie können nach einigen Jahren die Staatsbürgerschaft beantragen. Flüchtlinge erreichten Kanada nach 1945 zusätzlich aus dem sowjetischen Machtbereich, aber auch aus anderen Krisengebieten, wie Uganda oder Chile, und wurden unter Umgehung des üblichen Prozederes aufgenommen. Seit 1978 werden Flüchtlinge nicht mehr als Einwanderer betrachtet, sondern unterliegen einer eigenen Gesetzgebung. So nahm Kanada die vietnamesischen Boatpeople auf, indem Beamte diese Flüchtlinge in Südostasien aufsuchten. Der überwiegende Teil kommt allerdings inzwischen ins Land und erklärt erst nach der Ankunft, politischer Flüchtling zu sein. Während der 1990er-Jahre kam eine große Zahl von Immigranten aus Hongkong, das 1997 von der Volksrepublik China übernommen wurde. Sie kamen vor allem nach Vancouver, das den spöttischen Beinamen Hongcouver erhielt, und nach Toronto. Die kanadische Regierung hatte ein Ziel von 220.000 Immigranten oder rund 1 % der Bevölkerung vorgegeben. Das Immigrationsprogramm wurde zuletzt 2008 überarbeitet. Stille Revolution und Unabhängigkeitsbewegung in Québec Im Allgemeinen gewannen in dieser Phase die Provinzen wieder an Einfluss gegenüber der Bundesregierung. Sie investierten wieder mehr in Verwaltung und Steuerung, als Ottawa, dessen Anteil an den Regierungsausgaben 1952 noch bei 63 % gelegen hatte, 1965 hingegen nur noch bei 47 %. Dennoch floss der überwiegende Anteil der Steuereinnahmen nach Ottawa. Gleichzeitig stieg der Anteil der von Ottawa finanzierten Provinzausgaben von unter 10 % im Jahr 1956 auf knapp 27 % im Jahr 1960. Québec wehrte sich gegen die damit verbundenen Vorgaben. Es blockierte ein Bundesprogramm für Bildung, Wohlfahrt und Gesundheit, und erlangte die Zuschüsse 1951/52 ohne Vorgaben. 1960 verlangte Québec dennoch, Kosten und Verwaltung selbst zu übernehmen, und verlangte einen höheren Anteil an den Einkommenssteuern. Die Provinz Québec erlebte von 1960 bis 1966 einen gesellschaftlichen Umbruch, der als Stille Revolution bezeichnet wird. Die Liberalen stürzten die konservative Regierung der Union Nationale. Die Regierung des Premierministers Jean Lesage, dessen Motto „Herr im eigenen Haus“ (maître chez nous) lautete, und die mit „Es ist Zeit für eine Veränderung“ angetreten war, drängte den dominierenden Einfluss der katholischen Kirche zurück. So nahm er das Bildungssystem in staatliche Hand, befreite geschiedene Frauen vom Status von Unmündigen, und es wurde ein Pensions- und Gesundheitsplan entwickelt. Er verstaatlichte zudem die Energieversorgung und Hydro-Québec entstand, hinzu kamen Stahl-, Bergbau- und Ölgesellschaften. Im Norden erfolgten Zwangsumsiedlungen indianischer Stämme, die Erschließungsvorhaben im Weg standen, nomadische Gruppen wie die Innu wurden unter Druck gesetzt, um sie sesshaft zu machen. Das neue Selbstbewusstsein der Frankokanadier drückte sich darüber hinaus in einem Aufschwung der Québecer Kultur aus. Außerdem senkte die Regierung das Wahlalter von 21 auf 18. Der Haushalt wuchs gewaltig an, von 745 Millionen auf 2,1 Milliarden Dollar. In Paris, London und Washington entstanden botschaftsähnliche Einrichtungen unter dem Namen Maisons du Québec, doch bei der Aufnahme solcher Beziehungen zum Ausland bremste Ottawa. Am 5. Juni 1966 gewann die erneuerte Union Nationale wieder die Mehrheit der Sitze. Bei seinem Besuch der Expo 67 schürte Charles de Gaulle 1967 die separatistische Stimmung in der Provinz, als er vor 100.000 Québecern ausrief: „Es lebe das freie Québec!“ („Vive le Québec libre!“). Aus Protest gegen die schlechte soziale Lage der frankophonen Bevölkerung verübte die 1963 gegründete Front de libération du Québec (FLQ, Front für die Befreiung Québecs) über 200 Bombenanschläge. Selbst in Vancouver bedrohten Sympathisanten 1970 den Bürgermeister Tom Campbell. Pierre Vallières, der 1968 die Frankokanadier in einem Buchtitel als die „weißen Neger Amerikas“ bezeichnet hatte, war einer ihrer führenden Köpfe. Premierminister Pierre Trudeau (Liberale Partei) bekämpfte die Terroristen mit Notstandsgesetzen und ließ 1970 während der Oktoberkrise die kanadische Armee in Montreal aufmarschieren. In der Stillen Revolution wurde in einem Teil der Bevölkerung der Gedanke einer Unabhängigkeit populär. 1968 bildete sich die Parti Québécois (PQ, Québecer Partei) als politischer Arm der Souveränisten, die 1976 unter ihrem Vorsitzenden René Lévesque die Provinzregierung bildete. Seine Regierung erklärte im folgenden Jahr Französisch zur alleinigen Amtssprache (→ Charta der französischen Sprache) und organisierte 1980 ein Referendum über die Unabhängigkeit der Provinz, die allerdings von 60 % der Wähler abgelehnt wurde. Multikulturalismus, Verfassungsgesetz von 1982, Abgrenzung zu den USA Die Veränderungen in Québec wirkten sich auch auf Bundesebene aus. Symbolisch verschwand 1965 durch die neue Nationalflagge mit dem Ahornblatt (eng. Maple Leaf, frz. Unifolié) die ältere Flagge mit der britischen Red Ensign. 1969, gut ein Jahrhundert nach der Gründung der Kanadischen Konföderation, wurde Französisch gleichberechtigt mit Englisch offizielle Landessprache (→ Zweisprachigkeit in Kanada). Diese Maßnahmen, gegen Widerstände anglophoner Kanadier durchgesetzt, sollten die frankophonen Kanadier enger an das Staatswesen binden. Am 17. April 1982 trat das gemeinsam von Kanada und Großbritannien verabschiedete Verfassungsgesetz von 1982 in Kraft. Dieses enthält mit der Charta der Rechte und Freiheiten einen ausführlichen Grundrechtskatalog sowie detaillierte Bestimmungen, wie die Verfassung künftig zu ändern sei, und ergänzte damit den British North America Act von 1867, der neu Constitution Act 1867 heißt, und wie bisher den staatsrechtlichen Aufbau des Landes ordnet. Mit dem Verfassungsgesetz von 1982 verzichtete das britische Parlament im Übrigen auf sein Recht, für Kanada Gesetze zu erlassen, womit die letzten Reste der Abhängigkeit von Großbritannien beseitigt waren. Diese Verfassung machte den Multikulturalismus zum Staatsprinzip. Er sollte die Aufnahme der in jüngerer Zeit eingewanderten Kanadier erleichtern. Bilingualismus und Multikulturalismus verdanken die Kanadier dem liberalen Premierminister Pierre Trudeau (1968–1979). Er bemühte sich darum, Kanada auf der internationalen Bühne stärker zur Geltung zu bringen. Als Gegner des Vietnamkriegs und Verfechter guter Beziehungen zu Kuba brüskierte er die Vereinigten Staaten. Zudem war er auf kulturelle Eigenständigkeit gegenüber den USA bedacht und förderte gezielt die kanadische Kultur im Sinne der Dualität von franko- und anglophoner Bevölkerung. Seit den 1980er-Jahren Politische Annäherung an die USA, Freihandelsabkommen Nach den Parlamentswahlen von 1984 wurde der Anglo-Québecer und Konservative Brian Mulroney neuer Premierminister. Seine Politik der Annäherung an die USA gipfelte – nach seiner Amtszeit – Anfang 1994 im Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA), das Kanada, die USA und Mexiko in eine Freihandelszone einband. Schon 1989 kamen die ersten Schritte zu einem Freihandelsabkommen mit den USA zustande. So wurden Abgaben reduziert und ein Schlichtungsprozess implementiert, der Kanada Einfluss auf informelle Beschränkungen des Handels einräumte, wie etwa bürokratische Hürden oder manipulierte Ausschreibungen. Separatismus in Québec, gescheiterte Referenden Der Meech Lake Accord (Accord du Lac Meech) von 1987 sollte die Québecer durch die Festschreibung einer eigenen Québecer Gesellschaft (distinct society/ société distincte) innerhalb des Bundesstaates enger an das Staatswesen binden und souveränistische Tendenzen in Québec schwächen. Das Abkommen scheiterte allerdings am Widerstand der Parlamente in Manitoba und Neufundland. Als 1991 eine Mehrwertsteuer in Höhe von sieben Prozent eingeführt wurde, sank Mulroneys Popularität, was 1993 zu seinem Rücktritt führte. Jean Chrétien von der zentristischen Liberalen Partei gewann die Parlamentswahlen von 1993 mit dem Versprechen, die Mehrwertsteuer abzuschaffen. Dieses Wahlversprechen konnte jedoch aufgrund der schlechten Wirtschaftslage nicht umgesetzt werden. Bis 1995 konnte Kanada immerhin als einziges G7-Land einen ausgeglichenen Staatshaushalt vorweisen. 1995 führte die Parti Québécois, durch die Ablehnung des Meech Lake Accord beflügelt, ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit durch. Beim Québec-Referendum 1995 votierte nur eine knappe Mehrheit von 50,6 % der Québecer gegen die Loslösung von Kanada. 1998 entschied der Oberste Gerichtshof, dass eine Provinz sich nicht einseitig für unabhängig erklären könne (→ Renvoi relatif à la sécession du Québec). Dieser Bescheid ist jedoch nicht bindend, einem solchen wurde aber auch noch nie widersprochen. Daher versuchte man im Clarity Act vom 15. März 2000 festzulegen, unter welchen Bedingungen die Bundesregierung gegebenenfalls in Verhandlungen eintreten könne. Weiterhin haben die Provinzen ein Anrecht auf Referenden über die Separationsfrage, doch sind sie nur bei einer „relevanten“ Mehrheit eine Aufforderung zu Verhandlungen, bei denen alle Premierminister der Provinzen und die Bundesregierung hinzugezogen werden müssen. Außerdem muss die Verfassung gegebenenfalls geändert werden. Die Regierung stellte am 27. November 2006 fest, dass sie Québec als „Nation innerhalb eines geeinten Kanadas“ anerkenne, dass aber dessen Einheit nicht in Frage gestellt werden könne. Distanz zur US-Außenpolitik und erneute Anlehnung an die USA 2003 übernahm Paul Martin die kanadische Regierung. Seine Liberale Partei wurde durch einen Sponsoren-Skandal aus der Regierungszeit Chrétiens schwer belastet und verlor bei den Parlamentswahlen 2004 die Mehrheit. In der Folge regierte Martin mit einer Minderheitsregierung, die sporadisch von der Neuen Demokratischen Partei unterstützt wurde. Außenpolitisch ging Martin auf Distanz zu den USA, indem er keine Truppen in den Irakkrieg schickte und die Beteiligung am militärischen Abwehrschirm der USA (National Missile Defense) verweigerte. Bei vorgezogenen Neuwahlen nach einem Misstrauensvotum siegten am 22. Januar 2006 die Konservativen unter Stephen Harper, der versprach, schärfer gegen Korruption und Kriminalität vorzugehen. Außenpolitisch lehnte er sich an die USA an und öffnete den kanadischen Kapital- und Arbeitsmarkt noch weiter in diese Richtung. Schaffung von Nunavut, Partizipation indigener Gruppen 1999 wurde mit Nunavut das erste kanadische Territorium mit mehrheitlich indigener Bevölkerung geschaffen. Die Volkszählung von 2006 erfasste 1.172.790 Ureinwohner (aboriginals) oder Angehörige der First Peoples, also 3,8 % der Gesamtbevölkerung. Der überwiegende Teil gehört zu den Indianern, die in Kanada als First Nations bezeichnet werden. Die meisten leben in British Columbia und Ontario. Es bestehen zwar Verträge, doch schwelen zahlreiche Konflikte um Land, Rodungsgebiete und den Abbau von Rohstoffen, vor allem mit den Regierungsbehörden der Provinzen. Dies wiederum hängt damit zusammen, dass sich die Provinzen im Bereich der Rohstoffgewinnung Vorrechte vor der Bundesregierung erstritten haben. Seit 2001 kommen erste Verträge zwischen British Columbia und der kanadischen Regierung auf der einen Seite und First Nations auf der anderen zustande, die bisher ohne Vertrag waren. Die meisten Gruppen im Norden (Yukon, Nordwest-Territorien) haben ab 1997 Verträge abgeschlossen, die ihnen Partizipationsrechte einräumen. Im Juni 2008 entschuldigte sich Premierminister Harper bei den Ureinwohnern des Landes für das Internatssystem und seine Folgen, allen voran die Zwangsassimilation. Afghanistankrieg (seit 2001) Seit Oktober 2001 beteiligt sich die kanadische Armee an dem von den USA geführten Krieg in Afghanistan, einem Land mit fast genau der gleichen Einwohnerzahl wie Kanada. Von Februar bis Juli 2002 nahmen 850 Soldaten an der Operation Enduring Freedom teil. Im September 2003 eröffnete die kanadische Botschaft in Kabul, wo die Armee versuchte, Aufbauarbeit zu leisten (Operation Athena). 2005 wurde die Armee für den Raum Kandahar zuständig, wo 2.250 Mann stationiert wurden. Nach Angaben der ISAF befanden sich Anfang Dezember 2009 2.830 kanadische Soldaten in Afghanistan. 2006 kamen 36 kanadische Soldaten ums Leben, im folgenden Jahr 30, 2008 waren es 32. Zu den 108 Toten bis Februar 2009 kamen 360 Verletzte. Die Zahl der Toten stieg bis Ende November 2009 auf 133. Bis Kriegsende zählte man 153 Tote. Das bei Kandahar gelegene Tal von Arghandāb konnten die kanadischen Kräfte Ende 2009 in der Schlacht von Arghandab nur mit Unterstützung amerikanischer Kräfte von den Taliban zurückerobern. Das kanadische Parlament beschloss 2009, die Armee mindestens bis 2011 im Lande zu lassen. Wirtschaftskrise ab 2007 Die schwere Wirtschaftskrise ab Mitte 2007 traf die kanadische Wirtschaft trotz der engen Verflechtung mit den hauptsächlich betroffenen USA mit einiger Verzögerung. Erste Anzeichen gab es jedoch bereits 2006. Noch 2008 stieg der Ölpreis in noch nie gesehene Höhen, so dass sich die Einkommen und die Staatseinnahmen vor allem in Alberta weiter erhöhten. Doch mit dem Einbruch der Finanzindustrie in Toronto, des Immobilienmarktes in den meisten Großstädten und dem Absturz des Ölpreises um zeitweise über 75 % stieg die Arbeitslosigkeit von September 2007 bis August 2009 von 5,9 auf 8,7 %, und stagniert seitdem um 8,2 bis 8,5 %. Auch andere Rohstoffindustrien wurden schwer in Mitleidenschaft gezogen, ähnliches gilt für die Auto- und deren Zulieferindustrie, die stark von den US-Konzernen abhängt. Archive und Museen, Editionen, Publikationen und das Internet Die kanadische Regierung verfolgt explizit das Ziel, möglichst viele Quellen über das Internet verfügbar zu machen. Daher ist dieses Medium für die historischen Wissenschaften von erheblicher Bedeutung. Eine der Ursachen liegt in den großen Entfernungen zwischen den Archiven, Bibliotheken und sonstigen für die Forschung relevanten Einrichtungen. Hinzu kommt, dass ein erheblicher Teil der Bestände in den Archiven der ehemaligen Kolonialmächte liegt, vor allem in London und Paris, aber auch in Madrid, manches wie der Codex canadiensis liegt in den USA. Ähnliches gilt für die Sekundärliteratur, denn ein großer Teil der akademischen Qualifikationsarbeiten wie Dissertationen ist nicht verfügbar. Für die voreuropäische Geschichte und die ethnohistorische sowie ethnologische Arbeit ist neben der Erforschung und Dokumentation der extensiven mündlichen Überlieferung die Archäologie von größter Bedeutung. Hinzu kommen systematische Forschungen an Bearbeitungsspuren, wie etwa an Bäumen (Culturally Modified Trees), die vor allem an der Westküste als „CMT-Archives“ bezeichnet werden. Eine Einführung in die Sekundärliteratur und in Ressourcen bietet die Michigan State University. Für die historischen Wissenschaften ist besonders das Directory of Online Canadian History Publications, Journals, Databases, & Exhibits zu nennen. Einen Zugang zu den Quellen bietet Canadiana.org, ein Publikationsmedium, zu dem sich fast alle Institutionen zusammengeschlossen haben, die über Forschungsstellen und Archivalien verfügen. Zu diesen zählen vor allem die Bibliothèque et Archives nationales du Québec, die Canadian Association of Research Libraries, Library and Archives Canada sowie die wichtigsten Universitäten. Wichtige Quellenbestände zur Kolonialgeschichte befinden sich (neben den entsprechenden europäischen Hauptarchiven) mit dem Archiv der Hudson’s Bay Company in Winnipeg, dazu kommen umfangreiche Bestände in den Hauptstädten der Provinzen, vor allem in Victoria, in Montreal, Toronto und Québec. Außerhalb Kanadas sind für die Geschichte der First Nations die Smithsonian Institution und das National Museum of the American Indian von Bedeutung. Hinzu kommen mehr als 2.400 Museen, von denen viele Forschungsabteilungen unterhalten. Das Hauptmuseum ist Kanadas Nationalmuseum für Geschichte und Gesellschaft in der Nähe von Ottawa, in den Provinzen ragen die Zentralmuseen, wie das von Toronto, Edmonton und Victoria heraus. Bei den Stadtmuseen ist das in Vancouver eines der bedeutendsten, hinzu kommen zahlreiche Territorial- und Ortsmuseen (etwa das MacBride Museum of Yukon History) sowie thematisch spezialisierte Museen, wie das anthropologische bzw. völkerkundliche Museum in Vancouver, das Canadian Canoe Museum, das Canadian Railway Museum, das Museum für Landwirtschaft in Ottawa oder das Canadian War Museum. Der einfachste Museumstyp ist der des Interpretive centre, wie etwa das Tagé Cho Hudän Interpretive Centre in Carmacks in Yukon. Diese Zentren bieten lokale Artefakte und mitunter aufwändige didaktische Materialien. Sie sind in abgelegenen Gegenden oftmals der einzige Zugang zur Lokalgeschichte. Eine Bedeutung für die Regionalgeschichte haben zudem die Regionalarchive und -museen, wie die Nicola Valley Museum and Archives. Dabei gilt für die Museen das gleiche wie für die Archive, denn auch hier werden sogenannte Virtual Exhibitions, also Ausstellungen, die über das Internet aufgerufen werden können, stark gefördert (Virtual Museum of Canada). Insgesamt boten im Jahr 2003 alle heritage institutions zusammen fast 11.000 Vollzeit- und rund 15.000 Teilzeitarbeitsplätze; hinzu kommen knapp 50.000 volunteers, also ehrenamtlich Beschäftigte. Rund 60 Millionen Besucher brachten dabei rund 130 Millionen Dollar ein, Mitglieder weitere 16 Millionen. Zusätzlich zu den kanadischen oder US-Museen gibt es in den Entsendehäfen der Auswanderer in regionalen Museen in der Regel Fachabteilungen zum Thema, da diese Ereignisse 2 bis 3 Jahrhunderte lang die Häfen deutlich prägten. Exemplarisch für die Emigration aus Frankreich sei das Musée du Nouveau Monde in La Rochelle genannt, dessen Name schon auf den Schwerpunkt weist. Da die Nachfrage bei den Besuchern gering ist, finden sich die zahlreich erhaltenen, oft sehr wertvollen Artefakte bisweilen in den Archivräumen des Museums, sodass man (vorher) nachfragt, um den Zugang zu erhalten. Historiographie Einige Hauptdebatten beherrschten die Historiographie Kanadas. Zu ihnen gehört die 1893 aufgestellte Frontier-These von Frederick Jackson Turner. Als West beyond the West wurde die Region am Pazifik von Jean Barman bezeichnet, der die Verbindungen Richtung Osten als äußerst schwach und spät einsetzend bezeichnete, und eher die Verbindungen nach Norden und Süden betonte, also vor allem die Rolle des verbindenden Pazifiks und damit der Schifffahrt in dem zerklüfteten und durch die Rocky Mountains abgeschotteten Land, das einen völlig anderen Charakter aufweist, als die Prärieprovinzen. Die ökonomisch ausgerichtete These von Harold Adams Innis – der sich um die Unabhängigkeit der Forschung und ihre Befreiung von britischer und amerikanischer Dominanz verdient machte –, nach der der Rohstoffhandel die eigentliche Dominante war (staples theory), gab der Wirtschaft eine starke Integrationsrolle. Er ging davon aus, dass eine Sequenz von Rohstoffen, beginnend mit Kabeljau und Pelzen im 16. und 17. Jahrhundert, sich durch die gesamte kanadische Geschichte zieht und diese integriert. Diese Ausbeutung natürlicher Ressourcen war geradezu die Raison d'être für die nicht-indigene Expansion und Besiedlung. Dennoch betonte er erstmals die zentrale Rolle der Indigenen in der Pelzökonomie. Eine weitere These, die Laurentian thesis von Donald Grant Creighton, der zufolge die Integration des Raumes durch die Angehörigen der North West Company erfolgte und eine Ausrichtung über den Sankt-Lorenz-Strom von Ost nach West erfolgte, führte zu ähnlich heftigen Debatten. Dabei stellte sich heraus, dass die Integrationskraft des Pelzhandels lange überschätzt, die der Transportmittel lange unterschätzt wurde. Diese Transportmittel, insbesondere die Eisenbahn, wurden jedoch bald als gezielte Unternehmungen des britischen Imperiums erkannt. Eine weitere Hypothese, die weder der Rohstoff-, noch der Frontier- oder British-Empire-These folgte, war die metropolitan thesis. Sie wurde bereits von D. C. Masters (The Rise of Toronto, 1850–1890, 1947) erprobt, vor allem aber von J. M. S. Careless (1919–2009) geführt (Canadian Historical Review, 1954). Sie sah als überregionalen Integrationsfaktor die Metropolen, die stark auf ihre „hinterlands“ einwirkten. Dies galt vor allem für die ökonomische Entwicklung, bei der Careless eine Abfolge von Entwicklungsstufen sah. Insgesamt darf die Bindung an Großbritannien nicht unterschätzt werden. Der Drang nach zentraler staatlicher Gewalt und das Misstrauen gegenüber starken lokalen Gewalten, die britische Klassengesellschaft mit ihrer binnenkulturellen Differenzierung entsprachen dieser Haltung. Zudem hielt sie sich von den verachteten Amerikanern fern, die sie zugleich fürchtete. Ebenso lehnte sie die Integration der voreuropäischen Kulturen, die ja, wenn auch verändert, überwiegend fortbestanden, lange ab – manche propagierten im Gegenteil ihre Vernichtung im Namen der Integration. Die Ethnohistorie hat aufzeigen können, dass die vorkoloniale Integration des Raumes erheblich stärker war, als lange angenommen. Dabei spielten Schenkökonomie und Tauschhandel, aber auch die Jagd auf die großen Tierherden und ein weiträumiges Wegenetz eine erhebliche Rolle. Darüber hinaus wäre den wenigen tausend Siedlern bis ins 19. Jahrhundert hinein die Integration des Riesengebiets ohne die beweglichen Strukturen der Ureinwohner nicht möglich gewesen, die ihrerseits ab 1772 schweren Epidemien zum Opfer fielen. Bis dahin, und gelegentlich noch heute, förderte das Abgrenzungsbedürfnis der Euro-Kanadier gegenüber den vorhandenen Kulturen die massive Betonung der europäischen Wurzeln. Diese Betonung weicht zunehmend einer Integration der indigenen Kulturen in die Geschichtsschreibung. Die in der Abwehr der Expansion des südlichen Nachbarn wurzelnde Akzeptanz der sprachlichen und kulturellen Vielfalt Kanadas – zunächst gegenüber den Frankophonen – führte darüber hinaus zu umfangreichen Studien zu den zahlreichen nichtindigenen Ethnien des Landes, denen allerdings noch eine Synthese fehlt. Literatur Martin Brook Taylor (Hrsg.): Canadian History: A Reader’s Guide. Band 1, Toronto 1994 Nick Brune, Alastair Sweeny: History of Canada Online. Northern Blue Publishing, Waterloo 2005 John M. Bumsted: The Peoples of Canada. A Pre-Confederation History und The Peoples of Canada. A Post-Confederation History. Oxford University Press, Toronto 2004 Margaret Conrad, Alvin Finkel: Canada. A National History. Pearson Education Canada, Toronto 2003 Terence Fay: A History of Canadian Catholics. Gallicanism, Romanism, and Canadianism. McGill-Queen’s University Press, Montreal 2002 Will Ferguson: Canadian History for Dummies. CDG Books Canada, Toronto 2000 Gerald Hallowell (Hrsg.): The Oxford Companion to Canadian History. 2004 (1650 kurze Einträge) Historical Statistics of Canada. 2. Auflage. Statistics Canada, Ottawa 1983 Jacqueline Krikorian u. a. (Hrsg.): Vers la Confédération. La construction du Canada, 1867. 2 Bde. Presses de l’Université Laval, 2017 Ian McKay: Rebels, Reds, Radicals. Rethinking Canada’s Left History. Between the Lines, 2006 James C. Marsh (Hrsg.): Desmond Morton: A Military History of Canada. Toronto 1999 Desmond Morton: Working People. An Illustrated History of the Canadian Labour Movement. 5. überarb. Aufl. McGill-Queen’s University Press, Montréal 2007 Kenneth H. Norrie, Owram Doug: A History of the Canadian Economy. Toronto 1991 Laurel Sefton MacDowell: An Environmental History of Canada, University of British Columbia Press, 2012 David Orchard: The Fight for Canada. Four Centuries of Resistance to American Expansionism. Stoddart, Toronto 1993 Doug Owram (Hrsg.): Canadian History. A Reader’s Guide. Band 2, Toronto 1994 (Historiographie) Alison Prentice u. a.: Canadian Women. A History. 2. Aufl. Harcourt Brace Canada, Toronto 1996 Udo Sautter: Geschichte Kanadas. 2., aktual, Aufl. C.H. Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-44737-2 (knappe Darstellung) Mason Wade: The French Canadians 1760–1945. 2 Bände. Toronto 1955 Hermann Wellenreuther: Niedergang und Aufstieg. Geschichte Nordamerikas vom Beginn der Besiedlung bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts. 2. Aufl. Lit, Münster 2004, ISBN 3-8258-4447-1. Quellenedition Thomas Thorner, Thor Frohn-Nielsen (Hrsg.): „A Few Acres of Snow“: Documents in Pre-Confederation Canadian History, und „A Country Nourished on Self-Doubt“: Documents on Post-Confederation Canadian History. 2. Auflage. Broadview Press, Peterborough (Ontario) 2003. Weblinks J. V. Wright: A History of the Native People of Canada. Hrsg.: Canadian Museum of Civilization in Gatineau. The Dictionary of Canadian Biography. (1966–2006), über 8.400 biographische Einträge für bis 1930 verstorbene Personen, Hrsg.: Library and Archives Canada/Bibliothèques et Archives Canada. Historical Statistics of Canada, Hrsg. Statistics Canada. Historical Atlas of Canada, basiert auf der Druckausgabe The Historical Atlas of Canada. 3 Bände. bis 1993 und Concise Historical Atlas of Canada von 1998 der University of Toronto. , Hrsg. Memorial University of Newfoundland. Celebrating Women's Achievements, Hrsg. Library and Archives Canada/Bibliothèques et Archives Canada Canadian Military History Gateway, Hrsg.: Department of National Defence. Echoes of the Past Université de Montréal’s Exhibit Center The Politics of Racism. Geschichte der Japaner in Kanada Canada History Dictionary of Canadianisms on Historical Principles, 2. Ausg. 2017, Open Access, mit 3 Suchvarianten Virtual Museum of Canada Audio Aus dem Schatten der USA getreten - 150 Jahre Kanada In: Zeitblende von Schweizer Radio und Fernsehen vom 1. Juli 2017 (Audio) Anmerkungen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Samsonfigur
Samsonfigur
Samsonfiguren sind eine spezielle Form von Umzugsriesen, großen Figuren, die bei verschiedenen Arten von Festumzügen getragen werden. Ein Teil der in mehreren europäischen Ländern populären Umzugsriesen stellt biblische oder mythologische Riesen dar. Vierzehn dieser Figuren sind überlebensgroße Nachbildungen des biblischen Samson mit der Ausrüstung eines römischen Legionärs oder eines Soldaten aus der napoleonischen Zeit. Sie bestehen aus Holz oder Leichtmetall und werden bei traditionellen Straßenumzügen von je einer Person getragen. Es gibt sie in Ath, im Westen der Wallonie (Belgien), und im inneralpinen Österreich. Die mittlerweile 13 Samsonfiguren im Lungau und in der angrenzenden Steiermark (einer abgeschlossenen Kulturlandschaft an der Dreiländerecke zwischen Salzburg, Steiermark und Kärnten) werden auf ihren Umzügen von der Musikkapelle und teilweise von zwei Hilfsfiguren (die Paar-Konstellation ist eine typische in den Faschingsläufen des 16. und 17. Jahrhunderts) in Form je eines männlichen und weiblichen Zwergs, von Schützen und von Volkstanzgruppen begleitet. Die Samsonfigur von Ath ist eine mehrerer Riesen-Figuren des jährlichen Festivals Ducasse d’Ath. Das Samsontragen im Lungau und Bezirk Murau wurde 2010 in die Liste Immaterielles Kulturerbe in Österreich (nationale UNESCO-Liste) aufgenommen. Samsonfiguren als Umzugsriesen Einordnung und Verbreitung „In den religiösen und weltlichen Umzugsspielen verschiedener Europäischer Landschaften, die alle eine gegenreformatorische Geschichte im Zusammenhang mit den bedeutenden Restaurationsorden der Jesuiten und Dominikaner und den ihnen nachgereihten Minderorden aufweisen, treten überlebensgroße, menschengestaltige Maskenfiguren auf, die nach ihrer Gestalt und Funktion allgemein Umgangsriesen, speziell Prozessions- oder Umzugsriesen genannt werden. Vom rein morphologischen Gesichtspunkt sind sie als überdimensionierte Plastiken anzusprechen, die in Umgängen zur Schau dargeboten werden. … Werden die Umgangsriesen hingegen von ihrer Funktion gesehen, so sind sie als Spielmasken zu werten. Sie sind ein darstellerisches Mittel zur Vergegenwärtigung einer erzählerischen und letztlich glaubensmäßigen Gestalt“. Die frühesten Hinweise auf Umzugsriesen finden sich in bronzezeitlichen Steinritzungen in Süd- und Mittelschweden. Drei antike Autoren beschreiben Riesenfiguren aus Flechtwerksgestellen in Gallien. In der Zeitspanne vom späten Mittelalter bis etwa zur napoleonischen Zeit lassen sich Umgangsriesen für Holland, Belgien, Südengland, in verschiedenen Gegenden Frankreichs und Spaniens, in Süddeutschland, Österreich, Kalabrien, Sizilien, Mexiko und Brasilien nachweisen. Heute konzentrieren sich Umzugsriesen auf das Gebiet von Nordfrankreich über Belgien bis zu den südlichen Niederlanden, Katalonien, Valencia, Sizilien und dem österreichischen Lungau. Gebiete, die, wie Arbeiten u. a. von Karl Amon zeigen, zusammenhängende gegenreformatorische Prozessionslandschaften unter deutlichem Einfluss der Habsburger sind. Manche Traditionen kennen einen festen Kanon von Riesen, oft zusammen mit traditionsreichen und historischen Figuren. Bei anderen sind die Figuren einem steten Wandel unterworfen. Alttestamentliche Riesen sind bei Ersteren häufige Motive. Am prominentesten wird dabei der Riese Goliat dargestellt. Samsonfiguren, die bei Straßenumzügen als Riesen zum Einsatz kommen, gibt es in zehn Gemeinden im Lungau (identisch mit dem Bezirk Tamsweg im Land Salzburg) – in Tamsweg, Mariapfarr, St. Michael, Muhr, Unternberg, Wölting (einem Ortsteil von Tamsweg), Ramingstein, St. Andrä, St. Margarethen, Mauterndorf –, in zwei Gemeinden in der angrenzenden Steiermark – in Murau und Krakaudorf –, sowie in Ath in Belgien. Trotz der großen geografischen Distanz zwischen den Samsonfiguren sind diese durch ihre Entstehungsgeschichte miteinander vergleichbar. Beide sind bis in das 17. Jahrhundert durch schriftliche Nachweise belegt. Für einige österreichische Samsonfiguren ist nachweisbar, dass sie früher Teil viel größerer Prozessionen mit anderen alttestamentlichen Figuren waren, wie sie heute noch Bestandteil des Ducasse-Festivals in Belgien sind. Sowohl die österreichischen Figuren wie auch der belgische Samson wurden im Zuge der Aufklärung und der Französischen Revolution verboten, wobei die Verbote bei den österreichischen Samsonfiguren deutlich länger anhielten. Gemeinsam ist den Riesenfiguren im Lungau und den burgundischen Niederlanden, zu denen Ath gehört, dass sie nur an Kirchweihtagen auftreten (ducasse- beziehungsweise Prangtagen), die in den Monaten Juni bis August liegen, was ein weiterer Hinweis auf ihre Herkunft aus den großen katholischen Prozessionen ist. Eine weitere Parallele besteht im David-und-Goliath-Spiel, das sich mit Unterbrechungen auch in Ramingstein im Lungau als Brauch erhalten hat und ein typisches Fronleichnamsspiel war. Im Gegensatz zu Ath wird es aber nicht durch Riesenfiguren, sondern durch Menschen aufgeführt. Gestalt der Figuren Eine Samsonfigur ist etwa 80 Kilogramm schwer und wird von einem einzigen Mann getragen. Dieser wird von mehreren Assistenten unterstützt. In Österreich sind vier sogenannte Aufhabe (von „aufladen“) üblich, die in Pausen den Samson abstützen und in kritischen Situationen zu Hilfe eilen. In der Steiermark werden sie Haberer genannt. Die verschiedenen Samsonfiguren unterscheiden sich vor allem durch ihre Größe und die Farbe der Kleidung. Die existierenden Figuren sind zwischen 4,30 und 6,80 Meter hoch. Fast alle tragen eine Tunika, eine breite Schärpe über Schulter und Hüfte und auf dem Kopf einen Kriegerhelm. Bewaffnet sind sie mit einer Lanze und einem Krummsäbel. Lediglich in Ath und Murau tragen die Figuren davon abweichend eine Uniform aus der Zeit der Französischen Revolution. In anderen Orten werden sie von Musik- und Schützengruppen in französischen Uniformen begleitet, ein volkstümlicher Spott auf den Feind, aus der Zeit der Franzosenkriege. In der Hand halten sie einen Eselskinnbacken (Ausnahme Mariapfarr). Mit dem Eselskinnbacken erschlug der biblische Samson die feindlichen Philister. Der Samson aus Ath trägt als weiteres Attribut eine Säule, da er, angekettet daran, die Säule samt dem Tempel niederriss und damit die Philister unter dem Schutt des Tempels begrub. Die Köpfe der Samsonfiguren sind entweder aus Holz geschnitzt, bestehen aus Pappmaché mit einem Holzgestell dahinter oder aus Polyesterguss (Mauterndorf). Einige Samsonfiguren werden von zwei Zwergen an ihrer Seite (etwas übermannshohe Tragfiguren mit Riesenköpfen) begleitet. In der ersten historischen Abbildung, die aus dem Jahr 1803 in Tamsweg stammt, sind es zwei weibliche Zwerge. Heute ist es stets je ein männlicher und ein weiblicher Zwerg, die möglicherweise Sonne und Mond symbolisieren. Sie lassen den Riesen Samson noch eindrucksvoller erscheinen. Im Folgenden werden die Gemeinsamkeiten der Samsonfiguren in Geschichte und heutiger Verwendung im inneralpinen Österreich näher beschrieben. Die Geschichte der Samsonfigur von Ath ist untrennbar mit der Geschichte der Ducasse d’Ath verbunden. Die Samsonfiguren des inneralpinen Österreichs Geschichte der Samsonfiguren Entstehung Die Lungauer Riesenfiguren sind ab der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch Quellen belegt. Die Samsonfigur war neben anderen biblischen Figuren Teil einer barocken Prozession am Fronleichnams- bzw. Prangtag. Diese Prozessionen sind für Tamsweg für den Zeitraum von 1690 bis 1720 belegt. 1720 wird im Sterbebuch der Tod eines Goliatträgers festgehalten. Belegt sind die Prozessionen auch für St Michael und Murau. Vergleichbare Prozessionen mit Riesenfiguren haben sich in Sizilien – beispielsweise die Riesen Cronos und Mitia in Mistretta – erhalten. Es wurde vermutet, dass der Samsonbrauch einen weit älteren Ursprung haben könnte. So hieß es im Zuge der Verbote von 1802, die Tradition der Samsonfiguren sei sehr alt. Verschiedene naturmythologische und nationale Theorien suchten den Ursprung der Samsonfigur in germanisch wie als slawisch angesehenen „Kornvater-Legenden“. Solche Meinungen völkischer Mythen- und Sagensuche finden heute teilweise noch populäres wie populistisches Wohlwollen. Es ist allerdings nicht erwiesen, ob die frühen Vorstufen der Volkskunde, die Naturmythologen Mitte des 19. Jahrhunderts diese Legenden erst erfunden haben, oder ob es dazu tatsächlich Meinungen in der Bevölkerung gab. Im Wörterbuch der deutschen Volkskunde in der Ausgabe von 1974, die auf der Ausgabe von 1940 aufbaut, sind die Begriffe Samson und Kornvater nicht mehr enthalten. Eine andere Erklärung für das Auftauchen der Samsonfiguren liefert eine Sage, wonach den Lungauern, und insbesondere den Einwohnern des Dorfes Wölrinf (heute Wölting), das Samson-Privileg aufgrund besonderer Tapferkeit bei einer erfolgreichen Schlacht gegen die Herzogin Margarete von Tirol (1318–1369) verliehen wurde. Eine ähnliche Sage gibt es auch für Muhr. Solche Sagen führen zwar von der tatsächlichen Geschichte weg, zeigen aber, wie wichtig der Bevölkerung dieser Brauch und seine herausragende Gestalt wurden. Dasselbe könnte man auch als Begründung für das lange Fortdauern heute als unwissenschaftlich erwiesener früherer politischer Meinungen sehen: das Bedürfnis, einen geliebten Brauch durch eine „uralte“, nicht mehr nachvollziehbare Geschichte noch bedeutsamer zu machen. Barocke Prunkprozessionen der Gegenreformation Die ersten Quellen zum Samsonbrauch stehen im Zusammenhang mit den in der Gegenreformation 1643 gegründeten Kapuzinerklöstern in Tamsweg und Murau. Ihre Hauptaufgabe war, die in der Reformationszeit zum großen Teil evangelisch gewordene Bevölkerung des oberen Murtals wieder zum katholischen Glauben zurückzuführen. Diesem Zweck dienten prunkvolle Prozessionen, insbesondere am Gründonnerstag, am Karfreitag, zu Fronleichnam und am Bruderschaftsmontag (eine Oktave nach Fronleichnam). Bei Letzterem wurden sechs auf ochsenbespannte Wagen montierte bewegliche Miniaturbühnen mit Szenen des alten Testaments mitgeführt. An siebter Stelle führt die Prozessionsordnung den Samson. Der Samson war „12 Schuah hoch“ (ca. 360 – 380 cm) und wurde von einem Träger getragen, der von einem Führer unterstützt wurde. Im Gefolge der Samsonfigur fanden sich – vergleichbar mit heute – die Schützen mit Fahne, Fähnrich, Trommelschläger, Pfeifer und Korporal. Neben dem Samson wurden noch weitere alttestamentliche Figuren mitgeführt: David und Goliat, Moses und Aaron, Abraham und Isaak, Judith und noch viele andere. Unter diesen Figurengruppen zählen Moses und Aaron, die das goldene Kalb vernichten, Judith, die den Holofernes im Schlaf ermordet, David, der den Goliat besiegt, und Samson, der tausend Philister erschlägt, zu den typischen Ausstattungen der Fronleichnamsprozession, da sie einen Sieg über die Ungläubigen darstellen und Vorläuferlegenden des siegreichen Christus sind. Dazu gehört immer auch Abraham, der als Beispiel des rechten religiösen Verhaltens bereit ist sogar seinen Sohn zu opfern – ein Opfer, das Gott nicht annimmt. Warum der Samson als wesentliche Prozessionsfigur in die gegenreformatorischen Fronleichnamsprozessionen aufgenommen wird, liegt klar auf der Hand, denn er gilt als einer der Vorläufer, der Praecursoren, Christi im alten Testament. Nach dem Verständnis der Fronleichnamsprozession vom 16. bis ins frühe 19. Jahrhundert als Kampf und Demonstration gegen die Ketzer war der Samson eine ideale Figur religiöser Didaktik. Auch er ist bereits auf besondere Weise geboren (wie Johannes das heißt durch eine alte Mutter; von einem Engel angekündigt wie Christus). Er ist größer und stärker als alle anderen, seine Stärke ist überirdisch. Er trägt sein Haar ungeschoren, wie die Anhänger Christi. Er vernichtet allein tausende Philister/Ungläubige und opfert sich auf diese Weise auf (stirbt selbst unter der zerbrochenen Säule). Die älteste Erwähnung einer Samsonfigur im Lungau behandelt den am besten dokumentierten Tamsweger Samson: 1720 ist im Sterbebuch der Pfarrei ein Samsonträger angeführt, der 32 Jahre lang diese Tätigkeit ausgeübt hat. Der Murauer Samson wird 1746/47 erstmals im Zusammenhang mit dem Kauf einer Samsonfigur aus Tamsweg erwähnt. Die Samsonfigur aus St. Michael wird erstmals im Zusammenhang mit einer Vergütung seines Trägers 1754 erwähnt. Über alle anderen Samsonfiguren gibt es vor 1802, also vor der Zeit der Samsonverbote, keine schriftlichen Überlieferungen. Samsonverbote zur Zeit der Aufklärung und Wiederbelebung des Brauchtums Die Zeit der Aufklärung und insbesondere die Reformen des Salzburger Erzbischofs und Bischofs von Gurk, Hieronymus von Colloredo, brachten das Ende der Prunkprozessionen und damit auch das vorläufige Ende der Samsonfiguren. 1784 ordnete die Regierung des Erzstifts Salzburg an, dass das Mittragen von Bildnissen und geschnitzten Figuren bei Prozessionen zu unterbleiben habe. Ein halbes Jahr später wurde diese Verordnung an alle Pfleger des Landes weitergeleitet, um den Klerus bei der Durchführung der Verordnung zu unterstützen. Dennoch wurde 1798 in Tamsweg eine neue Samsonfigur angefertigt. Der Umzug mit der Samsonfigur wurde von der Prozession getrennt und auf den Nachmittag der Festtage verlegt. 1802 verfasste der Jurist und Salzburger Staatsrechtler Konrad Hartleben eine Schmähschrift über die Lungauer Samsonfiguren in der Zeitschrift Deutsche Justiz- und Polizey-Fama. Er bezeichnete die Figur als Ungeheuer, das 100 Gulden kostete, kritisierte unter anderem darüber, dass sie bettelte und mit dem mit halbem Zwang erbettelten Geld oder aus der Marktkasse sagenhafte 200 Gulden zusammengekommen wären. Dies rief die Regierung des Erzstifts Salzburg, den so genannten Hochlöblichen Hofrat neuerlich auf den Plan, der von den Pflegern und Amtsrichtern der Orte mit Samson-Umzügen einen Bericht anforderte. Für die Orte Mauterndorf, Kendlbruck und Muhr ist dies die erste schriftliche Erwähnung des dortigen Samsonbrauchs. Auch wenn sich die Amtsrichter und Pfleger in ihren Antworten meist positiv im Sinne der Samsonfiguren äußerten, erließ der Hochlöbliche Hofrat in Salzburg mit Datum vom 23. Mai 1803 das endgültige und letzte Verbot der Lungauer Samsonfiguren. An Prozessionsrequisiten haben im Lungau wie andernorts alle jene überlebt, die rechtzeitig vor der verordneten Ablieferung versteckt werden konnten, bzw. an denen die Bevölkerung besonders hing und sie deshalb versteckte und vor Vernichtung bewahrte. Im Attach Colloredo finden sie die Stufen der Verbote zur Abschaffung von Bräuchen. Da die Bevölkerung immer Sinn für Spektakel hatte, da Rollen in den Prozessionen auch Ehrenrollen und Kraftproben waren, die den Menschen wichtig waren, ist es verständlich, dass der Samson und seine Begleiter versteckt und erhalten blieben. Der Krakaudorfer Samson hat so die Josephinische Einziehung in einem Heustadel überlebt. Wie die Samsonfiguren in Tamsweg, St. Michael, Mauterndorf und Muhr die Verbotsjahre überlebt haben, warum sie als einzige der Prozessionsfiguren die Verbotsjahre überlebten und wie sich der Samsonbrauch in seiner heutigen Form als weltliches Brauchtum in der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte, ist heute nicht mehr restlos nachvollziehbar. In Tamsweg wird sie 1853 von Ignaz von Kürsinger beschrieben, in St. Michael wurde trotz Verbots 1844 zu Ehren des Kaisers Ferdinand bei dessen Besuch in St. Michael ein Ehrentanz mit der Samsonfigur aufgeführt. Das Jahr 1859 brachte die offizielle Wiederbelebung per Gemeinderatsbeschluss. Eine Samsonfigur aus Mauterndorf von etwa 1900 befindet sich im Salzburger Museum Carolino Augusteum. Im steirischen Krakaudorf blieb der Samsonbrauch im frühen 19. Jahrhundert am Leben oder wurde mit einer Nachbildung einer Lungauer Samsonfigur möglicherweise erst begonnen. Wiederbelebung der Samson-Traditionen Waren um 1900 die vier besonders traditionsreichen Samsonfiguren von Tamsweg, St. Michael, Mauterndorf und Muhr wieder rehabilitiert, so brachte die Folgezeit eine zunächst langsame Vermehrung der Figuren durch Wiederaufnahme eines dokumentierten oder vermuteten Brauchtums: Unternberg: ab etwa 1900, letztmals 1927 in St. Margareten getragen, mit neuer Figur wieder ab 1954 (oder nach anderer Quelle 1952, siehe unten) St. Andrä: 1908, anlässlich einer Hochzeit, danach nur einzelne Umzüge nachweisbar. 1983 renoviert – mit altem Kopf und neuem Rumpf. Neueinkleidung und Gründung einer Samsongruppe 2002. Zwei Zwerge seit 2005. St. Margareten: 1927 kurzes Gastspiel des ehemaligen Unternberger Samsons, danach verschollen – mit neuer Figur ab 2001 Mariapfarr: 1937 Neubau einer Samsonfigur Ramingstein/Kendlbruck: ab 1948/49 bis 1958. Samsonfigur in Murau erhalten. Neuaufnahme mit neuen Figuren ab 1992. Zwerge seit 1997/98. Murau: 1966 neue Figur mit Kopf des ehemaligen Ramingsteiner Samsons, 2005 zweite Figur mit Rumpf der ehemaligen Ramingsteiner Samsonsfigur Wölting: 2000 Neubau einer Samsonfigur und zweier Zwerge Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden die Samsonfiguren von den Nationalsozialisten als Brauch mit kirchlichem Ursprung abgelehnt und zum Teil beschädigt. Samsonumzüge gab es während dieser Zeit nicht oder nur in Ausnahmefällen. Samsonfiguren in der Gegenwart Samsonumzüge, Samsontreffen und andere Auftritte Samsonumzüge finden nach der Fronleichnamsprozession, zum Prangtag (Patroziniumsfest/Patronatsfest), und je nach Ort zu ein bis zwei weiteren Anlässen wie Feuerwehrfesten oder Märkten zwischen Fronleichnam und Almabtrieb statt. Reisen führen die Samsonfiguren zu in mehrjährigem Abstand stattfindenden Samsontreffen im Lungau, in die Landeshauptstädte (Salzburg und Graz) und nach Köln sowie neuerdings auch in Partnerorte aus Gemeindepartnerschaften und zu Riesentreffen nach Katalonien, Nordfrankreich und Belgien. Ein Samsonumzug dauert im Lungau bis zu drei Stunden und geht über eine Strecke von bis zu drei Kilometern. Über die ganze Strecke wird die Samsonfigur von einer Person von Station zu Station durch den Ort getragen. Sie wird zumeist von zwei bis fünf Helfern, Aufhaber bzw. Haberer genannt, unterstützt. Sie wird begleitet von der Blasmusik und – falls vorhanden – von Figuren eines männlichen und eines weiblichen Zwergs, den Schützen und anderen Gruppen. An jeder Station tanzt die Samsonfigur mindestens einmal zu Ehren einer Person, die diese Ehre eine Anerkennungsspende kostet. An manchen Stationen werden Ansprachen gehalten und – falls vorhanden – treten Schützen und Trachtengruppen auf. Idealerweise liegen die Stationen des Samsonumzugs an Gasthäusern, wobei deren Wirte die Ehre haben, die am Samsonumzug beteiligten Personen mit Getränken zu versorgen. Neben den großen Umzügen rücken manche Samsonfiguren auch im Rahmen von Frühschoppen, Feuerwehrfesten und Zapfenstreichen aus. Die Auftritte sind dann wesentlich kürzer, etwa im Rahmen einer Stunde. Die beiden steirischen Samsonfiguren rücken – abgesehen von Samsontreffen – in ihrem Ort nur einmal im Jahr am jeweiligen Prangtag aus. Dabei steht weniger der Zug durch den Ort im Mittelpunkt, sondern die bis zu 200 Ehrentänze für eine große Anzahl an zu Ehrenden Personen die sich um das Pulvergeld verdient gemacht haben. Die Samsonfigur tanzt dabei zu verschiedenen Melodien, unter anderem auch einer flotten Polka. Die Veranstaltung kann sich dabei über einen Zeitraum von bis zu 5 Stunden erstrecken. In Krakaudorf, Mauterndorf, Murau, St. Michael und Tamsweg existieren traditionelle Bürgergarden, die mit Ausnahme von Tamsweg fester Bestandteil der Samsonumzüge sind. Im Lungau wird etwa bei jeder Station Salut geschossen, bei kurzen Umzügen an dessen Ende. In der Steiermark wird jeder Ehrentanz mit einem donnernden Salutschuss abgeschlossen. Nahezu jedes Jahr findet ein Samsontreffen statt, meist aus Anlass eines Jubiläums im Ort der einladenden Samsongruppe. Alle sechs Jahre, z. B. 2011 findet das Große Fest der Lungauer Volkskultur statt. In diesem Zusammenhang findet ein Samsontreffen mit allen 12 Samsonfiguren statt. Seit dem Jahr 2009 existierten Bestrebungen die Lungauer Riesenfigur Samson zusammen mit weiteren vier Salzburger Bräuchen für die UNESCO-Liste der kulturellen Traditionen vorzuschlagen. Ein erster Schritt war die 2010 angestrebte Aufnahme ins Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes Österreichs. Das Samsontragen im Lungau und Bezirk Murau wurde 2010 in die Liste Immaterielles Kulturerbe in Österreich (nationale UNESCO-Liste) aufgenommen. Beim Fest der Lungauer Volkskultur am 4. September 2011 wurden die Urkunden der UNESCO allen Samsongruppen feierlich übergeben. Musik zum Samsonumzug Die Samsonfigur wird bei ihrem Umzug von der Blaskapelle des jeweiligen Ortes begleitet. Diese nennt sich in St. Michael, Tamsweg und Mauterndorf Bürgermusik, in Wölting Dorfmusik, in Murau, Musikverein Stadtkapelle Murau, in den anderen Orten Musikkapelle oder Trachtenmusikkapelle. Beim Zug durch den Ort geht die Blaskapelle stets voran und spielt Traditionsmärsche österreichischer Komponisten. Es gibt keine festgelegte Abfolge. Beliebte Märsche sind beispielsweise „Mein Heimatland“ von Sepp Neumayer, „Rainer Marsch“ von Hans Schmid oder der „Kitzbühler Standschützen Marsch“ von Georg Kaltschmied. Der Samsonwalzer zu Ehren wichtiger (und auch zahlender Personen) ist eine Ehrenbezeugung – meist wird ein langsamer Walzer intoniert. Meist werden im Laufe eines Umzugs verschiedene Samsonwalzer gespielt. Beliebt sind etwa der erste Teil des „Almrauschwalzers“ vom Komponisten E. Trojan sowie ein Samsonwalzer, den der frühere Ramingsteiner Pfarrer Pater Paul Mitterndorfer komponiert hat. In Wölting wird der vom Gründer der Dorfmusikkapelle Anton Bayer vulgo Lenzen Toni komponierte Samsonwalzer, der sich aus der Melodie des Kirchenliedes Lieb Jesulein komm zu mir entwickelt hat, intoniert. Ein von den Kapellmeistern selbst komponierter Samsonwalzer wird beispielsweise in St. Margarethen gespielt. Manchmal werden im Laufe eines Umzugs verschiedene Samsonwalzer gespielt. Ausrücktermine Die Samsonsaison geht von Ende Mai bis Anfang Oktober. Den Anfang machen traditionell die Umzüge am Nachmittag des Fronleichnamtags, der letzte Umzug ist am ersten Oktobersonntag zusammen mit dem David-und-Goliath-Spiel in Ramingstein. Die Samsonfigur rückt zu den Samsonumzügen an Festtagen aus. Darüber hinaus ist sie an manchen Festen wie dem Ramingsteiner Silbermarkt, dem Tamsweger Waldfest, Einweihungen und Herbstfesten zu sehen. Sie rückt aus, wenn hochrangige Personen den jeweiligen Ort besuchen und kommt auch zur Angelobung (Gelöbnis) der Rekruten von Österreichs Bundesheer. Während der Saison rückt im Lungau und in der angrenzenden Steiermark nahezu an jedem Wochenende mindestens eine Samsonfigur aus, meist am Sonntagnachmittag, manchmal auch am Freitag- oder Samstagabend. Bei der Beschreibung der einzelnen Samsonfiguren weiter unten sind die regelmäßigen Ausrücktermine aufgelistet. Manchmal werden sie aber auch auf den vorherigen Samstag oder auf einen anderen Tag verschoben. Die Samsonumzüge wie die (meisten) Feste können ohne Eintritt besucht werden. Es gibt keinerlei Absperrungen und alles ist frei zugänglich. Der Polizeieinsatz beschränkt sich auf das Regeln des Verkehrs. Höhepunkte sind die großen Samsonumzüge in Mauterndorf und Tamsweg. Samsonumzüge in kleineren Orten haben sehr stark den Charakter eines Festes von und für Einheimische, bei dem Gäste von auswärts aber stets willkommen sind. Personifizierung Im Lungau wird nicht von Samsonfiguren gesprochen, sondern vom Samson. plural: Samsone. Diese Personifizierung bewirkt im lokalen Sprachgebrauch, dass der Samson marschiert, den Samsonwalzer tanzt und Rekruten des Bundesheers wie hochgestellten Personen seine Aufwartung macht. Diese Personifizierung wird auch in der Schriftsprache beibehalten. Samsonfiguren und Samsonbrauch in Museen Unabhängig von Ausrückungen können folgende Samsonfiguren besichtigt werden: Ein erheblicher Teil des Dorfmuseum Waltlhaus in Krakaudorf ist dem Samsonbrauchtum gewidmet. Dabei werden auch alle österreichischen Figuren beschrieben. Die Tamsweger Samsonfigur hat ihr Quartier im Tamsweger Heimatmuseum und kann im Rahmen einer Museumsführung vom 1. Juni bis 15. September und an Tagen mit Sonderführungen besichtigt werden. Die Samsone von Muhr und St. Andrä, letzterer zusammen mit seinen Zwergen, bewohnen einen Samsonturm in dem sie durch eine große Glasscheibe ganzjährig bewundert werden können. Die Murauer Samsone haben ihr Quartier in einem eigens erbauten Holzhaus in der Nähe des Friesacher Tors. Sie sind durch mehrere Fenster zu besichtigen. Die Vorgängerfigur des heutigen Mauterndorfer Samsons von 1912/1949 steht im Lungauer Landschaftsmuseum in der Burg Mauterndorf und kann dort zu den Öffnungszeiten der Burg nahezu ganzjährig besichtigt werden (siehe auch historisches Bild rechts eines Umzugs von 1980). Der um das Jahr 1920 in das Salzburger Museum Carolino Augusteum heute Salzburg Museum gekommene Samson von circa 1890 ist zusammen mit zwei Zwergen in dessen volkskundlicher Außenstelle, dem Volkskundemuseum Salzburg im Hellbrunner Monatsschlössl von April bis Oktober zu besichtigen. Im Gegensatz zu den derzeit im Gebrauch befindlichen Zwergen ist von den Zwergen nur die vordere Hälfte ausgeführt. Bilder der Samsonfigur und seiner Zwerge im Salzburg Museum: Beschreibung der einzelnen Figuren Überblick über die Figuren Ath Ath ist bekannt als die Stadt der Riesen. Beim Ducasse-Festival, das jedes Jahr am vierten Wochenende im August stattfindet, wird neben vielen anderen Riesenfiguren eine Samsonfigur mitgetragen. Die Riesen aus Ath gehören zur Liste des mündlichen und immateriellen Kulturerbes der UNESCO. Der Samson wurde 1679 in das Gefolge der Ducasse d’Ath als Riese der Bruderschaft der Kanoniere eingeführt. Aus diesen Jahren kann man in den Berichten aus ma mansarderie lesen, dass der Magistrat der Stadt eine Summe in Silber „für die Brüder (confrères) Kannoniere von sainte-Marguerite […] um den Samson aufzurichten“ zur Verfügung gestellt hat. Möglicherweise hat schon früher, vielleicht seit dem 15. Jahrhundert, ein Riese Samson an der Prozession teilgenommen, es gibt darüber jedoch keinen schriftlichen Nachweis. Nachdem er im Jahr 1794 zu Zeiten der Französischen Revolution zusammen mit den anderen Riesen auf Veranlassung der französischen Regierung zerstört worden war, tauchte er seit der Wiederaufnahme der Prozession im Jahr 1806 wieder auf. Seit dem 19. Jahrhundert ist er wie seine Begleiter, die Gruppe der Blauen als französischer Soldat gekleidet. Der biblischen Schilderung entsprechend trägt Samson die Säule des Tempels von Dagon und den Eselskinnbacken. Ihm folgt seit der Zwischenkriegszeit die Fanfare von Moulbaix. Während bei den anderen Riesen Kopf und Oberkörper aus Lindenholz geschnitzt sind, besteht bei diesem Samson nur der Bereich des Gesichts aus Holz. Die Figur besteht aus einem Lattengerüst und ist mit bemalter Leinwand bespannt. Sie trägt ein blaues Gewand mit roten Ärmelaufschlägen und zwei roten Rockschößen, rote, fransenbesetzte Schulterstücke, Kupferknöpfe, gelbe Weste und schwarze Schärpe, einen schwarzen Zweispitz mit Goldborte, eine Kokarde in den belgischen Nationalfarben, einen mehrfarbiger Federbusch. Die Handschuhe sind hellbraun (früher gelb), der Rock ist blau, die Haare schwarz, und er trägt einen Schnauz- und Kinnbart im Stil von Napoleon III. In Händen hält sie eine Säule aus Marmornachbildung und einen braunen Eselskinnbacken. Krakaudorf An St. Oswald, dem Prangtag (Patroziniumsfest) in Krakaudorf (gefeiert am 1. Sonntag im August) zieht nachmittags die Samsonfigur durch den Ort. Die erste Krakauer Samsonfigur wurde nach 1809 von dem italienischstämmigen Johann Turass geschaffen. Nach 100 Jahren wurde die Figur bei einem Brand im Gasthaus Bale vernichtet. Die zweite Figur, im Volksmund der Grauperte genannt, wurde wegen ihrer Missgestalt viel verspottet und hatte nur eine kurze Lebensdauer. Die jetzige Figur Samson der Dritte wurde 1914 von N. Neumann vulgo Pistrich geschaffen. Die Samsonfigur wird seit 1975 im „Haus der Volkskultur“ aufbewahrt. Manchmal geht sie auf Reisen: So war sie bei Samsontreffen im Lungau und mehrfach in Graz zu sehen. Im Dorfmuseum im Waltlhaus, einem etwa 400 Jahre alten Bauerngehöft in der Ortsmitte, ist ein großer Raum den Samsonfiguren gewidmet. Mariapfarr Der erste Hinweis auf einen Samson in Mariapfarr stammt aus dem Jahre 1914. Zeugen erinnerten sich an einen Samson, der 1914 mitsamt dem Hof, in dem er eingelagert war, verbrannt sein soll. Die derzeitige Samsontradition geht auf Pfarrer Stöckl, 1928–1936 Kooperator (Kaplan) in Mariapfarr, zurück. Sein Ziel war es, in der Ur-Pfarre des Lungaus den Samsonbrauch wieder aufleben zu lassen. Die 1937 fertiggestellte erste Figur des Samsons wurde maßgeblich vom theaterbegeisterten Burschenverein gefertigt. Der von Professor August Schreilechner, einem Kunsterzieher mit Sommerquartier in Gröbendorf fabrizierte Kopf konnte allerdings nicht überzeugen. Es wird von Zeitzeugen als „wenig schön, um nicht zu sagen grausig“ beschrieben. Die schmächtige Figur hatte jedoch den Vorteil, wenig windempfindlich zu sein. Den Zweiten Weltkrieg hat die Samsonfigur unbeschadet überstanden, nach einem Sturz im Sommer 1949 war sie jedoch nicht mehr zu retten. Noch im selben Jahr wurde eine neue Riesenfigur gebaut. Diese wog anfangs 105 Kilogramm – 40 mehr als ihr Vorgänger. Auf dem Leib trug sie einen Schuppenpanzer aus Kupfer und Aluminium. Nach Umbaumaßnahmen wurde das Gewicht um 20 Kilogramm reduziert. Die Samsonfigur besitzt als einzige keinen Eselsbackenknochen. Sie wird im Feuerwehrhaus verwahrt und ist durch den oberen Eingang von außen zu sehen. Die Mariapfarrer Samsongruppe war die erste mit größeren internationalen Aktivitäten. Reisten früher Samsonfiguren allenfalls zu Gaufesten in die jeweilige Landeshauptstadt, so folgte die Mariapfarrer Samsongruppe – nach Zögern der traditionsreicheren Samsongruppen – 1982 einer Einladung zu einem Riesentreffen in Matadepera, nordwestlich von Barcelona in Katalonien gelegen. Im Folgejahr kamen einige katalanische Riesen aus Matadepera nach Mariapfarr. Dieses begründete eine Gemeindepartnerschaft, und viele weitere gegenseitige Besuche folgten. 1992 – zum zweiten Trobada Internacional de Gegants – wurde auch der Unternberger Samson samt Trachtenmusikkapelle mitgenommen. 1994 erfolgte. 2007 reiste die Mariapfarrer Samsongruppe nach Matadepera. Weitere Treffen mit Lungauer Samsonen und katalanischen Riesenfiguren fanden in Mariapfarr in den Jahren 1994 und 2002 statt. Am 1. bis 3. Mai 2009 wurde das 25-jährige Jubiläum der Gemeindepartnerschaft in Mariapfarr mit allen Lungauer Samsonfiguren und vielen Riesen aus Matadepera gefeiert. Unmut erregte die Mariapfarrer Samsongruppe, als sie im Januar 1996 – also außerhalb der Samsonsaison – zur Eröffnung der Samson-Sechsersesselbahn im Lungauer Skigebiet Fanningberg, begleitet von der Musikkapelle Göriach, ihre Samsonfigur tanzen ließ. Mauterndorf Das erste schriftliche Zeugnis über die Mauterndorfer Samsonfigur stammt wie bei vielen anderen von 1802 aus der Zeit der Samsonverbote. Wie lange sich die Mauterndorfer an dieses Verbot halten mussten, ist nicht überliefert. Erstes Zeugnis des Mauterndorfer Samsonbrauchtums ist eine Samsonfigur mit zwei Zwergen aus dem späten 19. Jahrhundert im Salzburger Museum Carolino Augusteum. Er kann im Monatsschlössl Hellbrunn, der volkskundlichen Außenstelle des Salzburg Museums, ehemals Salzburg Museum Carolino Augusteum, besichtigt werden. Im 20. Jahrhundert gab es eine fast durchgehende Samsontradition. Die Samsonfigur wurde mehrfach nach dem Vorbild des in Salzburg befindlichen Belegstücks renoviert. Auf einem Foto von 1902 ist er mit zwei Zwergen zu sehen, die wahrscheinlich mit der Samsonfigur von 1912 verbrannt sind. Nach dem Brand 1912 wurde sie vom Verschönerungsverein mit Unterstützung des damaligen Besitzers der Burg Mauterndorf, des Grafen Eppenstein renoviert. Auf Betreiben des Fremdenverkehrsvereins wurden nach dem Vorbild der Tamsweger Figuren 1936 zwei neue Zwerge (Mandl und Weibl) geschaffen. Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie mit ihren beweglichen Augen rollen können. 1949 – nach dem Zweiten Weltkrieg – bemühte sich der Trachtenverein um eine Revitalisierung. Ein Samsonumzug für das Jahr 1960 ist durch eine Zeitungsmeldung belegt. 1979 bekam die Samsonfigur ein neues Kleid, 1990 wurde der aus Pappmaché bestehende Kopf durch einen Polyesterguss ersetzt. 1993 wurde das Gestell erneuert, 2019/2020 wurde die Figur neu eingekleidet. Die Vorgängerfigur der heutigen Samsonfigur kann im Lungauer Landschaftsmuseum im Südturm der Burg Mauterndorf zu den Öffnungszeiten der Burg besichtigt werden. (Stand Juli 2008) Das Video zeigt den großen Samsonumzug im Juli 2007 der Samsongruppe zusammen mit der historischen Bürgergarde Mauterndorf, der Alttrachtengruppe und den Mauterndorfer Schrefelschützen. Muhr Wie bei vielen anderen Samsonfiguren lässt sich die Muhrer Samsontradition archivalisch bis zu den Samsonverboten von 1802 zurückverfolgen. Ob es eine Unterbrechung der Umzüge in der Zeit der Samsonverbote gegeben hat, ist nicht belegt. Während des Zweiten Weltkriegs gab es keine Samsonumzüge. Danach reiste die Samsonfigur auch mehrmals zu Festen nach Salzburg, das erste Mal 1967 auf dem Dach eines Postautobusses. Sie wird seit 1963 von einem Obmann betreut. Von 1991 bis 2014 wurde die Samsonfigur in einem Nebengebäude des Pfarrhofs verwahrt. Am 7. Juni 2014 wurde unterhalb der Kirche ein neuer Samsonturm eingeweiht. Die Samsonfigur ist dort durch eine große Glasscheibe zu sehen. Die Muhrer Samsonfigur ist ein milde lächelnder, nach oben blickender freundlicher Riese, der im Jahr 1991 mit einem neuen Rumpf und einem neuen Mantel ausgestattet wurde. 1990 wurde beim Abriss des Muhrer Schulhauses auf dessen Dachboden ein alter Samsonkopf gefunden. Datiert wurde dieser Fund in das 19. Jahrhundert. Murau Der Samsonbrauch ist in Murau seit 1746 nachweisbar. Damals wurde eine Samson-Figur um 24 Gulden von der Tamsweger Frohnleichnambruderschaft gekauft. Nach der Zeit der Samsonverbote wurde der Samsonbrauch erst 1966 wiederbelebt: Ein Apotheker hatte die desolate Samsonfigur aus Ramingstein von 1948/49 nach Murau gebracht und für den noch brauchbaren Kopf einen neuen Körper anfertigen lassen. 2020/2021 wurde die Figur neu eingekleidet. Der alte Rumpf wurde 2005 wiederentdeckt und mit einem neuen Kopf ergänzt. So besitzt Murau als einziger Ort zwei Samsonfiguren. Bei der älteren Samsonfigur – auch als Gardesamson I bezeichnet – ist es der Kopf, bei der jüngeren Samsonfigur – auch als Gardesamson II bezeichnet – der Rumpf. Die Samsonfiguren sind in Murau ausschließlich am Prangtag, dem 15. August, zu sehen. Beim Umzug kommt in der Regel Samson I zum Einsatz, Samson II wartet am Festplatz. Bei Reisen zu auswärtigen Einsätzen wird hingegen bevorzugt der zerlegbare Samson II mitgenommen (siehe Video). Ramingstein und Kendlbruck Die älteste Quelle über die Samsonfigur des Ramingsteiner Ortsteils Kendlbruck ist eine Verlustmeldung: Im Bericht des Pflegers an den Heiligen Hofrat 1803 wird festgestellt, dass sich der Kendlbrucker Samson nicht mehr zeigt. Er ist aufgrund der Verbote von 1784 oder durch den Bedeutungsverlust des Ortes aufgrund der Einstellung des früher extrem ertragreichen Bergbaus am Anfang des 19. Jahrhunderts verschwunden. Der erste ernsthafte Versuch einer Wiederbelebung des Samsonbrauchs in Ramingstein erfolgte 1948/49. Johann Aigner fertigte mit Hilfe seines Sohns und seiner Schwiegertochter eine Samsonfigur mit zwei Zwergen an. Am Achatius-Prangtag, zum Patrozinium von Ramingstein, wurde mit dieser Figur ein Umzug durchgeführt. Bis 1958 wurde die Samsonfigur an den Prangtagen durch den Ort getragen. Ein großes Problem war jedoch die Quartierfrage. In einem Ochsenstall aufbewahrt, wurde sie von Mäusen so benagt, dass sie nicht mehr einsatzfähig war. In diesem Zustand wurde die Figur von dem Apotheker Mag. Gasteiger entdeckt mit nach Murau genommen. Auf sie gehen beiden Murauer Samsonfiguren zurück (Näheres siehe dort). Von der Ramingsteiner Bergrettung kam der Anstoß, den Samsonbrauch wiederzubeleben. Unter Günter Reithofer wurde ein neuer, in seiner Bauweise sehr moderner Samson gebaut. 1991/92 wurde im Zuge des Ladübertragens (Brauch zum Bürgermeisterwechsel) von der Bergrettung eine neue Samsonfigur geschaffen, die 1997/98 durch zwei Zwerge ergänzt wurde. Als Besonderheit haben die zwei Zwerge Samsons die Namen der Patrone der beiden Kirchen in der Gemeinde: Achatz und Marie. Ersterer hat das Aussehen eines Bergmanns, was sich von der Bergbautradition des Ortes ableitet. Sankt Andrä im Lungau Die Samsontradition beginn in St. Andrä im Jahre 1908. Anlässlich der Hochzeit seiner Tochter hatte ein Tischler aus Lessach einen Samsonkopf geschnitzt, der noch für die heutige Samsonfigur verwendet wird. Nach anderen Quellen kam der Kopf zu diesem Anlass von Muhr nach St Andrä. In den Folgejahren wurde die Figur für Samsonumzüge verwendet. Durch Fotos dokumentiert sind Umzüge unter anderem aus den Jahren etwa 1920, etwa 1930, 1970, 1980 und 1981. Die Figur war lange Zeit ein Privatsamson des Andlwirts in St. Andrä. Da in St. Andrä keine Musikkapelle bestand, musste für die Auftritte der Samsonfigur eine solche aus einem Nachbarort engagiert werden. In den Jahren 1983 und 2002 wurde die Samsonfigur renoviert. 2002 wurde die Samsonfigur neu in blauer Farbe eingekleidet. In diesem Jahr trat die Samsongruppe St. Andrä auch dem Lungauer Gauverband bei. Im Jahre 2003 wurde die Musikkapelle St. Andrä gegründet. Diese begleitet seither die Samsonfigur bei den Umzügen. 2004 kamen zwei Zwerge (Hammersfrau und Schmied) dazu. Eine als Verein organisierte Samsongruppe gibt es in St. Andrä seit Frühjahr 2007. 2011 wurde neben dem Gemeindeamt ein neuer Samsonturm errichtet. Die Samsonfigur ist dort zusammen mit ihren Zwergen durch eine große Glasscheibe zu sehen. Sankt Margarethen im Lungau Ende der 1920er-Jahre kam die damalige Samsonfigur der Gemeinde Unternberg nach St. Margarethen und wurde im Moarhaus gelagert. Sie ist vereinzelt in St. Margarethen aufgetreten und danach verschollen. Seit den 1970er-Jahren gab es Ideen, den Samsonbrauch wieder zum Leben zu erwecken. Konkretisiert wurden diese Aktivitäten erst in der offiziellen Samsonversammlung am 1. Dezember 2000. Unter dem Motto „Groaß muaß a nit sei, oba schea!“ wurde der Bau der Samsonfigur nach einer Zeichnung von Reinfried Schröcker in Angriff genommen. Nachdem einige Teile noch bedeutend leichter gemacht wurden, konnte sie termingerecht am Vorabend des Prangtages (Patronatsfest) am 14. Juli 2001 der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Der erste Umzug fand am Nachmittag des folgenden Prangtags statt. Sie wurde im Winter 2006/07 nochmals umgebaut und durch den Einbau eines Gestells aus Leichtmetall im Gewicht erheblich reduziert. Sankt Michael im Lungau Die St. Michaeler Samsonfigur ist mit 4,5 Meter Größe und einem Gewicht von 64 Kilogramm zwar eine der kleinsten aber auch eine der traditionsreichsten Samsonfiguren. Ihr besonderes Kennzeichen ist der geschwungener Leib mit barockem Rankenmuster. Sie ist 1754 erstmals mit einer Rechnung des Samsonträgers nachgewiesen. Im Jahr danach wurde die alte Samsonfigur verkauft und eine neue vom Tischlermeister Josef Merl erstellt. Gemeindeaufzeichnungen belegen ihre weitere Nutzung in den Folgejahren. Wie weit der Brauch in den Jahren der Samsonverbote lebendig blieb, ist nicht sicher nachprüfbar. Auch wenn offiziell noch immer verboten, hat die Samsonfigur im Jahr 1844 vor Kaiser Ferdinand bei dessen Besuch in St. Michael getanzt. Erst 1859 wurde der Samsonbrauch per Gemeinderatsbeschluss in das offizielle Brauchtum zurückgeholt. Das älteste Bild einer Samsonfigur überhaupt zeigt den St. Michaeler Samsonumzug von 1870. Ab dem späten 19. Jahrhundert existieren viele Fotos. Heute gibt es mehrmals im Jahr Samsonumzüge und andere Auftritte der Samsonfigur. Mitte August findet der Samsonumzug anlässlich des Prangtags im Ortsteil Katschberg statt. Manchmal nimmt die Samsongruppe an Samsontreffen teil. Die Figur ist Namensgeber der Sportveranstaltung Samsonman. Tamsweg Der Tamsweger Samsonfigur ist die am besten dokumentierte Samsonfigur. Als Ursprung des Tamsweger Samsonbrauchs gilt das ehemalige Tamsweger Kapuzinerkloster und dessen barocke Prozessionen zu Fronleichnam und am Prangtag. Die Samsonfigur war Teil einer barocken Prozession mit vielen anderen biblischen Figuren. Diese Prozessionen sind für Tamsweg für den Zeitraum von 1690 bis 1720 belegt. 1720 wird im Sterbebuch der Tod eines Samsonträgers erwähnt, der 32 Jahre lang diese Tätigkeit ausgeübt hat. Aus der Zeit der Samsonverbote ist zu erwähnen, dass sich die oben erwähnte Schmähschrift des Professors Hartleben zuvorderst auf den Tamsweger Samson bezog. Ein Verteidigungsschreiben des Marktrichters Peter Prandstätter wurde vom Pfleger Ferdinand von Piehl mit abschätzigen Bemerkungen an den Heiligen Hofrat weitergeleitet, was wie oben dargestellt, letztendlich zum Verbot des Samsonbrauchs führte. Erstaunlicherweise werden die zwei ursprünglich weiblichen Zwerge erstmals 1802/03, also in der Zeit der Samsonverbote, erwähnt. Möglicherweise waren die Samsonverbote in politisch sehr unruhigen Zeiten und bei dem mehrfachen Besitzerwechsel des Lungaus (Erzbistum Salzburg, Erzherzogtum Toskana, Bayern, Österreich) nicht durchsetzbar. Den Brand von 1893, der einen großen Teil des Ortes vernichtete, überlebte der Kopf, nicht jedoch der in einem anderen Haus untergebrachte Rumpf. In den folgenden Notjahren geriet der Samsonbrauch in Vergessenheit. Nach der Jahrhundertwende wurde von einem in Stranach-Pichl arbeitendem Knecht mit Namen Sepp Sauschneider ein neuer Körper gefertigt. Dieser wurde mit der eben eingeweihten Murtalbahn nach Tamsweg gefahren und mit einem Fest begrüßt. Der Erbauer machte sich auch als Samsonträger einen Namen, weil er den Samson auf der Murbrücke immer schräg über das Wasser hinausschwenkte. Nach der ersten Elektrifizierung Tamswegs mit Freileitungen musste die Samsonfigur um einen Meter verkürzt werden. Für die Zeit des Nationalsozialismus ist überliefert, dass die Samsonfigur vor dem Feldmarschall Hermann Göring, dem damaligen Besitzer der Burg Mauterndorf mit einer Hakenkreuzfahne als Mantel tanzte. Dennoch kam der Brauch zum Erliegen, da von den Nationalsozialisten Samsonfiguren als biblische Erscheinung betrachtet wurden. Die Figur wurde später von neben ihr auf dem Dachboden einquartierten Jungen der Hitlerjugend demoliert. 1945 wäre der Kopf beinahe als Kriegstrophäe weggeführt worden. Bereits auf einen englischen Militärjeep verladen, konnte er in letzter Minute in Sicherheit gebracht werden. Im Jahr 1950 wurde die Samsonfigur zum Jubiläum 700 Jahre Tamsweg zu der hoch über dem Markt Tamsweg gelegenen Wallfahrtskirche St. Leonhard hinaufgetragen. Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es zwei Unfälle: 1972 kam die Figur durch einen Windstoß am Jakobi-Prangtag zu Sturz. Der Träger kam mit dem Schrecken davon, der Kopf wurde aufgefangen und damit gerettet. Der Körper wurde beschädigt und musste restauriert werden. 1996 gab es einen weiteren Unfall: Der Samsonträger stolperte auf dem aufgefrästen Asphalt. Die Aufhaber konnten den Samson zwar auffangen, aber der Samsonträger hatte sich einen Bänderriss zugezogen. Von allen Samsonfiguren rückt die Tamsweger am häufigsten aus: Fronleichnam, Prangtag, Waldfest, vor dem traditionellen großen Zapfenstreich im Juli, Herbstfest zum Almabtrieb etc. Samsonfigur und Zwerge sind zu den Öffnungszeiten im Tamsweger Heimatmuseum zu besichtigen. Auch in der Tamsweger Partnerstadt Iseo ist sie zu besonderen Anlässen zu sehen. Als Besonderheit kann die Samsonfigur den Kopf drehen. Unternberg Die Ursprünge der Unternberger Samsonfigur gehen auf eine Geschichte aus dem Jahr 1900 zurück. In diesem Jahr bauten sich zwei Buben unter dem Eindruck des Tamsweger Samsonumzugs einen Kinder-Samson und bestellten nach einem Umzug mit ihm im heimischen Garten beim „Bethmacher“ in Tamsweg, einem Handwerker, der Attrappen, Larven und Ähnliches herstellte, einen Kopf für einen Samson von etwa vier Meter Höhe. Die Rechnung von 20 Kronen und 50 Heller löste zu Hause zuerst eine Katastrophe aus, veranlasste die Väter jedoch, die Initiative zum Samsonbau zu ergreifen und Unternberg erlebte noch 1900 den Einzug der ersten Samsonfigur (Samson I). Diese war 14 Jahre in Gebrauch und kam nach dem Ersten Weltkrieg durch Erbschaft nach St. Margareten, wo sie 1927 letztmals getragen wurde. Auslöser für die Entstehung der zweiten Samsonfigur (Samson II) im Jahre 1952 (nach anderer Quelle 1954) waren die Erinnerung von Franz Gfrerer, einem der Buben von Samson I bei einem Besuch in seinem Elternhaus. Er lebte damals in Wien und versprach, dort einen Kopf für einen neuen Samson zu besorgen. Die heutige Samsonfigur hat eine Größe von fünf Metern und ein Gewicht von 75 Kilogramm. Sie tritt jedes Jahr zu Ehren des Heiligen Ulrich im Juli, bei einem abendlichen Umzug im August und beim Bauernherbstfest im September auf. Eine Besonderheit der Unternberger Samsonfigur ist, dass sie mit der rechten Hand salutieren kann. Die Unterberger Samsonfigur begleitete die Samsonfigur aus Mariapfarr zum zweiten Riesentreffen in Matadepera/Katalonien. Seit August 2013 begleiten den Unternberger Samson die neu gestalteten Zwerge „Rosl“ und „Toni“. Wölting Wölting ist heute ein zwischen zwei Gemeinden aufgeteiltes Dorf. Der weitaus größere Teil ist ein Ortsteil von Tamsweg, der kleinere Ortsteil westlich der Lessach ist Teil von Sankt Andrä im Lungau. Der Sage nach ist es dort der älteste Samsonbrauch. Danach ist den Wöltingern von einem Erzbischof das Samson-Privileg aufgrund besonderer Tapferkeit bei einer erfolgreichen Schlacht gegen die Herzogin Margarete von Tirol verliehen worden. Die derzeitige Samsontradition geht auf das Jahr 2000 zurück. Die Samsonfigur und die beiden Zwerge wurden anlässlich des 50-jährigen Bestandsjubiläums der Dorfgemeinschaft innerhalb nur zweier Monate ausschließlich von Wöltingern in Eigenregie erbaut und am 29. und 20. August 2000 vorgestellt. Zu diesem Zeitpunkt wog sie 101 Kilogramm. Durch einen Umbau im folgenden Winter wurde sie „erleichtert“. Von Alois Tartner wurde ein neuer Kopf angefertigt. Zwei- bis dreimal im Jahr rückt die Wöltinger Samsongruppe aus, um die Riesenfigur durch das Dorf zu tragen und sie den Samsonwalzer tanzen zu lassen. Siehe auch Gigantes y Cabezudos Hemdglonker-Umzüge Literatur Österreich: Belgien: Medien Der Murauer Samsonumzug am 15. August, 30er Jahre (zeigt möglicherweise nicht den Murauer Samson, sondern den Samson von Krakaudorf im Bezirk Murau) Prangtag und Samsonumzug in Unternberg 1968 Weblinks Termine, Übersicht: Website der Ferienregion Lungau mit aktuellen Samsonterminen – ausschließlich im Lungau direkt zum Terminkalender Website der Lungauer Volkskultur mit aktuellen Samsonterminen direkt zum Terminkalender Webseiten der Orte mit Samsontradition (Geschichte, Termine): Der Mariapfarrer Samson Der Murauer Samson Der Ramingsteiner Samson Der Tamsweger Samson Der Samson aus Wölting Site der belgischen Samsonfigur (französisch) Sonstiges: (PDF; 8,9 MB) Site des porteurs du géant Samson d’Ath Einzelnachweise Riese Feste und Brauchtum (Christentum) Samson Immaterielles Kulturerbe (Österreich) Feste und Brauchtum (Österreich) Kultur (Steiermark) Bezirk Murau Krakau (Steiermark) Murau Kultur (Land Salzburg) Mariapfarr Mauterndorf Muhr (Salzburg) Ramingstein Sankt Andrä im Lungau Sankt Margarethen im Lungau Sankt Michael im Lungau Tamsweg Unternberg Feste und Brauchtum (Belgien) Ath Wikipedia:Artikel mit Video Alpenländisches Brauchtum
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https://de.wikipedia.org/wiki/Devolutionskrieg
Devolutionskrieg
Der Devolutionskrieg (1667–1668) war ein militärischer Konflikt zwischen Spanien und Frankreich, in dem König Ludwig XIV. von Frankreich Teile der Spanischen Niederlande beanspruchte. Der Krieg wurde am 2. Mai 1668 mit der Unterzeichnung des Friedens von Aachen beendet, in dem Spanien einige Territorien abtreten musste. Der Devolutionskrieg gilt als der erste in der Reihe der sogenannten Reunionskriege, die allein auf eine Mehrung des französischen Reiches sowie Festigung der französischen Hegemonie in Europa ausgelegt waren und das Bild Ludwigs XIV. als ruhmsüchtiger Eroberer begründeten. In der älteren deutschen Literatur wurde dieser Krieg deshalb oft als „Erster Raubkrieg Ludwigs XIV.“ bezeichnet. Vorgeschichte Im Jahre 1659 schlossen Frankreich und Spanien den Pyrenäenfrieden, der einen 24-jährigen Krieg zwischen den beiden Staaten beendete. Im Friedensvertrag musste König Philipp IV. von Spanien (1605–1665) nicht nur einige Gebietsverluste hinnehmen, sondern willigte auch in die Heirat seiner Tochter Maria Teresa (1638–1683) mit dem jungen Ludwig XIV. von Frankreich (1638–1715) ein. Zusätzlich wurde festgelegt, dass Maria Teresa damit ausdrücklich auf alle Ansprüche auf das Erbe ihres Vaters verzichtete. Als „Entschädigung“ wurde dem Bourbonen Ludwig XIV. im Gegenzug eine Mitgift in Höhe von 500.000 Goldécus zugesichert, aber wohl nicht bezahlt. Als Philipp IV. schließlich am 17. September 1665 starb, meldete der französische König umgehend Ansprüche auf Teile der Spanischen Niederlande an. Im Detail handelte es sich um die Herzogtümer Brabant und Limburg, Cambrai, die Markgrafschaft Antwerpen, die Herrschaft Mechelen, Gelderland, die Grafschaften Namur, Artois und Hennegau, ein Drittel der Freigrafschaft Burgund und ein Viertel des Herzogtums Luxemburg. Als Rechtfertigung gab Ludwig XIV. an, dass die versprochene Mitgift nicht ausbezahlt wurde und der Verzicht der Königin daher unwirksam sei. Als zusätzliche Rechtsgrundlage zog er das brabantische Erbrecht heran. In diesem war die sogenannte Devolution vorgesehen, ein privatrechtliches Instrument, das das Erbrecht von Kindern (auch Töchtern) aus erster Ehe vor jenes der Kinder aus zweiter Ehe stellte. Französische Legisten folgerten daraus, dass die Spanischen Niederlande nicht an den noch minderjährigen spanischen Thronerben Karl II. (1661–1700) fallen dürften, weil dieser aus der zweiten Ehe Philipps IV. hervorgegangen war. Maria Teresa hingegen stammte aus dessen erster Ehe und sei deshalb, und damit Ludwig XIV. selbst, in Brabant erbberechtigt. Auf dieses natürliche Recht könne die Königin nicht auch für ihre Kinder verzichten. Der Historiker Heinz Schilling urteilte darüber: „Hier wurde mittelalterliches Privatrecht dem modernen Machtstaat dienstbar gemacht, der doch sachlich, institutionell und das heißt überpersönlich aufgebaut war.“ Die spanische Regentin Maria Anna (1634–1696), die für ihren minderjährigen Sohn die Regierungsgeschäfte zusammen mit ihrem Beichtvater Kardinal Johann Eberhard Neidhardt (1607–1681) leitete, wies diese Forderungen mit dem Hinweis auf den Verzicht Maria Teresas auf jegliche Erbansprüche zurück. Der französische König begann daraufhin Vorbereitungen zu einem neuerlichen Waffengang gegen Spanien. Politische Vorbereitungen Die außenpolitische Situation war 1667 für Frankreich sehr günstig. Spanien befand sich bereits seit einigen Jahren in einem Krieg gegen Portugal (Restaurationskrieg), der Spanien fast nur Rückschläge gebracht hatte und den größten Teil des spanischen Militärpotenzials band. Portugal wurde von Frankreich zunächst im Geheimen, dann jedoch auch offen unterstützt. So schlossen beide Staaten am 31. März 1667 einen formellen Bündnisvertrag. Ein weiterer Verbündeter Frankreichs waren die Vereinigten Niederlande. Nachdem Frankreich die Niederlande schon seit langer Zeit im Kampf gegen Spanien unterstützt hatte, gingen beide Mächte 1662 schließlich ein Defensivbündnis ein. Ludwig XIV. war darauf bedacht, die Unterstützung der Vereinigten Niederlande für eine Eroberung der Spanischen Niederlande zu erhalten, und strengte deshalb Verhandlungen an. Die Vereinigten Niederlande befanden sich zu diesem Zeitpunkt in einem Krieg gegen England; in den Generalstaaten befürchtete man ein Zusammengehen von England und Frankreich, wenn man auf die französischen Angebote nicht einginge. Der einflussreiche holländische Ratspensionär Johan de Witt (1625–1672) schlug den Franzosen vor, die Spanischen Niederlande gemeinsam aufzuteilen. Solche Pläne wurden bereits seit 1663 diskutiert. Doch der Anteil, den Ludwig XIV. für sich einforderte, schreckte de Witt ab und der Vertrag wurde nie abgeschlossen. Gleichzeitig trafen auch spanische Vorschläge ein, im Falle eines französischen Angriffs eine gemeinsame Armee aufzustellen. De Witt schätzte das militärische Potenzial Spaniens jedoch als schwach ein und der französische Gesandte erklärte unumwunden, dass ein Bündnis der Niederlande mit Spanien einer Kriegserklärung an Frankreich gleichkommen würde. Obwohl die französisch-niederländischen Verhandlungen zu keinem greifbaren Ergebnis geführt hatten, war Ludwig XIV. vom Wohlwollen der Vereinigten Niederlande überzeugt. Er versprach ihnen, im Konflikt mit England zu vermitteln, und erklärte England schließlich selbst den Krieg, ohne dass sich die französische Marine in größerem Umfang engagierte. Als potenzieller Gegner stand der französischen Expansion damit einzig das Heilige Römische Reich im Weg. Die Spanischen Niederlande standen als Burgundischer Reichskreis entsprechend den Vereinbarungen von Augsburg des Jahres 1548 zwischen Karl V. und dem Reich unter einer besonderen Beistandszusage des Reichs. Bei einem Angriff konnten daher die Reichsstände des Reichstages Frankreich den Reichskrieg erklären. Den französischen Diplomaten war jedoch daran gelegen, auch diese Gefahr zu beseitigen. Hierbei bedienten sie sich der Mitglieder des Rheinbundes. Mit dem Hochstift Münster, Kurmainz, Pfalz-Neuburg, Kurbrandenburg und Kurköln wurden bilaterale Verträge geschlossen, in denen sich diese Reichsstände verpflichteten, ihre Territorien für fremde Truppen zu sperren und im Reichstag auf die Neutralität des Reiches zu drängen. Dadurch wurde der geplante französische Feldzug auch nach Osten hin gegen das Eingreifen des Reichs abgeschirmt. Am 8. Mai 1667 übermittelte Ludwig XIV. dem spanischen Hof eine Deklaration, in der er seine Forderungen wiederholte. Diese Deklaration wurde von den französischen Botschaftern an jedem Hof Europas ebenso bekannt gegeben. Sie sollten den Feldzug des „Sonnenkönigs“ nicht als Krieg darstellen, sondern als den Einmarsch in Länder, die ihm bereits rechtmäßig gehörten. Der König selbst nannte die Invasion eine „Reise“ (voyage). Kriegsverlauf Nach dem Pyrenäenfrieden war das französische Heer stark reduziert worden, um Kosten einzusparen. Seine Zahl betrug 1665 nur 50.000 Mann. Durch eine von Ludwig XIV. veranlasste Aufrüstung wuchs die Stärke bis zum Kriegsbeginn auf 82.000 Soldaten an. Im Frühjahr 1667 marschierten zwischen Mézières und der Kanalküste schließlich 51.000 französische Soldaten auf, die binnen vier Tagen zusammengezogen werden konnten. Die Hauptarmee bestand aus 35.000 Mann unter dem persönlichen Kommando des Königs. Der eigentliche Befehlshaber war jedoch Maréchal Turenne (1611–1675). Links neben der Hauptarmee formierte sich im Artois an der Kanalküste ein weiteres französisches Korps unter Marschall Antoine d’Aumont de Rochebaron (1601–1669), während ein weiteres Korps unter Lieutenant-général François de Créquy (1624–1687) den Schutz der Hauptarmee auf der rechten Flanke übernahm. Alle drei Truppenkörper sollten gleichzeitig in die spanischen Territorien einrücken, um so die zahlenmäßige Überlegenheit der Franzosen auszunutzen und es den Spaniern nicht zu erlauben, sich gegen einen einzelnen französischen Verband zu konzentrieren. Der Feldzug in den Spanischen Niederlanden Am 24. Mai 1667 überschritten die französischen Streitkräfte die Grenze zu den Spanischen Niederlanden. Diese waren auf einen Krieg schlecht vorbereitet und konnten auf absehbare Zeit auch nicht mit Unterstützung aus dem Mutterland rechnen. Überhaupt waren die militärischen Einrichtungen in den Spanischen Niederlanden nicht einheitlich organisiert. Jede größere Stadt hatte ihren eigenen Verantwortungsbereich und kümmerte sich selbst um den Unterhalt der eigenen Verteidigungsanlagen, was in der Praxis jedoch darauf hinauslief, dass sie auf eine Belagerung schlecht vorbereitet waren. Ihre Befehlshaber waren relativ unabhängig und nur dem Statthalter Marquis von Castel Rodrigo (1610–1675) verantwortlich, dem auch die wenigen regulären spanischen Truppen unterstanden. Abgesehen davon standen ihm nur Milizen zur Verfügung, die jedoch nur im äußersten Notfall aufgeboten wurden. So gestattete es die geringe Zahl der verfügbaren Truppen nicht, eine Feldarmee aufzustellen. Die wenigen vorhandenen Streitkräfte wurden deshalb in die Festungen des Landes geworfen, um sich dort so lange wie möglich zu halten. Aus diesem Grund kam es während des gesamten Krieges nur zu kleineren Scharmützeln und Belagerungen und nicht zu einer großen Schlacht. Am 10. Mai 1667 hatte der Maréchal de Turenne den Oberbefehl über die französischen Streitkräfte übernommen. Erstes Ziel bildete die Festung Charleroi, welche an der Sambre gelegen die Verbindungen zwischen den nördlichen und den südlichen spanischen Besitzungen dominierte. Der Marquis de Castel-Rodrigo besaß nicht die Mittel, um diesen wichtigen Ort zu behaupten, und räumte ihn, nachdem er alle Befestigungen zerstört hatte. Maréchal de Turenne besetzte Charleroi am 2. Juni und ließ die Befestigung durch den führenden Ingenieur Vauban (1633–1707) neu errichten, um von dort aus gegen Mons oder Namur operieren zu können. Zu diesem Zweck lagerte die ganze Hauptarmee 15 Tage um Charleroi. Die Spanier verstärkten die Festungen von Mons und Namur. Doch Turenne umging Mons und nahm am 16. Juni Ath ein, welches die spanischen Truppen, überrascht vom unerwarteten Vormarsch der Franzosen, ohne Widerstand zu leisten, verließen. Auch die Befestigungen dieser Stadt wurden von den Franzosen ausgebaut. Ziel des Maréchals de Turenne war es nun, ganz Flandern mitsamt der Hauptstadt Lille von den großen spanischen Basen im Osten (Brügge, Gent, Brüssel, Namur) abzuschneiden. Er wandte sich deshalb als Nächstes gegen Tournai. Am 21. Juni erreichte die Hauptarmee die Festung und schloss sie ein. Die Festung ergab sich wenige Tage später, und die Franzosen zogen am 25. Juni ein. Daraufhin zog die Hauptarmee nach Südwesten und belagerte vom 1. bis zum 7. Juli erfolgreich Douai. Inzwischen war weiter im Norden auch das Korps des Maréchal d’Aumont erfolgreich vorgerückt und hatte Flandern durch die Einnahme der Festungen Bergues (6. Juni) und Furnes (12. Juni) vom Meer abgeschnitten. Danach hatte Maréchal de Turenne dieses Korps zum Angriff auf Courtrai befohlen. Diese Stadt wurde am 18. Juli erobert, und kurz darauf kapitulierte auch die spanische Besatzung von Oudenaarde (29. bis 31. Juli) vor den Truppen d’Aumonts. Durch die französischen Vorstöße hatte Maréchal de Turenne die starken spanischen Hauptfestungen von Ypern, Lille und Mons isoliert. Anstatt jedoch diese Festungen sofort zu belagern, entschloss er sich, zunächst weiter gegen Antwerpen vorzustoßen, um die Schwäche der spanischen Truppen auszunutzen. Dieser Vorstoß scheiterte jedoch zwischen Gent und Brüssel bei Dendermonde. Diese von 2500 Spaniern verteidigte kleine Festung behauptete sich gegen die französische Armee. Maréchal de Turenne zog sich deshalb Anfang August über Oudenaarde zurück und bereitete die Belagerung von Lille vor. Diese Belagerung war das größte Unternehmen des gesamten Feldzuges und dauerte vom 10. bis zum 28. August, als die spanische Besatzung gegen freien Abzug kapitulierte. Da der Marquis de Castel-Rodrigo vom Fall der Festung noch nicht unterrichtet war, entsandte er noch eine 12.000 Mann starke Armee unter dem Grafen de Marchin, um Lille zu entsetzen. Am 31. August traf diese Armee auf das Korps des französischen Marquis de Créquy, das Maréchal de Turenne inzwischen zur Deckung der Belagerung herangezogen hatte. Dieses Gefecht entschieden die Franzosen für sich, während sich die Truppen des Marquis de Marchin (1601–1673) zurückziehen mussten. Nach der Eroberung von Lille unternahm Maréchal de Turenne nur noch eine weitere Unternehmung. Am 12. September eroberte er die Festung Aalst und unterbrach damit die Verbindungslinien zwischen Gent und Brüssel. Danach beschränkten sich die französischen Truppen auf die lockere Blockade von Ypern und Mons und gingen am 13. Oktober schließlich in ihre Winterquartiere. In Spanien hatten bereits im Juni die Vorbereitungen zur Entsendung einer Streitmacht nach Flandern begonnen. Die Regierung der Regentin brachte mehr als eine Million Pesos auf und bestimmte Juan José de Austria (1629–1679) zum Befehlshaber der vorgesehenen Streitmacht. Dessen Ruf als General war nach einigen Niederlagen im Krieg gegen Portugal angeschlagen, und da er die Lage in den Spanischen Niederlanden pessimistisch einschätzte, verzögerte er die Abfahrt über viele Wochen und Monate. Als Vorwand diente ihm dazu das Votum einer Theologiekommission, die sich gegen ein Bündnis mit den protestantischen Mächten England und den Niederlanden ausgesprochen hatte. Letztlich führten weitere innenpolitische Verwicklungen dazu, dass das spanische Heer nie in Flandern eintreffen sollte. Die Wende in der Diplomatie Während die Operationen im Winter unterbrochen wurden, kam es zu wichtigen Entscheidungen in der europäischen Politik. Spanien versuchte, sich in eine vorteilhaftere Position zu bringen. Zunächst richtete die spanische Regierung ein Hilfegesuch an die Vereinigten Niederlande. Marquis de Castel-Rodrigo bat vor allem um finanzielle Unterstützung (2 Millionen Gulden), wofür er im Gegenzug die Zolleinnahmen aus dem Maas- und Scheldehandel an die Vereinigten Niederlande übergeben wollte. Auch die Abtretung von Brügge, Ostende und Damme war im Gespräch. De Witt wollte jedoch keine direkte Konfrontation mit Frankreich riskieren und ging nicht auf diese Bündnisangebote ein. Weiterhin leitete Spanien Verhandlungen mit dem portugiesischen Hof ein und schloss am 13. Februar 1668 den Frieden von Lissabon. Es war somit in der Lage, ab dem kommenden Frühjahr alle militärischen Kräfte gegen Frankreich zu richten. Um wenigstens Kaiser Leopold I. aus dem Konflikt herauszuhalten, nahmen französische Diplomaten Geheimverhandlungen mit dem Wiener Hof auf. In diesen boten sie dem Kaiser die Aufteilung des Spanischen Reiches an. König Karl II. von Spanien war ein sechsjähriges Kind, dem aufgrund zahlreicher körperlicher und geistiger Behinderungen niemand eine lange Lebenszeit prophezeite. Mit ihm würde die spanische Linie der Habsburger aussterben. Der Kaiser ging auf das Angebot ein. Er sollte Spanien selbst, dessen Kolonien und das Herzogtum Mailand erhalten. Frankreich beanspruchte im Gegenzug die Spanischen Niederlande, die Franche-Comté, Navarra und das Königreich Neapel-Sizilien. Der geheime Teilungsvertrag wurde am 19. Januar 1668 vereinbart. Der Kaiser hatte damit keinen Grund mehr, gegen Frankreich in den Krieg zu ziehen, denn dieses besetzte lediglich Territorien, die ihm vom Kaiser zugestanden worden waren. Der Vertrag wurde jedoch in den folgenden Jahren vom Kaiser nicht ratifiziert, um das Verhältnis zu Spanien nicht weiter zu verschlechtern. Der schnelle französische Vormarsch hatte die Vereinigten Niederlande allerdings sehr beunruhigt. Zwar waren auch sie eigentlich Feinde der spanischen Monarchie, doch „ein inaktives und müdes Spanien stellte für sie einen besseren Nachbarn dar als ein mächtiges und aggressives Frankreich.“ Sie wollten die Spanischen Niederlande als eine Art „Pufferstaat“ unbedingt erhalten. Die Niederlande beeilten sich deshalb, ihren Krieg gegen England zu beenden, und schlossen trotz des sehr erfolgreichen Kriegsverlaufes am 31. Juli 1667 den Frieden von Breda. Danach boten sie zunächst ihre Vermittlung im Krieg zwischen Frankreich und Spanien an. Ludwig XIV. lehnte dies jedoch im September 1667 ab und versuchte weiterhin, die Holländer für eine gemeinsame Aufteilung der Spanischen Niederlande zu gewinnen. Diese Bemühungen verliefen im Sande, und Ludwig XIV. spielte mit dem Gedanken an einen Krieg gegen die Niederlande. Nun richteten sich die niederländischen Bemühungen darauf, eine Koalition gegen Frankreich zustande zu bringen, um die französische Expansion zu begrenzen. Es war jedoch nicht de Witts Intention, damit das gute Verhältnis zu Frankreich zu beenden. König Karl II. von England (1630–1685) hatte nach dem Frieden von Breda geheime Bündnisverhandlungen mit Frankreich aufgenommen, die gegen die Vereinigten Niederlande gerichtet waren. Aber gleichzeitig verhandelte er auch mit den Vereinten Niederlanden über eine gemeinsame Allianz gegen Frankreich. Im ersten Fall würden ihn französische Subsidien unabhängig vom englischen Parlament machen; in letzterem Fall läge der Erfolg darin, die französisch-niederländische Allianz zu sprengen. Während Ludwig XIV. die englischen Angebote ablehnte, ging de Witt auf sie ein. Am 23. Januar 1668 schlossen sich die Vereinigten Niederlande und England in einem Bündnis zusammen, dessen erklärtes Ziel es war, Spanien zur Abtretung einiger Territorien und Frankreich zur Begrenzung seiner Forderungen zu bringen. In einem geheimen Zusatzartikel wurde zusätzlich jedoch festgehalten, dass, wenn der französische König seine Forderungen erweitern oder seinen Eroberungszug fortsetzen sollte, die Allianz kriegerische Mittel anwenden würde, um Frankreich in die Grenzen von 1659 zurückzudrängen. Auch das Königreich Schweden trat dieser Allianz bei (Tripelallianz), um auf diesem Weg dringend benötigte Subsidien zu erhalten. Trotzdem versicherte de Witt den französischen Diplomaten, dass dieses Bündnis nicht gegen Frankreich gerichtet sei, sondern Spanien zur Abtretung der geforderten Territorien bringen sollte. Der Feldzug in der Franche-Comté Es ging Ludwig XIV. unterdessen bei einem neuen Feldzug vor allem darum, möglichst weite spanische Gebiete zu erobern, um diese bei einem Friedensschluss austauschen zu können. Für diese Zwecke bot sich die Einnahme der spanischen Franche-Comté an. Diese lag isoliert und war von spanischen Truppen fast völlig entblößt. Dies hatte mehrere Gründe: Zum einen hatte Frankreich die Neutralität dieser Freigrafschaft im vergangenen Krieg gegen Spanien respektiert und zum anderen rechneten die spanischen Generäle mitten im Winter nicht mit einem Einfall der Franzosen. Der Marquis von Castel-Rodrigo schrieb in einem Brief: „Ich bin zufrieden mit der Unterbrechung der Kampfhandlungen, die der Winter dem König von Frankreich aufzwingt.“ Ludwig XIV. beauftragte den General de Condé (1621–1686) mit der Vorbereitung eines Winterfeldzuges gegen die Franche-Comté. Condé war als ehemaliger Gegner des Königs während der Fronde-Aufstände in Ungnade gefallen und wurde 1668 erstmals seit neun Jahren wieder mit einem militärischen Kommando betraut. Als Gouverneur von Burgund war Condé am ehesten in der Lage, einen Angriff gegen die Freigrafschaft vorzubereiten. Für diesen Zweck wurde eine zweite Armee aus neu aufgestellten Truppen zusammengezogen. Wieder begleitete Ludwig XIV. den Feldzug persönlich. Der König verließ Saint-Germain am 2. Februar 1668, um zur Hauptarmee zu stoßen. Zu diesem Zeitpunkt erhielt er die Nachricht vom Abschluss der Tripelallianz und durch einen Spion den Hinweis, dass diese auch bereit war, Frankreich den Krieg zu erklären. Dennoch beharrte er auf dem einmal eingeleiteten Feldzug, weil er durch diesen ein geeignetes Faustpfand für spätere Verhandlungen zu erobern glaubte. General de Condé hatte den Vormarsch am 4. Februar begonnen und nahm bereits am 7. Februar die Freie Reichsstadt Besançon ein, welche ebenfalls in der Franche-Comté lag. Am gleichen Tag gelang einem weiteren französischen Korps unter dem General François-Henri de Montmorency-Luxembourg (1628–1695) die Eroberung Salins. Beide Festungen hatten praktisch keine Gegenwehr geleistet. Nunmehr konzentrierte sich die französische Armee auf die Einnahme der Festung Dôle. Diese kapitulierte erst am 14. Februar nach einer kurzen viertägigen Belagerung, die 400–500 französische Soldaten das Leben kostete. Nur fünf Tage später fiel am 19. Februar auch die Festung Gray an die Franzosen. Der spanische Gouverneur Philippe de La Baume-Saint-Amour, Marquis de Yenne, hatte sich dem französischen König kurz zuvor ergeben und überredete nun den Gouverneur der Festung Gray zur Kapitulation. Ludwig XIV. kehrte nach Saint-Germain zurück, wo er schon am 24. Februar 1668 eintraf. Nach nur 17 Tagen war die ganze Freigrafschaft besetzt. Die Ursache für diesen schnellen Erfolg lag in der Überraschung und der schlechten Vorbereitung der Spanier. Außerdem war die lokale Bevölkerung den Franzosen zugeneigt und begrüßte sie mehrheitlich. Der Frieden von Aachen Die Eroberung der Franche-Comté sollte zunächst nur der Auftakt zu einem umfassenden Feldzug im Frühjahr sein. Die Armee war auf 134.000 Soldaten vermehrt worden. Der Plan sah vor, dass der König und Maréchal de Turenne mit 60.000 Mann den verbliebenen Teil der Spanischen Niederlande erobern sollten. An der Spitze von 10.000 Mann sollte der Bruder des Königs, der Herzog von Orléans (1640–1701), in Katalonien einfallen, während der Prinz de Condé mit 22.000 Mann in den Bistümern Metz, Toul und Verdun einen möglichen Vorstoß aus dem Heiligen Römischen Reich abzuwehren hatte. Doch nachdem sich Ludwig XIV. der Franche-Comté als Faustpfand versichert hatte, stellte sich zuerst die Frage, ob er sich den Forderungen der Tripelallianz beugen oder den Krieg fortsetzen sollte. Kriegsminister Louvois sowie Turenne und Condé waren für eine Fortsetzung des Krieges, weil ihnen die Gelegenheit gegenüber den geschwächten Spaniern günstig schien. Der Außenminister Hugues de Lionne (1611–1671) und Finanzminister Jean-Baptiste Colbert (1619–1683) zogen hingegen einen schnellen Friedensschluss vor, weil die Kosten eines Krieges unabsehbar waren (bisher hatte er über 18 Millionen Livres gekostet) und die außenpolitischen Bedingungen einen Erfolg fragwürdig erscheinen ließen. Spanien hatte zudem inzwischen (13. Februar 1668) mit Portugal den Frieden von Lissabon geschlossen und konnte sich nunmehr verstärkt auf den Krieg gegen Frankreich konzentrieren. Ludwig XIV. musste einsehen, dass Frankreich der Koalition von Spaniern, Niederländern, Engländern und Schweden noch nicht gewachsen war, verkündete deshalb einen Waffenstillstand bis Ende März 1668 und leitete Verhandlungen ein. Im April trafen sich die Parteien in Saint-Germain und handelten bis zum 13. des Monats einen Friedensvertrag aus. Vom 25. April an tagte schließlich ein Kongress unter dem Vorsitz des Nuntius des Papstes Clemens IX. in Aachen, wo schließlich am 2. Mai 1668 der Frieden unterzeichnet wurde (→ Frieden von Aachen). In diesen Verhandlungen setzte die Tripelallianz ihre Forderungen durch: Frankreich räumte die Franche-Comté inklusive der Freien Reichsstadt Besançon, zerstörte zuvor jedoch sämtliche Befestigungen der Städte Gray und Dole. Außerdem mussten sich die französischen Truppen aus den Spanischen Niederlanden zurückziehen. Lediglich 12 eroberte Städte verblieben im Besitz des französischen Königs: Lille, Tournai, Oudenarde, Courtrai, Furnes, Bergues, Douai mit dem Fort de Scarpe, Binche, Charleroi, Ath und Armentiers. Ludwig XIV. schrieb später in seinen Memoiren über die Entscheidung zum Friedensschluss: Die Inszenierung des „Sonnenkönigs“ Für den jungen französischen König stellte der Krieg gegen Spanien die Möglichkeit dar, sich einen bleibenden Ruhm zu verschaffen. „Die Leidenschaft für den Ruhm hat in Meiner Seele gewiß den Vorrang vor allen anderen“, sagte er oft. Traditionsgemäß kommandierte er, zumindest nominell, die Armee selbst und begleitete sie auf dem Feldzug. Er erreichte die Hauptarmee am 3. Juni 1667 vor Charleroi und verließ sie am 2. September 1667 wieder. Zwischen dem 2. und 24. Februar 1668 befand er sich noch einmal mit der Armee des Prinzen Condé in der Franche-Comté im Feld. Obwohl Ludwig am Kriegsrat teilnahm, trafen tatsächlich erfahrene Generäle die Entscheidungen auf dem Schlachtfeld. Der König fiel jedoch dadurch auf, dass er sich ständig in persönliche Gefahr begab, zum Beispiel, wenn er während der Belagerungen die vordersten Gräben besichtigte und viele Nächte im Biwak verbrachte. Dennoch war dies nicht zu vergleichen mit dem „Heldentum“ einiger seiner Vorgänger, denn wie Voltaire später über ihn berichtet: In diesen Zeiträumen reiste der König jedoch mit dem gesamten Hofstaat und dem gesamten Luxus, auf den er auch im Krieg nicht verzichten wollte. Allein dieser benötigte einen großen logistischen Aufwand. Mit Ludwig XIV. reisten unter anderem die Königin sowie die zwei Mätressen des Königs (die Herzogin de la Vallière und die Marquise de Montespan), aber auch sämtliche Minister und unbeschäftigten Generäle. Besonders die letzteren neigten dazu, gegen die kommandierenden Marschälle und dabei insbesondere gegen den Maréchal de Turenne zu intrigieren, was dessen Befehlsführung beeinträchtigte. Im Gefolge des Königs befanden sich auch die zwei führenden Hofmaler Adam Frans van der Meulen und Charles Lebrun, welche dazu angehalten waren, die Taten des Sonnenkönigs festzuhalten. Gleiches galt für andere Künstler. So entstanden zahlreiche Gemälde und Gobelins, aber auch Medaillen und Gedichte. Nach dem Friedensschluss fand in Versailles eine große Siegesfeier statt, an deren Ausrichtung auch andere Zeitgenossen wie Molière, Jean-Baptiste Lully, Louis Le Vau und Carlo Vigarani beteiligt waren. Bei all diesen Gelegenheiten wurde der König stets so dargestellt, als hätte er die alleinige Befehlsführung übernommen, ohne dass die zahlreichen Marschälle und Generäle erwähnt wurden. In den Jahren nach dem Krieg (ab 1671) wurde der König nun oft als Louis le Grand oder Ludovicus Magnus (Ludwig der Große) gepriesen, und einem Vorschlag des Finanzministers Colbert nach sollte sogar ein Triumphbogen in Paris entstehen. Der Bau wurde jedoch 1671 eingestellt. Folgen Die Auswirkungen des Devolutionskrieges waren vielfältig. Rein militärisch hatte Frankreich einige Vorteile errungen, indem es in den Festungsgürtel eingebrochen war, der die Spanischen Niederlande umgab. Gleichzeitig führte dies zu einer Steigerung der französischen Verteidigungskraft, da Vauban sofort daranging, die eroberten Städte zu starken Festungen auszubauen. Diese wiederum dienten in den späteren Kriegen als Ausgangsbasen für weitere französische Eroberungszüge. Dabei ist nicht mehr zu ermitteln, wie hoch die Verluste der französischen und spanischen Truppen sowie der Zivilbevölkerung während des Krieges waren. Aufgrund der kurzen Dauer des Konfliktes sind diese wohl relativ niedrig einzustufen. Bekannt ist beispielsweise, dass das französische Heer allein bei der Belagerung von Lille mehr als 4.000 Soldaten durch Tod oder Verwundung einbüßte. Die spanischen Truppen sollen danach im Gefecht bei Brüssel 180 Mann verloren haben. Auf der politischen Ebene waren die Ergebnisse für König Ludwig XIV. eher negativer Natur. Der Ruf des Königs hatte zumindest im Heiligen Römischen Reich gelitten, vor allem durch die Einnahme der Freien Reichsstadt Besançon. Der Rheinbund löste sich unter dem Eindruck der französischen Expansionsabsichten noch 1668 auf, und auch andere Verbündete wie der Kurfürst von Brandenburg fielen von Frankreich ab. Diese Kehrtwendung vieler Reichsstände wurde deutlich, als sie im Jahre 1673, zu Beginn des zweiten Krieges Ludwig XIV., Frankreich den Reichskrieg erklärten. Die wichtigste Folge war jedoch die geänderte Einstellung Ludwigs XIV. gegenüber den Vereinigten Niederlanden. Der König gab ihnen, den ehemaligen engen Verbündeten, die Hauptschuld am Zustandekommen der Tripelallianz, deren Druck seinen Eroberungszug zum Stehen gebracht hatte. Die französische Außenpolitik der folgenden Jahre war deshalb ganz auf die Isolierung der Vereinigten Niederlande ausgerichtet, um diese bei einer sich bietenden Gelegenheit anzugreifen. Nachdem die Isolierung durch Bündnisse mit mehreren deutschen Fürsten, England und Schweden gelungen war, eröffnete Ludwig XIV. 1672 den Niederländischen Krieg (1672–1679), der sich zu einem gesamteuropäischen Konflikt ausweiten sollte. Viele Historiker sehen in diesem zweiten Krieg lediglich die Fortsetzung des Devolutionskrieges. Literatur Peter Burke: Ludwig XIV. – Die Inszenierung des Sonnenkönigs. Berlin 1993, ISBN 3-8031-2412-3 M. Chéruel (Hrsg.): Journal d’Oliver Lefèvre d’Ormesson et extraits des mémoires d’André Lefèvre d’Ormesson. Band 2, Paris 1861. Pierre Gaxotte: Ludwig XIV. – Frankreichs Aufstieg in Europa. München 1951, ISBN 3-404-00878-2 François Guizot: A Popular History of France From The Earliest Times. Band 5, London 1834. Albrecht Graf von Kalnein: Die Regentschaft in Spanien 1665–1677. Saarbrücken/Fort Lauderdale 1992, (= Forschungen zu Spanien, Band 11), ISBN 3-88156-559-0 R. G. van Kampen: Geschichte der Niederlande. Band 2, Hamburg 1833. Heinz Kathe: Der „Sonnenkönig“ – Ludwig XIV., König von Frankreich und seine Zeit 1638–1715. Berlin 1981. John A. Lynn: The Wars of Louis XIV 1667–1714. London/New York 1999, ISBN 0-582-05629-2 Herbert H. Rowen: John de Witt and the Triple Alliance. In: The Journal of Modern History. Band 26, Nr. 1 (1954), S. 1–14. Jules Roy: Turenne – Sa vie, les institutions militaires de son temps. Paris 1896. D. v. Schaumberg: Kriege Ludwigs XIV. In: Bernhard von Poten: Handwörterbuch der gesamten Militärwissenschaften. Band 5, Leipzig 1878, S. 300–313. Heinz Schilling: Höfe und Allianzen – Deutschland 1648–1763. Berlin 1998, ISBN 3-442-75523-9 Paul Sonnino: Louis XIV. and the origins of the Dutch War. Cambridge/New York/New Rochelle 1988, ISBN 0-521-34590-1 Maxime Weygand: Turenne. München 1938. Weblinks Einzelnachweise Krieg (17. Jahrhundert) Krieg (Spanien) Krieg (Frankreich) Krieg in der niederländischen Geschichte Krieg in der britischen Geschichte Französische Geschichte (17. Jahrhundert) Ludwig XIV. Französisch-spanische Beziehungen Krieg (Europa)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Formaldehyd
Formaldehyd
Formaldehyd (IPA: , , auch , ; systematischer Name Methanal) ist eine organisch-chemische Verbindung mit der Summenformel CH2O und der einfachste Vertreter aus der Stoffgruppe der Aldehyde. Unter Standardbedingungen ist Formaldehyd ein Gas mit einem stechenden Geruch. Mit etwa 21 Millionen Tonnen Jahresproduktion (Stand: 2019, bezogen auf 100 % Formaldehyd) ist Formaldehyd eine der meisthergestellten organischen Chemikalien. Die technische Formaldehydherstellung erfolgt katalytisch durch die Oxidation oder die Dehydrierung von Methanol, etwa im Silberkatalysator-Verfahren oder im Formox-Verfahren. In der chemischen Industrie dient es insbesondere als Ausgangsstoff bei der Produktion von Phenol- und Harnstoffharzen. Ein weiteres Polymer ist Paraformaldehyd, das unter anderem in der Zellbiologie genutzt wird. Er ist ein starkes Antiseptikum und Desinfektionsmittel, das als 40-prozentige Lösung des Aldehyds in Wasser erhältlich ist und als Fungizid und Konservierungsmittel eingesetzt wird. In der Natur kommt Formaldehyd als Oxidationsprodukt von Terpenen sowie als Stoffwechselprodukt von Bakterien vor, die Substrate mit einem Kohlenstoffatom wie Methanol, Methan oder Methylamin zu Kohlenstoffdioxid aerob verstoffwechseln. Formaldehyd ist Teil des menschlichen Stoffwechsels. Er ist als karzinogen eingestuft. Nomenklatur Der systematische IUPAC-Name Methanal für molekularen Formaldehyd leitet sich vom Methan durch Anhängen des Suffix -al für Aldehyde ab. Der bevorzugte IUPAC-Name Formaldehyd stammt von „formica“ ab, dem lateinischen Wort für die Ameise, da Formaldehyd durch Oxidation in Ameisensäure überführt werden kann. Die wässrige Lösung von Formaldehyd wird als Formalin oder seltener als Formol bezeichnet. Sie kam ab 1893 als „Formalin“ bei Schering und als „Formol“ bei Hoechst in den Handel. Eine gesättigte wässrige Lösung enthält etwa 40 Volumen-% Formaldehyd oder 37 % Massenanteil und wird als „100 % Formalin“ bezeichnet. Dieser wird oft ein Stabilisator wie Methanol zugesetzt, um die Polymerisation zu unterdrücken. Ein typisches handelsübliches Formalin kann bis zu 12 % Methanol enthalten. Produktionszahlen für Formaldehyd werden meist auf der Basis der 37-%-Massenanteil-Formalinlösung angegeben. In wässriger Lösung liegt Formaldehyd in seiner hydratisierten Form als Methandiol mit der Formel CH2(OH)2 vor. Diese Verbindung steht je nach Konzentration und Temperatur im Gleichgewicht mit verschiedenen, Paraformaldehyd genannten Oligomeren mit einem typischen Polymerisationsgrad von 8 bis 100 Einheiten. Durch Erhitzen kehrt sich die Reaktion um und setzt aus Paraformaldehyd wieder Formaldehyd frei. Unter dem Handelsnamen Formcel der Celanese sind Lösungen von Formaldehyd in Methanol (Methyl Formcel) mit 55,0 % Massenanteil Formaldehyd, 34,5 % Massenanteil Methanol und 10,5 % Massenanteil Wasser sowie Lösungen in Butanol und Isobutanol (Butyl Formcel) mit 40 % Massenanteil Formaldehyd, 53 % Massenanteil Butanol und 7 % Massenanteil Wasser erhältlich. Trioxan ist ein Trimer von molekularem Formaldehyd. Geschichte Alexander Michailowitsch Butlerow synthetisierte Formaldehyd beziehungsweise Paraformaldehyd 1855 durch die Umsetzung von Diiodmethan mit Silberacetat. Das zunächst entstehende Acetat verseifte er durch Kochen mit Wasser und engte die erhaltene Lösung im Vakuum ein. Butlerow, der den erhaltenen Stoff „Dioxymethylen“ nannte, erkannte jedoch nicht, dass er Paraformaldehyd hergestellt hatte. Er untersuchte die Chemie des Formaldehyds weiter und entdeckte 1861 die Formosereaktion, bei der ein Gemisch von Zuckern aus Formaldehyd entsteht. Entwicklung der technischen Synthese Auf der Suche nach dem ersten Glied der Aldehydreihe führte August Wilhelm von Hofmann im Jahr 1867 die erste gezielte Darstellung des Formaldehyds durch die Dehydrierung von Methanol an einem glühenden Platindraht durch. Dieses Laborverfahren erlaubte die Herstellung einiger Liter Formaldehydlösung aus Methanol und damit weitere Studien zur Chemie dieses Aldehyds. So entdeckte Adolf von Baeyer 1872 dessen Kondensation mit Phenol zu Phenol-Formaldehyd-Harzen, jedoch ohne die Entdeckung weiterzuverfolgen. Bernhard Tollens optimierte die Ausbeute durch die Regelung des Verhältnisses von Methanol zu Luft; zur Vermeidung von Explosionen entwickelte er eine Flammenrückschlagsicherung in Form eines Asbestbauschs, die er zwischen der Methanolvorlage und der Platinspirale einsetzte. Oskar Loew verbesserte die Formaldehyd-Synthese durch den Einsatz von zunächst Eisen(III)-oxid und später Kupfer als Katalysator. Im Jahr 1888 begann die Firma Mercklin & Lösekann in Seelze mit der kommerziellen Produktion von Formaldehyd. Ab dem Jahr 1889 wuchs der Bedarf an Formaldehyd für die Farbstoffherstellung. So konnte Acridin durch die Umsetzung von Diphenylamin mit Formaldehyd unter Katalyse mit Zinkchlorid hergestellt werden. Acridin ist der Grundkörper für Acridinfarbstoffe wie Acridinorange und Acridingelb, der bis dahin nur aus Steinkohleteer gewonnen wurde. Die Firma Meister, Lucius und Brüning, die 1890 ein Patent zur Herstellung Formaldehyd von Jean Joseph Auguste Trillat übernahm, hatte erhebliches Interesse an der Entwicklung von medizinischen Anwendungen für wässrige Formaldehydlösungen. Sie beauftragten 1892 den Frankfurter Arzt Ferdinand Blum, die antiseptischen Eigenschaften von Formaldehyd zu untersuchen. Blum zeigte die bakterioziden Eigenschaften einer 4-prozentigen Formaldehyd-Lösung auf Bakterien wie Bacillus anthracis und Staphylococcus aureus. Zufällig entdeckte er bei seinen Experimenten die Möglichkeit, Gewebeproben mit Formaldehyd bzw. Formol zu fixieren. Kunststoffe aus Formaldehyd Die erste größere technische Verwendung fand Formaldehyd durch die 1897 von Adolf Spitteler und Wilhelm Krische patentierte Erfindung des Galalith, eines duroplastischen Kunststoffs auf Basis von Casein und Formaldehyd. Der Kunststoff ließ sich erfolgreich vermarkten und wurde für Haarkämme und Accessoires, Stricknadeln, Stifte, Schirmgriffe, weiße Klaviertasten, Elektrogeräte und vieles mehr verwendet. Im deutschen Reich wurden 1913 etwa 6 % der gesamten Milchproduktion zur Herstellung von Galalith genutzt. Von Baeyers Arbeiten über die Kondensation von Phenol und Formaldehyd wurde von verschiedenen Chemikern aufgegriffen, so 1899 von Arthur Smith, 1902 von A. Luft, 1903 von F. Hensche, der eine alkalisch katalysierte Kondensation untersuchte und 1905 von H. Story. Doch erst Leo Baekeland erkannte 1907 mit der Herstellung des Bakelits, des ersten vollsynthetischen Kunststoffs, das Potential dieser Synthese. Seine Firma, die General Bakelit, begann 1910 mit der technischen Produktion des Bakelits. Die Bakelitprodukte neigten jedoch zum Nachdunkeln und auf der Suche nach klareren Kunststoffen entdeckte der Chemiker Hans John 1918 die Harnstoffharze. Durch die Nachfrage nach den Harnstoff- und Phenolharzen stieg der Bedarf an Formaldehyd stark an. Großtechnische Herstellung Erst die Entwicklung der Methanolherstellung aus Synthesegas im Hochdruckverfahren an Zinkoxid-Chromoxid-Katalysatoren durch Matthias Pier und Alwin Mittasch in den 1920er Jahren gab den Anstoß zur Entwicklung einer großtechnischen Herstellung. Bis zu diesem Zeitpunkt verlief die kommerzielle Gewinnung von Methanol nur als Nebenprodukt der Holzkohleherstellung, die in Deutschland 1857 durch die Firma Dietze, Morano & Cie. in Lorch begann, wobei neben Holzkohle und Methanol als weitere Produkte Essigsäure und Essigsäuremethylester anfielen. Homer Burton Adkins entwickelte in den 1930er Jahren zusammen mit Wesley R. Peterson die Adkins-Peterson-Reaktion zur direkten Oxidation von Methanol zu Formaldehyd. Adkins, der zu dieser Zeit bei der Bakelite Corporation arbeitete, nutzte dazu einen Eisen-Molybdän-Oxid-Katalysator. Die Jahresproduktionsmenge betrug 1931 etwa 25.000 Tonnen und hatte sich bis 1943 auf etwa 100.000 Tonnen vervierfacht. Verwendung in der Holzindustrie In den 1940er Jahren stellte ein Werk in Bremen die erste Spanplatte unter Verwendung von Harnstoff-Formaldehyd-Harzen her und löste damit eine hohe Nachfrage in der Bau- und Möbelindustrie aus. Durch die dadurch mögliche Verarbeitung von Holzspänen stieg der Verwertungsgrad von Bäumen von 40 % auf 80 %. Vorkommen Biologische Vorkommen In der Natur kommt Formaldehyd zum Beispiel in Säugetierzellen beim normalen Stoffwechsel als Zwischenprodukt vor. Im Menschen werden auf diese Weise pro Tag etwa 878 bis 1310 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht gebildet. Für einen Menschen mit einem Körpergewicht von 70 Kilogramm entspricht dies 61 bis 92 Gramm Formaldehyd pro Tag. Die Halbwertszeit beträgt 1 bis 1,5 Minuten. Menschen atmen etwa 0,001 bis 0,01 mg/m3 Formaldehyd aus, dabei besteht kein signifikanter Unterschied bei Rauchern oder Nichtrauchern. Der Formaldehydspiegel im Blut variiert zwischen 0,4 und 0,6 μg·cm−3 und im Urin zwischen 2,5 und 4,0 μg·cm−3. Die tägliche Aufnahme beträgt bis zu etwa 14 mg. Ebenso kommt Formaldehyd in Holz vor und diffundiert in geringen Mengen nach außen. Methylotrophe Bakterien (etwa aus der Familie Methylophilaceae) oder methanotrophe Bakterien (z. B. aus der Familie Methylococcaceae) verstoffwechseln eine Reihe von Verbindungen mit nur einem Kohlenstoffatom (C1-Verbindungen) wie Methanol, Methan, Methylamin und Dichlormethan als Energiequelle. Diese Verbindungen werden über das Cytotoxin Formaldehyd metabolisiert. Die Oxidation von Formaldehyd zu Kohlenstoffdioxid ist ein wichtiger Teil des Stoffwechsels dieser aeroben Bakterien. Lebens- und Genussmittel In Früchten wie Äpfeln oder Weintrauben kommt Formaldehyd natürlicherweise vor. Die niedrigste Formaldehyd-Konzentration in Lebensmitteln konnte in Frischmilch gemessen werden, mit einem Gehalt von 0,013 bis fast 1 mg/kg. Der höchste Gehalt wurde in gefrorenem Seehecht mit 232–293 mg/kg gemessen. Beim Konsum von einer Packung Zigaretten werden etwa 3 mg Formaldehyd pro Tag vom Raucher aufgenommen. Zum Teil enthalten E-Zigaretten Stoffe wie Propylenglykol, die beim Verdampfen Formaldehyd abgeben können. Dabei werden pro Tag vom Raucher von E-Zigaretten bei gleichem Konsum etwa 14 mg Formaldehyd aufgenommen. Bei Konservierungsverfahren wie dem Räuchern wird durch die Pyrolyse von Harthölzern Formaldehyd freigesetzt. Es wirkt mikrobiozid gegen Hefen und Schimmelpilze und quervernetzend auf Proteine. Atmosphärische Vorkommen Formaldehyd ist eine allgegenwärtige Spurenchemikalie und die am häufigsten vorkommende Carbonylverbindung in der Atmosphäre. Er entsteht bei der photochemischen Reaktion von Kohlenwasserstoffen oder der unvollständigen Verbrennung fossiler Brennstoffe und Biomasse. Die Verbrennung von Kraftstoff und Holz sind die vorherrschenden Quellen für anthropogenes atmosphärisches Formaldehyd, wobei die größeren Emissionen von biogenen Quellen ausgehen, etwa durch Oxidation von Methan und Isopren. Die Photolyse von Formaldehyd spielt möglicherweise eine Rolle bei der Luftverschmutzung in städtischen Umgebungen. Für den photolytischen Zerfall werden zwei Reaktionswege vermutet, von denen einer über die Bildung von Wasserstoff und Kohlenstoffmonoxid verläuft. CH2O -> H2 + CO Der zweite Reaktionsweg führt zur Bildung von Wasserstoff- und Formylradikalen. CH2O -> H* + HCO* Die Bedeutung dieses Reaktionswegs ergibt sich aus der Tatsache, dass diese Radikale eine wichtige Rolle bei der Oxidation von Stickstoffmonoxid zu Stickstoffdioxid und der Bildung von Ozon spielen. Atmosphärische Senken für Formaldehyd sind Reaktionen mit Hydroxyl-Radikalen und die Photolyse. Eine wichtige natürliche Emissionsquelle für Formaldehyd ist die atmosphärische Oxidation von Methan. In der tropischen Erdatmosphäre beträgt die Konzentration circa 1 ppb. Hier ist eine der Hauptquellen die Oxidation von Methan. Es wird vermutet, dass photochemische Prozesse in der Ur-Atmosphäre zur Bildung von etwa 3 Millionen Tonnen Formaldehyd pro Jahr geführt haben. Der Niederschlag von Formaldehyd und anschließende Reaktionen von Formaldehyd in urzeitlichen Gewässern führten möglicherweise zu einer abiotischen Synthese komplexer organischer Moleküle und ermöglichte damit eventuell den Ursprung des Lebens. Extraterrestrische Vorkommen Radioastronomen wiesen Formaldehyd als erstes mehratomiges organisches Molekül im interstellaren Medium in vielen Regionen unserer Galaxie mittels des Grundzustandsrotationsübergangs bei 4830 MHz vorwiegend in der Nähe junger, massereicher Sternobjekte nach. Das Studium der Emissionen von Formaldehyd eignet sich zur Ableitung der räumlichen Dichte und der kinetischen Temperatur des dichten Gases in der Milchstraße und anderen Galaxien, wie NGC 660. Nach radioastronomischen Messungen des Grundzustandsrotationsübergangs von Formaldehyd beträgt das Verhältnis von 12C zu 13C in der galaktischen Scheibe zwischen 5 und 8 Kiloparsec etwa 50. Dies ist um den Faktor 2 geringer im Vergleich zum lokalen interstellaren Medium und stimmt qualitativ mit Vorhersagen aus galaktischen Evolutionsmodellen überein, die eine höhere Metallizität des Gases in der inneren galaktischen Scheibe vorhersagen. Es wird angenommen, dass Formaldehyd ein wichtiger Vorläufer für einen großen Teil komplexerer organischer Moleküle wie etwa Aminosäuren im interstellaren Medium ist. Mittels eines Massenspektrometers an Bord der Sonde Rosetta wurde im Schweif des Kometen Tschurjumow-Gerassimenko Formaldehyd nachgewiesen. Mittels des Atacama Large Millimeter/submillimeter Array wurde die Verteilung von Formaldehyd in der Koma der Kometen C/2012 F6 (Lemmon) und C/2012 S1 (ISON) vermessen und detailliert beschrieben. Durch mehrdimensionale Festkörper-NMR-Spektroskopie wurden funktionelle Gruppen in unlöslicher organischer Substanz in kohlenstoffhaltigen Chondriten identifiziert, die möglicherweise Polymerisationsprodukte des Formaldehyds sind. Extraterrestrisches Formaldehyd wird als mögliche Quelle für organische Verbindungen diskutiert, die zum Leben auf der Erde führten. Herstellung Die großtechnische Herstellung von Formaldehyd erfolgt heute praktisch ausschließlich durch zwei etablierte Verfahrensprinzipien, die beide auf den Ausgangsstoff Methanol zurückgreifen und je nach Hersteller unterschiedlich abgeändert wurden: die oxidative Dehydrierung und die Oxidation von Methanol. In den 1970er und 1980er Jahren wurde Formaldehyd in den USA zwischenzeitlich durch radikalische Oxidation von Propan und Butan hergestellt (C3/C4-Schnitt). Ebenso wurde vor allem in Japan Formaldehyd einige Zeit lang durch Oxidation von Dimethylether produziert. Diese beiden Verfahren konnten sich aufgrund der unbefriedigenden Selektivität und hoher Produktionskosten nicht nachhaltig bewähren und werden heute nicht mehr durchgeführt. Die Weltjahresproduktion von Formaldehyd betrug im Jahr 2019 etwa 21 Millionen Tonnen (bezogen auf 100 % Formaldehyd). Die größten Produktionsregionen waren der asiatisch-pazifische Raum, gefolgt von der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten. Die Herstellung von Formaldehyd findet gewöhnlich in der Nähe des industriellen Verbrauchers statt, da während des Transports über lange Strecken stabilitätsbedingte Probleme auftreten können. Das Produkt gelangt dabei meist über ein Rohrleitungsnetz zu den Verbrauchern. Der Welthandel mit Formaldehyd ist verglichen mit dem Produktionsvolumen gering. Zu den größeren Herstellern gehörten 2017 die Firmen Dynea Chemicals, Perstorp, Georgia-Pacific, Celanese, Ercros, BASF und viele andere. Oxidation von Methanol (Formox-Verfahren) Dem ersten Verfahrensprinzip liegt eine einfache Oxidationsreaktion zugrunde. Methanol wird dabei mit Luftsauerstoff bei Temperaturen von 350–450 °C drucklos an Eisen(III)-oxid- und Molybdän(VI)-oxid-Katalysatoren in Rohrbündelreaktoren zu Formaldehyd umgesetzt. Die Umsetzung erfolgt in der Gasphase und mit einem großen Überschuss an Luftsauerstoff. Die beträchtliche Reaktionsenthalpie wird mithilfe von Kühlmitteln wie Salzschmelzen, Druckwasser oder Ölen, welche die Rohre umströmen, abgeführt und zur Erzeugung von überhitztem Hochdruckdampf genutzt. Der Katalysator ist als Festbett im Reaktor angeordnet. Die katalytisch aktive Verbindung ist das Eisen(III)-molybdat [Fe2(MoO4)3], das während der Umsetzung aus der Katalysatorvorstufe gebildet wird. Dieses fungiert als Sauerstoffüberträger und oxidiert den entstehenden Wasserstoff zu Wasser. Der reduzierte Katalysator wird dabei simultan mit Luftsauerstoff regeneriert. Somit wird eine Katalysatorlebensdauer von etwa zwei Jahren erreicht. Als wesentliche Nebenreaktion tritt praktisch nur die vollständige Oxidation (Verbrennung) von Formaldehyd zu Kohlenstoffdioxid und Wasser auf. Der Methanolumsatz beträgt etwa 95–99 % und die Selektivität zu Formaldehyd erreicht 91–94 %. Das heutzutage dominierende Verfahren der Methanol-Oxidation wurde von Perstorp und Reichhold entwickelt und wird als Formox-Verfahren (von Formaldehyde by oxidation) bezeichnet. Beim Formox-Verfahren ist die Herstellung von Harnstoff-Formaldehyd-Konzentraten einfach möglich, die wässrige Formaldehyd-Lösung ist jedoch beim Silberverfahren durch einen niedrigeren Gehalt an Ameisensäure von höherer Qualität. Oxidative Dehydrierung von Methanol Das zweite Verfahren betrifft eine oxidative Dehydrierung von Methanol, auch Silber- oder Silberkatalysator-Verfahren genannt. Im ersten Schritt wird Methanol an metallischen Silberkatalysatoren bei Temperaturen von 600–720 °C zu Formaldehyd dehydriert. Der Silberkatalysator wird im Reaktor als Festbett angeordnet, meistens als Kristalle, Netze oder auf Siliciumcarbid imprägniert. Die Dehydrierungsreaktion ist eine endotherme Reaktion und wird durch erhöhte Temperatur begünstigt. In einem sekundären Schritt wird der entstandene Wasserstoff mit Luftsauerstoff in einer exothermen Reaktion zu Wasser verbrannt. 2 H2 + O2 -> 2 H2O Die Oxidation wird über die zudosierte Sauerstoffmenge gesteuert, um eine adiabatische Fahrweise zu erreichen. Die Lebensdauer des Katalysators erreicht 2–4 Monate. Folglich ist hier ein Wechsel des Katalysators deutlich öfter notwendig als beim Formox-Verfahren. Andererseits kann der Silberkatalysator sehr einfach und ohne Materialverlust elektrolytisch regeneriert werden. Aufgrund des schnellen thermischen Zerfalls und der Weiteroxidation des Formaldehyds zur Ameisensäure müssen extrem kurze Verweilzeiten (geringer als 0,01 s) eingehalten werden. Aus diesem Grund sind Netzgewebekatalysatoren bevorzugt, die eine kurze Kontaktzeit an der dünnen Katalysatorschicht sowie eine schnelle Abkühlung in 0,1–0,3 s auf etwa 150 °C ermöglichen. Des Weiteren können durch den geringen Druckverlust beim Einsatz derartiger Katalysatoren sehr hohe Strömungsgeschwindigkeiten erreicht werden, womit eine effiziente Wärmeabfuhr gewährleistet ist. Es existieren Verfahrensvarianten nach BASF, Bayer, Borden, Celanese, Degussa, DuPont, ICI und Mitsubishi, die sich in der Art des Katalysators, der Reaktionstemperatur und der Aufarbeitung des Formaldehyds unterscheiden. Die drei gängigen Typen des dabei verwendeten Silberkatalysatorverfahrens sind das BASF-Verfahren mit Wassereinspritzung und fast vollständiger Umsetzung, die unvollständige Umsetzung mit anschließender Destillation nach dem Verfahren der ICI sowie das vor allem in China eingesetzte Gasrecyclingverfahren. Nach der Verfahrensvariante der BASF werden Methanol und Wasser mit Luft gemischt und über den Verdampfer (1) in den Reaktor (2) geleitet. In diesem ist der Silberkatalysator als Festbett (z. B. Netze, Kristalle) angeordnet und die Temperatur wird bei etwa 680–720 °C gehalten. Nach der Reaktion werden die heißen Reaktionsgase im Gaskühler (3) schnell auf 150 °C abgekühlt. Dies erfolgt indirekt über ein Wärmetauschersystem, das sowohl mit dem Verdampfer als auch mit dem Reaktor verbunden ist. Die Kühlung erfolgt mit Wasser. Durch eine optimale Reaktionsführung ist es möglich, pro Tonne Formaldehyd auch etwa 70 kg Wasserdampf zu erzeugen, der intern in der Anlage oder auch im Werksverbund genutzt werden kann. Die abgekühlten Reaktionsgase werden anschließend in zwei Absorptionskolonnen (4) und (5) geleitet, in denen Formaldehyd im Gegenstrom mit Wasser beziehungsweise mit der zirkulierenden Formaldehyd-Lösung ausgewaschen wird. Dabei wird eine 44%ige wässrige Formaldehyd-Lösung erhalten. Die Abgase aus der zweiten Absorptionskolonne werden entweder direkt verbrannt (Energiegewinnung) oder teilweise in den Verdampfer zurückgeführt. Die Ausbeute bei diesem Prozess beträgt zwischen 86,5 und 90,5 mol-%. Die wässrige Formaldehyd-Lösung weist noch einen Gehalt von 1–2 Gew.-% an Methanol und 0,01 Gew.-% Ameisensäure auf, was jedoch kein Qualitätsproblem darstellt und allgemein als verkaufsfähiges Produkt gehandhabt wird. Oxidation von Steamcrackerprodukten Formaldehyd kann durch Oxidation von Steamcrackerprodukten erhalten werden. Dabei werden der C3-Schnitt, der Moleküle mit drei Kohlenstoff-Atomen wie Propan und Propen enthält, und der C4-Schnitt, der Moleküle mit vier Kohlenstoff-Atomen enthält wie Butan, Butene sowie Butadien, oxidiert. Die Oxidation des C3/C4-Schnitts kann mit oder ohne Katalysator durchgeführt werden. Formaldehyd fällt neben anderen sauerstoffhaltigen Komponenten wie Methanol, Acetaldehyd, Essigsäure oder Aceton an. Zur Vermeidung von Explosionen muss bei diesem Verfahren entweder im großen Luftüberschuss oder im Überschuss der Kohlenwasserstoffe gefahren werden. Als weiteres Verdünnungsmittel eignet sich Dampf. Zur Vermeidung von Folgereaktionen muss das Reaktionsgemisch schnell unter eine Temperatur von etwa 150 °C abgekühlt werden. Dies geschieht durch das Quenchen mit eingespritztem Wasser. Die Reaktionen sind in Summe exotherm – das entsprechend heiße Gasgemisch muss zur Vermeidung von Nebenreaktionen rasch abgekühlt werden. Das entstandene Formaldehydgas wird dann in Gaswäschern mittels Wasser oder einer Harnstoff-Lösung extrahiert, wobei eine wässrige Formaldehydlösung beziehungsweise ein Harnstoff-Formaldehyd-Konzentrat entsteht. Die entstandenen Lösungen enthalten neben nicht umgesetztem Methanol noch geringe Mengen (etwa 100–300 ppm) Ameisensäure (HCOOH). Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Formaldehyd ist ein farbloser, stechend riechender Stoff, der bei Zimmertemperatur gasförmig vorliegt. Als Gas ist sein Geruch noch in Konzentrationen von 0,05–1 ml/m3 wahrnehmbar. Es siedet bei −19 °C. Die Dichte von flüssigem Formaldehyd beträgt 0,815 Gramm pro Kubikcentimeter (g·cm−3) bei −20 °C. Der Schmelzpunkt liegt bei −118 °C. Flüssiges und gasförmiges Formaldehyd polymerisiert leicht bis zu einer Temperatur von 80 °C, bei höheren Temperaturen liegt es monomer vor. Die Geschwindigkeit der Polymerisation ist abhängig von vielen Faktoren wie Druck oder Feuchtigkeit und wird durch Spuren von Säure katalysiert. Formaldehyd ist brennbar und entzündet sich ab einer Temperatur von 430 °C. Es bildet mit Luft in einem weiten Konzentrationsbereich explosionsfähige Gemische. Der Explosionsbereich liegt zwischen 7 Vol.‑% (87 g/m3) als unterer Explosionsgrenze (UEG) und 73 Vol.‑% (910 g/m3) als oberer Explosionsgrenze (OEG). Das Dipolmoment von Formaldehyd beträgt 2,330 Debye (D), die Bildungsenergie −104,7 Kilojoule pro Mol (kJ·mol−1). Die kritische Temperatur beträgt 134,85 °C, der kritische Druck 65,9 bar. Die Kristallstruktur von Formaldehyd wurde bei einer Temperatur von 15 Kelvin durch Neutronendiffraktometrie bestimmt. Formaldehyd kristallisiert im tetragonalen Kristallsystem mit der Raumgruppe mit acht Molekülen pro Einheitszelle. Die Moleküle sind in viergliedrigen Quadraten mit starken CO-Bindungen angeordnet, die die Mitglieder eines Quadrats verbinden. Molekulare Eigenschaften Die Elektronendichte am Sauerstoff des Formaldehyds ist im besetzten π-Orbital, dem HOMO, gegenüber dem Kohlenstoff stark vergrößert. Andererseits sind die Orbitale im unbesetzten π*-Orbital, dem LUMO, am Kohlenstoff größer, Formaldehyd ist daher ein gutes Elektrophil. In Reaktionen von Formaldehyd mit starken Nukleophilen wie Thiolen, Aminen oder Amiden ist oft keine Säurekatalyse erforderlich. Die entstehenden Hydroxymethylderivate reagieren typischerweise weiter. In Gegenwart von Säuren reagiert es in elektrophilen aromatischen Substitutionsreaktionen mit aromatischen Verbindungen, die zu hydroxymethylierten Derivaten führen. Formaldehyd ist ein planares Molekül mit einer Drehachse und zwei senkrecht zueinander stehenden Spiegelebenen und wird nach Arthur Schoenflies als C2v-symmetrisch bezeichnet. Die C=O-Bindungslänge beträgt 120 Picometer, die C-H-Bindungslänge 110 Picometer. Der HCH-Winkel beträgt 116,16 °, der HCO-Winkel dementsprechend 121,92 °. Die Wellenzahl der C-H-Streckschwingung beträgt 2782, die der C=O-Streckschwingung 1746 cm−1. Die Wellenzahl der CH2-Biegeschwingung beträgt 1500 cm−1. Chemische Eigenschaften Formaldehyd reagiert mit sich selbst und anderen Reaktanden in einer Reihe von Synthesen zu einer Vielzahl von Produkten. Unter diesen Reaktionen sind Oxidations-Reduktion-Reaktionen, Additions- oder Kondensationsreaktionen mit organischen und anorganischen Stoffen und Selbstpolymerisationsreaktionen. Oxidations-Reduktions-Reaktionen In Gegenwart von Basen disproportioniert Formaldehyd in der Cannizzaro-Reaktion zu Formiat und Methanol. Mit Aldehyden ohne Wasserstoff in der α-Position zur Carbonylgruppe reagiert Formaldehyd in einer gekreuzten Cannizzaro-Reaktion zum Alkohol und Formiat. Mit dem löslichen Diamminsilber(I)-komplex ([Ag(NH3)2]+) in alkalischer Lösung reagiert Formaldehyd in der Tollensprobe zu Ameisensäure, Silber und Ammoniak. Die Reaktion ist eine generelle Nachweisreaktion auf Aldehyde. CH2O + 2 [Ag(NH3)2]+ + 2 OH- -> HCOOH + 2 Ag + 4 NH3 + H2O Additions- und Kondensationsreaktionen Als einfachster Aldehyd nimmt Formaldehyd in seinem chemischen Verhalten eine Sonderstellung ein, da die Aldehydgruppe nur an Wasserstoff gebunden ist. Einige der typischen Aldehydreaktionen verlaufen normal, wie etwa die Cyanhydrinsynthese zu Glycolnitril. Mit Ammoniak dagegen entsteht kein Imin, sondern Hexamethylentetramin. Formaldehyd ist sehr gut in Ethanol, Diethylether und Wasser löslich. In wässriger Lösung bildet sich ein Aldehydhydrat (Methandiol), wobei das Gleichgewicht dieser Reaktion – anders als z. B. bei Ethanal – zu fast 100 % auf der Seite des Hydrats liegt. Das Hydrat reagiert schwach sauer (pKs 13,3). Formaldehyd geht eine Reihe weiterer Kondensationsreaktionen mit einem breiten Spektrum von Reaktanden ein, wie etwa in der Sulfomethylierung oder der Mannich-Reaktion. Die Mannich-Reaktion ist eine Aminoalkylierung einer CH-aciden Verbindung mit Formaldehyd und einem primären oder sekundären Amin oder Ammoniak. Das Produkt ist eine β-Amino-Carbonyl-Verbindung, die als Mannich-Base bekannt ist. Nitromethan reagiert in einer Henry-Reaktion im Formaldehydüberschuss zum 2-Nitro-1,3-dihydroxy-2-hydroxymethyl-propan. Basische Verbindungen wie Amine katalysieren die Reaktion. CH3NO2 + 3 CH2O -> O2N-C(CH2OH)3 Mit Benzol und Chlorwasserstoff reagiert Formaldehyd in der durch Zinkchlorid oder andere Lewis-Säuren katalysierten Blanc-Reaktion unter Bildung von Chlormethylarenen. C6H6 + CH2O + HCl -> C6H5CH2Cl + H2O Mit Cobaltcarbonylhydrid reagiert Formaldehyd in einer der Hydroformylierung ähnlichen Reaktion. CH2O + HCo(CO)4 -> HO-CH2-Co(CO)4 Durch Insertion von Kohlenstoffmonoxid in die Cobalt-Kohlenstoffbindung bildet sich ein Acylkomplex, der mit einem weiteren Äquivalent Cobaltcarbonylhydrid zum Glykolaldehyd und Dicobaltoctacarbonyl reagiert. HO-CH2-Co(CO)4 + CO -> HO-CH2COCo(CO)4 HO-CH2COCo(CO)4 + HCo(CO)4 -> HO-CH2CHO + Co2(CO)8 In den 1960er Jahren wurde durch die Reaktion von Formaldehyd, Kohlenstoffmonoxid, Wasser und Schwefelsäure Glykolsäure hergestellt. Veresterung mit Methanol und anschließende Hydrierung lieferte Ethylenglykol. Die Jahresproduktion nach diesem Verfahren betrug Mitte der 1960er Jahre noch etwa 60.000 Jahrestonnen, es wurde jedoch aus Kostengründen 1968 eingestellt. In gekreuzten Aldolreaktionen reagiert Formaldehyd als Enolat-Anion-Akzeptor. Mit Aceton reagiert Formaldehyd etwa zu 4-Hydroxy-2-butanon. Mit Grignard-Verbindungen reagiert Formaldehyd nach Hydrolyse zu Alkoholen. CH2O + RMgX -> R-CH2-OMgX R-CH2-OMgX + H2O -> R-CH2-OH + HOMgX Formaldehyd reagiert mit einem oder zwei Äquivalenten Alkohol unter Bildung von Halb- oder Vollacetalen. Selbstpolymerisationsreaktionen In der Formosereaktion bilden sich Zucker durch die Selbstkondensation von Formaldehyd. Basen zweiwertiger Metalle wie Calciumhydroxid oder Bariumhydroxid katalysieren diese Reaktion. Ronald Breslow schlug 1959 einen katalytischen Zyklus vor. Die Reaktionsfolge beinhaltet Aldolreaktionen, Retro-Aldolreaktionen und Lobry-de-Bruyn-Alberda-van-Ekenstein-Umlagerungen unter Bildung von Zwischenprodukten wie Glykolaldehyd, Glycerinaldehyd, Dihydroxyaceton und Tetrosen. Der Begriff Formose ist ein Kofferwort aus Formaldehyd und Aldose. Formaldehyd polymerisiert in Gegenwart von Säurespuren leicht zu Polyoxymethylenen oder er trimerisiert zum Trioxan. Die Reaktion ist reversibel, bei höheren Temperaturen zerfallen die Polymere und Oligomere wieder in Formaldehyd. Verwendung Formaldehyd ist einer der wichtigsten organischen Grundstoffe in der chemischen Industrie und dient als Ausgangsstoff für viele andere chemische Verbindungen. Der bei weitem größte Markt liegt im Bereich der Harnstoff-Formaldehyd-Harze, der Phenoplaste, der Polyoxymethylene sowie einer Reihe von weiteren chemischen Zwischenprodukten wie Pentaerythrit. Formaldehyd findet unter anderem Anwendung bei der Herstellung von Farbstoffen, Arzneistoffen und bei der Textilveredelung. Da Formaldehyd wie alle Aldehyde ein starkes Reduktionsmittel ist, wird er zur Keimabtötung verwendet. Im Labor wird Formaldehyd unter anderem im Rahmen der Mannich-Reaktion und der Blanc-Reaktion eingesetzt. Polymerherstellung Aminoplaste Mit Harnstoff reagiert Formaldehyd zu Harnstoff-Formaldehyd-Harzen (UF-Harzen; von Urea-Formaldehyden), mit Melamin zu den Melamin-Formaldehyd-Harzen (MF-Harzen), die beide zu den Aminoplasten gehören. Im ersten Schritt entstehen Monomethylolharnstoff und Dimethylolharnstoff: Durch weitere Kondensation entstehen kettenförmige Polymere, die gegebenenfalls vernetzt werden können. Harze auf Basis von Harnstoff-Formaldehyd sind die bedeutendsten Arten von Klebharzen für die Herstellung von Holzwerkstoffen wie Spanplatten, Faserplatten und Hartholzsperrholz. Die fehlende Wasserbeständigkeit des gehärteten Harzes aufgrund der Reversibilität der Aminomethylenbindung kann durch Zugabe von Stoffen wie Melamin behoben werden. Das bei weitem größte Anwendungsgebiet von Formaldehyd ist die Herstellung von Harnstoff-Formaldehyd-Harzen, die als Bindemittel für nicht-strukturelle Holzwerkstoffe, etwa Spanplatten und mitteldichte Faserplatten (MDF), dienen. Melamin-Formaldehyd-Harze werden als imprägnierende Harze bei erhöhten Anforderungen an die Feuchtebeständigkeit, etwa zum Aufbringen von Dekopapieren auf Laminatböden oder als ein Bestandteil in Bambusgeschirr verwendet. In Form von Klarlacken werden MF-Harze in der Automobilindustrie eingesetzt. N-Methylolverbindungen aus Formaldehyd und Harnstoff, wie Methylolharnstoff, die durch weitere Kondensation Aminoplaste in der Faser bilden, werden bei Zellulosefasern wie Baumwollfasern oder Viskosefasern als Textilhilfsmittel eingesetzt. Diese dienen der Verbesserung des Knitter- und Krumpfverhaltens und erhöhen damit die Formbeständigkeit von Textilien. Die Polykondensation der N-Methylolverbindungen erfolgt meist im sauren Milieu bei erhöhter Temperatur. Bei der Kondensation entsteht im gewissen Umfang Formaldehyd. Die eingelagerte Menge an Aminoplasten beträgt etwa 8 % bezogen auf das Textiliengewicht. Unter gesundheitlichen Aspekten ist bei der Textilveredelung auf eine geringe Menge an freiem und freisetzbarem Formaldehyd zu achten. Textilien, die beim bestimmungsgemäßen Gebrauch mit der Haut in Berührung kommen und mehr als 0,15 Prozent freies Formaldehyd enthalten, müssen entsprechend gekennzeichnet werden. Phenoplaste Phenolformaldehydharze (PF) oder Phenoplaste sind synthetische Polymere, die durch die Kondensationsreaktion von Phenol oder substituiertem Phenol mit Formaldehyd hergestellt werden. Je nachdem, ob die Kondensation sauer oder basisch abläuft, entstehen Novolake oder Resole. Novolake sind niedermolekulare Polymere, die durch die säurekatalysierte Kondensation von Formaldehyd mit einem Gemisch von Kresolen hergestellt werden. Novolake werden in der Mikroelektronik als Fotolackmaterialien verwendet. Resole sind Produkte der basenkatalysierten Phenol-Formaldehyd-Kondensation. Sie werden mit einem Überschuss von Formaldehyd zu Phenol hergestellt. Die reaktive Spezies sind Phenolate, die durch Deprotonierung von Phenol gebildet werden. Als Duroplaste vernetzen die gebildeten Hydroxymethylphenole beim Erhitzen auf etwa 120 °C unter Bildung von Methylen- und Methylätherbrücken unter Eliminierung von Wasser. Eine hohe Vernetzung über die Stufen des Resitol und Resit verleiht den Resolen eine Härte, thermische Stabilität und chemische Beständigkeit. Phenolformaldehydharzen wird Hexamethylentetramin als Härtungskomponente zugesetzt. Es wird industriell durch die Reaktion von sechs Äquivalenten Formaldehyd mit vier Äquivalenten Ammoniak hergestellt. Durch Co-Kondensation von Phenol, Phenolsulfonsäure und Formaldehyd entstehen Kationenaustauscher. Diese Netzpolymere besitzen fest gebundene, anionische Sulfatgruppen sowie frei bewegliche Kationen. Polyoxymethylen Polyoxymethylen ist ein Thermoplast, der in Präzisionsteilen verwendet wird, die eine geringe Reibung und hohe Dimensionsstabilität erfordern. Polyoxymethylen zeichnet sich durch hohe Festigkeit, Härte und Steifigkeit aus. Aufgrund seiner hohen Kristallinität ist es ungefärbt opak weiß. Die Automobil- und Elektronikindustrie verwendet spritzgegossenes POM für technische Komponenten wie Zahnräder, Kugellager oder Befestigungselemente. Pentaerythritherstellung Pentaerythrit wird über eine basenkatalysierte Polyadditionsreaktion zwischen Acetaldehyd und drei Äquivalenten Formaldehyd hergestellt. Das Intermediat reagiert in einer gekreuzten Cannizzaro-Reaktion mit einem vierten Äquivalent Formaldehyd zum Pentaerythrit. Es wird überwiegend zur Herstellung von polyfunktionalisierten Verbindungen verwendet und findet sich in Kunststoffen, Farben, Kosmetika und vielen anderen Anwendungen. Weiterhin dient er zur Herstellung von Sprengstoffen wie Nitropenta und Pentaerythrittrinitrat. Methylendiphenylisocyanate Der erste Schritt bei der Herstellung von Methylendiphenylisocyanaten (MDI) ist die Reaktion von Anilin und Formaldehyd unter Verwendung von Salzsäure als Katalysator. Dabei wird eine Mischung von Diaminvorläufern und den entsprechenden Polyaminen hergestellt. Die weltweite Produktion von Methylendiphenylisocyanaten betrug 2018 circa 9,8 Millionen Tonnen, wofür etwa 1,2 Millionen Tonnen Formaldehyd benötigt wurden. Die Herstellung von Methylendiphenylisocyanaten ist ein schnell wachsender Markt für Formaldehyd. Hauptanwendungen sind Polyurethanschäume, Anstrichmittel, Klebstoffe, Elastomere und Dichtungsmittel, die im Bauwesen, für Haushaltsgeräte, Schuhe und andere Konsumgüter sowie in der Automobilindustrie eingesetzt werden. 1,4-Butandiol Die industrielle Synthese von 1,4-Butandiol erfolgt über die Reaktion von Acetylen mit zwei Äquivalenten Formaldehyd. Das im ersten Schritt entstehende 2-Butin-1,4-diol ergibt durch Hydrierung 1,4-Butandiol. 1,4-Butandiol wird als Lösungsmittel und bei der Herstellung von Kunststoffen, elastischen Fasern und Polyurethanen verwendet. Bei höherer Temperatur in Gegenwart von Phosphorsäure cyclisiert es unter Wasserabspaltung zu Tetrahydrofuran, einem wichtigen Folgeprodukt. Formaldehydabspalter Der Einsatz von Formaldehyd als biozider Wirkstoff vor allem in kosmetischen Produkten erfolgt meist in Form eines Formaldehydabspalters. Dies sind Kondensationsprodukte von Formaldehyd wie Diazolidinylharnstoff oder Diole wie Bronopol, die das Formaldehyd langsam freisetzen. Auf diesem Weg ist die Konzentration von freiem Formaldehyd sehr genau einstellbar und über die gesamte Lebensdauer des Produktes nahezu konstant. Da das Wirkstoffdepot auch ohne Mikrobenbefall aufgebraucht wird, haben die so konservierten Produkte in jedem Fall nur eine begrenzte Haltbarkeit. Direkt zugesetztes Formaldehyd würde sich durch Diffusion und Zerfallsprozesse immer weiter abreichern, so dass relativ hohe Dosierungen eingesetzt werden müssten, um eine vergleichbare Haltbarkeit zu erreichen. Seit 2019 ist die direkte Verwendung von Formaldehyd in kosmetischen Mitteln nicht mehr zulässig. Somit bleibt nur der Einsatz von Formaldehydabspaltern, sofern es auf diesen Wirkstoff ankommt. Der Anhang V der EU-Kosmetikverordnung enthält Vorschriften für den Einsatz von Bioziden in kosmetischen Mitteln in der Europäischen Union. Wird eine Konzentration an freiem Formaldehyd, auch wenn dies durch Formaldehydabspalter freigesetzt wurde, im kosmetischen Produkt von 0,05 % überschritten, muss dies in Form der Angabe „Enthält Formaldehyd“ deklariert werden. Totimpfstoffe Anfang der 1920er Jahre wurde durch die Arbeiten von Alexander Glenny und Barbara Hopkins zufällig entdeckt, dass Formaldehyd verschiedene bakterielle Toxine aber auch Viren unschädlich machen kann. Daher wird es in der Impfstoffherstellung zur Inaktivierung von Impfviren (z. B. Poliovirus) oder Bakterientoxinen (z. B. Diphtherietoxin, Tetanustoxin oder Pertussis-Toxin) verwendet. Übermäßiges Anwenden von Formaldehyd während der Inaktivierung kann zu einer Konformationsänderung der betroffenen Antigene führen, was sich auf deren Immunogenität nachteilig auswirkt. Nach Aufreinigung darf die fertige Impfstoffzubereitung maximal 200 mg (Humanimpfstoffe) beziehungsweise 500 mg (Tierimpfstoffe) Formaldehyd pro Liter enthalten. Bei Humanimpfstoffen entspricht das damit einer maximalen Konzentration von max. 0,2 mg/ml beziehungsweise 0,02 %. Nach der Inaktivierung mittels Formaldehyd wird es größtenteils wieder entfernt, so dass in der Regel 1–200 µg pro Impfstoff injiziert werden. Die Menge einer einzelnen Impfung beim Menschen ist etwa mindestens 600-mal geringer als die Menge, die bei Tierversuchen eine Toxizität verursachen kann. Da die Menge an Formaldehyd häufig ohnehin unter der maximal erlaubten liegt und für einen Epikutantest auf Formaldehyd zur Allergietestung in der Regel eine Konzentration von 1 % genutzt wird, kann infolgedessen die Menge an Formaldehyd eines beliebigen Impfstoffes keine Hautreaktionen auslösen – selbst wenn sie direkt in oder auf die Haut appliziert würde. Im Blut zirkuliert etwa 10-mal so viel Formaldehyd wie in einer Impfung enthalten ist. Die enthaltene Menge an Formaldehyd ist so gering, dass der physiologische Formaldehydgehalt des Muskels durch eine Impfung sogar verdünnt wird. Daher besteht keine Gefahr durch Formaldehyd nach einer Impfung. Haltbarmachung von anatomischen und biologischen Präparaten 4- bis 8-prozentige Formaldehydlösung wird als gängiges Fixierungsmittel in der Histotechnik eingesetzt. Formaldehyd ist ein proteinvernetzendes additives Fixans, stoppt die Autolyse und Fäulnis von Gewebeproben und macht diese dauerhaft haltbar. Als Faustregel gilt eine Eindringgeschwindigkeit von 1 mm/h. Die Geschwindigkeit der Vernetzung ist erheblich langsamer als das primäre Anlagern von Formaldehyd, mindestens 2–3 Tage werden für eine ausreichende Fixierung benötigt. Es werden dabei Methylenbrücken und Brücken über Schiff’sche Basen ausgebildet. Die Anbindung kann durch Auswaschen in Wasser oder durch Einwirkung von heißen Pufferlösungen unterschiedlicher pH-Werte wieder rückgängig gemacht werden (Antigen-Retrieval). Methylenbrücken sollen stabil sein. Die Vernetzung und Modifikation von Biomolekülen mit Formaldehyd kann durch Erhitzen und/oder durch Zugabe von Basen wieder rückgängig gemacht werden. Weiterhin wird eine solche Formaldehyd-Lösung zur Leichenkonservierung benutzt sowie zur Konservierung von anatomischen und biologischen Präparaten wie Insekten, erstmals 1893 vorgeschlagen von Isaak Blum. Da derart eingelegtes Material jahrelang haltbar ist, kann es problemlos als Anschauungs- oder Vergleichsmaterial in der Medizin und Biologie für Forschungs- und Lehrzwecke herangezogen werden. Zu künstlerischen Zwecken konservierte der britische Künstler Damien Hirst einen Hai als Kunstwerk in Formaldehyd. Trotz der Gesundheitsgefahren ist Formaldehyd insbesondere aufgrund seiner generellen antiseptischen Eigenschaften weiterhin weitgehend unverzichtbar in der Haltbarmachung und Konservierung von Geweben, jedoch ist die technische Umstellung der Arbeitsbereiche zur Einhaltung des Arbeitsplatzgrenzwertes wie beispielsweise durch Absaugung direkt am Arbeitsbereich und die Verringerung der Konzentration von Formaldehyd in Konservierungslösungen ein zentrales Thema in der modernen Anatomie und Pathologie. Desinfektion und Sterilisation Formaldehyd wird in vielfältiger Weise zu Desinfektion und Sterilisation verwendet. Zur Raumdesinfektion wird Formaldehyd gasförmig oder in wässriger Lösung auf alle Flächen in einem Raum aufgebracht. Neben dem Verdampfen kann Formaldehyd vernebelt werden oder es können Stoffe verwendet werden, die Formaldehyd freisetzen. Weiterhin kann die Desinfektion durch das Wischen mit Formaldehyd-haltigen Mitteln erfolgen. Dabei wird Formaldehyd von Oberflächen adsorbiert und muss nach der Behandlung gründlich durch Spülvorgänge entfernt werden. Für medizinisch verwendete Kleinteile kann die Begasung mit Formaldehyd in Formaldehydsterilisatoren erfolgen. In der Intensivtierhaltung wird Formaldehyd als Begasungsmittel zur Prävention von Infektionserkrankungen durch Viren oder Bakterien eingesetzt. So erfolgt beispielsweise in der Hühneraufzucht und -mast eine Begasung in der Regel vor jedem Neubesatz der Ställe. In der Technischen Regel für Gefahrstoffe (TRGS) 512 "Begasungen" und einer Veröffentlichung der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz wird Formaldehyd als Begasungsmittel für Frachtcontainer aufgeführt. Darüber hinaus kann Formaldehyd in Containern vorkommen, wenn es als Industriechemikalie aus transportierten Produkten ausgast. Bei höheren Konzentrationen von Formaldehyd sind dabei für Beschäftigte beim Umgang mit Containern in Häfen Lungenödeme, Entzündungen der Bronchien und Lungenentzündungen möglich. Umweltaspekte Formaldehyd reichert sich nicht in der Umwelt an, da es durch Sonnenlicht oder durch im Boden oder Wasser vorhandene Bakterien abgebaut wird. Die meisten Organismen metabolisieren Formaldehyd schnell und wandeln es in Ameisensäure um, sodass es nicht zu einer Bioakkumulation kommt. Emissionsquellen Innenräume Bestimmte formaldehydhaltige Materialien, unter anderem Holzwerkstoffe, Bodenbeläge, Möbel und Textilien, können durch Ausgasung eine Kontamination der Atemluft in geschlossenen Räumen bewirken. In den achtziger Jahren sind in diesem Zusammenhang insbesondere Spanplatten und Sperrholz, zu deren Herstellung Aminoplaste als Bindemittel eingesetzt wurden, unter Verdacht gekommen. Es sind jedoch zum einen heute viele formaldehydfrei verklebte Holzwerkstoffe und Möbel im Handel erhältlich. Zum anderen wurden die Emissionen in den auf Formaldehyd basierenden Holzwerkstoffen deutlich reduziert. Die Schadstoffsanierung formaldehydbelasteter Gebäude ist vor allem bei älteren Holzfertighäusern nach wie vor ein großes Thema. Holz selbst emittiert Formaldehyd durch den thermischen Abbau von Polysacchariden. Die Emissionswerte hängen von der Holzart, dem Feuchtigkeitsgehalt, der Temperatur und der Lagerzeit des Holzes ab. Frisches Eichenholz emittiert etwa 430 μg, trockenes Eichenholz etwa 50 μg Formaldehyd pro Quadratmeter und Stunde. Beim Rauchen entsteht durch unvollständige Verbrennung Formaldehyd, das nicht unerheblich zur Belastung der Raumluft beiträgt. Im Gesamtrauch einer einzigen Zigarette finden sich etwa 0,02–0,1 mg Formaldehyd. Umwelt Eine wichtige Quelle für die Emission von Formaldehyd sind unvollständig ablaufende Verbrennungsprozesse. Diese finden sich beispielsweise in Verbrennungsmotoren von Kraftfahrzeugen, in Gießereien und bei der Herstellung von Kunststoffartikeln. Bei der Verbrennung von Bio-, Klär- und Deponiegasen in Gasmotoren werden im Abgas häufig hohe Formaldehydkonzentrationen gemessen. Damit die Emissionswerte die gesetzlich festgelegten Grenzwerte nicht überschreiten, ist meist eine Nachbehandlung des Abgases erforderlich. Problematisch ist die Verbrennung von Holz in Kleinfeuerungsanlagen, da hier durch unregelmäßige Beschickung oder feuchtes Holz die Verbrennung häufig unvollständig abläuft. Dabei entstehen in diesen im Hausbetrieb eingesetzten Anlagen Formaldehydkonzentrationen von 50–100 mg·m−3, was sich für die alten Bundesländer auf eine Gesamtemission von etwa 1000 Tonnen pro Jahr addiert (Schätzung für 1980). Die wesentlich ergiebiger und sauberer arbeitenden industriellen Großfeuerungsanlagen für die Brennstoffe Gas, Öl und Kohle hatten im Jahr 1980 eine Gesamtemission von nur 50 Tonnen pro Jahr. Um der Luftverschmutzung durch Kaminöfen und andere Kleinfeuerungsanlagen entgegenzuwirken, hat die Bundesregierung in der Verordnung über kleine und mittlere Feuerungsanlagen vom 26. Januar 2010 festgeschrieben, dass für eine Verbrennung nur naturbelassene Hölzer zugelassen sind, die genügend lange abgelagert wurden. Emissionsmessung Zur Emissionsmessung können verschiedene Verfahren zum Einsatz kommen. Beim MBTH-Verfahren werden kurzkettige aliphatische Aldehyde, darunter Formaldehyd, in Summe bestimmt. Für die Bestimmung wird ein Teilstrom des beladenen Abgases in Reaktion mit 3-Methyl-2-benzothiazolinonhydrazon (MBTH) gebracht. Dabei entsteht ein blau gefärbtes Tetraazapentamethincyanin-Kation, das photometrisch vermessen werden kann. Zur Anwendung des DNPH-Verfahrens wird ein Abgas, das Aldehyde und Ketone enthält, mit 2,4-Dinitrophenylhydrazin (DNPH) zur Reaktion gebracht. Dies kann entweder in einer Absorptionslösung oder auf einem Adsorbens erfolgen. Die entstehenden 2,4-Dinitrophenylhydrazone können im Anschluss mit Hochleistungsflüssigkeitschromatographie und UV-Detektion einzeln bestimmt werden. Sofern Methenamin (Urotropin) im zu beprobenden Abgas enthalten ist, führen sowohl das DNPH-Verfahren als auch das MBTH-Verfahren aufgrund von Querempfindlichkeiten zu erhöhten Ergebnissen. In diesem Fall empfiehlt sich das AHMT-Verfahren. Werden neben Formaldehyd Acrolein und Acetaldehyd im Abgas vermutet, so kann das 2-HMP-Verfahren zum Einsatz kommen, bei dem die im Abgas enthaltenen Aldehyde mit 2-(Hydroxymethyl)piperidin (2-HMP) reagieren und die Reaktionsprodukte anschließend gaschromatographisch analysiert werden. Bei Abgasen mit hohem Wassergehalt kann das Acetylaceton-Verfahren zum Einsatz kommen. Im Abgas von Verbrennungsmotoren wird der Formaldehydgehalt mittels automatisiertem FTIR-Verfahren ermittelt. Das zu beprobende Abgas durchströmt eine Messzelle, die von Infrarotstrahlung durchleuchtet wird. Die Abschwächung bestimmter Wellenlängen gibt Auskunft über die Zusammensetzung des Abgases. Toxikologie Formaldehyd wurde 2012 von der EU gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (REACH) im Rahmen der Stoffbewertung in den fortlaufenden Aktionsplan der Gemeinschaft (CoRAP) aufgenommen. Hierbei werden die Auswirkungen des Stoffs auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt neu bewertet und ggf. Folgemaßnahmen eingeleitet. Ursächlich für die Aufnahme von Formaldehyd waren die Besorgnisse bezüglich der Einstufung als CMR-Stoff, der Exposition von Arbeitnehmern, hoher (aggregierter) Tonnage und weit verbreiteter Verwendung. Die Neubewertung fand ab 2013 statt und wurde von Frankreich durchgeführt. Anschließend wurde ein Abschlussbericht veröffentlicht. Akute Toxizität Formaldehyd kann bei unsachgemäßer Anwendung Allergien, Haut-, Atemwegs- oder Augenreizungen verursachen. Akute Lebensgefahr (toxisches Lungenödem, Pneumonie) besteht ab einer Konzentration von 30 ml/m³. Bei chronischer Exposition ist er karzinogen und beeinträchtigt zudem das Gedächtnis, die Konzentrationsfähigkeit und den Schlaf. Die meisten Vergiftungen treten nicht durch direkten Kontakt mit Formaldehyd auf, sondern durch das Trinken von Methanol in minderwertigen Alkoholgetränken. Dabei wandelt sich das Methanol im Körper zunächst durch Alkoholdehydrogenase in Formaldehyd und danach schnell durch Aldehyddehydrogenasen in Ameisensäure um. Diese wird nur langsam metabolisiert und kann zur Azidose führen. Formaldehyd selbst denaturiert besonders leicht Netzhautproteine, was zur Erblindung führen kann. Durch die Zugabe von Formaldehyd wurden verschiedene Lebensmittelskandale verursacht. Zu den verunreinigten Lebensmitteln gehörten Nudeln, gesalzener Fisch, Tofu, Hühnchen, Obst und Gemüse wie Kohl. Die therapeutischen Maßnahmen bei einer Formaldehydintoxikation sind vielfältig. Bei oraler Aufnahme ist die Gabe von Aktivkohle zweckmäßig (nicht jedoch Milch, welche die Resorptionsgeschwindigkeit erhöht). Die Behandlung der Azidose erfolgt durch eine Natriumhydrogencarbonat-Infusion. Eine weiterführende Therapie kann durch Gabe von Hustensedativa, inhalativen β-Sympathomimetika oder inhalativen Glucocorticoiden durchgeführt werden. Durch Ammoniakdämpfe wird die Wirkung von Formalindämpfen unter Bildung von Hexamethylentetraamin aufgehoben. Karzinogenes Risiko Rechtsverbindlich ist Formaldehyd seit dem 1. April 2015 im Anhang VI der Verordnung 2008/1272/EG über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen in der Kategorie 1B eingestuft: „wahrscheinlich karzinogen beim Menschen“. Formaldehyd hat im Tierversuch mit Ratten nachweislich karzinogene Wirkung gezeigt, allerdings erst bei hohen Konzentrationen ab 6 ml/m3. Im Jahr 2004 änderte die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) der Weltgesundheitsorganisation WHO die seit 1995 bestehende Einstufung von Formaldehyd von „Verdacht auf krebserregende Wirkung“ auf „krebserregend für den Menschen“. Karzinogen, mutagen oder reproduktionstoxisch eingestufte Stoffe (CMR-Stoffe) gelten als besonders gefährlich und müssen durch weniger gefährliche Stoffe ersetzt werden. Hintergrund der WHO-Einstufung ist eine epidemiologische Studie, die bei Arbeitern, die mehrere Jahre in der Industrie Formaldehyd ausgesetzt waren, eine erhöhte Sterblichkeit durch Tumoren des Nasen-Rachenraumes aufgezeigt hat. Durch die WHO-Studie sah sich das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) veranlasst, die krebsauslösenden Risiken von Formaldehyd neu zu bewerten. Seit 2006 sieht das BfR aufgrund der Ergebnisse der eigenen Studie die krebserzeugende Wirkung von Formaldehyd bei Aufnahme über die Atemluft als hinreichend belegt an. Der Effekt ist konzentrationsabhängig: Eine rechtsverbindliche Einstufung in die Kategorie Carc 1B trat zum 1. April 2015 in Kraft. In den USA wurde Formaldehyd 1981 im zweiten Bericht über Krebserreger zunächst mit dem Verdacht der krebserzeugenden Wirkung beim Menschen klassifiziert. Seit Juni 2011 stuft das US-Gesundheitsministerium Formaldehyd als krebserzeugend für den Menschen ein, da die vorliegenden Studien dies hinreichend belegen. Allergen Für die meisten Menschen ist eine Reizung durch Formaldehyd vorübergehend und reversibel, er kann jedoch Allergien auslösen. Formaldehyd ist ein Kontaktallergen. Bei sensibilisierten Menschen kann Formaldehyd bereits in einer Konzentration von 0,05 % allergische Symptome hervorrufen. Bei einer Epikutantestreihe der North American Contact Dermatitis Group (NACDG) mit etwa 4.500 Patienten erwies sich Formaldehyd als das siebthäufigste Allergen, wobei 9,0 % der Getesteten eine allergische Reaktion zeigten. Die allergische Reaktion zeigt sich oft in Hautläsionen wie Hautbläschen in den Bereichen, die direkten Kontakt mit der Chemikalie aus Textilien oder Kosmetika hatten. Grenzwerte Gemäß der CLP-Verordnung müssen formaldehydhaltige Desinfektionsmittel mit Gefahrensymbolen und Warnhinweisen wie „Kann allergische Hautreaktionen verursachen“, „Verursacht schwere Verätzungen der Haut und schwere Augenschäden“ oder „Kann Krebs erzeugen“ gekennzeichnet werden. Aufgrund der Einstufung von Formaldehyd gemäß der CLP-Verordnung erließen die Gesetzgeber auf nationaler und europäischer Ebene verschiedene Verordnungen zu Obergrenzen der Formaldehydkonzentration und zur Kennzeichnung von Produkten mit Formaldehyd. So regelt die Bedarfsgegenständeverordnung die Kennzeichnung von Wasch- und Reinigungsmitteln mit einer Konzentration von mehr als 0,1 % bis 0,2 % freiem Formaldehyd. Die Chemikalien-Verbotsverordnung untersagt das Inverkehrbringen von Wasch- und Reinigungsmitteln mit einer höheren Konzentration als 0,2 % Formaldehyd. Laut der REACH-Verordnung gilt in Kleidung, Schuhwaren und Textilien, die nicht mit der menschlichen Haut in Kontakt kommen, ein Grenzwert von 300 mg Formaldehyd pro Kilogramm, ab 1. November 2023 wird der Grenzwert auf 75 mg/kg gesenkt. Die Europäische Norm „Sicherheit von Spielzeug“ Teil 9 (DIN EN 71-9) regelt den Gehalt von Formaldehyd in Spielzeugen. Im Bereich von Textilien (Bekleidung) gilt bei freiwilligen Schadstoffprüfungen im Rahmen eines Prüfsiegels (etwa Toxproof oder Öko-Tex 100) eine Bestimmungsgrenze von 16 mg/kg (16 ppm). Dies ist zugleich der Grenzwert für Baby-Bekleidung. Für hautnah getragene Kleidung gelten 75 mg/kg, für andere Textilien 300 mg/kg. Der zulässige „Grenzwert“ in Deutschland liegt bei 1500 mg/kg (1500 ppm). Dies ist kein echter Grenzwert, da nur ein Hinweis angebracht werden muss, dass empfohlen wird, das Kleidungsstück zur besseren Hautverträglichkeit vor dem ersten Tragen zu waschen. Der Ausschuss für Innenraumrichtwerte legte 2016 einen Richtwert für die Innenraumluft von 0,1 mg/m³ fest. Im Bauwesen ist für Gebäude bei einer Zertifizierung nach der Deutschen Gesellschaft nachhaltiges Bauen (DGNB) ein Formaldehyd-Grenzwert von 120 μg/m³ definiert, bei dessen Überschreitung keine Zertifizierung möglich ist. Ferner ist ein Zielwert von 60 μg/m³ definiert. Die Arbeitsgemeinschaft ökologischer Forschungsinstitute e. V. (AGÖF) hat darüber hinaus einen Orientierungswert für Planungen von 30 μg/m³ herausgegeben. Im März 2015 wurden Ergänzungen der rechtsverbindlichen Arbeitsplatzgrenzwerte der TRGS 900 bekannt gegeben. Dabei wurde der Wert für die Maximale Arbeitsplatz-Konzentration von 0,3 ml/m3 entsprechend 0,37 mg/m3 festgelegt, der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) empfohlen wurde. Nachweis Ein Nachweis von freiem oder abspaltbarem Formaldehyd ist mit Chromotropsäure durch die Chromotropsäure-Reaktion möglich. Ein Nachweis ist mit Methylbenzothiazolonhydrazon oder fuchsinschwefliger Säure (Schiffsches Reagenz) möglich. Gasförmiges Formaldehyd ist zudem über seine Absorption im nahen UV und im infraroten Spektralbereich spektroskopisch nachweisbar. Dies erlaubt die Messungen von Formaldehydkonzentrationen in der Erdatmosphäre über Fernerkundungsmethoden von Satelliten und vom Boden. Das Europäische Arzneibuch lässt bei der Grenzprüfung auf Formaldehyd Acetylaceton zugeben. Beim Acetylaceton-Verfahren reagiert der Formaldehyd mit Acetylaceton in Gegenwart von Ammoniumacetat in einer Hantzschschen Dihydropyridinsynthese unter Bildung eines 3,5-Diacetyl-1,4-dihydropyridin-Derivats, dessen Konzentration photometrisch bestimmt werden kann. Für Holzwerkstoffe existieren unterschiedliche Methoden und Normen zur quantitativen Bestimmung von Kenngrößen, die letztlich auf das Emissionspotenzial oder das „reale“ Emissionsverhalten rückschließen lassen: „Perforator-Methode“: Angabe in mg Formaldehyd pro 100 g Probe, siehe Perforator (Chemie) Desiccator-Methode: „Kleine“ Probenstücke geben Formaldehyd an Wasser ab, Angabe in mg/l „Kammer-Methoden“: Große Plattenproben werden über einen längeren Zeitraum auf ihre Formaldehyd-Emission in einer Prüfkammer untersucht, Angabe beim Pararosanilinverfahren: ppm mit 0,01 ppm = 0,0124 mg Formaldehyd pro m³ Raumluft = 12,4 µg Formaldehyd pro m³ Raumluft, Bestimmungsgrenze 0,01 ppm Die Bestimmung erfolgt nach DIN EN ISO 14184-1:2011-12 (Ersatz für DIN 54260:1988-029), § 64 LFGB (ehem. § 35 LMBG) B 82.02-1 (freies und freisetzbares Formaldehyd) und DIN EN 717-1 (Holzwerkstoffe, Formaldehydabgabe nach der Prüfkammer-Methode) oder nach DIN EN 120 (Holzwerkstoffe – Bestimmung des Formaldehydgehaltes nach der Perforatormethode). Literatur Luoping Zhang: Formaldehyde. Exposure, Toxicity and Health Effects. Royal Society of Chemistry, London 2018, ISBN 978-1-78262-973-3. Wilhelm Keim: Kunststoffe. Synthese, Herstellungsverfahren, Apparaturen. Wiley-VCH, Weinheim 2006, ISBN 3-527-31582-9. Weblinks Wikisource: Formalin – Wikisource enthält den Text des Artikels Formalin der Encyclopædia Britannica aus dem Jahr 1911. Einzelnachweise Aldehyd Begasungsmittel Beschränkter Stoff nach REACH-Anhang XVII, Eintrag 28 Beschränkter Stoff nach REACH-Anhang XVII, Eintrag 72
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https://de.wikipedia.org/wiki/Opportunity
Opportunity
Opportunity ( für Chance/Gelegenheit) war ein US-amerikanischer Erkundungsroboter zur geologischen Erforschung des Mars, der von 2004 bis 2018 aktiv war. Die Sonde wurde von der NASA am 7. Juli 2003 im Rahmen des Mars-Exploration-Rover-Programm gestartet. Sein ursprünglicher Name lautete deswegen auch Mars Exploration Rover B (MER-B) und wurde dann später in Opportunity geändert. Sie landete am 25. Januar 2004 erfolgreich in einem kleinen Krater (in der Tiefebene Meridiani Planum), den die NASA später Eagle Crater taufte. Obwohl Opportunity nur für eine Missionsdauer von 90 sol ausgelegt war, blieb sie 5111 sol bis zum 10. Juni 2018 aktiv. Ihre Mission endete nach 14 Jahren und 219 Tagen, als die Sonde nach einem Staubsturm nicht wieder aus dem Ruhezustand aufgeweckt werden konnte. In dieser Zeit legte Opportunity eine Strecke von 45,16 km zurück. Die NASA erklärte am 13. Februar 2019, dass das Programm erfolgreich beendet wurde, nachdem alle Kommunikationsversuche mit der Sonde fehlgeschlagen seien. Die Schwestersonde Spirit (MER-A) landete am 4. Januar 2004 im Gusev-Krater und war bis zum 22. März 2010 aktiv. Ziele der Mission Ziel der Sonde Opportunity (MER-B) und ihrer Schwestersonde Spirit (MER-A) war die Landung und geologische (eigentlich: areologische) Erkundung in Gebieten, die von den früheren Marsorbitern der NASA nach der follow-the-water-Strategie („folge dem Wasser“) als möglicherweise ehemals wasserführend erkannt worden waren. Sie wiesen Linienstrukturen oder Mineralien auf, die auf den Einfluss flüssigen Wassers oder vielleicht sogar auf ehemals offene Wasserflächen schließen ließen. Für Opportunity war eine Landestelle nahe dem planetaren Äquator auf der Tiefebene Meridiani Planum ausgewählt worden, weil dort ausgedehnte Vorkommen von Hämatit an der Oberfläche erkennbar waren. Hämatit kann unter anderem in offenem Wasser oder auch hydrothermal entstehen. Ein weiterer interessanter Aspekt für die Auswahl dieses Gebietes war wohl, dass ein Orbiter dort eine fast plan liegende, offenbar sehr fein geschichtete helle Gesteinsformation entdeckte, wenngleich dies vorab offiziell nie bestätigt wurde. Ob diese Gesteine allerdings äolische (windabgelagerte) oder aquatische (wasserabgelagerte) Sedimente darstellen oder ob sie Tuffite (Vulkanaschen), helle Vulkanitdecken (Lava) beziehungsweise besondere Impaktite (geschichtete Ablagerungen von sogenannten „Gesteinswolken“ aus Meteoriteneinschlägen) sind, war vor der Untersuchung am Marsboden noch völlig offen. Die Missionsdauer sollte anfangs garantierte 90 Marstage betragen (90 Sol entsprechen knapp 92,5 Erd-Tagen), doch hatte Opportunity diese weit übertroffen. Die Mission wurde regelmäßig verlängert. Bei der Gesamtstrecke überschritt der Rover am 27. Juli 2014 die Marke von 40 km. Damit fuhr er die weiteste jemals zurückgelegte Strecke auf einem fremden Himmelskörper. Bis Juni 2018 wurden 45,16 km zurückgelegt. Technik der Sonde Die beiden Rover Spirit und Opportunity waren baugleich. Deshalb findet sich eine genauere Beschreibung der Technik unter Mars Exploration Rover (MER). Im Gegensatz zu Mars Pathfinder war Opportunity keine feststehende Bodenstation, sondern ein fahrbarer Roboter, „Rover“ genannt. Er war 1,6 m lang, bis 1,5 m hoch und 185 kg schwer. Laut Spezifikation sollte er in der Lage sein, je nach Oberflächenbeschaffenheit am Tag etwa 100 m, insgesamt etwa 3 km zurückzulegen und bis zu sechs Monate auf der Planetenoberfläche einsatzfähig zu bleiben. Dies übertraf die Fähigkeiten des Vorgängers Sojourner von der Mars-Pathfinder-Mission 1997 etwa um den Faktor 60. Der Rover wurde von der NASA selbst als „Robotergeologe“ (robotic geologist) bezeichnet und besaß sechs unabhängig voneinander angetriebene Räder an stelzenförmigen Teleskopbeinen. Er trug neben verschiedenen Panorama- (pancam), Navigations- (navcam) und Gefahrenerkennungskameras (hazcams – hazard recognition cameras) einen schwenkbaren Arm mit einem Gesteinsmikroskop (ebenfalls mit Kamera), mehreren Spektrometern (Mößbauer, Alpha-Partikel, Infrarot) und einem mechanischen Werkzeug, das in der Lage war, Gesteinsoberflächen abzubürsten und auf einigen Quadratzentimetern mehrere Millimeter tief anzubohren, um auch das Innere erreichbarer Gesteine untersuchen zu können (RAT – rock-abrasion-tool). Die Räder wurden einzeln bewegt und dienen nicht nur zur Fortbewegung, sondern konnten auch als Schürfgeräte eingesetzt werden, um den Untergrund aufzuwühlen und damit einige Zentimeter des Bodenprofils mechanisch und fotografisch zu untersuchen. Der Rover besaß über Solarpaneele aufladbare Batterien und wurde zur Energieeinsparung nachts in einen Ruhezustand versetzt. Mit Hilfe seiner Antennen konnte das Gerät Bilder und Messergebnisse entweder an die als Zwischenstationen zur Erde verwendeten umlaufenden Orbiter der NASA und der ESA oder direkt zur Erde senden sowie Befehle von dort empfangen. Wegen der relativ langen Laufzeit der Signale von der Erde musste der Rover mit seinen Bordcomputern in gewissem Umfang autonom agieren können. Verlauf der Mission Opportunity startete am 7. Juli 2003 erfolgreich mit einer Delta-II-7925H-Trägerrakete und landete am frühen Morgen des 25. Januar 2004 (6:05 Uhr MEZ) in der Meridiani-Planum-Tiefebene des Mars. Im Gegensatz zu früheren Missionen wurde der Lander nicht aus einer Umlaufbahn abgesetzt, sondern direkt aus seiner Flugbahn heraus mit einer Fehlertoleranz von wenigen Kilometern auf den Planeten niedergebracht, was äußerste Zielgenauigkeit im Anflug erforderte. Die Sonde wurde, durch einen Hitzeschild geschützt, zunächst in der Atmosphäre bis auf Schallgeschwindigkeit abgebremst. Dann entfaltete sich ein Fallschirm, an dessen Leinen ein Raketensystem oberhalb der Sonde angebracht war, das horizontale Bewegungen in der Atmosphäre ausgleichen sollte. Kurz vor dem Aufsetzen wurden schlagartig schützend das um die Sonde gelegte, von ILC Dover entwickelte, Airbaglandesystem aufgeblasen. Nach dem Aufsetzen hüpfte der Lander auf den Airbags noch etliche Male über die Oberfläche, bis er in einem kleinen Krater zum Stillstand kam. Nach Entleeren der Airbags und Öffnen der Landekapsel offenbarten die ersten Fotos des Rovers nie gesehene Strukturen am Rand des kleinen Kraters, die eines der wichtigsten Beobachtungsobjekte für Opportunity werden sollten. Sie zeigten, dass die Sonde in denkbar günstiger Position nur wenige Meter neben einem offen zutage liegenden Anschnitt der anvisierten hellen Gesteinsformation gelandet war. Erstes Halbjahr 2004 (Sol 0 bis 153) – Primärmission Nach mehreren Tagen wurde der Rover auf seiner Landeplattform (inzwischen benannt als Challenger Memorial station) entfaltet und konnte diese über eine heruntergeklappte Rampe verlassen. Der Boden des Kraters, der Eagle-Krater benannt wurde, war übersät mit kleinen Kügelchen, Blueberries genannt. Im Krater waren auch noch die Abdrücke der Landeairbags deutlich zu sehen. Eine Aufnahme des Infrarotspektrometers MiniTES zeigte die Hämatitverteilung innerhalb des Kraters. Dort, wo der Airbag aufgetroffen war, wurde kein Hämatit gefunden. Anscheinend wurden die Blueberries von den Airbags in den Boden gedrückt und konnten so vom MiniTES nicht gefunden werden. Eine spätere Untersuchung einer Ansammlung von Blueberries mit dem Mößbauer-Spektrometer ergab ebenfalls, dass diese Kügelchen aus Hämatit bestehen. In nur wenigen Metern Entfernung wurde am Kraterrand geschichtetes Gestein gefunden, bei der die einzelnen Lagen nur wenige Millimeter dick waren. Dies bedeutete für Geologen den Vorteil, Gestein dort zu untersuchen, wo es auch entstanden war. Die Blueberries waren teilweise in diese Gesteinsschichten eingebettet oder lagen davor verstreut. Dies deutet auf die Bildung der Blueberries innerhalb des Gesteins hin. Bei der Untersuchung des Gesteins mit dem APXS und dem Mößbauer-Spektrometer wurden Hinweise darauf gefunden, dass es Jarosit enthält. Dieses Kalium-Eisen-Sulfat-Hydroxid bildet sich meist in einer wasserreichen Umgebung. Bei einigen der Schichten konnte man geriffelte und sich überkreuzende (cross-bedding) Strukturen ausmachen, die sich üblicherweise in fließendem Wasser bilden. In einem Aufschluss namens El Capitain wurden schmale längliche Hohlräume gefunden. Diese Räume entstehen, wenn sich Kristalle im Gestein bilden und dann herauserodiert werden. Zudem wurde, um den Boden zu untersuchen, mit dem rechten Vorderrad ein 50 cm langer und 10 cm tiefer Graben gegraben; auch hier wurden die Blueberries gefunden. Zudem wurde festgestellt, dass der Boden eine sehr klumpige Struktur hat. Nach einer zweimonatigen Untersuchung verließ Opportunity den Krater. Um herauszufinden, ob die gefundenen Belege für flüssiges Wasser nur lokal oder in der ganzen Region zu finden waren, wurde als nächstes Ziel ein 750 m entfernter Krater bestimmt. Dieser wurde nach dem Forschungsschiff Endurance benannt, das bei der Imperialen Transantarktis-Expedition unter der Leitung des britischen Polarforschers Ernest Shackleton zum Einsatz kam. Auch andere untersuchte Krater erhielten Namen berühmter Forschungsschiffe. Auf der Fahrt dorthin konnte ein Stein namens Bounce Rock untersucht werden. Dieser war zufälligerweise durch den Aufprall des Landeairbags getroffen worden und wurde dabei aufgebrochen. Der Stein hat eine vulkanische Natur und starke Ähnlichkeit zu den Shergottiten, einer Untergruppe der sogenannten Marsmeteoriten. Man nahm an, dass er durch einen Einschlag aus einem relativ frischen Einschlagkrater 75 km südwestlich vom Eagle-Krater herausgeschleudert wurde. Der Rover konnte teilweise Strecken bis zu 100 m pro Marstag zurücklegen und kam so in der flachen Ebene sehr gut voran. Unterwegs wurden an einer Stelle namens Anatolia Spalten oder Risse entdeckt, die entweder tektonisch entstanden sein konnten oder durch eine Serie von Einschlagkratern gebildet wurden. Auch bei einem kleineren Krater namens Fram konnte schwefel-, chlor- und bromreiches anstehendes Gestein entdeckt werden. Dies gab einen Hinweis darauf, dass es einmal sehr viel Oberflächenwasser gegeben haben muss, welches die gesamte Meridiani-Ebene bedeckte. Ende April 2004 erreichte Opportunity den Endurance-Krater. Um das Kraterinnere zu beobachten und eine eventuelle Einfahrstelle zu entdecken, fuhr der Rover zuerst am Kraterrand entlang. Im Innern zeigten sich die erhofften tieferen Schichtungen, der Boden selbst war durch Sanddünen bedeckt. Deshalb entschied man bei der NASA, den Rover in den Krater hineinzuschicken, auch auf die Gefahr hin, dass er nicht mehr herauskommen könnte. Am 10. Juni begannen Ingenieure der NASA, einige Abstiegsversuche in den Krater hinein und wieder hinaus mit dem Rover zu machen, da noch nicht klar war, ob und wie gut Opportunity mit dem Untergrund zurechtkommen würde. Nach zwei erfolgreichen Fahrversuchen fuhr der Rover an Sol 133 an einem Ort namens Karatepe tiefer in den Krater hinein. Zweites Halbjahr 2004 (Sol 154 bis 332) – Endurance-Krater Nun begann die Untersuchung der Schichten des Endurance-Kraters, der ca. 12 m tief ist. Jede Schicht wurde fotografiert, und an etlichen Stellen wurden mit dem Steinschleifwerkzeug Löcher in das Gestein gebohrt. Dadurch konnte eine Stratigraphie des Bodens der Meridiani-Ebene erstellt werden. Bis Mitte August (Sol 192) analysierte der Rover die einzelnen Schichten bis fast zu den Dünen am Boden. Die Untersuchung der Dünen selbst wurde jedoch als zu gefährlich angesehen, da die Räder des Rovers sich in den Dünen festfahren könnten. Während der Fahrt an den Hängen des Kraters rutschen die Räder des Rovers teilweise stark, so dass sich das genaue Positionieren an interessanten Objekten sehr schwierig gestaltete. Eine Steinformation namens Escher am südwestlichen Hang des Kraters wurde genauer unter die Lupe genommen. Dieser Stein enthielt Bruchlinien, die die Oberfläche in Polygone unterteilten. Diese Bruchlinien konnten entweder bei einem Einschlag entstanden sein oder durch Wassereinfluss und spätere Austrocknung. Mitte September 2004 trat die solare Konjunktion ein, d. h., die Sonne war zwischen Mars und Erde, so dass während etwa zwei Wochen nicht mit der Sonde kommuniziert werden konnte. Auf dem Weg zum Burns Cliff, einem Steilhang am Kraterrand, wurde der 1 m Durchmesser messende große Fels Wopmay untersucht. Dessen ungewöhnliche Oberfläche wies, ebenso wie Escher, die Möglichkeit von starkem Wassereinfluss auf. Die Schichtungen von Burns Cliff konnten aufgrund der zu steilen Umgebung nicht erreicht werden. Stattdessen wurde davon ein umfangreiches Panorama erstellt. Nach dieser Untersuchung fuhr der Rover unterhalb von Burns Cliff wieder zum Einstiegspunkt Karatepe und von dort am 21. Dezember 2004 (Sol 318) wieder heraus. Die Untersuchungen im Endurance-Krater ergaben, dass die Region nicht nur einmalig von flachem, salzigem Wasser bedeckt war, sondern öfter von Wasser bedeckt und wieder ausgetrocknet war. Um diese Ergebnisse zu bestätigen, wurde als neues Fernziel ein Krater namens Victoria in 5,6 km Entfernung ausgesucht. Erstes Halbjahr 2005 (Sol 333 bis 508) – Zwischenfall an der Düne Die erste Station nach Endurance war die Untersuchung des eigenen Hitzeschildes, der bei der Landung etwas südlich vom Krater aufgekommen war. Hier tat sich die einmalige Gelegenheit auf, dieses Bauteil nach seinem Einsatz zu untersuchen, unter anderem auch, wie sich das hitzebeständige Material während des Eintritts in die Atmosphäre verändert hatte. Dabei wurde unter anderem festgestellt, dass sich die Innenseite beim Aufprall nach außen gekrempelt hatte. Wenige Meter neben dem Hitzeschild entdeckte Opportunity seinen ersten Eisenmeteoriten namens Heat Shield Rock. Nach der Untersuchung des Hitzeschildes begann der Rover seinen Weg zum Victoria-Krater. Da die Gegend sehr flach und einförmig war, kam der Rover schnell voran; so wurden teilweise über 400 m am Tag gefahren. Ein erstes Zwischenziel wurde am Sol 399 (8. März 2005) am Krater Vostok erreicht. Der Krater war jedoch vollständig mit Sand aufgefüllt und daher für eine eingehende Untersuchung nicht geeignet. Deshalb wurde weiter in Richtung Süden gefahren, zu einem Gebiet namens Etched Terrain, welches aus großflächigen Strukturen aus Grundgestein besteht. Während der nächsten Fahrten wurden die Dünen, die Opportunity durchquerte, höher. Nachdem am 17. April 2005 der Motor des rechten Vorderrads blockierte, wurde der Rover angewiesen, von nun an rückwärts zu fahren, um dieses Rad zu entlasten. Am 26. April 2005 nach 5,346 km Fahrtstrecke gruben sich die Räder des Rovers beim Überqueren einer Düne im lockeren Sand fest. Da die Software auf so eine Situation nicht vorbereitet war, drehten sich die Räder bis zum programmierten Ende weiter. Alle sechs Räder steckten nun bis zu den Achsen im Sand. Danach versuchten NASA-Techniker mit Hilfe von Simulationen auf der Erde einen Weg zu finden, den Rover wieder zu befreien. Pessimisten befürchteten ein vorzeitiges Ende der mobilen Mission. Am 13. Mai begann der Versuch, den Rover vorsichtig in kleinen Schritten zurückzufahren. Bis zum 3. Juni 2005 konnte Opportunity bereits um 93 cm aus der Düne herausbewegt werden. Die dazu benötigten Radumdrehungen hätten auf freier Strecke für 177,2 m Strecke ausgereicht. Am 4. Juni gelang es schließlich, den Rover aus der Düne hinauszumanövrieren. Nach dieser fünfwöchigen Panne konnten sich nun alle Räder wieder frei bewegen. Anschließend wurde die auf den Namen Purgatory („Fegefeuer“) getaufte Düne untersucht, um festzustellen, was diese von den zahlreichen, bisher problemlos überquerten Dünen unterscheidet. Seit dem 5. Juli 2005 war Opportunity wieder unterwegs in Richtung des Kraters Erebus. Zweites Halbjahr 2005 (Sol 509 bis 687) – Erebus-Krater Nach der Befreiung aus der Sanddüne wurden nun nicht mehr lange Strecken gefahren, deshalb kam der Rover nicht mehr so schnell voran wie bisher. Da die Ausrichtung der Dünen hauptsächlich in Nord-Süd-Richtung lag, konnte die Raumsonde meistens zwischen den Dünen entlangfahren und musste nur ab und zu eine Düne überqueren. Das Etched Terrain genannte Gelände wurde erreicht und es stellte sich heraus, dass hier mehr Grundgestein zwischen den Dünen zum Vorschein kam. Dies war für die Fahrt positiv, da der Rover auf festem Gestein mit weniger Problemen zu kämpfen hatte als wenn er auf sandigem Untergrund fährt. Am 21. August kam es zu einem Computerabsturz. Dieses Problem wurde während der nächsten Sols untersucht, so dass die Fahrt zum Erebus-Krater erst wieder im September aufgenommen werden konnte. Am 5. Oktober konnte ein Bild des Rovers in den Marsdünen von der Marssonde Mars Global Surveyor aufgenommen werden. Diese Aufnahmen waren wichtige Hilfen zur Navigation. Am 2. November wurde der Krater Erebus erreicht. Er wurde am östlichen Rand umrundet, da dort der Boden felsiger war. Der Krater selbst ist mit Sand gefüllt, an den Rändern sind jedoch kleinere Klippen offen; diese wurden später untersucht. Am 20. November 2005 sollte der Instrumentenarm planmäßig ausgefahren werden, jedoch blockierte ein Problem mit dem Schultergelenkmotor den Befehl. Eine Ursache hierfür könnte die inzwischen vielfach längere Einsatzzeit des Rovers sein. In den nächsten Wochen wurde das Problem von den Ingenieuren untersucht. Währenddessen blieb der Rover an dieser Position und nahm das Erebus Rim genannte Panorama auf, welches aus über 1300 Einzelbildern besteht. Erstes Halbjahr 2006 (Sol 588 bis 863) – Aufbruch zum Victoria-Krater Der Instrumentenarm musste unbedingt wieder eingefahren werden, da die Fahrt mit ausgefahrenem Arm kaum möglich war. Am 20. Januar (Sol 695) fuhr der Rover wieder weiter, nachdem der Instrumentenarm an einer anderen Stelle am Gerät verstaut werden konnte. Opportunity führte zudem koordinierte Untersuchungen der Atmosphäre mit seinem MiniTES-Spektrometer in Kombination mit der Mars Sonde Mars Express der Europäischen Weltraumorganisation durch und fotografierte Durchgänge des Marsmondes Phobos durch die Sonnenscheibe. Dadurch kann z. B. die Bahn des Mondes noch genauer bestimmt werden. Vom Krater Erebus wurden eine Klippe namens Payson und die Abbruchkante Mogollon Rim, die vom Kraterrand noch sichtbar waren, dann eingehender untersucht. Auch hier zeigten sich wieder geschichtete Felslagen, die als Sedimentgestein interpretiert wurden. Am 17. März beendete Opportunity die Untersuchung von Erebus und begann nun die Fahrt zum Krater Victoria, der sich in 2 km südöstlicher Entfernung befindet. Die nächsten Wochen kam der Rover wieder zügiger voran, auch weil die Dünen wieder niedriger wurden, und hatte bis zum 27. Juni 2006 insgesamt 8,392 km auf dem Mars zurückgelegt. Trotz aller Vorsicht fuhr sich der Rover am 29. Mai (Sol 833) in einer kleinen Düne fest, konnte jedoch nach einer Woche wieder daraus befreit werden. Zweites Halbjahr 2006 (Sol 684 bis 1042) – Ankunft am Victoria-Krater In der ersten Julihälfte wurde die Software des Rovers aktualisiert. Er erhielt dadurch eine größere Autonomie beim Fahren und ein verbessertes Energiemanagement. Anfang August erreichte das Fahrzeug den etwa 35 m durchmessenden Krater Beagle, der nur etwa 500 m vom Rand von Victoria entfernt ist; einen Monat später war das Fahrzeug nur noch 200 m vom Kraterrand entfernt. Während der Fahrt trat auch wieder ein Säuberungsereignis auf, bei dem Staub von den Solarpaneelen heruntergeblasen wurde, was die Stromversorgung stark verbesserte. Gerade durch diese Ereignisse verlängerte sich die Lebensdauer des Roboters immer wieder. Der Rover erreichte am 28./29. September 2006 nach mehreren kurzen Fahrten an den drei vorangegangenen Sols (30,2 m, 26,4 m und 3,5 m) den Rand des ca. 60 m tiefen und 800 m breiten Kraters an einer Einbuchtung, die Duck Bay genannt wurde. Die Untersuchung der Gesteinsschichten des Kraters sollte noch detailliertere Erkenntnisse über die Existenz von Wasser auf dem roten Planeten ermöglichen. Bei ersten Aufnahmen des Kraterinneren wurden die erhofften Gesteinsschichten entdeckt, die sich in bis zu 6 m hohen Klippen auftürmten. Nun galt es, den besten Einstieg in den Krater zu finden. Deshalb fuhr der Rover zuerst nach Norden, um den Krater in den nächsten Monaten im Uhrzeigersinn teilweise zu umrunden. Dabei wurden jeweils Bilder aus ca. 10 m entfernten Standorten zu Stereobildern kombiniert, um eine dreidimensionale Karte des Kraters zu erstellen. Der Mars Reconnaissance Orbiter (MRO) kam im März 2006 am Mars an und nahm Ende November dann den wissenschaftlichen Betrieb auf. Da die Kameraauflösung dieses Orbiters die bisherige Qualität der Vorgängermissionen bei weitem übertraf, konnte die Umgebung von Opportunity sehr detailreich aufgenommen werden. Anfang Oktober 2006 veröffentlichte die NASA Aufnahmen des Mars Reconnaissance Orbiters, auf dem der Krater und der Rover selbst zu sehen sind. Erstes Halbjahr 2007 (Sol 1043 bis 1219) – Kraterumrundung Im Januar 2007 war Opportunity am nördlichen Rand des Kraters weitergefahren und fotografierte die Klippen aus unterschiedlichen Perspektiven. Bei diesen ergab sich, dass diese aus Sanddünen gebildet wurden, die durch nord-südliche Winde aufgehäuft wurden und dann versteinerten. Ein weiterer Meteorit namens Santa Catarina wurde hier am nördlichen Kraterrand aufgefunden und untersucht. Am 9. Februar wurde die 10-km-Marke überschritten. Das APXS wurde nun erstmals dazu benutzt, den Gehalt des Edelgases Argon in der Marsatmosphäre zu bestimmen. Dazu wurde das Instrument in Richtung Himmel gerichtet und dann etwa drei Stunden lang Messungen getätigt. Diese Untersuchungen wurden ebenfalls vom Zwillingsrover Spirit auf der anderen Seite des Mars durchgeführt. Dadurch erhoffte man sich ein besseres Verständnis, wie sich das Mischungsverhältnis von Argon zu Kohlendioxid im Laufe der Jahreszeiten verändert, wenn sich das Kohlendioxid an den Polen niederschlägt. Im März wurde das Valley without peril erreicht, welches als ein möglicher Einstiegspunkt in den Krater angesehen wurde. Hier stellte sich heraus, dass der Abhang eine zu starke Neigung hatte, um an dieser Stelle gefahrlos hineinzufahren. Nachdem noch zwei weitere Klippenvorsprünge untersucht wurden, wurde entschieden, den ganzen Weg 600 m zurück zum ursprünglichen Ankunftsort zu fahren, um dort in den Krater hinabzufahren. Bei der Rückfahrt wurden die Solarzellen durch einige Windböen gereinigt. So stieg die zur Verfügung stehende Energie auf fast 800 Wh (Wattstunden) pro Sol an. Dies war beinahe so viel wie nach der Landung dreieinhalb Jahre zuvor. Am 15. Juni erreichte Opportunity wieder Duck Bay und bereitete sich auf den Einstieg in den Krater vor. Am 4. Januar 2007 bekamen beide Rover neue Steuerungssoftware für ihre Computer. Das neue System gab dem Rover mehr Entscheidungsfreiheit, ob ein Bild übertragen werden soll oder ob der Instrumentenarm ausgefahren werden soll. Dies sparte den Wissenschaftlern Zeit, da diese nicht mehr hunderte von Bildern bewerten mussten. Zweites Halbjahr 2007 (Sol 1219 bis 1398) – Der Staubsturm Der geplante Einstieg musste verschoben werden, denn ab Ende Juli 2007 behinderte ein Staubsturm die Sonde, der bald große Teile des Mars umfasste. Der aufgewirbelte Staub verdunkelte den Himmel fast komplett, sodass die Solarpaneele die Batterien nicht mehr aufladen konnten. Um Strom zu sparen, wurden alle Aktivitäten eingestellt. Die Sonde sollte bei möglichst geringem Stromverbrauch das Ende des Sturmes abwarten. Dieses Abwarten erwies sich jedoch als sehr schwierig, da die Sonde (auch aufgrund ihrer kurzen Lebenserwartung) nicht für solche Situationen konstruiert worden war. Die Sonde erzeugt im Stromsparmodus zu wenig Wärme, als dass sie die Elektronik betriebswarm halten könnte. Sinkt die Temperatur der Elektronik unter einen bestimmten Wert, so springen automatische Heizungen an, um Kälteschäden an den Elektronik-Bauteilen (unter −37 °C) zu vermeiden. Diese verbrauchten jedoch mehr Strom als die Sonde während des Sturms (bei bis zu −80 °C) noch produzieren konnte. Die Heizungen würden daher die Batterien sehr schnell leeren, was zu einer endgültigen Abschaltung der Sonde führen würde. Seit Ende Juli wurde der Rover daher wieder etwas länger aktiv gehalten, um ein Anspringen der Heizungen zu verhindern. Die Sonde schaltet sich bei kritischem Ladestand der Batterien selbst ab und prüfte nur noch jeden Sol einmal, ob wieder genug Energie für eine erneute Einschaltung zur Verfügung stehen würde. Auch zu große Staubablagerungen auf den Paneelen wurden befürchtet, somit hätte die Sonde nicht mehr genug Energie gewinnen können, sich wieder vollständig einzuschalten. Mitte August wurde der Sturm schwächer und die Durchsichtigkeit der Atmosphäre erhöhte sich wieder. Opportunity hatte den sechswöchigen Staubsturm überstanden. Das nächste Problem war nun, dass sich der vom Sturm aufgewirbelte Staub auf die Solarzellen ablagerte. Am 11. September konnte Opportunity dann in den Krater hineinfahren. Hier untersuchte man zuerst eine hellere Gesteinsschicht (bright band), die bei der Kraterumfahrung entdeckt wurde. Diese Schicht ist überall am Kraterrand sichtbar. Die Untersuchungen ergaben, dass diese hellere Gesteinsschicht durch Diagenese gebildet wurde. Diese Gesteinslage trennt das Grundgestein von dem Material, das durch den Einschlag ausgeworfen wurde. Erstes Halbjahr 2008 (Sol 1399 bis 1575) – Victoria-Krater Opportunity untersuchte die nächsten Wochen diese geologisch interessante Gesteinsschicht und arbeitete sich tiefer in das Kraterinnere hinein. Unter anderem wurde an einer Lage namens Gilbert ein schmaler, hervorstehender Gesteinsgrat entdeckt. Dieser Grat besteht aus Mineralien, die ursprünglich in Felsspalten abgelagert wurden und dann übrig blieben, nachdem das umgebende Gestein wegerodiert wurde. Analysen mit dem APXS und dem Mößbauer-Spektrometer ergaben, dass der Grat ebenso wie die Blueberries aus Hämatit besteht. Ende April waren dann die Messungen abgeschlossen, und nun sollte die Klippe Cape Verde genauer erforscht werden. Die Fahrt dorthin stellte sich als problematisch heraus: Der Rover rutschte auf dem sandigen und 25° steilen Gesteinsboden sehr stark und Mitte Mai grub sich das mittlere rechte Rad auch noch in dem sandigen Boden ein. Zudem traten im April wieder Probleme mit dem Instrumentenarm auf. Dieser konnte wegen des Schultergelenkmotors nicht ausgeklappt werden. Erst nach etlichen Versuchen konnte man ihn wieder bewegen. Die weiteren Strecken mussten jedoch sorgfältig geplant werden, da die Fahrt mit einem ausgefahrenen Instrumentenarm schwierig wurde. Am Sol 1565, dem 19. Juni 2008, hatte sich Opportunity bis auf 10 m dem unteren Bereich von Cape Verde genähert. Aus dieser Position heraus, Cape St. Mary genannt, wurde dann eine detailreiche Panoramaaufnahme der Klippen erstellt. In der Nähe der Klippe musste auch noch auf den Schattenwurf der Klippen geachtet werden, um die Stromversorgung nicht zu gefährden. Die Klippen selbst konnten nicht erreicht werden, da der Boden davor zu steil und sandig war. Zweites Halbjahr 2008 (Sol 1576 bis 1754) – Abschied vom Victoria-Krater Im Juli wurde dann versucht, einige geologisch interessante Felsen in der Nähe von Cape Verde zu erreichen. Das Gelände erwies sich jedoch als zu schwierig zu befahren. Am 24. Juli (Sol 1600) wurde am Motor des rechten Vorderrads ein ungewöhnlich hoher Strom gemessen. Beim Rover Spirit fiel ein Rad nach einer ähnlichen Stromspitze aus und konnte nicht mehr reaktiviert werden. Da Opportunity mit einem defekten Rad den Krater nie wieder verlassen könnte, wurde entschieden, die Untersuchung des Kraters abzubrechen und auf dem schnellsten Wege aus dem Krater herauszufahren. Am 24. August 2008 fuhr der Rover wieder an der Stelle Duck Bay aus dem Krater heraus. Nachdem Opportunity wieder ebenen Boden erreicht hatte, wurde Anfang September getestet, wie mit dem defekten Instrumentenarm gefahren und gearbeitet werden kann. Im Anschluss an die Tests fuhr der Rover am südlichen Rand des Victoria-Kraters weiter, um Aufnahmen der hier gelegenen Klippen zu machen. In der flachen Umgebung konnten pro Tag Strecken über 200 m gefahren werden. Ende Oktober begann dann die Reise zum Krater Endeavour. Dieser Krater ist ca. 12 km entfernt und hat einen Durchmesser von 22 km und eine Tiefe von 300 m. Auch hier versprach man sich wieder Zugriff auf tiefere Gesteinslagen und dadurch Einblick in die frühere Geschichte des Mars. Da sich aber auf direktem Weg zu hohe Dünenfelder befanden, musste der Rover einen Umweg von etwa 19 km machen. Deshalb fuhr der Rover zuerst in südwestlicher Richtung. Durch die hochauflösenden Aufnahmen der Mars Reconnaissance Orbiters, auf denen selbst einzelne Felsen und die Dünenkämme zu sehen sind, konnte die Route sehr gut im Voraus geplant werden. Am 29. November begann die solare Konjunktion und damit wieder eine Phase, in der mit keiner Sonde auf dem Mars kommuniziert werden konnte. Während dieser Zeit nahm Opportunity ein Panorama auf und analysierte den Stein Santorini mit dem Mößbauer-Spektrometer. Santorini erwies sich als ein Mesosiderite-Meteorit. Erstes Halbjahr 2009 (Sol 1755 bis 1930) – Fahrt in der Meridiani-Ebene Nach der solaren Konjunktion fuhr der Rover weiter in südwestlicher Richtung. Dank der autonomen Steuerung konnten immer wieder Strecken bis zu 150 m pro Tag gefahren werden. Doch das Alter des Rovers und seiner Bauteile machte sich bemerkbar: Nachdem einige Strecken auf sandigem Boden zurückgelegt wurden, traten wieder erhöhte Ströme im Vorderrad-Motor auf. Deshalb wurden einige Strecken rückwärtsfahrend bewältigt. Das besserte das Verhalten des Motors, jedoch kam der Rover in diesem Modus langsamer voran. Zudem wurden immer wieder Ruhepausen eingelegt, damit sich das Rad erholen konnte. Während der Pausen verteilt sich das Schmiermittel im Radlager. Dies bewirkt bei den nächsten Fahrten dann weniger Widerstand und auch weniger Stromverbrauch. Opportunity kam an einigen kleineren Kratern vorbei, die ein geschätztes Alter von nur 10.000 bis 100.000 Jahren haben. Am Sol 1884 (12. Mai 2009) entdeckte die Sonde ihren fünften Meteoriten: Kasos. Eine ungewöhnliche Hilfestellung gab Opportunity seinem Geschwisterrover am 19. Mai 2009. Spirit hatte sich auf der anderen Seite des Mars in sandigem Boden eingegraben. Um die Situation besser abschätzen zu können war es notwendig, ein möglichst genaues Bild der Lage zu bekommen. Die einzige Kamera, die unter den Rover schauen kann, war die Mikroskopkamera am Instrumentenarm. Diese war jedoch nur für Nahaufnahmen vorgesehen, das aufgenommene Bild konnte jedoch aufgrund der bekannten Optik nachträglich scharfgerechnet werden. Opportunity nahm hierfür einige Bilder von seinem Unterboden auf, um zu sehen, ob diese Technik die gewünschten Ergebnisse liefert. Bis zum 29. Juni war die gefahrene Wegstrecke auf 16,712 km angewachsen. Während bisher in südlicher Richtung gefahren wurde, bewegte sich Opportunity nun einige hundert Meter in östlicher Richtung, um ein Feld mit hohen Dünen zu umgehen. Zweites Halbjahr 2009 (Sol 1931 bis 2109) – Meteoritenfunde Am 19. Juli entdeckte man auf älteren Aufnahmen einen größeren Stein, an dem Opportunity zuvor in einiger Entfernung vorbeigefahren war. Da der Stein ungewöhnlich groß erschien, wurde beschlossen, den Rover die gerade gefahrene Strecke von ca. 200 m wieder zurückfahren zu lassen, um diesen Stein zu untersuchen. Innerhalb einiger Tage wurde der 70 cm große Felsbrocken namens Block Island erreicht. Er stellte sich, wie zuvor Heat Shield Rock, als weiterer Eisenmeteorit heraus. Besonders fielen bei diesem Meteorit die ungewöhnlichen Vertiefungen auf, die durch Verwitterungsprozesse entstanden sein müssen. Um ein möglichst genaues dreidimensionales Modell des Objekts zu ermitteln, umkreiste der Rover den Meteorit und machte Aufnahmen aus insgesamt sechs verschiedenen Positionen. Bereits kurz nachdem Block Island verlassen wurde, kam in der Ebene Ende September der nächste Meteorit, Shelter Island, in Sicht. Auch dieser wurde genauer untersucht. Am 15. Oktober wurde der dritte Meteorit, Mackinac, entdeckt. Anscheinend sind diese Meteoriten Bruchstücke eines größeren Meteoriten, der in dieser Gegend heruntergekommen war. Opportunity fuhr nun auf festem Felsgestein in größeren Etappen in Richtung Süden, um einen bereits aus dem Marsorbit zu erkennenden neueren Krater anzupeilen. Auf dem Weg dorthin stieß der Rover Anfang November auf den nächsten größeren Felsbrocken, Marquette Island, bei dem die Herkunft anfangs unklar war. Mit dem Steinschleifwerkzeug, welches durch den jahrelangen Einsatz nahezu stumpf geworden war, konnte zumindest die oberste Schicht abgeschliffen und der Stein an dieser Stelle mit den restlichen Instrumenten untersucht werden. Zudem war der Stein selbst schon an einer Kante auseinandergebrochen, was den Zugriff auf sein Innerstes erleichterte. Es stellte sich heraus, dass Marquette Island ein basaltisches Gestein aus dem Inneren des Mars sein musste, das eines Tages bei einem Kratereinschlag aus der Tiefe herausgeschleudert wurde. Erstes Halbjahr 2010 (Sol 2110 bis 2285) – Einschlagkrater Concepción Am Sol 2122, dem 12. Januar 2010, beendete Opportunity seine Analysen an Marquette Island und setzte seine Reise fort. Das nächste Ziel war bereits auf Aufnahmen von MRO sichtbar: Ein anscheinend frischer Einschlagkrater namens Concepción, umgeben von dunklen Auswurfstrahlen. Die Forscher schätzten sein Alter in der Größenordnung von 1000 Jahren ein. Damit war Concepción der jüngste jemals untersuchte Krater. Der Rover umrundete den Krater und nahm ihn in unterschiedlichen Perspektiven auf. Ein Stein namens Chocolate Hills wurde genauer untersucht, da auf seiner Oberfläche eine dunkle Kruste entdeckt wurde. Diese könnte durch Aufschmelzprozesse beim Einschlag entstanden sein. Am 9. März (Sol 2177) wurde die Untersuchung von Concepción abgeschlossen und die Fahrt in südlicher Richtung weitergeführt. Im März 2010 wurde ein weiteres Softwareupdate in Betrieb genommen, welches dem Rover noch mehr Autonomie verlieh: Nach einer abgeschlossenen Fahrt suchte das System namens „AEGIS“ (Autonomous Exploration for Gathering Increased Science) nach auffallenden Objekten und fotografierte diese automatisch. Die Fahrt ging weiter in südlicher Richtung an einem Doppelkrater vorbei. Dabei machte sich der Marswinter bemerkbar. Durch die energieintensiven Fahrten müssen die Batterien aufgeladen werden, deshalb pausierte der Rover ein oder zwei Sols zwischen einzelnen Fahrten. Um möglichst viel Sonnenenergie abzubekommen, wurde der Rover schräg an den Dünenhängen geparkt. Um zu verhindern, dass bei dem kalten Wetter die energiebedürftigen Heizelemente anspringen, wurde der Rover länger wach gehalten. Im Mai wurde mit dem Trägheitsmessgerät versucht, ein Marsbeben zu entdecken, was jedoch nicht gelang. Am 19. Mai hatte Opportunity den Rekord für die am längsten auf einem Planeten operierende Raumsonde gebrochen, den Viking 1 mit einer Dauer von 6 Jahren und 116 Tagen aufgestellt hatte. Zweites Halbjahr 2010 (Sol 2286 bis 2464) – Zwischenstation Krater Santa Maria Durch die immer länger dauernde Sonnenscheindauer und durch Windreinigungsereignisse der Solarpaneele stand für die Fahrten von Opportunity wieder mehr Energie zur Verfügung. Am 28. Juli konnte der Rover zum ersten Mal ein Foto eines Staubteufels aufnehmen, wie er gelegentlich für die Reinigung der Solarzellen sorgt. Dies gelang bisher nur Spirit im Gusev-Krater auf der anderen Seite des Mars. Auf dem Weg zum Endeavour-Krater wurde die automatische Navigation des Rovers, unterstützt von den Gefahrenausweichkameras (Hazcam), getestet, welche es dem Rover erlaubt, autonom zu fahren. Hierbei fährt der Rover rückwärts, da das Sichtfeld der vorwärts blickenden Hazcam durch eine ungünstig angebrachte Antenne teilweise versperrt wird. Am 16. Dezember (Sol 2450) erreichte der Rover den 80 m großen Krater Santa Maria und untersuchte ihn in den nächsten Wochen genauer. Erstes Halbjahr 2011 (Sol 2465 bis 2640) – Kurs auf Cape York Anfang des Jahres umfuhr der Rover den Krater zur Hälfte und positionierte sich an einer Stelle am Kraterrand. An diesem Ort wurden auf Aufnahmen von der MRO-Sonde hydratisierte Sulfatminerale entdeckt. Dieses bildet sich nur in Verbindung mit Wasser. Zu dieser Zeit begann wieder die solare Konjunktion. Diese Zeit wurde genutzt, dieses Gestein mit dem Mößbauer-Spektrometer zu untersuchen. Bis zum 24. März wurden die Untersuchungen am Krater Santa Maria abgeschlossen, und der Rover nahm seine Reise zum Endeavour-Krater wieder auf. Die Entfernung zwischen Cape York und Santa Maria beträgt etwa 6,5 km. Zweites Halbjahr 2011 (Sol 2641 bis 2819) – Endeavour-Krater und Cape York Bis zum 5. Juli hatte der Rover 18,0 km bzw. 90 % des Weges zum Endeavour-Krater geschafft. Zu diesem Zeitpunkt summierte sich die gefahrene Gesamtstrecke in der Meridiani-Ebene auf 31 km. Es wurden auf der Fahrt weitere (mögliche) Meteoriten fotografiert, die jedoch nicht weiter analysiert wurden. Obwohl Opportunity nur noch 1,8 km von Cape York entfernt war, kam dieses Objekt noch nicht in Sicht. Grund war, dass Cape York sich auf einem Abhang am Kraterrand des Endeavour-Kraters befand und dadurch dem Rover verborgen blieb. Als Ankunftspunkt an Cape York wurde der kleine Krater Spirit Point (benannt nach dem Zwillingsrover Spirit) im Süden dieser Struktur bekanntgegeben. Nachdem Opportunity am 28. August 2008 (Sol 1634) den Victoria-Krater verlassen hatte, konnte der Rover in über 1000 Sols mehr als 21 km zurücklegen und am 9. August 2011 (Sol 2681), knapp drei Erdjahre später, den Endeavour-Krater erreichen. Zusammen mit der vor dem 28. August 2008 bereits zurückgelegten Strecke waren es am 9. August 2011 33,49 km. In dem einen Erdjahr danach bewegte er sich etwas mehr als 1 km entlang des Kraterrandes weiter. Die geringe Fahrleistung ist vor allem durch den Marswinter zu erklären, der etwa die Hälfte der 12 Erdmonate (Dezember 2011 bis Juni 2012) andauerte. Der Endeavour-Krater hat einen Durchmesser von 22 km – etwa so groß wie das Nördlinger Ries – und bot den Forschern neue Möglichkeiten, ältere Gesteinsschichten zu untersuchen. Insbesondere wurde Ausschau gehalten nach Schichtsilikaten, die sich nur in Verbindung mit Wasser bilden können. Ins Innere des Kraters sollte nicht eingefahren werden, da dort die gleichen Gesteinsschichten erwartet wurden, die bisher in der Meridiani-Ebene untersucht worden waren. Ein Fels namens Tisdale wurde durch einen späteren Einschlag aus dem Rand des Endeavour-Kraters herausgeschleudert. Er lag am südlichen Rand des Odyssey Kraters. Bei ihm wurde eine hohe Konzentration des Elements Zink festgestellt. Dies deutete darauf hin, dass er durch hydrothermale Vorgänge verändert wurde. Nach dem Einschlag, der den Endeavour-Krater entstehen ließ, wurde Wärme frei, die im Untergrund vorhandenes Wassereis aufschmolz. Dieses Wasser verteilte die gelösten Mineralstoffe in das umgebende Gestein. Bei der Untersuchung der Gegend um Cape York wurden auffällig hellere Gesteinsadern entdeckt. Bei der näheren Untersuchung solch einer Ader namens Homestake mit dem Röntgenspektrometer stellte sich heraus, dass diese aus reinem Kalziumsulfat (Gips) besteht. Eine Erklärung hierfür ist, dass früher Wasser durch den Untergrund geflossen ist. Das gelöste Kalziumsulfat setzte sich dann in den Hohlräumen ab. Diese beiden Entdeckungen sind weitere Hinweise darauf, dass flüssiges Wasser zumindest zeitweise auf dem Mars verfügbar war, um eine lebensfreundliche Umwelt zu bieten. Da die Energieversorgung der Rovers durch abgelagerten Staub kritischer geworden war als in den Jahren zuvor, suchte man eine Überwinterungsstelle, an der der Rover zur Sonne geneigt den Winter besser überstehen konnte. Diese Stelle wurde im Norden von Cape York gefunden und bis zum Dezember 2011 angefahren. Erstes Halbjahr 2012 (Sol 2829 bis 2997) – Greeley Haven Der Ort, an dem Opportunity überwintern sollte, wurde nach einem verstorbenen NASA-Wissenschaftler Greeley Haven benannt. An dieser Stelle befindet sich ein Gesteinsaufschluss, der mit dem Instrumentenarm genauer untersucht wurde. Da der Rover über die Wintermonate nicht bewegt wurde, wurde während dieser Zeit ein Experiment mit Radiowellen durchgeführt: Hierbei wurde versucht, durch Funksignale des Rovers kleinste Kippbewegungen der Rotationsachse des Mars zu entdecken. Damit können Erkenntnisse über den inneren Aufbau des Planetenkerns gewonnen werden. Nach längerer Winterpause bewegte sich Opportunity am 9. Mai 2012 die ersten 3,7 m aus seinem Winterquartier weg, um die Untersuchung von Cape York fortzusetzen. Zuerst wurden Aufnahmen der Überwinterungsposition gemacht, um die während der Winterzeit durchgeführten Messungen im Kontext beurteilen zu können. Die Fahrt wurde von Cape York aus in nördliche Richtung fortgesetzt, um dort weitere Untersuchungen des Bodens und weiterer Gipsadern durchzuführen. Zweites Halbjahr 2012 (Sol 2998 bis 3176) – Weitere Untersuchung des Cape York Am 2. Juli 2012 konnte Opportunity bereits seinen 3000. Marstag (entsprechend 3078 Tage auf der Erde) begehen. Die NASA veröffentlichte am 5. Juli ein neues Panorama von Cape York und dem Endeavour-Krater, welches der Rover während seiner Winterpause in hoher Auflösung aufgenommen hatte. Das Panoramabild besteht aus über 800 Einzelbildern, die zwischen dem 21. Dezember 2011 und dem 8. Mai 2012 aufgenommen wurden. Die Energieproduktion des Rovers stieg ab Sol 2989 (20. Juni 2012), bedingt durch bessere Sonneneinstrahlung, klaren Himmel und durch Wind gereinigten Solarzellen wieder von unter 400 auf über 500 Wh pro Sol an. Einige Tage vor der Ankunft von Curiosity wurde Opportunity für 9 Tage programmiert und dann „geparkt“, um während der Ankunft von Curiosity den Orbiter und das Funknetz frei zu halten. Der Stand der Kilometerzählung war am 7. August 2012 (Sol 3035): 34,64 km. Am 12. August (Sol 3040) wurde die Fahrt fortgesetzt und der kleine Krater Sao Rafael im Vorbeifahren mit der Panoramakamera aufgenommen. Seit Ende August hatte sich Opportunity nicht sehr weit bewegt. Die 35-Kilometer-Marke wurde bereits am 28. August überschritten, die 22-Meilen-Marke erst Anfang November. Nach einer der mit 23 cm (9 Zoll) kürzesten Bewegungen wird der Stand der Kilometerzählung am 4. Dezember 2012 mit 35,43 km (22,02 mi) angegeben. Erstes Halbjahr 2013 (Sol 3177 bis 3352) – Ende der Untersuchung des Cape York Auch wenn sich der genaue Standort geändert hatte (Opportunity befand sich Anfang Januar am Copper Cliff und Ende Januar bei Fullerton 1), bewegte sich der Rover nur sehr wenig (50 m in 2 Monaten). Für die Feiertage am Jahreswechsel waren Untersuchungsarbeiten am Ort programmiert worden. Neben der Fortsetzung der Bodenuntersuchungen der Vorweihnachtszeit wurde die Atmosphäre (Dichte und Argon) untersucht. Der Tag vor dem Perihel des Mars war der Sol 3200. Opportunity hatte damit das 35,5-fache seiner Primärmissionszeit erreicht und etwa ein Kilometer pro 90 Sols zurückgelegt. In der Zeit vom 7. Januar bis 27. Februar hatten sich keine „Demenz“-Probleme mit dem Flash-File-System gezeigt. Am 28. Februar wurde durch Fehler im Flash-File-System ein unerwarteter Reset ausgelöst. Opportunity war danach 2 Tage im sogenannten „Automode“, das war ein sicherer Zustand mit täglichem Aufwachen, bei dem der Rover nur seinen eigenen Zustand (insbesondere die Eigentemperatur) überwachte. Am 2. März wurde durch ein gezieltes Sofortkommando der Kommandospeicher gelöscht und neue Kommandos aufgespielt. Danach funktionierte der Rover eine Woche lang wieder einwandfrei. Falls die Probleme zunehmen würden, sollte eine Reformatierung des Flash-File-Systems erfolgen, um eine vollständige Wiederherstellung zu erreichen. Am 9. März gab es wieder kleinere Probleme mit dem Flash-File-System, aber nicht die gleichen wie zuvor. Daher sollte das System zunächst weiter beobachtet werden. Am 11. März beendete der Rover seinen lokalen „Spaziergang“ und betrachtete nochmals die Newberries bei Kirkwood. Nach 10 Tagen am Ort setzte sich der Rover am 21. März wieder in Bewegung und positionierte sich bei Big Nickel. Diesen Platz beobachtete er etwa 3 Wochen lang, weil wegen der Konjunktion am 18. April keine Kommunikation mit den Marsrovern und -orbitern zwischen dem 9. und 26. April möglich war. Aus diesem Grund waren vom 9. bis 26. April keine Fahrten, sondern nur Bewegungen des Armes und Analysen der unmittelbaren Umgebung geplant. Als am 27. April wieder Kontakt aufgenommen wurde, stellte sich heraus, dass sich Opportunity am 21. April wegen eines Speicherfehlers in einen Standby-Modus begeben hatte. Am 1. Mai konnte der Rover wieder in den normalen Betriebszustand versetzt werden. Am 16. Mai 2013 hatte Opportunity insgesamt 35,76 km zurückgelegt und damit mehr als das Mondauto von Apollo 17. Der Rover mit der größten zurückgelegten Strecke war zu diesem Zeitpunkt aber noch Lunochod 2 mit 39 km. Im Juni wurden die Untersuchungen der Gesteine des Cape York beendet und Kurs genommen auf ein neues Ziel: Solander Point. Dies sind Hügel südlich des Capes, die nach einer Fahrtstrecke von 2,2 km erreicht werden sollten. Dort gibt es nach Norden ausgerichtete Hänge, auf denen Opportunity den nahenden Marswinter überstehen würde. Zweites Halbjahr 2013 (Sol 3353 bis 3531) – Solander Point Am 10. Juli betrug die Energieproduktion immerhin 435 Wh. Es hatte sich weiterhin Staub auf den Paneelen abgelagert, sodass nur 60 % des einfallenden Lichts zur Stromerzeugung verwertet werden konnte. Bei der Fahrt kam der Rover so gut voran, dass beschlossen wurde, einen kleinen Umweg ins Kraterinnere zu wagen. Nach diesem Abstecher wurde der Fuß des Solander Point genannten Hügels um den 8. August erreicht. Für den Aufstieg auf den Hügel wurde eine Route so gewählt, dass der Neigungswinkel der Solarpaneele optimal war. Die Hänge des Solander Point geben Einblick in die Zeit der Noachischen Periode. Gesteine dieser frühen Marsgeschichtsperiode liegen normalerweise unter der Oberfläche des Meridiani Planum verborgen. Erst durch den Einschlag, bei dem der Krater entstand, wurden diese Schichten nach oben gehoben. Solander Point erhebt sich ca. 55 m über dem Meridiani Planum. Am 1. Oktober wurde auch versucht, den Kometen ISON zu fotografieren. Dies misslang, da er nicht hell genug für die Panorama-Kamera des Rovers war. Am 6. Dezember schaltete die Sonde nach Übertragungsproblemen in den Sicherheitsmodus. Die Solarenergieproduktion betrug zu diesem Zeitpunkt nur noch 268 Wh pro Tag. Es ereigneten sich in den darauffolgenden 3 Tagen weitere Übertragungsprobleme. Eine Funktionsüberprüfung zeigte allerdings keine technischen Probleme am System. Am 10. Dezember beendete Opportunity den Sicherheitsmodus wieder. Der Kilometerstand betrug mittlerweile 38,7 km. Erstes Halbjahr 2014 (Sol 3532 bis 3707) – Murray Ridge Anfang 2014 hatte der Rover eine Schrägstellung eingehalten, die die von Norden scheinende Sonne am besten einfing. Der Mars erreichte am 3. Januar 2014 seinen Aphel, den am weitesten entfernten Punkt seiner Umlaufbahn. Am 1. Januar geschah wieder ein Säuberungsereignis der Solarpaneele, durch die die Energieproduktion um 35 Wh auf 371 Wh pro Sol anstieg. Der Rover war an einem Gesteinsaufschluss positioniert, bei dem Beobachtungen von Marssonden kleine Mengen an Tonmineralen nahelegen. Ein Gesteinsbruchstück, genannt Pinnacle Island, welches auf vorigen Aufnahmen nicht vorhanden war, erschien in den Bildern vom 7. Januar erstmals. Wie sich herausstellte, wurde der Stein vom Rover überfahren, woraufhin er an die Position sprang, in der er aufgefunden wurde. Am 25. Januar war der 10. Jahrestag der Landung, was von der NASA entsprechend gefeiert wurde. Die Mission war ursprünglich nur für 3 Monate vorgesehen, konnte jedoch immer wieder verlängert werden. Mit dem Ziel Solander Point und Cape Tribulation fuhr Opportunity am 14. Februar weiter: Auch bei diesen Orten wurde vom Orbit heraus lehmhaltiges Gestein entdeckt, welches auf ehemalige pH-neutrale Wasservorkommen hindeutet. Opportunity sollte dort hinauffahren und die Gesteine kategorisieren. Während des Aufstiegs entlang der Murray Ridge wurde eine Gegend namens Cook Haven genauer untersucht. Mitte April wurden zudem Panoramaaufnahmen gemacht, da hier die Sicht in den Endeavour-Krater hervorragend war. An Sol 3655 (6. Mai 2014) begann Opportunity mit dem ersten einer ganzen Reihe von Schritten, um die Drift der internen Uhr zu korrigieren. Diese Uhr, von der einige wichtige zeitgesteuerte Aktionen des Rovers abhängen, geht leicht falsch. Aufgrund der langen Laufzeit der Mission hat die Uhr inzwischen einen so großen Unterschied zur realen Zeit angesammelt, dass einige Subsysteme davon betroffen sind. Um dies zu korrigieren, wurden im Laufe eines Jahres einige Korrekturen im Sekundenbereich durchgeführt, um die Abweichung schlussendlich zu beheben. Gegen Ende des Marswinters verbesserte sich die Energieproduktion zusehends und stieg auf 661 Wh am 1. April, auch durch die Unterstützung mehrerer Säuberungsereignisse. Opportunity erreichte den Punkt Pillinger Point im Mai und untersuchte diese Gegend mit lehmhaltigem Gestein am Rande des Kraters genauer. Anfang Juni 2014 traten Schreibfehler im Flash-Speicher des Rovers auf, mit der Folge, dass sich der Bordcomputer neu startete. Zweites Halbjahr 2014 (Sol 3708 bis 3886) – Aufstieg zum Cape Tribulation und weitere Speicherfehler Im Juli 2014 überschritt Opportunity den von Lunochod 2 aufgestellten Rekord von 39 km gefahrener Strecke auf einem fremden Himmelskörper. Opportunity fuhr nach Süden entlang des Grates des Solander Points. Anfang Juli 2014 stieg die Stromerzeugung bis auf 745 Wh pro Sol. Durch die gute Energiesituation konnte wieder der Marsmond Phobos in der Nacht beobachtet werden. Zudem wurden mit dem APXS Messungen des Argon-Gehalts der Marsatmosphäre gemacht. Am 7. August wurde Wdowiak Ridge, eine herausstehende Felsformation mit einem angrenzenden Krater (Ulysses), erreicht. Hier bot sich eine sehr gute Aussicht über den Endeavour-Krater und die umliegende Meridiani-Ebene. Jedoch traten weitere Speicherfehler auf, die einen Neustart des Sondenrechners verursachten. Diese Fehler verzögerten die Arbeiten, da jeweils einige Tage vergehen, bis der Fehler identifiziert und behoben war. Um diese Probleme zu beseitigen, wurde der Flash-Speicher neu formatiert, wobei die defekten Speicherbereiche ausgemappt werden. 5 Jahre zuvor konnten Probleme beim Rover Spirit damit behoben werden, bei Opportunity wurde dies erstmals durchgeführt. Dessen Speichereinheiten waren inzwischen 10 Jahre ununterbrochen im Einsatz und der kosmischen Strahlung ausgesetzt. Im September traten trotzdem weitere Fehler mit dem Flash-Speicher auf: Auf den Speicher konnte nach dem morgendlichen Start nicht zugegriffen werden. Am 19. Oktober flog der Komet Siding Spring C/2013 A1 sehr nah (139.000 km) am Mars vorbei. Opportunity war dabei Teil einer Kampagne der ganzen Mars-Raumsonden-Armada, die Aufnahmen und Messungen des Kometen machen sollten. Hierbei gelangen dem Rover tatsächliche einige (verwaschene) Aufnahmen des Kometen. Am 4. November wurden die Messungen bei der Wdowiak Ridge abgeschlossen. Bis zum 17. Dezember fuhr der Rover insgesamt 41,42 km weit. Das nächste Ziel war eine Marathon Valley (nach der Distanz beim Marathonlauf) genannte Vertiefung, ebenfalls eine mögliche Fundstelle von lehmhaltigen Mineralien. Aufgrund der bestehenden Probleme wurde im Dezember 2014 der Flash-Speicher wieder neu formatiert, jedoch ohne Erfolg. Deshalb entschied man sich, den Rover ohne Flash zu betreiben. Dies war möglich, jedoch mussten alle Ergebnisse eines Tages vor dessen „Schlafenlegen“ zurückgesendet werden, denn diese gingen sonst im Schlafzustand des Rechners verloren. Erstes Halbjahr 2015 (Sol 3887 bis 4062) – Spirit-of-St.-Louis-Krater Am 5. Januar erreichte Opportunity den Gipfel des Cape Tribulation, den bisher höchsten Punkt seiner mittlerweile 11-jährigen Reise. Dieser Punkt liegt 135 m höher als die Ebene von Botany Bay, von der aus der Rover den Aufstieg auf den Randhügel begann. Die Techniker versuchten herauszufinden, welcher Teil des Flash-Speichers nicht mehr funktionierte, um ihn zu deaktivieren und den restlichen Speicher wieder nutzen zu können. Nachdem der Flash-Speicher des Rovers drei Monate lang nicht benutzt wurde, um Fehler zu vermeiden, wurde der Speicher am 20. März neu formatiert. Zudem wurde die Software aktualisiert, sodass der Rover die wahrscheinlich defekte Speicherbank Nr. 7 nicht mehr benutzte. (Der Speicher des Rovers beinhaltet u. a. einen 256 MByte Flash-Speicher, eingeteilt in 7 Adressbereiche (Bänke).) Am 27. März trat jedoch wieder ein „Amnesie“-Ereignis auf. Der eigentlichen Grund für diese Fehlfunktionen konnte (Stand: Anfang April 2015) nicht gefunden werden. Auch ließen sich diese nicht immer einer bestimmten Speicherbank zuordnen. Am 24. März 2015 hatte der Rover von der Landestelle aus eine Strecke von 42,195 km zurückgelegt und damit die Länge eines Marathons hinter sich gebracht. Das Marathon Valley wurde als wissenschaftliches Ziel ausgewählt, weil spektroskopische Aufnahmen aus dem Orbit hier offen liegendes Lehmgestein vermuten ließen. Bevor der Rover in das Tal einfuhr, wurde der Krater Spirit of St. Louis untersucht. Innerhalb dieses Kraters existierte eine Felsstruktur, die sich höher erhebt als der Kraterrand. Am 25. April 2015 erreichte der Rover den 4000. Marstag (Sol) seit der Landung im Januar 2004. Im Juni gab es wieder eine solare Konjunktion, in der der Mars aus Sicht der Erde hinter der Sonne vorbeizog. Währenddessen führte Opportunity einige Basisaktivitäten wie z. B. eine APXS-Untersuchung eines ausgewählten Objekts durch. Nach der solaren Konjunktion wurde der Rover immer noch im „RAM-Only“ Modus betrieben, d. h., die ermittelten Daten wurden nicht in den Flash-Speicher kopiert. Das Untersuchungsgebiet von April bis Juni war der Spirit of St. Louis-Krater am westlichen Rand des Endeavour-Kraters. Dieser hat einen verwitterten Kraterrand und einen zerfallenen Zentralberg, informell „Lindbergh“ genannt. Die Energieproduktion der Solarzellen erreichte im ersten Halbjahr 2015 zwischen 395 und 620 Wh pro Sol. Zweites Halbjahr 2015 (Sol 4063 bis 4241) – Einfahrt ins Marathon Valley Anfang des 2. Halbjahrs 2015 begann der Rover die Einfahrt in das Marathon Valley. Dieses erstreckt sich über 330 m von West nach Ost in den Endeavour-Krater hinein. Von den Orbitdaten ausgehend sollte sich hier die höchste Konzentration von Schichtsilikaten befinden. Um eine genauere Karte der Verteilung dieser Silikate zu bekommen, wurde das CRISM-Instrument auf dem MRO im ATO-Modus betrieben (Along-track oversample). Diese Technik erhöht die Auflösung der Daten von 18 m auf ungefähr 5 m pro Pixel. Damit können die Wissenschaftler die Orte der Silikate genauer bestimmen. Die Route durch das Marathon Valley wurde so geplant, dass Opportunity im Marswinter am Südhang entlangfahren würde, damit hier die maximale Energieausbeute erreicht werden kann. Im Juni arbeitete der Rover weiterhin im RAM-Only Modus, während das Flash-Dateisystem untersucht wurde. Am 18. Juli wurde es wieder aktiviert und funktionierte zunächst ganz gut; am nächsten Sol war es dem Rover jedoch nicht möglich, wieder vom Flash-System zu starten. Deshalb wurde wieder in den RAM-Only-Modus gewechselt. Dies erforderte jedoch, dass der Rover aktiv bleiben musste, bis die UHF-Verbindung jedes Sol aufgebaut werden kann. Wird hierfür der Mars Odyssey Orbiter benutzt, kam die Verbindung jeden Sol später zustande. Während des Marswinters konnte sich Opportunity mehr auf den MRO verlassen, da hier die Verbindung früher am Tag stattfinden konnte. Eine zusätzliche Herausforderung, um die Funkverbindung mit den Orbitern aufzubauen, war die Position im Marathon Valley mit seinen hohen Wänden im Norden und Westen. Am 25. September trat ein Reset des Rovers auf, der alle vorgesehenen Aktionen unterbrach. Der Grund des Reset wurde im Flash-System vermutet. Im Dezember wurde der Rover auf einem steilen Abhang positioniert, um die Energieproduktion durch die Solarpaneele zu verbessern. Das Nahziel war, den Rover so zu positionieren, dass mit dem Steinschleifwerkzeug ein wichtiges Untersuchungsobjekt angeschliffen werden konnte. Dieses Objekt sollte Hinweise geben auf die Herkunft der spektralen Signatur von Lehmmineralien, die im Marathon Valley entdeckt wurden. Bis zum 15. Dezember 2015 wurde eine Strecke von 42,65 km zurückgelegt. Erstes Halbjahr 2016 (Sol 4242 bis 4419) – Marathon Valley Im ersten Halbjahr 2016 fuhr der Rover im Marathon Valley insgesamt nur 260 m und kam auf eine Gesamtstrecke von 42,91 km. Ein Grund hierfür war die Winterzeit, mit der Wintersonnenwende am 3. Januar. In dieser Zeit wurden Objekte am Nordhang untersucht, um möglichst viel Energie durch die Solarzellen aufzusammeln. Es wurden mit dem Rock Abrasion Tool (RAT) Steine abgeschabt, um weitere Hinweise auf die spektrale Signaturen von Lehmböden zu bekommen. Anfang Februar kletterte der Rover einen steilen Hang namens Knudsen Ridge hinauf, um dort Objekte mit hohem wissenschaftlichem Potential zu erreichen. Für diesen Zweck wurde auch ein Panorama dieses Hügels aufgenommen. Einige Objekte wurden mit der Mikroskop-Kamera eingehender untersucht. Aufgrund der starken Hangneigung (teilweise bis zu 32°, die bisher steilste Neigung mit der der Rover in seiner bisherigen Mission fahren musste) und lockerem Untergrund führten einige Fahrten zu einem erhöhten Schlupf, so dass diese Fahrten vom Rover abgebrochen wurden. Im März erreichte er eine Gegend, die von den Marssatelliten als lehmreich erkannt wurde. Hiervon machte der Rover Aufnahmen mit der Panorama-Kamera unter Einsatz unterschiedlicher Filter. Hierdurch konnte die mineralogische Zusammensetzung der aufgenommenen Steine abgeschätzt werden. Ende Mai wurde mit einem Rover-Rad ein kleiner Graben gezogen, der dann mit der Mikroskop-Kamera und dem AXPS-Gerät genauer untersucht wurde. Die Messungen der Argon-Konzentration wurden weiterhin durchgeführt. Mit der Navigationskamera wurden auch Aufnahmen für einen Wolkenfilm gemacht. Am 31. März konnte der Rover ein Foto eines Staub-Tornado (dust devil) aufnehmen. Diese sind im Endeavour-Krater wesentlich seltener als im Gusev-Krater, in dem Spirit stationiert war. Ende Juni stand die Untersuchung des Marathon Valleys vor der Vollendung. Im Juni wurde die MER-Mission zum 10. Mal verlängert. Das zentrale Untersuchungsobjekt dieser erweiterten Mission sollte nun die Untersuchung einer kleinen Erosionsrinne („Gully“) im Endeavour-Krater sein. Zweites Halbjahr 2016 (Sol 4420 bis 4598) – Abschluss der Untersuchungen des Marathon Valley Während der Fahrten an den steilen Hängen des Endeavour-Kraters wurden immer wieder autonome Fahrten abgebrochen. In einem solchen Fall führte das Team am nächsten Tag Tests durch, um die Ursache dafür zu finden. Meist war der Abbruch dann dem schwierigen Gelände zuzuordnen. Der Rover deutete steigende Widerstände an mindestens 3 Rädern als Anzeichen für das Einsinken der Räder in den Untergrund. Durch den sofortigen Stopp sollte ein Eingraben des Rovers wie im April 2005 verhindert werden. Hohe Steigungen belasteten die Motoren der Räder aber ebenfalls stärker, weswegen die Software bei diesen Fahrten fälschlicherweise eingriff. Wenn es die Datenübertragungsrate erlaubte, wurde zusätzlich der Flash-Speicher ausgelesen, um Daten für die Fehlersuche zu gewinnen. Im August fuhr der Rover zu einem Gebiet, in dem interessant erscheinende Rinnen aufgefunden wurden. Es wurde spekuliert, dass diese durch flussartige Ereignisse entstanden sein könnten. Ebenso wurden Stereo-Bilder aufgenommen. Hierzu fuhr der Rover zu zwei 5 m voneinander entfernten Punkten und erstellte mit seiner Panorama-Kamera Bilder in mehreren Wellenlängen. Mithilfe dieser Aufnahmen konnte das wissenschaftliche Team eine detaillierte digitale Höhenkarte des Terrains, welches die Rinnen enthält, erstellen. Am 1. September (Sol 4482) fuhr Opportunity durch eine Lücke im Fels (genannt Lewis and Clark Gap) aus dem Marathon Valley heraus, um am Hang des Kraterrandes weitere Untersuchungen durchzuführen. Wie auf dem Mars zu dieser Jahreszeit üblich traten Staubstürme auf. Keiner von ihnen bedrohte den Rover direkt, sie vermindern jedoch die Lichtdurchlässigkeit der Atmosphäre, was sich negativ auf die Energieproduktion des Rovers auswirkte (von 588 Wh am 15. August auf 515 Wh am 13. September). Bis Mitte November kam der Rover auf eine Gesamtstrecke von 43,51 km. Erstes Halbjahr 2017 (Sol 4599 bis 4774) – Fahrt zum Perseverance Valley Anfang des Jahres wurde ein kleines Tal namens Willamette untersucht. Auf Bildern, die aus dem Orbit aufgenommen wurde, waren hier Rillen entdeckt worden. Der Rover hatte beim Fahren die Oberflächenschicht aufgewühlt und dort interessantes helles Material gefunden. Dies wurde mit dem AXPS und dem Mikroskop untersucht. Im Januar machte sich der Rover auf, um einen Graben bzw. eine Rinne einen Kilometer südlich des aktuellen Standorts zu untersuchen. In dieser Umgebung war es jedoch schwierig, den Rover zu bewegen, da die Abhänge bis zu 20° steil waren. Zudem brach der Untergrund unter dem Gewicht des Rovers in loses Material auf. So gab es Abbrüche der programmierten Fahrten, weil ein Rad zu viel Leistung zog. Bei Analyse der danach aufgenommenen Bilder zeigte sich, dass das Oberflächenmaterial zerbröckelte und das Rad deshalb durchdrehte. Die Rinne befindet sich am westlichen Rand des Endeavour-Kraters beim Cape Byron und ist ca. 200 m lang, jedoch nur einige dutzend Meter breit. Auf Orbitalbildern scheint es, als ob sie durch Wasser eingeschnitten worden sein könnte. Hierauf deuten verzweigende Kanäle hin. Ein kleiner, nahegelegener Krater, der dem Kraterrand überlagert ist, zeigt, dass die Rinne eine sehr alte geologische Formation mit einem Alter von 3 bis 4 Milliarden Jahren ist. Die Kommunikation erfolgte unter anderem auch über den MAVEN Orbiter. Im Februar verließ Opportunity den Kraterrand, um in der flacheren Meridiani-Ebene schneller an sein wissenschaftliches Ziel zu kommen. Zudem erstellte der Rover ein neues Farbpanorama namens Rocheport. Ende Februar zog ein paar hundert Kilometer westlich des Rovers ein Staubsturm auf, so dass die atmosphärische Durchlässigkeit an dessen Standort sank. Der Rover konnte jedoch seinen Weg südlich zum Perseverance Valley („Tal der Ausdauer“) im März fortsetzen. Anfang Mai kam der Rover am Perseverance Valley an und begann damit, Stereoaufnahmen für ein detailliertes digitales Höhenmodell des Tals für die Routenplanung zu erstellen. Auf Aufnahmen aus dem Orbit ist auch im Perseverance Valley ein Kanal bzw. Graben zu sehen. Opportunity erstellte Panoramaaufnahmen der Gegend rund um den Rover, um die Morphologie des Kanals und dessen umgebende Strukturen zu dokumentieren. Am 4. Juni war geplant, den Rover in einem kurzen Bogen rückwärts zu bewegen. Hier blockierte jedoch der Motor des linken Vorderrads. Das Rad blieb in einem Winkel von 33° ausgerichtet. Am 8. Juni sollte das Rad wieder gerade in Fahrrichtung ausgerichtet werden. Trotz unterschiedlicher getesteter Stromstärken konnte das Rad nicht bewegt werden. Die gleichen Tests mit dem rechten Hinterrad waren jedoch erfolgreich. Während das Team den Status des Rovers überprüfte und Lösungsmöglichkeiten ausarbeitete, wurden Aufnahmen mit der PanCam durchgeführt. Nach einigen Tagen konnte das Problem behoben werden und der Rover konnte weiterfahren. Die Ursache des Problems ließ sich nicht klären. Das Rad konnte nun so ausgerichtet werden, dass es geradeaus in Fahrtrichtung zeigt. Diese Ausrichtung des Rades vereinfachte die Steuerung des Rovers nun erheblich. Da seit April 2005 auch das rechte Vorderrad nicht lenken kann, wurde ab nun nur noch mit den hinteren Rädern gelenkt. Zweites Halbjahr 2017 (Sol 4775 bis 4953) – Perseverance Valley Vom 22. Juli bis zum 1. August konnte die NASA keine Signale zu den Marssonden und -rovern senden, da der Mars zu dieser Zeit wie immer alle 26 Monate jenseits der Sonne die Position seiner Konjunktion passiert. Opportunity wurde am oberen Rand des Perseverance Valley geparkt. Dort konnte der Rover die nächsten drei Wochen stehenbleiben, bis der den Funkkontakt störende Einfluss der Sonnenstrahlung ausreichend abgeklungen war. Zuvor wurden noch Tests zum Steuern der Räder durchgeführt. Obwohl keine Kommandos gesendet wurden, konnten doch einige Daten von Opportunity an Sol 4797 empfangen werden. Diese eingeschränkte Datenmenge zeigte, dass sich Opportunity in einen Sicherheitsmodus versetzt hatte. Der Rover führte keine der programmierten Sequenzen mehr aus, bis er neue Anweisungen der Bodenkontrolle erhielt. Es wurde vermutet, dass ein Reset des Bordcomputers während der morgendlichen Kommunikationssitzung auf dem X-Band aufgetreten war. Der Rover war stabil und konnte die geplanten X-Band- und UHF-Relaiskommunikationen während des Rests der solaren Konjunktion durchführen. Eine genauere Untersuchung des Problems musste bis zur Wiederaufnahme der Kommunikation nach der Konjunktion warten. Nach der solaren Konjunktion wurden nochmals Aufnahmen gemacht, die aufgrund des Resets während der Konjunktion verloren gegangen waren. Durch den herannahenden Winter sanken die Energiewerte und der Rover war gezwungen, an einigen Tagen nur seine Batterien aufzuladen. Am 8. August betrug die Energieproduktion 319 Wh bei einer atmosphärischen optischen Dicke von  ≈ 0,723 und einem Staubbedeckungsgrad (Staubfaktor) der Solarpaneele von 0,531. Die Strategie für die Fahrten war, das Tal abwärts zu fahren und an Stellen zu halten, die nach Norden geneigt sind oder sonnenbeschienen waren. Diese Strategie wurde „Lily-Pad“ genannt und sollte die bestmögliche Energieausbeute sicherstellen. Die Energieproduktion reichte jedoch aus, während der Wintermonate Forschung zu betreiben. Bisher konnte noch nicht festgestellt werden, ob und wie viel Wasser bei der Entstehung des Perseverance Valley mitgewirkt hatte. Die Forscher erwarteten weitere Hinweise von den Ablagerungen am unteren Ende des Tals. Am 18. Dezember betrug die gefahrene Strecke 45,08 km. Die Energieproduktion betrug 390 Wh, bei  = 0,459 und einem Staubfaktor von 62,2 %. Zwischen dem 8. und 14. November wurden die Solarpaneele durch Wind teilweise vom Staub befreit, dadurch verbesserte sich die Energiesituation etwas. Erstes Halbjahr 2018 (Sol 4954 bis 5129) – Staubsturm über dem Perseverance Valley Anfang des Jahres bewegte sich der Rover entlang des nördlichen Abschnitts eines lokalen Strömungskanals. Durch weitere Reinigungsereignisse lieferten die Solarpaneele mehr Energie und der Rover konnte länger am Tag arbeiten, teilweise auch in der Nacht. Zudem konnte das AXPS über die Nacht betrieben werden. Am 16. Februar 2018 wurde der 5000. Marstag seit der Landung auf dem Mars erreicht. Um dies zu zelebrieren, wurden mit der Mikroskopkamera am Ende des Roboterarms Aufnahmen gemacht, um ein „Selfie“ zu erstellen. Auch wurde ein wissenschaftlich interessanter Gesteinsaufschluss namens „Aguas Calientes“ untersucht. Hierzu wurde das Rock Abrasion Tool (RAT) eingesetzt, welches ein 2 mm tiefes Loch in den Stein schleifen konnte. Von diesem Loch fertigte man mit der Mikroskopkamera ein Mosaik an. Mit dem APXS wurden dann über mehrere Sols Messungen durchgeführt. Zudem wurden mit der PanCam multispektrale Aufnahmen des Gesteins gemacht. Der Staubsturm Im Juni 2018 kam in der Nähe von Opportunity ein lokaler Staubsturm auf. Die ersten Zeichen des noch 1000 km entfernten Sturms wurden am 1. Juni 2018 vom MRO entdeckt. Weitere Wetterberichte vom MRO und dem Mars Color Imager Team deuteten auf einen länger andauernden Sturm hin. Dieser war zwar zu dem Zeitpunkt noch weit vom Rover entfernt, beeinflusste aber die atmosphärische Durchlässigkeit (Opazität) am dortigen Standort. Innerhalb weniger Tage hatte sich der Sturm ausgedehnt. Auf Grund dessen wurden am 4. und 5. Juni Pläne entwickelt, um auf die zu erwartende niedrigere Stromversorgung vorbereitet zu sein. Seitdem hatte sich die Atmosphäre über dem Rover weiter getrübt. Am 3. Juni, dem 5105. Sol, generierten Opportunitys Solarpaneele noch 468 Wh. Die Optische Dicke der Atmosphäre betrug etwa 1,0, das heißt, nur etwa 37 % des ankommenden Sonnenlichts durchdringen die Atmosphäre. Am 4. Juni ging bei  = 2,1 die Energieversorgung auf 345 Wh zurück; am 6. Juni wurden nur noch 133 Wh erzeugt ( ≈ 3,0). Opportunity hat solche hohen -Werte seit dem letzten Staubsturm 2007 nicht mehr erlebt. Damals betrug  ≈ 5,5. Der aktuelle Sturm bewirkte am 10. Juni 2018  ≈ 10,8 und überdeckte bereits eine Fläche von 41 Millionen Quadratkilometern, etwa so viel wie Nordamerika und Russland zusammen und somit ein Viertel der Marsoberfläche. Das Rover-Team erstellte einen weiteren Plan, bei dem der Rover am ersten Sol morgens nur die neuesten Kommandos bekommt und bis zum nächsten Morgen schläft. Danach wachte er am Nachmittag auf, um atmosphärische Messungen mit der Pancam durchzuführen und eine kurze Kommunikationssitzung mit dem MRO Orbiter durchzuführen. Wissenschaftliche Untersuchungen wurden jedoch eingestellt. Der Rover benötigte den von Solarpaneelen erzeugten Strom, um die zentralen elektrischen Komponenten warm zu halten. Die Kälte wurde als Ursache dafür angenommen, dass Opportunitys Zwillingsrover Spirit im Jahr 2010 nicht mehr funktionierte. Solche Staubstürme sind zwar nicht überraschend, treten aber selten auf. Sie können innerhalb kurzer Zeit entstehen und dann Wochen bis Monate andauern. Während des südlichen Marssommers erwärmt das Sonnenlicht Staubpartikel und bringt sie höher in die Atmosphäre. Dadurch entsteht Wind, der wiederum mehr Staub aufwirbelt. Diese positive Rückkopplungsschleife versuchen die Wissenschaftler noch zu verstehen. Opportunitys Team hatte zusätzliche Kommunikationszeiten von NASAs Deep Space Network angefordert, um aktuelle Daten von der Marssonde zu erhalten. Durch die erhaltenen Daten wurde festgestellt, dass die Temperatur des Rovers auf −29 °C gefallen war. Ein Vorteil eines Staubsturms könnte sein, dass die Temperaturunterschiede nicht mehr so stark ausfallen wie sonst auf der Marsoberfläche. Zudem absorbierte der aufgewirbelte Staub Sonnenstrahlung, sodass die Umgebungstemperatur am Standort Opportunitys erhöht wurde. Der Sturm wurde Ende Juni von der NASA als globaler Staubsturm („Planet-encircling Dust Event“ (PEDE)) eingeordnet. Wenn der Tau-Wert noch mehr gestiegen wäre oder die Staubbedeckung der Solarpaneele noch mehr zugenommen hatte, dann war es möglich, dass die Uhr des Rovers ebenfalls nicht mehr funktioniert hat. Ein Ausfall der Uhr hätte die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit komplizierter gemacht, aber nicht verhindert. Es war auch möglich, dass die Batterien durch das komplette Entladen einen Teil ihrer Gesamtkapazität verloren hatten, falls die Zellspannung auf beinahe Null gefallen war. Es wurde jeden Tag nach Signalen des Rovers gehört. Da die Missionsuhr ausgefallen sein konnte, wurde auch während eines größeren Zeitfensters nach Signalen gelauscht. Zudem wurden Kommandos gesendet, mit denen der Rover im Wachzustand einen kurzen Signalton zurücksenden sollte. Es wurde nicht erwartet, dass der Rover sich meldet, so lange sich der Staubsturm nicht wesentlich beruhigt und sich die Atmosphäre wieder signifikant aufgeklärt hatte. Zweites Halbjahr 2018 (Sol 5130 bis 5308) – Ende des Staubsturms und Versuche der Kontaktaufnahme mit dem Rover Seit dem 10. Juni hatte sich der bald 15 Jahre alte Rover nicht mehr gemeldet. Inzwischen war der Sturm in der Endphase, d. h., es fiel mehr Staub aus der Atmosphäre aus als neuer Staub aufstieg. Wenn der Himmel aufklaren würde, sollte sich der Rover wieder aufladen und versuchen, die Kommunikation wieder aufzubauen. Ab Mitte Juli wurden Anzeichen entdeckt, dass sich der Staubsturm abschwächt. Die Bereiche, in denen Staub aufstieg, wurden kleiner und einige Oberflächenstrukturen wurden wieder sichtbar. Seit Mitte August wurde 3000 km um den Standort von Opportunity keine neuen Sturmaktivitäten entdeckt. Seither sank der -Wert. Wissenschaftler hatten mehrere Studien über den Status der Batterien vor dem Sturm und den Temperaturen vor Ort durchgeführt. Weil die Batterien in einem relativ guten Zustand waren, sollten sie nicht zu sehr in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Zudem ist die Umgebungstemperatur während eines Staubsturms eher warm, deshalb sollte der Rover es warm genug haben, um den Sturm zu überleben. Während des Sturms war der Staubgehalt der Atmosphäre auf  ≈ 10,8 gestiegen; der übliche Wert liegt an diesem Ort auf dem Mars bei 0,5. Als sich der Sturm beruhigte, sank auf knapp über 2. Um die Roverbatterien wieder aufzuladen, war ein  < 2 notwendig. Es wurde mehrmals pro Woche mithilfe des Deep Space Networks versucht, mit Opportunity Kontakt aufzunehmen. Die Antennen sandten ein Ping-Signal während der Zeiten, in denen der Rover aufwachen sollte. Dann wurde versucht, Signale von Opportunity zu detektieren. Zusätzlich wurde mit den DSN-Antennen auch eine größere Bandbreite von Frequenzen abgehört. Erstes Halbjahr 2019 (Sol 5309 bis 5351) – Missionsende Die Software des Rovers hatte wahrscheinlich mehrere Ausfälle verkraften müssen: Zu wenig Energie (low-power fault), eine falschgehende Missionsuhr (mission clock fault) und ein falschgehender Zeitgeber bei Kommunikationsausfall (up-loss timer). Seit dem Verlust des Signals hatte das Team wiederholt dem Rover zu unterschiedlichen Zeiten, Frequenzen und Polarisationen mit dem Deep Space Network (DSN) nachgespürt. Hierbei wurde ein „sweep and beep“-Verfahren angewendet. Damit erhoffte man sich, die Komplexität eines Fehlers der Missionsuhr des Rovers zu berücksichtigen. Seit dem Verlust des Signals wurden über 1000 Wiederherstellungskommandos an den Rover gesendet. Anfang 2019 begann am Ort des Rovers die Saison, in der wiederholt Cleaning Events auftraten. Somit wurde erhofft, dass solch ein Ereignis die Solarpaneele reinigt und der Rover dadurch seine Batterien wieder aufladen kann. Es konnte jedoch kein Kontakt aufgebaut werden. Deshalb gab die NASA die Versuche, Kontakt mit Opportunity aufzunehmen, am 13. Februar 2019 auf und beschloss das Ende der Mission. Untersuchte Objekte Da die Meridiani Planum, in der Opportunity landete, sehr flach und eben ist, fallen Felsbrocken schon von weitem auf. Der Felsen Bounce Rock wurde bei Opportunitys Landung von dessen Airbag getroffen, daher sein Name. Er wurde am Sol 65 untersucht. Die Untersuchung der chemischen Zusammensetzung zeigte eine starke Ähnlichkeit zu den Shergottiten, einer Untergruppe der sogenannten Marsmeteoriten. Dies ist ein weiteres starkes Indiz dafür, dass die Marsmeteorite auch wirklich vom Mars stammen. Der Meteorit Heat Shield Rock wurde in der Nähe von Opportunitys Hitzeschild angetroffen (Sol 324) und ist der erste auf einem fremden Planeten entdeckte Eisen-Nickel-Meteorit (93 % Eisen, 7 % Nickel). Der Stein Santorini (untersucht Sol 1713 bis 1749) erwies sich als ein Eisen-Gesteins-Meteorit (Mesosiderit). Er ist 6 cm × 8 cm groß und weist eine ähnliche Zusammensetzung wie die Objekte Barberton (Sol 122) (3 cm Durchmesser) und Santa Catarina (Sol 1045, 14 cm Durchmesser) auf. Es ist möglich, dass diese drei Gesteine Teil des Objekts waren, das den Victoria-Krater schuf. Der Meteorit Kasos wurde am Sol 1884 (12. Mai 2009) untersucht. Block Island wurde am Sol 1957 untersucht. Er ist ein 900 kg schwerer Eisenmeteorit. Ein solcher Körper ist zu schwer, um nach Durchquerung der heutigen Marsatmosphäre unbeschadet zu landen. Daher wird davon ausgegangen, dass früher der Mars eine dichtere Atmosphäre besaß, sodass der Meteorit weicher landen konnte. Mit der Mikroskopkamera wurden dreieckige Strukturen entdeckt, die Ähnlichkeiten zu Strukturen von Eisen-Nickel-Meteoriten auf der Erde haben (Widmanstätten-Strukturen). Diese Strukturen entstehen im Inneren durch extrem langsames Abkühlen über Jahrmillionen und werden an der Oberfläche sichtbar, wenn sie durch Wind und Sand geeignet erodiert werden. Zudem wurden lochartige Höhlen gefunden, anhand deren Struktur die Verwitterungsgeschichte des Meteoriten ermittelt werden kann. Am Sol 2020 (2. Oktober 2009) wurde ein weiterer Eisenmeteorit namens Shelter Island untersucht. Er hat einen Durchmesser von 47 cm und ist nur 700 m von Block Island entfernt. Auch dieser Meteorit ist stark verwittert, hat eine poröse Oberfläche und zeigt an seiner Oberfläche ebenfalls wie Block Island die Widmannstättenschen Figuren. Der Meteorit Mackinac wurde am Sol 2035 (16. Oktober 2009) erreicht. Er wurde nicht weiter im Detail untersucht, da auch dieser Meteorit ein Eisenmeteorit mit Ähnlichkeiten zu den vorigen untersuchten Objekten ist. Der Stein Marquette Island wurde von November 2009 bis Januar 2010 untersucht. Auf Grund des geringeren Nickelgehalts als bei den anderen gefundenen Meteoriten wird angenommen, dass Marquette Island marsianischen Ursprungs ist. Der Stein enthält mehr Magnesium als die Basaltgesteine, die Spirit untersucht hatte. Marquette Island besteht aus grobkörnigem Gestein und Basalt. Diese Zusammensetzung deutet darauf hin, dass der Stein langsam abkühlte, weil so die Kristalle Zeit zum Wachsen hatten. Deshalb gehen Geologen davon aus, dass der Stein tief in der Marskruste entstanden ist. Pinnacle Island ist die Bezeichnung eines 2014 überraschend vorgefundenen Steins, der in Größe und Form einem Berliner Pfannkuchen ähnelt und der zwölf Marstage vorher dort noch nicht lag. Er ist vermutlich während eines Fahrmanövers durch ein Rad des Rovers dorthin katapultiert worden. Der Stein ist außen weißlich, im Zentrum rötlich. Der NASA-Wissenschaftler Steve Squyres sagte, es sei nicht vergleichbar mit allem, was man vorher gesehen habe. Das Innere sei sehr schwefel- und magnesiumhaltig. Der Stein enthalte zudem doppelt so viel Mangan wie die Forscher üblicherweise in den Marsproben gemessen hätten. Die weitere Untersuchung werde noch Wochen dauern. Wissenschaftliche Ergebnisse Belege für ehemals flüssiges Wasser auf dem Mars Hinweise vom Boden auf ehemals flüssiges Wasser auf dem Mars konnte die NASA erstmals am 2. März 2004 vermelden: Opportunitys Instrumente entdeckten hohe Schwefelkonzentrationen im Gestein, wie sie unter irdischen Bedingungen meist nur in Gips bzw. Anhydrit (beides Calciumsulfat mit unterschiedlicher Menge an Kristallwasser) zu finden sind. Gips- bzw. anhydrithaltiges Gestein entsteht auf der Erde fast ausschließlich durch Eindampfung mineralhaltiger Wässer und zählt daher zu den Evaporiten. Des Weiteren fanden die Instrumente des Rovers Jarosit, ein Eisen-Schwefel-Mineral, das auf der Erde ebenfalls nur unter Mitwirkung von Wasser entsteht. Auf der Erde ist das Vorkommen dieser Salze in den vorliegenden Konzentrationen ein eindeutiges Anzeichen dafür, dass das Gestein entweder in offen stehendem Wasser ausgefällt wurde oder über einen längeren Zeitraum hinweg Grundwasser ausgesetzt war. Diese Entdeckungen waren mit den beiden in Deutschland entwickelten, nur faustgroßen und damit extrem miniaturisierten Instrumenten APXS (Alpha Particle X-Ray Spectrometer) und MIMOS II (Miniaturisiertes Mößbauer-Spektrometer) möglich geworden. Das APXS vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz ist ein Strahlungsdetektor, dessen Herzstücke, die Alpha- und Röntgenstrahlungshalbleiterdetektoren, von der Münchener Firma KETEK entwickelt und hergestellt wurden. Das MIMOS II wurde an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz entwickelt. Hochauflösende Nahaufnahmen der feingeschichteten Sedimente zeigten außerdem zentimetergroße tafelförmige Hohlräume, wie sie entstehen, wenn wasserlösliche Kristalle, etwa von Gips, anderen Sulfaten oder Dolomit wieder aus dem Gesteinsverband herausgelöst werden. Darüber hinaus wurden regelmäßig verteilte, millimetergroße und kugelrunde Mineralaggregate zunächst unbestimmter Zusammensetzung in großer Zahl im Gestein entdeckt, die bald als Konkretionen gedeutet werden konnten, wie sie in wässrigem Milieu entstehen. Dass die Kügelchen im Gestein selbst entstanden sind, konnte an den Lagerungsverhältnissen erkannt werden: sie liegen im Gestein, ohne die millimeterfeine Schichtung irgendwie erkennbar zu stören, was der Fall sein müsste, wären sie etwa als Gerölle oder vulkanischer oder meteoritischer Niederschlag von außen eingetragen worden. Etwas später konnten spektroskopisch hohe Hämatitkonzentrationen in diesen Konkretionen erkannt werden, was die obige Interpretation weiter erhärtete. Angesichts dieser Entdeckungen konnte die NASA von der Formation als ehemals soaking wet (tropfnass) sprechen. Zunächst war unklar, ob das Wasser an der ursprünglichen Entstehung der Schichten selbst beteiligt war, also am Ort offen an der Oberfläche stehend vorhanden gewesen war, oder ob die beobachteten Gesteinseigenschaften auf die nachträgliche Einwirkung unterirdischer Wässer (Grundwasser oder hydrothermale Lösungen) zurückzuführen waren. Belege für ehemals offen stehendes bewegtes Wasser Einer NASA-Mitteilung vom 23. März 2004 zufolge kann als sicher gelten, dass an der Landestelle früher ein offener flacher Salzsee oder Ozean bestanden hat. Der Rover konnte in einer Serie von über 200 Mikrofotos an einem Teilaufschluss der anstehenden Gesteinsschichten Sedimentstrukturen räumlich erfassen, deren irdische Äquivalente nur durch bewegtes Wasser entstehen (cross-bedding Schrägschichtung). Die Wissenschaftler interpretieren diese Gesteine als Reste einer ehemaligen Küstenlinie und weisen darauf hin, dass genau solche Ablagerungen, wie sie hier angetroffen wurden, eventuelle (Mikro-)Fossilien oder andere Spuren biologischer Aktivität hervorragend konservieren würden. Eine Rückkehr in die Gegend zum Zwecke einer automatisierten oder auch konventionellen Probennahme wäre damit sehr wünschenswert und auch wahrscheinlich. Auf Satellitenbildern ist zu erkennen, dass die in Frage stehenden Schichten, ein helles, feingeschichtetes Gesteinspaket, offenbar über mindestens mehrere tausend Quadratkilometer verbreitet sind. Diskussion bisheriger Entdeckungen Die Doppelmission der Mars Exploration Rovers darf als in technischer und wissenschaftlicher Hinsicht außerordentlich erfolgreich gelten. Sie knüpft damit an die größten historischen Erfolge der NASA an und steht in einer Reihe mit den bemannten Mondlandungen, den Pioneer-, Voyager- und Viking-Sonden und stellt damit eine technische Höchstleistung dar. Es ist zum ersten Mal der Nachweis direkt vor Ort gelungen, dass auch auf anderen Planeten flüssige Wasservorkommen und damit die Voraussetzungen für die mögliche Entstehung von Leben auf dem Mars existieren oder existiert haben. Erstmals wurden Sedimentgesteine eines fremden Planeten untersucht. Eine Neuheit war auch, dass Datenmaterial aus der Erkundung eines fremden Himmelskörpers über das Internet annähernd in Echtzeit öffentlich zugänglich gemacht wurde, noch bevor die Projektbeteiligten selbst es auswerten konnten. Die Untersuchung der chemischen Zusammensetzung von Bounce Rock, einem Stein, der von Opportunity bei der Landung beinahe getroffen worden wäre, zeigen eine starke Ähnlichkeit zu den Shergottiten, einer Untergruppe der sogenannten Marsmeteoriten. Dies ist ein weiteres starkes Indiz dafür, dass die Marsmeteorite tatsächlich vom Mars stammen. Siehe auch Liste der Raumsonden Liste von künstlichen Objekten auf dem Mars Quellen NASA: Mars-Rover-Webseite (englisch) NASA: Missionsdetails (englisch, PDF, 1,5 MB) Weblinks Mars Exploration Rover – Webseite vom JPL der NASA (englisch) Opportunity Update Archive beim JPL (englisch) Mars Exploration Rover – Sonderseite von Raumfahrer.net Galerie mit allen Fotos von Opportunity (englisch) Logbuch des Mars-Rover „Opportunity“ Daten zu Opportunity bei Solarviews (englisch) Die Mars Exploration Rover Wacht der Marsroboter jemals wieder auf? Einzelnachweise Marssonde NASA Mars Exploration Rover Mission Marsrover Raumfahrtmission 2003 Astrobiologie Astronomische Beobachtungseinrichtung als Namensgeber für einen Asteroiden
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https://de.wikipedia.org/wiki/Progressive%20Rock
Progressive Rock
Progressive Rock (kurz Prog oder Progrock) ist eine Musikrichtung, die Ende der 1960er Jahre entstand, als Musiker Rockmusik um stilistische Merkmale anderer musikalischer Gattungen ergänzten. Dabei wurden Kompositionsweisen und Harmonik aus der abendländischen Klassik einbezogen. Die Bands griffen auch auf Einflüsse aus Jazz (Jazzrock) und nicht-westlichen Formen zurück (Weltmusik). Definition „Progressiv“ bedeutet „fortschrittlich“. Der Musiker Keith Emerson beschreibt das von ihm mitgestaltete Genre als durch ein fortschreitendes Spiel mit musikalischen Ideen geprägt: Eine weitere Deutung des Begriffs wurde von Robert Fripp vorgeschlagen, Gitarrist des Genrevorreiters King Crimson. Er sieht Progressive Rock weniger als stringenten Stil denn als Haltung. Diese zeichne sich aus durch den Willen zur Neudefinition der stilistischen und konzeptuellen Grenzen der Rockmusik unter Anwendung prozeduraler Abläufe aus klassischer Musik und Jazz. An dem Zeitpunkt, an dem sich aus dieser Haltung heraus ein neues Gefüge von Konventionen eines eigenen Stils entwickelt hatte, betrachtete er den progressiven Charakter als hinfällig und beendete vorerst seine Aktivitäten innerhalb des Genres. Das geschah im Jahr 1974, als die erste Inkarnation des Genres noch in seiner kommerziellen Blüte stand. Deutungen der Bezeichnung Progressive Rock als konkreter Stil lassen sich ab 1969 belegen. Bereits zuvor trat sie als Name eines in den USA geprägten Radioformats auf, das in den späten 1960ern entstand. Die betreffenden Sender verstanden sich als Sprachrohr der Jugendkultur und spielten unterschiedliche Arten von Rockmusik, die von den hitparadenorientierten Sendern ignoriert wurden, worunter sich auch lange und experimentelle Stücke des Psychedelic Rock befanden. Damit boten sie auch eine Plattform für die zunächst vor allem britischen Bands dieser Musikrichtung. Geschichte Die Geschichte des Progressive Rock lässt sich zeitlich in vier Abschnitte gliedern. Als ersten, „proto-progressiven“ Abschnitt sieht man die späten 1960er Jahre an, in denen die Wurzeln des Progressive Rock liegen. Die zweite Phase wird oft als „klassische Phase“ des Prog bezeichnet und ist den frühen und mittleren 1970er Jahren zuzuordnen. Der dritte Entwicklungsschritt liegt in den 1980er Jahren, in denen es unter anderem durch den Neo-Prog zu einer „Renaissance“ des Progressive Rock kam. Einen weiteren Abschnitt schließlich stellen Entwicklungen wie der Progressive Metal von den 1990er Jahren bis heute dar. Die Wurzeln Die Ursprünge des Progressive Rock finden sich vor allem im Großbritannien der 1960er Jahre. Einige Rockbands versuchten ihre auf den einfachen Bluesstrukturen beruhende und konventionell, meist mit Gitarre, Bass und Schlagzeug instrumentierte Musik um neue musikalische und textliche Dimensionen zu erweitern. Auch der politische Aktivismus, der in Verbindung mit den damaligen gesellschaftlichen Entwicklungen stand, trug zur Entstehung eines neuen Genres bei, dessen Protagonisten und Publikum sich fernab von althergebrachten musikalischen Schemata, unter Verwendung von für die damalige Rockmusik unüblichen Instrumenten, mit neuen Formen der Musik beschäftigten. Das Aufkommen elektronischer Tasteninstrumente wie Mellotron und später Synthesizer sowie die seit den 1930er Jahren vor allem im Jazz gebräuchliche Hammond-Orgel beeinflussten die Entwicklung des Progressive Rock in den späten 1960er Jahren. Neu waren aber nicht nur die elektronischen Instrumente in der Rockmusik. Auch Instrumente und musikalische Strukturen aus dem Jazz und der klassischen Musik ließ man in der Anfangszeit des Progressive Rock in die Musik einfließen. So wurde die klassische Besetzung einer Rockband aus Gitarre, Schlagzeug und Bass zunächst um Flöte, Saxophon, Streichinstrumente oder Blechblasinstrumente erweitert, später wurden auch exotische Instrumente (z. B. die Sitar aus dem mittelöstlichen Kulturkreis) ein Bestandteil des Progressive Rock. Der Progressive Rock erweiterte die herkömmliche Rockmusik aber nicht nur musikalisch, sondern die Vorreiter dieses Genres bearbeiteten in ihren Texten auch neue Themen. Während sich die Rocksongs der 1960er Jahre noch hauptsächlich mit alltäglichen Themen und der Liebe beschäftigten, entwickelten die Musiker des Progressive Rock bereits Konzeptalben, die einem textlichen und musikalischen Konzept folgten, oft motiviert und angetrieben durch eine gesellschaftliche oder politische Aussage oder mit fiktiven, narrativen bis hin zu surrealen Akzenten und Ansprüchen. Aus den neuen, elektronisch geprägten Möglichkeiten entstand so Musik, deren Texte sich politischer und gesellschaftskritischer äußerten, sowie Musik, die sich zunächst mit Drogen auseinandersetzte (psychedelische Phase), dann klassische und volksmusikalische Elemente einbezog (klassische Phase), um schließlich Jazz-Elemente (Konzept-Phase) aufzunehmen. Tatsächlich war der Jazz inzwischen wesentlich weiter entwickelt. Frühe Beispiele für progressive Tendenzen sind Bands wie die Beach Boys mit ihrem Album Pet Sounds (1966) oder die Beatles mit Rubber Soul (1965) und Revolver (1966). Aber auch andere Künstler und Bands wie Frank Zappa, Cream und The Moody Blues sind zu den Wurzeln des Progressive Rock zu zählen. Als erste Progressive-Rock-Bands werden hauptsächlich Procol Harum 1968, The Nice 1967 und King Crimson 1969 angesehen. Es finden sich jedoch Elemente des progressive Rock bereits bei den frühen Pink Floyd 1967 und Jefferson Airplane 1967. Die klassische Phase Als klassische Phase des Progressive Rock bezeichnet man die Aktivitäten der Hauptvertreter des Genres von 1968 bis etwa 1976. Zu den wichtigsten Bands dieser Zeit zählen die britischen Gruppen Emerson, Lake and Palmer, Genesis, King Crimson, Pink Floyd und Yes. Neben ihnen gehören Camel, Gentle Giant, Jethro Tull, Kansas, Manfred Mann’s Earth Band, Mike Oldfield, Procol Harum und Van der Graaf Generator zu den einflussreichsten Interpreten jener Zeit. Weitere Gruppen, die im Umfeld des Prog Rock beachtet werden müssen, aber nicht als typische Vertreter gelten, sind die Bands des Canterbury Sound sowie Iron Butterfly, Traffic, Uriah Heep (siehe klassischer Hard Rock), und auch die Hardrockband Deep Purple. Großbritannien Als erstes Album der Geschichte des Progressive Rock gilt In the Court of the Crimson King von King Crimson aus dem Jahr 1969. Auf diesem Album nimmt die Band um Gitarrist Robert Fripp bereits viele typische Elemente des Genres vorweg, die sich stilprägend auf zahlreiche weitere Bands und Alben auswirkten. Das Album zeichnet sich vor allem aus durch den intensiven Einsatz des Mellotrons, lange und virtuose Instrumentalteile, rhythmische und harmonische Komplexität sowie surreale Texte. Im folgenden Jahr 1970 veröffentlichten viele der bekannten Bands der klassischen Phase des Progressive Rock ihre ersten Alben. Dazu zählen das Album Emerson, Lake & Palmer von der gleichnamigen Band, Trespass von Genesis und das selbstbetitelte Debütalbum von Gentle Giant. 1971 folgte Yes mit The Yes Album. Auf diesen Alben konnten die wichtigen Bands des Genres damals erstmals ihre neuartige, revolutionäre Musik ausleben. Nach diesen ersten Alben des Progressive Rock veröffentlichten die Hauptvertreter des Genres bis Mitte der 1970er Jahre ihre „Klassiker“, auf denen sie ihren Stil weiterentwickeln konnten. Zu den bekanntesten und am meisten beachteten Alben dieser Zeit gehören: Genesis: Nursery Cryme (1971), Foxtrot (1972), Selling England by the Pound (1973), The Lamb Lies Down on Broadway (1974), A Trick of the Tail (1976) und Wind & Wuthering (1976) Yes: The Yes Album (1971), Fragile (1971), Close to the Edge (1972), Tales from Topographic Oceans (1973), Relayer (1974) und Going for the One (1977) King Crimson: In the Court of the Crimson King (1969), In the Wake of Poseidon (1970), Lizard (1970), Islands (1971), Larks’ Tongues in Aspic (1973), Starless and Bible Black (1974) und Red (1974) Emerson, Lake & Palmer: Emerson, Lake & Palmer (1970), Pictures at an Exhibition (1971), Tarkus (1971), Trilogy (1972) und Brain Salad Surgery (1973) Jethro Tull: Aqualung (1971), Thick as a Brick (1972) und A Passion Play (1973) Pink Floyd: Meddle (1971), The Dark Side of the Moon (1973), Wish You Were Here (1975), Animals (1977) und The Wall (1979) Mike Oldfield ging 1973 mit Tubular Bells einen neuen Weg. Es handelte sich um ein albenfüllendes, zweiteiliges Werk, das aus vielen verschiedenen Abschnitten bestand. Oldfield durchbrach die Schranken der Rockmusik und schuf einen Sound, der als Mischung aus Rock, Klassik und Weltmusik beschrieben werden kann. Dabei griff er ein von Komponisten der Minimal Music wie Steve Reich, Philip Glass oder Terry Riley entwickeltes Konzept auf: die langsame, aber permanente, kaum bewusst wahrzunehmende Veränderung eines harmonisch meist recht einfachen Musters, was eine ständig fließende Musik von oft hypnotischer Wirkung ergibt. Eine Besonderheit des Albums war, dass Mike Oldfield damals (fast) alle der zahlreichen Instrumente (Piano, Glockenspiel, Orgel, Bass, verschiedene Gitarren, Percussion, verschiedene Blasinstrumente etc.) selbst einspielte. Auch die britische Band Camel konnte in den 1970er Jahren einige beachtete Prog-Alben veröffentlichen. Besonders erfolgreich war die Band um den Gitarristen und Sänger Andy Latimer mit ihrem 1974 erschienenen Album Mirage. The Alan Parsons Project beschäftigte sich in seinem Debüt-Album Tales of Mystery and Imagination (1976) mit den Werken des amerikanischen Schriftstellers Edgar Allan Poe. Eine weitere bekannte Prog-Band der 1970er war Gentle Giant. Diese Band zeichnete sich durch ihren mehrstimmigen Gesang, eine reichhaltige Instrumentierung, vor allem aber ihre kontrapunktische Kompositionstechnik aus. Jedes Bandmitglied spielte mehrere Instrumente. Die Band konnte die Kritiker in den 1970er Jahren mit mehreren Alben begeistern. Am bekanntesten dürften In A Glass House (1973) und The Power And The Glory (1974) sein. Die britische Band Van der Graaf Generator hingegen wurde durch eine düstere Grundstimmung auf ihren Alben, den ausdrucksstarken Gesang Peter Hammills und ihre von Saxophon und Orgel dominierte Musik bekannt. Eine der ältesten Prog-Bands ist Jethro Tull, deren Musik eine Schnittmenge mit dem Folk-Rock bildet. Die Band um Sänger, Gitarrist und Flötist Ian Anderson wurde in den 1960er Jahren gegründet. Markenzeichen der Band sind die Querflöten-Soli von Anderson. Mit Thick as a Brick brachte die Band 1972 ein vielbeachtetes Konzeptalbum auf den Markt, das zwei zusammenhängende Stücke (die nur wegen der kurzen Laufzeit einer LP von 23 Minuten pro Seite getrennt werden mussten) von insgesamt 43:50 Minuten enthält. Zu den wichtigsten Alben sonstiger Prog-Bands dieser Phase gehören Van der Graaf Generator: The Least We Can Do Is Wave to Each Other (1970), H to He, Who Am the Only One (1970), Pawn Hearts (1971), Godbluff (1975) und Still Life (1976) Gentle Giant: Gentle Giant (1970), Acquiring the Taste (1971), Three Friends (1972), Octopus (1972), In a Glass House (1973), The Power and the Glory (1974) und Free Hand (1975) Deep Purple: Fireball (1971) Mike Oldfield: Tubular Bells (1973), Hergest Ridge (1974) und Ommadawn (1975) Manfred Mann’s Earth Band: Messin’ (1973), Solar Fire (1973) und Nightingales & Bombers (1975) Die Bands der Stilfindungsphase waren geographisch auf den südenglischen Raum konzentriert. Von dort ausgehend, verbreitete sich der Progressive Rock im Verlauf der 1970er Jahre international. Nordamerika US-amerikanische Bands wie Kansas, Pavlov’s Dog, Utopia, Starcastle, Happy the Man, Hands und Yezda Urfa sowie die Kanadier Rush und Klaatu erweiterten den klassischen Prog um Einflüsse aus Bluesrock und Country-Rock und verliehen ihm durch besonders bombastische Arrangements und Produktion eine eigene Note. Hands und Yezda Urfa haben es in den 1970ern nicht geschafft, einen Plattenvertrag an Land zu ziehen; ihre Alben wurden erst viel später veröffentlicht (1996–2004). Die Rockbands Kansas und Rush, die beide seit 1974 aktiv sind, zählen bis heute zu den wichtigen Vertretern des Genres. Deutschland In Westdeutschland waren es in erster Linie Grobschnitt, Hoelderlin, Novalis, Triumvirat, Pell Mell und Eloy, die mit ihrem symphonischen Stil überregionale Bekanntheit und teilweise sechsstellige Verkaufszahlen erzielen konnten; auch die Band Tangerine Dream wird dazugerechnet. Sie traten damit das Erbe der Krautrock-Gruppierungen an, die bereits ab den späten 1960ern mit experimentellen Klängen auf sich aufmerksam gemacht hatten. Weniger bekannte Bands wie Neuschwanstein und Anyone’s Daughter orientierten sich eng an den britischen Vorbildern (besonders Genesis), ohne wirklich eigenständige Impulse zu setzen. Originellster und eigenständigster Prog-Export Deutschlands sind wohl die in Vergessenheit geratenen Schicke Führs Fröhling aus Norddeutschland, die mit ihrem instrumentalen, vom Jazzrock inspirierten Progressive Rock nicht nur Frank Zappa beeindruckten, sondern auch als wichtiger Einfluss auf Retro-Prog-Bands wie Änglagård gelten. Eine weitere Formation war Nektar, die 1973 das ambitionierte first-take-Album sounds like this veröffentlichten und kurzzeitig Popularität in den USA erlangten. In der DDR gab es im Verhältnis zur Größe des Landes eine beachtliche Anzahl an Prog-Bands. Sie übernahmen häufig eine Stellvertreterrolle für westliche Künstler, die im Osten nicht spielen durften. In den 1970er Jahren entwickelten die Bands allerdings einen eigenen, teilweise recht eigenwilligen Stil und produzierten auch kommerziell erfolgreiche Werke, die fast ausschließlich in deutscher Sprache verfasst waren. Der progressive Rock der DDR-Formationen war selten bombastisch, sondern wies eher eine Tendenz zu liedhaften Stücken und Artrock auf. Zahlreiche Bands spielten auf Konzerten Prog-Rock-Titel abwechselnd mit leichterem Artrock oder bluesigen Stücken. Als kommerziell erfolgreichster Song kann Über sieben Brücken von Karat gelten, der Titelsong des gleichnamigen Albums wurde seinerzeit von Peter Maffay gecovert. Der blaue Planet von 1982 entwickelte sich mit mehr als 1,4 Millionen verkauften Schallplatten zum kommerziell erfolgreichsten Album, das allerdings bereits Tendenzen in Richtung Popmusik aufwies. Bedeutende Formationen waren in den 1970ern neben Karat Electra, Stern-Combo Meißen und Lift. Vor allem letztere galten seinerzeit als ein großes Live-Ereignis, was sich auch im Studio niederschlug. Sie waren die vielleicht ambitionierteste Prog-Rock-Band des deutschsprachigen Raums und stachen nicht zuletzt durch den Verzicht auf Saiteninstrumente heraus, welche durch elektronische Klänge ersetzt wurden. Im Jahre 1978 starben zwei prägende Mitglieder bei einem Verkehrsunfall, der Erfolg der Band ließ bald darauf nach. Die Nähe zum Liedhaften und zum Blues zeigte sich besonders bei Karussell, die allerdings mit was kann ich tun im Jahre 1984 die vielleicht gewaltigste Progrock-Nummer in deutscher Sprache ablieferten. Eine weitere damals populäre Formation, die einen besonders eigenwilligen Stil des Prog-Rock spielte, war Reform. Wie alle frühen Rock-Alben der DDR, leiden auch viele Prog-Veröffentlichungen unter einer schlagermusikhaften Abmischung. Erst in den späten 1970ern entwickelte sich auch in den Studios der DDR ein Verständnis dafür, wie man Rockmusik produziert, damit sie auch wirklich nach Rockmusik klingt. In den 1980ern vollzogen die Bands ähnlich wie die Prog-Rocker im Westen eine Veränderung des Stils in Richtung einfacher, tanzbarer Titel. Auch die bisher oft abstrakten Texte wurden simplifiziert. Vielfach gingen die ursprünglichen Elemente des Prog-Rock dabei sogar gänzlich verloren: Karussell, Stern Meißen und Electra degenerierten zu stilarmen Popmusik-Formationen, gleichwohl stellte sich dadurch der größte kommerzielle Erfolg für diese Gruppen ein. Nur wenige Bands produzierten nach der Wende neue Titel, dennoch touren sie vielfach mit altbewährtem Live-Programm und veränderter Besetzung bis heute durch das Land. Nicht zuletzt der politischen Isolation und den Texten in deutscher Sprache mag es geschuldet sein, dass nur wenige Titel internationale Bekanntheit erlangten. Italien Auch Italien besaß in den 1970ern eine blühende Progszene, die sich allerdings auf internationaler Ebene wegen des italienischen Gesangs weniger stark behaupten konnte. Ausnahmeerscheinungen sind hier die Gruppen Premiata Forneria Marconi und Banco del Mutuo Soccorso, die durch die Veröffentlichung von eigens in englischer Sprache gesungener und neu eingespielter Alben auch außerhalb Italiens bekannt wurden. Wichtige Vertreter des sogenannten „Italo-Progs“, der neben den typischen Zutaten des „klassischen Progs“ besonders mediterrane Gitarrenarrangements, lyrischen Gesang und verstärkten Einsatz von Tasteninstrumenten aufweist, sind Il Balletto di Bronzo (mit dem Album Ys), Le Orme (mit den Alben Uomo di Pezza, Felona e Sorona sowie Contrappunti), Museo Rosenbach (Zarathustra) und Arti & Mestieri (Tilt, Giro Di Valzer Per Domani) oder die New Trolls (Concerto grosso per i New Trolls, Ut und Night On The Bare Mountain). Übriges Europa Weitere europäische Nationen brachten in den 1970er Jahren Vertreter des Progressive Rock hervor; nicht selten entstanden dabei einzigartige Verschmelzungen der Musik von britischen Vorbildern mit den jeweiligen landestypischen Musikstilen. In Frankreich kombinierten Ange (Au-delà du délire) symphonischen Prog mit französischem Chanson. Triana aus Spanien ließen in ihre Alben (El Patio, Sombra Y Luz) den Flamenco ihrer andalusischen Heimat einfließen, ähnlich die Band Guadalquivir, die teilweise zum Jazzrock neigte. Die Schweden Kaipa (Inget nytt under solen) versetzten ihre Spielart des Progressive Rock mit folkloristischen Einschlägen sowie Bo Hansson und sein Konzeptalbum von 1970 zu J. R. R. Tolkiens Der Herr der Ringe mit fantastischen Anklängen. Der Einflussbereich reichte bis nach Osteuropa, wo Bands wie Omega aus Ungarn (Skyrover), teils unter Duldung durch die sozialistischen Regierungen, westlichen Vorbildern nacheiferten. Ende der klassischen Phase Mitte der 1970er hatte der Progressive Rock seinen Höhepunkt erreicht. Nun kam es bei einigen Bands zu personellen und musikalischen Umbrüchen. So verließen z. B. Peter Gabriel (1975) und Steve Hackett (1977) Genesis und Phil Collins (1976) übernahm die Rolle des Sängers. Das hatte einen Stilwechsel hin zur Popmusik zur Folge. Ähnlich entwickelten sich viele der kommerziell erfolgreicheren Bands des Genres, indem sie sich zunehmend der einträglicheren Popmusik zuwandten. Zudem erklärte die aufkommende Punk-Bewegung den nun als prätentiös und aufgeblasen geltenden Progressive Rock Ende der 1970er Jahre für „tot“ (und seine Musiker für „boring old farts“, zu deutsch „langweilige alte Säcke“). Allerdings nahmen in den 1980er Jahren Bands wie Marillion die Idee des Prog Rock wieder auf und setzten ihn auf ihre Weise um. Die 1980er Jahre Nach der klassischen Phase des Prog verschwand diese Art der Rockmusik ab Mitte der 1970er Jahre plötzlich aus dem öffentlichen Interesse. Die zuvor noch gefeierten Größen des Progressive Rock galten nun als altmodisch, bieder und zu anspruchsvoll. Der Zeitgeist wandte sich zu Beginn der 1980er Jahre anderen musikalischen Entwicklungen wie dem New Wave zu. Auch die „härteren“ Musikrichtungen Hardcore Punk und Heavy Metal gewannen an Bedeutung. In der DDR hatte der Prog-Rock eine gewisse Eigendynamik entwickelt, die Abkehr vom klassischen Stil trat erst um 1982 ein. Trotz dieser gesellschaftlichen und musikalischen Entwicklungen erlebte der Prog in den 1980er Jahren eine Wiedergeburt. Einige zu Beginn der Dekade gegründete Gruppen hatten Bands wie Genesis, Yes oder King Crimson zum Vorbild und versuchten anfangs, deren Musikstil zu kopieren. Besonders von den frühen Marillion wird behauptet, dass sie versuchten, ihr großes musikalisches Vorbild Genesis zu imitieren. Das hatte zur Folge, dass man Marillions Sänger Fish lange vorhielt, nur eine Kopie Peter Gabriels zu sein. Ein gutes Beispiel für diese Tendenz bei Marillion ist ihr Longtrack Grendel, der dem bekannten Titel Supper’s Ready von Genesis angeblich sehr ähnelt. In den folgenden Jahren wurden Bands wie Marillion immer eigenständiger und es entwickelte sich ein neuer Musikstil, der Neo-Prog. Unter diesem Begriff fasste man von nun an die Musik der 1980er Jahre zusammen, die sich musikalisch auf die Prog-Bands der 1970er Jahre bezog. Viele stilistische Elemente der klassischen Phase wurden übernommen und zum Teil neu interpretiert. Die Instrumentierung wurde vor allem im Bereich der Keyboards ausgebaut, was aus den neuen Technologien im Bereich der elektronischen Tasteninstrumente resultierte. Man kann die Musik des Neo-Prog daher als stark vom Keyboardeinsatz geprägt klassifizieren. Die typischen Vertreter des Neo-Prog legten zudem mehr Wert auf eingängige Melodien. Dadurch wurden einige Titel aus der Neo-Prog-Szene zu international erfolgreichen Hits. Zu den bekannten Vertretern des Neo-Prog zählen neben Marillion IQ, Saga und die Supergroup Asia. Einige Alben der Szene konnten durch erfolgreiche Hits große Bekanntheit erlangen. Dazu zählen vor allem die Alben Misplaced Childhood (1985) von Marillion mit den Singlehits Kayleigh und Lavender sowie das Album Asia (1982) von der gleichnamigen Band, das durch den Song Heat of the Moment ein Verkaufserfolg wurde. Diese Singlehits beruhen aber auf einfachen Kadenzen herkömmlicher Rockmusik; die Klassifizierung als Neo-Prog bezieht sich eher auf die übrigen Stücke der Alben. Ein weiteres bekanntes Album der Szene ist The Wake von IQ aus dem Jahr 1985. Es wird von Kritikern als eines der besten Neo-Prog-Alben bezeichnet. Es konnte aber keine so große Bekanntheit wie die zuvor genannten erreichen, da dem Werk eine kommerziell erfolgreiche Single fehlte. Einige Hauptvertreter der klassischen Phase des Prog wandten sich in den 1980er Jahren der kommerziellen Rock- und Popmusik zu. Genesis konnte in dieser Dekade große Erfolge mit Alben wie Genesis und Invisible Touch feiern. Begleitet wurden die Studioalben von Welttourneen, auf denen die Bands ganze Stadien füllten. Auch Yes gelang mit 90125 ein erfolgreiches Album, das den bekannten Hit Owner of a Lonely Heart enthielt. Ähnlich entwickelten sich andere in den 1970er Jahren stilprägende Bands. Emerson, Lake & Palmer hingegen waren in den 1980er Jahren nicht aktiv, da sie sich 1979 auflösten. Erst zu Beginn der 1990er Jahre kam es zu einer Reunion. Die Reunions der frühen 1990er Jahre (v. a. von Yes (Union) und ELP (Black Moon)) waren ein wichtiger Motor des Prog-Revivals der 1990er Jahre. Abseits von dieser durchaus massentauglichen Spielart des Progressive Rock formierte sich um Ende der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre in Europa eine Vielzahl von Bands, deren Anliegen es war, komplexe Stücke unter Anwendung sowohl rocktypischer als auch klassischer Instrumentierung einzuspielen und dabei harmonische und rhythmische Schranken der Pop/Rock-Musik zu durchbrechen, wie es zuvor bereits in der Klassik die Komponisten des 20. Jahrhunderts im Zuge der Neuen Musik getan hatten. Die Speerspitze dieser sogenannten RIO/AvantProg-Bands bildeten Henry Cow, Univers Zéro, Art Zoyd und Present. Progressive Rock heute Vom Beginn der 1990er Jahre bis zur heutigen Zeit gab es einige Entwicklungen im Bereich des Progressive Rock. Als wichtigste und maßgeblichste Entwicklung dieser Zeit gilt die Entstehung des Progressive Metal. Dieses neue Genre verbindet den seit den 1980er Jahren bestehenden Heavy Metal mit dem Progressive Rock. Das Ergebnis dieser Synthese ist meist komplexe und virtuose Rockmusik in einem sehr hohen Tempo. Dominiert wird der Progressive Metal von E-Gitarre und schnellen, tiefen Bassläufen. Die meisten Bands arbeiten auch mit Synthesizern und Keyboards. Zu den bekanntesten Vertretern des Progressive Metal gehören Dream Theater, Threshold, Fates Warning, Queensrÿche, Vanden Plas mit „Abydos“ und Symphony X. Eine weitere Entwicklung der 1990er Jahre ist die unter dem Begriff Retro-Prog gefasste Bewegung. Die ihr zugerechneten Bands kehren musikalisch wieder zu den Wurzeln des Prog der 1970er Jahre zurück. Regionale Zentren dieser Bewegung sind Skandinavien mit Bands wie The Flower Kings oder den Vorreitern Änglagård und die USA mit der erfolgreichen Gruppe Spock’s Beard. Ein weiterer bekannter Vertreter des Retro-Prog ist die Supergroup Transatlantic, die sich aus Mitgliedern von Dream Theater, Spock’s Beard, Flower Kings und Marillion zusammensetzt. Daneben existieren zahlreiche Bands, die die Stile der 1970er Jahre aufgreifen und weiterentwickeln. Diese bilden durch ihre enge Vernetzung miteinander und den häufigen Projektcharakter ihrer musikalischen Aktivitäten oft lokale oder nationale Szenen. Besonders aktiv sind zu Beginn des neuen Jahrtausends Bands in den klassischen Ländern des Prog, England und Italien, aber auch in Ländern wie Schweden (Beardfish, The Flower Kings), Kanada (Miriodor), USA (echolyn, Glass Hammer) oder Japan, wo vor allem der italienische Prog der 1970er und Jazziges, Zeuhl, oder einfach Schräges rezipiert wird (Ruins). Musikalische Aktivitäten zeigten in den 1990ern und der heutigen Zeit auch noch einige Hauptvertreter des Neo-Prog der 1980er Jahre wie IQ, Saga und Arena. Auch Marillion ist noch bis heute aktiv. Völlig neue Trends in den 1990ern und der jüngsten Zeit setzten als „Soundperfektionisten“ bezeichnete Bands wie Nine Inch Nails, Tool, Sigur Rós, Radiohead, Muse, The Mars Volta, Dredg, Primus, Porcupine Tree, RPWL, Riverside, Sylvan oder Oceansize. Auch einige Vertreter der klassischen Phase des Prog waren in den 1990er Jahren oder sind bis heute aktiv, haben aber oft ihren Stil stark verändert: Nach einigen kommerziell äußerst erfolgreichen Rock/Pop-Alben in den 1980er und frühen 1990er Jahren verließ Sänger und Bandleader Phil Collins 1995 Genesis. Die Band versuchte es mit einem neuen Sänger, dem Schotten Ray Wilson. Mit ihm nahmen sie noch ein – kommerziell erfolgloses – Album auf (… Calling All Stations …) und traten nach der Europatour 1998 vorerst nur noch mit Archiv-Veröffentlichungen und diversen Soloprojekten in Erscheinung. 2006 bestätigten sich schließlich Gerüchte um eine neue Europa- und Nordamerikatour 2007 in der Formation um Phil Collins. Auf dieser Tour wurden viele Stücke aus den 1970er Jahren gespielt. Bis heute aktiv sind Jethro Tull beziehungsweise Ian Andersons jeweils aktuelle Band, mit der er seit 2012 nur noch unter eigenem Namen auftritt, deren Alben zahlreiche, zum Teil drastische Stilwechsel, aber stets für die Band charakteristische progressive Elemente aufweisen (komplizierte Rhythmisierung, dramatische Dynamik, mal symbiotische Einflechtung, mal schroffe Entgegensetzung von Rock und akustischer Musik, Einsatz eines breiten Spektrums an Instrumenten, zunehmend virtuose Querflöte und E-Gitarre). Nachdem man in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre ausgiebig mit den Stilmitteln des Folkrock experimentiert hatte, erfolgte in den Achtzigern eine Hinwendung zu elektronischer Musik, was in dem komplexen Computer-Rock-Album Under Wraps kulminierte. Nach dessen kontroverser Aufnahme wurde auf Crest of a Knave der Einsatz elektronischer Keyboards auf ein Minimum reduziert und dafür das eindringliche E-Gitarren-Spiel Martin Barres stärker denn je in den Vordergrund gerückt. Das Album wurde 1989 mit dem ersten und einzigen Grammy Award for Best Hard Rock/Metal Performance Vocal or Instrumental ausgezeichnet, unter anderem gegen Konkurrenten wie AC/DC und Metallica. In den neunziger Jahren veröffentlichte Bandleader Ian Anderson auf dem EMI-Klassik-Label als Flötist das Instrumental-Album Divinities. Die danach veröffentlichten Tull-Studioalben Roots To Branches und Dot Com verarbeiten Einflüsse traditioneller Orientalischer Musik. Nachdem Martin Barre im Jahr 2012 die Band verlassen hat, touren dieser sowie Ian Anderson mit jeweils eigenen Bands, mit denen sie auch neue Studioalben einspielen. Vierzig Jahre nach dem ersten Teil veröffentlichte Anderson im Jahr 2012 Thick as a Brick 2 – wie 1972 ein sowohl im Libretto als auch musikalisch verwobenes Konzeptalbum, das sich stilistisch zwischen den akustisch orientierten vorangegangenen Soloalben Andersons und hartem Rock bewegt. 2013 wurde Ian Anderson bei den Progressive Music Awards mit dem Titel Prog God ausgezeichnet. 2014 folgte das Konzeptalbum Homo Erraticus („Der wandernde Mensch“), das von der Vorgeschichte bis in die Zukunft prognostizierend achttausend Jahre menschlicher Migration behandelt. 2015 tourt Anderson mit dem Projekt Jethro Tull – The Rock Opera, das textlich modifiziertes Tull-Repertoire und neue Rocksongs über den Namensgeber der Band, den Erfinder und Agrarwissenschaftler des Barock, mit aufwändigen Videoproduktionen auf die Bühne bringt, wobei neben dem Konzeptcharakter auch verschiedene, zum Teil per Video eingespielte Gesangsrollen dem Format der Rockoper entsprechen. Die Band Yes veröffentlichte in den 1990er Jahren einige Alben, die am ehesten dem Adult-oriented Rock zuzuordnen sind. Sie fanden kaum Gefallen bei Kritikern und stehen eher im Schatten gleichzeitig veröffentlichter Live-Aufnahmen und Kompilationen aus den 1970er Jahren. Ähnlich verhält es sich auch mit anderen Bands der klassischen Phase des Prog. Ganz anders King Crimson, die nach ihrer Wiedervereinigung in den 1990er Jahren höchst anspruchsvollen und komplexen Prog spielen, der von balinesischer Gamelan-Musik und modernem Metal-Sound beeinflusst ist. Des Weiteren existiert heute eine Vielzahl von Cover-Bands, die den Genrevertretern aus der klassischen Phase, an erster Stelle Genesis, nacheifern. Besonders hervorgetan hat sich die offizielle Genesis-Tribute-Band The Musical Box aus Kanada, die alte Genesis-Konzerte mit den Original-Bühnenbildern und Kostümen in gut besuchten internationalen Konzerttourneen aufführt. Die Australian Pink Floyd Show verleiht den Bühnenauftritten der Briten von Pink Floyd eine australische Note und wurde unter anderem durch ein Auftrittsangebot auf David Gilmours Geburtstag gewürdigt. Eigenschaften Der Progressive Rock erweitert die populäre Rockmusik um Einflüsse aus der klassischen Musik, dem Jazz und der Weltmusik sowie um neue textliche und konzeptionelle Dimensionen. Hier sind die wichtigsten und stilprägendsten Eigenschaften des Prog aufgezählt und erläutert. Musikalische Komplexität. Der Progressive Rock unterscheidet sich vor allem durch eine komplexe Harmonik, Rhythmik und Melodik von der herkömmlichen Rockmusik. Dazu zählt auch die häufige Verwendung (z. B. bei King Crimson) von Überlagerungen verschiedener Rhythmen (Polyrhythmik) und Taktarten (Polymetrik). Der Prog zeichnet sich durch Modulationen zwischen zum Teil ungewohnten Tonarten aus, die Verwendung von in herkömmlicher Rockmusik sowie klassischer Musik des 18. und 19. Jahrhunderts eher selten verwendeter, als dissonant behandelter Intervalle (große Septime, Sekunde, Tritonus etc.), ungerader Takte (5er, 7er usw.) und komplexer Rhythmen, Taktwechsel sowie einiger melodischer Anleihen aus klassischer oder fremdländischer Musik. Der Titel Infinite Space von ELP wechselt beispielsweise vom 7/4-Takt zu zwei Takten im 3/4-Takt und einem Takt im 4/4-Rhythmus, bevor er sich wieder in das Anfangsmetrum der 7/4 begibt. Auffallend ist hier auch die starke Verwendung des eher als dissonant zu bezeichnenden Sekundintervalls. Auch kontrapunktische Elemente spielen bei einigen Bands eine Rolle, besonders ausgeprägt bei Gentle Giant. Hymnische Elemente. Als Gegenpol zu den vorwiegend instrumentalen komplexen Passagen ist in der Regel auch eine liedhafte Komponente vorhanden, bei deren Gestaltung der Melodienreichtum im Vordergrund steht. Als wichtigste Inspiration der Genrebegründer dürften dabei die Beatles eine Rolle gespielt haben. Die Hauptvertreter des Prog tendieren nicht etwa dazu, die reine Komplexität ihres Werkes als Qualitätsmaßstab anzusehen, sondern legen vielmehr großen Wert auf die Harmonisierung dieser beiden Kontrastelemente. Nur in Randbereichen des Prog wird meist gänzlich auf einen wiederkehrenden Refrain verzichtet. Lange Kompositionen, manchmal länger als zwanzig Minuten. Diese Stücke werden oft als epische Stücke klassifiziert. In vielen Fällen sind sie in mehrere unterschiedliche Teile gegliedert. Meist werden zwischen den verschiedenen Teilen eines Stückes thematische oder musikalische Beziehungen hergestellt. So werden beispielsweise musikalische Themen später wieder aufgegriffen und/oder variiert. Bekannte Longtracks der klassischen Phase des Genres sind Close to the Edge von Yes, Supper’s Ready von Genesis oder auch das 43-minütige Thick as a Brick von Jethro Tull. Aber auch bei den Progressive-Rock-Bands der Gegenwart sind lange und ausschweifende Stücke beliebt. Beispiele dafür sind die Werke Garden of Dreams von der schwedischen Band The Flower Kings, Mei von echolyn oder The Sky Moves Sideways von Porcupine Tree sowie Six Degrees of Inner Turbulence und A Change of Seasons von Dream Theater. Konzeptalben, welche sich musikalisch und textlich an einem thematischen Konzept orientieren. Diese Alben erzählen meist eine zusammenhängende Geschichte mit einem Protagonisten (etwa Snow von Spock’s Beard, in dessen Zentrum ein Albino steht), andere Alben enthalten Songs, die nur lose, z. B. durch ähnliche Thematiken der einzelnen Songs, zusammenhängen (etwa Aqualung von Jethro Tull, dessen Status als Konzeptalbum entsprechend umstritten ist). Die Konzeptalben des Progressive Rock sind aufgrund ihrer Länge oft Doppelalben, wurden also auf zwei Schallplatten bzw. CDs herausgegeben. Bekannte Konzeptalben des Genres sind The Lamb Lies Down on Broadway von Genesis, das eine eigens entwickelte surreale Geschichte erzählt; Tales from Topographic Oceans von Yes, das lose auf die shastrischen Schriften Indiens Bezug nimmt; das wieder nur durch die Limitierung der Spieldauer von Vinylschallplatten in zwei mehr als zwanzig Minuten lange Teile gegliederte Album A Passion Play von Jethro Tull, dessen (bis auf eine die beiden Teile separierende Tierfabel) zusammenhängendes Libretto das irdische Leben gegen Jenseitsverheißungen abwägt; nahezu sämtliche Alben von Magma, die in Form eines ganzen Zyklus in einer künstlichen Sprache die Geschichte des Planeten Kobaïa erzählen und dabei zusätzlich spirituelles Gedankengut vermitteln; das kommerziell sehr erfolgreiche The Dark Side of the Moon von Pink Floyd und Marillions Misplaced Childhood, Geschichten, die das Erwachsenwerden thematisieren, oder Metropolis Part II: Scenes From A Memory von Dream Theater. Ein weiteres Beispiel ist die Band Pain of Salvation, die bisher ausschließlich Konzeptalben veröffentlicht hat. Ausgeprägte Benutzung elektronischer Instrumente. Neben der elektrischen Gitarre und dem elektrischen Bass sind vor allem die elektromechanischen und elektronischen Tasteninstrumente stilprägend für den Progressive Rock. Keyboarder wie Keith Emerson (Emerson, Lake and Palmer), Steve Walsh (Kansas), Rick Wakeman (Yes), Patrick Moraz (Mainhorse, Refugee, Yes) oder Kerry Minnear (Gentle Giant) bedienten im Studio und auf der Bühne unzählige Keyboards wie Hammondorgel, Clavinet, E-Piano (z. B. Pianet, Wurlitzer, Fender Rhodes), Streicherkeyboard (z. B. Solina String Ensemble), Synthesizer (z. B. von ARP und Moog) und Mellotron und dominierten mit diesen „Keyboardburgen“ die Musik. Bei manchen Bassisten wie Mike Rutherford von Genesis waren auch einmanualige Basspedale (z. B. Moog Taurus) beliebt, die simultanes Gitarrenspiel ermöglichten. „Exotische Instrumente“. Der Progressive Rock erweitert die typische Instrumentierung einer Rockband um Instrumente aus dem klassischen Bereich. Hier sind vor allem die Geige (z. B. Gentle Giant, Kansas), die Querflöte (Jethro Tull, Genesis), das Saxophon (Van der Graaf Generator, Supertramp), das Cembalo (Il Balletto Di Bronzo), Blockflöte (Gentle Giant) und Blechblasinstrumente (Magma) zu nennen. Zudem binden einige Bands orientalische und weitere Instrumente außereuropäischer Musikkulturen wie die Sitar in ihre Musik ein. Die für den Rocksound ungewöhnlichen Instrumente werden allerdings meist nur stellenweise als zusätzliche Klangfarbe benutzt (vergleiche etwa den Celloeinsatz in The Great Nothing von Spock’s Beard oder die Coral Sitar auf Close to the Edge von Yes). Selten ist die dauerhafte Integration eines dieser Instrumente, wie etwa bei Jethro Tull, UK oder auch Gentle Giant. Nur wenige Bands haben ihren Sound dauerhaft durch mehrere „klassische“ Instrumente erweitert, darunter Isildurs Bane oder Godspeed You! Black Emperor. Lange Instrumentalteile. Viele Stücke des Progressive Rock enthalten lange Instrumentalteile für fast alle Instrumente, in dem sich einige Musiker durch eine erhebliche Komplexität und Virtuosität in ihrem Spiel auszeichnen. Besonders hervorzuheben sind die anspruchsvollen Keyboardsoli von Rick Wakeman und Keith Emerson, das atmosphärische und/oder virtuose Gitarrenspiel von David Gilmour, Steve Hackett und Steve Howe, aber auch das rhythmisch komplexe Schlagzeugspiel von Bill Bruford, Phil Collins oder Carl Palmer. Kritiker des Genres sehen in dieser „Zurschaustellung von Virtuosität“ eine der Musik nicht mehr zuträgliche Übertreibung, welche nur noch zur Selbstdarstellung der Musiker diene. Eine ähnliche Kritik wurde in der klassischen Musik bereits Franz Liszt und Niccolò Paganini zuteil. Gute Koordination und Eigenständigkeit der Rhythmusgruppe. Die Rhythmusgruppe einer Progressive-Rock-Band besteht meist aus Schlagzeug und Bass. Sie hat im Allgemeinen die Aufgabe, die oft komplizierten Rhythmen vorzugeben und der übrigen Band somit eine Basis für die virtuosen Instrumentalsoli zu bieten. Hervorzuheben aus diesem Bereich sind vor allem Chris Squire und Bill Bruford bei Yes, John Wetton und Bill Bruford bei King Crimson sowie Mike Rutherford und Phil Collins bei Genesis. In einigen Fällen findet hingegen eine Umlagerung der Rhythmusarbeit statt, so dass eines der beiden typischen Rhythmusinstrumente eine tragende Rolle übernehmen und eigene melodische Akzente setzen kann. Als Beispiel lässt sich das „melodische“ Schlagzeugspiel von Bruford bei Yes, Christian Vander bei Magma oder von Neil Peart bei Rush sowie des Bassisten Geddy Lee bei selbiger Band anführen. Einbindung von klassischer Musik. Einige Bands des Genres binden Teile klassischer Werke in ihre Musik ein. Das können Übernahmen verschiedenster Art sein, etwa Neuarrangements klassischer Stücke, Zitate, Anspielungen, Adaptionen etc. Besonders hervorgetan in diesem Bereich hat sich die Band Emerson, Lake & Palmer, die ganze klassische Werke im Rahmen des Progressive Rock interpretierten. Das bekannteste Beispiel ist ihr Live-Album Pictures at an Exhibition, eine Bearbeitung von Modest Mussorgskis Werk Bilder einer Ausstellung. Ein weiteres Beispiel ist Manfred Mann’s Earth Band, die auf ihrem Album Solar Fire die Orchestersuite Die Planeten von Gustav Holst verarbeitet. Andere Bands bedienen sich stilistischer Merkmale klassischer Musiken, ohne jedoch auf konkrete Vorbilder explizit Bezug zu nehmen. Charakteristisch ist hier der mehrstimmige Gesang der Band Gentle Giant, welcher der Fugenlehre des Barock nachempfunden ist. Bands wie Isildurs Bane oder Doctor Nerve wiederum spielen Eigenkompositionen mit Orchestern oder kleineren Besetzungen, wie etwa Streichquartetten. Ein wichtiges Beispiel dafür sind die frühen Versuche von Keith Emerson (die Five Bridges-Suite von The Nice) und Jon Lord (das Concerto for Group and Orchestra von Deep Purple). Zu ergänzen sind noch Adaptionen und Arrangements von Progressive-Rock-Stücken durch klassische Ensembles, etwa durch das Zorn Trio (Musik von Isildurs Bane) oder Giuseppe Lupis (Klavieradaptionen von ELP-Stücken). Auch das Projekt Genesis for two Grand Pianos gehört hierher. Anspruchsvolle Texte. Viele Bands des Progressive Rock erweitern die typischen Texte der Rockmusik, welche von Liebe oder alltäglichen Dingen handeln, um neue inhaltliche Ebenen. Die Texte handeln oft von Science Fiction, Utopien, historischen Begebenheiten, Krieg oder Religion. In vielen Fällen enthalten die Texte offen oder versteckt eine politische oder gesellschaftliche Aussage der Band an den Hörer, so etwa der Marillion-Song Forgotten Sons zum damals noch blutig ausgetragenen Nordirlandkonflikt oder von der gleichen Gruppe die gesellschaftskritischen Lieder Garden Party und Chelsea Monday. In zahlreichen Fällen orientieren sich die Texte an einer literarischen Vorlage. Bekannte Beispiele sind Close to the Edge von Yes, welches Hermann Hesses Siddhartha verarbeitet oder der Text zu Jerusalem von Emerson, Lake & Palmer, ein Gedicht des englischen Autors William Blake. Genesis ist hingegen dafür bekannt, barock anmutende, mystische Sagen und Legenden in einigen ihrer Stücke zu verarbeiten. Bekannt ist diese Tendenz vor allem aus den Stücken The Musical Box und The Fountain of Salmacis vom Album Nursery Cryme. Supergroups. Als Supergroups bezeichnet man Bands, die sich aus Mitgliedern oder ehemaligen Mitgliedern anderer erfolgreicher Bands zusammensetzen und bei denen jedes Mitglied entweder schon einmal selbst als Solist erfolgreich war, oder das Zeug zu einer erfolgreichen Solokarriere hatte. Die Tendenz zur Bildung solcher Gruppen ist im Progressive Rock besonders ausgeprägt. Einige bekannte Supergroups des Genres sind Emerson, Lake & Palmer, die 1977 aus Bill Bruford (später Terry Bozzio), Allan Holdsworth, Eddie Jobson sowie John Wetton gegründete Band UK, Transatlantic, A Perfect Circle, Liquid Tension Experiment, Office of Strategic Influence oder die gesamte Canterbury-Szene, in der die Mitglieder der einzelnen Bands häufig untereinander ausgetauscht werden. Bedeutung visueller Künste. Zahlreiche Alben des Progressive Rock sind mit kunstvollen Covern gestaltet, welche mit experimentellen Fotografien oder Grafiken aufwarten. Vorreiter waren hier die Beatles mit ihrem Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, auf dem eine Collage von 70 bekannten Persönlichkeiten abgebildet war. Bekannt für visuelle Effekte ist auch die Band Pink Floyd: Neben einer Lightshow bei ihren Konzerten sind auch die Alben, deren Cover zum großen Teil von der Agentur Hipgnosis geschaffen wurden, kunstvoll gestaltet. Als Beispiele können die Alben The Dark Side of the Moon und Animals dienen. Auch Emerson, Lake and Palmer bzw. Yes, vor allem charakterisiert durch ihre Zusammenarbeit mit HR Giger und Roger Dean, arbeiten mit kunstvollen Covern, auf denen oft kryptische Grafiken oder phantastische Landschaften abgebildet waren. Auf dem Album Olias of Sunhillow (1976) verband Jon Anderson, Sänger von Yes, eine eigens entwickelte, an klassische Mythen angelehnte Erzählung mit seinen Songtexten, der Musik und einer aufwändigen Bildgestaltung zu seiner Vorstellung eines Gesamtkunstwerks. Als besonders ambitioniertes Beispiel einer langen Reihe solcher Versuche kann das Album The Pentateuch Of The Cosmogony von Dave Greenslade (Musik) und Patrick Woodroffe (Bebilderung) angesehen werden: Es erschien als aufwändiges Gatefold-Album mit einem 50-seitigen Buchteil, das eine Sci-Fi-Schöpfungsgeschichte in einer eigens entwickelten piktographischen Schrift (mit „Übersetzung“ ins Englische) und zahlreichen Illustrationen des Fantasy-Künstlers Woodroffe enthielt, während die Platte Musik der entsprechenden (untergegangenen) außerirdischen Zivilisation bot. Spielarten und verwandte Stile Als eklektisches Genre, das zudem über mehrere Jahrzehnte in unterschiedlichen Inkarnationen in Erscheinung getreten ist, hat der Progressive Rock sowohl Subgenres als auch Verwandtschaften zu unterschiedlichen Stilen vorzuweisen. Diese lassen sich unter musikalischen, personellen und gesinnungsbedingten Gesichtspunkten feststellen. Die wichtigsten Stilrichtungen sollen hier kurz anhand ihrer Eigenschaften und ihrer Hauptvertreter vorgestellt werden. 1967 bis 1978 Artrock: Die Stilbezeichnung Artrock (zu deutsch: „Kunst-Rock“) kann als eine Oberkategorie für Musik aufgefasst werden, die sich entweder durch einen expliziten Kunstanspruch oder durch bestimmte an die europäische Kunstmusik angelehnte Merkmale von anderen Formen der Rockmusik absetzt. Im Unterschied zum Progressive Rock sind diese Merkmale nicht immer kompositorisch-struktureller Art, sondern können auch konzeptionelle Aspekte der Musik (etwa die Tendenz zu „großen Formen“) und visuelle Aspekte ihrer Präsentation (Albengestaltung, Konzerte etc.) betreffen. Zu den wichtigsten Artrock-Vertretern zählen Pink Floyd, Peter Gabriel, Supertramp, Kate Bush, Tori Amos, The Alan Parsons Project, David Bowie, Radiohead und Björk. Canterbury Sound: Unter Canterbury Sound versteht man einen zeitgleich mit dem Progressive Rock entstandenen, jedoch näher am Jazz angesiedelten und mit weniger Pathos vorgetragenen Stil. Namensgebend war die Musikszene im englischen Canterbury. In deren Umfeld bildeten sich die typischen Bands des Genres. Kennzeichnend ist neben häufigen personellen Wechseln zwischen den einzelnen Bands der englische Humor in der Musik und den Texten. Zu den wichtigsten Bands zählen Soft Machine, Caravan, Henry Cow und Quiet Sun. Krautrock: Krautrock ist eine musikalische Entwicklung aus Deutschland in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren. Die Krautrock-Szene umfasst mehrere unterschiedliche und eigenständige musikalische Strömungen, deren stilbildende Merkmale jazzrockig-treibender (vgl. Jazzrock), spacig-psychedelischer (vgl. Space Rock) oder elektronisch-experimenteller (vgl. Elektronische Musik) Natur sein können. Der Begriff Krautrock kommt von der englischen umgangssprachlichen Bezeichnung für Deutsche, die „Krauts“. Anfangs war der Begriff wohl als abwertende Bezeichnung gemeint. Schnell wurde er jedoch zum Markenzeichen der progressiven Pop- und Rockmusik aus Deutschland, die auch internationale Beachtung fand. Zu den wichtigsten Krautrock-Bands zählen Jane, Amon Düül, Kraan, Can, Kraftwerk, Neu!, Guru Guru, Birth Control sowie die frühen Grobschnitt. Space Rock: Der Space Rock hat seine Ursprünge in der psychedelischen Rockmusik der späten 1960er Jahre. Er versucht durch Verwendung repetitiver Muster, treibender Rhythmik und „spaciger“ Klangfarben eine futuristische Atmosphäre zu erzeugen. Unterstützt wird die „spacige“ Musik meist durch umfangreiche Lightshows bei Konzerten von Space-Rock-Bands. Eine Vorreiterrolle für den Stil nehmen die frühen Pink Floyd ein, stilprägend waren dann vor allem Hawkwind und Gong. Symphonic Rock und Klassikrock: Für Ansätze im Spannungsfeld zwischen Rockmusik und der europäischen Kunstmusik vor 1900 finden sich zwei ähnliche Stilbegriffe, wobei speziell die Bezeichnung Symphonic Rock unterschiedlich gedeutet wird: Einerseits gilt sie als synonym zum Progressive Rock mit seiner Tendenz zur großen Form und dem durchführenden Spiel mit musikalischen Themen (siehe Sinfonie). Daneben steht sie aber auch für Versuche, strukturell einfachere Rockmusik mit orchestralen Klangfarben zusammenzuführen. Als beispielhaft gelten hier Werke von Bands wie dem Electric Light Orchestra, aber auch von Sinfonieorchestern wie dem London Symphony Orchestra mit klassisch arrangierten Fassungen von populären Rocksongs. Klassikrock (engl.: Classical Rock) wiederum kann als Subgenre des Progressive Rock verstanden werden und umfasst dann Stücke der Rockmusik, die als Adaptionen von existierenden klassischen Vorlagen angelegt sind. Vertreter dieses Stils sind speziell The Nice, ihre Nachfolgeband Emerson, Lake and Palmer und ihre niederländischen Epigonen Ekseption. Zappaeske Musik: Zappaeske Musik entsteht durch die Verbindung von Perfektion und Skurrilität, wie sie ihr Namensgeber und Hauptvertreter Frank Zappa praktizierte. Von dieser Haltung sind nach wie vor zahlreiche Musiker beeinflusst, die sich heute auf Szene-Events wie der Zappanale zusammenfinden. Nennenswert sind dabei insbesondere ehemalige musikalische Wegbegleiter Zappas wie der Gitarrist Mike Keneally. Zeuhl: Zeuhl ist ein recht eigenständiges Genre, das im Alleingang von der französischen Band Magma aus der Taufe gehoben wurde. Musikalisch zeichnet es als von grollendem E-Bass- und jazzigem Schlagzeugspiel dominierte Rockmusik mit repetitiven Strukturen und besonders theatralischem Gesang aus. Texte sind oft in der genreeigenen Kunstsprache Kobaïanisch verfasst. Wichtige Namen neben Magma sind deren Ableger und Nachfolger Zao, Dün und Weidorje. Seit den 1990er Jahren wurde der Stil vor allem in Japan weiterentwickelt. Vertreter dieser neuen, aggressiveren Variante sind Ruins, Koenjihyakkei oder Daimonji. 1978 bis 1990 Neo-Prog: Als Neo-Prog bezeichnet man eine „Renaissance“ des klassischen Progressive Rock in den 1980er Jahren. Die Musik der beteiligten Bands zeichnet sich aus durch eine zeitgemäße Produktion und Instrumentierung, die vom Aufkommen neuer elektronischer Synthesizer und Keyboards bedingt war, sowie durch melodische Kompositionen von überschauberem strukturellen Umfang. Als Hauptvertreter gelten die frühen Marillion, IQ, Pallas, Pendragon und Twelfth Night. Progressive Metal: Die stilprägenden Bands des Progressive Metal griffen auf die formgebenden Spieltechniken des Metal zurück, insbesondere auf verzerrte, wuchtvolle Rhythmusgitarren, und erweiterten diese um progressive Elemente. Insbesondere die Rolle des Keyboards ist im Vergleich zu anderen Metalstilen stark aufgewertet. Zu den stilprägenden Bands zählen Queensrÿche, Dream Theater, Fates Warning, Opeth, Pain of Salvation, Shadow Gallery, Threshold und als Grenzgänger Tool. Adult-oriented Rock (AOR): Adult-oriented Rock ist eine melodische, gitarrenorientierte Variante der Rockmusik der 1980er Jahre. Er zeichnet sich vor allem durch dichten Harmoniegesang aus, aber auch durch einen Hang zum Perfektionismus und bombastische Produktionen. Ein besonderer Zusammenhang zum Progressive Rock besteht in personeller Hinsicht: Musiker seiner Hauptvertreter Yes, King Crimson, ELP und Genesis gründeten die Bands Asia und GTR. Zu den wichtigsten Bands des Genres zählen außerdem The Alan Parsons Project (spätere Alben), Saga, Toto, Journey, Styx und Survivor. RIO – Rock in Opposition: Unter RIO versteht man Kammer-Rockmusik mit Einflüssen der klassischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Daher ist auch die Bezeichnung AvantProg für dieses musikalische Genre geläufig. Zu den bekanntesten Vertretern zählen Henry Cow, Univers Zéro, Art Zoyd und Present. 1990 bis 2000 Retro-Prog: Unter dem Begriff Retro-Prog fasst man Rockbands der 1990er Jahre zusammen, die sich stark an musikalischen Vorbildern der klassischen Phase des Progressive Rock in den 1970er Jahren orientieren und viele Stilmittel dieser Zeit neu aufgreifen und interpretieren. Zu den Hauptvertretern dieser Entwicklung zählen Spock’s Beard, Shamall, Änglagård, The Flower Kings, IZZ und Echolyn. Math-Rock: Der Math-Rock bezeichnet eine im Progressive Metal verwurzelte musikalische Erscheinung der 1990er Jahre. Bands des Genres sind für ihre riffdominierte Rockmusik bekannt und legen mit einer geradezu mathematischen Perfektion Wert auf ungerade Taktarten, vertrackte Rhythmen und dissonante Klänge. Als bekannteste Band des Math-Rock gilt Spastic Ink. Postrock: Der Post-Rock (von lat. post = nach) versucht die herkömmliche Rockmusik zu überwinden und sie entscheidend weiterzuentwickeln. Ergebnis dieses Versuchs sind meist atmosphärische, häufig überlange Instrumentalstücke, in denen das typische Rock-Instrumentarium zur Erzeugung von rockuntypischen Klängen genutzt wird. Als wichtige Vertreter des Postrock sind Tortoise, Godspeed You! Black Emperor, Mogwai, Sigur Rós, Explosions in the Sky und die späten Talk Talk zu nennen. Seit 2000 New Artrock: Als New Artrock bezeichnet man Bands aus dem Umfeld des Progressive Rock, die diesen seit Ende der 1990er Jahre um Anleihen aus Elektronischer Musik, Postrock und Alternative Rock ergänzen. Im Vordergrund steht dabei gegenüber dem auf strukturelle Komplexität bedachten klassischen Progressive Rock eine atmosphärische Wirkung. Als Beispiele seien RPWL aus Freising, The Amber Light aus Wiesbaden, Sylvan aus Hamburg, t (Thomas Thielen) aus Niedersachsen, Riverside aus Polen, Overhead aus Finnland, Crippled Black Phoenix aus England sowie streckenweise Porcupine Tree (ebenfalls aus England) genannt. Der Begriff New Artrock wurde 2005 von der Zeitschrift eclipsed geprägt. New Prog: New Prog oder auch Post-Prog ist eine jüngere Bezeichnung für die Musik von Bands, deren Wurzeln im Alternative Rock liegen und die selbstbewusst Einflüsse aus dem Progressive Rock mit seinen Haltungen und stilistischen Merkmalen aufgreifen. Zu den Vertretern zählen Muse, Mew, Coheed and Cambria und The Mars Volta. Rezeption In der ersten Hälfte der 1970er Jahre gelang es den stilbildenden britischen Bands regelmäßig, die oberen Positionen der Albumcharts in ihrem Heimatland einzunehmen, sporadisch auch in den kontinentaleuropäischen und nordamerikanischen Staaten. Für den Publikumszuspruch zu dieser Zeit sprechen auch stetig gestiegene Besucherzahlen bei Konzerten in immer größeren Auftrittsstätten, die ab Mitte der 1970er die Entstehung eines „Stadion-Rock“ begünstigten. Der künstlerische Erfolg lässt sich an der internationalen Verbreitung des Stils mit seinen eigenständigen regionalen Ausläufern ablesen. Stilistische Einflüsse reichen bis in die heutige Alternative- und Mainstream-Rockmusik hinein; so finden sich etwa bei Radiohead und Coldplay instrumentale Motive und Klangfarben, die an die frühen Genesis-Werke erinnern. Von Beginn an sahen sich die beteiligten Musiker dabei auch mit anhaltender und intensiver Kritik konfrontiert. Aufbauend auf der Kritik vonseiten des Musikjournalismus an den Haltungen und Formen des Progressive Rock formulierten die Vertreter des Punk ab Mitte der 1970er ihren eigenen, gewollt als dilettantisch ausgewiesenen Stil als Gegenentwurf. Kritikpunkte waren die angebliche bildungsbürgerliche Kunstbeflissenheit des Stils, seine Abkehr von den Wurzeln der Rockmusik, seine als selbstherrlich wahrgenommene Zurschaustellung von Virtuosität, die empfundene Realitätsferne seiner Inhalte sowie sein Beitrag zum Verhältnis zwischen Musiker und Publikum. Kritische Rezeption durch den Musikjournalismus Möglicher Kunstanspruch Einer der zentralen Angriffspunkte der Kritiker liegt in einem vermuteten Kunstanspruch, auf den die Musiker ihr Schaffen begründeten. Die Neigung zu musikalischer Komplexität in Verbindung mit einem deutlichen kulturell-ethischen Bewusstsein der Beteiligten berge die Implikation, dass strukturell komplexere musikalische Formen als höherwertig und folglich einfachere Formen als minderwertig zu bewerten seien. Im Diskurs über den Kunstgehalt von Popmusik nehme der Progressive Rock als an der europäischen Kunstmusik orientierter Stil somit eine problematische Rolle ein. Eine implizite Ablehnung künstlerischer Reduktionsprozesse und speziell des minimalistischen Prinzips stehe im Gegensatz zur Entwicklung der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert und dort vor allem zu den Kernthesen der Pop Art. Eine Selbstpositionierung auf Seiten der Hochkultur lässt sich in einigen Fällen tatsächlich belegen. Exemplarisch steht dafür eine Äußerung von Carl Palmer, der sein Ansinnen zum Ausdruck brachte, mit seiner Musik „junge Menschen an Musik von höherer Qualität heranführen zu wollen“. Genauso finden sich allerdings Äußerungen von Beteiligten, die ihre ästhetischen Entscheidungen weniger auf ein besonderes Kulturbewusstsein als auf eine Lücke zurückführen, als die sie das Ausbleiben eines originär europäischen Stils der Rockmusik während der 1960er Jahre empfanden. Bis dato hatten sich die erfolgreichen britischen Bands zumeist an Vorbildern des amerikanischen Rhythm & Blues orientiert. Unter dem Eindruck neuer soziokultureller Entwicklungen sowie der, den Gedanken der Selbstverwirklichung propagierenden, Hippiekultur suchten nun junge, meist aus der Mittelschicht entstammende britische Musiker Entfaltung ihrer kulturellen Identität in der Integration von Ausdrucksmitteln der ihnen vertrauten Formen. Ian Anderson stellt die frühe Wandlung seiner Band Jethro Tull vom Bluesrock hin zum Progressive Rock zugespitzt dar: Gegen eine generelle Ablehnung des minimalistischen Prinzips in der Kunst spricht das Interesse der Beteiligten an der Minimal Music. Nennenswert sind hier insbesondere die von Philip Glass beeinflussten Instrumentalalben von Mike Oldfield sowie mit den Frippertronics eine Erfindung von Robert Fripp und Brian Eno aus dem Jahr 1972, die an Tonbandexperimente von Steve Reich angelehnt ist. Kritik an genrespezifischen Ausdrucksmitteln Kritisiert wurde nicht nur die Selbsteinordnung der Musiker in einem angedeuteten Diskurs über die kulturelle Wertigkeit von Popmusik, sondern auch die von ihnen gewählten Ausdrucksformen selbst. Diese Kritik betraf zunächst den Ansatz, die Konventionen der Rockmusik zu Gunsten nicht-originärer, europäischer Ausdrucksmittel zu erweitern. Ein derartiger Stil, der sich von den Wurzeln der Rockmusik entfernt, sei schon vom Ansatz dazu verdammt, in Musik zu resultieren, die „aufgesetzt“ und „verkopft“ sei gegenüber der offenbar näher am Ideal der Natürlichkeit und Direktheit verwurzelten Musik afroamerikanischer Prägung. Derartige Kritik, die typisch für den Musikjournalismus der 1970er Jahre ist, wurde 1992 in Allan Moores musikwissenschaftlicher Publikation Rock: The Primary Text grundlegend in Frage gestellt. Dieser verweist auf eine gegebene theoretische Fundierung des Blues, der sich – nicht anders als die Formen europäischer Klassik auch – innerhalb eines bestimmten formativen Regelwerks abspielt, und kritisiert auf dieser Basis bedenkliche ideologische Implikationen, die das Beschwören einer Dichotomie zwischen „natürlicher“ afroamerikanischer und „intelligenter“ europäischer Kunstmusik in sich berge. Der Vorwurf, handwerkliches Können auf narzisstische Weise zur Schau zu stellen, wurde hingegen nicht nur von Kritikern erhoben, sondern auch von Musikern aus vermeintlich eigenen Reihen geteilt, so etwa von Genesis-Hauptkomponist Tony Banks, der den Gedanken einer musikalischen Leistungsschau ablehnt und sein Missfallen an einem derartigen Auftreten der Bands Yes und Emerson, Lake and Palmer ausdrückt. Einen selbstironischen Umgang mit diesem Vorwurf demonstrierten Rush 1978 mit dem Titel La Villa Strangiato (An Exercise in Self-Indulgence). Die Texte und konzeptuellen Bemühungen der Progressive-Rock-Bands stießen bei der Kritik auf Missfallen – einerseits wegen ihrer empfundenen Realitätsferne, andererseits wegen ihrer Ernsthaftigkeit, die demzufolge oft in einem distanzlosen Pathos gipfelte. Vor allem Kritiker aus dem politisch linken Spektrum machten den Künstlern auch indirekt den Vorwurf, sich in ihren Texten nicht politisch zu positionieren. Andere Stile der Rockmusik traf dieser Vorwurf gleichermaßen, so verarbeiten auch die Texte des Hard Rock oft Motive der literarischen Fantasy und Sagen der europäischen Tradition. Edward Macan stellt in seiner Auswertung der kritischen Rezeption allerdings fest, dass die Wahrnehmung der Kritiker durchaus selektiv auf die Tendenz zu derartigen Motiven gerichtet ist, während vorhandene zeitgeist-kritische Texte eher unberücksichtigt blieben. Andeutungen einer ironischen Haltung finden sich bei Jethro Tull, beispielhaft in einem selbstverfassten Review in den Liner Notes ihres als Zeitung präsentierten Albums Thick as a Brick. Eine durch und durch selbstironische Aufarbeitung des Genres erfolgte schließlich ab den 2000er Jahren durch Genrevertreter wie The Tangent und Beardfish mit selbstreferenziellen, ironischen Konzepten. The Tangents Konzeptalbum Not as Good as the Book beschreibt, wie im Jahr 2008 versehentlich mit Hilfe des Albums Relayer von Yes die Welt zerstört wird und 80.000 Jahre darauf Wissenschaftler versuchen, anhand noch erhaltener Progressive-Rock-CDs aus dieser Zeit das Leben der Menschen zu rekonstruieren. Beitrag zum Verhältnis zwischen Musiker und Publikum Ab Mitte der 1970er Jahre spielten die dominanten britischen Vertreter großangelegte Stadiontourneen in den Vereinigten Staaten und koppelten sich damit vom subkulturellen Club-Publikum ihrer Heimat ab. Parallel zur Größe der Auftrittsstätten stieg auch der Aufwand der Bühnenpräsentationen. Mit dem Vorwurf, eine Lücke zwischen Publikum und Musikern zu schaffen, sahen sich auch die zeitgleich agierenden Vertreter des britischen Hard Rock und Glam Rock konfrontiert – allerdings ohne dabei etwa die Verhältnisse von Emerson, Lake & Palmer zu erreichen, die 1978 mit einem 80-Mann-Symphonieorchester auf Tour gingen und ein finanzielles Desaster erlebten. Als einer der ersten Beteiligten nahm Robert Fripp die immer weiter auswuchernde Größe von Rockkonzerten als unbefriedigend wahr und nahm unter anderem das als Anlass, seine Band King Crimson 1974 aufzulösen. Forschungen Der Progressive Rock wird von zahlreichen Fanzines, von Fans in Eigeninitiative hergestellten und verbreiteten periodisch erscheinenden Magazinen sowie Artikeln in größeren, kommerziell orientierten Musikzeitschriften begleitet. Seit seiner Entstehung in den späten 1960er Jahren wird er durch kritische musikwissenschaftliche Forschungen und journalistische Buchpublikationen durchdrungen. Schon in den frühen 1970er Jahren erschienen einzelne wissenschaftliche Texte, in Deutschland vor allem von Tibor Kneif (z. B. zu Gentle Giant). Daneben entstanden erste biographische Werke von Musikjournalisten zu Bands und Musikern wie Yes, Genesis und Rick Wakeman. Seit den 1990er Jahren hat die Menge der veröffentlichten Titel erheblich zugenommen, sie geht mittlerweile in die Hunderte. Vor allem in den USA haben sich Gruppen von Musikwissenschaftlern gebildet, die sich intensiv mit dem Phänomen Progressive Rock auseinandersetzen. Dominierte bis in die Mitte der 1990er Jahre der traditionell musiksoziologische Ansatz (etwa vertreten durch Bill Martin), überwiegt heute die eindringliche Analyse von Einzelwerken oder Werkgruppen, meist unter einem übergeordneten theoretischen Ansatz, wie etwa dem der Intertextualität, der sich bei dem eklektischen Charakter dieser Stilrichtung besonders anbietet (so etwa die Dissertation von Kawamoto Akitsugu: Forms of Intertextuality: Keith Emerson’s Development as a „Crossover“ Musician). Hinzu treten Einzeluntersuchungen zu bestimmten Aspekten der Prog-Kultur wie der Covergestaltung oder Fragen der Vermarktung. Abseits der Wissenschaft wurden in den letzten Jahren zahlreiche Bandbiographien auch zu weniger bekannten Bands wie Gentle Giant, Happy the Man, Focus und einigen italienischen Bands veröffentlicht. Daneben gibt es autobiographische Texte (etwa von King Crimsons Gordon Haskell, von Yes’ Rick Wakeman oder von Gongs Daevid Allen und Gilli Smyth) und (selbst)kritische Studien der Szene von Musikern wie Chris Cutler von Henry Cow sowie zahlreiche Songbooks und aufwändige Transkriptionen. (Eine Auswahl wichtiger Literatur zum Progressive Rock sowie ein Link zu einer umfangreichen Bibliografie findet sich weiter unten bei Literatur.) Fachwissenschaftliche Veröffentlichungen in deutscher Sprache sind indes selten. Einige Biografien, zum Beispiel über Jethro Tull, gibt es auch in deutscher Sprache. Außerdem Werke von Horst Herold, Andreas Hinners und mehrere von Michael Custodis und von Bernward Halbscheffel. Siehe auch Liste von Progressive-Rock-Bands Die 50 besten Progressive-Rock-Alben aller Zeiten der Zeitschrift Rolling Stone vom 17. Juni 2015 Progressive Rock Bibliography Rockmusik :Kategorie:Progressive Rock :Kategorie:Progressive-Rock-Band :Kategorie:Progressive-Rock-Musiker Literatur Horst Herold: Symphonic Jazz – Blues – Rock. Zum Problem der Synthese von Kunst- und Unterhaltungsmusik in symphonischen Werken des 20. Jahrhunderts. LIT, Münster 1999, ISBN 3-8258-4296-7. Kevin Holm-Hudson (Hrsg.): Progressive Rock Reconsidered. Routledge, New York / London 2002, ISBN 0-8153-3715-9. Jerry Lucky: The Progressive Rock Files. Collector’s Guide Publishing, Burlington CA 1998, ISBN 1-896522-10-6. Edward L. Macan: Rocking the Classics. English Progressive Rock and the Counterculture. Oxford University Press, New York / Oxford 1997, ISBN 0-19-509888-9 (Analysiert den progressiven Rock unter Verwendung der Werkzeuge klassischer Musiktheorie und Soziologie. Mit ausführlichen Analysen der Stücke Tarkus, Close to the edge und anderer). Joe Benson: Uncle Joes Record Guide. Band: Progressive Rock. J. Benson Unltd., Glendale 1989, 2005, ISBN 0-943031-15-X. Bernward Halbscheffel: „Rock barock“ Rockmusik und klassisch-romantische Bildungstradition. Verlag Halbscheffel, Berlin 2001, ISBN 3-00-008178-X. Bernward Halbscheffel: Lexikon Progressive Rock – Musiker, Bands, Instrumente, Begriffe. Verlag Halbscheffel, Leipzig 2010; überarbeitete Neuauflage 2013, ISBN 978-3-943483-01-7. Bernward Halbscheffel: Progressive Rock – Die Ernste Musik der Popmusik. Verlag Halbscheffel, Leipzig 2012, ISBN 978-3-943483-00-0. Frank Samagaio: The Mellotron Book. ProMusic, Vallejo CA 2002, ISBN 1-931140-14-6. Bill Martin Jr.: Listening To The Future – The Time of Progressive Rock, 1968–1978. Open Court, Chicago IL 1998, ISBN 0-8126-9368-X. Markus Heidingsfelder: “Pop als System”, in: Roger Lüdeke (Hrsg.): Kommunikation im Populären. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein ganzheitliches Phänomen. Bielefeld 2011, ISBN 978-3-8376-1833-4, S. 153–172. Klaus Näumann, Martin Lücke (Hrsg.): Reflexionen zum Progressive Rock. Allitera, München 2016, ISBN 978-3-86906-843-5. Arno Frank: Oh no, not again! (Geschichte und Gegenwart des Prog-Rock) In: taz, 10. Oktober 2005. Siehe auch Die Progressive-Rock-Bibliografie auf den Seiten der Progressive Rock Bibliography, einer englischsprachigen, aber deutschen Website. Weblinks Deutschsprachige Weblinks Babyblaue Seiten (Prog-Review-Enzyklopädie der [progrock-dt]) Progressive Newsletter (Deutsches Print-Magazin mit CD-Kritiken und der, nach eigener Aussage, größten Linkliste zum Thema Progressive Rock im Internet) Supper’s Ready (Rezensionen klassischer Prog-Alben) Ragazzi (Rezensionen vorwiegend von Prog-Alben, auch Interviews und Konzertberichte) Proggies.ch (Das Schweizer Progressive Rock Portal) Erklärungsversuche Was ist Progressive Rock? Babyblaue Seiten (kurz) Was ist Progressive Rock? Babyblaue Seiten (lang) Arne Schäfer: Essay. Englischsprachige Weblinks The Progressive Rock Bibliography (umfangreiches Verzeichnis von Artikeln und Büchern zum Thema Progressive Rock) DPRP (Chronologischer Überblick über die Geschichte des Progressive Rock) Progarchives (Biografien, Diskografien, Reviews und Bewertungen von Progressive-Rock-Bands, Forum und weitere Informationen über Progressive Musik) Acid Dragon magazine (Magazin spezialisiert auf den Progressive Rock seit 1988) Einzelnachweise Stilrichtung der Rockmusik
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https://de.wikipedia.org/wiki/Peter%20Joseph%20Lenn%C3%A9
Peter Joseph Lenné
Peter Joseph Lenné, auch Peter Joseph Lenné der Jüngere (* 29. September 1789 in Bonn; † 23. Januar 1866 in Potsdam), war ein preußischer Gartenkünstler und General-Gartendirektor der königlich-preußischen Gärten. Peter Joseph Lenné prägte fast ein halbes Jahrhundert die Gartenkunst in Preußen. Er gestaltete weiträumige Parkanlagen nach dem Vorbild englischer Landschaftsgärten und konzentrierte sich auf eine sozialverträgliche Stadtplanung Berlins, indem er Grünanlagen für die Naherholung der Bevölkerung schuf. Der Schwerpunkt seiner Arbeiten lag im Berlin-Potsdamer Kulturraum, doch finden sich auch in vielen weiteren Teilen Deutschlands Zeugnisse seiner Arbeiten. Charakteristische Merkmale seiner Landschaftsgestaltungen sind die vielfältigen Sichtachsen, mit denen er vor allem in Potsdam die einzelnen Parkanlagen optisch miteinander verband und so die Bauwerke der Parkanlagen wirkungsvoll in Szene setzte. Die Sichtschneisen nahm er als Ausgangspunkt für die Anlage verschlungener Wege und Gartenflächen, in denen er mit ausdrucksvollen Gehölzen Akzente setzte. Sein landschaftskünstlerisches Werk bildet einen wesentlichen Teil der Berlin-Potsdamer Kulturlandschaft, die von der Pfaueninsel bis nach Werder reicht. Es steht, seit die gesamte Landschaft 1990 zum Weltkulturerbe ernannt wurde, unter dem Schutz der UNESCO. Leben und Wirken Herkunft Peter Joseph Lenné wurde 1789 im Gärtnerhaus, heute Konviktstraße 4, am Kurfürstlichen Schloss in Bonn geboren. Sein Vater, Peter Joseph Lenné d. Ä. (1756–1821), bekleidete dort das Amt des Bonner Hofgärtners sowie des Vorstehers des Botanischen Gartens, der zur kurfürstlichen Universität (1786–1798) gehörte. Seine Mutter hieß Anna Catharina, geborene Pottgieter, eine Tochter des Bürgermeisters in Rheinberg. Lenné war Nachkomme der aus der Gegend von Lüttich stammenden Gärtnerfamilie Le Neu oder auch Le Nain (franz.: nain = Zwerg, zwergenhaft), die 1665 ins Rheinland auswanderte und seitdem in Poppelsdorf bei Bonn in kurfürstlichen Diensten stand. Wahrscheinlich erfolgte durch den Urgroßvater Maximilian Heinrich (1675–1735) 1699 eine Namensänderung in Lenné, andere Quellen verweisen auf Peter Joseph Lenné d. Ä. Jugend und Ausbildung Der Familientradition folgend entschied sich Peter Joseph Lenné für den Gärtnerberuf. Auf Betreiben des Vaters, der für seinen Sohn eine akademische Ausbildung wünschte, erhielt er schon im Schüleralter Unterricht durch einen Universitätslehrer in Botanik. 1805 begann er eine Gärtnerlehre bei seinem Onkel väterlicherseits, dem Hofgärtner Joseph Clemens Weyhe d. Ä. (1749–1813) in Brühl, der mit Johanna Gertrud Lenné (1754–1837) verheiratet war. Am 15. September 1808 beendete Lenné seine Lehre. So zumindest besagt es ein Zeugnis. Von seinem Vater finanzierte Studienreisen führten ihn 1809 nach Süddeutschland und 1811/12 nach Frankreich. In Paris bei André Thouin, dem Leiter des Jardin des Plantes und Mitglied der Académie des sciences, erwarb Lenné Kenntnisse in der Botanik seltener Sträucher und exotischer Pflanzen, die er später durch akzentuierte Anpflanzungen in die Praxis umsetzte. Diese Art der Gartengestaltung unterschied seine Arbeiten von den Werken Friedrich Ludwig von Sckells und seines Konkurrenten Hermann Fürst Pückler-Muskau, die einheimische Gewächse bevorzugten. Die von einigen Autoren angenommene Ausbildung bei André Thouins jüngerem Bruder Gabriel Thouin, der als Gartenarchitekt wirkte, ist nicht belegt. Ein weiterer Lehrmeister soll nach Lennés eigenen Angaben Jean-Nicolas-Louis Durand gewesen sein, der am Pariser Polytechnikum architektonisches Entwerfen unterrichtete und mit der Entwicklung eines Rastersystems die Planung und Gestaltung im Städtebau vereinfachte. Nach seinem Pariser Aufenthalt kehrte Peter Joseph Lenné im Sommer 1812 zunächst zu seinen Eltern nach Koblenz zurück, wohin die Familie während der napoleonischen Besatzung 1811 umgesiedelt war und wo der Präfekt Jules Doazan den Vater zum Leiter der Departementsbaumschule ernannt hatte. Noch im selben Jahr trat Lenné seine dritte Studienreise an, die ihn nach Süddeutschland und in die Schweiz führte. Lennés eigene Aussage, er sei in dieser Zeit in der Schweiz gewesen, hält der Nachprüfung jedoch nicht stand. Während seines Aufenthalts in München lernte er möglicherweise den Gartengestalter von Sckell kennen, den Schöpfer der landschaftlichen Umgestaltungen im ursprünglich barocken Schlosspark Nymphenburg und des Englischen Gartens in München. Das Zusammentreffen ist allerdings nicht dokumentiert. Lediglich die von Lenné übernommenen Sckell’schen Geländemodellierungen auf Zeichnungen und in der praktischen Anwendung lassen ein Zusammentreffen vermuten, können aber auch allein aus der praktischen Anschauung der Werke Sckells herrühren. Bereits im Herbst 1812 führte seine Reise weiter nach Wien. Dort erhielt er eine Gehilfenstelle in den Parkanlagen des Schlosses Schönbrunn unter dem Hofgärtner Franz Boos, einem Jugendfreund seines Vaters. Ein weiterer Wechsel nach Laxenburg, dem Sommersitz der Habsburger, erfolgte 1814. Dort bekam er den Auftrag, einen Umgestaltungsentwurf für die weiträumige Parkanlage des Barockschlosses Blauer Hof anzufertigen. Sein Plan wurde nicht ausgeführt. Die von ihm behauptete Verleihung des Titels Kaiserlicher Garten-Ingenieur ist nicht nachweisbar. 1815, ein Jahr nach dem Tod seiner Mutter am 12. Januar 1814, kehrte Peter Joseph Lenné nach Koblenz zurück. Er arbeitete bei seinem Vater mit, der die Gestaltung von Privatgärten übernahm, und entwarf Pläne für eine Erweiterung der Stadt Koblenz nach Abtrag der Festungsanlagen. Anstellung am preußischen Hof Als nach dem Wiener Kongress die Rheinprovinz dem Königreich Preußen zugesprochen wurde, bewarb sich Lenné um eine Stelle am preußischen Hof. Durch die Napoleonischen Kriege waren die Berliner und Potsdamer Parkanlagen in einem verwahrlosten Zustand, deren Verwaltung dem Hofmarschallamt unterstand, das Hofmarschall und „Intendant der Königlichen Schlösser und Gärten“ Burchard Friedrich Freiherr von Maltzahn leitete. Im Februar 1816 erhielt Lenné in Potsdam eine Gehilfenstelle mit (29. September) und war anfangs vermutlich an verschiedenen Orten tätig, um Zeichnungen von den königlichen Gartenanlagen anzufertigen. In diesem Jahr entstand auch der „Plan von Sanssouci und dessen Umgebungen“. Im Mai bekam er bei Hofgärtner Johann Friedrich Morsch im Neuen Garten eine Gehilfenstelle zugewiesen, wurde aber von Oberhofbaurat und Gartendirektor Johann Gottlob Schulze oft zum Zeichnen in die Gartendirektion bestellt. Dieser Im Neuen Garten wohnte Lenné im sogenannten „Grünen Haus“, an der Nordspitze des Heiligen Sees. In diese Zeit fällt ebenfalls der Auftrag des preußischen Staatskanzlers Karl August Fürst von Hardenberg, die Besitzungen Neuhardenberg und Glienicke gartenkünstlerisch umzugestalten. Nach dem Kauf der Gutsanlage Glienicke durch Carl von Preußen 1824 konnte Lenné seine landschaftsgärtnerischen Arbeiten unter dem neuen Eigentümer übergangslos weiterführen. Hier legte er den Grundstein für ein weiträumiges Gesamtkunstwerk, das unter seiner Leitung in den darauffolgenden fünf Jahrzehnten die „Insel Potsdam“ zu einem großen, zusammenhängenden Landschaftsgarten werden ließ. Dieses Großprojekt wurde vor allem in der Regierungszeit des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. gefördert. Beruflicher Werdegang Im Jahr 1817 wurden Peter Joseph Lenné in Potsdam drei frei gewordene Hofgärtnerstellen angeboten, die er alle ablehnte, weil ihm die Tätigkeiten in den Gartenrevieren nicht zusagten. Eine Anstellung in der Königlichen Gartendirektion nahm er im Februar 1818 an. Maltzahn, der Lenné förderte und maßgeblich an dessen Aufstieg beteiligt war, gab ihm den Titel Garteningenieur und Mitglied der Gartendirektion. Nun hatte er nicht nur die Position eines Hofgärtners übersprungen, sondern war sogar deren Vorgesetzter und dem Oberhofbaurat und Gartendirektor Johann Gottlob Schulze fast gleichgestellt, der das Amt seit 1790 innehatte. In einer Instruktion des Hofmarschalls von Maltzahn an die Hofgärtner vom 10. Februar 1818 heißt es, Die Gärtner mussten nun die Anweisungen dreier Vorgesetzter befolgen. In der Zusammenarbeit zwischen Schulze und Lenné kam es fortwährend zu Spannungen. Schulze beklagte sich über die unklaren Kompetenzen in der Gartenverwaltung und bemängelte immer wieder Lennés Eigenmächtigkeiten, durch die er seine Autorität als Gartendirektor schwinden sah. Zudem bekam Lenné die Aufsicht über die Baumschulen übertragen, . Auch heiratete Lenné nicht dessen Tochter Karoline, sondern am 3. Januar 1820 in der katholischen Kirche St. Peter und Paul Friederica Louisa Voß (1798–1855), die älteste Tochter des lutherischen Hofgärtners im Potsdamer Küchengarten Joachim Heinrich Voß. Die 35-jährige Ehe blieb kinderlos. Lenné zog aus der gehobenen Stellung seinen Nutzen. Als 1822 auf Anregung des Staatsministers der Geistlichen-, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten Karl vom Stein zum Altenstein der Verein zur Beförderung des Gartenbaues in den Königlich Preußischen Staaten gegründet wurde, gehörte Lenné zu den elf Gründungsmitgliedern. In diesem ersten deutschen Gartenverein war er ab Juni 1823 Vorsteher der Verwaltungsausschüsse für Obstbaumzucht und für bildende Gartenkunst sowie zweiter Stellvertreter des Direktors. Friedrich Wilhelm III. gründete mit Kabinettsorder vom 20. August 1823 die Königliche Gärtner-Lehranstalt zu Schöneberg und Potsdam, die 1853 nach Potsdam und 1903 nach Berlin-Dahlem verlegt wurde, in Verbindung mit einer Landes-Baumschule. In der Lehranstalt erhielten die angehenden Gartenarchitekten erstmals eine Ausbildung auf wissenschaftlicher Basis. Am 21. Oktober 1823 ernannte der preußische König Lenné zum Direktor der Landesbaumschule sowie zum Direktor der Potsdamer Gärtnerlehranstalt. Nachdem der fast 74-jährige Johann Gottlob Schulze, ohne darum gebeten zu haben, zum 1. April 1828 pensioniert worden war, erhielt Lenné außerdem das Amt des Gartendirektors der königlichen Gärten. 1847 wurde Lenné Mitglied im Landesökonomie-Collegium, das in wirtschaftstechnischen Angelegenheiten das Landwirtschaftsministerium unterstützte. 1854 verlieh ihm Friedrich Wilhelm IV. den Titel Generaldirektor der Königlichen Gärten. Mit diesem Titel war keine Erweiterung seines Zuständigkeitsbereichs verbunden. Seine Kenntnisse vertiefte und erweiterte er auf Reisen zum Studium der großen Parkanlagen. Nachdem der englische Gartenkünstler John Adey Repton (1775–1860) – ältester Sohn des Landschaftsarchitekten Humphry Repton – im Mai 1822 in Potsdam war und Gestaltungsmöglichkeiten für die königlichen Gärten vorschlug, reiste Lenné im Spätsommer des Jahres nach England. Seine Eindrücke, die er in einem Reisejournal festhielt, wurden 1824 unter dem Titel Allgemeine Bemerkungen über die Brittischen Parks und Gärten in Fragmenten veröffentlicht. Weitere Bildungsreisen folgten 1830/31 nach Süddeutschland und Westeuropa, 1837 nach Brüssel und Paris sowie 1844 und 1847 nach Italien. Parkanlagen Lennés Garten- und Landschaftsgestaltungen erfolgten in enger Zusammenarbeit mit den Architekten Karl Friedrich Schinkel, Ludwig Persius und Ferdinand von Arnim. Seine bereits 1818 begonnene Umgestaltung des Parks Sanssouci, erweiterte er ab 1825 nach dem Ankauf des Charlottenhofer Parkteils und verband den alten Park aus der Zeit Friedrichs II. mit dem neuen Areal, das er als Landschaftspark formte. Im friderizianischen Teil hatte er seine Dienstwohnung im Haus der Gartendirektion unterhalb der Weinbergterrassen des Schlosses Sanssouci. Weitere Anlagen in Potsdam waren unter anderem der Pfingstberg, die Alexandrowka, die Pfaueninsel, der Park Sacrow, der Böttcherberg und das gegenüberliegende Babelsberger Parkgelände, das jedoch wegen Unstimmigkeiten mit seinen Auftraggebern Wilhelm (I.) von Preußen und vor allem dessen Gemahlin Augusta durch seinen Konkurrenten Fürst Pückler-Muskau vollendet wurde. Nach dem Tod Friedrich Wilhelms IV. im Jahre 1861 konnten die umfangreichen Gartenprojekte nicht fortgeführt werden. Der Nachfolger auf dem preußischen Thron, Wilhelm I., setzte andere Schwerpunkte. Nach Lennés Entwürfen entstanden zudem zahlreiche Parkanlagen und Gutsgärten in und außerhalb Preußens, die durch spätere Überformung, mangelhafte Pflege oder Umnutzung nicht immer als ein Werk Lennés erkennbar sind. Ein größeres Projekt war die gärtnerische Gestaltung des Klosterbergegartens in Magdeburg, deren Planung 1824 begann und die unter dem Titel Ueber die Anlage eines Volksgartens bei der Stadt Magdeburg veröffentlicht wurde. Die mecklenburger Großherzöge Paul Friedrich und Friedrich Franz II. beauftragten Lenné mit einer Neuplanung des Schweriner Schlossgartens. Zwischen 1840 und 1852 wurden die Veränderungen nach Lennés Plänen unter der Leitung von Hofgärtner Theodor Klett realisiert. Seine Pläne beinhalteten den Erhalt des bestehenden Barockgartens. Gleichzeitig wurden gravierende Erweiterung geplant. Hierzu gehörte der neue Burggarten, die verschiedenen Nutzgärten mit Warm- und Kalthäusern, die Kaskaden und das Hippodrom. Trotz seines Lebensmittelpunktes in Potsdam und Berlin blieb Peter Joseph Lenné seiner rheinischen Heimat verbunden. Im Raum Koblenz trug er zu weiteren Verschönerungen bei, insbesondere in den Koblenzer Rheinanlagen, die bis 1861 unter seiner Leitung entstanden. Beim Wiederaufbau von Schloss Stolzenfels, einem Hauptwerk der Rheinromantik, war er für die Gestaltung der Gartenanlagen verantwortlich. Da er in der alten Heimat den Lebensabend verbringen wollte, ließ er sich das unter dem Namen Lenné-Haus (nicht erhalten) bekannte Wohngebäude in Koblenz bauen, das er aber nicht mehr beziehen konnte. Der Stadtplaner Lenné Nicht nur in der Landschaftsgestaltung um Potsdam war Lenné gefragt. 1840 übertrug ihm der gerade inthronisierte König Friedrich Wilhelm IV. die städtebauliche Planung Berlins. Durch die Industrialisierung und den Zuzug der Landbevölkerung war die Einwohnerzahl auf rund 330.000 angewachsen, eine Zunahme, die sich seit 1810 mit rund 160.000 Einwohnern in dreißig Jahren mehr als verdoppelt hatte. Lenné überarbeitete den nicht ausgeführten Bebauungsplan des Oberbaurats Johann Carl Ludwig Schmid aus den 1820er-Jahren, der sich besonders auf das Köpenicker Feld, „das Gebiet am Frankfurter Tor, und das innerhalb der Akzisemauer noch unbebaute Gebiet in der Luisenstadt“ konzentrierte. Den Mangel an Grünflächen glich Lenné in seinem 1840 vorgelegten Entwurf Projectirte Schmuck- und Grenzzüge von Berlin mit nächster Umgebung aus. Darin verband er die ökonomischen Erfordernisse, die eine stetig wachsende Stadt mit sich brachte, mit den kulturpolitischen und gesundheitlichen Bedürfnissen der Bevölkerung durch unmittelbar am Wohn- und Arbeitsplatz liegende Grünanlagen und Promenaden für die Naherholung. Neben breiter Straßen erhielt die Stadt vor allem durch den Ausbau des Landwehr- oder Schafgrabens zum Landwehrkanal, den Bau des Luisenstädtischen Kanals als Verbindung zwischen Landwehrkanal und Spree sowie des Berlin-Spandauer Schifffahrtskanals dringend benötigte Wasserstraßen für den Transport von Waren und Baumaterial. Die als Alleen angelegten Uferstraßen entlang des Luisenstädtischen Kanals und Badestellen am Landwehrkanal dienten der Bevölkerung als Erholungszonen. Wegen seiner regen Bautätigkeit nannten ihn die Berliner daraufhin Buddelpeter. In seinem Erläuterungsbericht zu den Schmuck- und Grenzzügen schrieb Lenné: Letztendlich war der Bebauungsplan „eine Art Kompromiss zwischen den Planungen Schmids, den Wünschen des […] Königs für die Luisenstadt und den Vorstellungen Lennés.“ Sein Schmuck- und Grenzzügeplan wurde jedoch nicht in allen Teilen ausgeführt, oder einiges erst später in veränderter Form realisiert. Lennés Gestaltungsphasen Die gärtnerischen Gestaltungen Lennés werden von Gartenhistorikern in drei Phasen gegliedert. Bis 1820, andere Quellen verweisen auf die Zeit von etwa 1815 bis 1830, widmete er der reinen Gartenkunst. Von 1820, andere Quellen nennen 1830, bis zu seiner dritten Phase 1840, entstanden neben kleineren ländlichen Parkanlagen die weiträumigen Park- und Landschaftsgestaltungen mit Sichtachsen, Blumengärten mit zum Teil exotischen Pflanzen und Wasserspielen. Um seinen Gestaltungsideen Platz zu schaffen, ließ er oft alten Baumbestand abholzen oder Schneisen hinein schlagen. Lennés Nachfolger, Ferdinand Jühlke, charakterisierte ihn später als einen Zerstörer, welcher mit unbeugsamer Strenge das Alte niederwirft, um Raum für seine Ideen zu gewinnen und dann wieder als ein organisatorisches Genie, um wieder Ordnung und Harmonie in die Massen seiner Schöpfungen zu bringen. In Lennés gewaltiger Natur war die Kraft des Zerstörens, Schaffens und Organisierens in einer ganz wunderbaren Weise vereinigt. In seiner späten Gestaltungsphase, etwa ab 1840, passte Lenné seine Entwürfe dem aufgekommenen Historismus an, der in der Architektur die Stilformen vergangener Epochen wiederbelebte. In der Gesamtanlage eines englischen Landschaftsparks schuf er einzelne blumengeschmückte Gartenabschnitte, die zum Beispiel die geometrischen Formen der italienischen Renaissance- oder der französischen Barockgärten zum Vorbild hatten. In dieser Mischform des natürlichen Landschaftsparks mit schmückenden Gartenpartien entwarf Lenné nicht nur Privatgärten, sondern im Zuge der Stadtplanung ebenfalls öffentliche Grünanlagen und Volksparks, deren Gestaltung sein Meisterschüler und späterer Berliner Gartendirektor Gustav Meyer im Sinne Lennés fortsetzte. Schüler von Lenné und Meyer schlossen sich 1887 im Verein deutscher Gartenkünstler zusammen, um die Grundsätze der künstlerischen Gestaltung ihrer Vorbilder, der so genannten Lenné-Meyer-Schule, zu fördern und zu pflegen, die bis zur Gartenreformbewegung um 1900 richtungsweisend waren. Ehrungen Während seiner Amtszeit bekam Lenné zahlreiche Ehrungen. Da er als preußischer Beamter in königlichen Diensten für seine Arbeiten außerhalb Preußens kein Honorar nehmen durfte, erhielt er zahlreiche Sachgeschenke wie Orden, Tafelservice, Tuchnadeln und ähnliches mehr. Außerdem wurden noch zu seinen Lebzeiten Straßen nach ihm benannt, in denen er gartengestalterisch tätig war. Unter anderem in Berlin, wo er sich ein Jahr vor der Namensumbenennung durch den Architekten Ludwig Persius 1838 ein Haus in der Lennéstraße 1 (vormals Kanonenweg) errichten ließ. Am 30. April 1853 ernannte ihn die Königlich Preussische Akademie der Künste in Berlin zum Ehrenmitglied. Von der Universität Breslau bekam er am 12. Januar 1861 die Ehrendoktorwürde (Dr. phil. h. c.) und am 29. Juni 1863 von der Stadt Potsdam die Ehrenbürgerschaft. Von den zwölf in- und ausländischen Orden, die Lenné zwischen 1832 und 1864 erhielt, empfing er von Friedrich Wilhelm IV. das Komturkreuz des Königlichen Hausordens von Hohenzollern und für einen preußischen Beamten bürgerlichen Standes als besondere Auszeichnung, den Roten Adlerorden II. Klasse. Außerdem ließ der König 1848 im Park Sanssouci, nördlich des Neuen Palais, eine Herme mit Lennés Bildnis aufstellen. Die 1847 von Heinrich Berges ausgeführte Marmorbüste entstand nach einem Modell von Christian Daniel Rauch. Kopien der Büste befinden sich unter anderem in Bonn, den Koblenzer Rheinanlagen und auf der Roseninsel bei Feldafing. Die Botaniker ehrten ihn mit der Benennung einer Magnoliensorte, der Magnolia (soulangeana) lenneana, aus der Familie der Magnoliengewächse und mit der Art Monstera lennea () (jetzt Monstera deliciosa) aus der Familie der Aronstabgewächse. Auch die Gattung Lennea () aus der Familie der Hülsenfrüchtler (Fabaceae) ist nach ihm benannt. Kurz vor seinem fünfzigsten Dienstjubiläum erlitt Lenné im Alter von 77 Jahren einen Gehirnschlag. Seine letzte Ruhe fand er auf dem Familienfriedhof der „Familienstiftung Hofgärtner Hermann Sello“, einem Teil des Bornstedter Friedhofs, neben Angehörigen der Gärtnerfamilien Sello und Nietner sowie den Architekten Ludwig Persius und Reinhold Persius. Ein für das Dienstjubiläum am 15. Februar 1866 von seinen Freunden und Schülern gestifteter silberner, mit Blattgold überzogener Lorbeerkranz konnte ihm wegen seines Todes nicht mehr überreicht werden. Er wurde dem Sarg vorangetragen. Jedes der fünfzig Blätter enthielt eine Gravur mit den wichtigsten von Lenné angelegten Gärten: Pfingstberg, Glienicke, Sacrow, Ruinenberg, Alexandrowka, Lindstedt, Charlottenhof, Wildpark, Nordischer Garten, Neues Orangerie-Haus, Sizilianischer Garten, Sanssouci-Marly, Oeynhausen, Moabit-Borsig, Ludwigslust, Laxenburg, Leipzig, Dresden, Frankfurt, Berlin Zoologischer Garten, Neuhardenberg, Homburg, Basedow, Ballenstedt, Köln-Flora, Magdeburg, Breslau, Altenstein, Berlin Tiergarten, Boytzenburg, Berlin Plätze, Berlin Bebauung, Berlin Schiffahrts-Kanal, Oliva, Erdmannsdorf, Camenz, Fasanerie, Hohenzollern-Burg, Brühl, Stolzenfels, Benrath, Koblenz, Charlottenburg, Schönhausen, Babelsberg, Pfaueninsel, Wolfshagen, Schwerin, Neu-Strelitz, Lübeck. Ein Berliner Oberstufenzentrum und die größte Agrarschule Deutschlands trägt den Namen Peter-Lenné-Schule. Die Peter-Joseph-Lenné-Gesamtschule ist eine Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe in Potsdam. Werkeliste (Auswahl) 1814/15 Mitarbeit am Schlosspark Laxenburg 1816 und 1828 Änderungen Neuer Garten, Potsdam 1816 bis etwa 1862 Pleasureground und Landschaftspark Glienicke mit Park Jagdschloss Glienicke und Böttcherberg, Berlin 1816–1834 Pfaueninsel, Berlin ab 1818 Umgestaltung und Erweiterung des Parks Sanssouci, Potsdam mit 1825–1829 Charlottenhof, 1842 Fasanerie, 1845–1847 Marlygarten und Friedensgarten an der Friedenskirche, 1857–1860 Nordischer- und Sizilianischer Garten 1819 Mitwirkung am Schlosspark Fürstlich Drehna 1820 Parkanlage von Schloss Lübbenau 1821 Gartenanlage Schloss Friedrichsfelde (Tierpark) 1821–1823 Park Schloss Neuhardenberg 1822 Park Zwierzyniec, Złotów (Flatow in Pommern) 1823 Park von Schloss Marquardt Zwischen 1821 und 1840 entstanden außerdem die meisten seiner 120 ländlichen Parkanlagen, unter anderem 1829 der Park des Schlosses Liebenberg. Beschrieben in Theodor Fontanes Fünf Schlösser in Wanderungen durch die Mark Brandenburg und um 1838 Petzow 1825–1835 Klosterbergegarten, Magdeburg um 1825 landschaftliche Umgestaltung des ab 1819 erweiterten Schlossgartens von Neustrelitz nach Rat von Lenné, ausgeführt durch Hofgärtner Hugo Stark 1826/27 Alexandrowka, Potsdam 1827 Nordpark (ehem. Friedhof), Magdeburg 1828–1830 Schlossgarten Caputh 1829 Planung Schlosspark Liebenberg (Löwenberger Land) 1829/30 Herrenkrugpark (Teil der Elbaue), Magdeburg 1830/31 und 1862 Wilhelmplatz (Platz der Einheit), Potsdam 1832 Schlosspark Blankensee (bei Trebbin) 1832 Park Wolfshagen Uckermark 1833–1840 Tiergarten, Berlin 1833–1842 Zoologischer Garten, Berlin 1833–1843 Park Babelsberg, Potsdam 1835–1840 mehrere Umgestaltungspläne für den Park von Schloss Basedow, ausgeführt 1835 bis 1852 1835–1845 Lennépark Frankfurt (Oder) 1836–1842 Gartenanlagen am Berghang um Schloss Stolzenfels, Koblenz 1839 Pieschener Park, Altenplathow nach 1840 Landschaftspark in Blumberg (Barnim) bei Ahrensfelde, Mitarbeit Gerhard Koeber ab 1840 Weiterarbeit nach Carl August Sckells Tod am Park des Schlosses Hohenschwangau („Schwanseepark“) ab 1840 Wildpark, Potsdam ab 1840 Stadtplanung Berlin (siehe auch Hobrecht-Plan) Bebauung: Tempelhofer Feldflur, Schöneberger Feldflur, Köpenicker Feldflur Straßenzüge: von der Gneisenau- und Yorckstraße über Dennewitzplatz, Nollendorfplatz, Kleiststraße und Wittenbergplatz bis Zoologischer Garten Plätze: unter anderem Belle-Alliance-Platz (Mehringplatz), Lustgarten, Leipziger Platz, Opernplatz (Bebelplatz), Hausvogteiplatz, Mariannenplatz (am Krankenhaus Bethanien), Gelände der Charité ab 1841 Paradiesgarten am Park Sanssouci, Potsdam, angelegt von Hermann Sello 1840–1852 Schweriner Schlossgartens 1841/42 Ruinenberg, Potsdam ab 1842 landschaftliche Umgestaltung des Schlossgartens Brühl ab 1842 Parkanlage Sacrow, Potsdam ab 1842 landschaftliche Gestaltung der Bornstedter Feldflur, Potsdam ab 1842 Schlosspark Blücher, Göhren-Lebbin 1845–1855 Landwehrkanal, Berlin 1846/47 Marlygarten, Potsdam 1847–1863 (mit Unterbrechung zwischen 1852 und 1862) Pfingstberg 1847–1859 Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal, Berlin 1848–1852 Luisenstädtischer Kanal, Berlin um 1850 Neugestaltung der Wallanlagen beim Bau der Eisenbahn, Lübeck 1851–1853 Kurpark Bad Oeynhausen 1852 Elisengarten in Aachen bis 1853 Romantik-Park Schloss Kittendorf 1852–1860 Park von Schloss Ludwigslust, Ludwigslust 1852/53 Stadtpark und Kurgarten in Aachen ab 1854 Lenné-Park mit Roseninsel in Feldafing 1854 „Schmuck- und Grenzzügeplan für München“ im Auftrag Max II. 1856 Kurpark Bad Homburg 1856–1861 Kaiserin-Augusta-Anlagen und Park des Kurfürstlichen Schlosses, Koblenz 1857 „Schillerpark“ (offizieller Name „Lenné-Anlage“, südöstlicher Teil des Promenadenrings), Leipzig 1858 Schlosspark Kamenz, Schlesien 1858 Johannapark, Leipzig 1858 Prinzengarten Schlosspark Ballenstedt 1858 Schlosspark Karnin 1858–1860 Parkanlage Schloss Lindstedt, Potsdam 1860 Parkanlage Schloss Kröchlendorff 1858–1866 Schlosspark, 1864 Zehnthof, Sinzig 1860/61 Kuranlagen Bad Neuenahr-Ahrweiler um 1860 Teile der Gartenanlage der Dresdner Bürgerwiese sowie Außenanlagen im Zoo Dresden 1860 Park von Schloss Remplin, Remplin 1863 Klinikpark an der LWL-Klinik Lengerich 1863 Garten für die Flora (Botanischer Garten), Köln-Riehl Siehe auch Peter-Joseph-Lenné-Preis Literatur Sylvia Butenschön: Der früheste Entwurfsplan Lennés. Ein Wettbewerbsbeitrag für den Stadtpark in Budapest. In: Die Gartenkunst 29 (1/2017), S. 1–24. Florian von Buttlar: Peter Joseph Lenné – Volkspark und Arkadien. Nicolai, Berlin 1989, ISBN 3-87584-277-4. Harri Günther: Peter Joseph Lenné. Gärten, Parke, Landschaften. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1990, ISBN 3-421-02844-3 (Unveränderter Reprint der Originalausgabe im Verlag für Bauwesen, Berlin 1985). Harri Günther, Sibylle Harksen (Bearbeiter): Peter Joseph Lenné. Katalog der Zeichnungen. Hrsg.: Heinz Schönemann, Wasmuth, Tübingen/Berlin 1993, ISBN 3-8030-2805-1 (Katalogausgabe). Petra Habrock-Henrich, Rita Hornbach, Brigitte Schmutzler (Red.): Peter Joseph Lennè – Eine Gartenreise im Rheinland. Begleitpublikation zur Sonderausstellung der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz/Landesmuseum Koblenz vom 15. April–16. Oktober 2011 in der Festung Ehrenbreitstein. Schnell + Steiner, Regensburg 2011. ISBN 978-3-7954-2506-7. Géza Hajós: Peter Joseph Lenné und Laxenburg. Die Bedeutung des wiedergefundenen Lenné-Planes für den kaiserlichen Park in Laxenburg bei Wien. In: Die Gartenkunst 13 (1/2001), S. 1–14. Christa Hasselhorst: Peter Joseph Lenné. Vom Erschaffen der Landschaft. Edition Braus, Berlin 2014, ISBN 978-3-86228-091-9. Christa Hasselhorst: Entdeckungsreise einer Dilettantin zu Peter Joseph Lenné. Aufsatzsammlung zum Lenné-Symposium, Schriftenreihe J, Band 11 der Hochschule Neubrandenburg 2017, ISBN 978-3941968639. Christa Hasselhorst: Herrn Lennés grandioses Gespür für Landschaft in: Zwischen Schlosspark und Küchengarten | DAS PARADIES IST ÜBERALL, Corso Verlag – Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2021, ISBN 978-3-737407-64-9. Gerhard Hinz: Peter Joseph Lenné. Das Gesamtwerk des Gartenarchitekten und Städteplaners. 2 Bände, Olms, Hildesheim 1989, ISBN 3-487-09210-7. Gerhard Hinz: Peter Josef Lenné und seine bedeutendsten Anlagen in Berlin und Potsdam (= Kunstwissenschaftliche Studien. Band 22). Deutscher Kunstverlag, Berlin 1937, (Dissertation Universität Berlin 1937, 214 Seiten). Detlef Karg (Redaktion): Peter Joseph Lenné. Gartenkunst im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Lenné-Forschung. Herausgegeben vom Brandenburgischen Landesamt für Denkmalpflege. Verlag für Bauwesen, Berlin 1992, ISBN 3-345-00265-5. Detlef Karg, Hans-Joachim Dreger (Bearb.): Peter Joseph Lenné – Parks und Gärten im Land Brandenburg. Werkverzeichnis (= Forschungen und Beiträge zur Denkmalpflege im Land Brandenburg 7). Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 2005, ISBN 978-3-88462-217-9 Bernd Löhmann: Ein Garten für König und Volk: Peter Joseph Lenné und der Brühler Schloßgarten (= Jahrbuch des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Landschaftsschutz), herausgegeben vom Rheinischen Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz, Landschaftsverband Rheinland, Köln 2000, ISBN 3-88094-861-5 (Veränderte Dissertation Universität Bonn 1997 unter dem Titel: Der Brühler Garten unter Peter Joseph Lenné d. J. 215 Seiten). Heinz Ohff: Peter Joseph Lenné. Jaron, Berlin 2003, ISBN 3-89773-123-1. Michael Seiler: Anmerkungen über die Wege als Regieführung in den Gärten von Peter Joseph Lenné. In: Die Gartenkunst 18 (2/2006), S. 277–283. Gerd-Helge Vogel (Red.): Peter Joseph Lenné und die europäische Landschafts- und Gartenkunst im 19. Jahrhundert. 6. Greifswalder Romantikkonferenz 1989. Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Greifswald 1992, ISBN 3-86006-043-0. Clemens Alexander Wimmer: Aus dem Leben Peter Joseph Lennés. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, Nr. 85, 1989, S. 210 ff. ( Online-PDF-Dokument, abgerufen am 29. September 2009). Clemens Alexander Wimmer: Bestandskatalog der Berliner Pläne von Peter Joseph Lenné, mit Anhang Bundesrepublik Deutschland und Österreich (= Gartendenkmalpflege. Heft 5). Herausgegeben vom Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz, Abteilung Natur, Landschaft, Grün, Kulturbuch, Berlin 1990, . Clemens Alexander Wimmer: Der Gartenkünstler Peter Joseph Lenné. Eine Karriere am preußischen Hof. Lambert Schneider, Darmstadt 2016, ISBN 978-3-650-40129-8 (Zum 150. Todestag Lennés am 23. Januar 2016). Clemens Alexander Wimmer: Pflanzenverwendung bei Peter Joseph Lenné – Ein Beitrag zum 150. Todestag. In: Die Gartenkunst 28 (1/2016), S. 167–196. Weblinks Suche nach Lenné im Portal Plansammlung Plansammlung, Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologisches Landesmuseum Route zu Gärten und Parks von Peter Josef Lenné in Nordrhein-Westfalen bei baukunst-nrw Das Vermächtnis des Peter Josef Lenné Einzelnachweise Landschaftsarchitekt (Deutschland) Gärtner Stadtplaner (Berlin) Ehrenbürger von Potsdam Träger des Roten Adlerordens 2. Klasse Komtur des Königlichen Hausordens von Hohenzollern Mitglied der Preußischen Akademie der Künste Preuße Deutscher Geboren 1789 Gestorben 1866 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Geh%C3%B6rkn%C3%B6chelchen
Gehörknöchelchen
Die Gehörknöchelchen (lat. Ossicula auditūs, wörtlich „Knöchelchen des Gehörs“) sind kleine Knochen im Mittelohr der Wirbeltiere mit Ausnahme der Fische (Fischschädel), die mechanische Schwingungen auf das Innenohr weiterleiten. Die Gehörknöchelchen treten evolutionär erstmals bei Amphibien in Form eines einzelnen Knöchelchens auf, das als Säulchen (Columella) oder Steigbügel (Stapes) bezeichnet wird. Bei den Säugetieren kommen zwei weitere Gehörknöchelchen, Hammer (Malleus) und Amboss (Incus), hinzu. Anatomie Amphibien, Reptilien und Vögel Bei den Knochenfischen (Osteichthyes) bilden die beiden Knochen Os quadratum und Os articulare das primäre Kiefergelenk. Das Os hyomandibulare hingegen verbindet das Os quadratum mit den Knochen des Schädeldachs. Auch bei den Reptilien bilden Os quadratum und Os articulare ein primäres Kiefergelenk, doch ist hier das Os quadratum direkt mit dem Schädeldach verbunden. Aus dem Os hyomandibulare wurde bei den Amphibien schon die Columella und damit zum Gehörknöchelchen. Dagegen ist bei den Säugetieren der Unterkiefer direkt über ein sekundäres Kiefergelenk mit dem Schläfenbein verbunden. Der Steigbügel (Stapes), der bei Amphibien, Reptilien und Vögeln als Säulchen (Columella) bezeichnet wird, ist ein länglicher Knochenstab und mit seiner Basis (Basis columellae) im Vorhoffenster (Fenestra vestibuli; auch ovales Fenster, Fenestra ovalis), einer kleinen Öffnung zwischen Mittel- und Innenohr, verankert. Das gegenüberliegende Ende der Columella besitzt drei knorplige Fortsätze, die Extracolumella (Cartilago extracolumellaris). Bei den Vögeln, den Amphibien und Reptilien mit einem Trommelfell ist die Extracolumella an diesem verankert. Bei Tieren mit nicht aus- bzw. zurückgebildeter Paukenhöhle und fehlendem Trommelfell (Schleichenlurche, Schwanzlurche, Europäische Schaufelfußkröten, Unken, Doppelschleichen und Schlangen) ist die Extracolumella (hier auch Plectrum genannt) am Schädel befestigt. Hier dient das Gehörknöchelchen nicht der Weiterleitung von Schallwellen, sondern von Bodenvibrationen, die über das Skelett auf das ovale Fenster übertragen werden. Säugetiere Die Gehörknöchelchen sind die kleinsten Knochen eines Säugetieres. Der Hammer wiegt beim Menschen ca. 23 mg, der Amboss 27 mg und der Steigbügel ca. 2,5 mg. Die Gehörknöchelchen sind untereinander gelenkig verbunden, über einen Bandapparat in der Höhle des Mittelohrs befestigt und werden in ihrer Gesamtheit von der Schleimhaut des Mittelohrs überzogen. Der Hammer, der erste Knochen in der Kette der Gehörknöchelchen, ist mit seinem spatelförmigen Hammerstiel (Manubrium mallei) mit dem Trommelfell (Membrana tympani, Myrinx) verwachsen. An seinem Muskelfortsatz (Processus muscularis) ist die Endsehne des Trommelfellspanners (Musculus tensor tympani) befestigt. Der Kopf des Hammers (Caput mallei) steht mit dem Körper des Amboss (Corpus incudis) im Hammer-Amboss-Gelenk (Articulatio incudomallearis) in Verbindung. Der Amboss trägt an seinem langen Schenkel (Crus longum) den Linsenbeinfortsatz (Processus lenticularis), welcher mit dem Steigbügelkopf (Caput stapedis) das Amboss-Steigbügel-Gelenk (Articulatio incudostapedia) bildet. Der Linsenbeinfortsatz ist nur durch einen kleinen Knochensteg und Bindegewebe mit dem Amboss verbunden, so dass er bei der Präparation häufig abbricht und ab Beginn des 17. Jahrhunderts nach dem Erstbeschreiber Franciscus Sylvius als eigenständiges Knöchelchen (Linsenbeinchen, Os lenticulare, Osselet de Sylvii) angesehen wurde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dem Linsenbeinchen der Status eines eigenständigen Knochens in der Humananatomie und Zoologie aberkannt und dieser Begriff aus der humananatomischen Nomenklatur gestrichen. In der veterinäranatomischen Nomenklatur hat sich dieser Begriff bis heute gehalten. Ein selbstständiges Linsenbeinchen kommt jedoch bei keinem Säugetier vor. Am Steigbügelkopf setzt die Endsehne des Steigbügelmuskels (Musculus stapedius) an. Die Steigbügelplatte (Basis stapedis) ist über das Steigbügelringband (Ligamentum anulare stapedis) mit einer Bandhaft (Syndesmosis tympanostapedia) im ovalen Fenster der Felsenbeinpyramide verankert. Histologie Histologisch zeigen die Gehörknöchelchen wesentliche Unterschiede zu den übrigen Knochen. In ihnen kommt nicht nur Lamellenknochen vor, sondern zusätzlich Geflechtknochen, Knorpel, verkalkter Knorpel, sogenannte Globuli ossei und Interglobularräume sowie der sogenannte Strähnenknochen. Der Strähnenknochen ist eine embryonal gebildete Knochensubstanz, deren Kollagenfibrillen in allen Ebenen des Raumes verlaufen und sich dabei zu Strähnen, ähnlich denen des Haars, verflechten. Die Globuli ossei sind kugelförmige Ansammlungen von Knochensubstanz, an deren Rand Knorpelreste persistieren. Diese Knorpelreste verkalken und werden Interglobularräume genannt. Entwicklungsgeschichte Das Ohr dient ursprünglich nicht der Schallwahrnehmung, sondern als Gleichgewichtsorgan. Die Columella ist bereits zu Beginn der Evolution der Landwirbeltiere bei frühen Amphibien zu finden. Bei Haien und Knochenfischen ist dieser Knochen als sogenanntes Hyomandibulare noch Bestandteil der Oberkieferaufhängung. Das Homologon zur Columella bei Säugetieren ist der Steigbügel, allerdings nur der innenohrseitige Teil der Columella, da sich die Extracolumella bei Säugetieren zurückgebildet hat. Die beiden anderen Knöchelchen wurden fossil zuerst bei der Säugetierart Hadrocodium wui aus dem Erdzeitalter des Jura nachgewiesen. Bei den anderen Wirbeltieren bilden sie als Articulare und Quadratum noch das (primäre) Kiefergelenk, welches bei den Säugetieren während der fetalen Entwicklung durch ein an anderer Stelle entstehendes, sekundäres Kiefergelenk ersetzt wird. Zwei der Exklusivmerkmale der Säugetiere betreffen die Gehörknöchelchen: Nur bei Vertretern dieser Klasse sind drei Gehörknöchelchen ausgebildet und nur bei diesen hat der Steigbügel eine steigbügelartige Form. Die zurzeit immer noch von den meisten Wissenschaftlern anerkannte Reichert-Gauppsche Theorie wurde zunächst anhand der Lagebeziehungen der Gehörknöchelchen zu den Nerven des Mittelohrs aufgestellt. Sie geht von einer Einbeziehung der Knochen des primären Kiefergelenkes in die Gehörknöchelchenkette aus, welches wiederum aus den Knorpeln des ersten und zweiten Kiemenbogens entsteht. Der Hammer entsteht beim Embryo aus den drei Knochen Articulare, Angulare und Goniale des Mandibularbogens. Das Os articulare bildet den Hauptteil des Hammers, das Os goniale seinen Processus rostralis. Die Verbindung zum Os angulare, welches sich später zum Tympanicum entwickelt, löst sich, so dass die Gehörknöchelchenkette frei schwingen kann. Der Hammer beginnt beim menschlichen Fötus im 4. Monat aus einem einzelnen Ossifikationszentrum heraus zu verknöchern, im 7. Monat ist die Verknöcherung dann nahezu vollständig abgeschlossen. Der Amboss entsteht nach der Reichert-Gauppschen Theorie ebenso vollständig aus dem ersten Kiemenbogen (Mandibularbogen, Meckelscher Knorpel), wobei bis heute nicht sicher geklärt ist, ob nicht Teile des Amboss auch aus dem zweiten Kiemenbogen (Hyoidbogen) hervorgehen. Die Verknöcherung erfolgt beim Amboss analog zum Hammer, der Processus lenticularis wird beim Menschen erst am Ende des 5. Monats gebildet. Der Steigbügel entsteht nach der Reichert-Gauppschen Theorie aus dem Hyoidbogen (Reichertscher Knorpel), wobei allerdings neuere Arbeiten darauf hindeuten, dass seine Fußplatte aus der Gehörkapsel entsteht, er also zwei embryonale Vorläufer hat. Die im Tierreich einmalige Form des Steigbügels bei den Säugetieren mit zwei Schenkeln (Crura stapedis) kommt zustande, weil sich der Steigbügel beim Embryo um die sich später zurückbildende Steigbügelarterie (Arteria stapedia) entwickelt. Der Steigbügel besitzt zwei Ossifikationszentren, in der Mitte jeden Schenkels eines. Die Verknöcherung beginnt beim menschlichen Fötus gegen Ende des 4. Monats, etwa Ende des 8. Monats sind Steigbügelkopf und Fußplatte verknöchert. Somit liegen die Gehörknöchelchen zum Zeitpunkt der Geburt als ausgewachsene und vollständig ossifizierte Knochen vor. Die Reichert-Gauppsche Theorie wurde immer wieder angezweifelt. Otto vermutet derzeit nicht nachweisbare Materialverschiebungen des zweiten Kiemenbogens, welcher Ausgangspunkt aller drei Gehörknöchelchen sein soll, schließt also eine Beteiligung des ersten Kiemenbogens aus. Diese Hypothese gilt bislang allerdings als noch nicht bewiesene Vermutung. Funktion Bei den Tieren mit einem Trommelfell haben die Gehörknöchelchen die Aufgabe, die Schwingungen des Trommelfells möglichst optimal an das Innenohr anzukoppeln sowie das Innenohr vor zu hohen Schalldrücken zu schützen. Eine Ausnahme sind die Schildkröten, deren Trommelfell zu dick zum Schwingen ist. Bei den Tieren ohne Trommelfell dient die Columella lediglich der Weiterleitung von Vibrationen vom Skelett auf das Innenohr – diese Tiere sind weitestgehend taub. Die Columella der Reptilien dient meist der Schallweiterleitung und ist dann ein Knochenstab, der leicht gebaut ist, um diese Funktion nicht zu behindern. Bei einigen Reptilien wie den Fischsauriern (Ichthyosauria) und einigen Pelycosauriern (Pelycosauria) ist die Columella jedoch erheblich massiver gebaut und ihre Funktion im Gehörapparat unbekannt. Ankopplung des Trommelfells an das Innenohr Um die als Perilymphe bezeichnete Flüssigkeit des Innenohrs zu Schwingungen anzuregen, sind wesentlich höhere Drücke und wesentlich kleinere Auslenkungen am ovalen Fenster erforderlich, als sie am Trommelfell auftreten. Da Luft eine wesentlich niedrigere Schallkennimpedanz als eine Flüssigkeit besitzt, würden bei einer direkten Kopplung der Luftschwingung nur 2 % der Schallleistung an die Perilymphe abgegeben, der Rest würde reflektiert werden. Die Gehörknöchelchen dienen daher zusammen mit dem Trommelfell und der Vorhofmembran am ovalen Fenster als Impedanzwandler. Niedrige Schalldrücke und hohe Auslenkungen der Luft vor dem Trommelfell werden umgesetzt in hohe Drücke und niedrige Auslenkungen der Perilymphe am ovalen Fenster (Fenestra ovalis) des Innenohrs. Über das Trommelfell werden die akustischen Schwingungen im Gehörgang in mechanische Schwingungen der Gehörknöchelchen umgewandelt. Mittels der Basilarmembran werden die mechanischen Schwingungen der Gehörknöchelchen in Flüssigkeitsschwingungen der Perilymphe umgesetzt. Das System ist im Normalfall so abgestimmt, dass die mechanische Impedanz des Systems Trommelfell-Gehörknöchelchen-Innenohr ziemlich genau der akustischen Impedanz des Gehörgangs entspricht, so dass ein Großteil der Schallleistung auf die Gehörknöchelchen übergeht. Gleiches gilt für die Ankopplung der Gehörknöchelchen an das Innenohr. Zwischen der sehr niedrigen mechanischen Impedanz am Trommelfell und der sehr hohen mechanischen Impedanz am Innenohr wirken die Gehörknöchelchen also als „Impedanztransformator“. Hierzu sind die Gehörknöchelchen als Hebelsystem ausgelegt, die niedrige Kräfte und hohe Auslenkungen (= niedrige Impedanz) am Trommelfell in hohe Kräfte und niedrige Auslenkungen (= hohe Impedanz) an der Vorhofmembran umsetzen. Die Anpassung der Trommelfellschwingungen an die Eigenschaften des Innenohres ist im Normalfall optimal. Nahezu die gesamte Schallleistung, die in den Gehörgang dringt, wird an das Innenohr weitergegeben. Hierbei erhöht sich die ausgeübte Kraft vom Trommelfell bis zum ovalen Fenster etwa um den Faktor 90 und der Druck etwa um den Faktor 22. Das heißt: Wären Trommelfell und ovales Fenster starr verbunden, wäre die Schallübertragung um fast 30 Dezibel schlechter, leise Geräusche wären nicht mehr wahrnehmbar. Das Flächenverhältnis zwischen Trommelfell und der Vorhofmembran im ovalen Fenster unterstützt die Impedanzwandlung. Die relativ große Fläche des Trommelfells führt zu relativ großen Kräften auf die Gehörknöchelchen. Die relativ kleine Fläche des ovalen Fensters wandelt die Kraft der Gehörknöchelchen in einen relativ großen mechanischen Druck auf die Perilymphe im Innenohr um. Das Flächenverhältnis zwischen Trommelfell und Vorhofmembran beträgt beim Menschen ca. 64 mm² zu 3,2 mm², also etwa 20:1, betrachtet man jedoch nur den effektiv schwingenden Teil des Trommelfelles ohne den durch die Gehörgangswand bewegungseingeschränkten Teil beträgt das Verhältnis etwa 14:1, beim Haushund beträgt das Verhältnis 27:1. Dies ist der Grund, weshalb Hunde normalerweise viel besser hören als der Mensch. Schutzfunktion Mit Hilfe von zwei kleinen Muskeln kann der Auslenkungsgrad der Gehörknöchelchen verändert werden. Der Musculus tensor tympani setzt am Hammer an und spannt das Trommelfell. Er schützt vor zu heftigen Bewegungen der Gehörknöchelchen und des Trommelfelles etwa beim Niesen. Der Musculus stapedius setzt am Steigbügel an und verkantet die Steigbügelplatte im ovalen Fenster. Hierdurch verschlechtert sich die Ankopplung zwischen Trommelfell und Innenohr. Die Auslenkungen der Gehörknöchelchen sinken, die Schallleistung wird zum Teil nicht mehr auf das ovale Fenster, sondern an die umliegenden Knochen weitergegeben bzw. am Trommelfell reflektiert. Hierdurch erreicht nicht mehr die gesamte Schallleistung das Innenohr. Treten Schallpegel von mehr als 80 bis 100 dB SPL auf, kommt es zu einer reflektorischen Muskelanspannung des Musculus stapedius (Stapediusreflex). Der Stapediusreflex stellt einen Schutz für die empfindlichen Haarzellen des Innenohrs vor zu hohen Schalldrücken dar. Da der Stapediusreflex zu einer Änderung der Impedanztransformation und damit zu Impedanzänderungen am Trommelfell führt, lässt er sich über akustische Impedanzmessungen am Gehörgang nachweisen. Filtercharakteristiken Da das Mittelohr sowohl aus schwingenden Massen (Gehörknöchelchen) als auch aus Elastizitäten (Steife von Trommelfell, Vorhofmembran und der Gehörknöchelchen-Aufhängungen) besteht, wirkt das System als mechanischer Filter. Das System ist aber so abgestimmt, dass im größten Teil des Hörbereichs hierdurch keine Beeinträchtigungen des Hörens entstehen. Lediglich an den Rändern des Hörbereichs haben die Filtercharakteristiken des Mittelohres wesentlicheren Einfluss. Krankheiten Die krankhafte Verhärtung (Sklerose) der Membran, die die Steigbügelplatte im ovalen Fenster verankert, bezeichnet man als Otosklerose. Sie führt zu einer langsam zunehmenden Schwerhörigkeit, da sie die Schwingungsübertragung von der Gehörknöchelchenkette auf das Innenohr stark beeinträchtigt. Mit Hilfe der Mikrochirurgie wird der nahezu unbewegliche Steigbügel durch einen künstlichen Steigbügel (Stapesprothese) ersetzt. Weblinks cochlea.org: How do I hear? – The ear (viersprachige Website des Franzosen Rémi Pujol über das Ohr, engl./franz./span./portug.) Einzelnachweise Schädel Anatomie des Ohrs
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig%20der%20Deutsche
Ludwig der Deutsche
Ludwig II. der Deutsche (* um 806; † 28. August 876 in Frankfurt am Main) aus dem Adelsgeschlecht der Karolinger wurde 817 von seinem Vater Ludwig dem Frommen als Unterkönig von Baiern eingesetzt, das er ab 826 selbstständig regierte. Von 843 bis 876 war Ludwig König des Ostfrankenreiches. Nach langwierigen Auseinandersetzungen mit seinem Vater und seinen Brüdern erhielt Ludwig 843 im Vertrag von Verdun das ostfränkische Reich. Seine Versuche, 858/59 das westfränkische Reich seines Halbbruders Karl des Kahlen zu erobern, blieben erfolglos. Die 860er Jahre waren durch eine schwere Krise mit den ostfränkischen Großen und Rebellionen der Söhne geprägt. Im Vertrag von Meerssen gelang es ihm 870, das östliche Lotharingien für das ostfränkische Reich zu gewinnen. Um das Kaisertum und Italien bemühte er sich hingegen vergeblich. Im Osten konnte Ludwig nach jahrzehntelangen Konflikten mit den Mährern 874 einen längerfristigen Friedensschluss erreichen. Durch einen Rückgang der Schriftlichkeit in Verwaltung und Regierung sowie eine Zunahme von Ritualen weist Ludwigs Herrschaftszeit bereits in die Ottonenzeit voraus. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde oftmals die Aufteilung des Fränkischen Reichs durch den Vertrag von Verdun als Beginn der deutschen Geschichte angesehen. Seit den 1970er Jahren hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass das deutsche Reich nicht durch einen Akt, sondern in einem langen Prozess entstand. Gleichwohl wird Ludwigs ungewöhnlich lange Herrschaftszeit als wichtige Etappe in dieser Entwicklung angesehen. Unter seiner Regierung und der seiner Brüder Karl im Westfrankenreich und Lothar I. im sogenannten Mittelreich begann der Zerfall des fränkischen Großreiches, der letztlich die Voraussetzung für die Entstehung der späteren Nationalstaaten Deutschland, Frankreich und Italien war. Leben Herkunft und Jugend Ludwig der Deutsche entstammte dem Geschlecht der Karolinger, die seit 751 die fränkische Königswürde innehatten. Als Sohn Ludwigs des Frommen war er ein Enkel Karls des Großen. Er ging aus der ersten Ehe seines Vaters mit der Fränkin Irmingard von Hespengau hervor. Von den Kindern aus dieser Ehe erreichten neben Ludwig noch zwei Söhne, Lothar I. und Pippin I., sowie zwei Töchter, Rotrud und Hildegard, das Erwachsenenalter. Seine ersten Lebensjahre verbrachte Ludwig in Aquitanien am Hof seines Vaters. Laut Wilfried Hartmann sind die Quellen für Kindheit, Erscheinungsbild und Persönlichkeit durch topische Herrscherpanegyrik verzerrt. Dennoch ließen sich individuelle Züge aus dem Quellenmaterial erschließen, darunter Ludwigs Begeisterung für Waffen und seine „besondere Fähigkeit, mit Menschen umzugehen, die sich in den Konflikten mit seinen Söhnen bewährte“. Außerdem sei Ludwig sehr fromm gewesen und habe eine besondere Verehrung für die Mönche sowie Interesse an theologischen Fragen gezeigt. Im Jahr 814 machte Ludwig der Fromme seine beiden älteren Söhne Lothar und Pippin zu Unterkönigen in Baiern und Aquitanien. Ludwig der Deutsche blieb als jüngster Sohn noch mehrere Jahre am Hof seines Vaters in Aachen. In der Ordinatio imperii teilte Ludwig der Fromme 817 sein Reich unter den Söhnen auf. Lothar I. erhielt als ältester Sohn den größten Teil des Reiches, die jüngeren Söhne mussten sich mit Aquitanien und Baiern abfinden. Ludwig der Deutsche erhielt neben Baiern, Kärnten und Böhmen noch weitere Grenzgebiete im Osten. In seinem Reich sollte er aber nicht selbständig herrschen, sondern seinem Bruder Lothar Rechenschaft ablegen. Ohne dessen Einwilligung sollte er weder Krieg führen noch Frieden schließen dürfen. Im Innern konnte er aber geistliche und weltliche Ämter eigenverantwortlich vergeben. 824 nahm er an einem Kriegszug in die Bretagne teil. Erst 826 kam Ludwig erstmals in sein Königreich Baiern. 827 ehelichte er mit der Welfin Hemma eine Schwester der Kaiserin Judith, seiner Stiefmutter, die sein Vater in zweiter Ehe geheiratet hatte. 828 und 829 unternahm er ohne großen Erfolg zwei Feldzüge gegen die Bulgaren, die in Pannonien eindringen wollten. Während seiner Zeit als Unterkönig versuchte er seine Herrschaft auf das Rhein-Main-Gebiet auszudehnen. Kampf um das Erbe Ludwigs des Frommen Im Juni 823 ging aus der Ehe Ludwigs des Frommen mit Judith noch der Sohn Karl (der Kahle) hervor. In Worms wies Ludwig 829 dem sechsjährigen Karl Alemannien, Rätien, das Elsass und einen Teil Burgunds zu. Daraufhin verbündeten sich die drei älteren Söhne und rebellierten gegen ihren Vater, um ihre Reichsteile zu sichern. Auf dem Lügenfeld von Colmar setzten sie sich im Juni 833 kampflos durch, da Ludwig der Fromme von seinem Heer verlassen wurde. Nach diesen Ereignissen änderte Ludwig der Deutsche seine Herrschertitulatur. Zuvor hatte er den Titel eines Königs in Baiern geführt und in der Datierung seiner Urkunden die Herrscherjahre seines Vaters mitgezählt. Ab Oktober 833 titulierte er sich rex in orientali Francia (König im östlichen Frankenreich). Im ostfränkischen Reich behielt aber Ludwig der Fromme bis zu seinem Tod die Prärogative bei der Einsetzung von Äbten und Bischöfen; Ludwig der Deutsche konnte diese Ämter nur mit kaiserlicher Zustimmung vergeben. Auf einer Bischofsversammlung im Oktober 833 wurde Ludwig der Fromme abgesetzt. Die rebellischen Söhne konnten sich allerdings nicht über die Herrschaftsgebiete einigen. Lothar I. versuchte sich einen Vorrang gegenüber seinen Brüdern zu verschaffen. Ludwig der Deutsche und Pippin I. betrieben daraufhin die Wiedereinsetzung ihres Vaters. Im März 834 wurde Ludwig der Fromme wieder als Kaiser anerkannt. In den kommenden Jahren versuchte Judith ihrem heranwachsenden Sohn Karl einen möglichst großen Anteil am Reich zu verschaffen. Neue Möglichkeiten zur Versorgung ihres Sohnes ergaben sich für Judith durch Pippins Tod im Dezember 838. Pippins ältester Sohn Pippin II. meldete Ansprüche auf das Erbe seines Vaters an, gestützt auf starken Rückhalt in Aquitanien. Aquitanien wurde aber Karl dem Kahlen zugesprochen. Nach dem Tod Pippins I. beabsichtigte Ludwig der Fromme eine Zweiteilung zwischen Lothar I. und Karl entlang der Linie Maas-Saône-Rhone. Ludwig der Deutsche sollte auf Baiern beschränkt bleiben, was ein schwerer politischer Rückschlag für ihn gewesen wäre, zumal er nach der Rebellion von 833/34 wieder die Gunst seines Vaters besessen und ihn auch unterstützt hatte. Der erneute Verlust der väterlichen Gunst hing auch mit den Interessen mehrerer ostfränkischer Großer zusammen, die von denen Ludwigs des Deutschen abwichen. Anfang 840 unternahm Ludwig der Deutsche einen Feldzug gegen seinen Vater nach Alemannien. Er trat aber kampflos den Rückzug an, als der Kaiser mit einem Heer anrückte. Am 20. Juni 840 starb Ludwig der Fromme in Ingelheim. Vertrag von Verdun (843) Nach dem Tod Kaiser Ludwigs des Frommen erhob Lothar Anspruch auf alle in der Ordinatio von 817 festgelegten Kaiserrechte. Daraufhin verbündeten sich Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle. Lothar I. ging mit seinem Neffen Pippin II., dem Sohn des 838 verstorbenen Pippin I., ein Bündnis ein. In der Schlacht von Fontenoy kämpften Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle im Juni 841 erfolgreich gegen Lothar I. und Pippin II. Beide Seiten erlitten schwere Verluste. Nach den Fuldaer Annalen war es das größte Blutbad, das die Franken seit Menschengedenken erlebt hatten. Zugleich war es Ludwigs letzte Schlacht in den Kämpfen um die Reichsteilung. Den von Lothar I. daraufhin in Sachsen geförderten Stellinga-Aufstand schlug Ludwig blutig nieder. Ludwig und Karl bekräftigten ihr Bündnis am 14. Februar 842 in Straßburg vor ihren Heeren durch wechselseitige Eide. Der beim Chronisten Nithard überlieferte volkssprachliche Wortlaut stellt „das älteste Denkmal der französischen und ein frühes der deutschen Sprache“ dar. Lothar I. ließ Pippin fallen und vereinbarte mit seinen Brüdern eine Dreiteilung. Im Sommer 842 setzten Friedensverhandlungen ein. Ausgangspunkt für die Regelung der Einzelheiten waren die bestehenden Herrschaftsrechte Lothars in Italien, Ludwigs in Baiern und Karls in Aquitanien. Der Wortlaut des im August 843 geschlossenen Vertrages von Verdun ist nicht überliefert. Die Annales Bertiniani geben den Inhalt des Vertrages zumindest in groben Zügen wieder. Lothar wurde das Reich in der Mitte zugeteilt, in dem sich die Kaiserstädte Aachen und Rom befanden. Es erstreckte sich von der Nordsee bis nach Unteritalien und war wegen seiner Ausdehnung schwer zu beherrschen. Wirtschaftlich und kulturell am bedeutendsten war das Teilreich Karls des Kahlen. Das umfangreiche Königsgut im Westen des Karolingerreiches hatte schon den Merowingern als Herrschaftsgrundlage gedient. Karl musste aber seine Herrschaft in Aquitanien erst noch gegenüber seinem Neffen Pippin II. durchsetzen. Ludwigs Teilreich war wirtschaftlich, kulturell und administrativ weit weniger entwickelt als Westfranken oder Italien. Als Ausgleich erhielt er einige linksrheinische Gebiete, darunter die drei bedeutenden Bischofsstädte Mainz, Worms und Speyer mit ihrem Hinterland. Wohl auch wegen der geringen Aussicht auf Beute war sein Teilreich weniger durch die Normannen bedroht. Im Innern standen Adel und Kirche erheblich geschlossener hinter dem Herrscher als im Westen. Bei der Aufteilung des Reiches waren nicht sprachliche Unterschiede ausschlaggebend; entscheidend war vielmehr die Versorgung der eigenen Gefolgsleute. Die drei Brüder hielten 844 in Diedenhofen, 847 und 851 jeweils in Meerssen Treffen ab, auf denen sie „Frieden und Eintracht“ bekräftigten sowie sich „Rat und Hilfe“ zusicherten. Damit sollte gegen die Normanneneinfälle, die die einzelnen Teilreiche der Brüder bedrohten, ein wirkungsvolles Vorgehen gesichert werden. In einer rangbewussten Gesellschaft bevorzugte man bei Herrschertreffen Grenzorte, um die Gleichrangigkeit deutlich zu machen. Die Dreiertreffen fanden jedoch alle im Mittelreich statt. Neben der verkehrsgünstigen Lage dürfte auch Lothars Rang als Ältester und Kaiser entscheidend gewesen sein. Herrschaftsstruktur und Herrschaftspraxis Itinerar und königliche Zentralorte Durch die geringe Zahl von 172 Königsurkunden aus 50 Herrschaftsjahren lässt sich kein detailliertes Bild von Ludwigs Aufenthaltsorten im ostfränkischen Reich erstellen. Zum Vergleich sind es bei Ludwig dem Frommen 18, bei seinem Stiefbruder Karl dem Kahlen 12 Urkunden pro Jahr. Die Überlieferung setzt teilweise über mehrere Monate ganz aus. So ist es beispielsweise völlig ungewiss, wo sich der ostfränkische König zwischen Juni 849 und Juli 850 aufgehalten hat. Mindestens 52 Urkunden sind an bairische Empfänger gerichtet. Die Intensität der Urkundenproduktion für bairische Empfänger lässt aber im Laufe der Herrschaftszeit stetig nach. Die Ansicht, dass Baiern ein „Kernland“ oder „Zentrum“ des ostfränkischen Reiches war, lässt sich nach Roman Deutinger anhand des Itinerars und des Führungspersonals in der Umgebung des ostfränkischen Königs „kaum aufrechterhalten“. Als damalige Königslandschaft gilt das Rhein-Main-Gebiet zwischen Frankfurt, Mainz und Worms. Es verfügte über reichlich Pfalzen und Fiskalgut. Da es in der geographischen Mitte des ostfränkischen Reiches lag, war es verkehrstechnisch gut zu erreichen. Dort fanden die meisten ostfränkischen Synoden und Reichsversammlungen statt. Am meisten hielt sich Ludwig in Frankfurt (49) und in Regensburg (34) auf. Angesichts der Vielzahl an Aufenthalten wird den beiden Städten Residenzcharakter zugesprochen. Frankfurt und Regensburg waren Hauptorte repräsentativer Herrschaftsausübung. In Frankfurt nahm Ludwig die künftige Aufteilung seines Reiches unter seine Söhne vor. Dort wurden auch die Empörungen seiner Söhne beendet. Die meisten Hoftage und mit 11 von insgesamt 39 auch die meisten Reichsversammlungen fanden in Frankfurt statt. Zahlreiche Große erschienen dort, um sich eine Königsurkunde ausstellen zu lassen, während die in Regensburg ausgestellten Urkunden nahezu ausschließlich baierische und alemannische Empfänger betrafen. Trotz seiner Bedeutung als Aufenthaltsort fanden in Regensburg nur drei Reichsversammlungen statt. Regensburg war vor allem bei der Konsolidierung von Ludwigs Herrschaft in den vierziger und frühen fünfziger Jahren ein wichtiges Zentrum. Es wurde zur Verhandlung bairischer, schwäbischer und slawischer Angelegenheiten genutzt. Mit der Regierung von ein bis zwei bevorzugten Pfalzen aus führte Ludwig die karolingische Herrschaftspraxis fort. In Alemannien, Thüringen und Sachsen hingegen war Ludwig für die Herrschaftsausübung auf verlässliche Gefolgsleute vor Ort angewiesen. In Alemannien wurden zentrale Positionen mit Angehörigen der Königsfamilie besetzt. Herausragende Vertraute waren Bischof Salomo von Konstanz und Abt Grimald von St. Gallen. Der Welfe Konrad führte für Ludwig wichtige Verhandlungen. Ab 859 übte Ludwigs Sohn Karl in Alemannien die Herrschaft aus. Ludwig selbst ist wohl deshalb nur noch einmal im Jahr 874 in Alemannien nachweisbar. Nach dem Vertrag von Meersen 870 verlagerte er seinen Aufenthalt zunehmend nach Westen. Aachen löste Regensburg als zweitbedeutendste Residenz nach Frankfurt ab. Baiern galt seitdem geradezu als königsfernes Land. Im Vergleich zu seinem Stiefbruder hatte der westfränkische König Karl keine feste Residenz. Karl durchzog vielmehr sein Reich und blieb mit Ausnahme der Überwinterung nicht länger als zwei bis drei Monate an einem Ort. Ludwigs Herrschaftspraxis unterschied sich von den Verhältnissen künftiger Jahrhunderte. Bis weit in das 14. Jahrhundert wurde mittelalterliche Königsherrschaft im Reich durch ambulante Herrschaftspraxis ausgeübt. Es gab weder eine Hauptstadt noch eine feste Residenz. Das Zentrum des Reiches war dort, wo die Herrscher das königliche Gastungsrecht wahrnahmen. Zusammensetzung von Kanzlei und Hofkapelle Prosopographische Untersuchungen, wie sie Philippe Depreux über den Hof Ludwigs des Frommen leisten konnte, sind für Ludwigs Zeit angesichts der geringen Zahl an Herrscherurkunden erheblich schwieriger. Der Hof war in seiner Zusammensetzung und Größe starken Schwankungen unterworfen. Die wichtigsten Bestandteile waren Kanzlei und Hofkapelle. Für die Ausstellung der Urkunden war die Kanzlei zuständig. In erzählenden Quellen finden sich kaum Hinweise auf die Besiegelung von Herrscherurkunden. Nur der Chronist Ratpert aus dem Kloster St. Gallen berichtet von einer Besiegelung mit Ring durch König Ludwig den Deutschen. Für die einzelnen Jahre seiner Herrscherzeit sind im Durchschnitt nicht einmal fünf Urkunden überliefert. Ludwig konnte sein Teilreich offenbar ohne eine ausgeprägte Schriftlichkeit regieren. In der Besiegelung der Königsurkunden trat eine bedeutsame Neuerung ein: Auf dem Siegel wird der König mit Schild und Speer gezeigt. Dieses Herrscherbild wurde von den künftigen ostfränkisch-deutschen Königen übernommen. Nach den Forschungen Hagen Kellers wurden die „schriftkulturellen Elemente der Authentizitätssicherung“ bei den früh- und hochkarolingischen Urkunden um 860 von einer größeren Öffentlichkeit und Repräsentativität beim Akt der Beurkundung abgelöst. Das Monogramm, in das der König den Vollziehungsstrich eintrug, und das Siegel wurden dazu vergrößert und deutlich vom Text abgegrenzt. Die „visuelle Präsentation des Dokuments“ scheint „eingebettet zu sein in einen Wandel der öffentlichen Kommunikation des Herrschers mit seinen Getreuen“. Mit dieser Art der Besiegelung wurde die geringe Lese- und Schreibfähigkeit der weltlichen Amtsinhaber berücksichtigt. Die Gesellschaft des ostfränkischen Reiches war eine orale, in der das Wissen und die wichtigsten Informationen mündlich weitergegeben wurden. Die Hofkapelle war am Königshof für die Seelsorge und für die Abhaltung von Gottesdiensten zuständig. Der Regensburger Bischof Baturich war von 833 bis zu seinem Tod 847 Erzkapellan. Grimald von St. Gallen wurde 848 sein Nachfolger. Von 860 bis 870 leitete Grimald auch die Kanzlei. Er war damit einer der wichtigsten Berater Ludwigs des Deutschen. Die Hofkapelle spielte allerdings als Instrument königlicher Herrschaftsausübung nur eine relativ geringe Rolle. Im Vergleich zur spätottonisch-salischen Epoche gingen nur wenige ostfränkische Bischöfe aus der Hofkapelle hervor. Königliche Politik gegenüber geistlichen und weltlichen Großen Die verfassungsgeschichtliche Forschung des 19. Jahrhunderts sah die Karolinger an der Spitze eines hierarchisch auf den König ausgerichteten Herrschaftsverbandes. Nach neueren Forschungen war jedoch die Herrschaftsstruktur des ostfränkischen Reichs polyzentrisch und damit „nicht allein auf den König hin ausgerichtet“. Das Reich war vielmehr eine selbstständige Größe. Es war dem König zur Aufrechterhaltung der göttlichen Ordnung anvertraut. In einem Reich ohne geschriebene Verfassung und organisierten Herrschaftsapparat waren personale Bindungen maßgeblich. Die Amts- und Mandatsträger musste der Herrscher für die Mitwirkung an der Königsherrschaft immer wieder neu gewinnen. Persönliche Begegnungen zur gemeinsamen Willensbildung waren dafür entscheidend. Machtausübung im ostfränkischen Reich basierte auf konsensualer Herrschaft und weniger auf Befehl und Gehorsam. Der Konsens wurde mit Ratgebern (consiliarii) im vertraulichen Gespräch hergestellt und dann öffentlich inszeniert. Den Konsens mit den Großen konnte der König mit Geschenken herbeiführen, aber auch durch Gewalt oder deren Androhung. Über die Zusammensetzung von Ludwigs Ratgeberschaft, die seine Entscheidungen beeinflusste, lässt sich angesichts der ungünstigen Überlieferungslage wenig Konkretes aussagen. Fest steht aber, dass über viele Jahre der Markgraf Ernst in herausgehobener Position beim König handelte. Die Königsherrschaft stützte sich auf Bischöfe, Grafen und Reichsäbte. Bei der Herrschaftsübernahme war Ludwigs Verhältnis zu den Bischöfen und Äbten angesichts des Zerwürfnisses mit seinem Vater Ludwig dem Frommen schwer belastet. Auch die Adelsgruppen, die von seinem Bruder Lothar I. oder von seinem Vater Ludwig dem Frommen in einflussreiche Positionen eingesetzt wurden, musste Ludwig für seine Königsherrschaft erst noch gewinnen. Nach den Forschungen von Boris Bigott konnte „Ludwig außerhalb Bayerns im Jahr 840 anscheinend auf kein einziges Bistum oder Kloster bauen“. Ab 840 gelang es ihm, durch Tod oder Amtsverzicht freiwerdende Positionen mit ihm genehmen Leuten zu besetzen. Bei der Synode von 847 in Mainz unter der Leitung des Erzbischofs Hrabanus Maurus kam es zu einem Ausgleich mit den meisten Bischöfen des ostfränkischen Reiches. Diese Synode ist eine von höchstens neun Synoden, die in Ludwigs Herrschaftszeit sicher überliefert sind. Den Höhepunkt bildete die Synode von Mainz 852, wo fast der gesamte ostfränkische Episkopat anwesend war. Der Schwerpunkt der ostfränkischen Synodalbeschlüsse betraf das Bußwesen und die Behandlung von kriminellen Delikten. Die Bischöfe sollten stärker in die Rechtspflege eingebunden werden. Die meisten Bischöfe setzte Ludwig persönlich ein. Der königliche Einfluss bei der Erhebung der Bischöfe nahm gegenüber der frühkarolingischen und frühmerowingischen Zeit noch zu. Dies hängt wohl mit der geringen Größe des Reiches zusammen, die ein persönliches Eingreifen in Personalentscheidungen erleichterte. Den Versuch, einen Bischof abzusetzen, hat Ludwig hingegen nie unternommen. Gegenüber dem Adel hat Eric J. Goldberg seit den frühen 850er Jahren ein selbstbewussteres Auftreten im Herrschaftsverhalten des ostfränkischen Königs beobachtet. Die Grafen sah Ludwig als absetzbare königliche Amtsträger. Königsboten und Pfalzgrafen waren für die Kontrolle der Amtsträger in den einzelnen Regionen zuständig. Erbliche Ansprüche auf das Grafenamt akzeptierte Ludwig nicht. Die Entstehung starker Zwischengewalten zwischen dem König und den lokalen Amtsträgern wollte er unterbinden. Mit seinem Widerstand gegen eine Allodialisierung der Ämter führte Ludwig somit die Politik der Karolinger fort. Kirchen- und Klostergründungen Ludwig hat nur das Nonnenkloster St. Felix und Regula 853 in Zürich gegründet. Es wurde von seinen Töchtern Hildegard (853–856) und Bertha (857–877) geführt. In Frankfurt und Regensburg gründete Ludwig ein Marienstift. Außerdem unterstützte er fremde Initiativen wie die Gründung von Gandersheim durch den sächsischen Grafen Liudolf oder des Klosters Rohr in Thüringen durch den Grafen Christian. Die Klöster St. Gallen (11), Salzburg (10) und Fulda (10) wurden am meisten mit Schenkungen bedacht. Die Karolingerkönige unterstützten immer wieder Klöster für den Gebetsdienst mit Schenkungen; das Motiv war persönliche Frömmigkeit und die Überzeugung, dass für ein erfolgreiches Herrschen göttlicher Beistand zwingend notwendig sei. Familie Die spärlichen Quellen bieten keine nähere Information über Ludwigs persönliche Beziehung zu seiner Gemahlin Hemma oder über deren Einfluss. Aus der Verbindung gingen mit Karlmann, Ludwig und Karl drei Söhne und mit Hildegard, Irmingard, Gisla und Bertha vier Töchter hervor. Durch die Söhne war der Fortbestand der Dynastie gesichert. Zu Lebzeiten hat Ludwig der Deutsche im Unterschied zu seinem Vater Ludwig dem Frommen und Großvater Karl dem Großen seine drei Söhne weder zu Unterkönigen gemacht noch ihnen einen Reichsteil überlassen. Er vergab nur „militärische Kommandos und deutlich untergeordnete Positionen“. Ludwigs ältester Sohn Karlmann übernahm 856 die Herrschaft über Kärnten. Seinem jüngsten Sohn Karl hat Ludwig Ende der 850er Jahre mit Alemannien einen eigenen Herrschaftsbereich zugewiesen. Keiner seiner Söhne wurde für den geistlichen Stand bestimmt. Im Westreich hat sein Stiefbruder Karl der Kahle hingegen zwei Söhne kategorisch von der Herrschaft ausgeschlossen und für sie eine geistliche Laufbahn angeordnet. Seine Söhne verheiratete Ludwig mit Töchtern aus den einflussreichsten und vornehmsten Adelsfamilien in ihrer jeweiligen Region. Die Heiratsverbindungen sollten die Akzeptanz der Königsherrschaft und den Rückhalt der führenden Adelsfamilien gewährleisten. Karlmann vermählte sich 861 mit einer Tochter des Markgrafen Ernst. Karl heiratete im Folgejahr Richardis, Tochter des elsässischen Grafen Erchanger. Ludwig der Jüngere ehelichte 869 oder vielleicht auch erst 874 Liutgard, die Tochter des sächsischen Grafen Liudolf. Anders als sein Stiefbruder Karl, und auch anders als die Herrscher der ottonisch-salisch-staufischen Zeit, verheiratete Ludwig seine Töchter dagegen nicht mit Angehörigen bedeutender Adelsfamilien. Sie mussten vielmehr eine geistliche Laufbahn einschlagen. Seiner ältesten Tochter Hildegard wurde das Kloster Schwarzach bei Würzburg übergeben. 853 übernahm sie die Leitung von St. Felix und Regula in Zürich. Dort starb sie bereits im Dezember 856. Ludwigs jüngster Tochter Bertha wurde in der Nachfolge ihrer Schwester 853 das Kloster Schwarzach und 857 auch das Zürcher Kloster bis zu ihrem Tod 877 übertragen. Die dritte Tochter Irmingard ist in zeitgenössischer Überlieferung als Inhaberin des Klosters Buchau am Federsee belegt, nach späteren Quellen auch von Kloster Frauenchiemsee. Über Ludwigs Tochter Gisla ist nichts bekannt. Die Rechtsstellung dieser Frauen im Kloster bleibt unklar. Der gewöhnlich in der Fachliteratur anzutreffende Titel Äbtissin ist für Ludwigs Töchter nicht zeitgenössisch belegt. Auseinandersetzungen mit den Slawen Nach dem Abschluss des Vertrages von Verdun gehörte die Wiederherstellung der fränkischen Tributherrschaft über die Slawen zu Ludwigs dringendsten Aufgaben. Diese war infolge der innerdynastischen Kämpfe der Karolinger völlig zusammengebrochen. Die Oberhoheit über die benachbarten slawischen Stämme war für Ludwig zur Sicherung der ostfränkischen Grenze jedoch von entscheidender Bedeutung. Er widmete deshalb „diesem Dauerkrieg mit den Slawen mehr Zeit, Energie und Ressourcen als jedem anderen Aspekt seiner langen Regierung“. Dabei beabsichtigte Ludwig keine Eroberung der slawischen Gebiete. Vielmehr hatten die einzelnen slawischen Herrscher dem ostfränkischen König einen Treueeid zu leisten und einen jährlichen Tribut zu entrichten. Dafür erhielten sie einen Friedensvertrag. Im Norden gelang Ludwig 844 ein schneller Sieg über die Abodriten. Im Gegenzug musste er 845 allerdings einen Überfall der mit den Abodriten verbündeten Dänen auf Hamburg hinnehmen. Der Sitz des dortigen Erzbischofs Ansgar wurde deshalb nach Bremen verlegt. In Paderborn konnte Ludwig mit Dänen und Abodriten einen Frieden schließen, verlangte aber von den Slawen als Sicherheit die Gestellung von Geiseln. Ebenfalls 845 ließen sich 14 böhmische Anführer (duces) vor Ludwig in Regensburg taufen und leisteten ihm fortan militärische Unterstützung. Weitaus langwieriger hingegen gestaltete sich die Auseinandersetzung mit den Mährern. Die christlichen mährischen Herrscher Moimir, Rastislav und Svatopluk I. versuchten sich über Jahrzehnte aus der fränkischen Oberherrschaft zu lösen und ein Königreich aufzubauen. 846 führte Ludwig einen großen Feldzug nach Mähren. Moimir hatte wohl den jährlichen Tribut verweigert. Ludwig ersetzte Moimir durch dessen Neffen Rastislav. Doch nach einigen Jahren versuchte auch Rastislav sich der fränkischen Oberherrschaft zu entledigen. Ludwigs Feldzug gegen ihn im Jahr 855 war ein vollständiger Misserfolg, doch 864 konnte er Rastislav erfolgreich belagern. Rastislav musste einen Treueid leisten und Geiseln stellen, rebellierte aber bereits im folgenden Jahr erneut. Mit fränkischer Hilfe erhob sich 870 Svatopluk gegen seinen Onkel Rastislav und lieferte ihn an Ludwig aus. Von einem Gericht wurde Rastislav zum Tode verurteilt. Ludwig hat das Urteil aber zur Blendung abgemildert. Doch auch Svatopluk nahm den Konflikt mit Ludwig nach kurzer Zeit wieder auf. 871 musste ein bairisches Heer eine schwere Niederlage einstecken. Im folgenden Jahr wurde ein Heer Karlmanns geschlagen. Nach diesen Rückschlägen entfaltete Ludwig in seinen letzten Lebensjahren erhebliche diplomatische Tätigkeiten. Im Frühsommer 874 traf er sich in Verona zu Verhandlungen mit Papst Johannes VIII. und seinem Neffen Kaiser Ludwig II. Dabei wurde Ludwigs Sohn Karlmann als Erbe des Königreiches und des Kaisertums anerkannt. Dafür akzeptierte Ludwig eine unabhängige mährische Kirche unter Erzbischof Methodius. Nach diesen Verhandlungen konnte 874 in Forchheim ein Frieden mit den Mährern geschlossen werden, der anscheinend zehn Jahre Bestand hatte. Jedenfalls sind für diese Zeitspanne keine kriegerischen Aktionen zwischen den Mährern und dem ostfränkischen König überliefert. Durch archäologische Untersuchungen konnte herausgearbeitet werden, dass die Mährer über große und gut ausgebaute Festungen verfügten. Ludwig konnte sie nur mit gut ausgerüsteten und großen Heeren angreifen. Feldzüge gegen die Mährer bestanden aus lange andauernden Belagerungen und waren weniger Plünderungszüge. Sie machten erhebliche logistische und strategische Planungen erforderlich. An den Belagerungskriegen in Mähren dürften 5.000 bis 7.000, zeitweise auch 10.000 Soldaten beteiligt gewesen sein. In den Quellen wird die Größe von Ludwigs Heeren wahrscheinlich übertrieben dargestellt, zumal er wohl vor allem auf gut ausgebildete, kampferprobte und daher schlagkräftige Truppen setzte. Gescheiterte Expansion ins Westfrankenreich (853/54 und 858) Karl der Kahle hatte nach dem Vertrag von Verdun Mühe, seine Herrschaft gegen die starke Adelsopposition in Aquitanien und den aquitanischen König Pippin II. durchzusetzen. 848 gelang es ihm, sich in Orléans zum König dieses Reichs krönen zu lassen. Pippin II. wurde in Klosterhaft genommen. Als Karl jedoch im März 853 den Grafen Gauzpert von Maine enthaupten ließ, erhielt die Adelsopposition gegen ihn neuen Auftrieb. Aquitanische Große boten Ludwig dem Deutschen die Königswürde an. Ludwig ging darauf ein. Damit brach er die 842 von ihm und Karl beschlossenen Straßburger Eide, mit denen sie die Unversehrtheit ihrer Gebiete wechselseitig bekräftigt hatten. Ludwig unternahm den Kriegszug jedoch nicht selbst, sondern schickte seinen zweitältesten Sohn Ludwig den Jüngeren. Dieser brach zu Beginn des Jahres 854 mit einem Heer aus Thüringern, Alemannen und Baiern auf und stieß bis nach Limoges vor. Ein Kampf mit dem Heer Karls des Kahlen blieb aber aus. Ludwig der Jüngere hatte in Aquitanien nur wenig Unterstützung gefunden, worauf er in Verhandlungen einlenkte. Im Sommer 855 hatte sich Aquitanien wieder Karls Herrschaft unterstellt. 856 fielen zahlreiche Aquitanier erneut von Karl ab und traten zum mittlerweile aus der Klosterhaft entkommenen Pippin II. über. Im selben Jahr wandten sich westfränkische Gesandte abermals an Ludwig den Deutschen und suchten ihn in Frankfurt auf. Bei dieser heiklen Entscheidung holte der unschlüssige König den Rat der Großen ein. Die Gelegenheit für ein Eingreifen war günstig, denn Karl musste gegen die Normannen kämpfen. Ludwig rückte in das Westreich ein und war im September 858 in Ponthion, der östlichsten Pfalz des Westfrankenreiches. Dort erschienen mehrere von Karls Herrschaft abgefallene westfränkische Adlige, darunter der Erzbischof Wenilo von Sens. Durch die Krise des westfränkischen Reiches und die Einladung zur Herrschaftsübernahme an Ludwig den Deutschen wurde der Gedanke einer vertraglichen Bindung des Königs an den Konsens der Großen verstärkt aufgegriffen und endgültig in den Krönungsordines im späten 9. Jahrhundert fixiert. Karl reagierte mit einem Vertragsangebot an die Aufständischen und leistete als karolingischer König erstmals selbst einen Eid. Eine Schlacht zwischen Karl und Ludwig blieb aber aus. Im Januar 859 musste sich Ludwig ruhmlos zurückziehen, denn an der Ostgrenze seines Reiches hatte er einen Aufstand der Sorben zu bekämpfen. Im Juni 860 konnte in Koblenz ein Frieden geschlossen werden. Ludwig musste sich eidlich verpflichten, künftig weder das Leben noch den Besitz seiner Brüder und drei Neffen anzutasten. Krisenhafte 860er Jahre Mit nur 27 überlieferten Urkunden erreicht der Urkundenausstoß von 860 bis 869 einen absoluten Tiefpunkt. Auch die historiographische Überlieferung fällt für diesen Zeitraum äußerst spärlich aus. Die gescheiterte Expansion in das Westfrankenreich löste anscheinend in den 860er Jahren eine schwere Herrschaftskrise aus. 861 musste Ludwig auf einer Reichsversammlung in Regensburg dem Markgrafen Ernst, welcher nach zeitgenössischer Wertung der „beste Freund des Königs“ und „ranghöchste unter den Großen“ war, wegen des Verdachts der Untreue seine Ämter entziehen. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang mit der Rebellion von Ludwigs Sohn Karlmann. Karlmann hatte um 861 in der bairischen Ostmark mit mährischer Hilfe eine zu eigenständige Politik betrieben, was Ludwig als Aufstand auffasste. Mit Ernst wurden noch weitere Adlige abgesetzt. Insbesondere das Verhältnis zu den Konradinern hatte sich verschlechtert. Die Konradiner Uto, Waldo und Berengar sowie ein Graf Sigihard wurden verurteilt und abgesetzt. Im Jahr 864 söhnte sich Ludwig mit Karlmann aus, doch in den späten 860er Jahren brachen Konflikte mit den jüngeren Königssöhnen aus. 865 oder 866/67 entschied Ludwig, dass nach seinem Tod Karlmann Baiern und die östliche Mark, Ludwig der Jüngere die fränkischen Gebiete und Thüringen sowie Sachsen, Karl III. Alemannien mit Churrätien erhalten solle. Nicht nur die Rebellionen ostfränkischer Großer und der Königssöhne sorgten für krisenhafte Jahre. In Annalenwerken sind mehrfach Hungersnöte im Ostfrankenreich verzeichnet. Der Hungersnot versuchte Ludwig mit einem Gesetz zu begegnen, das ein allgemeines Fasten vorsah. Vertrag von Meerssen (870) Lothar I. teilte kurz vor seinem Tod am 29. September 855 das Mittelreich auf. Der 850 zum Kaiser gekrönte Ludwig II. erhielt Italien, Karl das südliche Burgund und die Provence und Lothar II. die nördlichen Reichsteile von der Nordsee bis zu den Alpen. Aus Lothars II. 855 geschlossener Ehe mit Theutberga waren keine Kinder hervorgegangen. Vergeblich versuchte er diese Ehe aufzulösen und einen Sohn aus einer früheren Verbindung zu seinem Erben zu machen. Nach Lothars Tod am 8. August 869 ergriff Karl der Kahle die Initiative. Am 9. September 869 ließ er sich in Metz zum König im Reich Lothars II. krönen. Ludwig, der zu diesem Zeitpunkt schwer erkrankt war, schickte nach seiner Genesung im Februar 870 eine Gesandtschaft zu Karl dem Kahlen, die mit Krieg drohte. Unterstützung erhielt Ludwig bei den lotharingischen Großen. Karl lenkte daraufhin ein. Im März 870 setzten Verhandlungen ein. Bei der Aufteilung des Mittelreiches ignorierten Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche die Erbansprüche von Lothars Bruder Ludwig II., des nächsten männlichen Verwandten. Der Kaiser musste bis 871 in Süditalien gegen die Araber kämpfen und konnte gegen die Aufteilung nur protestieren. Im Vertrag von Meerssen gewann Ludwig der Deutsche im August 870 linksrheinische Gebiete mit Aachen, Köln, Metz und Straßburg für sich. Aufstände der jüngeren Söhne (871–876) Im Jahr 869 erkrankte Ludwig schwer, verblieb in Regensburg und entschloss sich, ein Testament zu machen. Veranlasst durch Gerüchte um ihre Enterbung, versammelten sich seine jüngeren Söhne im Speiergau. In den Jahren 871 bis 876 unternahmen sie weitere Rebellionen, da sie sich durch die Begünstigung ihres ältesten Bruders vom Vater benachteiligt fühlten. Der gefährlichste Aufstandsversuch ereignete sich 873. Ludwig der Jüngere und Karl planten vergeblich die Entmachtung und Gefangennahme ihres Vaters auf einer Versammlung in Regensburg am 26. Januar 873. Im Gegensatz zu seinem Stiefbruder Karl dem Kahlen ergriff Ludwig keine harten Strafmaßnahmen gegen seine Söhne. Nach den Untersuchungen von Gerd Althoff war seine milde Reaktion gegenüber den Söhnen für die Karolingerzeit geradezu eine „Ausnahme“. Ludwigs Konfliktverhalten entspricht dem künftigen Muster ungeschriebener, aber sozial verpflichtender „Spielregeln“, die in der Ottonenzeit im 10. Jahrhundert gegenüber aufständischen Söhnen üblich werden sollten. Bei den innerfamiliären Konflikten wurde die friedliche Einigung erstmals durch eine rituelle deditio (Unterwerfung) erzielt. Letzte Jahre In den Jahren 872 und 873 erschienen Gesandte des oströmischen Kaisers Basileios I. bei Ludwig in Regensburg und zeigten damit, dass seine Herrschaft bis nach Konstantinopel wahrgenommen wurde. Nach dem Tod Kaiser Ludwigs II. im August 875 versuchte Ludwig das Kaisertum für sich und seine Nachkommen zu gewinnen. Zu diesem Zweck unternahm Abt Sigihard von Fulda eine Romreise zu Papst Johannes VIII. Am 18. Mai 876 war er wieder in Ingelheim und erstattete Ludwig Bericht. Karl der Kahle hatte im Dezember 875 durch einen raschen Romzug die Kaiserwürde erlangen können. Auch ein Einfall Ludwigs in das westfränkische Reich, wo er das Weihnachtsfest als wichtigen Akt der Herrschaftsrepräsentation in der Pfalz Attigny beging, konnte Karls Kaiserkrönung nicht verhindern. Seine Ansprüche auf die Kaiserkrone gab Ludwig jedoch bis zu seinem Tod nicht auf. Allerdings betrieb er nach Ansicht der Forschung bei seinen vier Alpenüberquerungen keine durchdachte Italienpolitik, sondern reagierte nur kurzfristig auf neue Entwicklungen. Seine Gemahlin Hemma besuchte Ludwig das letzte Mal im Mai 875. Sie hatte 874 durch einen Schlaganfall das Sprachvermögen eingebüßt. Der von ihm erbauten Marienkapelle vermachte er bei diesem Aufenthalt das Kloster Berg als Schenkung. Hemma starb Ende Januar 876 in Regensburg. Wenige Monate später verstarb auch Ludwig nach kurzer schwerer Krankheit am 28. August 876 in seiner Pfalz in Frankfurt. Am Folgetag wurde er von seinem Sohn Ludwig im Kloster Lorsch bestattet. Nach Wilfried Hartmann kann aber nicht mit Sicherheit bestimmt werden, ob es sich beim Toten im Sarkophag Ludwigs des Deutschen tatsächlich um den karolingischen König handelt. Ob Ludwig wie seine Gemahlin Hemma ein Totengedenken erhielt, ist angesichts der spärlichen Überlieferung nicht zu entscheiden. Nach Ludwigs Tod versuchte Karl der Kahle, auch das Ostreich für sich zu gewinnen. Ludwig der Jüngere besiegte ihn jedoch am 8. Oktober 876 bei Andernach mit einem Aufgebot aus Franken, Sachsen und Thüringern. Ein Jahr später starb Karl der Kahle. Die älteren Söhne Ludwigs des Deutschen, Karlmann und Ludwig der Jüngere, starben bereits am 29. September 880 bzw. am 20. Januar 882. Dadurch konnte Ludwigs jüngster Sohn Karl III., „der Dicke“, drei Teilreiche und damit das Reich Karls des Großen noch einmal für wenige Jahre unter seiner Herrschaft vereinen. Nach dem Tod Karls III. entstand für das allein regierende Karolingergeschlecht eine dynastische Krise. Es gab keine legitimen Karolinger mehr, und andere Familien erhoben Anspruch auf die Königswürde. Mit Ludwigs Tod 876 setzte eine rasche Folge von Herrscherwechseln im karolingischen Herrscherhaus ein. Die fünf zwischen 876 und 911 regierenden Könige konnten keine wirksame Königsgewalt mehr gewährleisten. Dies lag auch an der überaus langen Herrschaftszeit Ludwigs des Deutschen, aufgrund der seine Söhne erst in relativ hohem Alter die Herrschaft übernehmen konnten. Beiname „der Deutsche“ Den Beinamen „der Deutsche“ erhielt Ludwig erst im 18. Jahrhundert. Zeitgenössische westfränkische Quellen nannten Ludwig zwar rex Germaniae („König von Germanien“) oder rex Germanorum („König der Germanen“). Allerdings bedeuten Germania bzw. Germani hier nicht „Deutschland“ oder „die Deutschen“, sondern wie im antiken Latein das rechtsrheinische Gebiet außerhalb des ehemaligen Römischen Reiches und seine Bewohner. Zeitgenossen bedachten Ludwig auch mit dem Beinamen pius (fromm) oder piissimus (sehr fromm). Auch die Legende einer Münzprägung nannte ihn HLUDOVICUS PIUS REX. Im 11. Jahrhundert wird Ludwig in zahlreichen Urkundenfälschungen, die aus St. Emmeram in Regensburg stammen, mit dem Beinamen pius geführt, der heute noch seinem Vater gegeben wird. Deutschsprachige Historiographen um 1500 wie Johannes Aventin und Johannes Carion sprachen von Ludwig als „König in Beyern und Osterfranckreich“ oder „König Ludwig auß Beyern“, der „Teutschlandt“ regierte, oder von „Ludovicus Germanicus“. Seit dem 19. Jahrhundert wurde der Beiname „der Deutsche“ üblich. Nach der stark von der nationalsozialistischen Ideologie geprägten Darstellung von Heinz Zatschek (1940) hat Ludwig seinen Beinamen „der Deutsche“ durch die Erschließung weiterer Räume für den deutschen Volksboden verdient. Vereinzelt haben einige jüngere Forschungsbeiträge den Beinamen „der Deutsche“ nicht mehr aufgeführt. Carlrichard Brühl sprach in seiner Darstellung (1990) von „Ludwig II. von Ostfranken“. Einen Ludwig I. von Ostfranken gab es aber nicht. Joachim Ehlers (1994) sprach von Ludwig II. und verzichtete konsequent auf den Beinamen. Die Ordnungszahl ist aber in keiner zeitgenössischen Quelle nachweisbar. Außerdem entstehen Probleme in der Abgrenzung zu Kaiser Ludwig II. in Italien und dem westfränkischen König Ludwig II. „dem Stammler“. Dagegen ist Wilfried Hartmann in seiner Biographie (2002) bei der seit dem 19. Jahrhundert üblichen Bezeichnung Ludwig der Deutsche geblieben. Seinem anachronistischen Beinamen „der Deutsche“ wird insofern eine gewisse Berechtigung zugesprochen, als Ludwig jahrzehntelang über den größten Teil der germanischen Reichsgebiete und somit des späteren Deutschlands herrschte. Jörg W. Busch verzichtete in seiner Überblicksdarstellung (2011) zu allen Karolingern (mit Ausnahme von Karl Martell) auf die traditionellen Beinamen – eine terminologische Vorgehensweise, die sich nach Rudolf Schieffer in der Fachwelt jedoch kaum durchsetzen dürfte. Mit dem Deutschen Archiv für Erforschung des Mittelalters und den Frühmittelalterlichen Studien sind die beiden angesehensten Fachzeitschriften in der deutschsprachigen Mediävistik beim Beinamen „der Deutsche“ geblieben. Wirkung Frühmittelalter Schriftlichkeit verliert für die Herrschaftspraxis und als Kommunikationsmittel seit Ludwig dem Deutschen an Bedeutung. Die Kapitularien verschwinden als wichtige Dokumente für die Verwaltung und Rechtsprechung aus dem ostfränkischen Reich und werden nicht anderweitig ersetzt. Aus seiner langen Herrschaftszeit von 50 Jahren sind nur 172 Urkunden überliefert. Besonders spärlich ist die Überlieferung für die Jahre 861 bis 869. Einem allgemeinen Rückgang der Schriftlichkeit während der Regierungszeit Ludwigs des Deutschen hat allerdings Wilfried Hartmann widersprochen. Er verweist für das Ostfrankenreich auf bedeutende Gelehrte (insbesondere Hrabanus Maurus) und Klosterschulen (Fulda, St. Gallen, Reichenau und Corvey). Hartmann schätzt aufgrund von Untersuchungen zu Bibliothekskatalogen, etwa durch Paul Lehmann, sowie von paläographischen Arbeiten, insbesondere den Werken von Bernhard Bischoff, dass von den ca. 7.000 bis 8.000 in Westeuropa erhaltenen lateinischen Handschriften aus dem gesamten 9. Jahrhundert ungefähr 3.000 aus dem Ostfrankenreich stammen. Dabei handelt es sich zumeist um Abschriften älterer Werke der christlichen Literatur. Im Gegensatz zu seinem Großvater Karl dem Großen und seinem Vater Ludwig dem Frommen wurde über Ludwig den Deutschen keine zeitgenössische Biografie verfasst. Kein Zeitgenosse hat sich negativ geäußert. Als Hauptquelle gelten die Fuldaer Annalen. Zu den bedeutendsten Autoren der Zeit Ludwigs des Deutschen gehört Notker von St. Gallen. Von den Historiographen des ausgehenden 9. Jahrhunderts ist einzig von Notker bekannt, dass er den ostfränkischen König persönlich gesehen hat. Für den St. Galler Mönch war Ludwig ein vorbildlicher Herrscher. Auch die Xantener Annalen ziehen ein positives Fazit. Für den Annalisten war Ludwig weiser und gerechter als die anderen Könige. Der bedeutende Gelehrte Hrabanus Maurus hat Ludwig mehrere Werke gewidmet, darunter De universo, das er ihm 842/46 übersandte. Ludwig wurde auch zum Gegenstand in der volkssprachlichen Dichtung. Im Evangelienbuch Otfrids von Weißenburg wird er als kühner und weiser Herrscher gepriesen. Seine Herrschergewalt erstrecke sich über das Land der Franken. Obwohl Ludwig die Kaiserkrone 875 nicht erringen konnte, wurde er in einigen klösterlichen Urkunden und auch in späteren Geschichtsquellen als Imperator (Kaiser) gewürdigt und damit als Herrscher aufgewertet. Hoch- und Spätmittelalter In den historiographischen Werken vom 10. bis zum 15. Jahrhundert gibt es nur wenige Aussagen über Ludwig. Die Geschichtsschreiber stützten sich bevorzugt auf die Fuldaer Annalen. Einzig Hermann von Reichenau, Adam von Bremen und Sigebert von Gembloux haben sich ausführlicher mit ihm beschäftigt. Im Hoch- und Spätmittelalter wurde er von vielen Chronisten mit seinem Neffen Kaiser Ludwig II. verwechselt. Dazu trug auch bei, dass beide Karolinger innerhalb kurzer Zeit verstorben waren. Im 11. Jahrhundert erreichte Ludwigs Nachruhm seinen Höhepunkt. In einer Genealogie um 1100 erhält er als einziger Herrscher die Bezeichnung magnus rex (großer König). Die Weltchroniken des Spätmittelalters gehen kaum auf Ludwig und seine Herrschaft ein. Unter den Historiographen um 1500 behandelt besonders Johannes Aventin in seiner Bairischen Chronik den karolingischen Herrscher. Forschungsgeschichte Nach Georg Waitz wurde das deutsche Reich durch den Vertrag von Verdun 843 gegründet. Waitz formulierte 1843 zum tausendjährigen Jubiläum des Verduner Vertrages: „Es bestand von nun an ein deutsches Reich. Ludwig hat es begründet, der Verduner Vertrag hat es in die Geschichte eingeführt.“ Das bedeutendste Werk über die Ereignisgeschichte Ludwigs des Deutschen ist die dreibändige Darstellung Geschichte des Ostfränkischen Reiches (2. Auflage, Leipzig 1887) von Ernst Dümmler. Die ersten beiden Bände befassen sich mit der Zeit Ludwigs des Deutschen. Dümmlers Darstellung ist ähnlich wie die Jahrbücher der Deutschen Geschichte konzipiert. Er ging strikt chronologisch vor und wertete für jedes Jahr die schriftlichen Quellen umfassend aus. Seine gründliche Darstellung der Geschichte des ostfränkischen Reiches könnte ein Grund dafür sein, dass danach die Geschichtswissenschaft über hundert Jahre die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts kaum weiter erforscht hat. Weder im 19. noch im 20. Jahrhundert erhielt Ludwig eine ausführliche Biografie. Es erschienen nur einige knappe biografische Abrisse. Auch in den übergreifenden Darstellungen wurde er meist nur beiläufig abgehandelt. Seine Regierungszeit galt lange Zeit entweder als Verfallsepoche gegenüber der Zeit Karls des Großen oder als die Epoche der Entstehung des „deutschen“ Reiches. Seit den 1970er Jahren setzte sich durch die Studien von Joachim Ehlers, Bernd Schneidmüller und Carlrichard Brühl über die Anfänge der deutschen und französischen Geschichte immer stärker die Sichtweise durch, dass das „Deutsche Reich“ nicht durch ein herausragendes Ereignis, wie etwa die Teilung des Frankenreiches durch den Vertrag von Verdun 843, entstanden ist, sondern als Resultat einer im 9. Jahrhundert einsetzenden Entwicklung, die teilweise selbst im 11. und 12. Jahrhundert noch nicht abgeschlossen war. Das Interesse an Ludwigs Herrschaft blieb in der Mediävistik weiterhin gering. Selbst der 1100. Todestag des Ostfrankenkönigs im Jahr 1976 fand in der Wissenschaft keine größere Beachtung. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden über die Zeit Karls des Großen und über die der Ottonen im 10. Jahrhundert zahlreiche Arbeiten veröffentlicht. Hingegen gibt es über die Umbruchszeit des 9. Jahrhunderts aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt keine größeren Arbeiten. Nach der Darstellung Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024 von Johannes Fried (1994) war Ludwig „zweifellos der König, dem das künftige Reich der Deutschen seine Existenz verdankte“. Nach Fried hatte der König allerdings keinen großen Anteil an der Gestaltung dieses werdenden Reiches. Fried stellte angesichts des aktuellen Forschungsstandes resümierend fest: „Die Deutschen schlitterten in ihr nationales Dasein, ohne es zu merken und ohne es zu erstreben.“ Seine Einschätzung des Karolingers war negativ. „Seine Persönlichkeit umhüllt Schweigen“, „höhepunktlos glitt Ludwigs Geschichte dahin“, „Reichsarchitekt war Ludwig mithin nicht“, und „sein Königtum gewann Festigkeit, weil es fortbestand und niemand da war, der es in Frage stellte“. Erst um die Jahrtausendwende wurde Ludwig wieder stärker untersucht, vor allem durch Wilfried Hartmanns Biografie (2002) und eine von ihm herausgegebene Aufsatzsammlung. Hartmann fragte, ob zwischen 826 und 876 die Voraussetzungen für ein Zusammengehörigkeitsgefühl unter den verschiedenen ostfränkischen Volksgruppen (Sachsen, Franken, Thüringern, Baiern, Alemannen u. a.) zu erkennen sind. Außerdem ging es ihm um die Bedeutung von Ludwigs langer Regierungszeit für das Entstehen des späteren „deutschen“ Reichs. Nach Hartmann hat vor allem das Kriegswesen durch die Beteiligung mehrerer Volksgruppen „die Integration der im Ostfrankenreich zusammengeschlossenen Völker gefördert“. Im Gegensatz zu Carlrichard Brühl interpretierte Hartmann die Erwähnung von Konflikten zwischen den Volksgruppen am Ende von Ludwigs Herrschaftszeit als Beleg für ein wachsendes Zusammengehörigkeitsgefühl. In seinem Fazit stimmte er Johannes Fried zu, indem er Ludwig den Deutschen als den König bezeichnete, „dem das künftige Reich der Deutschen seine Existenz verdankte.“ Im von Hartmann herausgegebenen Sammelband hat Thomas Zotz (2004) die Zeit der Herrschaft Ludwigs des Deutschen als „Formierungsphase des Ostfränkischen Reiches“ bezeichnet. Innerhalb von wenigen Jahren sind neben Hartmanns Biografie und seiner Aufsatzsammlung zahlreiche Studien über Ludwig den Deutschen oder die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts veröffentlicht worden. Für Eric J. Goldberg war Ludwig schlichtweg „a traditional Carolingian king“. Als karolingischer Herrscher sah er sich in der Tradition Karls des Großen und betrachtete sich als dessen legitimen Erben. Boris Bigott (2002) untersuchte die Entwicklung der ostfränkischen Reichskirche unter Ludwig dem Deutschen und leistete damit „einen wertvollen Beitrag zur vernachlässigten Geschichte der Karolingerzeit“. Neuere Untersuchungen seit den 1990er Jahren haben die stark im 19. Jahrhundert verwurzelte Sichtweise eines allgemeinen Niedergangs nach 830 im ostfränkischen Reich relativiert. Die vielfältigen Entwicklungsprozesse im 9. Jahrhundert hatten in der Herrschaftszeit Karls des Großen ihren Ausgangspunkt, unter der Herrschaft von dessen Sohn und Nachfolger Ludwig dem Frommen erreichten sie einen Höhepunkt. Quellen Jahrbücher von Fulda. In: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte. Teil 3: Jahrbücher von Fulda, Regino: Chronik, Notker: Taten Karls. Neu bearbeitet von Reinhold Rau. (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe. Band 7). 4., gegenüber der 3. um einen Nachtrag erweiterte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, S. 19–177 (Lateinischer Text und deutsche Übersetzung). Notker, Gesta Karoli. In: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte. Teil 3: Jahrbücher von Fulda, Regino: Chronik, Notker: Taten Karls. Neu bearbeitet von Reinhold Rau. (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe. Band 7). 4., gegenüber der 3. um einen Nachtrag erweiterte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, S. 321–427 (Lateinischer Text und deutsche Übersetzung). Xantener Jahrbücher. In: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte. Teil 2: Jahrbücher von St. Bertin. Jahrbücher von St. Vaast. Xantener Jahrbücher. Bearbeitet von Reinhold Rau. (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe. Band 6). 2. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1992, ISBN 3-534-06964-1, S. 339–371 (Lateinischer Text und deutsche Übersetzung). Literatur Boris Bigott: Ludwig der Deutsche und die Reichskirche im Ostfränkischen Reich (826–876). Matthiesen, Husum 2002, ISBN 3-7868-1470-8 (Rezension). Roman Deutinger: Königsherrschaft im ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späten Karolingerzeit (= Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters. Band 20). Thorbecke, Ostfildern, 2006, ISBN 978-3-7995-5720-7 Ernst Dümmler: Geschichte des Ostfränkischen Reiches. Band 1: Ludwig der Deutsche bis zum Frieden vom Koblenz 860; Band 2: Ludwig der Deutsche vom Koblenzer Frieden bis zu seinem Tode (860–876). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1960 (Nachdruck der 2. Auflage von 1887; alte, aber grundlegende Darstellung (Digitalisat)). Eric J. Goldberg: Struggle for Empire. Kingship and Conflict under Louis the German. 817–876. Cornell University Press, Ithaca u. a. 2006, ISBN 0-8014-3890-X (Rezension). Wilfried Hartmann: Ludwig der Deutsche. Primus Verlag, Darmstadt 2002, ISBN 3-89678-452-8 (Rezension). Wilfried Hartmann (Hrsg.): Ludwig der Deutsche und seine Zeit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-17308-2 (Aufsatzsammlung mit 11 Beiträgen renommierter Mediävisten, Ergänzung zur Biographie von Wilfried Hartmann von 2002; Rezension). Rudolf Schieffer: Die Karolinger. 5. aktualisierte Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-17-023383-6, S. 139–169. Lexikonartikel Andrea Stieldorf: Ludwig der Deutsche. In: Albrecht Cordes, Hans-Peter Haferkamp, Heiner Lück, Dieter Werkmüller und Ruth Schmidt-Wiegand (Hrsg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 3, 21. Lieferung, 2. Auflage. Berlin 2015, Sp. 1089–1090. Weblinks Veröffentlichungen zu Ludwig dem Deutschen im Opac der Regesta Imperii Urkunde Ludwigs des Deutschen für das Kloster St. Emmeram in Regensburg, 18. August 831, Anmerkungen Herzog (Bayern) König (Bayern) König (Franken) Herrscher (9. Jahrhundert) Ostfrankenreich Familienmitglied der Karolinger Franke Klostergründer Geboren im 9. Jahrhundert Gestorben 876 Mann Lotharingien
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https://de.wikipedia.org/wiki/Plattenpanzer
Plattenpanzer
Als Plattenpanzer oder Plattenharnisch wird eine aus körpergerecht geformten Metallplatten bestehende Rüstung bezeichnet. Er stellt eine Form von Schutzkleidung dar, die im Kampfeinsatz z. B. vor Stichwaffen schützen soll. Plattenpanzer, die einen Großteil des Körpers schützten, kamen gegen Ende des 14. Jahrhunderts in Westeuropa auf und fanden bis in das 17. Jahrhundert hinein Verwendung. Dabei wurden sie ständig weiter entwickelt, den Plattenpanzer gibt es so gesehen nicht. Während die wichtigsten Teile derartiger Rüstungen meist nur aus einer oder wenigen Stahlplatten bestanden, mussten bestimmte Körperteile durch zahlreiche Metallschienen (Geschübe) oder durch Kettengeflecht geschützt werden, um dem Träger eine möglichst hohe Beweglichkeit zu gewährleisten. Erste Plattenrüstungen Antike Als Körperschutz wurden wahrscheinlich zuerst Metallplatten als Brustplatte verwendet, die vor die Brust gehängt wurden. Als Pectorale finden sie sich noch in der Legion der frühen römischen Republik. Doch bereits in der Bronzezeit entstanden Plattenpanzer die den Körper umhüllten, vor allem im griechischen Kulturkreis. So kam in Dendra ein mykenischer Glockenpanzer aus dem 14. Jahrhundert v. Chr. ans Licht, welcher allerdings äußerst sperrig und schwer ist (s. Dendra-Rüstung). Seit dem Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. benutzten die Griechen kurze Brustpanzer, oft als Muskelpanzer ausgeführt, zu denen Beinschienen zum Schutz der Unterschenkel und ein Helm getragen wurden. Auf diese Weise schützte sich die schwere griechische Infanterie, die aus den Hopliten bestand. Die bronzene Rüstung der Hopliten – Panhoplia genannt – konnte über 30 kg wiegen und bot den gepanzerten Körperteilen einen exzellenten Schutz gegen die meisten der damals gebräuchlichen Nah- und Fernkampfwaffen. Auch bei den Römern waren bis zum Untergang des Römischen Reiches Brustpanzer aus Bronze und Eisen gebräuchlich, wozu zum Teil Schienen für die Unterarme und Unterschenkel getragen wurden. Im 2. Jahrhundert v. Chr. – möglicherweise noch früher – entwickelten die Kelten das Kettenhemd, das im selben Jahrhundert auch in der römischen Armee als Lorica hamata Verbreitung fand und zur wichtigsten Rüstungsart der Legionäre wurde. Die Plattenrüstung verlor in der Folgezeit an Bedeutung und wurden lediglich von hohen Offizieren getragen. Die Kettenrüstung wurde wiederum vom 1. bis zum 3. Jahrhundert zeitweilig von einem Schienenpanzer, der Lorica segmentata verdrängt, nur die Kavallerie behielt das Kettenhemd aufgrund der größeren Bewegungsfreiheit bei. In der Spätantike wurde der Schienenpanzer allerdings auch bei der Infanterie wieder zugunsten des Kettenhemds aufgegeben, vermutlich da letzteres einfacher instand zu halten war. Parallel dazu war vor allem bei Kavalleristen der Schuppenpanzer, modern als Lorica squamata bezeichnet, durchgehend in Verwendung. Mittelalter Nach dem Zerfall des Römischen Imperiums war im Frühmittelalter das Kettenhemd lange Zeit der bevorzugte Schutz der wohlhabendsten Krieger bzw. des Adels. Im Hochmittelalter kamen wieder Kettenrüstungen auf, welche fast den gesamten Körper einhüllten. Darunter trug man einen Steppwams (französisch Gambeson oder Aketon), weil eine Kettenrüstung allein nur wenig vor der Wucht von Hiebwaffen schützt. Weitere Metallrüstungsarten, die zu dieser Zeit verwendet wurden, waren Schuppen- und seltener Lamellenpanzer. Vor dem wuchtigen Aufprall einer Lanze und vor allem vor der im 11. Jahrhundert in Europa aufkommenden Armbrust bot eine Kettenrüstung keinen ausreichenden Schutz. Auch der Langbogen schmälerte den Schutzwert der Kettenrüstung beträchtlich, so dass es erforderlich wurde, eine massivere Rüstungsart zu entwickeln. Bereits im späten 12. Jahrhundert ging man offenbar vereinzelt wieder dazu über, die Brust durch Metallplatten zu schützen. Im 13. Jahrhundert vollzog sich die allmähliche Entwicklung hin zur Plattenrüstung, die von den Plattnern gefertigt wurde. Zunächst begann man, die Gliedmaßen durch Metallplatten zu schützen. Etwa in der Mitte des 13. Jahrhunderts wurden die Knie durch Platten geschützt (Kniekachel), um 1260 kamen die Ellbogen hinzu (Mäusel). Gegen Ende des 13. Jahrhunderts wurden vereinzelt die Schienbeine durch Metallplatten geschützt, die über oder eventuell unter der Kettenrüstung getragen wurden. Zur selben Zeit wurden auch die Handschuhe durch Metallplatten verstärkt, was aber noch recht selten geschah. Am Ende des 13. Jahrhunderts kamen erste Spangenharnische auf, auch als Plattenrock bekannt. Ein Plattenrock bestand aus mehreren rechteckigen Metallplatten, die sowohl vertikal als auch horizontal an der Innenseite eines Stoff- oder Ledergewandes genietet wurden. Um 1320 kamen Eisenschuhe auf, und in den 1320er Jahren wurden Armschienen üblich. Seit den 1330er Jahren wurden auch die Waden durch Metallplatten geschützt. Der Schutz für die Hände wurde Mitte des 14. Jahrhunderts durch Fingerhandschuhe verbessert, die komplett aus Platten bestanden. Um 1370 setzte sich schließlich der Brustpanzer (Bruststück) durch. Wenige Jahre später wurde der am Brustpanzer angebrachte Rüsthaken üblich, auf den die Lanze aufgestützt werden konnte. Der einstige Topfhelm wurde durch die Beckenhaube abgelöst, die ursprünglich unter dem Kübelhelm getragen wurde. Diese wurden zuerst durch das Klappvisier und später durch das Absteckvisier zu einem vollwertigen Helm. Die häufigste Visierform, welche an die Schnauze eines Hundes erinnerte, nannte man Hundsgugel. Die meist adligen Träger waren nun durch eine Vollrüstung geschützt, die aus mehreren Dutzend Metallplatten bestand, welche durch zahlreiche Riemen, Niete und Scharniere flexibel miteinander verbunden waren. Mit der zunehmenden Vervollständigung des Plattenharnischs wurde der bei Kettenpanzern obligatorische Schild immer kleiner, bis man schließlich ganz auf ihn verzichtete. Um die Achseln und den Genitalbereich zu schützen, wurde entweder unter dem Plattenpanzer ein Kettenhemd getragen, oder an diesen Stellen war an dem Steppwams Kettengeflecht angebracht. Zusätzlich befestigte man zum Schutz der Achselhöhlen Metallscheiben an der Rüstung (Schwebescheiben), teilweise vergrößert zu einer am Brustpanzer befestigten Platte vor Schulter und Lanzenarm (Stechachsel). Die Plattenrüstung ist eine europäische Besonderheit. Ansätze einer vollständigen Plattenpanzerung gab es zwar auch bei den Türken, Persern und Indern, die zum Schutz des Rumpfes und der Gliedmaßen größere Metallplatten an ihren Kettenrüstungen befestigten. Aber nur in Europa fertigte man Rüstungen, die den ganzen Körper mit Metallplatten schützten. Viele Ritter und sonstige Adlige konnten sich eine Rüstung aus Platten allerdings nicht leisten und schützten sich daher nur durch Kettengeflecht. Bestandteile und Herstellung von Plattenpanzern Eigenschaften der Plattenrüstung Entgegen weit verbreiteten Vorstellungen war es möglich, in einem für die Schlacht geeigneten Vollharnisch (Feldharnisch) zu laufen, sich hinzulegen, wieder aufzustehen und sogar ohne Hilfe auf ein Pferd zu steigen. Ein spätmittelalterlicher/frühneuzeitlicher Vollharnisch wog durchschnittlich 20 bis 30 Kilogramm. Das Gewicht der maßangefertigten Rüstung war dabei sehr gleichmäßig über den Körper verteilt. Ein heutiger Soldat mit voller Ausrüstung trägt oftmals ein größeres Gewicht am Körper. Zudem wurden die Adligen seit ihrer Kindheit an das Tragen von Rüstungen gewöhnt. Dem späteren römisch-deutschen Kaiser Karl V. wurde bereits im Alter von zwölf Jahren eine Plattenrüstung geschmiedet, wobei ein Wams und eine Hose von ihm als Vorlage für den Plattner dienten. Das Bizarre daran war, dass er seine Kinderrüstungen nur selten trug, denn die Herstellung seiner allerersten Platte, die ihm im Alter von bereits fünf Jahren angemessen wurde, dauerte derart lange, dass er bereits aus ihr hinausgewachsen war. Die somit nie komplett fertiggestellte Platte ist in der Hof-, Jagd- und Rüstkammer in der Neuen Burg in Wien zu besichtigen. Das größte Problem an einer Plattenrüstung stellte keineswegs das Gewicht, sondern die Hitzeentwicklung dar. So soll der Herzog von York 1415 in der Schlacht von Azincourt an einem Herzinfarkt gestorben sein, der aus der großen Hitze in seiner Rüstung resultierte. Ein weiteres Problem war Rost, der insbesondere bei hoher Luftfeuchtigkeit entstand. Um eine Plattenrüstung vor dem Verrosten zu schützen, war es üblich, sie zu schwärzen oder anderweitig zu färben. Die Plattner mussten gute Kenntnisse über den menschlichen Bewegungsapparat besitzen, um möglichst flexible Rüstungen anfertigen zu können. Ein bis heute erhaltener Harnisch von König Heinrich VIII. umhüllt seinen Träger vollständig, ist dabei jedoch äußerst beweglich, weshalb er in den 60er Jahren von der NASA ausführlich studiert wurde, um Impulse für die Konstruktion eines effektiven Weltraumanzugs zu liefern. Effektivität Der hohe Grad an Schutz, den historische Plattenpanzer boten, wurde mittlerweile durch experimentelle Archäologie und Tests belegt. Wie konkrete Tests mit simulierten Klingen an modernen Äquivalenten der historischen Werkstoffe zeigen, benötigt man zum Einkerben einer 1,9 mm dicken und 150HV harten Eisenplatte um 200 J Energie. Die historische Härte der Platten bewegte sich meist zwischen 200 und 300HV (es sind aber auch Brustharnische bekannt bis zu 600HV Härte), der Kohlenstoffgehalt schwankte gewöhnlich zwischen 0,1 und 0,4 % und ihre durchschnittliche Dicke fand sich im Bereich zwischen 1,0 und 1,5 mm – hiermit war der Plattenpanzer faktisch undurchdringlich für jede Art Hieb oder Schnitt. Die einzige Möglichkeit, eine solche Rüstung zu bezwingen, war der Stich (insbesondere in die Lücken an den Scharnieren) bzw. der Schlag gegen stoßempfindliche Körperpartien wie den Kopf oder Brustkorb. Da der Plattenpanzer an sich den bestmöglichen Schutz gegen Hiebwaffen bot, setzten sich deshalb mit der Entwicklung dieser Rüstungsart in der zweiten Hälfte des 14. Jh. die Schwerter vom Typ XV–XVIII durch. Die Plattenrüstungen wurden in Zweikämpfen oder Duellen in der Regel an ihren schwächsten Stellen durch Dolche, Stangenwaffen, Bohr- und Stichschwerter durchstoßen, wobei in den Fechtbüchern die sog. Halbschwerttechniken (bzw. „Kurzes Schwert zum Kampffechten“) zu Verwendung kommen. Durch das Greifen des Schwertes in der Mitte der Klinge wurden Hebel- und Stoßtechniken eingesetzt, die einen Gegner in der Plattenrüstung entwaffneten, zu Boden brachten, zur Aufgabe zwangen oder (oft letal) verletzten. Die stichoptimierten Schwerter des 15.–16. Jh. wiesen in der Mitte der Klinge eine moderate Schärfe auf, oder gar eine Fehlschärfe, so dass es zu keinen Schnittverletzungen kam, wenn die Waffe sachgemäß eingesetzt wurde. Ringen war hiermit die wichtigste Taktik im Duell gegen Krieger in Plattenrüstung. Meist lief es am Ende darauf hinaus, dass der Kampf beim durch Ringtechniken am Boden fixierten Gegner mit dem Scheibendolch beendet wurde. Abgesehen von spezialisierten Harnischkampfschwertern waren die effektivsten und beliebtesten Waffen die Mordaxt bzw. der Kriegshammer, die sich im geharnischten Zweikampf einer großen Beliebtheit erfreuten – der Sinn dabei war entweder, den Plattenpanzer an seiner schwächsten Stelle zu durchstechen, oder dem Gegner mit einem Schlag eine stumpfe Prellung (Gehirnerschütterung, Rippenbrüche) zu verpassen, ohne die Rüstung selbst zerstören zu müssen. Das populäre Bild vom Zerbeulen der Plattenrüstung mit einer stumpfen Hiebwaffe und dem Sieg durch „Knockout“ bzw. „Aufbrechen“ der Rüstung durch brutale Gewalt widerspricht zeitgenössischen Quellen und muss hiermit als ein Fantasieprodukt der Moderne betrachtet werden. Die Kräfte, die dazu benötigt werden, um jene Eisenplatten durch Deformierung oder Schneiden zu zerstören, liegen weit außerhalb physischer Möglichkeiten des Menschen, und sind ohne mechanisch-hydraulische Geräte nicht aufzubringen. Bestandteile der Plattenrüstung Eine vollständige Plattenrüstung bestand in ihrer höchsten, am Anfang des 16. Jahrhunderts erreichten Entwicklung aus folgenden Teilen (vgl. Bild): Helm mit Halsberge (Kragenteil), Visier und Nackenschirm Brustpanzer mit Plattenschurz aus mehreren Metallreifen und Beintaschen (Tassetten) Rückenteil mit einem starren oder mehreren beweglichen Gesäßreifen Armkacheln aus Mäusel und Muschel Schwebscheiben zum Schutz der Achselhöhlen Achseln, an denen Brechränder angebracht werden konnten, zum Schutz der Schulterpartie Oberarm- und Unterarm-Röhren, welche zusammen mit den Panzerhandschuhen (als Fausthandschuhe „Henze“ genannt), den Ellenbogenkacheln das Armzeug bilden Diechlinge (zum Schutz der Oberschenkel), Kniekacheln, Beinröhren (für die Unterschenkel) und die Eisenschuhe (Bahrenfüsse, Schnabelschuhe, Halbschuhe, Kuhmäuler, Entenschnabelschuhe und Kniestiefel) bilden zusammen das Beinzeug Brayette zum Schutz der Genitalien Den Hals, ursprünglich nur durch die weit hinausreichende Helmbrünne gedeckt, schützte nun die mit dem Helm verbundene Halsberge. Mit derselben hingen oberhalb das aus mehreren übereinander greifenden Querschienen gebildete Kehlstück oder Gurgelplatte, seitlich die Achselstücke (vielfach mit Stauchen od. Brechrändern versehen) zusammen, an die sich vorn und hinten als besonderer Schutz gerundete Platten anschlossen, die Vorder- und Hinterflüge. Da der rechte Vorderflug zum Einsetzen der Lanze etwas kürzer war, schützte man die Achselhöhle durch eine mit einem spitzen Stachel versehene runde Platte, die Schwebscheibe. Die Armschienen bestanden aus dem Ober- und Unterarmzeug (Armröhren) und den sie verbindenden, beweglichen Arm- oder Ellbogenkacheln oder Mäuseln. Die Hände wurden durch eiserne Handschuhe, Gantelets (wenn ungefingert, Henzen genannt), geschützt. Brust- und Rückenstück des Harnisches, an denen sich meist Rüsthaken zum Auflegen der Lanzen befanden, waren durch Riemen miteinander verbunden und bestanden wohl aus einem beweglich übereinander greifenden Schienengeschübe, das man nach seiner Zusammensetzung Krebs nannte. Von anderen werden nur die in gleicher Weise zusammengesetzten Beinlaschen Krebse genannt. Sie wurden an dem vom Harnisch zu beiden Seiten über die Lenden fallenden, gleichfalls aus beweglichen Querschienen bestehenden Bauchschurz, auch Leib- und Hinterreifen genannt, mit Riemen befestigt. Die Geschlechtsteile schützte eine Schamkapsel, entweder aus einem Stück oder aus Maschengeflecht bestehend. Die Bedeckung der Beine (Beinzeug) zerfiel in drei Hauptteile: die Diechlinge für die Oberschenkel, die Kniebuckel, Kniekacheln (genouilliére) oder -Kapseln und die Beinröhren (Beinschienen, Beinberge) für die Unterschenkel. Daran waren die Eisenschuhe befestigt, die früher mit langem Schnabel (Schnabelschuhe), etwa seit 1490 vorn stumpf waren (Kuhmäuler, Bärenklauen). Das Schmieden von Plattenrüstungen Die Hersteller von Plattenpanzern wurden in Deutschland Plattner genannt und waren in Zünften organisiert. Die Plattner kauften die zur Herstellung eines Harnisches nötigen Stahlplatten in der Regel von Großschmieden. Der Plattner bestimmte zunächst die Körpermaße seines Kunden. Konnte ein Kunde nicht persönlich erscheinen, ließ er dem Plattner zumindest Kleidungsstücke von sich zukommen. Entsprechend den Maßen zeichnete der Plattner ein Muster auf die Stahlplatten und löste den markierten Teil mit Meißeln und Metallscheren heraus. Dann wurden die Platten erhitzt und grob in die gewünschte Form gehämmert. Die Feinarbeit führten der Plattner und seine Mitarbeiter auf verschiedenen Ambossen mit kleinen Hämmern aus. Sie glühten die Platten dabei immer wieder aus, doch erfolgte ein Großteil der Arbeit am erkalteten Metall. Waren sämtliche Rüstungsteile fertiggestellt, wurde überprüft, ob sie ausnahmslos zusammenpassten und Nacharbeiten durchgeführt. Schlosser brachten Niete, Lederriemen und Scharniere an den Platten an. Danach wurden die Platten an lederbezogenen Holzscheiben poliert und gegebenenfalls mit Verzierungen versehen. Zusätzlich konnte der Plattner die Rüstungsteile schwarzfärben, was auch als Rostschutz diente. Dazu wurden Ölmischungen in die Platten eingebrannt. Auch eine blaue Färbung war möglich, indem erhitzte Platten im kalten Wasser abgeschreckt und wieder angelassen wurden. Rüstungen, die für das einfache Fußvolk gedacht waren, wurden auch lediglich mit Farbe bestrichen. Als letzter Arbeitsschritt ließ der Plattner die Rüstungsteile mit einem Futter aus Wolle oder Pflanzenfasern auspolstern, das mit Leinen, Tuch oder Seide überzogen wurde. Qualitativ hochwertige Plattenpanzer wurden im 15. Jahrhundert gegen Armbrustbolzen, im 16. und 17. Jahrhundert gegen Arkebusen- und Pistolenschüsse getestet. Wenn der Bolzen bzw. die Kugel vom Brustpanzer abprallte, wurde dieser mit dem Beschaustempel der entsprechenden Plattnerzunft versehen, welcher meist Bezug auf die Heimatstadt der Zunft nahm. Nur wenige Rüstungen konnten erfolgreich gegen Musketenschüsse getestet werden. Im 19. Jahrhundert wurde für die Kürasse ebenfalls eine Beschussprobe durchgeführt. Die Herstellung eines maßgefertigten Harnisches nahm meist mehrere Monate in Anspruch. Die Kosten für Plattenrüstungen konnten gewaltig sein. In der Regel kosteten sie mindestens so viel, wie ein damaliger Handwerksmann in mehreren Jahren verdiente. Seit dem frühen 16. Jahrhundert gab es Massenanfertigungen von Harnischen, die deutlich günstiger als die für den Adel maßgefertigten geschmiedeten Rüstungen waren. Dafür waren sie oftmals sperriger und boten weniger Schutz. (1512 bestellte Heinrich VIII. für sein Fußvolk 2.000 derartige Rüstungen, die in Florenz geschmiedet wurden.) Hier wurde Serienfertigung betrieben, womit mehrere Meister beschäftigt waren. Es wurden unterschiedlich große Formen gefertigt, und das Eisen wurde mittels eines Gegenstücks im warmen Zustand in die Form gepresst, heute Gesenk genannt. Produktionszentren Bereits im frühen 15. Jahrhundert wurden Norditalien und Süddeutschland führend in der Produktion von Harnischen. Italienische Rüstungen waren bereits seit dem späten 13. Jahrhundert nach ganz Europa exportiert worden. Bedeutende Zentren der Harnischproduktion waren in Italien Mailand, Brescia, Florenz, Genua, Venedig, Modena und Rom, wobei die mailändischen Schmieden führend waren. Die wichtigsten Produktionszentren auf deutschem Boden waren Augsburg, Landshut und Nürnberg. Zu einer herausragenden Stellung brachte es darüber hinaus die Hofschmiede in Innsbruck, die Maximilian I. 1504 ins Leben rief. Kleinere Zentren existierten in Köln, Ulm, Wien, Magdeburg und Lübeck. Auch in anderen Ländern entstanden große Rüstungsschmieden, die meist von italienischen oder deutschen Meistern geleitet wurden. In Anlehnung an Maximilian richtete Heinrich VIII. von England im Jahre 1515 eine königliche Schmiede in Greenwich ein, in der vor allem Deutsche und Niederländer tätig waren. Auch die schottischen Könige unterhielten eigene Schmieden. Jakob IV. ließ seine Harnische seit 1502 in Edinburgh anfertigen, sein Nachfolger Jakob V. eröffnete 1531 in Holyrood eine weitere Hofschmiede. Französische Rüstungen wurden vor allem in Paris, aber auch in Saint-Quentin, Tours und Rouen hergestellt. In der Plattnerei zu Lyon wurden mailändische Schmiede beschäftigt. Osteuropäische Rüstungen stammten meist aus Krakau. Arten von Plattenpanzern Bereits im 15. Jahrhundert bildeten sich verschiedene Arten von Plattenrüstungen heraus, die für einen speziellen Verwendungszweck konzipiert worden waren. Die für den Einsatz in der Schlacht verwendeten Rüstungen der schweren Reiterei wurden Feldharnische oder Feldkürisse genannt. Für den Kampf zu Fuß trugen die Kämpfer einen Fußküriss. Es existierten verschiedene Arten von Feld- und Fußkürissen, darüber hinaus wurden Turnier- und Paraderüstungen hergestellt, die meist nicht für den Kriegsgebrauch geeignet waren. Auch Schlachtrösser konnten seit dem späten 14. Jahrhundert durch eine Plattenpanzerung geschützt werden. Turnierharnische Im 15. Jahrhundert kamen Plattenrüstungen auf, die speziell für den Gebrauch auf Turnieren angefertigt wurden. Für den Kampf zu Pferd fand der so genannte Stechküriss Verwendung, der über 40 Kilogramm wiegen konnte. Er schränkte Beweglichkeit und Sichtfeld des Trägers deutlich stärker ein, als dies bei einem Feldküriss der Fall war. Allein der Helm eines Stechkürisses konnte über 10 Kilogramm wiegen und verfügte oftmals über eine Seitenklappe, um zwischen den einzelnen Durchgängen für Frischluft im Helm zu sorgen. Die Schulter- und Brustpartie auf der linken Körperseite wurde bei einer solchen Rüstung besonders stark geschützt, weshalb bei den meisten Stechkürissen eine deutliche Asymmetrie vorliegt. Ab 1490 kamen auch für das Turnier spezialisierte Plattenrüstungen auf. Manche Reiterharnische waren nicht nur für die Schlacht, sondern auch für das Turnier zu Pferd geeignet. Daneben existierten Fußturnier-Rüstungen, die als Kempfkürisse bezeichnet wurden. Bei den Kempfkürissen wurde auf den Rüsthaken verzichtet, da die Lanze im Fußturnier nicht zum Einsatz kam. Kempfkürisse waren meist symmetrisch gestaltet und glichen im Wesentlichen einem vollständigen Fußküriss. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts kamen Turniere beim europäischen Adel außer Mode, was zur Einstellung der Produktion von Turnierrüstungen führte. Paradeharnische Besonders wohlhabende Adlige ließen sich prunkvoll verzierte Harnische anfertigen, die um ein Vielfaches teurer sein konnten als ein gewöhnlicher Feldharnisch. Die Ätzungen und Stiche auf diesen Prunkrüstungen stammten oftmals von berühmten Künstlern der damaligen Zeit. Dabei waren Motive aus der römischen und griechischen Antike sowie biblische Szenen besonders beliebt. Diese Rüstungen dienten meist repräsentativen Zwecken, einige von ihnen konnten aber auch im Kampf getragen werden. Eine besondere Erscheinung waren die so genannten gepufften und geschlitzten Harnische, die bis circa 1530 angefertigt wurden. Diese grotesk anmutenden Plattenpanzer ahmten die Bekleidung der Landsknechte nach und verfügten deshalb über gewaltige Armteile und angedeutete Schlitze. Solche Harnische werden auch als Kostümharnische bezeichnet. Oftmals gingen mit diesen Kostümharnischen auch äußerst groteske Gesichtshelme einher. Diese Helme hatten anstatt eines Visiers ein fratzenschneidendes Gesicht mit nur sehr kleinen Sehlöchern und Atemschlitzen. Harnischgarnituren Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurde es Mode, sich eine ganze Harnischgarnitur anfertigen zu lassen. Diese konnte aus über hundert Einzelteilen bestehen, die man je nach Bedarf zu einem Feld-, Fuß- oder Turnierharnisch zusammensetzen konnte. Dabei konnte unter anderem zwischen verschiedenen Turnierhelmen und Verstärkungsplatten für den Brustpanzer gewählt werden. Die Garnitur wurde in der Regel nach ihrem wichtigsten Dekorelement benannt, wie zum Beispiel die 1547 geschmiedete Adler-Garnitur, die aus 87 Einzelteilen besteht. Aus ihr lassen sich drei verschiedene Turnier- und fünf verschiedene Feldharnische zusammenstellen. Halb- und Dreiviertelharnische Als Halbharnisch bezeichnet man eine Plattenrüstung, bei der das Beinzeug gänzlich fehlt. Dies war oftmals der beste Schutz, den sich ein einfacher Fußsoldat leisten konnte. Schlichte Halbharnische wurden in großen Mengen angefertigt und waren nicht annähernd so kunstvoll geschmiedet wie die maßgefertigten Harnische für den Adel. Der größte Teil des Fußvolkes war aber höchstens mit einer Art Schuppenpanzer (Brigantine) oder einer ähnlich billigen Rüstung ausgestattet. Im 16. Jahrhundert wurde es auch bei Infanterie-Offizieren üblich, einen Halbharnisch zu tragen. Manche Adlige ließen sich als Prunkrüstung einen besonders aufwändig gefertigten Halbharnisch schmieden. Darüber hinaus konnte aus einer Harnischgarnitur ein Halbharnisch zusammengestellt werden, der meist als Fußküriss verwendet wurde. Bei den Dreiviertelharnischen fehlte das Unterbeinzeug, so dass sie nur bis zu den Knien reichten. Anstelle von Beinröhren für die Unterschenkel und Eisenschuhen trug man schwere Lederstiefel, zudem verzichteten viele Reiter auf die Eisenhandschuhe. In der Mitte des 16. Jahrhunderts setzte sich der Dreiviertelharnisch bei den leichten Lanzenreitern und Kürassieren durch, während viele schwere Lanzenreiter weiterhin einen vollständigen Küriss trugen. Im späten 16. Jahrhundert gingen die Schützen zu Pferd, also die Kürassiere und Arkebusierreiter, dazu über, sich mit einem Trabharnisch zu schützen. Dabei handelte es sich um einen Dreiviertelharnisch ohne Rüsthaken, der Beintaschen und Diechlinge zu langen Schößen vereinte, die aus über 14 Platten bestehen konnten und meist durch Kniekacheln vervollständigt wurden. Die Schöße wurden in Kniehöhe an die Beine gebunden. Trabharnische kamen bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts zum Einsatz und fanden auch bei Infanterieoffizieren Verbreitung. Rossharnische Im 14. Jahrhundert ging man dazu über, auch Schlachtrösser mit einem Plattenpanzer zu schützen, da Pferde in der damaligen Kriegsführung äußerst wichtig waren und in der Schlacht oftmals gezielt angegriffen wurden. Ein Rossharnisch wog annähernd so viel wie ein Vollharnisch für einen Menschen, also circa 20 bis 30 Kilogramm. Er bedeckte einen Großteil des Pferdekörpers mit Ausnahme der Beine. Es soll auch Rossharnische mit voll beweglichen Beinteilen gegeben haben, was aber noch nicht belegt werden konnte. Rossharnische konnten prunkvoll verziert werden, meist geschah dies im stilistischen Einklang mit dem Harnisch des Reiters. Stilistische Entwicklung des Plattenpanzers Es fällt auf, dass bereits die bronzenen Brustpanzer der Griechen und später auch der Römer von der damaligen Kunst beeinflusst waren – so wurde auf der Oberfläche des Panzers die Muskulatur des Trägers nachgeformt (Muskelpanzer), wobei oftmals stark idealisiert wurde. Ähnliche Tendenzen sind auch in der griechischen und römischen Bildhauerei zu beobachten. Als die ersten Vollharnische Ende des 14. Jahrhunderts aufkamen, wirkten diese zunächst recht grob und kantig. So verwundert es nicht, dass die ersten Brustpanzer im deutschen Sprachraum als „Kastenbrust“ bekannt waren. Diese frühen Brustpanzer verjüngten sich zur Taille hin abrupt, was im Europa des späten 14. Jahrhunderts als modisch empfunden wurde. Bereits in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts kamen von Italien ausgehend Plattenpanzer mit abgerundeten Formen auf. Die italienischen Harnische waren in der Regel asymmetrischer als die in Deutschland produzierten. Charakteristisch war ihr wuchtiges Erscheinungsbild. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts kam der so genannte gotische Rüstungsstil (in Anlehnung an die Kunstepoche der Gotik) auf, der besonders in Deutschland vorherrschte. Die gotischen Harnische waren recht schlank und filigran gearbeitet. Das Brustteil war geschiftet und die Eisenschuhe ahmten mit ihren langen, absteckbaren Spitzen die damals üblichen Schnabelschuhe nach. Die stromlinienförmige Schaller vervollständigte die Rüstung. Infolge der Renaissance setzten sich Harnische durch, die deutlich runder und körperlicher waren als die der Spätgotik. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurde der Riefelharnisch sehr beliebt, der fast an seiner gesamten Oberfläche geriffelt war, was sehr dekorativ wirkte. Dazu trug man Eisenschuhe mit besonders breiter Spitze. Sie wurden den damaligen „Kuhmaulschuhen“ nachempfunden, diese erfreuten sich damals großer Beliebtheit. Die Herstellung von Riefelharnischen war dermaßen teuer, dass sie bereits um 1540 gänzlich eingestellt wurde. Im selben Jahrhundert kopierte man zum wiederholten Male Zivilkleidung, indem man Brustpanzer mit einem so genannten Gansbauch versah. Auch bei dem am Brustpanzer angebrachten Tonnenrock handelte es sich um die eiserne Nachbildung eines damals üblichen Kleidungsstücks. Der Tonnenrock wurde in erster Linie beim Fußturnier getragen. Damit man aber mit ebendiesen Tonnenröcken auch reiten konnte, versah man diese Röcke mit abnehmbaren Öffnungen vorne und hinten, die exakt auf die Sitzposition zu Pferd angepasst waren. Der Einfluss der Renaissance zeigt sich insbesondere bei den Prunkharnischen des 16. Jahrhunderts, die oftmals antiken Rüstungsteilen nachempfunden waren und auf denen Szenen aus der griechischen und römischen Geschichte oder Mythologie abgebildet waren. Solche Rüstungen wurden vor allem in Italien hergestellt, wo sie als „all'antica“ oder „alla romana“ bekannt waren. Manche Paradeharnische wurden mit einem Brustpanzer versehen, auf dem nach antikem Vorbild die menschliche Bauch- und Brustmuskulatur nachgebildet worden war. Dieser Stil war in Italien als „all'eroica“ bekannt. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts machte sich die beginnende Kunstepoche des Barock auch bei den Plattenrüstungen bemerkbar. So wurden starke Hell-Dunkel-Kontraste und ausladende Formen sehr beliebt. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts wurden die meisten Rüstungen immer schlichter und funktionaler, bis sie fast gänzlich außer Gebrauch kamen. Die letzten für das Feld geeigneten Harnische ahmten die zivile Mode in keiner Weise mehr nach, und ihre als Rostschutz gedachte Schwärzung ist als einziges dekoratives Element auszumachen. Literatur Stephen Bull: An Historical Guide to Arms & Armor. Facts on File, New York 1991. ISBN 0-8160-2620-3. Arnold Hagemann: Der Griechische Metallpanzer, BoD – Books on Demand, 2013, ISBN 978-3-95580-403-9. Marcus Junkelmann: Die Legionen des Augustus. Der römische Soldat im archäologischen Experiment. 9. Auflage. Zabern, Mainz 2003. ISBN 3-8053-0886-8. S. 165 ff. Andreas Schlunk, Robert Giersch: Die Ritter. Geschichte – Kultur – Alltagsleben. Theiss, Stuttgart 2003. ISBN 3-8062-1791-2 George Cameron Stone: A Glossary of the Construction, Decoration and Use of Arms and Armor. Dover Publ., Mineola NY 1999. ISBN 0-486-40726-8 Gerhard Quaas (Hrsg.): Eisenkleider. Plattnerarbeiten aus drei Jahrhunderten aus der Sammlung des Deutschen Historischen Museums. Ausstellung des Deutschen Historischen Museums im Zeughaus Berlin, 12. März – 6. Juli 1992. Bausteine. Bd. 7. Berlin 1992. Weblinks „Eisenkleider. Plattnerarbeiten aus drei Jahrhunderten.“ Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin (ausführliche Literaturangaben) Einzelnachweise Rüstung Kostümkunde des Spätmittelalters
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bavaria
Bavaria
Die Bavaria (der latinisierte Ausdruck für Bayern) ist die weibliche Symbolgestalt und weltliche Patronin Bayerns und tritt als personifizierte Allegorie für das Staatsgebilde Bayern in verschiedenen Formen und Ausprägungen auf. Sie stellt damit das säkulare Gegenstück zu Maria als religiöser Patrona Bavariae dar. In der bildenden Kunst kann die kolossale Bronzestatue in München als bekannteste und zugleich monumentalste Darstellung der Bavaria gelten. Sie wurde im Auftrag von König Ludwig I. (1786–1868) in den Jahren 1843 bis 1850 errichtet und steht in baulicher Einheit mit der Ruhmeshalle am Rande der Hangkante oberhalb der Theresienwiese. Nach den barocken Kolossalstatuen des 17. Jahrhunderts ist sie das erste Beispiel ihrer Art aus dem 19. Jahrhundert und seit der Antike die erste Kolossalstatue, die gänzlich aus gegossener Bronze besteht. Sie war und ist eine technische Meisterleistung. Allegorien Bayerns Die Tellus Bavarica ist eine seit vielen Jahrhunderten gebräuchliche Allegorie der „bayerischen Erde“, die in vielerlei Gestalt unter anderem in Wappen, auf Gemälden, als Reliefdarstellung, zum Beispiel über Hauseingängen, sowie als Statue begegnet. In der öffentlichen Wahrnehmung wird die Bavaria heute weitgehend mit der monumentalen Statue an der Theresienwiese identifiziert, doch lassen sich weitere Beispiele im öffentlichen Raum finden. Ein gut zugängliches ist im Münchner Hofgarten zu sehen: Die Kuppel des zentralen „Dianatempels“ wurde ursprünglich von einer bronzenen Statue der Diana von Hubert Gerhard gekrönt, welche mutmaßlich Hans Krumpper 1623 zur Allegorie Bayerns umgestaltete, indem er ihren Helm zum Kurfürstenhut ergänzte und einen Reichsapfel statt eines Ährenkranzes in die Hand gab. Auf dem Tempel befindet sich heute eine Kopie, das Original ist im Theatinergang der Münchner Residenz ausgestellt. 1773 schuf Bartolomeo Altomonte Teile der barocken Ausgestaltung des Klosters Fürstenzell bei Passau und platzierte die Bavaria im Zentrum des Deckenfreskos im Fürstensaal. Sie ist als Königin im Moment der Krönung durch einen Engel dargestellt und von Allegorien der Kirche, des Handels, der Agrikultur und der Künste umgeben. Eine ganz andere Version einer bayerischen Landesallegorie schuf 1805 die Künstlerin Marianne Kürzinger in ihrem Ölgemälde „Gallia schützt Bavaria“. Das Bild zeigt eine mädchenhafte, zierliche Allegorie des Landes in weiß-blauem Gewand, die sich vor dem drohenden Sturm in die Arme der herangleitenden Gallia flüchtet, derweil der Bayerische Löwe sich dem Unheil entgegenwirft. In der Darstellung spiegelt sich die Allianz zwischen Bayern und Frankreich in jener Zeit. Der Habsburger Kaiser Franz hatte gedroht: „Ich werde Bayern nicht nehmen, ich werde es verschlingen.“ Rund ein Vierteljahrhundert später schuf Peter von Cornelius zusammen mit weiteren an der Ausgestaltung der Münchner Hofgartenarkaden beteiligten Künstlern eine wesentlich selbstbewusstere Allegorie Bayerns als Fresko: Diese friedliche aber wehrhafte Bavaria trägt einen Brustharnisch und eine Mauerkrone, mit der rechten Hand hält sie einen umgekehrten Speer als Friedenszeichen, in der Linken einen Schild mit dem Motto König Ludwigs I. „Gerecht und beharrlich“. Mit dem Bayerischen Löwen zu ihrer Seite sitzt sie vor einer Landschaft mit Bergen und Flusstälern. Dem unbekannten Maler einer Tölzer Schützenscheibe von 1851 dürften die zu jener Zeit bereits recht weit fortgeschrittenen Arbeiten Schwanthalers an der Kolossalplastik für die Ruhmeshalle mit ziemlicher Sicherheit aus der Presse oder sogar aus eigener Anschauung bekannt gewesen sein: Zwar frei interpretiert, zeigt seine Darstellung der Bavaria diese doch mit den gleichen Attributen wie die zwei Jahre danach enthüllte Bavaria an der Theresienwiese. Die Kleidung ist abweichend, doch die Postierung auf dem Sockel, das Schwert in der Rechten und der Siegeskranz in der Linken lassen das Vorbild deutlich erkennen. Allerdings setzte der Künstler die Allegorie hier vor eine Alpenlandschaft mit einer Stadtansicht von Bad Tölz im Hintergrund und fügte im Vordergrund ein Stadtwappen hinzu. Von 2011 bis 2018 hielt die Bavaria, dargestellt von der Schauspielerin Luise Kinseher, die Fastenpredigt beim Starkbieranstich auf dem Nockherberg. Ruhmeshalle und Bavaria Die Bavaria an der Theresienwiese wird von der Ruhmeshalle und dem Bavariapark umrahmt. Sie bildet eine gedankliche und gestalterische Einheit, wenn auch mit Brüchen, mit der sie umrahmenden dreiflügeligen dorischen Säulenhalle, welche sie auf ihrem Sockel überragt. Daher wird im Folgenden der Beschreibung der Bavaria eine kurze Darstellung der Geschichte der Halle vorangestellt. Eine ausführlichere Darstellung der Entwicklung findet sich im Artikel über die Ruhmeshalle München. Entstehungsgeschichte der Ruhmeshalle Historischer Hintergrund Die Jugendzeit Ludwigs I. war geprägt von den Machtansprüchen Napoleons auf der einen und Österreichs auf der anderen Seite, das elterliche Haus Wittelsbach war zu dieser Zeit Spielball zwischen jenen beiden Großmächten. Bis 1805, als Napoleon im dritten Koalitionskrieg München „befreite“ und Ludwigs Vater Maximilian zum König machte, war Bayern wiederholt Kriegsschauplatz mit verheerenden Folgen für das Land. Erst mit Napoleons Niederlage in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 trat Bayern wirklich in eine Friedensphase ein. Vor diesem Hintergrund machte sich Kronprinz Ludwig Gedanken über ein „Baiern aller Stämme“ und eine „größere deutsche Nation“. Diese Beweggründe und Ziele motivierten ihn in der Folgezeit zu mehreren Bauprojekten für Nationaldenkmäler wie die Konstitutionssäule in Gaibach (1828), die Walhalla östlich von Regensburg oberhalb der Donau und des Ortes Donaustauf (1842), die Ruhmeshalle in München (1853) und die Befreiungshalle bei Kelheim (1863), welche der König allesamt privat finanzierte und die in Form und Inhalt, Zweckbestimmung und Rezeption eine künstlerische wie politische Einheit bilden, die bei allen inneren Widersprüchen für Deutschland einzigartig ist. Ludwig, der seinem Vater nach dessen Tod 1825 auf den Königsthron folgte, fühlte sich eng mit Griechenland verbunden, war ein glühender Verehrer der griechischen Antike und wollte seine Hauptstadt München in ein „Isar-Athen“ verwandeln. Ludwigs zweitgeborener Sohn Otto wurde 1832 zum König von Griechenland proklamiert. Baugeschichte Schon als Kronprinz entwickelte Ludwig den Plan, in der Residenzstadt München ein patriotisches Denkmal zu errichten, in der Folgezeit ließ er Listen und Verzeichnisse „großer“ Bayern aller Stände und Berufe anfertigen. 1833 schrieb er einen Wettbewerb für sein Bauvorhaben aus. Der Wettbewerb sollte zunächst erste Ideen für die Gestaltung der Ruhmeshalle sammeln, daher wurden in der Ausschreibung nur die Eckdaten des Projekts vorgegeben: Die Halle sollte oberhalb der Theresienwiese errichtet werden und Platz für etwa 200 Büsten bieten. Die einzige Vorgabe lautete: Diese Bestimmung schloss den klassizistischen Baustil des Parallelprojekts Walhalla nicht aus, es liegt jedoch nahe anzunehmen, dass die Architekten dazu ermutigt werden sollten, einen anderen Baustil vorzuschlagen. Da die Entwürfe der vier Teilnehmer weitgehend erhalten sind, bietet sich ein interessanter Einblick in die Baugeschichte der Ruhmeshalle, entstanden in einer Phase des künstlerisch-weltanschaulichen Streits zwischen Klassizisten einerseits, die sich der Ästhetik der griechischen und römischen Antike verbunden fühlten, und Romantikern andererseits, die ihren künstlerischen Ausdruck an die Formensprache des Mittelalters anlehnten. Beim Wettbewerb zur Ruhmeshalle fand diese nicht nur künstlerisch-architektonische, sondern auch weltanschaulich-politische Auseinandersetzung eine Fortsetzung, die sich in den eingereichten Entwürfen spiegelt. Schlussendlich entschied sich Ludwig I. im März 1834, in erster Linie aus Kostengründen, gegen die Projekte Friedrich von Gärtners, Joseph Daniel Ohlmüllers und Friedrich Zieblands und beauftragte Leo von Klenze mit dem Bau der Ruhmeshalle. An Klenzes Entwurf beeindruckte ihn zweifellos die Kolossalstatue besonders, war doch eine solche Großplastik seit der Antike nicht mehr verwirklicht worden. Geschmeichelt von der Idee, ebenso imposante Statuen zu errichten wie die bewunderten antiken Herrscher, schrieb Ludwig I. nach seiner Entscheidung für Klenzes Entwurf: Die Bavaria Ikonografie Die Statue war ursprünglich in antikisierender Ikonographie skizziert, der Charakter wurde jedoch im Laufe der Planungszeit geändert. Das schließlich verwirklichte Standbild ist durch die Romantik geprägt und greift die Symbolik des germanischen Raums auf. Entwürfe Leo von Klenzes Von Klenze zeichnete bereits 1824 erste Entwürfe einer Bavaria als „griechischer Amazone“. Inspiration für ein solches Standbild war die kolossale Bronzestatue der Athena Promachos, mehrere Gemälde von 1846 zeigen Klenzes Vorstellung der Akropolis von Athen. Nachdem der Wettbewerb für die Gestaltung der Ruhmeshalle zu Gunsten v. Klenzes entschieden war, zeichnete dieser neben Detailskizzen für die Halle weitere Entwürfe für die Bavaria. Die Skizzen zeigen eine antiken Amazonendarstellungen nachempfundene Bavaria mit zweifach gegürtetem Kleid (Chiton) und hochgeschnürten Sandalen. Mit ihrer rechten Hand krönt sie eine mehrköpfige Herme, deren vier Gesichter die Herrscher- und Kriegstugenden, die Künste und die Wissenschaft symbolisieren sollen. In der linken Hand hält die Bavaria mit ausgestrecktem Arm einen Kranz auf Hüfthöhe, den sie symbolisch den geehrten Persönlichkeiten spendet. Zur Linken der Bavaria kauert ein Löwe. Mit diesem Vorschlag schuf v. Klenze durch die Mischung verschiedener Motive einen neuen Typ der Länderallegorie. Personifikationen Bayerns gab es, wie oben beschrieben, schon lange zuvor. Doch während beispielsweise die Attribute der Tellus Bavarica auf dem Hofgartentempel für materielle Reichtümer des Landes stehen, stattete v. Klenze seine Bavaria mit Attributen der Bildung und der Staatsführung aus. Damit zeichnete er zugleich ein neues Ideal des Staates. In v. Klenzes Entwurf rückt ein tugendhaftes und aufgeklärtes Staatsideal in den Mittelpunkt und verdrängt die agrarischen Symbole. In einem weiteren Entwurf aus dem Jahr 1834 plante v. Klenze die Bavaria als exakte Kopie der Athena Promachos, die einst vor der Akropolis stand. Nach diesem Vorschlag wäre die Bavaria mit Helm und Schild und erhobener Lanze ausgestattet worden. Am 28. Mai 1837 wurde der Vertrag über die Herstellung der Bavaria zwischen Ludwig I., v. Klenze, dem Bildhauer Ludwig Schwanthaler und den Erzgießern Johann Baptist Stiglmaier und dessen Neffen Ferdinand von Miller unterzeichnet. Die Entwürfe für Hermannsdenkmäler im Teutoburger Wald aus den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts, die allerdings erst nach der Bavaria realisiert wurden, waren Ludwig I. und den beteiligten Künstlern sicher bekannt. Entwürfe Schwanthalers Im Gegensatz zu Klenze, der sich intensiv mit der Antike beschäftigte, war Schwanthaler Anhänger der romantischen Bewegung und gehörte mehreren Münchner Mittelalter-Zirkeln an, die sich für alles „Vaterländische“ begeisterten, Fremdes und vor allem die Antike dagegen ablehnten. Daher stand Schwanthaler in Opposition zu den klassizistischen Vorgaben Klenzes. Offenbar war es Teil von Ludwigs Strategie, die konträren Kunstauffassungen in die Gestaltung ein und desselben patriotischen Denkmalprojekts einzubinden, um die zerstrittenen Lager unter dem Dach der Nation zu einen. Sein Versuch einer Synthese der klassizistischen und der romantisch-gotischen Stilrichtung wird in der Literatur oft als „romantischer Klassizismus“ oder „ludovizianischer Stil“ bezeichnet. Schwanthaler hielt sich in seinen ersten Bavaria-Entwürfen zunächst an die Vorgaben Klenzes. Bald jedoch begann der Bildhauer, eigene Variationen der Bavaria zu entwerfen. Entscheidend war dabei sein Entschluss, die Bavaria nicht mehr nach antikem Vorbild zu gestalten, sondern sie „germanisch“ zu kleiden: Das bis zu den Füßen reichende, hemdartige Kleid wurde nun sehr einfach drapiert und zusammen mit einem darübergeworfenen Bärenfell gegürtet, was der Figur nach Schwanthalers Ansicht einen typisch „teutschen“ Charakter verlieh. In einem Gipsmodell aus dem Jahr 1840 ging Schwanthaler noch einen Schritt weiter. Das Haupthaar der Bavaria zierte er nun mit einem Eichenkranz. Aus dem Kranz in der erhobenen Linken, der bei Klenze aus Lorbeer gewunden war, wurde ebenfalls ein Eichenkranz. Die Eiche galt als speziell deutscher Baum. Die Umgestaltung der Bavaria fand zeitlich parallel zur so genannten Rheinkrise von 1840/41 und somit in einer Zeit patriotischer Aufwallungen gegen den „Erzfeind“ Frankreich statt. Diese Krise scheint für Schwanthaler, der ohnehin schon ein begeisterter Patriot war, Anlass gewesen zu sein, seine Bavaria betont wehrhaft mit gezogenem Schwert darzustellen. Noch bis 1843 veränderte Schwanthaler das immer wieder angepasste Gipsmodell. Dabei erhielt die zunächst steife Darstellung „innere Bewegung“ und es „gelang, der kompakten Kolossalstatue mit ihrer vorsichtig angedeuteten Kontrapoststellung Leichtigkeit und gelockerte Haltung zu geben. Der nun geneigte Kopf mit milderen, mädchenhaften Zügen strahlt eine stille Verträumtheit aus, die vorher fehlte. Das Schwert wird nicht mehr unnatürlich steil nach oben, sondern mit angewinkeltem rechtem Arm schräg gehalten. Der Löwe steht unruhiger und hält das Maul geschlossen.“ Die Attribute der Bavaria sind wie dargelegt im Fall des Bärenfells, des Eichenkranzes und des Schwertes relativ leicht aus dem kunsthistorischen und politischen Kontext der Entstehungsgeschichte zu erklären. Schwerer fällt dies jedoch bei der Deutung des Löwen. Das Tier einfach als Symbol für Bayern zu interpretieren liegt zwar nahe, trifft jedoch nicht ganz die Intentionen Klenzes und Schwanthalers. Im Bereich der Heraldik hatte der Löwe für die Herrscher Bayerns seit jeher einen festen Platz. Als Pfalzgrafen bei Rhein führten ihn die Wittelsbacher seit dem Hochmittelalter im Wappen. Außerdem dienten schon sehr früh zwei aufrechte Löwen als Schildhalter des bayerischen Wappens. Der Kunsthistoriker Manfred F. Fischer ist jedoch der Meinung, dass der Löwe neben der Bavaria nicht nur als Wappentier Bayerns gedacht war, sondern ebenso wie das gezogene Schwert als ein Symbol für die Wehrhaftigkeit angesehen werden muss. Das wichtigste Attribut der Bavaria bleibt jedoch der Eichenkranz in ihrer linken Hand. Der Kranz bedeutet eine Ehrengabe für diejenigen, deren Büsten im Inneren der Ruhmeshalle aufgestellt werden sollten. Ausführung Das 18,52 Meter hohe und 1560 (bayr.) Zentner (ca. 87,36 Tonnen) schwere Standbild der Bavaria wurde im Bronzehohlguss hergestellt und besteht aus vier Teilgüssen (Kopf, Brust, Hüfte, untere Hälfte und Löwe) und diversen montierten Kleinteilen. Die Höhe des Steinsockels beträgt 8,92 Meter. Die Statue sollte nach den Vorschlägen v. Klenzes in Bronze gegossen werden. Seit der Antike galt Bronze als ehrwürdiges und dauerhaftes Material. Ludwig, der die Zeugnisse seines Wirkens der Nachwelt erhalten wollte, lag sehr viel an der Kunst des Bronzegusses. Daher förderte der König die Münchner Bronzegießer Johann Baptist Stiglmaier und dessen Neffen Ferdinand von Miller und belebte die lange Tradition des Bronzegusses in München, indem er eine neue Gießstätte errichten ließ. Im Jahr 1825 wurde die von Ludwig in Auftrag gegebene und von v. Klenze erbaute Königliche Erzgießerei an der Nymphenburger Straße in Betrieb genommen. Aus der Produktion dieses Gießhauses stammt neben vielen weiteren Bronze-Großplastiken jener Zeit unter anderem der Obelisk am Münchner Karolinenplatz. Seit Ende des Jahres 1839 erarbeitete Schwanthaler auf dem Gelände der Erzgießerei gemeinsam mit etlichen Hilfsarbeitern nach und nach ein Gipsmodell der Bavaria in Originalgröße. Beim Brennvorgang fingen mehrere Werkstatthallen Feuer. 1840 wurde zunächst ein erstes, vier Meter hohes Hilfsmodell angefertigt. Im Spätsommer 1843 konnte dann das fertiggestellte originalgroße Modell in einzelne Teile zerlegt werden, die Stiglmaier und Miller dann als Vorlage für die jeweiligen Gussformen dienten. Ehe man jedoch mit dem Gießen beginnen konnte, starb Stiglmaier im April 1844, und die Leitung des Projekts ging auf v. Miller über. Am 11. September 1844 wurde der Kopf der Bavaria aus der Bronze türkischer Kanonen gegossen, die 1827 im griechischen Befreiungskrieg in der Schlacht von Navarino (heute Pylos auf der Peloponnes) mit der ägyptisch-türkischen Flotte untergegangen waren und unter dem griechischen König Otto, Sohn Ludwigs I., gehoben und als Recyclingmaterial in Europa verkauft worden waren, wobei etliche davon nach Bayern gelangten. Im Januar und März 1845 folgte der Guss der Arme, am 11. Oktober 1845 der des Bruststückes. Im darauf folgenden Jahr wurde das Hüftstück gegossen, und im Juli 1848 war das gesamte Oberteil der Statue fertiggestellt. Der letzte größere Guss, für das Unterteil, fand am 1. Dezember 1849 statt. An den Ort der Herstellung der Monumentalstatue erinnern heute noch die Münchner Erzgießereistraße sowie die parallele Sandstraße, an der die für den Guss notwendige Sandgrube lag. Finanzierung Wie alle Nationaldenkmäler Ludwigs waren die Bavaria und die Ruhmeshalle private Projekte des Königs, die er persönlich finanzierte. Am 20. März 1848 dankte Ludwig I. unter Druck zugunsten seines Sohnes Maximilian ab, was nicht ohne Folgen für die Weiterführung des Denkmalprojekts blieb. Maximilian verpflichtete sich zwar zur Fortführung des Unternehmens, sein Budget dafür sah aber lediglich 9000 Gulden pro Jahr vor, was völlig unzureichend war. v. Miller, der die Gusskosten aus eigener Tasche vorstrecken musste, geriet in ernste Geldnot. Erst als der abgedankte König die Finanzierung aus seiner Privatschatulle wieder übernahm, konnte die Fertigstellung der Bavaria gesichert werden. v. Miller blieb auf einem Teil der Kosten sitzen, der Werbeeffekt für die Erzgießerei war in der Folge jedoch so groß, dass die Kosten durch eine Vielzahl von Aufträgen reichlich aufgewogen wurden und die später privatisierte Erzgießerei sich bis in die 1930er Jahre behaupten konnte. Insgesamt kostete die Ruhmeshalle den König 614.987 Gulden, die Bavaria 286.346 Gulden und das Grundstück 13.784 Gulden. Aufstellung und Einweihung 1850 Zum Oktoberfest des Jahres 1850, welches das 25. Regierungsjahr Ludwigs gewesen wäre, sollte die Bavaria in einem festlichen Akt enthüllt werden. Vor der Feier für den abgedankten König musste man zunächst Bedenken der Regierung ausräumen, die befürchtete, eine solche Veranstaltung könne als Demonstration gegen den regierenden König Maximilian II. aufgefasst werden. Von Juni bis August wurden die Einzelteile der Bavaria auf eigens hierfür konstruierten Wagen, die von je zwölf Pferden gezogen wurden, zum Aufstellungsort transportiert. Am 7. August 1850 wurde als letztes der Kopf mit einem Festzug durch die Stadt zur Theresienhöhe geleitet. Die feierliche Enthüllung fand schließlich am 9. Oktober nach einem Festzug aller Gewerbe und Zünfte zur Theresienwiese statt und geriet erwartungsgemäß zu einer Huldigungsfeier für den abgedankten König. Die Künstler, die der König in den Jahren seiner Regierung sehr gefördert und durch seine rege Bautätigkeit mit Aufträgen versorgt hatte, würdigten Ludwig in besonderem Maß. Der für die Münchner Künstlerschaft sprechende Festredner Tischlein rief in seiner Festrede nach der Enthüllung der Bavaria: Die Ruhmeshalle war bei der Enthüllung der Bavaria noch nicht fertiggestellt, Gerüste und Holzdächer verdeckten noch weite Teile des Baus. Erst 1853 konnte der Bau im Rahmen einer weitaus schlichteren Feier eingeweiht werden. Im Inneren der Statue führt eine Wendeltreppe in den Kopf zu einer Plattform mit zwei bronzenen Sitzbänken und vier Sichtluken. Im Jahr 2014 bestiegen rund 33.000 Besucher die Statue. Die Aufstellung der Statue an der Hangkante oberhalb der damals noch wesentlich größeren Theresienwiese weist über die antiken Bezüge hinaus, wo Statuen und Säulen sich auf Architektur bezogen, sondern greift germanisch, romantische Motive auf: und „Schwanthaler gelang mit der ›Bavaria‹ das erste monumentale romantische Werk, das in sich geschlossen und doch auf den freien Landschaftsraum bezogen ist.“ Bei der ab den 1870er Jahren geplanten Bebauung der östlichen Theresienwiese legte Georg von Hauberrisser 1878 einen Entwurf vor, der eine ovale Begrenzung der verbleibenden Freifläche vorsieht, bei der alle einmündenden Straßen radial auf die Bavaria zulaufen. Dieses Konzept wurde im Baulinienplan von 1882 aufgegriffen und verwirklicht. Nachguss der rechten Hand 1907 veranlasste Oskar von Miller, der Sohn Ferdinand von Millers und Begründer des Deutschen Museums in München, einen originalgetreuen Nachguss der rechten Hand der Bavaria. Er wurde in der Königlichen Erzgießerei Ferdinand von Miller angefertigt, aus dem gleichen Material wie das Original (92 % Kupfer, 5 % Zink, 2 % Zinn, 1 % Blei). Der Guss hat eine Wandstärke von 4 bis 8 Millimetern und wiegt 420 Kilogramm. Die Hand ist seither in der Metallurgie-Sammlung des Deutschen Museums zu besichtigen. Sanierung Die vom Verein Bavaria 2000 initiierten Untersuchungen der Bavaria durch Experten brachten so schwerwiegende Schäden ans Licht, dass die Statue im Jahr 2001 für Besucher geschlossen werden musste. Insgesamt wurden über zweitausend Einzelschäden festgestellt. Zur Teilfinanzierung der Renovierungsarbeiten legte der Verein Repliken des einzigen Schwanthaler-Modells, der Spitze des kleinen Fingers der Statue in verschiedenen Maßstäben, unter anderem als Trinkgefäß, und anderer kunsthandwerklicher Raritäten auf, die zusammen mit einer Publikation verkauft wurden. Als weitere Finanzquelle wurden später die Außenflächen des Gerüsts als Werbeflächen vermarktet. Im Zuge der umgehend in die Wege geleiteten, rund eine Million Euro teuren Sanierungsarbeiten wurde nicht nur der erhobene Arm aufwendig stabilisiert und die gesamte Außenfläche gereinigt, abgeschliffen und versiegelt, sondern auch eine komplett neue Wendeltreppe eingebaut. Die Arbeiten an der Statue dauerten bis zum Beginn des Oktoberfests im September 2002. Weiterhin renovierungsbedürftig ist der Sockel des Standbildes. Der Verein Bavaria 2000, der sich unter seinen Präsidenten Adi Thurner und später Erwin Schneider († 2005) für das Andenken an König Ludwig I. und die Erhaltung seiner Bauten und Denkmäler eingesetzt hatte, wurde im Jahre 2006 aufgelöst. Künstlerische Rezeption Die Bavaria von Schwanthaler wurde zum Vorbild für spätere Denkmäler. Sie beeinflusste etwa den Schweizer Bildhauer Ferdinand Schlöth bei dessen St. Jakobs-Denkmal in Basel, aufgestellt 1872. Umgang mit dem Ensemble in der Zeit des Nationalsozialismus Die Nationalsozialisten zeigten ein ambivalentes und zynisches Verhältnis zur Ruhmeshalle und der Bavaria. Einerseits entwickelten sie verschiedene Pläne zur Umgestaltung des Festplatzes auf der Theresienwiese einschließlich der Bavaria und der Ruhmeshalle, die jeden Respekt vor dem Ort und der Intention des Erbauers vermissen lassen. So wurde 1934 ein Abriss der Ruhmeshalle hinter der Bavaria in Erwägung gezogen, stattdessen sollte dort ein Veranstaltungsgelände gebaut werden, die Theresienwiese sollte von Aufmarschstraßen durchzogen werden. 1935 wurde ein weiterer Plan vorgelegt, der vorsah, neben der Ruhmeshalle auch die Bavaria zu beseitigen, um an ihrer Stelle eine riesige Kongresshalle mit Heldengedenkstätte zu errichten. Nach Plänen von 1938 sollten die Bavaria und die Ruhmeshalle bestehen bleiben, jedoch von Monumentalbauten im neoklassizistischen Stil umrahmt werden. Die Theresienwiese wollte man quadrieren. Andererseits wurde die Freifläche der Theresienwiese und die bestehende repräsentative und symbolkräftige Architektur gerne für propagandistische Inszenierungen genutzt, beispielsweise für Massenveranstaltungen bei den bis zum Kriegsausbruch großspurig gefeierten Maikundgebungen, wie der folgende Auszug aus einem Bericht der gleichgeschalteten Presse über die Feierlichkeiten am 1. Mai 1934 zeigt: Film König Ludwig I. und seine Bavaria, Ein Film von Bernhard Graf, Bayerischer Rundfunk, 2018. Literatur Frank Otten: Die Bavaria. In: Hans-Ernst Mittig, Volker Plagemann: Denkmäler im 19. Jahrhundert (= Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts. Bd. 20). Prestel, München 1972, ISBN 3-7913-0349-X, S. 107–112. Paul Ernst Rattelmüller: Die Bavaria. Geschichte eines Symbols. Hugendubel, München 1977, ISBN 3-88034-018-8. Helmut Scharf: Nationaldenkmal und nationale Frage in Deutschland am Beispiel der Denkmäler Ludwig I. von Bayern und deren Rezeption. Schnelldruckzentrum, Gießen 1985, (Teildruck der Dissertation Universität Frankfurt am Main, 1978). Christian Gruber, Christoph Hölz: Erz-Zeit. Ferdinand von Miller – Zum 150. Geburtstag der Bavaria. HypoVereinsbank, München 1999, ISBN 3-930184-21-4. Manfred F. Fischer: Ruhmeshalle und Bavaria. Amtlicher Führer. Überarbeitet von Sabine Heym. 2., erweiterte Auflage. Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen, München 1997, ISBN 3-9805654-3-2. Ulrike Kretschmar: Der kleine Finger der Bavaria. Entstehungsgeschichte der Bavaria von Ludwig von Schwanthaler anläßlich der Auflage „Der kleine Finger der Bavaria“ (Bronze-Reproduktion). Huber, Offenbach am Main 1990, ISBN 3-921785-53-7. Josef Anselm Pangkofer: Bavaria, Riesenstandbild aus Erz vor der Ruhmeshalle auf der Theresienwiese bei München. Franz, München 1850 (Digitalisat). Weblinks Bayerische Schlösserverwaltung zur Bavaria Einzelnachweise Denkmal in München Nationale Personifikation Bronzeskulptur in München Baudenkmal in der Schwanthalerhöhe Theresienwiese Namensgeber (Asteroid) Skulptur (19. Jahrhundert) Erbaut in den 1850er Jahren
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schliefer
Schliefer
Die Schliefer (Procaviidae) sind eine Familie innerhalb der Ordnung der Hyracoidea, die im Deutschen ebenfalls Schliefer genannt wird. Es handelt sich um gut kaninchengroße und im äußeren Erscheinungsbild an Murmeltiere erinnernde Angehörige der Säugetiere. Ihr Körper und ihre Gliedmaßen sind kräftig, die Schnauze ist kurz und der Schwanz im Fell verborgen. Eine charakteristische Bildung findet sich am Rücken, wo ein auffälliger farbiger Fleck eine Drüse markiert. Auffallend sind auch die zahlreichen Tasthaare, die nicht nur im Gesicht, sondern verteilt am gesamten Körper auftreten. Die Tiere kommen endemisch in Afrika vor, als einzige Ausnahme lebt der Klippschliefer auch in Vorderasien. Dabei bewohnen der Klipp- und der Buschschliefer felsige, offene und teils trockene Gegenden, die Baumschliefer sind dagegen an Wälder angepasst. Der Lebensraum der Schliefer umfasst sowohl Flachländer als auch hohe Gebirgslagen. Die Tiere können gut klettern und sind aufgrund einiger Anpassungen am Fuß auch in steilem, unebenem oder rutschigem Terrain schnell unterwegs. Die bodenbewohnenden Klipp- und Buschschliefer leben tagaktiv und formen große Familiengruppen. Demgegenüber treten die baumlebenden Baumschliefer nachts auf und sind weitgehend Einzelgänger. Alle Arten verhalten sich territorial, bedeutend sind die lauten Rufe der Männchen. Die Hauptnahrung der Schliefer besteht aus Pflanzen, die einzelnen Arten unterscheiden sich in der Bevorzugung von härteren oder weicheren Bestandteilen. Wasser wird nur selten getrunken. Die Fortpflanzung erfolgt zumeist einmal jährlich. Weibchen haben eine ausgesprochen lange Tragzeit. Ein Wurf umfasst ein bis vier Jungtiere. Die Ordnung der Schliefer ist relativ alt, die frühesten Vertreter sind bereits im Eozän vor fast 50 Millionen Jahren sowohl im nördlichen als auch im südlichen Afrika nachgewiesen. Im Gegensatz zu den heutigen Schliefern waren die ursprünglichen Formen sehr variantenreich. Neben kleinen Tieren kamen auch riesenhafte mit einem Gewicht von über einer Tonne vor. Die ursprünglichen Schliefer bewegten sich auf die unterschiedlichsten Weisen laufend, springend oder kletternd fort. Dadurch besetzten sie eine Vielzahl von Lebensräumen. Spätestens im Miozän erreichten die Schliefer auch Eurasien und verbreiteten sich weit über beide Erdteile. Allerdings ging die hohe Variabilität in der Folgezeit durch Konkurrenz mit anderen Tiergruppen, hauptsächlich den Huftieren, verloren. Lediglich die kleinen Vertreter der modernen Schliefer überlebten bis heute. Aufgrund ihrer teils reichhaltigen Fossilfunde und der zahlreichen nachgewiesenen Formen haben die ausgestorbenen Schliefer eine große Bedeutung für die Biostratigraphie Afrikas. Die nächsten Verwandten der Schliefer stellen die Rüsseltiere und Seekühe dar. Alle drei Ordnungen werden als Paenungulata zusammengefasst, die wiederum einen Teil der sehr heterogenen Gruppe der Afrotheria bilden. Die genauen Beziehungen der Schliefer zu anderen Säugetieren waren aber lange Zeit unklar. Im 18. Jahrhundert, als die ersten naturwissenschaftlichen Berichte über die Schliefer entstanden, hielt man sie für Nagetiere. Später wurden sie häufig mit verschiedenen Huftiergruppen in Verbindung gebracht. Dies resultierte in einer intensiven Debatte, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts geführt und in der über die Verwandtschaftsverhältnisse diskutiert wurde. Einerseits sahen Wissenschaftler eine Verbindung der Schliefer zu den Unpaarhufern, anderseits zu den Elefanten. Der Streit konnte erst im Übergang zum 21. Jahrhunderts mit dem Aufkommen biochemischer und molekulargenetischer Untersuchungsmethoden aufgelöst werden. Die wissenschaftliche Benennung der Familie erfolgte im Jahr 1892, der Ordnungsname war bereits 1869 geprägt worden. Der Bestand der einzelnen Arten wird mit einer Ausnahme als nicht gefährdet eingestuft. Merkmale Habitus Heutige Schliefer sind relativ kleine Säugetiere von der Größe eines Kaninchens. Ihre Kopf-Rumpf-Länge liegt zwischen 32 und 60 cm. Der Schwanz ist winzig und meistens kaum sichtbar, im Höchstfalle 3 cm lang. Schliefer erreichen ein Gewicht von 1,3 bis 5,4 kg. Unterschiede zwischen Männchen und Weibchen sind nicht ausgeprägt. Quer durch das Verbreitungsgebiet lassen sich aber teils beträchtliche Größenvariationen innerhalb einer Art feststellen, die teils umweltbedingt sind. Äußerlich ähneln die heutigen Schliefer den Meerschweinchen. Sie sind sehr robuste, stämmige Tiere, die sich alle durch einen muskulösen, kurzen Hals und einen langen, nach oben gewölbten Leib auszeichnen. Ihre Fellfärbung variiert nach Gattung und Art und reicht von grau über hell- und dunkelbraun bis schwarz, häufig erscheint der Bauch heller. Auf dem Rücken ist eine Drüse von einem andersfarbigen Fellfleck bedeckt. Tiere trockener Landschaften haben ein kurzes Fell, Bewohner der Wälder und alpiner Hochlagen dagegen ein langes und dichtes. Es ist von zahlreichen Vibrissen durchsetzt, deren Länge bis zu 30 mm beträgt. Weitere, mit bis zu 90 mm besonders lange Tasthaare treten im Gesicht auf. Der Kopf der Schliefer ist abgeflacht, die Schnauze allgemein kurz, ebenso die Ohren. Die Oberlippe zeigt sich gespalten. Die Augen wölben sich nach vorn, sie verfügen über ein zusätzliches Lid, das sich bei grellem Sonnenlicht von der Iris über die Pupille schiebt und umbraculum genannt wird. Es ermöglicht den Schliefern in die Sonne zu schauen. Teilweise treten im Gesicht helle Flecken auf, etwa an den Augenbrauen. Die Gliedmaßen sind kurz, vorn enden sie in vier Zehen, die kleine Hufe tragen. An den Hinterbeinen kommen drei Zehen vor, der jeweils innerste besitzt eine gebogene Klaue, an den anderen sind dagegen auch Hufe ausgebildet. Die Zehen und Finger sind bis zur Basis des letzten Glieds miteinander vereint. Die nackten, häufig dunklen Sohlen werden von zahlreichen Drüsen durchsetzt. Schädel- und Gebissmerkmale Der Schädel der Schliefer zeigt sich relativ generalisiert mit einer breiten und flachen Stirnlinie, einem senkrecht aufgestellten Hinterhauptsbein und ausladenden Jochbögen. In Seitenansicht erreicht er eine relativ große Höhe, wobei mehr als die Hälfte davon durch den massigen Unterkiefer eingenommen wird. Das Rostrum ist kurz und endet stumpf. Auf den Scheitelbeinen treten deutliche Temporallinien auf, die sich beim Klippschliefer (Procavia) zu einem Scheitelkamm vereinen können, der aber nicht besonders massiv ausfällt. Einen markanten Knochen stellt das Os interparietale dar, ein Element des Schädeldaches zwischen den beiden Scheitelbeinen und dem Hinterhauptsbein. Je nach Art kann ein Postorbitalbogen ausgebildet sein, das den hinteren Rand der Orbita schließt. Dies ist etwa bei den Baumschliefern (Dendrohyrax) der Fall, nicht jedoch beim Klippschliefer und beim Buschschliefer (Heterohyrax). Als einzigartiges Merkmal der Schliefer beteiligt sich das Scheitelbein am Schluss des hinteren Augenrandes. Das Tränenbein formt einen Teil der Augenhöhle. An der Schädelbasis wird die Glenoidgrube für das Gelenk des Unterkiefers sowohl vom Jochbein als auch vom Schläfenbein gebildet. Der Unterkiefer fällt vor allem durch seinen massigen und breiten sowie hohen aufsteigenden Ast auf. Der Kronenfortsatz erhebt sich nur wenig über den Gelenkfortsatz. Am hinteren Ende ist der Winkelfortsatz deutlich gerundet ausgeformt. Das Gebiss der heutigen Schliefer besitzt eine etwas reduzierte Zahnanzahl, was hauptsächlich die vorderen Zähne betrifft. Es besteht aus insgesamt 34 Zähnen mit folgender Zahnformel: . Bei einigen Populationen des Klippschliefers sind aber die jeweils unteren ersten Prämolaren zurückgebildet, so dass bei diesen nur 32 Zähne ausgebildet sind. Der obere Schneidezahn wächst permanent und ist deutlich vergrößert. In der Form des Zahns lässt sich ein deutlicher Geschlechtsdimorphismus ausmachen, da er bei männlichen Tieren größer sowie dreieckig im Querschnitt und mit einer scharfen vorderen Kante versehen ist. Weibchen dagegen haben einen kleineren und eher runden oder abgeflachten oberen Schneidezahn. Die unteren Schneidezähne sind meißelartig flach, bei den Baumschliefern ist jeder Zahn in jeweils drei kleine Stifte unterteilt, so dass eine Art Zahnkamm entsteht. Bei den anderen beiden Arten ist das Merkmal nicht so stark ausgeprägt und häufig nur im Jungstadium vorhanden. Ein Eckzahn kommt nicht vor, ist aber im Milchgebiss ausgebildet. Zum hinteren Gebiss besteht ein deutliches Diastema. Die Prämolaren und Molaren zeigen bezüglich der Zahnkronenhöhe Unterschiede zwischen den Arten. Der Klippschliefer besitzt hochkronige (hypsodonte) Zähne, die anderen Vertreter sind mit mehr oder weniger niederkronigen (brachyodonte) Zähnen ausgestattet. Vor allem die Mahlzähne erinnern ein wenig an die der Unpaarhufer. Die oberen Molaren weisen zwei quergestellte Schmelzleisten (Protoloph und Metaloph) auf der Kauoberfläche auf, so dass ein bilophodontes Muster entsteht. Entlang der Zahnaußenkante werden beide Leisten durch eine weitere (Ectoloph) miteinander verbunden. Dadurch wirkt das Schmelzmuster π-förmig; eine Entsprechung findet sich bei den Nashörnern. Im Unterschied zu den Nashörnern ist das Ectoloph nicht durchlaufend, sondern von einer Furche geteilt. Im Unterkiefer zeigen die Mahlzähne analog zu den Nashörnern eine Doppel-Halbmondform. Der Zahnwechsel vom Milch- hin zum Dauergebiss findet bei den Schliefern wie bei einigen anderen Vertretern der Afrotheria auch sehr spät in der Individualentwicklung statt, häufig erst im ausgewachsenen und sexuell reifen Stadium. Skelettmerkmale Einzelne Besonderheiten finden sich auch im Skelettbau. Die Wirbelsäule besteht aus 7 Hals-, 19 bis 22 Brust-, 6 bis 9 Lenden-, 5 bis 7 Kreuzbein- und 4 bis 10 Schwanzwirbeln. Wie bei den Afrotheria üblich, ist die Anzahl der Rückenwirbel (Brust- und Lendenwirbel) mit 27 bis 30 höher als bei anderen Verwandtschaftsgruppen; innerhalb der Afrotheria haben die Schliefer die meisten Einzelelemente. Die Lendenwirbelsäule ist ausgesprochen gestreckt und erreicht mit 10 cm Länge mehr als die Hälfte der Länge der Brustwirbelsäule, die rund 15 cm misst. Es kommen zwischen 19 und 22 Rippenpaare vor, wobei 21 und 22 häufiger auftreten. Von diesen sind sieben bis acht Paare mit dem Brustbein verbunden. Ein Schlüsselbein ist nicht ausgebildet. Am Schulterblatt fehlt außerdem das Acrominion, stattdessen läuft die Schultergräte allmählich aus. Elle und Speiche sind etwa gleich lang und umeinander gedreht. Das Darmbein ist extrem kopfwärts gestreckt, der Beckenabschnitt vor der Hüftgelenkspfanne nimmt dadurch gut das Doppelte der übrigen Beckenlänge ein. Am Oberschenkelknochen kommt ein dritter Rollhügel vor, der meist nur als schwacher Rippel ausgebildet ist. Das Wadenbein wird an der Basis durch Bänder mit dem Schienbein verbunden. Die Hand- und Fußwurzelknochen zeigen eine serielle (taxeopode) Anordnung, das heißt, die einzelnen Wurzelknochen jeder Reihe liegen hintereinander und überschneiden sich nicht wechselseitig. Dadurch gelenkt an der Handwurzel das Kopfbein direkt mit dem Mondbein, an der Fußwurzel steht das Sprungbein nur mit dem Kahnbein und das Fersenbein nur mit dem Würfelbein in Verbindung. Das Sprungbein ist durch die beiden seitlichen Knöchel fest fixiert. Durch den speziellen Bau der Gliedmaßen sind die Schliefer nicht fähig, Hände und Füße im Gelenkbereich zu rotieren, dies erfolgt hauptsächlich im Bereich zwischen den Wurzelknochen, bei der Hand zusätzlich durch Drehung des Schultergelenks. Die Hand besitzt fünf Strahlen (I bis V), von denen der Daumen (Strahl I) rudimentär ist und unter der Haut verborgen bleibt. Der äußere Strahl (V) ist ebenfalls in der Größe reduziert. Am Fuß bestehen drei Strahlen (II bis IV). Sowohl bei der Hand als auch beim Fuß verläuft die Hauptachse durch den jeweils dritten Strahl, wodurch ein mesaxonischer Aufbau entsteht. Drüsen und taktile Haare Eine eher ungewöhnliche Bildung ist die Rückendrüse der Schliefer, die als nackte Hautfläche von einem markant gefärbten Haarfleck umgeben wird. Die Drüse weist Längen von etwa 1,5 cm auf und besteht aus sieben oder acht Läppchen aus drüsenhaltigem Gewebe, die tief in der Haut sitzen. Jedes einzelne Läppchen enthält 25 bis 40 Fächer, die mit sekrethaltigem Epithel gefüllt sind, welches wiederum einen irregulär geformten Hohlraum umgibt. Von hier führen gut entwickelte Kanäle zur Oberfläche. Die Läppchen schwellen vor allem bei sexuell aktiven Tieren unabhängig vom Geschlecht an. Die Haare des farbigen Flecks um die Drüse liegen normalerweise flach entsprechend dem übrigen Fell und überdecken die Drüse. Sie können aber bei Erregung aufgerichtet werden und formen dann ein auffälliges Büschel, das die Drüse entblößt. Weitere Drüsen finden sich an den Sohlen der Hände und Füße. Die Schliefer laufen nicht auf den Hufen, sondern auf der nackten Sohle, die von einer rund 1 cm dicken Epithelschicht überzogen ist. Darin befinden sich Drüsen, die die Hautschicht in hoher Dichte mit etwa 300 Drüsenkanälen je Quadratzentimeter durchsetzen. Die einzelnen Drüsen haben einen Durchmesser von etwa 15 bis 45 μm und sind von Fett- und Bindegewebe umgeben. Prinzipiell ähneln die Drüsen denen von Primaten, die Zellen sind hell oder dunkel gefärbt. Letztere stellen die eigentlichen Sekretproduzenten dar und enthalten den Golgi-Apparat. Sie erzeugen Glykoproteine. Die Sekrete halten die Sohlen der Hände und Füße beständig feucht. In Verbindung mit der Muskelkraft, die die Sohle entlang der zentralen Schwielenspalte einzieht, erzeugen die Tiere eine hohe Adhäsionskraft, die sie befähigt, an Bäumen und Felsen zu klettern oder über glatte, rutschige und unebene Flächen zu laufen. Ein besonderes Merkmal der Schliefer findet sich in der Verteilung der Tasthaare nicht nur im Gesicht, sondern regelmäßig über den gesamten Körper. Dieses Merkmal tritt nur selten bei anderen Säugetiergruppen auf, bekannt ist es etwa von den Seekühen. Die einzelnen Tasthaare sind schwarz gefärbt und länger als die restlichen Haare. Sie zeigen an der Basis den für sensorisch empfindliche Haare typischen Aufbau mit dem Haarbalg und dem umgebenden Blutsinus, die eingeschlossen sind in eine Kapsel aus Bindegewebe. Die gesamte Struktur der Basis ist gegenüber der anderer Haare gestreckt und von zahlreichen Nerven durchsetzt, die am Haarbalg enden. Die Haut um die Kapsel wiederum ist reich an Blutgefäßen und mit fibrösem Gewebe angereichert. Die Tasthaare dienen der Orientierung der Tiere in engen Höhlen, Felskammern und -gängen. Weichteilanatomie Der Verdauungstrakt ist relativ komplex, aber nicht so stark wie bei einigen Paarhufergruppen. Der Magen besitzt zwei Kammern und teilt sich somit in zwei funktionale Teile. Der vordere Abschnitt weist keine Drüsen auf und fungiert primär als Nahrungsreservoir. Der hintere Abschnitt mit dem Magenpförtner ist dagegen drüsenreich. Der anschließende Dünndarm wird bis zu 130 cm lang, er mündet in den Blinddarm. Dieser ist ungewöhnlich aufgebaut, da er aus einer vorderen, ungeteilten Kammer und einer hinteren sackartigen Struktur (auch „Darmsack“ genannt) mit zwei konischen Anhängseln besteht; beide Teile des Blinddarms sind durch einen 11 bis 20 cm langen Teil des Darms miteinander verbunden. Der vordere Blinddarmabschnitt dient als Fermentationsraum und produziert eine größere Menge an flüchtigen Fettsäuren. In der hinteren sackartigen Kammer werden die Verdauungsrückstände langsam gemischt. Die Leber ist stark untergliedert, eine Gallenblase besteht nicht. Die Zunge weist rund 5 cm Länge auf. Ihre Oberfläche besteht aus fadenförmigen mechanischen sowie pilz- und blattförmigen Geschmackspapillen. Die fadenförmigen Papillen der Zungenspitze haben einen schaufelförmigen Fortsatz. Pilzförmige Papillen verteilen sich an den Zungenrändern und auf der Unterseite der Zungenspitze. Am Zungenkörper kommen hingegen blattförmige Papillen vor, zusätzlich sind hier einige kuppelartige Papillen ausgebildet. Speicheldrüsen finden sich häufig an der Zungenwurzel. Weibchen haben eine paarige (Klippschliefer) oder zweihörnige Gebärmutter (Baum- und Buschschliefer). Für gewöhnlich verfügen sie über eins bis drei Zitzenpaare. Die Anzahl ist bei den Baumschliefern generell geringer und die Position der Zitzen variabel zwischen dem Brust- und dem Leistenbereich verteilt. Beim Busch- und beim Klippschliefer kommen häufig ein Paar in der Brust- und zwei in der Leistengegend vor. Die Hoden der Männchen sind in der Bauchhöhle verborgen. Sie wiegen bei sexuell inaktiven Tieren zwischen 1,0 und 1,65 g. Der Penis ist bei den einzelnen Gattungen unterschiedlich aufgebaut. Er hat bei den Baumschliefern eine einfache, leicht gekrümmte Gestalt, beim Klippschliefer ist er kurz, elliptisch geformt und verdickt sich leicht nach oben, während er beim Buschschliefer einen Anhängsel mit der Öffnung des Harnkanals aufweist. Als markant erweist sich auch der differierende Abstand zum Anus, der bei den Baumschliefern mit durchschnittlich 1,7 bis 2,5 cm am kürzesten und beim Buschschliefer mit 8,0 cm am längsten ist. Der Klippschliefer liegt mit Werten um 3,5 cm dazwischen. Schliefer besitzen zwei Muskelgruppen die bis zur Nasenspitze verlaufen. Sie bilden keine größeren Sehnen und sind nur in ihrem vorderen Abschnitt gut voneinander getrennt. Beide Muskeln bewegen die Nase, was aber nur eingeschränkt ausgeführt werden kann. Der Kauapparat der Schliefer ähnelt dem der pflanzenfresserischen Huftiere. Er zeigt eine Dominanz des Masseter- gegenüber dem Temporalis-Muskelkomplex, was auch durch die hohe Lage des Unterkiefergelenkes und dem ausgedehnten Winkelfortsatz angezeigt wird. Jedoch ist bei den Schliefern im Gegensatz zu vielen Pflanzenfressern der Temporalis-Muskel verhältnismäßig größer. Dies geht mit einer relativ kurzen Schnauze einher. Die Tiere sind daher einerseits zu komplexeren Kaubewegungen wie die Huftiere befähigt, können aber auch mehr Kraft in den vorderen Gebissbereich legen. Der kurze Kronenfortsatz bewirkt, dass das Maul weit aufgesperrt werden kann, etwa zur Präsentation der oberen spitzen Schneidezähne. Verbreitung und Lebensraum Die Schliefer sind weitgehend endemisch in Afrika verbreitet. Eine Ausnahme bildet der Klippschliefer, der auch in Vorderasien, speziell in der Levante und auf der Arabischen Halbinsel vorkommt. Abseits dieses Vorkommens leben sowohl der Klipp- als auch der Buschschliefer überwiegend im östlichen und südlichen Teil Afrikas. Sie bevorzugen häufig felsige, aride Gegenden, sind aber auch in Savannen- und Waldlandschaften zu finden, in denen steinreiche Areale oder verschiedene Felsformationen zur Verfügung stehen. Beide Arten treten teilweise sympatrisch auf. Die Baumschliefer dagegen sind weitgehend auf Wälder beschränkt. Ihre Verbreitung reicht vom westlichen über das zentrale bis zum östlichen Afrika und streut von hier bis in den südlichen Teil des Kontinentes. Die verschiedenen Arten können im Flachland ebenso wie im Gebirge bis teilweise in Höhen von 4500 m beobachtet werden. Die Anwesenheit und Häufigkeit von Schliefern in einer bestimmten Region wird von äußeren Bedingungen beeinflusst. Zu den abiotischen Faktoren zählen beispielsweise die Temperatur und der Niederschlag wie auch die Häufigkeit von Höhlen und Schlupflöchern als Verstecke. Biotische Faktoren beziehen sich auf die Häufigkeit von Beutegreifern oder Parasiten, aber auch die inner- und überartliche Konkurrenz um Nahrungsressourcen. Lebensweise Territorialverhalten Im Verhalten gibt es starke Unterschiede zwischen dem Klipp- und dem Buschschliefer einerseits und den Baumschliefern andererseits, wobei die Lebensweise vorwiegend bei ersteren beiden gut untersucht ist. Die Baumschliefer leben baumkletternd (arboreal), sie sind nachtaktiv, einzelgängerisch und ziehen sich in Baumhöhlen zurück. Es werden vor allem Bäume genutzt, die mehrere Möglichkeiten an Verstecken bieten. Gelegentlich treten zwei bis drei Individuen gemeinsam auf, bei denen es sich um Mutter-Jungtier-Gruppen handelt. Die ausgewachsenen Tiere sind territorial. Die Reviere der Männchen überschneiden sich mit denen von mehreren Weibchen und werden gegen Rivalen verteidigt. Dagegen bilden sowohl der Klipp- als auch der Buschschliefer größere Familiengruppen oder Kolonien, sie sind tagsüber aktiv und bodenbewohnend. Die Tiere können aber wie die Baumschliefer aufgrund ihrer Fußanatomie gut klettern und bewegen sich schnell in unebenem Terrain. Ebenso sind sie befähigt Bäume zu besteigen. Die einzelnen Gruppen bewohnen Felslandschaften, die von zahlreichen Felsklüften und Hohlräumen durchzogen sein müssen. Diese dienen als Verstecke oder Rückzugsorte. Eine Kolonie besteht aus einem dominanten Männchen und miteinander verwandten Weibchen sowie deren Nachwuchs. Die Mitglieder einer Kolonie nutzen ein mehr oder weniger fest umrissenes Territorium, das vom Männchen verteidigt wird. In den Savannenlandschaften des östlichen und südlichen Afrikas können solche Territorien einen einzelnen Kopje umfassen. Größere Kopjes und weiträumigere Felslandschaften werden von mehreren Familiengruppen bewohnt. Hier können dann auch einzelgängerische Männchen oder Wanderer auftreten. Dabei handelt es sich häufig um junge ausgewachsene Tiere, die noch keine eigene Gruppe gegründet haben. Teilweise treten der Klipp- und der Buschschliefer sympatrisch auf und bilden – abhängig von der Jahreszeit – tagsüber gemischte Gruppen. Energiehaushalt und Tagesrhythmik Die Baumhöhlen der Baumschliefer und die Felsklüfte des Klipp- und des Buschschliefers bieten nicht nur Schutz vor Fressfeinden, sondern bewirken auch ausgeglichenere Umweltbedingungen mit stabileren Temperatur- und Luftfeuchtigkeitsverhältnissen. Die Körpertemperatur der Schliefer liegt bei 35 bis 37 °C. Sie schwankt aber mit der Außentemperatur. Die Anpassung der Körpertemperatur an die Außentemperatur geschieht durch Akklimatisierung und folgt keinem vorgegebenen Tagesrhythmus. Bei höhere Umgebungstemperatur, meist über 25 °C, erfolgt die Thermoregulation über die Transpiration an den Nasenöffnungen und an den Fußsohlen sowie über Hecheln und einen erhöhten Speichelfluss. Niedrigen Temperaturen begegnen die Tiere meist mit einer erhöhten Sauerstoffzufuhr. Außerdem haben die Schliefer einen geringen Stoffwechsel, der etwa 30 % unter dem Wert liegt, der für ein gleich großes Tier zu erwarten wäre. Sowohl die labile Körpertemperatur als auch der niedrige Metabolismus tragen zur Energieersparnis bei. Die Nieren sind sehr effizient und können Urin beziehungsweise Elektrolyte stark konzentrieren. Dies ermöglicht zumindest den Klipp- und den Buschschliefer in sehr trockenen Arealen zu leben, ohne viel Flüssigkeit aufnehmen zu müssen. Die labile Körpertemperatur bestimmt weitgehend den Tagesverlauf der Schliefer. Die koloniebildenden Arten formieren sich am frühen Morgen in Gruppen mit neben- oder übereinander liegenden Tieren. Die Formationen brechen auf, sobald die Sonne die Felsen erwärmt. Dann baden die Tiere zumeist in loser Formation in der Sonne. An den heißen Stunden des Tages ziehen sie sich in den Schatten zurück. Ein wichtiger Bestandteil ist das Kratzen und Putzen, was mit der Putzkralle des Hinterfußes und mit den unteren Schneidezähnen ausgeführt wird. Gelegentlich baden die Tiere auch im Sand und entfernen so Ektoparasiten. Schliefer nutzen Latrinen, in denen sie ihren Kot und ihr Urin absetzen. Bei den koloniebildenden Arten werden diese gemeinsam genutzt. Die Vertreter der Baumschliefer steigen dafür von den Bäumen herunter. Ihre Latrinen befinden sich häufig an gut einsehbaren Stellen. Der mit Kalziumkarbonat durchsetzte Kot bildet eine flächendeckende Substanz, die teilweise als „Hyraceum“ Verwendung findet. Soziale Kommunikation Die innerartliche Kommunikation der Schliefer ist vielfältig. Bei der Interaktion verschiedener Individuen spielt die jeweilige Position und Körperhaltung eine wichtige Rolle. Generell gelten Kopf-zu-Kopf-Begegnungen als Konfrontationsverhalten. Im sozialen Miteinander wie bei der Haufenbildung während der kühlen Tageszeiten sind daher die Köpfe der Tiere immer auswärts orientiert. Auch beim gemeinsamen Fressen oder Sonnenbaden der Familiengruppen der beiden koloniebildenden Arten kommt es dabei immer zu radialen oder gegenständigen Positionen der Tiere zueinander. Als aggressives Gebaren kann ein geöffnetes Maul und die Präsentation der oberen, langen Schneidezähne angesehen werden. Als wichtiger visueller Signalgeber dienen die Haare des Flecks um die Rückendrüse, die bei Erregung aufgerichtet werden können. Der Winkel, in dem die Haare aufsteigen, gibt Aufschluss über die Intensität der Erregung eines Tieres. Der Farbfleck hat dadurch vor allem während der Paarungszeit und bei den Dominanzkämpfen der Männchen eine bedeutende Funktion. Die Sekrete der Rückendrüse werden darüber hinaus zur Geruchserkennung eingesetzt, etwa zwischen Mutter- und Jungtieren. Weitere olfaktorische Kennzeichen nutzen Männchen, die speziell in der Fortpflanzungsphase die Latrinen nach Gerüchen der empfangsbereiten Weibchen absuchen. Auffallend ist allerdings, dass die Schliefer kaum Geruchsmarken zum Kennzeichnen ihrer Reviere abgeben. Die Lautgebung der Schliefer ist sehr variantenreich und besteht aus zahlreichen Rufen, die in den unterschiedlichsten Situationen hervorgebracht werden. Die Rufe drücken verschiedenste Befindungen wie Aggression, Bedrohung, Befriedung oder Rückzug aus. Von hoher Bedeutung sind die Rufe der Männchen, die als „territorialer“ oder „großer Ruf“ bezeichnet werden. Sie ertönen zumeist das gesamte Jahr über zu festen Tageszeiten, können aber während der Paarungszeit stark zunehmen. Häufig animieren sich die Männchen während einer Rufperiode gegenseitig, so dass die Laute weit getragen werden. Sie bestehen aus einer Abfolge von sich abwechselnden Rufelementen, die zum Ende hin an Intensität zunehmen. Die gesamte Serie wird mehrfach wiederholt. Teilweise sind sie stark individualisiert, es lassen sich zudem auch Unterschiede in lokalen Populationen erkennen. Für den Klippschliefer wurde ermittelt, dass einzelne Tiere mit ihren Rufen individuelle Informationen über ihre körperlichen Eigenschaften oder ihren sozialen Status übermitteln. Ernährung Alle Schliefer sind reine Pflanzenfresser. Ihre Hauptnahrung besteht aus weichen Pflanzenteilen wie Blätter, Zweige, Früchte und Rinde. Lokal treten deutliche Unterschiede bei den bevorzugten Pflanzen auf, die wohl auf die Verfügbarkeit für die einzelnen Populationen zurückzuführen sind. Der Klipp- und der Buschschliefer nehmen darüber hinaus größere Mengen an Gräsern auf. Der Anteil kann vor allem in der Regenzeit stark ansteigen, beim Klippschliefer ist er aber deutlich höher als beim Buschschliefer. Beide Arten sind wegen des stärkeren Abriebes durch die harten Gräser dafür mit höheren Zahnkronen an den Backenzähnen ausgestattet. Die unterschiedliche Ernährung der beiden Schliefervertreter konnte auch mittels Isotopenanalysen und durch Abrasionsspuren belegt werden. Wasser zum Trinken ist keine Voraussetzung, da die Tiere oft genug Flüssigkeit aus ihrer Nahrung ziehen können. Die Nahrung wird mit den Zähnen aufgenommen, die Vorderfüße kommen nicht zum Einsatz. Die Zerkleinerung der Nahrung im Maul erfolgt mit seitlichen Kaubewegungen. Die aufgenommene Nahrung passiert den Körper in einem Zeitraum von etwa vier bis fünf Tagen, was ausgesprochen lang ist. Der Magen-Darm-Trakt vermag dabei auch faseriges Pflanzenmaterial zu verdauen. Im Gegensatz zu einzelnen älteren und jüngeren Beobachtungen (einschließlich einer Erwähnung im Alten Testament) kauen die Tiere ihre Nahrung nicht wieder. Der Magen der Schliefer ist einfacher gebaut als der der Wiederkäuer. Möglicherweise handelt es sich um eine Fehldeutung einer Stresshandlung, bei der einzelne Individuen mit mahlenden Kaubewegungen auf sie unbekannte Faktoren reagieren, dabei aber keine Nahrung zerkleinern. Dies wird heute als „Zähneknirschen“ bezeichnet und kann bis zu eine halbe Stunde anhalten. Fortpflanzung Die Fortpflanzung ist nur beim Klipp- und Buschschliefer genügend untersucht. Die Paarung findet einmal jährlich statt und ist saisonal abhängig, der Sexualzyklus der Weibchen wiederholt sich dabei innerhalb von mehreren Wochen. In den beiden koloniebildenden Arten ist die Paarungszeit der Weibchen einer Familiengruppe untereinander synchronisiert. Für die Baumschliefer wird auch eine ganzjährige Fortpflanzung angenommen. Während der Paarungszeit rufen die Männchen laut und suchen die Latrinen nach den Gerüchen paarungsbereiter Weibchen ab. Ihre Hoden können stark anschwellen, teilweise um das 10 bis 20fache des normalen Gewichts. Paarungsbereite Tiere führen einen Paarungstanz auf, der aus gegenseitigem Jagen, Aneinanderreiben und Präsentieren des Rumpfes besteht. Vor dem Geschlechtsakt lässt das Männchen meist einen schrillen Ruf vernehmen. Das Aufsteigen des Männchens auf das Weibchen kann mehrfach innerhalb von wenigen Stunden erfolgen. Bisher sind aber nur wenige Paarungen beobachtet worden, da diese zumeist in den Verstecken stattfinden. Die Tragzeit ist bei den Schliefern ausgesprochen lang und währt zwischen 26 und 32 Wochen. Die Baumschliefer bringen pro Wurf eins bis zwei Junge zur Welt, beim Klipp- und Buschschliefer sind es eins bis vier. Die Anzahl ist vom Gewicht und vom Alter des Muttertiers abhängig, junge Weibchen gebären häufig weniger Nachwuchs. Wie die Paarung setzt auch die Geburt bei den Weibchen einer Kolonie synchron ein. Die Jungen kommen weit entwickelt zur Welt, sie sind voll behaart, haben geöffnete Augen und können bereits laufen und klettern. Das Geburtsgewicht der Jungen variiert zwischen 180 und 380 g. Die Jungen der koloniebildenden Arten formen häufig Spielgruppen. Sie haben ein ausgeprägtes Spielverhalten, das aus Beißen, Klettern, Schubsen oder einem gegenseitigen Verfolgen besteht. Die Entwöhnung findet nach fünf bis sieben Monaten statt, die Geschlechtsreife tritt zwischen dem 16. und dem 30. Monat ein. Beim Klipp- und Buschschliefer werden die jungen Weibchen in die Kolonie integriert, die jungen Männchen verlassen die heimatliche Familiengruppe und gründen eine eigene. Die Lebenserwartung kann bis zu 14 Jahre betragen. Fressfeinde Wegen ihrer geringen Größe werden die Schliefer von zahlreichen Tieren gejagt, unter anderem von Schlangen, Greifvögeln und Raubtieren. Vor allem der Klipp- und der Buschschliefer gehören zur Hauptbeute des Klippenadlers, zu dem aufgrund der Beutemenge auch eine ökologische Beziehung besteht. Unter den Säugetieren ist besonders der Leopard hervorzuheben. Systematik Äußere Systematik Die Hyracoidea bilden eine Ordnung innerhalb der Überordnung der Afrotheria. Die Afrotheria stellen wiederum eine der vier Hauptlinien der Höheren Säugetieren dar und schließen verschiedene Gruppen ein, deren Ursprungsgebiet mehr oder weniger auf dem afrikanischen Kontinent liegt oder die zu dessen ursprünglichen Bewohnern zählen. Die Zusammengehörigkeit der Afrotheria beruht hauptsächlich auf molekulargenetischen Untersuchungen, weniger auf anatomischen Gemeinsamkeiten. Innerhalb der Afrotheria werden mit den Paenungulata und den Afroinsectiphilia zwei Großgruppen unterschieden. In letzterer stehen die Rüsselspringer und die Tenrekartigen, teilweise gehört auch das Erdferkel dazu. In der Regel gelten die Schliefer als verwandt mit den Rüsseltieren und Seekühen, die alle drei zusammen wiederum die Paenungulata formen. Während die enge Verwandtschaft von Schliefern, Elefanten und Sirenen heute kaum angezweifelt und sowohl genetisch als auch morphologisch-anatomisch belegbar ist, sind die direkten Beziehungen der Gruppen zueinander in Diskussion. Einerseits können die Schliefer als die Schwestergruppe der beiden anderen Linien aufgefasst werden. In diesem Fall werden die Elefanten und Seekühe in die gemeinsame Übergruppe der Tethytheria eingegliedert. Andererseits stehen die Schliefer den Elefanten gegenüber, während die Seekühe die Position der Außengruppe einnehmen. Als dritte Konstellation kommt eine engere Bindung der Schliefer an die Seekühe in Betracht mit den Elefanten als Schwestertaxon zu beiden. Den molekulargenetischen Untersuchungen zufolge liegt der Ursprung der Afrotheria in der Oberkreide vor 90,4 bis 80,9 Millionen Jahren. Rund 15 Millionen Jahre später spaltete sich diese Ursprungsgruppe in die beiden heutigen Hauptlinien auf. Die Schliefer differenzierten sich im Paläozän vor etwa 60 Millionen Jahren heraus, was in etwa mit dem Fossilbericht übereinstimmt. Dabei stellen aber die Vorfahren der heutigen Schliefer eine relativ junge Entwicklungslinie dar, die erst im Unteren Miozän vor etwa 20 Millionen Jahren erschien. Innere Systematik Die Ordnung der Hyracoidea setzt sich rezent nur aus der Familie der Procaviidae zusammen und ist dadurch monotypisch. Besondere Kennzeichen finden sich neben dem charakteristischen äußeren Erscheinungsbild der Tiere in dem reduzierten Gebiss und in einzelnen besonderen Zahnmerkmalen. In der Regel werden innerhalb der Procaviidae mit dem Klippschliefer als Nominatform, dem Buschschliefer und den Baumschliefern drei Gattungen differenziert. Sie weichen anatomisch unter anderem in der Zahnanzahl, der Höhe der Zahnkronen der Mahlzähne beziehungsweise in der Ausprägung oder dem Fehlen eines Postorbitalbogens oder eines Scheitelkamms voneinander ab. Zudem bestehen Unterschiede in der Lebensweise. Die ersten beiden Gattungen enthalten nur jeweils eine Art, die letzte insgesamt vier. Die genaue Artanzahl ist umstritten, generell werden die heutigen Schliefer als taxonomisch zu stark zusammengefasst angesehen. Auch besteht die Möglichkeit, dass einzelne Arten noch verborgen leben und bisher nicht beschrieben wurden. Fossil sind noch wenigstens fünf weitere Familien anerkannt. Die Geniohyidae setzen sich aus weitgehend ursprünglichen, kleinen Formen mit noch verlängertem Schädel und wenig spezialisierten Zähnen zusammen. Die nahe mit diesen verwandten Namahyracidae zeichnen sich durch sehr niederkronige Zähne mit voluminösen Höckerchen auf der Kaufläche der Molaren aus. Die Titanohyracidae, die fast zeitgleich auftraten, waren demgegenüber mit einfachen Leisten auf den Backenzähnen schon spezialisierter. Sie brachten zudem die ersten Riesenformen der Schliefer hervor. Die Saghatheriidae wiederum umfassten überwiegend kleinere Mitglieder, die schon deutliche Längenkürzungen im Schädel besaßen. Innerhalb der Saghatheriidae findet sich möglicherweise die Ursprungsgruppe für die Entwicklung der Procaviidae und auch der Pliohyracidae. Letztere sind durch stark hochkronige Backenzähne charakterisiert, ebenso wie durch eine massive Körpergrößenzunahme während der Stammesgeschichte. Die sechs Familien werden manchmal in zwei verschiedenen Unterordnungen aufgeteilt, wobei die Geniohyidae, Namahyracidae und Titanohyracidae dann innerhalb der Pseudhippomorpha, die anderen innerhalb der Procaviamorpha stehen. Die beiden höherrangigen Gruppen innerhalb der Schliefer gehen auf Thomas Whitworth aus dem Jahr 1954 zurück, der damit die langschnauzigen frühen Formen von den kurzschnauzigen späteren abtrennte. Whitworth wählte die Bezeichnung Pseudhippomorpha, da ihn die oberen hinteren Zähne der stammesgeschichtlich älteren Schliefer an die der ursprünglichen Pferde erinnerten, während die Procaviamorpha eher Zähne vergleichbar den Nashörnern haben. Teilweise werden alle nicht-procaviiden Schliefer innerhalb einer Familie geführt, den Pliohyracidae. In diesem Gliederungssystem besitzen die anderen Familien dann den Status einer Unterfamilie. Dieses Schema wurde mehrfach kritisiert, da die Variationsbreite der ausgestorbenen Formen wesentlich größer ist als die der heute lebenden. So stehen auch die Formen des Mittleren und Oberen Miozäns den heutigen Schliefern deutlich näher als den frühen Formen des Eozäns und Oligozäns. Überblick über die Familien und Gattungen der Schliefer Die Ordnung der Schliefer wird in fünf Familien untergliedert mit mehr als zwei Dutzend Gattungen, drei davon rezent. Die hier vorgestellte Gliederung basiert auf Martin Pickford et al. 1997 und D. Tab Rasmussen et al. 2010, berücksichtigt weiterhin auch neuere Entwicklungen: Ordnung: Hyracoidea Huxley, 1869 Unterordnung: Pseudhippomorpha Whitworth, 1954 Rukwalorax Stevens, O’Connor, Roberts & Gottfried, 2009 Familie: Namahyracidae Pickford, 2015 Dimaitherium Barrow, Seiffert & Simons, 2010 Namahyrax Pickford, Senut, Morales, Mein & Sanchez, 2008 Seggeurius Crochet, 1986 Familie: Geniohyidae Andrews, 1906 Geniohyus Andrews, 1904 Bunohyrax Schlosser, 1910 Pachyhyrax Schlosser, 1910 Brachyhyrax Pickford, 2004 Familie: Titanohyracidae Matsumoto, 1926 Titanohyrax Matsumoto, 1921 Antilohyrax Rasmussen & Simons, 2000 Afrohyrax Pickford, 2004 Rupestrohyrax Pickford, 2015 Unterordnung: Procaviamorpha Whitworth, 1954 Familie: Saghatheriidae Andrews, 1906 Microhyrax Sudre, 1979 Saghatherium Andrews & Beadnell, 1902 Selenohyrax Rasmussen & Simons, 1988 Thyrohyrax Meyer, 1973 Megalohyrax Andrews, 1903 Regubahyrax Pickford, 2009 Familie: Pliohyracidae Osborn, 1899 Meroëhyrax Whitworth, 1954 Prohyrax Stromer, 1924 Parapliohyrax Lavocat, 1961 Pliohyrax Osborn, 1899 Kvabelihyrax Gabunia & Vekua, 1966 Hengduanshanhyrax Chen, 2003 Sogdohyrax Dubrovo, 1978 Postschizotherium von Koenigswald, 1932 Familie: Procaviidae Thomas, 1892 Heterohyrax Gray, 1868 (Buschschliefer, einschließlich einer rezenten Art) Dendrohyrax Gray, 1868 (Baumschliefer, einschließlich vier rezente Arten) Procavia Storr, 1780 (Klippschliefer, einschließlich einer rezenten Art) Gigantohyrax Kitching, 1965 Forschungsgeschichte Taxonomie Die Erforschung der Schliefer reicht bis in das ausgehende 18. Jahrhundert zurück. Die erste wissenschaftliche Beschreibung eines Schliefers geht auf Peter Simon Pallas (1741–1811) zurück, der im Jahr 1766 den Klippschliefer als Cavia capensis benannte. Das Wort Cavia ist die latinisierte Version des ursprünglich karibischen Wortes cabiai, welches die Meerschweinchen bezeichnet, deren Hauptverbreitungsgebiet in Südamerika liegt. Die für ein afrikanisches Tier eher ungewöhnliche Namensgebung veranlasste Gottlieb Conrad Christian Storr (1749–1821) im Jahr 1780 den Gattungsnamen durch Procavia auszutauschen. Nur drei Jahre darauf kreierte Johann Hermann (1738–1800) die Gattung Hyrax für den Klippschliefer. Hyrax wiederum ist dem Griechischen entlehnt (ὕραξ hýrax) und bedeutet „Spitzmaus“. Das Wort verbreitete sich schnell und wurde in der Folgezeit vielfach verwendet. In der Regel wurde es auf alle Schliefer bezogen. Auf ihm basieren auch die weiteren Gattungsbezeichnungen Heterohyrax für den Buschschliefer und Dendrohyrax für die Baumschliefer, die beide von John Edward Gray (1800–1875) aus dem Jahr 1868 stammen. Ebenso geht auf Hyrax die Familienbezeichnung Hyracidae zurück, bereits 1821 ebenfalls von Gray eingeführt. Er definierte die Schliefer folgendermaßen: nose and ears short; toes four in front, three behind; hoofs small, round, except the inner-hinder toes, which have an arched claw; teeth cutting, two above, four below; canine, two below, two above, when young; stomach two-lobed, caecum large. („Nase und Ohren kurz; vier Zehen vorne, drei hinten; Hufe klein, rund, mit Ausnahme der inneren hinteren, welche gebogene Krallen haben; Schneidezähne, zwei oben, vier unten; Eckzahn, im Jugendstadium zwei unten, zwei oben; Magen zweikammerig, Blinddarm groß“). Thomas Huxley (1825–1895) schuf dann 1869 die Bezeichnung Hyracoidea für die Ordnung der Schliefer. Huxley verwendete dabei eine Definition, die stark der von Gray ähnelte. Die Ordnung enthielt damals Hyrax als einzige Gattung. Erstmals 1886 wies Fernand Lataste darauf hin, dass die Gattungsbezeichnung Procavia drei Jahre vor Hyrax eingeführt worden war. Im Folgenden führte dies Oldfield Thomas (1858–1929) im Jahr 1892 weiter aus und hob noch einmal die Namenspriorität von Procavia gegenüber Hyrax hervor. Er schlug daraufhin auch die Familienbezeichnung Procaviidae vor, da diese im Gegensatz zu Hyracidae auf einem gültigen Gattungsnamen fußte. Die Ordnung Hyracoidea behielt Thomas bei, da für diese keine anerkannte Gattung als Namensgrundlage notwendig ist. Die Entdeckung der fossilen Schliefer Schliefer sind der Wissenschaft zwar schon wenigstens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bekannt, fossile Formen wurden aber relativ spät entdeckt. Forschungsgeschichtlich frühe Funde sind aus Griechenland belegt. Diese wurden in Pikermi in der Region Attika seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgedeckt. Albert Gaudry publizierte 1867 einen ersten umfangreichen Fossilkatalog der Lagerstätte und stellte dabei zwei Unterkiefer vor, die er der Gattung Leptodon zuwies. Deren Verwandtschaftsverhältnisse waren zu dem damaligen Zeitpunkt nicht bekannt, Gaudry vermutete aber eine enge Bindung an die Nashörner. Mehr als 30 Jahre später stellte Henry Fairfield Osborn den Gesichtsschädel eines Schliefers vor, der von der griechischen Insel Samos stammt und sich in der Sammlung der Krupp-Familie befand. Osborn erkannte die Zugehörigkeit zu den Schliefern und kreierte für den Fund die neue Gattung Pliohyrax. Noch im gleichen Jahr belegte Max Schlosser, dass die Reste sowohl von Pikermi als auch von Samos die gleiche Gattung repräsentieren (Leptodon als Gattungsname ist allerdings durch einen Vertreter der Greifvögel präokkupiert, weswegen die Funde heute unter Pliohyrax geführt werden). Sie stellten mit einer Datierung in das Obere Miozän die damals ältesten bekannten Nachweise von Schliefern dar. Nahezu zeitgleich kamen Funde von Schliefern im Fayyum im nördlichen Ägypten zum Vorschein, die aber mit einer Altersstellung vom Oberen Eozän bis zum Unteren Oligozän deutlich älter sind. Hier war Hugh John Llewellyn Beadnell seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als Geologe aktiv und sammelte Fossilien. Bereits 1902 stellt er gemeinsam mit Charles William Andrews den Schädel eines Schliefers vor, den sie mit Saghatherium bezeichneten. Im Winter des gleichen Jahres entdeckte Beadnell einen Oberkieferrest und einen Unterkiefer weiterer Schliefer. Beide wurden darauffolgend von Andrews beschrieben. Ersteren benannte er aufgrund seiner Größe Megalohyrax, für letzteren schuf er die Gattung Geniohyus. Die höckerigen Zahnstruktur verleitete Andres allerdings dazu, die Form zu den Schweinen zu gruppieren. Der Fehler wurde erst 1911 von Max Schlosser bei seiner Aufarbeitung der Fayyum-Fossilien verschiedener Sammlungen in Deutschland erkannt. Vor allem Schlossers Arbeit und später, 1926, die von Hikoshichiro Matsumoto erbrachten eine vielfältige Schliefer-Gemeinschaft im Fayyum, die die der heutigen Vertreter bei weitem übertraf. In der nachfolgenden Zeit kamen dann in anderen Regionen Afrikas Fossilformen der Schliefer zum Vorschein, so etwa in den 1920er Jahren in Namibia oder in den 1930er Jahren in Südafrika. Bei den letzteren handelte es sich um den ersten Nachweis ausgestorbener Vertreter der heutigen Arten. Auch in Asien gelangen in dieser Zeit erste Belege heute nicht mehr bestehender Linien der Schliefer. Schliefer in Südamerika? Eine Kontroverse entstand im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert mit der Ansicht einer ursprünglichen Verbreitung der Schliefer auch in Südamerika. Bereits Theophil Noack hatte 1894 auf die Ähnlichkeit der Schliefer mit den südamerikanischen Notoungulata hingewiesen. Bei den Notoungulata handelt es sich um eine sehr formenreiche, ausgestorbene Gruppe, die heute allgemein zu den „Südamerikanischen Huftieren“ gestellt wird. Noack bezog sich in seiner Schrift auf Florentino Ameghino, der fünf Jahre zuvor eine umfangreiche Fossiliensammlung aus Argentinien vorgestellt hatte. Einige der beschriebenen Schädel erinnerten Noack dabei an Schliefer. Ameghino teilte offenbar diese Auffassung und schuf im Jahr 1897 die Familie der Archaeohyracidae, in die er unter anderem Archaeohyrax stellte. Die Familie sah er als Vorläufer der Schliefer an, die sich seiner Meinung nach in Südamerika entwickelt hatten. Später führte er noch Gattungen wie Pseudhyrax oder Eohyrax ein. Seine Position über die Einbeziehung der Archaeohyracidae in die Schliefer bekräftigte Ameghino noch einmal im Jahr 1906 in einem Überblickswerk zur südamerikanischen Faunengeschichte. Zahlreiche Forscher jener Zeit standen dieser Interpretation kritisch gegenüber. Richard Lydekker verwies bereits 1896 in einer Antwort auf Noacks Aussagen auf die unterschiedlich gebauten Handgelenke bei Schliefern und Notoungulata hin, deren Wurzelknochen bei ersteren seriell, bei letzteren wechselseitig angeordnet sind. Auch brachte er paläogeographische Argumente gegen eine derartige Verwandtschaftsbeziehung hervor. Max Schlosser sprach sich zunächst für diese verwandtschaftliche Beziehung aus, kritisierte dann aber in seiner Aufarbeitung der Fossilien aus dem Fayyum im Jahr 1911 Ameghino und wandte sich gegen dessen Auffassung. Die Meinung einer engen Verwandtschaft der Notoungulata und der Schliefer wird heute nicht mehr geteilt, auch wenn einzelne Forscher bestimmte anatomische Ähnlichkeiten zwischen den Afrotheria und den „Südamerikanischen Huftieren“ herausgearbeitet haben. Molekulargenetische Untersuchungen machen eine engere Beziehung der Notoungulata zu den Unpaarhufern wahrscheinlicher. Aus heutiger Sicht sind die Archaeohyracidae eine weitgehend auf das Eozän beschränkte Gruppe früher Vertreter der Notoungulata, die sich durch eine gewisse Hochkronigkeit der Zähne auszeichnen. Aus eher traditionellen Gründen werden heute immer noch Gattungen der Archaeohyracidae mit einem Namenszusatz -hyrax eingeführt, so etwa 2008 mit Punohyrax. Eine Studie aus dem Jahr 2021 vereint allerdings die Notoungulata einschließlich der Archaeohyracidae zusammen mit einem Teil der übrigen „Südamerikanischen Huftiere“ in dem übergeordneten Taxon der Sudamericungulata und weist dieses als ausgestorbene Schwestergruppe der Schliefer aus. Die phylogenetische Einheit der „Südamerikanischen Huftiere“ wird wiederum in einer Untersuchung aus dem Jahr 2022 unterstrichen. Die systematische Stellung der Schliefer – eine forschungsgeschichtliche Debatte Im Laufe ihrer Forschungsgeschichte wurden die Schliefer unterschiedlichen systematischen Verwandtschaftsverhältnissen zugewiesen. Pallas und Storr hielten sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts für Vertreter der Nagetiere. Die Ansicht wurde aber zu diesem Zeitpunkt nicht in jedem Fall geteilt. Johann Karl Wilhelm Illiger schuf Anfang des 19. Jahrhunderts eine eigene Familie unter der Bezeichnung Lamnunguia für die Schliefer und übersetzte diese mit „Nagelhufer“, bezogen auf die charakteristische Hufbildung. Im gleichen Zeitraum beschrieb Georges Cuvier einen Schädel des Klippschliefers und erkannte eine nähere Beziehung zu anderen Huftieren. Daraufhin ordnete er sie (unter der Bezeichnung Hyrax) zu der von ihm benannten Gruppe der Pachydermes (Dickhäuter), in der er unter anderem auch die Rüsseltiere, Nashörner, Tapire, Flusspferde und Pekaris verwies. Cuvier sah die Schliefer dabei in einer Vermittlerrolle zwischen den Tapiren und Nashörnern. Unterstützt wurde diese vermutete nähere Verwandtschaft dadurch, dass die Schliefer Backenzähne besitzen, die in etwa denen von Nashörnern ähneln. Nachdem sich das Konzept der „Dickhäuter“ nicht durchgesetzt hatte, schloss Richard Owen die Schliefer in seiner Erstbeschreibung der Unpaarhufer im Jahr 1848 in diese Gruppe mit ein, während Othniel Charles Marsh sie in seinen konzeptionell ähnlichen Mesaxonia nicht berücksichtigte. Die Annahme einer näheren Verwandtschaft der Schliefer mit den Unpaarhufern hielt sich noch bis in die 1980er Jahre. So galten die Schliefer innerhalb der Perissodactyla als Schwestergruppe der Mesaxonia, die die Unpaarhufer im heutigen und traditionellen Sinne einnahmen (Nashörner, Pferde und Tapire). Parallel zu dieser Annahme wurde auch eine nähere Verwandtschaft zu den Rüsseltieren und Seekühen postuliert, was 1870 erstmals durch Theodore Gill Erwähnung fand. Allerdings formulierte Gill keine Bezeichnung für dieses Verwandtschaftsverhältnis (zuvor hatte 1834 Henri Marie Ducrotay de Blainville die Rüsseltiere und Seekühe unter dem Begriff Gravigrades vereint; diese Bezeichnung wurde im 19. Jahrhundert aber eher mit den Bodenfaultieren in Verbindung gebracht). Die unschlüssige Zuweisung der Hyracoidea zeigt sich auch in Edward Drinker Copes Bezeichnung Taxeopoda aus dem Jahr 1882, in die er die Schliefer aufgrund ihres besonderen Fußskeletts zusammen mit den Condylarthra, urtümlichen, heute ausgestorbenen Huftieren, gruppierte, während William Henri Flower und Richard Lydekker 1891 die Schliefer in dem übergeordneten Taxon Subungulata sahen, zusammen mit den Rüsseltieren, den Condylarthra, den sogenannten Amblypoda (Pantodonta und Dinocerata) und südamerikanischen Huftieren. Max Schlosser griff 1923 die Idee der Subungulata auf und vereinte unter diesen neben den Schliefern und den Rüsseltieren auch die Seekühe und die Embrithopoda. Im Jahr 1945 führte George Gaylord Simpson die Bezeichnung Paenungulata ein, unter der er die vorangegangenen Klassifizierungsversuche von Cope, Lydekker und Flower und vor allem Schlosser vereinte. Die Nichtweiterführung der Subungulata im Sinne Schlossers – der Begriff hatte sich in der Folgezeit sehr gut etabliert – war darauf zurückzuführen, dass er bereits 1811 von Illiger für eine Gruppe der Nagetiere, speziell der Meerschweinchenverwandten, verwendet worden war. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam die Debatte der näheren Verwandtschaft der Schliefer entweder mit den Rüsseltieren und Seekühen oder mit den Unpaarhufern wieder auf. Dazu wurden verschiedenste Argumente ausgetauscht. Einige Forscher sahen in der speziellen taxeopoden, also seriellen, Anordnung der Hand- und Fußwurzelknochen einen Hinweis auf eine nähere Verwandtschaft sowohl mit den Condylarthra als auch mit den Rüsseltieren, bei denen dieses Merkmal ebenfalls auftritt. Die meisten anderen Huftiere besitzen dagegen eine zueinander alternierende Anordnung der Knochen des Hand- und Fußgelenkes (diplarthrale Anordnung). Doch sahen andere Forscher die Taxeopodie der Schliefer und Rüsseltiere als konvergente Entwicklung an und befürworteten eine Stellung in der Nähe der Unpaarhufer. Dafür sollte unter anderem die sackartige hintere Ausbildung der Ohrtrompete (Eustachi-Röhre) des Mittelohres sprechen, die sowohl ein Merkmal der Schliefer als auch der Unpaarhufer ist. Somit konnte die Frage auf morphologisch-anatomischen Weg nicht eindeutig geklärt werden, da für beide Möglichkeiten Argumente vorlagen. Bereits Anfang der 1980er Jahre ergaben sich durch innovative Forschungsansätze neue Einblicke in die verwandtschaftlichen Beziehungen der Schliefer zu anderen Tiergruppen. So verwiesen Untersuchungen von Strukturproteinen die Schliefer in die Nähe der Seekühe, der Elefanten und des Erdferkels. Dies konnte Ende der 1990er Jahre mit Hilfe von molekulargenetischen Analysen bestätigt werden. Diese zeigten, dass die Schliefer zusammen mit den Elefanten und Seekühen sowie mit dem Erdferkel und darüber hinaus auch mit den Tenreks, den Goldmullen und den Rüsselspringern basierend auf genetischen Gemeinsamkeiten eine Einheit bilden, die Afrotheria genannt wurde. Zahlreiche weitere Untersuchungen unterstützen diese Ansicht bisher. Stammesgeschichte Adaptive Radiation Die Schliefer sind eine sehr alte Ordnung und haben ihren Ursprung in Afrika. Im Paläogen, als Afrika eine isolierte Insel ohne Verbindung zu anderen Festlandsmassen war, nahmen sie die Nische der heutigen Paarhufer und Unpaarhufer ein, die erst im Neogen beginnend vor etwa 23 Millionen Jahren einwanderten. Dies hatte zur Folge, dass die Schliefer vor allem im Paläogen eine extrem hohe Formenvielfalt aufwiesen, die von kleinen, hasengroßen Tieren bis hin zu solchen mit den Ausmaßen eines kleineren Nashorns reichten. Dabei waren sie sowohl an eine schwere Gangart angepasst, brachten aber auch schnellläufige oder sich mit Sprüngen fortbewegende Vertreter hervor, ebenso wie einige eine baumkletternde Lebensweise verfolgten. Neben den ebenfalls aus Afrika stammenden Rüsseltiere stellen die Schliefer somit eine der bedeutendsten endemischen Gruppen des Kontinentes dar. Innerhalb der Stammesgeschichte der Schliefer können drei verschiedene Radiationsphasen unterschieden werden. Die erste umfasst die frühesten Formen des Paläogen mit den Familien der Namahyracidae, Geniohyidae, Saghatheriidae und Titanohyracidae, die eine hohe ökologische und morphologische Diversität erreichten. Diese formten ein Schlüsselelement in den frühtertiären Säugetiergemeinschaften Afrikas und gelten zudem als wichtige Anzeiger für die Biostratigraphie. Die zweite Radiationsphase beschränkt sich auf die mit besonders hochkronigen Zähnen ausgestatteten Pliohyracidae und begann im ausgehenden Oligozän. Sie stellte den Grundstock für die späteren eurasischen Schlieferformen, die erstmals im Miozän nachweisbar sind und später enorme Körpergrößen erreichten. Im Oberen Miozän erfolgte die dritte, weitaus weniger Auswirkung erzielende Radiationsphase. Diese durchliefen die heute noch bestehenden Procaviidae, deren Vertreter sich aufgrund des ansteigenden und starken Konkurrenzdruckes, verursacht durch die nun in Afrika dominierenden eurasischen Huftiere, in randliche ökologische Nischen einnisteten. Dadurch konnten diese modernen Schliefer der einst formenreichen Hyracoiden bis in die heutige Zeit überleben. Eozän Das früheste gesicherte Auftreten der Schliefer datiert in den Übergang vom Unteren zum Mittleren Eozän vor etwa 50 Millionen Jahren. Bedeutend sind hier die Funde von El Kohol am Südrand des Atlas in Algerien. Es handelt sich überwiegend um Unterkieferreste und isolierte Zähne, die der Gattung Seggeurius aus der Familie der Geniohyidae zugewiesen werden. Charakteristisch war das bunodonte (höckerig gestaltete) Kauflächenmuster der Molaren, was die Gattung als sehr urtümlich innerhalb der Schliefer einstuft. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Vertreter der Namahyracidae. Noch älter könnte ein isolierter hinterer Backenzahn aus dem Ouled-Abdoun-Becken in Marokko sein, der dem Unteren Eozän angehört und eventuell gleichfalls von Seggeurius stammt. Ähnlich alt wie El Kohol sind die Funde von Chambi in Tunesien, die neben einigen kleineren Schlieferformen mit Titanohyrax auch einen ersten Vertreter der Titanohyracidae erbrachten; der Vertreter erreichte aber noch nicht die riesigen Ausmaße seiner späteren Verwandten. Noch im Übergang vom Mittleren zum Oberen Eozän erscheint Bunohyrax, überliefert anhand einiger Zähne aus Bir el-Ater in Algerien, das zu den eher urtümlichen Formen mit einfach gestalteten Kauflächenmustern auf den Molaren gehört und dadurch mit Seggeurius näher verwandt ist. Aus dem überaus fossilreichen und bedeutenden Fayyum in Ägypten stammt Dimaitherium, ein kleiner Schliefer aus der Qasr-el-Sagha-Formation, der möglicherweise ein agiler Kletterer war. Sein Alter wird auf rund 37 Millionen Jahre geschätzt. Nach anfänglich unklaren Verwandtschaftsbeziehungen wird die Gattung seit dem Jahr 2015 zur Familie der Namahyracidae gestellt. Die Gebel-Qatrani-Formation des Fayyum ist von herausragender Bedeutung. Sie datiert allgemein zwischen 34 und 28 Millionen Jahren, womit die unteren Abschnitte noch in das ausgehende Eozän zu stellen sind. Einen bisher singulären Auftritt in diesem Zeitraum hat Antilohyrax, ein Vertreter der Titanohyracidae. Von ihm konnten mehrere vollständige Schädel geborgen werden. Andere bedeutende Gattungen haben in diesem unteren Formationsabschnitt ihren teilweise ersten Nachweis, wie etwa Saghatherium oder Thyrohyrax, beide aus der Gruppe der Saghatheriidae. Abseits all dieser nordafrikanischen Fundstellen ist bereits im Mitteleozän Namahyrax aus dem Sperrgebiet von Namibia über ein Fragment des Vorderschädels nachgewiesen, das extrem niederkronige Zähne besaß und wohl in näherer Beziehung zu Dimaitherium und Seggeurius stand. Ein zusätzlich aufgefundener Unterkiefer sticht durch seine lang ausgezogene Symphyse hervor, wodurch die vorderen Zähne deutlich von den Backenzähnen getrennt waren. Wahrscheinlich besaß Namahyrax sensible und bewegliche Lippen, was auf eine spezielle Ernährungsweise schließen lässt. In der gleichen Region konnte das nur wenig jüngere, aber deutlich größere Rupestrohyrax anhand eines Schädels beschrieben werden, dass aber eine Verwandtschaftsgruppe mit Titanohyrax bildet. Insgesamt erscheinen diese frühen Schliefer des Eozäns schon sehr vielfältig mit unterschiedlichsten Anpassungserscheinungen. Vor allem der Bau der Backenzähne, die zu den häufigsten Fossilresten der frühen Schliefer gehören, zeigt verschiedenste Nahrungspräferenzen und damit eine Anpassung an unterschiedliche Lebensweisen an. So verfolgten die archaischen Geniohyidae und Namahyracidae mit ihrem bunodonten Kauflächenmuster eine eher allesfresserische Ernährung ähnlich den heutigen Schweinen. Dem gegenüber zeigen die saghatheriiden und titanohyraciden Schliefer mit zwei querstehenden Schmelzleisten (bilophodont) auf den Kauoberflächen schon stärkere Spezialisierungen. Demnach war das riesenhafte Titanohyrax ein strikter Blattfresser. Das wesentlich kleinere Antilohyrax bevorzugte allgemein weiche Pflanzenkost, erkennbar an dem selenodonten Überbau der Zähne, der an die Kauflächenmuster heutiger Wiederkäuer erinnert. Gemäß seinem Bewegungsapparat war Antilohyrax sehr schnellläufig und wohl auch zum Springen befähigt. Saghatherium wiederum vertilgte aufgrund eines massiv gestalteten Unterkiefers auch härtere Pflanzennahrung wie Samen und Nüsse. Thyrohyrax war ein sehr kleiner Vertreter der frühen Hyracoiden und wog rund 6,5 kg, er liegt damit in der Variationsbreite der heutigen Schliefer. Er stellte einen agilen Kletterer dar, sein Schädelbau und die Zahngestaltung erinnern frappierend an die heutigen Baumschliefer, die gegenüber den anderen rezenten Formen eine längere Schnauze und niederkronigere Zähne aufweisen. Möglicherweise gehört Thyrohyrax zu einer größeren Ursprungsgruppe kleiner Hyracoiden, aus denen die späteren procaviiden Schliefer entstanden. Bei zahlreichen frühen Schliefern wie etwa Thyrohyrax und Saghatherium tritt eine anatomische Besonderheit in Form von kammerartigen Hohlräumen im Unterkiefer auf, die bei heutigen Schliefern nicht belegt ist. Über die Funktion der Kammern wird diskutiert, möglicherweise stehen sie im Zusammenhang mit der Lautgebung. Da die Kammern scheinbar nur bei männlichen Tieren ausgebildet sind, drücken sie womöglich einen Sexualdimorphismus aus. Oligozän Eine große Vielfalt erreichten die Schliefer im Oligozän mit mehr als einem Dutzend nachgewiesenen Gattungen aus vier Familien. Die Reichhaltigkeit spiegelt sich vor allem in der Gebel-Qatrani-Formation im Fayyum-Becken wider. So treten die aus den unteren Sequenzen der Gesteinsbildung bekannten Formen wie Bunohyrax, Saghatherium oder Thyrohyrax auf, weiterhin erscheinen Pachyhyrax, ein vermutlich semi-aquatisch lebender Schliefer, oder Megalohyrax, eine große Form von 160 kg Gewicht und 39 cm langem Schädel. Titanohyrax übertraf an Körpergröße in jener Zeit alle anderen Schliefer und erreichte ein Gewicht von 800 bis 1000 kg, ist aber insgesamt eher selten belegt. Bisher einmalig sind die Funde eines nahezu vollständig artikulierten Skelettes und mehrerer weiterer Teilskelette, die in Gebel al Hasawnah in Libyen zum Vorschein kamen; sie gelten als die bisher einzigen eines paläogenen Schliefers überhaupt. Die Skelette repräsentieren Saghatherium und erlaubten erstmals die vollständige Rekonstruktion eines kleinen ausgestorbenen Hyracoiden, dessen Körperbau dem der heutigen Formen deutlich ähnelte. Dadurch konnte anhand des Fußbaus die taxeopode Anordnung der Wurzelknochen erstmals bei den frühen Schliefern vollumfänglich dokumentiert werden. Es finden sich aber auch auffallende Unterschiede: So trugen die frühen Schliefer offensichtlich Krallen, die hufartigen Nägel der heutigen Arten stellen damit wohl spätere Bildungen dar. Außerdem bewegten sich die frühen Schliefer als Zehengänger fort, abweichend vom Sohlengang der rezenten Angehörigen. Aus paläobiogegraphischer Sicht hervorzuheben sind die unteroligozänen Funde von Malembo in Angola, die einzelne Zähne von Geniohyus und Pachyhyrax beinhalten, erstere Form war zuvor nur aus dem nordafrikanischen Fayyum-Gebiet dokumentiert. Auf ein Alter von rund 33 Millionen Jahren datieren die Erstnachweise von Schliefern auf der Arabischen Halbinsel, die damals mit Afrika noch eine Einheit bildete. So sind von Taqah und Thaytiniti in Oman Reste von Saghatherium und Thyrohyrax geborgen worden. In der nachfolgenden Zeit sind Schliefer in moderater Vielfalt in Chilga in Äthiopien überliefert, das auf etwa 27 Millionen Jahre datiert. Unter den meist fragmentierten Knochenmaterial dominieren vor allem ältere Formen wie Pachyhyrax, Bunohyrax und Megalohyrax. Im weiteren Verlauf des Oligozän sind nur wenige Fossilfundstellen aus Afrika bekannt. Bedeutend ist hier die Fundstelle Lothidok im nordwestlichen Kenia, welche auf einen Zeitraum von 27 bis 24 Millionen Jahre datiert. Auch hier sind ältere Formen der Geniohyidae mit Brachyhyrax vertreten, die Saghatheriidae werden durch Thyrohyrax und die Titanohyracidae durch Afrohyrax repräsentiert. Als einer der frühesten Vertreter der Pliohyracidae tritt zudem Meroëhyrax auf, dessen Fundmaterial zahlreiche Unterkieferfragmente umfasst. Bei ihm zeichnen sich schon stärker hochkronige Backenzähne ab, was typisch für die Pliohyracidae ist, aber bei den früheren Linien nicht auftritt. Aus der Nsungwe-Formation in Tansania, die auf etwa 25 Millionen Jahren zu datieren ist, stammt der Nachweis von Rukwalorax. Allerdings liegt von diesem bisher nur ein unterer, innerer Schneidezahn vor, der aber charakteristisch und ähnlich wie bei zahlreichen anderen Schliefern auch durch mehrere seitlich aneinander stehende hohe Stifte gekennzeichnet ist, so dass die Zahnkrone kammartig aufgefächert wirkt. In seiner höheren Anzahl an Stiften erinnert der Zahn im Gesamthabitus ein wenig an den des älteren Antilohyrax. Miozän Anfänglich traten noch ältere Linien auf, wie Brachyhyrax und Afrohyrax in Kenia und Uganda, letzteres hatte aber eine weitaus größere Verbreitung und ist auch auf der Arabischen Halbinsel und im südlichen Afrika nachgewiesen. Im frühesten Mittelmiozän erscheint noch Regubahyrax, ein blätterfressender Vertreter der Saghatheriidae, der anhand mehrerer Unterkieferfragmente aus Libyen beschrieben wurde. Im Miozän kam es jedoch zum Aufstieg der Pliohyracidae, eine hoch spezialisierte Gruppe mit hochkronigen Zähnen, die aus saghatheriiden Schliefern hervorging. Das bereits aus dem Oligozän bekannte, kleine Meroëhyrax tritt auch im Unteren Miozän Ostafrikas auf. Ab dem späten Unter- und dem frühen Mittelmiozän sind weitere Formen der Pliohyracidae in Afrika nachgewiesen. Hierzu gehört vor allem das kleine, nur 4,5 kg schwere Prohyrax, von dem zahlreiche Funde im südlichen Afrika zu Tage kamen, so unter anderem Ober- und Unterkieferfragmente in Langental, Elisabethfeld und Arrisdrift in Namibia, an letzterer macht Prohyrax mehr als 40 % aller Fossilfunde aus. Einige stammen auch aus Ostafrika. Parapliohyrax, das mit rund 90 kg schon deutlich größer war als seine Vorgänger, tritt erstmals im Mittelmiozän auf und ist mit Funden vom östlichen und nördlichen Afrika belegt. Zu Beginn des Obermiozäns starben die Pliohyracidae in Afrika wieder aus. Der jüngste Fund, ein isolierter Zahn eines unbestimmten Vertreters aus der Namurungule-Formation der Samburu-Berge in Kenia, ist auf etwa 9 Millionen Jahre taxiert. Etwa eine Million Jahre älter ist der erste Nachweis procaviider Schliefer, der mit zahlreichen Funden eines erwachsenen Individuums und zweier Jungtiere aus den Otavibergen in Namibia stammt. Sie stellen ausgestorbene Vertreter des heutigen Buschschliefers dar. Dem Baumschliefer werden Funde aus Lemudong’o in Kenia zugewiesen, die ganz an das Ende des Miozäns vor etwa 6,1 Millionen Jahren gestellt werden. Das Schließen des Tethys-Ozeans und die Entstehung einer Landbrücke nach Eurasien ermöglichte es den Schliefern ähnlich den Rüsseltieren Afrika zu verlassen, allerdings gelang dies ausschließlich Vertretern der Pliohyracidae. Der älteste eindeutige Nachweis eines Hyracoiden außerhalb Afrikas (und der verbundenen Arabischen Halbinsel) ist aus der untermiozänen Pandánassa-Formation bei Mélambes auf Kreta in Griechenland bekannt. Dabei handelt es sich um einen beschädigten Unterkiefer und ein Fersenbein, es ist aber unklar, ob die Funde mit Pliohyrax oder Prohyrax in Verbindung stehen. Pliohyrax wird als Nachfahre von Parapliohyrax angesehen und war im westlichen Eurasien weit verbreitet, die meisten Funde datieren in das Obermiozän. Bedeutende Fossilien stammen aus Casablanca und Can Llobateres in Spanien, sie umfassen meist aber isolierte Zähne und vereinzelt postcraniales Skelettmaterial. Weitere Funde wurden in Frankreich entdeckt, aus dem östlichen Mittelmeerraum sind die Funde von Pikermi und Samos (beides Griechenland) und von verschiedenen Fundstellen in der Türkei hervorzuheben. Ein Unterkiefer stammt wiederum aus Maragheh im Iran. Im Gegensatz zu den Pliohyraciden Afrikas erreichten die Formen in Eurasien eine recht hohe Vielfalt. Sie nahmen im Laufe ihrer Entwicklung stark an Körpergröße zu und entwickelten extrem hochkronige Zähne. Die Zunahme der Kronenhöhe der Backenzähne lässt vermuten, dass die Schliefer jener Zeit einen höheren Anteil an Gras konsumierten. Pliozän und Pleistozän Im Pliozän und im Pleistozän war Afrika ausschließlich von Vertreter der Procaviidae besiedelt. Die Procaviidae unterscheiden sich von den anderen Schliefern durch ihr reduziertes Vordergebiss. Vor allem fossile Verwandte des heutigen Klippschliefers sind recht häufig vertreten, die ältesten Fund liegen aus Langebaanweg im südwestlichen Afrika vor und gehören in den Beginn des Pliozäns vor rund 5 Millionen Jahren. Auch die meisten anderen Fossilien beschränken sich weitgehend auf das südliche Afrika, darunter sind einige von bedeutenden Fundstellen wie Swartkrans, Sterkfontein oder Makapansgat. Neben den drei heute noch bestehenden Gattungen tritt zusätzlich im Pliozän noch Gigantohyrax im südlichen und östlichen Afrika auf, der aber im Gegensatz zu seinem Namen nur unwesentlich größer wurde als die heutigen Schliefer. Abweichend von den relativ kleinen Procaviiden in Afrika entwickelten die Pliohyracidae in Eurasien riesenhafte Formen. Allerdings hatten sie nach dem Ende des Miozäns die europäischen Regionen weitgehend wieder verlassen. Aus dem Pliozän des heutigen Georgiens ist das nahe mit Pliohyrax verwandte Kvabebihyrax überliefert, das etwa 350 kg wog und dessen Gestaltung der Schnauze eine semi-aquatische Lebensweise mit Ernährung von Wasserpflanzen vermuten lässt. Mit einem Alter von rund 3 Millionen Jahren ist es der jüngste Fund im westlichen Eurasien. Ähnlich alt und ebenfalls nahe verwandt ist Sogdohyrax aus Tadschikistan, von welchem aber nur ein fragmentierter Schädels gefunden wurde. Die Vertreter der Gattung erreichten ein Gewicht von bis zu 820 kg. Anhand der Zahnmorphologie wird teilweise angenommen, dass die Gattung synonym zu Pliohyrax ist. In das ausgehende Pliozän datiert weiterhin ein Teilschädel von Hengduanshanhyrax aus der Wangbuding-Formation in der chinesischen Provinz Sichuan. Die östlichste und nördlichste Verbreitung aller Hyracoiden weist Postschizotherium auf, das ursprünglich als Angehöriger der Chalicotheriidae aus der Gruppe der Unpaarhufer galt. Die Gattung stellte mit einem Gewicht von etwa 1170 kg auch den größten Vertreter der Pliohyracidae dar. Ein bisher singulärer Fund stammt aus Udunga westlich des Baikalsees, der als einzige Fundregion für eurasische Hyracoiden nördlich des 45. Breitengrades liegt. Das überwiegende Fossilmaterial ist bisher aus China berichtet worden. Zu den jüngsten Funden zählen fünf Teilschädel und zugehörige Unterkieferfragmente aus dem Tianzhen-Becken in der Provinz Shanxi, die dem Altpleistozän angehören. Offensichtlich starben die Pliohyracidae im Altpleistozän aus, da jüngere Funde bisher nicht bekannt sind. Insgesamt ist die Fossilüberlieferung der Pliohyracidae in Eurasien bisher aber zu lückenhaft, um eine genauere Verbreitungsgeschichte der Gruppe zu erhalten. Etymologie Klippschliefer sind in Palästina seit Jahrtausenden bekannt und werden schon in der Bibel viermal erwähnt. Das hebräische Wort שפן (shaphan) für den Klippschliefer bedeutet so viel wie „der sich Verbergende“ und bezieht sich auf seine Lebensweise in Felsklüften. In den meisten Regionen Europas waren Schliefer unbekannt, die verschiedenen Bibelübersetzungen verglichen den shaphan daher meist mit regional vertrauten Tieren wie dem Kaninchen, dem Igel oder dem Murmeltier. Martin Luther übersetzte in seiner Gesamtübersetzung der Bibel 1534 den shaphan mit „Caninchen“, erst die Revision der Lutherbibel von 1912 tauschte die fehlerhafte Deutung durch die Bezeichnung „Klippdachs“ aus. Der deutsche Trivialname „Schliefer“ leitet sich vom Verb schliefen ab, das „kriechen“ beziehungsweise speziell „sich schleifend oder kriechend in einem engen Raume bewegen“ bedeutet. Das Substantiv „Schliefer“ bezeichnet allgemein ein „Ding, welches schliefet“. Dachshunde wurden daher früher – weil sie in die Dachsröhren kriechen – auch „Dachsschliefer“ genannt. Der Name „Schliefer“ wurde bereits 1792 von Johann Christian von Schreber in seinem Werk Die Säugthiere in Abbildungen nach der Natur mit Beschreibungen benutzt. Im englischen Sprachgebrauch ist die umgangssprachliche Bezeichnung hyrax üblich, was sich von Johann Hermanns Gattungsnamen Hyrax ableitet. Dagegen bezieht sich im südlichen Afrika das Wort dassie auf einen Schliefer. Die Bezeichnung wurde von den burischen Kolonisten Südafrikas geprägt, sie geht auf das niederländische Wort das zurück, welches „Dachs“ bedeutet (dassie dementsprechend „Dächschen“). Die französische Sprache wiederum kennt das Wort daman. Dieses geht auf den daman Israel des englischen Klerikers und Reisenden Thomas Shaw zurück, der die Bezeichnung 1738 gebrauchte. Shaw verwies dabei wiederum auf Prospero Alpini, der Ende des 16. Jahrhunderts den Klippschliefer Ägyptens als agnus filiorum Israel („Lamm der Kinder Israels“) erwähnte. Der daman Israel lässt sich dabei eventuell auf ein Missverständnis zurückführen, da im Arabischen die Klippschliefer mit ganamn banî israîl („Vieh der Kinder Israels“) oder rhanem israel („Schaf der Israeliten“) benannt werden. Die Gleichsetzung von Kaninchen und Klippschliefer ist aber nicht nur auf die Bibel beschränkt: Die Phönizier hielten einer gängigen Hypothese zufolge um 1000 v. Chr. auf der Iberischen Halbinsel gesichtete Kaninchen für Schliefer und gaben ihr den Namen I-Shapan-im („Land der Schliefer“). Die Römer wandelten dies später in den lateinischen Namen Hispania um. Die Schliefer waren zu dem Zeitpunkt dort aber schon längst ausgestorben. Bedrohung und Schutz Die Schliefer werden hauptsächlich wegen ihres Fleisches und ihrer Felle gejagt. Dies kann zu deutlichen Rückgängen der lokalen Bestände führen. Für die Baumschliefer stellt die Abholzung der Wälder und Fragmentierung der Landschaftsräume eine Bedrohung dar. Der Klippschliefer gilt mitunter in einigen Regionen als Schädling. Die IUCN führt gegenwärtig (2018) lediglich den Bergwald-Baumschliefer in der Vorwarnstufe „potentiell gefährdet“ (near threatened), die anderen Arten sieht die Umweltschutzorganisation als nicht gefährdet an. Alle Vertreter der Schliefer sind in Naturschutzgebieten präsent. Teilweise sind aber Untersuchungen zur tatsächlichen Verbreitung der Tiere notwendig. Literatur Robert M. Eley: The hyrax: a most mysterious mammal. Biologist 41 (4), 1994, S. 141–144. Herbert Hahn: Von Baum-, Busch- und Klippschliefern, den kleinen Verwandten der Seekühe und Elefanten. Wittenberg, 1959, ISBN 3-7403-0193-7. Angela Gaylard: Procavia capensis (Pallas, 1766) – Rock hyrax. In: John D. Skinner und Christian T. Chimimba (Hrsg.): The Mammals of the Southern African Subregion. Cambridge University Press, 2005, S. 41–50. Hendrik Hoeck: Family Procaviidae (Hyraxes). In: Don E. Wilson und Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Volume 2: Hooved Mammals. Lynx Edicions, Barcelona 2011, ISBN 978-84-96553-77-4, S. 28–47. Ronald M. Nowak: Walker's Mammals of the World. Johns Hopkins University Press, 1999, ISBN 0-8018-5789-9. Jeheskel Shoshani, Paulette Bloomer und Erik R. Seiffert (einschließlich weiterer Autoren): Order Hyracoidea – Hyraxes. In: Jonathan Kingdon, David Happold, Michael Hoffmann, Thomas Butynski, Meredith Happold und Jan Kalina (Hrsg.): Mammals of Africa Volume I. Introductory Chapters and Afrotheria. Bloomsbury, London 2013, S. 148–171. Einzelnachweise Weblinks Hyraxes (englisch) Hyrax vocalizations Rufe der Schliefer, aufgenommen im Rahmen des Eastern Africa Primate Diversity and Conservation Program, zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017
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https://de.wikipedia.org/wiki/FC%20Arsenal
FC Arsenal
Der Arsenal Football Club – auch bekannt als FC Arsenal, Arsenal FC, (The) Arsenal, (The) Gunners (deutsche Übersetzung: „Schützen“ oder „Kanoniere“) oder im deutschsprachigen Raum auch Arsenal London genannt – ist ein 1886 gegründeter Fußballverein aus dem Stadtteil Holloway des Nordlondoner Bezirks Islington. Mit 13 englischen Meisterschaften und 14 FA-Pokalsiegen zählt der Klub zu den erfolgreichsten englischen Fußballvereinen. 1886 wurde der Verein von Arbeitern in Woolwich als Dial Square gegründet. Unter Trainer Herbert Chapman gewann der Verein 1930 erstmals den FA Cup, im Jahr darauf wurde man erstmals englischer Meister. Insgesamt wurden in den 1930er Jahren fünf nationale Meisterschaften und zweimal der FA Cup gewonnen. Das erste Double gewann der Verein unter Bertie Mee. In den 1980ern und zu Beginn der 1990er Jahre führte George Graham den Verein zu zwei Meisterschaften, einem Double aus den zwei heimischen Pokalen FA Cup und Ligapokal und einem Titelgewinn im Europapokal der Pokalsieger. Unter dem Trainer Arsène Wenger gewann Arsenal zwei weitere Doppelerfolge aus englischer Meisterschaft und FA Cup in einer Spielzeit und verlor dabei während der kompletten Meisterschaftssaison 2003/04 in der Liga kein einziges Spiel. In der Spielzeit 2005/06 zog Arsenal erstmals in seiner Geschichte in das Finale der Champions League ein. Mit 14 Siegen ist Arsenal Rekordsieger des FA Cups, zuletzt wurde der Pokal 2020 gewonnen. Seine Heimspiele trägt der Verein seit 2006 im aktuell 60.704 Zuschauer fassenden Emirates Stadium aus. Zuvor war seit 1913 das Highbury im gleichnamigen Stadtteil die Heimstätte der Gunners. Geschichte Frühzeit (1886–1910) Arsenal wurde 1886 als Dial Square von einer Gruppe von Arbeitern gegründet, die in der gleichnamigen Werkstatt beim Rüstungsfabrikanten „Royal Arsenal“ in Woolwich im Südosten Londons beschäftigt waren. Angeführt wurde die Mannschaft von dem Schotten David Danskin, der auch für den Verein den ersten Ball erstand. Mit Fred Beardsley stieß zudem ein früherer Torhüter von Nottingham Forest zu der Mannschaft und besorgte später seiner neuen Mannschaft von seinem alten Verein einen Satz roter Trikots, wobei diese Farbe noch bis heute in der Spielkleidung Verwendung findet. Dial Square absolvierte seine erste Partie am 11. Dezember 1886 gegen die Eastern Wanderers auf einem offenen Spielfeld auf der Halbinsel Isle of Dogs und gewann diese mit 6:0. Der Verein wurde kurze Zeit später in Royal Arsenal umbenannt, wobei dies gemäß den historischen Aufzeichnungen am 1. Weihnachtstag stattfand. Royal Arsenal spielte zunächst auf einem allgemein zugänglichen Platz in Plumstead und zog 1888 zum nahe gelegenen Manor Ground. Bereits 1890 zog der Verein weiter zu dem benachbarten Invicta Ground, bevor er drei weitere Jahre später zum Manor Ground zurückkehrte. Royal Arsenal konnte in dieser Zeit bereits seine ersten Titel gewinnen, wie beispielsweise den „Kent Senior Cup“ im Jahr 1890 und den „London Senior Cup“ nur ein weiteres Jahr danach. Erstmals am FA Cup nahm Royal Arsenal 1889 teil, wo jedoch der große Leistungsunterschied zwischen dem Klub und den professionellen Mannschaften aus Nordengland deutlich wurde. Als weitere Gefahr kam zunehmend das aggressive Abwerben der eigenen Amateurspieler durch Profivereine hinzu, was schließlich dazu führte, dass Royal Arsenal selbst ein Profiverein wurde. Zur gleichen Zeit änderte der Verein seinen Namen in Woolwich Arsenal um. Woolwich Arsenals Aufstieg zum Profiklub wurde von vielen Amateurklubs im Süden Englands missbilligt, was sich darin äußerte, dass der Verein von lokalen Wettbewerben ausgeschlossen wurde. Als man lediglich Freundschaftsspiele und Partien im FA Cup absolvieren konnte, versuchte der Klub ein südliches Pendant zur Football League ins Leben zu rufen. Dieses Vorhaben gelang nicht und führte dazu, dass der Verein einer ungewissen Zukunft entgegen sah. Die Football League rettete Woolwich Arsenal: Als erster südenglischer Verein überhaupt durfte er 1893 zunächst in der zweitklassigen Second Division am Profiligabetrieb teilnehmen. In der Second Division absolvierte Woolwich Arsenal elf Spielzeiten und belegte dabei vor der Verpflichtung von Harry Bradshaw im Jahr 1899 zumeist einen Mittelfeldplatz. Durch einige spektakuläre Neuverpflichtungen – darunter der erste englische Nationalspieler Arsenals, Torhüter Jimmy Ashcroft, und Mannschaftskapitän Jimmy Jackson – konnte 1904 der Aufstieg in die First Division realisiert werden. Bevor der Verein jedoch auch nur eine Partie in der obersten Spielklasse absolviert hatte, war Bradshaw zum FC Fulham gewechselt. Trotz einiger Achtungserfolge im FA Cup, als man 1906 und 1907 jeweils das Halbfinale erreichen konnte, entwickelte sich der Klub fortan negativ. Als Hauptgrund für den Niedergang galten die anhaltenden finanziellen Probleme, die den Verein trotz der Hochkonjunktur im englischen Fußball des frühen 20. Jahrhunderts begleiteten. Die Probleme waren auch auf die geographische Lage des Klubs zurückzuführen, die sich aufgrund der unterbevölkerten Region in Plumstead in geringen Zuschauerzahlen und -einnahmen auswirkten. Um liquide zu bleiben, musste Woolwich Arsenal seine besten Spieler wie beispielsweise Ashcroft, Tim Coleman und Bert Freeman verkaufen und platzierte sich dadurch immer weiter unten in der Tabelle, was wiederum die finanzielle Situation weiter verschlimmerte. Dies führte zu einer Situation, in der der Verein kurz vor einem Bankrott stand, der erst durch den Aufkauf des Geschäftsmannes Sir Henry Norris im Jahr 1910 abgewendet werden konnte. Umzug nach Highbury (1910–1925) Norris war sich über die Probleme und den Zusammenhang mit dem Standort von Woolwich Arsenal bewusst und agierte verzweifelt, um die Einnahmeseite des Vereins zu steigern. Zunächst beabsichtigte er eine Fusion mit dem FC Fulham, zumal er bei beiden Klubs in der Vereinsführung engagiert war. Nachdem dieses Vorhaben von der Football League verhindert worden war, gab Norris diesen Plan auf und suchte nach Möglichkeiten eines Umzugs. Im Jahr 1913, als der Verein als Tabellenletzter in die Second Division abstieg, zog Woolwich Arsenal vom Südosten Londons in das Highbury in den Norden der Stadt. Trotz großer Einwände von sowohl den in Woolwich ansässigen Vereinsanhängern als auch von Einwohnern des Stadtteils Highbury setzte Norris den Umzug hartnäckig durch, wobei dieser von einer Spende des Arsenal-Inhabers über vermutlich 125.000 Pfund für den Bau des neuen Stadions begleitet wurde. Als zusätzlicher Nebeneffekt führte der Umzug dazu, dass der ebenfalls im Südosten Londons beheimatete Verein Charlton Athletic zu einem Profiklub wurde. Nachdem der Verein 1914 den Zusatz „Woolwich“ abgelegt hatte, trat er fortan als „The Arsenal“ auf und nahm 1919 wieder an der First Division teil, obwohl er in der letzten Spielzeit vor dem Ersten Weltkrieg 1914/15 in der zweiten Liga nur den fünften Platz belegt hatte. Der Grund dafür war die Erweiterung der First Division von 20 auf 22 Teilnehmer, die dazu führte, dass bei der Hauptversammlung der Football League zwei weitere Klubs für die First Division auserwählt wurden. Einer der zusätzlich vergebenen Plätze wurde an den FC Chelsea vergeben, der zuvor als Neunzehnter der First Division eigentlich hätte absteigen müssen. Als weiterer Kandidat für den zweiten Platz standen dann zunächst mit Tottenham Hotspur der ursprünglich Tabellenletzte und mit dem FC Barnsley und den Wolverhampton Wanderers die dritt- und viertplatzierten Vereine aus der Second Division zur Disposition. Die Football League stellte jedoch historische Gründe über den sportlichen Erfolg und entschied sich deshalb für den nur fünftplatzierten Verein The Arsenal. Norris hatte argumentiert, dass Arsenal aufgrund der langjährigen Verdienste für den Ligafußball sowie als erster Ligaverein aus dem Süden den Aufstieg verdiente. Das zuständige Komitee der Football League schloss sich dieser Meinung an und votierte mit 18 Stimmen gegen nur acht Contra-Stimmen für die Bevorzugung von Arsenal gegenüber Tottenham, was in der weiteren Geschichte mitverantwortlich für die lang anhaltende Rivalität zwischen den beiden Klubs sein sollte. Dabei wurde Arsenal vorgeworfen, hinter den Kulissen gemauschelt und in der Person von Sir Henry Norris Bestechungen getätigt zu haben. Ebenfalls wurde bei dem Prozess kritisch beäugt, dass Norris eine persönliche Freundschaft zu John McKenna pflegte, der gleichzeitig Vorsitzender des FC Liverpool und der Football League war. Obwohl keine zuverlässigen Beweise ans Licht gekommen sind, führten doch weitere Aspekte diverser Finanztransaktionen von Norris, die nicht im direkten Zusammenhang mit der Streitfrage um den Aufstieg standen, zu zahlreichen Spekulationen in der Angelegenheit. Seit der Wiederaufnahme in der obersten Spielklasse blieb Arsenal fortan ohne Unterbrechung in dieser Liga und ist damit Rekordhalter bezogen auf die Zugehörigkeitsdauer zu der englischen Eliteliga. Obwohl der Umzug nach Highbury einen größeren Zuschauerzuspruch zur Folge hatte und die finanziellen Perspektiven deutlich verbesserte, war Arsenals Rückkehr in die First Division nicht sofort von Erfolg gekrönt. Unter Leslie Knighton schloss Arsenal nie besser als auf dem neunten Platz ab und war in der Saison 1923/24 einem erneuten Abstieg bedrohlich nahe. Auch in der anschließenden Saison war trotz eines recht komfortablen Sieben-Punkte-Abstands zur Abstiegszone der 20. Tabellenplatz eine erneute Enttäuschung und Norris entließ Knighton im Mai 1925, um an seiner Stelle mit Herbert Chapman den vormaligen Trainer von Huddersfield Town zu verpflichten. Die Ära Chapman (1925–1934) Chapman führte bei Arsenal zahlreiche Reformen durch und modernisierte dabei vor allem das Training und den Bereich Physiotherapie. Des Weiteren war es auf ihn zurückzuführen, dass auf den Trikots erstmals Nummern hinzugefügt wurden und sich die Farben dahingehend änderten, dass sich zu den vormals rein roten Hemden die Ärmel nun weiß absetzten. Ebenfalls in Chapmans Amtszeit legte der Verein den „The“-Artikel ab und der Pionier stand mutmaßlich hinter der Umbenennung der London-Underground-Haltestelle „Gillespie Road“ in „Arsenal“. Chapman konnte nun über ein deutlich höheres Transferbudget für neue Spieler verfügen, das sich aus den gesteigerten Einnahmen nach dem Umzug und einer neuen Philosophie von Henry Norris begründete. Norris, vormals ein eher vorsichtiger Vereinsvorsitzender, wies nun an, verstärkt Investitionen zu tätigen. Chapmans erste Spielerverpflichtung war der altgediente Charlie Buchan vom FC Sunderland, der sowohl auf als auch außerhalb des Spielfeldes eine wichtige Rolle spielte. Nach einer 0:7-Niederlage gegen Newcastle United im Oktober 1925 regte Buchan in Reaktion auf die veränderte Abseitsregel einen Wechsel in der taktischen Ausrichtung der Mannschaft an und empfahl dabei eine Umstellung auf das sogenannte „WM-System“, was unter anderem eine Verstärkung der Defensive nach dem Rückzug des Mittelläufers in die Abwehrformation und einen Schutz vor gegnerischen Angriffen über die Flanken durch die Außenverteidiger bedeutete. Im weiteren Verlauf entwickelte Chapman die Formation weiter und legte Schwerpunkte auf eine temporeiche Angriffsreihe mit Flügelspielern, die nach innen zogen, sowie einen kreativen Mittelfeldspieler, der sich für die Ballverteilung verantwortlich zeigen sollte. Chapmans Fähigkeit, diese Positionen mit adäquaten Spielern zu besetzen, sorgte dafür, dass sich langsam eine Mannschaft entwickelte, die begann, den Fußball in England zu dominieren. In Chapmans erster Saison gewann Arsenal die Vizemeisterschaft, was zu diesem Zeitpunkt das beste Ergebnis in der Vereinsgeschichte darstellte. Dieser Aufwärtstrend konnte jedoch zunächst nicht fortgesetzt werden und Arsenal bewegte sich stets im Mittelfeld der Liga. Chapman baute die Mannschaft dabei fundamental um und verpflichtete neue Akteure, darunter den Flügelspieler Joe Hulme, den Stürmer Jack Lambert sowie die Verteidiger Tom Parker und Herbie Roberts, die er umgehend in seine neue Mannschaft einbaute. Im Jahr 1927 erreichte Arsenal erstmals das Endspiel im FA Cup und verlor unglücklich mit 0:1 gegen Cardiff City, nachdem Arsenals Torhüter Dan Lewis einen harmlos wirkenden Schuss durch seine Arme gleiten ließ. Cardiff gewann damit als bis heute einziger nicht-englischer Verein in der Geschichte diesen Pokal. Chapman ließ sich davon nicht beirren und stockte die Mannschaft weiter auf mit dem zukünftigen Mannschaftskapitän Eddie Hapgood sowie mit den drei weiteren leistungsstarken Offensivspielern David Jack, Alex James und Cliff Bastin. Vor allem Alex James wurde als Spielmacher im Mittelfeld für seine Unterstützung der Flügelspieler und der Sturmreihe als Motor der Mannschaft gefeiert. Drei Jahre später gelangte Arsenal erneut ins FA Cupfinale, das für das Erscheinen des tief fliegenden deutschen Luftschiffes Graf Zeppelin bekannt wurde. Arsenal siegte gegen Chapmans alten Klub Huddersfield Town nach Toren von James und Lambert mit 2:0 und errang somit den ersten großen Titel in seiner Geschichte. Dieser Sieg begründete den Anfang eines äußerst erfolgreichen Jahrzehnts, in dem Arsenal der dominierende Verein in England wurde. Unter Chapman gewann der Verein in der Saison 1930/31 erstmals die englische Meisterschaft und schoss dabei im Saisonverlauf 127 Tore. Im folgenden Jahr verlor Arsenal das FA-Cup-Endspiel umstritten gegen Newcastle United. Arsenal war bereits nach einem Treffer von Bob John mit 1:0 in Führung gegangen, bis ein Ball weit in die Spielhälfte von Arsenal geschossen wurde und die Torauslinie bereits überschritten hatte, was einen Abstoß zur Folge hätte haben müssen. Dennoch flankte Newcastles Flügelspieler Jimmy Richardson den Ball zurück auf das Spielfeld und Jack Allen konnte den Ball zum Ausgleich verwerten. Ein weiteres Tor von Allen sorgte für den letztendlichen 2:1-Sieg der „Magpies“. Einen weiteren Rückschlag musste Arsenal in der Meisterschaft hinnehmen, als der Verein zwar nach einem sehr schwachen Start in die Saison 1931/32 beständig aufholen konnte, am Ende aber mit zwei Punkten Abstand auf den neuen Titelträger FC Everton nur auf dem zweiten Platz landete. Nur ein Jahr später gewann Arsenal in der Saison 1932/33 seine zweite Meisterschaftstrophäe. Auch diese Spielzeit war von einem schwachen Beginn Arsenals gekennzeichnet, sowie einer stetigen Aufholjagd, die im April 1933 mit dem 5:0-Heimsieg gegen den zweitplatzierten Verein Aston Villa und den damit sichergestellten Titel gekrönt wurde. Mittlerweile war die erste Generation von Chapmans Spielerverpflichtungen in die Jahre gekommen und der Erfolgstrainer begann, mit den Transfers von George Male für Tom Parker und Ray Bowden für David Jack in die Zukunft zu investieren. In diese Zeit fiel auch eine der größten Sensationen in der Geschichte des FA Cups, als Arsenal gegen den Drittligisten FC Walsall unterlag. Trotz des Ausfalls von fünf Spielern, die aufgrund einer Influenza hatten pausieren müssen, besaß die Mannschaft über genügend Spielerqualität, verlor aber dennoch mit 0:2. Tom Black, der den Elfmeter verschuldet hatte, der zum 0:2 führte, wurde von einem aufgebrachten Chapman binnen einer Woche an Plymouth Argyle verkauft. Der „Meisterschafts-Hattrick“ (1934–1939) Nach einem soliden Start in die Saison 1933/34 ereilte den Verein im Januar 1934 ein Schicksalsschlag, als Herbert Chapman plötzlich an einer Lungenentzündung verstarb. Der Interimstrainer Joe Shaw übernahm die Mannschaftsleitung und verteidigte mit dem Verein den Meistertitel, obwohl Hulme und James aufgrund von Verletzungen den Großteil der Spielzeit aussetzen mussten und Arsenal somit aufgrund des geschwächten Angriffs mit 75 Treffen zu verhältnismäßig wenig Toren kam. In der Vorsaison hatte Arsenal noch 118 Tore erzielt. Zum neuen hauptamtlichen Cheftrainer wurde George Allison – ehemals in der Vereinsführung tätig – ernannt, der der Mannschaft mit den weiteren Neuverpflichtungen frisches Blut hinzufügte, darunter die Mittelfeldspieler Jack Crayston und Wilf Copping sowie der Torjäger Ted Drake. Mit diesen neuen Spielern konnte Arsenal in der Offensive wieder zu alter Stärke zurückfinden, wobei Drake 42 Tore in der Saison 1934/35 erzielte. Mit hohen Siegen wie zum Beispiel dem 7:0 gegen die Wolverhampton Wanderers, dem 8:1 gegen den FC Liverpool sowie den beiden 8:0-Siegen gegen Leicester City und den FC Middlesbrough erreichte Arsenal den dritten Meistertitel in Serie. Die außergewöhnliche Leistungsstärke zeigte sich auch darin, dass im November 1934 sieben Arsenal-Akteure in der englischen Nationalmannschaft beim Spiel gegen den amtierenden Weltmeister aus Italien standen. England gewann dieses Spiel mit 3:2, das als „Battle of Highbury“ in die Fußballgeschichte einging. Sieben Spieler bedeuten bis heute einen Rekord für die meisten Spieler aus einem Verein in der Startelf einer englischen Nationalmannschaft. Arsenals anhaltender Erfolg zog immer größere Zuschauermengen an, so dass die Heimspielstätte des Klubs kontinuierlich umgebaut wurde. Die ursprünglich von Archibald Leitch erbauten Tribünen wurden abgerissen und durch neue im modernen Art-déco-Stil ersetzt, die bis zum heutigen Tage existieren. Auch die Nord- und „Clock-End“-Tribüne wurden überdacht. In dem neuen Stadion erreichte der Verein am 9. März 1935 mit 73.295 Zuschauern in der Partie gegen den FC Sunderland seine heute noch gültige Rekordbesucherzahl. Die Zeit der großen Dominanz von Arsenal kam mit dem Pokalsieg im Jahr 1936 zu seinem Abschluss, als Sheffield United durch ein Tor von Drake mit 1:0 geschlagen wurde. Fortan entwickelten sich die sportlichen Leistungen rückwärtig, nachdem Alex James zurückgetreten war und Spieler wie Bastin ihren Zenit bereits überschritten hatten. Dennoch gewann Arsenal in der Saison 1937/38 noch den fünften Meistertitel in der Vereinsgeschichte. Der Zweite Weltkrieg (1939–1945) Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1939 wurde der Spielbetrieb in den britischen Profiligen eingestellt. Das Highbury diente fortan als sogenannte ARP-Station zum Schutz der Zivilisten vor Luftangriffen, die hinter der Clock End-Tribüne einen Sperrballon betrieb. Während des Blitzkriegs traf eine rund 1,5 Tonnen schwere Bombe die Nordtribüne, zerstörte das Dach und verursachte an dieser Stelle einen Brand. Arsenal absolvierte während des Krieges seine Heimspiele in der White Hart Lane, wo normalerweise Tottenham Hotspur beheimatet ist. Die Spiele während des Krieges hatten keinen offiziellen Charakter, fanden zumeist nur im Rahmen von regionalen Wettbewerben statt und Vereine beendeten in der Regel die einmal begonnenen Spielzeiten nicht. Viele Fußballer dienten in der Armee als Trainer oder Ausbilder, standen somit ihren Vereinen langfristig nicht zur Verfügung und traten nur sporadisch als „Gastspieler“ anderer Vereine in Erscheinung. Arsenal gewann 1943 den sogenannten „Football League War Cup South“ und zudem regionale Meisterschaften in London und in Südengland in den Jahren 1941, 1943 und 1944. Im November 1945 absolvierte Arsenal eines der außergewöhnlichsten und kontroversesten Spiele in der Vereinsgeschichte, als sich Dynamo Moskau auf einer Tournee im Land befand. Da noch viele Stammspieler in der Armee dienten und diese somit eine große Lücke in der Mannschaft hinterlassen hatten, ergänzte Arsenal seine Mannschaft um sechs Gastspieler, darunter Stanley Matthews und Stan Mortensen. Dies führte dazu, dass Dynamo den Gegner als eine englische Nationalmannschaft einstufte, obwohl sich in der Startelf von Arsenal auch drei Waliser befanden. Das Spiel selbst fand im dichten Nebel statt und die technisch geschicktere Dynamo-Mannschaft gewann die Partie mit 4:3, nachdem Arsenal zur Halbzeit bereits mit 3:1 geführt hatte. Obwohl über den Endstand weitestgehend Klarheit besteht, weichen weitere Detailinformationen über den konkreten Spielverlauf voneinander ab. Nach englischen Berichten setzte Dynamo zwischenzeitlich zwölf Spieler ein und versuchte zudem beim Schiedsrichter einen Spielabbruch zu erwirken, als sich der Verein im Rückstand befand. Im Gegenzug beschuldigten die Sowjets Arsenal, unfair gespielt zu haben. Der Vorwurf, George Allison habe auf den Spielausgang Geld gesetzt, wurde später fallen gelassen. Dadurch, dass der Nebel den Großteil der Aktionen auf dem Spielfeld verbarg – selbst die Identitäten der Torschützen sind umstritten – sowie aufgrund der vorhandenen Sprachbarrieren und der gegenseitigen Verdächtigungen – das Spiel fand während des gerade aufkommenden Kalten Krieges statt –, werden die genauen Geschehnisse vermutlich auch weiter im Verborgenen bleiben. Die Nachkriegszeit (1945–1966) Der Krieg beendete die Karrieren vieler wichtiger Spieler des FC Arsenal, darunter die von Bastin und Drake. Zudem trug der Verein aufgrund der Stadionbaukosten und der Reparaturen der Kriegsschäden eine große finanzielle Bürde, mit der Arsenal in der Folgezeit nach Wiederaufnahme des Spielbetriebs zu kämpfen hatte. In der dritten Runde des FA Cups verlor Arsenal in der Saison 1945/46 nach zwei Spielen mit insgesamt 1:6 Toren gegen West Ham United. Als die Meisterschaft wieder aufgenommen wurde, belegte Arsenal einen enttäuschenden 13. Abschlusstabellenplatz. George Allison erklärte zum Ende dieser Saison seinen Rücktritt und wurde von seinem Assistenten Tom Whittaker ersetzt, der auch schon unter Herbert Chapman gearbeitet hatte. Der Wechsel zu Whittaker brachte dem Verein unmittelbaren Erfolg mit dem Gewinn der englischen Meisterschaft in der Saison 1947/48. Die Mannschaft wurde von dem Kapitän Joe Mercer angeführt und mit der Treffsicherheit der beiden Angriffsspieler Reg Lewis und Ronnie Rooke übernahm Arsenal im Oktober 1947 die Tabellenführung, die man bis zum Saisonende nicht mehr abgab. Mit langfristige Erfolg war zu diesem Zeitpunkt nicht zu rechnen, da die Arsenal-Mannschaft schon etwas überaltert war und mit Rooke und Mercer entscheidende Spieler besaß, die bereits über 30 Jahre alt waren. Die Reaktion darauf war, dass Whittaker mit Doug Lishman, Alex Forbes und Cliff Holton neue junge Spieler in die Mannschaft einbaute. Obwohl damit noch nicht genügend Qualität erreicht wurde, um erneut in einen Meisterschaftskampf einzugreifen, sorgte diese Kaderauffrischung dafür, dass im Jahr 1950 erneut der FA Cup gewonnen wurde. Reg Lewis erzielte die beiden Treffer zum 2:0-Finalsieg gegen den FC Liverpool. In der Saison 1951/52 spielte Arsenal lange Zeit um das Double, beendete die Spielzeit jedoch letztlich enttäuschend, nachdem eine Verletzungsserie in der Spätphase der Saison die Ziele in weite Ferne rücken ließ. Arsenal verlor die letzten beiden Meisterschaftsspiele, darunter die Auswärtspartie beim späteren Meister Manchester United am letzten Spieltag, und schloss die Saison punktgleich mit Tottenham auf dem dritten Platz ab. Eine Woche später trat Arsenal mit vielen zuvor verletzten Spielern im FA Cupfinale gegen Newcastle an. Als sich Walley Barnes in der 35. Spielminute das Knie verdrehte und vom Platz genommen werden musste, spielte Arsenal fortan mit zehn Mann weiter, da Auswechselungen damals noch nicht erlaubt waren. Newcastle konnte diesen Vorteil ausnutzen und gewann die Partie mit 1:0. Ungeachtet dieser Rückschläge gewann Arsenal in der Saison 1952/53 seine siebte Meisterschaft, nachdem in einem der spannendsten Entscheidungen Preston North End punktgleich und nur aufgrund des besseren Torquotienten, der damals anstatt der heute üblichen Tordifferenz verwendet wurde, auf den zweiten Platz verwiesen wurde. Diese Meisterschaftstrophäe sollte der letzte Titelgewinn Arsenals für die nächsten 17 Jahre bleiben und die sportliche Entwicklungskurve zeigte fortan nach unten, als es nicht mehr gelang, neue spielstarke Akteure anzuheuern. Tom Whittaker verstarb unerwartet im Jahr 1956 und abgesehen von einem dritten Platz in der Saison 1958/59 belegte Arsenal nur noch Plätze im Mittelfeld der Liga. Auch im FA Cup feierte Arsenal in dieser Zeit nach dem Finaleinzug von 1952 keine Erfolge mehr und kam bis 1971 nicht mehr über das Viertelfinale hinaus. Die beiden ehemaligen Spieler des Vereins Jack Crayston und George Swindin folgten Whittaker in dessen Amt nach, konnten jedoch nicht an seinen Erfolg anknüpfen. Im Jahr 1962 vollzog Arsenal mit der Verpflichtung der englischen Fußballlegende Billy Wright einen mutigen Schritt, da Wright noch nicht über Trainererfahrungen verfügte. Wie auch seine unmittelbaren Vorgänger führte Wright Arsenal nicht zu ähnlichen Erfolgen der Vergangenheit, obwohl unter seiner Ägide Arsenals Premiere in einem europäischen Vereinswettbewerb stattfand. Als Siebtplatzierter hatte sich Arsenal in der Saison 1962/63 für den Messepokal qualifiziert. In seiner letzten Trainerspielzeit wies Arsenal mit dem 14. Tabellenplatz die schlechteste Platzierung seit 36 Jahren auf und verzeichnete mit 4.554 den geringsten Zuschauerzuspruch in der Geschichte des Highbury. Der einzige Spitzenspieler bei Arsenal war damals George Eastham, der im Kader für die Fußball-Weltmeisterschaft 1966 im eigenen Land stand, aber dort in keinem Spiel zum Einsatz kam. Das erste Double (1966–1976) In einer überraschenden Entscheidung beförderte der Verein den Physiotherapeuten Bertie Mee in der Nachfolgerrolle Wrights. Dies sollte sich rasch auszahlen, wobei ihm dabei eine junge Spielergeneration half, die für den Verein im Jahr 1966 den FA Youth Cup gewonnen hatte. Dort hatten sich vor allem talentierte Angriffsspieler wie Charlie George, John Radford und Ray Kennedy für die erste Mannschaft empfohlen. Mee ergänzte diese Stärken in der Offensive durch einige erfahrene Kräfte, darunter der Mannschaftskapitän Frank McLintock, der in der zentralen Abwehrformation für Sicherheit sorgen sollte, sowie mit Peter Storey ein defensiver Mittelfeldspieler, der große Stärken im Tackling besaß. Mit diesem neu formierten Team erzielte Mee durch die Finaleinzüge der Jahre 1968 und 1969 im Ligapokal erste Achtungserfolge. In beiden Endspielen verlor Arsenal zunächst mit 0:1 gegen Leeds United, der damals von Don Revie trainiert wurde, und dann sensationell mit 1:3 gegen den Drittligisten Swindon Town. Trotz dieser Pleite gegen Swindon Town endete die Saison mit einem Teilerfolg, als sich Arsenal aufgrund des vierten Platzes in der Meisterschaft erneut für den Messepokal qualifizierte. Arsenal entschied diesen Wettbewerb 1970 auch für sich, wodurch die erste europäische Trophäe und der erste Titel nach siebzehn Jahren eingefahren wurde. Dabei schlug der Verein im Halbfinale Ajax Amsterdam und nach einem zwischenzeitlichen 0:3 im Finalhinspiel beim RSC Anderlecht verkürzte Ray Kennedy kurz vor Ende der Partie noch auf 1:3. Durch das 3:0 im Rückspiel nach Toren von John Radford, Eddie Kelly und Jon Sammels wurde die Begegnung in einen Sieg umgedreht. Der größte Erfolg in dieser Ära war der Gewinn des ersten Doubles aus FA Cup und englischer Meisterschaft in der Saison 1970/71. Obwohl Arsenal mit einer 0:5-Niederlage gegen Stoke City im September schwach in die Spielzeit gestartet war, agierte die Mannschaft fortan auf konstant hohem Niveau und lieferte sich mit Leeds United ein knappes Titelrennen. Um die Meisterschaft zu gewinnen und Leeds hinter sich zu lassen, musste Arsenal am letzten Spieltag in Tottenham gewinnen. Dies gelang mit einem 1:0-Sieg nach einem Tor von Ray Kennedy. Nur fünf Tage später schlug Arsenal im Pokalendspiel den FC Liverpool im Wembley-Stadion mit 2:1. Arsenal hatte in der Verlängerung den 0:1-Rückstand hinnehmen müssen, konnte jedoch durch den eingewechselten Eddie Kelly ausgleichen und durch den entscheidenden Treffer von Charlie George das Spiel für sich entscheiden. Das Double stellte sich als eine vorgezogene Hochphase in einem Jahrzehnt dar, das sich als Kette von knapp verpassten Gelegenheiten erwies. Trotz der Verpflichtung des Weltmeisters Alan Ball begann Arsenal die Saison 1971/72 auf schwachem Niveau, verlor im August bereits drei Spiele und musste stark darum kämpfen, die Führungsgruppe noch einzuholen. Arsenal schloss die Spielzeit letztlich auf dem fünften Tabellenplatz ab. Das Debüt im Europapokal der Landesmeister begann vielversprechend, bis Arsenal im Viertelfinale an Ajax Amsterdam scheiterte, das sich angeführt von Johan Cruyff im Zenit seiner Leistungsstärke befand. Arsenal erreichte erneut das FA Cupfinale und verlor in einem teilweise unfair und undiszipliniert geführten Spiel gegen Leeds United mit 0:1. Es folgte eine Vizemeisterschaft in der Saison 1972/73, aber die Mannschaft des Double-Gewinners war binnen eines Jahres auseinandergebrochen und Mee versuchte vergeblich, einen Neuaufbau durchzuführen. Die sportliche Entwicklung verschlechterte sich dramatisch und Arsenal lieferte in den anschließenden beiden Jahren mit dem 16. und 17. Tabellenplatz die schlechtesten Resultate seit mehr als 40 Jahren ab. Auf den gekündigten Mee folgte mit Terry Neill, ein ehemaliger Arsenal-Spieler, der Trainer von Tottenham, obwohl er die Spurs nie in das obere Mittelfeld hatte führen können. Wechselhafte Zeiten unter Neill und Howe (1976–1986) Mit Neill gelang die Rückkehr in die obere Tabellenhälfte, wobei der aufstrebende irische Spitzenspieler Liam Brady maßgeblichen Anteil an diesem Aufwärtstrend hatte. Brady war Teil einer großen irischen Fraktion im Kader, die außerdem Pat Rice, Frank Stapleton, Pat Jennings und den jungen David O’Leary umfasste. Obwohl die Dominanz des FC Liverpool zu dieser Zeit nicht durchbrochen werden konnte, unterstrich Arsenal zum Ende des Jahrzehnts weiterhin durch gute Resultate im FA Cup die Zeichen einer sportlichen Konsolidierung. Der Verein erreichte in den Jahren 1978 bis 1980 drei Endspiele in Serie, konnte aber nur das mittlere gegen Manchester United gewinnen. Durch ein erneut sehr gutes Spiel von Brady ging Arsenal nach Toren von Brian Talbot und Frank Stapleton mit 2:0 in Führung und sah fünf Minuten vor Ablauf der regulären Spielzeit bereits wie der sichere Sieger aus. United glich jedoch durch einen Doppelschlag zum 2:2 aus, worauf in der Nachspielzeit der Siegtreffer von Alan Sunderland zum 3:2 nach einer Flanke von Graham Rix folgte. Die anschließende Saison 1979/80 wurde sehr kräfteraubend, als Arsenal durch das Erreichen von zwei Pokalfinalspielen auf eine Rekordzahl von 70 Pflichtpartien kam, in deren Anschluss Arsenal am Ende dennoch ohne zählbaren Erfolg blieb. Enttäuschend war dabei vor allem die 0:1-Niederlage gegen den Zweitligisten und Außenseiter von West Ham United im FA Cupfinale, die durch einen Kopfball von Trevor Brooking besiegelt wurde. In der Zwischenzeit hatte Arsenal auch das Endspiel im Europapokal der Pokalsieger erreicht und stand dort durch das entscheidende Tor von Paul Vaessen im Halbfinalsieg gegen Juventus Turin dem spanischen Verein FC Valencia gegenüber. Das Finale endete in der regulären Spielzeit torlos, und Arsenal verlor die Begegnung nach Elfmeterschießen, in dem Brady und Rix ihre Strafstöße vergeben hatten. Liam Brady verließ Arsenal im Sommer 1980 zu Juventus Turin, und Arsenal ging einer weiteren Phase der Stagnation entgegen. Der Verein befand sich zwar zu Beginn der 1980er Jahre unter den besten vier englischen Mannschaften, konnte aber nie ernsthaft in die Meisterschaft eingreifen oder vergangene Erfolge im FA Cup wiederholen. Die beste FA-Cup-Serie fand dabei in der Saison 1982/83 statt, als man sich erst im Halbfinale Manchester United geschlagen geben musste. Während seiner Amtszeit hatte Neill stets Probleme mit der Mannschaftsführung und überwarf sich mit vielen seiner Spieler wie zum Beispiel mit Alan Hudson und Malcolm Macdonald und konnte das Alkoholproblem im Kader, wie es in vielen englischen Mannschaften auch heute immer noch vorherrscht, nicht in den Griff bekommen. Dazu kam, dass viele Neuverpflichtungen, darunter die von Charlie Nicholas, nicht unmittelbar zur Qualitätssteigerung beitrugen. Neill wurde nach einem schlechten Saisonstart – mit dem Tiefpunkt einer sensationellen Niederlage im Ligapokal gegen den unterklassigen FC Walsall – im Dezember 1983 entlassen. Neuer Trainer beim FC Arsenal wurde Don Howe, der dem Verein bereits in mehreren Funktionen unter anderen auch als Spieler gedient hatte, aber mit Arsenal auch nicht in die Nähe eines Titelgewinns kam. Obwohl der Verein unter Howe mit dem sechsten und siebten Platz in der Meisterschaft keine übermäßig schlechte Bilanz aufzuweisen hatte, verlor er im FA Cup der Saison 1984/85 wiederum überraschend gegen einen Drittligisten – in diesem Fall gegen York City. Die Anhänger begannen damit, ihrer Enttäuschung über die ausbleibenden Erfolge Ausdruck zu geben, und die Zuschauerzahlen fielen unter die 20.000er-Grenze. Als Howe im März 1986 darüber Kenntnis erhielt, dass das Präsidium mit Terry Venables in Verhandlungen über das Traineramt des FC Arsenal stand, trat er zurück. Die Jahre unter George Graham (1986–1995) Im Sommer 1986 verpflichtete der Verein mit George Graham einen ehemaligen Arsenal-Spieler sowie den vormaligen Trainer des FC Millwall als Nachfolger für Howe. Damit wurde der Grundstein für die nächste erfolgreiche Ära gelegt, da Graham viele alte Spieler des Vereins aussortierte und durch Neuverpflichtungen sowie durch verstärkte Förderungen von jungen Arsenal-Talenten ersetzte. Auch eine Verschärfung der Disziplin sowohl auf als auch außerhalb des Spielfeldes gehörte zu den ersten Aufgaben Grahams. Arsenals Formkurve zeigte durch diese Maßnahmen direkt steil nach oben und der Verein stand an den Weihnachtstagen 1986 erstmals in diesem Jahrzehnt wieder an der Tabellenspitze, was auch symbolisch ein günstiger Zeitpunkt angesichts des hundertjährigen Vereinsjubiläums war. Neben dem vierten Meisterschaftsplatz in Grahams erster Saison gewann er mit seinem neuen Verein auf Anhieb den Ligapokal 1986/87, wobei die Mannschaft viele schon verloren geglaubte Partien noch umgedreht hatte. Arsenal befand sich im Halbfinalrückspiel gegen die Spurs bereits mit insgesamt zwei Toren im Rückstand, bevor zwei eigene Treffer ein Entscheidungsspiel erzwangen. In diesem ging Tottenham erneut mit 1:0 in Führung, die Arsenal noch durch zwei späte Treffer von Ian Allinson und David Rocastle in einen Sieg umwandelte. Im Endspiel drehte Charlie Nicholas einen zwischenzeitlichen 0:1-Rückstand mit zwei Toren in einen Sieg um und sorgte somit dafür, dass Arsenal erstmals den Ligapokal gewann. Obwohl Arsenal das nächste Ligapokalfinale durch eine überraschende Niederlage gegen Luton Town verlor, verbesserten sich die Darbietungen in der englischen Meisterschaft kontinuierlich. Grahams Mannschaft entwickelte eine außerordentlich disziplinierte Defensive, die von Tony Adams, Lee Dixon, Steve Bould und Nigel Winterburn verkörpert wurde und in dieser Form die Basis für die Verteidigungslinie über ein ganzes Jahrzehnt hinweg bildete. Trotz der anders verlauteten Meinung in der Öffentlichkeit war Grahams Mannschaft nicht ausschließlich defensiv orientiert und brachte leistungsstarke Mittelfeldakteure wie David Rocastle, Michael Thomas und Paul Merson, sowie den Stürmer Alan Smith hervor, der stets auf eine Torquote von über 20 Treffern pro Saison kam. Zum Ende von Grahams dritter Saison gewann Arsenal 1989 auf dramatische Art seine erste Meisterschaft seit 1971. Nachdem Arsenal die Tabelle seit Weihnachten 1988 angeführt hatte, zog Liverpool nach einer Niederlage Arsenals gegen Derby County und einem Remis gegen den FC Wimbledon im Mai vorbei. Arsenal schien die Meisterschaft schon verspielt zu haben, als der Verein am letzten Spieltag am 26. Mai zum Showdown im Anfield-Stadion antrat. Arsenal benötigte einen Sieg mit zwei Toren Differenz und Liverpool war als frischgebackener FA-Cup-Sieger Favorit auf den Gewinn des Doubles. Nachdem Alan Smith früh in der zweiten Halbzeit das 1:0 erzielt hatte, konnte Arsenal den notwendigen zweiten Treffer auch nach Ablauf der 90 Minuten nicht nachlegen. Nur noch wenige Sekunden verblieben in der Nachspielzeit, als Smith den Ball zum jungen Michael Thomas abgab, der das Spielgerät anschließend ruhig über Bruce Grobbelaar ins Tor hob und somit Arsenal zur Meisterschaft verhalf. Die Titelverteidigung gelang Arsenal in der nächsten Saison nicht und schloss die Spielzeit auf dem vierten Platz hinter dem neuen Meister Liverpool sowie Aston Villa und Tottenham Hotspur ab. Aufgrund der Sperre für englische Vereine im Nachgang der Heysel-Katastrophe durfte Arsenal zudem an europäischen Vereinswettbewerben nicht teilnehmen. Graham verstärkte weiterhin den Kader und verpflichtete dabei den Torhüter David Seaman sowie den schwedischen Flügelspieler Anders Limpar. Beide Akteure fügten sich in die Mannschaft ein und holten mit Arsenal in der Saison 1990/91 erneut die Meisterschaft, obwohl der Klub im Verlauf zwei Rückschläge erlitten hatte. Im Oktober 1990 wurden Arsenal zwei Punkte abgezogen, nachdem zehn Spieler des Vereins in eine Rauferei mit Gegenspielern von Manchester United beteiligt gewesen waren. Zudem wurde Tony Adams im Dezember 1990 wegen Trunkenheit am Steuer zu einer viermonatigen Haftstrafe verurteilt. Dies hinderte Arsenal jedoch nicht an konstant guten Leistungen in einer Saison, in der der Klub nur ein einziges Meisterschaftsspiel verlor. Arsenal erreichte auch das FA-Cup-Halbfinale und stand dort Tottenham Hotspur gegenüber. Bereits nach fünf Minuten erzielte Paul Gascoigne per Freistoß aus großer Distanz den Führungstreffer und Tottenham konnte durch den 3:1-Sieg das mögliche Double Arsenals frühzeitig verhindern. Im Oktober 1991 verpflichtete Arsenal von Crystal Palace mit Ian Wright den fortan zweitbesten Torschützen in der Vereinsgeschichte und zog in dieser Spielzeit erstmals seit der Saison 1971/72 wieder in einen europäischen Landesmeisterwettbewerb ein. Dort verlor man in der zweiten Qualifikationsrunde der Champions League gegen Benfica Lissabon und verpasste den Zugang zu den Gruppenspielen. Die Spielzeit entwickelte sich weiter durchwachsen, nachdem Arsenal im FA Cup gegen den niederklassigen AFC Wrexham verlor und den vierten Platz in der Meisterschaft belegte. Nach dieser Saison vollzog Graham einen Taktikwechsel und ließ defensiver spielen. Diese vorsichtigere Mannschaftsausrichtung hatte zur Folge, dass sich das Team fast ausschließlich auf Torerfolge von Wright verließ und die anderen Mannschaftsteile weniger offensiv orientierten. Nachdem Arsenal zwischen 1986 und 1992 durchschnittlich 66 Meisterschaftstore erzielt hatte – dabei alleine 81 in der Saison 1991/92 –, waren es zwischen 1992 und 1995 nur noch 48. Das Minimum stellen die 40 Treffer in der Spielzeit 1992/93 dar, als Arsenal in der ersten Premier-League-Saison nur auf dem zehnten Platz landete und weniger Treffer als jeder andere Verein in der Liga erzielte. Arsenals Form in der Liga war zwar enttäuschend, aber in den Pokalwettbewerben zeigte der Verein deutlich bessere Leistungen, als er als erster Verein das „FA-und-Liga-Pokal-Double“ in der Saison 1992/93 gewann. Im Ligapokalendspiel trat Arsenal gegen Sheffield Wednesday an und gewann von Merson angeführt nach einem 0:1-Rückstand durch den entscheidenden Treffer von Steve Morrow mit 2:1. Im FA-Cup-Halbfinale gewann Arsenal gegen die Spurs und nahm somit Revanche für die Niederlage im Jahr 1991. Im Endspiel wartete erneut Sheffield Wednesday auf Arsenal, das einen Treffer von Wright durch Chris Waddle ausglich. Als auch nach 120 Minuten noch kein weiteres Tor gefallen war, entschied ein Kopfball von Andy Linighan nach einem Eckball die Partie und brachte dem FC Arsenal das Pokaldouble. In der Saison 1993/94 gewann Arsenal seine zweite europäische Trophäe, wobei die Mannschaft im Finale des Europapokals der Pokalsieger mit den Verletzungen der Schlüsselspieler John Jensen und Martin Keown sowie der Sperre von Ian Wright zu kämpfen hatte. Dennoch wurde der Titelverteidiger und Favorit AC Parma mit 1:0 in Kopenhagen mit einer sehr defensiv geführten Vorstellung durch einen Volley-Linksschuss von Alan Smith in der 21. Minute besiegt. Dieser Erfolg sollte der letzte Titelgewinn von George Graham sein, da der Schotte im folgenden Februar nach neun Jahren für Arsenal entlassen wurde. Man hatte festgestellt, dass er 1992 eine illegale Zahlung über 425.000 britische Pfund von dem norwegischen Spieleragenten Rune Hauge im Zusammenhang mit dem Kauf der Spieler Pål Lydersen und vor allem John Jensen entgegengenommen hatte. Bruce Rioch – Die Zwischenperiode (1995–1996) Bis zum Ende der Saison 1994/95 übernahm mit Stewart Houston der ehemalige Co-Trainer vorübergehend die Mannschaftsleitung. Arsenal stand am Ende dieser Spielzeit auf einem enttäuschenden zwölften Tabellenplatz, erreichte jedoch nach einem Halbfinalsieg im Elfmeterschießen gegen Sampdoria Genua – beide Mannschaften hatten zuvor nach der jeweils regulären Spielzeit eine Partie mit 3:2 gewonnen – erneut das Finale im Europapokal der Pokalsieger. Dort stand man dem spanischen Vertreter Real Saragossa gegenüber, dessen Führungstreffer durch Juan Esnáider von John Hartson für Arsenal ausgeglichen wurde, bevor dann der Mittelfeldspieler Nayim mit der letzten Aktion in der 120. Minute per Weitschuss von der Mittellinie das Spiel für Saragossa entschied. David Seaman, der noch im Semifinale im gewonnenen Elfmeterschießen triumphiert hatte, konnte nicht schnell genug in sein Gehäuse zurückeilen und berührte den Ball nur noch leicht mit einer Hand, als dieser ins Tor fiel. Die Finalniederlage stellte somit einen Tiefpunkt in einer schwachen Gesamtsaison dar. Im Juni 1995 verpflichtete Arsenal Bruce Rioch, der gerade die Bolton Wanderers in das Ligapokalendspiel und zurück in die oberste englische Spielklasse geführt hatte, als neuen Trainer. Der Kauf des niederländischen Stürmers Dennis Bergkamp von Inter Mailand für 7,5 Millionen Pfund brach den bis zu diesem Zeitpunkt gültigen Ablöserekord im englischen Fußball. Bergkamp bildete fortan mit Wright den ertragreichen Angriff in einer Mannschaft, die sich durch das Erreichen des Halbfinals im Ligapokal rehabilitierte. Der fünfte Platz in der Meisterschaft berechtigte zudem zur Teilnahme an dem UEFA-Pokal-Wettbewerb und nährte die Hoffnung, künftig wieder im Titelrennen eingreifen zu können. Die „Ära Rioch“ endete im August 1996 vorzeitig, nachdem sich Rioch aufgrund der Transferpolitik mit der Vereinsführung zerstritt, was einen monatelangen Unruhezustand zur Folge hatte. Stewart Houston übernahm die Mannschaftsleitung erneut für einen Monat auf Interimsbasis, bevor er zurücktrat, um sich den Queens Park Rangers anzuschließen. Die Ära Wenger (1996–2018) Zwei weitere Doubles (1996–2003) Bis zur Verpflichtung des Franzosen Arsène Wenger im September 1996 übernahm der Jugendtrainer Pat Rice für einige Spiele die Führung des Teams. Die Mannschaft verbesserte sich unter Wengers Führung schnell, belegte in der Meisterschaft den dritten Platz und qualifizierte sich für den UEFA-Pokal, wobei sie die Teilnahme an der Champions League nur aufgrund der schlechteren Tordifferenz verpasste. Wenger baute eine Reihe von zumeist wenig bekannten französischen Spielern in seinen Kader ein. Darunter befanden sich der talentierte Patrick Vieira, der noch am Anfang seiner fortan großen Laufbahn stand, sowie Nicolas Anelka und Emmanuel Petit. Außerdem verpflichtete Wenger im Sommer 1997 mit Marc Overmars einen hochtalentierten niederländischen Flügelstürmer. Diese neuen Akteure verschmolzen mit vielen arrivierten Spielern der „alten Garde“, darunter Adams, Dixon, Winterburn, Keown und Bould. Pat Rice wurde von Wenger zu seinem Co-Trainer bestimmt. Seinen ersten Titel gewann Wenger mit Arsenal bereits in der anschließenden Saison, als er als erster ausländischer Trainer die englische Meisterschaft errang und diese zum zweiten Double in der Klubgeschichte ausbaute. Im Meisterschaftsrennen schien sich Arsenal im Dezember nach einer 1:3-Heimniederlage gegen die Blackburn Rovers bereits vorzeitig verabschiedet zu haben. Die Mannschaft holte letztlich einen 12-Punkte-Rückstand zum Tabellenführer Manchester United auf und stellte am Ende nach einem 4:0-Heimsieg gegen den FC Everton am 3. Mai die Trophäe bereits vor dem vorletzten Spieltag sicher. Am 16. Mai schlug Arsenal dann im FA-Pokalendspiel Newcastle United noch mit 2:0. Zudem übertraf Ian Wright den vormaligen Rekordvereinstorschützen Cliff Bastin und verließ den Klub nach 185 Toren im Sommer 1998. Trotz des Kaufs von Freddie Ljungberg 1998 und Thierry Henry ein Jahr später erwartete den Verein in den weiteren Jahren eine erneute Periode ohne Titelgewinne, obwohl mehrere Gelegenheiten knapp verpasst wurden. In der Spielzeit 1998/99 führte Arsenal die Tabelle lange Zeit an, bis der Verein nach einer 0:1-Niederlage gegen Leeds United noch von Manchester United überholt wurde. Trotz eines Siegs am letzten Spieltag gegen Aston Villa führte der Sieg von United gegen Tottenham Hotspur dazu, dass dem FC Arsenal nur die Vizemeisterschaft blieb. Auch im FA-Cup-Halbfinale unterlag Arsenal dem Konkurrenten aus Manchester, wobei Bergkamp zunächst einen Elfmeter verschossen und Ryan Giggs in der Nachspielzeit nach einem Solo durch die gesamte Defensive Arsenals das entscheidende Tor erzielt hatte. Arsenals Rückkehr in die Champions League nach sieben Jahren endete ebenfalls in einer Enttäuschung, da der Verein die Gruppenphase nicht überstand. Auch in der Spielzeit 1999/2000 wurde Arsenal Vizemeister, konnte Manchester United im Titelrennen nie ernsthaft gefährden und rangierte 18 Punkte hinter dem alten und neuen Meister. In der Champions League wurden die Erwartungen erneut nicht erfüllt, wobei der dritte Platz in den Gruppenspielen zumindest noch die weitere Teilnahme am UEFA-Pokal ermöglichte. Dort zog die Mannschaft bis ins Finale ein und traf in Kopenhagen auf Galatasaray Istanbul. Das Spiel endete aktionsarm mit einem 0:0 nach Verlängerung. Das Elfmeterschießen verlor Arsenal, nachdem Davor Šuker und Patrick Vieira ihre Strafstöße vergeben hatten. Eine weitere Vizemeisterschaft wartete auf Arsenal in der Saison 2000/01, in diesem Fall nur zehn Punkte hinter Manchester United. Das Titelrennen war bis zum Februar 2001 offen gewesen, bis eine 1:6-Niederlage von Arsenal in Old Trafford eine Vorentscheidung brachte. Der Klub konzentrierte sich fortan mehr auf die Pokalwettbewerbe und besiegte im FA-Cup-Halbfinale die Spurs, um im Endspiel dem FC Liverpool in Cardiff gegenüberzustehen. Arsenal war meist spielbestimmend. Liverpools Stéphane Henchoz wehrte einen Ball, der zu einem Tor geführt hätte, mit der Hand ab, was jedoch vom Schiedsrichter nicht geahndet wurde. Dennoch ging Arsenal durch ein Tor von Ljungberg mit 1:0 in Führung, unterlag aber nach zwei späten Treffern von Michael Owen mit 1:2. In der Champions League gelangte der Verein bis ins Viertelfinale, wo man gegen den späteren Finalisten FC Valencia nur aufgrund der Auswärtstorregel verlor. Dennoch stellte der Einzug unter die letzten acht Mannschaften das beste Resultat in dem wichtigsten europäischen Vereinswettbewerb seit 1972 dar. Wenger war nun dazu gezwungen, einen Großteil seiner Doublegewinner-Mannschaft von 1998 umzubauen, nachdem Anelka, Overmars und Petit für hohe Ablösesummen zu spanischen Vereinen gewechselt waren und die renommierte Abwehrformation deutlich in die Jahre gekommen war. Bould und Winterburn hatten den Verein bereits verlassen und Adams sowie Dixon sollten auch nur noch eine Saison bis zu ihrem Rücktritt agieren. Wenger besetzte die Positionen in der Defensive mit Spielern wie Sol Campbell und Lauren neu und beförderte Ashley Cole aus der eigenen Jugendabteilung in die erste Mannschaft. Das Mittelfeld verstärkte der Trainer mit Robert Pirès und verpflichtete dessen Landsmann Sylvain Wiltord für die Offensive, während sich Thierry Henry mittlerweile an die englische Spielweise gewöhnt und zu einem der besten Stürmer in der Premier League entwickelt hatte. Die Offensive war nun zweifelsfrei Arsenals Prunkstück und die Mannschaft gewann in der Saison 2001/02 das dritte Double in der Vereinsgeschichte, womit der Rekord in dieser Hinsicht im englischen Fußball eingestellt wurde. Die „Gunners“ waren die einzige Mannschaft, die in jedem Spiel mindestens ein Tor schossen und in allen Auswärtsspielen ungeschlagen blieben. Bis zum Februar 2002 war der Kampf um die Meisterschaft spannend und die vier besten Mannschaften trennten insgesamt nur drei Punkte. Anschließend zog Arsenal mit einer elf Spiele andauernden Siegesserie davon und sicherte sich mit sieben Punkten Vorsprung vor dem FC Liverpool die Meisterschaft, wobei der 1:0-Auswärtssieg bei Manchester United am vorletzten Spieltag nach einem Tor von Wiltord die Entscheidung gebracht hatte. Am Wochenende zuvor hatte Arsenal bereits mit einem 2:0-Endspielsieg gegen den FC Chelsea seinen achten FA Cuptitel in der Vereinsgeschichte eingefahren, wobei Ray Parlour und Ljungberg für die Tore gesorgt hatten. Arsenal verteidigte in der Saison 2002/03 als erster Verein seit über 20 Jahren den FA Cuptitel, nachdem man im Finale mit 1:0 gegen den FC Southampton durch ein Tor von Pirès gesiegt hatte. Die Freude darüber wurde durch die knapp verpasste Meisterschaft getrübt. Arsenal hatte bereits mit acht Punkten vor dem späteren Meister Manchester United die Tabelle angeführt, aber die Form ließ zum Ende der Spielzeit deutlich nach. Nach einer 2:0-Führung bei den Bolton Wanderers spielte Arsenal letztlich nur 2:2 und verspielte in der folgenden Heimpartie gegen Leeds United mit einer 2:3-Niederlage endgültig den Titel. Die „Unbesiegbaren“ und ein Champions-League-Finale (2003–2006) Diese Niederlage gegen Leeds sollte jedoch die letzte für Arsenal in der Meisterschaft für einen Zeitraum von über einem Jahr sein. Die Saison 2003/04 stellte mit 26 Siegen, 12 Unentschieden und keiner Niederlage einen Rekord dar. Zuletzt war Preston North End in der Saison 1888/89 ohne Niederlage geblieben. Arsenal rangierte elf Punkte vor dem Zweitplatzierten FC Chelsea, der sich wiederum im Champions-League-Viertelfinale revanchierte. Zudem verlor Arsenal im Halbfinale des FA Cups gegen Manchester United. Nach diesen Rückschlägen rehabilitierte sich Arsenal aber in dem anschließenden Spiel gegen den FC Liverpool nach einem zwischenzeitlichen 0:1- und 1:2-Rückstand, gewann mit insgesamt drei Toren von Henry noch mit 4:2 und sicherte sich die Meisterschaft anschließend durch ein 2:2 auswärts bei Tottenham Hotspur. Arsenal konnte den Titel in der Saison 2004/05 nicht verteidigen und rangierte zwölf Punkte hinter dem FC Chelsea auf dem zweiten Platz. Dennoch erweiterten die Gunners den englischen Rekord ungeschlagener Spiele auf insgesamt 49 Partien. Zunächst wurde die Bestmarke durch einen spannenden 5:3-Sieg gegen den FC Middlesbrough nach einem 1:3-Rückstand zur Halbzeit eingestellt, dann mit einem 3:0-Erfolg gegen die Blackburn Rovers übertroffen und durch die 0:2-Niederlage gegen Manchester United beendet. Danach verschlechterte sich die Form, und Arsenal verlor entscheidenden Boden im Titelrennen, bis eine erneut positive Serie, besiegelt durch einen spektakulären 7:0-Sieg gegen den FC Everton, die Vizemeisterschaft sicherte. In der Champions League war Arsenal erneut glücklos und verlor nach der Gruppenphase gegen den FC Bayern München mit insgesamt 2:3 Toren nach Hin- und Rückspiel. Dennoch beendete Arsenal die Saison mit einem Titelgewinn, als die Mannschaft nach einer torlosen regulären Spielzeit das Elfmeterschießen gegen Manchester United mit 5:4 gewann und somit den dritten FA Cup innerhalb von vier Jahren errang. Geschwächt durch den Verkauf von Mannschaftskapitän Patrick Vieira an Juventus Turin im Sommer 2005 entwickelte sich die Saison 2005/06 verhältnismäßig enttäuschend, und Arsenal feierte auch in den heimischen Pokalwettbewerben keine Erfolge. In der Meisterschaft sorgte die schwache Form bei Auswärtsspielen dafür, dass Arsenal trotz einiger guter Heimresultate – darunter ein 5:0 gegen Aston Villa sowie ein 7:0 gegen den FC Middlesbrough – zumeist nur auf dem fünften Platz oder gar schlechter in der Tabelle stand und es sah danach aus, dass erstmals seit 1997 die Qualifikation zur Champions League misslinge. Nachdem die Mannschaft die letzten drei Spiele gewann, darunter das 4:2 gegen Wigan Athletic beim letzten Spiel in Highbury, sorgte die Niederlage der Spurs bei West Ham United am letzten Spieltag dafür, dass Arsenal am Ende noch den vierten Platz erreichte und somit der Zugang zur Champions League gelang. Im erheblichen Kontrast zur schwachen heimischen Form zeigte sich Arsenal in Europa deutlich leistungsstärker und erreichte 2006 erstmals in seiner Geschichte und als erster Londoner Verein überhaupt das Finale in der Champions League. Arsenal gewann seine Gruppe vor Ajax Amsterdam, dem FC Thun und Sparta Prag und schlug in den anschließenden Ausscheidungsspielen Real Madrid, wo sie als erstes britisches Team im Santiago-Bernabéu-Stadion gewannen, Juventus Turin und den FC Villarreal, um dann nach einem Rekord von insgesamt zehn Spielen ohne Gegentor dem FC Barcelona im Finale gegenüberzustehen. Arsenal spielte dort bereits früh mit nur noch zehn Mann, nachdem Torhüter Jens Lehmann nach einer Notbremse des Feldes verwiesen worden war. Trotzdem ging Arsenal durch einen Kopfballtreffer von Sol Campell in der 37. Minute in Führung und verteidigte über lange Zeit diesen Vorsprung, bis Samuel Eto’o und Juliano Belletti Barcelona mit zwei späten Toren zum 2:1-Sieg schossen. Im Juni 2006 leitete die Football Association aufgrund einer Anfrage der FIFA eine Untersuchung ein, die Arsenals Beziehungen zum KSK Beveren zum Gegenstand haben sollten. Die Anfrage fand in Reaktion auf Anschuldigungen statt, die die BBC in der Sendung Newsnight erhoben hatte. Dort war spekuliert worden, ob die Zahlung von Arsenal in Höhe von einer Million Pfund an ein Konsortium, das für den Kauf des belgischen Vereins bot, möglicherweise gegen die FIFA-Statuten verstoßen hatte. Am 23. Juni 2006 sprach die FA Arsenal von dem Vorwurf frei und verkündete, dass man keinen Beweis einer Verletzung der FA- oder Premier-League-Regeln hinsichtlich einer unzulässigen Interessengemeinschaft oder Zusammenarbeit der beiden Vereine gefunden hatte. Umzug in das Emirates Stadium, Rekordpokalsieger (2006–2018) Trotz der zahlreichen Erfolge in den 1990er- und 2000er-Jahren war die Stadionkapazität insbesondere aufgrund der Beschränkungen durch den Taylor Report mit 38.500 Plätzen in Highbury stets sehr limitiert. Dadurch konnte der Verein die Einnahmenseite in diesem Segment nie maximieren. Nachdem sich ein Ausbau des Highbury-Stadions als unmöglich herausgestellt hatte, informierte Arsenal 1999 die Öffentlichkeit über die Pläne, ins benachbarte Ashburton Grove zu ziehen und dort ein neues Stadion zu errichten. Die Konstruktion des Stadions begann im Dezember 2002. Nach der Fertigstellung wurde das Emirates Stadium im Juli 2006 eröffnet und zur Nutzung ab der Saison 2006/07 freigegeben. Obwohl die Mannschaft erfolgversprechend in die neue Spielzeit startete und lediglich einen Vier-Punkte-Abstand zur Tabellenspitze aufwies, äußerte Wenger bereits im November 2006, dass ein Eingriff in das Meisterschaftsrennen nicht möglich sei. Im weiteren Saisonverlauf befand sich der FC Arsenal zwar weiterhin unter den besten vier Mannschaften, aber Wenger setzte vor allem im Ligapokal verstärkt auf Spieler der Reserve- und Jugendmannschaft und erreichte damit sogar das Finale, in dem man aber dem FC Chelsea mit 1:2 unterlag. In den anderen Pokalwettbewerben war Arsenal mit weniger Erfolg unterwegs, unterlag im Achtelfinale der Champions League gegen die PSV Eindhoven nach Hin- und Rückspiel mit 1:2 Toren und scheiterte zudem in der fünften Runde des FA Cups an den Blackburn Rovers. Im Jahr 2007 mehrten sich die Spekulationen bezüglich zweier möglicher Übernahmeszenarien. Zunächst übernahm der US-amerikanische Sporttycoon Stan Kroenke einen Großteil der Aktien und besitzt mit Stand von August 2007 12,2 % der Anteile, nachdem er den Hauptteil davon im April desselben Jahres von der ITV-Tochtergesellschaft Granada Ventures übernommen hatte. Dies führte dazu, dass sich David Dein, der 14,6 % der Anteile besaß und als Sympathisant Kroenkes galt, aufgrund „unüberbrückbarer Differenzen“ am 18. April aus dem Vorstand zurückzog. Dein verkaufte später seine Anteile an die „Red & White Holdings“, die sich im Besitz des russischen Milliardärs Alischer Usmanow und des Londoner Geschäftsmannes Farhad Moshiri befindet, und wurde im Gegenzug Präsident dieses Unternehmens. In einer Stellungnahme äußerte der Vorsitzende Peter Hill-Wood jedoch, dass kein weiteres Vorstandsmitglied bis mindestens April 2009 zum Verkauf der eigenen Aktienanteile, die insgesamt 45,45 % betragen, bereit sei. Zudem besäßen sämtliche Vorstandsmitglieder bis Oktober 2012 Optionen auf die jeweils anderen Anteile. In sportlicher Hinsicht hatten bereits innerhalb der Spielzeit 2006/07 und unmittelbar danach mit Ashley Cole, Sol Campbell, Lauren, Freddie Ljungberg und vor allem dem langjährigen Kapitän und Toptorjäger Thierry Henry eine Reihe von erfahrenen Spielern den Verein verlassen. So ging die Mannschaft mit nur noch drei Akteuren in die Saison, die vier Jahre zuvor die letzte Meisterschaft gewonnen hatten. Mit einer neuen jungen Generation von Spielern, darunter Cesc Fàbregas, Robin van Persie, Emmanuel Eboué und Gaël Clichy, kam die umgebaute Mannschaft überraschend schnell in Tritt und blieb zwischen April und November 2007 ungeschlagen. Dies bedeutete zudem in Bezug auf alle Pflichtwettbewerbe einen neuen Rekord. Die Mannschaft führte lange die Premier League an und eliminierte im Champions-League-Achtelfinale den Titelverteidiger AC Mailand (sie wurde damit zur ersten englischen Mannschaft, die in San Siro siegreich war), bevor sie in der Liga noch Manchester United und den FC Chelsea passieren lassen musste. In einem rein englischen Viertelfinale scheiterten die „Gunners“ zudem mit insgesamt 3:5 Toren am FC Liverpool. Auch in den Spielzeiten 2008/09, 2009/10 und 2010/11 war die junge Mannschaft noch nicht in der Lage, nach jeweils vielversprechenden Auftakten konstant um die vordersten Plätze zu spielen. Höhepunkte waren vielmehr wieder in der Champions League zu finden, als die Mannschaft 2009 und im Jahr darauf erst im Halb- bzw. Viertelfinale am jeweiligen Titelverteidiger Manchester United bzw. FC Barcelona scheiterte. Hoffnungen auf einen ersten Titel nach sechs Jahren wurden 2011 zudem im Ligapokal enttäuscht; hier scheiterten die „Gunners“ überraschend mit 1:2 im Finale am späteren Absteiger Birmingham City. Nach dem Weggang einiger Schlüsselspieler Mitte 2011 wie Cesc Fàbregas und Samir Nasri sowie unter dem Eindruck einer 2:8-Pleite gegen Manchester United am 28. August 2011 heuerte Wenger mit Per Mertesacker, Mikel Arteta, André Santos und Yossi Benayoun gleich vier Spieler am letzten Tag der Transferperiode an. Die Darbietungen stabilisierten sich schließlich und Arsenal belegte nach anfänglichen Platzierungen in der unteren Tabellenhälfte noch den dritten Rang. Weitere Umbauten folgten 2012 in Form des Abgangs des Torjägers Robin van Persie und der Verpflichtung von Akteuren wie Lukas Podolski, Olivier Giroud und Santi Cazorla. Ein Jahr später verpflichtete Arsenal Mesut Özil für eine neue vereinsinterne Rekordablösesumme. Die Resultate in der Premier League blieben mit dem jeweils vierten Abschlusstabellenplatz in der Spielzeiten 2012/13 und 2013/14 konstant. Der ersehnte Titelgewinn nach nun neun Jahren konnte hingegen im FA Cup bewerkstelligt werden, nachdem am 17. Mai 2014 im Finale der Außenseiter Hull City in der Verlängerung besiegt worden war. Durch den Cup-Gewinn qualifizierte sich Arsenal für den Community Shield, welchen sie am 10. August 2014 gegen den Ligagewinner Manchester City mit 3:0 gewannen. Nach einem schwachen Start beendete Arsenal die Saison 2014/15 dank einer starken Rückrunde auf dem dritten Tabellenplatz und erreichte die direkte und achtzehnte aufeinanderfolgende Champions-League-Qualifikation. Am 30. Mai 2015 folgte die erfolgreiche Titelverteidigung des englischen Pokals mit einem 4:0 gegen Aston Villa. Der FC Arsenal wurde damit kurzzeitig zum alleinigen Rekordgewinner dieser Trophäe, ehe Manchester United im Jahr darauf wieder nach Titeln gleichzog. Gegenwart (seit 2018) Zur Saison 2018/19 wurde der spanische Trainer Unai Emery, welcher bereits erfolgreich vier Jahre den FC Valencia, drei Jahre den FC Sevilla und zuletzt zwei Jahre lang Paris Saint-Germain trainierte als Nachfolger des nach 22 Jahren Amtszeit zurückgetretenen Arsène Wenger verpflichtet. In seiner ersten Saison erreichte er mit dem FC Arsenal den 5. Platz in der Premier League, somit wurde die Teilnahme an der UEFA Champions League erneut verpasst und musste sich wieder mit der UEFA Europa League zufriedengeben. In der Europa League erreichte er das Finale 2018/2019, welches er gegen den Rivalen FC Chelsea mit 4:1 verlor. In Emerys zweiter Saison blieb der Verein hinter den Erwartungen zurück. In der Premier League stand man nur auf Platz 8 und hatte schon zehn Punkte Rückstand auf die Champions-League-Plätze. Durch eine 2:1-Niederlage in der UEFA Europa League gegen Eintracht Frankfurt und zuletzt schlechten Leistungen in der Premier League wurde er nach knapp eineinhalb Jahren im November 2019 wieder entlassen. Es übernahm für 6 Spiele als Interimstrainer der ehemalige Arsenal-Spieler Freddie Ljungberg. Doch auch unter dem Schweden kam der Erfolg nicht zurück und der Verein nicht in die Spur, somit wurde er nicht zur dauerhaften Lösung beim FC Arsenal. Somit verpflichtete der FC Arsenal Ende Dezember 2019 den ehemaligen Co-Trainer von Pep Guardiola bei Manchester City, Mikel Arteta. Dieser spielte bereits als aktiver Fußballspieler für den FC Arsenal. Er wurde aber auch beim Traditionsverein FC Everton gehandelt, doch die Liverpooler entschieden sich für den ehemaligen AC-Mailand-Trainer Carlo Ancelotti (zuvor FC Bayern München und SSC Neapel). Unter Arteta konnte man 2020 im Finale des FA Cup durch ein 2:1 gegen den Lokalrivalen FC Chelsea mit dem Gewinn des 14. Titels wieder zum alleinigen Rekordsieger aufsteigen sowie sich direkt für die Gruppenphase der Europa League qualifizieren, in der Liga dagegen erreichte man mit Platz 8 das schlechteste Ergebnis seit 1994/95. Zu Saisonbeginn 2020/21 trennte sich der Klub nach einer Analyse der jüngsten Transferpolitik, die auch zum Abschied von Talentscout Sven Mislintat Anfang 2019 geführt hatte, vom bisherigen Sportdirektor Raul Sanllehi und Arteta wurde vom Head Coach zum First Team Manager befördert – ein Titel, den zuletzt Arsène Wenger innehatte. Er kam in der Europa League bis ins Halbfinale, wo gegen den angehenden Turniersieger Villarreal Endstation war. In der darauf folgenden Saison lag Arsenal mit vier Punkten Vorsprung auf dem vierten Platz, verlor dann jedoch in den letzten drei Runden gegen (den direkten Konkurrenten) Tottenham deutlich und gegen Newcastle United. Bei der Saison 2022/23 gestaltete sich der Start vielversprechend, nachdem man in der Europa League die ersten vier und in der Liga neun von zehn Begegnungen gewann. International kamen die Engländer nach dem Gruppenaufstieg nicht allzu weit, national wurden sie Vizemeister. Vereinswappen Der FC Arsenal enthüllte im Jahr 1888 sein erstes Wappen, auf dem drei nach Norden gerichtete Kanonen von oben betrachtet werden und in seiner Anordnung dem Wappen der Gebietskörperschaft Metropolitan Borough of Woolwich ähnelt. Die Kanonen werden manchmal mit Schornsteinen verwechselt, wobei der jeweils geschnitzte Löwenkopf sowie der Rückseitenknopf einer Kanone darauf hinweisen, dass es sich um Kanonen handelt. Im Jahr 1922 entwickelte der Verein sein erstes Wappen, das nur noch eine nach Osten weisende Kanone zeigte. Im Jahr 1925 wurde es durch eine Variante ersetzt, auf der die Kanone nach Westen wies. Zudem war der Kanonenlauf deutlich schmaler und auf der linken Seite erschien der Spitzname „The Gunners“. Im Jahr 1949 modernisierte der Verein dieses Wappen, behielt dabei den grundsätzlichen Kanonenstil bei, platzierte aber nun den Vereinsnamen darüber und ergänzte auf der Unterseite eine Spruchrolle mit dem neuen lateinischen Vereinsmotto „Victoria Concordia Crescit“ (sinngemäß „Erfolg entsteht aus Harmonie“, wörtlich: „Der Sieg wächst mit der Eintracht“). Unterhalb der Kanone ist das Wappen des Londoner Stadtbezirks Islington zu sehen. Erstmals entwickelte der FC Arsenal damit auch ein buntes Wappen in den Farben Rot, Grün und Goldfarben, das während seiner Verwendungszeit bis 2002 jeweils nur noch in Details verändert wurde. Aufgrund der zahlreichen Änderungen im Wappen gelang es dem FC Arsenal lange Zeit nicht, ein Urheberrecht darauf zu errichten, obwohl der Klub versucht hatte, es als Marke schützen zu lassen und einen langen Rechtsstreit gegen einen lokalen Straßenhändler, der „inoffizielle“ Arsenal-Merchandisingartikel verkaufte, gewinnen konnte. Um einen umfangreicheren Rechtsschutz zu erlangen, führte der Verein im Jahr 2002 ein neues Wappen ein, dessen vereinfachter Stil – mit abgerundeten Rändern – für diesen Zweck geeigneter schien. Die Kanone wurde nun erneut nach Osten gerichtet und der Vereinsname in einer serifenlosen Schriftart darüber platziert. Zudem ersetzten die Designer die grüne Farbe durch ein Dunkelblau. Diese Änderungen führten zu sehr wechselhaften Reaktionen bei der Anhängerschaft des Vereins. Ein Großteil kritisierte dabei, dass die Geschichte und die Tradition des Klubs zugunsten eines radikalen modernen Designs ignoriert wurden und dass die Meinungen der Anhänger keine ausreichende Berücksichtigung fanden. Vereinsfarben Die Mannschaften des FC Arsenal haben bei den Heimspielen zumeist rote Trikots mit weißen Ärmeln und ebenso weißen Hosen getragen, wobei diese Tradition aber durchaus Lücken im Laufe der Zeit aufwies. Die rote Farbe wurde bereits kurz nach der Vereinsgründung im Jahr 1886 festgelegt, quasi in Anerkennung für die Spende des ersten Trikotsatzes von Nottingham Forest. Mit Fred Beardsley und Morris Bates waren zwei der Gründungsmitglieder ehemalige Spieler dieses Vereins gewesen und später arbeitsbedingt nach Woolwich gezogen. Als sie eine Mannschaft zusammenstellten und keine Spielkleidung beschaffen konnten, erbaten die beiden schriftlich aus ihrer Heimat Hilfe und erhielten die gewünschten Trikotsätze und einen Ball. Die Farbe war zunächst Johannisbeerrot und ähnelte im Vergleich zu den heute bekannten Trikots einem burgunderfarbenen Dunkelrot. Dazu trugen die ersten Mannschaften weiße Hosen und blaue Strümpfe. Herbert Chapman strebte im Jahr 1933 eine Modernisierung an und plädierte dabei für eine prägnantere Farbgebung. An den roten Trikots setzten sich nun die Ärmel weiß ab und das Rot ähnelte fortan mehr dem, wie es für die Briefkästen der britischen Royal Mail verwendet wurde. Der Ursprung der Idee zu den weißen Ärmeln konnte bislang nicht vollständig rekonstruiert werden, wobei zwei mögliche Inspirationen zumeist spekuliert werden. Die erste Variante erzählt von einem Tribünenzuschauer, den Chapman erblickte und der unter einem ärmellosen roten Pullover ein weißes Hemd trug. Die andere Geschichte berichtet darüber, dass Chapman von einer ähnlichen Kleidung des berühmten Karikaturisten Tom Webster inspiriert wurde, mit dem der Trainer des FC Arsenal gelegentlich Golf spielte. Der FC Arsenal trug in der Folgezeit diese Kombination abgesehen von zwei Spielzeiten. Die erste Abweichung war in der Saison 1966/67, als die Mannschaft wieder reine rote Trikots trug, was aber von der Anhängerschaft stark kritisiert wurde und nach nur einem Jahr kehrte man im Trikotdesign zu den weißen Ärmeln zurück. Zuletzt trug der Verein in der letzten Saison im Highbury-Stadion 2005/06 komplett rote Trikots, die an das Outfit von 1913, dem ersten Jahr in dieser Spielstätte, erinnern sollten. Zur Saison 2006/07 kehrte der Klub zu seinen mittlerweile traditionellen Farben zurück. Die Heimfarben des FC Arsenal stellten die Vorlage für zumindest zwei weitere bedeutende Vereine dar. Im Jahr 1909 übernahm der tschechische Verein Sparta Prag die dunkelrote Hemdfarbe, die Arsenal damals trug. In den 1930er Jahren schloss sich der schottische Klub Hibernian Edinburgh dem Konzept, weiße Ärmel abzusetzen, an und ergänzte dies zu den dort benutzten grünen Trikots. Beide Vereine verwenden diese Designs bis zum heutigen Tage. Die Auswärtsfarben des Arsenal-Trikots sind traditionell Gelb und Blau, obwohl zwischen 1982 und 1984 ein grün-marineblaues Outfit gewählt wurde. Seit Beginn der 1990er Jahre und der beginnenden Kommerzialisierung des Trikotverkaufs haben sich die Farben des Auswärtstrikots kontinuierlich geändert. Eine inoffizielle Regel besagt, dass die Trikots nach jeder Saison neu entworfen und die veralteten Spielkleidungen als Trikots „dritter Wahl“ benutzt werden. Der allgemeine Trend liegt jedoch in einem gelb-blauen oder einem mit zwei verschiedenen Blautönen versehenen Design, wobei in der Saison 2001/02 aber auch eine auffällig andere Farbgebung aus Metallicgold und Marineblau verwendet wurde. Die Auswärtskleidung bestand zwischen 2005 und 2007 aus gelben Trikots und dunkelgrauen Shorts. Damit wurde die Eine-Saison-Regel durchbrochen, was als Ausgleich für die kurze Existenz des „Retro-Heimtrikots“ der Saison 2005/06 angesehen wurde. Zur Saison 2007/08 wich der Verein bei dem Auswärtstrikot erneut von seiner zuletzt üblichen Farborientierung ab und stellte weiße Shirts und kastanienfarbene Shorts vor. Seit 1982 wirbt der FC Arsenal auf den Trikots mit seinem jeweils aktuellen Hauptsponsoren. Bis 1999 war dies zunächst das Unternehmen JVC. Im Anschluss folgten von 1999 bis 2002 SEGA Dreamcast und von 2002 bis 2006 O₂. Aktueller Sponsor ist seit 2006 die Fluggesellschaft Emirates; der aktuelle Vertrag läuft bis zum Ende der Saison 2018/19. Die Trikothemden werden seit 2019 von Adidas hergestellt. Zuvor hatten sich bis 1986 Umbro, bis 1994 Adidas, bis 2014 Nike und bis 2019 Puma für die Ausrüstung der Mannschaft verantwortlich gezeigt. Spielstätten Als der Verein noch im Südosten Londons beheimatet war, spielte der FC Arsenal – mit Ausnahme der Jahre zwischen 1890 und 1893 im benachbarten Invicta Ground – zumeist im Manor Ground in Plumstead. Obwohl der Manor Ground ursprünglich nur ein Wiesenfeld umfasste, baute der Verein diese Heimspielstätte kontinuierlich aus. Noch bevor der erste Ligafußball im September 1893 gespielt wurde, hatte der FC Arsenal dort Tribünen und Terrassen erstellt. Bis zum Umzug im Jahr 1913 in den Norden der Stadt stellte der Manor Ground die sportliche Heimat des FC Arsenal dar. Zwischen September 1913 und Mai 2006 war das Highbury, offiziell Arsenal Stadium, die Heimspielstätte des Vereins. Das Stadion wurde von dem berühmten Architekten Archibald Leitch entworfen und zeichnete sich durch ein Design aus, das typisch für britische Spielstätten zu dieser Zeit war: eine einzige überdachte Tribüne und drei Freiluft-Terrassen. In den 1930er-Jahren fand eine komplette Renovierung des Highbury mit einer Errichtung einer neuen West- und Osttribüne im Art-Déco-Stil statt. Die beiden Nord- und Südtribünen wurden überdacht, wobei letztere ihren Namen Clock End von der großen Uhr erhielt, die dort eingebaut wurde. Das Highbury besaß dadurch eine Kapazität für über 60.000 Zuschauer, die bis zu Beginn der 1990er-Jahre auf 57.000 reduziert wurde. Die Ergebnisse des Taylor-Reports zur Sicherheit in den Stadien nach der Hillsborough-Katastrophe gaben vor, dass in allen Fußballstadien die Steh- in Sitzplätze umgewandelt werden sollten. Und so reduzierte sich das Fassungsvermögen drastisch auf 38.419 Sitzplätze zu Beginn der Saison 1993/94. Diese Kapazität musste bei Champions-League-Spielen aufgrund von Vermarktungsvorgaben für Werbeflächen weiter reduziert werden, so dass der Verein die Spielzeiten 1998/99 und 1999/2000 in diesem Wettbewerb im Wembley-Stadion bestritt, das Platz für über 70.000 Personen bot. Ein fundamentaler Ausbau des Highbury schied als Option aus, da zum einen die Osttribüne unter Denkmalschutz gestellt worden war und drei weitere Tribünen zu nahe an Wohnbereichen grenzten, deren Eigentümer sich strikt gegen Erweiterungspläne stellten. Diese Einschränkungen verhinderten somit, dass der Verein die Zuschauereinnahmen angesichts seiner Leistungsstärke maximieren konnte und nach der Prüfung alternativer Lösungen verkündete die Klubführung im Jahr 1999, dass ein neues reines Sitzplatzstadion für 60.000 Personen in Ashburton Grove – rund 500 Meter südwestlich des Highbury – gebaut werden sollte. Das Bauprojekt verzögerte sich aufgrund bürokratischer Probleme und gestiegener Kosten, konnte aber im Juli 2006 rechtzeitig vor Beginn der Saison 2006/07 fertiggestellt werden. Das Highbury Stadium wurde teilweise abgerissen (Nord- und Südtribünen), teilweise umgebaut (Ost- und Westtribünen). Auf dem alten Spielfeld wurde ein Garten mit Urnenfeldern für Arsenalfans angelegt. Die Fluggesellschaft Emirates unterzeichnete mit dem FC Arsenal einen Sponsorenvertrag über circa 100 Millionen Pfund, wobei dieses Volumen eines der umfangreichsten in der englischen Fußballgeschichte darstellt. Ein Teil des Abkommens war dabei die Umbenennung des Ashburton-Grove-Stadions in „Emirates Stadium“ bis mindestens 2012 – der Vertrag hinsichtlich der offiziellen Stadionbezeichnung wurde 2012 bis 2028 verlängert. In der Anhängerschaft – vor allem unter den Gegnern der Stadionumbenennung – wird das neue Stadion weiterhin als „Ashburton Grove“ oder kurz „The Grove“ bezeichnet. Gegnerische Fans bezeichnen das Emirates scherzhaft auch als The Library (die Bibliothek), da es nach ihrer Auffassung hier deutlich leiser zugeht als im Highbury. Zuschauerschnitt seit der Saison 1975/76 Der höchste Zuschauerschnitt der Gunners stammt aus der Premier-League-Saison 2012/13 mit 60.079 Besuchern. Der niedrigste Schnitt wurde in der First Division 1985/86 erzielt. Nur 23.813 Fans kamen pro Spiel in das Highbury. Anhängerschaft des Vereins Der FC Arsenal verfügt über eine große und üblicherweise loyale Fanbasis, was sich vor allem darin äußert, dass in der Regel die Heimspiele ausverkauft sind. Bezogen auf die Saison 2006/07 hatte der FC Arsenal den zweithöchsten Zuschauerschnitt eines englischen Fußballvereins (60.045 Zuschauer, was einer 99,8%igen Auslastung des Emirates Stadium entsprach). Kumuliert über alle Spielzeiten in der Geschichte des englischen Fußballs erhielt der FC Arsenal den viertbesten Zuspruch, wobei berücksichtigt werden muss, dass vor allem die Vorkriegsangaben auf Schätzungen beruhen und nicht als genau angesehen werden können. Die Arsenal-Anhänger bezeichnen sich selbst in Abwandlung zu dem Spitznamen des Vereins „The Gunners“ als „The Gooners“. Aufgrund der geografischen Lage des Klubs entstammen die Fans sowohl aus den reichen Bezirken Canonbury und Barnsbury, Regionen mit gemischter Bevölkerungsstruktur aus Islington, Holloway und Highbury, als auch aus großen Arbeitergegenden, wie Finsbury Park und Stoke Newington. Mit etwa 7,7 % verfügt der FC Arsenal gemäß einem Bericht aus dem Jahre 2002 – bezogen auf alle englischen Erstligavereine zu dieser Zeit – über den höchsten Anteil an „nicht-weißen britischen“ („not white British“) Zuschauern, was im Vergleich zu dem Gesamtanteil von nur einem Prozent bezogen auf alle Vereine eine weit überdurchschnittliche Resonanz bei ethnischen Minderheiten nachweist. Wie viele der großen englischen Fußballvereine verfügt der FC Arsenal sowohl über eine Reihe von offiziellen Fanclubs, die mit dem Verein direkt in Verbindung stehen wie zum Beispiel der „Official Arsenal Football Supporters Club“ als auch über Anhängervereinigungen, die sich ihre völlige Eigenständigkeit beibehalten, wobei vor allem die „Arsenal Independent Supporters' Association“ zu nennen ist. Die Fanclubs veröffentlichen außerdem Zeitschriften zum Vereinsgeschehen („Fanzines“), darunter „The Gooner“, „Highbury High“, „Gunflash“ und „Up The Arse!“. Neben den üblichen englischen Fangesängen ist „One-Nil to the Arsenal“ zu der Melodie des Lieds „Go West“ und „Boring, Boring Arsenal“ bei den Arsenal-Fans häufig zu hören. Der zuletzt genannte Sprechchor wurde früher als Beleidigung von Seiten der gegnerischen Fans angesichts der häufig sehr defensiv orientierten Spielweise Arsenals ab den 1970ern bis zu Beginn der 1990er-Jahre benutzt, später jedoch ironisch von den eigenen Anhängern genau dann intoniert, wenn die Mannschaft besonders gut spielt. In der jüngeren Vergangenheit löste sich wie auch bei anderen Klubs die regionale Verankerung der Fans zu den jeweils einheimischen Vereinen immer deutlicher, was sich darin auswirkt, dass der FC Arsenal immer größere Anhängeranteile außerhalb Londons im gesamten Rest Englands und auch weltweit dazu gewinnt. Obwohl der Verein auch zuvor schon über kleinere auswärtige Fangemeinden verfügt hatte, konnte die Fanbasis seit der Verbreitung über das Satellitenfernsehen sprunghaft erweitert werden. Zudem sind weltweit einige bedeutsame Fanclubs neu entstanden. Die ITV-Tochtergesellschaft „Granada Ventures“, die zu diesem Zeitpunkt Vereinsanteile in Höhe von 9,9 % hielt, schätzte die globale Fanbasis des FC Arsenal auf 27 Millionen, dem dritthöchsten Zuspruch eines Fußballvereins überhaupt. Mit Tottenham Hotspur verbindet den FC Arsenal – auch aufgrund der geringsten regionalen Distanz – seine traditionsreichste und größte Rivalität. Die Spiele zwischen diesen beiden Teams werden als „North London Derby“ bezeichnet. Auch die Partien gegen andere Mannschaften aus London wie beispielsweise gegen den FC Chelsea und West Ham United werden als Derbys bezeichnet. Die Intensität ist in diesen Spielen deutlich geringer als bei Spielen zwischen Arsenal und Tottenham. Seit dem Ende der 1980er-Jahre entwickelte sich zudem auf dem Spielfeld eine große Rivalität zwischen Arsenal und Manchester United, die sich in der jüngsten Vergangenheit noch deutlich verstärkte, da sich die beiden Vereine häufig im direkten Wettstreit um den Gewinn der englischen Meisterschaft befanden. Finanzsituation/Eigentümerschaft Der US-amerikanische Unternehmer Stan Kroenke besitzt seit April 2011 die Mehrheit der Anteile am Arsenal Football Club, nachdem er sein Engagement seit Mai 2007 ausgebaut hatte. Im August 2018 erlangte Kroenke durch einen Buy-out die vollständige Eigentümerschaft. Als Muttergesellschaft von Arsenal operiert die „Arsenal Holdings Limited“ als Limited company, wobei sich die Eigentumsverhältnisse vor dem Buy-out enorm von denen anderer Fußballvereine unterschieden hatte. Arsenal hatte lediglich 62.219 Aktienanteile ausgegeben, die zudem nicht an öffentlichen Börsen, sondern unregelmäßig auf dem Spezialistenmarkt „ICAP Securities and Derivatives Exchange (ISDX)“ (vormals: „PLUS“) gehandelt worden waren. Gemäß der Bewertung vor dem letzten Handel besaß das Unternehmen im Jahr 2018 einen Börsenwert von 1,867 Milliarden britischen Pfund. Die Gruppe „Arsenal Holdings Limited“ konsolidiert 19 Einzelunternehmen, wozu beispielsweise der Fußballklub selbst („The Arsenal Football Club plc“), die Betreibergesellschaft des Stadions („Arsenal (Emirates Stadium) Limited“) und die in Auslandsfragen zuständige „Arsenal Overseas Ltd“ zählen. Der Konzern erwirtschaftete im zum 31. Mai 2020 abgelaufenen Geschäftsjahr ein negatives Vorsteuerergebnis in Höhe von 54,0 Millionen Pfund bei einem Gesamtumsatz in Höhe von 334,5 Millionen Pfund. Das wirtschaftliche Eigenkapital lag bei 345,1 Millionen Pfund, die kurzfristigen Verbindlichkeiten bei 236,0 Millionen Pfund und die Personalaufwendungen bei 234,5 Millionen Pfund. Das Wirtschaftsmagazin Forbes taxierte den Wert des FC Arsenal im Jahr 2021 mit 2,8 Milliarden US-Dollar und stufte den Klub auf dem achten Rang der weltweit lukrativsten Fußballvereine ein. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte reihte den FC Arsenal im Jahr 2021 aufgrund der Umsatzerlöse in Höhe von 388,0 Millionen Euro in der zurückliegenden Saison 2019/20 in seiner Rangliste „Football Money League“ auf dem elften Platz ein. Arsenal in der Popkultur Als eine der erfolgreichsten Fußballmannschaften Englands wurde Arsenal häufig zitiert, wenn sich das kulturelle Leben mit dem einheimischen Fußball beschäftigte. Nachdem am 22. Januar 1927 mit dem Heimspiel des FC Arsenal gegen Sheffield United erstmals ein englisches Meisterschaftsspiel live im Radio übertragen worden war, fand am 16. September 1937 zwischen Arsenal und seiner Reservemannschaft das erste direkt im Fernsehen übertragene Spiel statt. Auch in der ersten Ausgabe der BBC-Sendung Match of the Day war Arsenals Partie am 22. August 1964 beim FC Liverpool in Anfield als Zusammenfassung zu sehen. Der Film The Arsenal Stadium Mystery aus dem Jahre 1939 gilt zudem als einer der ersten seiner Art, die sich mit dem Thema Fußball auseinandersetzten. Dieser Film handelt von einem Freundschaftsspiel Arsenals gegen eine Amateurmannschaft, von der ein Spieler während der Partie vergiftet wird. Viele Arsenal-Akteure spielen sich selbst, nur George Allison besaß eine Sprechrolle. In der jüngeren Vergangenheit gelangte vor allem der von Nick Hornby verfasste Bestseller Fever Pitch zu weltweiter Bekanntheit, in dem der Autor autobiografisch seine Beziehung zum Fußball und speziell zu Arsenal beschreibt. Das 1992 veröffentlichte literarische Werk war, nach der weitreichenden Ächtung durch weite Teile der Öffentlichkeit in den 1980er-Jahren aufgrund von Ereignissen wie der Katastrophe von Heysel, mitverantwortlich für die Rehabilitierung und Etablierung des Fußballs innerhalb der britischen Gesellschaft in den 1990ern. Das Buch wurde 1997 mit Colin Firth in der Hauptrolle verfilmt, wobei sich die Darstellung vorrangig auf den Gewinn der Meisterschaft in der Saison 1988/89 konzentrierte. Darüber hinaus inspirierte das Buch den US-amerikanischen Film „Ein Mann für eine Saison“ aus dem Jahre 2005, die sich mit dem Leben eines Anhängers des Major-League-Baseball-Teams Boston Red Sox beschäftigte. Besonders in den 1970ern bis zum Beginn der 1990er-Jahre war der FC Arsenal im komödiantischen Bereich aufgrund der defensiven und als „langweilig“ empfundenen Spielweise Ziel von Spott. Besonders trat dabei der Komiker Eric Morecambe hervor. Sogar noch im Jahr 1997 verwies eine Szene im Film Ganz oder gar nicht auf eine Abwehrformation des FC Arsenal, als sich die Hauptcharaktere auf einer Linie bewegten, gemeinsam die Hand hoben und so das erfolgreiche Ergebnis ihrer Abseitsfalle reklamierten. Ein weiterer Bezug auf die Arsenal-Defensive nimmt der Film Plunkett & Macleane – Gegen Tod und Teufel, wo zwei Charaktere nach den langjährigen Außenverteidigern Lee Dixon und Nigel Winterburn benannt sind. Zusätzlich war der Verein Gegenstand von vielen Sketchen in „Monty Python’s Flying Circus“. In dem Buch Per Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams bemerkte der Barmann angesichts des drohenden Weltuntergangs „Glück für Arsenal, wenn’s stimmt.“ Im Jahr 2004 trugen die Hauptcharaktere in der Gangsterkomödie Ocean’s 12 Sportanzüge der Gunners, um so während eines Diebstahls in Europa aus einem Hotel zu entkommen. Auch in der Popmusik war der FC Arsenal häufig vertreten. Joe Strummer schrieb beispielsweise in einer Widmung an den damaligen Mannschaftskapitän das Lied Tony Adams, das Teil seines 1999 veröffentlichten Albums „Rock Art and the X-Ray Style“ war. Strummer war zudem dafür bekannt, dass er einen Arsenal-Fanschal während seiner Auftritte trug – trotz der Tatsache, dass er Anhänger des FC Chelsea war. Gemeinsam mit Tottenham Hotspur wurde der FC Arsenal außerdem in dem Song Billy’s Bones von The Pogues aus dem zweiten Album Rum, Sodomy & the Lash erwähnt. Der Verein selbst war mehrfach zumindest in der britischen Hitparade vertreten. Es hat in Großbritannien eine gewisse Tradition, dass gerade auch die berühmten Vereine zeitweilig eine Schallplatte veröffentlichen. 1971 erreichte Good Old Arsenal Platz 16 der Charts, im Mai 1993 kam Shouting for the Gunners auf Platz 34. 1998 wurde der größte musikalische Erfolg gefeiert: Die Coverversion Hot Stuff, original von Donna Summer, gelangte mit verändertem Text unter die Top 10, auf Platz 9. Titel/Erfolge National Englische Meisterschaft: 13 1931, 1933, 1934, 1935, 1938, 1948, 1953, 1971, 1989, 1991, 1998, 2002, 2004 Englischer Pokal (FA Cup): 14 (Rekord) 1930, 1936, 1950, 1971, 1979, 1993, 1998, 2002, 2003, 2005, 2014, 2015, 2017, 2020 Englischer Ligapokal (League Cup): 2 1987, 1993 Englischer Supercup (Charity Shield/Community Shield): 17 1930, 1931, 1933, 1934, 1938, 1948, 1953, 1991 (geteilt), 1998, 1999, 2002, 2004, 2014, 2015, 2017, 2020, 2023 International Messepokal: Sieger (1): 1970 Europapokal der Pokalsieger: Sieger (1): 1994 Finalist (1): 1995 UEFA Champions League: Finalist (1): 2006 UEFA Europa League: Finalist (2): 2000, 2019 UEFA Super Cup: Finalist (1): 1994 Spieler Aktueller Kader 2023/24 Stand: 13. August 2023 Ehemalige Spieler Die folgende Aufstellung zeigt jeweils die 20 Spieler mit den meisten Pflichtspieleinsätzen und -toren in der Geschichte des FC Arsenal. Trainerchronik Stand: Ende der Saison 2013/14. Nur offizielle Spiele wurden berücksichtigt.(P,S,U,N=Anzahl Spiele/Siege/Unentschieden/Niederlagen; T+/T-=Anzahl Treffer/Gegentreffer) „Arsenal Reserves“, „Arsenal Academy“ und „Scouting“ Die „Arsenal Reserves“ stellen die offizielle zweite Mannschaft des FC Arsenal dar. Sie spielen seit der Gründung der „Premier Reserve League“ im Jahr 1999 in der dazugehörenden Südabteilung („Southern Division“) und absolvieren dabei ihre Heimspiele im Underhill Stadium, das gleichzeitig die sportliche Heimat des FC Barnet ist. Üblicherweise besteht die Reservemannschaft des FC Arsenal aus jungen Nachwuchsspielern der eigenen Akademie, die das 21. Lebensjahr noch nicht überschritten haben. Häufig wird dieses Team jedoch auch von etablierten Spieler aus der ersten Mannschaft vor allem dann genutzt, wenn sich diese beispielsweise nach einer Verletzungspause Spielpraxis besorgen wollen. Momentan wird das Reserveteam von Neil Banfield trainiert, dem zusätzlich Mike Salmon als Assistent zur Seite steht. Für die grundsätzliche Entwicklung der zweiten Mannschaft zeichnet mit Liam Brady der Leiter der Jugendakademie „Arsenal Academy“ verantwortlich (sein Assistent ist wiederum David Court). Schon seit den frühesten Tagen als „Royal Arsenal“ in Plumstead verfügte der Klub über eine Reservemannschaft, die im Jahr 1890 mit dem „Kent Junior Cup“ ihren ersten Titel holte. Als „Woolwich Arsenal“ – wie der Verein ab 1891 hieß – schloss man sich in der Saison 1895/95 der „Kent League“ an, gewann 1897 die Meisterschaft und verließ 1900 – oder kurze Zeit später – diese Liga wieder. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde das Arsenal-Reserveteam Teil der „London Combination“ (später: „Football Combination“) und war dort lange Jahre bis 1999 aktiv. Insgesamt konnte die Mannschaft 18 Meisterschaften gewinnen und fügte dem drei Pokalsiege im „Combination Cup“ hinzu. Danach war der Verein Mitbegründer der FA Premier Reserve League und spielt dort bis zum heutigen Tage. Nennenswerte Erfolge sind dort bislang ausgeblieben – abgesehen von dem Gewinn der Vizemeisterschaft am Ende der Saison 2001/02. Die „Arsenal Academy“ besitzt seit 1998 den offiziellen Status einer Fußballakademie und beherbergt Jugendliche im Alter zwischen neun und 21 Jahren. Dabei werden normalerweise Jahrgangsauswahlen in den Jugendmannschaften von der U-9 bis hinauf zur U-16 gebildet, die momentan unter der gemeinsamen Kontrolle von Roy Massey stehen und im „Hale End Training Centre“ ansässig sind. Die früheren U-17- und U-19-Teams und die dazugehörenden Meisterschaftsrunden wurden nach Ablauf der Saison 2003/04 von der FA abgeschafft und stattdessen eine U-18-Liga eingerichtet, in der seitdem die Akademiemannschaften der einzelnen Vereine gegeneinander antreten. Gewöhnlicherweise trainiert die von Steve Bould betreute U-18-Auswahl des FC Arsenal an der gleichen Stelle wie das Profiteam. Der wohl prominenteste Emporkömmling aus der Akademiearbeit ist Ashley Cole, der auf der linken Verteidigerposition Stammspieler in der ersten Mannschaft, zum Nationalspieler Englands wurde und heute für den AS Rom spielt. Mit dem dänischen Stürmer Nicklas Bendtner, der als 16-Jähriger der Arsenal Academy beigetreten war, brachte der Verein einen weiteren Spieler bis in die A-Nationalmannschaft seines Landes hervor. Zusätzlich befinden sich unter den Absolventen die (ehemaligen) englischen U-21-Nationalspieler Stuart Taylor, Jermaine Pennant, David Bentley, Steve Sidwell und Justin Hoyte. Zudem entstammt mit Jérémie Aliadière ein vormaliger französischer U-21-Auswahlspieler der Arsenal-Nachwuchsarbeit. Im Bereich Scouting verfügt der FC Arsenal über eine weltweit operierende Struktur zur Sichtung von Spielern. Diese Abteilung wurde von 1996 bis 2017 von Steve Rowley († 63, 2022) geleitet, der seit 1980 im Verein aktiv war und vorher in einer Assistentenfunktion für die Sichtung von Jugendspielern zuständig gewesen war. Später fertigte er Expertisen zu kommenden Gegnern der Profimannschaft an. Im Jahr 1996 beförderte ihn Arsène Wenger zum „Chef-Scout“. Rowley stand vor allem einem Netz von 16 inländischen „Scouts“ vor, die ihm regelmäßig Berichte über erfolgreiche Sichtungen anfertigten. Erfolge (Es wurden nur die Titel der Reservemannschaft aufgezählt.) Meister in der „Football Combination“ (früher: „London Combination“): 18 (1923, 1927, 1928, 1929, 1930, 1931, 1934, 1935, 1937, 1938, 1939, 1947, 1951, 1963, 1969, 1970, 1984, 1990) Gewinner im „Football Combination Cup“: 3 (1953, 1968, 1970) Gewinner im „London FA Challenge Cup“: 7 (1934, 1936, 1954, 1955, 1958, 1963, 1970) Meister in der „Kent League“: 1 (1897) Meister in der „West Kent League“: 3 (1901, 1902, 1903) Meister in der „London League First Division“: 3 (1902, 1904, 1907) Gewinner im „Kent Junior Cup“: 1 (1890) Arsenal Women FC 1987 wurde der Arsenal Women FC (Arsenal Women FC oder kurz Arsenal WFC, bis Juli 2017: Arsenal Ladies Football Club bzw. Arsenal LFC) gegründet. Gründer des Vereins war Vic Akers. Sie sind der erfolgreichste Frauenfußballverein in England. Die Spielstätte der Arsenal WFC ist der Meadow Park in Borehamwood, Hertfordshire. Erfolge International UEFA-Women’s-Cup-Sieger: 2007 National FA WSL: 3 2011, 2012, 2018/19 FA Women’s Premier League National Division: 12 1992/93, 1994/95, 1996/97, 2000/01, 2001/02, 2003/04, 2004/05, 2005/06, 2006/07, 2007/08, 2008/09, 2009/10 FA Women’s Cup: 14 1992/93, 1994/95, 1997/98, 1998/99, 2000/01, 2003/04, 2005/06, 2006/07, 2007/08, 2008/09, 2010/11, 2012/13, 2013/14, 2015/16 FA WSL Continental Cup: 5 2011, 2012, 2013, 2015, 2018 FA Women’s Premier League Cup: 10 1991/92, 1992/93, 1993/94, 1997/98, 1998/99, 1999/2000, 2000/01, 2004/05, 2006/07, 2008/09 FA Women’s Community Shield: 5 2000, 2001, 2005, 2006, 2007, 2008 London County FA Women’s Cup: 10 1994/95, 1995/96, 1996/97, 1999/2000, 2003/04, 2006/07, 2007/08, 2008/09, 2009/10, 2010/11 FA Women’s Premier League Southern Division: 1 1991/92 Highfield Cup: 1 1990/91 Reebok Cup: 2 1991/92, 1995/96 AXA Challenge Cup: 1 1998/99 Statistiken und Rekorde Vereinsrekorde Siege Die meisten Meisterschaftssiege in einer Saison – 29 in 42 Spielen, First Division, Saison 1970/71 Die wenigsten Meisterschaftssiege in einer Saison – 3 in 38 Spielen, First Division, Saison 1912/13 Niederlagen Die meisten Meisterschaftsniederlagen in einer Saison – 23 in 38 Spielen, First Division, Saison 1912/13 Die wenigsten Meisterschaftsniederlagen in einer Saison – 0 in 38 Spielen, Premier League, Saison 2003/04 Tore Die meisten in einer Saison erzielten Meisterschaftstore – 127 in 42 Spielen, First Division, Saison 1930/31 Die wenigsten in einer Saison erzielten Meisterschaftstore – 26 in 38 Spielen, First Division, Saison 1912/13 Die meisten in einer Saison kassierten Meisterschaftstore – 86 in 42 Spielen, First Division, Saison 1926/27, 1927/28 Die wenigsten in einer Saison kassierten Meisterschaftstore – 17 in 38 Spielen, Premier League, Saison 1998/99 Punkte Die meisten in einer Saison erzielten Meisterschaftspunkte (2-Punkte-Regelung) – 66 in 42 Spielen, First Division, Saison 1930/31 Die meisten in einer Saison erzielten Meisterschaftspunkte (3-Punkte-Regelung) – 90 in 38 Spielen, Premier League, Saison 2003/04 Die wenigsten in einer Saison erzielten Meisterschaftspunkte (2-Punkte-Regelung) – 18 in 38 Spielen, First Division, Saison 1912/13 Die wenigsten in einer Saison erzielten Meisterschaftspunkte (3-Punkte-Regelung) – 51 in 42 Spielen, Premier League, Saison 1994/95 Spiele Debüts Erstes Spiel – Freundschaftsspiel gegen die Eastern Wanderers, 11. Dezember 1886 (6:0) Erstes FA-PokalSpiel – erste Qualifikationsrunde gegen den FC Lyndhurst, 5. Oktober 1889 (11:0) Erstes FA-Pokal-Hauptrundenspiel – Erstrundenspiel gegen Derby County, 17. Januar 1891 (1:2) Erstes Meisterschaftsspiel – gegen Newcastle United in der Second Division, 2. September 1893 (2:2) Erstes Erstligaspiel – gegen Newcastle United, 3. September 1904 (0:3) Erstes Spiel in Highbury – gegen Leicester Fosse in der Second Division, 16. September 1913 (2:1) Erstes Europapokalspiel – gegen Stævnet (Kopenhagen XI) im Messepokal, 25. September 1963 (7:1) Erstes Ligapokalspiel – gegen den FC Gillingham, 13. September 1966 (1:1) Erstes Spiel im Emirates Stadium – Freundschaftsspiel gegen Ajax Amsterdam, 22. Juli 2006 (2:1) Rekordsiege Höchster Meisterschaftssieg – 12:0 (im Heimspiel gegen Loughborough Town in der Second Division, 12. März 1900) Höchster Sieg im FA Cup – 12:0 (im Heimspiel gegen Ashford United, 14. Oktober 1893) Höchster Erstligasieg – 9:1 (im Heimspiel gegen Grimsby Town, 28. Januar 1931) Höchster Premier-League-Sieg – 7:0 (in den Heimspielen gegen den FC Everton, 11. Mai 2005 und gegen den FC Middlesbrough, 14. Januar 2006) Höchster Ligapokalsieg – 7:0 (im Heimspiel gegen Leeds United, 4. September 1979) Höchster Auswärtssieg und Höchster Sieg in einem Europapokal-Auswärtsspiel – 7:0 (gegen Standard Lüttich im Europapokal der Pokalsieger, 3. November 1993) Höchster Sieg im Highbury – 11:1 (gegen den FC Darwen im FA Cup, 9. Januar 1932) Höchster Sieg im Emirates Stadium – 7:0 (gegen Slavia Prag in der Champions League, 23. Oktober 2007) Höchster Sieg in einem Europapokalspiel – 7:0 (auswärts bei Standard Lüttich im Europapokal der Pokalsieger am 3. November 1993 und im Heimspiel gegen Slavia Prag in der Champions League am 23. Oktober 2007) Rekordniederlagen Höchste Meisterschaftsniederlage – 0:8 (im Auswärtsspiel gegen Loughborough Town in der Second Division, 12. Dezember 1896) Höchste Heimniederlage – 0:6 (gegen Derby County im FA Cup, 28. Januar 1899) Höchste Niederlage im FA Cup – 0:6 (im Heimspiel gegen Derby County im FA Cup, 28. Januar 1899 und im Auswärtsspiel gegen West Ham United, 5. Januar 1946) Höchste Erstliganiederlage – 0:7, jeweils in Auswärtsspielen (gegen die Blackburn Rovers am 2. Oktober 1909, West Bromwich Albion am 14. Oktober 1922, Newcastle United am 3. Oktober 1925 und gegen West Ham United am 7. März 1927) Höchste Premier-League-Niederlage – 2:8 (im Auswärtsspiel gegen Manchester United, 28. August 2011) Höchste Ligapokalniederlage – 0:5 (im Heimspiel gegen den FC Chelsea, 11. November 1999) Höchste Europapokalniederlage – 1:5 (im Auswärtsspiel gegen den FC Bayern München in der Champions League, 4. November 2015) Höchste Heimniederlage im Highbury – 0:5, (gegen Huddersfield Town in der First Division, 14. Februar 1925 und den FC Chelsea im Ligapokal, 11. November 1999) Höchste Heimniederlage im Emirates Stadium – 1:5 (gegen den FC Bayern München in der Champions League, 7. März 2017) Remis-Rekorde Das torreichste Unentschieden – 6:6 (im Auswärtsspiel gegen Leicester City in der First Division, 21. April 1930) Serien Siege Serie gewonnener Spiele (alle Wettbewerbe) – 14 (12. September 1987 bis 11. November 1987) Serie gewonnener Spiele (nur Meisterschaft) – 14 (10. Februar 2002 bis 18. August 2002) Remis Längste Remis-Serie (sowohl in allen Wettbewerben als auch nur auf die Meisterschaft bezogen) – 6 (3. März 1961 bis 1. April 1961) Niederlagen Serie verlorener Spiele (alle Wettbewerbe) – 8 (12. Februar 1977 bis 12. März 1977) Serie verlorener Spiele (nur Meisterschaft) – 7 (12. Februar 1977 bis 12. März 1977) Spiele ohne Niederlage Serie ungeschlagener Spiele (alle Wettbewerbe) – 28 (9. April 2007 bis 24. November 2007) Serie ungeschlagener Spiele (nur Meisterschaft) – 49 (7. Mai 2003 bis 16. Oktober 2004) Zuschauerrekorde Höchste Zuschauerzahl bei einem Heimspiel – 73.707 (gegen den RC Lens in der Champions League, 25. November, 1998 im Wembley-Stadion, wo Arsenal zwischen 1998 und 1999 seine Champions-League-Heimspiele austrug). Höchste Zuschauerzahl im Highbury – 73.295 (gegen den FC Sunderland in der First Division, 9. März 1935) Höchste Zuschauerzahl im Emirates Stadium – 60.161 (gegen Manchester United in der Premier League, 3. November 2007) Spielerrekorde Individuelle Vereinsrekorde Spieler mit den meisten Pflichtspieleinsätzen – 722, David O’Leary zwischen 1975 und 1993 Jüngster eingesetzter Spieler – Cesc Fàbregas, 16 Jahre, 177 Tage (gegen Rotherham United, Englischer Ligapokal, 28. Oktober 2003) Ältester eingesetzter Spieler – Jock Rutherford, 41 Jahre, 159 Tage (gegen Manchester City, First Division, 20. März 1926) Rekordeinsätze ohne Unterbrechung – Tom Parker, 172 (3. April 1926 bis 26. Dezember 1929) Die meisten Pflichtspieltore – 229, Thierry Henry zwischen 1999 und 2007 sowie 2012 Die meisten Tore in einer Saison – 44, Ted Drake (1934/35) Die meisten Meisterschaftstore in einer Saison – 42, Ted Drake, (1934/35) Die meisten Tore in einem Spiel – 7, Ted Drake (gegen Aston Villa, First Division, 14. Dezember 1935) Die meisten Tore in einem Heimspiel – 5, Jack Lambert (gegen Sheffield United, First Division, 24. Dezember 1932) Das schnellste Tor – 13 Sekunden, Alan Sunderland (gegen den FC Liverpool im FA Cup, 28. April 1980) Länderspiele Erster Nationalspieler – Caesar Jenkyns (für Wales gegen Schottland, 21. März, 1896) Erster englischer Nationalspieler – Jimmy Ashcroft (gegen Irland, 17. Februar 1906) Rekordnationalspieler – Patrick Vieira, 79 Einsätze für Frankreich (während seiner Zeit beim FC Arsenal) Rekordnationalspieler für England – Kenny Sansom, 77 Einsätze (während seiner Zeit beim FC Arsenal) Erster Teilnehmer an einer Fußballweltmeisterschaft – Dave Bowen und Jack Kelsey (für Wales gegen Ungarn, 8. Juni 1958) Erster Teilnehmer für England an einer Fußballweltmeisterschaft – Graham Rix und Kenny Sansom (gegen Frankreich, 16. Juni 1982) Erster Teilnehmer an einem Weltmeisterschaftsendspiel – Emmanuel Petit und Patrick Vieira (als Einwechselspieler) (für Frankreich gegen Brasilien, 12. Juli 1998) Literatur Weblinks Offizielle Website (englisch) „Arsenal statistics“ (Arseweb) Einzelnachweise Arsenal FC London, Arsenal FC Gegründet 1886 Organisation (London Borough of Islington)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Herz-Lungen-Wiederbelebung
Herz-Lungen-Wiederbelebung
Die Herz-Lungen-Wiederbelebung oder kardiopulmonale Reanimation soll einen Atem- und Kreislaufstillstand beenden und damit den unmittelbar drohenden Tod des Betroffenen abwenden. Andere Namen hierfür sind Wiederbelebung, Reanimation und (CPR). Bei einem Kreislaufstillstand ist es unerlässlich, schnell zu handeln: Bereits nach ungefähr drei Minuten wird das Gehirn nicht mehr genügend mit Sauerstoff versorgt, sodass dort irreversible Schäden auftreten können. Mit der Herzdruckmassage kann der Restsauerstoff im Blut zirkulieren und so bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes bzw. fachlicher Hilfe die Überlebenswahrscheinlichkeit entscheidend erhöht werden. Auch ohne Ersthelferkenntnisse ist es dem medizinischen Laien so möglich, mittels der Basismaßnahmen (basic life support) Leben zu retten oder zumindest zu verlängern. Er soll prüfen, ob die bewusstlose Person noch normal atmet, unter der europaweit gültigen Notrufnummer 112 den Rettungsdienst rufen sowie bei Erwachsenen auf einem nicht nachgebenden Untergrund fest und 100 bis 120 Mal pro Minute das Brustbein in der Mitte des Brustkorbs etwa fünf Zentimeter eindrücken und wieder komplett entlasten und nicht damit aufhören, bis Hilfe eintrifft. Die Beatmung ist nicht die wichtigste Maßnahme bei Menschen mit plötzlichem Herz-Kreislauf-Stillstand. Zentral und effektiv ist die Herzdruckmassage. Nach Möglichkeit sollte sie durch eine Beatmung (z. B. Mund-zu-Mund-Beatmung) ergänzt werden. Folgender Rhythmus wird bei erwachsenen Patienten empfohlen: 30 Mal drücken und danach zweimal beatmen. Sofern in der Nähe vorhanden, kann auch ein automatisierter externer Defibrillator (AED) eingesetzt werden. Erweiterte Maßnahmen (advanced life support) erfordern speziell ausgebildetes Personal mit entsprechenden Hilfsmitteln bzw. Geräten und werden von Mitarbeitern des Rettungsdienstes, einem Notarzt oder auch dem medizinischen Fachpersonal im Krankenhaus durchgeführt. Dabei kommen die Gabe von Medikamenten, die Intubation, professionelle Defibrillation und äußere (transkutane) Herzschrittmacher zum Einsatz. Dennoch ist die Prognose wiederbelebter Patienten schlecht, die längerfristige Überlebensrate (Zeitpunkt der Krankenhausentlassung) liegt zwischen zwei und sieben Prozent. Diesem Artikel liegen die Reanimationsrichtlinien des European Resuscitation Council (ERC) von 2015 zugrunde (Aktuelle Version: März 2021). Die praktische Umsetzung weicht in verschiedenen Ländern, medizinischen Institutionen und Hilfsorganisationen davon ab. Ursachen und Formen des Kreislaufstillstandes Die häufigste Ursache eines Kreislaufstillstandes ist in westlichen Industrienationen mit über 80 % der plötzliche Herztod, bedingt durch Herzinfarkt oder Herzrhythmusstörungen. In Deutschland sterben 80.000 bis 100.000 Menschen pro Jahr durch den plötzlichen Herztod, dies entspricht 250 Fällen pro Tag. Weitere innere Erkrankungen wie Lungenerkrankungen (beispielsweise Lungenembolie), Erkrankungen des Gehirns (beispielsweise Schlaganfall) und andere haben einen Anteil von etwa 9 %. In weiteren 9 % sind äußere Einwirkungen wie Unfall, Ersticken, Vergiftung, Ertrinken, Suizid oder Stromunfall die Ursache des Kreislaufstillstandes. Besonders für die Maßnahmen der erweiterten Therapie ist die Unterscheidung von hyperdynamen (defibrillierbaren, elektrisch aktiven, hypersystolischen) und hypodynamen (nicht-defibrillierbaren, elektrisch inaktiven, asystolischen) Kreislaufstillständen wichtig. Bei der hyperdynamen Form, die in ca. 25 % der Fälle beim Auffinden des Patienten vorliegt, zeigen Muskel und Erregungsleitungssystem des Herzens eine Aktivität, die jedoch ungeordnet ist. Es findet keine koordinierte Herzarbeit und damit kein wesentlicher Auswurf von Blut in den Kreislauf mehr statt. Pulslose ventrikuläre Tachykardie (ventricular tachycardia, VT), Kammerflattern und Kammerflimmern (ventricular fibrillation, VF) sind mögliche Ursachen dieser Art des Kreislaufstillstandes. Sie geht nach einigen Minuten unweigerlich in die hypodyname Form über, bei der keine elektrische Aktivität mehr nachweisbar ist und die als Asystolie bezeichnet wird. Eine Sonderform ist die elektromechanische Entkoppelung (EMD) beziehungsweise pulslose elektrische Aktivität (PEA), bei der zwar eine geordnete elektrische Aktivität beobachtet wird, diese jedoch keine Auswurfleistung in Form einer Pulswelle mehr bewirkt. Die Datenlage über die Häufigkeit von Wiederbelebungsmaßnahmen bei Kreislaufstillstand ist unvollständig. Die jährliche Inzidenz der Reanimation bei außerklinischem Kreislaufstillstand mit kardialer Ursache lag in einer schottischen Studie zwischen 50 und 66 pro 100.000 Einwohnern. Die Rate der innerklinischen Fälle variiert von 150 (Norwegen) bis 350 (England) pro 100.000 aufgenommenen Patienten. Basismaßnahmen der Reanimation Die ohne zusätzliche Hilfsmittel anwendbaren Basismaßnahmen, in der internationalen Fachsprache auch als basic life support (BLS) bezeichnet, dienen der Aufrechterhaltung eines minimalen Kreislaufes im Körper des Patienten mittels Herzdruckmassage und Versorgung mit ausreichend oxygeniertem Blut durch Mund-zu-Mund-Beatmung oder Mund-zu-Nase-Beatmung (siehe Atemspende) bis zur Wiederherstellung einer normalen Blutzirkulation bzw. zur Überbrückung der Zeit bis zur Anwendung erweiterter Therapiemaßnahmen, ohne dass lebenswichtige Organe des Patienten irreversibel geschädigt werden. Dies betrifft vor allem das Gehirn, welches durch Sauerstoffmangel schon nach wenigen Minuten Schäden nimmt. Der durch die Basismaßnahmen erzielbare Blutfluss entspricht bestenfalls etwa einem Drittel des gesunden Kreislaufes. Die Basismaßnahmen können von einem oder auch zwei Helfern durchgeführt werden. Das Verhältnis von Herzdruckmassage zu Beatmung ist davon unabhängig. Als Merkregel wurde ein ABC-Schema (ABC-Basismaßnahmen, ABC der Ersten Hilfe) der lebensrettenden Sofortmaßnahmen entwickelt: A (Atemwege freimachen und freihalten) B (Beatmen bzw. Beatmung) C (Zirkulation, englisch Circulation, in Gang bringen, insbesondere durch Herzdruckmassage). Die Basismaßnahmen (auch im Rahmen der Ersten Hilfe) lassen sich heute in drei einfache Schritte unterteilen: Prüfen: Prüfen, ob die bewusstlose Person reagiert (z. B. durch Schütteln an der Schulter), Überprüfen der Atmung: Keine oder keine normale Atmung (z. B. Schnappatmung, Röcheln)? Rufen: Um Hilfe rufen – umstehende Personen einbinden und einen Notruf durchführen oder veranlassen Drücken: Fest und schnell (100 bis 120 Mal pro Minute) in die Mitte des Brustkorbes drücken (z. B. im Takt von Stayin’ Alive der Bee Gees) Wenn möglich sollte eine Mund-zu-Mund-Beatmung oder Mund-zu-Nase-Beatmung durchgeführt werden: 30 Mal drücken und danach zweimal beatmen. Mit der Herzdruckmassage kann der Restsauerstoff im Blut zirkulieren und das Gehirn mit Sauerstoff versorgen. Bis zur Übernahme durch Mitarbeiter des Rettungsdienstes kann die Überlebenswahrscheinlichkeit so entscheidend erhöht werden. Denn bereits nach drei Minuten wird das Gehirn nicht mehr genügend mit Sauerstoff versorgt – es treten unwiderrufliche Schäden auf. Zunehmend stehen auch an zentraler Stelle in öffentlichen Gebäuden speziell für den Einsatz durch Ersthelfer konzipierte, halbautomatische Defibrillatoren (Automatisierter Externer Defibrillator, AED) zur Verfügung. Diese führen den ungeschulten Anwender mit Sprachanweisungen durch die Defibrillation und geben teilweise auch Anweisungen zur Durchführung von Herzdruckmassage und Beatmung. Die automatisierte Defibrillation, ursprünglich eine erweiterte Maßnahme professioneller Helfer, wird somit inzwischen zu den Basismaßnahmen der Reanimation gezählt. Der Einsatz von AEDs darf dabei allerdings nicht die Durchführung der Herzdruckmassage verzögern oder gar ersetzen. Zu den Basismaßnahmen zählt für den Ersthelfer auch, mittels eines Notrufes unverzüglich den Rettungsdienst anzufordern. Dieser führt die Basismaßnahmen auf dieselbe Art durch, allerdings stehen technische Hilfsmittel wie beispielsweise ein Defibrillator zur Verfügung. Hinzu kommen erweiterte Maßnahmen zur Sicherung der Atemwege und somit der Sicherstellung der Beatmung zum Einsatz. Sauerstoff kann dem Patienten in hoher Konzentration zum Beispiel mittels eines Beatmungsbeutels oder eines Beatmungsgerätes über einen Endotracheal- oder einen Larynxtubus zur Verfügung gestellt werden. Dasselbe gilt für Reanimationen in medizinischen Einrichtungen, die oft von „Reanimationsteams“ durchgeführt werden. Jeder, der eine reglose Person auffindet, ist verpflichtet, nach bestem Wissen unverzüglich mit lebensrettenden Sofortmaßnahmen zu beginnen, da er sich ansonsten in Deutschland der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen kann. Ausnahmen sind Körper, welche bereits eindeutige Todeszeichen aufweisen wie starke Anzeichen einer Verwesung oder Verletzungen, die mit dem Leben unvereinbar sind. Einmal begonnen, ist die Herz-Lungen-Wiederbelebung ohne Unterbrechung bis zur Übernahme (nicht nur bis zum „Eintreffen“!) von Hilfe fortzuführen, über einen Abbruch der Maßnahmen entscheidet anhand bestimmter Kriterien (beispielsweise Lebensalter, Dauer des Kreislaufstillandes, Prognose der zugrundeliegenden Störung) ein Arzt. Davon ausgenommen ist ein Nicht-Aufnehmen oder eine Unterbrechung der Maßnahmen bei Eigengefährdung, z. B. aus gesundheitlicher Belastung. Erkennen eines Kreislaufstillstandes, Freimachen der Atemwege Um einen Kreislaufstillstand zu erkennen, werden die Vitalfunktionen Bewusstsein und Atmung des Patienten überprüft (auch als diagnostischer Block bezeichnet). Eine Überprüfung der Kreislauftätigkeit entfällt für Laienhelfer, da bei Atemstillstand meist auch kein Kreislauf vorhanden ist und die Überprüfung für einen Ungeübten nicht sicher durchführbar ist. Unter Beachtung der eigenen Sicherheit prüft der Helfer die Reaktion des Patienten durch Ansprechen und Schütteln an der Schulter. Zum Teil ist ein Zwicken in den Arm oder Ähnliches besser geeignet als das Rütteln an der Schulter, damit keine eventuelle Schädigung der Wirbelsäule etc. verschlimmert wird. In neutraler Kopfposition fällt beim liegenden Patienten die Zunge in den Rachenraum zurück und verlegt die Atemwege. Um eine Überprüfung der Atmung oder eine Beatmung zu ermöglichen, muss daher der Kopf bzw. der Nacken überstreckt werden (Lebensrettender Handgriff). Dies sollte, um die eventuell verletzte (Hals-)Wirbelsäule zu schonen, durch Bewegung am Kinn und an der Stirn, jedoch nicht durch einen Griff in den Nacken erfolgen. Zusätzlich kann zum Lebensrettenden Handgriff auch der Esmarch-Handgriff angewendet werden, bei dem der nach hinten gefallene Unterkiefer nach vorne gezogen wird. Damit setzt eventuell wieder eine Eigenatmung des Betroffenen ein. Im Anschluss wird die Atemtätigkeit für maximal 10 Sekunden geprüft, indem auf das Atemgeräusch gehört wird, die Ausatemluft an der eigenen Wange gefühlt wird und die Atembewegungen des Brustkorbes beobachtet werden. Findet sich beim Patienten keine „normale“ Atmung, beginnt der Ersthelfer mit den Basismaßnahmen der Reanimation. In der Laienreanimation kommt es vor, dass irrtümlicherweise die Schnappatmung als nicht bedrohlicher Zustand wahrgenommen wird. Schnappatmung ist durch langsame, unregelmäßige oft geräuschvolle Atemzüge erkennbar, der Kopf, Mund und Kehlkopf bewegen sich dabei oft auf unnatürlich anmutende Weise. Eine Person mit Schnappatmung muss reanimiert werden. Ein normal atmender Patient wird in die stabile Seitenlage gebracht, die Atmung wird dabei weiter überwacht, um ggf. auftretende Atemstillstände oder einen Übergang in Schnappatmung frühzeitig zu erkennen und mit der Reanimation beginnen zu können. Besteht der Verdacht, dass Fremdkörper (Speisereste, Zahnprothesen, Kaugummi usw.) die Atemwege verlegen, wird bei Bewusstlosen mit der Reanimation begonnen ohne es durch länger dauernde Versuche der Fremdkörperentfernung zu einer Verzögerung kommen zu lassen. Durch einige Thoraxkompressionen im Rahmen der Reanimation kann es dann zu einer Entfernung des Fremdkörpers aus dem Atemweg kommen. Herausnehmbarer Zahnersatz wird, wenn möglich, vorher entfernt. Ist ein Patient mit Fremdkörpern in den Atemwegen noch bei Bewusstsein, wird versucht, diese zunächst durch hustenauslösende, kräftige Schläge zwischen die Schulterblätter, anschließend durch wiederholten Druck auf den Oberbauch (Heimlich-Handgriff) zu entfernen. Vom Heimlich-Handgriff wurde aufgrund der Verletzungsgefahr von Leber und Milz verschiedentlich abgeraten, er ist bei akuter Erstickungsgefahr jedoch das Mittel der Wahl. Medizinisches Personal führt die Überprüfung der Vitalfunktionen mit ausführlicheren Maßnahmen durch. Vor der Überprüfung der Atmung wird zusätzlich der Mundraum auf das Vorhandensein von Fremdkörpern oder Erbrochenem inspiziert. Diese werden gegebenenfalls entfernt. Dies kann mit Hilfe der Finger, einer Absaugpumpe oder einer Magill-Zange geschehen. Während der Überprüfung der Atmung kann zusätzlich eine Kreislaufkontrolle erfolgen, sofern die Beurteilungszeit 10 Sekunden nicht übersteigt. Dabei wird neben der Beachtung allgemeiner Lebenszeichen (Bewegung, Atmung oder Husten) von ausgebildetem Personal auch der Carotis- oder Femoralispuls getastet. Dies kann jedoch auch für Erfahrene schwierig sein. Beim Eintreffen eines EKG/Defibrillator-Gerätes wird der Herzrhythmus elektrokardiografisch analysiert. Die einzuleitenden Maßnahmen unterscheiden sich nicht wesentlich von der Durchführung durch Laien. Herzdruckmassage Die Effektivität der offenen bzw. direkten Herzmassage, erstmals von Moritz Schiff tierexperimentell gezeigt, wurde im Jahr 1900 von J. Prus mit ausgedehnten Versuchsreihen an mit Chloroform zum Kreislaufstillstand mit Asystolie gebrachten Hunden bestätigt. Bei Kammerflimmern konnten um diese Zeit keine Erfolge gemeldet werden. Die erste erfolgreiche direkte Herzmassage am Menschen, zur Wiederbelebung einer 43-jährigen Frau, erfolgte 1901 durch den Norweger Igelsrud. Die Patientin hatte am Ende einer Operation in Chloroformnarkose einen Herzstillstand erlitten. Um die Jahrhundertwende kam dann auch die Idee der äußeren (externen) Herzmassage auf. Bereits im Jahr 1878 hatte R. Boehman Katzen mit durch Chloroform erzeugten Herzstillstand Versuche zur äußeren bzw. indirekten Herzmassage durchgeführt. Bei der (externen oder extrathorakalen) Herzdruckmassage (wiederholte Thoraxkompression), genannt auch Herzmassage, wird das Herz durch Druck auf das Brustbein in Richtung Wirbelsäule gepresst. Dabei erhöht sich der Druck im Brustkorb und Blut wird aus dem Herzen in den Kreislauf ausgeworfen. In der darauf folgenden Entlastungsphase füllt sich das Herz erneut mit Blut. Als Ursache für die Wirkung der Herzdruckmassage wurden sowohl die Kompression des Herzens durch den von außen ausgeübten Druck als auch dadurch verursachte Druckschwankungen im Brustkorbinneren („Thoraxpumpenmechanismus“) angesehen. Wichtig ist die Minimierung von Unterbrechungen („No-Flow-Time“) während der Herzdruckmassage. Als vorbereitende Maßnahme wird der Patient flach in Rückenlage auf einer harten Fläche wie dem Boden oder einem Reanimationsbrett gelagert und sein Brustkorb freigemacht. Der Druckpunkt befindet sich in der Mitte des Brustkorbes auf dem Brustbein. Für Erwachsene gilt: Das Brustbein wird 30 Mal in Folge kurz und kräftig heruntergedrückt und anschließend wird 2 Mal beatmet. Die Eindrucktiefe beträgt etwa fünf bis sechs Zentimeter. Zwischen zwei Pumpstößen soll der Brustkorb wieder entlastet werden, damit sich das Herz ausreichend mit Blut füllen kann. Die angestrebte Frequenz der Herzdruckmassage liegt bei mindestens 100 und maximal 120 Kompressionen pro Minute. Die richtige Körperhaltung bei der (äußeren) manuellen Herzdruckmassage erleichtert dem Helfer die Arbeit. Er kniet aufrecht neben dem Patienten, seine Schultern befinden sich senkrecht über dem Brustbein des Patienten. Der Helfer drückt rhythmisch mit dem Gewicht seines Oberkörpers, während seine Arme gestreckt und die Ellenbogen durchgedrückt sind. Seit den 1990er Jahren werden zur Herzdruckmassage auch zunehmend Geräte mit frequenz- und stärkegesteuerten Kolben als mechanische Reanimationshilfen eingesetzt. Bei Säuglingen und Kleinkindern beträgt die Kompressionstiefe etwa ein Drittel der Brustkorbtiefe und zur Kompression werden nur die Fingerspitzen benutzt (Näheres siehe #Besonderheiten bei Neugeborenen, Säuglingen und Kindern). Steht mehr als ein Helfer zur Verfügung, können Herzdruckmassage und Beatmung auf zwei Personen aufgeteilt werden. Bei der Herzdruckmassage kommt es häufig, auch bei korrekter Durchführung, zu Rippenbrüchen. Diese sind hier als Nebeneffekt hinzunehmen. Daher sollte auch nach einem oder mehreren Rippenbrüchen die Herzdruckmassage nach Überprüfung der angewendeten Technik weitergeführt werden. Beatmung Die Beatmung ohne weitere Hilfsmittel erfolgt als Mund-zu-Nase- oder Mund-zu-Mund-Beatmung (siehe Atemspende). Der Hals des Betroffenen wird dabei überstreckt. Die Nase muss bei der Mund-zu-Mund-Beatmung, der Mund bei der Mund-zu-Nase-Beatmung, verschlossen werden. Das Volumen ist richtig gewählt, wenn sich der Brustkorb sichtbar hebt. Die Beatmungsphase sollte etwa eine Sekunde betragen; die Beatmung wird (solange nicht beides parallel bzw. ununterbrochen erfolgen kann wie nach erfolgter Intubation der Luftröhre, im Wechsel mit der Herzdruckmassage und einem Verhältnis der Beatmung zur Thoraxkompression von 2:30) so lange wiederholt, bis die beatmete Person wieder von selbst atmet. Um die Hygiene zu verbessern und eventuell vorhandenen Ekel zu überwinden, gibt es verschiedene Beatmungshilfen wie Beatmungsfolien mit einem Filter und verschiedene Arten von Taschenmasken, deren Einsatz allerdings Übung erfordert. Wenn der Verdacht einer Vergiftung mit Kontaktgiften (beispielsweise Pflanzenschutzmitteln wie Parathion) besteht, sollte auf die Atemspende verzichtet werden. Wenn ein Helfer sich eine Beatmung nicht zutraut, ist eine ununterbrochene Herzdruckmassage für diesen eine akzeptable Alternative. Entsprechend ausgestattete und ausgebildete Helfer verwenden zur Beatmung einen Beatmungsbeutel mit Gesichtsmaske, oft in Verbindung mit einem Guedel-Tubus, Larynxtubus oder nach einer (endotrachealen) Intubation. Die Atemluft lässt sich dabei zusätzlich mit Sauerstoff anreichern, wobei durch entsprechende Sauerstoffflusseinstellung (maximaler Flow) und Verwendung eines Sauerstoffreservoirs Konzentrationen von fast 100 % erreicht werden können. Erweiterte Maßnahmen der Reanimation Spätestens zehn Minuten nach erfolgter Durchführung der Basismaßnahmen sollten erweiterte Maßnahmen zur Verfügung stehen. Ziel der erweiterten Maßnahmen, auch als advanced life support (ALS, Begriff des European Resuscitation Council) oder advanced cardiac life support (ACLS, Bezeichnung der American Heart Association) bezeichnet, ist die Wiederherstellung eines physiologischen Herzrhythmus des Patienten. Dazu gehören die Atemwegssicherung mittels Intubation, Anlage eines venösen Zuganges zur Verabreichung von Flüssigkeiten und Medikamenten, die medikamentöse Basistherapie sowie die Therapie reversibler Ursachen des Kreislaufstillstandes. Zur Diagnostik im Rahmen der erweiterten Maßnahmen gehört ein EKG-Monitoring und das Prüfen der Kreislauffunktion, insbesondere durch Pulskontrollen. Bei der Therapie wird zudem, wie bereits beschrieben, zwischen defibrillierbaren und nicht-defibrillierbaren Formen des Kreislaufstillstandes unterschieden. Bei einem defibrillierbaren Rhythmus, meist Kammerflimmern, hat die schnelle Anwendung von elektrischem Strom mittels eines Defibrillators oberste Priorität; gegebenenfalls (bei einem langsamen Grundrhythmus) ist auch eine (transthorakale bzw. externe) Schrittmachertherapie mit entsprechenden Klebeelektroden sinnvoll. Auch die Gabe von antiarrhythmischen Medikamenten kommt in Frage. Der Ablauf der Maßnahmen wird in den Richtlinien des ERC als Algorithmus beschrieben, wodurch eine standardisierte und einheitliche Durchführung ermöglicht wird. Defibrillation und Schrittmachertherapie Die Defibrillation ist bei Kammerflimmern, Kammerflattern und pulsloser ventrikulärer Tachykardie das Mittel der Wahl, bei Asystolie jedoch nicht angezeigt. Bei Defibrillatoren mit monophasischem Impuls wird ein Schock von 360 Joule appliziert, bei solchen mit biphasischem Schockverlauf 150–200 Joule beim ersten, 200–360 bei allen weiteren Schocks. Durch diesen Stromstoß kann die ungeordnete elektrische Aktivität des Herzmuskels durchbrochen und ein Neustart mit regulärem Rhythmus ermöglicht werden. Direkt nach jeder Defibrillation wird zunächst mit Herzdruckmassage und Beatmung im Verhältnis 30:2 für zwei Minuten fortgefahren. Erst dann wird eine erneute Rhythmus- und Pulskontrolle durchgeführt, denn sollte die Defibrillation den Herzrhythmus erfolgreich wiederhergestellt haben, ist die anfängliche Auswurfsleistung zu gering, um eine ausreichende Perfusion sicherzustellen. Bei pulsloser elektrischer Aktivität oder bei Asystolie mit P-Wellen im EKG kann der Einsatz eines transkutanen Schrittmachers erwogen werden. Eine Entwicklung der letzten Jahre ist die zunehmende Verbreitung von automatisierten Defibrillatoren an öffentlichen Plätzen. Diese automatisierten externen Defibrillatoren (AED) verfügen über eine automatisierte Rhythmuserkennung und ermöglichen mittels akustischer Anleitung auch dem Ersthelfer, eine Defibrillation durchzuführen. Das Gerät diagnostiziert selbstständig das vorliegende Problem und gibt dem Anwender genaue Anweisungen. Ist eine Defibrillation notwendig, braucht der Helfer nur der Ansage folgend den Auslöseknopf zu drücken. Atemwegssicherung Die endotracheale Intubation gilt als Goldstandard bei der Atemwegssicherung im Rahmen der Reanimation. Dabei wird ein Tubus durch Mund oder Nase zwischen den Stimmlippen des Kehlkopfes (Larynx) hindurch in die Luftröhre (Trachea) geschoben. Vorteile der Intubation sind Schutz vor Aspiration von Mageninhalt und die Möglichkeit der kontrollierten manuellen oder maschinellen Beatmung. Da die endotracheale Intubation einen erhöhten Schwierigkeitsgrad aufweist, sollen laut Richtlinien nur geübte und erfahrene Helfer diese Methode anwenden. Als Alternative wird der Einsatz von Larynxtubus, Combitubus oder Larynxmaske empfohlen. Für die Intubation sollte die Herz-Lungen-Wiederbelebung nicht oder nur kurz unterbrochen werden. Ein Intubationsversuch soll nicht länger als 5 Sekunden dauern. Die korrekte Lage des Tubus muss durch die Bewertung der Messung von CO2 (Kapnometrie) in der ausgeatmeten Luft überprüft werden. Nach erfolgreicher Intubation wird die Herzdruckmassage kontinuierlich, die Beatmung mit einer Frequenz von 10/min fortgeführt. Medikamente Die Medikamentengabe erfolgt – abgesehen vom Sauerstoff – bevorzugt intravenös, da dieser Zugang schnell zu erreichen und sicher ist. Eine Alternative ist die Gabe über einen intraossären Zugang durch Punktion des Knochenmarks, die oft bei kleinen Kindern angewandt wird. Eine Gabe von Medikamenten durch den Tubus (endobronchiale Applikation) wird im Allgemeinen nicht empfohlen, da eine sichere Resorption nicht gewährleistet ist und der Plasmaspiegel des Medikaments nicht vorhersagbar ist. Eine intrakardiale Gabe direkt in das Herz wird nicht mehr durchgeführt. Adrenalin ist das Standardmedikament der Reanimation. Es wird aufgrund seiner α-adrenergen vasokonstriktorischen Eigenschaften gegeben, die zu einer Verengung der peripheren Blutgefäße führen, was durch eine Erhöhung des peripheren Widerstandes die Durchblutung von Herz und Gehirn verbessert (bei Erwachsenen 1 mg, bei Kindern 10 µg/kg, alle drei bis fünf Minuten). Die Hoffnungen, die in das ebenfalls gefäßverengende Vasopressin als Alternative zu Adrenalin gesetzt wurden, haben sich nicht erfüllt. Mehrere große randomisierte Studien konnten keinen Überlebensvorteil bei der Gabe von Vasopressin nachweisen, die Gabe wird in den europäischen Richtlinien nicht mehr empfohlen. Bei anhaltendem Kammerflimmern oder Kammertachykardie und dreimaliger Defibrillation wird oft noch das Antiarrhythmikum Amiodaron (300 mg bei Erwachsenen) gegeben. Es hat das zuvor übliche Lidocain in den Empfehlungen abgelöst. Eine am 5. Mai 2016 im New England Journal of Medicine veröffentlichte Studie kam zu dem Ergebnis, dass auch Amiodaron beim Kammerflimmern wirkungslos ist. Die 2010 aktualisierten Reanimationsrichtlinien empfehlen bei einer Asystolie oder einer pulslosen elektrischen Aktivität keine Gabe von Atropin mehr, da ein Vorteil durch die Blockierung des parasympathischen Nervensystems (Parasympathikolyse) nicht nachgewiesen werden konnte. Die früher praktizierte „Pufferung“ einer durch Minderdurchblutung und verminderte Kohlendioxid-Elimination verursachten Azidose (Übersäuerung, die eine verringerte Wirksamkeit der bei der Reanimation eingesetzten Katecholamine bewirken kann) des Kreislaufs im Rahmen eines Kreislaufstillstandes mit Natriumbicarbonat ist nicht mehr gerechtfertigt. Die Infusion von Natriumbicarbonat produziert CO2, das in die Zellen diffundiert und somit die intrazelluläre Azidose verschlimmert – also den gegenteiligen Effekt erzielt. Daher wird Natriumbicarbonat bei der außerklinischen Reanimation nur noch im Rahmen von schwersten Hyperkaliämien und Intoxikationen mit trizyklischen Antidepressiva in geringer Dosierung empfohlen. Bei speziellen Rhythmusstörungen kann weiterhin die Gabe von Magnesiumsulfat in Betracht kommen. Für den Einsatz eines Thrombolytikums bei Verdacht auf einen Herzinfarkt liegen nur ungenügende Daten vor; er sollte jedoch bei Verdacht auf Lungenembolie erwogen werden. Kausale Behandlung Neben den Reanimationsmaßnahmen, die eine symptomatische Therapie darstellen, muss auch versucht werden, die reversiblen Ursachen des Kreislaufstillstandes zu diagnostizieren und ursächlich zu behandeln (kausale Therapie). Zu den reversiblen Ursachen zählen eine ungenügende Sauerstoffversorgung des Patienten (Hypoxie), ein Mangel an Blutvolumen (Hypovolämie bzw. hypovolämischer Schock), Unterkühlung (Hypothermie) und metabolische Störungen, insbesondere zu viel oder zu wenig Kalium (Hyperkaliämie oder Hypokaliämie) in Blut. Als weitere kurzfristig im Rahmen einer Reanimation therapierbare Ursachen gelten eine Herzbeuteltamponade, Vergiftung (Intoxikation), Thromboembolien (Herzkranz- oder Lungengefäße) sowie ein Spannungspneumothorax. Zu den möglichen, daraus abgeleiteten Maßnahmen zählen der Einsatz von Thrombolytika bei einem Herzinfarkt oder einer Lungenembolie, die Behandlung eines akuten Blutverlustes durch Infusionstherapie, weiterhin die Korrektur von Elektrolytstörungen, das Aufwärmen von unterkühlten Patienten, die Verabreichung von Antidoten bei Vergiftungen, die Entlastung eines Spannungspneumothorax sowie die Therapie weiterer spezieller Krankheitsbilder wie akuter obstruktiver Atemwegserkrankungen (Asthma-Anfall) oder Anaphylaxien. Die Maßnahmen werden in der Postreanimationsphase (s. u.) fortgesetzt. Besonderheiten bei Neugeborenen, Säuglingen und Kindern Kinder sind keine kleinen Erwachsenen; daher gilt es bei der Reanimation einige Besonderheiten zu beachten. Es wird zwischen Neugeborenen (Kinder bis zum 28. Lebenstag), Säuglingen (bis etwa 12 Monate) und älteren Kindern (ab etwa 12 Monate bis zum Erreichen der Pubertät, wobei Kinder ab dem neunten Lebensjahr wie Erwachsene behandelt werden) unterschieden. Während bei Erwachsenen Kreislaufstillstände meist kardial bedingt sind, ist bei Säuglingen und Kindern häufig eine Störung der Atmung ursächlich für eine (bereits bei einer Herzfrequenz von unter 60 pro Minute) bedrohliche Verlangsamung des Herzschlags sowie den Kreislaufstillstand („sekundärer Herzstillstand“). Aus diesem Grund werden bei Kindern vor Beginn der Herzdruckmassage zunächst fünf initiale Atemhübe hintereinander gegeben. Der neonatale Herz-Kreislauf-Stillstand ist in der Regel durch eine Asphyxie bedingt. Als eine weitere Besonderheit wird zur Beatmung speziell bei Säuglingen der Kopf nicht überstreckt, sondern nahezu in der Neutralposition belassen („Schnüffelstellung“). Die Beatmung erfolgt wegen der Körpergröße der Patienten bei Neugeborenen (mit eventuell noch nicht vollständig entfalteter Lunge) und Säuglingen über Mund und Nase gleichzeitig (Mund zu Mund und Nase). Zur Durchführung der Herzdruckmassage wird bei Kindern nur ein Handballen benutzt. Für Säuglinge verwendet man zwei Finger oder umfasst den Brustkorb mit beiden Händen und drückt ihn (bei Zusammenarbeit von zwei Helfern) mit den Daumen ein. Die Drucktiefe sollte etwa 1/3 des Brustkorbdurchmessers betragen. Die Abfolge nach den fünf initialen Atemhüben beträgt für den Ersthelfer – wie beim Erwachsenen – 30 Herzdruckmassagen zu zwei Beatmungen; für medizinisches Personal gilt ein Druckverhältnis von 15:2, wenn mehrere Helfer anwesend sind. Bei Neugeborenen, die zudem vor Wärmeverlusten geschützt werden müssen, wird ein Verhältnis von 3:1 eingesetzt. Prinzipiell erfolgt die Durchführung der Herz-Lungen-Wiederbelebung wie beim Erwachsenen und wird lediglich dem Körperbau von Kindern und Säuglingen angepasst. Im Zweifelsfall ist nach dem Schema für Erwachsene zu verfahren, da, wie die Richtlinien ausdrücklich betonen, das zeitige Beginnen von Maßnahmen wichtiger ist als eine an das Alter angepasste Durchführung. Beim Einsatz eines automatischen externen Defibrillators (AED) werden nach Möglichkeit Kinderelektroden verwendet werden. Bei Kindern unter 1 Jahr sollte kein AED verwendet werden. Erweiterte Maßnahmen verlaufen entsprechend der Durchführung beim Erwachsenen in angepasster Form. Da es bei Kindern oft schwierig ist, einen venösen Zugang zu finden, wird alternativ eine intraossäre Punktion durchgeführt. Postreanimationsphase Die Versorgungsphase nach einer erfolgreichen Reanimation (Postreanimationsphase, post-resuscitation care) beginnt mit dem Wiedereinsetzen eines spontanen Kreislaufes (return of spontaneous circulation, ROSC). Sie beinhaltet eine weitere präklinische Stabilisierung, den Transport in ein geeignetes Zentrum sowie eine erweiterte intensivmedizinische Behandlung und Überwachung. Die Maßnahmen in dieser Phase beeinflussen die Prognose signifikant. Im Vordergrund stehen in dieser Phase kausale Therapiemaßnahmen wie z. B. eine Reperfusionstherapie nach Herzinfarkt oder die operative Versorgung von Verletzungen. Daneben erfolgt die symptomatische Behandlung von Atmungs- und Herz-Kreislauffunktion, um eine ausreichende Versorgung mit Sauerstoff, insbesondere des Gehirns, sicherzustellen. Dazu ist unter Umständen eine Beatmungstherapie unter Sedierung, eine Schrittmachertherapie sowie der vielfältige Einsatz von Medikamenten notwendig, u. a. um mit Katecholaminen einen ausreichenden organversorgenden Blutdruck sicherzustellen oder Krämpfe und Myoklonien zu behandeln. Daneben werden weitere wichtige Körperparameter überwacht und Störungen gegebenenfalls behandelt. Hervorgehoben werden kann hier unter anderem der Blutzucker, stellt eine korrekte Einstellung doch unabhängig von der Grunderkrankung einen wichtigen Überlebensvorteil dar. Zur Minderung des zerebralen Schadens wurde 2010 für bewusstlose Erwachsene mit einer überlebten Reanimation eine Abkühlung auf 32–34 °C für 12 bis 24 Stunden empfohlen (milde therapeutische Hypothermie, MTH). Dieses in den internationalen Leitlinien zur Reanimation von erwachsenen Patienten aufgenommene Verfahren trägt zur Erhöhung der Überlebensrate und zur Verbesserung des neurologischen Zustandes nach erfolgreichen Reanimationen bei und sollte frühestmöglich veranlasst werden. Eine Auswertung der INTCAR Datenbank (international cardiac arrest registry) von Sendelbach zeigte 2012: Je fünf Minuten Verzögerung beim Einleiten der milden therapeutischen Hypothermie bedeuten einen Anstieg des schlechten neurologischen Outcomes um 8 %. 30 Minuten Verzögerung beim Erreichen der Zieltemperatur von 32 bis 34 °C erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines schlechten neurologischen Outcomes um 17 %. Durchschnittlich benötigen Kliniken 94 Minuten bis zum Einleiten der MTH und 309 Minuten bis zum Erreichen der Zieltemperatur. Das Erreichen einer Sauerstoffsättigung größer als 96 % scheint nicht indiziert, da eine Hyperoxämie in der Postreanimationsphase oxidativen Stress erzeugt und somit postischämisch Neurone schädigen kann. Tierexperimentelle Untersuchungen zeigten, dass sich das neurologische Outcome verbessert, wenn in der ersten Stunde nach ROSC die Sauerstoffgabe auf eine Ziel-Sauerstoffsättigung von 94–96 % ausgerichtet wird, der Patient also kontrolliert reoxygeniert wird. Sollten die Patienten längerfristig (>5 Tage) künstlich beatmet werden müssen, ist eine künstliche Ernährung über den Magen-Darm-Trakt oder venös sinnvoll. Prognose Die Überlebensraten bei einem Kreislaufstillstand hängen von vielen Faktoren ab. Die zugrunde liegende Ursache, Alter und Vorerkrankungen des Betroffenen wie auch der Zeitpunkt bis zur Einleitung von Reanimationsmaßnahmen sind unter anderem für diese Rate entscheidend, weswegen allgemeine Aussagen zur Prognose schwierig sind. Die langfristige Prognose nach einer primär erfolgreichen Reanimation wird von der Grunderkrankung bestimmt. Von den menschlichen Organen reagieren die Nervenzellen des Gehirns am empfindlichsten auf Sauerstoffmangel. Schon drei Minuten nach Beginn des Kreislaufstillstands besteht die Gefahr von bleibenden Hirnschäden. Deshalb sind neben dem Überleben die neurologischen Folgeschäden ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Wiederbelebung. Eine Vielzahl von Patienten, die einen Kreislaufstillstand überlebt haben, trägt solche Schäden davon. Voraussagen über neurologische Schäden nach überlebtem Kreislaufstillstand sind schwer zu treffen. Verlässliche diagnostische Verfahren gibt es nicht. Mit Einschränkungen weisen eine hohe Serumkonzentration der neuronenspezifischen Enolase (NSE) und der S-100-Proteine auf ein schlechteres Outcome hin. Die Zeit, die bis zum Beginn von Reanimationsmaßnahmen vergeht, ist der wichtigste der die Prognose beeinflussenden Faktoren. Pro Minute, die bis zum Beginn der Herz-Lungen-Wiederbelebung verstreicht, verringert sich die Überlebenswahrscheinlichkeit des Patienten um etwa 10 %. So sind bei Herzdruckmassage mit Beatmung und einer Defibrillation innerhalb der ersten drei bis fünf Minuten Überlebensraten von 50–75 % ohne bleibende Zellschäden möglich, die danach stark abfallen – nach vier Minuten auf unter 30 %. Unwiderrufliche Zellschäden und somit auch der biologische Tod treten erst fünf Minuten (bei Unterkühlung auch längere Zeit) nach dem sogenannten klinischen Tod auf. Da in den europäischen Ländern die Frist bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes meist bei acht Minuten oder mehr liegt, sind die Maßnahmen von anwesenden Laien für das Überleben des Patienten entscheidend. Ein schneller Beginn von Basismaßnahmen mit schnellem Notruf und erweiterten Maßnahmen, insbesondere Frühdefibrillation, verdoppeln bis verdreifachen insgesamt die Überlebensquote, bei Erwachsenen und Kindern. Die Ursache des Kreislaufstillstandes ist ein wichtiger prognostischer Faktor. In einer Untersuchung der über 21.000 in Schottland 1991–1998 außerhalb des Krankenhauses aufgetretenen Fälle eines Kreislaufstillstands waren etwa vier Fünftel kardialer Ursache; hiervon überlebten bis zur Entlassung etwa 7 %, ein Jahr danach lebten noch 6 %. Demgegenüber betrug die Überlebensrate ungefähr 2 % für das übrige Fünftel nicht-kardialer Ursache. Reanimationen bei Kreislaufstillständen, die durch Traumata verursacht sind, haben eine besonders schlechte Erfolgsquote. Die weitaus meisten Überlebenden dieser Gruppe tragen Hirnschäden davon (> 98 %). Besser ist die Prognose bei Unterkühlung und Ertrinkungsunfällen. Ethische, rechtliche und psychische Aspekte („In vielen ethischen Aspekten der Reanimation herrscht ein weites Spektrum an Sichtweisen in Europa, die großteils nicht durch vermeintliche nationale Eigenheiten erklärbar sind. […] Für viele ethische Fragen kann es deshalb keine eindeutigen und richtigen Antworten geben.“) Bei einem Kreislaufstillstand stellt sich unweigerlich die Frage nach dem Sinn von Reanimationsmaßnahmen und deren Abbruch. Diese Entscheidungen werden durch individuelle, international und lokal kulturelle, rechtliche, traditionelle, religiöse, soziale und ökonomische Faktoren beeinflusst. Sie ist neben vielen anderen Fragen Thema der Medizinethik bzw. der Ethik allgemein. An eine Patientenverfügung, in der die Unterlassung von Wiederbelebungsmaßnahmen formuliert sein kann, ist der behandelnde Arzt gebunden. Derartige Willensäußerungen eines Patienten werden in der Regel berücksichtigt, wenn die Patientenverfügung bekannt ist und Anweisungen für die tatsächlich eingetretene Situation enthält. Im präklinischen Bereich jedoch ist eine Prüfung unter dem situationsbedingten Zeitdruck oft schwierig bis unmöglich, so dass trotz einer Verfügung eine Reanimation begonnen wird. In der Haltung des medizinischen Personals zu schriftlichen Vorausverfügungen gibt es international erhebliche Abweichungen. Das Gleiche gilt auch für gesetzliche Regelungen zur Verbindlichkeit solcher Patientenverfügungen. Vorwiegend in den USA lassen sich manche Personen, die Wiederbelebungsversuche ablehnen „No CPR“ (no cardiopulmonary resuscitation) tätowieren oder bringen es mittels Pflastern oder Stempeln mit gleichem Wortlaut zum Ausdruck. Diese Verfügung ist jedoch rechtlich umstritten. Neben dem Beginn von Reanimationsmaßnahmen wird auch deren Beendigung kontrovers diskutiert. Eindeutige Zeichen, die mit einem möglichen Erfolg oder Misserfolg einer Wiederbelebung korrelieren, sind bisher in keiner Studie eindeutig belegt worden. Sind die therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft, dauert eine erfolglose Reanimation lange an oder sind keine Aussichten auf ein akzeptables Überleben gegeben, kann der behandelnde Arzt die Maßnahmen beenden. Allgemeine Entscheidungsregeln zu dieser, die Verlängerung des Sterbestadiums eines Menschen lediglich vermeidenden, in den meisten Ländern legalen passiven Sterbehilfe beim Abbruch der Maßnahmen sowie auch zur Beendigung der Behandlung im persistierenden vegetativen Zustand nach einer Reanimation kann es nicht geben. Vor allem in den Ländern des angelsächsischen Sprachraums wird die Entscheidung zur Nicht-Aufnahme oder Beendigung der Wiederbelebung durch nichtärztliches Personal getroffen. Diese Vorgangsweise wird in anderen Ländern strikt abgelehnt. Sehr unterschiedliche Sichtweisen gibt es bei der Frage der Forschung und Ausbildung an gerade Gestorbenen. Insbesondere im islamisch geprägten Kulturkreis, zunehmend aber auch in westlichen Staaten, insbesondere in den USA, wird dies abgelehnt. Verschiedene Fachgesellschaften sehen die Zukunft der Forschung in diesem Bereich durch die zunehmend striktere Gesetzgebung in vielen Ländern gefährdet. Das Konzept der Anwesenheit von Angehörigen während der Reanimation entstand in den 1980er Jahren. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass es zur Bewältigung dieses belastenden Ereignisses beitragen kann. Dieses Vorgehen ist in vielen europäischen Ländern dabei, akzeptierte Praxis zu werden. Eine wichtige Entwicklung ist die Unterstützung von traumatisierten Angehörigen nach erfolgloser Reanimation durch Kriseninterventionsteams. Auch für Ärzte und Mitarbeiter des Rettungsdienstes stellt eine Reanimation einen psychisch belastenden Einsatz dar. In besonderem Maße betrifft dies die Wiederbelebung von Kindern. Mögliche Folge bei diesen Berufsgruppen ist die Ausbildung von posttraumatischen Belastungsstörungen und Burnout-Syndrom. Parallel zur Krisenintervention bei Angehörigen stehen für die Bewältigung besonders traumatisierender Erfahrungen Methoden für die Helfer zur Verfügung, die Critical Incident Stress Management (CISM) oder Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen (SbE) genannt werden. Fachgesellschaften und Richtlinien Fachgesellschaften wie die American Heart Association (AHA), das European Resuscitation Council sowie das International Liaison Committee on Resuscitation (ILCOR) veröffentlichen regelmäßig gemeinsame Richtlinien zur Durchführung der Reanimation, die auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen fußen. Aktuell sind die Richtlinien von 2010, die von den Ärztekammern einzelner Länder in verschiedenem Ausmaß übernommen und von Hilfsorganisationen, Krankenhäusern und anderen Institutionen mit Verzögerung und oft mit Unterschieden umgesetzt werden. Im März 2021 hat das ERC seine Richtlinien zuletzt aktualisiert. In Deutschland haben sich die in der Bundesarbeitsgemeinschaft Erste Hilfe (BAGEH) vertretenen Hilfsorganisationen und der „Deutsche Beirat für Erste Hilfe und Wiederbelebung bei der Bundesärztekammer“ im Jahr 2002 auf einen nationalen Konsens geeinigt, der auf der vorhergehenden Version der Reanimationsrichtlinien von 2000 basierte. Im März 2006 veröffentlichte die Bundesärztekammer Eckpunkte für eine Aktualisierung, die auf den ERC-Richtlinien von 2005 basieren. In Österreich und der Schweiz haben sich die ärztlichen Organisationen und die Organisationen, die den Rettungsdienst und die Breitenausbildung in Erster Hilfe durchführen, darauf verständigt, die ERC-Richtlinien anzuwenden. Um einen wissenschaftlichen Vergleich von Reanimationen weltweit zu ermöglichen, schufen die führenden Verbände Mitte der 1990er Jahre mit Festlegung des Utstein-Style-Protokolls einen einheitlichen Datensatz. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Reanimationsabläufen orientieren sich daran. In Deutschland baut die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) seit 2003 ein bundesweites Reanimationsregister auf. Seit 2012 fördern Anästhesisten in Deutschland, vertreten durch die DGAI, den Berufsverband Deutscher Anästhesisten e. V., den Deutschen Rat für Wiederbelebung und die Stiftung Deutsche Anästhesiologie, gestützt vom Bundesministerium für Gesundheit, mit ihrer Kampagne „Ein Leben retten. 100 Pro Reanimation“ die Steigerung der Reanimationsrate durch Laien. Dabei soll das Selbstvertrauen der Menschen in ihre eigenen Fähigkeiten als Ersthelfer gestärkt werden und die Ersthelferquote nachhaltig und langfristig gesteigert werden. Aus verschiedenen Gründen greifen zu wenige Personen bei einem Notfall helfend ein: Sie wissen nicht, was zu tun ist, oder wenden Gelerntes nicht an – meist aus Scheu, etwas falsch zu machen. Die Daten des Deutschen Reanimationsregisters zeigen, dass 2012 in Deutschland die Bereitschaft zur Reanimation durch medizinische Laien bei 19,8 Prozent lag. Dies ist ein im Vergleich zu anderen europäischen Ländern geringer Wert, wo die Erste-Hilfe-Bereitschaft (Ersthelferquote) deutlich höher liegt. Zum Beispiel weisen die Niederlande eine Quote von 70 Prozent auf, gefolgt von Schweden (68 %), Norwegen (63 %) und Tschechien (55 %). Mit der Kampagne konnte eine deutliche Verbesserung der Erste-Hilfe-Bereitschaft erreicht werden. So stieg die Bereitschaft zur Reanimation im Folgejahr auf fast 28 Prozent. Im Jahr 2019 lag die Laien-Reanimationsquote in Deutschland bei 42 %. Geschichte der Wiederbelebung Altertum Schon seit Jahrtausenden wird versucht, Menschen, die keine klaren Lebenszeichen mehr zeigen, wieder ins Leben zurückzurufen. Dabei gab es verschiedene Versuche, bewusstlose Personen durch laute Ansprache, Berührung, Atemspende und Thoraxkompression zu reanimieren. Der Ursprung der Atemspende ist nicht bekannt, man weiß nur, dass die Methode sehr alt ist. Möglicherweise hatten die Ägypter schon vor etwa 5000 Jahren erste Kenntnisse von Beatmungstechniken, worauf Funde hindeuten. Im 2. Buch der Könige im Alten Testament (etwa 700 v. Chr.) heißt es: Weitere Bibelwunder lassen ebenfalls an eine Wiederbelebung denken. Neuzeit Lange Zeit bestimmte die Lehre des Galen von Pergamon aus der Zeit der Spätantike die Vorstellungen von den Vorgängen im menschlichen Körper. Erst im 17. Jahrhundert wurde Galens Lehre von William Harveys Entdeckung des Blutkreislaufes abgelöst. Dieser beschrieb zum ersten Mal schlüssig und zusammenhängend den Blutkreislauf und die Aufgabe des Herzens als Druckpumpe. Zuvor hatte bereits Andreas Vesal Galens Fehler aus der Tieranatomie verbessert. Vesal gelang zudem im Tierversuch, durch Beatmung eines Tieres mit Herzstillstand über ein in die Luftröhre eingebrachtes Schilfrohr, eine Wiederbelebung. Bei der Londoner Royal Society demonstrierte der Universalgelehrte Robert Hooke 1667 die Beatmung anhand des über eine Thorakotomie geöffneten Brustkorbs eines Hundes und die dabei sichtbare Belüftung der Lunge. Ähnlich wie Vesal konnte er zeigen, dass das Herz ohne Beatmung zum Stillstand kommt, bei kontinuierlicher Luftinsufflation es aber zum Wiedereinsetzen der Herzkontraktionen kommt. An einem Bergmann führte 1744 der Chirurg Tossach erstmals eine erfolgreiche Mund-zu-Mund-Beatmung durch. Eine Beschreibung der Mund-zu-Mund-Beatmung veröffentlichte kurz darauf auch der französische Anatom und königliche Leibarzt Antoine Portal (1742–1832). Auch der Mediziner John Hunter konnte 1755 zeigen, dass ein aufgrund Asphyxie stillstehendes Herz durch Beatmung „wiederbelebbar“ ist, und leitete aus den Ergebnissen seiner Experimente in seiner Schrift Proposals for the Recovery of People apparently Drowned Richtlinien für die Wiederbelebung von Ertrunkenen ab (Auch kannte Hunter bereits die Vorteile des Einsatzes des erst kurz zuvor entdeckten Sauerstoffs bei der Beatmung). Als J. M. Schosulan der Ältere 1786 versuchte, Reanimationsmethoden auch Laienhelfern zu vermitteln, war die Mund-zu-Mund- oder Mund-zu-Nase-Beatmung bereits gut bekannt, ebenso die Vorteile eines Luftröhrenschnitts als Bestandteil von Wiederbelebungsmaßnahmen bei Verlegung der oberen Atemwege. Man hatte somit die Bedeutung der Beatmung für die Wiederbelebung „Scheintoter“ erkannt, neue Erkenntnisse wurden jedoch nicht konsequent in der Wiederbelebung umgesetzt. Es gab aus heutiger Sicht auch kuriose Empfehlungen zur Wiederbelebung, beispielsweise die Empfehlung, warme Luft mit einem Blasebalg oder einer Klistierspritze in die Gedärme zu blasen, oder das Einblasen von Tabakrauch (Fumigation) in den Darm. Der spätere Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach, Carl August, erließ 1776 die folgende Anweisung zur Wiederbelebung: Im Jahr 1895 veröffentlichte Oscar Langendorff als eines seiner Ergebnisse aus physiologischen Experimenten, dass ein stillstehendes Herz nur wieder zum Schlagen zu bringen ist, wenn vor der Wiederbelebung der Herzmuskel oxygeniert (ausreichend mit Sauerstoff versorgt) worden ist. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde, unter anderem von Hans Winterstein, experimentell bestätigt, dass für die Wiederbelebung des Gesamtorganismus nur eine kurze Frist zur Verfügung steht. Im 19. Jahrhundert wurde auch eine Vielzahl verschiedener manueller Verfahren der Atemspende durch direkte oder indirekte Thoraxkompression ausprobiert und beschrieben, wie etwa die Methode nach Silvester, bei der die Beatmung durch passive Armbewegungen des Patienten praktiziert werden soll. Auch zur Frage der Herzdruckmassage gab es verschiedene Ansätze. Erstmals im Tierexperiment durchgeführt hatte Moritz Schiff direkte Herzmassagen am durch Thorakotomie freigelegten Herzen während die Lungen automatisch belüftet wurden und erreichte damit eine circulation artéficielle. Im Jahr 1874 berichtete Schiff darüber der Medizinisch-Physikalischen Gesellschaft und im selben Jahr publizierte dies T. G. Hake. 1888 führte der Chirurg Niehaus in Bern bei einem 40-jährigen Mann mit „Chloroformsynkope“, nach Rippenresektion und Freilegung des Herzens eine manuelle Herzmassage durch. Das dem Kreislaufstillstand zugrundeliegende Kammerflimmern konnte damit allerdings nicht behoben werden. Publiziert wurde diese erste direkte Herzmassage beim Menschen 1903. Der französische Herzchirurg Théodore Tuffier (1857–1929) hatte erstmals erfolgreich eine (interne, d. h. nach Thorakotomie am offenen Brustkorb durchgeführte) direkte Herzmassage an einem Menschen versucht, worüber Tuffier und Hallion 1898 berichteten. Eine offene Herzmassage wird heute nur noch selten angewandt (etwa bei Herzstillstand im Operationssaal bei offenem Brustkorb bzw. nach Thorakotomie oder bei einem Thoraxtrauma mit offenen Verletzungen). Bei Bauchoperationen wurde auch die erstmals 1903 von M. Bourcart anhand von Tierversuchen vorgestellte, aber schon zuvor, wie Ernest Starling 1902 berichtete, von dem Chirurgen Lane an einem Menschen erfolgreich angewendete subdiaphragmale Herzmassage über das geschlossene Zwerchfell angewandt. Über das eröffnete Zwerchfell wurde der von Mauclaire 1902 vorgeschlagene transdiaphragmatische (mit dem Daumen geschaffene) Zugang zum Herzen erprobt, der am 5. Dezember 1901 bereits von P. Poirier bei einer transdiaphragmatischen Herzmassage durchgeführt worden war. Im Gegensatz zum subdiaphragmatischen Vorgehen erfolgten für das transdiaphragmatische keine Erfolgsmeldungen. Der chirurgische Assistenzarzt Friedrich Maass hatte 1892 festgestellt, dass rasch aufeinanderfolgende rhythmische Kompressionen der unteren Thoraxappertur mit 120 Kompressionen pro Minute effektiver sind als niedrigere Frequenzen. Dieses, auch von Maass Lehrer Franz Koenig verteidigte Verfahren der äußeren Herzmassage fand jedoch erst fast 70 Jahre später allgemeine Akzeptanz. Im Jahr 1904 erschien das Buch Die Frau als Hausärztin von Anna Fischer-Dückelmann, in dem eine Anleitung zu einer externen Herzmassage zu finden ist: In neuerer Zeit wurde die externe Herzmassage insbesondere 1960 von Kouwenhoven, James Jude und G. Guy Knickerbocker (in Kombination mit der von Peter Safar in den 1950er Jahren propagierten Mund-zu-Mund-Beatmung) empfohlen. Entwicklung der modernen Reanimation im 20. Jahrhundert Sowjetische Mediziner experimentierten Ende der 1930er Jahre mit Wiederbelebungstechniken an Hunden allein durch Blutzufuhr. Ein 1940 in New York gezeigter Werbefilm der sowjetischen Filmagentur, Experiments in the revival of organisms, demonstriert u. a. neurologische Reaktionen eines abgeschnittenen, aber mit Blut versorgten Hundeschädels sowie die vermeintliche Wiederbelebung eines Hundes nach 10 Minuten Herzstillstand durch eine externe Blutversorgungsmaschine. Seit den 1950er Jahren wird die kardiopulmonale Reanimation auf einer modernen wissenschaftlichen Grundlage praktiziert. Anfang der 1960er Jahre führten verschiedene Forschungsergebnisse zur Entwicklung der im Prinzip bis heute gültigen Reanimationstechnik. 1957 gelang es Greene nachzuweisen, dass mit der Ausatemluft des Helfers ein ausreichender Gasaustausch erzielt werden konnte und dass die Mund-zu-Mund-Beatmung den vorher benutzten Beatmungsverfahren überlegen ist. 1960 erkannte William B. Kouwenhoven die Effektivität der äußeren Herzdruckmassage, die zuvor nur als Verfahren bei eröffnetem Brustkorb eingesetzt worden war. und führte damit die externe Herzmassage allgemein ein. Er, J. R. Jude und G. Knickerbocker berichteten 1961 über 33 nachhaltige Erfolge beim Einsatz dieser Methode zur Wiederbelebung nach Herzinfarkten. Ein weiterer entscheidender Schritt erfolgte durch Peter Safar. Der amerikanische Anästhesist und gebürtige Wiener hatte die geringen Erfolge der bisherigen Methoden erkannt und konnte zeigen, dass eine Kombination aus Herzdruckmassage und Beatmung höhere Erfolgsraten aufweist. Dazu erprobte er die Wirksamkeit seiner kardiopulmonalen Reanimation an freiwilligen Kollegen aus seinem Forschungsteam. Aufgrund dieser Forschungsergebnisse, die die Grundlage der modernen Wiederbelebungstechniken bilden, wird Safar oft auch als „Vater der kardiopulmonalen Reanimation“ bezeichnet. Parallel hierzu war in den 1950er Jahren durch den Ingenieur Hesse und den Arzt Ruben der Beatmungsbeutel erfunden worden. Um die Handhabung des Beutels üben zu können, entwickelten die beiden Erfinder eine Puppe, die damit beatmet werden konnte. Das erste Trainingsgerät wurde dann 1958 an das dänische Rote Kreuz verkauft (Ambu-Phantom). Im Jahre 1960 wurde das Gerät dann um die Funktion der Thoraxkompression und der Mund-zu-Mund-Beatmung ergänzt, so dass das weltweit erste „Übungs-Phantom“ entstanden war. Bei einer Reise nach Norwegen lernte Safar den Spielzeugfabrikanten Asmund Laerdal kennen. Gemeinsam entwickelten Safar und Laerdal die so genannte Resusci-Anne. Mit dieser einfachen Puppe wurde es möglich, auch Laien in der Herz-Lungen-Wiederbelebung auszubilden. Die ersten Versuche mit einer Elektroschockbehandlung bei Herzrhythmusstörungen wurden schon in den 1940er Jahren unternommen, anfangs mit Wechselstrom. Anfang der 1960er Jahre ist von dem US-amerikanischen Kardiologen Bernard Lown die Defibrillation und elektrische Kardioversion durch Gleichstrom entwickelt worden. Eine solche Methode war aufgrund des Kalten Krieges unabhängig davon schon 1946 in der Sowjetunion beschrieben worden. Die Weiterentwicklung der Defibrillatoren führte in den 1990er Jahren schließlich zu Geräten, die auch zur Anwendung durch den Ersthelfer geeignet sind. Basis für Ende des 20. Jahrhunderts etablierte Reanimationsmethoden waren Empfehlungen der American Heart Association und des European Resuscitation Council, für Deutschland auch die Richtlinien des Wiederbelebungsbeirats der Bundesärztekammer zur Durchführung der Reanimation. 2012 wurde erstmals eine mobile Herz-Lungen-Maschine zur Wiederbelebung verwendet. Aktuelle Entwicklungen In den letzten Jahren zeichnet sich ein zunehmender Stellenwert der Herzdruckmassage gegenüber der Beatmung ab. So wurde etwa das Verhältnis von Herzdruckmassage zu Beatmung von 15:2 auf 30:2 geändert, um die Phase der durchgehenden Druckmassage zu verlängern. Es wurden Reanimationskonzepte entwickelt, bei denen dieses Verhältnis noch weiter gedehnt wird (etwa 100:5) und solche mit kontinuierlicher Herzdruckmassage bei völligem Verzicht auf die Atemspende, Continuous-Chest-Compression-(CCC)-Resuscitation genannt. Diese erhöhten in einzelnen Studien die Überlebensrate beim beobachteten Kreislaufstillstand mit kardialer Ursache beim Erwachsenen (SOS-KANTO Study Group). Der European Resuscitation Council sieht die Datengrundlage für eine ausschließliche Herzdruckmassage nicht als ausreichend für eine generelle Empfehlung einer solchen Vorgehensweise als Standardbehandlung an. Allerdings erwies sich eine ausschließliche Herzdruckmassage ohne Beatmung besser, als gar keine Maßnahmen zu ergreifen. Daher wird in den aktuellen Leitlinien empfohlen, dass Laienhelfer zumindest eine Herzdruckmassage durchführen sollten, wenn sie sich nicht in der Lage sehen, eine Beatmung durchzuführen. Ein Präkordialer Faustschlag, insbesondere bei beobachtetem Kreislaufstillstand, wird nicht mehr generell empfohlen. Automatische Reanimationsgeräte für die Herzdruckmassage kommen zunehmend prä- und innerklinisch im Rahmen der professionellen Versorgung (Advanced Life Support) zum Einsatz. Studien zufolge führen diese zwar insbesondere präklinisch zu einer besseren Qualität und einer höheren Überlebensrate bis zur Krankenhausaufnahme, haben jedoch keinen Einfluss auf das Langzeitüberleben oder den neurologischen Zustand. Sie sind vor allem im Falle von Ermüdung, Personalmangel und anderen Situationen, in denen die Durchführung einer qualitativen Herzdruckmassage nicht möglich ist, sinnvoll. Die AHA- und ERC-Leitlinien ziehen die Anwendung solcher Geräte bei längeren Transporten und bei der Reanimation im Herzkatheterlabor in Betracht. In Deutschland werden derzeit (Stand 2019) außerhalb des Krankenhauses etwa 52.000 Reanimationen pro Jahr durchgeführt, wovon etwa 45 Prozent primär erfolgreich sind. Literatur Leitlinien der European Resuscitation Council (ERC) Internationale Leitlinien Historische Literatur (Auswahl) Heinrich L’Allemand: Wiederbelebung. In: Franz Xaver Sailer, Friedrich Wilhelm Gierhake (Hrsg.): Chirurgie historisch gesehen. Anfang – Entwicklung – Differenzierung. Dustri-Verlag, Deisenhofen bei München 1973, ISBN 3-87185-021-7, S. 217–228. Josef Bernt: Vorlesungen über die Rettungsmittel beim Scheintod und in plötzlichen Lebensgefahren. Wien 1837. Ernst Engelhorn: Das Samariterbuch. Ein Leitfaden für die erste Hilfe bei Unglücksfällen und die Krankenpflege im Hause, insbesondere auch zum Gebrauche für Damenkurse. Ferdinand Enke, Stuttgart 1909, S. 71–82 und 97. Friedrich von Esmarch: Die erste Hülfe bei plötzlichen Unglücksfällen. Ein Leitfaden für Samariter-Schulen in fünf Vorträgen. Leipzig 1882; später unter dem Titel Die erste Hilfe bei plötzlichen Unglücksfällen. Ein Leitfaden für Samariter-Schulen in sechs Vorträgen. ebenda 1912, S. 69–82. C. J. Flachsland: Über die Behandlung der Scheintoten. Karlsruhe 1806. G. Reimer: Anweisung zur zweckmäßigen Behandlung und Rettung der Scheintodten oder durch plötzliche Zufälle verunglückter Personen. Herausgegeben auf Veranlassung des königlichen Ministerii der geistlichen Unterichts und Medizinal Angelegenheiten. Berlin 1820. H. E. Stephenson: Cardiac Arrest and Resuscitation. St. Louis 1958. Christian August Struve: Versuch über die Kunst Scheintodte zu beleben und über die Rettung in schnellen Todesgefahren, ein tabellarisches Taschenbuch. Hannover 1797. Weblinks Bundesweites Reanimationsregister der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e. V. (DGAI) Reanimationsleitlinien des Deutschen Rates für Wiederbelebung European Resuscitation Council (ERC) cprguidelines.eu – Current ERC Guidelines (englisch) Austrian Resuscitation Council Website mit kompletten Guidelines (deutsch) Einzelnachweise Erste Hilfe Therapeutisches Verfahren in der Notfallmedizin Therapeutisches Verfahren in der Intensivmedizin Therapeutisches Verfahren in der Kardiologie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Nash%C3%B6rner
Nashörner
Die Nashörner (Rhinocerotidae) oder auch Rhinozerosse bilden eine Familie der Unpaarhufer (Perissodactyla) mit heute noch fünf lebenden Arten. Sie sind charakterisiert durch einen kräftigen Körper und kurze Gliedmaßen mit drei Zehen sowie einen großen Kopf, der bei allen heute lebenden Vertretern eine markante Bildung, bestehend aus einem oder zwei – für die Familie namensgebenden – Hörnern, trägt. Die Familie stellt eine der vielfältigsten und erfolgreichsten in der Geschichte der Säugetiere dar und war während ihrer vor nahezu 50 Millionen Jahren beginnenden Entwicklungsgeschichte über weite Teile Eurasiens, Afrikas und Nordamerikas verbreitet. Ihr Niedergang begann Ende des Miozäns vor rund 6 bis 5 Millionen Jahren in Verbindung mit klimatischen und damit einhergehenden Landschaftsveränderungen, die zum Aussterben der nordamerikanischen sowie zahlreicher weiterer Nashornvertreter im ursprünglichen Verbreitungsgebiet führten. Gegen Ende des Pleistozäns gab es eine erneute Aussterbephase, während der alle nordeurasischen Vertreter verschwanden. Überlebt haben die heute noch bestehenden Nashornarten Breitmaul- und Spitzmaulnashorn in Afrika südlich der Sahara sowie Panzer-, Java- und Sumatra-Nashorn im süd- bis südöstlichen Asien, die teilweise in ihrem Bestand durch Vernichtung ihres Lebensraumes und Wilderei abermals stark geschrumpft sind. Merkmale Nashörner sind große bis sehr große Säugetiere. Sie weisen bei den heute lebenden Vertretern eine Kopf-Rumpf-Länge zwischen 2,5 und 3,8 m auf (zuzüglich eines 40 bis 60 cm langen Schwanzes) bei Schulterhöhen variierend von 1,2 bis 1,8 m und einem Körpergewicht schwankend zwischen 500 und 3.600 kg. Die größte heute lebende Nashornart ist das Breitmaulnashorn (Ceratotherium simum). Fossil traten aber noch deutlich größere Arten auf. So erreichten einige Vertreter von Elasmotherium und Brachypotherium jeweils mehr als 5.000 kg Körpergewicht. Allgemein haben Nashörner einen massigen Körper mit großem Kopf und kurzen, kräftigen Beinen. Jeder Fuß hat drei Zehen, die jeweils in breiten Hufen enden. Die Haut ist dick und grau oder braun gefärbt. Bei den asiatischen Arten ist die Haut am Ansatz des Halses und der Beine stark gefaltet, so dass es aussieht, als seien die Tiere gepanzert. Die meisten heutigen Nashörner sind unbehaart mit Ausnahmen der Ohrspitzen und Schwanzenden. Allerdings weist das Sumatra-Nashorn (Dicerorhinus sumatrensis) noch teilweise ein recht dichtes Haarkleid auf. Beim fossilen Wollnashorn (Coelodonta antiquitatis) ist ein sehr dichtes Fell durch im Permafrost Sibiriens erhaltene Kadaver nachgewiesen, für andere ausgestorbene Nashornarten wird es teils angenommen. Darüber hinaus haben Nashörner ein geringes Sehvermögen, doch wird dieser Nachteil durch einen ausgeprägten Geruchssinn und ein sehr gutes Gehör ausgeglichen. Schädel- und Gebissmerkmale Nashörner haben einen sehr großen Schädel, der gewöhnlich recht lang gestreckt und am Hinterhauptsbein aufgerichtet ist. Das Nasenbein ist häufig massiv und deutlich nach vorn gewölbt und ragt über den Zwischenkieferknochen. An den Stellen, wo die Hörner ansetzen, befinden sich auf den Knochenoberflächen deutliche, meist perl- oder blumenkohlförmig aufgeraute Strukturen. Die Gehirnkapsel ist verhältnismäßig klein. Das Gebiss ist sehr unterschiedlich aufgebaut, bei den heutigen Nashörnern aber generell reduziert. Bei den afrikanischen Nashörnern fehlt das gesamte vordere Gebiss bestehend aus Schneidezähnen und Eckzahn. Die asiatischen Nashornarten hingegen besitzen noch ein oder zwei Paare an Schneidezähnen je untere und obere Gebisshälfte. Hierbei haben die innersten oberen Schneidezähne (I1) eine meißelartige Gestalt, die jeweils zweiten unteren (i2) erinnern an Hauer oder kleine Stoßzähne. Dies wird als „Meißel-Stoßzahn“-Komplex bezeichnet. Er findet sich auch bei zahlreichen ausgestorbenen Vertretern und dient zur Unterscheidung der Nashörner von ihren stammesgeschichtlich nächsten Verwandten. Die Molaren weisen wie bei allen Unpaarhufern zwei aus Zahnschmelz gebildete Querleisten auf der Kaufläche (bilophodont) auf. Als generelles Kennzeichen verläuft der Zahnschmelz auf den Kauflächen der vorderen beiden Oberkiefermolare charakteristisch „π“-förmig, während dieser auf den Unterkiefermolaren „L“-förmig gestaltet ist. Dieses Merkmal gilt auch für alle fossilen Nashörner und für deren unmittelbar nächsten Verwandten, so dass dieses sich schon vor etwa 50 Millionen Jahren herausgebildet hatte. Abhängig von der Ernährungsweise können die hinteren Backenzähne nieder- oder hochkronig (brachyodont oder hypsodont) ausgebildet sein. Die Prämolaren sind bei den rezenten Arten weitgehend molarisiert, das heißt, sie unterscheiden sich nur wenig von den Molaren. Je nach stammesgeschichtlicher Entwicklung gibt es jedoch unterschiedliche Grade der Molarisierung der Prämolaren bei den einzelnen fossilen Arten. Urtümliche Nashörner besaßen noch die vollständige Gebissformel bestehend aus drei Schneidezähnen, einem Eckzahn, vier Prämolaren und drei Molaren je Kieferast; das am stärksten reduzierte Gebiss wurde bei Elasmotherium mit nur zwei Prämolaren und drei Molaren je Kieferast nachgewiesen. Zusätzlich wiesen die Backenzähne dieser Nashorngattung die höchsten Zahnkronen innerhalb der gesamten Ordnung der Unpaarhufer auf, und sie werden in diesem Merkmal nur von einigen Vertretern der Nagetiere übertroffen. Die Reduktion der Zahnanzahl begann sehr früh in der Stammesgeschichte der Nashörner. In der Regel bildete sich zuerst der untere Eckzahn zurück, gefolgt vom äußersten unteren und oberen Schneidezahn sowie vom oberen Eckzahn. Hörner Ein wesentliches, optisch markantes und namensgebendes Merkmal der Nashörner sind die Hörner. Bei den rezenten Vertretern gibt es je nach Art ein Horn oder zwei Hörner. So besitzen das asiatische Panzer- (Rhinoceros unicornis) und das Java-Nashorn (Rhinoceros sondaicus) nur ein vorderes Horn (Nasalhorn), welches dem Nasenbein entwächst. Die afrikanischen Nashornarten Breitmaul- und Spitzmaulnashorn (Diceros bicornis) und das asiatische Sumatra-Nashorn haben dagegen zwei Hörner, wobei das Nasalhorn ebenfalls auf der Nase sitzt, das hintere (Frontalhorn) aber auf dem Stirnbein wächst. Bei ausgestorbenen Nashornarten können die Hörner meist nur anhand der Ansatzstellen am Schädel nachgewiesen werden. So trugen zum Beispiel Vertreter der Gattung Elasmotherium nur ein Horn auf der Stirn, während jene von Diceratherium zwei Nasalhörner hatten und ebensolche von Aceratherium wohl gar keine besaßen. Das Horn besteht aus agglutiniertem Keratin, einem fibrillären Protein, das auch in Haaren vorkommt, und enthält trotz seiner Festigkeit weder Knochensubstanz noch, wie stellenweise irrtümlich behauptet wird, Elfenbein. Es setzt sich zusammen aus zahlreichen langen fadenförmigen Strängen, Hornsäulchen oder Filamente genannt, deren Zwischenräume mit Hornsubstanz verfestigt sind. Diese Fäden verlaufen durch die gesamte Hornlänge, verjüngen sich aber nach oben hin deutlich. Der Kern des Hornes ist deutlich fester ausgebildet und meist schwarz gefärbt, nach außen hin wird es deutlich faseriger und nimmt eine hellgraue Farbe an. Fossiles Horn ist bisher nur vom Wollnashorn überliefert, weist aber prinzipiell den gleichen Aufbau auf wie rezentes. Das Horn nutzt sich mit der Zeit durch Reiben am Untergrund oder an Steinen kontinuierlich ab, beim Kampf mit Artgenossen oder infolge traumatischer Erlebnisse kann es auch abbrechen, wächst aber das gesamte Leben lang nach. Das bisher größte bekannte Horn hat 1,58 m über die vordere Krümmung gemessen. Innere Organe Wie alle Unpaarhufer sind Nashörner gute Enddarmfermentierer, so dass die Verdauung weitgehend im Darm erfolgt. Der Magen erreicht eine Länge von 120 cm. Der Blinddarm ist zwischen 60 und 90 cm lang, der Grimmdarm 5 bis 8 m, der gesamte Darmtrakt kann bis über 20 m lang werden. Zum Abbau unverdaulicher Pflanzenteile dienen im hintersten Teil des Darms Mikroorganismen. Das Herz wiegt bis zu 5 kg. Die männlichen Tiere besitzen keinen Hodensack; die Hoden liegen im Leibesinneren. Verbreitung und Lebensraum Nashörner leben heute in Afrika südlich der Sahara und in Süd- bzw. Südostasien sowohl in Savannenlandschaften als auch in Tropischen Regenwäldern in Hoch- oder Tiefländern. Die ursprüngliche Verbreitung war aber wesentlich weiter. Die stammesgeschichtlich ältesten Arten lassen sich im Mittleren Eozän vor rund 50 Millionen Jahren in Eurasien und Nordamerika nachweisen. Afrika erreichten die Nashörner erstmals mit der Schließung des Tethys-Ozeans und der Schaffung einer Landbrücke im frühen Miozän vor etwa 20 Millionen Jahren. Am Ende des Miozäns und zum Übergang zum Pliozän vor 4 Millionen Jahren starben die Nashörner aufgrund von Klimaänderungen in Nordamerika aus. Während des Pleistozäns mit seinem stark schwankenden Klima waren Nashörner auch im hohen Norden Eurasiens verbreitet und lebten in subarktischen Tundrenlandschaften. Am Ende der letzten Eiszeit verschwanden die Nashörner aus Nordasien und Europa. Im Laufe ihrer Stammesgeschichte hatten die unterschiedlichen Nashornarten nahezu alle für große, terrestrisch lebende Säugetiere erreichbaren ökologischen Nischen besetzt. Lebensweise Sozialverhalten, Fortpflanzung und Entwicklung Nashörner leben häufig als Einzelgänger, die aber in Savannen auch in kleinen, matriarchalisch organisierten Herden auftreten können. Bullen sind meistens Einzelgänger und leben territorial. Die einzelnen Tiere bewohnen dabei eng definierte Reviere, die mit Urin und Kot markiert werden, ebenso wie die häufig begangenen Wege. Am Tage schlafen Nashörner oder halten sich an Suhlplätzen auf, aktiv fressend sieht man sie in der Dämmerung und nachts. Sie sind scheue Tiere, die menschliche Nähe meiden. Berichte über die Angriffslust der Tiere sind in der Regel stark übertrieben. Die Angriffe sind, wenn es dazu kommt, kaum zielgerichtet, können aber durch die Hörner, die vorderen Zähne sowie die Kraft und Masse des Tieres mit tödlichen Verletzungen enden. Ein Nashorn läuft überdies bis zu 45 km/h (12,5 m/s) schnell und übertrifft damit knapp menschliche Spitzensportler. Dabei kann es abrupt die Richtung wechseln. Zudem sind bei Kämpfen zwei unterschiedliche Strategien zu beobachten. Die asiatischen Nashornarten, die alle über eine vordere Bezahnung verfügen, nutzen ihre meist kleinen Hörner nur selten bei Kämpfen, die dann hochritualisiert in Horngefechten ausgetragen werden. Als eigentliche Waffen dienen die dolchartigen Schneidezähne des Unterkiefers, mit denen sie gefährliche und tiefe Wunden reißen. Die afrikanischen Nashornarten, die kein Vordergebiss aufweisen, setzen ihre häufig wesentlich längeren Hörner – vor allem das Nasalhorn – neben Drohgebärden auch aktiv als Waffe zur Selbst-, Revier-, aber auch zur Futterverteidigung ein, um damit den Gegner mittels Aufspießens zu schwächen. Während der Brunftzeit einer Kuh kann es zu Kämpfen unter den Bullen kommen, wobei der Sieger in auffallender Weise um das weibliche Tier wirbt. Dies erfolgt durch gegenseitiges Jagen oder Scheingefechte, anschließend kommt es zur Kopulation. Nach einer Tragzeit von 15 bis 18 Monaten wird ein Junges geboren, das zweieinhalb bis drei Jahre bei der Mutter bleiben kann. Kommt ein zweites Jungtier zur Welt, so wird das ältere zumindest für die Zeit des Säugens von der Mutter verjagt. Die Lebenserwartung heutiger Nashörner liegt zwischen 30 und maximal 50 Jahren. Die Altersbestimmung fossiler Arten erfolgt überwiegend im Vergleich zum Breitmaulnashorn und beruht auf anatomischen Merkmalen wie Zahndurchbruch, Abkauungsgrad der einzelnen Zähne oder Verwachsungsstadien bestimmter Knochennähte. Allgemein hängt die Lebenserwartung bei Säugetieren eng mit dem Körpergewicht der erwachsenen Tiere zusammen, bei ausgestorbenen Nashörnern, die ähnlich groß waren wie die heutigen, lag sie wahrscheinlich in einem gleichwertigen Rahmen. Genauere Analysen zu einzelnen fossilen Populationen liegen aber nur selten vor, für pleistozäne Vertreter betrifft dies weitgehend das Wollnashorn (Coelodonta antiquitatis), bei älteren Formen sind solche für die eher häufig auftretenden Gattungen wie Teleoceras oder Chilotherium aus dem Miozän bekannt. Die heute lebenden, weitgehend offene Landschaften bewohnenden Nashornarten, wie die afrikanischen Nashörner und das Panzernashorn, werden oft von Vögeln wie Madenhackern oder Kuhreihern begleitet, die auf ihrer Haut sitzen und sie von Parasiten reinigen. Die Alarmrufe der Madenhacker warnen die Tiere außerdem vor Gefahren oder Störungen, einschließlich des Menschen, in Distanzen von 27 bis 61 m. Dabei vermag ein Tier bei höherer Anzahl an Madenhackern die potentielle Störung in größerer Entfernung zu orten, die Rufe geben aber keine Auskunft über die Richtung. Dies ermitteln die Nashörner über den Geruchssinn. Bei den überwiegend im tropischen Regenwald lebenden Java- und Sumatra-Nashorn wurde dies bisher nicht beobachtet, was mit ihrer Lebensweise in geschlossenen Landschaftsgebieten zusammenhängt. Jungtiere können in einzelnen Fällen von Großkatzen und Hyänen, gelegentlich auch von Wildhunden erbeutet werden, ausgewachsene Nashörner haben außer dem Menschen keine natürlichen Feinde. Auch ein Großteil der fossilen Vertreter hatte eher selten Konfrontationen mit Beutegreifern zu fürchten, gelegentlich treten aber Bisswunden bei heute ausgestorbenen Vertretern auf, die teilweise von sehr großen Raubtieren verursacht wurden. Ernährung Alle Nashörner ernähren sich ausschließlich von Pflanzenkost und sind an diese Ernährungsweise mit breiten Backenzähnen angepasst. Dabei haben sich die Arten aber auf unterschiedliche Pflanzennahrung spezialisiert. Vier der fünf heute lebenden Nashornarten bevorzugen weiche Pflanzenkost, wie Blätter, Äste, Zweige, Knospen und Früchte (browsing). Die Backenzähne dieser Arten weisen meist niedrige Zahnkronen und weniger Zahnzement auf. Außerdem besitzen diese Nashornarten aufgrund der hohen Kopfhaltung ein eher rechtwinkliges kurzes Hinterhauptsbein. Das Panzernashorn (Rhinoceros unicornis) ernährt sich aber auch zum Teil von Gräsern, besitzt aber wie die anderen, Blattnahrung zu sich nehmenden Nashornarten eine spitze, bewegliche Oberlippe. Das Breitmaulnashorn ist die einzige rezente, vollständig an Grasnahrung angepasste Nashornart (grazing). Da Gräser Kieselsäure enthalten, die sehr hart ist, haben sich bei ihm aufgrund des hohen Abriebs beim Kauen Zähne mit hohen Zahnkronen und einem hohen Zahnzementanteil ausgebildet. Die dauerhafte niedrige Kopfhaltung während der Nahrungsaufnahme führte evolutiv zur Verlängerung des Hinterhauptes und damit zu einer tiefen Kopfhaltung und Ausbildung eines Nackenbuckels. Des Weiteren besitzt das Breitmaulnashorn namengebende breite wulstige Lippen. Ein Großteil der fossilen Nashörner war aufgrund ihrer Anatomie auf weiche Pflanzennahrung spezialisiert. Dennoch kam es immer wieder während der Stammesgeschichte infolge von Klima- und damit verbundenen Landschaftsveränderungen innerhalb der verschiedenen Nashornlinien unabhängig voneinander (konvergente Evolution) zur Spezialisierung auf Grasnahrung. Bei den moderneren Nashörnern der Gruppe der Rhinocerotinae war dies mit Veränderungen der Schädelanatomie, unter anderem mit der Verlängerung des Hinterhauptsbeines und einem daraus resultierenden, tief hängenden Kopf, verbunden. Dies geschah vor allem gegen Ende des Miozäns und während des Plio- und des Pleistozäns. Neben dem heute lebenden Breitmaulnashorn sind die bekanntesten fossilen grasfressenden Vertreter das Wollnashorn, das Steppennashorn (Stephanorhinus hemitoechus) und die verschiedenen Mitglieder der Gattung Elasmotherium. Zumindest beim Wollnashorn ist durch die fossil erhaltenen Eismumien eine dem Breitmaulnashorn ähnlich geformte Maulpartie nachgewiesen. Ein weiteres Anpassungsmodell an Grasnahrung ist bei stammesgeschichtlich älteren Linien, wie den Aceratheriinae feststellbar. Hier erfolgte eine Kürzung der Gliedmaßen, die eine niedrige Körper- und Kopflage verursachte. Diese Nashornvertreter konnten mit nur einer leichten Senkung des Kopfes den Boden erreichen, eine Verlängerung des Hinterhauptsbeines fand nicht statt, so dass der Schädel überwiegend horizontal getragen wurde. Bekannte Gattungen hierbei sind Chilotherium und Teleoceras aus dem späten Miozän. Beide Entwicklungsmodelle zeichnen sich aber durch die Erhöhung der Zahnkronen aus, um einem verstärkten Abrieb durch die harte Grasnahrung entgegenzuwirken. Systematik Äußere Systematik Die nächsten heute lebenden Verwandten der Nashörner sind die Pferde und Tapire. Die Trennung von den Tapiren erfolgte dabei vor etwa 47 bis 57 Millionen Jahren, die Pferde hatten sich bereits vor 56 bis 60 Millionen Jahren abgespalten. Dabei bilden die Nashörner einen Teil der Überfamilie Rhinocerotoidea (Nashornartige). Zu dieser gehören in einer klassischen Auffassung zwei weitere, ausgestorbene Familien: die Amynodontidae und die Hyracodontidae, wobei letztere zusammen mit den Nashörnern eine enger verwandte Gruppe bilden, die sich durch eine im Vergleich zum Schädel längere Backenzahnreihe und in einzelnen Zahnmerkmalen von den Amynodontidae abheben. Unterschiede finden sich vor allem im vorderen Gebissaufbau. So weisen die Nashörner eine typische „Meißel-Stoßzahn“-Bildung der oberen und unteren Schneidezähne auf, die Amynodontidae haben vergrößerte Eckzähne und kleine Schneidezähne, während die Hyracodontidae ein vielfältigeres Muster zeigen. Die Amynodontidae bestanden vom Mittleren Eozän bis zum Mittleren Miozän und traten in Eurasien und Nordamerika auf. Vertreter dieser Nashornartigen waren teilweise so groß wie heutige Nashörner, trugen aber kein Horn. Sie lebten halb-aquatisch und ernährten sich wahrscheinlich von Wasserpflanzen. Die Hyracodontidae, welche ebenfalls vom Mittleren Eozän bis zum Unteren Miozän vorkamen, zeigen in dieser Definition eine hohe Variabilität, die sich in drei bestehenden Unterfamilien ausdrückt. Dazu gehören die relativ kleinen Hyracodontinae, die Allaceropinae und die großen Indricotheriinae. Letztere stellten mit Paraceratherium (auch unter den Synonymen Baluchitherium und Indricotherium bekannt) das größte bekannte Landsäugetier der Erdgeschichte. Es war langhalsig und hornlos und kam hauptsächlich im Oligozän in Asien vor. Neuere Untersuchungen fassen die Hyracodontidae als nicht einheitliche Gruppe auf. Sie werden daher in die Hyracodontidae im engeren Sinne, in die Eggysodontidae (etwa den Allaceropinae entsprechend) und in die Indricotheriidae (= Paraceratheriidae) aufgespalten. Letztere beiden stehen den Nashörnern mit ihrem spezialisierteren Vordergebiss deutlich näher als die klassischen Hyracodontidae mit ihren eher generalisierten Schneide- und Eckzähnen. Allerdings bilden vermutlich auch die Indricotheriidae keine in sich geschlossene Gruppe, so dass in einer Auffassung aus dem Jahr 2020 diese in die riesenhaften eigentlichen Indricotheriidae und die urtümlicheren und kleineren Forsterccoperiidae aufgeteilt werden müssen. Letztere sind sehr basal einzuordnen, erstere formen die Schwestergruppe der eigentlichen Nashörner. Innere Systematik Die eigentlichen Nashörner (Rhinocerotidae) entwickelten mehrere Linien: Die Unterfamilie der Diceratheriinae umfasst mit den Diceratheriini und den Trigoniadini zwei Triben. Sie waren charakterisiert durch paarige Hörner auf der Nase und stellten die ersten Nashörner mit derartigen Bildungen dar. Sie lebten weitgehend im Oligozän und Miozän hauptsächlich in Nordamerika, wo sie bis vor 21 Millionen Jahren die größte endemische Säugetiergruppe darstellten. In Eurasien sind Fossilien dieser Nashorngruppe eher selten überliefert. Eine weitere Unterfamilie bilden die Aceratheriinae, die nur selten Hörner besaßen und in die Triben Aceratheriini und Teleoceratini aufgegliedert werden. Ihre Entwicklung begann ebenfalls bereits im Oligozän, sie überlebten aber teilweise bis zum Ende des Pliozäns und besiedelten sowohl Eurasien und Nordamerika als auch Afrika. Die Unterfamilie der Rhinocerotinae splitterte sich ebenfalls in mehrere Linien auf. Die Tribus der Menoceratini umfasst dabei die Stammgruppe, wurde aber ursprünglich aufgrund der paarigen Nasenhörner in die Nähe der Diceratheriinae gestellt. Sie weisen aber wesentlich modernere Entwicklungsmerkmale als diese auf. Die Elasmotheriini entwickelten sich im Unteren Miozän, wobei die bekannteste Gattung, das elefantengroße Elasmotherium, noch in der letzten Kaltzeit (Weichsel-Kaltzeit) lebte und sich durch ein überdimensionales, möglicherweise bis zu 2 m langes Horn auszeichnete. Die fünf heute lebenden Arten gehören alle zur Tribus der Rhinocerotini. Ihre nächsten Verwandten bilden wahrscheinlich die Elasmotheriini. Zwischen den beiden Linien liegt laut molekulargenetischen Untersuchungen eine tiefe zeitliche Kluft, da ihre Trennung bereits im Paläogen begann, die Angaben reichen je nach Studie vom Mittleren Eozän vor rund 47 Millionen Jahren bis zum Unteren Oligozän vor etwa 31 Millionen Jahren. Die Rhinocerotini kann man in drei Gruppen einteilen, welche die zweihörnigen (Dicerorhinina) und einhörnigen Formen (Rhinocerotina) Asiens und die (generell) zweihörnigen (Dicerotina) Afrikas umfassen. Ihre Verwandtschaftsverhältnisse zueinander werden vielfältig diskutiert. Als zwei gegenständige Ansichten haben sich die „Horn-Hypothese“ (die zweihörnigen Nashörner sind gegenüber den einhörnigen enger miteinander verwandt) und die „geographische Hypothese“ (die asiatischen Nashörner und die afrikanischen bilden jeweils eigene Verwandtschaftsgemeinschaften) herausgestellt. Als dritte Möglichkeit kommt eine Schwestergruppenbeziehung des zweihörnigen Sumatra-Nashorns (Dicerorhinus sumatrensis) zu allen anderen rezenten Nashörnern in Betracht. Eine Studie aus dem Jahr 2021 sieht die geographische Variante bestätigt. Ihren Ergebnissen zufolge spalteten sich die heutigen zwei asiatischen und eine afrikanische Linie im Mittleren Miozän vor rund 15,6 Millionen Jahren voneinander ab. Als Ursache hierfür wird die Ausbildung von Landverbindungen zwischen den afrikanischen und der eurasischen Kontinentalmassen im Unteren Miozän diskutiert. Die asiatische Linie wiederum teilte sich nur wenig später, vor etwa 14,8 Millionen Jahren, in die Dicerorhinina und die Rhinocerotina auf. Das hochgradig gefährdete Sumatra-Nashorn stellt hierbei die einzige überlebende Art der Dicerorhinina dar. Diesen werden allerdings auch die während des Pleistozäns über weite Teile des nördlichen Eurasiens verbreiteten Nashorngattungen Coelodonta mit dem bekannten Wollnashorn und Stephanorhinus, zu der das weniger bekannte Waldnashorn gehört, zugeordnet. Ihre Diversifizierung setzte im Oberen Miozän vor rund 9,4 Millionen Jahren ein. Die Rhinocerotina, die mit dem gefährdeten Panzernashorn (Rhinoceros unicornis) und dem hochgradig gefährdeten Java-Nashorn (Rhinoceros sondaicus) zwei Arten einschließen, vollzogen ihre Aufspaltung erst im Unteren Pliozän vor gut 4,3 Millionen Jahren. Auf dem afrikanischen Kontinent hatten sich derweil bereits im ausgehenden Miozän vor etwa 6,8 Millionen Jahren die Linien des Breitmaulnashorns (Ceratotherium simum) und des Spitzmaulnashorns (Diceros bicornis) als Angehörige der Dicerotina genetisch voneinander entfernt. Andere molekulargenetische Untersuchungen erbrachten dagegen weitaus ältere Radiationsdaten. Demnach begann die Aufspaltung der rezenten Nashörner bereits im Unteren Oligozän vor etwa 29 bis 30 Millionen Jahren. Hierbei formten sich zuerst die Dicerorhinina heraus mit einer Abspaltung der Coelodonta-Stephanorhinus-Linie vor gut 21 Millionen Jahren im Unteren Miozän. Die afrikanischen Dicerotina wiederum bildeten vor rund 17 Millionen Jahren die heutigen Linien aus, während sich jene der asiatischen Rhinocerotina vor etwa 11,7 Millionen Jahren herausdifferenzierten. Die hier dargestellte Nashorn-Systematik basiert auf den Ausarbeitungen von Kurt Heissig, Donald R. Prothero und Colin Peter Groves. Dabei ist die systematische Stellung der lebenden Nashornarten als Tribus oder Untertribus in Diskussion, allerdings scheint die Stellung als Untertribus gerechtfertigt zu sein. Problematisch ist des Weiteren die Stellung von Dicerorhinus. das manchmal auch der Untertribus Rhinocerotina oder keiner speziellen Untertribus zugewiesen wird. Daneben gibt es noch weitere Ordnungsschemata der Nashörner wie jenes von Pierre-Olivier Antoine, in dem die zwei Unterfamilien Elasmotheriinae und Rhinocerotinae unterschieden werden. Dabei umfasst erstere die Triben Elasmotheriini und Diceratheriini, während Rhinocerotini und Aceratheriini zu den Rhinocerothinae gestellt werden. Ebenfalls ein zusätzliches Ordnungsschema stammt von Esperanza Cerdeño, welches die Unterfamilien Acertheriinae mit den Triben Alicornopini bzw. Teleoceratini und die Unterfamilie Rhinocerothinae mit der alleinigen Tribus Rhinocerotini herausstellt. Übersicht über die rezenten und fossilen Nashorn-Taxa Einschließlich der rezenten Vertreter sind bis heute über 70 Gattungen mit mehreren hundert Arten beschrieben worden. Das hier verwendete Ordnungsschema folgt weitgehend Prothero und Schoch 1989, wobei Änderungen der Gliederung von Heissig 2007 und weitere Überarbeitungen und Ergänzungen aus neuerer Zeit berücksichtigt wurden: Familie: Rhinocerotidae Owen, 1845. Meschotherium Gabunia, 1964 Woodoceras Prothero, 2005 Gulfoceras Albright, 1999 Molassitherium Becker & Antoine, 2013 Unterfamilie: Diceratheriinae Dollo, 1885 Tribus: Trigoniadini Heissig, 1989 Ronzotherium Aymard, 1854 Guixia You, 1977 Epiaceratherium Abel, 1910 Penetrigonias Tanner & Martin, 1976 Trigonias Lucas, 1900 Amphicaenopus Wood, 1927 Tribus: Diceratheriini Dollo, 1885 Subhyracodon (= Caenopus, Leptaceratherium) Brandt, 1878 Diceratherium Marsh, 1875 Skinneroceras Prothero, 2005 Unterfamilie: Aceratheriinae Dollo, 1885 Floridaceras Wood, 1964 Mesaceratherium Heissig, 1969 Diaceratherium Dietrich, 1931 Galushaceras Prothero, 2005 Aprotodon Forster-Cooper, 1915 Plesiaceratherium Young, 1937 Chilotheridium Hooijer, 1971 Dromoceratherium Crusafont & Villalta, 1955 Tribus: Aceratheriini Dollo, 1885 Persiatherium Pandolfi, 2016 Proaceratherium Ginsburg & Hugueney, 1980 Subchilotherium Heissig, 1972 Aphelops Cope, 1873 Peraceras Cope, 1880 Aceratherium Kaup, 1832 Hoploaceratherium Ginsburg & Heissig, 1989 Chilotherium Ringström, 1924 Shansirhinus Kretzoi, 1942 Acerorhinus Kretzoi, 1942 Sinorhinus Schlosser, 1903 Tribus: Teleoceratini Hay, 1902 Brachydiceratherium Lavocat, 1951 Alicornops Ginsburg & Guérin, 1979 Prosantorhinus Heissig, 1973 Teleoceras Hatcher, 1894 Brachypotherium Roger, 1904 Symphyssorrachis Beliajeva, 1954 Brachypodella Heissig, 1973 Unterfamilie: Rhinocerotinae Owen, 1845 Tribus: Menoceratini Prothero, Manning & Hanson, 1986 Menoceras (= Moschoedestes) Troxell, 1921 Pleuroceros Roger, 1898 Protaceratherium Abel, 1910 Tribus: Elasmotheriini Bonaparte, 1845 Bugtirhinus Antoine & Welcomme, 2000 Turkanatherium Dereniyagala, 1951 Kenyatherium Aguirre und Guérin, 1974 Hispanotherium Crusafont & Villalta, 1947 Victoriaceros Geraads, MacCrossin & Benefit, 2012 Samburuceros Handa, Nakatsukasa, Kunimatsu & Nakaya, 2017 Kenyatherium Aguirre & Guérin, 1974 Ougandatherium Guérin & Pickford, 2003 Caementodon Heissig, 1972 Procoelodonta Matthew, 1931 Gobitherium Kretzoi, 1943 Beliajevina Heissig, 1974 Bergertherium Beliajeva, 1971 Huaqingtherium Huang & Yan, 1983 Tongxinotherium Sun, Deng, Lu & Wang, 2023 Iranotherium Ringström, 1924 Eoazara Geraads & Zouhri, 2021 Parelasmotherium Killgus, 1923 Ningxiatherium Chen, 1977 Sinotherium Ringström, 1922 Elasmotherium Fischer, 1808 Tribus: Rhinocerotini Owen, 1845 Parvorhinus Pandolfi & Martino, 2023 Untertribus: Dicerorhinina Ringström, 1924 Dicerorhinus (= Didermocerus, Ceratorhinus) Gloger, 1841 (einschließlich Sumatra-Nashorn) Rusingaceros Geraads, 2010 Pliorhinus Pandolfi, Pierre-Olivier, Bukhsianidze, Lordkipanidze & Rook, 2021 Stephanorhinus (= Brandtorhinus) Kretzoi, 1942 Lartetotherium Ginsburg, 1974 Dihoplus Brandt, 1878 Coelodonta (= Tichorhinus) Bronn, 1831 Untertribus: Rhinocerotina Ringström, 1924 Iberotherium Antunes & Ginsburg, 2000 Gaindatherium Colbert, 1934 Punjabitherium Khan, 1971 Nesorhinus Antoine, Reyes, Amano, Bautista, Chang, Claude, Vos & Ingicco, 2021 Rhinoceros Linnaeus, 1758 (einschließlich Panzernashorn und Java-Nashorn) Untertribus: Dicerotina Ringström, 1924 Paradiceros Hooijer, 1968 Diceros Gray, 1821 (einschließlich Spitzmaulnashorn) Ceratotherium Gray, 1867 (einschließlich Breitmaulnashorn) Formen mit unklarerer Zugehörigkeit zu den Nashörnern: Uintaceras Hollbrook & Lucas, 1997 Teletaceras Hanson, 1989 Stammesgeschichte Adaptive Radiation Die Familie der Nashörner gehört zu den erfolgreichsten und vielfältigsten Säugetiergruppen der jüngeren Erdgeschichte und lässt sich rund 50 Millionen Jahre zurückverfolgen. Während dieser Zeit vollzog sich eine breit angelegte evolutionäre Entwicklung und Anpassung an die jeweiligen Lebensräume (Adaptive Radiation). Vertreter der Nashörner besetzten nahezu jedes terrestrische Biotop. Innerhalb der Stammesgeschichte gab es zahlreiche anatomische Veränderungen. Allgemeine Evolutionstrends bei den Nashörnern, die weitgehend alle Linien durchliefen und jeweils Anpassungen an bestimmte Biotope darstellen, sind die Kürzung und Verbreiterung des Schädels, vor allem im vorderen Gesichtsbereich, Längenreduktion der Gliedmaßen, Reduktion des Gebisses, Molarisierung der Prämolaren und Vergrößerung der Höhe der Zahnkronen bei den Backenzähne. Weiterhin können zwei generelle Entwicklungsmodelle festgestellt werden: hornlose Nashörner mit einem weitgehend intakten oder umfangreichen vorderen Gebiss mit vergrößerten Zähnen und horntragende Nashörner mit einer stark reduzierten oder nicht vorhandenen vorderen Bezahnung. Eozän Der früheste bekannte Vorläufer der Nashörner war Hyrachyus aus dem Mittleren Eozän Nordamerikas und Europas. Er war etwa so groß wie ein heutiger Schäferhund und besaß die vollständige Säugetierbezahnung mit kaum molarisierten Prämolaren. Aufgrund der sehr basalen Stellung wird diese Gattung je nach Auffassung zu den Tapiroiden oder zu den Rhinocerotoiden gestellt. Mögliche Frühformen der Nashörner sind mit Uintaceras und Teletaceras ebenfalls im Mittleren oder Oberen Eozän nachgewiesen, besaßen aber wie alle urtümlichen Vertreter keine Hornbildung. Beide Formen waren ebenfalls relativ klein. Uintaceras ist weitgehend nur aus Nordamerika belegt, Teletaceras hingegen kam weitverbreitet vor und ist unter anderem aus der Clarno-Formation in Nordamerika sowie aus der Pondaung-Formation in Südostasien überliefert. Im Oberen Eozän traten dann auch die ersten echten und schon größeren Nashörner auf, wie etwa das rindergroße Trigonias. Oligozän Die ersten Nashörner Europas erschienen mit dem großen und hornlosen Ronzotherium erstmals im Unteren Oligozän, das von zahlreichen Fundstellen belegt ist. Ebenso trat Epiaceratherium auf, möglicherweise kam die Form aber schon im Oberen Eozän vor. Es hatte vergleichbar zu Ronzotherium eine weitgehend westeurasische Verbreitung. Einzelne Funde wie ein Schädel aus der Fossillagerstätte von Na Dương in Vietnam zeigen jedoch ein weites Vorkommen bis in den östlichen Teil des Großkontinentes an. Wie Ronzotherium gehört Epiaceratherium noch der Stammgruppe der Nashörner an. In Asien breiteten sich des Weiteren Vertreter von Guixia aus. Im Oberen Oligozän teilten sich Europa und Asien zahlreiche gemeinsame Nashornlinien. So entwickelten sich mit Protaceratherium ein Mitglied der Aceratheriini, die charakterisiert waren durch eine lange, rüsselartige Schnauze und eine zurückgebildete Nasenregion und auf pflanzliche Weichkost spezialisiert waren. Ebenso entstanden mit Diaceratherium (nicht zu verwechseln mit Diceratherium) und Brachydiceratherium erste Vertreter der flusspferdartigen kurzbeinigen und teils in offenen Waldlandschaften, später auch in Savannen lebenden Teleoceratini, die teilweise spezialisierte Grasfresser waren und sehr hochkronige Backenzähne entwickelten. In Nordamerika bildeten sich eigene Nashornlinien aus, insgesamt war aber die Diversität der dortigen Nashörner verglichen mit Eurasien wesentlich geringer. Subhyracodon, das ebenfalls schon im Oberen Eozän auftrat, entwickelte sich zur Diceratherium-Linie weiter. Diese stellten die ersten Nashörner mit Hornbildungen dar, die bei dieser Gruppe aber paarig auf der Nase saßen. Mit dem Auftreten von Subhyracodon und Diceratherium wurden zudem in Nordamerika zum Ende des Oligozäns alle urtümlichen Nashörner mit vierzehigen durch modernere mit dreizehigen Vorderfüßen ersetzt, ein Prozess der in Eurasien und Afrika noch bis weit in das Miozän hinein andauerte. Miozän Im Miozän kam es zu einer starken Radiation der Nashörner mit einem großen Formenreichtum. Im Unteren Miozän betraten die Nashörner erstmals afrikanischen Boden. Frühe Funde sind mit Aceratherium und Brachypotherium in Ägypten und Libyen nachgewiesen. Vertreter der Aceratheriini erreichten außerdem Nordamerika und bildeten unter anderem mit Floridaceras und Aphelops eigene Gattungen aus. Auch die Teleoceratini wanderten nach Nordamerika aus. Hier findet sich in Nebraska am Verdigre Creek in der Ash-Hollow-Formation, wo eine komplette Herde mit intakten Mageninhalten unter Vulkanasche begraben wurde, einer der besten Nachweise der für diese Nashorngruppe namengebenden Gattung Teleoceras, der zudem einer der dominantesten Pflanzenfresser jener Zeit in Nordamerika war. Weiterhin erschien das aus Eurasien stammende Menoceras, das wie Diceratherium paarige Nasalhörner besaß aber ein basaler Vertreter der Rhinocerotinae ist. Aber auch nach Eurasien wanderten verschiedene, ursprünglich nordamerikanische Nashörner ein, wie einzelne Vertreter der Diceratheriini. Bedeutend ist hier jedoch die Ausbreitung der hornlosen Nashörner, der Aceratheriini, die zahlreiche Formen hervorbrachten und die neben dem bereits erwähnten Aceratherium auch Alicornops und Chilotherium einschließen. Vor allem Letzteres war sehr häufig. Weiterhin können schon im Unteren Miozän erstmals Angehörige modernerer Nashornformen, wie Bugtirhinus als Basalform der Elasmotheriini, nachgewiesen werden. Bedeutend ist darüber hinaus das erste Auftreten der heute noch bestehenden Gattungen, wie der afrikanischen Formen Ceratotherium und Diceros im Oberen Miozän. Dabei muss vor allem das Verbreitungsgebiet von Diceros. ursprünglich wesentlich größer gewesen sein, da die stammesgeschichtlich alte Art Diceros gansuensis. vor 5 bis 7 Millionen auch in Ostasien auftrat. Weiterhin sind in Eurasien mit Dicerorhinus frühe Vertreter der Dicerorhinina nachgewiesen, während Sinotherium und Ningxiatherium deutlich entwickeltere Angehörige der Elasmotheriini darstellen. Die Rhinocerotina sind in dieser Zeitphase mit Gaindatherium und Punjabitherium nachweisbar. Am Ende des Miozäns kam es aufgrund klimatischer Abkühlung verbunden mit der Ausbreitung von offenen Steppenlandschaften zu einem Aussterben zahlreicher Nashornarten. Dies betraf vor allem die Aceratheriini und einen Teil der Teleoceratini. In Nordamerika verschwand die gesamte Nashornfauna, in Eurasien überlebten nur Elasmotheriini, Dicerorhinina und Rinocerotina. In Afrika hielten sich des Weiteren die Dicerotina und einige Arten von Brachypotherium aus der Gruppe der Teleoceratini. Plio- und Pleistozän Die Zeit des Plio- und Pleistozäns war vor allem geprägt durch die Weiterentwicklung der modernen Nashorngruppen, wie Elasmotheriini und Rhinocerotini. Letztere schließen die noch heute bestehenden Arten ein. Vor allem die urtümlichen Dicerorhinina Eurasiens zeigten eine große Diversität. Allerdings ist von den direkten Vorfahren des Sumatra-Nashornes wenig bekannt. Bedeutend ist der Aufstieg des seit dem mittleren Pliozän bekannten Coelodonta zum am Ende des Pleistozäns lebenden Wollnashorn. Die Schwestergruppe Stephanorhinus spaltete sich in mehrere, an unterschiedliche Biotope angepasste Arten auf, wie es die mittelpleistozänen Formen des Wald- und Steppennashorns zeigen. Beide Nashornlinien enden jedoch im späten Pleistozän. Die Gattung Rhinoceros ist seit dem Pliozän nachweisbar und spaltete sich in mehrere Formen auf. Auf den Philippinen kam im Mittleren Pleistozän das nahe verwandte Nesorhinus vor, eine der wenigen Formen der Nashörner mit Inselverzwergung. Im nördlichen Eurasien, vor allem in Zentralasien sind die verschiedenen Vertreter von Elasmotherium überliefert. Diese Nashorngattung stirbt allerdings ebenfalls im Jungpleistozän aus. In Afrika entwickeln sich Diceros und Ceratotherium zu den heute bekannten Arten. Am Ende des Pleistozäns kam es zu einer erneuten Aussterbewelle, in deren Zuge die Nashornlinien des nördlichen Eurasiens verschwanden (siehe Quartäre Aussterbewelle). Nur die heute noch existierenden Nashornvertreter überlebten. Taxonomie Der Name Rhinoceros wurde 1758 von Linnaeus als wissenschaftliche Bezeichnung für das Nashorn eingeführt, genutzt wurde der Name aber schon mindestens seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts, so unter anderem von Albrecht Dürer bei seinem berühmten Holzschnitt Rhinocerus, den er 1515 anfertigte. Einer der frühesten Hinweise auf die Namensverwendung stammt jedoch mit rhinókerôn aus der Bibliothéke historiké des antiken Historikers Diodor von Agyrion aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. Die Bezeichnung setzt sich aus den griechischen Wörtern ῥίς (rhīs „Nase“; Genitiv rhinos) und κέρας (kéras „Horn“) zusammen, bezieht sich also eindeutig auf die Hornbildung auf der Nase. Linnaeus unterschied die damals bekannten zwei Arten: R. unicornis, das Panzernashorn, welches er in Indien und Afrika verortete, und R. bicornis, das Spitzmaulnashorn, welches seiner Meinung nach aber in Indien lebte. Linnaeus' Irrtümer bezüglich der Verbreitung beruhen wahrscheinlich auf der Verwendung häufig älterer Quellen bei der Erstellung seines Werkes Systema Naturae. Zahlreiche Gelehrte seiner Zeit lehnten eine Einteilung der Nashörner in zwei Arten ab und bevorzugten stattdessen nur eine, die bestimmte Variationen aufwies. Der Widerspruch löste sich erst auf, als der niederländische Anatom Petrus Camper 1771 ein zweihörniges Nashorn aus Südafrika studierte und neben dem zweiten Horn auch Unterschiede im Gebissaufbau bemerkte; die vollständige Publikation seiner Ergebnisse erfolgte aber erst 1782. Ungefähr im gleichen Zeitraum, 1769, entdeckte der deutsche Naturforscher Peter Simon Pallas ein ebenfalls zweihörniges Nashorn in Sibirien, das Wollnashorn. Der britische Naturforscher John Edward Gray führte 1821 die Familienbezeichnung Rhynocerotidae ein. Seine kurze Beschreibung lautete: „Nose short, rounded, bones very thick, bearing a horn formed of agglutinated hair; toes three to each foot; stomach simple; intestine and caecum large“ („Nase kurz, gerundet, Knochen sehr dick, horntragend, bestehend aus zusammengewachsenem Haar; drei Zehen an jedem Fuß; Magen einfach; Darm und Blinddarm groß“). Aufgrund der falschen Schreibweise wird diese Bezeichnung aber offiziell nicht anerkannt, allerdings unterschied Gray in seiner Beschreibung formal die beiden heute noch bestehenden Gattungen Rhinoceros (Panzernashorn) und Diceros (Spitzmaulnashorn). Bereits 1811 hatte der deutsche Zoologe Johann Karl Wilhelm Illiger den Namen Nasicornia für die Nashörner vorgeschlagen, der, da er nicht auf einem vergebenen Gattungsnamen beruhte, ebenfalls ungültig ist. Im Jahr 1845 legte Richard Owen, neben Charles Darwin einer der bedeutendsten Naturhistoriker des Viktorianischen Zeitalters, eine Studie vor, in der er die Familie der Nashörner mit einbezog und auch die für die Säugetiertaxonomie wichtigen Zähne berücksichtigte. Hier bezeichnete er die Nashörner korrekt als Rhinocerotidae, weswegen viele Experten die Gruppenbenennung „Rhinocerotidae Owen, 1845“ gegenüber der eigentlich nicht korrekten Benennung „Rhinocerotidae Gray, 1821“ bevorzugen. Nashörner und der Mensch Nashörner in Kunst und Kultur Nashörner gehören, bezogen auf ihre Körpergröße und ihren Habitus, zu den beeindruckendsten landlebenden Säugetieren und fanden aufgrund dessen auch Einzug in die Kunst und Kultur des Menschen, besonders häufig trifft dies dabei auf Jäger-und-Sammler-Populationen zu. Die frühesten bekannten Darstellungen von Nashörnern finden sich im westeurasischen Jungpaläolithikum (vor 40.000 bis 10.000 Jahren) und sind wenigstens 31.000 Jahre alt. Hervorzuheben sind hier die Malereien der frankokantabrischen Höhlenkunst, wo Nashörner in mehr als einem halben Dutzend Höhlen mit über 80 Darstellungen abgebildet wurden. Am häufigsten sind sie in der Grotte Chauvet (Frankreich) mit 65, teils in roten oder schwarzen Farbpigmenten gehaltenen Zeichnungen überliefert, allein ein Panneau enthält 17 Darstellungen eines wohl in Bewegung befindlichen Tieres. Des Weiteren finden sich in Europa auch außerhalb dieses Kulturkreises in der mobilen jungpaläolithischen Kleinkunst Abbildungen und Darstellungen von Nashörnern in Form von Knochen- oder Steinritzungen, aber auch als kleine Statuetten modellierten Tonfiguren, die zu den ältesten Keramikgegenständen der Welt gehören. Alle diese Kunsterzeugnisse werden heute als Darstellungen des Wollnashorns interpretiert, welches damals in den nordeurasischen Kältesteppen lebte, einige ältere auch manchmal als Steppennashorn. Einige Forscher vertreten die Meinung, einzelne charakteristische Nashorndarstellungen, wie zum Beispiel in der Höhle Rouffignac, könnten als Abbildungen von Elasmotherium angesehen werden, doch war diese Gattung weder räumlich noch zeitlich so weit verbreitet. Auch vorgeschichtliche Jäger- und Sammlergemeinschaften in anderen Erdteilen bildeten Nashörner ab. In Südasien existieren zahlreiche Malereien in Höhlen und Abris, die in diesem Falle das Panzernashorn wiedergeben. Diese werden dem dortigen Mesolithikum zugewiesen und sind zwischen 12.000 und 7.000 Jahre alt. Bedeutend und zu den ältesten in dieser Region gehören jene vom Marodeo-Felsen nahe Pachmarhi im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh oder eine Jagdszene, dargestellt bei Mirzapur im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh. Aus weiten Bereichen des südlichen Afrika sind zahlreiche Felszeichnungen und -gravierungen von sowohl Breitmaul- als auch Spitzmaulnashorn bekannt, die überwiegend den Khoisan-Bevölkerungsgruppen zugewiesen werden und bis zu 14.000 Jahre alt sein können, teilweise aber auch bedeutend jünger sind. Diese sind mitunter sehr zahlreich, wobei gebietsweise mehr Gravierungen als Zeichnungen zu beobachten sind. Allein in den südafrikanischen Provinzen Nordkap, Nordwest und Freistaat sind mehr als 500 Darstellungen überliefert. Mit dem Sesshaftwerden des Menschen gehen die Abbildungen von Nashörnern rapide zurück. Aus der Kupferzeit sind Darstellungen der Tiere auf Siegeln der Indus-Kultur bekannt, vereinzelt finden sie sich auch als Reliefdarstellungen im Alten Ägypten. Bemerkenswert sind dabei auch Relieffiguren einhörniger Nashörner an Tempelfriesen in Angkor Vat (Kambodscha), die aus dem 12. Jahrhundert stammen und aufgrund des historischen Verbreitungsgebietes zu den wenigen Abbildungen des Java-Nashornes gehören. Eine hohe kulturelle Bedeutung für das südliche Afrika hat das „Goldene Nashorn“ aus dem „Originalen Goldgrab“ vom Mapungubwe-Hügel in der südafrikanischen Provinz Limpopo. Der archäologische Fundstätten-Komplex wurde von lokalen Stämmen im 11. bis 13. Jahrhundert angelegt und in den 1920er bis 1930er Jahren ausgegraben. Das kleine Nashornfigürchen von 5,5 cm Höhe bildete möglicherweise gemeinsam mit anderen zoomorphen Statuetten wie einem Büffel, einer Raubkatze, einem Elefanten und einem Krokodil ein Zierelement eines größeren Gefäßes, das vermutlich beim Wahrsagen Verwendung fand. Für die europäische Kunstgeschichte herausragend sind der weit verbreitete Holzschnitt Rhinocerus von Albrecht Dürer aus dem Jahr 1515, entstanden nach nur indirekten Berichten über ein indisches Panzernashorn in Portugal, und das Ölgemälde Rhinoceros Clara von Jean-Baptiste Oudry aus dem Jahr 1749. Bedrohung und Schutz Die heute lebenden Nashörner gehören aufgrund mehrerer Faktoren – enorme Größe, langsames Wachstum, territoriale Einzelgänger, wenige Nachkommen in menschlicher Obhut – zu den nicht domestizierbaren Wildtieren. Dadurch ist die Bedeutung der Tiergruppe für den heutigen Menschen als Nahrungs- und Rohstofflieferant relativ gering, in Asien besteht jedoch eine große Nachfrage nach Hörnern der Nashörner. Diese werden im Nahen Osten, vor allem im nördlichen Jemen, traditionell für die Griffe des Jambia-Dolches verwendet, der als Statussymbol dient. In Ostasien dagegen sind sie Bestandteil kunsthandwerklicher Schnitzereien und der Traditionellen Chinesischen Medizin. Bei Letzterer dienen die Hörner vor allem in pulverisierter Form als Medikament gegen Fieber und Schmerzen, ein häufig angenommener Einsatz als Aphrodisiakum ist historisch nicht verbürgt. Vor allem aufgrund dieses Marktes sind Nashörner durch die damit verbundene Wilderei vom Aussterben bedroht. So wurden auf dem Schwarzmarkt im Jahr 2012 zwischen 30.000 und 65.000 US-Dollar für jedes Kilogramm Horn gehandelt, im Zeitraum von 1993 bis 2009 betrug der Wert noch rund 4700 bis 5000 US-Dollar je Kilogramm. Durch die hohe Nachfrage aus Ostasien an Horn stieg in den letzten Jahren nicht nur die Anzahl der durch Wilderei getöteten freilebenden Nashörner vor allem im südlichen Afrika, sondern es kam auch verstärkt zu Diebstählen in Museen, Sammlungen und Auktionshäusern und damit verbundenem Schmuggel. Mehrere durchgeführte Tests seitens der Pharmaindustrie und biowissenschaftlicher Forschungsinstitute ergaben jedoch keinerlei medizinische Wirkung. Jedoch gab es immer wieder Gerüchte über Wunderheilungen, so dass zuletzt 2009 die Nachfrage stark angestiegen war. Weitere Ursachen für die Bedrohung der heutigen Nashornarten sind darüber hinaus die Zerstörung der Lebensräume durch Landwirtschaft oder Bau von Verkehrswegen aber auch die Ausdehnung der menschlichen Siedlungen bis an die Grenzen der Schutzgebiete. In neuerer Zeit gibt es allerdings wieder eine leichte Bestandserholung einiger Arten. In Afrika lebten Ende 2010 wieder rund 20.000 Breitmaul- und über 5.000 Spitzmaulnashörner. Beide Bestände haben sich seit 1995 fast verdoppelt. Ein großer Anteil der Nashörner lebt davon in Südafrika zumeist in eingezäunten und bewachten Reservaten. In Kenia finden sich ebenfalls verschiedene private und öffentliche Schutzgebiete, z. B. die private Farm Ol ari Nyiro von Kuki Gallmann oder der Lake-Nakuru-Nationalpark. Zwar hat sich der Gesamtbestand der afrikanischen Nashörner insgesamt laut IUCN stabilisiert, doch sind einzelne Unterarten teils stark bedroht. Besonders kritisch steht es dabei um das Nördliche Breitmaulnashorn (C. s. cottoni), welches nur noch zwei Exemplare umfasst und durch ein Zuchtprogramm im Ol Pejeta Reservat in Kenia vor dem Aussterben bewahrt werden soll. Durch die steigende Anzahl an durch Wilderer getöteten Nashörnern im südlichen Afrika (2013 fast 800 Nashörner) wurden 2013 neben bewaffneten Wildhütern, Enthornungen von wildlebenden Tieren oder Umsiedlungen einzelner Individuen beziehungsweise kleinerer Populationen neue Gegenmaßnahmen eingeleitet. Diese umfassen unter anderem das Einspritzen von Antiparasitika in die Hörner, hauptsächlich Arzneistoffe gegen äußere Parasiten, die im normalen Einsatz für die Nashörner unschädlich sind, beim Menschen aber Übelkeit oder Konvulsion erzeugen und die Hörner so unbrauchbar für den Markt der Traditionellen Chinesischen Medizin machen. Eine weitere Methode ist die Markierung der Hörner mit Farbstoffen, die deren Inneres rot oder pink färben. Dies soll helfen, den internationalen Handel mit illegal erbeuteten Hörnern zu verfolgen, da diese, vergleichbar zu durch ein ähnliches Verfahren markierten Banknoten, auch durch Scanner an Flughäfen aufgespürt werden können. Umweltschützer sehen diese Vorgehensweisen bisher eher skeptisch, einerseits weil vereinzelt Nashörner bei der Durchführung der Prozedur starben, andererseits auch weil kaum wissenschaftliche Untersuchungen zu den neuen Maßnahmen und der damit verbundenen potentiellen gesundheitlichen Risiken für die behandelten Tiere durchgeführt wurden. Weiterhin können sie auch eine höhere Sicherheit der Populationen an Nashörnern lediglich vortäuschen, da zwar in einzelnen Schutzgebieten mit derartig behandelten Tieren die Wilderei zurückging, ein Großteil der Tiere aber diese aufgrund des Druckes durch Wilderei verlassen hatte. Eine Verschiebung des Jagddrucks ist dadurch nicht auszuschließen. Der WWF Deutschland informierte im März 2014 über ein Projekt, bei dem 1000 zu schützenden Nashörnern in Kenia ein Chip ins Horn eingepflanzt werden soll, um Wilderer besser überführen zu können. Auch Schutzbemühungen Indiens und Nepals waren erfolgreich, so dass der Bestand an Panzernashörnern auf 2.850 Tiere Ende 2010 und damit im Vergleich zu 1995 deutlich gestiegen ist; gegenwärtig wird von einem Bestand von mehr als 3.500 Tieren ausgegangen. Der Bestand der Sumatra-Nashörner ist dagegen im selben Zeitraum von etwas mehr als 300 auf etwa 220 bis 280 Tiere zurückgegangen, teilweise werden auch weniger als 100 Tiere angenommen – Ursache ist offensichtlich, dass die Regierungen von Indonesien und Malaysia nur wenige finanzielle Mittel für den Schutz dieser Tiere bereitstellen. Das Java-Nashorn ist mittlerweile das am stärksten gefährdete Großsäugetier der Erde. Schätzungsweise 60 Exemplare bewohnen Reste des ehemaligen Verbreitungsgebiets der Art im Westen von Java. Die letzte verbliebene kleine Population des Java-Nashorns in Vietnam wurde im Oktober 2011 vom WWF für erloschen erklärt. Damit gilt die vietnamesische Unterart R. s. annamiticus des Java-Nashorns offiziell als ausgestorben. Aufgrund des hohen Risikos, die letzten zur Fortpflanzung fähigen Kühe zu isolieren, und der Tatsache, dass sich Nashörner allgemein in menschlicher Obhut teilweise nur selten fortpflanzen, sind Nachzuchtprogramme schwer umzusetzen, so dass sich die früheren Schutzbemühungen auf das Ausrufen neuer Schutzgebiete und die Rettung der Restpopulationen beschränken. Zwei bedeutende neuere Projekte in diesem Zusammenhang sind das zum Schutz des Sumatra-Nashorns im Jahr 1997 gestartete Nachzuchtprogramm im Sumatran Rhino Sanctuary auf Sumatra und das 2011 begonnene Projekt Javan Rhino Study and Conservation Area für die Erhaltung des Java-Nashorns. Literatur Anonymous (Hrsg.): Die Nashörner: Begegnung mit urzeitlichen Kolossen. Fürth, Filander Verlag, 1997, ISBN 3-930831-06-6. Esperanza Cerdeño: Diversity and evolutionary trends of the family Rhinocerotidae (Perissodactyla). In: Palaeo. 141, 1998, S. 13–34. Claude Guérin: La famille des Rhinocerotidae (Mammalia, Perissodactyla): systématique, histoire, évolution, paléoécologie. In: Cranium. 6, 1989, S. 3–14. Kurt Heissig: The Rhinocerotidae. In: Donald R. Prothero, R. M. Schoch (Hrsg.): The evolution of the Perissodactyls. New York 1989, S. 399–417. Donald R. Prothero, Claude Guérin, Earl Manning: The history of Rhinocerotoidea. In: Donald R. Prothero, R. M. Schoch (Hrsg.): The evolution of the Perissodactyls. New York 1989, S. 321–340. Donald R. Prothero: Fifty million years of rhinoceros evolution. In: O. A. Ryder (Hrsg.): Rhinoceros biology and conservation: Proceedings of an international conference, San Diego, U.S.A. Zoological Society, San Diego 1993, S. 82–91. Rudolf Schenkel, Ernst M. Lang: Das Verhalten der Nashörner (= Handbuch der Zoologie. 8 (46)). 1969, S. 1–56, ISBN 3-11-000664-2. Einzelnachweise Weblinks Nashörner Spiegel online, Aktuelle Artikel und Hintergründe World Wildlife Fund (WWF): Rhino: Species, Places, Threats, Our Work Themen & Projekte: Nashorn WWF Deutschland
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https://de.wikipedia.org/wiki/Niuserre
Niuserre
Niuserre (Ni-user-Re, auch Niuserre Ini) war der sechste König (Pharao) der altägyptischen 5. Dynastie im Alten Reich. Er regierte etwa innerhalb des Zeitraums von 2455 bis 2420 v. Chr. Die genaue Länge seiner Regierungszeit ist unklar, in der Forschung wird aber mehrheitlich von etwa 30 Jahren oder mehr ausgegangen. Die königliche Nekropole von Abusir ist stark durch seine umfangreichen Bauprojekte geprägt. Hierzu zählen die Errichtung seiner Pyramidenanlage und eines Sonnenheiligtums, aber auch die Vollendung der Grabanlagen seines Vaters, seines Bruders und seiner Mutter. Konkrete Ereignisse aus Niuserres Regierungszeit sind kaum überliefert. Reformen in der Verwaltung führten zu einer Bündelung verschiedener Ressorts in den Händen des Wesirs, des obersten Beamten Ägyptens. Durch Inschriften sind Expeditionen ins Wadi Maghara auf dem Sinai und nach Nubien bezeugt, durch archäologische Funde außerdem Handelsbeziehungen nach Byblos. Der für Niuserre eingerichtete Totenkult und die damit verknüpfte Verehrung dauerten bis ins Mittlere Reich an. Herkunft und Familie Niuserre war ein Sohn von König Neferirkare und dessen Gemahlin Chentkaus II. Sein Bruder trug den Geburtsnamen Ranefer und bestieg nach dem Tod des Vaters unter dem Namen Raneferef den Thron, starb jedoch bereits nach nur wenigen Jahren. Die Königliche Gemahlin Niuserres war Reputnebu. Das einzige bekannte Kind aus dieser Ehe war die Tochter Chamerernebti, die mit dem Wesir Ptahschepses verheiratet war und mit ihm fünf Kinder hatte. Bislang völlig unklar ist das familiäre Verhältnis des Herrschers zu Schepseskare, der kurzzeitig nach dem Tod Raneferefs regierte, sowie zu Menkauhor, dem unmittelbaren Nachfolger Niuserres. Herrschaft Regierungsdauer Eine zuverlässige Abschätzung der Dauer von Niuserres Regierung gestaltet sich schwierig. In dem aus der 19. Dynastie stammenden Königspapyrus Turin ist der Namenseintrag des Herrschers verloren und die Nennung seiner Regierungsjahre stark beschädigt. Der Eintrag lautete wohl „11 (+x?) Jahre“. Der im 3. Jahrhundert v. Chr. lebende ägyptische Priester Manetho nennt 44 Jahre, was in der Forschung aber allgemein als zu hoch angesetzt gilt. Die zeitgenössischen Quellen liefern kein eindeutiges Bild. Einerseits scheinen die inschriftlich überlieferten Datumsangaben für eine eher kurze Herrschaft zu sprechen. Das höchste überlieferte Datum ist ein „Siebentes Mal der Zählung“. Hiermit ist eine ursprünglich in zweijährlichem Abstand stattfindende Viehzählung gemeint, die jedoch spätestens seit Beginn der 4. Dynastie auch häufig jährlich durchgeführt wurde. Da sich die bekannten Datumsinschriften aus Niuserres Regierungszeit auf vier „Jahre der Zählung“ aber nur auf ein „Jahr nach der Zählung“ beziehen, ist somit durchaus eine Regierungsdauer plausibel, die sich in etwa mit den vermuteten elf Jahren des Turiner Papyrus deckt. Dem gegenüber stehen aber bildliche Darstellungen im Sonnenheiligtum des Niuserre, die den König beim Sed-Fest zeigen. Dieses Fest fand idealerweise erst nach 30 Jahren Regierung statt, konnte prinzipiell aber auch eher abgehalten werden. Auch einige Inschriften aus der Mastaba des Ptahschepses in Abusir reichen lediglich zur Bestimmung einer ungefähren Mindestdauer von Niuserres Herrschaft, nicht aber einer Höchstdauer. Die Mastaba wurde in drei Bauphasen errichtet, wobei der Baubeginn in etwa auf das fünfte „Jahr der Zählung“ fiel. Ab der zweiten Bauphase wurde Niuserres Tochter Chamerernebti in den Inschriften als Ptahschepses’ Gemahlin genannt. In die gleiche Bauphase datieren auch zwei Bauinschriften eines Raneferefanch, der aufgrund seines Namens frühestens in der Regierungszeit von Raneferef geboren wurde und beim Anbringen der Inschriften bereits ein erwachsener Mann gewesen sein musste. Da die Regierungszeiten des jung verstorbenen Raneferef und seines Nachfolgers Schepseskare zusammengerechnet drei bis vier Jahre nicht überschritten haben dürften, ergibt sich somit eine Mindestdauer von deutlich über zehn Jahren für Niuserres Herrschaft. Umstände der Machtübernahme Bislang ungeklärt ist die Frage, warum Niuserre nicht unmittelbar nach dem Tod seines Bruders Raneferef den Thron bestieg, sondern zwischen beiden noch kurzzeitig ein Herrscher namens Schepseskare regierte. Miroslav Verner stellte hierfür mehrere hypothetische Szenarien auf, die von Thronstreitigkeiten innerhalb der königlichen Familie ausgehen. Demnach könnte Schepseskare ein Sohn von Sahure und damit ein Onkel von Niuserre gewesen sein, der seine Machtansprüche kurzzeitig gegen den noch jungen Kronprinzen durchsetzen konnte (für eine ausführliche Darstellung siehe Schepseskare). Landesverwaltung Unter Niuserre erfolgte eine starke Zentralisierung verschiedener Verwaltungsressorts in den Händen des obersten Beamten, des Wesirs, dessen Amt dadurch erheblich gestärkt wurde. Die Ämter des „Vorstehers der Beiden Schatzhäuser“, des „Vorstehers der Beiden Scheunen“ und des „Vorstehers der Beiden Kammer der Kostbarkeiten des Königs“ (d. h. der Vorsteher des königlichen Schmucks) wurden nun feste Bestandteile der Wesirstitulatur. Somit war nun die Verantwortung für alle materiellen Belange der Residenz in einem Amt gebündelt. Die Verknüpfung zweier weiterer, neu geschaffener Ämter mit dem Wesirat lässt sich aus der Titulatur eines Beamten namens Kai ablesen. Dieser hatte zunächst als „Vorsteher des großen Hauses“, einer juristischen Institution, gewirkt und wurde nach seiner Berufung zum Wesir als „Vorsteher der 6 großen Häuser“ auch Oberaufseher aller juristischen Angelegenheiten des Landes. Als „Vorsteher von Oberägypten“ wurde ihm schließlich noch die Verantwortung für die Provinzverwaltung übertragen. Neben Kai waren Minnefer und Ptahschepses mit Sicherheit unter Niuserre amtierende Wesire. Sechemanchptah ist eventuell auch unter seiner Herrschaft einzuordnen. Andere sicher in seine Regierungszeit zu datierende Beamte sind die beiden „Vorsteher aller Arbeiten des Königs“ Anchuserkaf und Seschemnefer (II.). Ptahschepses nimmt unter allen Beamten die herausragendste Stellung ein, was durch seine Heirat mit der Prinzessin Chamerernebti und dem Bau des größten Privatgrabes des Alten Reiches deutlich wird. Handelsbeziehungen und Expeditionswesen Aus der Zeit Niuserres stammen zwei Felsreliefs, die im Wadi Maghara auf dem Sinai entdeckt wurden. Eines davon befindet sich im Ägyptischen Museum in Kairo. Die Beischrift nennt das Schlagen der Mentiu und aller fremden Länder. Die Reliefs legen zwar eine königliche Expedition in die Kupfer- und Türkis-Minen des Wadis nahe, jedoch nicht zwangsläufig eine reale militärische Auseinandersetzung. Durch gefundene Siegelabdrücke und eine Felsinschrift ist belegt, dass der Ausgangspunkt für Niuserres Unternehmungen auf der Sinai-Halbinsel die Hafenanlage von Ain Suchna am Golf von Suez war. Handelsbeziehungen mit der Levante sind belegt durch eine in Byblos gefundene Statue Niuserres (siehe unten) und durch ein Gefäßfragment aus Travertin mit seinem Namen, das am gleichen Ort gefunden wurde. Aktivitäten in Nubien bezeugen ein Siegel, das in der Festung Buhen am 2. Nilkatarakt gefunden wurde, sowie Fragmente einer Stele mit Niuserres Namen, die aus dem unternubischen Gneis-Steinbruch bei Gebel el-Asr stammt. Sonstige Belege aus Niuserres Regierungszeit Im Tempel der Satis auf Elephantine wurde eine Fayencetafel mit Niuserres Namen gefunden. Da aber weder diese noch vergleichbare Stücke in ihrem originalen Kontext aufgefunden wurden, sondern in Deponierungen, ist ihr genauer Verwendungszweck unklar. Denkbar wäre eine Verwendung als Einlage zwischen Wandkacheln, aber auch als Gründungsbeigabe. Bautätigkeit Die bekannte Bautätigkeit Niuserres blieb auf Abusir beschränkt, prägte die dortige Nekropole jedoch nachhaltig, da kein Herrscher vor ihm dort so umfangreiche Baumaßnahmen durchführen ließ. Nachdem sowohl sein Vater als auch sein Bruder nach relativ kurzer Herrschaft verstorben waren, sah sich Niuserre zunächst mit mehreren unfertigen Projekten konfrontiert, die es zu vollenden galt. Dies waren die Grabanlagen Neferirkares und Raneferefs, aber auch die seiner Mutter Chentkaus II. Die topografischen Gegebenheiten in Abusir führten zu einigen ungewöhnlichen Entscheidungen bei der Errichtung seiner eigenen Pyramide. Als einzig ökonomisch sinnvoller Bauplatz blieb ihm nur eine Stelle recht nahe bei der Pyramide seines Vaters. Offenbar aus Platzmangel konnte er die Pyramidenanlagen seiner Königinnen nicht hier errichten, sondern musste sie ans südliche Ende der Nekropole, in die Nähe der Grabanlagen seines Bruders und seiner Mutter verlegen. Ein weiteres Bauprojekt Niuserres war die Errichtung eines Sonnenheiligtums bei Abu Gurob im äußersten Norden von Abusir. Nach dem Tod Niuserres schwand die Bedeutung von Abusir als königliche Nekropole. Er war der letzte Herrscher, der hier sein eigenes Grabmal errichten ließ. Sein Nachfolger Menkauhor ging nach Sakkara und Djedkare ließ in Abusir lediglich einige Gräber für Familienmitglieder errichten. Vollendung der Bauprojekte seiner Vorgänger Die Neferirkare-Pyramide Mit einem Basismaß von 105 m und einer angestrebten Höhe von 72 m hatte Neferirkare eine Grabanlage geplant, welche deutlich größer werden sollte als die seiner Vorgänger. Während zu seinen Lebzeiten die eigentliche Pyramide zu einem großen Teil fertiggestellt wurde, fehlten bei seinem Tod allerdings noch der größte Teil der Verkleidung und wahrscheinlich der komplette Tempelkomplex. Unter Raneferef scheinen die Arbeiten an der Verkleidung fortgeführt worden zu sein. Ebenso wurde ein erster Totentempel aus Kalkstein an der Ostseite der Pyramide errichtet. Niuserre gab nach seiner Thronbesteigung die Arbeiten an der Verkleidung auf und konzentrierte sich ganz auf den Totentempel, den er in Ziegelbauweise deutlich erweiterte. Dieser Teil erhielt kein steinernes Fundament mehr, sondern mit Hilfe von verfüllten Ziegelkammern eine ebene Grundfläche, die anschließend mit einem Lehm-Fußboden überzogen wurde. Der äußere Tempelteil besteht aus einem Säulenportikus, einer leicht schräg stehenden Säulenhalle und einem säulenumstandenen Hof. Tempel und Pyramide sind von einer Ziegelmauer umgeben. Ein Aufweg und ein Taltempel scheinen von Niuserre nicht geplant worden zu sein. Ebenso wenig ließ er für Neferirkare eine Kultpyramide errichten. An der Stelle, an der sich ein solches Bauwerk bei anderen Pyramidenkomplexen üblicherweise befindet (d. h. südlich des inneren Kalksteintempels), ließ er stattdessen Priesterunterkünfte errichten, in denen ein Archiv entdeckt wurde, das die bedeutenden Abusir-Papyri enthielt. Die Chentkaus-II.-Pyramide Mit dem Tod Neferirkares wurden auch die Arbeiten an der Pyramide seiner Gemahlin Chentkaus II. vorerst unterbrochen. Durch Baugraffiti ist bekannt, dass der Bau im 10. oder 11. Regierungsjahr des Herrschers etwa bis zur Höhe der Grabkammerdecke ausgeführt worden war. Nachdem während der kurzen Regierungszeiten von Raneferef und Schepseskare kaum nennenswerte Erweiterungen erfolgt sein dürften, kam es schließlich erst unter Niuserre zur Vollendung. Die aus Bauabfall errichtete Pyramide bekam eine Verkleidung aus feinem, weißen Kalkstein und erhielt an ihrer Ostseite einen Totentempel, der in zwei Phasen errichtet wurde: Der erste Tempel wurde aus Kalkstein errichtet und besaß einen Pfeilerhof, einen Saal für die Kultstatuen der Königin, eine Opferhalle und Magazinräume. In einer zweiten Phase wurde der Tempel in Ziegelbauweise nach Süden und Osten erweitert. Es kamen ein neuer Eingangsbereich, weitere Magazinräume und eine Priesterunterkunft hinzu. Südöstlich des Kalksteintempels wurde eine kleine Kultpyramide errichtet, was eine Neuerung darstellt, da zuvor ausschließlich Königspyramiden eine eigene Kultpyramide besaßen. Der gesamte Komplex wurde mit einer Mauer umgeben und somit deutlich vom Pyramidenkomplex des Neferirkare abgegrenzt. Die Raneferef-Pyramide Als Raneferef nach nur kurzer Regierungszeit starb, war von seiner Pyramide lediglich ein Stumpf mit einer Höhe von 7 m fertiggestellt. Die ursprünglichen Planungen wurden daraufhin aufgegeben und der begonnene Bau in eine flache Mastaba umgewandelt. Wahrscheinlich unter Schepseskare entstand an der Ostseite der Anlage ein erster kleiner Totentempel aus Kalkstein. Nach Niuserres Machtübernahme erfolgte eine umfangreiche Erweiterung der Tempelanlage in Ziegelbauweise. Nördlich und östlich des kleinen Kalksteintempels entstanden Magazinräume, südlich eine Halle, deren sternenverzierte Decke von hölzernen Lotossäulen getragen wurde. Der gesamte Komplex wurde von einer Mauer umschlossen, an deren östlichen Außenseite ein „Messer-Heiligtum“ errichtet wurde, ein dem Totenkult dienender Schlachthof. Diesen ursprünglichen Entwurf ließ Niuserre in einer späteren Bauphase noch einmal abändern und glich den insgesamt eher ungewöhnlichen Bau damit mehr dem typischen T-förmigen Totentempelgrundriss der 5. Dynastie an. Im Osten wurde ein von 22 hölzernen Säulen umstandener Hof, eine Eingangshalle und ein von zwei Papyrussäulen aus Kalkstein flankierter Eingang angefügt. Ein Taltempel und ein Aufweg, welche den Pyramidenkomplex eigentlich komplettiert hätten, wurden nicht gebaut. Eigene Bauprojekte Die Niuserre-Pyramide in Abusir Für seine eigene Pyramidenanlage mit dem Namen Mn-swt-Nj-wsr-Rˁ (Men-sut-Ni-user-Re, Die Stätten des Niuserre bestehen) wählte Niuserre einen Standort zwischen den Pyramiden seines Vaters Neferirkare und seines Großvaters Sahure. Mit einem Basismaß von 78,50 m hat sie die gleichen Ausmaße wie die Grabanlage des Sahure. Das Kernmauerwerk besteht aus Kalkstein und bildet sieben Stufen, die von einer Verkleidung aus feinerem, weißen Kalkstein überzogen waren. Der Eingang zum Kammersystem liegt an der Nordseite der Pyramide. Von dort führt ein unregelmäßig verlaufender Gang zu einer Vorkammer. Auf halber Strecke des Gangs befindet sich eine Blockiervorrichtung mit zwei Fallsteinen aus Granit. An der Westseite der Vorkammer liegt der Zugang zur Grabkammer. Beide Räume besitzen ein mächtiges Satteldach aus drei Lagen großer Kalksteinblöcke. Aufgrund massiven Steinraubs ist eine genaue Rekonstruktion des ursprünglichen Aussehens von Vor- und Grabkammer heute kaum noch möglich. Auch Reste der Bestattung oder der Grabbeigaben wurden nicht gefunden. Der Totentempel der Niuserre-Pyramide weist einige Besonderheiten auf. Die Auffälligste hiervon ist, dass sein Ostteil nach Süden verschoben ist und der Tempel somit statt des üblichen T-förmigen einen eher L-förmigen Grundriss hat. Dieser östliche Teil beherbergt eine von Magazinräumen flankierte Eingangshalle und einen säulenumstandenen Hof. Ein Querkorridor trennt den östlichen, öffentlichen Teil des Tempels vom westlichen, dem Kult vorbehaltenen. In einer Nische des Korridors wurden die Reste einer Löwenstatue entdeckt. Als wichtige architektonische Neuerung erscheint eine antichambre carée (deutsch etwa „quadratisches Vorzimmer“), ein quadratischer Raum mit einer Säule in der Mitte, welcher der Opferhalle vorgeschaltet ist und von nun an bis ins Mittlere Reich ein fester Bestandteil aller königlichen Totentempel blieb. An der Südostecke der königlichen Pyramide wurde eine kleine Kultpyramide errichtet. Der gesamte Komplex wurde mit einer Mauer umgeben, die im Südosten und Nordosten massive Eckbauten aufweist, die als Vorläufer von Pylonen angesehen werden. Der am Rand des Fruchtlandes liegende Taltempel wurde ursprünglich für Neferirkare begonnen, aber nie fertiggestellt. Niuserre übernahm daher beim Bau seiner Anlage die Fundamente für den Taltempel und den Aufweg, der nicht gerade zur Pyramide verläuft, da er zu seiner Grabanlage umgeleitet werden musste. Der Taltempel besitzt zwei Zugänge: Einen von Osten, wo sich einst die Hafenanlage befand, und einen weiteren im Westen. Das Zentrum des Tempels bildet ein Raum mit mehreren Statuennischen, in der vermutlich ursprünglich Kultbilder des Königs standen, daneben wurden aber auch der Kopf einer Statue seiner Gemahlin Reputnebu und Reste von Figuren besiegter Feinde gefunden. Die Königinnenpyramide Lepsius XXIV Südlich der Chentkaus-II.-Pyramide errichtete Niuserre eine Königinnenpyramide, die durch Baugraffiti eindeutig in seine Regierungszeit datiert werden kann. Das Bauwerk ist durch Steinraub stark zerstört. Es hat ein Basismaß von 31,5 m und eine ursprüngliche Höhe von 27,3 m, ragt heute aber nur noch 5 m empor. Das Kammersystem besteht aus einem von der Nordseite herabführenden Gang und einer zentral gelegenen Grabkammer. In dieser wurden neben Resten der Grabausstattung auch die Mumie einer jungen Frau von etwa 21–23 Jahren gefunden. Aufgrund fehlender Inschriften ist ihre Identität unklar, es scheint jedoch wahrscheinlich, dass es sich um die ursprüngliche Grabbesitzerin handelt, in der wohl eine Gemahlin Niuserres zu sehen ist. An der Ostseite der Pyramide haben sich noch die Reste einer kleinen Kultpyramide und des Totentempels erhalten. Beide sind durch Steinraub stark in Mitleidenschaft gezogen. Eine Rekonstruktion des ursprünglichen Tempelgrundrisses ist daher nicht mehr möglich. Die „Zwillingspyramide“ Lepsius XXV Nur wenige Meter südlich der Lepsius-XXIV-Pyramide befindet sich ein Bauwerk, das bislang einzigartig für den ägyptischen Pyramidenbau ist, da hier offenbar zwei Pyramiden direkt aneinandergebaut wurden. Die östliche hat ein Basismaß von 27,70 m × 21,53 m und erreicht heute noch eine Höhe von 6 m. Das Kernmauerwerk besteht aus verschiedenen Materialien, eine Verkleidung scheint nie angebracht worden zu sein. Von Norden führt ein Gang zunächst schräg hinab, verläuft dann waagerecht und mündet schließlich in die Grabkammer. Dort wurden noch Reste einer weiblichen Bestattung und der Grabausstattung gefunden. Als Opferbereich diente lediglich ein kleiner, in Kalkstein ausgeführter Raum an der Ostseite der Pyramide. Hier wurden eine weibliche Statuette und ein Papyrusfragment gefunden. Mit einem Basismaß von 21,70 m × 15,70 m ist die westliche Pyramide etwas kleiner als die östliche. Sie weist auch einen höheren Zerstörungsgrad auf. Vom ursprünglichen Kammersystem sind nur noch Teile der Fundamente erhalten, so dass seine Maße nicht mehr genau zu bestimmen sind. Auch hier haben sich von der Bestattung und den Grabbeigaben nur noch wenige Reste erhalten. Ein eigenständiger Opferbereich für die westliche Anlage konnte nicht nachgewiesen werden. Das Sonnenheiligtum des Niuserre in Abu Gurob Das zweite zentrale Bauprojekt Niuserres stellte sein Sonnenheiligtum mit dem Namen Šsp-jb-Rˁ (Schesep-ib-Re, Lustort des Re) dar. Es liegt bei Abu Gurob, nur einige hundert Meter nördlich des Sonnenheiligtums des Userkaf und ist neben diesem das einzige erhaltene der insgesamt sechs bekannten Sonnenheiligtümer der 5. Dynastie. Ähnlich einem Pyramidenkomplex besitzt es einen Taltempel am Rand des Fruchtlandes, von dem ein steiler Aufweg zu einem durch künstliche Terrassen horizontal erweiterten Hügel führt, auf dem sich das eigentliche Heiligtum befindet. Dieses ist von einer rechteckigen Mauer umgeben. An ihrer Ostseite befindet sich die Eingangshalle. Auf diese folgt ein offener Hof mit Altar im Zentrum. Der Westteil des Heiligtums wird von einem mächtigen, gemauerten Obelisken eingenommen. An der südlichen Umfassungsmauer verläuft ein dekorierter Gang. An der nördlichen sind Magazinräume angebaut, sowie zwei weitere Bauten, die forschungsgeschichtlich als „Schlachthäuser“ bezeichnet werden, aber wahrscheinlich nie als solche gedient haben. Außerhalb des eigentlichen Tempels, an seiner Südostecke, befindet sich ein großes, aus Holz und Lehmziegeln gefertigtes Modell eines Sonnenschiffs. Im Sonnenheiligtum wurden bedeutende Reliefdarstellungen gefunden. Dazu gehören Szenen aus dem südlichen Gang und einer anschließenden Kapelle, die Niuserre beim Sed-Fest zeigen. Ebenso bedeutend sind Darstellungen aus der sogenannten Weltenkammer neben dem Unterbau des Obelisken: Dort sind in großem Detailreichtum menschliche Tätigkeiten und Ereignisse der Natur im Laufe der Jahreszeiten abgebildet. Statuen Durch Inschriften und stilistische Vergleiche können dem Herrscher sechs Bildwerke zugeordnet werden. Eine herausragende Stellung nimmt hierbei eine Pseudogruppe ein, die sich heute im Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst in München befindet (Inv.-Nr. ÄS 6794). Es handelt sich um das einzige bekannte königliche Exemplar dieses Statuentyps aus dem Alten Reich. Das Stück ist von unbekannter Herkunft und besteht aus Kalzit. Es hat eine Höhe von 71,8 cm und eine Breite von 40,8 cm. Inschriften auf der Statuenbasis nennen den Namen Niuserres. Der König ist zwei Mal fast identisch stehend, den linken Fuß nach vorn gesetzt, nebeneinander dargestellt. Die Arme sind seitlich an den Körper angelegt, die Hände zu Fäusten geballt. Beide Figuren tragen einen plissierten Schurz und ein im unteren Bereich plissiertes Kopftuch mit der Uräusschlange auf der Stirn. Den einzigen augenfälligen Unterschied zwischen beiden Figuren bilden die Gesichtszüge: Während die linke Figur recht jugendlich wirkt, besitzt die rechte Tränensäcke und eingefallene Wangen. Dies wird dahingehend interpretiert, dass in dieser Doppelstatue zwei Aspekte Niuserres miteinander vereint dargestellt wurden: Zum einen der jugendlich-idealisierte göttliche Herrscher, zum anderen der menschliche, dessen Sterblichkeit durch die Altersspuren betont wird. Eine weitere Standfigur wurde 1904 in einer Abfallgrube im Tempel des Amun-Re in Karnak gefunden. Sie ist fast vollständig erhalten, aber in zwei Teile zerbrochen. Das Oberteil der Statue befindet sich heute in der Memorial Art Gallery in Rochester (New York) (Inv.-Nr. 42.54), das Unterteil im Ägyptischen Museum in Kairo (Inv.-Nr. CG 42003). Die Statue ist aus Rosengranit gefertigt. Sie hat eine Gesamthöhe von 8,6 cm, eine Breite von 23,8 cm und eine Tiefe von 39,1 cm. Auf der Statuenbasis ist vor dem rechten Fuß eine Inschrift mit dem Namen des Königs angebracht. Niuserre ist schreitend dargestellt. Er trägt einen Schurz und das königliche Kopftuch. Sein linker Arm ist seitlich an den Körper angelegt. Der rechte Arm ist auf die Brust gelegt, in der Hand hält er eine Keule. Eine Sitzstatue stammt möglicherweise aus dem Ptah-Tempel in Mit Rahina (Memphis) und gelangte von dort ins Ägyptische Museum nach Kairo (Inv.-Nr. CG 38). Die Statue besteht ebenfalls aus Granit und hat eine Höhe von 65 cm. Der König trägt wiederum einen Schurz und das königliche Kopftuch mit Uräus. Er hat die linke Hand flach auf den linken Oberschenkel gelegt, die rechte ist auf dem rechten Oberschenkel zur Faust geballt. Neben dem rechten Fuß ist auf der Statuenbasis eine Namensinschrift angebracht. Drei weitere Werke werden dem Herrscher aus stilistischen Gründen, vor allem wegen des identischen Gesichtsausdruckes, zugesprochen. Es handelt sich zum einen um einen Torso unbekannter Herkunft im Brooklyn Museum (Inv.-Nr. 72.58). Das Stück besteht aus Granit. Es hat eine Höhe von 34 cm, eine Breite von 16,2 cm und eine Tiefe von 14,1 cm. Erhalten ist der Kopf und der Oberkörper ab den Hüften. Die Arme fehlen komplett. Die Gesichtszüge und das Kopftuch gleichen den mit Inschriften versehenen Stücken. Das zweite Stück ist ein weiterer Torso, der in Byblos gefunden wurde und sich heute im Nationalmuseum in Beirut befindet (Inv.-Nr. B. 7395). Die Statue ist aus Granit gefertigt und hat eine erhaltene Höhe von 34 cm. Erhalten ist noch der Oberkörper ab dem Bauchnabel, die Oberarme und der Kopf mit dem königlichen Kopftuch. Ebenfalls aus stilistischen Gründen wird Niuserre der Kopf einer Statue zugeschrieben, die sich heute im Los Angeles County Museum of Art befindet (William Randolph Hearst Collection, Inv.-Nr. 51.15.6). Das Stück besteht aus Granit und hat eine erhaltene Höhe von 12,1 cm. Es zeigt den König bartlos mit einem auf der unteren Hälfte plissierten Kopftuch. Niuserre im Gedächtnis des Alten Ägypten Der für Niuserre eingerichtete Totenkult scheint durchgehend bis ins Mittlere Reich existiert zu haben. Totenpriester und Verwaltungsbeamte seines Pyramidenkomplexes und seines Sonnenheiligtums sind belegt für die Mitte und das Ende der 5. Dynastie, für die 6. Dynastie und in zwei Fällen auch für die Erste Zwischenzeit, in der die meisten anderen königlichen Totenkulte des Alten Reiches abreißen. In bescheidenem Umfang scheint der Totenkult noch bis in die 12. Dynastie fortbestanden zu haben. Die Verehrung Niuserres in diesem Zeitraum lässt sich durchaus als die eines Lokalheiligen von Abusir bezeichnen, was durch mehrere Aspekte deutlich wird: Zum einen lässt sich eine starke Konzentration von einfachen Privatgräbern in direkter Nachbarschaft zu seiner Pyramidenanlage feststellen. Hierbei sticht besonders der Bereich nördlich des Totentempels und am nordwestlichen Ende des Aufwegs hervor. Die meisten dieser Gräber stammen aus der Ersten Zwischenzeit und dem Mittleren Reich. Ihre Besitzer waren überwiegend in den königlichen Totenkult eingebunden. Darüber hinaus wurde Niuserre zu einem beliebten Namenspatron. Sein Eigenname Ini findet sich als häufiger Namensbestandteil von Personen, die in Abusir bestattet wurden, beispielsweise in den Formen Iniemachet, Inihetep oder Iniemsaef. Aus anderen Orten sind zudem Namensformen wie In(i), Inii, In(i)t, Inianchu, Iniadjet, Inihor, Inihetepu, Inichenethetep, Inidedui, Inischeri und Inisenebu überliefert. Ein weiterer Beleg für die weitreichende Verehrung Niuserres findet sich auf der Scheintür des Ipi, die in Sakkara gefunden wurde. Auf dieser wird in der sogenannten Opferformel Niuserre angerufen, was ungewöhnlich ist, da diese Formeln gewöhnlich auf Götternamen Bezug nehmen und nur sehr selten auf Königsnamen. Auch außerhalb Abusirs lässt sich im Mittleren Reich eine Verehrung Niuserres feststellen. Im Tempel von Karnak ließ Sesostris I. eine Statue des Herrschers aufstellen (heute im Ägyptischen Museum in Kairo, Inv.-Nr. CG 42003), die vermutlich Teil einer ganzen Gruppe von Bildnissen verstorbener Könige war. Während des Neuen Reiches wurde in der 18. Dynastie unter Thutmosis III. im Karnak-Tempel die sogenannte Königsliste von Karnak angebracht, in welcher der Name Niuserre auftaucht. Im Gegensatz zu anderen altägyptischen Königslisten handelt es sich hierbei nicht um eine vollständige Auflistung aller Herrscher, sondern um eine Auswahlliste, die nur die Könige nennt, für die während der Regierungszeit von Thutmosis III. Opfer dargebracht wurden. Während der 19. Dynastie führte Chaemwaset, ein Sohn Ramses’ II., landesweit Restaurierungsprojekte durch. Dazu gehörte auch das Sonnenheiligtum des Niuserre, wie durch Inschriften bekannt ist. Literatur Allgemeines Darrell D. Baker: The Encyclopedia of the Egyptian Pharaohs. Volume I: Predynastic to the Twentieth Dynasty (3300-1069 BC). Bannerstone Press, Oakville 2008, ISBN 978-0-9774094-4-0, S. 284–286. Peter A. Clayton: Die Pharaonen. Bechtermünz, Augsburg 1994, ISBN 3-8289-0661-3, S. 62. Martin von Falck, Susanne Martinssen-von Falck: Die großen Pharaonen. Von der Frühzeit bis zum Mittleren Reich. Marix, Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-7374-0976-6, S. 139–144. Thomas Schneider: Lexikon der Pharaonen. Albatros, Düsseldorf 2002, ISBN 3-491-96053-3, S. 182–183. Zum Namen Jürgen von Beckerath: Handbuch der ägyptischen Königsnamen. Deutscher Kunstverlag, München/ Berlin 1984, ISBN 3-422-00832-2, S. 55 u. 182. Karl Richard Lepsius: Auswahl der wichtigsten Urkunden des aegyptischen Alterthums. Wigand, Leipzig 1842, Tafel 9 a–c. Auguste Mariette: Les mastabas de l’Ancien Empire. Fragment du dernier ouvrage de A. Mariette. Vieweg, Paris 1885, S. 254, 255. Zur Pyramide Ludwig Borchardt: Das Grabdenkmal des Königs Ne-user-re. Hinrichs, Leipzig 1907 (der Ausgrabungsbericht). Zahi Hawass: Die Schätze der Pyramiden. Weltbild, Augsburg 2003, ISBN 3-8289-0809-8, S. 252–255. Mark Lehner: Geheimnis der Pyramiden. Econ, Berlin 1997, ISBN 3-572-01261-9, S. 148–152. Rainer Stadelmann: Die ägyptischen Pyramiden. Vom Ziegelbau zum Weltwunder (= Kulturgeschichte der Antiken Welt. Band 30). 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. von Zabern, Mainz 1997, ISBN 3-8053-1142-7, S. 175–179. Miroslav Verner: Die Pyramiden (= rororo-Sachbuch. Band 60890). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1999, ISBN 3-499-60890-1, S. 346–355. Für weitere Literatur zur Pyramide siehe unter Niuserre-Pyramide Zum Sonnenheiligtum Friedrich-Wilhelm Freiherr von Bissing: Das Re-Heiligtum des Königs Ne-Woser-Re. Band I, Druncker, Berlin 1905. Ludwig Borchardt, Heinrich Schäfer: Vorläufiger Bericht über die Ausgrabung bei Abusir im Winter 1899/1900. In: Zeitschrift für Ägyptische Sprache und Altertumskunde. (ZÄS) Band 38, Leipzig 1900, S. 94–100. Ludwig Borchardt, Heinrich Schäfer: Vorläufiger Bericht über die Ausgrabung bei Abusir im Winter 1900/1901. In: Zeitschrift für Ägyptische Sprache und Altertumskunde. (ZÄS) Band 39, Leipzig 1901, S. 91–103. Elmar Edel, Steffen Wenig: Die Jahreszeitenreliefs aus dem Sonnenheiligtum des Ne-user-re (= Mitteilungen aus der Ägyptischen Sammlung. Band 7, ). Tafelband. Akademie-Verlag, Berlin 1974. Heinrich Schäfer: Vorläufiger Bericht über die Ausgrabung bei Abusir im Winter 1898/1899. In: Zeitschrift für Ägyptische Sprache und Altertumskunde. Band 37, Leipzig 1899, S. 1–9. Susanne Voß: Untersuchungen zu den Sonnenheiligtümern der 5. Dynastie. Bedeutung und Funktion eines singulären Tempeltyps im Alten Reich. Hamburg 2004 (zugleich: Dissertation, Universität Hamburg 2000), (Volltext als PDF; 2,5 MB). Für weitere Literatur zur Pyramide siehe unter Sonnenheiligtum des Niuserre Detailfragen Jürgen von Beckerath: Chronologie des pharaonischen Ägypten. von Zabern, Mainz 1997, ISBN 3-8053-2310-7, S. 14, 27–28, 39, 153–156, 175, 188. Bernard V. Bothmer: The Karnak Statue of Ny-user-ra. In: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Abteilung Kairo. (MDAIK) Band 30, Wiesbaden 1974, S. 165–170. Aidan Dodson, Dyan Hilton: The Complete Royal Families of Ancient Egypt. Thames & Hudson, London 2004, ISBN 0-500-05128-3, S. 62–69 (Volltext als PDF 67,9 MB); abgerufen über Internet Archive. Peter Kaplony: König Niuserre und die Annalen. In: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Abteilung Kairo. Band 47, Wiesbaden 1991, S. 195–204. Antonio J. Morales: Traces of official and popular veneration to Nyuserra Iny at Abusir. Late Fifth Dynasty to the Middle Kingdom. In: Miroslav Bárta, Filip Coppens, Jaromír Krejčí (Hrsg.): Abusir and Saqqara in the Year 2005. Czech Institute of Egyptology, Faculty of Arts, Charles University in Prague, Prag 2006, ISBN 80-7308-116-4, S. 311–341. Miroslav Verner: Archaeological Remarks on the 4th and 5th Dynasty Chronology. In: Archiv Orientálni [Journal des Tschechoslowakischen Orientinstituts]. (ArOr) Band 69, Prag 2001, S. 363–418 (Volltext als PDF; 31 MB). Miroslav Verner: Abusir I. 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Cleveland
Cleveland [] (bis 1831 Cleaveland) ist eine Stadt im Nordosten des US-Bundesstaates Ohio. Sie liegt an der Mündung des Cuyahoga River in den Eriesee und ist 213,47 km² groß. Bei der Volkszählung 2020 hatte sie 372.624 Einwohner und war damit nach der Hauptstadt Columbus die zweitgrößte Stadt in Ohio. Cleveland ist County Seat des Cuyahoga County und geographischer, wirtschaftlicher und kultureller Mittelpunkt des Cleveland-Elyria-Mentor Metropolitan Statistical Area, des größten Ballungsraums in diesem Bundesstaat mit rund zwei Millionen Einwohnern. Durch ihre verkehrsgünstige Lage wuchs die Stadt im 19. Jahrhundert rasch zu einem wichtigen Verkehrsknoten und Industriestandort. 1930 war sie mit 900.000 Einwohnern die fünftgrößte Stadt der USA. Infolge des wirtschaftlichen Strukturwandels setzte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein fortwährender Niedergang und Bedeutungsverlust ein, verstärkt durch ethnische Konflikte und ein schlechtes Bildungssystem. Dem stehen Bemühungen gegenüber, Dienstleistungsunternehmen anzusiedeln, die Schulbildung zu verbessern und kulturelle Akzente zu setzen. Cleveland ist Sitz zahlreicher nationaler Großunternehmen, eines der Großen Fünf Symphonieorchester, der United Church of Christ (UCC), eines katholischen Bischofs, mehrerer Profiliga-Sportmannschaften und der Rock and Roll Hall of Fame. Es gibt drei Universitäten, unter ihnen die private Forschungsuniversität Case Western Reserve University mit ihren Universitätskliniken. Der Hafen ist der drittgrößte im Bereich der Großen Seen und über den Sankt-Lorenz-Strom mit dem Atlantik verbunden. Politisch gilt Cleveland als Hochburg der Demokraten. In der Vergangenheit hatten zudem progressivistische Strömungen und die Gewerkschaften großen Einfluss. Geographie Lage und Ausdehnung Cleveland liegt im Nordosten von Ohio am Südufer des Eriesees, 150 km Luftlinie von Toledo am westlichen und 280 km von Buffalo am östlichen Ende des Sees entfernt sowie rund 145 km südöstlich von Detroit und knapp 100 km westlich der Grenze von Ohio zu Pennsylvania. Das Stadtgebiet ist 213,47 km² groß (davon sind 200,93 km² Landfläche) und erstreckt sich mit einer Unterbrechung durch die Gemeinde Bratenahl über 22,5 Kilometer entlang des Seeufers sowie unregelmäßig bis zu 14,5 Kilometer tief ins Landesinnere. Die Stadt liegt zu beiden Seiten der Mündung des Cuyahoga in den See, wobei sich etwa zwei Drittel des Stadtgebietes und der Stadtkern östlich davon befinden. Der zugehörige Bezirk, das Cuyahoga County, umgibt die Stadt gleichmäßig von allen drei Seiten und bildet zusammen mit vier der fünf angrenzenden Countys das Cleveland-Elyria-Mentor Metropolitan Statistical Area, umgangssprachlich Greater Cleveland (deutsch Groß-Cleveland) genannt. Wirtschaftsgeographisch gesehen liegt Cleveland inmitten des Rust Belt und früheren Manufacturing Belt, des dicht besiedelten, ersten Industriegebiets der USA, dessen einstige Zentren heute vielfach vom Niedergang der Schwerindustrie gekennzeichnet sind. Topographie Die Gegend um Cleveland bildet den Schnittpunkt dreier Großlandschaften. Die Stadt selbst liegt am südlichen Rand der Ebene der Großen Seen. Richtung Südwesten öffnet sich das Zentrale Tiefland, die fruchtbare Prärielandschaft des Mittelwestens. Im Südosten schließt mit dem Allegheny-Plateau eine von eiszeitlichen Gletschern geformte Moränenhügellandschaft an, die bis zum Gebirgszug der Appalachen reicht. Die Uferlinie des Eriesee beschreibt im Bereich der Flussmündung einen scharfen Knick von West-Ost-Richtung in nordöstliche Richtung. Die Böschung steigt in südöstlicher Richtung terrassenförmig an und fällt zum See hin steil ab. Das Stadtzentrum 750 Meter landeinwärts liegt bereits 25 Meter über dem Seespiegel. Die Böschung ist von einigen Fließgewässern durchzogen, die tiefe Schluchten geschaffen haben. Die mit Abstand größte bildet das Tal des Cuyahoga, die sogenannten Flats, mit einer Breite von rund 800 Metern. Dieses Tal hat die Stadtentwicklung in Richtung Südwesten lange Zeit behindert und wird heute von einigen hohen Brücken überspannt. Stadtgliederung Die Stadt gliedert sich in 36 Stadtbezirke, die sogenannten Neighborhoods, verwaltungstechnisch Statistical Planning Areas (SPAs). Diese fassen jeweils mehrere Census Tracts der US-Volkszählung zusammen und haben zwischen 1.200 und 35.000 Einwohnern. Ihre Namen und Grenzen sind vielfach deckungsgleich mit ehemals selbständigen Verwaltungseinheiten, die in etwa zwischen 1850 und 1925 eingemeindet wurden. Verwaltungstechnisch haben die Neighborhoods heute bis auf den Streifendienst der Polizei keinerlei Bedeutung mehr. Auch ihre einstige kulturelle Eigenständigkeit ist infolge jahrzehntelanger Wanderungsbewegungen weitgehend verloren gegangen. Immer noch vorhanden ist dagegen eine gewisse soziale Identität. Unter anderem dienen sie als Bezeichnung für die einzelnen Wohnviertel, und auch verschiedene Programme zur Stadterneuerung orientieren sich an diesen Grenzen und Namen. Darüber hinaus teilt der Cuyahoga die Stadt großräumig in eine östliche und eine westliche Hälfte, die als East Side und West Side (deutsch Ostseite und Westseite) bezeichnet werden. Der südwestliche Teil der East Side, der zwischen der Broadway Avenue und dem Cuyahoga liegt, wird auch als South Side (deutsch Südseite) bezeichnet. Bebauung Die geschlossene Bebauung hat sich im Laufe zweier Jahrhunderte immer weiter nach außen ausgedehnt und erstreckt sich mittlerweile über einen Radius von etwa 25 km um das Stadtzentrum. Mit der Bebauung wuchs zu Beginn auch das Stadtgebiet durch entsprechende Eingemeindungen. Weil diese im Gegensatz zur Siedlungstätigkeit bereits um 1925 zu Ende gingen, erstreckt sich die zusammenhängende Bebauung heute bis weit über die Stadtgrenzen hinaus, nahezu auf den gesamten Cuyahoga County. Die einst bedeutenden Industrieanlagen erstrecken sich hauptsächlich entlang des Seeufers im Bereich des Stadtkerns sowie entlang des Cuyahoga rund 15 Kilometer weit ins Landesinnere. Weitere Standorte befinden sich in der östlichen Vorstadt sowie entlang der sternförmig ausgehenden Bahnlinien. Infolge des Niedergangs der Schwerindustrie liegen diese Flächen zu erheblichen Teilen brach. Die Stadt bemüht sich, diese im Bereich der Innenstadt für kulturelle Zwecke nutzbar zu machen. Die Bebauung ist im Bereich des Stadtzentrums sowie in den Flats am dichtesten, wobei das östliche Hochufer ein deutliches Übergewicht besitzt. An der East 55th Street bricht die geschlossene Bebauung nach Osten hin schlagartig ab und geht in einen rund 50 Häuserblocks breiten Streifen mit auffallend ausgedünnter Bebauung über. Den ideellen Mittelpunkt der Stadt bildet der quadratische Hauptplatz namens Public Square am östlichen Hochufer. Vororte im Umland Die Vororte im Umland sind vorwiegend Wohngemeinden. Sie sind zwischen 0,2 und 64 km2 groß und haben zwischen hundert und mehreren zehntausend Einwohnern. Die größten davon sind Parma im Südwesten mit rund 85.700 Einwohnern (Stand Census 2000), gefolgt von Lakewood im Westen (56.700 Einwohner), Euclid im Nordosten (52.700 Einwohner) sowie Cleveland Heights im Osten (50.000 Einwohner). Nennenswerte Industriegebiete befinden sich außer im Tal des Cuyahoga auch in Euclid im Nordosten, in Brook Park und in Parma im Südwesten sowie in Solon im äußeren Südosten. In einigen weiter außen liegenden Vororten sind zudem Einkaufszentren und Gewerbegebiete entstanden. Die Bebauung geht an der Stadtgrenze fließend in die Vororte über. Mit zunehmender Entfernung zum Stadtzentrum werden dabei sowohl die Bevölkerung als auch die Bausubstanz tendenziell jünger. Auch die Bevölkerungsdichte nimmt nach außen hin spürbar ab, wohingegen der sichtbare materielle Wohlstand und der Anteil an selbstgenutztem Wohneigentum ansteigt. Clevelands Vororte sind in insgesamt fünf Etappen entstanden. Ihre Lage zu den Hauptverkehrswegen und die Entfernung von Clevelands Stadtkern sind Ausdruck der in der jeweiligen Epoche vorherrschenden Verkehrsmittelwahl und der zugehörigen Reisegeschwindigkeit. Klima Durch seine Lage, unweit der große Teile Südostkanadas umspannenden borealen Klimazone, herrscht in Cleveland ein kaltgemäßigtes Klima (effektive Klimaklassifikation Dfa). Die Jahreszeiten sind kontinentaltypisch stark ausgeprägt mit warmen, feuchten Sommern und kalten, schneereichen Wintern. In den ersten Wintermonaten tritt vor allem bei westlicher Windrichtung mit dem Lake Effect Snow ein regionales Klima auf, das durch heftige Schneefälle gekennzeichnet ist. Die Jahresdurchschnittstemperatur beträgt 10,5 Grad Celsius. Cleveland hat den Ruf, ein sehr kalter Ort zu sein. Die Monatsmitteltemperaturen der Wintermonate Dezember, Januar und Februar liegen zwischen −0,5 und −3,5 °C; strenge Fröste bis unter −15 °C sind in dieser Jahreszeit keine Seltenheit. Häufig fühlen sich die Temperaturen durch den Windchill-Effekt noch kälter an. Jedoch können Wärmeeinbrüche die Temperaturen in den Wintermonaten vorübergehend bis jenseits der 15 °C ansteigen lassen. Die bisher niedrigste Temperatur wurde am 19. Januar 1994 mit −28,8 °C gemessen. Die Sommermonate Juni, Juli und August sind am wärmsten mit Durchschnittshöchstwerten von 26,9 bis 29,3 °C. In dieser Zeit kann die Temperatur zeitweilig auf über 30 °C ansteigen. Die höchste Temperatur wurde am 25. Juni 1988 mit 40 °C gemessen. Außerdem wirkt das Wasser des Eriesee als Temperaturspeicher und zögert die Erwärmung der Luft im Frühjahr hinaus, während es im Herbst länger warm bleibt. Die Niederschläge verteilen sich über das ganze Jahr, im Sommer als Regen und in den Wintermonaten als Schnee. Die geringsten Niederschläge sind im Oktober zu verzeichnen, sowie im Spätwinter, wenn der Eriesee zugefroren ist und der Lake Effect Snow nicht mehr auftritt. Die Jahresniederschlagsmenge liegt im Mittel bei moderaten 932 mm. Cleveland liegt am westlichen Ende des sogenannten Snow Belt und ist damit vom Lake Effect Snow auf besondere Art betroffen. Die Ursachen sind der Knick in der Uferlinie Richtung Nordosten, die Lage auf der Leeseite des Sees und der starke Anstieg des Geländes nach Südosten hin. Somit treffen die feuchten Luftmassen bei westnordwestlicher Windrichtung des Seewindes nur auf den Bereich östlich und nordöstlich der Innenstadt. Dadurch können diese Stadtteile im Winter innerhalb weniger Stunden unter dezimeterhohen Schneemassen versinken, während südlich und westlich davon gleichzeitig nur geringer Niederschlag zu verzeichnen ist. Diese Verteilung der Niederschläge ist in abgeschwächter Form auch in den Sommermonaten zu beobachten. Geschichte Voreuropäische Besiedelung Die ältesten Spuren menschlicher Besiedelung gehen auf die Paläoindianer zurück und datieren aus der Zeit zwischen 10500 und 7500 v. Chr., etwa 2500 Jahre nach Ende der letzten Eiszeit. Die Gruppen, wohl Großfamilien, lebten zunächst nomadisch, ab der mittleren Archaischen Periode nach 4500 v. Chr. wurden sie zunehmend sesshaft. Eine größere Siedlung bestand im äußersten Westen Clevelands, dort wo der Hilliard Boulevard den Rocky River überquert. Erstmals sind abgrenzbare Territorien nachweisbar, innerhalb derer saisonale Wanderungen inzwischen angewachsener und sozial stärker differenzierter Gruppen stattfanden. Sie betrieben einfachen Gartenbau, vor allem mit Kürbissen, Nüsse spielten ebenfalls eine wichtige Rolle. Aus der Woodland-Periode (500 v. Chr.–1200 n. Chr.), die etwa durch die aufkommende Fertigung von Keramik gekennzeichnet ist, sind Begräbnishügel (Mounds) sowie Überreste befestigter Kleinsiedlungen zu verzeichnen, die der Adena- und vor allem der nachfolgenden, hochentwickelten Hopewell-Kultur zuzuordnen sind und mehrheitlich auf den Hochufern des Cuyahoga liegen. Großdörfer dominierten und ab etwa 400 der Anbau von Mais, der schon sehr früh vorhandene Fernhandel weitete sich aus. Der Hopewell- folgte um 1200 die sogenannte Whittlesey-Kultur, die sich durch fortgeschrittene Landwirtschaft und Siedlungsbau auszeichnet. Sie war Teil der weiter südlich noch stärker vorherrschenden Mississippi-Kultur. Die Bevölkerung stieg bis etwa 1500 weiter an, zudem nahm die Sesshaftigkeit ab etwa 1350 deutlich zu und feste Gebiete bestimmter Familien werden fassbar. Im Laufe der Kleinen Eiszeit (1500–1640) ging die Bevölkerung offenbar stark zurück, möglicherweise infolge der klimatischen Veränderungen oder im Zuge der Biberkriege der Irokesen. So ist zwischen 1640 und 1740 gar keine Siedlungstätigkeit zu verzeichnen. Auch bei der Ankunft der Europäer Ende des 18. Jahrhunderts war die Gegend immer noch nahezu unbewohnt. Gründung und Anfangsjahre Ende des 18. Jahrhunderts beanspruchte der US-Bundesstaat Connecticut einen Landstrich im Nordosten des heutigen Ohio, die Connecticut Western Reserve. Dieses Land wurde ab 1796 an Siedler vergeben. Im Zuge der Landvermessungen durch General Moses Cleaveland gründete dieser am 22. Juli 1796 an der Mündung des Cuyahoga in den Eriesee einen Hafen, der nach ihm zunächst „Cleaveland“ genannt wurde. 1818 wurden die ersten zwei Zeitungen gegründet; in den nächsten Jahren kamen neben weiteren englischsprachigen Zeitungen auch Blätter auf Deutsch, Hebräisch, Italienisch und Ungarisch hinzu. Einer dieser Zeitungen, dem Cleveland Advertiser, verdankt die Stadt ihre Umbenennung: da die ursprüngliche Schreibweise des Namens einen Buchstaben zu lang für die Titelzeile war, entfernte die Zeitung das erste ‚a‘ aus „Cleaveland“, behauptete, das sei amtlich – und kam damit durch. Am 6. Januar 1831 wurde die Stadt offiziell in „Cleveland“ umbenannt. Cleveland war von Beginn an der geographische, wirtschaftliche und kulturelle Mittelpunkt der Western Reserve. So wurde etwa bei der Gründung des Cuyahoga County im Jahr 1810 Cleveland als Kreissitz gewählt, vier Jahre vor der Ausgründung als eigenständige Gemeinde. 1836 wurde Cleveland mit als erster Ort der Western Reserve zur Stadt erhoben, 1847 das katholische Bistum gegründet. Auch andere wichtige Einrichtungen wie Ärzte, Schulen oder Banken saßen bis auf wenige Ausnahmen von Beginn an in Cleveland. Einzig wirtschaftliche Rivalitäten mit der Stadt Ohio City am anderen Ufer des Cuyahoga sorgten in den ersten Jahrzehnten für teils gewalttätige politische Auseinandersetzungen. Diese entschied Cleveland letztlich für sich. Bürgerkrieg und Industrialisierung Zunächst entwickelte sich Cleveland nur schleppend. Doch mit Eröffnung des Eriekanals 1825 und des Ohio-Erie-Kanals 1832 war die Stadt mit dem Atlantik und dem Mississippi verbunden und damit an internationale Seeschifffahrtswege angeschlossen. Das und der Bau der Eisenbahnverbindungen in die rohstoffreichen Appalachen ab 1849 führten zu einem raschen wirtschaftlichen Aufstieg der Stadt. Cleveland wurde ein wichtiges Zentrum der Rohstoff verarbeitenden Industrie. 1868 wurde das erste Stahlwerk eingeweiht, 1870 gründete die Standard Oil Company von John D. Rockefeller (1839–1937) hier ihre erste Erdölraffinerie. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich Cleveland zu einem bedeutenden Standort der Stahl erzeugenden und der petrochemischen Industrie. Wesentlichen Anteil an der Industrialisierung der Stadt hatte dabei der Sezessionskrieg (1861–1865). Ansässige Firmen produzierten Uniformen, Tabakwaren, Stahl, Dampfschiffe, Lafetten und Eisenbahnschienen. 1864 wurde mehr als die Hälfte der gesamten Eisenerzproduktion vom Oberen See in Cleveland verarbeitet. Ferner waren Reedereien und zahlreiche Handelsunternehmen ansässig, acht Bahngesellschaften unterhielten Niederlassungen. Nach der Jahrhundertwende wuchs Cleveland zum – nach Detroit – zweitgrößten Standort der US-Automobilindustrie heran. Die ansässigen Betriebe konzentrierten sich dabei vor allem auf die Entwicklung und Produktion von Baugruppen, Autozubehör und Ersatzteilen. Bedeutende Fabriken unterhielten White Motor (Dampfwagen und später schwere Lkw), Eaton (Getriebe), Willard/EnerSys (Batterien), Fisher Body (Karosserien), Baker/Otis (Elektrofahrzeuge), Ford (Motoren), General Motors (Automatikgetriebe, Dieselmotoren) und Thompson/TRW. Ab 1910 kam als vierter wichtiger Wirtschaftszweig die elektrotechnische Industrie hinzu. Während des Zweiten Weltkriegs wurden zudem Boeing-B-29-Bomber und Jagdflugzeuge vom Typ Fisher P-75 in Cleveland montiert. Große Depression und wirtschaftliche Erholung Erste Rückschläge ereilten Cleveland während der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er-Jahre. 1933 war fast ein Drittel aller Einwohner arbeitslos. Dazu hatte die Stadt mit wachsender Kriminalität zu kämpfen. Cleveland hatte sich in der Zeit der Prohibition (1919–1933) zu einem Zentrum der Organisierten Kriminalität und des illegalen Glücksspiels entwickelt. Dazu kam ein über Jahrzehnte hinweg korrupter und ineffizienter Polizeiapparat. In den Jahren 1936/37 fand am Seeufer vor der Innenstadt die Great Lakes Exposition statt. Die Veranstaltung ähnlich einer Weltausstellung entstand auf Initiative der örtlichen Politik und Wirtschaft und zog innerhalb dieser zwei Jahre insgesamt 7 Millionen Besucher an. Zur gleichen Zeit wurde als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme im Zuge des rooseveltschen New Deal am Seeufer vor der Innenstadt der Memorial Shoreway gebaut, Clevelands erste Schnellstraße. Auf der Baustelle waren zeitweise 10.000 Arbeitskräfte eingesetzt. Ende der 1930er Jahre erholte sich die Wirtschaft der Stadt nochmals. Die Einwohnerzahl wuchs weiter und erreichte 1950 mit rund 915.000 Personen ihren Höchststand. Cleveland war damit die fünftgrößte Stadt der USA. Die ansässigen American-Football- und Baseballmannschaften, die Browns und die Indians, gewannen die Finalrunden ihrer Ligen teils mehrmals hintereinander. 1949 gehörte Cleveland zu den ersten Preisträgern der All-American City, und in den Nachkriegsjahrzehnten wurde die Stadt als best location in the nation (deutsch: „die beste Lage der Nation“) vermarktet. Wirtschaftskrise und Strukturwandel Nach Ende des Booms in den Nachkriegsjahren geriet Clevelands Industrie jedoch infolge der zunehmenden Öffnung der Weltmärkte ins Hintertreffen. Viele der ansässigen Firmen waren im Vergleich zu internationalen Wettbewerbern nicht konkurrenzfähig. Die Stahlindustrie hatte im Zuge der Stahlkrise zu Beginn der 1970er Jahre mit hohen Lohnkosten und der zunehmenden Konkurrenz durch billigen Importstahl aus Übersee zu kämpfen. Die Autohersteller hatten im Laufe der Zeit hohe Überkapazitäten aufgebaut, litten unter Missmanagement und gerieten durch die Ölkrise und neue Konkurrenten aus Europa und Japan unter Druck. Dazu kamen vielfach veraltete Produktionsanlagen und verschärfte Umweltauflagen. Der Cuyahoga war inzwischen so verschmutzt, dass seine brennbare Oberfläche 1952 und 1969 Feuer fing. Der brennende Fluss erregte im ganzen Land Aufsehen, was die Politik zum Handeln zwang. Die Industrie hatte jahrzehntelang insbesondere den Fluss bedenkenlos mit ungeklärten Abwässern belastet, nun standen kostspielige Umbauten an, die sich die Eigentümer vielfach nicht leisten konnten oder wollten. Viele Betriebe mussten schließen. Die Arbeitslosigkeit stieg und sehr viele Menschen wanderten ab. Cleveland verarmte. Aus dieser Zeit stammt auch ein zynischer Ausdruck, der bis heute oft als Synonym für die Stadt verwendet wird: The mistake on the lake (deutsch: „Der Irrtum am See“). Einige Jahre später widmete der Songwriter Randy Newman der Stadt den Song Burn On, in dem er den Ort 1972 sarkastisch als „City of Light, City of Magic“ verspottete und auf den Brand des Cuyahoga anspielte: „The Cuyahoga River runs smoking through my dreams“. Zusätzlich zur schlechten Wirtschaftslage begannen Rassenunruhen die Bürger zu verunsichern. Ein einwöchiger Aufstand vom 18. bis zum 24. Juli 1966 führte zu Neuwahlen des Bürgermeisters, die 1967 mit Carl B. Stokes den ersten schwarzen Bürgermeister einer amerikanischen Großstadt hervorbrachten. Doch den wirtschaftlichen Niedergang der Stadt konnten auch er und seine Nachfolger nicht beenden: Am 15. Dezember 1978 musste sich Cleveland als erste Stadt nach der Großen Depression der 1930er-Jahre für zahlungsunfähig erklären. Erst 1987 konnte dieser Schritt zurückgenommen werden. Mit dem Niedergang der Schwerindustrie verlagerte sich der ökonomische Schwerpunkt der Stadt im Laufe der Jahrzehnte zunehmend auf die Dienstleistungsbranche. Mittlerweile sind die größten Arbeitgeber in diesem Sektor zu finden, vornehmlich bei Banken, Versicherungen, im Öffentlichen Dienst und im Gesundheitswesen, dort vor allem bei den Universitätskliniken und der renommierten Cleveland Clinic. Auch der Fremdenverkehr hat an Bedeutung gewonnen. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung war die Gründung des Museums Rock and Roll Hall of Fame im Jahr 1995, das sich wichtigen und einflussreichen Persönlichkeiten im Umfeld des Rock ’n’ Roll widmet. Weitere touristische Bauten und Veranstaltungen sollen helfen, den Verfall der Stadt aufzuhalten. Doch die Stadt steht immer noch vor großen Problemen. Pro Jahr wandern mehrere Tausend Bewohner ab; die noch verbliebene Bevölkerung leidet vielfach unter Armut, schlechter Schulbildung und hoher, vor allem strukturell bedingter Arbeitslosigkeit. Dazu stehen Tausende Wohngebäude leer. Der Niedergang Clevelands war mehrfach Gegenstand der Forschung. Die Ursachen werden dabei nicht nur in der verschärften Wettbewerbssituation gesehen, sondern auch in einer nachlassenden Innovationskraft der etablierten Industrien, einem sich verschlechterten sozialen und unternehmerischen Klima sowie in dem im Vergleich zu den südlichen Küstenregionen wie etwa dem Silicon Valley recht rauen meteorologischen Klima vor Ort. So wuchs etwa nach der Automobil- und Elektroindustrie kein neuer Industriezweig mehr nach. Bereits bei der nach dem Zweiten Weltkrieg wichtigen Luft- und Raumfahrttechnik konnte Cleveland nicht mehr mithalten. Abgesehen davon waren die negativen Langzeitwirkungen der Großen Depression auf die örtliche Wirtschaft offenbar weit größer als anfänglich gedacht und wurden lediglich vom Boom der Nachkriegsjahre überdeckt. Für eine mögliche Trendumkehr müsse Kritikern zufolge vor allem die örtliche Bürokratie verringert und die Schulbildung verbessert werden. Darüber hinaus solle sich die Stadt gezielt um die Anwerbung qualifizierter Zuwanderer und ein besseres Investitionsklima bemühen. Potenzial habe Cleveland jedenfalls genug. Auch die Lebensqualität habe sich in den letzten Jahren stark verbessert. Bevölkerung Ethnische Struktur Bei der letzten Volkszählung im Jahr 2010 kam Cleveland auf 396.815 Einwohner. Die Stadt ist mit einem Anteil von 51 % Afroamerikanern die einzige Großstadt in Ohio mit mehrheitlich schwarzer Wohnbevölkerung. Der Anteil liegt damit weit höher als etwa in Ohio (11,5 %) oder im US-Durchschnitt (12,3 %), wie es für industriell geprägte Großstädte im Norden der Vereinigten Staaten typisch ist. Zudem bilden die rund 244.000 Afroamerikaner die größte schwarze Gemeinde in Ohio überhaupt. Zweitgrößte Bevölkerungsgruppe sind die Weißen mit einem Anteil von 41,5 %. Dazu kommen rund 1.500 Indianer und 6.500 Asiaten sowie 17.200 Angehörige anderer Ethnien und 10.700 Personen mit gemischtem ethnischen Hintergrund. Als Hispanics betrachten sich 7,3 % der Gesamtbevölkerung; knapp drei Viertel von ihnen stammen aus Puerto Rico. Unter der weißen Bevölkerung haben Familien mit deutschen Vorfahren mit 22,25 % den größten Anteil, gefolgt von Iren (19,65 %), Polen (11,58 %) und Italienern (11,1 %). Englische Wurzeln gaben dagegen nur 6,63 % an. Der hohe Anteil deutschstämmiger Bevölkerung ist dabei typisch für Ohio (21,42 %), der vergleichsweise geringe Anteil an Engländern ist kennzeichnend für den Nordosten des Bundesstaates. Das Stadtgebiet ist zwischen den verschiedenen Ethnien stark segregiert. Während die weißen Bevölkerungsgruppen im westlichen und südlichen Teil der West Side, an der South Side sowie am Ufer des Eriesee wohnen, leben die Schwarzen fast ausschließlich auf der East Side, vornehmlich östlich der East 55th Street. Die Hispanics wohnen an der inneren West Side, und die asiatischstämmigen Bevölkerungsgruppen konzentrieren sich auf der inneren East Side, unmittelbar hinter der Innenstadt. Situation der Indianer Da Cleveland in einem Gebiet entstand, das auch für die dortigen Bewohner noch recht junges Siedlungsland war, blieb die Zahl der Indianer in der Stadt lange Zeit gering. Die Volkszählung von 1900 weist für Cleveland nur zwei Indianer auf, 1910 waren es 48 und 1920 nur 34. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die Zahl auf 109 im Jahr 1950, dazu kamen 57 Indianer im Cuyahoga County. Bis in die 1970er Jahre stieg, entsprechend dem Bedarf an Arbeitskräften, auch die Zahl der Indianer. 1960 wohnten bereits 391 in der Stadt, im County 464. In dieser Zeit setzten verstärkt Assimilationsversuche ein, eingeleitet durch die Auflösung der Reservate im Zuge des Urban Indian Relocation Program. 1952 war Cleveland eine der ersten acht Städte in den USA, die an diesem Programm teilnahmen. Zahlreiche Indianer siedelten sich daraufhin in und um Cleveland an, ihre Zahl stieg bald auf über 5.000. Die meisten von ihnen kamen aus dem Westen. Um 1980 zogen jedoch viele Indianer, ihrer kulturellen Wurzeln bewusster geworden, wieder zu ihren Familien in die Reservate. Russell Means, ein Dakota-Sioux, wurde im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung der wichtigste Indianerführer in Cleveland. Er gründete 1969 das Kultur- und Sozialzentrum Cleveland American Indian Center, zu dem 1.200 Indianer gehörten. Zunächst standen soziale Aufgaben zugunsten der meist armen Mitglieder im Vordergrund, doch im Laufe der 70er Jahre kamen kulturelle Aufgaben hinzu. 1990 entstand zudem die Indianervereinigung Lake Erie Native American Council (LENAC), dazu kam 1992 anlässlich der 500-Jahr-Feier der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus das 500-Year Committee. Im Greater Cleveland wurden 1980 genau 1.603 Indianer gezählt, 1990 waren es bereits wieder 2.706. 2000 lebten 2.529 Indianer im County, davon 1.458 in Cleveland selbst. Bevölkerungsentwicklung In den ersten Jahrzehnten nach seiner Gründung war Cleveland ein wirtschaftlich unbedeutender und für Zuwanderer wenig attraktiver Ort. Im Jahr 1800, vier Jahre nach der Gründung, wurden sieben Einwohner (und eine Schnapsbrennerei) verzeichnet, 1830 waren es gut 1000 Einwohner. Erst nach Eröffnung der Kanäle und dem Bau der Eisenbahnen stieg die Bevölkerungszahl rasch an. Schon 1850 fand sich Cleveland unter den 50 größten Städten der USA; um 1900 war Cleveland mit über 380.000 Einwohnern bereits die siebtgrößte Stadt des Landes. Das Jahr 1950 markierte mit 914.808 Einwohnern den Höhepunkt der Population – wie auch in vielen anderen Industriestädten im Nordosten der USA. Seit diesem Höchststand ist die Einwohnerzahl um mehr als die Hälfte gesunken. ¹ 1980–2020: Volkszählungsergebnisse des US Census Bureau Wanderungsbewegungen und soziale Probleme Die Einwanderer der ersten Jahrzehnte stammten vornehmlich von den Britischen Inseln und Mitteleuropa. Ab 1870 wanderten verstärkt Osteuropäer und Deutsche ein. Die Deutschamerikaner bildeten um 1900 mit 40.000 Personen die größte Bevölkerungsgruppe in der Stadt. Um 1930 war Cleveland zudem mit 43.000 Personen die größte ungarische Siedlung außerhalb Europas. Mit dem Ersten Weltkrieg endete die Zuwanderung aus den meisten europäischen Staaten allerdings aufgrund der veränderten Gesetzeslage schlagartig. Nachdem aber auch weiterhin Arbeitskräfte für die Industrie gebraucht wurden, wurden vermehrt Schwarze aus dem armen Südosten der USA angeworben, die im Rahmen der Great Migration in die Industriestädte des Nordens zogen. Diese wanderten bis etwa 1970 und in großer Zahl ein, blieben aber im Gegensatz zu den Europäern meistens sozial schlecht integriert, arm und schlecht ausgebildet. Als die industrielle Basis nach und nach wegbrach, blieben zehntausende Schwarze ohne Ausbildung in der Arbeitslosigkeit zurück. Gleichzeitig setzte aufgrund sozialer und ethnischer Spannungen eine massive Abwanderung weißer Bevölkerungsgruppen in die Vororte (White Flight) ein. Da die Schwarzen mehrheitlich in Cleveland blieben, stieg ihr Anteil bei rapide sinkender Gesamtbevölkerung von 28,5 % (1960) auf 51 % (2000) an. In den letzten Jahren wanderte jedoch auch die wachsende schwarze Mittelschicht in die östlichen Vororte ab, so dass die Stadt insgesamt immer weiter verarmt und sich entvölkert. Einige Stadtteile an der East Side haben dadurch seit 1950 über drei Viertel ihrer Einwohner verloren. Der Niedergang der Industrie und die über Jahrzehnte andauernde Segregation und Abwanderung haben erhebliche Probleme mit sich gebracht. Cleveland hat für den anhaltenden Strukturwandel zu wenig qualifizierte Zuwanderer und zu wenig Hochqualifizierte. Stattdessen herrschen in weiten Bereichen soziale Randgruppen vor. Rund ein Drittel der Bevölkerung besitzt keinen Schulabschluss, viele Bewohner sind alleinerziehend oder stammen aus problematischen Familienverhältnissen und können somit auf dem Arbeitsmarkt nur sehr schwer vermittelt werden. Gleichzeitig mangelt es an billigem Wohnraum, was sich in einer hohen Zahl von Wohnungslosen bemerkbar macht. 2007 gab es im County schätzungsweise rund 20.000 Personen ohne gesicherten Wohnsitz, das entspricht etwa 1,5 % der Gesamtbevölkerung. Etwa ein Fünftel davon, 4.300 Personen, waren gänzlich obdachlos, lebten also dauerhaft auf der Straße. Rund 40 % der männlichen Wohnungslosen haben zwar eine Arbeitsstelle, können sich aber trotzdem keine Mietwohnung leisten. Kriminalität Die Kriminalität ist in Cleveland im Laufe der letzten Jahre beinahe stetig zurückgegangen. 2009 wurden rund 20 % weniger Delikte verzeichnet als noch rund zehn Jahre zuvor. Dennoch gehört Cleveland immer noch zu den vergleichsweise gefährlichen Großstädten der USA. 2008 kamen statistisch gesehen 23,5 Morde auf 100.000 Einwohner, das waren mehr als etwa in Chicago (18,0), aber immer noch deutlich weniger als beispielsweise in den Problemstädten St. Louis (46,9) und Detroit (33,8) oder auch in Washington, D.C. (31,4). Bei Vergewaltigungen und Raubdelikten weist Cleveland allerdings mit 98 und 878 Delikten pro 100.000 Einwohner den jeweils höchsten Wert aus. Im Bereich Eigentumsdelikte gehört die Stadt mit 5.784 Fällen je 100.000 Einwohner zum oberen Mittelfeld. Schwerpunkte und vorherrschende Delikte haben sich zusammen mit der Stadt im Laufe der Zeit deutlich verändert. Bevor Cleveland in der Zeit der Prohibition zu einem Zentrum der Organisierten Kriminalität und des illegalen Glücksspiels wurde, bereiteten im späten 19. Jahrhundert vor allem Trunkenheit, Schlägereien und illegale Prostitution Probleme. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die Mafia zwar weiterhin aktiv, doch erwies sich nun vor allem die mangelnde Vertrauensbasis zwischen den zugewanderten Schwarzen und den weißen Polizeikräften in den Vorstädten als problematisch. Dazu ließen zerrüttete Familienverhältnisse die Jugendkriminalität ansteigen. Die Polizei begegnete diesen Problemen mit mehr schwarzem Personal und mittels Gewalt- und Drogenprävention. Religion Genaue Angaben zur Religionszugehörigkeit der Bewohner Clevelands selbst gibt es nicht. Bezogen auf den gesamten County bildet die römisch-katholische Kirche mit 35 % Anteil die größte religiöse Gruppierung. Damit erreicht sie verglichen mit Ohio (19,7 %) einen erheblich höheren Anteil an der Gesamtbevölkerung. Weitere 14,4 % bezeichnen sich als protestantisch, wobei durch den hohen Anteil an Baptisten unter den afroamerikanischen Bevölkerungsgruppen der Anteil der Protestanten in Cleveland selbst erheblich höher liegen dürfte. Gut 1 % der Bevölkerung bekennt sich zum orthodoxen Glauben. Zudem gibt es im County rund 79.000 Juden sowie etwa 20.000 Muslime, darunter 35 % Konvertiten. Fernöstliche Religionen wie die Buddhisten bilden kleine Randgruppen mit wenigen hundert Mitgliedern. In seinen Anfangsjahren war Cleveland dagegen fast ausschließlich protestantisch geprägt. Die Bevölkerung gehörte beinahe geschlossen der kongregationalistischen und der presbyterianischen Kirche an. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stießen vor allem aus Deutschland und Irland vermehrt Katholiken hinzu und lösten um 1900 die New-England-Kirchen als vorherrschende Religionsgemeinschaft ab. Infolge des White Flight verlor die katholische Kirche jedoch wieder an Gewicht, vornehmlich zugunsten der protestantischen, schwarzen Kirchen. Gleichzeitig verbreiterte sich das religiöse Spektrum durch Zuwanderer aus Ländern außerhalb Europas erheblich. Die islamische Glaubensgemeinschaft wuchs vor allem zwischen 1960 und 1990 zu ihrer heutigen Größe heran. Besonders die christlichen Gruppierungen zeichnen sich durch ihre Zersplitterung aus; die Zugehörigkeit orientiert sich nicht nur an der Konfession, sondern auch an Herkunft, Ethnie, sozialem Status und dem Grad der Assimilation. So gibt es beispielsweise ähnlich viele orthodoxe Pfarreien nebeneinander wie Einwanderernationen mit entsprechendem Glaubenshintergrund. Der Grund liegt in der Autokephalie der orthodoxen Kirchen, wonach sich die meisten Pfarreien bis heute nicht als Mitglied der Orthodoxen Kirche in Amerika (OCA), sondern ihrer jeweiligen Heimatkirchen sehen. Auch waren die Schwarzen infolge der anfänglich praktizierten Rassentrennung trotz gleicher Konfession auf eigene Pfarreien angewiesen, wobei wiederum die Mittelschicht andere Kirchen besuchte als die Unterschicht. Und bei den Europäern verteilten sich die unterschiedlichen Einwanderergenerationen je nach Heimatbewusstsein auf verschiedene Kirchen gleicher Konfession. Lediglich die Puertoricaner integrierten sich mehrheitlich in etablierte Pfarreien. Die räumliche Verteilung der Anhänger der Glaubensgemeinschaften orientiert sich an der Bevölkerungsstruktur. An der West Side wohnen weiße Protestanten und Katholiken nebeneinander, an der South Side vorwiegend Katholiken, und in den schwarzen Wohnvierteln auf der East Side bilden die Protestanten die stärkste Gruppe. Die einst bedeutende jüdische Gemeinde ist bis auf einen kleinen Rest in die östlichen Vororte abgewandert. Politik Politische Strömungen Während große Teile Ohios vorwiegend die Republikaner unterstützen, gilt der Raum Cleveland seit dem New Deal als Hochburg der Demokraten. Die Demokraten haben im Stadtrat fast alle Sitze – ein Ratsherr trat 2010 zu den Grünen über – und stellten seit den 1930er Jahren fast alle Bürgermeister. Ebenso sind alle zuständigen Mitglieder des Senats und des Repräsentantenhauses von Ohio sowie beide Kongressabgeordneten Demokraten. Bei den Präsidentschaftswahlen 2008 gewann Barack Obama im Cuyahoga County 68,69 % der Stimmen, während es in ganz Ohio nur 51,5 % waren. Während der Industrialisierung entwickelten sich zudem die Gewerkschaften zu einer wichtigen gesellschaftlichen Größe. Zunächst nur in kleinen Gruppen organisiert verhalfen sie den Fabrikarbeitern ab Ende des 19. Jahrhunderts zu stetiger materieller Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. In den 1930er Jahren bildeten sich mit den United Auto Workers (UAW) und den United Steelworkers (USW) die beiden wichtigsten Gewerkschaften heraus. Nach 1980 schwand ihr Einfluss mit dem Niedergang der Industrie jedoch wieder. Radikale, sozialistische Bewegungen wie in Europa konnten sich in Cleveland aufgrund der sichtbaren materiellen Zugewinne bei den Arbeitern nicht durchsetzen. In der Spätphase der Industrialisierung war Cleveland zudem stark von linksliberalen, sogenannten progressivistischen Strömungen geprägt. Führende Kommunalpolitiker aus dieser Zeit setzten sich besonders für soziale Belange ein, was vornehmlich dem Justizapparat und dem Gesundheitswesen zugutekam. Ebenso führten sie einen langen Kampf für erweiterte Rechte der Stadt im Sinne einer kommunalen Selbstverwaltung. Das führte 1912 schließlich zu einer entsprechenden Änderung der Verfassung des Staates Ohio, dem Home Rule Amendment, die Cleveland 1914 mit als erste umsetzte. Seit den 1920er Jahren wuchs der politische Einfluss der zugewanderten afroamerikanischen Bevölkerungsgruppen. 1927 gab es bereits drei Schwarze im Stadtrat, seit Mitte der 1960er Jahre halten sie rund die Hälfte der Sitze. 1967 stellten sie mit Carl Stokes erstmals den Bürgermeister. Allerdings standen dem wachsenden politischen Einfluss noch lange Zeit Armut, Diskriminierung und eine schlechte Wohnsituation gegenüber. Das führte in den 1960er Jahren zu Rassenunruhen, die 1966 schließlich zum Aufstand führten. Stadtvertretung Clevelands Stadtvertretung ist nach dem Mayor-Council-System organisiert und regiert nach dem Strong-Mayor-Prinzip. Dabei wird neben dem Stadtrat (City Council) auch der Bürgermeister (Mayor) direkt gewählt. Der Stadtrat bildet nur die Legislative, während der Bürgermeister als alleiniger Chef der Exekutive über weitreichende Befugnisse verfügt (Strong Mayor). Beider Amtszeiten betragen vier Jahre. Diese Form der Stadtregierung ist für US-amerikanische Großstädte typisch. Der Stadtrat besteht aus 19 Mitgliedern und ist damit für US-amerikanische Verhältnisse sehr groß. Jedes Mitglied wird in einem der 19 Wahlbezirke Clevelands (Wards) durch Mehrheitswahl bestimmt. Die Anzahl der Wahlbezirke und der Wahlmodus der Ratsmitglieder wurde in den letzten 200 Jahren mehrfach und teils tiefgreifend verändert. Hintergrund waren die Bekämpfung der anfänglichen Korruption, die Bevölkerungsentwicklung sowie politische Auseinandersetzungen über die Systemfrage insgesamt. Die heutige Aufteilung in 19 Wahlbezirke wurde mit der Wahlperiode 2010–2013 eingeführt. Davor waren es noch 21 wards gewesen. Bürgermeister ist seit 2006 der Demokrat Frank G. Jackson (* 1946). Als langjähriges Mitglied und zuletzt Vorsitzender des Stadtrats setzte er sich mit annähernd 55 % gegen die damalige Amtsinhaberin Jane L. Campbell durch. Etliche seiner Amtsvorgänger machten später Karriere als Senatoren, Gouverneure oder Bundesrichter. Der Bürgermeister wird seit 1977 mit absoluter Mehrheit und nicht parteipolitisch (non-partisan) gewählt. Bei den Vorwahlen treten unterschiedlichste Kandidaten an, die derselben oder auch gar keiner Partei angehören. So können sich wie bei der letzten Stichwahl zwei Mitglieder ein und derselben Partei gegenüberstehen. Verwaltungsstruktur Eine zusammenhängende und geordnete Stadtverwaltung gibt es in Cleveland erst seit 1914. Das beruht auf der Verfassungsänderung von 1912, wodurch die heutige Rechtsgrundlage für die kommunale Selbstverwaltung geschaffen wurde. Davor bestand in der Stadt ein City-Commission Government, wonach die einzelnen Abteilungs- und Behördenleiter direkt gewählt wurden. Dieses Verfahren hatte sich wiederholt als chaotisch, ineffizient, korrupt und den komplexen Aufgaben einer Großstadt nicht gewachsen herausgestellt. Die Verwaltung gliedert sich in insgesamt acht Hauptabteilungen und rund zwei Dutzend Unterabteilungen. Neben den laut Verfassung von Ohio vorgeschriebenen Abteilungen für Recht, Finanzen, öffentliche Sicherheit, Bauhof, Versorgungsbetriebe und Soziales nimmt vor allem der Bereich Wirtschaft und Stadtplanung breiten Raum ein. Für einige Zuständigkeiten wurden gemeinsam mit den Umlandgemeinden Zweckverbände eingerichtet. Dazu gehören der Nahverkehr in Gestalt der Greater Cleveland Regional Transit Authority (RTA), die Abwasserbeseitigung, der Soziale Wohnungsbau und die Regionalplanung. Haushalt Der städtische Haushalt 2009 sah Einnahmen in Höhe von 512,1 Millionen und Ausgaben von in Höhe von 541,5 Millionen US-Dollar vor. Mit Abstand wichtigste Einnahmequelle war die Einkommensteuer (Income Tax) mit 290 Millionen; den größten Ausgabeposten bildete die öffentliche Sicherheit (Public Safety) aus Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst mit 317 Millionen. Dazu rechneten die kommunalen Versorgungsbetriebe mit 641,1 Millionen Dollar Umsatz. Ende 2007 betrugen die Schulden 3,32 Milliarden US-Dollar bei 2,36 Milliarden Dollar Eigenkapital. Städtepartnerschaften Städtepartnerschaften bestehen mit folgenden 20 Städten: Achill Island, Irland Alexandria, Ägypten Bahir Dar, Äthiopien Bangalore, Indien Brașov, Rumänien Bratislava, Slowakei Cleveland, Vereinigtes Königreich Conakry, Guinea Danzig, Polen Fier, Albanien Cholon, Israel Ibadan, Nigeria Klaipėda, Litauen Lima, Peru Ljubljana, Slowenien Miskolc, Ungarn Rouen, Frankreich Segundo Montes, El Salvador Taipeh, Republik China (Taiwan) Wolgograd, Russland Kultur und Sehenswürdigkeiten Kunst und Museen Cleveland beherbergt zahlreiche kulturelle Institutionen. Viele von ihnen gehen auf die Zeit zwischen 1910 und 1925 zurück, als sich Cleveland auf dem ersten Höhepunkt seiner Entwicklung befand. In den darauffolgenden Zeiten des Niedergangs hatte die klassische Kultur dagegen keinen leichten Stand. Erst als die Wirtschaft der Stadt umstrukturiert werden musste und touristische Maßnahmen in den Blick der Öffentlichkeit rückten, gab es wieder Neugründungen wie die Oper (1976), das Ballett (1976), das Kammerorchester (1980) und den Sängerchor (1982). In den 1990er Jahren kamen an der Lakefront, dem Seeufer vor der Innenstadt, neue Museen hinzu, darunter auch die 1995 eröffnete Rock and Roll Hall of Fame. Das ansässige Symphonieorchester Cleveland Orchestra unter Leitung von Chefdirigent Franz Welser-Möst zählt zu den Großen Fünf (Big Five) klassischen Symphonieorchestern der Vereinigten Staaten. Es wurde 1918 gegründet und ist seit 1931 in der Severance Hall beheimatet und gehört zu den weltweit meistbeachteten Ensembles. Das Gebäudeensemble Playhouse Square mit seinen Theatern, Gastronomie- und Kultureinrichtungen ist Sitz zahlreicher Ensembles wie der Cleveland Opera und gehört zusammengenommen zu den größten Kulturzentren der USA. Mit dem Karamu House besteht ferner ein bedeutendes afroamerikanisches Kulturzentrum. Daneben gibt es noch einige Kabarett- und Kleinkunstbühnen; etwa das multikulturell geprägte Cleveland Play House und das experimentell ausgerichtete Cleveland Public Theatre. Das wissenschaftlich-technische Museum Great Lakes Science Center an der Lakefront bietet mehr als 350 interaktive naturwissenschaftliche Exponate und ein IMAX-Kino, in dem naturwissenschaftliche Filme gezeigt werden. Daneben liegt das Museumsdampfschiff William G. Mather vor Anker. Bedeutende ansässige klassische Museen sind das Kunstmuseum Cleveland Museum of Art, das Naturkundemuseum Cleveland Museum of Natural History sowie die Western Reserve Historical Society, die älteste Kulturorganisation im Nordosten Ohios mit ihrem Regionalmuseum sowie bedeutenden Dokumentarchiven. Der Cleveland Botanical Garden datiert von 1930 und ist der älteste botanische Garten der USA. Das Museum of Contemporary Art Cleveland (MOCA) zeigt jährlich rund zehn Wanderausstellungen verschiedener internationaler Vertreter zeitgenössischer Kunst. Die Stadtbücherei, die Cleveland Public Library, besteht seit 1869, unterhält 29 Niederlassungen und hält rund 4 Millionen Medien vor. Bauten im Stadtzentrum Das Stadtzentrum weist Bauten verschiedener architektonischer Epochen auf. Viele davon sind im Rahmen städtebaulicher Großprojekte entstanden. So befinden sich zahlreiche öffentliche Einrichtungen wie das Rathaus, die Stadtbibliothek und das Gericht in Monumentalbauten im neoklassizistischen Stil, die sich um die Parkanlage Cleveland Mall nördlich des Public Square gruppieren. Das Ensemble aus den Jahren 1910–1931 zählt zu den bedeutendsten und umfangreichsten Beispielen neoklassizistischer Architektur der City-Beautiful-Bewegung aus der Zeit unmittelbar nach der Jahrhundertwende. Wahrzeichen der Stadt ist der 1930 fertiggestellte Terminal Tower an der Südecke des Public Square. Das in den Jahren 1922–1930 errichtete Hochhaus im Beaux-Arts-/Art-Déco-Stil bildet zusammen mit angrenzenden Bürogebäuden einen Gebäudekomplex ähnlich dem Rockefeller Center in New York City – ist aber zehn Jahre früher entstanden. Der Turm mit seinen 708 Fuß (216 m) Höhe war bis 1967 das zweithöchste Gebäude in den Vereinigten Staaten und noch bis 1991 das höchste Gebäude Clevelands. Seitdem wird er vom 289 Meter hohen Key Tower überragt. Der dritte große Wolkenkratzer in der Innenstadt ist 200 Public Square (auch: BP Building) mit 200,6 Metern von 1985. Daneben gibt es in der Innenstadt noch zwei Dutzend weitere Gebäude mit einer Höhe von über 80 Metern. In den 1960er und 1970er Jahren wurde die Innenstadt im Rahmen der Stadterneuerung zwischen der East 6th und East 17th Street nach Osten hin erweitert. Bei den Wohn- und Bürohäusern in diesem Gebiet herrscht der zeitgenössische Internationale Stil vor. Daneben gibt es noch einige markante Bauten im Viktorianischen Stil aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Bedeutendstes Bauwerk aus dieser Epoche ist „The Arcade“ von 1890, ein fünfgeschossiges überdachtes Einkaufszentrum mit einem 300 Fuß (91,4 m) langen Glasdach. Aus der gleichen Epoche stammt eine Reihe ehemaliger Lagerhäuser am Hochufer des Cuyahoga westlich des Public Square, die den Historic Warehouse District bilden und heute luxuriöse Wohnungen und Ladengeschäfte beherbergen. Der Historic Warehouse District spielte in den letzten Jahren zusammen mit dem Playhouse Square, dem renovierten Terminal Tower und den Einrichtungen an der Lakefront eine wesentliche Rolle bei der Belebung der Innenstadt. University Circle Rund sieben Kilometer östlich der Innenstadt, umgeben von Armenvierteln, liegt der University Circle. Das rund 197,5 Hektar große, ähnlich einem Park angelegte Areal beherbergt zahlreiche der kulturell, sozial und pädagogisch bedeutenden Einrichtungen der Stadt. Im University Circle befinden sich der Campus der Case Western Reserve University mit den angegliederten Universitätskliniken und Forschungseinrichtungen, die Western Reserve Historical Society, das Cleveland Museum of Art, der Botanische Garten und die Severance Hall. In der Nachbarschaft liegen zudem die Gebäude der Cleveland Clinic. Parks und Grünflächen Cleveland verfügt über gut 160 öffentliche Parks mit einer Gesamtfläche von knapp 700 hm2. Die Grünanlagen erstrecken sich vornehmlich entlang kleinerer Flussläufe und am Seeufer. Nennenswert sind vor allem der Rockefeller Park am Doan Brook, der auf der East Side an den University Circle anschließt, das Naturschutzgebiet am Big Creek auf der West Side sowie der Cleveland Lakefront State Park am Seeufer, zu dem unter anderem der Edgewater Park und einige Yachthäfen und Strandbäder gehören. Der See ist auch an vielen weiteren Stellen öffentlich zugänglich, wird aber fast auf der gesamten Länge durch Schnellstraßen von der Stadt abgeschnitten und ist im Bereich der Innenstadt teilweise durch Industrieanlagen blockiert. Außerhalb der Stadt bilden die Cleveland Metroparks einen Grüngürtel aus Naturschutzgebieten, der im Radius von etwa 15 Kilometern beinahe um die ganze Stadt herumführt. In den Wohngebieten selbst gibt es nur kleinere Grünanlagen. Jedoch ist östlich der East 55th Street in den letzten Jahrzehnten ein ungewollt grüner Stadtteil entstanden, der durch offene Wiesen und wuchernde Hecken geprägt ist. Dort sind infolge der anhaltenden Abwanderung eine Vielzahl von Grundstücken nicht mehr bebaut. In einigen Straßenzügen stehen mittlerweile überhaupt keine Häuser mehr. Die Stadt versucht, die Brache durch breit angelegte Ausweisung von Bauland einzudämmen, mangels Investoren wird inzwischen aber auch die landwirtschaftliche oder gärtnerische Nutzung dieser Areale diskutiert. Ein Stück östlich des University Circle, direkt an der Stadtgrenze, liegt der Lake View Cemetery, auf dem zahlreiche prominente Persönlichkeiten aus Cleveland und Umgebung begraben sind. Unter anderem befindet sich dort die Grabstätte der Familie Rockefeller und das Mausoleum von James A. Garfield, des 20. Präsidenten der Vereinigten Staaten. „Forest City“ Die Stadt besitzt den Spitznamen „Forest City“. Die Herkunft dieser Bezeichnung ist nicht vollständig geklärt. Wahrscheinlich geht sie auf den langjährigen Geschäftsführer des örtlichen Gartenbauvereins und späteren Clevelander Bürgermeister William Case (1818–1862) zurück, der 1852 öffentlichkeitswirksam zahlreiche Bäume in der Stadt pflanzen ließ. Erstmals verwendet wurde der Name 1850 für eine Rennbahn; es folgten etliche weitere ansässige Firmen und Institutionen. Am bekanntesten ist dabei die börsennotierte Immobiliengesellschaft Forest City Enterprises. Sport In Cleveland sind insgesamt drei Sportmannschaften aus den jeweils höchsten nordamerikanischen Profiligen beheimatet. Die Footballmannschaft Cleveland Browns aus der National Football League existiert seit 1946. Die Browns sind im FirstEnergy Stadium beheimatet. Nachdem diese zuletzt im Jahr 1964 die NFL gewinnen konnten, startete im Anschluss eine 52-jährige Durststrecke, während der die Stadt Cleveland keinen Titel mehr in einer Major-Sportart gewinnen konnte. Erst am 20. Juni 2016 fand diese Negativserie durch die Basketballer der Cleveland Cavaliers ein Ende, die die Best-of-seven-Serie gegen die Golden State Warriors trotz zwischenzeitlichem 1:3-Rückstand noch in einen 4:3-Sieg drehen konnten. Die Cleveland Cavaliers spielen in der Eastern Conference der National Basketball Association (NBA). Die Cleveland Monsters sind eine Eishockeymannschaft aus der American Hockey League (AHL). Die Cleveland Gladiators spielen in der Arena Football League, deren Spielbetrieb nach dem Bankrott der Liga 2009 im Herbst 2010 aber wieder aufgenommen worden ist. Die Cavaliers, Monsters und Gladiators bestreiten ihre Heimspiele in der Quicken Loans Arena. Die Cleveland Guardians aus der American League der Major League Baseball sind im Progressive Field beheimatet. Bis 2021 war das Team als Cleveland Indians bekannt und trug den Spitznamen “the Tribe” (deutsch: der (Indianer-)Stamm). Nach einer sehr erfolgreichen Saison 2016 verpassten die Indians nur knapp den Sieg in der World Series. Sie verloren im Finale gegen die Chicago Cubs im eigenen Stadion. Besonders im Eishockey blickt Cleveland auf eine lange Tradition zurück. Die Cleveland Barons gewannen zwischen 1937 und 1973 insgesamt neun Mal den Calder Cup und waren damit eines der erfolgreichsten AHL-Teams überhaupt. Bis zu ihrer Auflösung 2003 war mit den Cleveland Rockers zudem eines der acht Gründungsmitglieder der Frauen-Basketballliga Women’s National Basketball Association (WNBA) in Cleveland beheimatet. Ebenfalls aufgelöst wurde 2009 die Fußballmannschaft Cleveland City Stars aus der USL First Division, der zweithöchsten US-amerikanischen Fußballliga. Von 1982 bis 2007 war Cleveland Schauplatz des Grand Prix of Cleveland (deutsch: Großer Preis von Cleveland, ursprünglich: Budweiser Cleveland 500), eines Formel-Automobilrennens der US-amerikanischen CART/Champcar-Rennserie. Der Grand Prix wurde bis zur Fusion der Champcar mit der IndyCar Series insgesamt 26-mal auf dem Rennkurs des Cleveland Burke Lakefront Airport ausgetragen. Seit 2012 befindet sich im Slavic Village die Radrennbahn Cleveland Velodrome, die einer gemeinnützigen Organisation gehört. Neben Sportangeboten ist das Ziel der Organisation, zur Verbesserung der Infrastruktur im umliegenden Stadtviertel beizutragen. Regelmäßige Veranstaltungen In Cleveland finden eine Reihe überregional bekannter Veranstaltungen aus den Bereichen Film, Musik und Technik statt. Die meisten davon haben sich erst in den letzten Jahrzehnten etabliert. Die gemessen an ihrer Besucherzahl größte Veranstaltung ist die Cleveland National Air Show mit (1994) 120.000 Zuschauern. Die Flugschau findet seit 1964 jedes Jahr am Labor-Day-Wochenende Anfang September auf dem Cleveland Burke Lakefront Airport am Seeufer statt. Gezeigt werden verschiedene Stuntflüge sowie moderne wie historische Luftfahrzeuge. Dazu treten im jährlichen Wechsel die beiden US-Kunstflugstaffeln Thunderbirds und Blue Angels auf. Seit 1977 findet jedes Jahr im März das internationale Filmfestival statt, das Cleveland International Film Festival. Gezeigt werden Premierenfilme aus über 50 Ländern. Das Festival ist die wichtigste derartige Veranstaltung in Ohio und hat in den letzten Jahren stetig an Bedeutung gewonnen. Und beim Tri-C Jazz Fest treten seit 1980 jeden April eine Reihe bekannter US-amerikanischer Jazzmusiker an verschiedenen Orten der Stadt auf, etwa Charlie Haden und George Benson. Die jüngste Großveranstaltung ist das IngenuityFest. Es bietet seit 2004 künstlerische und musikalische Darbietungen auf verschiedenen Bühnen sowie wissenschaftliche Vorführungen und interaktive technische Installationen. Wirtschaft und Infrastruktur Wirtschaft Die Metropolregion von Cleveland erbrachte 2016 ein Bruttoinlandsprodukt von 129,4 Milliarden US-Dollar und belegte damit Platz 30 unter den Großräumen der USA. Das wichtigste wirtschaftliche Standbein der Stadt sind die medizinischen Einrichtungen. Die renommierte Cleveland Clinic ist mit 10.000 Beschäftigten der größte Arbeitgeber in der Region; zusammen mit den anderen Einrichtungen sind über 30.000 Personen in diesem Sektor beschäftigt. Es folgen Banken und Versicherungen sowie der Öffentliche Dienst mit jeweils über 10.000 Beschäftigten. Infolge des Niedergangs der Schwerindustrie hat Cleveland als Produktionsstandort stark an Bedeutung eingebüßt. Im Jahr 2000 waren noch 18 % der Arbeitnehmer in diesem Sektor beschäftigt. Die größten verbliebenen Industriebetriebe sind die Gießerei und das Motorenwerk von Ford mit rund 1.900 Beschäftigten und der Stahlkonzern Mittal Steel mit einem Walzstahlwerk mit 1.460 Beschäftigten. Ferner unterhalten General Motors und Lincoln Electric (Schweißgeräte) größere Fabriken. Der Fremdenverkehr hat in den letzten Jahren dagegen erheblich an Bedeutung gewonnen. Die in der Region ansässigen Beherbergungsbetriebe zählen rund 21.300 Betten und 4,5 Mio. Übernachtungen pro Jahr. Hotels, gastronomische Betriebe und touristische Attraktionen werden von der Agentur Positively Cleveland (ursprünglich: Convention and Visitors Bureau of Greater Cleveland) unter der Marke Cleveland Plus (CLE+) vermarktet. Die wichtigsten touristischen Ziele sind die Sportstätten sowie die Museen in der Innenstadt und dem University Circle. Darüber hinaus haben zahlreiche Großunternehmen ihren Firmensitz in Cleveland, unter anderem Parker-Hannifin und die Eaton Corporation (Maschinenbau), Forest City Enterprises (Immobilien), Sherwin-Williams (Farben, Lacke und Baustoffe), die KeyBank, American Greetings (Grußkarten) und MTD (Gartengeräte). Bis vor einigen Jahren waren ebenso TRW Automotive (Raumfahrt, Automobiltechnik), OfficeMax (Bürobedarf), Standard Oil of Ohio (Petrochemie) und die US-Bank National City mit ihrem Hauptsitz vertreten. 1995 bestand in Cleveland statistisch gesehen die drittgrößte Ansammlung von Großunternehmen in den USA. Ferner hat die Stadt eine lange Tradition als Standort für die industrielle Forschung. Die Forschungszentren von National Carbon und General Electric (Nela Park) datieren bereits aus den 1910er Jahren und gehörten zu den ältesten Einrichtungen dieser Art in den USA. Das Glenn Research Center der NASA entwickelt seit 1941 Techniken für die Luft- und Raumfahrt. Mitte der 1980er Jahre waren in der Stadt über 200 industrielle Forschungseinrichtungen in Betrieb. Mit einer Armutsquote von rund 30 % gehörte Cleveland im vergangenen Jahrzehnt zu den ärmsten Städten der USA überhaupt. 2007 betrug das durchschnittliche Haushaltseinkommen 27.007 US-Dollar und damit nur 54 % des US-Durchschnitts. Zudem war die Stadt infolge des Strukturwandels in den 1980er und 1990er Jahren über viele Jahre hinweg überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen. Die Quote lag um 2000 stets zwischen 7,5 und 10 % und damit rund doppelt so hoch wie im Durchschnitt von Ohio. Im Juni 2009 stieg sie zwar auf 12,2 %, lag dafür aber nur noch geringfügig über dem Durchschnitt von 11,2 %. Die Arbeitslosigkeit ist vornehmlich strukturell bedingt und betrifft vor allem Geringqualifizierte. Die Arbeitslosenrate in der Metropolregion von Cleveland sank bis März 2018 auf 4,9 Prozent lag damit aber über dem nationalen Durchschnitt von 3,8 Prozent. Die Subprime-Krise hinterließ auch in Cleveland deutliche Spuren. Angehörige der ärmeren Bevölkerungsgruppen erwarben zu den Zeiten niedriger Zinsen alte, ohnehin schon heruntergekommene Häuser aus dem örtlichen Bestand auf Kredit und zu überhöhten Preisen. Als sie mit steigenden Zinsen die Kreditraten nicht mehr bedienen konnten, wurden die Häuser von den Banken gepfändet, geräumt und zu Schleuderpreisen versteigert. Da diese Häuser angesichts der ohnehin hohen Zahl an Leerständen praktisch unverkäuflich sind, werden sie zu Spekulationsobjekten und dem Verfall preisgegeben. Ende 2007 waren über 15.000 Einheiten betroffen, davon fast 5.000 von der Deutschen Bank, die damit zumindest kurzzeitig zum wohl größten Immobilieneigner der Stadt geworden ist. Der entstandene Gesamtschaden aus Steuerausfällen, den Kosten für den Erhalt oder Abriss der Häuser sowie dem Wertverlust der Immobilien wird allein in Cleveland auf mehrere hundert Millionen Dollar beziffert. Die Stadt hat Anfang 2008 Klage eingereicht, um einige der zugrundeliegenden Geschäftspraktiken generell für gesetzeswidrig erklären zu lassen und damit einen gerichtlichen Präzedenzfall zu schaffen. Verkehr Straße Cleveland ist über mehrere Autobahnen an das Netz der Interstate Highways angeschlossen. Die I-90 Seattle–Boston verläuft entlang des Eriesee, die I-80 San Francisco–New York City verläuft etwa 22 km Luftlinie südlich an der Stadt vorbei. Von Süden her führen die I-71 aus Columbus und Cincinnati sowie die I-77 in die Stadt. Als Umfahrungsrouten dienen die I-480 im Süden und die I-271 im Osten. Dazu gehen von Cleveland zahlreiche Fernstraßen in radiale Richtungen aus. Das sind die U.S. Highways 6, 20, 42, 422 und 322 sowie etwa ein Dutzend Ohio State Routes. Einige dieser Straßen sind ergänzend zu den Highways streckenweise zu Schnellstraßen ausgebaut. Die Greyhound Lines betreiben eine Reihe von Fernbuslinien in benachbarte Großstädte und betreiben dafür einen Busbahnhof in der Innenstadt. Vom südwestlichen Vorort Brook Park fahren die Busse der Lakefront Trailways nach Columbus, Athens sowie Charleston in West Virginia. Luftverkehr Der 1925 eröffnete Flughafen Cleveland Hopkins International Airport befindet sich am südwestlichen Rand des Stadtgebiets, rund 16,7 km Luftlinie vom Stadtzentrum entfernt. Er ist Drehkreuz für die Fluggesellschaft United Airlines und ist mit rund elf Millionen Flugreisenden der wichtigste Flughafen in Ohio. 1968 war er der erste Flughafen in den USA mit direktem Schnellbahnanschluss. Der Cleveland Burke Lakefront Airport in der Innenstadt ist wesentliche kleiner und dient nur der Allgemeinen Luftfahrt. Schifffahrt Der Hafen Port of Cleveland liegt zu beiden Seiten der Mündung des Cuyahoga in den Eriesee und erstreckt sich einige Flusskilometer ins Landesinnere. Gemessen am Umschlag von durchschnittlich 12,5 Millionen Tonnen jährlich ist er der viertgrößte Hafen im Bereich der Großen Seen. Über 95 % der Fracht entfallen dabei auf Schüttgut wie Kalkstein, Eisenerz und Getreide; bei Stückgut sind vor allem Stahl und Maschinen von Bedeutung. Der Cuyahoga ist von seiner Mündung bis zum Stahlwerk hin verbreitert und ausgebaggert und wird von Frachtschiffen befahren. Daher haben die Bahn- und Straßenbrücken in diesem Bereich entweder eine sehr hohe Durchfahrtshöhe oder sind als Klapp- und Hubbrücken ausgeführt. Schienenverkehr Als alte Industriestadt innerhalb des Rust Belt ist Cleveland auch wichtiger Eisenbahnknoten für den Güterverkehr. Das gesamte Stadtgebiet, davon insbesondere der Bereich um den unteren Cuyahoga und die alten Industriestandorte im Süden und Südosten, ist von einer Vielzahl von Bahnstrecken, Industrieanschlussgleisen, Güterbahnhöfen und entsprechenden Brachen durchzogen. Einst von New York Central Railroad, New York, Chicago and St. Louis Railroad, Baltimore and Ohio Railroad, Pennsylvania Railroad und Erie Railroad betrieben, gehören die Strecken heute größtenteils zur Norfolk Southern Railway und zur CSX Transportation sowie zu einem knappen Dutzend kleiner, lokaler Gesellschaften. Der einst bedeutende Personennah- und -fernverkehr spielt seit den 1960er Jahren keine Rolle mehr. Amtrak bedient die Relationen Washington–Chicago und New York City–Chicago mit je einem Zugpaar täglich und benutzt dafür einen kleinen unscheinbaren Haltepunkt am Seeufer. Der ursprüngliche Zentralbahnhof unter dem Terminal Tower im Stadtzentrum wird heute nur noch im innerstädtischen Verkehr bedient. Nahverkehr Zwischen dem Flughafen, der Innenstadt und dem nordöstlichen Stadtrand verkehrt seit 1955 mit der Red Line eine Schnellbahnlinie. Zwei Light-Rail-Linien führen zudem in den östlichen Vorort Shaker Heights. Diese sind im Gegensatz zu den meisten derartiger Systeme in den USA bereits seit den 1910er Jahren durchgehend in Betrieb. Die Bahnen werden zusammen mit einem vergleichsweise gut ausgebauten Busnetz von der örtlichen Verkehrsbehörde Greater Cleveland Regional Transit Authority (RTA) betrieben. Dabei bezieht sie rund zwei Drittel des Nahverkehrs-Etats aus Steuermitteln. Der Betrag entspricht dem Steueraufkommen aus 1 Prozentpunkt der Umsatzsteuer des Cuyahoga County. Gas, Wasser und Strom Die städtischen Wasserwerke versorgen Cleveland und 68 seiner Umlandgemeinden mit Trinkwasser. Das Einzugsgebiet ist 640 Quadratmeilen (1658 km²) groß und umfasst über 8.000 Kilometer Leitungen mit 414.000 Anschlüssen und 1,5 Millionen Bewohnern. Das Trinkwasser wird über kilometerlange Saugleitungen vom Grund des Eriesee gefördert und anschließend aufbereitet. Die an sich sehr gute Trinkwasserqualität wurde in der Öffentlichkeit lange bezweifelt, weil seit jeher auch sämtliche Abwässer – wenn auch gereinigt durch Kläranlagen – in den See geleitet werden. Die Versorgung der vergleichsweise wohlhabenden Vororte war und ist angesichts der schwierigen Finanzlage der Stadt eine wichtige Einnahmequelle. Auf dem örtlichen Strommarkt gibt es zwei konkurrierende Anbieter, einerseits die privatwirtschaftliche Illumniating Company, eine Tochtergesellschaft des Energieunternehmens FirstEnergy, und andererseits die städtische Cleveland Public Power (CPP). CPP ist der nach eigenen Angaben größte kommunale Stromanbieter Ohios. Einziger örtlicher Gasanbieter ist Dominion East Ohio, eine Tochtergesellschaft des Energieversorgers Dominion. Bildung Schulen Der örtliche Schulbezirk Cleveland Metropolitan School District verfügt über 114 öffentliche Schulen mit rund 50.000 Schülern und knapp 3.800 Lehrern. Er ist damit neben Columbus der größte Schulbezirk Ohios. Daneben gibt es eine Reihe von Schulen in privater oder kirchlicher Trägerschaft. Die Verwaltung der öffentlichen Schulen untersteht seit 1998 dem Bürgermeister. Zwar gibt es auch in Cleveland ein kommunales Schulgremium (School Board), das sich um Schulpolitik, Finanzen, Qualitätssicherung und Öffentlichkeitsarbeit kümmert. Doch die Mitglieder dieses school board werden nicht wie sonst in Ohio üblich von der Bevölkerung gewählt, sondern vom Bürgermeister ernannt. Das ist eine für Ohio einzigartige Form der Schulverwaltung. Zuvor waren die Schulen in direkter öffentlicher Selbstverwaltung organisiert und somit politischer Kontrolle entzogen. Die Bevölkerung wählte ein fünfköpfiges School Board, das wiederum einen School Superintendent zum Verwaltungschef ernannte. Ähnlich der anfänglichen Organisation der Stadtverwaltung erwies sich diese Konstruktion als ineffizient und zunehmend zerstritten. Darüber hinaus war die Verwaltung über Jahrzehnte hinweg den Problemen nicht gewachsen, die sich aus der Zuwanderung der Schwarzen ergeben hatten. Zwischen 1950 und 1963 waren die Schülerzahlen von 100.000 auf über 150.000 angewachsen, wobei immer mehr Kinder aus sozial benachteiligten Familien stammten. Dem auftretenden Mangel an Lehrkräften, Lernmitteln und Schulgebäuden konnte nur schleppend begegnet werden, weil der anhaltende White Flight die finanzielle Basis der Schulen schwinden ließ. Steuererhöhungen zum Ausgleich des wachsenden Defizits wurden von der Bevölkerung jedoch abgelehnt. Dazu kam, dass die US-Bundesrichter die ungleichmäßige Verteilung der schwarzen Schüler, die sich aus der Bevölkerungsstruktur in der Stadt ergab, als Diskriminierung ansahen. In einem Urteil von 1978 verfügten sie, dass Schüler aller Ethnien gleichmäßig über alle städtische Schulen zu verteilen seien. Daraufhin mussten 22 Jahre lang täglich 30.000 Schüler unter hohem Kostenaufwand zwischen den Schulsprengeln hin- und hergefahren werden. Dieses sogenannte Desegregation Busing oder Busing hat nach Ansicht von Kritikern die Abwanderung der Weißen in die Vororte verstärkt und durch seine hohen Kosten die finanziellen Probleme weiter verschärft. Durch die anhaltend schlechten Lernbedingungen wuchs die Zahl der Schulabbrecher. 1998 erreichte Cleveland mit einer Quote von 28 % High-School-Absolventen nur knapp die Hälfte des US-Durchschnitts und lag damit im bundesweiten Vergleich auf dem letzten Platz. Seit der Verwaltungsreform von 1998 stieg die Quote zwar auf über 60 % an, sie liegt aber immer noch deutlich unterhalb der anderen Großstädte Ohios. Universitäten und Hochschulen Cleveland ist Standort mehrerer Hochschulen, darunter dreier Universitäten. Die private Forschungsuniversität Case Western Reserve University (CWRU) entstand 1967 aus dem Zusammenschluss der 1880 gegründeten Case Institute of Technology mit der 1826 gegründeten Western Reserve University. Die Lehr- und Forschungseinrichtungen liegen im University Circle und erstrecken sich über insgesamt acht Fachbereiche; einige Studiengänge werden in Zusammenarbeit mit den umliegenden Kulturzentren und der Cleveland Clinic durchgeführt. Die Case Western hat (2000) rund 4900 Angestellte und (2001) knapp 9500 eingeschriebene Studenten sowie ein Stiftungsvermögen von über einer Milliarde US-Dollar. Die katholische John Carroll University (JCU) ist eines von 28 Jesuitenkollegien in den USA. Sie wurde 1886 von ausgewanderten deutschen Jesuiten unter dem Namen St. Ignatius College gegründet. An der JCU sind 3100 Bachelor- und 700 Masterstudenten eingeschrieben sowie 385 wissenschaftliche Mitarbeiter beschäftigt. Die angegliederte Boler School of Business gehört laut U.S. News & World Report zu den besten Managementschulen der USA. Der Campus befindet sich seit 1935 im Vorort University Heights etwa 13,5 km östlich der Innenstadt. Die staatliche Cleveland State University (CSU) besteht seit 1964. Sie geht auf eine Initiative des Bundesstaates Ohio zurück, durch Schaffung neuer Universitäten breiten Bevölkerungsschichten höhere Schulbildung zu ermöglichen. Die CSU wuchs durch zahlreiche Institutsneubauten bis etwa 1980 schnell auf über 15.000 Studenten und 450 wissenschaftliche Mitarbeiter an. Obwohl sie eigentlich eine eher durchschnittliche US-amerikanische Universität ist, hat die rechtswissenschaftliche Fakultät besondere Bedeutung. Das geht auf die Eingliederung des Cleveland-Marshall College of Law im Jahr 1969 zurück, dessen Ursprünge bis 1897 zurückreichen. Die CSU liegt an der East 17th Street östlich der Innenstadt. Dazu kommen noch drei kleinere Hochschulen, die private Managementschule Chancellor University mit (1995) 1400 Studenten, das Cleveland Institute of Art, eine Kunst- und Designhochschule mit rund 500 Bachelor-Studenten sowie das Cleveland Institute of Music, das neben 1700 Laien auch 400 ordentliche Musikstudenten zählt. Das örtliche Community College Cuyahoga Community College (CCC) unterrichtet 25.000 Personen verteilt auf drei Standorte. Es geht auf dieselbe bundesstaatliche Initiative zurück wie die Cleveland State University und war im Zuge des Strukturwandels maßgeblich an der Umschulung der Industriearbeiter beteiligt. Medien Die einzige noch in Cleveland erscheinende Tageszeitung ist der Plain Dealer. Er wird von der Mediengruppe Advance Publications herausgegeben und ist mit rund 95.000 (ehemals 300.000) verkauften Exemplaren an Werktagen und 171.000 (ehemals 400.000) an Sonntagen eine der auflagenstärksten Tageszeitung in Ohio (Stand 2019). Aus demselben Verlagshaus stammen die Sun Newspapers, eine Kette von Wochenzeitungen, die nur in den Vororten und auf der West Side erhältlich sind. Die beiden Redaktionen liefern auch die Inhalte für die regionale Nachrichten-Website cleveland.com. Wöchentlich erscheinen außerdem Crain’s Cleveland Business, eine regionale Wirtschaftszeitung von Crain Communications sowie die Scene von Times-Shamrock Communications, eine kostenlose und werbefinanzierte Alternative Wochenzeitung mit einer Auflage von 60.000 Exemplaren. Größte regionale Monatszeitschrift ist das Cleveland Magazine von Great Lakes Publishing mit einer Auflage von rund 45.000 Exemplaren. Die seit 1985 erscheinende Alternative Press widmet sich Moderner Musik und wird in ganz Nordamerika und vielen weiteren Ländern vertrieben, darunter auch in Deutschland. Der Fernsehmarkt bietet eine Reihe regionaler Fernsehanstalten. Sie gehören zu den großen Medienunternehmen (Networks) des Landes wie NBC, ABC, FOX oder der spanischsprachigen Univision und strahlen deren Mantelprogramme aus. Daneben ist der nicht-kommerzielle Public Broadcasting Service (PBS) mit dem US-weiten Kanal PBS World, dem regionalen Ohio Channel und dem Spartensender Create vertreten. Außerdem sind mehr als zwei Dutzend meist regionale Hörfunksender verschiedener Genres zu empfangen, die meisten auf UKW. Darunter befindet sich mit WCPN auch ein Partner des National Public Radio (NPR). Auch die drei großen Universitäten unterhalten jeweils einen eigenen Radiosender. Persönlichkeiten Cleveland war und ist Wirkungsstätte zahlreicher Persönlichkeiten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen. Viele von ihnen wurden nach ihrem Tod auf dem Lake View Cemetery begraben. Mit Abstand am bekanntesten ist der Industrielle John D. Rockefeller (1839–1937). Er steuerte von Cleveland aus über eineinhalb Jahrzehnte seine gesamten wirtschaftlichen Aktivitäten, bis er mit seiner Firma Standard Oil 1885 nach New York City umzog. In späteren Jahren stiftete er Parks und gemeinnützige Einrichtungen. Auch die Erdgasversorgung der Stadt geht auf sein Unternehmen zurück. Die Gebrüder Van Sweringen (Oris Paxton 1879–1936 und Mantis James 1881–1935) kontrollierten bis zum Zusammenbruch ihres Imperiums während der Großen Depression ein Eisenbahnnetz von knapp 50.000 km Länge. Ferner entwickelten sie zwischen 1909 und 1930 den Vorort Shaker Heights im Stile einer modernen Gartenstadt und errichteten das Tower City Center. Bekannte Persönlichkeiten aus der Politik sind neben dem schwarzen Bürgermeister Carl Stokes (1927–1996) vor allem der linksliberale Kongressabgeordnete und zweimalige Kandidat für die Präsidentschaftsnominierung Dennis Kucinich (* 1946). Das Amt des Clevelander Bürgermeisters hatten auch der spätere US-Kriegsminister Newton Baker (1871–1937), Gouverneur Frank J. Lausche (1895–1990), der gebürtige Italiener und spätere US-Gesundheitsminister Anthony J. Celebrezze (1910–1998) sowie der ehemalige Gouverneur und US-Senator George Voinovich (1936–2016) inne. Der in Cleveland ansässige Geschäftsmann Mark Hanna (1837–1904) führte als Manager des republikanischen Präsidentschaftskandidaten William McKinley 1896 aus heutiger Sicht moderne Wahlkampfmethoden ein. Der spätere US-Außenminister John Hay (1838–1905) lebte von 1875 bis 1886 in Cleveland und schrieb seine Eindrücke über die hiesige Gesellschaft in seinem Buch The Bread Winners nieder. Der Gründer der Cleveland Clinic, George Washington Crile (1864–1943), zählte seinerzeit zu den führenden Chirurgen der Vereinigten Staaten. An seiner Institution wirkten auch nach seinem Tod zahlreiche international bekannte Ärzte wie René Favaloro, Maria Siemionow und der Physiologe Irvine Page. Ferner stammt der Physiker und Nobelpreisträger Donald A. Glaser (1926–2013) aus Cleveland. Dazu sind neben der Klassischen Musik auch etliche Vertreter Moderner Musik in Cleveland ansässig. Dazu gehören das experimentelle Industrial-Rock-Musikprojekt Nine Inch Nails, die Crossover-Metal-Band Mushroomhead, die Art-Punk-Gruppe Rocket from the Tombs, die Rock-, Soul- und Bluesband Welshly Arms und die viel beachtete, aber kommerziell wenig erfolgreiche Rockband Pere Ubu. Die ebenfalls in Cleveland ansässige Band Chimaira gilt als Begründerin des Metalcore-Genre. Zu den Vertretern afroamerikanischer Musik gehören die Grammy-Preisträgerin Dazz Band, die Hip-Hop-Gruppe Bone Thugs-N-Harmony, die besonders in den 1990er Jahren sehr erfolgreich war, sowie der mehrfach mit Platin ausgezeichnete R&B-Sänger Avant. Aus Cleveland stammt auch der Rapper Kid Cudi (* 1984), der einen seiner Songs nach der Stadt benannte, Cleveland Is the Reason. Literatur Weblinks Anmerkungen Einzelnachweise Ort mit Seehafen County Seat in Ohio Hochschul- oder Universitätsstadt in den Vereinigten Staaten Stadt als Namensgeber für einen Asteroiden
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https://de.wikipedia.org/wiki/Weser
Weser
Die Weser (niederdeutsch oder ; lateinisch Bisurgis, Visurgis; althochdeutsch Wisera, Wisura; weserfriesisch Wißuhr) ist ein Strom, der in nördlicher Richtung die Mittelgebirgsschwelle und das norddeutsche Tiefland durchfließt. Seinen Namen trägt er ab Hann. Münden, wo sich seine beiden großen Quellflüsse, Werra und Fulda, vereinigen. Die gemeinsame Herkunft der Flussnamen Weser und Werra weist darauf hin, dass die heutige Werra einst als Oberlauf der Weser galt, die größere, aber kürzere Fulda dagegen nur als Nebenfluss. Die Trennung der Namen Weser und Werra entstand erst im Frühneuhochdeutschen. Auch in der hydrografischen Erfassung ist die Werra als der Oberlauf klassifiziert und die Fulda als großer Nebenfluss. Die Fulda ist zwar am Zusammenfluss wasserreicher als die Werra, aber ihrerseits oberhalb der nur 45 Flusskilometer entfernten Mündung ihres Nebenflusses Eder nicht so wasserreich und lang wie diese (und mithin nicht einmal halb so stark wie in Hann. Münden). Die Weser ist der einzige Strom Deutschlands mit ausschließlich inländischem Einzugsgebiet. Sie berührt die Bundesländer Hessen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bremen. Anteil an ihrem etwa 46.000 km² umfassenden Einzugsgebiet (rund 13 % der Fläche Deutschlands) haben außerdem Thüringen, Sachsen-Anhalt und in geringem Maße Bayern. Die Weser ist in ganzer Länge eine Bundeswasserstraße. An der Mündung in die Nordsee gibt es zwei unterschiedliche Grenzlinien: Die (flussabwärts laufende) nautische Kilometrierung der Unterweser endet am Alten Leuchtturm in Bremerhaven. Die flussaufwärts laufende hydrografische Stationierung hingegen bezieht Teile der Außenweser mit ein und hat ihren Nullpunkt an der Luftlinie zwischen Langwarden in Butjadingen und der Wurster Nordseeküste. Der Alte Leuchtturm steht danach beim Kilometer 18,2. Namensherkunft Die latinisierte Form Visurgis bei Tacitus lässt germanisch *Visuri mit dem Genitiv *Visurjos erschließen. Dieser Name stammt wie der der französischen Vézère (Nebenfluss der Dordogne) und der Vesdre in Belgien (Nebenfluss der Ourthe, 915 auch als Wesere belegt, und in Ostbelgien Weser genannt) letztlich aus der indogermanischen Wurzel *u̯eis- „fließen, zerfließen“, die in fast allen indogermanischen Sprachgruppen – insbesondere im Keltischen, Germanischen, Romanischen und Baltischen – belegt ist. Weitere Flussnamen derselben Herkunft wie Weser/Werra sind La Vis in Frankreich, Wear (von *Visuria) in Nordengland, Vesouze (Nebenfluss der Meurthe), Wiesaz in Württemberg, Vesonze im Wallis, Visance in Frankreich, Dep. Orne, Bisenzio in Etrurien, Besançon in Frankreich, Viešintà in Litauen, Visa in Norwegen und Schweden, sowie die Vistula, heute Wisła „Weichsel“. Ab dem 8. Jahrhundert sind sowohl für die Weser als auch für die Werra althochdeutsche Namensformen wie Wesera, Wisura, Wisera, Wisora, Wisara überliefert, auch mit angehängtem -aha – „fließendes Wasser“ – Wiseraha oder Wisuraha. Noch bei Adam von Bremen hieß es 1075 ausdrücklich: „Die hervorragendsten Flüsse Sachsens sind die Elbe, die Saale und die Wisara, die man jetzt auch Wissula oder Wirraha nennt.“ Es ist also anzunehmen, dass es sich bei Weser und Werra in alter Zeit um ein und denselben Namen gehandelt hat, wobei es im Laufe der Zeit durch regionale sprachliche Ausdifferenzierung zu einer begrifflichen Trennung des Oberlaufes vom übrigen Fluss gekommen ist, indem /sr/ zu /rr/ angeglichen wurde. Unterstützt wird die Annahme dadurch, dass die Grenze zwischen dem nieder- und hochdeutschen Sprachraum (die Benrather Linie) ziemlich genau bei Hann. Münden (genauer gesagt durch dessen Ortsteil Hedemünden) verlief, wobei aus der hochdeutschen Form Wirra sich Werra entwickelt hat. Die niederdeutsche Form de Wersern oder de Werser enthält noch heute beide Mittelkonsonanten. Erst neuhochdeutsch wurden die Namen Werra und Weser deutlich getrennt und als Bezeichnung für Ober- bzw. Unterlauf desselben Flusses verwendet. Verlauf Quellflüsse Die aus dem Thüringer Wald heranfließende Werra und die aus der Rhön kommende Fulda vereinigen sich zwischen südöstlichem Kaufunger Wald, westlichem Reinhardswald und nördlichem Bramwald in Hann. Münden auf zur Weser. Auf der am Zusammenfluss liegenden Flussinsel Tanzwerder steht seit 1899 der Weserstein mit der Inschrift: Die Werra hat eine mittlere Wasserführung von 51,0 m³/s und eine Länge von rund 300 km. Die Fulda ist mit einer mittleren Wasserführung von 66,9 m³/s wasserreicher und wäre daher hydrologisch als Oberlauf der Weser anzusehen. Sie ist mit 221 km kürzer als die Werra, die ein langes, schmales Einzugsgebiet entwässert. Die Fulda wiederum wäre hydrologisch ein Nebenfluss der Eder, die beim Zusammenfluss mehr Wasser mitbringt als die Fulda oberhalb. Historisch jedoch waren Werra und Weser namensgleich und die Fulda wurde als Nebenfluss angesehen. Oberweser In Hann. Münden ist der Nullpunkt der Binnenwasserstraßenkilometrierung der Weser. Sein Wasserspiegel liegt auf Höhe. Als Oberweser fließt sie im Oberen Wesertal bis zur Porta Westfalica durch das Weserbergland. Die Hänge des Oberen Wesertals sind überwiegend bewaldet. Vielerorts wurde und wird Buntsandstein gebrochen, aus dem auch zahlreiche historische Bauten errichtet wurden. Viele Ortschaften sind von Fachwerk geprägt mit schrittweisem Übergang von hessischer zu niedersächsisch-westfälischer Bauweise. Von Hann. Münden bis Bad Karlshafen ist die Weser auf lange Strecke Grenze zwischen Niedersachsen und Hessen, von dort bis hinter Holzminden teilweise Grenze zwischen Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Anschließend fließt sie durch niedersächsisches Gebiet, hinter Rinteln dann durch Nordrhein-Westfalen. Bei Hann. Münden beginnt das Oberweser-Durchbruchstal, zunächst zwischen Reinhardswald und Bramwald nordwärts führend, knickt es am Kahlberg vor dem Solling scharf nach Westen ab. Zwischen Reinhardswald und Solling hat sich die Weser bis zu 300 m tief eingegraben. Sie passiert Bad Karlshafen und die Hannoverschen Klippen und knickt am Südwestrand des Solling nach Norden ab. Das Tal hat hier Aufweitungen, zum Beispiel bei Höxter, Holzminden und zwischen Hameln und Rinteln, dazwischen aber immer wieder enge Abschnitte mit steilen Hängen, beispielsweise die „Rühler Schweiz“. Zwischen Holzminden und Bodenwerder passiert die Weser die Höhen- und Gebirgszüge Burgberg und Vogler, die wie der Solling zum Naturpark Solling-Vogler gehören. Nördlich von Bodenwerder durchquert die Weser den Naturpark Weserbergland Schaumburg-Hameln. In Hameln befindet sich die einzige Staustufe der Oberweser. Sie ist gleichzeitig die älteste Staustufe des gesamten Flusses, hervorgegangen aus einem mittelalterlichen Mühlenstau. Unterhalb von Hameln wendet sich der Flusslauf zunehmend westwärts, bei Vlotho dann wieder nach Norden. Nach Aufnahme der Werre fließt die Weser durch den etwa 200 m tiefen Weserdurchbruch Porta Westfalica zwischen Wesergebirge und Wiehengebirge (Weser-km 199; Wasserspiegel etwa Höhe) in das Norddeutsche Tiefland ein. Dabei durchschneidet sie einen kleinen östlichen Teil des Naturparks Nördlicher Teutoburger Wald-Wiehengebirge, der vom weit entfernten Teutoburger Wald kommend über das Wiehengebirge bis kurz vor Bückeburg in das Wesergebirge reicht. Mittelweser Am Nordrand der Stadt Minden wird die Weser vom Mittellandkanal überquert. Ab diesem Wasserstraßenkreuz wird sie nach der Definition des Wasserstraßen- und Schifffahrtsamtes als Mittelweser von Minden bis nach Bremen bezeichnet. Aus geographischer Sicht wird manchmal auch die Porta Westfalica als Grenze zwischen Ober- und Mittelweser genannt. Bis Schlüsselburg fließt sie von Minden kommend weiter durch Nordrhein-Westfalen, dann überschreitet sie bei Stolzenau die Landesgrenze zu Niedersachsen und fließt in diesem Bundesland bis nach Bremen. Hier im Norddeutschen Tiefland spricht man auch von der Weserniederung. Diese wird bis Hoya auch als Mittleres Wesertal bezeichnet. Von einigen sehr kleinen Hängen abgesehen handelt es sich dabei jedoch nicht um ein wirkliches Tal. Die Mittelweser wird durch sieben Staustufen reguliert, und durch Schleusenkanäle teilweise abgekürzt. Damit ist eine verlässliche Schifffahrt auf der Weser möglich und der schiffbare Hinterlandverkehr der Seehäfen Bremen und Bremerhafen gewährleistet. Die größten Städte in der überwiegend ländlich geprägten Mittelweserregion zwischen Minden und Bremen sind Petershagen, Nienburg, Verden und Achim. In den Jahren 1919 bis 1922 stellte der Bremer Wasserbau-Ingenieur Ludwig Plate der Öffentlichkeit Pläne eines Kanals vor, der von Bramsche nach Stade hätte führen sollen. Dieser Hansakanal genannte Kanal hätte die Weser bei Achim überquert. In den 1950er Jahren wurden entsprechende Pläne endgültig aufgegeben. Hydrografisch endet die Mittelweser am Weserwehr in Bremen-Hastedt bei Weser-km 362,3 und einem Wasserspiegel von Höhe oberhalb des Wehres. Weserästuar Das Weserästuar als Übergangsgewässer umfasst den Gezeitenbereich des Flusses und seinen Weg von der Küstenlinie bis zum Ende begleitender Wattflächen. Unterweser Der Flussabschnitt vom Bremer Weserwehr in Hastedt bis zur Mündung in die Nordsee unterliegt den Gezeiten und wird Unterweser genannt. Die Kilometrierung der Binnenwasserstraße reicht jedoch in den Tidenbereich der Unterweser bis 50 m unterhalb der Wilhelm-Kaisen-Brücke. Hier bei Weser-km 366,72, wo seit dem 13. Jahrhundert eine Weserbrücke das obere Ende der Seeschifffahrt markierte, ist der Nullpunkt der Unterweser-Kilometrierung. Seit 1946 wechselt die Binnenschifffahrtsstraße zur Seeschifffahrtsstraße allerdings erst an der Bremer Eisenbahnbrücke bei Unterweser-km 1,375. Der Tidenhub in Bremen ist durch die Weserkorrektion und nachfolgende Maßnahmen seit dem 19. Jahrhundert von etwa 1 m auf heute mehr als 4 m gestiegen und damit deutlich höher als an der Nordsee. Die Unterweser endet kurz hinter der Geestemündung, bei Unterweser-km 65, und wird zur inneren Außenweser. Außenweser Die innere Außenweser durchschneidet den Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer. Zwei hintereinander in der Außenweser gelegene Wattflächen, Robbenplate und Tegeler Plate, teilen sie in zwei Arme: Wurster Arm/Tegeler Rinne im Nordosten und Fedderwarder Fahrwasser/Hohewegrinne im Südwesten. Heutzutage wird nur noch dieser westliche Arm als Fahrwasser genutzt, dessen Breite von einem auf fünf Kilometer zunimmt. An der Mündung der Weser in die Nordsee, 452 Flusskilometer von Hann. Münden entfernt, bei Unterweser-km 85,248 ist die seewärtige Begrenzung als Binnenwasserstraße zur Nordsee (laut WaStrG). Hier liegt auf dem Ostufer die niedersächsische Gemeinde Misselwarden. Der Verlauf der Fahrrinne jenseits dieses Punktes wird als äußerer Bereich der Außenweser bezeichnet und gehört zur Seewasserstraße Nordsee. Hydrografisch werden die an der Wurster Küste zwischen Bremerhaven und Arensch mündenden Bäche noch dem Einzugsgebiet der Weser zugerechnet. Im Bereich der Außenweser stehen neben der zuerst 1664 erwähnten Schlüsseltonne mehrere Leuchttürme im Wattenmeer, darunter der Leuchtturm Hohe Weg und der Leuchtturm Robbenplate. An ihrem nordwestlichen Ende steht der Leuchtturm Tegeler Plate, weiter nordwestwärts in der Nordsee stehen die Leuchttürme Roter Sand (außer Betrieb) und Alte Weser. Das erste Feuerschiff wurde 1818 in der Außenweser ausgelegt (Der Pilot auf Position 53° 51′ 33″ N, 7° 53′ 13″ O). Es diente zugleich als Lotsenschiff und wurde 1830 durch einen Neubau gleichen Namens ersetzt. Später folgten Feuerschiffe mit dem Namen Bremen (erste Position 53° 48′ 30″ N, 8° 8′ 24″ O, aufgehoben 22. Juni 1966) und seit 1840 mit dem Namen Weser auf einer Position nahe der Bremer Bake (aufgehoben 1981). Siehe auch Liste der Leuchtfeuer an der Außen- und Unterweser Einzugsgebiet Für das Einzugsgebiet der Weser wird unter der Gewässerkennzahl 4 eine Fläche von 46 259 km² angegeben. Darin sind aber auch 468,3 km² enthalten, die jenseits des Pegels Bremerhaven von Osten in die Außenweser münden, also ins Meer. Ohne diese Flächen misst das Einzugsgebiet der Weser samt Quellflüssen Werra und Fulda 45 792,4 km². Quadratkilometergenaue Angaben zum Einzugsgebiet der Weser sind im Übrigen methodisch fragwürdig; zum einen gehört die obere Hase bis zu ihrer Bifurkation in die zur Ems fließende (untere) Hase und die zur Werre und Weser fließende Else zu den Einzugsgebieten beider Ströme, zum anderen gibt es am Rand des Einzugsgebietes Tieflandsgebiete ohne scharfe Wasserscheide, deren Drainagenetze zeitweise zu benachbarten Gebieten entwässern wie zum Jadebusen (Stadland und Butjadingen) oder zur Elbe (Teufelsmoor). Die Werra, der längere Quellfluss, entspringt in Thüringen auf der Südseite des Thüringer Waldes. Sie erhält auch Wasser von Teilen der Nordseite des Gebirges und angrenzenden Bereichen des Thüringer Beckens. Die Fulda, der rund 30 % wasserreichere Quellfluss, hat ihre Quelle in der hessischen Rhön. Ihr größter Nebenfluss, die im Rothaargebirge (NRW) entspringende Eder, übertrifft wiederum die Fulda an Wasserführung. Folglich wurde an der Eder mit dem Edersee die größte Talsperre zur Hochwasserregulierung im Einzugsgebiet der Weser gebaut. Der größte Nebenfluss der Weser ist die Aller, die in der Magdeburger Börde in Sachsen-Anhalt entspringt und zusammen mit ihrem längsten Zufluss Leine das gesamte Wasser aus dem westlichen Harz empfängt. Flusssystem Teilt man das Einzugsgebiet der Weser in fünf Teilgebiete, von denen eines das der Aller ist und die übrigen vier dasjenige unterhalb der Allermündung, diejenigen der Quellflüsse Werra und Fulda, sowie das der Weser zwischen deren Vereinigung und der Allermündung, so ist das Gebiet der Aller mit Abstand am größten, größer als das der Weser oberhalb mit dem einen oder anderen der beiden Quellflüsse und größer als die der beiden Quellflüsse zusammen. Und das im Allergebiet enthaltene Einzugsgebiet der Leine ist immer noch größer als das der Werra und fast so groß wie das der Fulda. Vom Einzugsgebiet der Weser bis einschließlich der Allermündung hat die Aller samt Leine 41,45 %, die Weser samt Werra und Fulda knapp 58,55 %. Obwohl der von der Aller und ihren Zuflüssen entwässerte Westharz für seine reichen Niederschläge bekannt ist, steuert die Aller zu den Abflussmengen am Zusammenfluss nur 36,7 % bei, 120 m³/s von 327 m³/s. In der folgenden kleinen Liste der Teil-Einzugsgebiete sind die eingangs genannten fünf mit den Buchstaben A bis E hervorgehoben: 8 353 km² – (E, GKZ: 491–4992) Weser unterhalb der Aller (bis einschließlich Geeste nur 7 884,65 km²) 37 924,35 km² – Weser mit Quellflüssen bis einschließlich Aller (GKZ: 41–48) 15 721,01 km² – (D, GKZ: 48) Aller gesamt (= 41,45 % der 37.924 km²) 1 760,95 km² – Aller unterhalb der Leine (GKZ: 489) 6 517,35 km² – Leine (GKZ: 488) 7 442,71 km² – Aller oberhalb der Leine (GKZ: 481–487) 22 203,34 km² – (A–C, GKZ: 41–47) Weser oberhalb der Aller mit Quellflüssen (= 58,55 % der 37 924 km²) 9 759,75 km² – (C, GKZ: 43–47) Weser zwischen Werra/Fulda-Zusammenfluss und Aller 6 946,59 km² – (B, GKZ: 42) Fulda 5 497 km² – (A, GKZ: 41) Werra Nebenflüsse Die folgende Teil-Liste enthält alle Nebenflüsse der Weser mit einem Einzugsgebiet von mindestens 40 km² an der oberen Oberweser am Weserdurchbruchstal (Solling, Bramwald und Reinhardswald; bis Weser-km 47) bzw. bis zur Mündung der Diemel (Weser-km 44,7; Kennziffern auf 43), 60 km² an der Oberweser vom vorgenannten Weserdurchbruchstal bis zum Weserdurchbruch Porta Westfalica (Weser-km 198) bzw. bis zur Mündung der Werre (Weser-km 190,1; Kennziffern auf 45), 100 km² an der Mittelweser (bis Weser-km 366,7) bzw. bis zur Mündung der Aller (Weser-km 326,4; Kennziffern auf 47) und 200 km² an der Unterweser: Geschichte Gewässergeschichte Bis zur Mitte der Elsterkaltzeit floss die Weser in einem Zeitraum von anderthalb Millionen Jahren von Hameln aus durch die Deisterpforte und durch das Hallertal. Östlich von Adensen an der Hallerbrücke der Bundesstraße 3 mündete die Leine in die Weser. Durch Fundstätten von Weserkies lässt sich der damalige gemeinsame Lauf von Leine und Weser rekonstruieren. Am ehemaligen Flusslauf liegen die Orte Nordstemmen, Rössing, Barnten, Sarstedt, Gleidingen, Rethen, Laatzen, Höver, Altwarmbüchen, Burgwedel, Mellendorf und Brelingen. Weserkiese lassen sich über Hagen bei Neustadt weiter in Richtung Nienburg verfolgen. Das Eiszeitalter des Pleistozän gestaltete die Landschaft völlig neu und beeinflusste auch den Verlauf der Weser. Funde von Wesergeröll in Holland weisen darauf hin, dass die Weser ab dem heutigen Minden dem nördlichen Rand des Wiehengebirges folgte, um dann weiter in Richtung IJsselmeer zu fließen. Die zurückziehenden Eiszeiten gaben den Weg wieder frei, und die Weser änderte ihren Lauf in Richtung Norden. Schmelzwasser der Gletscher und Niederschlagswasser aus den Mittelgebirgen vereinten sich zu Urströmen, denen auch die Weser zufloss. Das Tal des Aller-Weser-Urstroms, am weitesten südlich gelegen, reichte von der mittleren Oder über den Mittellauf der Elbe bis zur Mündung der Weser. Etwa in Höhe der heutigen Stadt Hoya an der Mittelweser vereinten sie sich mit der Weser, um anschließend in das Bremer Becken zu strömen. Doch auch der Mündungstrichter in die Nordsee schwankte über die Jahrtausende hinweg zwischen Wangerooge und Helgoland. Von der Mitte des 14. bis Anfang des 16. Jahrhunderts hatte die Weser ein Mündungsdelta mit mehreren Seitenarmen in den im Wesentlichen im 12. Jahrhundert entstandenen Jadebusen. Entstanden sind diese Gewässer durch Meereseinbrüche, die allerdings anschließend überwiegend Weserwasser führten. Die Heete floss von der Gegend, in der heute Nordenham liegt, nach Westen, und die Ahne sowie das Lockfleth verliefen von der Gegend beim heutigen Brake nach Nordwesten; zeitweise erweiterte sich die Liene, ursprünglich ein kleiner linker Nebenfluss der Weser, zu einer breiten Hochwasserrinne, die das Gebiet der Huntemündung mit der Jade verband. Große Bereiche der heutigen Halbinsel zwischen Unterweser und Jade waren somit Inseln. Als Folge davon trägt das Gebiet zwischen Hunte und Langwarden keinen einheitlichen Namen. Der nördlichste Teil heißt Butjadingen (= Land außerhalb der Jade), der südlich davon gelegene Abschnitt Stadland (von Gestade = Ufer). Früher wurde das Gebiet zwischen dem Stadland und der Hunte Niederstedingen, das südöstlich der Hunte gelegene Gebiet hingegen Oberstedingen genannt. Als Stedingerland gilt heute nur noch der Bereich südöstlich der Hunte. Mit der Verschlammung, Eindeichung, Zuschüttung und Verrohrung ehemaliger Mündungsarme der Weser ist der Prozess von deren „Landwerdung“ keineswegs endgültig abgeschlossen. So werden z. B. in der Stadt Brake regelmäßig bei Starkregen Straßenzüge vom Grundwasser her überschwemmt, die auf dem zugeschütteten ehemaligen Lockfleth errichtet wurden. Der erste Hafen der Stadt Bremen lag an einem Weserarm namens Balge. Ob sie eventuell in karolingischer Zeit zeitweise Hauptarm war, ist fraglich. Im 12. Jahrhundert war die Balge immer noch tief genug für damalige Schiffe. Die Altstadt dehnte sich auf die Inseln zwischen Balge und eigentlicher Weser aus. Erst ab dem 13. Jahrhundert wurde auch das Weserufer als Hafen genutzt und die Schlachte als (hölzerne) Uferbefestigung gebaut. Ab dem 14. Jahrhundert diente die Balge nur noch als Binnenhafen. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde sie zugeschüttet. Die Kleine Weser in Bremen hatte schon lange vor den Baumaßnahmen des 19. Jahrhunderts keine regelmäßige Wasserzufuhr aus der Mittelweser und wurde deswegen früher auch Ohle Weser (Alte Weser) genannt. Bis ins 19. Jahrhundert gab es einen der militärischen Verteidigung dienenden Verbindungsgraben von der Weser her, der den Teerhof vom Stadtwerder trennte. Noch bis Ende des 19. Jahrhunderts floss bei (Fluss-)Hochwasser Weserwasser am Südrand von Bremen durch eine Lücke im die Weser begleitenden Dünenrücken in die Wümmeniederung (Ostgrenze von Bremen), von wo aus es bei Vegesack 26 km weserabwärts durch die Lesum wieder in die Weser gelangte. In den 1920er Jahren war das Weserwasser so stark durch Abwässer der weiter flussaufwärts angesiedelten Kaliindustrie belastet, dass es sich kaum noch als Trinkwasser eignete, woraufhin das Land Bremen gegen die Länder Preußen, Thüringen und Braunschweig ein Verfahren vor dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich initiierte. Die Verschlechterung der Wasserqualität zeigt sich auch daran, dass es um 1900 in der Unterweser noch 200 Berufsfischer gab, deren Zahl bis 1980 auf sechs sank. In den 1950er Jahren wurde die Flutrinne oberhalb der kleinen Weser ausgebaut und dabei der Werdersee angelegt. Seit 1968 trennt ein Wehr die Kleine Weser etwa 200 m von ihrer Mündung von der Unterweser. Bei der Umgestaltung in den 1980er Jahren wurde die Engstelle zwischen Kleiner Weser und Werdersee beseitigt, so dass beide hydrologisch eine Einheit bilden. Gleichzeitig wurde ein Graben angelegt, um diesen See mit Frischwasser aus der Mittelweser zu versorgen. Siedlungs- und Staatengeschichte Antike und Völkerwanderung Das Tal der Oberweser war vor dem Vordringen der Germanen keltisch besiedelt. Zur Zeit der römischen Eroberungsversuche von Caesars Gallienzug bis zur Varusschlacht wurde der Weserraum schon von Germanen bewohnt. Tacitus und andere römische Chronisten nennen am Unterlauf Chauken, weiter flussaufwärts unter anderem Angrivarier und Cherusker. Antike wie frühmittelalterliche Autoren haben sich bei ihren Beschreibungen der Germanenstämme im Wesentlichen auf mündliche Überlieferung gestützt. Wegen Widersprüchen und offensichtlichen Fehlern bewerten heutige Historiker die alten Texte mit Vorsicht. Die Sachsen werden erstmals Ende des 2. Jahrhunderts im heutigen Holstein genannt. Im 4. Jahrhundert haben sie schon im Weserraum gewohnt und sogar weiter westlich die Salfranken von der IJssel vertrieben. Da sich das sächsische Siedlungsgebiet in der Zeit zu großen Teilen mit dem der Chauken deckte, ohne dass es Hinweise auf kriegerische Auseinandersetzungen zwischen beiden Völkern gibt, wird vermutet, die Chauken seien ein Teilstamm der Sachsen gewesen, die späteren Westfalen und Engern umfassend. Zahlreiche Funde typischer Fibeln bestätigen die Ansässigkeit der Sachsen im Elbeweserdreieck und an der Mittelweser im 4. und 5. Jahrhundert. Mittelalter Erst durch Konflikte mit der Expansion des Frankenreiches ist ab 775 der sächsische Teilstamm der Engern im Einzugsgebiet der Weser namentlich erwähnt, vom Zufluss der Diemel bis zum Küstengebiet nördlich Bremens. Engern gliederte sich in zahlreiche Gaue unterschiedlicher Größe, die als Siedlungsräume zugleich die Grundlage für seine politische Organisation waren. Als Karl der Große das Land erobert hatte und den Sachsen 782/783 öffentliche Volksversammlungen verbot, war es mit dem politischen Eigenleben der sächsischen Heerschaften Engern, Westfalen und Ostfalen vorbei. An den von Karl dem Großen gegründeten Bischofssitzen Minden, Verden (sicher nachgewiesen erst unter Ludwig dem Deutschen 849) und Bremen entstanden Marktsiedlungen. Hameln und Höxter entstanden im 9. Jahrhundert als Marktsiedlungen neben Klöstern. Wirkliches Stadtrecht erhielten diese Städte aber erst im 12., Hameln und Verden im 13. Jahrhundert. Im Jahre 1127 erwarb der bayrische Welfenherzog Heinrich X. das Herzogtum Sachsen durch Heirat. Sein mächtiger Sohn Heinrich der Löwe trat in Opposition zu Kaiser Friedrich Barbarossa und wurde daraufhin schrittweise entmachtet. Damit begann die politische Zersplitterung des Weserraums. Zahlreiche Grafen- und Edelherrengeschlechter entwickelten dynastische Eigeninteressen. Ähnlich war es mit dem Territorialbesitz der Bistümer Paderborn, Minden und Verden und des Erzbistums Bremen. Zweige des Welfenhauses blieben jedoch bis 1866 die wichtigsten Landesherren im Weserraum. Die am linken Weserufer unterhalb der Huntemündung siedelnden Friesen hatten jahrhundertelang unter dem Dach des Heiligen Römischen Reiches ihre Unabhängigkeit bewahrt. Im 15. Jahrhundert versuchte die Stadt Bremen, sie unter ihre Kontrolle zu bringen. 1499 wurden Stadland und Butjadingen jedoch von den Grafen von Oldenburg erobert. Besitzverhältnisse und Bedeutung der verschiedenen Herrschaften änderten sich immer wieder. Ein Geschlecht mit weit verteilten Besitzungen waren die Grafen von Schaumburg. Die Grafschaft Everstein, einst hervorgegangen aus einer Vogtei des Klosters Fulda, fiel 1408 an das welfische Herzogtum Braunschweig. Neuzeit Wegen der zunehmenden territorialen Zersplitterung wurden auf dem Reichstag zu Köln 1512 die zehn Reichskreise geschaffen. An der Weser lag die Grenze zwischen dem niederrheinisch-westfälischen und dem niedersächsischen Reichskreis. Die territoriale Zersplitterung behinderte auch die Weserschifffahrt, da jeder Anrainer Zölle erhob. Dazu kamen die Auswirkungen nachbarlicher Auseinandersetzungen. So schnitt ein Grundherr aus der verzweigten Familie der Freiherren von Münchhausen die flussabwärts gelegene Stadt Hessisch Oldendorf vom Weserhandel ab, indem er den Fluss auf die andere Talseite umleitete. Im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit entwickelten Adel und wohlhabende Städte im Weserbergland einen besonderen Baustil, die Weserrenaissance. Beim Westfälischen Frieden 1648 bekam Schweden die Herzogtümer (bis dato (Erz-)Bistümer) Bremen und Verden und damit das rechte Ufer der unteren Weser zugesprochen. Anfang des 18. Jahrhunderts wurden beide Gebiete von Dänemark besetzt und anschließend an das welfische Kurfürstentum Hannover abgetreten. Die Stadt Bremen konnte ihre Reichsunmittelbarkeit nur mit Mühe behaupten. In der Zeit zwischen 1650 und 1780 etablierte sich der Baustil des Weserbarock. Im Jahre 1776 wurden in Karlshafen 12.000 hessische Soldaten eingeschifft, die Friedrich II., Landgraf von Hessen-Kassel, an Georg III., hannoverscher Kurfürst und König von Großbritannien, vermietet hatte, um diesem im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen die amerikanischen Truppen zu dienen. Die Soldaten, von denen kaum mehr als die Hälfte zurückkehrte, wurden zunächst in nordhessischen Orten wie Ziegenhain gesammelt, von Karlshafen aus über die Weser nach Bremen und von dort aus weiter nach Nordamerika transportiert. Seit dem Dreißigjährigen Krieg erwarb das Kurfürstentum Brandenburg beziehungsweise Königreich Preußen schrittweise den größten Teil des Weserlaufes: 1648 das ehemalige Bistum Minden, auf dem Wiener Kongress 1812/15 das Hochstift Paderborn mit Höxter, nach dem Deutschen Krieg 1866 das Königreich Hannover mit über 50 % des Weserlaufes und das Kurfürstentum Hessen mit dem linken Ufer bis Karlshafen und der schaumburgischen Exklave um Hessisch Oldendorf und Rinteln. Im Deutschen Reich gehörte die Weser außer zu Preußen zu Braunschweig (rechtes Ufer vom Solling bis zum Ith mit Holzminden, linkes Ufer um Thedinghausen (bei Bremen)), linkes Ufer bei Kalletal zu Lippe, zu Bremen und zu Oldenburg (linkes Ufer von Bremen bis zur Mündung). Bremen blieb wegen seiner Seehäfen auch als Teilstaat des Deutschen Reiches noch bis 1888 Zollausland. 1939 kam Bremerhaven gegen eine Vergrößerung des stadtbremischen Gebietes an Preußen. Im Jahre 1945 wurde Bremen mit Bremerhaven, vergrößert um die Stadt Wesermünde, amerikanische Enklave im Küstenbereich der britischen Zone und 1947 eigenes Bundesland. Von 1933 bis 1937 veranstalteten die Nationalsozialisten auf dem Bückeberg bei Hameln ihr Reichserntedankfest, eine ihrer größten Propagandaveranstaltungen. Hierzu wählten sie einen Ort an der Weser als größtem von den Quellen bis zum Meer deutschem Fluss. Hydrologie Wasserführung Die Oberweser unterliegt als typischer Mittelgebirgsfluss starken Schwankungen in der Wasserführung. Im Winterhalbjahr kommt es hier nicht selten zu Hochwassern, im Sommer dagegen oft zu extremem Niedrigwasser. Für den Pegel Porta Westfalica am Übergang zur Mittelweser beträgt die mittlere Wasserführung rund 180 m³ in der Sekunde, die niedrigste 63 m³ und die höchste 830 m³. Am Beginn der Oberweser, am Pegel Hann. Münden, sind Niedrigwasserabflüsse um 30 m³ in der Sekunde keine Seltenheit. Bei mittlerem Niedrigwasserstand beträgt die Fließgeschwindigkeit etwa 0,8 m in der Sekunde. Die Mittelweser zwischen Minden und der Tidegrenze in Bremen führt bereits deutlich mehr Wasser. Der Pegel Intschede (südlich von Bremen) registrierte im Jahr 2010 einen mittleren Oberwasserabfluss von 332,6 m³ in der Sekunde. Der niedrigste Wert lag bei 103 m³/s und der höchste bei 1170 m³ in der Sekunde. Bei mittlerem Niedrigwasserstand beträgt die relativ geringe Fließgeschwindigkeit etwa 0,5–0,7 m in der Sekunde, bedingt durch die Staustufen in der Mittelweser. Die „Reisedauer“ eines Wasserkörpers von Hann. Münden bis Bremen schwankt je nach Wasserführung zwischen 2,5 und 6 Tagen, im Mittel etwa vier Tage. Die Unterweser beginnt am Bremer Weserwehr und verläuft als Ästuar in nördlicher Richtung. Es handelt sich um einen Brackwasser führenden Flussabschnitt, dessen Wasserstand und Fließgeschwindigkeit von den Gezeiten bestimmt werden. Der Tidenhub beträgt im Maximum beim Pegel Oslebshausen etwa 4,5 m. Die Durchflussmenge in der Unterweser beträgt bei mittlerem Abfluss beim Pegel Intschede 323 m³ in der Sekunde und steigt bis zu einem Wert von circa 6600 m³ in der Sekunde bei Bremerhaven. Der Anteil des um die Tidebewegungen bereinigten Weserabflusses ist hierbei nur noch gering. Trotz der unterhalb des Bremer Weserwehres von den Nebenflüssen (besonders Hunte und Lesum) herangeführten Wassers liegt der gesamte Abfluss der Weser an der Mündung ins offene Meer bei Bremerhaven bei unter 390 m³/s. Durch den ständigen Gezeitenwechsel braucht ein Wasserkörper zwischen zwei und 24 Tagen, um die relativ kurze Strecke bis zur Nordsee zu überwinden. Hochwasser Immer wieder wurden die an der Weser liegenden Städte und Gemeinden vom Hochwasser der Weser heimgesucht, trotz Regulierung der Flussläufe von Fulda und Werra, bis in die heutige Zeit. Als Beispiel seien hier die Aufzeichnungen in der Chronik der Stadt Minden aufgeführt (Zitat aus Chronik der Stadt Minden), siehe auch Hochwasser in Minden. 1342 Juli: Das auch Magdalenenhochwasser genannte Ereignis bewirkte nicht nur den höchsten historisch überlieferten Pegelstand der Oberweser, sondern verwüstete auch weite Teile Mitteleuropas. 1375 10. Februar: Weserhochwasser, das Wasser stand im Mindener Dom. 1513 riss ein infolge anhaltender Regengüsse einsetzendes Hochwasser die hölzerne Weserbrücke von fünf steinernen Pfeilern. 1553 13. Januar: Hochwasser überflutete die Mindener Weserbrücke und stand auf dem Markt; anschließend brach eine Seuche aus. 1643 7.–8. Januar: Weserhochwasser; das Wasser stand so hoch, dass Schiffe unmittelbar von der Brücke aus betreten werden konnten. 1658 16. Februar: Weserhochwasser; die Weserbrücke wurde beschädigt. 1664: Weserhochwasser 1682 7. Januar: Zweithöchstes bekanntes Weserhochwasser; der Mindener Marktplatz konnte mit Kähnen befahren werden. 1744 6. März: Weserhochwasser 1799 24. Februar: Weserhochwasser, nur drei Zoll niedriger als 1553; vier Bögen der Bunten Brücke stürzten ein. 1841 20. Januar: Weserhochwasser 1946 10. Februar: Weserhochwasser, die Weser stand in der unteren Altstadt von Minden 1956 Juli: Julihochwasser 1956; Nach einem sehr nassen Frühjahr und tagelangen Wolkenbrüchen im niedersächsischen, hessischen, thüringischen und ostwestfälischen Bergland kam es zu einem schweren Weserhochwasser mit großen Überschwemmungen bis in den Bremer Raum. 1965 19. Juli: Heinrichsflut; Schwere Unwetter in Nordhessen, Ostwestfalen und Südniedersachsen führten zu einem katastrophalen Hochwasser, von dem Bad Karlshafen besonders schwer betroffen wurde. 2003 5. Januar: Das Hochwasser der Weser gefährdete die Schiffmühle in Minden mit 6,40 m über Normalpegel. 2011 15. Januar: Hochwasser nach Schneeschmelze und starken Regenfällen mit einem Höchststand von 6,33 m über Normalpegel 2012 9. Januar: Hochwasser nach heftigen Regenfällen führte zur Einstellung der Schifffahrt ab einem Pegel von 4,80 an Pegel Porta Westfalica, Höchststand 5,10 (Stand 9. Januar 2011). Weitere Hochwasser 29. Januar 1846 11. März 1881 27. November 1890 7. Februar 1909: Werrahochwasser 1909 20. Januar 1918 3. Januar 1926 16./17. Mai 1943: In der Nacht wurde die Staumauer des Edersees durch einen britischen Fliegerangriff (Operation Chastise) zerstört. Es entstand ein 70 Meter breites und 22 Meter tiefes Loch in der Mauer, aus dem rund 160 Millionen Kubikmeter Wasser strömten. Eine sechs bis 8 Meter hohe Flutwelle floss durch die Täler der Eder, der unteren Fulda und der Weser und verursachte bis Minden erhebliche Überschwemmungen und Sachbeschädigungen. 15. März 1981: Infolge starker Schneeschmelze und lang anhaltender Regenfälle brach beim Weserdurchbruch 1981 in Bremen der Sommerdeich. Durchströmendes Wasser zerstörte mehrere Kleingartengebiete teilweise vollständig. Eisgang Bis in die 1930er Jahre froren Ober- und Mittelweser regelmäßig zu, so dass eine Überquerung des Flusses zu Fuß oder manchmal auch mit Wagen möglich war. Probleme gab es immer wieder bei Tauwetter, wenn sich die Eismassen in Bewegung setzten, die Eisschollen an Brücken und im Tidenbereich zu gefährlichen Höhen auftürmten, was das Hochwasser oberhalb dieser Eisstaus noch verschlimmerte. Um die Brücken zu schützen wurden oberhalb der Brücken, an der Bremer auch unterhalb, Eisbrecher in den Fluss gebaut. Manchmal wurden Eiswälle gesprengt, um den Druck auf die Bauwerke zu mindern. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 sprengten Wehrmacht-Soldaten viele Brücken über die Weser. Oft wurden sie zunächst provisorisch repariert. Am 18. März 1947 brachten Eismassen in Bremen sämtliche Brücken zum Einsturz (Bremer Eiskatastrophe). Auch die Unterweser bei Bremen hatte bis in die 1890er Jahre in den meisten Wintern eine tragfähige Eisschicht. 1828 wettete eine Gruppe Bremer Junggesellen darauf, dass am Neujahrstag des Folgejahres die Eisschicht auf der Weser einem 99 Pfund schweren Schneider samt glühendem Bügeleisen die Überquerung des Stromes trockenen Fußes ermögliche. Daraus entstand die Bremer Eiswette, die alljährlich mit einem Festmahl zugunsten der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger begangen wird, auch wenn die Unterweser seit Begradigung und Vertiefung nur noch sehr selten zufriert. Deshalb wird heute gelost; meistens verliert die Partei, die durch Los bestimmt auf „zugefroren“ setzen muss. Der Verlierer hat dann ein Festmahl für etwa 600 Gäste auszurichten, Hauptspeisen Kohl und Pinkel. Ein Phänomen gab es gelegentlich früher bis in die 1960er Jahre – heute wahrscheinlich nicht mehr – auf der Weser bei Vegesack, das Pfannkucheneis. Dieses entstand beim Zusammentreffen der Lesum mit der Weser. Durch die unterschiedlichen Strömungen der beiden Flüsse gerieten treibende Eisschollen in Drehung und scheuerten sich dabei aneinander ab, bis sie nahezu kreisrund waren, mit einem aufgewölbten Rand aus abgeriebenem Eis. Die Schollen sahen dann tatsächlich aus wie überdimensionale Pfannkuchen. Auch anderswo war das zu beobachten. In Vlotho war zumindest in den Jahren 1945 bis 1951 der nach dem Zweiten Weltkrieg vorübergehend wieder aufgenommene Fährverkehr Hauptursache, der die Strömungsverhältnisse im Oberflächenwasser beeinflusste. Mit der Ausweitung des Kaliabbaus in Thüringen und Osthessen und der Einschwemmung von großen Mengen Salz in die Quellflüsse gab es bis zur Auflassung der meisten Bergwerke in den 1990er Jahren keinen Eisgang mehr auf Ober- und Mittelweser. Allerdings bleibt die Aufheizung des Wassers durch Kraftwerke. Fünf Wochen Dauerfrost im Januar/Februar 1996 ließen die Werra zwischen Witzenhausen und Hann. Münden zufrieren; einige Fähren stellten den Betrieb ein. Wasserqualität Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Weser ein sehr fischreicher Fluss. Mit der zunehmenden Industrialisierung und dem Bevölkerungswachstum verschlechterte sich die Wasserqualität. Auch der Bau von Kläranlagen konnte daran nichts ändern. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Wasserqualität der Weser weiter rapide ab und erreichte bis Ende der 1980er Jahre die Gewässergüteklasse III–IV (sehr stark verschmutzt) und streckenweise sogar IV (übermäßig verschmutzt). Eine der Hauptursachen der Verschmutzung war die Einleitung stark salzhaltiger Abwässer aus der Kaliindustrie in Thüringen und Hessen. Der Aus- und Neubau kommunaler und industrieller Kläranlagen sowie Verfahrensverbesserungen der Industrie und Reduzierung des Kaliabbaus sorgten dafür, dass sich die Wasserqualität allmählich wieder verbesserte. Nach dem aktuellen Bericht zur Biologischen Gewässergüte der Weser entspricht die Wasserqualität zum Teil wieder der Güteklasse II (mäßig belastet), in einigen Abschnitten aber noch II–III (kritisch belastet), wobei die Versalzung immer noch eine Rolle spielt. Seit etwa 2005 gibt es wieder Diskussionen über eine Erhöhung der Einleitungsmengen von Kalilauge. Pro Jahr trägt die Weser mit schätzungsweise 25 Tonnen Mikroplastik zu dem Plastikmüll in den Ozeanen bei. Flora und Fauna Ökologisch betrachtet durchfließt die Weser vier grundlegend unterschiedliche Lebensräume der Flora und Fauna. Ist das Weserbergland von Hann. Münden bis Porta Westfalica überwiegend durch zusammenhängende Fichten-, Buchen- und Eichenwälder mit einem reichen Wildbestand geprägt, kennzeichnet die Mittelweserregion von Minden bis Bremen eine weite Marschenlandschaft mit vorwiegend landwirtschaftlich ausgerichteten Strukturen und teilweise hohem Waldanteil. Heide und Moore sind für diesen Flussabschnitt ebenfalls charakteristisch. Hier vollführt der Strom zahlreiche Windungen und bildet Altarme mit hohem Fischbesatz und ufernahem Lebensraum für Tier und Pflanze. Die Ufer der Unterweser werden von weiten, fast baumlosen Marschengebieten begleitet. Hier haben die regelmäßigen Hochwasser, die ungehindert durch Deiche bis an die Geestränder reichten, eine eigene Landschaft geprägt. Mitgeführter und abgelagerter Sand, Schlick, Ton und Lehm formten das heutige Landschaftsbild zwischen Bremen und der Nordsee mit Niederungs- und Hochmooren im Übergangsbereich von Geest und Marsch. In vorgeschichtlicher Zeit befand sich die Nordseeküste mindestens 50 km weiter nördlich als heute. Durch Absenkungen veränderte sich die ursprüngliche Küstenlinie, wobei der Mensch durch die Errichtung von Deichen dieser Entwicklung Einhalt gebot. Durch Ausschwemmungen und Ablagerungen im Mündungsbereich der Weser entstand im Gezeitenbereich das Wattenmeer. Es ist ein einzigartiger Lebensraum für Meerestiere. Zahlreiche Robbenbänke befinden sich heute an und in der Außenweser. Die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie aus dem Jahr 1992 verpflichtet die Bundesländer, Gebietsvorschläge zum Schutz bestimmter Lebensraumtypen sowie Habitate von gefährdeten Tier- und Pflanzenarten nach Brüssel zu melden. Ausgewählte Gebiete aus den nationalen Vorschlägen sollen dann zusammen mit den nach der EU-Vogelschutzrichtlinie gemeldeten Vogelschutzgebieten das europaweite Schutzgebietssystem Natura 2000 bilden. In dieses Projekt sind bereits einige Gebiete an der Weser eingebunden, zum Beispiel die Strohauser Plate. Wie vielfältig die Flora und Fauna an der Oberweser ist, zeigte die Begehung eines etwa 14 km messenden Transektes südlich von Beverungen im Juni 2000. Die von mehr als 30 Spezialisten für Flechten, Moose, Gefäßpflanzen, Weichtiere, Insekten, Amphibien und Vögel erfasste Flora und Fauna belegte in diesem Wesertalabschnitt 576 Pflanzenarten (darunter 62 Moose und 487 Gefäßpflanzen) und 389 Tierarten (darunter 30 Libellen, 60 Käfer, 33 Schmetterlinge und 58 Vögel). Im Rahmen einer Voruntersuchung zum Bau einer Fischtreppe am Wehr der Pfortmühle in Hameln im Jahr 2001 wurden 28 Fischarten ermittelt, neben den bekannten Wanderfischen wie Aal und Lachs auch zahlreiche andere Fischarten, die die Weser und ihre Nebenflüsse bewandern. Wirtschaft Fischerei Schon lange vor der Industrialisierung wurde auf der gesamten Weser gewerbsmäßiger Fischfang mit Senknetzen betrieben. Viele erhaltene Fischer-Häuser in Orten an der Unter- und Mittelweser zeugen noch heute von einem gewissen Wohlstand. Größere Bedeutung erlangte die Fischerei an der Unterweser, als der Geestemünder Friedrich Busse 1884 einen Hochseefischdampfer bei der Bremerhavener Wencke-Werft in Auftrag gab und nach dessen Indienststellung zu einem bedeutenden Fischhändler wurde. 1888 gab es in Geestemünde eine erste Fischauktion nach englischem Vorbild. 1909 betrug die Fangzahl für Lachs an Mittelweser und Aller noch 4000 Stück. Durch den Ausbau der Weser mit Staustufen (mit Wehren, Schleusen und Wasserkraftwerken) sowie durch die mit der Industrialisierung verbundene Verschlechterung der Wasserqualität sank diese Zahl bis 1959 praktisch auf Null. Die letzten noch aktiven Berufsfischer an der Mittelweser sind Kurt Janke in Dörverden sowie Cord und Ludolf Dobberschütz in Nienburg/Weser. Die Familie Dobberschütz betreibt die Weserfischerei schon seit mehreren Generationen. Bis 1990 verursachte der Kalibergbau an der Werra zumeist eine massive Versalzung von Ober- und Mittelweser, unterbrochen von Süßwassereinträgen an den Wochenenden. Das führte sowohl beim Fischbesatz, als auch bei den für die Ernährung vieler Fische wichtigen Mücken(-Larven), zu einem schweren Zahlen- und Artenrückgang. Allein der Aal gedieh noch gut. Heute sorgen Sportfischerverbände und örtliche Angelvereine durch regelmäßigen Einsatz von Jungfischen für einen ausgeglichenen Besatz, während jetzt die Erträge der Aalfischerei zurückgehen. Handel und Handwerk Anders als auf dem Rhein wurden auf der Weser im Wesentlichen in der Region erzeugte oder für ihren Bedarf bestimmte Waren transportiert. Für die Transporte auf dem Fluss wurde Zoll erhoben. An der Oberweser besaßen im Hochmittelalter die Grafen von Dassel dieses Recht, das sie 1270 an Albrecht I. von Braunschweig verkauften. In vorindustrieller Zeit ließen sich schwere Lasten viel besser zu Wasser als zu Lande befördern. So befand sich unter den Gütern spätestens seit Ende des 15. Jahrhunderts auch Steinkohle aus Obernkirchen (nahe der Porta Westfalica) für Bremen an der holzarmen Unterweser. Um 1600 wurde auf der Weser vor allem Getreide und Obst aus der Hildesheimer Börde nach Bremen und Holland, und von dort aus Käse, Stockfisch und Tran flussaufwärts transportiert. Vom 16. bis 19. Jahrhundert gab es an der Oberweser und an Werra und Fulda zahlreiche Dörfer, in denen Töpferwaren hergestellt wurden. Umfangreiche Keramikfunde in diesem Gebiet lassen auf eine starke Produktion schließen. Man schuf den Begriff Weserkeramik, der auch zum Ausdruck bringt, dass die Weser als Handelsweg für die Keramik diente. Aus vielen Töpferorten der Oberweser gelangten Tonwaren und Steinzeug nicht nur in den stets arm an Töpfereien gewesenen Raum an der Mittel- und Unterweser, sondern über die Außenweser auch in die Nordseeküstenländer Friesland, Dänemark, England und die Niederlande. Der Handel mit Keramik von der Oberweser beherrschte schließlich den Markt im gesamten Weserraum, so dass im 18. und 19. Jahrhundert die Produktionsstätten an Mittel- und Unterweser (zum Beispiel in Minden) keine Bedeutung mehr hatten. Als ausgesprochener Exportschlager erwies sich der Veckerhäger Ofen, der in der 1666 gegründeten Kurhessischen Eisenhütte Veckerhagen (Oberweser) gegossen und von dort aus mit dem Schiff zunächst nach Bremen und weiter zu Kunden in Skandinavien und Amerika transportiert wurde. Ein wichtiges Produkt des waldreichen Weserberglandes war und ist Holz. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Stammholz vorzugsweise geflößt. Der Arbeit der Flößer auf der Weser wurde in Bad Oeynhausen ein Denkmal in Form einer Bronze-Skulptur gesetzt. Schifffahrt Geschichte Schon die Römer befuhren bei der versuchten Eroberung Germaniens mit ihren Schiffen die Weser. Eine römische Flottenstation wurde bei Bremen-Seehausen ausgegraben. Trotz der Varusschlacht gab es weiterhin Handel entlang der Weser mit Produkten aus dem Römerreich. So wurden an Mittel- und Unterweser und Hunte zahlreiche römische Mahlsteine aus Eifel-Basalt gefunden. Für das 8. Jahrhundert lässt sich ein Verkehr kleiner Handelsschiffe nachweisen, die über Aller, Leine und Oker bis Braunschweig, Hildesheim und Elze fuhren, im 12. Jahrhundert über die Werre, Else und Hase auch nach Westfalen. Die Schifffahrt auf der Fulda wurde in den Jahren 1601/1602 durch Bau von Schleusen bis nach Hersfeld ausgedehnt, knapp 90 Flusskilometer von Hann. Münden. Die Werraschifffahrt reichte über lange Zeit flussaufwärts bis nach Wanfried, knapp 70 Flusskilometer von Hann. Münden. Versuche, sie mit weniger Aufwand als an der Fulda auszudehnen, scheiterten unter anderem an Mühlenwehren und engen Brücken, zuletzt um 1800. Flussaufwärts wurden die Lastkähne ausnahmslos an Seilen von Menschen oder Zugtieren gezogen, getreidelt. Hierzu bestanden in Ufernähe befestigte Treidel- oder Leinpfade, die zum geringen Teil heute noch erhalten sind. Die Treidelschifffahrt litt unter der oft schlechten Unterhaltung der Treidelwege. Mancherorts mussten die Treidler übersetzen, weil der Treidelpfad die Flussseite wechselte. Stromab wurde nicht getreidelt, die Strömung genügte, um die Kähne in Fahrt zu halten. Im 14. und 15. Jahrhundert wurde auf der Weser vor allem auf der Ober- und Mittelweser die Eke, auch Bremer Eke, aus Eiche (= Eke) häufig als Binnenschiff eingesetztes. Die Bezeichnungen wie Bukke oder Bockschiff sowie auch Bulle (von Bohlen), für bis zu 30 Meter lange und zirka 3 Meter breite flachbodige Lastschiffe waren auch üblich. Die späteren traditionellen Weserkähne wurden dann Weserböcke genannt, eine Bezeichnung, die später aber auch für motorisierte Lastkähne verwendet wurde. An der Unterweser benutzte man zusätzlich eine Besegelung der Schiffe. Transportiert wurden im Mittelalter bei der Talfahrt – also weserabwärts – unter anderem Steine – vor allem der Obernkirchener Sandstein – Kalk, Eisenerz, Bauholz, Getreide und bei der Bergfahrt ins Landesinnere Fische, Butter, Käse, Talg, Tuche, Vieh, Torf etc. Beinahe wäre die Weser 1707 Ort der weltweit ersten Dampfschifffahrt geworden, hätte nicht die Mündener Schiffergilde nur wenige Meter vor dem Zusammenfluss von Werra und Fulda die Erfindung des Denis Papin, ein durch einen Dampfzylinder angetriebenes Schiff, im Fluss versenkt. So wurde erst 1817 mit dem in Vegesack gebauten ersten von Deutschen konstruierten Dampfschiff Die Weser wieder ein Kapitel in der Geschichte der Dampfschifffahrt aufgeschlagen. Die Weser verkehrte bis 1833 auf der Unterweser zwischen Bremen, Vegesack, Elsfleth und Brake und transportierte Passagiere und Post. Weserlotsen Das Lotswesen auf der Weser geht auf erste Erwähnungen im frühen 18. Jahrhundert zurück und war lange Zeit geprägt durch Auseinandersetzungen über Zuständigkeiten zwischen den Anliegern Oldenburg, Preußen und Bremen. Heutzutage wird das Lotswesen auf der Weser durch die beiden Lotsenbrüderschaften Weser I und Weser II / Jade gewährleistet. Ausbau der Weser 1399 beschrieb der Verdener Bischof Dietrich von Niem in seiner Kronik, dass die Weser nach dem Absinken des Hochwassers im Frühjahr große Mengen steinigen und sandigen Bodens zurückließ. Ende des 16. Jahrhunderts beschloss der Rat der Stadt Bremen auf Antrag der Schiffergilde den Bau eines Hafens, weil ihre Schiffe aufgrund der Versandung der Unterweser die Stadt Bremen kaum noch anlaufen konnten. Der Ausbau am rechten Ufer in Vegesack auf bremischem Territorium im kleinen Ästuar der Aue war mit damaligen technischen Mitteln möglich, wenngleich die Versandung strömungstechnisch nicht beherrscht werden konnte. So löste der Hafen in Vegesack das Problem nicht dauerhaft. Schon bald mussten die Schiffe am linken Ufer auf Oldenburger Gebiet in Brake ihre Fracht löschen. Weitere Versandung und Streit mit dem Herzogtum Oldenburg führten 1827 zur Gründung Bremerhavens auf einem vom Königreich Hannover gekauften Territorium. Die Frühjahrs- und Herbsthochwasser der Weser überschwemmten weite Teile des flachen Landes zwischen Minden und der Nordsee. Dabei lagerten sich schwerere Sinkstoffe dichter am Ufer ab als leichtere und schufen somit Dämme, die das Wasser irgendwann nicht mehr selbst überwinden konnte. Die dadurch entstandene Strömungsenergie sammelte sich im Flussbett selbst und die Weser grub sich immer tiefer ein. Der Auswasch wurde mit fortgespült. Bei Niedrigwasser lag der Wasserspiegel teilweise so tief, dass das Grundwasser der Uferregionen abgezogen wurde und Brunnen trocken fielen. Bei Eisgang oder Hochwasser schuf die Weser oftmals bis zu 10 m tiefe Kolke, vor denen sie das ausgegrabene Material zu Sandbänken oder Inseln anhäufte. Dabei wechselte die Strömung häufig das Flussbett und wurde mit wechselnden Wassertiefen unberechenbar für die Schifffahrt. Die Weserschifffahrtsakte, von den Vertretern aller Weseruferstaaten am 10. September 1823 in Minden beschlossen, machte den Stapelrechten und anderen mittelalterlichen Privilegien ein Ende und verpflichtete alle Anliegerstaaten zu notwendigen Strombaumaßnahmen und zur Sicherung der Schifffahrt auf der Weser. Die Stadt Bremen begann 1845 mit der Vertiefung der Unterweser auf eigenem Staatsgebiet. 1847 hatte man den ersten Dampfbagger angeschafft und versuchte durch den Bau von Buhnen mit mäßigem Erfolg, den Fluss einzuengen und das Fahrwasser gemäß den Plänen Ludwig Franzius auf 5 m zu vertiefen. Erreicht wurde aber zunächst nur eine dauerhafte Tiefe von 2 m. 1874 war Franzius Vertreter Bremens in einer Kommission, die sich mit der Förderung der Schifffahrt auf der Weser befassen sollte. Er sammelte zunächst Daten über die Weser und über ihr gesamtes Zuflussgebiet und erarbeitete aus seinen Erkenntnissen den Plan einer weiteren Vertiefung und einer trichterförmigen Verengung des Strombettes von Bremen bis zur Mündung, die „Große Weserkorrektion“. Dabei setzte er sowohl auf das Verkürzen des Flusslaufes durch Schließen von Nebenarmen, das Ausbaggern mit technischen Mitteln wie auch auf die Räumkraft des Flusses selbst. Nachdem Franzius anfangs Schwierigkeiten hatte, seine Idee durchzusetzen, verhalf ihm das verheerende Hochwasser von 1881 zur Realisierung eines ehrgeizigen Plans: Die Weserschleife bei Lankenau-Gröpelingen, die Lange Bucht, sollte abgeschnitten und der Strom in ein neues Bett verlegt werden. Trotz ungesicherter Finanzierung wurde diese Große Weserkorrektion bereits 1883 verwirklicht. Noch während weitere Korrekturen an der Unterweser in vollem Gange waren und größere Schiffe die Weser bis Bremen noch nicht befahren konnten, wurde 1888 das Hafenbecken des Europahafens eingeweiht. Nach der „Weserkorrektion“ erfolgten wesentliche weitere wasserbauliche und wasserwirtschaftliche Maßnahmen im Bereich der Mittelweser. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurde durch Buhnen der Wasserstrom konzentriert, um so eine Vertiefung des Fahrwassers zu bewirken. Mit dem Bau des Hemelinger Weserwehrs in Bremen-Hastedt 1911 begann die Anhebung des Wasserspiegels der Mittelweser durch Staustufen und Schleusenkanäle, so auch bei Dörverden, wo 1911 die Lohofschleife durchschnitten wurde und ab 1914 am dort neu errichteten Stauwehr ein Wasserkraftwerk Strom erzeugt. Weitere Regulierungsdurchstiche und Stauwehre wurden bei Intschede (Gemeinde Blender) und Petershagen an der Einmündung der Ösper errichtet. Vollendet wurde die Maßnahmenserie erst in den Aufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach Berechnungen der Mittelweser-Aktiengesellschaft und des Weserbundes e. V. wurden bis 1967 rund 330 Millionen DM für Investitionen aufgewendet, die entsprechend den damaligen wirtschaftlichen Aufbauzielen die „Infrastruktur der Landschaft verbessern“ sollten. Darin waren vorbereitende Bauarbeiten bis zum Jahre 1942 mit einem umgerechneten Bauwert von 50 Millionen DM enthalten. Die Investitionen der privaten Wirtschaft, zu denen auch die Wasserkraftwerke zählen, beliefen sich auf rund 900 Millionen DM. Sieben Wasserkraftwerke entlang der Weser, von denen die bisher neueste Anlage in Landesbergen Ende 1960 fertiggestellt wurde, erzeugten jährlich rund 200 GWh und wurden in ihrer Gesamtheit bis 1986 betrieben, kosteten aber mit zusammen 60 Millionen DM kaum 5 % der Gesamtinvestitionen von 1,33 Milliarden DM, welche für den Ausbau der Weser aufgewendet wurden. Das Fahrwasser der Unterweser wurde mittlerweile bis auf 12 m weiter vertieft, und während der Tidenhub bei Bremen vor der Weserkorrektur nur 73 cm im Durchschnitt von zehn Jahren (1870–1879) betrug, vergrößerte er sich bis 2004 auf 4,50 m. Der Ausbau der letzten veralteten Schleuse in Dörverden vom Ausbauzustand von 1912 zur erforderlichen Breite und einer Abladetiefe von 2,50 m für das Europaschiff als seit etwa 1960 nach den Abmessungen des Kanalsystems im Ruhrgebiet bestimmten Standard-Binnenschiff wird erst 2011 mithin 99 Jahre nach dem ersten Ausbau und erst 50 Jahre nach Standardisierung des Ausbautyps abgeschlossen sein (Stand 2011). Im Bundesverkehrswegeplan 2030 sind die Wasserstraßen nach Netzkategorien unter Berücksichtigung der Verkehrsprognosen 2030 bewertet. Die Außenweser ist der Netzkategorie A, die Unterweser und die Mittelweser sind der Netzkategorie B und die Oberweser der Kategorie „Außerhalb des Kernnetzes“ zugeordnet. Flussschifffahrt Die Dampfschifffahrt verdrängte sehr schnell den Berufszweig der Treidler. Dampfschlepper konnten mehrere Lastkähne gleichzeitig an ihre Zugseile nehmen. Auch talwärts wurden die Kähne nun gezogen und erreichten dadurch eine höhere Geschwindigkeit. Selbstfahrende, Lasten befördernde Dampfschiffe zählten zu den Ausnahmen, während Personendampfer zahlreich in Dienst gestellt wurden. Die Bedeutung der Binnenschifffahrt auf der Weser sank nach 1850, nachdem die Bahnstrecken Hannover–Bremen (1851), Göttingen–Hannoversch Münden (1856, später bis nach Kassel) fertiggestellt waren. Seitdem bestehen durchgehende Eisenbahnverbindungen von Hessen zu den Seehäfen. Die Mittelweser wurde 1915 an den Mittellandkanal angeschlossen und gewann dadurch an Bedeutung. Im 20. Jahrhundert ersetzten Schiffe mit Dieselmotor die Weserdampfer. Die Anzahl von Lastkähnen mit eigenem Antrieb stieg und Schleppverbände wurden von Schubverbänden abgelöst. Der Ausbau der Mittelweser, insbesondere der Schleusen als technischer Engpässe, wurde ungeachtet der steten Bekundung des angeblichen politischen Willens im Bundesministerium für Verkehr zur Verlagerung von Transporten auf die Binnenschifffahrt jahrzehntelang verschleppt. Gründe waren wohl die Bevorzugung des Straßengüterverkehrs und die Verwendung der Steuern aus dem Straßengüterverkehr für allgemeine Haushalte. Frachtschifffahrt Die Weser ist vom Zusammenfluss von Werra und Fulda bis zur Mündung durchgehend schiffbar. Wie groß die Schiffe maximal sein und wie viel Tiefgang sie haben dürfen, ist in den einzelnen Abschnitten unterschiedlich. In welchem Umfang tatsächlich Lastverkehr auf einem Abschnitt stattfindet, hängt auch von diesen Einschränkungen ab. Die Oberweser (Wasserstraßenklasse IV mit Einschränkungen) darf von Schiffen oder Schubverbänden mit einer Höchstlänge von 85 m und einer Höchstbreite von 11 m befahren werden. Der maximal erlaubte Tiefgang ist wasserstandsabhängig. Vom aktuellen Pegelstand muss ein streckenweise unterschiedlicher Sicherheitsabstand abgezogen werden. Dieser beträgt für die Strecken Hann. Münden–Karlshafen 17 cm, Karlshafen–Bodenwerder 5 cm, Bodenwerder–Hameln 28 cm und Hameln–Minden 31 cm. Die Schiffsführer erfragten die Wassertiefe früher beim Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Hann. Münden ab; dieses ging 2020 im Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Weser auf. Der Güterhafen in Hann. Münden wurde in den 1970er Jahren stillgelegt, das Bahnanschlussgleis 1989 abgebaut. Im Juni 2008 nahm die Weserumschlagstelle in Hann. Münden den Hafenbetrieb wieder auf. Seitdem werden dort schwere Maschinenteile von Schwerlasttransporten auf Binnenschiffe verladen und umgekehrt. Voraussetzung dafür ist, dass die Weser genug Wasser für die Schifffahrt führt, was auf der Oberweser nicht immer der Fall ist. Europaschiffe dürfen die Mittelweser zwischen Minden und Bremen bis 85 m Länge und 11,45 m Breite befahren. Schubverbände dürfen 91 m lang und 8,25 m breit sein und maximal 2,50 m Tiefgang haben. Dies entspricht der Wasserstraßenklasse IV mit Einschränkungen. Bis 2012 soll der Weserabschnitt von Weser-km 204,5 in Minden bis km 360,7 beim Fuldahafen Bremen auf Klasse Vb mit Einschränkungen ausgebaut werden. Dann dürfen Großmotorgüterschiffe (GMS) bis 110 m Länge mit maximal 2,50 m Tiefgang diesen Abschnitt befahren. Vom Fuldahafen in Bremen bis zur Eisenbahnbrücke Bremen (UWe-km 1,38) entspricht die Weser bereits Klasse Vb. Hier endet der Geltungsbereich der Binnenschifffahrtsstraßen-Ordnung und beginnt der Bereich der Seeschifffahrtsstraßen-Ordnung, in dem die Weser zur Klasse VIb gehört. Die Stadt Minden baute für die neue Schifffahrtsklasse einen neuen Containerhafen am Wasserstraßenkreuz Minden, um so einen Hinterlandhub zu bekommen. Der RegioPort OWL (OWL = Ostwestfalen-Lippe) ist seit 2019 in Betrieb. Die Unterweser darf auch von Seeschiffen befahren werden, tidenunabhängig mit einem maximalen Tiefgang von 7,5 m im Abschnitt Bremen – Brake, 9 m zwischen Brake und Nordenham und 13,50 m auf der Strecke Nordenham – Bremerhaven. Hinzu kommt ein mittlerer Tidenhub von 3,96 m. Die Vertiefung der Außenweser ab Bremerhaven auf 14,50 Meter wurde 2003 fertiggestellt. Fracht auf der Weser wurde zum Beispiel von der Bremen-Mindener Schiffahrts-AG transportiert, unter anderem Kalisalz. Das Unternehmen ging 1971 durch Fusion in der Fendel Stinnes Schiffahrt AG auf (heute Teil von Rhenus Logistics). Personenschifffahrt Mit dem Aufkommen der Dampfschifffahrt auf der Weser ab 1817 übernahmen Personenschiffe den Transport von Reisenden. Lange Zeit war eine Fahrt mit dem Dampfschiff preisgünstiger als eine Bahnfahrt; die Schiffe wurden bis ins 20. Jahrhundert hinein als tägliches Verkehrsmittel genutzt. 1851 zum Beispiel bot die Oberweser Dampfschifffahrt eine tägliche Talfahrt von Hann. Münden nach Hameln an und wartete in Bad Karlshafen auf die Ankunft der Züge aus Kassel, Marburg und Eisenach. An vier Tagen in der Woche ging von Hameln aus die Fahrt weiter nach Minden und Bremen. An sieben weiteren Tagen im Monat waren die Schiffe der Oberweser Dampfschifffahrt für den Transport von Auswanderern reserviert, die von Bremen oder Bremerhaven aus die Reise in die Vereinigten Staaten und nach Kanada antraten. Die gesamte Fahrzeit von Hann. Münden bis Bremen betrug drei Tage, die Weiterfahrt bis Nordamerika acht bis zehn Tage. Bekannt waren die Schaufelraddampfer Kaiser Wilhelm, Kronprinz Wilhelm ex. Meißen, deren Reste im Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven zu sehen sind und Fürst Bismarck. Auch in heutiger Zeit verkehren auf der gesamten Weser Personenschiffe, ebenso auf der Fulda zwischen Hann. Münden und Kassel. Während die Schiffe auf der Fulda, Ober- und Unterweser zwischen April und Oktober im regelmäßigen Linienverkehr die Anliegergemeinden bedienen, verkehren im Sommerhalbjahr Personenschiffe auf der Mittelweser nur sehr unregelmäßig und bieten vorwiegend eher kurze Ausflugsfahrten an. An die Personenschiffe, die auf der Oberweser verkehren, werden wegen der geringen Wassertiefe besondere Anforderungen gestellt. So darf auf der Strecke Hann. Münden–Bad Karlshafen der Tiefgang 45 cm nicht überschreiten, um auch bei niedrigem Wasserstand den Linienverkehr bedienen zu können. Zum Beispiel hat das 1993 in Dienst gestellte Fahrgastschiff Hessen der Linie 2000 nur einen Tiefgang von 30 cm und besitzt eine nach beiden Seiten ausfahrbare Gangway. An den Anlegestellen, die keine Anlegebrücken mehr haben, ankert das Schiff in der Flussmitte, indem vier Stempel hydraulisch auf den Grund abgesenkt werden. Das derart aufgebockte Schiff verharrt unbeweglich im Wasser. Ein Anlegezwang gegen die Strömung entfällt somit, ebenso das Festmachen am Anleger. Wegen des geringen Tiefganges haben moderne Motorschiffe für die Oberweser vielfach keine herkömmlichen Propeller, sondern Antriebe, die aus dem der Raddampfer weiterentwickelt sind. Da im Sommer oft der größte Touristenandrang mit dem niedrigsten Wasserstand zusammenfällt, wird manchmal rechtzeitig vor dem Wochenende aus den Talsperren der Nebenflüsse die abfließende Wassermenge erhöht. Sportschifffahrt Auf der Weser ist für motorgetriebene Sportboote, bis auf die Stadtgebiete und Schleusenbereiche, eine Höchstgeschwindigkeit von 35 km/h erlaubt. In den Stadtgebieten beträgt die erlaubte Geschwindigkeit 18 km/h zu Tal und 12 km/h zu Berg. Die Weser gilt wegen ihrer relativ geringen Strömung und der hohen erlaubten Geschwindigkeit als ein ideales Gebiet für die Sportschifffahrt. Besonders die Oberweser ist beliebt bei Kanusportlern und Wasserwanderern. Dank der Fließgeschwindigkeit der Weser von durchschnittlich 4,5 km/h bei normalem Wasserstand kann auch der Freizeitsportler längere Strecken ohne übermäßigen Kraftaufwand zurücklegen. Zahlreiche Bootsverleihe bieten neben dem Verleih von Kajaks und Kanadiern auch einen Rückholservice an. Auch unter Ruderern ist die Weser ein sehr beliebtes Gewässer. Es gibt Rudervereine in Hann. Münden, Holzminden, Höxter, Bodenwerder, Hameln, Rinteln, Minden, Stolzenau, Nienburg, Hoya und Bremen. Einmal im Jahr findet auf der Oberweser zwischen Hann. Münden und Hameln die ICF Wesermarathonfahrt statt, an der sich sowohl Ruderboot- als auch Kajak- und Kanufahrer beteiligen. Es können wahlweise 53, 80 oder 135 km absolviert werden. 2006 gingen 1.800 Teilnehmer an den Start. Alle zwei Jahre (ungerade Jahreszahl) wird in Minden das „Blaue Band der Weser“ vom „Ring der Wassersportvereine um die Porta Westfalica“ veranstaltet. Immer am ersten Wochenende im September treffen sich hier Wassersportler aller Art und tragen ihre Wettkämpfe aus. Das gleichzeitig stattfindende Volksfest lockt regelmäßig rund 100.000 Zuschauer an die Weser. Unter dem Motto „Weser in Flammen“ findet am Samstag mit beginnender Dunkelheit der Bootskorso der beteiligten Sportler statt. Wasserstraßenkreuz Minden Am Wasserstraßenkreuz Minden wird der Mittellandkanal nördlich von Minden seit 1914 in einer Trogbrücke über die Weser geführt. Die Brücke wurde 1945 von deutschen Truppen zerstört und in den 1950er Jahren wieder aufgebaut. 1998 kam eine zweite Trogbrücke hinzu, um dem gestiegenen Schiffsverkehr und dem Ausbau des Kanals auf neue, größere Schiffsklassen Rechnung zu tragen. Die alte Brücke wird seitdem nur noch für die Sportschifffahrt benutzt. Vier Schleusen bilden zwei Verbindungen zwischen Weser und Mittellandkanal; sie überwinden eine Höhendifferenz von etwa 13,20 m: Das ist zum einen der Verbindungskanal Nord zur Weser mit der Schachtschleuse und parallel dazu der Weserschleuse, zum anderen der Verbindungskanal Süd zur Weser mit zwei Schleusen und dem auf halber Höhe liegenden Hafenbecken. Am Wasserstraßenkreuz befinden sich zwei Pumpwerke, mit denen Weserwasser in den Kanal gepumpt wird, um dessen Wasserstand konstant zu halten. Durch das Wasserstraßenkreuz Minden erhält die Weserschifffahrt eine direkte Verbindung in Richtung Westen zum Rhein und dem Ruhrgebiet sowie der Ems und nach Osten zur Elbe und über das Wasserstraßenkreuz Magdeburg und den Elbe-Havel-Kanal weiter bis nach Berlin und zur Oder. Schleusen Die Schleusen der Weser sind (flussabwärts betrachtet): Befeuerung der Unterweser Siehe auch Liste der Leuchtfeuer an der Außen- und Unterweser Die ersten Leuchttonnen mit Gasfüllung wurden 1830 mit Hilfe des Tonnenlegers Barsen in der Außenweser eingebracht. 1853 wurde mit dem Bau des großen Leuchtturms an der Schleuse zum Neuen Hafen in Bremerhavener nach den Plänen des Architekten Simon Loschen begonnen. Der neugotische denkmalgeschützte Backsteinturm wurde 1855 fertiggestellt. 1855/1856 wurde der Leuchtturm Hohe Weg gebaut. 1874 wurden die ersten Feuerschiffe in der Außenweser ausgelegt. Der berühmte Leuchtturm Roter Sand in der Außenweser wurde 1885 in Betrieb genommen, 1887 folgten die Leuchttürme auf dem Eversand. 1893 wurde die Leuchtbake Unterfeuer Bremerhaven gebaut und 1907 das Befeuerungssystem der Außenweser durch Auslegen des Feuerschiffes Norderney erweitert und eine erste Leuchtbake an der Robbenplate errichtet, die 1928 durch einen Leuchtturm ersetzt wurde. Es folgten die Leuchttürme Solthörn (1904) und Brinkamahof (1912). 1953 begann man mit ersten Landradarversuchen an Elbe und Weser. 1965 war der Aufbau einer Landradarkette an der Außenweser abgeschlossen. Die provisorische Radarzentrale befand sich zunächst in Weddewarden, ab 1965 in Bremerhaven. 1964 war der Leuchtturm Alte Weser fertiggestellt, und die letzte Besatzung verließ den Leuchtturm Roter Sand. Eine weitere Radarkette und der neue UKW-Betriebsfunk verbesserten ab 1965 die Sicherung der Schifffahrt bei unsichtigem Wetter. 1966 ging der Leuchtturm Tegeler Plate in Betrieb und ersetzte das Feuerschiff Bremen. In diesem Jahr wurden erste Versuche mit der Fernsteuerung im Seezeichenbetrieb durchgeführt, nach deren Abschluss 1973 alle Besatzungen von den Leuchttürmen abgezogen wurden. Im folgenden Jahr begann man mit der Errichtung von Richtfeuerlinien an der Unterweser mit Ober- und Unterfeuer und ab 1975 zusätzlich mit dem Aufbau einer Radarkette zwischen Bremerhaven und Huntemündung. Diese Radarkette wurde 1981 in Betrieb genommen. In den Folgejahren wurden die Radarstationen an der Außenweser nach und nach gegen neuere Technik ausgetauscht oder an andere Standorte verlegt, ab 1989 die Radarkette Unterweser bis Bremen erweitert und dort eine weitere Radarzentrale errichtet. Zuständige Wasserstraßen- und Schifffahrtsämter Durch Zusammenlegungen im Zuge der Reform der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes sind seit 2019 nur noch zwei Ämter für die Weser zuständig: Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Weser, von km 0 bis km 354,2 (Landesgrenze Niedersachsen/Bremen) Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Weser-Jade-Nordsee, von km 354,2 bis zur Ansteuerung der Außenweser nördlich der Insel Wangerooge Kultur und Tourismus Von touristischer Bedeutung ist das Weserbergland mit Hann. Münden, Reinhardswald, Solling, Bad Karlshafen, Höxter, Hameln sowie die verbliebenen Bauwerke aus dem 16. Jahrhundert im Baustil der Weserrenaissance, von denen sich viele entlang der Ober- und Mittelweser befinden. An der Unterweser bietet die Wesermarsch mit den Städten Bremen, Bremerhaven und Brake sowie zahllosen Sielen, Kanälen und reetgedeckten Häusern touristische Höhepunkte. In Bremerhaven gibt es das letzte Strandbad vor der Mündung. Die Weser ist im oberen Wesertal beliebtes Wassersportrevier, im Frühjahr findet der Weser-Marathon, im Herbst die Weserberglandrallye statt. Autofahrer können dem Verlauf der Weser auf der Straße der Weserrenaissance folgen. Weserradweg Im Oberen und Mittleren Wesertal verläuft der circa 500 km lange Weserradweg, inzwischen einer der beliebtesten Radfernwege in Deutschland. Er befindet sich an der Oberweser meist nahe am Wasser, an der Mittelweser oft weitab vom Fluss, unterhalb von Bremen lange Strecken hinter dem Deich, also ohne Wasserblick. Wegen des sehr niedrigen Gefälles der Weser ist er ohne Mehranstrengung auch flussaufwärts zu fahren. Schlösser, Burgen, Klöster Welfenschloss in Hann. Münden, Ursprung 1501, nach einem Brand im Stil der frühen Weserrenaissance 1560 wiedererrichtet, beheimatet es heute das Stadtarchiv, die Stadtbücherei, das Amtsgericht und das Städtische Museum. Jagdschloss Karls von Hessen-Kassel in Veckerhagen, Barock 1690, linke Flussseite ehemaliges Augustinerinnenstift Hilwartshausen, 960 gegründet, Teile erhalten, linke Flussseite Bramburg bei Hemeln, Ruine einer Schutzburg 1063, rechte Flussseite Kloster Bursfelde, 1093 gegründet, heute evangelische Tagungsstätte, romanische Basilika jetzt Simultankirche, rechte Flussseite ehemaliges Benediktinerinnenkloster Lippoldsberg, etwa 1056 gegründet, romanische Pfeilerbasilika erhalten, rechte Flussseite Jagdschloss Nienover auf dem Gemeindegebiet des Flecken Bodenfelde im Solling am Mittellauf des Weserzuflusses Reiherbach gelegen. Zeitweise Staatsbesitz, heute privates Gestüt. Bekannte Filmkulisse unter anderen für Königliche Hoheit 1953. (ehemaliges Benediktinerkloster Helmarshausen, 997 gegründet, Entstehungsort des Evangeliars Heinrichs des Löwen, nicht erhalten, linke Flussseite) Krukenburg in Bad Karlshafen–Helmarshausen, Ruine einer Kirchenburg 1225, linke Flussseite Schloss Würgassen, zu Beverungen, Barock 1698, rechte Flussseite Benediktinerinnenabtei Herstelle, 1899 gegründet, bestehend, linke Flussseite Schloss Wehrden bei Beverungen, Barock 1699, linke Flussseite Schloss Fürstenberg, Weserrenaissance 1590, Porzellanmuseum, rechte Flussseite ehemalige Benediktinerabtei Corvey (zu Höxter), 815 erbaut, 1158 erweitert, Kirche und Kreuzgang erhalten, Wohngebäude im 18./19. Jahrhundert zum Schloss umgebaut, linke Flussseite Tonenburg in Höxter-Albaxen, 1315, linke Flussseite Schloss Bevern, Vierflügelanlage Weserrenaissance 1612, rechte Flussseite Burg Everstein in Polle, Ruine der Aschenputtel-Burg 1265, linke Flussseite ehemaliges Benediktinerinnenkloster Kemnade in Bodenwerder, 960 gegründet, romanische Klosterkirche erhalten, linke Flussseite Damenstift Fischbeck bei Hameln, 955 als Kanonissenstift gegründet, bis auf vierjährige Unterbrechung unter Jérôme Bonaparte kontinuierlich besetzt, Klosterkirche erhalten, rechte Flussseite Burg Schaumburg bei Schaumburg-Rosenthal (Stadtteil von Rinteln) auf dem Nesselberg, Stammsitz der Grafen von Schaumburg und Holstein, rechte Flussseite ehemaliges Kanonissenstift Möllenbeck bei Rinteln, 896 gegründet, erhalten, linke Flussseite Burg Vlotho, Reste einer Wehrburg aus dem 13. Jahrhundert, linke Flussseite Kreuzkirche (Wittekindsberg) (Minden, nahe der Porta Westfalica), vermutlich im Zeitraum 978–996 erbaut. Fundamentreste unter schützendem Überbau. ehemaliges Benediktinerinnenkloster St. Marien in Porta Westfalica, 993 gegründet, wenig später nach Minden verlegt (siehe unten), Reste erhalten, linke Flussseite ehemaliges Benediktinerinnenkloster St. Marien (um 1000), ehemaliges Benediktinerkloster St. Mauritii (1042) und ehemaliges Dominikanerkloster St. Pauli (1233) in Minden, alle bis 1539 aufgelöst, erhalten, rechte Flussseite Schloss Petershagen, Weserrenaissance 1547, linke Flussseite Burg Schlüsselburg, 1335, linke Flussseite In Nienburg ist der Stockturm aus dem 16. Jahrhundert der letzte Rest des Schlosses der Grafen von Hoya. Stiftskirche Bücken, 1050–1350, Kloster mit der Reformation säkularisiert, Glasfenster (13. Jahrhundert), Schnitzaltar (1510), linke Flussseite Schloss Hoya in Grafschaft Hoya, linke Flussseite Schwedenschanze aus dem dreißigjährigen Krieg, Sternschanze im Winkel zwischen Weser und Allermündung, rechte Flussseite Erbhof in Thedinghausen, Weserrenaissance, 1620 als Sitz der (seit 1566 protestantischen!) Erzbischöfe von Bremen gebaut, linke Flussseite Wasserschloss Schönebeck in Bremen-Schönebeck, Fachwerkbau aus dem 17. Jahrhundert, heute Heimatmuseum, rechte Flussseite Haus Blomendal in Bremen-Blumenthal, 1354, Graben und ein Gebäudeflügel erhalten, Deckenmalereien um 1600, rechte Flussseite U-Boot-Bunker Valentin in Bremen-Rekum, 1942–1945 durch 13.000 Häftlinge des KZ Neuengamme errichtet, wobei 6000 umkamen, rechtes Flussufer Dreptersiel, historisches Sieltor aus dem 18. Jahrhundert, wieder zusammengesetzt aus den in den 1990er Jahren bei der Deichsanierung gefundenen Steinen, rechte Weserseite (Friedeburg (Vredenborch) in Nordenham, 1404–1499 Bremer Stützpunkt in Butjadingen, keine Reste mehr sichtbar, linke Flussseite) Markante Aussichtspunkte Tillyschanze in Hann. Münden, Bastion mit Aussichtsturm 1885 erbaut, linke Flussseite Weserliedanlage oberhalb von Hann. Münden, rechte Flussseite Roter Stein am Berghang bei Hilwartshausen nördlich von Gimte, rechte Flussseite Hugenottenturm und Juliushöhe bei Bad Karlshafen, linke Flussseite Weser-Skywalk an den Hannoverschen-, hinzu kommen die Hessischen Klippen zwischen Bad Karlshafen und Würgassen, rechte bzw. linke Flussseite Klütturm bei Hameln, anstelle der 1774–1784 unter König Georg III. erbauten drei Forts, linke Flussseite Klippenturm bei Rinteln, rechte Flussseite Kaiser-Wilhelm-Denkmal in Porta Westfalica, 1896 vollendet, linke Flussseite Porta-Kanzel am Jakobsberg in Porta Westfalica, rechte Flussseite seit 2011 Kräher Höhe bei Nienburg, 64 m über N. N. auf ehemaliger Mülldeponie errichteter künstlicher Hügel, bietet eine schöne Aussicht über das Urstromtal der Mittelweser Weserlieder Oberhalb des in Hann. Münden beim Tanzwerder am Weserstein gelegenen Weserursprungs liegt auf dem Südwesthang des Questenbergs die 1931 errichtete Weserliedanlage mit Aussichtspunkt. Das als Rondell ausgeführte Denkmal erinnert an die Schöpfer des Weserlieds, den Dichter Franz von Dingelstedt und den Komponisten Gustav Pressel. Es hat zwei Bronzetafeln mit den Porträts der beiden, geschaffen von Gustav Eberlein, einem nahe der Stadt geborenen Bildhauer. Eine weitere Tafel enthält den Text des Weserliedes. Es gibt außerdem das Weserbogenlied, als geläufiges Heimatlied in Ostwestfalen-Lippe. Daten zur Infrastruktur Kraftwerke Die Kraftwerke entlang der Weser zur Erzeugung von Elektrizität bilden zwei Gruppen, Wasserkraftwerke die vom Wasser der Weser angerieben werden, und Wärmekraftwerke, bei denen Weserwasser nur zur Kühlung dient. Unter den Wasserkraftwerken bildet dasjenige in Minden einen Sonderfall, da es nicht von Weserwasser angetrieben wird. Wasserkraftwerke an Weserwehren An jeder der acht Staustufen im Verlauf der Weser gibt es ein Wasserkraftwerk. An der obersten (und mit Abstand ältesten) Staustufe in Hameln, in Landesbergen und an der untersten in Bremen liegen Wehr und Kraftwerk in nächster Nachbarschaft zur Schleuse. Bei den übrigen fünf Staustufen liegt nur das Wehr mit dem Kraftwerk im eigentlichen Flusslauf, während die Schleuse mehrere Kilometer entfernt in einen künstlich angelegten Schleusenkanal eingebaut ist. Wasserkraftwerk an einem Zulauf Das Wasserkraftwerk in Minden wird nur betrieben, wenn der Mittellandkanal einen Wasserüberschuss hat, denn es liegt am Ablauf vom Kanal in die Weser. Wärmekraftwerke Von den Wärmekraftwerken an der Weser verbrennen sieben fossile Brennstoffe, eines zusätzlich Biomasse. Ehemals lagen drei Kernkraftwerke an der Weser. Das letzte lag in Grohnde und wurde planmäßig zum Jahresende 2021 abgeschaltet. Brücken, Fähren und Tunnel In der Reihenfolge vom Zusammenfluss von Fulda und Werra bis zur Mündung sind alle Weserquerungen aufgeführt. Bei den Fähren an Ober- und Mittelweser handelt es sich überwiegend um Gierseilfähren. Im Tidenbereich der Unterweser wären Gierfähren durch die periodische Strömungsumkehr unpraktikabel. So gibt es dort nur Motorfähren. Viele Fährverbindungen haben eine lange Tradition. Einzelne sind nach längerer Unterbrechung aus touristischen Gründen reaktiviert worden. Einige Fähren an Ober- und Mittelweser haben recht eingeschränkte Betriebszeiten. Oberweser In Hann. Münden überqueren die B 3 / B 80 auf der 1960 fertiggestellten Weserbrücke die Weser. Die Gierseilfähre Veckerhagen–Hemeln befördert bis zu sechs PKW und ist ganzjährig in Betrieb. Das aktuelle Fährschiff ist im Jahr 2000 vom Stapel gelaufen, die Fährstelle selbst ist seit 1342 nachweisbar. Die Gierseilfähre Oedelsheim fasst zwei PKW und ist nur in den Sommermonaten in Betrieb. Das aktuelle Fährschiff wurde 1997 gebaut. In Gieselwerder quert die L 763 auf der Wolfgang-Stremmel-Brücke, die 1950 als Ersatz für die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Vorgängerin von 1900 errichtet wurde. 60 Jahre lang war hier der südlichste feste Weserübergang. Die Gierseilfähre „Märchenfähre“ Lippoldsberg wurde 1981 gebaut. Sie verkehrt nur in den Sommermonaten und kann drei PKW befördern. Erstmals ist hier um 1300 eine Fähre erwähnt. Die Gierseilfähre Wahmbeck–Gewissenruh wurde 1957 in Dienst gestellt; sie fasst zwei PKW und verkehrt nur in den Sommermonaten. In Bodenfelde-Wahmbeck überquert eine Fahrzeug- und Personenfähre die Weser, die seit 1900 besteht. In Bad Karlshafen ersetzt seit 2019 ein Neubau die am 22. Oktober 1894 eingeweihte Straßenbrücke. Zwischen den Beverunger Ortsteilen Herstelle und Würgassen überquert eine 1432 erstmals erwähnte Gierseil-Personenfähre die Weser. Die Straßenbrücke der k 61 zwischen Herstelle und Würgassen wurde am 21. Oktober 1982 eingeweiht. Die Straßenbrücke der B 241 zwischen Beverungen und Lauenförde wurde 1902 eröffnet, 1945 gesprengt und 1950 wiedererrichtet. Im Beverunger Ortsteil Wehrden überquert eine 1875 erstmals erwähnte Gierseil-Personenfähre die Weser. Bei Wehrden überspannt eine Eisenbahnbrücke der Sollingbahn den Fluss. Bei Boffzen überspannt eine Eisenbahnbrücke den Fluss. Sie wird nicht mehr befahren, seit der Betrieb der Bahnstrecke Holzminden–Scherfede eingestellt wurde. Die Straßenbrücke in Höxter war seit ihrer ersten Errichtung 1115 der erste feste Weserübergang überhaupt. Nach ihrer Zerstörung durch französische Truppen 1673 wurde hier erst im 19. Jahrhundert wieder eine Brücke gebaut. Über sie führt die L 755. Bei Corvey am Ostrand von Höxter überspannt die Eisenbahnbrücke der Bahnstrecke Altenbeken–Kreiensen den Fluss. Die 1977 in Lüchtringen erbaute Straßenbrücke für die K 46 wurde am Ufer parallel zur Weser als Spannbetonkonstruktion hergestellt und dann um 90 Grad eingeschwenkt. In Holzminden gibt es zwei Straßenbrücken, die Altstadtbrücke und die neue Brücke der B 64 (Ortsumfahrungsstraße). In Heinsen besteht eine Fährverbindung. Die Gierseilfähre Polle–Heidbrink wurde 1988 gebaut und befördert bis zu vier PKW. Sie ist ganzjährig in Betrieb. Seit 1905 besteht hier eine Fährverbindung. Direkt östlich von Grave, einem Ortsteil von Brevörde, bestand lange eine Gierseilfähre. Seit 2005 ist hier die solarbetriebene Personenfähre Grave in Betrieb. In Bodenwerder führen eine alte Balkenbrücke mit der L 580, eine neue Spannbetonbrücke mit der Bundesstraße 240 und eine Stahl-Fachwerk-Brücke für die Bahnstrecke Vorwohle–Emmerthal (vollspurig, heute baufällig und nicht mehr genutzt) über die Weser. Zwischen Daspe und Hehlen wird die K 8 über eine Straßenbrücke geführt. In Hajen bestand seit 1389 eine Gierseilfähre, die in jüngerer Zeit maximal zwei PKW befördern konnte. Sie verkehrte nur im Winterhalbjahr, wurde im Jahr 2010 stillgelegt und 2011 schließlich komplett demontiert. Die Gierseilfähre Grohnde wurde um 1930 gebaut. Sie fährt nur im Sommerhalbjahr mit bis zu drei PKW an Bord. Seit 1633 besteht hier am Grohnder Fährhaus eine Fähre. Vom 15. bis zum 17. Jahrhundert führte hier eine hölzerne Brücke über den Fluss. Zwischen Kirchohsen und Hagenohsen führen die Martinibrücke für die L 424 sowie die Eisenbahnbrücke der Bahnstrecke Hannover–Altenbeken über die Weser. In Hameln überspannte seit etwa 1300 eine steinerne Brücke die Weser. Im 19. Jahrhundert wurde dort eine Kettenbrücke errichtet. Im Jahr 1897 kam mit dem Bau der Bahnstrecke nach Lage und Bielefeld eine Eisenbahnbrücke hinzu. Um 1933 wurde die Kettenbrücke durch eine genietete Stahlfachwerkbrücke ersetzt. Beide Brücken wurde am 5. April 1945 von deutschen Pioniereinheiten gesprengt. Schon vier Tage später wurde von den vorrückenden Amerikanern als Behelf eine Pontonbrücke erstellt, die nach dem kommandierenden General als Harrisonbrücke bezeichnet wurde, aber vom Hochwasser 1946 zerstört wurde. Die heutige Alte Brücke wurde im Februar 1946 als Notbrücke wiederhergestellt, 1948 bis 1950 wurden die fehlenden Brückenteile der alten Brücke durch eine Balkenbrücke ersetzt. Bis 1947 war auch die Eisenbahnbrücke der Bahnstrecke Bielefeld–Hameln wieder aufgebaut worden. Da diese Brücken aber für die damals kaum mobile Bevölkerung einen großen Umweg bedeutete, wurde am 12. August 1950 zwischen der Fischbecker Straße und dem Breiten Weg ein Personenfährbetrieb aufgenommen, die den Fußgängern für 15 Pfennig Fährgeld mindestens 30 Minuten Fußweg ersparte. Zunächst war in Planung, die anfangs als Kahnbetrieb betriebene Fähre durch eine Motorfähre zu ersetzen. Da die Motorisierung und Mobilität der Bürger aber zunahm und sich schon bald auf die wiederhergestellte Brücke verlagerte, wurde der Fährbetrieb am 15. Februar 1971 aus Rentabilitätsgründen eingestellt. Bereits in den 1960er Jahren begannen die Planungen für die Thiewallbrücke, die 1975 zur Altstadtentlastung gebaut wurde und seitdem die B 83 über die Weser führt. Ab 1988 wurde die Eisenbahnbrücke nach der Stilllegung des Eisenbahnverkehrs zunächst als Fußgängerbrücke genutzt, 1998 aber wegen Baufälligkeit geschlossen. 2003 wurde die Alte Brücke, über die die B 1 führt (auch Münsterbrücke genannt), grundlegend renoviert. 2011 wurde der Westteil der Brücke, 2012/2013 die restliche Brücke völlig erneuert. Von der Altstadt führt eine Fußgängerbrücke zur Weserinsel Werder. Auf der Straßenbrücke von Hessisch Oldendorf wird die L 434 über die Weser geführt. Die Gierseilfähre Großenwieden–Rumbeck wurde 1960 gebaut und fasst bis zu 4 PKW. Sie verkehrt ganzjährig. Hier besteht seit 1617 eine Fährverbindung. In Rinteln gibt es zwei Straßenbrücken für die Umfahrungsstraße B 238 sowie die L 435. Die Straßenbrücke bei Eisbergen wurde 1927 erbaut. Die Weserfähre Veltheim/Varenholz ist nachweislich erstmals im Jahr 1661 erwähnt. Im Rahmen eines Militärmanövers ereignete sich am 31. März 1925 in der Nähe der Fähre ein schwerer Unfall. 81 Soldaten fanden den Tod. Zwischen Vlotho und Uffeln (Vlotho) überspannen seit 1928 eine Straßenbrücke (im Verlauf der heutigen L 778) und seit 1875 die Eisenbahnbrücke der Bahnstrecke Elze–Löhne die Weser. Fährbetrieb gab es hier schon seit spätestens 1423 bis 1937 sowie in den Jahren 1945 bis 1951, nachdem die Straßenbrücke vor Kriegsende von deutschen Pionieren gesprengt worden war. Die Weserquerung der A 2/E 30 bei Bad Oeynhausen-Rehme besteht aus je einem Brückenbauwerk für jede Fahrtrichtung. Einen halben Kilometer flussabwärts überquert die Bahnstrecke Hamm–Minden den Fluss. Die erste Brücke hier wurde 1847 von der Cöln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft gebaut, später beim viergleisigen Ausbau eine zweite daneben gestellt. Nach Zerstörung 1945 erfolgte die Wiederherstellung zunächst zweigleisig, erst seit 1984 ist die Brücke wieder viergleisig. Ebenfalls in Rehme fährt die seit 1988 bestehende Personenfähre Amanda über die Weser. Ein früherer Fährstandort hier war wenige hundert Meter weiter flussauf gelegen (Seilfähre). Das erste Bauwerk für eine Querung an der Porta Westfalica war eine Kettenhängebrücke aus dem Jahr 1865. Zuvor hatte hier lange die Fähre Porta Dienst getan. Diese übernahm auch den Dienst, als zu Kriegsende die Brücke 1945 gesprengt wurde. Sie stellte ihren Dienst mit dem Neubau der Brücke wieder ein. Am 29. Mai 1954 folgte eine Stahlbrücke als Straßenüberführung (L 780) – der seinerzeit größte voll verschweißte Stahlüberbau Deutschlands. Im Jahr 1995 wurde im Rahmen eines Schnellstraßenbaues diese Brücke durch eine etwas weiter südlich erbaute Stahlverbundbrücke ersetzt. Etwa einen Kilometer nördlich hiervon steht eine ehemalige Eisenbahnbrücke, die sogenannte Grüne Brücke Neesen. 1938 zum Erztransport gebaut, wurde sie 1976 stillgelegt. Heute ist sie eine Ruine und weder begeh- noch befahrbar. In Minden überqueren sieben Brücken die Weser, davon drei Straßenbrücken, nämlich die Theodor-Heuss-Brücke mit der Umfahrungsstraße Bundesstraße 65, die Stadtbrücke Minden mit der L 534 und die Nordbrücke (Gustav-Heinemann-Brücke) mit der L 764, eine Eisenbahnbrücke für die Mindener Kreisbahnen, die Glacisbrücke Minden als Fußgängerbrücke und zwei Kanalbrücken des Mittellandkanals, die Alte Kanalbrücke Minden und die Neue Kanalbrücke Minden am Wasserstraßenkreuz Minden. Die älteste hölzerne Weserbrücke in Minden wurde bereits 1232 erwähnt und 1594–1597 durch eine Steinbrücke ersetzt. Diese Steinbrücke wurde 1813 von französischen Truppen gesprengt, später notdürftig repariert und 1871–1874 durch eine Eisenbrücke ersetzt. Am 11. Mai 1915 wurde eine neue Weserbrücke ohne Pfeiler eröffnet, die 1945 gesprengt und bis 1947 wieder instand gesetzt wurde. Ab 1969 wurden zwei neue Straßenbrücken nördlich (Nordbrücke, jetzt Gustav-Heinemann-Brücke) und südlich (B 65) des Stadtzentrums erbaut. Mittelweser An der Staustufe Petershagen ist, außer im Winter, die Querung zu Fuß und bedingt (Treppen) mit Rad möglich. Die Straßenbrücke (L 770) bei Petershagen wurde 1970 erbaut. Zwischen Hävern und Windheim verkehrt seit 2002 die Solar-Fähre Petra Solara für Fußgänger und Fahrradfahrer an der Stelle einer im Zusammenhang mit dem Bau der Petershagener Weserbrücke aufgegebenen Fähre. Der Fährbetrieb ist meist auf Wochenenden und Feiertage beschränkt und wird durch einen Verein aufrechterhalten. Bei Schlüsselburg quert die K 1 auf einer Straße im Zuge der 1956 errichteten Staustufe Schlüsselburg die Weser. Die Bundesstraße 441 und die B 215 werden zusammen bei Stolzenau durch eine Straßenbrücke über die Weser geführt. In Höhe des Ortskerns von Landesbergen führt eine Straßenbrücke über die Weser. Etwas weiter nördlich kann die Staustufe Landesbergen mit Kraftfahrzeugen überquert werden. In Nienburg überqueren vier Brücken die Weser, davon zwei Straßenbrücken, eine Eisenbahnbrücke (Bahnstrecke Rahden–Nienburg) und eine Fußgängerbrücke. Die älteste, noch aus Holz erbaute Straßenbrücke wurde 1715–1723 durch eine Steinbrücke ersetzt. Diese Steinbrücke wurde 1903 abgerissen, weil die engen Brückenbögen ein Hindernis für den immer stärker werdenden Schiffsverkehr darstellten. An dieser Stelle wurde 1905 eine Fußgängerbrücke gebaut, die 1945 zerstört und erst 1999 durch eine Neukonstruktion, die Wesertorbrücke, ersetzt wurde. Die neue Straßenbrücke wurde 500 Meter weiter weserabwärts erbaut. Bis zum Bau der Umgehungsstraße 1982 führte über diese die Bundesstraße 6. Bei Drakenburg quert die K 2 auf einer Straßenbrücke die Weser an der Staustufe Drakenburg mit Kraftwerk und Bootsschleuse. Die Hochseil- und Kettenfähre Schweringen wurde 1999 gebaut und ersetzte damit die in die Jahre gekommene Gierseilfähre. Bis zu vier PKW können befördert werden. Sie ist von Anfang November bis Ende Februar außer Betrieb. Zwischen Bücken (Stendern) und Eystrup (Düveleistraße) existiert ein Anleger mit Panzerstraße für eine Pontonbrücke. Die Straßenbrücke (L 330) in Hoya entstand 1883 zeitgleich mit der vollspurigen Eisenbahnbrücke der Kleinbahnstrecke Hoya–Eystrup. An der Staustufe Dörverden können Radfahrer und Fußgänger zwischen dem 15. März und 15. Oktober die Weser überqueren. Die Straßenbrücke (L 203) in Groß-Hutbergen bei Verden wurde 1884 erbaut und war lange Zeit die einzige Weserbrücke im Landkreis Verden. Die Straßenbrücke (K 9) im Zuge der Staustufe Langwedel wurde 1958 eröffnet und für leichte Kraftfahrzeuge bis maximal sechs Tonnen freigegeben. Die Straßenbrücke (L 156) zwischen Achim-Uesen und Thedinghausen-Werder wurde am 28. August 1928 eröffnet. An dieser Brücke wurden 1966 Szenen von Richard Lesters Antikriegsfilm „Wie ich den Krieg gewann“ gedreht. In dem Film, der hauptsächlich durch die Mitwirkung von John Lennon Popularität erlangte, verkörpert die Ueser Brücke eine Rheinbrücke. Es bestehen mehrere Weserquerungen in Bremen: Die Eisenbahnbrücke der Bahnstrecke Bremen–Osnabrück, ohne Geh- und Radweg bei Weser-Km 357,200 Die Autobahnbrücke der A 1 Hansalinie/E 22 bei Arsten (Weser-Km 358,500) von 1962 mit der Verbreiterung von 1978 auf sechs Fahrstreifen. 2008 wurde in beiden Richtungen die Standstreifen aufgegeben zugunsten von nunmehr acht Fahrstreifen. Diese Brücke liegt mit ihrem etwas kürzeren Südwestteil in Niedersachsen und ist von beiden Seiten mit Kraftfahrzeugen nur über bremisches Gebiet anfahrbar; die Landesgrenze verläuft unterhalb der Brücke in der Wesermitte. Eine Fußgänger- und Radfahrerquerung über das Weserwehr in Hastedt bei Weser-Km 362,100 Hinzu kommen mehrere Fähren Unterweser Die Karl-Carstens-Brücke (bis 1999 offiziell Werderbrücke, umgspr. Erdbeerbrücke), verbindet als Straßenbrücke die Stadtteile Hemelingen und Obervieland (Weser-Km 362,950). Die motorgetriebene Sielwallfähre verbindet die Östliche Vorstadt mit dem Stadtwerder zwischen Weser und Werdersee. Sie transportiert Fußgänger und Fahrräder (Weser-Km 365,400). Die Große Weserbrücke (Wilhelm-Kaisen-Brücke) wurde 1960 eröffnet (Weser-Km 366,670). Über sie führt die in diesem Bereich mittlerweile herabgestufte B 75. Nur 50 m flussabwärts hatte es seit dem Mittelalter Bremens einzige Brücke über die Weser gegeben (erste Erwähnung 1244). Bis Ende des 19. Jahrhunderts musste die kleine Weser, südlich des Teerhofes, 200 Meter flussabwärts versetzt auf der Brautbrücke überquert werden. Die 1993 eröffnete Teerhofbrücke als Fußgänger- und Radwegbrücke und die anschließende Brautbrücke (Fuß und Rad, etwas westlich der historischen Brückenstelle) verbinden die Bremer Altstadt und Neustadt miteinander (Unterweser-Km 0,400). Die Bürgermeister-Smidt-Brücke wurde 1872/1875 als Bremens zweite Straßenbrücke über die Weser gebaut, sie hieß damals Kaiser-Wilhelm-Brücke. Von 1950 bis 1952 wurde die im Krieg stark beschädigte stählerne Bogenbrücke durch die jetzige Stahl-Balkenbrücke ersetzt (Unterweser-Km 0,625). Die 196 m lange Stephanibrücke von 1965 (Überbau oberstrom) bzw. 1967 (Überbau unterstrom) stellt die Verbindung Bremen–Delmenhorst als Kraftfahrstraße (B 6, dann B 75) dar. Die ursprüngliche Westbrücke wurde 1936–1939 an dieser Stelle erbaut und 1944 durch Bomben zerstört. Fuß- und Radverkehr werden hier beiderseits in Höhe der Stahlträger geführt, eine Etage tiefer als der Kraftverkehr (Unterweser-Km 1,250). Dieser Abschnitt der B 6 ist (Straßenverkehrszählung 2005) nach der B 2R in München die meistbefahrene Bundesstraße Deutschlands (knapp 100.000 Fahrzeuge pro Tag). Die Eisenbahnbrücke der Bahnstrecke Bremen–Oldenburg, die letzte Weserbrücke und bis zum Bau des Wesertunnels Dedesdorf die letzte feste Weserquerung, wurde 1867 errichtet, im März 1945 zerstört und bis zum Dezember 1946 wieder notdürftig repariert. Im Mai 1962 ersetzte eine neue Fachwerkbrücke das eingleisige Provisorium aus der unmittelbaren Nachkriegszeit (Unterweser-Km 1,3759). Zwischen dem Lankenauer Höft in Bremen-Rablinghausen, dem Einkaufszentrum Waterfront in Bremen-Gröpelingen und dem Molenturm in der Überseestadt besteht am Wochenende eine saisonale Dreiecks-Fährverbindung. Zwischen Bremen-Seehausen und der anderen Weserseite ist ein Tunnelbau im Zuge der A 281 in Planung, wodurch der Autobahnring um Bremen geschlossen werden soll. Die Fähre zwischen Lemwerder und Bremen-Vegesack besteht seit dem 13. Jahrhundert. Sie verkehrt tagsüber im Zehn-Minuten-Takt. Die heutige Motorfähre, das Fährschiff Vegesack wurde 1992 gebaut und befördert bis zu 32 PKW. Während der Hauptverkehrszeit wird eine zweite Fähre, das Fährschiff Lemwerder, eingesetzt (Unterweser-Km 20,500). Die Verbindung von Bremen-Blumenthal nach Motzen wird ganzjährig mit der 1975 in Dienst gestellten Fähre Rönnebeck bedient. 2004 wurde ihr Fassungsvermögen von 22 auf 25 PKW erhöht (Unterweser-Km 22,000). Mit der Fähre von Berne nach Bremen-Farge wird die B 74 über die Weser geführt. Das Fährschiff Juliusplate, 1995 gebaut, kann bis zu 26 PKW befördern und ist auch für Gefahrgut und Schwerlasttransporte ausgelegt. Zu den Hauptverkehrszeiten wird auch hier eine zweite Fähre eingesetzt, die 1983 gebaute Berne-Farge mit Platz für circa 18 PKW (Unterweser-Km 25,300). Die Fähren in Vegesack, Blumenthal und Farge sind seit 1993 zu der Fähren Bremen–Stedingen GmbH (FBS) zusammengeschlossen. Von Brake auf die Weserinsel Harriersand und zurück befördert das Motorschiff Guntsiet Personen und Fahrräder (Unterweser-Km 39) Zwischen Brake-Golzwarden und Sandstedt transportiert die 1964 gebaute Motorfähre Kleinensiel bis zu 22 PKW. Sie ist auch für Schwerlastverkehr und Gefahrgut zugelassen. Ihr Betrieb war 2004/2005 durch die Konkurrenz des Wesertunnels gefährdet. Nicht nur die Stadt Brake hatte Interesse, sie zu erhalten. Als SBS (Schnellfähre Brake–Sandstedt) privatisiert, fährt sie jetzt gut ausgelastet einen dichteren Takt (20-Minuten-Takt) als vor Tunneleröffnung (Unterweser-Km 43). Der Wesertunnel Dedesdorf–Kleinensiel wurde 2004 im Vorgriff einer möglichen Verlängerung der A 22 fertiggestellt. Die Fähre Dedesdorf–Kleinensiel wurde bei Tunneleröffnung eingestellt (Unterweser-Km 52). Weserfähre Bremerhaven–Nordenham: Heute verkehren zwischen Bremerhaven und Nordenham-Blexen die Fähren Nordenham und Bremerhaven, die jeweils 300 Personen und auch Fahrzeuge bis hin zu Schwertransportern befördern können. Auf der neuen Weserfähre Bremerhaven dürfen nach vorheriger Anmeldung auch Gefahrgüter transportiert werden. Die Weserfähren können auch für Spezialfahrten (Partyschiff) gechartert werden (Unterweser-Km 64–66). Eisenbahnstrecken am Weserlauf Im Gegensatz zum (Mittel- und Ober-) Rhein, dessen Flusslauf auf weiten Strecken beidseitig von Eisenbahnstrecken begleitet wird, gibt es entlang der Weser keine durchgehende Eisenbahnlinie. Das Tal der Oberweser war wirtschaftlich weniger interessant und durch seine Grenzlage für die Königlich Hannöverschen Staatseisenbahnen keine Alternative zur Hannöverschen Südbahn durch das Leinetal. Trotzdem fehlte an einer durchgehenden Bahnverbindung Kassel–Holzminden durch das untere Diemel- und Wesertal nur der Kilometer zwischen den damals zwei Karlshafener Bahnhöfen (der Carls- und Sollingbahn). Auch im westwärts laufenden Talabschnitt unterhalb von Hameln gibt es eine Wesertalbahn (Richtung Rinteln). An der Mittelweser existiert ein durchgehender Schienenweg, bestehend aus Teilen der Strecken Hannover–Bremen und Minden–Rotenburg (–Hamburg). Parallel zur Unterweser gibt es beidseits Bahnstrecken, teilweise in mehr als 10 km Abstand vom Fluss, da der weiche Marschboden keinen geeigneten Untergrund für Bahntrassen ermöglichte. Wesernahere Lokalbahnen haben dort keinen Personenverkehr mehr oder wurden ganz abgebaut. Folgende Teilabschnitte meist kreuzender Bahnstrecken verlaufen im Bereich des Flusses: Strecke: Northeim–Ottbergen, Teilstück Bodenfelde–Wehrden mit Halt in Bodenfelde, Bad Karlshafen und Lauenförde–Beverungen („Sollingbahn“) Strecke: Paderborn–Altenbeken–Kreiensen, Teilstück Godelheim–Holzminden mit Halt in Godelheim, Höxter, Lüchtringen und Holzminden („Egge-Bahn“) Strecke: Paderborn–Altenbeken–Bad Pyrmont–Hannover (Hannoversche S-Bahn, „Altenbeken–Hannover“) Strecke: Vorwohle–Bodenwerder–Emmerthal, Teilstück Bodenwerder-Linse–Bodenwerder-Kemnade („Vorwohle-Emmerthaler Eisenbahn“), Museumsverkehr Strecke: Hildesheim–Löhne, Teilstück Hameln–Bad Oeynhausen mit Halt in Hameln, Hessisch Oldendorf, Rinteln, Vlotho und Bad Oeynhausen Süd („Weserbahn“ *) Strecke: Osnabrück/Dortmund–Hannover, Teilstück Bad Oeynhausen–Minden mit Halt in Bad Oeynhausen, Porta Westfalica und Minden („Bahnstrecke Hamm–Minden“) Strecke: Minden–Nienburg–Rotenburg (Wümme), Teilstück Minden–Nienburg–Verden mit Halt in Minden, Petershagen-Lahde, Leese–Stolzenau, Nienburg, Eystrup, Dörverden sowie Verden („Bahnstrecken Minden–Nienburg“ und „Verden–Rotenburg“) Strecke: „Hannover–Bremen“, Teilstück Nienburg–Bremen mit Halt in Nienburg, Eystrup, Dörverden, Verden, Langwedel, Etelsen, Baden, Achim und Bremen Strecke: „Bremen–Nordenham“ Teilstück Hude–Nordenham mit Halt in Berne, Elsfleth, Brake, Rodenkirchen, Kleinensiel und Nordenham (*) nicht zu verwechseln mit „Weserbahn“ als historischem Namen der Bahnstrecke Bremen–Oldenburg Weserinseln und Nebenarme Ober- und Mittelweser Am Zusammenfluss von Werra und Fulda zur Weser befinden sich in Hann. Münden die Flussinseln Tanzwerder (mit dem Weserstein) und Doktorwerder. Die beiden Weserinseln Schleusenwerder und Werder in Hameln sind zusammen 800 m lang. Auf den Inseln befinden sich Gebäude, die gastronomisch genutzt werden, und eine Schleusenanlage. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges arbeiteten dort zwei Getreidemühlen (Fabriken). In Minden wird 2019 die Stadtblänke Minden geschaffen, die dem Biotop- und Hochwasserschutz dient. Bei Landesbergen befindet sich in Höhe der Staustufe eine Weserinsel. Unterweser und Außenweser Der Peterswerder in Bremen bestand aus zwei kleinen Inseln im rechten Deichvorland, wo heute das Weserstadion steht und damals der Sommerdeich der Pauliner Marsch auf den Eisenrads Deich stieß, der flussaufwärts dieser Stelle weiter landeinwärts als der heutige Osterdeich verlief und an der Grenze zu Hastedt an die Bremer Düne anschloss. Gegenüber von Pauliner Marsch und Peterswerder liegt der 4,3 km lange Stadtwerder. Er ist keine echte Insel, denn schon seit Jahrhunderten war vom südlichen Weserarm Kleine Weser im oberen Teil nur eine Flutrinne übrig. Der Werdersee mit der unzugänglichen Vogelinsel wurde nach der Sturmflut 1962 als Flutrinne neu ausgehoben. Der Erdaushub wurde zur Aufschüttung des Friedhofes Huckelriede verwendet. Nachdem beim Januarhochwasser 1981 die Bewährungsprobe mit der Ableitung des Schmelzhochwassers durch den oberen Teil der Flutrinne wegen fehlerhafter Auslegung gescheitert war, wurde sie vergrößert und der Werdersee verlängert und außerdem der Stadtwerder auf der Südseite durch einen neuen Sommerdeich geschützt. Der naturähnlich angelegte Werderseezuleiter für die Frischwasserzufuhr aus der Mittelweser führt durch den Stadtwerder. Auf dem Stadtwerder liegen die Hochschule für Nautik, mehrere Kleingartengebiete sowie Strandbäder an der Weser und am Werdersee. In Bremen wurde im Lauf des Mittelalters der schmale flussabwärtige Teil des Stadtwerders durch Verteidigungsgräben zwischen Weser und Kleiner Weser abgetrennt. So entstanden die Inseln Brautwerder mit der Bastion „Braut“ und flussabwärts daran anschließend der Teerhof, im Mittelalter Werftgelände. Heutzutage ist dieses Gebiet wieder mit dem Stadtwerder verbunden. Auf dem Teerhof steht, nur von der Bürgermeister-Smidt-Brücke von seiner Spitze getrennt, die Neue Museum Weserburg, eines der größten Museen für Gegenwartskunst in Deutschland. Zwischen der Stephanibrücke und der Einmündung des Hohentorshafens in Bremen befindet sich in etwa der Mitte des Flusses ein knapp 1 km langer und bis zu 7 m breiter künstlich aufgeschütteter Wall, der inzwischen vegetationsbestanden ist. Auf diesem Wall befinden sich je ein Pfeiler der Stephanibrücke und einer Eisenbahnbrücke der Bahnstrecke Bremen–Oldenburg. Um den Zeitpunkt der Tidenspitze ist dieser Wall manchmal leicht überflutet und lediglich die Vegetation ragt aus der Weser. Eine kleine und nicht bebaute Weserinsel befindet sich in Bremen zwischen dem Kap-Horn-Hafen und dem Wendebecken Neustadt. Zur Reduzierung des Bewuchses wird die Insel im Sommer von Ziegen beweidet, weshalb sie von der Lokalpresse inzwischen als „Ziegeninsel“ bezeichnet wird. Anfangs war dies lediglich eine Halbinsel, was jedoch zu erheblichen Ablagerungen von Sedimenten in der Hafeneinfahrt führte. Seit dem Durchstich hat sich dieses Problem erledigt. Die Insel ist jedoch weiterhin mit einer Spundwand mit der Landschaft am Lankenauer Höft verbunden. Gegenüber liegt die mit Pappeln bestandene Werftinsel (Shipyard Island), eine Insel, die wenige Jahre vor der Schließung der Werft AG Weser nach Durchstich aus der Hafenmole des Werfthafens entstand. Bis zum Bau des Huntesperrwerks 1967–1969 war die Westergate ein bedeutender linker Nebenarm der Weser, in den die Hunte mündete. Von den zwischen Hauptstrom und Westergate gelegenen Inseln ist diejenige namens Weserdeicher Sände immer noch eine echte Insel. Der Elsflether Sand vor Elsfleth ist seither eine Halbinsel, die vom Weserdeich und einem 3,1 km langen Radweg durchzogen wird. Sie ist über den Weserdeich und das Huntesperrwerk zugänglich. Harriersand gegenüber Brake-Harrien ist etwa 11 km lang und damit die längste Insel der Weser. Sie liegt östlich des Hauptstroms und ist durch den Rechten Nebenarm vom Hammelwarder Sand getrennt, einer ehemaligen weiteren Weserinsel, heute nur noch zwischen Winterdeich und Sommerdeich gelegenes Vorland der Osterstade genannten Marsch am rechten Weserufer. Der Harriersand ist seit dem Jahr 1830 besiedelt. Vor der zweiten Weserkorrektion 1924–1932 bestand sie noch aus sieben kleinen, voneinander getrennten Inseln. Harriersand ist von Brake aus mit der Personenfähre Guntsiet und von Rade aus über eine Straßenbrücke zu erreichen. Diese Insel hat lediglich einen Sommerdeich auf der Nordseite und auf der Südseite einen der wenigen naturbelassenen Sandstrände an der Weser. Die Häuser liegen wie die Hallighäuser auf einer kleinen Hauswarft. Diese werden bei jeder stärkeren Sturmflut zu Miniinseln. Vor dem Ort Rodenkirchen (Gemeinde Stadland) liegt westlich des Hauptstroms die Strohauser Plate. Sie ist vom Stadland auf dem linken Weserufer durch den Weserarm Schweiburg getrennt. Die als Natura-2000-Gebiet geschützte Weserinsel dehnt sich in Nord-Süd-Richtung über 6 km und in Ost-West-Richtung an der breitesten Stelle über 1,3 km aus und darf nur im Rahmen von geführten Exkursionen betreten werden. Die ehemalige Flussinsel „Tegeler Plate“ im Deichvorland bei Dedesdorf dient als ökologische Kompensationsfläche für das Containerterminal III in Bremerhaven. Zu dem Zweck wurde der Sommerdeich aus den 1920er Jahren teilweise wieder abgetragen. Der alexandrinische Geograf Claudius Ptolemaeus erwähnte in seiner Schrift Γερμανίας Μεγάλης θέσις (Germanias Megalis Thesis, „Karte Großgermaniens“) an der Wesermündung den Ort Τεκελία (Tekelía). Die ehemalige Flussinsel „Luneplate“ bei Bremerhaven wurde eingedeicht und gehört nun zum Festland. Sie war bis dahin die größte Insel in der Weser. Der 1924/25 angelegte Deich wurde in den 1970er Jahren verstärkt, und die Luneplate sollte Gewerbegebiet werden. 2003/04 wurden große Teile wieder vernässt als ökologische Ausgleichsmaßnahme für den Ausbau des Containerterminals IV im Norden von Bremerhaven. Normale Tiden strömen jetzt durch Sieltore bis zum alten Deich. Der neue Deich dient nur noch dem Schutz vor schweren Hochwassern. Wesermündung: Die kleinen Inseln Langlütjen I und Langlütjen II gegenüber von Bremerhaven-Weddewarden wurden in den Jahren 1876 bis 1880 als kaiserliche Forts ausgebaut. Während beider Weltkriege wurden die Bollwerke mit starken Abwehrgeschützen versehen. Von September 1933 bis Januar 1934 befand sich auf Langlütjen II ein Konzentrationslager. Brinkamahöft vor Weddewarden, ebenfalls mit einem kleinen Fort, wurde im Zuge des Ausbaus des Containerterminals IVa eingeebnet und in die Hafenfläche einbezogen. Tegeler Plate (namensgleich mit der ehemaligen Unterweserinsel bei Dedesdorf) und Robbenplate sind Sandbänke, also Wattflächen, zwischen den beiden Armen der Außenweser. Kleine Teilflächen sind im Sommer durchweg trocken und dienen den Robben als Ruhefläche und Kinderstube für die Heuler. Siehe auch Liste von Flüssen in Deutschland Liste der Leuchtfeuer an der Außen- und Unterweser Literatur Geologie Karsten Meinke: Die Entwicklung der Weser im Nordwestdeutschen Flachland während des jüngeren Pleistozäns. Diss., Göttingen 1992. Mit Bodenprofilen der Weserstädte. Gerd Lüttig: Zur Gliederung des Auelehms im Flußgebiet der Weser. In: Eiszeitalter und Gegenwart. Band 11, Öhringen 1960, S. 39–50. Ludger Feldmann und Klaus-Dieter Meyer (Hrsg.): Quartär in Niedersachsen. Exkursionsführer zur Jubiläums-Hauptversammlung der Deutschen Quartärvereinigung in Hannover. DEUQUA-Exkursionsführer, Hannover 1998, S. 89 ff. Hans Heinrich Seedorf und Hans-Heinrich Meyer: Landeskunde Niedersachsen. Natur und Kulturgeschichte eines Bundeslandes. Band 1: Historische Grundlagen und naturräumliche Ausstattung. Wachtholz, Neumünster 1992, S. 105 ff. Ludger Feldmann: Das Quartär zwischen Harz und Allertal mit einem Beitrag zur Landschaftsgeschichte im Tertiär. Papierflieger, Clausthal-Zellerfeld 2002, S. 133ff und passim. Ludger Feldmann: Als Springe an der Weser lag – die geologische Geschichte der Deisterpforte. In: Springer Jahrbuch 2011 für die Stadt und den Altkreis Springe, Förderverein für die Stadtgeschichte von Springe e. V., Springe 2011, S. 10–22, 209–211. Helmut Seger: Leuchtfeuer Bremen-Bremerhaven. OCEANUM. Das maritime Magazin Spezial. ISBN 978-3-86927-606-9. Archäologie Bremer Archäologische Blätter, Beiheft 2/2000 zur gleichnamigen Ausstellung im Focke-Museum: Siedler, Söldner und Piraten, Chauken und Sachsen im Bremer Raum, © Der Landesarchäologe Bremen, . Bremer Archäologische Blätter, Beiheft 3/2004 zur gleichnamigen Ausstellung im Focke-Museum: Gefundene Vergangenheit, Archäologie des Mittelalters in Bremen, © Der Landesarchäologe Bremen, ISBN 3-7749-3233-6. (wg. Geschichte des Weserarms Balge) Kunstgeschichte Ernst Wolfgang Mick: Die Weser (Deutsche Lande – Deutsche Kunst). München/Berlin 1962 Flussgeschichte Georg Bessell: Geschichte Bremerhavens. Morisse, Bremerhaven 1927, 1989. Heinz Conradis: Der Kampf um die Weservertiefung in alter Zeit. In: Bremisches Jahrbuch, Band 41, Bremen 1944. J. W. A. Hunichs: Practische Anleitung zum Deich-, Siel- und Schlengenbau. Erster Theil, von den Sielen. Bremen 1770. Die Kanalisierung der Mittelweser. Herausgegeben von der Mittelweser AG, Carl Schünemann Verlag, Bremen 1960. Kuratorium für Forschung im Küsteningenieurswesen: Die Küste. In: Archiv für Forschung und Technik an der Nord- und Ostsee. Boyens, Heide 51.1991. M. Eckholdt (Hrsg.), Flüsse und Kanäle, Die Geschichte der deutschen Wasserstraßen, DSV-Verlag 1998 Annette Siegmüller: Struktur und Funktion von Landeplätzen und Ufermärkten im 1. Jahrtausend n. Chr. an der unteren Weser und der unteren Ems. In: Norbert Fischer, Ortwin Pelc (Hrsg.): Flüsse in Norddeutschland. Zu ihrer Geschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Wachholtz, Neumünster 2013, S. 441–459. Flussbeschreibung Karl Löbe: Das Weserbuch. Niemeyer, Hameln 1968. Nils Aschenbeck, Wolf Dietmar Stock: Eine Flussfahrt von der Aller bis zur Nordsee. Atelier im Bauernhaus, Fischerhude 1998, ISBN 3-88132-350-3. Manfred Below: Die Weser. Vom Thüringer Wald bis zur Nordsee. 2. Auflage. Edition Temmen, Bremen 2011, ISBN 978-3-86108-965-0. Weblinks Umwelt Niedersachsen – Flächenverzeichnis Weser (Gewässerkennzahlen und Einzugsgebiete) Pegelstände der letzten 30 Tage – Porta Westfalica Die Umsetzung der EU-Wasserrahmenrichtlinie im Bearbeitungsgebiet der Weser in NRW Informationen für die Sportschifffahrt auf der Weser mit „Beschreibung der Weser von Fluss-Km 0,0 bis Fluss-Km 213,49“ Die Weser und ihr Gewässereinzugsgebiet in Westfalen (LWL) (Artikel) Einzelnachweise Weser Fluss in Hessen Fluss in Nordrhein-Westfalen Bundeswasserstraße
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rodgau
Rodgau
Rodgau ist die einwohnerstärkste Stadt im Landkreis Offenbach in Hessen und liegt südöstlich von Offenbach am Main im Rhein-Main-Gebiet. Sie entstand 1979 aus der Großgemeinde Rodgau, die 1977 im Rahmen der Gebietsreform in Hessen durch den Zusammenschluss von fünf bis dahin selbständigen Gemeinden gebildet wurde. Die Geschichte der heutigen Stadtteile reicht bis ins 8. Jahrhundert zurück. Sitz der Stadtverwaltung ist der zentral gelegene Stadtteil Jügesheim. Geographie Geographische Lage Rodgau ist Teil des Ballungsraumes Rhein-Main-Gebiet, eines der wirtschaftlich stärksten Gebiete Deutschlands. Der 50. Breitengrad verläuft genau durch den Puiseaux-Platz in Nieder-Roden. Es liegt in der Untermainebene, dem nördlichen Ausläufer der Oberrheinischen Tiefebene. Das flache direkte Einzugsgebiet Rodgaus wird ergänzt durch die nahe gelegenen Mittelgebirge Spessart, Taunus, Vogelsberg und Odenwald sowie die Bergstraße, die alle als Naherholungsgebiete der Bevölkerung dienen. Die Grenze zum Nachbarland Bayern verläuft nur wenige Kilometer entfernt am Main. Etwa ein Drittel der städtischen Flächen besteht aus Wald, ein weiteres Drittel aus landwirtschaftlichen Nutzflächen und Wasserflächen, das verbleibende Drittel aus Wohn-, Gewerbe- und Verkehrsbebauung. Der Bach Rodau durchfließt das gesamte Stadtgebiet auf 15 Kilometern Länge. Klimatisch gehört das Gebiet zu den mildesten und regenärmeren Gegenden Deutschlands (gemittelte Jahreswerte 1982 bis 2004: 10,5 Grad Celsius, 639,1 Millimeter). Nachbargemeinden Rodgau grenzt im Norden an die Städte Heusenstamm und Obertshausen, im Osten an die Gemeinde Hainburg und die Stadt Seligenstadt, im Süd-Osten an die Stadt Babenhausen und die Gemeinde Eppertshausen (beide Landkreis Darmstadt-Dieburg), im Süd-Westen an die Stadt Rödermark sowie im Westen an die Stadt Dietzenbach. Stadtgliederung Rodgau besteht aus den Stadtteilen Weiskirchen, Hainhausen, Jügesheim, Dudenhofen und Nieder-Roden mit dem zugehörigen Ortsteil Rollwald. Einwohnerentwicklung Die einzelnen Stadtteile beziehungsweise bis 1977 Gemeinden hatten seit dem Jahr 1910 folgende Entwicklung der Einwohnerzahl: Geschichte Stadtgründung Am 1. Januar 1977 entstand im Rahmen der hessischen Gebietsreform aus den nachfolgend aufgelisteten Gemeinden die Großgemeinde Rodgau, die am 15. September 1979 die Stadtrechte verliehen bekam. Die alte Gewannbezeichnung Rodgau, wie Bachgau und Kinziggau zum Maingau gehörend, gab der Stadt ihren Namen. Die ursprünglichen Gemeinden haben aber bereits eine viele hundert Jahre zurückreichende Geschichte. Die Gründungsgemeinden waren: Dudenhofen ist der Stadtteil von Rodgau, der als lutherisches Dorf in einer sonst römisch-katholischen Umgebung in der frühen Neuzeit eine von seiner Umgebung abweichende Entwicklung aufwies. Hainhausen ist der zweitälteste Stadtteil, urkundlich durch die Wasserburg Hainhausen wahrscheinlich bereits 1108 erwähnt, sicher jedoch 1122. Heute ist er der kleinste Stadtteil von Rodgau (rund 3800 Einwohner). Jügesheim ist der zweitgrößte Ortsteil der Stadt Rodgau. Nieder-Roden wird erstmals 791 urkundlich als Rotaha inferior im Lorscher Codex erwähnt, war der Mittelpunkt einer Zent mit eigenem Zentgericht und hatte deshalb sogar eine Befestigung. Die Gemeinde Nieder-Roden gehörte vor dem Gemeindezusammenschluss 1977 als einzige nicht zum Landkreis Offenbach, sondern zum Landkreis Dieburg. Weiskirchen ist ein weiterer Ortsteil von Rodgau. Am 31. Dezember 2012 zählte Rodgau 44.994 Einwohner (2.157 gemeldete Nebenwohnsitze eingeschlossen), davon 22.146 männlichen und 22.848 weiblichen Geschlechts. 4.553 Einwohner sind Ausländer (10,9 %) aus 51 Nationen. 65,5 % der Bevölkerung wohnt länger als zehn Jahre in Rodgau. Politik Die politischen Gremien tagen in den Sitzungssälen des 1988 fertiggestellten Rathauses im Stadtteil Jügesheim. Stadtverordnetenversammlung Die Stadtverordnetenversammlung ist das oberste Organ der Stadt. Ihre politische Zusammensetzung wird alle fünf Jahre in der Kommunalwahl durch die Wahlbevölkerung der Stadt bestimmt. Wählen darf, wer das 18. Lebensjahr vollendet hat und deutscher Staatsbürger im Sinne des Grundgesetzes oder Staatsangehöriger eines der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist. Für alle gilt, dass sie seit mindestens drei Monaten in der Stadt gemeldet sein müssen. Die Kommunalwahl am 14. März 2021 lieferte folgendes Ergebnis, in Vergleich gesetzt zu früheren Kommunalwahlen: Für die Legislaturperiode vom 1. April 2021 bis 31. März 2026 waren 45 Stadtverordnete zu wählen. Von 35.204 Wahlberechtigten gingen 17.800 zur Wahl. Seit 11. April 2023 besteht eine Koalition aus CDU, SPD und Freien Wählern Rodgau. Sie löste eine Kooperation aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, Freien Wählern und Tierschutzpartei ab, die im Kern seit 2008 bestand. Bürgermeister Nach der hessischen Kommunalverfassung wird der Bürgermeister für eine sechsjährige Amtszeit gewählt, seit 1993 in einer Direktwahl, und ist Vorsitzender des Magistrats, dem in der Stadt Rodgau neben dem Bürgermeister der hauptamtliche Erste Stadtrat sowie sieben weitere ehrenamtliche Stadträte angehören. Bürgermeister Max Breitenbach ist seit 9. Juni 2022 im Amt. Er ist CDU-Mitglied und Kreistagsabgeordneter der CDU-Fraktion im Kreis Offenbach, bezeichnet sich aber als überparteilich. Er wurde am 26. September 2021 bei einer Wahlbeteiligung von 70,1 Prozent (es war auch Bundestagswahl) mit 52,3 Prozent der Stimmen gewählt. Sein Vorgänger Jürgen Hoffmann war nach zwei Amtszeiten nicht mehr zur Wahl angetreten. Frühere Bürgermeister Januar bis Mai 1977 Wilhelm Albert (SPD) als „Staatsbeauftragter Bürgermeister“ 1977 bis 1980 Hans Elgner (CDU) 1980 bis 1998 Paul Scherer (CDU) 1998 bis 2004 Thomas Przibilla (SPD) 2004 bis 2010 Alois Schwab (CDU) 2010 bis 2022 Jürgen Hoffmann (SPD) Magistrat Der Bürgermeister und die Stadträte sind als Magistrat das oberste Verwaltungsgremium der Stadt. Die Stadträte werden von der Stadtverordnetenversammlung gewählt; hauptamtliche Stadträte auf sechs Jahre und ehrenamtliche Stadträte für die Wahlzeit des Stadtparlaments. Hauptamtlicher Erster Stadtrat ist Michael Schüßler (FDP). Von den weiteren ehrenamtlichen Stadträten und Magistratsmitgliedern ist Winfried Sahm (Bündnis 90/Die Grünen) seit Juni 2016 Dezernent für Sport und Kultur. Wolfram Neumann (SPD) leitet seit Mai 2017 das damals neu geschaffene Energiedezernat. Ortsbeiräte Für die fünf Rodgauer Stadtteile wurden bis 31. März 2016 Ortsbezirke mit Ortsbeiräten gebildet. Die Ortsbeiräte wurden bei den Kommunalwahlen in gesonderten Abstimmungen von den Wahlberechtigten des jeweiligen Stadtteiles gewählt. Sie hatten im Stadtparlament beratende Funktion. Die Stadtverordnetenversammlung hatte 2011 beschlossen, alle Ortsbeiräte zum 1. April 2016 (d. h. zur nächsten Kommunalwahl) abzuschaffen. Wappen und Flagge Wappen Flagge Die Flagge von Rodgau wurde am 1. Februar 1979 durch das Hessische Innenministerium genehmigt. Flaggenbeschreibung: „Auf weißem Flaggentuch mit roten Randstreifen im oberen Drittel aufgelegt das Gemeindewappen.“ Städtepartnerschaften Rodgau und seine Stadtteile unterhalten mehrere Städtepartnerschaften: Seit 1974 besteht eine Partnerschaft mit Puiseaux in Frankreich und mit der österreichischen Stadt Hainburg an der Donau seitens Nieder-Rodens. Am 25. Mai 1974 unterzeichneten die Bürgermeister Hans Elgner (Nieder-Roden); Georges Bordry (Puiseaux) und Hubert Rein (Hainburg an der Donau) im Bürgerhaus von Nieder-Roden die Partnerschaftsurkunden. Im Jahr 1975 wurde Nieuwpoort in Belgien Partnerstadt von Dudenhofen. Eine weitere Partnerschaft der Stadt Rodgau besteht seit September 2002 mit der kroatischen Stadt Donja Stubica. Wirtschaftliche Entwicklung Bestimmte noch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts die Landwirtschaft das Leben in den ehemals selbständigen Gemeinden Rodgaus, änderte sich dies mit zunehmender Industrialisierung vor allem von Offenbach. Die meisten Landwirte nahmen Arbeit in den nahe gelegenen Städten Offenbach und Frankfurt an und führten ihre Höfe nur noch als Nebenerwerb. Mitte des 20. Jahrhunderts siedelten sich in den Gemeinden des Rodgaus zahlreiche Klein- und Mittelstandsbetriebe der Leder verarbeitenden Industrie an, die ihre Produkte – Handtaschen, Koffer, Gürtel, Geldbörsen und Brieftaschen – vorwiegend in Heimarbeit fertigen ließen. Dies führte bis 1975 zum fast völligen Verschwinden der Nebenerwerbslandwirtschaft. 2004 arbeiteten noch elf Höfe im Vollerwerb (vorwiegend Spargelanbau) und vier Höfe im Nebenerwerb. Neben der Lederwarenbranche entstand gleichzeitig die Metallverarbeitung im Rodgau als Zulieferer von Gürtelschnallen, Koffergriffen und ähnlichem. Größere Betriebe gab es in Weiskirchen, Jügesheim und Nieder-Roden. Heute spielen Lederwarenherstellung und Metallverarbeitung nur noch eine untergeordnete Rolle. 1954 etablierte sich am Ortsrand von Dudenhofen ein in dieser Region neuer Industriezweig, das Kalksandsteinwerk Dudenhofen, das den dort vorhandenen feinen Dünensand zur Herstellung von bis zu 73 Millionen Steinen im Jahr abbaute. In den 1990er Jahren verlagerte die Firma ihren Produktionsschwerpunkt auf die Herstellung von Porenbeton-Plansteinen, heute bekannt unter dem Namen Porit. Anfang der 1960er Jahre wählte die Adam Opel AG Dudenhofen als Standort für ihr Testzentrum (TCD) aus, das 1966 in Betrieb ging. Inmitten einer 4,8 Kilometer langen Hochgeschwindigkeits-Rundstrecke befinden sich auch eine 6,7 Kilometer lange Dauerprüfstrecke mit allen erdenklichen Straßentypen (Marterstraße) und seit 2009 eine Offroad-Piste zum Test von Geländefahrzeugen. Beginnend in den 1960er Jahren wies Rodgau sechs größere Gewerbegebiete aus (Gesamtfläche 219 ha), in denen sich vornehmlich Dienstleistungsbetriebe ansiedelten wie das IBM Warenverteilzentrum (bis 2005, ab dann Mann-Mobilia Logistikzentrum), die Firma Atlas Rhein Main, der Fegro Großhandelsmarkt, MEWA Textilservice, Geodis, Pepsi-Cola Deutschland, PerkinElmer Life and Analytical Sciences und ein Postfrachtzentrum der DHL. Insgesamt waren Mitte 2005 3871 Gewerbebetriebe in Rodgau gemeldet, darunter 23 Supermärkte der bekanntesten Filialisten sowie 16 Hotels mit insgesamt 795 Betten. Der Trend fort vom Produktionsgewerbe und Handwerk zum Dienstleistungsgewerbe wird im Vergleich 1987 zu 2003 deutlich: Betrug der Dienstleistungsanteil zehn Jahre nach Gründung der Großgemeinde noch 52 Prozent, stieg er in den folgenden 15 Jahren auf 73 Prozent des Gesamtgewerbes. In Rodgau sind rund 150 High-Tech-Unternehmen ansässig. Es dominiert das Technikfeld Informations- und Kommunikationstechnik für die Luft- und Raumfahrt, gefolgt von Sensorik, Mess-, Regel- und Analysetechnik. Des Weiteren sind die Bereiche Produktionstechnik, automatische Lackiertechnik, sowie Mikro- und Optoelektronik vertreten. 2005 stellen Rodgaus Gewerbebetriebe insgesamt 9076 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze zur Verfügung. Hinzu kommen rund 3000 Arbeitsplätze für Selbständige, Beamte und geringfügig Beschäftigte. Ein großer Teil der erwerbstätigen Bevölkerung Rodgaus hat Arbeitsplätze in den Großstädten der Umgebung: Offenbach am Main (15 Kilometer), Hanau (15 Kilometer), Darmstadt (20 Kilometer), Aschaffenburg (20 Kilometer) und Frankfurt am Main (25 Kilometer). Verkehr Öffentlicher Personennahverkehr Seit 14. Dezember 2003 sind alle Rodgauer Stadtteile durch die Verlängerung der S-Bahn-Strecke S1 von Wiesbaden nach Ober-Roden an das weitreichende Netz der S-Bahn Rhein-Main angeschlossen. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde Rodgau durch die Rodgaubahn bedient. Taktverbunden an den Bahnhöfen Dudenhofen und Jügesheim mit der S1 sind die Kreisbuslinien nach Babenhausen, Seligenstadt, Dietzenbach und Langen. Nachdem es vor der S-Bahn einen Bahnbus (Linie 950 Offenbach – Oberroden) und einen Stadtbus (Linie 301) gab, wurden zusammen mit der S-Bahn Eröffnung zwei Stadtbuslinien, die innerhalb Niederrodens (Linie 41) und zwischen Jügesheim und Weiskirchen (Linie 42) verkehrten, eingeführt. Ergänzt durch die abzweigende Regionalbuslinie 99, die zwischen Jügesheim und Niederroden verkehrte, ergab sich ein dreigeteiltes Netz. Seit Dezember 2019 gibt es jedoch wieder einen durchgängigen Stadtbus zwischen Weiskirchen und Niederroden (als Linie 40), da der Abzweig der Linie 99 aufgrund einer Taktverdichtung nach Seligenstadt entfiel. Außerhalb deren Fahrplanzeiten fahren Anruf-Sammel-Taxen (AST), tagsüber auch zum Ortsteil Rollwald. Die Stadtbuslinie wird durch die Stadtwerke Rodgau betrieben, die Schauinsland-Reisen für das operative Geschäft verpflichtet haben. Radwegenetz Die Stadt Rodgau verfügt zunehmend über ein in Zusammenarbeit mit dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) gut ausgebautes Netz von Radwegen und Radwanderwegen, die die fünf Stadtteile miteinander verbinden. Seit 2005 führt der beschilderte Rodgau-Rundweg durch Felder und Wälder ganz um die Stadt herum. Mit 42,1 Kilometer erreicht er fast die Marathon-Distanz. Rechts und links der S-Bahn-Strecke verbindet ein 14 Kilometer langer, asphaltierter Radweg von Rollwald bis Weiskirchen alle Stadtteile. Spezielle Fahrrad-Parkplätze mit Ständern und abschließbaren Mietboxen gibt es an allen S-Bahn-Haltestellen. Fußgängerzonen Ausgewiesene Fußgängerzonen bestehen in Nieder-Roden zwischen S-Bahnhof und Puiseauxplatz sowie in Jügesheim an der Rodgau-Passage. Verkehrsberuhigte Bereiche mit entsprechender Straßenaufpflasterung finden sich in allen Stadtteilen, meistens in den alten Ortskernen und in den Neubaugebieten. Spazierwege durch die teilweise parkähnlich angelegte Rodau-Aue in Dudenhofen und Jügesheim sind den Fußgängern vorbehalten. Ein dichtes Netz ausgeschilderter Wanderwege durchzieht Wälder und Felder der Rodgauer Gemarkung. Individualverkehr Im Norden Rodgaus führt die A 3 (Frankfurt – Würzburg) durch das Stadtgebiet und kreuzt hier die autobahnähnlich ausgebaute B 45 (Hanau – Dieburg), die in Nord-Süd-Richtung verlaufend alle Rodgauer Stadtteile tangiert und durch vier Anschlussstellen bedient. Die Tank- und Rastanlage Weiskirchen auf Rodgauer Gemarkung an der Bundesautobahn 3 ist aus beiden Richtungen zu befahren. Dem nördlichen Rasthof ist ein Motel angegliedert. Beim Weiterbau der A 3 von Offenbach nach Würzburg in den 1960er Jahren wurden beide Rasthöfe erstmals in Deutschland als reine Automatengaststätten gebaut. Von diesem Konzept wich man Anfang der 1980er Jahre wieder ab und baute sie zu SB-Restaurants um. Die westlichen Wohnbereiche werden durch die elf Kilometer lange Rodgau-Ring-Straße erschlossen, die im Norden weiter nach Heusenstamm und Offenbach führt. Die Kreisquerverbindung Dietzenbach-Rodgau-Seligenstadt verbindet Rodgau wiederum mit der A 3. Weiskirchen ist zusätzlich durch die Anschlussstelle Obertshausen an die A 3 angebunden. Seit 2001 wurden im Stadtgebiet Rodgau sechs starkfrequentierte Straßenkreuzungen durch Kreisverkehre mit erhöhten und bepflanzten Mittelinseln ersetzt. Zur Verkehrsberuhigung in Wohngebieten entstanden weitere fünf Mini-Kreisel. Parken Am Badesee in Nieder-Roden gibt es rund 2000 PKW-Parkplätze in unmittelbarer Nähe zum Strandbadeingang. An allen sechs S-Bahn-Haltestellen stehen insgesamt 400 Park-and-Ride-Plätze zur Verfügung. Am Bahnhof in Nieder-Roden befindet sich ein Parkhaus. Jügesheim verfügt über zwei Tiefgaragen in Kernlage. An den Bürgerhäusern in Dudenhofen, Weiskirchen und Nieder-Roden sowie an allen Sporthallen befinden sich größere Parkplätze. Auch die fünf Waldfreizeitanlagen bieten reichlich Parkraum, ebenso der Wanderparkplatz im östlichen Waldgebiet an der Langen Schneise. Luftverkehr Die räumliche Nähe zum Flughafen Frankfurt – und die über die S-Bahn problemlose Anreise dorthin – ermöglicht auch wirtschaftlich internationalen Anschluss. Der Flughafen Frankfurt ist etwa 20 km von Rodgau entfernt und kann über die Autobahn A3 erreicht werden. Natürlich profitieren auch Urlauber von dieser Nähe. Zwischen Offenbach und Darmstadt liegt etwa 25 Kilometer von Rodgau entfernt der Flugplatz Frankfurt-Egelsbach, der verkehrsreichste Verkehrslandeplatz in Deutschland. Mit seinen rund 77.000 Flugbewegungen im Jahr entlastet und ergänzt er den Frankfurter Flughafen. Medien Zeitungen Die überregionalen Tageszeitungen Frankfurter Rundschau und Offenbach-Post beinhalten in ihren Ausgaben für den Kreis Offenbach einen Rodgau-Lokalteil. Zusätzlich erscheint donnerstags die kostenlose Rodgau-Post aus dem Verlag der Offenbach-Post und die Rodgau-Zeitung. Auch der Dreieich-Spiegel befasst sich am Rande mit Rodgauer Geschehen. Das Stadtmagazin mein rodgau berichtet zehnmal jährlich über Menschen, Sport, Kultur und Lifestyle aus und um Rodgau. Kabelnetz Die Mehrheit der Haushalte in der Stadt Rodgau haben die Möglichkeit der Versorgung mit 32 Fernseh- und 35 Hörfunkprogrammen über das von Unitymedia betriebene Kabelnetz. Die Einspeisung der Signale geschieht in der Knotenstelle Rödermark. Seit 2005 besitzt Rodgau auch ein Breitbandnetz, das die Versorgung mit digitalen Fernseh- und Hörfunkprogrammen ermöglicht. Hörfunk Aufgrund der Nähe zur Wirtschaftsmetropole Frankfurt, liegt Rodgau im Einzugsbereich der Berichterstattung folgender Hörfunksender: Hessischer Rundfunk 1–4 sowie You FM und hr-info (Frankfurt am Main) Hit Radio FFH sowie harmony.fm und planet more music radio (Bad Vilbel) Radio Primavera (Aschaffenburg) Infrastruktur Entwicklung Durch die ursprünglich dörfliche Struktur der Einzelgemeinden lagen deren natürliche Zentren jeweils rund um die Kirche. Dies blieb auch nach dem Zusammenschluss zur Großgemeinde 1977 so, bis auf Nieder-Roden. Dort erforderte ab 1950 die Verfünffachung der Einwohnerzahl eine starke Ausdehnung der Wohnbebauung nach Nord-Westen („Gartenstadt“) und die Schaffung eines neuen Ortskerns mit Postamt, Geschäften, Ärztehaus, Gemeinde- und Sozialzentrum. Hier entstanden Ende der 1960er Jahre unter der Planung der Baugilde Süd mehrere Kompaktwohnanlagen mit bis zu zwölf Stockwerken. Auffällig im heutigen Stadtbild ist hier ein im Volksmund Chinamauer genannter, rund 300 Meter langer Wohnblock mit Maisonette-Wohnungen. Die damals geplante Erweiterung auf 900 Meter Länge kam nicht mehr zur Ausführung. Trotz der stetig wachsenden Größe Rodgaus gibt es in der Stadt kein Krankenhaus. Die nächstgelegenen Kliniken befinden sich in Seligenstadt, Langen und Offenbach am Main. Eine vorsichtige Ausweisung von Neubaugebieten seit 1979 ermöglichte einerseits das Anwachsen der Einwohnerzahl auf die heutige Größe, andererseits auch das gleichzeitige Entstehen der notwendigen sozialen Infrastruktur wie Kindergärten, Schulen, Sport- und Freizeiteinrichtungen. Obwohl die Stadt dadurch räumlich langsam zusammenwächst, hat sich bisher kein echtes Stadtzentrum entwickelt. Die einzelnen Stadtteile pflegen ihre eigenen gewachsenen Strukturen. Seit 1998 fließt die Lokale Agenda 21 als Leitgedanke in die Stadtgestaltung ein. Ein Gremium aus engagierten Bürgerinnen und Bürgern entwickelte ein Leitbild der Bürgerkommune mit dem Ziel der Nachhaltigkeit als „Dach“ für Wirtschaft, Umwelt, Soziales, Kultur, Eine Welt usw. Das Gremium erhielt wie ein Ausschuss beratende Funktion und Rederecht im Stadtparlament und erarbeitete Vorschläge unter anderem zur Renaturierung und Integration. Seit 2002 läuft die „Qualitätsphase“ der Lokalen Agenda 21, das heißt die reale Umsetzung der Vorschläge bis 2017. Das Gremium selbst löste sich 2003 nach Abschluss der „Wachstumsphase“ auf. Religion In vier evangelischen und sechs katholischen Kirchen und Gemeindezentren finden regelmäßig Gottesdienste statt. Die der syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochien angehörende Gemeinschaft der Aramäer feiert ihre Gottesdienste in der katholischen Kirche in Dudenhofen. Die islamischen Religionsgemeinschaften versammeln sich in einer kleinen Moschee in Nieder-Roden und in der 2008 in Jügesheim erbauten Anwar-Moschee der Ahmadiyya Muslim Jamaat. Am östlichen Ortsrand von Rodgau-Weiskirchen befindet sich seit 1982 das Tagungs- und Fortbildungszentrum der katholischen Internationalen Apostolischen Schönstatt-Bewegung im Bistum Mainz. Die erste Synagoge in Weiskirchen wurde 1793 im Hause des Schutzjuden Gedalie eingerichtet. Ein Neubau erfolgte in den Jahren 1881 und 1882. Im November 1938 wurde das Gebäude nach einem Verkauf durch die Kultusgemeinde bereits als Wohnhaus genutzt und nicht zerstört. Die nach Offenbach am Main verlagerten Kultgegenstände fielen jedoch der Zerstörung dort zum Opfer. Nach einer Renovierung durch die Stadt Rodgau, die Eigentümerin ist, wird die Synagoge seit 2010 vom Heimat- und Geschichtsverein Weiskirchen genutzt. Konfessionsstatistik Gemäß dem Zensus 2011 waren 23,6 % der Einwohner evangelisch, 37,1 % römisch-katholisch und 39,2 % waren konfessionslos, gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder machten keine Angabe. Schulen in Rodgau Neben 25 Kindergärten gibt es in Rodgau – bedingt auch durch die lange Zeit selbstständigen Gemeinden – heute eine breite Palette von Schulformen: so die gymnasiale Oberstufe der Claus-von-Stauffenberg-Schule in Dudenhofen mit den Jahrgangsstufen 11 bis 13, als kooperative Gesamtschulen die Georg-Büchner-Schule in Jügesheim und die Geschwister-Scholl-Schule in Hainhausen. Eine integrierte Gesamtschule (Heinrich-Böll-Schule) findet man in Nieder-Roden, Grundschulen mit der Freiherr-vom-Stein-Grundschule in Dudenhofen, der Carl-Orff-Schule in Jügesheim, der Gartenstadt-Schule in Nieder-Roden, der Grundschule am Bürgerhaus in Nieder-Roden, der Münchhausen-Schule in Hainhausen und der Wilhelm-Busch-Schule in Jügesheim gibt es gleich sechs. Die Georg-Büchner-Schule, die Heinrich-Böll-Schule, die Geschwister-Scholl-Schule und einige weitere nicht in Rodgau ansässige Schulen bilden einen Schulverbund, in dessen Rahmen ein Erfahrungsaustausch und die Planung gemeinsamer Projekte und Klassenarbeiten stattfinden. Dazu findet man noch die Friedrich-von-Bodelschwingh-Schule als Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung in Weiskirchen. Die Stadt unterhält auch eine eigene Volkshochschule und fördert die Freie Musikschule Rodgau. Sport- und Freizeiteinrichtungen Im Stadtgebiet von Rodgau befinden sich außer dem Strandbad am 26,3 Hektar großen Badesee Rodgau mit jährlich bis zu 370.000 Badegästen mehrere Waldfreizeitanlagen, Grillplätze und eine Minigolfanlage. Den Sporttreibenden stehen drei Sportzentren, fünf Sportplätze, fünf Mehrfeld-Sporthallen, vier Turnhallen, zwei Trimm-dich-Pfade und mehrere Pferdesportanlagen zur Verfügung. Sieben Tennisanlagen und eine Tennishalle gehören ebenso zum Angebot wie eine Beachvolleyball-Anlage mit drei Plätzen am Strandbad, eine große Skateranlage sowie ein Modellflugplatz. Der Sportbetrieb wird von 55 Rodgauer Sportvereinen betreut. Zu den in Rodgau jährlich wiederkehrenden sportlichen Höhepunkten zählen der 50-km-Ultramarathon des RLT Rodgau im Januar, ein Triathlon im August, der 24-Stunden-Lauf im September. Zum jährlichen Drachenfest Ende September reisen Teilnehmer und Besucher aus mehreren Bundesländern an. Naturschutz Das Naturschutzgebiet Kies- und Sandgrube von Dudenhofen (NSG-Kennung 1438024) umfasst einen etwa 17,32 Hektar großen Wald- und Wiesenbestand, der sich im Stadtgebiet von Dudenhofen befindet. Schutzziel ist die Erhaltung und Ausbau ausgedehnter Flachgewässer. Es ist Lebensraum des Moorfrosches und beherbergt eine große Artenvielfalt. Eine Auswahl ist Zwergtaucher, Flussregenpfeifer, Silberreiher, Graureiher, Kanadagans. Das Naturschutzgebiet Mooskiefernwald von Dudenhofen (NSG-Kennung 1438030) umfasst einen etwa 36,11 Hektar großen Wald- und Wiesenbestand, der sich östlich des Opel-Testgeländes und östlich des Stadtgebiets von Rodgau-Dudenhofen befindet. Das Naturschutzgebiet liegt am östlichen Ende der Gemarkung von Dudenhofen. Das Gebiet besteht aus großen Kiefernforsten, welche auch für Vogelarten wie Habicht, Schwarz- und Grünspecht, Gartenrotschwanz, Ziegenmelker und Wendehals ein wertvolles Biotop bilden. Zweck der NSG-Ausweisung ist es, diesen Landschaftstyp großflächig in seinem besonderen Charakter zu erhalten und die wertvolle Bodenvegetation unter Schutz zu stellen. Das Naturschutzgebiet Rodauwiesen bei Rollwald (NSG-Kennung 1438033) liegt im Naturraum Untermainebene und umfasst einen etwa 32,74 Hektar großen Wiesenbestand, der sich im Stadtgebiet von Rollwald befindet. Es umfasst Teile der von ausgedehnten Grünlandflächen geprägten Rodauniederung und setzt sich aus noch vorhandenen Feucht- und Nasswiesen sowie einem großflächigen Schilfröhricht zusammen. Zweck der NSG-Ausweisung ist der Schutz ausgedehnter Grünlandflächen mit großflächigen Schilfröhrichten als Lebensräume seltener und gefährdeter Tier- und Pflanzenarten. Zweck der Unterschutzstellung ist es, diese zu sichern. Das Naturschutzgebiet Rotsohl und Thomassee von Dudenhofen (NSG-Kennung 1438032) umfasst einen etwa 51,88 Hektar großen Wald- und Wiesenbestand, der sich im Stadtgebiet von Dudenhofen befindet. Das Gebiet besteht aus großen Kiefernforsten, welche auch für Vogelarten wie Habicht, Schwarz- und Grünspecht, Gartenrotschwanz, Ziegenmelker und Wendehals ein wertvolles Biotop bilden. Zweck der NSG-Ausweisung ist es, die Feuchtwiesen, Magerrasen, Seggenriede, Hochstaudenfluren, Kleingewässer und Erlen-Weiden-Gehölze als Lebensraum für eine Vielzahl seltener und bestandsbedrohter Pflanzen- und Tierarten zu erhalten, zu sichern und zu entwickeln. Voraussetzung ist, dass die feuchten bis überfluteten Kernbereiche als temporäre Gewässer und Sümpfe mit gehölzearmen Randstreifen erhalten bleiben. Hierzu gehören auch die im Volksmund „Postteiche“ genannten Gewässer sowie der Weißensee. Das Gebiet ist im zeitigen Frühling Durchzugsgebiet für große Vogelschwärme. Das Naturschutzgebiet Hengster (NSG-Kennung 1438002) umfasst einen rund acht Hektar großen Waldbestand, der sich überwiegend im Stadtgebiet von Rodgau und zu einem kleinen Teil im Gebiet von Obertshausen befindet. Es gilt als eines der ältesten Naturschutzgebiete Hessens bzw. Deutschlands. Der Hengster ist ein ehemaliges Moorgebiet, das Anfang des 20. Jahrhunderts aufgrund seiner bemerkenswerten Flora überregional bekannt war. Bereits 1821 wurde das Areal als „botanisches Schatzkästlein“ entdeckt. Es zog Forscher aus der ganzen Welt an, die eine Moorlandschaft vorfanden, welche bis ins sogenannte Kreuzloch reichte. Wasserdurchlässige Flug- und Dünensande sorgten für einen nährstoffarmen Boden. Eine Reihe von Hochmoorpflanzen war zu finden, darunter zahlreiche Seltenheiten, u. a. Orchideen. Noch bis 1995 konnte der Sonnentau, eine fleischfressende Pflanze, im Gebiet nachgewiesen werden. Ferner gediehen viele weitere, heute ausgestorbene oder bedrohte Tier- und Pflanzenarten. Um 1930 wurden für die Landwirtschaft mehrere Gräben gezogen und das Areal entwässert. Mittlerweile, Anfang des 21. Jahrhunderts, ist der Hengster in weiten Teilen ein trockener Bruchwald mit Erlen und Birken, dem vor allem historische Bedeutung zukommt. Im Heimatmuseum Obertshausen ist dem Gebiet eine Dauerausstellung gewidmet. Die Geschichte des Hengsters von 1884 bis 1969 wurde in zwei Büchern dokumentiert. Kultur und Sehenswürdigkeiten 49 Rodgauer Vereine pflegen das Kulturleben der Stadt mit zahlreichen Chor- und Orchesterkonzerten, Lesungen, Theateraufführungen, Tanzturnieren, Kunstausstellungen und Workshops. Die Kultur-Agentur (AKSE) der Stadt bietet jährlich eine Theatersaison (drei Abo-Reihen) mit bekannten Künstlern sowie die regional beachtete Kunstausstellung im Bürgerhaus Nieder-Roden. Zwei weitere Bürgerhäuser befinden sich in den Stadtteilen Weiskirchen und Dudenhofen. In den Stadtteilen Weiskirchen, Jügesheim und Nieder-Roden betreuen Heimatvereine Museen, deren Sammlungen sich mit der Geschichte des jeweiligen Ortes befassen. In Nieder-Rodens Friedensstraße befand sich bis Oktober 2014 das einzige DDR-Museum der Region in privater Trägerschaft. Vier Kinosäle und sieben öffentliche Büchereien runden das kulturelle Angebot ab. Bundesweit bekannt wurde Rodgau durch die Hits der Band Rodgau Monotones, zum Beispiel „St. Tropez am Baggersee“ (den es in Nieder-Roden gibt) oder „Erbarme, die Hesse komme“. Die Rodgau Monotones erhielten 1983 den Kulturpreis der Stadt Rodgau und 2009 die Bürgermedaille in Gold, die höchste Auszeichnung, die die Stadt zu vergeben hat. In Rodgau agieren auf Vereinsebene fünf Laientheatergruppen, deren Aufführungen zum festen Bestandteil des Rodgauer Kulturlebens gehören. Überregionale Beachtung mehrerer Tausend Zuschauer finden die Theaterprojekte der Nieder-Röder Gruppe Das Große Welttheater, für die sie 1996 den Kultur- und 2000 den Kulturförderpreis erhielt. Seit 1979 wird alljährlich der mit 2200 Euro dotierte Kulturpreis der Stadt Rodgau für herausragende Leistungen Rodgauer Künstler oder Projekte vergeben, seit 1992 im Wechsel mit dem Kulturförderpreis speziell für junge Künstler. Kulturpreis und Kulturförderpreis der Stadt Rodgau 1979 (KP) Arendje Muurling, Hannelore Reinert-Jansen, Helma Schulz, Egon Kottek, Karl Müller 1980 (KP) Dieter Jonas 1982 (KP) Willi Grimm, Stephan Hohlweg 1983 (KP) Rodgau Monotones, Rudolf Petzinger 1984 (KP) Philipp Rupp, Jugendorchester Musikverein Nieder-Roden, Jugendorchester Musikverein Weiskirchen 1985 (KP) Gisela Rathert, Thomas Sonnen 1986 (KP) Helmut Trageser, Adam Geißler 1987 (KP) Robert Keller, Kurt Reichenbach, Eckhard Rehringhaus 1988 (KP) Rudolf Schüler, Laienspielgruppe Kolpingfamilie Jügesheim 1989 (KP) Günther Hindel, Blechbläserensemble Musikverein Dudenhofen 1991 (KP) Anni Wolf, Gesangverein Männerchor Dudenhofen 1992 (KP) Tobias Rausch 1993 (KP) Klaus Möller, Jugendchor des katholischen Kirchenchors Weiskirchen, Gruppe „Focus“ 1994 (KP) Timor Oliver Chadik, Volker Roth 1995 (KP) Klemens Althapp, Chor „Mixed Voices“ 1996 (KFP) Erik Schmekel, Theaterregie 1997 (KP) Gruppe Jericho, Theresia Uglik 1998 (KFP) Andreas Spahn 1999 (KP) Chor „Da Capo“ 2000 (KP) Theatergruppe „Großes Welttheater“ 2001 (KP) Kabarettgruppe „En Haufe Leut“ 2002 (KFP) Björn Bürger, Musik 2003 (KP) Tanja Garlt (Theater-Regie), Jürgen K. und Angela Groh (jeweils Musik) 2005 (KP) Laienspielgruppe Nieder-Roden, Karl-Heinz Kalbhenn 2006 (KFP) Big-Band der Georg-Büchner-Schule, TGS Jügesheim Jugendfastnacht 2007 (KP) Gerd Steinle, bildende Kunst 2008 (KFP) Franziska Langer, Carmen Lang, jeweils Gesang 2009 (KP) Jens Joneleit Neue Musik 2010 (KFP) Band Marie Wonder, Rock-Band 2011 (KP) Sängervereinigung Sängerkranz Polyhymnia 2012 (KFP) Maria Ließ, Violine 2013 (KP) Thomas Langer, Musikverein Dudenhofen 2014 (KFP) Jimi Joel Eyrich, klassische Gitarre 2015 (KP) Björn Bürger, Bariton 2016 (KFP) Jan Iser und Lucas Schrod, Schlagzeug, bzw. Schlagwerk 2017 (KP) Kulturinitiative Maximal, für herausragende kulturelle Leistungen 2018 (KFP) Sarina Dadkah, bildende Kunst 2019 (KP) Bernd-Michael Land (elektronische Musik), Friedhelm Meinaß (Grafikdesign, bildende Kunst) Fasching (Fastnacht) Fasching (Fastnacht, Fassenacht) wird in Rodgau kräftig gefeiert mit über 50 Gala-, Prunk- und Fremdensitzungen, Maskenbällen und Kreppelkaffees. Letztere bestehen aus einer gemütlichen Kaffeerunde mit Verzehr des faschingtypischen Kreppels (Krapfen) und anschließendem vielstündigen Sitzungsprogramm. Die Nieder-Röder Kreppelkaffees werden ausschließlich von Frauen für Frauen veranstaltet und verzeichnen jedes Jahr weit über 2000 Besucherinnen. Als Hochburg der Rodgauer Fastnacht gilt der Stadtteil Jügesheim (Dialekt: Giesem). Hier findet vor dem Rathaus am 11. November die Eröffnung der Kampagne und am Fastnachtssamstag der Rathaussturm statt, die symbolische Übergabe der Stadtgewalt an die Narren. Am Fastnachtsdienstag windet sich der Giesemer Fastnachtszug durch die Straßen Jügesheims. (Schlachtruf: Giesem-Helau!). Die Repräsentanten der Giesemer Fassenacht, Prinzenpaar und Kinderprinzenpaar, kommen in neuerer Zeit nicht mehr ausschließlich aus Jügesheim. Auch andere Stadtteile können Bewerber stellen. Sehenswürdigkeiten Einen historischen Stadtkern kann Rodgau aufgrund seiner Entstehungsgeschichte nicht vorweisen. Fehlendes Bewusstsein für den Wert alter Bausubstanz führte besonders in den Nachkriegsjahren zur Zerstörung ganzer Fachwerk-Ensembles in den Altorten. Erst Anfang der 1970er Jahre wurden noch bestehende historische Gebäude systematisch erfasst und nach Kriterien des Denkmalschutzes eingestuft. 2010 entstanden aus der Zusammenarbeit aller sieben Rodgauer Heimat- und Geschichtsvereine, der Ortspolitik und der Stadtverwaltung die Rodgauer Geschichtspfade. 42 einheitlich gestaltete Hinweistafeln an Gebäuden oder Flächen markieren im gesamten Stadtgebiet historisch bedeutende Objekte. Die fünf früheren Dorfkirchen aus dem 13. bis 19. Jahrhundert markieren auch heute noch die alten Ortskerne. Sie wurden in den 1990er Jahren mit Unterstützung der Kirchengemeinden, der Kommune und vieler freiwilliger Helfer saniert und auch wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt. Der um 1300 errichtete gotische Turm der Matthias-Kirche in Nieder-Roden ist das älteste erhaltene Gebäude der Stadt Rodgau. In den Kirchen selbst befinden sich kunsthistorisch bedeutende Objekte verschiedener Epochen. Hervorzuheben ist hier der aus der Zeit um 1520 stammende spätgotische Marienaltar in der Kath. Pfarrkirche St. Matthias in Nieder-Roden, der der Riemenschneider-Werkstatt zugeschrieben wird. Einzelne, auf das ganze Stadtgebiet verteilte Fachwerkhäuser aus dem 16. bis 19. Jahrhundert wurden restauriert und schmücken heute die Altortkerne. Einige Gebäude wie das Backes (Backhaus) in Dudenhofen wurden nach alten Plänen neu errichtet. Der 1938 eröffnete und bis 1979 betriebene Wasserturm in Jügesheim gilt durch seine architektonische Einmaligkeit und verwegene statische Konstruktion als Industriedenkmal. Er zeigt deutliche Anklänge an die expressionistische Formensprache der 1920er Jahre. Drei der vier im Jahr 1896 eröffneten Bahnhofsgebäude der ehemaligen Rodgaubahn gelten als erhaltenswert. Zwei davon warten noch auf Sanierung und neue Nutzung. Ein weiteres historisches Gebäude ist ein altes Spritzenhaus, in dem das Heimatmuseum Weiskirchen untergebracht ist. Zu den Rodgauer Sehenswürdigkeiten zählen auch elf künstlerisch gestaltete Brunnen sowie zahlreiche Skulpturen und Fassadenmalereien. Viele engagierte Bürger tragen mit Spenden, Straßenfesten und auch handwerklicher Unterstützung zur weiteren Verbesserung des Stadtbildes und zum Auf- und Ausbau einer Bürgerkultur bei. Persönlichkeiten Ehrenbürger Willy Purm (1918–1991), Stadtverordnetenvorsteher von 1972 bis 1989 Paul Scherer (* 1935), Bürgermeister von 1980 bis 1998 Söhne und Töchter der Stadt Petrus Gratian Grimm (1901–1972), gelernter Feintäschner, nach Theologiestudium Priesterweihe am 10. August 1930 in Münster, dann Bischofsweihe am 25. Juli 1949 in Tienshiu (China). Adam Groh (1916–1996), apostolischer Protonotar, Offizial und Domkapitular im Bistum Mainz Albert Keller (1932–2010), Theologe und Philosoph Helmut Ritter (* 1948), Lehrstuhlinhaber für das Fach Organische Chemie/Makromolekulare Chemie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Steffen Hartig (* 1963), Triathlon-Weltmeister der Masters, Montreal 1999 Sönke Neitzel (* 1968), Historiker mit Schwerpunkt Militärgeschichte Rodgau Monotones, 1977 in Rodgau gegründete Rockband Daniel Beskos (* 1977), in Rodgau aufgewachsener Verleger, Literaturveranstalter und Übersetzer Christian Demirtas (* 1984), Fußballspieler beim Syrianska FC Max Nicolas Nachtsheim (* 1984), Rapper, bekannt als Rockstah Persönlichkeiten, die in Rodgau gewirkt haben Radost Bokel (* 1975), deutsche Schauspielerin, wohnt seit 2012 in Jügesheim Björn Bürger (* 1985), deutscher Opernsänger, Kulturförderpreisträger 2002, Sieger in der Sparte Oper im Bundeswettbewerb Gesang Berlin 2012, wuchs in Rodgau auf Daniyel Cimen (* 1985), Fußballtrainer der U19 von Eintracht Frankfurt, begann in Nieder-Roden mit dem Fußballspielen Jean Darling (1922–2015), ehemalige Schauspielerin und Sängerin, lebte bis zu ihrem Tod 2015 in Rodgau Herbert Feuerstein (1937–2020), Ex-„MAD“-Chefredakteur, Harald Schmidts „Lieblingsopfer“, wohnte 1989–1993 in Rodgau Nieder-Roden. René Frank (* 1974), Komponist und Sachbuchautor, arbeitet seit 2003 als Lehrer an der Georg-Büchner-Schule und für die ev. Emmausgemeinde in Jügesheim Carmen Giese, Luftgewehrschützin im deutschen Nationalteam der Sportschützen bei den Olympischen Spielen in Seoul 1988 Jennifer Hof (* 1991), Fotomodell und Mannequin; 2008 Siegerin der dritten Staffel der Castingshow Germany’s Next Topmodel, ging in Rodgau zur Schule Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (um 1622–1676) nahm von 1634 bis 1636 zeitweise Quartier in Nieder-Roden während des Dreißigjährigen Krieges und der Belagerung Hanaus. Jens Joneleit (* 1968), Komponist aus Nieder-Roden R.P.S. Lanrue (* 1950), Gitarrist der deutschen Band Ton Steine Scherben wohnte in den 1960er Jahren in Rodgau Nieder-Roden. Zu dieser Zeit absolvierte er eine Dekorateur-Lehre und spielte zusammen mit Rio Reiser bei den Beatkings, aus denen schließlich nach dem Umzug nach Berlin dann Ton Steine Scherben wurde. Eric Mayer (* 1980), seit 2008 Moderator von Pur+; machte 2000 an der Claus-von-Stauffenberg-Schule in Dudenhofen sein Abitur und spielte dort in der Theater-AG Moment Mal mit Henni Nachtsheim (* 1957), deutscher Musiker, Comedian, Schriftsteller und Schauspieler, 1978–1990 Mitglied der Rodgau Monotones, seit 1982 Hälfte des Comedie-Duos Badesalz, bis 2001 wohnhaft in Jügesheim Britta Neander (1956–2004), Schlagzeugerin und Percussionistin der deutschen Band Ton Steine Scherben, Carambolage und Britta, wohnte in Rodgau Nieder-Roden. Schwester von Ali Neander (Rodgau Monotones). Walter Picard (1923–2000), deutscher Pädagoge und CDU-Politiker, arbeitete ab 1949 als Volksschullehrer in Nieder-Roden und hatte die dortige Rektorenstelle von 1965 bis 1988 inne. Richard Prause (* 1968), deutscher Tischtennisprofi, 1999–2010 Bundestrainer. 1980–1988 und seit 2010 bei TG Nieder-Roden Hans-Joachim Rauschenbach (1923–2010), Sportreporter beim Hessischen Rundfunk, Moderator der ARD-Sportschau, wohnte von 1965 bis 1995 in Rodgau Nieder-Roden. Rio Reiser (1950–1996), Frontmann der Band Ton Steine Scherben, wohnte von 1965 bis 1968 in Rodgau Nieder-Roden. Martin Schindler (* 1996), deutscher Dartsprofi. Nicole Brown Simpson (1959–1994), lebte als Kind in Nieder-Roden-Rollwald. Nach ihrer Ermordung 1994 wurde O. J. Simpson wegen Mordes an ihr angeklagt. Michael Thurk (* 1976), Fußballprofi bei Eintracht Frankfurt und dem FC Augsburg, spielte von 1997 bis 1999 für den SV Jügesheim Steffen Wink (* 1967), deutscher Schauspieler lebte von 1969 bis 1993 in Rodgau Nieder-Roden. Gerhard Zwerenz (1925–2015), deutscher Schriftsteller, wohnte Anfang der 1970er Jahre in Rodgau Nieder-Roden Literatur Sprache Hermann Bonifer: Giesemer Platt – ein kernig-derber Dialekt im Kreis Offenbach. Jügesheim 1993. Ilse Eberhardt u. a.: Jedes Örtchen hat sein Wörtchen (Nieder-Röder Wörterbuch), Nieder-Roden 1989, Herausgeber: Arbeitskreis für Heimatkunde Nieder-Roden e. V. Geschichte Hermann Bonifer: Alte Flurnamen erzählen aus Jügesheims Geschichte. Rodgau 1995. Hermann Bonifer: Jügesheim und St. Nikolaus – Dorf und Pfarrei in der Geschichte. Rodgau 2004. Heidi Fogel: Das Lager Rollwald. Rodgau 2004, ISBN 3-00-013586-3. Geschichts- und Kulturverein Hainhausen: 900 Jahre Hainhausen. Hainhausen 2008. Michael Hofmann: Die Eisenbahn in Offenbach und im Rodgau. DGEG Medien, Hövelhof 2004, ISBN 3-937189-08-4. Michael Jäger: Rodgau 1945. Frankfurt 1994, ISBN 3-9803619-0-X. Kämmerer, Albert: Ortschronik Dudenhofen 1278–2011, Dudenhofen 2011. Alfred Kurt: Am Main, im Rodgau und in der Dreieich. Offenbach a. M. 1998, ISBN 3-87079-009-1. Josef Lach: Fünf Dörfer – eine Stadt. Lokay e.K. Reinheim, Rodgau 2011. Karl Pohl: Hier!? lag das karolingische Kloster Rotaha. Nieder-Roden 2008, ISBN 978-3-638-94679-7. Karl Pohl: Das Ende des karolingischen Klosters Rotaha. Nieder-Roden 2008, ISBN 978-3-640-21187-6. Karl Pohl: Die Flurnamen in der Gemarkung Nieder-Roden. Hrsg.: Arbeitskreis für Heimatkunde Nieder-Roden e. V., 2009. Karl Pohl: Nieder-Roden im Jahr 1622 (30-jähriger Krieg). Nieder-Roden 2009, ISBN 978-3-640-47656-5. Karl Pohl: Vom Vogtshof zum Landgericht Nieder-Roden -Der „Niwenhof“ beim ehemaligen karolingischen Kloster Rotaha , Nieder-Roden 2010, ISBN 978-3-640-68562-2. Karl Pohl: Die Äbtissinnen Aba und Hiltisnot und ihr karolingisches Rotaha , Nieder-Roden 2011, ISBN 978-3-640-83469-3. Karl Pohl: Pfründentausch und Gottesdienerschaft im mittelalterlichen Rodgau Nieder-Roden 2012, ISBN 978-3-656-09586-6. Karl Pohl: Das karolingische Kloster Rotaha im Lichte der Flurnamen Nieder-Rodens , 2012, ISBN 978-3-656-28157-3. Karl Pohl: Der Nivenhof – ein merowingischer Königshof? , 2014, ISBN 978-3-656-83498-4. Gisela Rathert u. a.: Nieder-Roden – 786–1986. Nieder-Roden 1986. Manfred Resch u. a.: Unsere Kirche unsere Heimat – 450 Jahre evangelischer Glauben in Dudenhofen. Gudensberg-Gleichen. Helmut Simon: Chronik der Pfarrgemeinde St. Matthias Nieder-Roden. Nieder Roden 1996. Helmut Simon: Nieder-Röder Gedenkbuch, Gefallene und Vermißte 1554–1946. Arbeitskreis für Heimatkunde (Hrsg.), Nieder-Roden 2005. Johann Wilhelm Christian Steiner: Geschichte und Alterthümer des Rodgaus im alten Maingau. Heyer, Darmstadt 1833. Werner Stolzenburg: Rollwald – vom Wald zur Siedlung. Frankfurt 1992. Werner Stolzenburg u. a.: 100 Jahre Rodgau-Bahn 1896–1996. Rodgau 1996. Helmut Trageser: Christen, wollt ihr Rochus ehren, 300 Jahre Rochusgelübde Weiskirchen. Weiskirchen 2002. Margarete Zilch und Arnold Haag: Mühlen an der mittleren Rodau. Weiskirchen 2008. Geschichten Hans F. Busch: Kleine Geschichten aus dem Rodgau. Nidderau 1992. ISBN 3-924490-44-9. Adam Geißler: Dudenhofen zwischen Gestern und Morgen. Frankfurt 1971. Ljubica Perkman u. a.: Rodgau – Stadt im Herzen. 2002. Karl Pohl: Ich, Aba von Rotaha, die Gottgeweihte. Nieder-Roden 2016. Philipp Rupp: Geschichten aus Alt-Nieder-Roden. Nieder-Roden 1985. Helmut Simon: Die kranke Kuh und andere Geschichten aus den früheren Zeiten Nieder-Rodens, Nieder-Roden 2009. Helmut Trageser u. a.: Geschichte und Geschichten, 700 Jahre Weiskirchen. Weiskirchen 1986. Bildbände Bezirkssparkasse Seligenstadt (Hrsg.): Am Main und im Rodgau. Steinheim, Main 1965. Bärbel Armknecht: Rodgau – Impressionen einer Stadt entlang der Rodau. Rodgau 1998. Max Herchenröder: Die Kunstdenkmäler des Landkreises Dieburg. Darmstadt 1940 (betr. nur Nieder-Roden). Manfred Resch: Dudenhofen – wie es einmal war, Gudensberg-Gleichen 1992. Dagmar Söder: Kulturdenkmäler in Hessen, Kreis Offenbach. Braunschweig/Wiesbaden 1987. Helmut Trageser: Weiskirchen in alten Ansichten, Weiskirchen 1984. Einzelnachweise Weblinks www.rodgau.de, Offizielle Website der Stadt Rodgau Informationen zur Vergangenheit des Stadtteils Rollwald Gemeindegründung 1977 Stadt in Hessen Stadtrechtsverleihung 1979
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https://de.wikipedia.org/wiki/Insel-Graufuchs
Insel-Graufuchs
Der Insel-Graufuchs oder Kalifornische Insel-Graufuchs (Urocyon littoralis) ist eine Art der Graufüchse. Er lebt nur auf sechs der acht Kanalinseln vor der Küste Kaliforniens und ist damit eine endemische Art. In Nordamerika ist der Insel-Graufuchs die kleinste unter den dort heimischen Fuchsarten. Weltweit ist nur noch der Fennek kleiner als diese Art. Merkmale Größe und Gewicht Der Insel-Graufuchs ist wesentlich kleiner als der Festland-Graufuchs; seine Größe entspricht etwa der einer Hauskatze. Die Schulterhöhe beträgt etwa 30 bis 33 Zentimeter und die Kopfrumpflänge etwa 48 bis 50 Zentimeter, hinzu kommen bis 29 Zentimeter Schwanzlänge. Beim Festland-Graufuchs beträgt die Kopfrumpflänge dagegen bis zu 68 Zentimeter und die Schwanzlänge bis 44 Zentimeter. Die Insel-Graufüchse wiegen zwischen 1,3 und 2,8 Kilogramm, wobei das Männchen immer größer und schwerer ist als das Weibchen. Von den sechs verschiedenen Unterarten lebt die größte auf Santa Catalina, die kleinste Unterart kommt auf Santa Cruz Island vor. Fell Am Rücken des Fuchses hat das Fell eine graue Färbung; die Körperseiten sind rostrot. Unterbauch, Kopf und die untere Hälfte des Gesichtes sind dagegen weiß gefärbt. Die Schwanzspitze ist schwarz. Im Unterschied zum Graufuchs ist das Fell insgesamt dunkler. Der Haarwechsel fällt in die Monate von August bis November. Bis zu ihrem ersten Haarwechsel ist das Fell der Welpen wolliger und dunkler gefärbt als das der ausgewachsenen Insel-Graufüchse. Verbreitung Das Verbreitungsgebiet des Insel-Graufuchses beschränkt sich heute auf die sechs größten der acht Kanalinseln vor der Küste Kaliforniens: Urocyon littoralis littoralis auf San Miguel Island Urocyon littoralis santarosae auf Santa Rosa Island Urocyon littoralis santacruzae auf Santa Cruz Island Urocyon littoralis dickeyi auf San Nicolas Island Urocyon littoralis catalinae auf Santa Catalina Island Urocyon littoralis clementae auf San Clemente Island Lebensweise Die kalifornischen Kanalinseln umfassen trotz ihrer verhältnismäßig geringen Größe eine Reihe unterschiedlicher Habitate. Dazu gehören Eichen- und Pinien-Wälder der gemäßigten Klimazone, Grassteppen und Dünengebiete sowie Strauchzonen aus Salbei-Arten. Die Füchse nutzten jeden dieser Lebensräume. Auf den Inseln, auf denen sie seit den 1990er Jahren einer starken Bejagung durch den Steinadler ausgesetzt sind, meiden sie jedoch offenes Gelände. Untereinander kommunizieren die Füchse mit Lauten, visuellen Signalen und Geruchsmarken. Ihre Reviergrenzen markieren sie beispielsweise mit Urin und Kot. Insel-Graufüchse zeigen wenig Scheu vor dem Menschen und sind verhältnismäßig einfach zu zähmen. Diese geringe Scheu, die häufig bei Inselarten auftritt, ist darauf zurückzuführen, dass sie über lange Zeit keinen Kontakt zum Menschen hatten und ihn so nicht als Bedrohung wahrnehmen. Ernährung Ihre Nahrung besteht aus Früchten, Insekten, Vögeln, Eiern, Krebsen und kleinen Säugetieren. Auf ihrer Nahrungssuche durchstöbern sie die Inseln gewöhnlich allein. Die Füchse sind überwiegend tagaktiv, wobei ihr Aktivitätsmuster in Abhängigkeit von der Jahreszeit schwankt. Während des Winterhalbjahres suchen sie auch während der Nacht nach Nahrung. Am aktivsten auf Nahrungssuche sind sie jedoch jeweils während der Morgen- und Abenddämmerung. Zu den ungewöhnlichen Eigenschaften der Insel-Graufüchse gehört auch ihre Vorliebe, bei der Nahrungssuche auf Bäume zu klettern. Diese Eigenschaft teilen sie mit dem Festland-Graufuchs. Fortpflanzung und Lebenserwartung Insel-Graufüchse bilden normalerweise monogame Paare. Ab Januar, wenn die Ranzzeit beginnt, kann man die Paare häufig gemeinsam beobachten. Die Tragzeit beträgt zwischen 33 und 50 Tagen, so dass die Welpen von Ende Februar bis Mitte März zur Welt kommen. Die Fähe bringt pro Wurf zwischen ein und fünf Welpen in einem Bau zur Welt. Die normale Wurfgröße besteht aus zwei bis drei Welpen. Das Muttertier säugt die Welpen sieben bis neun Wochen lang. Im Frühsommer verlassen die Welpen den Bau. Geschlechtsreif sind die Jungfüchse bereits in einem Alter von 10 Monaten. Die Weibchen paaren sich normalerweise vor Abschluss ihres ersten Lebensjahres. In der Wildnis erreichen Insel-Graufüchse ein Lebensalter von vier bis sechs Jahren. In menschlicher Obhut werden sie bis zu acht Jahre alt. Systematik und Evolution Die wissenschaftliche Erstbeschreibung des Insel-Graufuchs stammt von Spencer Fullerton Baird aus dem Jahr 1857. Baird beschrieb die Art als Vulpes littoralis und ordnete sie damit in die Gattung Vulpes ein. Die Erstbeschreibung erfolgte auf der Basis eines Individuums von San Miguel Island. Der Insel-Graufuchs bildet heute gemeinsam mit dem Graufuchs die Gattung Urocyon. Auf der Basis von morphologischen und molekularbiologischen Daten wurden beide gemeinsam als Schwestergruppe der gesamten rezenten Hunde eingeordnet, während sie in klassischen Systematiken in der Regel den Echten Füchsen (Vulpini) zugeordnet werden. Diese Position als Schwestergruppe aller Hunde wurde 2012 bestätigt, wobei eine Abspaltung der Vorfahren der Graufüchse von denen aller anderen Hunde wahrscheinlich vor etwa 16,5 Millionen Jahren stattfand, die Auftrennung in die beiden heute bekannten Arten jedoch erst vor etwa einer Million Jahren. Der Insel-Graufuchs stammt evolutionsgeschichtlich von dem auf dem nordamerikanischen Festland lebenden Graufuchs ab. Die geringe Körpergröße ist ein Ergebnis der Inselverzwergung. Noch in den 1970er Jahren wurde der Insel-Graufuchs vereinzelt als Unterart des Festland-Graufuchses eingeordnet. Aufgrund der morphologischen und genetischen Unterschiede zu dieser Fuchsart wird der Inselfuchs mittlerweile generell als eigenständige Art angesehen. Es werden heute insgesamt sechs Unterarten des Insel-Graufuches unterschieden. Jede dieser Unterart ist auf einer der sechs kalifornischen Kanalinseln beheimatet: Urocyon littoralis littoralis, der auf der nur 37,7 Quadratkilometer großen Insel San Miguel lebt Urocyon littoralis santarosae, der auf der 213,6 Quadratkilometer großen Insel Santa Rosa beheimatet ist Urocyon littoralis santacruzae, der auf der 245,4 Quadratkilometer großen Insel Santa Cruz lebt Urocyon littoralis catalinae, der nur auf Santa Catalina vorkommt Urocyon littoralis clementae, der auf der Insel San Clemente lebt Urocyon littoralis dickeyi, der auf San Nicolas beheimatet ist. Jeder Unterart sind jedoch genetische und phänotypische Merkmale eigen, mit denen sie sich deutlich von den anderen Unterarten unterscheiden. So verfügt jede Unterart beispielsweise über eine andere Anzahl von Schwanzwirbeln. Evolutionsgeschichte Die Verzwergung des Insel-Graufuches ist eine Anpassung an die begrenzten Ressourcen, die auf den Inseln zur Verfügung stehen. Es wird angenommen, dass die Füchse vor etwa 10.400 bis 16.000 Jahren auf die drei nördlichen Inseln San Miguel, Santa Cruz und Santa Rosa gelangten. Diese drei Inseln waren während der letzten Eiszeit offenbar leicht vom Festland aus zu erreichen: Während der Eiszeit sank der Meeresspiegel, so dass die drei Inseln San Miguel, Santa Cruz und Santa Rosa eine Landmasse bildeten und nur durch einen kleinen Kanal vom Festland getrennt waren. Auf die weiter vom Festland entfernten Inseln San Nicolas, Santa Catalina und San Clemente gelangten die Insel-Graufüchse offenbar erst später. Viele Autoren gehen davon aus, dass Chumash-Indianer, die die Füchse als heilige Tiere betrachteten, diese als Haustiere auf die Inseln verbrachten. Belegt wird diese Einschätzung auch durch Fossilien und den genetischen Abstand zum Graufuchs des Festlandes. Auf San Clemente leben Insel-Graufüchse offenbar seit 3.400 bis 4.300 Jahren, auf San Nicolas seit etwa 2.200 Jahren. Die Unterart der Santa-Catalina-Füchse ist wahrscheinlich die am jüngsten entwickelte Unterart, wobei die Schätzungen, seit wann die Füchse sich auf dieser Insel befinden, weit auseinandergehen. Je nach Autor wird der Inselbestand seit 800 bis 3.800 Jahren auf Santa Catalina vermutet. Zu den Kalifornischen Kanalinseln zählen zwei weitere Inseln, auf denen sich jedoch keine Fuchsbestände entwickeln konnten. Anacapa Island hat keine zuverlässigen Frischwasserquellen und die Insel Santa Barbara ist zu klein, um den Nahrungsansprüchen eines Fuchses zu genügen. Bestandsentwicklung Die Bestandszahlen des Insel-Graufuchses sind gering. Die Fuchsart ist deshalb wie jede andere Art mit einer geringen Individuenzahl durch natürliche demografische Schwankungen und rasche Umweltveränderungen bedroht. Eine besondere Gefährdung einer solchen Art entsteht dann, wenn es zu extremen Umweltveränderungen, zu plötzlich auftretenden Epidemien sowie zu einer starken Zunahme von Raubtieren kommt. Beim Insel-Graufuchs ist innerhalb eines sehr geringen Zeitraums jeder dieser bedrohenden Faktoren eingetreten. Rückgang der Bestandszahlen seit 1994 Anfang der 1990er Jahre wurde ein starker Rückgang der Bestände der Insel-Graufüchse festgestellt. Auf der Insel San Miguel fiel der Bestand von 450 erwachsenen Tiere im Jahre 1994 auf lediglich noch 15 im Jahre 1999. Ähnlich dramatische Rückgänge der Population wurden auch für die Insel Santa Cruz festgestellt, wo der Bestand im selben Zeitraum von 2.000 erwachsenen Tieren auf 135 sank. Auf Santa Rosa, auf der noch 1994 1.500 Tiere gezählt wurden, lebten im Jahre 2000 nur noch 14 ausgewachsene Tiere. 2002 gab es auf San Miguel und Santa Rosa keine wild lebenden Füchse mehr. Die Individuenzahl dieser Unterarten waren zwar wieder auf 28 (San Miguel) beziehungsweise 45 Tiere angestiegen. Diese wurden jedoch in Gefangenschaft gehalten und nachgezüchtet. Seit 2002 werden auch auf Santa Cruz Füchse in Gefangenschaft nachgezüchtet, nachdem die Anzahl der in der Wildnis lebenden Füchse auf nur noch 60 bis 80 Individuen geschätzt wurde. Die Anzahl der auf San Clemente und auf San Nicolas lebenden Füchse wird jeweils auf etwas mehr als vierhundert Tiere geschätzt. Wie viele Füchse auf Santa Catalina leben, ist unbekannt, da sich diese Insel in Privatbesitz befindet. Steinadler als Ursache der Populationsabnahme Aufgrund von Beobachtungen und telemetrischen Untersuchungen stellte man fest, dass die Besiedlung der kalifornischen Kanalinseln durch den amerikanischen Steinadler die Hauptursache für den starken Populationsrückgang war. Für den Steinadler stellt der Insel-Graufuchs aufgrund seiner geringen Körpergröße eine ideale Beute dar. Steinadler nutzen die Kanalinseln nach den Feststellungen von Biologen erst seit den 1990er Jahren als Jagdrevier. Das erste Nest von Steinadlern wurde sogar erst 1999 auf der Insel Santa Cruz entdeckt. Die Inseln sind für diese Adler aus zwei Gründen als Jagdrevier attraktiv geworden. Verwilderte Haustiere wie Katzen, Schweine, Schafe und Ziegen sind mittlerweile auf diesen Inseln heimisch und bieten den Adlern damit zusammen mit dem Insel-Graufuchs ausreichend Beute. Gleichzeitig sind die Bestände der ursprünglich hier lebenden Weißkopfseeadler aufgrund von DDT-Belastungen seit den 1960er Jahren stark zurückgegangen. Die Anwesenheit von Weißkopfseeadlern hatte vor allem wegen der Rivalität um Nistplätze dafür gesorgt, dass sich Steinadler nicht auf der Insel ansiedelten. Die Nahrungskonkurrenz der beiden Adlerarten ist hingegen gering, da Weißkopfseeadler überwiegend von Fischen leben. Weitere Ursachen des Bestandsrückgangs Neben der zunehmenden Bejagung durch Steinadler haben auch auf die Inseln eingeschleppte Krankheiten und Parasiten die Fuchspopulation dezimiert. Aufgrund ihrer langen Isolation haben die Insel-Graufüchse keine Resistenz gegen die Parasiten und Krankheiten entwickelt, die für Hundeartige des Festlands typisch sind. So hat ein Ausbruch der Tollwut auf der Insel Santa Catalina im Jahre 1998 90 Prozent der Restpopulation getötet. Zum Rückgang tragen außerdem die durch Menschen bedingten Habitatzerstörungen bei. Die durch Menschen eingeführten und mittlerweile verwilderten Haustiere machen die Inseln nicht nur als Jagdrevier für Steinadler attraktiv, sondern verändern das Habitat der Inseln so stark, dass die Nahrungsgrundlage der Füchse gefährdet ist. Zu einer solchen Habitatveränderung haben auch die Bisons beigetragen, die in den 1920er Jahren durch ein Filmteam ausgesetzt wurden, als diese einen Western auf der Insel Santa Catalina drehten. Zudem stehen die Insel-Graufüchse in direkter Nahrungskonkurrenz zu verwilderten Hauskatzen. Schutzmaßnahmen Tierschützer kämpften seit dem Jahr 2000 darum, vier der sechs Unterarten unter Schutz zu stellen. Im Jahre 2004 waren sie mit dieser Unternehmung erfolgreich. Vier der Unterarten sind seit 2004 in den USA gesetzlich als bedrohte Tierart geschützt, und es werden Anstrengungen unternommen, die Anzahl der Tiere zu erhöhen sowie das Ökosystem der Kanalinseln so zu stabilisieren, so dass ein Fortbestand der Arten möglich ist. Geschützt sind nun die Unterarten, die auf Santa Cruz, Santa Rosa, San Miguel und Santa Catalina beheimatet sind. Die IUCN listete die Insel-Graufüchse bis 2004 als eine Tierart mit nur geringem Gefährdungsgrad und änderte dann den Gefährdungsgrad in die (nach „ausgestorben“) höchste Bedrohungsstufe critically endangered (stark bedroht) an. Zum Schutz des Insel-Graufuchses wurde eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet. Zu den Schutzmaßnahmen gehört der Abschuss der Hausschweine auf Santa Cruz und Catilina, durch die die Nahrungsgrundlage der Füchse gefährdet war und die den Steinadler anlockten. Die Nationalparkverwaltung des Channel-Islands-Nationalparks hat die Einführung von Haustieren grundsätzlich untersagt, um damit Krankheitsübertragungen auszuschließen. Außerdem wurde auf San Miguel, Santa Rosa und Santa Cruz ein Zuchtprogramm etabliert, für das die Füchse eingefangen und in Gefangenschaft nachgezüchtet werden. Geplant ist, dass die bisher erfolgreichen Nachzuchten wieder in die Freiheit entlassen werden. Die Bedrohung durch den Steinadler verhindert derzeit die Freilassung der in Gefangenschaft nachgezüchteten Tiere. Als eine Schlüsselmaßnahme für die Bestandserholung der Insel-Graufüchse gilt die Vertreibung des Steinadlers von den Kanalinseln. Sie werden eingefangen und auf dem Festland wieder freigelassen. Gleichzeitig versucht man, die Bestände des Weißkopfseeadlers zu schützen bzw. zu erhöhen, damit dieser im Lebensraum der Kanalinseln den Steinadler verdrängt. Beide Programme sind sehr ressourcen- und damit kostenintensiv und laufen somit in Gefahr, wieder ausgesetzt zu werden. Die Schutzmaßnahmen erwiesen sich als erfolgreich. Der Bestand, der auf Santa Cruz auf etwa 100 Füchse geschrumpft war, lag 2015 bei 2150 Tieren. Die United States Fish and Wildlife Service kündigte an, drei Unterarten des Insel-Graufuchses wieder von der Liste der bedrohten Tiere zu nehmen. Insel-Graufüchse als Bedrohung einer Unterart des Louisianawürgers Auf der Insel San Clemente lebt eine Population des stark bedrohten San-Clemente-Würgers (Lanius ludovicianus mearnsi), einer Unterart des Louisianawürgers. Diese Vogelart gehört unter anderem zum Beutespektrum des Insel-Graufuchses. Zu den Schutzmaßnahmen zugunsten dieser Vogelart zählte bis zum Jahr 2000 der Fang und die Tötung von Insel-Graufüchsen durch die auf dieser Insel ansässige United States Navy. Seitdem Naturschützer auf die starke Bedrohung des Insel-Graufuchses aufmerksam gemacht haben, ergreift die Navy andere Maßnahmen, um die Population dieser Würgerart zu erhalten. Zu den neuen Schutzmaßnahmen gehört das Einfangen und Gefangenhalten der Füchse während der Brutzeit der Würger und die Installation von elektrischen Zäunen rund um die Brutreviere der Würger. Die IUCN weist jedoch darauf hin, dass die Auswirkung der Einfangaktionen auf das Fortpflanzungsverhalten der Füchse durchaus dazu beigetragen haben mag, dass auch auf dieser Insel die Individuenzahlen seit den 1990er Jahren um 60 Prozent zurückgegangen sind, und fordert deshalb eine Überprüfung dieser Vorgehensweise. Belege Literatur R.K. Wayne, u. a.: A morphological and genetic-study of the Island fox, "Urocyon littoralis". in: Evolution. 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Kohlmann, u. a.: Island fox recovery efforts on Santa Catalina Island, California, October 2001–October 2002. Annual Report. Ecological Restoration Department, Santa Catalina Island Conservancy, Avalon Cal 2003. T.J. Coonan, u. a.: Island fox recovery program 2003. Annual Report. National Park Service, Channel Islands 2004. Weblinks Center for biological diversity Tierschutz-Petition Channel Islands National Park's Island Fox Home Page Catalina Island Conservancy: Catalina Island Fox Endangered and Threatened Wildlife and Plants; Proposed Designation of Critical Habitat for the San Miguel Island Fox, Santa Rosa Island Fox, Santa Cruz Island Fox, and Santa Catalina Island Fox. U.S. Environmental Protection Agency 2004. Hunde Kanalinseln (Kalifornien)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Werner%20For%C3%9Fmann
Werner Forßmann
Werner Theodor Otto Forßmann (* 29. August 1904 in Berlin; † 1. Juni 1979 in Schopfheim) war ein deutscher Mediziner und Nobelpreisträger. Er führte 1929 an sich selbst die erste publizierte und über ein Röntgenbild dokumentierte Herzkatheterisierung beim Menschen durch. Wenige Jahre später zeigte er, dass Kontrastmittel im Herzen des Menschen gefahrlos angewendet werden können. Vor allem in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg griffen André Frédéric Cournand und andere Mediziner seine Arbeiten auf; sie bilden die Basis der modernen Herzdiagnostik. Werner Forßmann widmete sich, nachdem seine Arbeiten und Veröffentlichungen in der Kardiologie auf Kritik und wenig Interesse gestoßen waren, der Chirurgie und der Urologie. Er trat 1932 der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) bei. Während des Zweiten Weltkriegs diente er als Sanitätsoffizier in der Wehrmacht und geriet zum Kriegsende in Kriegsgefangenschaft. Nach dem Krieg und dem Ablauf seines Berufsverbots durch die Alliierten arbeitete er mit seiner Frau als Landchirurg und dann als Urologe in Bad Kreuznach. In Anerkennung seiner 1929 noch nicht von der Fachwelt wahrgenommenen Arbeit erhielt er 1956 gemeinsam mit André Frédéric Cournand und Dickinson Woodruff Richards den Nobelpreis für Medizin für ihre Entdeckungen zur Herzkatheterisierung und zu den pathologischen Veränderungen im Kreislaufsystem. Seit 1958 arbeitete Forßmann als Chefarzt der Chirurgie am Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf, wo er bis zu seiner Pensionierung 1969 tätig war. Leben und Werk Frühe Jahre und Ausbildung Werner Forßmann wurde am 29. August 1904 in Berlin als einziges Kind des Juristen Julius Forßmann und dessen Frau Emmy, geborene Hindenberg, geboren. Die Familie seines Vaters stammte ursprünglich aus Finnland, die Familie seiner Mutter war preußisch. Die Eltern und vor allem sein Vater legten Wert auf eine gute Ausbildung. Er absolvierte das humanistische Askanische Gymnasium in Tempelhof. Der Vater, 1914 als Soldat im Ersten Weltkrieg an die Ostfront kommandiert, fiel am 16. September 1916 in Swistelniki, Galizien, als sein Sohn zwölf Jahre alt war. Forßmann wuchs danach bei seiner Mutter und seiner Großmutter Helene Hindenberg auf, die ihn nach preußischen Idealen erzogen. Er wurde zudem stark durch seinen Onkel Walter Hindenberg beeinflusst, der eine Landarztpraxis in Altstrelitz betrieb und den er als Kind und auch als Student häufig besuchte. 1922 begann er sein Studium der Medizin an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität, der heutigen Humboldt-Universität. Während dieser Zeit war Forßmann Mitglied der Studentenverbindung Akademische Liedertafel Berlin. Er studierte unter anderem bei dem Anatomen Rudolf Fick und dem Pathologen Otto Lubarsch. Sein Staatsexamen legte er 1928 ab, danach ging er für seine klinische Ausbildung an das Universitätsklinikum, das ehemalige Krankenhaus Moabit. Hier arbeitete er unter dem Chefarzt und Professor Georg Klemperer und wurde unter anderem von Moritz Borchardt, Lydia Rabinowitsch-Kempner, Ernst Haase, Karl Frik, Karl Bonhoeffer und Louis Lewin unterrichtet. 1929 promovierte er in Berlin zum Dr. med. Seine Dissertation mit dem Titel Ueber die Wirkung der Leberfütterung auf das rote Blutbild und den Cholesterinspiegel im Serum des gesunden Menschen setzte auf die erfolgreiche Behandlung von perniziöser Anämie durch die Gabe von Vitamin B12 in Form von Leberextrakten auf. Forßmann und seine Kollegen untersuchten die potenzielle Blutveränderung bei gesunden Menschen durch die Aufnahme von Leberextrakt (Leberfütterung). Sie tranken zu diesem Zweck täglich einen Liter einer aus Schweineleber konzentrierten Brühe. Klemperer bot Forßmann nach dessen klinischer Ausbildung zunächst eine Volontärstelle an, vergab die Stelle jedoch an einen anderen Interessenten. Daher ging Forßmann nach der Promotion zuerst als Chirurg an eine private Frauenklinik in Spandau, wo er vor allem mit septischen Erkrankungen, Kindbettfieber sowie dem Ausräumen von Fehlgeburten betraut wurde. Hinzu kam die Diathermiebehandlung chronischer vaginaler Entzündungen, die er als stumpfsinnigste Nachmittagsbeschäftigung, die er sich denken konnte, beschrieb. Bereits nach drei Monaten suchte er sich aus Unzufriedenheit eine neue Beschäftigung. Noch 1929 begann er durch persönliche Beziehungen als Assistenzarzt in der Auguste-Victoria-Klinik, dem heutigen Werner-Forßmann-Krankenhaus, in Eberswalde. Dort arbeitete er unter dem Chirurgen und Klinikleiter Richard Schneider. Schneider vertraute ihm von Beginn an zahlreiche Untersuchungen und Operationen an und bildete ihn in der Chirurgie umfassend aus. Sondierung der rechten Herzkammer Bereits während seiner Studentenzeit hatte sich Forßmann mit der Herzdiagnostik beschäftigt. Nach eigenen Aussagen basierte sein späterer Selbstversuch auf den Arbeiten von Claude Bernard, Auguste Chauveau und Étienne-Jules Marey an Haustieren, vor allem Hunden und Pferden. Bernard hatte in dem Lehrbuch Leçons de Physiologie Operatoire einen Holzschnitt veröffentlicht. Er zeigte die Katheterisierung eines auf dem Rücken liegenden Hundes, dem ein Schlauch durch eine geöffnete Halsvene in das Herz geführt worden war, so dass sich der Druck im Herzinneren messen ließ. Forßmann übertrug diese Untersuchungsmethode auf den Menschen, wobei er statt des Halses den besser zugänglichen Arm als Zugang wählte. Er untersuchte die Katheterisierungsmöglichkeit an Leichen und stellte durch eine Autopsie fest, dass er mit einem Schlauch vom Arm bis in das Herz vordringen konnte. Im Frühjahr 1929 führte Forßmann als chirurgischer Assistenzarzt, nachdem Richard Schneider entsprechende Patientenversuche abgelehnt hatte, einen Selbstversuch zur ersten Herzkatheterisierung durch. Der genaue Hergang des Versuchs ist ungeklärt, da Forßmann verschiedene Fassungen des Ablaufs veröffentlichte: Nach der Schilderung in seiner Autobiografie überredete er entgegen dem Verbot Schneiders eine Chirurgieschwester, die medizinischen Geräte für eine Blutentnahme sowie einen vorbereiteten Blasenkatheter aus vulkanisiertem Kautschuk vorzubereiten. Er führte sich dann selbst den Gummischlauch in die linke Armvene. In seiner Veröffentlichung 1929 schrieb er dagegen, dass die Punktion der Vene in einem Vorversuch der Vene durch einen Kollegen, gemeint ist Peter Romeis, erfolgte. In diesem Vorversuch führte er entsprechend dieser Darstellung einen gut geölten Gummischlauch etwa 35 Zentimeter in die Vene ein, bevor sein Kollege das Experiment aus Angst vor möglichen Gefahren abbrach. Nach dieser Schilderung führte er den Versuch dann etwa eine Woche später allein durch. Er nutzte den Zugang über die linke Vena cephalica, eine große Blutader an der Außenseite des Oberarms. Er schob den Katheter 65 Zentimeter weit bis in die rechte Herzkammer und führte ihn durch die Oberarmvene in die Vena subclavia und von dort durch die Vena brachiocephalica und die obere Hohlvene (Vena cava superior) in den rechten Herzvorhof. Dies dokumentierte er mit einer Röntgenaufnahme, für die er (nach der Schilderung in der Autobiografie) mit dem eingeführten Katheter in den Röntgenkeller der Klinik ging und mit Hilfe einer Röntgenschwester ein Bild von dem Schlauch in der rechten Herzkammer machte. Am 5. November publizierte die Klinische Wochenschrift seine Arbeit Über die Sondierung des rechten Herzens. Sie fand aber – ähnlich wie im April 1931 sein Vortrag auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie – in der Fachwelt kaum Resonanz. Forßmann stellte die Katheterisierung vor allem als Alternative der seinerzeit häufig bei Akutbehandlungen angewandten und aufgrund möglicher Verletzung des Herzens und der umgebenden Gefäße sehr riskanten intrakardialen Injektion dar, um eine schnelle örtliche Arzneibehandlung zu gewährleisten. Neben seinem Selbstversuch beschrieb er in diesem Artikel auch die erfolgreiche klinische Anwendung bei der Behandlung einer Patientin mit eitriger Bauchfellentzündung, bei der er den Rechtsherzkatheter zur Medikation einsetzte. Dabei blieb der Katheter 6,5 Stunden im Herzen der Patientin, die jedoch nach kurzer Besserung an ihrer Erkrankung verstarb. Bei der Obduktion fand er den Katheter tatsächlich im Herzen und in der unteren Hohlvene vor; er konnte keine durch den Katheter verursachten Verletzungen in den Venen feststellen. Laut seiner Autobiographie erfolgte die Behandlung der im Sterben liegenden Patientin, deren Bauchfellentzündung von einer Fehlgeburt herrührte, erst nachdem er den Katheter an sich selbst getestet hatte. Er nutzte diesen Versuch nachträglich als Bestätigung seines Selbstversuchs. Für die weitere Laufbahn nahmen Forßmann und Schneider Kontakt mit mehreren angesehenen Medizinern auf. Darunter befanden sich Wilhelm His, der durch seine Entdeckung der Reizweiterleitung des Herzens (His-Bündel) vor allem als Kardiologe berühmt war, und der bekannte Chirurg August Bier. Beide standen allerdings kurz vor der Emeritierung und lehnten ab. Schließlich wurde Forßmann durch Ferdinand Sauerbruch, den Leiter der Charité, vorerst unbezahlt eingestellt und Rudolf Nissen unterstellt. Der Artikel über den Selbstversuch erschien kurz nach der Anstellung in der Klinischen Wochenschrift; parallel dazu beschrieb eine Berliner Tageszeitung den Versuch als Sensation. Forßmann wurde danach durch Ernst Unger und Fritz Bleichröder mit Plagiatsvorwürfen konfrontiert. Sie hatten wenige Jahre vor Forßmann die Applikation von Wirkstoffen durch einen Katheter in herznahe Gefäße untersucht. Dabei legte Unger einen Katheter an Bleichröder an. Bei einem Versuch, bei dem Bleichröder über Brustschmerzen klagte, hatten sie wahrscheinlich auch das Herz katheterisiert, dies jedoch nicht dokumentiert. In diesem Zusammenhang schrieb Unger einen Brief an Ferdinand Sauerbruch. Sauerbruch, der nichts von der Publikation wusste, entließ Forßmann daraufhin wieder. Forßmann zitierte den damaligen Klinikchef Sauerbruch mit den Worten: „Mit solchen Kunststücken habilitiert man sich in einem Zirkus und nicht an einer anständigen deutschen Klinik.“ Nach dieser Entlassung kehrte Forßmann nach Eberswalde zurück, wo seine ehemalige Stelle bereits wieder frei geworden war. Unger schrieb zwei weitere Briefe, einen an Forßmann und einen an Viktor Salle, den Hauptschriftleiter der Klinischen Wochenschrift. Darin forderte er eine umgehende Richtigstellung. In enger Absprache mit Salle veröffentlichte Forßmann einen kurzen Beitrag mit dem Titel Nachtrag, in dem er schrieb: „Wie mir Prof. E. Unger mitteilte, haben Bleichröder, Unger und Löb denselben Versuch wie ich bereits im Jahr 1912 in einer Arbeit über „Intraartielle Therapie“ veröffentlicht. (…) Er (Unger) hat sogar bei Dr. Bleichröder, wie er aus der Länge des Katheters und einem stechenden Schmerz schloß, das rechte Herz erreicht. Die Veröffentlichung dieser letzten Tatsache haben die Verfasser damals unterlassen (…).“ Auch in seiner Nobelpreisrede 1956 stellte Forßmann die Arbeiten von Unger, Bleichröder und Löb heraus. Kontrastdarstellung des Herzens In Eberswalde assistierte Forßmann erneut Schneider bei dessen Operationen. Dabei übernahm er vor allem gynäkologische Eingriffe, wobei er auch den Leiter einer privaten Frauenklinik in Frankfurt an der Oder vertrat. Obwohl Forßmann auf diesem Gebiet vergleichsweise unerfahren war, schickte Schneider ihn als Vertretung nach Frankfurt, wo er unter anderem kleinere Bauchoperationen durchführte, ein Uteruskarzinom operierte und einen komplexen Kaiserschnitt vornahm. Nach einiger Zeit begann Forßmann auf der Suche nach einem neuen physiologischen Arbeitsgebiet, sich mit der Kontrastdarstellung des Herzens zu beschäftigen. Die Darstellung von Magen und Darmkanal hatte sich bereits weit entwickelt. Forßmann nahm an, dass diese Art der Darstellung des Herzens durch die Angiokardiographie deutlich verbessert werden könne. Dank Willi Felix, den er in der Charité kennengelernt hatte, konnte er im Städtischen Krankenhaus Neukölln erst mit Hauskaninchen und später mit Hunden arbeiten. Durch einen Herzkatheter über die Halsvene verabreichte er ihnen ein Kontrastmittel in das Herz. Anschließend konnte er brauchbare Röntgenbilder machen und nachweisen, dass diese Applikation von Kontrastmittel möglich und für Tiere offenbar unschädlich war. Als nächsten Schritt führte er erneut einen Selbstversuch durch, indem er sich ein Kontrastmittel über einen Herzkatheter einspritzte. Mit der ihm verfügbaren Röntgentechnik konnte er jedoch keine guten Bilder anfertigen. Mit Felix erarbeitete Forßmann eine Veröffentlichung für die Münchner Medizinische Wochenschrift. Er meldete seine Arbeit als Vortrag bei der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie für den Jahreskongress 1931 an; er wurde für eine Vier-Minuten-Darstellung angenommen. Danach bot ihm Sauerbruch erneut eine Stelle in seinem Institut an, die Forßmann annahm. Er blieb, zuerst als unbezahlter Volontär, bis Anfang 1932 in der Charité und arbeitete parallel als Chirurg und Vertretungsarzt. Während dieser Zeit lernte Forßmann den späteren Nobelpreisträger Gerhard Domagk kennen, der für die Bayer-Werke das Sulfonamid Prontosil entwickelte und in der Charité frisches Tumormaterial für die chemische Verarbeitung sammelte. Zum Ende seiner Zeit in der Charité wurde Forßmann in die dortige Poliklinik zu Otto Stahl (Direktor der chirurgischen Abteilung des Auguste-Viktoria-Krankenhauses in Berlin), einem frühen und einflussreichen Mitglied der NSDAP, versetzt. Karriere als Urologe während der Zeit des Nationalsozialismus Nachdem Forßmann die Charité verlassen hatte, arbeitete er auf Anraten Sauerbruchs vom 31. Juli 1932 an als Assistenzarzt am Mainzer Städtischen Krankenhaus in der Chirurgie unter Willi Jehn. Hier traf er seine spätere Ehefrau Elisabeth Engel, die er am 7. Dezember 1933 heiratete. Nach der „Machtergreifung“ wurde das Krankenhaus nach einem Streit zwischen dem Leiter der Inneren Medizin und einem in der NSDAP und der SA aktiven Assistenzarzt unter nationalsozialistische Leitung gestellt. Da Ehepaaren die Arbeit an demselben Krankenhaus verboten war, verließ Forßmann Mainz und suchte nach einer neuen Anstellung in Berlin. Dort baute Karl Heusch, der vorher ebenfalls bei Sauerbruch gearbeitet hatte, die erste deutsche urologische Fachabteilung an einem Krankenhaus auf und bot Forßmann eine Anstellung als Oberarzt der Urologischen Abteilung am Rudolf-Virchow-Krankenhaus an. Über Heusch kam Forßmann in Kontakt mit dessen Lehrer Otto Ringleb, der die Urologie trotz des Widerstands von Sauerbruch an der Charité wesentlich vorantrieb, und zur Zeit des Nationalsozialismus als Mitglied der Schutzstaffel bis 1944 zum SS-Oberführer aufstieg. Durch den Ausschluss jüdischer Ärzte waren zahlreiche medizinische Fachgesellschaften nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten kollabiert, darunter auch die Berliner Urologische Gesellschaft und die Deutsche Urologische Gesellschaft. Nach Angaben der Universität Ulm war 1933 etwa jeder vierte Urologe in Deutschland jüdischer Herkunft. Heusch und Ringleb bauten diese Gesellschaften in ihrem Sinne und unter Beteiligung zahlreicher Vorstandsmitglieder aus den höheren Rängen der NSDAP sowie der SS wieder auf. Sie organisierten 1936 den ersten Fachkongress der Deutschen Urologischen Gesellschaft. Forßmann hielt dort einen Vortrag zum Status der Urologie und der erfolgreichen Anwendung der Elektroresektion bei der Behandlung der Prostatahyperplasie. Im gleichen Jahr bewarb er sich erfolgreich auf eine Stelle als Oberarzt bei Albert Fromme am Städtischen Krankenhaus in Dresden-Friedrichstadt, dem damals größten Zentrum für Chirurgie in Deutschland. Er blieb dort bis 1937. In diesem Krankenhaus wurden eugenische Sterilisationen durchgeführt, für die Forßmann zwar nicht direkt zuständig war, die er jedoch genehmigen musste. Nach eigener Darstellung konnte er sich während seiner Dresdner Zeit vor Sterilisationen „drücken“, da diese nur Fachärzte der Chirurgie vornehmen durften und er Facharzt für Urologie war. Nach 1937 arbeitete er am mittlerweile als Robert-Koch-Krankenhaus bekannten Krankenhaus Moabit, ebenfalls als Oberarzt für Chirurgie. Als Oberarzt und stellvertretender Leiter der Chirurgie am Universitätsklinikum wurde Forßmann von Kurt Strauß, dem Leiter der Chirurgie und SS-Führer, mit Karl Gebhardt, dem Leibarzt Heinrich Himmlers, bekanntgemacht. Gebhardt sagte Forßmann Unterstützung für seine Arbeit zu, die dieser jedoch ablehnte. Ein Jahr später geriet Forßmann nach eigener Darstellung in Konfrontation mit Strauß, da er entgegen einem Verbot nach den Novemberpogromen von 1938 verletzte Juden in das Krankenhaus aufnahm und gemeinsam mit den sogenannten „arischen Deutschen“ behandelte. Als Chirurg und Sanitätsoffizier im Zweiten Weltkrieg Über die Tätigkeiten Forßmanns während der NS-Zeit und des Zweiten Weltkriegs liegen fast nur Angaben von ihm selbst in seiner Autobiografie vor. Er wurde bereits zum 1. August 1932 und damit vor der Machtübernahme der NSDAP beigetreten (Mitgliedsnummer 1.277.382) sowie später auch der SA und dem NSDÄB. Die Gründe für seinen Beitritt zur NSDAP sind unklar. Er selbst gab an, dass die treibende Kraft die Suche nach einer Vatergestalt gewesen sein könnte. Zugleich versprach die Ideologie auch bessere Karrierechancen für ihn sowie ein ökonomisch gestärktes Deutschland. Forßmann meldete sich 1939 zur Wehrmacht und nahm an mehreren Übungen teil. Im Zweiten Weltkrieg war er als Sanitätsoffizier für Chirurgie eingesetzt. Nachdem Forßmann bereits vorher mehrere Übungen mitgemacht hatte, wurde er am 11. August 1939 mit zahlreichen weiteren Reserve-Sanitätsoffizieren zu einer Übung in das Standortlazarett Stettin eingezogen. Von dort kam er kurz vor dem Kriegsbeginn mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 nach Königsberg. Die Sanitätsoffiziere wurden über Ostpreußen verteilt. Forßmann übernahm das Auffanglazarett in Johannisburg (heute Pisz), in das vor allem zahlreiche Verletzte aus der Schlacht um Łomża kamen. Nach dem Überfall auf Polen arbeitete er im Reservelazarett in Bromberg (heute Bydgoszcz), bevor er in die neu gegründete Sanitätsersatzabteilung VI in Riesenburg (heute Prabuty) und später als Ausbilder nach Kremerbruch in Hinterpommern (heute Kramarzyny) versetzt wurde. Vor dem deutschen Überfall auf Norwegen und Dänemark am 9. April 1940 wurde Forßmann nahe Danzig in Bereitschaft versetzt und Ende April als Sanitätsoffizier nach Oslo befohlen. Von dort ging er nach Åndalsnes zur Sanitätskompanie 1/163 der 163. Infanterie-Division. In Norwegen war er unter anderem in Dovre, Ålesund und später im Raum Oslo und in Mosjøen mit der Kranken- und Verletztenversorgung befasst. Nach seiner Rückkehr ging Forßmann für kurze Zeit zurück an die Chirurgie in Moabit, die mittlerweile Erwin Gohrbandt leitete. Im Februar 1941 folgte mit der Sanitätskompanie 1/123 die Verlegung in den Warthebruch. Er nahm am 22. Juni im Rahmen seiner Einheit am Überfall auf die Sowjetunion teil. Im Deutsch-Sowjetischen Krieg wurde er Anfang 1942 unter anderem als Feldarzt und Offizier der 123. Infanterie-Division in der Kesselschlacht von Demjansk eingesetzt; er befehligte dort einen Hauptverbandplatz. Im Oktober 1942 konnte er zurück nach Berlin und arbeitete erneut im Robert-Koch-Krankenhaus. Von dort aus ging er im April 1943 als Klinikleiter an das Städtische Krankenhaus in Potsdam. Hier behandelte er am 1. Mai 1943 den Stabschef der SA Viktor Lutze und dessen Familie, die einen schweren Autounfall erlitten hatten. Lutze und dessen Tochter starben an ihren Verletzungen. Nach dem Ende seiner Tätigkeit kam Forßmann für einige Wochen an das Reservelazarett Brandenburg, das in der Heil- und Pflegeanstalt Brandenburg-Görden untergebracht war. Als Sanitätsoffizier wurde Forßmann hier auch zur Beobachtung und Überwachung von Hinrichtungen im Zuchthaus Brandenburg-Görden befohlen, bei denen ihm die Aufgabe zukam, Todeszeitpunkte festzustellen. Die letzten Kriegsjahre wandelte Forßmann als Sanitätsoffizier und Chirurg das Lazarett in der Heil- und Pflegeanstalt Neuruppin im Rahmen der Aktion Brandt von einem Leichtkrankenlazarett in die zentrale Abteilung des Wehrkreises für Schwerstverletzte um. Hier arbeitete er bis zur Auflösung des Lazaretts kurz nach der weitgehenden Zerstörung der Stadt und der Übernahme durch die Rote Armee 1945. Kurz vor Kriegsende floh Forßmann mit Hilfe eines selbst erstellten Marschbefehls nach Wittenberge. Nachdem er die Elbe überquert hatte, nahmen US-Soldaten ihn gefangen. Er blieb bis zum Oktober 1945 in US-Kriegsgefangenschaft. Dann kehrte er zu seiner Familie zurück, die mittlerweile in Wies im Schwarzwald lebte. Nachkriegszeit und Nobelpreis Die Zeit der Entnazifizierung, in der er als früheres NSDAP-Mitglied für mehrere Jahre Berufsverbot hatte, überbrückte Forßmann in Wies in der privaten Praxis seiner Frau; er half ihr als Landchirurg. 1948 stufte ihn ein Spruchkammerverfahren der französischen Besatzungsmacht wegen seiner Aktivitäten als Mitläufer ein. 1950 nahm er eine Tätigkeit als Facharzt für Urologie an den Diakonie-Anstalten in Bad Kreuznach (heute Stiftung kreuznacher diakonie) auf. Die Praxis mit 18 Belegbetten unterhielt er gemeinsam mit seiner Frau, die 1952 ihre Anerkennung als Fachärztin erhielt und ihn so auch offiziell vertreten konnte. 1953 hielt Forßmann einen Vortrag zur transurethralen Resektion bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Urologie in Aachen. 1953 wurde ihm die konsiliarische Behandlung der Urogenitaltuberkulose in der Tuberkulose-Praxis von Josef Kastert in Bad Dürkheim übertragen. Mit der Kardiologie beschäftigte sich Forßmann seit seiner Fokussierung auf die Chirurgie und Urologie nicht mehr; er hatte auch mit der wissenschaftlichen Forschung auf diesem Gebiet abgeschlossen. Dadurch nahm er auch die Entwicklung der Herzkatheterisierung sowie die Arbeiten des französischstämmigen André Frédéric Cournand und anderer Kollegen zur modernen Herzdiagnostik nicht wahr, die seit 1941 auf seiner Arbeit aufbauten. Erst in den frühen 1950er Jahren hatte er die Gelegenheit, sich eine Kinderklinik in Basel anzusehen, die die moderne Herzkatheterisierung einsetzte. 1951 lud ihn der englische Mediziner John McMichael nach London ein, damit er an einem Film über die Herzkatheterisierung mitwirken konnte. Auf der Reise lernte er den Medizinnobelpreisträger Henry Hallett Dale kennen. 1951 traf er auch André Cournand, als dieser zu einem Besuch bei Fritz Eichholtz in Heidelberg zu Gast war. In der Folge freundete sich Forßmann mit Hugo Wilhelm Knipping in Köln an und besuchte ihn häufig, unter anderem zur Grundsteinlegung der Kernforschungsanlage in Jülich (KFA, heute Forschungszentrum Jülich). 1954 bat Otto Goetze, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, Forßmann, auf der Jahrestagung einen Vortrag zur Geschichte der Herzkatheterisierung zu halten. Forßmann willigte ein. Im selben Jahr erhielt Forßmann die Leibniz-Medaille der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin für seine Verdienste um die therapeutische Herzchirurgie. Als erster Chirurg nach dem Berner Theodor Kocher im Jahr 1909 erhielt Forßmann 1956 mit André Frédéric Cournand und Dickinson Woodruff Richards den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin für deren Entdeckungen zur Herzkatheterisierung und zu den pathologischen Veränderungen im Kreislaufsystem. Nach Bekanntgabe des Nobelpreises wurde Forßmann, der bis dahin mit Ausnahme seiner Dissertation keine akademischen Leistungen erbracht hatte, auf Druck mehrerer Kollegen und entgegen dem Willen des Dekans Blücher Honorarprofessor für Chirurgie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Den Nobelpreis erhielten die Preisträger am 10. Dezember 1956 in Stockholm überreicht. Die Laudatio hielt Göran Liljestrand, Mitglied des Nobelkomitees, bevor die Preisträger die Urkunden und Medaillen entgegennahmen. Am 11. Dezember hielt Forßmann seine Nobelvorlesung zur historischen Entwicklung der Herzkatheterisierung, während Cournand den theoretischen Teil der Methode und Richards die klinische Darstellung übernahmen. Die Zeit nach dem Nobelpreis 1958 ging Forßmann als Chefarzt der Chirurgie an das Evangelische Krankenhaus Düsseldorf. Das Kuratorium des Krankenhauses unter Leitung Detlef Hertings stellte ihn als Nachfolger des Chirurgen Alfred Beck ein. Nach eigener Darstellung begann das Arbeitsverhältnis allerdings sehr kühl, da Beck seine Position nicht räumen wollte und Forßmann das Image eines Landarztes ohne chirurgische Erfahrung anhaftete. Schon nach kurzer Zeit kam es zu einem öffentlich ausgetragenen Streit zwischen Forßmann und dem Kuratorium sowie innerhalb der Kuratoriums. Forßmann erhielt bereits zum Ende der Probezeit nach sechs Monaten die Kündigung, sollte jedoch bis Ende 1958 weiter beschäftigt werden. Ein wesentliches Problem stellte eine „Denkschrift“ Forßmanns an das Kuratorium dar, in der er Missstände der Klinik benannte. Hinzu kam die auf seinen Ruf zurückgeführte Weigerung Düsseldorfer Ärzte, Patienten in die Klinik unter Forßmanns Leitung einzuliefern. Das Kuratorium forderte eine Befähigungsprüfung, die die Düsseldorfer Ärztekammer mit Verweis auf Forßmanns Erfahrungen und Zeugnisse jedoch ablehnte. 1959 wurde in dem Fall ein Schlichtungsverfahren der Landesärztekammer unter Leitung des Kölner Arztes Kaspar Roos durchgeführt. Im gleichen Jahr verlieh der Bundespräsident Theodor Heuss Forßmann das Bundesverdienstkreuz. Das Schlichtungsverfahren endete in einem Vergleich sowie einer Bestätigung Forßmanns im Amt. Er blieb bis zu seiner Pensionierung (1969) Chefarzt der Chirurgie und förderte parallel den Ausbau der Radiologie als eigenständige Abteilung unter der Leitung von Heinz Hornig sowie später den Aufbau einer eigenen Abteilung für Anästhesiologie unter Lena Adelheid Funke. Forßmann wurde danach Honorarprofessor der Universitäten Córdoba (1961) und Düsseldorf (1964) sowie 1962 Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Zudem war er Mitglied des American College of Chest Physicians und Ehrenmitglied der Schwedischen Gesellschaft für Kardiologie und der Deutschen Gesellschaft für Urologie. 1967 kam die Ehrenmitgliedschaft der Nationalen Akademie der Wissenschaften von Indien hinzu. Vor allem nach der Verleihung des Nobelpreises äußerte sich Forßmann öffentlich und stellte seine Positionen unter anderem zur Euthanasie, zur Todesstrafe, zur Sterbehilfe und zur Organtransplantation dar. Seine Haltungen waren vor allem bedingt durch seine Arbeit als Arzt während des Nationalsozialismus. Von 1957 bis 1978 war er regelmäßiger Gast der Tagung der Nobelpreisträger in Lindau, an der er 16-mal teilnahm. Am 3. Januar 1968 druckte die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine deutliche Stellungnahme Forßmanns gegen die Transplantation unpaarer Organe als Reaktion auf die erste Herztransplantation durch den südafrikanischen Arzt Christiaan Barnard. Vor allem Herz und Leber sollten seiner Ansicht nach nicht für Transplantationen in Frage kommen. In den 1960er und 1970er Jahren kam vor allem aufgrund der Aktivitäten von Terrororganisationen wie der Roten Armee Fraktion (RAF) die Diskussion um die Wiedereinführung der Todesstrafe in Deutschland auf. Forßmann lehnte die Todesstrafe strikt ab. Ruhestand und Persönliches Nach seiner Pensionierung 1969 schrieb Forßmann an seiner Autobiografie, die 1972 unter dem Titel „Selbstversuch“ erschien. Seinen Ruhestand verbrachte er in Wies-Wambach. Mit seiner Frau hatte er sechs Kinder: Klaus (geboren 1934), Knut (geboren 1936), Jörg (geboren 1938), Wolf-Georg (geboren 1939), Bernd (geboren 1940) und Renate (geboren 1943). Mit Ausnahme Renates wurden alle Kinder in Berlin geboren, sie kam in Schopfheim zur Welt. Sein Sohn Bernd Forßmann ist Physiker und einer der Entwickler der in der praktischen Urologie eingesetzten extrakorporalen Stoßwellenlithotripsie bei Dornier System. Der Anatom Wolf-Georg Forßmann arbeitete unter anderem als Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Die Tochter Renate Forßmann-Falck lebt in Richmond, Virginia, USA, und ist Psychiaterin. Werner Forßmann starb am 1. Juni 1979 an den Folgen eines Myokardinfarkts im Städtischen Krankenhaus in Schopfheim. Wissenschaftliche Aufarbeitung der Biografie Forßmanns Forßmanns Leben und sein Werk abseits des zum Nobelpreis führenden Selbstversuchs zur Rechtsherzkatheterisierung sind von unabhängiger Seite wenig untersucht und dokumentiert; eine wissenschaftliche Aufbereitung der Biografie existiert nur in Teilen. Kurzbiografien beschreiben in der Regel nur den Ablauf des Selbstversuchs und die Nobelpreisverleihung, während sie auf große Teile des weiteren Lebens nicht eingehen. Er selbst stellt sein Leben ausführlich in seiner Autobiografie dar, sodass einige Zeiträume und vor allem seine Aktivität in der Zeit des Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg fast ausschließlich durch dieses Buch belegbar sind. Da es sich hier um eine Selbstdarstellung mit einer persönlichen Sicht auf die Ereignisse handelt, sind Aussagen aus diesem Werk kritisch zu betrachten. Der kanadische Historiker Michael H. Kater untersuchte mehrere autobiografische Darstellungen von Ärzten, die während der NS-Zeit in Deutschland aktiv waren, und identifizierte kritische Auslassungen und Verharmlosungen der eigenen Aktivitäten. Speziell bei Forßmann kritisierte Kater Auslassungen sowie die Neigung, die Taten und Positionen anderer Nationalsozialisten in seinem Umfeld, etwa Kurt Strauß, besonders zu betonen und dadurch die eigene Pro-NSDAP-Haltung herunterzuspielen. Die Umstände seines Parteibeitritts, der bereits 1932 und damit vor der Machtergreifung Adolf Hitlers erfolgte, werden dagegen in der Autobiografie nicht dargestellt; die Mitgliedschaft im NS-Ärztebund bleibt unerwähnt. Bedeutung des Rechtsherzkatheters für die medizinische Forschung Die erste Arbeit zur Katheterisierung des (linken) Herzens veröffentlichte Johann Friedrich Dieffenbach bereits 1834. Er versuchte bei einem sterbenden Cholerakranken die Herztätigkeit durch mechanische Reizung der Herzinnenwand zu stimulieren. 1848/49 erwähnte Rudolf Virchow dies in seinen Vorlesungen. Werner Forßmann gab an, erst 1971 von diesem Versuch erfahren zu haben. Obwohl die Katheterisierung des rechten Herzens und der Selbstversuch Forßmanns zur Zeit seiner Durchführung wenig beachtet wurde und für Forßmann einen deutlichen Verlust seiner Reputation als Kardiologe bedeutete, war dieser Versuch sein wichtigster Beitrag zur medizinischen Forschung. Forßmann hatte als erster Mensch dokumentiert, wie er einen langen und biegsamen Katheter zum Herzen geführt und diesen Versuch unbeschadet überstanden hatte. Sein Selbstversuch und dessen Dokumentation bildeten die Basis für zahlreiche Entwicklungen der Herzkatheteruntersuchung sowie der darauf aufbauenden Angiografie der Lungenstrombahn. Noch 1930 veröffentlichte der Mediziner Hans Baumann einen Artikel Über die Verwertbarkeit der verschiedenen Methoden zur Minutenvolumenbestimmung, bei der er zur Minutenvolumenbestimmung die Punktierung des Herzens anwendete. Der Kardiologe Arrigo Montanari aus Florenz, der um 1928 Versuche zur Katheterisierung des Herzens an Tieren und Leichen durchführte, bestätigte 1930 das Verdienst Forßmanns. Er sei der erste Mediziner gewesen, der die Herzkatheterisierung am lebenden Menschen durchgeführt und beschrieben habe. Montanari meinte, dass die von Forßmann gewählte radiologische Dokumentation bei der Durchführung dieser Technik sinnvoll und notwendig sei. Weniger bekannt blieben die nur wenige Monate nach seinem Selbstversuch publizierten Ergebnisse des in Prag praktizierenden tschechischen Mediziners Otto Klein. Er bestimmte nach der von Forßmann publizierten Methode über Herzkatheter den Herz-Blutdruck und die Sauerstoffkonzentration im Herzblut bei Lungenpatienten. Weitere Anwendungen der Rechtsherzkatheterisierung wurden später aus Spanien, Kuba und Argentinien berichtet. Vor allem die Arbeiten der beiden mit Forßmann ausgezeichneten Nobelpreisträger André Frédéric Cournand und Dickinson Woodruff Richards zur Messung des Herzminutenvolumens mit Hilfe des Rechtsherzkatheters basierten auf den bis dahin fast vergessenen Versuchen Forßmanns, auf die sie bei Recherchen zu ihren Forschungen am Bellevue Hospital in New York gestoßen waren. Cournand und Richards beschäftigten sich mit Herz- und Kreislaufbeschwerden und wandten die Rechtsherzkatheterisierung für die Untersuchung verschiedener Erkrankungen an. Dabei nutzen sie die Methode beispielsweise bei der Untersuchung von traumatischem Schock, bei der Wirkung von Herzmedikamenten und Herzkrankheiten sowie bei deren Behandlung und Diagnose. Sie verbesserten die Katheterisierung und erforschten ihre Anwendungsmöglichkeiten zuerst in Versuchen an Hunden und Schimpansen sowie später am Menschen. Ende der 1930er Jahre konnten sie komplizierte und bis dahin unbekannte Herzfehler feststellen und behandeln. Um 1940 kam die Methode in die klinische Praxis. Sie breitete sich weltweit sehr rasch aus. Gemeinsam mit der bildgebenden Angiokardiographie erlaubte die Katheteruntersuchung die umfassende Diagnostik des Herzens und darauf aufbauend die moderne Kardiologie. Cournand stellte 1949 die Rechtsherzkatheterisierung auch zum Erkennen angeborener Herzfehler dar. Später war er der erste Arzt, dem eine Lungenkatheterisierung mit einem Katheter gelang, den er durch das rechte Herz und die Lungenarterie in die Lunge schob. Spätere Entwicklungen der Herzkatheter führten in den 1970er Jahren zum Ballonkatheter und der dadurch möglichen Ballondilatation zur Aufdehnung krankhaft verengter Blutgefäße. Der Kardiologe Andreas Roland Grüntzig führte sie 1977 erstmals erfolgreich durch. Ehrungen Werner Forßmann erhielt als höchste Auszeichnung 1956 den Nobelpreis für Medizin gemeinsam mit André Frédéric Cournand und Dickinson Woodruff Richards. Hinzu kamen weitere Ehrungen: Leibniz-Medaille der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1954) Verleihung der Ehrenbürgerrechte der Stadt Bad Kreuznach (1957) Großes Bundesverdienstkreuz mit Schulterband und Stern (1964) Commandeur dans l’Ordre des Palmes Académiques (1971) Ehrendoktorwürde der medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität (1977) Zum 50. Jahrestag der Verleihung des Nobelpreises gab 2006 die Deutsche Post eine 90-Cent-Sondermarke heraus Das Klinikum Barnim an Forßmanns Wirkungsstätte Eberswalde trägt den Namen Werner-Forßmann-Krankenhaus (1991) Werner-Forßmann-Preis als Stiftungspreis der Ruhr-Universität Bochum Ehrengrab in Wies im Schwarzwald Veröffentlichungen Werner Forßmann arbeitete vorwiegend als praktischer Chirurg und Urologe. Er gehörte für den größten Teil seines Lebens keiner wissenschaftlichen Einrichtung an. Die Anzahl der Publikationen Forßmanns ist gering. Von besonderer Bedeutung sind vor allem seine frühen Veröffentlichungen zur Rechtsherzkatheterisierung sowie Veröffentlichungen im Rahmen der Nobelpreisverleihung. Wissenschaftliche Veröffentlichungen (Auswahl) Ueber die Wirkung der Leberfütterung auf das rote Blutbild und den Cholesterinspiegel im Serum des gesunden Menschen. Medizinische Dissertation, Berlin 1929. Die Sondierung des rechten Herzens. In: Klinische Wochenschrift. Band 8, 1929, S. 2085 ff. Über die Sondierung des rechten Herzens. In: Berliner Klinische Wochenschriftvom 5. November 1929. Die Schmerzbetäubung bei Eingriffen an den Harnorganen. Zeitschrift für Urologie 29, 1936; S. 316–28 Klinik und Technik der Elektroresektion. Zeitschrift für Urologie 31, 1937; S. 153–70 Nobel Lecture: The Role of Heart Catheterization and Angiocardiography in the Development of Modern Medicine., erschienen in: Nobel Lectures, Physiology or Medicine 1942–1962, Elsevier Publishing Company, Amsterdam 1964. Abgerufen auf nobelprize.org am 16. Februar 2014. Biografische Veröffentlichungen Selbstversuch. Erinnerungen eines Chirurgen. Droste Verlag, Düsseldorf 1972, ISBN 3-7700-0313-6. (auch erschienen in Lizenzausgabe für den Deutschen Bücherbund Stuttgart 1972) Vorstoß ins Herz. Droste, Düsseldorf 1972. Autobiografie von Werner Forßmann auf den Seiten der Nobelstiftung zur Preisverleihung 1956 (englisch). Abgerufen auf nobelprize.org am 16. Februar 2014; erschienen in: Nobel Lectures, Physiology or Medicine 1942–1962, Elsevier Publishing Company, Amsterdam 1964. Literatur Werner Forssmann: Die Sondierung des rechten Herzens. Klin. Wochenschr. 8 (1929): 2085–2087; übersetzt von J.Schaefer in W.A.Seed: The introduction of cardiac catheterization. In: Gilbert Thompson (Hrsg.): Nobel Prizes that Changed Medicine. London 2012, pp. 69–87. Werner Forßmann: Selbstversuch. Erinnerungen eines Chirurgen. Droste Verlag, Düsseldorf 1972, ISBN 3-7700-0313-6. (auch erschienen in Lizenzausgabe für den Deutschen Bücherbund Stuttgart 1972) Diana Berry: Pioneers in cardiology. Werner Forssmann – sowing the seeds for selective cardiac catheterization procedures in the twentieth century. In: European Heart Journal 30 (11), 2009, S. 1296–1297. (Volltext) Renate Forssmann-Falck: Werner Forssmann: A Pioneer of Cardiology. In: The American Journal of Cardiology 79, 1. März 1997. (Volltext) H.W. Heiss: Werner Forssmann: A German Problem with the Nobel Prize. Clinical Cardiology 15 (7), 1992, S. 547–549. (Volltext) Gustavo Martínez Mier, Luis Horacio Toledo-Pereyra: Werner Theodor Otto Forssmann: Cirujano, Cateterista y Premio Nobel Cirujano General 22 (3), 2000, S. 257–263. (Volltext) Forßmann, Werner Theodor Otto In: Bernhard Kupfer: Lexikon der Nobelpreisträger. Patmos-Verlag, Düsseldorf 2001, ISBN 3-491-72451-1, S. 133. Ingrid Graubner: Der Weg zum Herzen (PDF; 129 kB) Artikel in Humboldt, der Universitätszeitung der Humboldt-Universität, Ausgabe 9 – 2003/2004, Jahrgang 48 – 29. Juli 2004, S. 11. Forßmann: Sonde im Herzen. Der Spiegel 44/1956; Html-Text und vollständiges PDF. Manfred Stürzbecher: Forßmann, Werner Theodor Otto. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 416 f. M. C. Truss, C. G. Stief, U. Jonas: Werner Forssmann. Surgeon, urologist and Nobel Prize winner. In: World Journal of Urology. 17, 1999, S. 184–186. Weblinks insbesondere: Biographical Interview mit Nobelpreisträger Werner Forßmann, Deutscher Fernsehfunk vom 4. April 1965. (Video im ARD-Retro-Angebot der ARD Mediathek) Werner Forßmann im Mainzer Professorenkatalog Aktuelle Kamera: Interview mit Nobelpreisträger Werner Forßmann, Deutscher Fernsehfunk vom 4. April 1965. (Video im ARD-Retro-Angebot der ARD Mediathek) Einzelnachweise Chirurg Urologe Erfinder Nobelpreisträger für Physiologie oder Medizin Mediziner (20. Jahrhundert) Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern und Schulterband Träger des Ordre des Palmes Académiques (Komtur) Träger der Leibniz-Medaille Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften Korporierter im SV Sanitätsoffizier (Deutsches Reich) NSDAP-Mitglied SA-Mitglied Deutscher Geboren 1904 Gestorben 1979 Mann NSDÄB-Mitglied Hochschullehrer (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)
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Tabascosauce
Tabascosauce () ist eine scharfe Chilisauce auf der Grundlage von Tabasco-Chilis, die seit 1868 von dem Unternehmen McIlhenny Co. hergestellt wird. Die ursprüngliche Tabascosauce wird als Tabasco Pepper Sauce bezeichnet, inzwischen umfasst die Tabasco-Produktpalette jedoch noch weitere Saucen, zum Beispiel die mildere Tabasco Green Pepper Sauce aus grünen Jalapeño-Chilis oder die Tabasco Garlic Pepper Sauce mit Knoblauch. Der Unternehmenssitz befindet sich auf Avery Island in Louisiana. Der Name „Tabasco“ ist ein eingetragenes Warenzeichen; er leitet sich vom gleichnamigen Bundesstaat in Mexiko ab und soll in der Sprache der dortigen Ureinwohner „Land, in dem die Erde heiß und feucht ist“ bedeuten. Herstellung Der genaue Herstellungsprozess sowie die Rezeptur der Tabascosauce gelten als Unternehmensgeheimnis. Bekannt ist, dass Tabascosauce aus Essig, zerstoßenen, reifen Chilis und Salz ohne Zusatz von Konservierungsmitteln oder Farbstoffen hergestellt wird. Der besondere Geschmack der Sauce entwickelt sich durch den Fermentierungsprozess, den der Chilisud während seiner bis zu dreijährigen Lagerung in Eichenfässern durchläuft. Die Fässer übernehmen sie von Jack Daniel’s, da der Whiskey nur in neuen, unbenutzten Fässern reifen darf und diese anschließend nicht mehr benötigt werden. Die für die Sauce verwendeten Chilis stammen von Pflanzen, deren Zucht dem Unternehmen unterliegt. Das Salz wird aus den Salzvorräten von Avery Island gewonnen, dem Sitz des Unternehmens McIlhenny Co. Die Sauce wird meist in Flaschen mit einer Größe von 2 oz (57 ml) oder 5 oz (148 ml) verkauft, es gibt jedoch auch größere Abfüllungen von bis zu einer Gallone (ca. 3,8 l) und Miniaturflaschen mit 1/8 oz (ca. 4 ml). Anbau der Chilischoten Ursprünglich wurden alle für Tabascosauce verwendeten Chilis auf Avery Island oder in anderen Teilen des südlichen Louisiana angebaut, oftmals auf kleinen Familienfarmen, die ihre Ernte an McIlhenny Co. oder andere Hersteller verkauften, aber auch auf Feldern des Unternehmens, auf denen Arbeiter der umliegenden Ortschaften arbeiteten. Während des Wandels von kleinen Farmen hin zu großen Agrarbetrieben, der sich im 20. Jahrhundert in den gesamten USA vollzog, änderte sich auch die Struktur der Landwirtschaft in Louisiana. Während noch 1938 Louisiana an erster Stelle der Chili anbauenden US-Bundesstaaten lag, verlagerte sich die Produktion bald in Richtung Zuckerrohr, Reis und Sojabohnen. Um jedoch die gestiegene Nachfrage an Tabascosauce und damit auch Chilis zu befriedigen, ging man dazu über, den Anbau teilweise nach Lateinamerika zu verlegen. Aufgrund der dort vorherrschenden Klimabedingungen, die für den Anbau von Chili besser sind als auf Avery Island, konnte so eine Versorgung mit frischen Chilis über das ganze Jahr hinweg gewährleistet werden. Auch heute wird ein großer Teil der Chilis in Lateinamerika angebaut, die dort wachsenden Pflanzen stammen jedoch direkt von den Pflanzen ab, die auf Avery Island angebaut werden. Von diesen werden die Samen entnommen und an die Vertragsbauern geschickt. Damit die von Hand gepflückten Chilis zur Ernte den idealen Reifegrad besitzen, wird vor dem Pflücken die Farbe der Frucht mit einem kleinen roten Stöckchen, auch „le petit baton rouge“ genannt, überprüft. Entspricht die Farbe der Chili nicht der des Stöckchens, wird die Frucht nicht geerntet. Die geernteten Chilis werden vor Ort zerkleinert, mit Salz versetzt und so nach Avery Island geliefert, wo anschließend die Reifung beginnt. Export Alle weltweit verkauften Tabascoflaschen werden auf Avery Island abgefüllt, es gibt keine Unterschiede in der verwendeten Rezeptur. Somit ist weltweit überall genau die gleiche Tabascosauce erhältlich. 2015 wurde die Tabascosauce in insgesamt 180 Länder verkauft, die Flaschen und Verpackungen sind in 21 verschiedenen Sprachen oder Dialekten erhältlich. Darunter befinden sich Sprachen wie Hindi und Arabisch sowie je eine Version für Deutschland, Österreich und die Schweiz (Deutsch/Französisch). In jedem Exportland existiert ein lokaler Distributor, der die Produkte direkt von McIlhenny Co. kauft und selbst für Verkauf und Marketing im jeweiligen Land verantwortlich ist. Obwohl die jeweiligen Distributoren das Marketing verantworten, kann McIlhenny Co. die Marketingkonzepte bestätigen oder auch verändern. Der Vertrieb in Deutschland liegt in Händen der Develey Senf & Feinkost GmbH. Produkte Tabasco Pepper Sauce Die Tabasco Pepper Sauce ist das Hauptprodukt der Tabasco-Produktlinie und wird noch heute nach dem Originalrezept von 1868 hergestellt. Die Schärfe wird mit 2500 bis 5000 SCU angegeben. Als eine der bekanntesten Chilisaucen findet sie nicht nur fast weltweit in den Küchen Einsatz, sie ist auch Bestandteil einiger Cocktails. Das bekannteste alkoholische Getränk, für das Tabascosauce verwendet wird, ist die Bloody Mary. Tabasco Green Pepper Sauce Im Jahr 1993, im Jahr des 125-jährigen Unternehmensjubiläums, wurde mit der Tabasco Green Pepper Sauce eine zweite Chilisauce in das Sortiment aufgenommen. Statt der Tabasco-Chilis werden hier die grünen Früchte der Sorte 'Jalapeño' verwendet, die der Sauce zudem noch ihr eigenes Aroma geben. Die Schärfe ist mit 600 bis 1200 SCU geringer als die der ursprünglichen Tabascosauce. Tabasco Garlic Pepper Sauce Zwei weitere Saucen wurden 1996 in das Programm aufgenommen. Die erste, ebenfalls milder als die originale Tabascosauce, ist die Tabasco Garlic Pepper Sauce. Die Schärfe ist mit 1200 bis 1800 SCU angegeben. Neben dem schon im Namen erwähnten Knoblauch werden Chilis der Sorten 'Cayenne', 'Tabasco' und 'Jalapeño' (hier jedoch im reifen, roten Zustand) verwendet. Tabasco Habanero Pepper Sauce Die zweitschärfste Sauce mit dem Namen „Tabasco“ ist die Tabasco Habanero Pepper Sauce mit 7000 bis 8000 SCU, die ebenfalls seit 1996 hergestellt wird. Die verwendeten Habanero-Chilis zählen zu den schärfsten der Welt. Angelehnt an typische fruchtige Chilisaucen, wie sie von Jamaika bekannt sind, enthält die Sauce zusätzlich noch Mangos, Papayas, Tamarinde, Bananen, Ingwer und schwarzen Pfeffer. Aufgrund der Herstellungsweise ist die Sauce jedoch auch im Vergleich zu anderen Habanero-Chilisaucen vergleichsweise mild, da bei diesen oftmals mit Chilikonzentraten gearbeitet wird. Tabasco Chipotle Pepper Sauce Einen rauchigen Geschmack hat die seit 2001 produzierte Tabasco Chipotle Pepper Sauce. Dieser ist der Verwendung von geräucherten, reifen Jalapeño-Früchten zu verdanken, die unter dem Namen Chipotle bekannt sind. Durch dieses besondere Aroma ist die Tabasco Chipotle Pepper Sauce speziell zur Verwendung bei gegrillten Speisen oder Barbecue geeignet. Die Schärfe liegt mit 1500 bis 2500 SCU leicht unterhalb der Original-Tabascosauce. Tabasco Sweet & Spicy Pepper Sauce Die 2005 eingeführte Tabasco Sweet & Spicy Pepper Sauce, die mit ihrer Süße an asiatische Chilisaucen erinnern soll, ist mit nur 100 bis 600 SCU die mildeste der zurzeit erhältlichen Tabasco-Chilisaucen. Tabasco Buffalo Style Hot Sauce Im März 2011 wurde die Tabasco Buffalo Style Hot Sauce mit Cayennepfeffer und Knoblauch eingeführt. Mit 300 bis 900 SCU ist sie ebenfalls vergleichsweise mild. Tabasco Raspberry Chipotle Pepper Sauce Im Juni 2012 erweiterte das Unternehmen sein Sortiment um eine Sauce mit ausgeprägter Fruchtnote. Bei der Tabasco Raspberry Chipotle Pepper Sauce handelt es sich um die Tabasco Chipotle Pepper Sauce ergänzt mit Himbeerpüree. Durch diesen Zusatz schmeckt die Soße nicht nur süßlich, sondern ist auch deutlich milder als die Chipotle-Sauce. Empfohlen wird sie für die Marinade von Rindfleisch, Fisch oder Geflügel, aber auch für das Salatdressing oder auf Speiseeis. Tabasco Scorpion Pepper Sauce Die schärfste Sauce mit dem Namen „Tabasco“ ist mittlerweile die Tabasco Scorpion Pepper Sauce mit rund 50.000 SCU. Sie ist damit etwa 10 bis 20 mal schärfer als die Original-Tabascosauce. Die Tabasco Scorpion Pepper Sauce löste damit die Tabasco Habanero Pepper Sauce als schärfste Tabascosauce ab. Für die Schärfe verantwortlich sind Scorpion Pepper Chilis, als weitere Zutaten werden unter anderem Guavenpüree, Ananas, Gewürze und Chilimark angegeben. Weitere Produkte Außer auf den Tabascosaucen selbst ist das Tabasco-Logo auf einer Vielzahl anderer Produkte zu finden. Zum einen sind dies Produkte, die unter der Tabasco-Hauptmarke verkauft werden wie Sojasauce, Worcestershiresauce, Sriracha-Sauce, Teriyaki-Marinade, sauer eingelegte Gemüse und Oliven oder Chili-Gelee. Zum anderen gibt es aber auch Produkte, die zum Angebot anderer US-amerikanischer Markenunternehmen gehören, aber mit Tabascosauce hergestellt werden. Bei diesen Produkten wird das Tabasco-Logo zusätzlich auf der Verpackung abgebildet, um die Bekanntheit beider Marken zu nutzen. Dieses Co-Branding genannte Werbekonzept wurde von McIlhenny 1987 mit dem Fleisch-Snack Slim Jim Spiced with TABASCO Sauce der Goodmark Foods, Inc. (heute ConAgra Foods) eingeführt. Weitere Beispiele für solche Kooperationen sind Heinz Ketchup Kick’rs, Hormel Hot & Spicy Tabasco Flavored Chili oder A1 Bold & Spicy Steak Sauce with Tabasco von Kraft Foods Group und sogar Süßwaren wie Jelly-Belly-Bohnen. Geschichte Das noch heute in Familienbesitz befindliche Unternehmen McIlhenny Co. kann auf eine Geschichte blicken, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Viele der in Berichten über die Unternehmensgeschichte erwähnten Details und Fakten sind ausschließlich durch Familienüberlieferung bekannt, sodass im Nachhinein die Richtigkeit der Aussagen oft nicht belegt werden kann. Gründung des Unternehmens Dem Gründungsmythos des Unternehmens zufolge soll Edmund McIlhenny die ersten Samen der Tabasco-Chilis von einem Fremden geschenkt bekommen haben. Dieser soll die Chilischoten in Mittelamerika erhalten haben, bevor er nach Louisiana kam, wo er Edmund McIlhenny traf. Diese Begegnung könnte um 1850 datiert sein, die Samen könnten ein Mitbringsel aus dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg von 1846 bis 1848 gewesen sein. Als die Familie McIlhenny 1863 wegen des Amerikanischen Bürgerkriegs flüchten musste, hinterließen sie auf der im Familienbesitz befindlichen Insel Avery Island neben den Salzminen auch einige Chilipflanzen. Als die Familie nach dem Krieg zu ihren Besitztümern zurückkehrte, war das Anwesen verwüstet, nur einige der Chilis sollen erhalten geblieben sein. In den nächsten Jahren experimentierte Edmund McIlhenny mit der Herstellung von Saucen aus den Früchten dieser Pflanzen, bis er 1868 mit dem Verkauf seiner eigenen Sauce begann. Die ersten 350 Flaschen, die als Muster an verschiedene Händler verteilt wurden, sollen alte, ausgewaschene Parfümflaschen gewesen sein. So war es möglich, die Sauce tropfenweise zu portionieren. Nachdem von verschiedenen Händlern eine positive Rückmeldung auf die Saucenproben gekommen war, ging Edmund McIlhenny dazu über, mit der eigens gegründeten Unternehmung McIlhenny Co. seine Sauce in größerem Maßstab herzustellen. Die ersten regulär verkauften Flaschen waren ebenfalls Parfümflaschen, diesmal jedoch neue, von einem Glaswerk in New Orleans gekaufte Flaschen. Herkunft des Namens „Tabasco“ Als Edmund McIlhenny erstmals die von ihm hergestellte Sauce verkaufen wollte, sollte diese zunächst in Anlehnung an die im Familienbesitz befindliche Insel Avery Island den Namen Petite Anse Sauce tragen. Jedoch waren andere Familienmitglieder dagegen, den Namen der Insel für kommerzielle Zwecke zu gebrauchen, so dass sich McIlhenny für den Namen Tabasco Pepper Sauce entschied. Für den Namen Tabasco gibt es verschiedene etymologische Erklärungen, die verbreitetste besagt, dass das Wort in etwa „Land, in dem die Erde heiß und feucht ist“ bedeutet, es gibt jedoch auch die Theorie, dass die eigentliche Bedeutung „Platz der Korallen oder Austern“ ist. Dafür, dass damit jedoch nicht Avery Island gemeint ist, sondern die gleichnamige Region in Mexiko, spricht die Tatsache, dass zu dieser Zeit bereits reger Schiffshandel zwischen New Orleans und der Region Tabasco über den Golf von Mexiko bestand. Bereits zu dieser Zeit war Tabasco für den Anbau und Export von Chilis bekannt, so dass angenommen werden kann, dass McIlhenny diese Assoziation zwischen dem Namen der Region und den dort angebauten Chilis für den Namen seiner Sauce nutzte. Ob die von ihm angebauten Pflanzen jedoch tatsächlich aus Mexiko stammten, ist nicht bekannt, da er ihren Ursprung nicht dokumentierte und sie in seinen Aufzeichnungen auch nur als pepper bezeichnete. Erst 1888 beschrieb der Botaniker E. Lewis Sturtevant die von McIlhenny angebaute Chilisorte als Capsicum frutescens cv. 'Tabasco'. General Hazard Einem General Hazard, der um 1868 ein höherer Bundesangestellter in Louisiana gewesen sein soll, wird in vielen Berichten eine bedeutende Rolle in den frühen Tagen der Tabascosauce zugesprochen. Es heißt, dass er eine der ersten Tabascoflaschen von Edmund McIlhenny bekam und von der Sauce so begeistert war, dass er seinen Bruder, einen bedeutenden Lebensmittelhändler aus New York, davon überzeugte, die Sauce landesweit zu vertreiben. Neuere Nachforschungen haben ergeben, dass diese Geschichte nicht wahrheitsgetreu überliefert sein kann. Zwar gab es besagten General Hazard, aber er war nach aktuellen Erkenntnissen nicht mehr im Dienst, als er nach Louisiana kam. Des Weiteren war der Lebensmittelhändler E. C. Hazard nicht der Bruder, sondern ein Cousin des Generals. Welche genaue Rolle er bei der Einführung der Tabascosauce spielte, ist nicht bekannt. Herkunftsangabe Seit Unternehmensgründung der McIlhenny Co. war auf allen Tabascoflaschen und -verpackungen als Herkunftsort und Unternehmenssitz „New Iberia, LA“ angegeben. Dies beruhte vor allem darauf, dass New Iberia der nächstgelegene Hafen von Avery Island aus gesehen war. Erst in den 1980er Jahren wechselte die Ortsangabe zur eigentlichen Heimat der Tabascosauce „Avery Island, LA“. Der Streit um Patent- und Namensrechte Als im Laufe der Zeit die Tabascosauce der McIlhenny Co. an Beliebtheit gewann, versuchten Mitbewerber am Erfolg der Sauce teilzuhaben. Daraus entwickelten sich teilweise langwierige Streitfälle, die meist vor Gericht endeten. Ein häufiger Streitpunkt war dabei die Herstellungsmethode, die im Jahr 1870 von McIlhenny unter der Nummer „US 107,701“ patentiert wurde. Andererseits versuchte McIlhenny Co. zu verhindern, dass andere Mitbewerber durch den Gebrauch des Begriffs Tabasco oder durch optische Nachahmung der Verpackung ähnliche Produkte verkaufen konnten. Durch das in dieser Zeit im Umbruch befindliche Patent- und Markenrecht in den USA waren viele Rechtsgrundlagen noch nicht vorhanden, sodass viele unterschiedliche Urteile für und gegen McIlhenny Co. gefällt wurden und sich diverse Rechtsstreitigkeiten bis 1920 hinzogen. Das Urteil von 1920 besitzt noch heute Rechtskraft, McIlhenny Co. darf als einziges Unternehmen Tabascosauce herstellen und so sogar Saucen nennen, die keine Chilis der Sorte 'Tabasco' enthalten. Da jedoch mittlerweile der Patentschutz auf die Herstellungsweise abgelaufen ist, dürfen andere Hersteller auf ähnliche Weise produzierte Saucen verkaufen. Diese werden zumeist mit dem Namen Louisiana Style gekennzeichnet und dürfen den Hinweis tragen, dass sie aus 'Tabasco'-Chilis hergestellt sind. Edmund McIlhenny und Maunsel White Viele Gerüchte ranken sich um die Verbindung zwischen den beiden Männern, denen die Herstellung der Ur-Tabasco-Sauce zugeschrieben wird. Während oftmals behauptet wird, Edmund McIlhenny habe die Chilisamen oder sogar das Rezept für seine Sauce von Maunsel White erhalten und zu seinen Gunsten genutzt, legt die McIlhenny Co. Wert darauf, dass es keinen Beleg für eine solche Verbindung gibt. Die einzige bekannte Verbindung zwischen beiden Saucenherstellern ist eine Freundschaft zwischen Maunsel White und Edmund McIlhennys Schwiegervater Daniel Dudley Avery. Ob jedoch ein Austausch von Chilisamen oder gar Rezepten stattfand, ist nicht bekannt. Verbindungen zum US-Militär Wenig bekannt ist die Tatsache, dass die McIlhenny Co. seit langer Zeit enge Beziehungen zum US-amerikanischen Militär pflegt. Schon der zweite Präsident des Unternehmens und Sohn von Edmund McIlhenny, John Avery McIlhenny, kämpfte im Spanisch-Amerikanischen Krieg für das 1st U.S. Volunteer Cavalry Regiment. Sein Sohn, Walter S. McIlhenny, der von 1949 bis 1985 das Unternehmen führte, war als ehemaliger Soldat im Zweiten Weltkrieg auch nach dem Krieg als Reservist dem US Marine Corps sehr nahe, zuletzt im Dienstgrad eines Brigadier General. Während des Vietnamkriegs verfasste er das „The Charlie Ration Cookbook“, ein Kochbuch für die Feldrationen der US-Soldaten in Vietnam. Das Buch wurde zusammen mit einer Flasche Tabascosauce in einem wasserdichten Behältnis an die Front geschickt. Es enthält Rezepte mit Namen wie „Breast of Chicken under Bullets“ (Hühnerbrust unter Kugeln), „Battlefield Fufu“ (Schlachtfeld-Fufu) oder „Cease Fire Casserole“ (Waffenstillstandsauflauf). 1984 erschien ein weiteres von Walter S. McIlhenny verfasstes Kochbuch mit dem Titel „The Unofficial MRE Recipe Booklet“, das mit Beetle-Bailey-Comics illustriert ist. Noch heute ist Tabascosauce Bestandteil verschiedener MRE-Packungen (Meal, Ready to Eat) des US-amerikanischen Militärs. Bekannt wurde ein „Tabasco-Weihnachtsbaum“ von US-Soldaten während des Einsatzes in Afghanistan im Dezember 2001. Der Baum wurde aus Zeltplanen gebaut und mit den Miniaturflaschen aus den Essensrationen behängt. Pflege der Heimat- und Unternehmenstradition Die Details der teilweise recht bewegten Geschichte der McIlhenny Co. werden heute mehr als zuvor gepflegt. Das Unternehmen beschäftigt einen Historiker, der bemüht ist, Fakten und Legenden auseinanderzuhalten und die Geschichte des Unternehmens möglichst genau darzustellen. Zudem ist man bemüht, die Natur der kleinen im Unternehmensbesitz befindlichen Insel Avery Island weitgehend unberührt zu lassen. Bereits 1892 wurde vom damaligen Präsidenten des Unternehmens, Edward Avery „Mr. Ned“ McIlhenny, ein Vogelreservat geschaffen, das später den Namen Bird City erhielt. Der Schmuckreiher, der schon fast vor dem Aussterben stand, konnte unter anderem durch die Population in diesem Reservat überleben. Bird City ist heute Teil der Jungle Gardens, in denen neben seltenen Vögeln auch seltene Pflanzen zu besichtigen sind. Als Edward Avery McIlhenny 1949 starb, hinterließ er seinem Neffen John Stauffer McIlhenny eine umfangreiche Sammlung an naturwissenschaftlichen Büchern, die von diesem weiter ausgebaut und gepflegt wurde. 1971 stiftete er diese Sammlung der Louisiana State University und ergänzte diese bis zu seinem Tod 1997. Heute umfasst die McIlhenny Collection etwa 6000 Bände, unter anderem eine Ausgabe der Libri de re rustica aus dem Jahre 1514. Eine von Walter S. McIlhenny begonnene Sammlung von Kochbüchern befindet sich weiterhin im Besitz des Unternehmens und wird weiter ergänzt. Schwerpunkt der Sammlung liegt auf den Community Cookbooks genannten Rezeptsammlungen von nichtkommerziellen Einrichtungen und Vereinen. Mit den Tabasco Community Cookbook Awards werden jährlich die besten dieser Kochbücher ausgezeichnet; erreicht eines der Kochbücher eine Verkaufszahl von über 100.000 Exemplaren, kann es in die Walter S. McIlhenny Hall of Fame aufgenommen werden. Trotz starker Bestrebungen im Naturschutz gestattet es McIlhenny Co. seit 1941 Erdöl aus den Lagerstätten in der Nähe von Avery Island zu fördern. Bis 1986 förderte Exxon USA bzw. das Vorgängerunternehmen Humble Oil Company 95 Millionen Barrel Öl. Um jedoch das Erscheinungsbild sowie die Flora und Fauna der Insel nicht durch die Anwesenheit der Ölindustrie zu gefährden, hat McIlhenny Co. von jeher Wert darauf gelegt, entsprechende Klauseln in die Nutzungsverträge aufzunehmen. So müssen beispielsweise alle Pipelines auf Avery Island unterirdisch verlegt werden. 2004 gab McIlhenny Co. bekannt, ein Museum in New Orleans einzurichten, um die Geschichte des Unternehmens noch besser präsentieren zu können. Die Eröffnung des Museums musste jedoch verschoben werden, da im August 2005 Hurrikan Katrina Teile von Louisiana und New Orleans zerstörte. Sonstiges Boykott im britischen House of Commons Im Jahr 1932 startete die britische Regierung eine Aktion namens „Buy British“, um den lokalen Handel zu unterstützen. Bezugnehmend auf diese Aktion gab es am 13. Dezember 1932 eine Anfrage während der Sitzung des House of Commons, warum weiterhin die aus den USA stammende Tabascosauce in den Speiseräumen des House of Commons angeboten werde. Sir J. Ganzoni, Leiter des Küchenkomitees, antwortete daraufhin „that only eight […] bottles of tabasco sauce, each holding about 2oz, had been ordered for the dining rooms of the House of Commons during the past year. […] No more tabasco sauce would now be purchased after the present supply was exhausted.“ (… dass im vergangenen Jahr nur acht 2oz-Flaschen für die Speiseräume des House of Commons bestellt wurden. […] Sobald der momentane Vorrat aufgebraucht sei, werde keine weitere Tabascosauce mehr gekauft.) Erst durch diese Aussage wurde man auch in Amerika auf die Aktion „Buy British“ aufmerksam. William Randolph Hearst, Medienmogul dieser Zeit, startete daraufhin eine Gegenaktion, die sich nicht nur gegen die englische Konkurrenz, sondern gegen alle Billigimporte wendete. Teilweise wird behauptet, die Mitglieder des Britischen Unterhauses hätten später selbst gegen den Tabascoboykott Protest eingelegt, da es keine vergleichbare britische Sauce gab und somit die Tabascosauce in die Speiseräume zurückgeholt. Wann und wie die amerikanische Sauce jedoch ihren Weg zurück ins House of Commons fand, ist nicht belegt. Kurzzeitiges Engagement im Motorsport Im Jahr 1997 gab McIlhenny Co. bekannt, als Sponsor für das ISM Racing Team unter Leitung von Bob Hancher im NASCAR Winston Cup aufzutreten. Der Pontiac mit der Startnummer 35 und Todd Bodine als Fahrer trat zum ersten Mal beim Rennen auf dem Charlotte Motor Speedway am 5. Oktober 1997 an den Start und belegte Platz 26. Bei weiteren Rennen in der Saison 1998 konnte Bodine zwar einmal den zehnten Platz belegen, landete sonst meist im hinteren Mittelfeld oder konnte sich erst gar nicht für das Rennen qualifizieren. Daher beschloss das Team, ohne Rücksprache mit dem Sponsor, Bodines Vertrag zu lösen und im 17. Rennen der Saison Gary Bradberry als Fahrer einzusetzen, der jedoch mit Motorschaden ausschied. Im 18. Rennen sollte dann Jimmy Horton den Wagen fahren, konnte sich jedoch nicht für das Rennen qualifizieren. Infolgedessen wurde das Team, wieder ohne Rücksprache mit dem Sponsor McIlhenny, an Tim Beverly verkauft, der kurz zuvor schon ein anderes NASCAR-Team kaufte und als Tyler Jet Motorsports weiterführte. Er entschied, die Wagen zwischen beiden Teams zu tauschen, so dass am 1. August 1998 der Chevrolet des Tyler Jet Motorsports-Team in den Tabasco-Farben fuhr, mit Darrell Waltrip als neuem Fahrer. Bereits kurz nach dem Rennen gab es erste Gerüchte über erboste Reaktionen seitens der McIlhenny Co., die ihre PR-Strategie sowohl auf Todd Bodine als Fahrer als auch auf einen Pontiac als Fahrzeug ausgerichtet hatten. Am 4. August 1998 wurde von Paul McIlhenny, CEO der McIlhenny Co., Aufklärung über das Geschehen um den Wagen des „Team Tabasco“ gefordert, da er bis dahin mit Tim Beverly, dem neuen Besitzer des Teams, noch kein Wort gesprochen hatte. Während des darauffolgenden Rennens am 9. August startete zwar erneut der Chevrolet für das Team, jedoch war ab dem nächsten Rennen am 16. August wieder der Pontiac in den Tabasco-Farben zu sehen, am Steuer weiterhin Darrell Waltrip. Am Ende der Saison zog sich McIlhenny Co. aus dem Motorsport zurück. Tabascosauce in Film und Literatur In verschiedenen Filmen taucht Tabascosauce als Requisite auf. Dazu gehören Der Einwanderer mit Charlie Chaplin (1917), La Cucaracha (1934), die James-Bond-Filme Der Mann mit dem goldenen Colt (1974) und Der Spion, der mich liebte (1977) sowie Apocalypse Now (1979). Auch in Zurück in die Zukunft III (1990), Voll normaaal (1994), der Serie Roswell, Ben Afflecks wenig bekanntem Film Gigli (2003), in The Fast and the Furious: Tokyo Drift (2006) sowie im Zeichentrickfilm Küss den Frosch (2009) taucht die bekannte Chilisauce auf. Im Lucky-Luke-Comic Die Eskorte wurde Tabasco unter anderem zum Ausbrechen aus dem Gefängnis verwendet. Literatur Weblinks tabasco.de deutsche Website tabasco.com englischsprachige Internetpräsenz Einzelnachweise Würzsauce US-amerikanische Küche Markenname (Gewürze)
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https://de.wikipedia.org/wiki/USS%20Shenandoah%20%28ZR-1%29
USS Shenandoah (ZR-1)
ZR-1 „USS Shenandoah“ war das erste Starrluftschiff, das seinen Auftrieb durch das Traggas Helium erhielt. Gleichzeitig war es das erste von drei Starrluftschiffen, die im 20. Jahrhundert in den USA gebaut wurden. Es bestimmte die Luftschiffszene auf dem Marinefliegerstützpunkt Lakehurst von 1923 bis 1925. Als erstes amerikanisches Großluftschiff sollte es ursprünglich der Grundstein für eine amerikanische Luftschiffindustrie sein. Der Begriff Shenandoah stammt aus der Algonkin-Sprache der Powhatan-Indianer und bedeutet Tochter der Sterne. Das Kürzel ZR stand bei der US Navy ab 1920 für lenkbare Starrluftschiffe. Konstruktion und Bau Die Konstruktion des Luftschiffes war an die der Zeppeline aus dem Ersten Weltkrieg angelehnt. Direktes Vorbild war insbesondere das deutsche Marineluftschiff LZ 96 „L 49“, das am 20. Oktober 1917 nach einem Einsatz über England auf französischem Gebiet zur Landung gezwungen wurde und den Alliierten fast unbeschädigt in die Hände fiel. ZR-1 wurde ohne deutsche Unterstützung von den Konstrukteuren Hunsacker und Weyenbacher entworfen. ZR-1 wurde auf dem Marine-Stützpunkt Lakehurst, New Jersey, im Hangar No.1 gebaut. Auftraggeber war die US-Marine. Die Einzelteile wurden in der Marine-Flugzeugfabrik in Philadelphia gefertigt und mit der Eisenbahn und Lkw nach Lakehurst gebracht. Der erste Gerippering aus dem Mittelteil kam im späten April 1922 an, wurde zusammengesetzt und bereits am 24. April aufgerichtet und von unten abgestützt. Von dort aus wurde das Gerippe zügig in beide Richtungen vervollständigt. Im November war es bereits zu 75 Prozent fertiggestellt. Die Stahlseile, welche die Geripperinge verspannten, teilten das Schiff in 20 je zehn Meter lange Sektionen auf, in denen die Gaszellen Platz fanden. Am 23. November 1922 wurde die erste Gaszelle eingesetzt und mit Luft aufgeblasen. Anfang Februar war das Gerippe nahezu fertig, und man begann, die Hülle aufzubringen, die aus hochwertigem Baumwollgewebe bestand. Die Stoffbahnen wurden dabei fest verschnürt und anschließend mit mehreren Lagen Lack beschichtet. Dabei schrumpfte das Material und wurde fest gegen das Gerippe gedrückt. Die Trennstellen wurden mit Dichtstreifen beklebt. So entstand eine glatte Außenhülle. Der letzte äußere Anstrich wurde mit Aluminiumpulver versetzt, um eine glatte, wetterfeste Oberfläche zu erhalten. Sie sollte das Sonnenlicht reflektieren, um das Aufheizen des Traggases einzuschränken. Zu dieser Zeit begann man auch, das Schiff auszurüsten. Installationen wie Kabel, Leitungen, Armaturen, Ballastwasserbehälter usw. wurden entlang des Kiellaufganges eingebaut. Auch die Kommando- (oder Führer-) und die Motorengondeln wurden fertiggestellt und unter dem Rumpf befestigt. Die Kommandogondel wurde im Gegensatz zu den Kommandogondeln späterer Luftschiffe nicht direkt am Rumpf befestigt oder in den Rumpf integriert, sondern mit Trägern und Kabeln unter dem Rumpf aufgehängt. Die hintere Maschinengondel und die Kommandogondel wurden mit Handläufen für die Bodenmannschaften ausgestattet. Die Motorenanordnung bestand aus einem Triebwerk hinter der Kommandogondel, zwei Triebwerken relativ dicht nebeneinander unter dem Rumpf, zwei weiteren Triebwerken – ebenfalls parallel angeordnet, jedoch etwas nach oben versetzt – unter dem Rumpf und einem Hecktriebwerk. Das Triebwerk, das sich direkt hinter der Kommandogondel in einer eigenen Gondel befand, wurde jedoch bei Reparaturarbeiten im Mai 1924 ausgebaut. Stattdessen wurde die Führergondel um eine Funkkabine verlängert. Über den Motorgondeln waren Ballastwassergewinnungsanlagen montiert. Ihr Luftwiderstand sorgte für eine merkliche Verringerung der Höchstgeschwindigkeit. Um die Heliumverluste gering zu halten, wurde die Anzahl der Überdruckventile auf 10 Stück begrenzt. Die 20 Gaszellen waren jedoch untereinander verbunden. Im Juni 1923 fehlten nur noch die Motoren. Nach verschiedenen Versuchen im Hangar war das Schiff bereit für die Gasbefüllung. Ursprünglich war das Luftschiff für Wasserstoff als Traggas konstruiert worden, jedoch traten 1921 nach dem Unglück des aus Italien angeschafften Luftschiffs Roma Zweifel auf, und das Bureau of Aeronautics (BuAer) empfahl die Füllung von ZR-1 mit dem Edelgas Helium, über das zu dieser Zeit nur die USA in nennenswerten Mengen verfügte, das aber im Vergleich zu Wasserstoff extrem teuer war. So kostete 1921 ein Kubikmeter Helium mehr als 4 Dollar, gegenüber 7 bis 10 Cent bei Wasserstoff. Insgesamt kostete eine einzige Füllung des Luftschiffs daher 240.000 Dollar, das entspricht etwa dem heutigen Gegenwert von Millionen Dollar. Erprobung und Taufe Am 4. September 1923 wurde das Luftschiff zum ersten Mal aus der Halle gezogen. Für diese anspruchsvolle Aufgabe wurden Soldaten und auf dem Stützpunkt beschäftigte Zivilisten rekrutiert, insgesamt 420 Mann. Einige einfache mechanische Vorrichtungen unterstützten zwar die sich abmühende Bodenmannschaft, größere Verbesserungen sollten jedoch erst in den folgenden Jahren eingeführt werden. Der gesamte Vorgang wurde von etwa 15.000 Zuschauern, Würdenträgern und Journalisten beobachtet. Um 17:20 Uhr hob ZR-1 mit 29 Personen an Bord zu seiner Jungfernfahrt ab. Es folgten weitere Erprobungsfahrten. Bei diesen ersten Fahrten war unter anderem der deutsche Luftschiffkapitän Heinen als Berater und der Konstrukteur Weyenbacher mit an Bord, sie durften auch bei späteren Fahrten als Mannschaftsmitglieder dabei sein. Dazu zählte beispielsweise eine Fahrt am 11. September nach Philadelphia und Washington und vom 2. bis 4. Oktober eine 35-Stunden-Fahrt über Pittsburgh, Columbus und Dayton nach St. Louis zu einer eineinhalbstündigen Landung bei den International Pulitzer Air Races, die Fahrt wurde dann über Peoria und Chicago fortgesetzt. Am 10. Oktober 1923 wurde das Schiff an den Betreiber, die US-Marine, übergeben. An diesem Tag wurde ZR-1 offiziell auf den Namen „Shenandoah“ getauft. Taufpatin war Mrs. Denby, die Frau des Secretary of the Navy Edwin Denby. Neben weiteren Offiziellen war auch Admiral Moffett anwesend. Der Taufe folgte eine vierstündige Fahrt mit den Taufgästen und einigen Reportern. Zwei Tage später wurde das Luftschiff in die Liste der US-Marine-Schiffe eingetragen. Stützpunkt wurde Lakehurst. Betrieb In den Monaten nach der Taufe und den ersten Wochen des Jahres 1924 unternahm die USS Shenandoah mehrere Fahrten, unter anderem über den östlichen USA, um die Besatzung auszubilden und den US-Bürgern das erste eigene Starrluftschiff der Nation vorzustellen, so flog sie beispielsweise am 27. Oktober zum Anlass des Navy Day 16 Stunden lang über dem Virginia Valley. Am 20. November wurde eine Fahrt nach Boston in Neu England durchgeführt. Am 5. und 16. November machte das Schiff nach mehreren vorangegangenen erfolglosen Versuchen zum ersten Mal am Ankermast in Lakehurst fest. Es wurde noch zweimal im Dezember und zweimal im Januar am Mast geankert, bis umfangreichere Versuche zum Mastgebrauch begannen. Es waren die ersten Erfahrungen der amerikanischen Luftschiffer mit dieser Technik. Dabei sollten die Bedingungen für eine Arktisfahrt eingeübt werden. Diese war von Admiral Moffet auf einer Pressekonferenz nach der Taufe angekündigt worden. Die New York Times hatte berichtet, dass das neue, damals noch unerprobte, Luftschiff auf eine Reise über die Hauptstädte der USA und der restlichen Welt sowie zu beiden Polen geschickt werden würde. Diese Ankündigung war jedoch weit von der Realität entfernt. Die Besatzung bekam erst durch den Umgang mit dem Schiff Erfahrung in dessen Handhabung. Die US-Marine hatte zwar eine große Luftschiffbasis, aber 1924 tastete man sich noch immer an den Gebrauch von Ankermasten heran. Diese Versuche hatten mit Blick auf die Arktisfahrt begonnen, da Ankermasten dann die einzigen verfügbaren Basen für das Luftschiff sein würden. Die Planungen für die Polarfahrt wurden Mitte Februar von Präsident Coolidge unterbrochen. Trotzdem erwarteten Admiral Moffet und die Marineführung, getragen von der Luftschiff-Propaganda und der allgemeinen öffentlichen Begeisterung, immer noch zu viel innerhalb zu kurzer Zeit von „ihrem“ Großluftschiff. Sturmschäden am Ankermast Beginnend mit dem 12. Januar wurden alle weiteren Fahrten des Schiffes vom Ankermast aus durchgeführt. In der Absicht, das Schiffsverhalten am Ankermast auch bei schlechtem Wetter zu erproben, ließ Commander McCrary ZR-1 für eine Woche an den Mast legen, besetzt nur mit einer Rumpfmannschaft, um das Schiff sofort in die Luft zu bringen, falls es die Bedingungen erforderten. Am 14. Januar gab das Wetterbüro eine Sturmwarnung für den 16. und 17. Januar heraus. Da das Verhalten des Schiffes bei Windgeschwindigkeiten bis zu etwa 95 km/h erprobt werden sollte, entschied man, es am Ankermast zu belassen. Die Böen erreichten abends Geschwindigkeiten von bis zu 100 km/h. Das Schiff rollte beständig am Mast hin und her. McCrary hatte das Schiff kurz verlassen, wurde jedoch zurückgerufen, da Kapitän Heinen, der sich ebenfalls an Bord befand, das Schiff vom Mast lösen und den Sturm in der Luft „abreiten“ wollte. Man hatte bereits die Motoren warmlaufen lassen. Um 18:44 traf eine Bö von 125 km/h das Schiff an Steuerbord, zerstörte die obere Leitwerksflosse und ließ das Schiff bedenklich rollen. Die Verdrehung des Schiffs führte zu einer Überbelastung der Struktur an der Nase. Sie brach und gab das Schiff frei, wobei die Nasenkappe am Ankermast zurückblieb. Durch die Beschädigung entleerten sich die beiden vorderen Gaszellen des Schiffs. Die 22-köpfige Besatzung reagierte sofort, 1900 kg (4200 pound) Wasserballast wurden umgehend abgeworfen, die Mannschaft zur Trimmung in das Heck geschickt. Den diensthabenden Maschinisten wurde das Anlassen der Motoren signalisiert, die zügig gestartet wurden und nach nur 4 Minuten wieder einen gewissen Grad an Kontrolle über das Schiff ermöglichten. Nachdem weiterer Ballast abgeworfen und das Schiff ausgetrimmt war, ließ man es vor dem Sturm fahren. Auch die Funkanlage war beschädigt worden. Erst um 21:00 Uhr, über zwei Stunden nach „Beginn“ der 20. Fahrt von ZR-1 konnte man sich beim Stützpunkt melden. Der Wind flaute in den nächsten Stunden ab. Die Steuerung war durch die Beschädigungen am Leitwerk jedoch schwierig. Um 3:30 Uhr am nächsten Morgen wurde das Schiff wieder in Lakehurst von 400 Mann Bodenmannschaft in die Luftschiffhalle gebracht. Der schwerste Sturm seit 50 Jahren hatte auch an anderen Stellen im Land Schäden hinterlassen. Für die schnelle Reaktion der Mannschaft gab es viel Lob für alle Beteiligten und Bewunderung in der Öffentlichkeit, jedoch war man über den Vorfall auch verärgert. Die nachfolgende Untersuchung ergab keine gravierenden Fehlentscheidungen, jedoch löste Lieutenant Commander Zachary Lansdowne, einer der „besten“ Luftschiffverfechter der Marine, am 11. Februar 1924 McCrary als Kommandant ab. Die Verankerung am Mast wurde so umkonstruiert, dass sie das Schiff bei Überbelastung freigeben würde, um nicht noch einmal eine Beschädigung des Bugs zu riskieren. Trotz dieser Erfahrungen sollte ein Jahr später am 16. April 1925 das gleiche Missgeschick mit ähnlichem Verlauf auch dem englischen Starrluftschiff R33 widerfahren. Nach der Reparatur Die Reparaturen dauerten vier Monate und kosteten 78.000 Dollar, einschließlich einer Überholung. Unter anderem wurde der Motor hinter der Führergondel entfernt und nach den Funkproblemen eine eigene Funkkabine angebaut. Anschließend wurde die „Shenandoah“ im Mai 1924 wieder in den aktiven Dienst gestellt. Am 8. August führte das Luftschiff das erste von vielen Anlegemanövern an dem eigens hierfür umgebauten ursprünglichen Öltankschiff USS Patoka aus. Danach war sie an einem Manöver mit der Flotte beteiligt, das sie jedoch nach 40 Stunden wegen eines Motorschadens abbrechen musste. Im Oktober 1924 unternahm ZR-1 eine Rundfahrt an der Westküste der USA. Diese „Transkontinentalfahrt“, die anstelle eines geplanten Manövers bei Hawaii unter dem Kommandanten Lansdowne durchgeführt wurde, sollte den Kritikern die Leistungsfähigkeit des Schiffs zeigen und es den Amerikanern präsentieren. Die 18½ Tage dauernde Fahrt begann am 7. Oktober und führte von Lakehurst über Washington und Atlanta nach Fort Worth (Dallas). Danach folgte das Schiff der Texas- und Pazifikeisenbahn zur Überwindung der Rocky Mountains. Dabei traten in den engen Pässen und Tälern bedingt durch schwierige Winde mehrfach kritische Situationen auf. Bei der Ankunft auf der North Island Naval Air Station San Diego schlug, nicht zuletzt durch die ungeübte Landemannschaft, das Heck auf den Boden. Die anschließende Reparatur wurde in 45 Metern Höhe am Ankermast durchgeführt und nahm fünf Tage in Anspruch. Vom 16. bis 18. Oktober fuhr ZR-1 2200 km entlang der Westküste bis nach Camp Lewis bei Tacoma. Am folgenden Tag machte sie sich wieder entlang der Küste auf den Rückweg nach San Diego, wo sie am 21. Oktober eintraf. Die Überwindung der Berge in Kalifornien und Arizona auf der Rückfahrt Richtung Lakehurst war erneut eine Herausforderung. Die erforderliche Höhe konnte zum Teil nur durch Abwerfen von Ballast, teils auch Kraftstoff erreicht werden. Von Fort Worth führte die Rückfahrt dann über Hot Springs/Arkansas, den Mississippi River, den Ohio River, Indiana, Ohio und Columbus mit Ostkurs Richtung Atlantik. Nach der Rückkehr auf den Stützpunkt Lakehurst in der Nacht vom 25. Oktober wurde das Luftschiff vorübergehend außer Dienst gestellt, um das damals knappe Helium für das neu aus Deutschland eingetroffene Luftschiff ZR-3 „USS Los Angeles“ nutzen zu können, das nun in der Halle neben der „Shenandoah“ lag. Erst im Juli 1925, als die „Los Angeles“ für eine Überholung in der Luftschiffhalle lag, wurde die „Shenandoah“ wieder in Betrieb genommen. ZR-3 musste dafür den Großteil seiner Heliumfüllung, die damals praktisch die gesamte Weltreserve darstellte, wieder zurückgeben. In diesem Sommer wurden Fahrten zur Überprüfung der Motoren und der Funktechnik sowie einige Übungen zur Erprobung verschiedener militärischer Taktiken mit der Flotte der US-Marine und anderen Teilen der Marine-Streitkräfte durchgeführt. Dies blieb auch die einzige wirkliche Verwendung des Luftschiffes. Das Ende Die „Shenandoah“ verunglückte am 3. September 1925 in schweren Turbulenzen (andere Quellen sprechen von einem Sturm) über dem südlichen Ohio in der Nähe von Ava (Noble County). Diese Fahrt sollte die erste Etappe eines Werbeflugs in den Mittleren Westen der USA sein. Sie begann am 2. September und sollte anlässlich der Staatsfeiertage innerhalb von sechs Tagen über insgesamt 40 Städte führen, die ein Erscheinen des Luftschiffs zu diesem Anlass wünschten. Kommandant Lansdowne hatte im Vorfeld Bedenken über die bekannte instabile Wetterlage im Mittleren Westen geäußert. Am Vormittag des folgenden Tags rissen vertikale Winde das Luftschiff mehrmals nach oben und unten, so dass die Mannschaft die Beherrschung über das Luftschiff verlor. Es stieg dabei innerhalb kürzester Zeit über seine Prallhöhe auf bis zu 1300 Meter auf. Danach sank es innerhalb von nur drei Minuten auf 200 Meter, um kurz danach wieder auf 1200 Meter zu steigen. Diese Belastungen waren zu hoch für das Schiff. Nachdem die mittleren Gaszellen beschädigt und leergelaufen waren und das Luftschiff von weiteren Böen erfasst worden war, zerbrach es in der Luft. Die Kommandogondel löste sich und stürzte in die Tiefe. In ihr starben acht Luftschiffer, darunter der Kommandant. Aus der Bruchstelle stürzten drei Besatzungsmitglieder in den Tod. Die Bugspitze schwebte wie ein Ballon davon und landete etwa 20 Kilometer südlich. In ihr hatten sieben Menschen überlebt, darunter auch Lieutenant Commander Charles E. Rosendahl. Das Heckteil zerbrach erneut. Dabei fielen zwei Motorgondeln ab, was drei weiteren Männern den Tod brachte. Die beiden verbliebenen Teile des Luftschiffkörpers landeten relativ sanft nur wenige hundert Meter von der Unglücksstelle entfernt. An der Absturzstelle () nahe der U.S. Route 21 (jetzt Interstate 77) wurde ein Denkmal für das Luftschiff und die 14 Toten der 43-köpfigen Besatzung errichtet. Im Nachhinein wurde auch darauf hingewiesen, dass die Vorlage für die „Shenandoah“, der Kriegszeppelin LZ 96/L 49, nicht wie ursprünglich angenommen nur ein mittelgroßes Luftschiff war, sondern ein speziell auf Leichtbau getrimmter Höhenbomber. Das deutsche Vorbild sollte im Ersten Weltkrieg höher als alle Jagdflugzeuge der Alliierten fahren. Das Gerippe war daher nicht für die Belastungen, wie sie bei starkem Manövrieren auftreten, ausgelegt. Die Erkenntnisse, die aus dem Bau und Betrieb von ZR-1 gewonnen wurden, flossen in die späteren Großluftschiffe der USA, die USS Akron und USS Macon ein. Dazu zählten: veränderte Proportionen des Rumpfs für mehr Stabilität eine aerodynamische Kommandogondel, die direkt am Schiff angebracht war Verlegung der Motoren ins Innere, um leichtere Zugänglichkeit sowie eine Verringerung des Luftwiderstands zu erreichen Das Unglück zeigte auch, dass die Wettervorhersage verbessert werden musste. Die USS Shenandoah hatte insgesamt 59 Fahrten durchgeführt und in 740 Stunden über 45.000 km (28.000 mi) zurückgelegt. Technische Daten Länge: etwa 207 m (680 ft) Rumpfdurchmesser: etwa 24 m (79 ft) Volumen: etwa 59.900 Kubikmeter (2.115.000 Kubikfuß) Gewicht: 38 t Nutzlast: 22 t Antrieb: sechs wassergekühlte Packard-Motoren mit je 220 kW (300 PS) (ein Motor wurde später ausgebaut) Geschwindigkeit: etwa 110 km/h (60 kn) Reichweite: etwa 4455 km (2770 naut. Meilen) Besatzung: etwa 40 Mann (Offiziere und Mannschaften) Preis: 1,5 Mio. US-Dollar Siehe auch US-Militärluftschiff Literatur Thomas S Hook: Shenandoah saga. A narrative of the U.S. Navy’s pioneering large rigid airships. Air Show, Annapolis 1973. Weblinks noblecountyohio.com/shenandoah.html (englisch) Luftschiff Militärluftschifffahrt (Vereinigte Staaten) Marinegeschichte der Vereinigten Staaten Flugunfall in den Vereinigten Staaten Noble County (Ohio) Verkehr (Ohio) Geschichte von Ohio Erstflug 1923
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarzstorch
Schwarzstorch
Der Schwarzstorch (Ciconia nigra) ist neben dem Weißstorch (Ciconia ciconia) die einzige in Europa brütende Art aus der Vogelfamilie der Störche (Ciconiidae). Im Gegensatz zum Weißstorch ist der Schwarzstorch ein scheuer Bewohner alter, geschlossener Wälder, die Still- und Fließgewässer aufweisen. Trotz des sehr großen Verbreitungsgebietes werden keine Unterarten unterschieden. Aussehen Der Schwarzstorch ist etwas kleiner als der Weißstorch (Ciconia ciconia). Oberseite, Kopf, Hals und Vorderbrust sind metallisch glänzend schwarz, das Gefieder schillert metallisch je nach Lichteinfall grünlich, purpurn, aber auch kupferfarbig. Nur Brust, Bauch, der rumpfnahe Teil des Unterflügels sowie die Unterschwanzdecken sind weiß. Die Weibchen sind nur geringfügig matter gefärbt als die Männchen, ihr Schnabel ist meistens gerade, während jener der Männchen ganz leicht aufwärts gebogen erscheint. In Gewicht und Größe besteht zwischen den Geschlechtern kein Unterschied. Schnabel und Beine des adulten Vogels sind während der Brutzeit leuchtend rot, im Schlichtkleid aber bräunlich bis matt dunkelrot. Auch die nackten Hautpartien rund um die Augen sowie der Schnabelansatz sind während der Brutsaison leuchtend rötlich gefärbt. Die Beine der Jungvögel sind im ersten Jahr gelbgrünlich und wechseln langsam über bräunliche Töne ins Rötliche. Ihr Schnabel ist dunkelbraun mit einem leicht rostroten Anflug. Die Gefiederfarbe ist stumpfer, eher tief braunschwarz, der metallische Schimmer fehlt. Flugbild und Flug Auch im Flug ist der Schwarzstorch in seinen paläarktischen Brutgebieten kaum zu verwechseln. Im Überwinterungsgebiet können bei flüchtiger Betrachtung Verwechslungen mit dem bedeutend kleineren Abdimstorch (Ciconia abdimii) vorkommen. Der Schwarzstorch fliegt wie alle Eigentlichen Störche mit ausgestrecktem Hals und ausgestreckten Beinen, die deutlich das Schwanzende überragen, Kopf und Schnabel sind leicht abgesenkt. Die Flügel sind etwas schmaler als die des Weißstorches, deutlicher im Flügelbug (Karpalgelenk) abgewinkelt, jedoch ebenso tief gefingert. Der Flug des Schwarzstorches wirkt leichter und behänder als der des Weißstorches. In Anpassung an seinen Lebensraum hat er eine Flugtechnik entwickelt, bei der die Flügel im Karpalgelenk stark abgewinkelt werden, wodurch die große Flügelspannweite von bis zu zwei Metern erheblich reduziert wird. Diese Flugweise ermöglicht ein problemloseres Einfliegen in den Kronenbereich und ein besseres Manövrieren im Wald. Während der Balz- und territorialen Synchronflüge spreizen Schwarzstörche häufig die leuchtend weißen Unterschwanzfedern, ein Verhalten, das in der Fachsprache als Flaggezeigen oder Ausflaggen bekannt ist. Maße und Gewicht Die Gesamtlänge des Schwarzstorches beträgt im Mittel knapp 100 Zentimeter, er ist damit um etwa zehn Prozent kleiner als ein durchschnittlich großer Weißstorch. Ein adulter Vogel wiegt fast drei Kilogramm, ein Erstzieher etwa zweieinhalb. Damit sind Schwarzstörche im Durchschnitt um 10 bis 20 Prozent leichter als Weißstörche. Bei einer Flügellänge von bis zu 57,5 Zentimetern kann die Gesamtspannweite knapp zwei Meter erreichen. Der Schnabel eines erwachsenen Vogels ist bei einer Schnabelhöhe von etwa drei Zentimetern bis zu 19,5 Zentimeter lang. Stimme Im Gegensatz zum Weißstorch ist der Schwarzstorch stimmbegabt. Zwar kommt auch bei ihm Schnabelklappern als Instrumentallaut vor, doch verfügt er außerdem über ein breites Repertoire an lauten und leisen Rufen und Gesängen. Während der Balz, vor allem beim Synchronfliegen und bei Nestanflügen, ist ein nicht sehr lautes, melodisch-flötendes Fliie-höö, das verschiedentlich variiert und moduliert wird, zu hören. Es kann entfernt etwa an den Flugruf des Wespenbussards erinnern. In Aggressionssituationen wird dieses Gesangselement lauter, schärfer, zuweilen auch scharf fauchend. Daneben verfügen Schwarzstörche über ein breites Band an verschiedenen Kontaktlauten und Kontaktrufen. Schnabelklappern ist entweder ein Stress- oder Erregungsklappern. Es geht der Kopulation voraus und ist auch in Aggressionssituationen zu hören. Die Jungvögel betteln ausgiebig mit verschiedenen, zum Teil etwas entenartig klingenden Lauten. Ältere Jungstörche stoßen in Bedrohungssituationen einen tiefen, auf uuuaaa vokalisierten Laut aus, der unter Vogelkundlern als Grölen bekannt ist. Lebensraum Anders als sein bekannterer Verwandter, der Weißstorch, lebt der Schwarzstorch meistens verborgen in alten, aber nicht zu dichten, reich strukturierten Wäldern; Laubwälder und Laubmischwälder mit Lichtungen, Fließgewässern, Tümpeln und Teichen sind sein idealer Lebensraum. Ebenso gehören waldnah gelegene, feuchte, extensiv genutzte Wiesen zu einem optimalen Schwarzstorchhabitat. Alte Schwarzstorchreviere liegen fast immer in geschlossenen, meistens über 100 Hektar großen Waldgebieten. Mit der dichteren Besiedelung und dem daraus resultierenden Mangel an optimalen Brutplätzen wurden in den letzten Jahren auch Brutansiedelungen in kleinen Waldgebieten, in Einzelfällen sogar in kleinen Feldgehölzen festgestellt. Schwarzstörche reagieren sehr empfindlich auf Störungen und meiden daher weitgehend die Nähe von menschlichen Siedlungen. Die verschiedentlich aufgestellte Behauptung, der Schwarzstorch brüte in Transkaukasien auch im Bereich menschlicher Siedlungen, ließ sich durch neuere Untersuchungen nicht bestätigen. Im oberfränkischen Steppach kam es 2013 jedoch zu einem Nestbau und einer Brut (zwei Jungvögel) auf einem Hausdach in der Ortsmitte. Verbreitung In Nord- und Mitteleuropa kommt der Schwarzstorch in größerer Regelmäßigkeit, aber immer noch sehr lückenhaft etwa östlich von 11° bis 13° östlicher Länge vor. Die westlich davon liegenden Brutvorkommen sind mit Ausnahme der zum Großteil residenten iberischen Populationen Ausbreitungsgebiete, die erst seit wenigen Jahren besiedelt werden. Ein weit vorgeschobener Ausbreitungskeil reicht derzeit von den Waldgebieten der belgischen und luxemburgischen Ardennen über Nordost- und Zentralfrankreich südwestwärts bis ins französische Perigord. Im Norden brütet die Art von Norddeutschland (unregelmäßig und in sehr geringer Zahl auch in Dänemark) nach Osten über Polen und das Baltikum bis Ussurien an der Pazifikküste. Die Nordgrenze seiner paläarktischen Verbreitung schwankt um 60° N, die Südgrenze ist uneinheitlich, da die Art Wüsten- und Steppengebiete nicht dauerhaft besiedelt. In seinem gesamten asiatischen Verbreitungsgebiet ist der Schwarzstorch ein sehr seltener Brutvogel mit nur äußerst lückenhafter Verbreitung. Weitgehend isolierte Vorkommen bestehen in Spanien und Ostportugal, in der nördlichen Türkei, im Kaukasusgebiet, in Nordwestafghanistan und Pakistan, auf der koreanischen Halbinsel sowie in der Republik Südafrika nordwärts bis Simbabwe und Sambia. Woher diese residenten südafrikanischen Bestände stammen, ist nicht bekannt; zurzeit stehen sie in keinem Zugzusammenhang mit den europäischen und asiatischen Populationen. Die vertikale Verbreitung der Vorkommen ist sehr unterschiedlich und reicht in Europa von den Tieflandgebieten bis in die submontane Stufe der Laubmischwälder, in Zentralasien werden ausschließlich Wälder der submontanen und montanen Stufe besiedelt. Nahrung Die Nahrung des Schwarzstorches setzt sich in viel höherem Maße als beim Weißstorch aus Tieren zusammen, die im oder am Wasser leben. Dabei spielen Fische und Rundmäuler die größte Rolle. Daneben werden auch, abhängig vom verfügbaren Angebot, Amphibien und Wirbellose erbeutet; der Anteil der Säugetiere ist im Vergleich zum Weißstorch gering. Unter den Fischen gehören offenbar Forellen zur Hauptbeute, gefolgt von Groppen, Aalen und während der ersten beiden Fütterungswochen Elritzen und Bachschmerlen. Dort, wo Bachneunauge und Flussneunauge in Schwarzstorchhabitaten vorkommen, zählen auch diese Rundmäuler zu den Beutetieren der Art. Genauere Angaben zu erbeuteten Amphibien sind kaum vorhanden; es scheint sich jedoch vor allem um Frösche und Molche zu handeln, während Kröten wohl nur bei starker Nahrungsknappheit angenommen werden. Reptilien, insbesondere junge Ringelnattern, wurden selten als Beutetiere festgestellt. Unter den Wirbellosen überwiegen ebenfalls wassergebundene, zumindest aber feuchtigkeitsliebende Arten, wie verschiedene Schwimmkäfer, Wasserkäfer und deren Larvenstadien, sowie in nicht unbeträchtlichem Ausmaß die Larven verschiedener Köcherfliegen und Libellen. Welchen Anteil Säugetiere, insbesondere Echte Mäuse, Ratten, Wühlmäuse und Spitzmäuse, an der Nahrung haben, ist nicht genau bekannt. In den Speiballen sind ihre Reste auf Grund der weitgehend vollständigen Verdauung der Fisch- und Amphibiennahrung jedoch wahrscheinlich überrepräsentiert. Nur selten (z. B. bei Mangel an anderer Nahrung) werden Nestlinge anderer Vögel oder Aas gefressen. Ferner nimmt der Schwarzstorch regelmäßig Pflanzen zu sich und verfüttert sie auch an die Jungen. Hauptsächlich handelt es sich dabei um Moose und Wasserpflanzen. Verschiedene Autoren sprechen dieser vegetarischen Beikost eine Funktion bei der Gewöllebildung zu und vermuten auch, dass sie den Storch mit gewissen Spurenelementen, vor allem mit Mangan, versorgt. Nahrungserwerb Die Nahrung wird meistens schreitend im Wasser, an feuchten Waldstellen oder auf feuchten Wiesen erbeutet. Kurze, schnelle Verfolgungen unter Zuhilfenahme der Flügel kommen vor. Schwarzstörche jagen meistens in seichtem Wasser, doch wurden auch Störche bis zum Bauchgefieder im Wasser watend beobachtet. Der Schwarzstorch jagt sowohl auf Sicht als auch sensorisch durch Sondierungsbewegungen des Schnabels im Schlamm oder trüben Wasser, obwohl sein bevorzugtes Nahrungshabitat klare Bäche mit kiesigem Untergrund sind. Häufig werden bei der Wasserjagd die Flügel ausgebreitet – eine Methode, die Flügelmanteln oder englisch canopy feeding genannt wird. Möglicherweise werden dadurch die Lichtreflexionen auf dem Wasser gemildert, es könnte aber auch sein, dass den verfolgten Fischen durch die Lichtabschirmung eine Fluchthöhle vorgetäuscht wird und sie so leichter zu erbeuten sind. Die Beute wird nicht aufgespießt, sondern mit dem Schnabel ergriffen. Größere Beutetiere werden noch im Schnabel weichgeknetet, bevor sie mit dem Kopf voran verschlungen werden. Um die Beutetiere zu wenden, werden sie zuweilen in die Luft geschleudert, manchmal aber auch am Gewässerrand abgelegt und erst dort verzehrt. Verhalten Allgemein Wohl in seinem gesamten Verbreitungsgebiet ist der Schwarzstorch ein scheuer Kulturflüchter, der zum Teil äußerst sensibel auf Störungen in seinem Brutgebiet reagiert. Vor allem in den ersten Wochen nach der Ankunft im Brutgebiet ist diese Störanfälligkeit sehr ausgeprägt. Seine Aktivität beginnt mit dem ersten Nahrungsflug in der Morgendämmerung und endet kurz nach Sonnenuntergang. Er ist während der Brutzeit streng territorial und auch außerhalb dieser weniger gesellig als der Weißstorch. Auf dem Zug finden sich jedoch größere Gruppen zusammen, die gemeinsam Rast- und Ruheplätze sowie die Nahrungsgründe aufsuchen. Ruhe- und Komfortverhalten Schwarzstörche führen eine sehr penible Gefiederpflege durch und baden gerne und ausgiebig („Komfortverhalten“). Dabei tauchen sie mit dem gesamten Körper ins Wasser. Bei Alt- und Jungvögeln wird regelmäßig soziale Gefiederpflege festgestellt. Während der Ruhe- und Schlafperioden stecken die Störche den Schnabel ins aufgeplusterte Hals- und Brustgefieder; oft stehen sie in diesen Ruheperioden auf einem Bein. Während der Huderperiode schläft das Weibchen im Nest, das Männchen sucht seinen Schlafplatz in der unmittelbaren Umgebung, in der Regel mit gutem Sichtkontakt zum Nest. Wenn die Jungen nicht mehr gehudert werden müssen, schläft ein Altvogel stehend am Nestrand. Aggressionsverhalten Während der Balz- und Brutzeit ist der Schwarzstorch streng territorial. Das Territorium wird während der Reviergründung durch eindrucksvolle Revierflüge markiert, Eindringlinge werden energisch davon ferngehalten. Artgenossen werden vom Nest mit seltsam anmutenden Tänzen vertrieben. Dabei sträubt der Vogel die weißen Unterschwanzdecken, tritt von einem Bein auf das andere und führt mit dem Kopf schlängelnde Bewegungen aus. Häufig ist dieser Tanz von stöhnenden Rufreihen begleitet. Angriffe mit Körperkontakt unterbleiben aber meistens; sie wurden unter Artgenossen selten beobachtet, können aber recht heftig sein und zu Verletzungen führen. Solche Auseinandersetzungen werden auch im Fluge ausgetragen. Brutbiologie Schwarzstörche führen eine, wie neueste Beobachtungen zeigen, nicht immer ganz monogame Brutsaisonehe. Sie werden frühestens im dritten Lebensjahr geschlechtsreif, schreiten aber meistens erst ein Jahr später zur ersten Brut. Auf Grund der sehr großen Brutplatztreue beider Partner kommt es häufig zu Wiederverpaarungen, auch über viele Jahre hinweg. Der zuerst im Brutrevier ankommende Vogel – es handelt sich dabei häufiger um das Männchen – wartet auf dem Nest oder nahe dabei auf den Partner; zuweilen, aber nicht immer, beginnt er auch sofort mit Instandsetzungsarbeiten am Nest oder, bei Revierbegründungen, mit dem Nestbau. Diese Warteperiode kann in Extremfällen bis zu 40 Tage dauern, ein oder zwei Wochen sind aber die Regel. Nur selten kommen beide Vögel am gleichen Tag am Niststandort an. Das vereinte Paar beginnt sofort mit Nestbau oder Nestinstandsetzung und markiert das Territorium mit eindrucksvollen Schauflügen; die dabei in große Höhen aufsteigenden Vögel zeigen immer synchrone Flugbewegungen, auch während der simulierten spiraligen Abstürze, dem sogenannten Wuchteln. Häufig werden bei diesen Revierflügen die weißen Unterschwanzdeckfedern gespreizt. In dieser Zeit kopulieren die Störche häufig, vornehmlich in den Vormittagsstunden und meistens auf dem Hauptnest. Neststandort und Nest Schwarzstörche bauen umfangreiche Baum- oder Felsennester. Die Baumnester liegen im mittleren, häufiger aber im oberen Drittel verschiedener Laub- und Nadelbäume, meistens in Stammnähe, gelegentlich aber auch weit vom Stamm entfernt auf weit ausladenden starken Ästen. Unter den Horstbäumen ist eine Bevorzugung der Eiche festzustellen, wohl vor allem deshalb, weil Eichen schon im mittleren Stammabschnitt starke Äste mit vielen Verzweigungen ausbilden, die als stabile Nestauflage gut geeignet sind. In Mittelgebirgsregionen Deutschlands hat die Rotbuche die größte Bedeutung als Horstbaum. In eher feuchten Wäldern befinden sich Horste häufig auf Erlen, Eschen oder Birken. Gebietsweise dominieren als Horstbaum auch Kiefern, Fichten oder Tannen. Bei Baumhorsten liegt der Horst oft auf Überständern, also Bäumen, die andere in der Höhe überragen, häufig auch auf Randbäumen an Lichtungen. Solche Lagen ermöglichen ein leichtes Einfliegen in den Horstbereich. Felsenhorste werden in der Regel auf relativ niedrigen, oft teilweise oder ganz überdachten Felssimsen errichtet, wobei die Felshöhe selbst und die Höhenlage des Nestes innerhalb des Felsens sehr unterschiedlich sein kann. Der Schwarzstorch benutzt seine Nester oft über viele Jahre hinweg, setzt sie immer wieder instand und erweitert sie, sodass sie beträchtliche Ausmaße und ein großes Gewicht erreichen können, was bei zu schwacher Nestunterlage nicht selten zu Nestabstürzen führt. Die Horste sind selten kreisrund, sondern eher rundoval mit Maßen von etwa 150 × 120 Zentimetern bei einer Höhe von rund 50 Zentimetern. Diese Ausmaße können jedoch um einiges überschritten werden. Oft legt ein Revierpaar neben dem Hauptnest noch einige Ausweichnester an. Gelege und Brut Der Zeitpunkt der Eiablage ist von der geographischen Lage und den klimatischen Bedingungen abhängig. In Mitteleuropa beginnt sie selten vor Mitte April. Die westlichen Störche beginnen eher früher zu brüten, die östlichen später. Die südafrikanische Brutzeit fällt in den dortigen Winter und erreicht ihren Gipfel in den Monaten Juni und Juli. Ein Vollgelege besteht am häufigsten aus vier rundovalen, anfangs grünlichen, später reinweißen Eiern in der mittleren Größe von 66 × 48,5 Millimetern. Es kommen auch Gelege mit drei bis sieben Eiern vor. Nachgelege enthalten selten mehr als drei Eier. Die Eier werden in Abständen von zwei Tagen gelegt; das Weibchen beginnt meistens nach dem zweiten Ei fest zu brüten, sodass die Küken in Abständen bis zu sechs Tagen schlüpfen und erhebliche Größen- und Entwicklungsunterschiede zwischen den Küken bestehen können. Beide Elternteile brüten, nachts jedoch immer das Weibchen. Gelegentlich wird das Weibchen während der Brutzeit vom Männchen mit Nahrung versorgt. Die mittlere Brutzeit beträgt 34 bis 38 Tage. In den ersten drei bis vier Wochen werden die Jungstörche ständig von einem Altstorch bewacht und, wenn nötig, gehudert oder beschattet. Die Fütterung übernimmt zuerst ausschließlich das Männchen, nach der zweiten Lebenswoche, manchmal auch erst später, füttern beide Elternteile. Mit 21 Tagen können die Jungen zumindest kurzzeitig aufrecht stehen, mit etwa 60 bis 70 Tagen sind sie flügge. Die Jungstörche werden noch zwei bis vier Wochen von den Eltern betreut und kehren auch noch oft zum Nest zurück. Danach verlassen sie meistens in Zugrichtung und vor den Altvögeln das Aufwuchsgebiet. Wanderungen Der Schwarzstorch ist im größten Teil seines großen Verbreitungsgebietes ein obligater Langstreckenzieher, nur Teile der Populationen in Westspanien und Ostportugal sowie die südafrikanischen Schwarzstörche sind Standvögel. Wie der Weißstorch ist auch der Schwarzstorch vor allem ein Thermikzieher, der aber in größerer Zahl als dieser das Mittelmeer überquert, da er längere Strecken im Schlagflug zurücklegen kann. Die Sahara wird meistens auf küstennahen Strecken umflogen, beziehungsweise nur in ihren Randbereichen gestreift. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Störche wählt jedoch auch Oasenrouten und überquert die zentrale Sahara. Westzieher Unter den Westziehern wählen etwa 10 Prozent die Passage Sizilien – Cap Bon, Tunesien, während die Inselbrücke der Ägäis seltener beflogen wird. In der Regel überfliegen die Westzieher das Mittelmeer jedoch in der Umgebung von Gibraltar. Mit der fortschreitenden Westausbreitung der Art steigt auch die Anzahl der Westzieher, die zum Teil schon in Südspanien und Südportugal überwintern, meistens aber bis Westafrika, insbesondere in die Niger-Feuchtgebiete und nach Senegambien weiterziehen. Ostzieher Die Ostzieher wählen die Bosporus-Sinai-Niltal-Route und überwintern in Ostafrika. Die Überwinterungsgebiete der in Mittelasien brütenden Störche liegen zum Teil ebenfalls in Ostafrika sowie in Indien südlich des Himalayas, aber meistens nördlich des Äquators, die der Fernoststörche in Indochina sowie im südlichen China. Die asiatischen Hochgebirge werden oft überflogen; ziehende Störche wurden im Karakorum in Höhen von 8000 Metern beobachtet. Zugscheide in Europa Die uneinheitliche Zugscheide zwischen Ost- und Westziehern liegt im östlichen Mitteleuropa etwa bei 16° Ost und zieht sich nach Norden bis auf etwa 10° Ost. Die Zugscheiden der asiatischen Populationen sind nicht bekannt. Die südafrikanischen Störche nomadisieren außerhalb der Brutzeit. Zugzeiten in Europa Der Wegzug der Störche aus ihren Bruträumen beginnt Mitte August mit dem Abzug der Jungstörche und dauert bis Ende September. Innerhalb der Zugscheidengebiete kommt es vor, dass sowohl Partner als auch Geschwister unterschiedliche Routen wählen. Die Zugleistungen beim Wegzug liegen zwischen 100 und 250 Tageskilometern mit Tagesmaximalstrecken von über 500 Kilometern. Der Heimzug erfolgt etwas zügiger; ab Mitte März treffen die ersten mitteleuropäischen Störche wieder im Brutgebiet ein. Bestand Die europäischen Schwarzstorchbestände nehmen besonders im Westen Mitteleuropas seit etwa 25 Jahren leicht zu. Im Osten hingegen bestehen uneinheitliche Bestandsentwicklungen, in einigen Staaten sind auch erhebliche Bestandsabnahmen festzustellen. Auffallend ist die vergleichsweise geringe Reproduktionsrate der Oststörche, während die der Weststörche anhaltend hoch bleibt. Über die Bestandssituation in Mittel- und Ostasien liegen keine aktuellen Angaben vor, Einzelzahlen deuten jedoch eher auf einen Bestandsrückgang hin. In Europa besteht ein Trend zu einer Arealausweitung nach Westen und Nordwesten, der sich insbesondere nach 1995 deutlich verstärkt hat. Einzelbruten im südlichen Baden-Württemberg und im bayrischen Allgäu deuten auf eine beginnende Arealausweitung in diesen Bereichen hin. Aus Vorarlberg liegen einige Brutzeitbeobachtungen aus dem grenznahen Gebiet zu Bayern sowie Einzelbeobachtungen ziehender Schwarzstörche vor, ein Brutnachweis steht jedoch noch aus. Ähnlich ist die Situation in der Ostschweiz. Rheinabwärts brütet die Art bereits in nicht unbeträchtlichen Zahlen in Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen. 2005 brüteten in Deutschland mindestens 500 bis 530 Paare, während die Zahl der Brutpaare Anfang der 1970er Jahre noch unter 50 lag. Neuerdings werden auch aus Norditalien wieder Bruten gemeldet. Besonders stürmisch verläuft die Arealausweitung über die belgischen Ardennen nach Nordostfrankreich, ohne dass dahinterliegende Regionen bereits aufgefüllt wären. Insgesamt werden die europäischen Bestände auf etwa 7000 bis 11.000 Brutpaare geschätzt, was ungefähr der Hälfte des Weltbestandes entspricht. Die größten Vorkommen mit je über 1000 Brutpaaren liegen in Polen und in Weißrussland. Bedrohung Die IUCN sieht die Schwarzstorchbestände zurzeit nicht gefährdet (LC = least concern), in den europäischen Listen wird die Art trotz des positiven Populationstrends mit R (= rare – selten) eingestuft. Auf Grund der global sehr geringen Individuenzahl von maximal etwa 40.000 Tieren scheint sie besonders durch mangelnden genetischen Austausch sowie durch Zugverluste (insbesondere Abschuss in einigen südeuropäischen und nordafrikanischen Staaten) und durch Probleme in den Überwinterungsgebieten gefährdet. Vor allem Jungstörche verunglücken sehr häufig auf ihrem ersten Zug an Hochspannungsleitungen und Windkraftanlagen. In den Brutgebieten sind nach wie vor negative Habitatsveränderungen sowie Störungen am Brutplatz die schwerwiegendsten Gefährdungsursachen. Eine relativ neue Bedrohung sind Windkraftanlagen (WEA). Für Deutschland waren bis 2015 fünf Kollisionsopfer und eine hohe Anzahl kritischer Flugsituationen an WEA dokumentiert. Die Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten veröffentlichte 2015 eine Mindestabstandsempfehlung von 3.000 m von WEA zu Brutplätzen des Schwarzstorches und einen Prüfbereich von 10.000 Metern um Brutplätze, um Gefährdungen bei Flügen zu Nahrungsgründen auszuschließen. In den letzten Jahren wurden mehrfach Bruten des Schwarzstorches gestört und seine Horste nach der Brutzeit abgesägt, wo im Nahbereich WEA geplant waren. Bei Bad Fredeburg fällte ein Waldbesitzer Anfang 2016 den Horstbaum eines Schwarzstorchpaares, vermutlich weil oberhalb des Horstbaums die Ausweisung einer Windkraftvorrangzone geplant war und ein Schwarzstorchbrutplatz das Ende der Planung bedeutete. Die informierte Untere Naturschutzbehörde (UNB) leitete ein Ordnungswidrigkeits-Verfahren ein und verhängte einen Bußgeldbescheid. Der Einspruch gegen den Bescheid vor dem Amtsgericht Arnsberg wurde zurückgewiesen. Der Richter bejahte eindeutig eine Fahrlässigkeit des Flächenbesitzers und verhängte 500 Euro Bußgeld. Bastardisierungen Hybriden zwischen Schwarz- und Weißstorch bilden intermediär unterschiedliche Gefiederfärbungen aus; über ihre Fertilität ist nichts bekannt. Zuerst waren solche Artkreuzungen nur aus den Zoos von Basel, Köln und Tallinn bekannt. In freier Natur wurde eine Verpaarung eines männlichen Weißstorchs mit einem Schwarzstorchenweibchen 2023 an einem Nest bei Lüder beobachtet. Das Paar zog zwei Jungtiere auf. Es wurde berichtet, dass die Schwarzstörchin bereits in den Jahren zuvor Anschluss zu Weißstörchen gesucht hatte. Namensherleitung Die tiefergehende Etymologie des deutschen Namens Storch (urgermanisch *sturka, althochdeutsch storah, mittelhochdeutsch storche) ist nicht eindeutig geklärt, mögliche Verbindungen zu nicht germanischen Sprachen sind also nicht klar erwiesen. Der Gattungsname ciconia ist bei Plinius belegt und benennt unterschiedliche Schreitvögel. Das lateinische Farbadjektiv nigra bedeutet schwarz. Kulturgeschichtliches In vorchristlich-germanischer Zeit sah man den Schwarzstorch als einen der Begleiter Odins; ein im Schwedischen noch immer gebräuchlicher volkstümlicher Name ist Odensvala, Schwalbe des Odin. Aus dem Mittelalter gibt es nur wenige Hinweise auf eine genaue Kenntnis der Art, doch wird sie im Falkenbuch Kaiser Friedrichs II. (De arte venandi cum avibus) in einigen sehr naturgetreuen Abbildungen dargestellt. Im Allgemeinen gilt der Schwarzstorch vom Mittelalter bis in die Neuzeit als Gegenspieler des verehrten und positiv besetzten Weißstorches und wird demgemäß als Künder von Unheil, Krankheit und Krieg angesehen. Dieser Volksaberglaube, der Schwarzstorch verheiße nahendes Unglück, ist in manchen Regionen des südöstlichen Europas noch immer lebendig. Literatur Gerd Janssen, Martin Hormann, Carsten Rohde: Der Schwarzstorch – Ciconia nigra. Die Neue Brehm-Bücherei. Bd. 468. Westarp-Wissenschaften, Hohenwarsleben 2004. ISBN 3-89432-219-5. Peter Schröder, Gerd Burmeister: Der Schwarzstorch. Ciconia nigra. Ziemsen, Wittenberg 1974, Westarp-Wissenschaften, Hohenwarsleben 2004, ISBN 3-89432-219-5. Hans-Günther Bauer, Peter Berthold: Die Brutvögel Mitteleuropas. Bestand und Gefährdung. Aula, Wiesbaden 1997, ISBN 3-89104-613-8, S. 45 f. Urs N. Glutz von Blotzheim (Hrsg.): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Band 1: Gaviiformes – Phoenicopteriformes. Aula, Wiesbaden 1987, 2. Aufl., ISBN 3-89104-457-7, S. 415–427. Bengt-Thomas Gröbel, Martin Hormann: Geheimnisvoller Schwarzstorch. Faszinierende Einblicke in das Leben eines scheuen Waldvogels. Aula, Wiebelsheim 2015. ISBN 978-3-89104-786-6 Einzelnachweise Weblinks [ BirdLife International: Ciconia nigra] (englisch, PDF, 225 kB) Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen LANUV NRW 2010 Federn des Schwarzstorchs Javier Blasco-Zumeta, Gerd-Michael Heinze: Geschlechts- und Altersbestimmung (PDF-Datei, englisch) Störche Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCrgerpark%20und%20Stadtwald
Bürgerpark und Stadtwald
Der Bürgerpark und der Stadtwald sind die bekannteste Parkanlage in Bremen. Mit zusammen mehr als 200 Hektar ist sie – nach dem Park links der Weser – die zweitgrößte Grünanlage der Hansestadt. Der Bürgerpark entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unweit des Hauptbahnhofes als klassischer Volksgarten mit Seen, Kaffeehäusern und Liegewiesen innerhalb der bewaldeten Flächen. In der Zeit nach 1900 wurde nördlich davon der rund 65 ha große Stadtwald angelegt. Zusammen bieten sie heute den Besuchern mit so unterschiedlichen Attraktionen wie Tiergehegen, einem Bootsverleih, einer Finnenbahn, Lehrpfaden sowie Minigolf- und Bouleplätzen zahlreiche Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung. Sowohl im Stadtwald als auch im Bürgerpark finden sich neben zahlreichen teilweise mehr als 130 Jahre alten Skulpturen und Denkmälern mehrere denkmalgeschützte Gebäude in aufeinander abgestimmten Naturensembles. Bis heute erfolgt die Unterhaltung ohne Regelfinanzierung aus öffentlichen Kassen durch den Bürgerparkverein, der sich ausschließlich durch Beiträge und Spenden trägt. Eine seiner wichtigsten Einnahmequellen ist die seit 1953 jährlich von Anfang Februar bis in den Mai veranstaltete „Bürgerpark-Tombola“. Lage Der Bürgerpark und der Stadtwald liegen etwa einen Kilometer nordöstlich der Bremer Altstadt und erstrecken sich als unregelmäßiges Viereck in selbige Richtung. Sie haben ihr Gebiet in den Ortsteilen Bürgerpark und Neu-Schwachhausen im Stadtteil Schwachhausen. Im Süden an der Hollerallee gleich gegenüber der Stadthalle (jetzt Bremen Arena) beginnend, wird der Grünzug im Westen auf der gesamten Länge vom Torfkanal und der Findorffallee und im Osten vollständig von der Parkallee begrenzt. Als Grenze zwischen Bürgerpark und Stadtwald fungiert die (Bremer Schleife zwischen Sagehorn und Dreye der) Bahnstrecke Bremen–Hamburg. Die Verbindung zwischen beiden Bereichen erfolgt über zwei kleine Fußgängerunterführungen jeweils an den Außenseiten der Anlage. Die nördliche Abgrenzung bildet der Wetterungsweg. Oberhalb davon erstrecken sich jedoch noch der 28,2 Hektar große Stadtwaldsee (Unisee) sowie das 11,4 Hektar große Naturschutzgebiet „Am Stadtwaldsee (Uni-Wildnis)“, über welche die Parks mit dem Blockland verbunden sind und somit wie eine grüne Zunge aus den weitläufigen Marschwiesen in die Stadt reichen. Anders als viele andere große städtische Parks wie beispielsweise der New Yorker Central Park oder der Berliner Tiergarten werden Bürgerpark und Stadtwald nicht von Verkehrsstraßen zerschnitten. Als einziger großer, einheitlicher Durchgang von einer Seite zur anderen fungiert eine breite, gesperrte Trasse, die an der Polizeiwache im Osten beginnt, den Emmasee nördlich passiert und an der Westseite austritt. Er stellt das nicht befahrbare Verbindungsstück im stadtteilübergreifenden Straßensystem Waller Ring, Osterfeuerberger Ring, Utbremer Ring im Westen und Schwachhauser Ring, Kirchbachstraße im Osten dar. Der Bürgerpark ist mit den Straßenbahnlinien 5, 6 und 8 und den Buslinien 22, 24, 25, 26, 27 und 28 der Bremer Straßenbahn AG erreichbar. Die umgebenden Haltestellen sind Am Stern, Bürgerpark, Findorffallee, Weidedamm, Weidedamm III, Parkallee, Busestraße/Bürgerpark und Emmastraße/Bürgerpark. Geschichte Bürgerpark Planungen Die ländliche Bewirtschaftung der Bremer Bürgerweide – eines ursprünglich 450 Hektar großen, aber im Zuge der Urbanisierung verkleinerten Wiesengeländes nördlich der Stadt – nahm in den 1860er Jahren stetig ab und wurde 1864 vollständig eingestellt. Es musste über eine andere Nutzungsmöglichkeit nachgedacht werden. Vom 16. bis zum 24. Juli 1865 trugen mehrere Tausend Schützen auf der Weide das Zweite Deutsche Bundesschießen aus. Die Teilnehmer litten auf der kahlen Fläche unter der starken Sonneneinstrahlung und der Hitze, und es kam die Idee eines Schießstandes unter Bäumen auf. Die Stadtoberen planten auf der Bürgerweide zwar weitere Veranstaltungen, um „Bremens Reputation im Deutschen Reich“ zu stärken, doch die expandierende Stadt benötigte auch Erholungsgebiete und Grünräume, die zur damaligen Zeit nur in den Wallanlagen geboten wurden. Hauptideengeber für eine Aufforstung des Gebietes war wohl der Kauf- und Geschäftsmann Johann Hermann Holler. Ein erstes Treffen von interessierten Bürgern fand noch am 25. September des gleichen Jahres unter Leitung des Kaufmannes Franz Ernst Schütte im Bremer Ratskeller statt. Alsbald stellte sich heraus, dass der Senat einem solchen Projekt keine Geldmittel zur Verfügung stellen würde, weshalb sich eine Bürgerinitiative gründete. Sie konstituierte sich am 16. November als Comité zur Bewaldung der Bürgerweide mit anfänglich 60 Mitgliedern. Das Gremium beauftragte schon bald darauf Carl Friedrich Wilhelm Nagel mit der Ausarbeitung eines Generalplanes. Dieser sah Spielplätze, einen Konzertgarten, Seen, Wiesen, eine Reitbahn und weitere typische Gestaltungselemente eines Volksparkes vor. Allerdings verwarf Nagel seinen Vorschlag selbst wieder und zog ihn schließlich zurück. Das Projekt geriet daraufhin etwas ins Stocken, doch das Komitee nahm Verhandlungen mit drei Gartenarchitekten auf. Man entschied sich am Ende für die Pläne Wilhelm Benques. Nach dieser Übereinkunft, die einen schnellen Fortschritt der Arbeiten in Aussicht stellte, erhielt man regen Zulauf, und schon bald zählte die Vereinigung rund 800 Mitglieder. Benque erhielt eine Anstellung als Angestellter des Komitees und zukünftiger Parkdirektor. Ein vollständiger Gestaltungsplan war erarbeitet und viel Geld in Form von Spenden gesammelt, bevor der Vorstand des Komitees eine Bitte an den Senat richtete, mit der Intention, einen Abschnitt der Bürgerweide einer anderen Nutzung zuzuführen und ein „städtisches Gehölz“ anzulegen. Die Anfrage wurde bewilligt, und der Senat und die Bürgerschaft überschrieben den Planern ein Areal von 76 Hektar Größe. Entstehung Am 28. Juni 1866 erfolgte der erste Spatenstich, und knapp 170 Arbeiter vollbrachten mit dem Aushub des heutigen Emmasees die erste gartenarchitektonische Maßnahme. Zwar überarbeitete Benque seine Pläne zum Jahreswechsel 1866/1867 noch einmal (unter anderem verlegte er auf Anraten des Gartendirektors Johann Heinrich Gustav Meyer das große Wasserbecken – den späteren Hollersee – weiter nach Süden), doch im Frühling 1867 konnten die ersten Bäume gepflanzt werden. Wenige Monate später wurde auch das erste Kaffeehaus mit Musikpavillon und Grotte errichtet. Im August begann man mit der Gestaltung der Hauptanlage im Süden einschließlich des Hollersees, welche drei Jahre später vollendet wurde. Fast zeitgleich jedoch zog sich Ende 1870 Benque aus dem Projekt zurück. Andere Quellen sprechen von einer Entlassung. Im Jahr 1872 ging aus dem Comité zur Bewaldung der Bürgerweide der noch heute bestehende Bürgerparkverein hervor, und die Verantwortlichen in den städtischen Ausschüssen genehmigten 60 weitere Hektar als Erweiterung des Geländes nach Norden („Bürgerwald“). 1873 entstand das große Parkhaus. In jenem Jahr präsentierte sich die Parkanlage erstmals vom Anfang im Süden bis zur Straße des Schwachhauser Rings, also auf einer Länge von knapp einem Kilometer, als homogene Gestaltungseinheit. 1874 konnte der Schießstand übergeben werden, der ursprünglich den Anstoß zur Umgestaltung der Bürgerweide gegeben hatte, und vom 13. bis 21. Juni desselben Jahres fand die Internationale landwirtschaftliche Ausstellung in den neuen Parkanlagen statt. 1877 erlangte der Kaufmann Franz Ernst Schütte den Posten als Vorsitzender des Vereins und trieb als solcher den Ausbau und Fortgang der Gestaltung wesentlich voran – nicht zuletzt durch massive finanzielle Zuwendungen aus seinem mit Ölimporten erworbenen Vermögen. Benque nahm ebenfalls 1877 seinen Posten als Parkdirektor wieder ein und erlebte drei Jahre später die Fertigstellung der Meierei. 1884 trat er nach kontrovers geführten Diskussionen bezüglich der weiteren Entwicklung des Parks endgültig zurück. Sein Nachfolger wurde Carl Ohrt. Die Bauarbeiten waren 1886 beendet und der Bürgerpark endgültig ausgestaltet. Weitere Geschichte Ein Ereignis von überregionaler Bedeutung war die Nordwestdeutschen Gewerbe- und Industrieausstellung, die vom 31. Mai bis zum 15. Oktober 1890 auf einem 37,5 Hektar großen Areal im südlichen Bereich des Parks veranstaltet wurde. Hierzu wurde das Parkhaus abgerissen und als Haupthaus der Ausstellung ein Neubau errichtet. Dieser brannte allerdings 1907 in einem Großfeuer nieder, weswegen sechs Jahre darauf ein drittes Parkhaus im Stil eines fürstlichen Landsitzes eingeweiht wurde. Im Bremen zur Zeit des Nationalsozialismus wurden während des Zweiten Weltkrieges auf der Ostseite des Bürgerparks drei Luftschutzbunker errichtet, die noch erhalten sind. Derjenige gegenüber der Einmündung der Emmastraße in die Parkallee diente zunächst der 8. Flak-Division und später 1945 dem Kampfkommandanten als Befehlsbunker. Die beiden anderen stehen im Abschnitt zwischen Bulthaupt- und Benquestraße. Im Zuge der Luftangriffe erlitten die Grünanlagen massive Verwüstungen – so wurden beispielsweise das Parkhaus sowie der von Franz Ernst Schütte gestiftete, hohe Aussichtsturm im Bürgerpark zerstört. Ersteres baute man 1956 als Parkhotel wieder auf. Im Jahre 1990 erhielten Bürgerpark und Stadtwald den Schutzstatus eines Gartendenkmals zugesprochen. Im selben Jahr wurde ein fachwissenschaftlicher Beirat eingeführt, der der Parkverwaltung in Fragen der Erhaltung und Pflege der Parks zur Seite steht. Stadtwald Auf einer Sitzung am 6. Juli 1906 beschlossen der Ausschuss und der Vorstand des Bürgerparkvereins, ein Gesuch an den Senat zu stellen, mit der Bitte, dem Verein das trapezförmige Gebiet nördlich der Eisenbahnlinie bis zum Wetterungsweg – die sogenannte Bürgerweidekämpe – zur Anlage eines Stadtwaldes zu übereignen. Die gartenarchitektonische Gestaltungsplanung übernahm der damalige Parkdirektor Carl Ohrt, und der Kaufmann und gleichzeitige Vorsitzende des Bürgerparkvereins Franz Schütte sagte die Bereitstellung von 100.000 Goldmark aus seinem Privatvermögen zur Deckung der Kosten zu. Im Juli genehmigten die Vereinsmitglieder auf einer außerordentlichen Generalversammlung das Gesuch, welches dann umgehend gesendet wurde. Am 14. September teilte der Senat seine Zustimmung mit: Noch im Oktober desselben Jahres kamen im Zuge der ersten Arbeiten zwei Lokomobile und ein Dampfpflug mit zugehörigem Wasserkesselwagen zum Einsatz, die man sich von der Oldenburger Forstverwaltung geliehen hatte. Der schluffige Tonboden über Niedermoor mit örtlich starker Grundnässe musste zunächst bis zu 70 Zentimeter tief umgepflügt werden. Da der hohe Grundwasserstand die Ausbildung eines weiten Wurzelgeflechtes verhinderte, setzte man die Bäume äußerst dicht, damit sie sich gegenseitig stützen konnten. Insgesamt wurden auf der Fläche von 265 Morgen 525.000 Laub- und Nadelholzbaumsetzlinge, 75.000 Niederholzsetzlinge sowie 1.940 Alleebäume gepflanzt. Es entstanden Alleen mit einer Länge von zusammengerechnet 5.270 Metern, und der Aushub des Kleinen Stadtwaldsees ermöglichte die Aufschüttung eines sieben Meter hohen Hügels an dessen Ufer. An der Ost- und an der Westseite erfolgte die Anlage je einer Nadelholzschonung, und der Wald öffnete sich zu vier kleinen verstreuten Lichtungen mit Liegewiesen. Die Fußwege gestaltete man in Grasform, so dass sie ein teppichgleiches Aussehen erhielten und wesentlich niedrigere Unterhaltskosten erforderten. Bemerkenswertestes Merkmal waren jedoch zwei große Alleen. Die Nord-Süd-Achse verlief auf einer Länge von annähernd 600 Metern schnurgerade, und die leicht geschwungene West-Ost-Transversale wies eine Breite von 20 Metern auf und besaß zu beiden Seiten je zwei Baumreihen. Am Kreuzungspunkt beider Trassen in der Mitte des Stadtwaldes errichtete man die Waldhütte. Im Mai 1908, nach weniger als zwei Jahren Bauzeit, gab der Vereinsvorstand auf einer Generalversammlung den Abschluss der Umgestaltung bekannt. Letztlich hatten sich die Kosten doch mehr als verdoppelt, und Schütte zahlte 250.000 Goldmark. Nach dem Ersten Weltkrieg glich der Stadtwald einem verwahrlosten Gehölz ohne Pflege, weswegen externe Experten dem Parkdirektor Hugo Riggers nahelegten, sämtliche Bäume abholzen zu lassen, da es unmöglich sei, dort wieder Ordnung zu schaffen. Riggers jedoch entschied sich gegen diese radikale Maßnahme; stattdessen erhöhte er die Wege, lichtete den Baumbestand aus und verhalf dem Stadtwald zu neuer Beliebtheit. In den Jahren 1962 und 1972 richteten Orkane teilweise schwere Verwüstungen an. Die Stürme hatten an den aufgrund der schlechten Bodenverhältnisse dünnen, schwachen Stämmen und den kärglich ausgebildeten Kronen der Bäume gute Angriffsmöglichkeiten. Allein 1972 brachen – vornehmlich an der Ostseite des Stadtwaldes in einer Nadelholzpflanzung – 1.730 Bäume und damit mehr als doppelt so viele wie im gesamten Bürgerpark. Anfang April 1971 drohte der Kleine Stadtwaldsee auszutrocknen, als der Wasserspiegel rapide fiel. Am 2. April erfolgte eine groß angelegte Aktion von Naturfreunden, Mitgliedern des Bürgerparkvereins und Tierschützern, die mit Schlauchbooten und Keschern Hechte und andere Fischarten retteten. Die Ursache für die Trockenheit lag bei den Bauarbeiten der neuen Universität. Dafür spülte man die ehemaligen Marschenwiesen mit Sand auf, wofür große Mengen Wasser benötigt wurde. Es kam zu einer raschen Absenkung des Grundwasserspiegels in diesem Gebiet. Mit Hilfe einer schnell verlegten Rohrleitung und einer Pumpe konnte der See im Stadtwald wieder aufgefüllt werden. Während der Bürgerpark noch heute kaum von den Planungen Benques abweicht, hat sich das Gesicht des Stadtwaldes im Laufe der Jahre sehr verändert. Die anfänglich gestalteten Alleen sind beispielsweise Wiesendurchsichten und der westliche Nadelholzhain einer Lichtung gewichen. Auch die Waldhütte existiert nicht mehr. Erscheinungsbild Bürgerpark und Stadtwald haben zusammen eine Fläche von 202,5 Hektar. Davon entfallen 136 auf den Bürgerpark und 66,5 auf letztgenannten. Zusammengerechnet zählen sie somit nach dem Englischen Garten in München, dem Großen Tiergarten in Berlin und dem Altonaer Volkspark in Hamburg zu den größten innerstädtischen Parkanlagen Deutschlands. Der Grünzug hat eine Gesamtlänge von bis zu 2,56 Kilometern, die Breite variiert zwischen 0,6 und 1,17 Kilometern. 142 Hektar (gut 70 Prozent der Gesamtfläche) sind baumbestanden, 30 Hektar (15 Prozent) Liegewiesen und sonstige Rasenflächen und 15 Hektar (7,5 Prozent) Wasserflächen. Hierbei wird der Park von fünf großen Seen dominiert. In der nordöstlichen Ecke des Stadtwaldes liegt der 2.500 Quadratmeter messende, dreigliedrige Kleine Stadtwaldsee. Im südlichen Bereich des Bürgerparks sind in der Südostecke der Schwanensee und in zentraler Lage der künstlich eingefasste Hollersee vor dem Parkhotel angesiedelt. Dieser ist in den Sommermonaten mit einer hohen Fontäne ausgestattet. In nördlicher Richtung folgt im westlichen Parkbereich der Emmasee, an dessen Ufern ein bekanntes Kaffeehaus steht und auf dem man Ruderboote mieten kann. Mit diesen besteht die Möglichkeit, auf dem weitläufigen zentralen Wasserlauf des Bürgerparks zu fahren, der ringförmig den gesamten Parkabschnitt zwischen der Eisenbahnlinie und dem durchquerenden Fußweg durchfließt. Eingeschlossen in diesen Gewässerkreis ist der Meiereisee neben dem Restaurant Meierei. Von diesem aus erstreckt sich die mit 2,9 Kilometern längste Sichtachse Bremens über das südlich anschließende Weidengelände, die Große Parkwiese und das Parkhotel bis zum Bremer Dom. Während im Bürgerpark die Wasserläufe unregelmäßig verlaufen, fließen sie im Stadtwald vergleichsweise parallel im Schachbrettmuster. Der Stadtwaldgraben zieht sich die gesamte östliche Seite des Stadtwaldes entlang und ist dessen größter Bach. Über die Gewässer führen in beiden Parks zahlreiche teilweise aufwendig verzierte Brücken, die entweder nach ihren Stiftern benannt sind (Alfred-Hoffmann-Brücke, Aselmeyerbrücken, Carl-Schütte-Brücke, Hachezbrücke, Hoffmann-Brücke, Marie-Bergmann-Brücke, Melchersbrücke von 1881/82, Schüttebrücke, Wiegandbrücke, Fritz-Hollweg-Brücke) oder dem Namen nach an bekannte Bremer Persönlichkeiten erinnern (Lambert-Leisewitz-Brücke). Stadtwald und Bürgerpark sind vollständig erschlossen und von einem dichten Wegenetz durchzogen. Die Fußwege erreichen zusammengerechnet eine Länge von 31,5 Kilometern, die Radwege sind 14 Kilometer und die Fahrwege 7,3 Kilometer lang. Darüber hinaus existiert seit dem 19. November 1977 im südlichen Abschnitt des Stadtwaldes knapp oberhalb der Bahnstrecke eine 1.667 Meter lange, im Dunkeln beleuchtete Finnenbahn als Rundkurs. Diese wurde letztmals im Jahre 2004 in Kooperation mit dem Bremer Institut für angewandte Prävention und Leistungsdiagnostik überarbeitet. Bei diesen Maßnahmen verbreiterte man die Bahn auf 1,5 Meter und erhöhte sie zum besseren Wasserabfluss um 30 Zentimeter. Ebenfalls im Stadtpark legte der Bürgerparkverein im Jahre 2000 auf Initiative der Bremer Landesjägerschaft einen Naturlehr- und Erlebnispfad an. Innerhalb der Parkgrenzen liegen neben einem Minigolfplatz am Emmasee und einer Boule-Bahn fünf Spielplätze – vier im Bürgerpark und einer im Stadtwald, von denen einige als große Abenteuerspielplätze ausgelegt sind. Zudem erhebt sich im westlichen Drittel des Stadtwaldes auf einer Lichtung ein Rodelberg. Eine Besonderheit der Grünanlage sind die unterschiedlichen gartenbaulichen Landschaften innerhalb des Parkgefüges. Die wohl bekannteste ist der Eichenhain im mittel-östlichen Bereich des Bürgerparks. Er geht auf eine Initiative des Parkdirektors Carl Ohrt zurück, der an jener Stelle 1884 in Absprache mit Benque eine einzigartige Sammlung aus 105 unterschiedlichen Eichenarten anpflanzen ließ. Bei der Zusammenstellung und Gruppierung achtete man neben der Blattform auch auf die geographische Verbreitung und auf die Herbstfärbung, um ein harmonisches Bild zu erzeugen. Heutzutage sind im Eichenhain noch ungefähr 20 Eichenarten zu finden. Weiter südlich, am Südufer des Schwanenteiches, erstreckt sich mit dem Fichtenhain ein Pinetum, in dem Ohrt – abermals einem Konzept Benques folgend – viele Nadelholzarten setzen ließ. Dieser Ort ist einer von nur drei Flecken in beiden Parks, an denen hauptsächlich Nadelbäume wachsen; ansonsten dominieren die verschiedensten Laubbäume in von Benque bestimmten Gruppierungen nach Hauptbaumarten. Als Miesegaeshain wird eine kleine Gruppierung von Eichen auf der großen Parkwiese bezeichnet, die August Friedrich Miesegaes stiftete. An gleicher Stelle war zuvor 1880 ein verzierter Zinkpavillon erbaut worden, der vermutlich im Zuge der „Metallspende“ von 1942 abgerissen wurde. Die sogenannte Buchendurchsicht vom Schwanenteich gen Norden an der Ostseite des Schweizerhaushofes entlang plante Benque mit dem Gedanken an die typischen „Thüringischen Landschaften“ als Darstellung eines „saftigen Wiesentals“. Die Rasenflächen werden in diesem Gebiet von mächtigen Buchen umstanden. Beide Parkanlagen wurden im Stile der damals für expandierende Städte typischen und beliebten Volksgärten konzipiert, weswegen Wilhelm Benque und seine Mitarbeiter darauf bedacht waren, verschiedene gartenarchitektonische Richtungen und Stile in Einklang zu bringen und einen in sich harmonierenden Park zu erschaffen. So finden sich beispielsweise an der Meierei oder im Bereich des Parkhotels und des Hollersees streng geometrische und symmetrische Formgebungen mit geraden Blumenrabatten und gezirkelten Wegen, während an anderen Stellen verschlungene Pfade durch eine scheinbar wilde Natur führen. Die teilweise versteckten Gräben, Seen und Wasserläufe dienen dazu, den Park zu be- und zu entwässern, und sollen den Besuchern die Möglichkeit geben, von der Wasserseite aus neue, ungewohnte Eindrücke und Einblicke von der Grünanlage zu gewinnen. Denkmäler Verstreut über die Parkanlagen finden sich die unterschiedlichsten Skulpturen, Statuen, Denkmäler, Büsten und Monumente. Sie stehen nahezu ausschließlich im Bürgerpark. Zu den ungewöhnlicheren Kleinoden zählen: Die Spenderskulptur, eine bronzene Skulptur mit floralen Elementen, die der Bürgerparkverein als Zeichen des Dankes für alle Spender und Unterstützer aufgestellt hat. Die Gorillabüste aus Stein, die in einem Pavillon am Tiergehege steht. Dausch-Plastiken: Gleich drei Bildnisse hat der Bildhauer Constantin Dausch entworfen. 1875 schuf er in der italienischen Hauptstadt Rom einem Auftrag des Bremer Kaufmannes H. Lamotte folgend Siegfried mit dem Drachen kämpfend aus Carrara-Marmor auf einem runden Steinsockel. In Bremen wurde das Werk im Zuge der Nordwestdeutschen Gewerbe- und Industrieausstellung 1890 zu einem Brunnen umfunktioniert und von Lamottes Frau dem Bürgerparkverein übergeben. Heute steht Siegfried der Drachentöter an der Westseite des Parkhotels. Die marmorne Musica schuf Dausch 1877. Ebenso wie das ein Jahr darauf entstandene Stadtbild Jüngling und Schicksalsgöttin fand sie zunächst ihren Platz im Park von Schloss Mühlenthal St. Magnus, bevor man sie 1933 vor die Meiereivilla versetzte. Das zweifigurale Werk von 1878 steht ebenfalls seit 1933 nur 100 Meter entfernt im Garten der Meierei. Der Hollersee wird von mehreren Statuen flankiert, die jeweils an den Ecken seines Ufers stehen. Musik und Tanz: aus Marmor als idealisierte Personifikationen von Diedrich Kropp von 1885. Das Skulpturenensemble Vier Jahreszeiten (1991) mit den vier Skulpturen Frühling, Sommer, Herbst und Winter am Hollersee stammt von Bernd Altenstein und wurde anlässlich des 125-jährigen Bestehens des Bürgerparks aufgestellt. Werke von Theodor Georgii: Aus dem Vermächtnis Eduart Schrodts konnte in den Jahren 1909 und 1910 die Errichtung der Skulpturen Afrikanischer Wasserbock und Edelhirsch an der Ostseite des damaligen Parkhauses und heutigen Parkhotels realisiert werden. Beide Figuren besitzen einen Sockel aus Muschelkalk und sind nach Entwürfen von Theodor Georgii aus Bronze gefertigt. Leihgaben vom Kunstverein: 1972 bedachte der gemeinnützige Kunstverein in Bremen, der Träger der Kunsthalle ist, den Bürgerparkverein mit zwei unbefristeten Leihgaben. So gelangten die Amphytrite von Kurt Edzard und der Poseidon von Ernesto de Fiori in die Parkanlage, die beide 1929 ursprünglich für einen Passagierdampfer des Norddeutschen Lloyd gefertigt worden waren. Beide bronzenen Statuen stehen nun im Garten des Kaffeehauses am Emmasee. Hermann-Löns-Stein: Anfang der 1930er Jahre organisierten Jäger, Naturfreunde und Liebhaber der Schriften des im Ersten Weltkrieg gefallenen Heimatdichters Hermann Löns eine Spendensammlung für ein Denkmal. 1933 fertigte man aus einem bei Nienburg gefundenen Findling einen schlichten Gedenkstein mit der Inschrift „Löns“. Dieser Hermann-Löns-Stein wurde dem Bürgerparkverein von der Bremer Jägervereinigung e. V. geschenkt. Schütte-Büste: In Erinnerung an den 1911 verstorbenen Vorsitzenden des Bürgerparkvereins und größten Mäzen der Parkanlagen Franz Ernst Schütte, der sich außergewöhnliche Verdienste um Bürgerpark und Stadtwald erworben hatte, sammelte ein Komitee nach seinem Tod Spenden für ein Denkmal. 1913 konnte der damalige Bürgermeister und Nachfolger Schüttes im Posten des Vereinspräsidenten Carl Georg Barkhausen die von Adolf von Hildebrand geschaffene Schütte-Büste aus Marmor enthüllen. Die Inschrift lautet „Franz Schütte dem hochverdienten Mitbürger von seinen Freunden gewidmet MDCCCCXIII“. Vierzig Jahre nach ihrer Errichtung wurde die Büste 1953 aus Sicherheitsgründen durch eine Kopie ersetzt. Das Original erhielt einen Platz in der Kunsthalle und seit 1989 in der Meierei. Benquedenkmal: Auch an den leitenden Landschaftsgärtner, Gartenarchitekt und langjährigen Parkdirektor Wilhelm Benque wird erinnert. Dieser hatte sich zu Lebzeiten gegen jede Ehrung ausgesprochen, und so brachte erst 42 Jahre nach seinem Tod der Architekt Eduard Gildemeister 1937 den Vorschlag zur Schaffung eines Denkmals ein. Die Gestaltung übernahm der gebürtige Bremer Bildhauer und Direktor der Nordischen Kunsthochschule in Bremen Ernst Gorsemann. Der Benquestein im Eichenhain, ein schlichter Granitblock aus dem Fichtelgebirge, ist von einer halbkreisförmigen niedrigen Bank des gleichen Materials umgeben und trägt neben der Inschrift „Wilhelm “ zwei Reliefs eines grabenden und eines pflanzenden Arbeiters, symbolisch für die Tätigkeiten im Park. Rehkitz: Von Gorsemann stammt auch die Tonskulptur eines Rehkitzes, die er 1954 als Abguss einer Figur des Rehbrunnes in den Bremer Wallanlagen fertigte und die heute am Wildhaus im Bürgerpark steht. Bienenroland: Im Stadtwald steht lediglich der Bienenroland aus Eichenholz. Er stammt von der Künstlerin Birgit Jönsson und wurde im 2004 anlässlich des 600-jährigen Bestehens des Bremer Rolands aufgestellt. Das Standbild beherbergt einen Bienenstock und hat daher seinen Namen. Bänke Als besondere Gestaltungselemente im Bürgerpark und im Stadtwald hervorzuheben sind die zahlreichen kunstvoll ausgearbeiteten Bänke, die neben den normalen Sitzgelegenheiten bestehen. Sie gehen nahezu alle auf Privatspenden zurück und tragen nicht selten den Namen des Stifters oder desjenigen, an den sie erinnern sollen. Mehrere dieser Werke entstammen der Werkstatt des Kunstschlossers Justus Leidenberg: Er schuf 1893 die Amelie-Ziermann-Bank, die der Kaufmann August Ziermann im Andenken an seine verstorbene Tochter gestiftet hatte. Die halbrunde Sitzgelegenheit aus Gusseisen diente als Vorbild für mehrere andere Bänke in der Parkanlage. In der Form nahezu identisch mit der vorherigen ist die Marie-Sagehorn-Bank, die Leidenberg 1894 baute. Kurz nach ihrer Aufstellung entschied man sich, sie zu teilen und an mehreren unterschiedlichen Orten aufzustellen. Als wiedervereinigtes Ganzes steht sie am Wasserlauf nahe dem Alten Schießhaus. Die dreiteiligen Kulenkampbänke wurden im Jahr 1897 gebaut. Sie stehen im sogenannten Laubengang am Ufer des südöstlichen Knicks des zentralen Wasserlaufes an der Ostseite des Bürgerparks. Dieser entstand 1886 als Dekoration, indem man beschnittene Hainbuchenpflanzen auf einer eisernen Pergola zu einem Laubendach formte. Dieser Ort gilt als einer der idyllischsten Plätze der gesamten Parkanlage. Die schmiedeeiserne J.-Meyer-Bank ist filigran geschmückt und entstand 1898. Ursprünglich stand sie in einer Sitznische nahe dem Schweizerhaus, heute im Garten der Waldbühne. Mit floralen Elementen stattete der Schlosser 1900 die Remmersbank, benannt nach ihrem Stifter, aus. Das schmiedeeiserne Werk weist abermals Parallelen zu den vorherigen auf und stand zunächst nahe der Emmabank, bevor man es östlich des Schweizerhauses installierte. Am Fichtenhain stellte man 1907 die zwei Jahre zuvor aus einem Legat des Hrn. Lang in Auftrag gegebene Früßmersbank aus Gusseisen auf. Heutzutage steht sie nahe der Hachezbrücke. Neben diesen sechs Bänken existieren weitere, die nicht von Leidenberg gefertigt wurden. Die bekannteste von ihnen ist die relativ kleine schmiedeeiserne Heine-Bank im Jugendstil. Sie steht als Andenken an Heinrich Heine im Eichenhain und geht auf Ideen des Bremer Literarischen Vereins von 1902 zurück, ein Denkmal für den berühmten Schriftsteller zu errichten. Diese Pläne wurden 1904 gemäß den Entwürfen von Hans Lassen umgesetzt. Die Bank trug anfangs in der Rückenlehne ein großes, mittig platziertes Reliefporträtmedaillon Heines (Bildhauer: Hugo Berwald) sowie zwei flankierende kleine Texttafeln mit Lyrikversen aus Bronze. Nach Ende des Ersten Weltkrieges erfolgte jedoch eine Schändung durch Antisemiten, die die große Plakette stahlen. Eine Reparatur wurde 1924 vorgenommen, bevor sich der Parkdirektor Hugo Riggers 1933 im Zuge der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten gezwungen sah, alle drei Platten zu verstecken. Während der Luftangriffe durch die Alliierten fiel die Bank der Zerstörung durch Bomben zum Opfer. 1969 befestigte man die Platten an einer steinernen Bank, bevor 1989 die Wiederherstellung der Heine-Bank in alter Form gefeiert werden konnte. Die Heine-Bank fehlte 2010 im Bürgerpark, da sie sich als Teil des Bremen-Standes auf der Expo 2010 in Shanghai befand. Die 1868 nach Entwürfen von Heinrich Müller aus Sandstein gefertigte Emmabank am Westufer des Emmasees gleicht mehr einem Denkmal denn einer Bank, besteht sie doch aus einem großen Gedenkstein und lediglich zwei kleinen flankierenden Sitzmöglichkeiten. Die Inschrift erinnert an den Beginn der Bauarbeiten für die Bewaldung der Bürgerweide, an die legendäre Emma von Lesum sowie an den Bremer Bischof Hartwig I. von Stade, der im Jahre 1159 in einer Urkunde der Stadt den Besitz der Bürgerweide bestätigte. Ferner trägt die Bank das Motto des Bürgerparks „Für Herr und Gesind’, Mann, Weib und Kind. Zu Nutz und Freud’ für alle Zeit“. Eine Kerbe im Stein deutet zudem auf das Doppelhochwasser 1880/1881 hin, die schwerste Überflutung, die der Park bis heute erlebt hat. 1966 erfuhr die Bank eine geringfügige Umsetzung. Die halbrunde Hollerbank aus Sandstein entstand 1869 nach Entwürfen der Architekten Müller und Runge und soll an den ein Jahr zuvor verstorbenen Johann Hermann Holler erinnern, der mit seinen Ideen die Entstehung des Bürgerparks maßgeblich beeinflusste. Die Bank steht am Marcusbrunnen. Die sogenannte Römische Bank aus Sandstein wurde 1898 vom Direktor des Bremer Gewerbemuseums August Töpfer entworfen. Sie formt einen Halbkreis und ist stilistisch an die Formensprache der Antike angelehnt. Auf die Stifterin Meta Schütte deuten die Initialen M. S. hin. Nahe der Wiegandbrücke steht die steinerne Bulthauptbank aus dem Jahre 1909. Sie erinnert mit einer bronzenen Porträtplakette an den Dichter und Schriftsteller Heinrich Bulthaupt, der angeblich häufig an jener Stelle anzutreffen war. Die massive steinerne Primavesibank, auch bekannt als „Idas- und Mariannenruhe“, entwarf der Baurat Hugo Weber im Jahre 1912. Diese Sitzgelegenheit wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und 1969 neu aufgestellt In der Gestaltung der Hollerbank sehr ähnlich präsentiert sich die Wolrabbank, die auch „Ruheleben“ genannt wird. Sie ist eine Spende von Elise Wolrab aus dem Jahre 1914 zum Gedenken an ihren verstorbenen Bruder Carl. War die Bank zunächst noch von zwei Steinfiguren in Form einer Kinder- und einer Tierplastik flankiert, wurden diese später wegen häufiger Beschädigungen entfernt. Als Annas Ruhe bezeichnet man eine kleine Bank mit steinernen Wangen und hölzernem Sitz, die 1915 von zwei Geschwistern in Erinnerung an eine verstorbene Schwester gespendet wurde. Tiergehege Als eine der Hauptattraktionen der Parkanlage gilt das von Wasserläufen und großen Rasenflächen umgebene Tiergehege im mittleren Abschnitt des Bürgerparks. Es besteht in unterschiedlichen Formen bereits seit 1869. Damals legte man ein Bassin für Fischotter an, das bis 1886 bestand. Kleine zoologische Präsentationen waren in vielen Volksparks während des 19. Jahrhunderts zur Unterhaltung der Besucher üblich. Die Otter als nachtaktive Lebewesen waren jedoch sehr scheu, weshalb 1871 ein Gehege mit einem Stall für Rene und Rehe errichtet wurde, der ein Jahr darauf einen hölzernen Aufbau erhielt. So konnten heimische, tagaktive Tiere gehalten werden, die die teils widrige Witterung ertrugen. 1874 wurde im damaligen Buchenhain ein weiterer Wildstall gebaut, den man 1884 in den Westteil des Bürgerparks verlegte. Im Jahre 1903 wurde dieser durch einen Neubau mit einem eckigen und einem runden Turm ersetzt, der ein nach außen sichtbares Birkenständerwerk aufwies und den Mittelpunkt eines großen Geheges mit vielen Tierarten bildete. Mittlerweile unternahm man Versuche, exotische Tiere zu halten, um die Attraktivität zu erhöhen, stellte jedoch bald fest, dass der Kostenaufwand zu hoch war. Dennoch lebten über Jahrzehnte Kängurus im Bürgerpark, die sich zahlreich vermehrten. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich das Dromedar „Bobby“ zum Publikumsliebling und 1954 entstand ein neues Gebäude, das heute auch die Wildwärterwohnung beherbergt. Seit 1966 leben Damwild und Sikahirsche in den Gehegen. Ferner werden heutzutage überwiegend heimische Tierarten gehalten; neben Grauen Bergziegen, Hausschafen und Enten sind dort auch Bentheimer Landschweine, Wildschweine, Gänse, Hausesel, Alpakas, Mufflons, Pfauen und Meerschweinchen angesiedelt. Bauten Gebäude Neben den weitläufigen Grünflächen, Wäldchen, Wiesen und Bachläufen des Bürgerparks und des Stadtwaldes befinden sich innerhalb der Parkanlagen auch zahlreiche Gebäude. Diese dienen teilweise der Erholung oder Verpflegung der Besucher oder beherbergen die Büros der Verwaltung. Darüber hinaus existieren fünf Schutzhütten, in denen sich Wanderer und Radfahrer bei Unwetter unterstellen können. Die beiden größten Bauten finden sich in unmittelbarer Nachbarschaft im südlichen Bereich des Bürgerparks. Es handelt sich zum einen um das Parkhotel am Hollersee und zum anderen um das Schweizerhaus. Letzteres entstand 1871 durch eine Spende des Geld- und Wechselmaklers Heinrich Christian Dieckmann nach Plänen von Carl Scheinpflug im „Schweizerhaus Stil“ und diente zunächst als Wärterhaus und Geschäftsstelle des Bürgerparkvereins. Es beherbergte eine kleine Wohnung, eine Schreibstube und ein Konferenzzimmer für den Vereinsvorstand. 1881 erfolgte eine Erweiterung und fünf Jahre darauf der Anbau einer Küche. Man war allerdings darauf bedacht, den ursprünglichen Stil zu bewahren. Noch heute dient es als Wohnhaus des Parkdirektors und ist mittlerweile an einem größeren gepflasterten Hof Teil eines siebenteiligen Gebäudeensembles, das allerdings unter der Bezeichnung Schweizerhaus zusammengefasst und zusammengerechnet wird. Das Alte Schießhaus ließ der Maurermeister F. Holländer im Jahre 1861 an dem nördlich der Ringstraße gelegenen ehemaligen Militärschießplatz errichten. Das Grundstück fiel während der Parkexpansion 1874 an den Bürgerparkverein, der es in ein Wärterhaus umbaute. Heute dient das Haus am östlichsten Rand des Bürgerparks als Dienstwohnung. Ein weiteres Aufseherhaus konnte 1901 durch eine Spende von Elise Köncke in Höhe von 10.000 Goldmark nahe dem südwestlichen Eingang in den Park gebaut werden. Dieses farbig gestaltete Haus ist unter der Bezeichnung Elisenstiftung bekannt und hat eine schmuckvolle Holzdekoration im Nordischen Stil. Zwei Pavillons im Parkgelände gehen ebenfalls auf großzügige Spender zurück. Der norwegisch-schwedische Konsul Hermann S. Gerdes stiftete am 31. Mai 1903 anlässlich seines 80. Geburtstages eine dieser Konstruktionen. Der Gerdespavillon entstand nach Entwürfen der Architekten Friedrich Wellermann und Paul Frölich als Holzkonstruktion mit Schiefer gedecktem Dach an der Buchendurchsicht unweit der Meierei. Fritz Brandt baute 1963 an einer Wegteilung zwischen Emmasee und Marcusbrunnen den Dyckhoffpavillon, den das Bremer Bekleidungshaus H. Dyckhoff zu seinem 75. Firmenjubiläum zwei Jahre zuvor als „Kinderschutzhütte“ gespendet hatte. Der Rundbau wurde 1986 saniert und mit einer vergoldeten Spitze versehen. Im nordwestlichen Winkel des Bürgerparks steht zwischen dem Hauptwasserlauf und der Bahnstrecke das Wätjenshaus, ein im Landhausstil aus Backsteinen gebautes Haus mit verziertem Dach, weiß verputzten Mauerteilen und einem vom Weg zugänglichen Regenschutz. An jener Stelle hatte Benque zunächst einen Unterstand für Pferde und Reiter geplant. Nach einer Spende der Witwe des bremischen Kaufmanns und Reeders Diedrich Heinrich Wätjen im Jahre 1893 begann man mit dem Bau, errichtete allerdings ein in diesem Bereich benötigtes Wärterhaus. Zwei bedeutende Bauten im Stadtwald sind das Aufseherhaus am Ostrand und der Aussichtsturm am Kleinen Stadtwaldsee. Ersteres geht auf eine Schenkung Franz Ernst Schüttes zurück und wurde ebenfalls von Wellermann und Frölich als zweistöckiger, achteckiger Zentralbau mit zwei Seitenflügeln konzipiert, der zur Parkallee eine dezente Schaufassade mit säulengestütztem Pultdach aufweist. Das Haus war 1908 bezugsfertig und wurde von 1996 bis 1997 generalsaniert. Gabriel von Seidl lieferte die Entwürfe für den Aussichtsturm auf dem Hügel am Kleinen Stadtwaldsee und ließ einen turmartigen Pavillon mit Säulenumgang errichten, hinter dessen Eichenholztür eine Treppe auf die obere Plattform führte. Ab Herbst 1909 diente das Bauwerk so als Aussichtspunkt und Regenunterstand, wurde aber gleich darauf bis Sommer 1910 wieder geschlossen, da die Aussicht auf den gerade neugestalteten Park als noch zu unschön angesehen wurde. Im Volksmund bürgerte sich bald nach der Fertigstellung aus nicht näher bekannten Gründen die Bezeichnung „Judentempel“ ein. Der Turm war von Beginn an immer wieder Vandalismus ausgesetzt, weshalb man schon 1917 die Glas- durch Drahtfenster ersetzte. In den 1920er Jahren mussten Setzrisse und Dachschäden ausgebessert werden und 1956/1957 erfolgte eine erneute Reparatur des langsam verfallenden Daches. Da die mutwilligen Zerstörungen anhielten, wurde 1972 der Zugang zum Turm zugemauert. Sechs Jahre darauf erfolgte zwar eine vollständige Restaurierung, er blieb aber unzugänglich. Im Jahr 1984 stellte man den Aussichtsturm unter Denkmalschutz und mit finanzieller Unterstützung des Rotary Clubs Bremen-Weser gelang 2004 eine erneute Renovierung. Die Eingangstür sowie die Glasfenster wurden originalgetreu wieder eingesetzt, begehbar ist der Turm jedoch nach wie vor lediglich mit Führungen. Fernsicht bietet der Turm trotz seiner exponierten Lage aufgrund der hoch gewachsenen umstehenden Bäume nicht mehr. Waldbühne Die Waldbühne ist das letzte noch erhaltene Gebäude der Gewerbe- und Industrieausstellung von 1890. Der Holzbau in der Nähe des Parkhauses wurde nach Entwürfen des Architekten Carl Bollmann vom Zimmermann J. H. Meyer, dem Tischler Fr. Flathmann und dem Dachdecker J. Mähl errichtet. Er diente der Bremer Zigarrenfirma Engelhardt & Biermann als Ausstellungspavillon und sollte den ursprünglichen Planungen zufolge wie die anderen Schauräume nach dem Ende der Exposition abgerissen werden. Da jedoch im nordöstlichsten Winkel des Bürgerparks zu jenem Zeitpunkt noch immer kein Regenunterstand und keine Aufseherwohnung gebaut worden waren, entschied das Tabakunternehmen, den Pavillon zu spenden, und übernahm auch die Kosten für die Verlegung an den heutigen Standort. Die neben der Aufseherwohnung in dem kleinen Bau schon am 8. Juli 1891 eröffnete Restauration trug den Namen Waldschlösschen, der im Volksmund bald auch auf das Häuschen selbst übertragen wurde. Beide Weltkriege überstand die Waldbühne ohne nennenswerte Schäden und wurde 1966 von einer Brauerei renoviert, bevor der Bürgerparkverein sie 1975 etwas ausbauen ließ, um Pächter zu locken. Im Jahre 1991 erfolgte mit Hilfe des Landesamtes für Denkmalpflege abermals eine umfangreiche Sanierung. Das reich geschmückte Gebäude erhielt eine Schiefereindeckung und präsentiert sich damit wieder im Originalzustand. Im Innenraum finden sich zahlreiche nostalgische Zierelemente. Seit Mitte der 1970er Jahre ist die Waldbühne ein beliebter Treffpunkt in den Parks. Sie beherbergt eine Gastwirtschaft mit großem Garten und eine Bühne, auf der ganzjährig zahlreiche Konzertveranstaltungen mit dem Schwerpunkt auf Jazz gegeben werden. Im Sommer findet sonntagmorgens auf einer Außenbühne ein sogenannter Jazzfrühschoppen statt. Meierei Die Meierei liegt fast im Zentrum der Grünanlagen am Südufer des nach ihr benannten Sees. Sie ist heute ein beliebtes Ausflugs- und Veranstaltungslokal. Die knapp 400 Meter lange Zufahrt von der Parkallee ist der einzige öffentliche Weg in den beiden Parkanlagen, auf dem Kraftfahrzeuge zugelassen sind. 1879 entstand auf dem Gelände eine kleine Molkerei mit zwölf Milchkühen, die auf den umgebenden Wiesen weideten. Bereits zwei Jahre später baute man mit einer Spende Schüttes und nach Plänen Heinrich Müllers das heutige Gebäude im „Schweizer Stil“ mit mehreren Veranden. Der von einem 36 Kühe fassenden Stall und einem Remisenhaus begrenzte Innenhof wurde mit Blumenbeeten und der Aufstellung eines Taubenhauses zu einem Garten umgewandelt. Die Meierei diente nun auch als Restauration und verkaufte darüber hinaus die gefertigten Produkte, wie beispielsweise Milch, Butter, Schichtkäse, Schlagsahne und Jogurt. Im Souterrain beherbergte das Gebäude die Küche, Milchkammern und die Käserei, während im Hochparterre die Gasträume, der große Mittelsaal und seitlich je ein Damen- und ein Herrenzimmer zu finden waren. Bedienstetenräume und Pächterwohnung lagen im Dachgeschoss. Zur Erhöhung der Attraktivität und um den Betrieb rentabler zu machen, legte man 1883 am Meiereisee einen Bootsverleih mit Wasserzug sowie 1886 einen Affenkäfig an. Mit dem kulinarischen Angebot, Musikdarbietungen und Mineralbrunnenkuren entwickelte sich die Meierei bald zu einer bekannten Adresse. Die Stallungen mussten allerdings im Jahre 1900 nach vermehrten Beschwerden der Gäste und aus hygienischen Gründen aufgegeben werden. Zunächst war angedacht, sie umzusiedeln, doch für diese Maßnahme fehlten die nötigen finanziellen Mittel, sodass die Milchviehwirtschaft endete. Fünf Jahre darauf brach man das Taubenhaus im Garten ab, und der Bildhauer Max Dennert schuf die von Franz Ernst Schütte finanzierte Marmorgruppe Geschwister oder der erste Schritt. Diese überstand den Zweiten Weltkrieg nicht. Nach dem Ende des Krieges wurde die Meierei von US-amerikanischen Soldaten beschlagnahmt und verschiedenen Jugendgruppen für die Freizeitgestaltung überlassen, was innerhalb von sechs Jahren zu einer teilweisen Zerstörung der Innenräume führte. 1951 entließen die Amerikaner das Gebäude aus ihrem Besitz, und es wurde renoviert. Im Jahre 1970 erfolgte dann eine Umgestaltung der Innenräume und zwischen 1976 und 1980 erneuerte man die Außenfassaden. 1981 wurde die Bewirtschaftung vom Personal des Parkhotels übernommen. Im Jahr 2002 fand eine Instandsetzung der Fassaden statt, während der die Farbgebung nach Originalplänen wiederhergestellt wurde. 2014 wurden im Zuge eines Pächterwechsels eine Renovierung des Gebäudes und eine Umgestaltung der Innenräume vorgenommen. Zudem wurde die ursprüngliche Fronttreppe, die bei einer früheren Verbreiterung der Veranda weggefallen war, in geringerer Breite wiederhergestellt. Um den ländlichen Charakter zu bewahren, den Wilhelm Benque der Meierei anfangs zugedacht hatte, weiden noch heute auf den südlich des Hauses anschließenden Wiesen in den Sommermonaten Kühe. Unweit der Meierei steht am anderen Ufer des Sees die Meiereivilla, ein 1882 als Wirtschaftshof für die Viehwirtschaft angelegtes Gebäude. Man konzipierte den Grundriss bewusst breit, um den dahinter liegenden Hof für die Augen der Parkbesucher zu verdecken. Die Fassade erhielt passend zur Meierei eine Blende; heutzutage dient die Villa als Wohnung für das Parkpersonal. Am Meiereisee befindet sich auch das Bootshaus für den 2013 fertiggestellten Nachbau des historischen Ausflugsbootes Marie von 1913. Das mit einem Elektromotor betriebene Boot fährt an Wochenenden und Feiertagen von Mai bis Oktober auf einem Rundkurs über die Gewässer des Bürgerparks. Hierfür wurden 2012 vier Anlegestellen auf dem Wasserlauf eingerichtet. Kaffeehaus Emmasee Heinrich Müller entwarf das Kaffeehaus am Nordufer des Emmasees 1867 als leichten, flachen Holzbau, der „Zelt“ genannt wurde. Der großen Beliebtheit dieses Hauses unter den Bremern Rechnung tragend, genehmigte man den Ausbau der Zuwege und Zieranpflanzungen, und der Pächter konnte ein Jahr darauf einen vorgelagerten Musikpavillon anbauen. 1874 wurde das Kaffeehaus erweitert. Nachdem aus dem Vermächtnis von J. H. Gräving 30.000 Goldmark an den Bürgerparkverein ausgezahlt worden waren und der Brauereidirektor Lambert Leisewitz aus Anlass seiner Silberhochzeit 50.000 Goldmark spendete, entschied man sich für einen soliden Neubau an gleicher Stelle. Dieser war 1897 fertiggestellt, im „Tiroler Stil“ gehalten und besaß einen hohen Schmuckturm auf der Deckenkonstruktion des Sommersaals. In den Jahren 1908 und 1909 erhielt das Haus als Schenkung des Bankiers Wätjen einen neuen Musikpavillon, der den Namen seines Stifters trägt. Der Turm musste 1918 abgebrochen werden, da er sich bei einem Sturm derart geneigt hatte, dass man einen Einsturz befürchtete. Das Kaffeehaus wurde im Zweiten Weltkrieg durch Brandbomben zerstört und die Holztrümmer von notleidenden Bürgern entwendet, sodass lediglich noch die Grundmauern standen. Von dieser Situation ausgehend, befasste sich der Vorstand des Bürgerparkvereins erstmals 1951 mit einem Wiederaufbau des Cafés – erwogen wurde ein Gebäude im Stile eines Fachhallenhauses. Es gelang jedoch erst 1960, auf finanzielle Rücklagen durch die Bürgerpark-Tombola zurückzugreifen, sodass die Planungsphase beginnen konnte. 1964 wurde das neue Kaffeehaus am Emmasee im Stile der Zeit nach Plänen von Carsten Schröck und Hans Budde als einstöckiger Flachdachbau mit großen Fensterfronten zum Wasser eingeweiht. Emma am See wird heute das Kaffeehaus benannt. Brunnen Der berühmteste Brunnen der Parks ist der Marcusbrunnen im Süden des Bürgerparks in unmittelbarer Nähe zum Parkhotel. Er wurde im Jahr 1883 vom damaligen Bürgermeister Victor Marcus gespendet. Einen Realisierungswettbewerb gewann August Töpfer, dessen gestalterische figurale Ideen von Diedrich Samuel Kropp umgesetzt wurden, während F. Kallmeyer den Metallschmuck goss. Die Einweihung des Brunnens feierte man im Jahre 1889. Das Werk bestand zunächst aus einem steinernen Sockel und einer steinernen Brunnenschale und besaß aus Bronze zwei weitere Schalen, Tritonen und wasserspeiende Seepferde auf dem Sockel. Im Zuge der „Metallspende“ 1942 wurden die Metallelemente demontiert, der Brunnen konnte 1959 aber wieder in zunächst vereinfachter Form in Betrieb genommen werden. 1975 wurde der Marcusbrunnen dann von dem Bildhauer Claus Homfeld wieder mit einer oberen Schale sowie anstelle der ursprünglichen Seepferde mit vier Muschelschalen ergänzt, die jeweils in Bronze ausgeführt wurden. Der Niemitzbrunnen liegt zwischen dem Parkhotel und dem Haus der Parkverwaltung. Der Kaufmann Johann Friedrich Niemitz stiftete ihn, und er wurde 1878 ein Jahr nach dessen Tod nach einem Entwurf von Heinrich Müller errichtet. Der Brunnen hat die Formgebung eines kleinen pompejanischen Tempels und beherbergt unter seinem flachen Dreiecksgiebel im Inneren Steinbänke und eine Brunnensäule mit Wasserbecken. Ein weiterer Brunnen wurde 1908 infolge eines Legats aus dem Erbe des Kaufmanns Claus Albert Addix vom Bildhauer J. Conrad Buchner gefertigt. Dieser sandsteinerne Claus-Addix-Brunnen steht südlich des Emmasees zwischen einem Spielplatz und der Minigolfanlage und besaß in früherer Zeit auf dem Beckenrand Blumenverzierungen. Die Wasserversorgung des Brunnens ist allerdings bereits seit längerer Zeit defekt. Organisation und Finanzierung Bis heute werden der Bürgerpark und der Stadtwald ohne staatliche Finanzierung vom Bürgerparkverein, der gut 2.600 Mitglieder zählt, unterhalten und sind damit die größte privat finanzierte Stadtparkanlage in der Bundesrepublik. Einen wesentlichen Einnahmebereich stellt die Bürgerpark-Tombola dar. Diese findet seit 1953 unter der Schirmherrschaft des jeweiligen Bürgermeisters über einen Zeitraum von drei Monaten auf den Plätzen der Innenstadt Bremens statt. Zur dauerhaften finanziellen Festigung der Parks rief der Bürgerparkverein im November 2000 die „Gräfin-Emma-Stiftung zur Erhaltung des Bremer Bürgerparks“ ins Leben. Nach dem Erreichen eines festen Sockelbetrages soll diese als ergänzende Sicherung dienen. Verwaltet wird die Stiftung von der Sparkasse Bremen. Präsident des Bürgerparkvereins war von 2004 bis zu seinem Tod im Jahr 2022 Joachim J. Linnemann von der Immobiliengesellschaft Justus Grosse. Sehr viele Bäume, aber auch Brunnen und Bänke im Bürgerpark und im Stadtwald sind Spenden von Bremern und tragen daher oft deren Namen. Der Bürgerparkverein beschäftigt je nach Jahreszeit 30 bis 45 fest angestellte Mitarbeiter im Verwaltungsbüro sowie als Handwerker und Gärtner. Letztere kümmern sich um die Erhaltung der Grünanlage, bessern Schäden aus und setzen neue Ideen gestalterisch um. Ferner sind acht bis zehn Teilzeitkräfte als Sicherheits- und Reinigungspersonal, für die Jagd und den Bisamrattenfang engagiert. Im Verein kann man darüber hinaus Schul- und Berufspraktika sowie ein freiwilliges ökologisches Jahr ableisten. Der durchschnittliche Jahreshaushalt des Bürgerparks und des Stadtwaldes liegt zwischen 2.000.000 und 2.500.000 Euro. In der Regel wird ein Drittel dieses Betrages durch Vermächtnisse und Erbschaften abgedeckt. Die restlichen zwei Drittel ergeben sich aus privaten Spenden, Mitgliederbeiträgen, großangelegten Spendenaktionen, Miet- und Pachteinnahmen, Stiftungsvermögen und Mitteln aus den Toto- und Lottotöpfen. Maßgeblich trägt zur Finanzierung der Reinerlös der verkauften Lose der Bürgerpark-Tombola bei – 2012 wurden 936.100 Lose zu je einem Euro verkauft. Die Bürgerpark-Tombola ist somit die umsatzstärkste Sachwertlotterie Deutschlands. Der Gesamterlös belief sich bis 2003 auf ungefähr 46.000.000, der Reingewinn auf zirka 19.200.000 Euro. Regelmäßige Veranstaltungen Als zentraler und stark frequentierter Stadtpark einer Großstadt sind Bürgerpark und Stadtwald auch Veranstaltungsort zahlreicher Feste, Vorführungen und Konzerte. Im Jahre 2008 gab es allein 26 Musikveranstaltungen. Die populärste von ihnen ist der jährlich Mitte September stattfindende Konzertabend „Musik und Licht am Hollersee“. Auf einer Bühne am Südufer des Sees spielt dann das Jugendsinfonieorchester Bremen der Musikschule Bremen, während auf den Rasenflächen regelmäßig mehr als 30.000 Zuschauer auf Decken oder mitgebrachten Klappstühlen sitzen und picknicken. Die Atmosphäre erinnert an die Proms, speziell wenn die Besucher zu fortgeschrittener Stunde Fackeln entzünden und der Hollersee in ein weites Lichtermeer getaucht wird. Die Fackeln werden an den Zuwegen verkauft, wobei der Erlös zur Hälfte dem Orchester und zur anderen Hälfte den Spielplätzen in den Parks zugutekommt. Zu einem Höhenfeuerwerk wird traditionell Georg Friedrich Händels Feuerwerksmusik gespielt und den Abschluss bildet das gemeinsam gesungene Lied Der Mond ist aufgegangen. 1995 ging der Bürgerparkverein eine Kooperation mit der bremer shakespeare company ein. Diese führt seitdem jährlich an fünf Tagen im August unter dem Titel „Bremer Theatersommer – Shakespeare im Park“ Klassiker von William Shakespeare auf einer Freilichtbühne an der Melchersbrücke auf. Binnen kurzer Zeit erreichten diese Vorführungen vor der Silhouette des Bürgerparks in der Abenddämmerung eine hohe Beliebtheit und sind in der Regel bereits Wochen zuvor ausverkauft. Seit 1990 feiern mehrere verschiedene Vereinigungen unter der Federführung des Landesbetriebssportverband e. V. (LBSV) im August den „Bremer Kindertag“ am Marcusbrunnen. Ziel ist die Auseinandersetzung der Erwachsenen mit dem Kind. Geboten werden neben einem vielfältigen Spielprogramm auch Tanzvorführungen, Shows, Konzerte und Lesungen. Den Höhepunkt stellt sie Verleihung des Kinder-Oskar dar, der an Personen oder Verbände vergeben wird, die sich besonders um die Rechte der Kinder verdient gemacht haben oder Kindern in unterschiedlichster Weise helfen oder diese fördern. Persönlichkeiten Vorsitzende (Präsidenten) des Bürgerparkvereins 1865–1872: Justin Friedrich Wilhelm Löning, Kaufmann 1872–1876: August Friedrich Miesegaes 1877–1911: Franz Ernst Schütte, Kaufmann 1911–1917: Carl Georg Barkhausen, Bürgermeister 1918–1933: Clemens Carl Buff, Bürgermeister 1933–1934: Richard Markert, Bürgermeister 1934–1966: Franz Albrecht Schütte, Kaufmann 1966–1977: Otto Ronning, Kaufmann 1977–1981: Friedrich Selchert 1981–1998: Friedrich Rebers, Sparkassendirektor 1998–2004: Heinz-Werner Hempel 2004–2022: Joachim J. Linnemann Parkdirektoren 1865–1870: Wilhelm Benque 1877–1884: Wilhelm Benque 1884–1908: Carl F.H.A. Ohrt (1852–1908) 1909–1918: Theodor G. Karich (1853–1918) 1919–1963: Hugo Riggers (1884–1968) 1964–1989: Günter Reinsch (1923–?) 1989–2012: Werner Damke seit 2012: Tim Großmann Literatur (nach Erscheinungsjahr geordnet) Günter Reinsch: Der Bürgerpark – ein Beispiel deutscher Stadtparkanlagen in Bremen. In: Die Gartenkunst 2 (1/1990), S. 87–98. Günter Reinsch: 125 Jahre Parkpflege Bürgerpark Bremen. Die Gartenkunst 3 (2/1991), S. 225–234. Bürgerparkverein Bremen (Hrsg.), Die Wittheit zu Bremen (Hrsg.): 125 Jahre Bremer Bürgerpark. Johann Heinrich Döll-Verlag, Bremen, 1991, ISBN 3-88808-135-1. Bürgerparkverein (Hrsg.): Der Bürgerpark. Park begehen – Kultur erfahren. Natur beobachten – Natur erfahren. Kartenblatt. Asco Sturm Druck, Bremen 1994. Karolin Bubke: Zehn Jahrhunderte Bürgerweide Bremen. Aschenbeck & Holstein Verlag, Delmenhorst 1999, ISBN 3-932292-17-0. Herbert Schwarzwälder: Das Große Bremen-Lexikon. Edition Temmen, Bremen 2003, ISBN 3-86108-693-X. Ulrike Graf, Bürgerparkverein (Hrsg.): Der Stadtwald. Wald begehen – Kultur erfahren. Asco Sturm Druck, Bremen 2006. Weblinks www.buergerpark-bremen.de – Internetpräsenz des Bürgerparks Bremen www.buergerpark-tombola.de – Internetpräsenz der Bürgerpark-Tombola www.waldbuehne.com – Internetpräsenz der Waldbühne www.meierei-bremen.de – Internetpräsenz der Meierei Vorstellung des Bürgerparks auf der offiziellen Internetpräsenz der Stadt Bremen im Zuge der Präsentation des Stadtteils Schwachhausen gauss.suub.uni-bremen.de – Historische Karten des Bürgerparks Audio-Slideshow vom Bremer Bürgerpark (Radio Bremen) Einzelnachweise Parkanlage in Bremen Denkmalgeschütztes Ensemble in Bremen Schwachhausen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Udon
Udon
Udon (jap. , Kanji ) ist eine Nudelsorte der japanischen Küche. Sie wird aus Weizenmehl, Speisesalz und Wasser hergestellt, besitzt eine weiße bis cremeweiße Farbe und eine weiche und elastische Konsistenz. Die Udon sind die dicksten Nudeln der japanischen Küche und werden zu vielen verschiedenen Gerichten verarbeitet. Vorläufer der Udon kamen wahrscheinlich schon im ersten Jahrtausend aus China nach Japan und sind dort an die lokalen Vorlieben angepasst worden. Zusammen mit anderen Nudelsorten wie Soba zählen sie zu den traditionellen Nudeln der japanischen Küche, während beispielsweise Ramen als chinesische Nudeln angesehen werden. In der Präfektur Kagawa sind Udon besonders beliebt, die dort verbreiteten Sanuki-Udon sind meist etwas dünner als andere Udon. Dünne Weizennudeln werden Sōmen genannt, während Hiyamugi zwischen beiden liegen. Beschreibung und Zubereitung Allgemein Udon sind weiße oder cremeweiße Nudeln mit einer weichen und elastischen Konsistenz. Sie werden ausschließlich aus Weizenmehl, Salz und Wasser hergestellt, traditionell wird Meerwasser für die Zubereitung verwendet. Das Verhältnis zwischen den Zutaten liegt meist bei 100 Teilen Weizenmehl, 42 bis 45 Teilen Wasser und 2 bis 5 Teilen Salz. Die genaue Menge der Zutaten wird oftmals vom Koch in Abhängigkeit von der Art der zubereiteten Udon, den Ansprüchen an die Konsistenz der Nudeln und auch dem am Tag vorherrschenden Wetter variiert. Zur Herstellung der Nudeln wird Weizenmehl verwendet, welches aus Weizen mit einem geringen bis mittleren Eiweißanteil von 8 bis 10 % gewonnen wird. Dies entspricht auf dem Weltmarkt als „semi-soft wheat“ (halb-weicher Weizen) gehandelten Sorten. Diese werden mit einem geringen Mineralstoffgehalt von 0,36 bis 0,4 % ausgemahlen. Die Zutaten werden zu einem sehr festen Teig geknetet, der sich mit der Hand nur sehr schwer bearbeiten lässt. Daher wird der Teig zwischen biegsame Bögen, die heute meist aus Kunststoff bestehen, gelegt und mit den Füßen so lange getreten, bis er elastisch genug ist, um ausgerollt zu werden. Bei der kommerziellen Herstellung von Udon wird jedoch der Arbeitsschritt des Teigknetens oftmals von speziellen Maschinen übernommen. Der Teig wird zur Herstellung der Nudeln gleichmäßig dünn ausgerollt, gefaltet und mit einem speziellen Messer, dem Udon kiri, geschnitten. Die so entstehenden Nudeln sind meist verhältnismäßig dick, jedoch werden beispielsweise die in der Präfektur Kagawa (historisch: Provinz Sanuki) auf der Insel Shikoku verbreiteten „Sanuki Udon“ dünner geschnitten. Mit einer Dicke von 2,0 bis 3,9 mm sind Udon die dicksten Nudeln der japanischen Küche, nur die Bandnudeln Hira-men sind breiter, dafür aber flacher. Die frischen Nudeln werden in kochendes Wasser gegeben; sobald dieses wieder aufkocht, wird kaltes Wasser hinzugegeben. Fängt daraufhin das Wasser wieder an zu kochen, sind die Nudeln gar. Industriell hergestellte Udon Bei der industriellen Herstellung von Udon wird der Teig von einer Maschine in Streifen verschiedener Dicke geschnitten. Die so hergestellten Nudeln können in drei verschiedenen Formen verkauft werden. Getrocknete Nudeln werden als Kan-men ( oder ) bezeichnet, bereits gekochte Nudeln nennt man Yude-men ( oder ). Als ungekochte, nicht getrocknete Nudeln werden Udon nur sehr selten verkauft, diese Form der Nudeln wird als Nama-men (, oder ) bezeichnet. Am häufigsten werden Udon als bereits gekochte Nudeln verkauft. Sie können dabei unverpackt, nur sehr einfach verpackt oder in sterilisierten Plastikverpackungen angeboten werden. Die Nudeln werden dafür für 10 bis 25 Minuten in kochendem Wasser mit einem pH-Wert von 5,5 bis 6 gekocht und haben anschließend etwa das 2,5- bis 4-fache Gewicht des für die Nudeln verwendeten Mehls. Für den Verkauf von gekochten Nudeln in sterilisierten Plastikverpackungen werden diese mit Wasser und Milchsäure oder Natriumbenzoat als Konservierungsmittel verpackt und anschließend für mehr als 40 Minuten bei über 90 °C pasteurisiert. Die Nudeln können auf diese Weise für über drei Monate haltbar gemacht werden. Sollen die frischen Nudeln getrocknet werden, muss ein spezieller Trocknungsprozess durchgeführt werden, da die relativ dicken Nudeln sonst durch zu schnelles Trocknen zu stark belastet würden und dabei brechen könnten. Dieser Prozess ist in drei Teile gegliedert: Zunächst wird den Nudeln bei relativ geringer Temperatur von etwa 15 bis 20 °C die Feuchtigkeit nahe der Oberfläche entzogen. Dies verringert die Zugbelastung in den Nudeln, die durch das eigene Gewicht hervorgerufen wird. Im zweiten Schritt wird bei relativ hoher Luftfeuchtigkeit von 70 bis 80 % und einer Temperatur von 30 bis 35 °C weitere Feuchtigkeit entzogen, wobei ein Gleichgewicht zwischen austretender Feuchtigkeit und der inneren Feuchtigkeitsverteilung gegeben sein muss. Im letzten Schritt wird der Gesamtfeuchtigkeitsgehalt der Nudeln auf etwa 14 % gesenkt, dabei wird nach und nach die Temperatur gesenkt, um ein Brechen der Nudeln zu vermeiden. Geschichte Im Gegensatz zu anderen japanischen Nudelsorten, wie die als direkt aus der chinesischen Küche übernommen geltenden Ramen, werden Udon zusammen mit Soba zu den traditionelleren Nudelsorten Japans gezählt. Es gibt unterschiedliche Angaben darüber, wann die ersten Nudeln in Japan eingeführt wurden. Entweder sind sie bereits in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung oder aber erst im 8. Jahrhundert aus China nach Japan gekommen und dort von der lokalen Kultur aufgegriffen und entsprechend angepasst worden. Aus der Muromachi-Zeit (von 1338 bis 1573) sind Udon meistens nur als Nahrung in Tempeln bekannt, die weite Verbreitung der Udon wird in der Edo-Zeit (1603 bis 1868) angesiedelt. Die älteste bekannte Beschreibung der Herstellung stammt aus dem Rezeptbuch Ryōri monogatari (, deutsch: „Küchengeschichten“) von 1643. Besondere Beliebtheit genossen Udon in dieser Zeit in der Gegend um Ōsaka und Kyōto. Auch im in der Edo-Zeit entstandenen Kabuki-Theater, welches viele Anspielungen auf zeitgenössische Trends verarbeitete, tauchen Udon auf: Im 1713 erstmals aufgeführten Stück Sukeroku () rempelt der Udon-Verkäufer Fukuyama eine der Hauptfiguren (Kanpera Monbee) an und verweist damit auf einen Udon-Laden, der sich in der Nähe des Theaters befand. Mit der sogenannten Meiji-Restauration (ab 1868), in der sich das zuvor isoliert gehaltene Land anderen Kulturen öffnete, änderten sich auch die Ernährungsgewohnheiten und gleichzeitig damit die Herstellung von Nahrungsmitteln. 1884 wurde durch T. Masaki die erste Maschine zur Herstellung von Nudeln in Japan vorgestellt, was die industrielle Produktion der Nudeln revolutionierte. Mit der steigenden Bedeutung der industriellen Lebensmittelproduktion stieg auch das Interesse an wissenschaftlicher Beschäftigung mit Nahrungsmitteln. Die meisten aktuellen Studien in diesem Gebiet werden von öffentlichen Einrichtungen und Universitäten oder aber privat durch die Lebensmittelindustrie finanziert. Mit den physikalischen Eigenschaften gekochter Udon aus unterschiedlichen japanischen Mehlsorten beschäftigte sich bereits eine Arbeit von T. Shimizu et al. aus dem Jahr 1958. Hara et al. stellten 2003 fest, dass Udon, die in schwach elektrolysiertem Wasser gekocht werden, eine geringere Gelierung der Stärke aufweisen, was sich in einer geringeren Biegsamkeit der Nudeln widerspiegelt. Viele Arbeiten beschäftigen sich mit mathematischen Modellen des Trocknungsprozesses von Udon. Die Modelle sollen dabei helfen, das Brechen der Nudeln vorherzusagen beziehungsweise durch Optimierung des Prozesses das Brechen zu vermeiden. Beispiele für solche Modelle sind in den Arbeiten von Tadao Inazu et al. (2005) und Jie Yu Chen et al. (2000) zu finden. Varianten Udon werden in der japanischen Küche in unzähligen Variationen gereicht, die Gerichte lassen sich nach unterschiedlichen Eigenschaften kategorisieren. So wird beispielsweise unterschieden, ob die Nudeln warm oder kalt serviert werden, oder ob sie in eine Sauce gedipt, in Brühe, ganz ohne Brühe oder Sauce, in Eintöpfen oder anderweitig zubereitet gereicht werden. Einige der Varianten können sowohl mit Udon als auch mit Soba zubereitet werden, in einigen Restaurants kann man zwischen beiden Nudelarten wählen. Viele der Zubereitungsarten besitzen sehr poetische Namen und sind oft nach Legenden und Mythen benannt, die zu ihrer Entstehung geführt haben sollen. Zu den bekanntesten Udon-Gerichten gehören: Kake Udon (, auch ): Heiße Nudeln in heißer Brühe auf Basis von Fisch und/oder Sojasauce. Diese Brühe wird Kake Jiru genannt und gilt als Basisbrühe für verschiedene andere Nudelgerichte. Einige der in Folge aufgezählten Variationen unterscheiden sich von Kake Udon durch eine bestimmte Auswahl an Beilagen. Bukkake Udon (): Heißes oder kaltes Gericht, bei dem die Nudeln mit verschiedenen Zutaten belegt und anschließend mit Brühe übergossen werden. Dojōjiru (): Eintopfgericht aus Ostasiatischen Schlammpeitzger (dojō, ), frischen Udon, Gemüse, frittiertem Tofu und anderen Zutaten. Diese werden in einer Brühe aus getrockneten Sardinen gekocht und mit Miso abgeschmeckt. Dojojiru wird traditionell in der Sanuki-Region bei sommerlichen Dorffesten gereicht. Kamaage Udon (, auch ): Heiße Udon werden mit etwas Kochwasser in einer Schüssel serviert. Vor dem Essen werden die Nudeln in einen würzigen Dip getunkt. Karē Udon (): Heiße Udon in Currysauce nach japanischer Art. Kitsune Udon (): Heiße Udon in Brühe mit frittiertem Tofu. Der Name beruht auf der Legende, dass Füchse (Kitsune) sehr gerne frittierten Tofu äßen. Nabe-yaki Udon (): Eintopfgericht mit Pilzen, Gemüse, Ei, Fleisch, Udon und gelegentlich auch Shrimp-Tempura. Das Gericht wird in einem Steintopf zubereitet und serviert, es wird vor allem im Winter gegessen. Niku udon ( oder ): Heiße Nudeln werden mit Sojasauce und gesüßtem Rindfleisch belegt. Tanuki Udon (): Heiße Udon in Brühe mit Stücken frittierten Tempura-Teigs. Tanuki ist der japanische Name für den Marderhund, der in Legenden als listiges Tier dargestellt wird. Er soll das Gemüse und den Fisch, die sich normalerweise im Tempura-Teig befinden, gestohlen haben. Dadurch bleiben nur noch Krümel des Teigs zurück, die dann als Beilage zur Udon-Suppe gereicht werden. Tempura Udon (, auch ): Heiße Nudeln werden mit Tempura – meist aus Shrimps, aber auch aus Gemüse – belegt. Tsukimi Udon (): Heiße Udon in Brühe mit einem rohen Ei. Der Name verweist auf die Ähnlichkeit des Eigelbs mit dem Vollmond und wird auch zum Tsukimi-Fest gegessen. Uchikomi Udon (): Eintopfgericht aus Udon, Gemüse, frittiertem Tofu und anderen Zutaten, gekocht in einer Brühe aus getrockneten Sardinen. Miso oder Sojasauce können den Geschmack des Gerichtes abrunden. Ein typisches Gericht aus der Sanuki-Region. Yaki Udon (): Pfannengericht, ähnlich Yakisoba, jedoch werden anstatt anderer Nudeln Udon verwendet. Neben Algen, Gemüse und Fleisch ist eine dickflüssige Sojasauce Bestandteil des Gerichts. Zaru Udon (): Kalte Nudeln, die auf einem Zaru genannten Bambussieb serviert werden. Vor dem Essen werden die Nudeln in einen würzigen Dip getunkt. In Korea sind die Nudeln besonders als Fertiggericht, aber auch in Imbissen verbreitet. Die koreanische Aussprache /ondon/ nach den japanischen Kanjis – in Korea Hanjas genannt – ist nicht üblich, stattdessen ist das Nudelgericht als Udong () bekannt. Die Udonnudeln selbst wird in Korea Udong-myeon () genannt. Nährwert 100 g getrocknete, biologisch hergestellte Udon haben einen physiologischen Brennwert von 1478 kJ (353 kcal). Die Nudeln besitzen einen Glykämischen Index (GI), der mit anderen Nudeln wie beispielsweise Spaghetti vergleichbar ist. Wird Weißer Reis als Referenznahrungsmittel mit einem GI-Wert = 100 bewertet, haben Udon einen deutlich geringeren durchschnittlichen Wert von GI = 58. Quelle: Bedeutung Wirtschaftliche Bedeutung Führend in der Produktion von Udon ist die Präfektur Kagawa, flächenmäßig die kleinste der Präfekturen Japans. Im Jahr 2005 wurden in Japan etwa 33.200 Tonnen Weizenmehl zu frischen Udon verarbeitet, wovon die Udon-Herstellung der Präfektur Kagawa mit 9766 Tonnen 29,4 % ausmachte. Bei getrockneten und vorgekochten Udon sind die Zahlen vergleichbar: Japanweit wurden hierfür etwa 45.600 Tonnen beziehungsweise etwa 184.200 Tonnen verwendet, wovon auf die Präfektur Kagawa 12.091 Tonnen (26,5 %) beziehungsweise 39.796 Tonnen (21,6 %) entfielen. Die Zahl der Udon-Restaurants in der Präfektur Kagawa wird auf über 700 geschätzt. Der größte Teil dieser Restaurants wird als normales Restaurant betrieben; Selbstbedienungsshops, in denen der Kunde die Nudeln selbst aufwärmen und Beilagen auswählen muss, sind jedoch ebenfalls weit verbreitet. Die größte Kette von Udon-Restaurants besitzt die heute zu Yoshinoya Holdings Co., Ltd. () gehörende Firma Hanamaru (). Sie wurde Ende 2001 in der Hauptstadt der Präfektur Kagawa Takamatsu mit fünf Restaurants gegründet. Schon Ende 2008 gehörten über 250 Restaurants in ganz Japan und vier Udon-Fabriken zur Firma. Sie erzielten Einnahmen von knapp 18 Milliarden Yen. Obwohl seit den 1950er Jahren die Menge des nach Japan importierten Weizens ständig zunahm, wurden Udon lange Zeit mit Mehl aus in Japan angebautem Weizen hergestellt. Durch eine schlechte Ernte Anfang der 1970er Jahre war man jedoch gezwungen, sich nach alternativen Mehlsorten umzuschauen. Das aus Western Australia importierte Mehl der Klasse „Australian standard white“ (ASW) erwies sich dabei sogar als den einheimischen Sorten überlegen, was höchstwahrscheinlich an der Stärke-Zusammensetzung des in Australien angebauten Weizens liegt. Insgesamt wurden zwischen April 2008 und März 2009 4,86 Millionen Tonnen Weizen nach Japan importiert, was etwa 90 % des Weizenbedarfs Japans ausmacht. Davon stammen etwa 0,8 Millionen Tonnen aus Australien. Gesellschaftliche Bedeutung Eine Art „Udon-Boom“, durch den die Nudeln in ganz Japan als Spezialität der Präfektur Kagawa bekannt wurden, löste das fünfbändige Buch Osorubeki Sanuki Udon (, deutsch: „Die erstaunlichen Sanuki Udon“) aus. Der erste Band wurde 1993 von Kazutoshi Tao, einem Herausgeber von mehreren Stadtmagazinen, veröffentlicht. Das Buch beschreibt die Udon-Shops der Präfektur und hat sich zu einem Leitfaden für Udon-Fans entwickelt. Mit dem Ziel, die Kultur um Udon speziell in der Präfektur Kagawa zu fördern und bekannt zu machen, wurde 1984 die Sanuki Udon Kenkyūkai (, deutsch: „Sanuki-Udon-Forschungsgesellschaft“) gegründet. Mitglieder der Gesellschaft stammen vor allem aus Firmen, die direkten Bezug zu Udon haben, jedoch ist etwa ein Drittel der Mitglieder Universitätsprofessoren. Jährlich wird am 2. Juli in der Präfektur Kagawa der „Udon-Tag“ gefeiert, bei dem die Herstellung frischer Udon-Nudeln im Mittelpunkt steht. Nach einer Vereinbarung der Präfekturverwaltung mit der japanischen Post wurde die Präfektur Kagawa 2011 in Präfektur Udon „umbenannt“, Briefe nach Kagawa können nun auch an die „Präfektur Udon“ adressiert werden. 2006 erschien der Film Udon des Regisseurs Katsuyuki Motohiro, der in grober Anlehnung an die wahre Geschichte des „Udon-Booms“ die Erlebnisse von Kosuke, dem Sohn eines Udon-Restaurant-Besitzers erzählt. Literatur Michael Ashkenazi und Jeanne Jacob: Food culture in Japan, Greenwood Publishing Group, 2003, ISBN 978-0-313-32438-3. (englisch) Robb Satterwhite: What's what in Japanese restaurants: a guide to ordering, eating, and enjoying, Kodansha International, 1996, ISBN 978-4-7700-2086-4. (englisch) James E. Kruger, Robert B. Matsuo und Joel W. Dick (Hrsg.): Pasta and Noodle Technology, American Association of Cereal Chemists, St. Paul, USA, 1996. ISBN 0-913250-89-9. (englisch) Weblinks Udon-Museum – Enzyklopädie zum Udon (japanisch) Slurping on Thick Japanese Noodles, Udon. In: we-xpats.com (englisch) Peter D. Martin: – Udon-Karte der Stadt Fujiyoshida. In: pdmz.com, abgerufen am 10. November 2020. (englisch) Einzelnachweise und Anmerkungen Teigwaren Japanische Küche no:Liste over Konoha-ninjaer#Udon
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https://de.wikipedia.org/wiki/Jetlag
Jetlag
Als Jetlag (aus dem Englischen von jet ‚Düsenflugzeug‘ und lag ‚Zeitdifferenz‘) wird eine nach Langstreckenflügen über mehrere Zeitzonen auftretende Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus (circadiane Dysrhythmie – circadiane Rhythmik) bezeichnet. Sie wird als deutsche Übertragung zuweilen auch als Zeitzonenkater bezeichnet. Jetlag gehört nach dem Klassifikationssystem für Schlafstörungen „International Classification of Sleep Disorders“ (ICSD-2) zu den Zirkadianen Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen und wird in diesem Zusammenhang als „Zirkadiane Schlaf-Wach-Rhythmusstörung, Typ Jetlag“, bezeichnet. Nach der schnellen Reise über mehrere Zeitzonen ist die innere Uhr nicht mehr mit der neuen Ortszeit synchron. Licht und Dunkelheit treten zu ungewohnten Zeiten auf; die natürlichen Rhythmen wie Essens- und Schlafenszeit, Hormonproduktion oder Körpertemperatur kommen aus dem Takt. Da die innere Uhr sich nicht kurzfristig an eine neue Ortszeit angleichen kann, prägen sich unterschiedliche körperliche und psychische Beschwerden aus. Der Vorbeugung und Behandlung dienen insbesondere Verhaltensempfehlungen, die erleichtern, sich an die Zeitzone des Zielortes anzupassen. Beschwerden Die häufigsten Beschwerden des Jetlags sind Schlafstörungen in Form von Ein- und Durchschlafstörungen, Müdigkeit, Schwindelgefühl, Stimmungsschwankungen, Appetitlosigkeit und verminderte Leistungsfähigkeit bei körperlichen, manuellen und kognitiven Anforderungen. Dabei verschwinden die subjektiven Beschwerden meist nach wenigen Tagen, während objektiv im Schlaflabor messbare Parameter, Körpertemperatur und Hormonstatus sich erst nach längerer Zeit (bis zu zwei Wochen) anpassen. Obwohl fast alle Reisenden bei einer Zeitverschiebung von mehr als fünf Stunden Beschwerden wahrnehmen, sind deren Schweregrad und die Erholung davon individuell sehr unterschiedlich. Auch wenn der Einfluss vieler Faktoren nicht systematisch untersucht worden ist, scheinen die Beschwerden bei geringerem Alter ausgeprägter zu sein. Einfluss der Flugrichtung Die Flugrichtung hat einen Einfluss auf die Ausprägung des Jetlags, wobei dieser bei Flugreisen nach Osten gewöhnlich stärker empfunden wird. Für viele Personen ist es einfacher, abends länger aufzubleiben, als morgens früher aufzustehen. Flüge nach Osten fordern beschleunigte, also verkürzte Taktphasen (entspricht vorzeitigem Sonnenauf- bzw. -untergang und damit früherem Aufstehen), Flüge nach Westen dagegen verlängerte Taktphasen (entspricht verzögertem Sonnenauf- bzw. -untergang und damit längerem Aufbleiben). Nach dem in der Tabelle dargestellten Flug westwärts ist es gleichsam so, als sei man die Nacht über wach geblieben und erst um 6 Uhr morgens zu Bett gegangen, also acht Stunden später als normal. Nach dem dargestellten Flug ostwärts ist es so, als sei man ebenfalls die Nacht über wach geblieben, aber erst um 14 Uhr zu Bett gegangen, also 16 Stunden später als gewöhnlich. Grundlagen Ziel der Forschung ist es, das Verständnis der dem Jetlag zugrunde liegenden Mechanismen zu ergründen. Dazu stehen aus methodischen Gründen in erster Linie Tierexperimente zur Verfügung. Circadiane Rhythmik Der wichtigste Zeitgeber beim Menschen ist der Hell-Dunkel-Rhythmus der Tageszeiten. Die Mechanismen, die diesem zugrunde liegen, erhielten sich während der Evolution bemerkenswert stabil und bestehen typischerweise aus sich selbst regulierenden Zyklen, in denen spezifische Proteine (sogenannte „Uhrproteine“) ihre eigenen Genexpressionen steuern. Solche Regulationen behalten den 24-Stunden-Zyklus von RNA- und Proteinexpression bei. Trotz der Beibehaltung dieser Mechanismen wurden mittlerweile Fragen nach der Relevanz derselben laut, worauf nachgewiesen werden konnte, dass die Oszillation wichtiger „Uhr“-Gene ohne den Verlust der grundlegenden inneren Uhr eliminiert werden kann. Bereits Anfang der 1970er Jahre konnten durch Seymour Benzer bei der Taufliege Drosophila melanogaster genetisch veranlagt unterschiedliche Zeitabläufe der circadianen Rhythmik dokumentiert werden. Innere Uhr (Säugetiere einschließlich Mensch) Bei Säugetieren wird der circadiane Rhythmus von einer inneren Uhr bestimmt, deren Sitz in einem Teil des Hypothalamus, dem Nucleus suprachiasmaticus, ausgemacht wurde. Der circadiane Rhythmus beeinflusst zahlreiche Körperfunktionen, wie Körpertemperatur, Blutdruck, Urinproduktion und Hormonausschüttung, und konnte auch in einzelnen Zellen nachgewiesen werden. Die innere Uhr läuft gewöhnlich nicht exakt im 24-Stunden-Takt. Sie wird unter normalen, gleichbleibenden Bedingungen täglich durch exogene Zeitgeber (z. B. Lebensumstände, Zeitpunkt der Mahlzeiten und helles Licht) beeinflusst; so bleibt sie unter normalen Umständen synchron. Diese Zeitgeber sind auch bedeutsam bei der Wiederanpassung im Falle eines Jetlags, an der auch Melatonin beteiligt ist. Dieses wird bei Dunkelheit vermehrt und bei hellem Licht – z. B. Tageslicht – vermindert ausgeschüttet. Der wichtigste Zeitgeber beim Menschen ist der Hell-Dunkel-Rhythmus der Tageszeiten. Der circadiane Rhythmus verändert sich nur träge, so dass er trotz einer einmaligen Störung der Nachtruhe nicht abrupt verändert wird. Grundlagenforschung am Tiermodell Obwohl der Jetlag heutzutage sehr häufig vorkommt, haben sich bisher nur wenige hochrangige Studien damit beschäftigt. Schichtarbeit und häufiger Jetlag reduzieren die geistige Leistungsfähigkeit und erhöhen das Risiko für gesundheitliche Probleme. Als Beispiele hierfür werden in der Literatur Verdauungsprobleme, Magengeschwüre, Schlafstörungen und Krebserkrankungen genannt. Manche dieser Probleme nehmen im Laufe der Berufsjahre, als Folge des Alterungsprozesses oder einer Kumulation (Anhäufung) von Schäden, zu. Auch von Natur aus nimmt die Morbiditätsrate mit den Jahren zu; welche Rolle jedoch die innere Uhr dabei spielt, ist bislang weitgehend unverstanden. Wenn ein Säugetier hellem Licht ausgesetzt ist und diese Information an den Nucleus suprachiasmaticus weitergeleitet wird, werden dort Glutamat und PACAP (pituitary adenylate cyclase activating polypeptide) freigesetzt, die die dortigen Nervenzellen (Neuronen) erreichen und zu einer Verstellung der inneren Uhr führen. Licht in der frühen Nachtphase verzögert und Licht in der späten Phase beschleunigt diese Verstellung. In beiden Fällen steigen der intrazelluläre Calciumionenspiegel und die Aktivität einiger Enzyme wie Phosphatasen und Kinasen (einschließlich der mitogen-activated-protein-Kinasen und der Ca2+/Calmodulin-abhängigen Proteinkinase). Dieser Vorgang ist abhängig von CREB (cAMP response element-binding protein) und ELK-1 (member of ETS oncogene family) und den „Uhrgenen“ (engl. CLOCK für Circadian Locomotor Output Cycles Kaput). Im Gegensatz zu diesen nächtlichen Vorgängen reagieren Tiere tagsüber dabei auch auf Stimuli wie Kochsalzinjektionen, unfreiwillige Aktivitäten in einer neuen Umgebung, oder auch Dunkelheit. An diesen Fällen ist der cAMP/PKA-Stoffwechselweg beteiligt, und die Gabe von cAMP-Analoga beschleunigt dann den Phasenablauf. Zusätzlich gibt es Hinweise darauf, dass der cAMP/PKA-Stoffwechselweg auch nachts eine Rolle spielt. Er scheint die Effekte der oben genannten Glutamat- und PACAP-Freisetzung in den frühen Nachtstunden zu unterstützen und ihnen in den späten entgegenzuwirken. Bei nacht- und dämmerungsaktiven Hamstern bezieht der Mechanismus, der für lichtinduzierte Phasenvorläufe verantwortlich ist, also Glutamat, Ca2+/Calmodulin-abhängige Proteinkinase und die neuronale NO-Synthase mit ein, die ihrerseits letztlich wieder die „Uhrgene“ beeinflussen. Dieser Einfluss findet wiederum in den frühen und späten Nachtstunden unterschiedlich statt. In den späten Nachtstunden führt er dabei zur Aktivierung der Guanylylcyclase-cGMP-abhängigen Proteinkinase (PKG-cGMP-dependent protein kinase), die ihrerseits wieder die Phasen beschleunigt. Beim Hamster ist das cGMP-Niveau im Nucleus suprachiasmaticus tagsüber am höchsten. Die Veränderung scheint mit der cGMP-Phosphodiesterase-Aktivität und nicht mit der der Guanylylcyclase in Zusammenhang zu stehen. Bei Lichtstimulation in den späten Nachtstunden steigt das cGMP-Niveau signifikant an, nicht jedoch bei der gleichen Stimulation in den frühen Nachtstunden, woraus sich ableiten lässt, dass es zu einer Phasenbeschleunigung und nicht zu einer -verzögerung führt. cGMP-spezifische Phosphodiesterase-Hemmer, die die Hydrolyse von cGMP verhindern, lassen die Anreicherung dieser Substanz in der Zelle zu. Sildenafil verhindert den Einfluss der Phosphodiesterase-5 auf das cGMP und verlängert und erhöht dabei die Auswirkung des oben beschriebenen NO-Synthase/cGMP-Stoffwechselweges. Das cGMP-Niveau ist von besonderer Bedeutung für die beschleunigte Phasenverschiebung der inneren Uhr. Vorbeugung und Behandlung Zur Vorbeugung und Behandlung des Jetlags gibt es eine Vielzahl von Verhaltensempfehlungen, die darauf abzielen, die Anpassung an die Zeitzone des Zielorts zu erleichtern und so Beschwerden des Jetlags abzumildern. Bei Kurzaufenthalten am Zielort kann jedoch auch in Erwägung gezogen werden, entgegen der vorgefundenen Realität den Tag-Nacht-Rhythmus der Heimat beizubehalten. Allgemeine Verhaltensempfehlungen Die folgenden Verhaltensempfehlungen beruhen in den meisten Fällen auf Erfahrung und sind nicht durch medizinische Studien belegt. bereits im Flugzeug die Uhr auf die Uhrzeit des Ziellandes umstellen, um sich mental an den neuen Zeitrhythmus zu gewöhnen am Tagesrhythmus des Zielorts teilnehmen viel Zeit am Zielort im Freien verbringen für ausreichenden Schlaf in der ersten Nacht nach der Ankunft am Zielort sorgen in den ersten zwei Tagen nach der Landung anstrengende Aktivitäten vermeiden weder Schlafmittel noch Alkohol einnehmen Einfluss des Lichts In Analogie zu den am Tiermodell gefundenen Grundlagen ist aus Laboruntersuchungen, jedoch nur aus wenigen Feldversuchen, bekannt, dass der Zeitpunkt der Einwirkung von hellem Licht – bezogen auf die Phase der niedrigsten Körperkerntemperatur (3 bis 5 Uhr der gefühlten Zeit) – einen besonderen Einfluss auf die Anpassung an eine Zeitumstellung hat. Wirkt helles Licht in den sechs Stunden vorher ein, so verzögert es die Umstellung, in den sechs Stunden danach fördert es sie. Bei einem Flug nach Osten von bis zu neun Zeitzonen muss also das Ziel sein, die innere Uhr durch Lichtexposition in den sechs Stunden, nachdem die Körpertemperatur ihr Minimum erreicht hat, zu verstellen. Gleichzeitig sollte eine solche Lichtexposition vorher vermieden werden, da sie zu einer Verzögerung der Umstellung führt. In Stunden umgerechnet bedeutet das, dass man (bezogen auf die gefühlte Zeit, nicht auf die Ortszeit) sich nach 5 Uhr hellem Licht aussetzen und es vor 3 Uhr vermeiden sollte. Bei allen Flügen nach Westen und über mehr als neun Zeitzonen nach Osten dagegen sollte eine Verzögerung der Umstellung dadurch angestrebt werden, dass man sich in den sechs Stunden vor 3 Uhr hellem Licht aussetzt und es in den sechs Stunden nach 5 Uhr vermeidet. Wenn man also bei einem Flug nach Westen dort nach den üblichen Lebensgewohnheiten analog zur Ortszeit lebt, ist das mit diesen Regeln im Einklang, nicht jedoch bei einem Flug nach Osten. Dieses Konzept erklärt die häufig geschilderte Empfindung, dass Reisen nach Westen besser vertragen werden als solche nach Osten. Als Hilfsmittel zur Umsetzung dieses Konzeptes wurden batteriebetriebene „Lichtbrillen“ und entsprechende Tabellen für Reisende entwickelt. Diese Gesetzmäßigkeiten können auch präventiv eingesetzt werden. Melatonin-Präparate Die häufig propagierte Verwendung von Melatonin-Präparaten zur Linderung des Jetlags bleibt kontrovers. Zwar ergab eine Metaanalyse mehrerer klinischer Studien Hinweise darauf, dass Melatonin in einer Dosierung von 0,5–5 mg wirksam sein kann, eine andere Metaanalyse stellt die Wirksamkeit von Melatonin jedoch in Frage und beleuchtet auch die Problematik möglicher Wechselwirkungen mit Medikamenten (z. B. Antithrombosemittel und Antiepileptika). Laut der Health-Claims-Verordnung dürfen Melatonin-Präparate in der Europäischen Union mit der gesundheitsbezogenen Angabe "Melatonin trägt zur Linderung der subjektiven Jetlag-Empfindung bei" als Nahrungsergänzungsmittel beworben werden, wenn bestimmte Angaben über die Dosierung und konkrete Einnahmehinweise gemacht werden. Medikamente Die Einnahme von Medikamenten muss dem neuen Tagesrhythmus angepasst werden. Dies ist besonders relevant für manche Hormonpräparate wie z. B. Insulin oder die Minipille. Vor Reisen über mehrere Zeitzonen hinweg sollte man sich daher bei einem entsprechend weitergebildeten Arzt oder Apotheker reisemedizinisch beraten lassen. Ernährung Eine genügende Flüssigkeitszufuhr während des Fluges kann einer Dehydratation vorbeugen und so das Wohlbefinden nach dem Flug unabhängig vom Jetlag-Syndrom verbessern. Ob eine spezielle Diät tatsächlich einen positiven Effekt auf Jetlag-Beschwerden hat, werden weitere Untersuchungen bestätigen müssen; aktuelle Studien scheinen diesen Einfluss aber zu bestätigen. Herkunft des Begriffs Historisch gesehen geht die weltweite Verbreitung des Begriffs „Jetlag“ (im heute verwendeten Sinne) auf die Arbeit von Charles Ehret (US-amerikanischer Chronobiologe, 1923–2007) zurück. Durch sein 1983 zusammen mit Lynne Waller veröffentlichtes Buch Overcoming Jet Lag gelangte der Begriff erstmals an die breite Öffentlichkeit. Das Buch wurde in über 200.000 Exemplaren verkauft. Es erregte damals nicht nur Aufmerksamkeit bei Musikern, Sportlern, Geschäftsleuten, Diplomaten und Schichtarbeitern, sondern auch beim amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan und dem Militär. In der angloamerikanischen Fachliteratur tauchte der Begriff allerdings bereits vor 1983 auf. Nachweisen lässt er sich bereits Mitte der 1960er Jahre auf den Regenbogenseiten der Presse. Mehr oder weniger ironisch wurde er damals als One of the chic new ailments („eine der schicken neuen Krankheiten“) bezeichnet oder auch als Alliteration zu Jetset verwendet. Weblinks Einzelnachweise Schlafstörung Flugreisen Krankheitsbild in der Inneren Medizin
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kaufhaus%20des%20Westens
Kaufhaus des Westens
Das Kaufhaus des Westens (KaDeWe) ist ein Warenhaus in Berlin mit einem gehobenen Sortiment und Luxuswaren, das von Adolf Jandorf gegründet und nach Plänen des Architekten Emil Schaudt errichtet wurde. Am 27. März 1907 wurde es in der Tauentzienstraße am Wittenbergplatz im Ortsteil Schöneberg eröffnet und gilt als das bekannteste Warenhaus Deutschlands. Im Laufe seiner Geschichte wurde das Kaufhaus des Westens mehrere Male aus- und umgebaut. Siebenmal wechselte der Mutterkonzern. Seit 2015 gehört es zur Central Group. Gegenwärtig ist das KaDeWe mit 60.000 Quadratmetern Verkaufsfläche eines der größten Warenhäuser Europas. Als besondere Attraktion gilt seit Ende der 1920er Jahre die Feinkostabteilung. Nach einer Erweiterung ist sie seit 1978 die zweitgrößte Lebensmittelabteilung eines Warenhauses weltweit. Seit 2020 hat das KaDeWe einen Online-Shop. Geschichte Kaiserreich und Weimarer Republik: Die Ära Jandorf Der Kaufmann Adolf Jandorf hatte mit seinem Unternehmen A. Jandorf & Co. bis 1905 in Berlin sechs Warenhäuser für den einfachen Bedarf eröffnet. Wie seine Mitwettbewerber mit dem Wertheim Leipziger Straße (1894) oder dem Warenhaus Tietz (1900), ebenfalls an der Leipziger Straße, wollte nun auch er ein repräsentatives Angebot für die gehobenen Konsumwünsche der wilhelminischen Elite machen. Jandorfs siebte Filiale sollte nun „die verwöhnten Ansprüche der oberen Zehntausend, der obersten Eintausend, der allerobersten Fünfhundert“ befriedigen, wie die Wochenzeitschrift Roland von Berlin schrieb. Mit einer eigens dafür gegründeten gleichnamigen GmbH, an der sich sein Partnerunternehmen M.J. Emden Söhne (Hamburg) mit vier Prozent beteiligte, begann Jandorf 1905 unter dem Namen Kaufhaus des Westens mit den Planungen für das neue Haus. Die Bezeichnung Kaufhaus sollte sich vom gewöhnlichen Warenhaus und Engros-Lager absetzen. Die Abkürzung KaDeWe war von Anfang an gebräuchlich und orientierte sich nach Angaben einer Festschrift von 1932 an der damals in den USA üblich gewordenen Abkürzung von Firmennamen. Der Begriff Westen bezog sich dabei auf die großen städtebaulichen Erweiterungen von Tiergarten, Charlottenburg und Wilmersdorf aus der Zeit nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871, die inoffiziell unter der Bezeichnung Neuer Westen zusammengefasst wurden. Ein wichtiges Motiv für Jandorfs Standortwahl war neben der Anbindung an das Straßenbahnnetz die zusätzliche verkehrstechnische Erschließung des damals noch abgelegenen Gebiets am östlichen Rand Charlottenburgs durch den Bahnhof Wittenbergplatz. Dieser befindet sich unmittelbar neben dem KaDeWe und war eine Station auf der „Stammstrecke“ der neuen Hoch- und Untergrundbahn, die bereits 1902 eröffnet worden war. Das KaDeWe lag in der damals noch selbstständigen Stadt Charlottenburg und nach der Bildung von Groß-Berlin im Jahr 1920 im gleichnamigen Ortsteil. Die Berliner Gebietsreform mit Wirkung zum 1. April 1938 hatte zahlreiche Begradigungen der Bezirksgrenzen sowie einige größere Gebietsänderungen zur Folge. So wurde auch das bis dahin zu Charlottenburg gehörende Areal um den Wittenbergplatz mit dem KaDeWe dem Ortsteil Schöneberg zugeschlagen. Mit der Konzeption und Durchführung wurde der Architekt Johann Emil Schaudt beauftragt. Er entwarf ein fünfgeschossiges Gebäude aus Eisenbeton mit rund 24.000 Quadratmetern Verkaufsfläche in einem sachlichen neoklassizistischen Stil. Der Publizist Leo Colze definierte den Baustil als „modernisierte italienische Renaissance“. Die Fassade bestand aus fränkischem Muschelkalk aus Jandorfs Heimat. Binnen eines Jahres wurde das Gebäude fertiggestellt. Wegen einer baupolizeilichen Einschränkung wurde die Fassade horizontal wie bei einem Wohnhaus gegliedert, die durch zwei Mittelrisaliten unterbrochen wurde. Die Vorschrift zielte darauf ab, den Glanz von verglasten Fassaden wie beim Warenhaus Tietz in der Leipziger Straße zu verhindern, und war Teil einer von kleinen Einzelhändlern ausgehenden Kampagne gegen die neue Betriebsform Warenhaus. Auf eine bei Jandorfs Warenhäusern übliche Eckrundung des Gebäudes wurde verzichtet, zeitgenössische Beobachter schrieben von einem „ruhevollen Anblick einer schön gegliederten und trotz ihrer Größe recht behaglichen Hauptfront.“ Anstelle eines glasüberdachten Lichthofes über alle Etagen hinweg, der zum Standard großer französischer und deutscher Warenhäuser geworden war, entschied sich Schaudt zu einer zweigeschossigen Eingangshalle in der Mitte des Gebäudes (22 m × 23,5 m). Diese Bescheidung in Maß und Proportion wurde nach den vorangegangenen architektonischen Überbietungen der Berliner Warenhäuser von Architekturkritikern als wohltuend empfunden. Vor der Eröffnung schaltete man in den Tageszeitungen technisch erstmals möglich gewordene ganzseitige Bildinserate des Jugendstil-Grafikers August Hajduk. Diese gänzlich neue Form der Werbung erregte damals großes Aufsehen und sorgte für das Tagesgespräch der Berliner. Bald darauf ahmten auch andere Berliner Warenhäuser diesen ansprechenden Anzeigenstil nach. Am 27. März 1907 fand die Eröffnung des Kaufhaus des Westens statt. Für sein neues Warenhaus erhoffte sich Jandorf eine offizielle Aufwertung durch den Besuch eines hohen Repräsentanten des wilhelminischen Kaiserhauses wie etwa beim Kaufhaus Wertheim in der Leipziger Straße durch Wilhelm II. im Januar 1910. Der kaiserliche Besuch ließ auf sich warten, doch dafür machte im August 1907 ein zweitägiger Aufenthalt des siamesischen Königs Rama V. im KaDeWe den erwünschten Eindruck auf Adel und Bürgertum. Jandorf konzipierte sein Warenhaus nach dem Vorbild amerikanischer Warenhäuser, indem er viele kleine Fachgeschäfte in 120 Abteilungen unter einem Dach vereinte. Innenarchitekt Franz Habich, der zuvor das Münchner Kaufhaus Oberpollinger ausgestattet hatte, ließ die Eisenträger mit Naturstein ausbauen und mit hartem australischem Moaholz täfeln. Das Interieur wurde als „gediegen“ und „modern“ empfunden, aber nicht überladen gestaltet und mit moderner Technik ausgerüstet. Ein Rohrpostsystem aus englischer Fertigung verband 150 verschiedene Zahlstellen im Haus mit der Zentralkasse. Aufgrund der hohen Reparaturanfälligkeit dieses Fabrikats wurde die Anlage mit 18 Kilometer Rohrleitungen schon nach wenigen Jahren durch Registrierkassen ersetzt. Anstatt der verbreiteten Gasbeleuchtung gab es Kohlefadenlampen für elektrisches Licht, zusätzliche Kundendienstleistungen wie dreizehn Personenaufzüge, jeweils ein Frisiersalon für Damen und Herren, Wechselstube, Bankfiliale der Deutschen Bank, Leihbibliothek, Fotoatelier und ein Teesalon erhöhten die Attraktivität. Diese Vielfalt an Dienstleistungen boten auch andere gehobene Warenhäuser an wie etwa das Berliner Kaufhaus Wertheim Leipziger Straße (Friseur, Leihbibliothek, Bank, Postamt). Die halbrund vorkragenden Risalite beiderseits des Haupteingangs enthielten Treppenräume, über dem Eingang platzierte Schaudt einen kleinen Balkon, über dem wiederum eine Uhr aus Bronze mit einem Zifferblatt von drei Metern Durchmesser hing. Zu einer bestimmten Uhrzeit öffneten sich zwei Tore beiderseits der Uhr. Daraufhin wurde das Uhrwerk von einer bronzenen Hansekogge mit vollen Segeln umrundet, dem Wahrzeichen des KaDeWe, gleich den Figurenspielen an den Uhren der Kathedralen und alten Rathäuser. Die holzgetäfelte und kassettierte Eingangshalle wurde von zwei seitlichen Marmorportalen des Bildhauers Georg Wrba zu den Lichtschächten oder Innenhöfen hin flankiert. In den beiden Höfen war jeweils ein kleiner Garten mit Springbrunnen für Kunden angelegt, die nach Ruhe und Muße suchten. Schon bald wurde das Warenhaus durch sein modernes und exquisites Angebot an Waren und Dienstleistungen zu einer der beliebtesten Kaufadressen Berlins. Die Tauentzienstraße wandelte sich von einer reinen Wohnstraße zu einem Einkaufsboulevard, immer mehr Ladengeschäfte mieteten sich im Erdgeschoss der Wohnhäuser ein. Zugleich wurde das Gebiet um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche international interessant: „Hier weht Weltstadtluft. Zahlreiche Amerikaner, Engländer, Franzosen, Italiener, ja selbst Asiaten, haben sich hier niedergelassen und bevölkern die eleganten Boardinghouses und Pensionen. Theater werden gebaut. Alle Plätze bekommen Merkmale, die Ecksteine des Aufblühens ihrer Umgebung sind.“ Derselbe Prozess vom gehobenen Wohnviertel zum Dienstleistungszentrum vollzog sich in der Leipziger Straße und ab 1929 nach dem Neubau des Warenhauses Karstadt am Hermannplatz. Mit dem Aufstieg des Neuen Westens, vor allem von Kleist-, Tauentzienstraße und Teilen des Kurfürstendamms, zu einem neuen Geschäftsschwerpunkt ging die anfängliche Bedeutung der Potsdamer Straße und ihrer Querstraßen zurück. Der Kunsthistoriker Max Osborn äußerte über den Strukturwandel des Bezirks: Nachdem Hermann Tietz 1901 die Weißen Wochen, den Vorläufern der Sommer- und Winterschlussverkäufe, in seinem luxuriösen Kaufhaus Tietz am Berliner Alexanderplatz eingeführt hatte, um nach dem Weihnachtsgeschäft im Februar wieder Kunden in die Warenhäuser zu bringen, stieß auch beim KaDeWe die Einführung von preisreduzierten Weißwaren auf großen Zuspruch. Das gesamte Warenhaus wurde in hellen und weißen Tönen geschmückt, ebenso war das Warensortiment vorwiegend in Weiß gehalten. Zugleich kam das neue Werbemittel der nächtlichen Beleuchtung mit Glühbirnenketten beim KaDeWe zur Geltung. Jandorf verkaufte am 2. Dezember 1926 sein Unternehmen und ab 1927 gehörte die Firma A. Jandorf & Co. mit dem KaDeWe zum Warenhauskonzern Hermann Tietz OHG. Von 1929 bis 1930 erfolgten Um- und Erweiterungsbauten mit zwei neuen Vollgeschossen und zwei Dachgeschossen nach den Plänen der Architekten Schaudt und H. Ströming. Während des Umbaues wurde das Haus nicht geschlossen und der Verkauf lief weiter. Das bisherige Walmdach wurde durch ein Mansarddach ersetzt. Eine Neuheit war der Einbau einer Dachgartenterrasse, auf der im Stil von Hochsee-Passagierschiffen Liegestühle zur Entspannung bereitgestellt wurden. Die Aufzüge wurden mit leistungsfähigeren Fahrstühlen erneuert und von ursprünglich neunzehn Kabinen auf siebzehn Personen- und elf Lastenaufzügen erweitert. Mit dem Erweiterungsbau ab 1929 ließ Tietz die bis heute maßstabsetzende Feinkostabteilung mit Entlüftungsapparaturen einrichten. 1932 umfasste die Leihbibliothek des KaDeWe 60.000 Titel. Zeit des Nationalsozialismus: Enteignung von Tietz Wegen der Weltwirtschaftskrise ab 1929 geriet auch das jüdische Handelsunternehmen Hermann Tietz OHG in Liquiditätsengpässe. Trotz einer informellen Zusage zu Beginn des Jahres 1933 wurde nach der Machtübergabe an Hitler im Februar 1933 ein Kredit über 14,5 Millionen Reichsmark (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund  Millionen Euro) von der Akzept- und Garantiebank (kurz: Akzeptbank) zurückgehalten. Diese Akzeptbank wurde am 28. Juli 1931 gegründet, um als Schaltstelle zwischen den privaten Banken und der Reichsbank Liquiditätsengpässe bei den Banken zu überwinden. In Abstimmung mit dem Reichswirtschaftsministerium luden die Gläubigerbanken im März 1933 die drei Gesellschafter und Geschäftsführer des Tietz-Konzerns vor. Hugo Zwillenberg sowie dessen Schwäger Georg und Martin Tietz wurden mit einem angeblichen Entschuldungsplan konfrontiert, der auf eine „kalte“ Enteignung hinauslief („Arisierung“). Man traf sich im Hotel Adlon und nahm ihnen die Pässe ab, um den Verkaufsdruck zu Bedingungen der Banken zu erhöhen und um ihre Ausreise zu verhindern. Nur unter der Bedingung, dass eine „arische“ Geschäftsführung eingesetzt würde, erklärten sich die Verantwortlichen jetzt noch bereit, den Kredit an die Tietz-Gruppe zu vergeben. Wegen des landesweit organisierten „Judenboykotts“ der NSDAP gegen jüdische Warenhäuser, Arztpraxen und Anwaltskanzleien blieb auch das KaDeWe am 1. April 1933 geschlossen. Bis zum Sommer 1933 wurden fünfhundert „nicht-arische“ Mitarbeiter entlassen. Zunächst sah es nach einer Zerschlagung des Tietz-Konzerns aus. Denn das Parteiprogramm der NSDAP forderte die Kommunalisierung von Warenhäusern oder ihre Auflösung und bediente damit das Schutzbedürfnis der Kleinhändler vor finanzstarker Konkurrenz. Hitler wollte daher notleidende Warenhäuser nicht mit Krediten retten lassen. Wirtschaftsminister Kurt Schmitt konnte ihn im Juli 1933 von dieser Ansicht abbringen, da zu viele mittelständische Warenlieferanten davon abhingen. Die Banken, an führender Stelle die seit 1932 staatlich beherrschte Dresdner Bank und die Deutsche Bank und Disconto-Gesellschaft, wollten dagegen bei der Hermann Tietz OHG einen möglichst „reibungslosen“ Übergang zu neuen Eigentümern und Geschäftsführern, um ihre Kredite nicht zu gefährden. Weder war die NS-propagierte Kommunalisierung aller Warenhäuser erwünscht noch eine Liquidation des Konzerns durch einen Verlust bringenden Verkauf der Filialen, Grundstücke und den 38 Tochter-Firmen. Nach dieser politischen Grundsatzentscheidung wurde der Hermann Tietz OHG am 29. Juli 1933 ein sogenannter Auseinandersetzungsvertrag aufgezwungen, einer Vermögensaufteilung nach dem Erbrecht, der hier einen sofortigen Austritt von Hugo Zwillenberg vorsah. An seiner Stelle trat die neugegründete Hertie Kaufhaus-Beteiligungs-Gesellschaft m.b.H. (kurz: Hertie GmbH) ohne Vermögenseinlage ein, jedoch mit mehrheitlichem Stimmanteil. Zugleich stieg auf Wunsch der Banken der Leiter des zentralen Textileinkaufs bei Hermann Tietz OHG, Georg Karg, mit 50.000 Reichsmark Einlage ein und bot mit dem Juristen Trabart von und zu der Tann sowie Wilhelm Hermsdorf das erwünschte „arische[.] Übergewicht[.] in der Geschäftsleitung“. Die Söhne von Oscar Tietz, Georg und Martin Tietz wurden als die übrigen persönlich haftenden Gesellschafter von den Banken, der NSDAP-Führung und dem Reichswirtschaftsministerium nur noch deshalb geduldet, um die Ermittlungen über eventuelle Auslandsvermögen abzuwarten und um sie „möglichst lange in der Haftung zu belassen“, […] denn „sonst würden die Banken Träger des Geschäfts“. Mit der Androhung von Kreditkündigungen zwangen schließlich die Banken Georg und Martin Tietz zur Aufgabe. Am 18. August 1934 wurde das Ausscheiden aller Gesellschafter und der Übernahme der Hermann Tietz OHG durch die Hertie GmbH vertraglich abgeschlossen. Ein weiterer Auseinandersetzungsvertrag sah vor, dass für ein systematisch unterbewertetes Gesamtvermögen der Hermann Tietz OHG in Höhe von 21 Millionen Reichsmark nur 1,5 Millionen Reichsmark an die Familie Tietz erstattet wurden. Zugleich wandelten die Banken ihre Forderungen in Gesellschaftsanteile der neuen Firma um. Ladwig-Winters resümiert diesen „reibungslosen Besitzwechsel“ als eine „außergewöhnliche Erscheinung“, da „Banken, Parteidienststellen, Reichwirtschaftsministerium selten einmütig und unbürokratisch vorgegangen“ seien. Georg Karg kaufte später die Anteile der Banken an der Hertie GmbH in zwei Raten auf, 1936 gegen Zahlung von 2,5 Millionen Reichsmark zum Teil auf Kredit und weitere 50 Prozent im Juni 1940. Zugleich übernahm Karg die Schulden der Hertie GmbH in Höhe von 129 Millionen Reichsmark. Trotz dieser Verbindlichkeiten schätzt Ladwig-Winters den Tietz-Konzern zu jener Zeit nicht als ein „Konkursunternehmen“ ein, sondern als „wirtschaftlich äußerst belastbar“. Mit der Wortmarke Hertie aus den Anfangsbuchstaben des Namensgebers Hermann Tietz war der Konzern eines der wenigen Warenhausunternehmen, dessen Name nach der „Arisierung“ noch erkennbar blieb. West-Berlin: Wiederaufbau und Erweiterungen Im Zweiten Weltkrieg stürzte am 23. November 1943 ein US-amerikanisches Kampfflugzeug in das Dachgeschoss, wodurch das Warenhaus weitgehend ausbrannte. Auch das hauseigene Archiv wurde zerstört. Nur wenige der wertvollen Einrichtungsgegenstände blieben erhalten. Bis zur Wiedereröffnung fand ein Notverkauf im Femina-Tanzpalast in der Nürnberger Straße statt. Karg entschädigte 1949 in einem Vergleich die Tietz-Erben mit den Filialen in München, Stuttgart und Karlsruhe, die sie gegen Zahlung einer Umsatzmiete weiterhin dem Hertie-Konzern unterstellten. Später verkauften sie diese Häuser wieder an Karg zurück. Nach Kriegsende wurden 1950 die ersten beiden Etagen „in Anlehnung an alte Pläne, aber erheblich vereinfacht“ unter der Leitung des Frankfurter Architekten Hans Soll wieder aufgebaut. Ein ERP-Kredit in Höhe von 1,8 Millionen Mark finanzierte den Aufbau. Am Eröffnungstag, dem 3. Juli 1950, begehrten 180.000 Besucher Einlass, am häufigsten wurden Fett und Würstchen gekauft. Während der Nachkriegszeit deckte das Warenhaus vor allem den Grundversorgungsbedarf. 1956 war der Wiederaufbau abgeschlossen und das Haus mit zwei kleinen Hallen versehen. Östlich vom Wittenbergplatz erbaute Soll von 1955/1956 die achtgeschossige Hertie-Zentrale mit zwei Verkaufsetagen, in denen vorübergehend die Möbelabteilung untergebracht worden war. Wegen des Baus der Berliner Mauer und der plötzlichen Abschließung West-Berlins von seinem Umland am 13. August 1961 konnten mehrere hundert Verkäuferinnen aus der DDR nicht mehr im KaDeWe arbeiten. Nach den Kunden aus der DDR fielen auch viele wohlhabende Familien aus Dahlem und Zehlendorf als Kunden aus, als diese von Berlin wegzogen. Die Bonner Regierung unterstützte die Enklave West-Berlin mit finanziellen Hilfen (Berlinzulage), Steuervergünstigungen und Subventionen, sodass damit ein Bauboom in Gang gesetzt werden konnte. Nahe dem KaDeWe wurde das 86 Meter hohe Europa-Center errichtet, auf dessen Dach seit 1965 ein sich drehender Mercedes-Stern als Symbol des freien und wohlhabenden Westens leuchtet. Von 1967 bis 1978 erfolgten weitere Um- und Ausbauten, das Warenhaus verfügte nun über 44.000 Quadratmeter Verkaufsfläche. Erst in den 1970er Jahren wurden wieder vermehrt Luxuswaren angeboten, noch 1977 war das KaDeWe einem Spiegel-Artikel zufolge nur „ein gehobener Lebensmittelladen mit einem eher biederen Kaufhaus-Annex“. Doch die am 6. April 1978 abgeschlossene Erweiterung und vollständige Erneuerung ließ das KaDeWe „in Interieur und Angebotsvolumen an Europas Top-Shop Harrods in London heranrücken. Leider [musste] es jedoch nach wie vor mit einer weit weniger kosmopolitischen Laufkundschaft vorliebnehmen.“ Dieser Umbau dauerte zwei Jahre lang, kostete 130 Millionen Mark und markierte einen Qualitätssprung in Sortiment und Innenarchitektur, der das KaDeWe wieder auf das hohe Niveau seiner Gründerjahre hob. Ein Parkhaus kam hinzu, von dem aus ein überdachter Brückengang über der Passauer Straße zur dritten Etage des KaDeWe führt. Der überdachte Brückengang ist im Rahmen eines Neubaus des Parkhauses 2019 entfernt worden. Die Teilnahme des damaligen Bundespräsidenten Walter Scheel an der Eröffnungsgala wertete das KaDeWe politisch auf – im Sinne einer Zugehörigkeit von West-Berlin zur Bundesrepublik. Seitdem wird das KaDeWe in jedem Reiseführer als Sehenswürdigkeit empfohlen. Zum 75. Jubiläum im Jahr 1982 wurde vom 29. September bis zum 9. Oktober ein großer Teil des Warenhauses zu einer Bühne umfunktioniert. Alle sechzehn West-Berliner Theater- und Opernbühnen traten dort mit ihren Bühnenstars in Stücken, Proben, Lesungen, Gesprächen und Signierstunden auf. Unmittelbar nach der politischen Wende erlebte der Einkaufsmagnet ab dem 10. November 1989 mehrere Tage lang einen weiteren großen Andrang. Bis zu 200.000 DDR-Bürger täglich bestaunten den bekannten Konsumtempel und legten den Verkauf weitgehend lahm. Von 1991 bis 1996 wurde das KaDeWe noch einmal um 16.000 Quadratmeter mit einer siebenten Etage aufgestockt. Hier entstand nach Plänen der Architekten Harald Ströming, Ernsting & Partner 1993 ein Restaurant mit einer Glaskuppel auf einem T-förmigen Grundriss. Insgesamt wurden dafür 464 Millionen Mark investiert. Nach der Wiedervereinigung: Die Ära Karstadt Von 1994 an gehörte das KaDeWe durch die Hertie-Übernahme der Karstadt Warenhaus AG an, ab 1999 umbenannt in KarstadtQuelle AG, seit 2007 Arcandor AG. Von 2004 an bereitete sich das KaDeWe auf sein hundertjähriges Bestehen vor, weshalb eine weitere Umbau- und Modernisierungsphase für das komplette Haus erfolgte, die im Herbst 2007 zum Abschluss kam. Die Konzernleitung investierte insgesamt 46 Mio. Euro für diesen Umbau. Ein Jubiläumskatalog wurde 2007 an 40.000 Kunden in ganz Deutschland verschickt. Zu Beginn des 100-jährigen Firmenjubiläums am 1. März 2007 wurde im Lichthof eine über sechseinhalb Meter hohe, siebenstufige Torte aus Marzipan, Sachertorte und Sandkuchen als Symbol für das KaDeWe präsentiert. Alle Kunden dieses Tages erhielten kostenlos ein Stück von der Torte und ein Glas Prosecco. Den Abschluss und Höhepunkt der KaDeWe-Jubiläumsfeierlichkeiten bildete eine Galanacht mit über 1500 Prominenten aus den Bereichen Politik, Medien und Kultur am 12. Oktober 2007, darunter die Familie der damaligen Arcandor-Mehrheitsaktionärin Madeleine Schickedanz. Patrice Wagner (* 1967), der von der Berliner Galeries-Lafayette-Filiale kam, hatte seit Oktober 2002 das KaDeWe geleitet und modernisiert. Anlässlich der Feier zum 100-jährigen Bestehen im Jahr 2007 fasste er seine Vorstellungen und Bemühungen zusammen: Das KaDeWe war das Aushängeschild der Karstadt-Warenhäuser. Seit Februar 2006 sollten in mehreren Schritten ursprünglich 13 der 91 Karstadt-Warenhäuser zur Karstadt Premium Group zusammengefasst und unter Leitung des damaligen KaDeWe-Geschäftsführers Patrice Wagner auf das Niveau des KaDeWe umstrukturiert werden. Thomas Middelhoffs Umstrukturierungsplan war Teil einer Neuordnung des Karstadt-Warenhaus-Portfolios, das in drei Gruppen geteilt wurde: Nach der „Premium Group“ sollte später in die Infrastruktur der Warenhäuser der unteren Kategorie „Boulevard“ (24 Standorte) und der Mittelklasse „Boulevard Plus“ (53 Standorte) investiert werden. In der Premium Group befanden sich Wertheim am Berliner Kurfürstendamm und in der Steglitzer Schloßstraße, das Alsterhaus in Hamburg sowie Karstadt in Dresden, Düsseldorf, Limbecker Platz in Essen, Frankfurt-Zeil, Breite Straße in Köln, an der Lorenzkirche in Nürnberg sowie Karstadt Stuttgart und Oberpollinger in München. Der Einstieg von Karstadt in das Luxussegment mit Luxusmarken wie Louis Vuitton, Dior und Chanel im Jahr 2004 sollte helfen, den Umsatzrückgang seiner Häuser zu beenden. Diese Bestrebungen wurden 2008 nach einem schlechten Geschäftsjahr teilweise zurückgenommen, sodass die Häuser in Frankfurt am Main (Zeil) und Dresden nur noch als Anwärter zur Premium Group gezählt wurden. Schließlich wurde so viel Geld für die Aufwertung der vier besten Häuser ausgegeben (KaDeWe, Alsterhaus, Oberpollinger, Essen Limbecker Platz), dass kaum noch Mittel für die übrigen Warenhäuser blieben. In der Nacht zum 26. Januar 2009 brachen drei Diebe in das KaDeWe ein und entwendeten Schmuck und Uhren der im KaDeWe ansässigen Juwelier-Handelskette Christ im Wert von über vier Millionen Euro. Die Täter waren über die Sicherheitsmaßnahmen des KaDeWe sehr gut informiert. Über ein vermutlich von innen geöffnetes Fenster an der Ansbacher Straße brachen sie im ersten Stockwerk ein und umgingen durch ein Abseilen im Lichthof die Lichtschranken oder Bewegungsmelder, die bis dahin an allen Rolltreppen und einigen Passagen angebracht waren. Das KaDeWe gilt als eines der am besten geschützten Warenhäuser Europas; auch die Mitarbeiter unterliegen Schutzvorkehrungen. Bei Arbeitsende verlassen sie das Haus durch die Überführung über der Passauer Straße. Dabei passieren sie einen Zufallsgenerator, auf dessen Signal hin die mitgeführten Taschen und Tüten kontrolliert werden. Im Januar 2009 wurde Wagner von Ursula Vierkötter (* 1966) abgelöst, vormals Leiterin des Kölner Karstadt-Hauses. Nach Angaben der Financial Times Deutschland war Wagner seinem neuen Vorgesetzten und Einkaufsleiter Stefan Herzberg (* 1965) „zu eigenständig“ und hatte auch keine Protektion mehr von Arcandor-Chef Thomas Middelhoff erhalten, da dieser ebenfalls Arcandor verließ. Wagner hatte im KaDeWe einen flexiblen und schnellen Einkauf für Teilsortimente aufgebaut. Vierkötter setzte diese Strategie fort. Neben den „A-Marken“, den Waren in hoher Qualität, Bekanntheit und Umsatz, richtete Vierkötter auf verschiedenen Etagen sogenannte Multi-Label-Flächen ein, auf denen sie „Trends schnell ins Haus bringen kann“. Die Arcandor AG musste am 9. Juni 2009 Insolvenz anmelden aufgrund einer jahrzehntelangen Vernachlässigung des Warenhausgeschäfts, nach kontinuierlichem Umsatzrückgang und schließlich wegen überhöhter Mietforderungen des Immobilien-Konsortiums Highstreet mit den Hauptkonsorten Goldman Sachs und Deutsche Bank. Im Gegensatz zu den damals 132 (aktuell: 119) anderen Karstadt-Filialen war nach Meinung von Vertretern des Einzelhandels die Zukunft des KaDeWe auf jeden Fall sicher. Nach langen und schwierigen Verhandlungen mit den Gläubigern und Konsorten von Highstreet konnten schließlich am 1. Oktober 2010 die Berggruen Holdings des Investors Nicolas Berggruen die Geschäftsführung von der Karstadt Warenhaus GmbH übernehmen. KaDeWe sei eines der ersten Worte gewesen, das Berggruen als Kind auf Deutsch sagen konnte. Das KaDeWe funktionierte für ihn so gut, dass er nichts an dessen Konzept ändern wollte. Im Mai 2010 wurde nach 103 Jahren das Restaurant Silberterrasse in der fünften Etage wegen Unwirtschaftlichkeit geschlossen. In einem separaten KPM-Raum servierte man die Speisen auf einem Porzellan-Gedeck der Königlichen Porzellanmanufaktur Berlin. Infolge der Aufteilung der Karstadt Warenhaus GmbH in drei Gesellschaften gab es seit Oktober 2011 eine eigene Werbeabteilung für die „Premium-Häuser“ Oberpollinger, Alsterhaus und das KaDeWe. Im Januar 2012 wurde im KaDeWe die kostenlose Betreuung von Kindern im Alter zwischen zwei und zehn Jahren abgeschafft. Ende Dezember 2012 verkaufte die Highstreet Holding ihre KaDeWe-Immobilie für kolportierte 500 Millionen Euro sowie das Münchner Oberpollinger und fünfzehn andere Gebäude von Karstadt für weitere 600 Millionen Euro an das österreichische Immobilienunternehmen Signa Holding. Am 28. Januar 2013 wurde Ursula Vierkötter von Petra Fladenhofer, der langjährigen KaDeWe-Pressesprecherin und Marketing-Direktorin der Karstadt Premium Group, als Geschäftsführerin abgelöst. Übernahme durch Signa und Central Group Am 16. September 2013 wurde bekannt, dass die österreichische Signa Holding von René Benko das KaDeWe mit den beiden anderen Kaufhäusern der Karstadt Premium Group sowie den 28 Karstadt-Sporthäusern mehrheitlich mit 75,1 Prozent übernehmen wollte. Ende Oktober erteilte das Bundeskartellamt seine Zustimmung. Der Erlös sollte in die Restrukturierung der übrigen Karstadt-Häuser reinvestiert werden. Zum 1. Januar 2014 wurden der ehemalige Karstadt-Verkaufsdirektor André Maeder und Roland Armbruster, der ehemalige Leiter der Karstadt-Strategieabteilung, als neue Geschäftsführer der Karstadt Premium GmbH bestellt. Somit hatte jede Gesellschaft innerhalb des Karstadt-Konzerns ihre eigene Geschäftsführung. Am 21. August 2014 genehmigte das Bundeskartellamt den vollständigen Verkauf des Karstadt-Konzerns der Berggruen Holdings an die Signa Holding. Seit Oktober 2014 firmierten die Häuser der Karstadt Premium GmbH (KaDeWe, Oberpollinger in München und Alsterhaus in Hamburg) unter dem Namen The KaDeWe Group, da sie nun organisatorisch von den übrigen Karstadt-Warenhäusern getrennt waren, und um deren Abkehr von Karstadt zu betonen. Ebenfalls wurde zu diesem Zeitpunkt eine neue Hauptverwaltung mit etwa 150 Mitarbeitern aus allen drei Häusern im Berliner Ortsteil Tiergarten bezogen. Die Bereiche Logistik, Finanzen, Warenwirtschaft und IT, die bisher aus der Essener Karstadt-Zentrale geführt wurden, wurden mit den bereits im KaDeWe ansässigen Bereichen Einkauf und Marketing am neuen Standort am Katharina-Heinroth-Ufer zusammengeführt. Am 20. Dezember 2014 überfielen vier maskierte Täter die Filialen von Tiffany und Chopard im KaDeWe-Luxusboulevard und raubten Schmuck, vermutlich im Wert eines sechsstelligen Euro-Betrags. Sie gaben Schüsse aus Gaspistolen ab, wodurch sie 15 Menschen mit Reizgas verletzten. Bereits nach wenigen Minuten verließen sie das Haus und flüchteten mit einem Auto. Die arabischen Täter, die den Miri- und al-Zein-Großfamilien angehören, wurden gefasst, vor Gericht gestellt und waren zum Teil geständig. Im Juni 2015 veräußerte Signa den Mehrheitsanteil (50,1 %) an die italienische Warenhauskette La Rinascente, die wiederum Teil der thailändischen Central Group ist. Strategische Entscheidungen sollen jedoch gemeinsam mit Signa getroffen werden. Vittorio Radice, der Verwaltungsratschef von La Rinascente, kündigte an, etwa 180 Millionen Euro in die Umgestaltung des KaDeWe zu investieren. Am 18. Januar 2016 wurden die bisher tiefgreifendsten Umbaupläne des KaDeWe vorgestellt, für die das niederländische Architekturbüro OMA von Rem Koolhaas verantwortlich zeichnet. Das Gebäude wird in vier Viertel aufgeteilt, die sich um vier unterschiedlich gestaltete Atrien mit Rolltreppen gruppieren. Die gestalterische Unterteilung der Geschäftsbereiche mit jeweils eigenen Eingängen werde der besseren Kundenorientierung dienen. Das jeweilige Angebot werde auf vier verschiedene Kundengruppen zugeschnitten sein. Der Ausblick des Restaurants im Dachgeschoss soll durch eine Glas-Stahlträgerfassade erweitert werden. Nach Geschäftsschluss soll das Restaurant bis 24 Uhr und sonntags geöffnet und werde mit Außenaufzügen erreichbar sein. In der Dachmitte ist eine große Terrasse geplant, die auch für Veranstaltungen vorgesehen ist. Der gesamte Umbau bei laufendem Betrieb soll im Jahr 2022 abgeschlossen sein. Unternehmen Geschäftsmodell Seit der Gründung des Warenhauses setzen die Geschäftsleitungen auf eine ihrer Ansicht nach attraktive Mischung aus gehobenem Angebot und reinen Luxuswaren. Im Jahr 2005 sollten die Luxusartikel höchstens 10 bis 15 Prozent am Gesamtumsatz einbringen. Zwanzig Prozent der Verkaufsfläche werden an Modedesigner und Luxusanbieter untervermietet. Das Warenhaus hat gegenwärtig auf 60.000 m² Verkaufsfläche, was rund neun Fußballfeldern entspricht, über 380.000 verschiedene Artikel im Angebot, insbesondere im gehobenen und Luxussegment. Es ist damit – gemessen an der Verkaufsfläche – nach Harrods in London mit 92.000 m² das zweitgrößte Warenhaus Europas. Täglich besuchen zwischen 40.000 und 50.000 Gäste das exklusive Warenhaus, in der Vorweihnachtszeit sind es bis zu 100.000 Kunden. Das KaDeWe ist nach dem Reichstagsgebäude und dem Brandenburger Tor die am dritthäufigsten von Touristen besuchte Sehenswürdigkeit in Berlin. Daher bietet das KaDeWe Führungen für Interessierte durch das Warenhaus an. Die Etagenpläne an den Treppen sind mittlerweile in 18 Sprachen übersetzt worden. Zwischen den Etagen fahren 64 Rolltreppen und 26 Aufzüge. Entgegen den anderen Warenhäusern im Berliner Zentrum hat das KaDeWe nur freitags eine längere Öffnungszeit bis 21 Uhr. Die Hauptzielgruppe sind heute Kunden aus der Mittelschicht, die gern modern und exklusiv einkaufen, sowie zahlungskräftige Touristen, die 40 Prozent der Kundschaft ausmachen. Mittlerweile (2009) ist nahezu jeder zweite Kunde Ausländer. Mitarbeiter Für den Umgang mit vermögenden Kunden wurde das Verkaufspersonal geschult. Eine eigene Abteilung für Aus- und Weiterbildung ist für die Qualifizierungsmaßnahmen der Belegschaft zuständig. Neben der Warenkunde, die auf Wunsch des KaDeWe die Hersteller durchführen, werden die Mitarbeiter in Rhetorik und Verkauf, betriebswirtschaftlichen Grundlagen, Warenpräsentation und in der Farb- und Stilberatung ausgebildet. Eine Verbundenheit der Verkäufer mit ihrem Unternehmen zeigt sich an der langen Beschäftigungsdauer von durchschnittlich 14,5 Jahren. 70 Prozent des Verkaufspersonals sind Frauen (Stand: 2005). Die Abteilungsleiter im KaDeWe sind – im Gegensatz zu den meisten anderen Abteilungsleitern im deutschen Einzelhandel – nicht nur Verkäufer, sondern zugleich eigenverantwortliche Einkäufer. Kunden Die durchschnittliche Verweildauer der Kunden im KaDeWe ist im Vergleich zu anderen Warenhäusern sehr hoch, im Jahr 2000 lag sie nach Angaben von Geschäftsführer Ulrich Schmidt bei dreieinhalb Stunden, diese Zeitangabe wurde erneut im Jahr 2002 in der Presse genannt. Im Jahr 1996 belief sich die Verweildauer noch auf vier bis fünf Stunden und im Jahr 1995 lag sie bei vier Stunden. Davon entfällt durchschnittlich eine Stunde auf den Aufenthalt auf der Feinschmeckeretage. Im Jahr 2007 besuchten im Durchschnitt 50.000 Kunden täglich das KaDeWe. Das KaDeWe beschäftigte im Geschäftsjahr 2008 mehr als 2000 Personen, davon etwa 1600 eigene Mitarbeiter und rund 500 Angestellte von Fremdfirmen (Luxusboulevard, Lenôtre etc.) und machte einen Umsatz von 300 Millionen Euro. Inhaber Verkaufsbereiche Eingangsbereiche Im Untergeschoss oder der sogenannten „Achten Etage“ konnten in der Tiefgarage bis 2017 nicht nur Autos geparkt, sondern auch Hunde in speziellen Boxen untergebracht werden. Dieses Angebot für Hunde gab es beim KaDeWe seit Anbeginn. Mit der Schließung der Tiefgarage gab das KaDeWe auch das Angebot der Hundeboxen wegen abnehmender Nachfrage auf. Seit 2007 befindet sich hier die Papierwaren- und Bastelabteilung („Kreativmarkt“), auf den mit einer kunstvoll gestalteten Leuchtreklame am externen Parkhaus in der Passauer Straße aufmerksam gemacht wird. Das historische, kunstvoll geschmiedete Gitter aus dem Jahr 1907 vor dem Hauptportal senkt sich zu Geschäftsbeginn in den Boden. Im Vorhof des Haupteingangs wurden von 1995 bis 2010 die Kunden von Karl-Heinz Richter (* 1955), dem einzigen Kaufhausportier in Deutschland, mit Livree und grauem Zylinder begrüßt. Richter gab in sieben Sprachen Auskunft über den Standort von gesuchten Waren. Bis heute blieb es nur bei einer Absichtserklärung von KaDeWe-Group-Leiter André Maeder, einen Nachfolger für Richter einzustellen. Erdgeschoss In einer hellen, 400 Quadratmeter großen Ausstellungshalle im Eingangsbereich bilden aufwendig gestaltete Produktpräsentationen oder Dekorationen den ersten Blickfang. Eine weitere Möglichkeit von Produktpromotionen bietet der zentrale Lichthof, der von gläsernen Aufzügen flankiert wird. Zur Feier des 100-jährigen Firmenjubiläums am 1. März 2007 wurde hier eine sechseinhalb Meter hohe Torte präsentiert. Im Zusammenhang mit den Umbauarbeiten wurde 2004 im Erdgeschoss die Parfümerie- und Kosmetikabteilung neu gestaltet. Auf 3000 m² Fläche für Kosmetika werden unter anderem über 1500 Duftflakons angeboten. Weiterhin werden im Erdgeschoss auf einem Luxusboulevard Schmuck und Uhren präsentiert. Da die Hersteller von Luxusgütern ihre Waren fast nie in Warenhäusern zum Verkauf anbieten, konnte ihre Beteiligung nur durch diese räumliche Exklusivität innerhalb des KaDeWe erlangt werden. Die Geschäftsleitung setzt auch weiterhin auf eine Vergrößerung des Anteils der Luxuswaren im Gesamtsortiment. So wurde 2008 der Luxusboulevard im Erdgeschoss durch Angebote von Tiffany, Chopard oder Prada und Fendi weiter aufgewertet. Nach den anfänglichen Schwierigkeiten, Hersteller von Luxuswaren für das KaDeWe zu gewinnen, gibt es mittlerweile (2009) mehr Interessenten als Angebote. 2012 wurde der Luxusboulevard mit weiteren Filialen internationaler Anbieter erweitert sowie 80 Shop-in-shops neu gestaltet. Mode und Schuhe Im Jahr 2005 erhielt das Kaufhaus des Westens drei neue Mode-Etagen mit insgesamt 20.000 m² Verkaufsfläche, angelegt in schwarz-weißen, geradlinigen Segmenten. Ein Teil dieser Bereiche ist exklusiv für Ware der Premiummarken reserviert. So verfügt das KaDeWe als einziges Warenhaus Deutschlands über eine Abteilung der Designermarke Dolce & Gabbana. Nun wird auf etwa 40 Prozent seiner Fläche nur noch Mode der gehobenen bis zur höchsten Qualitätskategorie angeboten. Die Ausweitung des Modeangebots ging mit einer Konzentration auf das Kerngeschäft einher. Einige Abteilungen wie das Wiener Café oder die Sportartikel-Abteilung wurden herausgenommen. Auf der ersten Etage befindet sich seit 2007 unter anderem auch eine Boutique von Dior Homme. Die dritte Etage wurde 2012 umgebaut und im September als eine neue Schuhabteilung für luxuriöse Damenschuhe, Accessoires, Lederwaren und Lingerie (The Loft) eröffnet. Damit folgte das KaDeWe einem neuen Trend, wonach „sich der Handel im stagnierenden Modemarkt nun stärker an Accessoires“ orientiert. Feinschmeckeretage Besonders bekannt ist die sechste der insgesamt sieben Etagen, die sogenannte Feinschmeckeretage, mit einem riesigen Angebot an internationalen Delikatessen und exklusiven Imbissmöglichkeiten. Sie ist gegenwärtig (Stand: 2009) mit 34.000 Artikeln und 7000 m² die größte Feinkostabteilung Europas. Das Warenhaus „Mitsukoshi Nihonbashi“ in Tokio verfügt über die weltweit größte Lebensmittelabteilung eines Warenhauses (gefolgt vom KaDeWe). 500 Angestellte sind hier beschäftigt, davon bereiten etwa 110 Köche, 40 Konditoren und Bäcker Gerichte und Backwerk für die Kunden zu. Die Torten werden seit 1975 nach den Rezepten der französischen Feinbäckerei Lenôtre hergestellt. Das Mehl für die Bäckerei und Konditorei Lenôtre wird eigens aus Frankreich importiert. Vom Keller aus wird das Mehl durch Rohre in den siebten Stock gepumpt, was einmalig in Deutschland ist. Dort befinden sich drei Silos für insgesamt zwölf Tonnen Mehl, und im Keller lagern weitere vier Tonnen. Dieser Mehlvorrat reicht für dreieinhalb Wochen. Die Bäckerei stellt am Tag rund 1000 Brötchen, 300 Baguette-Stangen und 600 Brote her, übrig gebliebenes Brot gibt man an die Berliner Tafel ab. Im Schokoladenatelier stellen Chocolatiers vor den Kunden Schokoladen- und Pralinenspezialitäten her. Von besonderer Bedeutung ist auch die Confiserie-Abteilung von Lenôtre, in der neben Torten auch Petits-Fours-Spezialitäten zubereitet werden. An mehr als 30 Kochständen („Gourmetständen“) werden kulinarische Spezialitäten aus aller Welt zubereitet. Ein besonderer Anziehungspunkt ist die Austern-Bar. Mit mehr als 1000 Sitzplätzen auf dieser Etage ist das KaDeWe das größte Restaurant der Stadt. Die Weinabteilung bietet über 3400 Weine der weltweit bedeutendsten Weingüter an, die von einem Sommelier ausgewählt und eingekauft werden. Jedes Jahr werden 60.000 Flaschen Champagner verkauft, davon etwa 12.000 Flaschen vor Weihnachten, etwa 223.000 Gläser Champagner trinken die Kunden im Jahr an den Gourmetständen. Die Käseabteilung hat 1300 internationale Käsesorten im Angebot, davon allein 400 Sorten aus Frankreich, 200 aus Deutschland und 100 vom Feinkosthaus Peck in Mailand. Weiterhin hat das KaDeWe 1200 verschiedene Wurst- und Schinkenspezialitäten zur Auswahl. Die Fischabteilung erhält viermal pro Woche frischen Fisch (etwa 100 Arten) und andere Meerestiere aus Übersee in direktem Bezug. Unsichtbare Luftabsaugvorrichtungen verhindern eine Geruchsentfaltung der verschiedenen Lebensmitteltheken. Über 70 Waagen in der Feinschmecker-Etage sind PC-basierte Waagen, die per Funk ihre Daten an die Kasse senden. Von 1988 bis 2011 leitete der Kaufmann und Gourmet Norbert Könnecke die Lebensmittelabteilung des KaDeWe. Ein großer Teil der frischen Delikatessen wird von einem Agenten des KaDeWe im Großmarkt Rungis bei Paris ausgewählt und bestellt, zweimal pro Woche transportiert ein 20-Tonnen-Lkw die Waren nach Berlin. Ein weiterer Teil der Lebensmittel wird von Karstadt Feinkost bezogen. Neben dem Verkauf und der Zubereitung von Lebensmitteln ist das KaDeWe auch im Catering-Geschäft tätig, bei dem die Küche bis zu 1000 Gäste mit Warmspeisen bewirten und bis zu 5000 Kaltspeisen zubereiten kann. 2019 wurde ein Spätkauf eröffnet. Siebte Etage In der siebten Etage wurde 2006 der Restaurantbereich mit seiner Glaskuppel (Wintergarten) für 2,5 Millionen Euro renoviert. Gäste können bei der Zubereitung ihres Gerichtes aus frischen Zutaten zusehen, für eilige Kunden werden vorbereitete Menüs angeboten. Restaurantbetreiber ist die Le Buffet Restaurant & Café GmbH, eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der Karstadt Warenhaus GmbH. Weiterhin befinden sich auf dieser Ebene die Warenannahme, das Lager für die Lebensmittel, eine Feuermelde- und Krankenstation und Teile der Verwaltung. Da das Lager nur wenig Platz bietet, wurde ein Zwischenlager in Oranienburg eingerichtet, von dem aus drei- bis fünfmal täglich ein Sattelzug das KaDeWe beliefert. Wirtschaftsgeschichte Das Kaufhaus des Westens ist das einzig verbliebene Luxuswarenhaus aus der Berliner Gründerzeit der Warenhäuser in den beiden Dekaden vor und nach 1900. Kaufmannsfamilien aus der Provinz investierten in den deutschen Metropolen in mehrgeschossige Verkaufszentren, wovon die architektonisch anspruchsvollsten Gebäude mit einem durchgängigen Lichthof aufwarteten. Sie übersprangen damit die Entwicklung vom einzelnen Ladengeschäft zu mehreren Ladenlokalen in einer glasüberdachten Passage wie in Paris oder in einem Basar in Vorderasien. Der Berliner Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin hielt diese Entwicklung des Handelssektors auch für soziologisch bedeutsam, da er darin den neuen Sozialtypus des Flaneurs ausmachte, einen leicht ablenkbaren Müßiggänger mit geringer Fähigkeit zur sozialen Bindung. Andere Autoren hingegen betonten die Demokratisierung durch den Verkauf, die die Kunden aus der Ober- wie Unterschicht vor der Ladentheke gleich behandelte: Die expandierende Wirtschaftskraft des Deutschen Reichs nach seiner Gründung 1871 dokumentierte sich im Handelssektor in der räumlichen Konzentration des Verkaufs in mehrgeschossigen, hallenförmigen Gebäuden mit mehreren tausend bis zu zehntausenden Quadratmetern Verkaufsfläche mitten in Wohnbezirken. Die außen- und innenarchitektonische Ausstattung übertraf teilweise den Aufwand sakraler Bauten. Das Schlagwort von den Kathedralen des Konsums oder Kommerzes setzte sich durch, da vor allem die Berliner Luxuswarenhäuser auf eine Ästhetik der Überwältigung setzten. „Über dem Eingang [des Warenhauses Tietz in der Leipziger Straße] reichte ein Bogenfenster, von Balkonen unterbrochen, 26 Meter hoch. Vier gigantische Figuren, die ‚Jahreszeiten‘, streckten ihre Knie weit in den Straßenraum. Über allem strahlte eine viereinhalb Meter dicke Weltkugel mit der Äquatoraufschrift ‚Tietz‘.“ Das KaDeWe ist nach dem Kriegsende in architektonischer Hinsicht unauffällig geworden, doch dafür birgt es im Inneren seit den 1970er Jahren wieder ein Warenangebot, das im internationalen Vergleich von hoher bis höchster Qualität ist. Der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Berlin-Brandenburg und Jandorf-Biograf Nils Busch-Petersen zählte 2007 das Haus zu den besten der Welt, „noch vor Harrods in London“. Rezeption und Selbstverständnis Von Anfang an setzte das Kaufhaus des Westens neben einem gehobenen Warenstandard und vielen anderen Dienstleistungen auf Internationalität und Kosmopolitismus. Es war der Anspruch der Berliner Luxuswarenhäuser, mit einem internationalen Warenangebot selbst Weltläufigkeit und Weltoffenheit zu demonstrieren und auch ein internationales Publikum anzuziehen. Berlin war um die Wende zum 20. Jahrhundert in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht zu einer Weltstadt aufgestiegen. Dieses Selbstbewusstsein äußerte sich auch in den Symbolen der Warenhäuser: Jandorf verwendete eine Hansekogge. Wegen der wirtschaftlichen Depression in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Währungsreform überwog vorübergehend der Anteil der ausländischen Kunden gegenüber den Deutschen: Nach dem Zweiten Weltkrieg passte sich das KaDeWe dem allgemeinen Bedarf nach einer Grundversorgung an. Das frühere Luxuswarenhaus galt dennoch bald als ein „Symbol des deutschen Wirtschaftswunders“ und als ein Synonym oder Inbegriff des „freien Westens“ in der „Frontstadt“ West-Berlin. Das KaDeWe stellte sich seit den 1950er Jahren der internationalen Prominenz für einen Werbe-Auftritt zur Verfügung und wurde so zu einem „Schaufenster des Westens“. Nach dem Wiederaufbau und der Wiederherstellung einer Grundversorgung entwickelte sich das KaDeWe Ende der 1970er Jahre wieder zum Luxuswarenhaus. Zu einer Demokratisierung des Luxus führte das bereits von Jandorf, Wertheim und Tietz eingeführte Prinzip eines bestimmten Anteils von gehobenen Qualitäts- und von Luxuswaren im Gesamtangebot. Luxus sollte und soll für alle da sein, vor allem als Anreiz für den Durchschnittsverdiener. Für viele Besucher gilt das Kaufhaus bis heute als ein attraktives Symbol und Anreiz für ein besseres Leben. Das Kaufhaus des Westens vergleicht sich schon seit langem mit ausländischen Luxuswarenhäusern und wird auch an wichtigen internationalen Warenhausunternehmen mit Luxuswarenhäusern gemessen. Genannt werden unter anderem Galeries Lafayette, Harrods, Selfridges, GUM, Macy’s, Bloomingdale’s und Takashimaya. Im März 2021 trat das Unternehmen dem Fur Free Retailer Program (FFRP) bei. Besucher Das Kaufhaus des Westens mehrte stets sein Prestige und sein Ansehen durch die Besuche nationaler und internationaler Prominenz. Seit den 1950er Jahren werden Prominente gezielt zu einem Besuch zwecks Lesung oder Ähnlichem eingeladen, ein Werbemittel, das sich für beide Parteien in geschäftlicher Hinsicht günstig auswirkt. Zu Beginn der Adventszeit lädt die Geschäftsführung des KaDeWe ebenfalls seit Anfang der 1950er Jahre alljährlich die Berliner Journalisten zu einem Essen mit Präsenten und Musik ein. Daneben gibt es prominente KaDeWe-Besucher, die in ganz persönlicher Beziehung zu dem Kaufhaus stehen. Von 1922 bis 1937 lebte der russische Schriftsteller Vladimir Nabokov mit seiner Frau Véra in Berlin und besuchte häufig das KaDeWe. In seinem zweiten Roman König, Dame, Bube (original: Korol, Dama, Valet, 1928) steht ein exklusives Berliner Kaufhaus im Zentrum des Geschehens. Die Initialen KDV im russischen Buchtitel spielen auf das KaDeWe an. Im Roman Die Gabe (1937/1952) findet das KaDeWe eine erneute Erwähnung. Der russische Dichter Wladimir Majakowski logierte während seiner acht Aufenthalte im Berlin der 1920er Jahre stets im Kurfürsten Hotel, das in der Ansbacher Straße, Ecke Kurfürstenstraße nahe beim KaDeWe gelegen war. Das KaDeWe zählte zu Majakowskis Lieblingsorten in Berlin. Nach seinen Lesungen oder Vorträgen machte er dort Großeinkäufe für seine Geliebte Lilja Brik und für Moskauer Freunde. Der britische Historiker Eric Hobsbawm verbrachte zwischen 1931 und 1933 in Berlin die nach eigener Aussage entscheidenden Jahre seines Lebens. Hobsbawm suchte vor seiner Emigration 1933 nach England oft die Bücher-Abteilung im KaDeWe auf, wo alle Bücher offen zugänglich auslagen und nicht in Schränken und Regalen hinter einer Theke aufbewahrt wurden. Literatur Fritz Wolff: Kaufhaus des Westens – Berlin. In: Deutsche Kunst und Dekoration, Juli 1907. Verlags-Anstalt Hofrat Alexander Koch, Darmstadt, S. 182–191, (doi:10.11588/diglit.9555), Digitalisat in: UB Heidelberg. Anton Jaumann: Kaufhaus des Westens – Berlin. In: Deutsche Kunst und Dekoration, Juli 1907. Koch, Darmstadt, S. 192–196, (doi:10.11588/diglit.9555), Digitalisat in: UB Heidelberg. Leo Colze (= Leo Cohn): Berliner Warenhäuser. Fannei & Walz, Berlin 1989, Nachdruck der Erstausgabe von Verlag Hermann Seemann Nachf., Berlin & Leipzig 1908, ISBN 3-927574-03-1, Ausschnitte (PDF; 75 kB) ghi-dc.org Max Osborn, Franz Arnholz: Kaufhaus des Westens – KaDeWe 1907–1932. (Jubiläumsschrift, 25 Jahre). Berlin 1932, 208 S., s/w-Fotos. Eckart Hahn: Studien zur Kunst- und Baugeschichte des Kaufhaus des Westens in Berlin. Technische Universität Berlin, Magisterarbeit, 1973, 116 S. Peter Stürzebecher: Das Berliner Warenhaus. Bautypus, Element der Stadtorganisation, Raumsphäre der Warenwelt. Archibook, Berlin 1979, ISBN 3-88531-000-7; 208 S., Dissertation der TU Berlin. Urte Janus: Das Kaufhaus des Westens („KaDeWe“) in Berlin. Technische Universität Berlin, Magisterarbeit, 1995, 110 S., Illustrationen und grafische Darstellungen. Kaufhaus des Westens. Illustrierter Hauptkatalog 1913. (Nachdruck) Edition Olms, Göttingen 1998, ISBN 3-487-08403-1, 161 S. Antonia Meiners: 100 Jahre KaDeWe. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2007, ISBN 3-89479-386-4, Leinen, 168 S., 80 farbige Abb., 80 s/w-Abb. Nils Busch-Petersen: Adolf Jandorf – Vom Volkswarenhaus zum KaDeWe. Hentrich & Hentrich, Berlin 2007, ISBN 978-3-938485-10-1; 80 S., Inhaltsangabe. Inge Braun, Helmut Huber: Verführung auf sieben Etagen – Das Kaufhaus des Westens und seine Geschichte. Radio-Feature, Ko-Produktion: RBB, DLF, August 2007, 27 S., Manuskript. (PDF; 101 kB; 27 S.). Reportagen Kerstin Decker: Goldene Schuppen. In: Der Tagesspiegel, 1. Januar 2004. Roger Boyes: O du KaDeWe! In: Die Zeit, Nr. 51/2005. Elisabeth Binder: Genießen in hundert Sprachen. In: Der Tagesspiegel, 27. Februar 2007. Christopher Schwarz: Königin der Kaufhäuser. In: Wirtschaftswoche, Nr. 13, 25. März 2007. Gabriele Strehle: Die Kostbarkeit des Augenblicks. In: WamS, 16. Oktober 2007 und Filme Kaufhaus des Westens. Chronik eines Warenhauses. Dokumentation, Deutschland, 1994, 30 min, Buch und Regie: Sabine Degebrodt, Buch: Hanne Schön-Muanda, Produktion: Deutsche Welle TV, Ausstrahlung: 17. Januar 1995. Willkommen, bienvenue, welcome: Das Kaufhaus des Westens in Berlin. Dokumentation, Deutschland, 1995, Buch und Regie: Daniela Schmidt, Produktion: ZDF, Reihe: Kathedralen des Konsums, Erstausstrahlung: arte, 10. Dezember 1995. Bilderbuch Deutschland – Berlin-Schöneberg. Dokumentarfilm, Deutschland, 2003, 44:18 min, Buch und Regie: Sabine Carbon, Produktion: 24pictures, RBB, Erstsendung: 8. Juni 2003 in der ARD. Darin zu sehen ist die Kosmetik- und Fischabteilung des KaDeWe, worüber die rumänische Schriftstellerin Carmen-Francesca Banciu aus ihrer Erzählung Berlin ist mein Paris vorliest, und die Unterhaltungskünstlerin Romy Haag vor der Pâtisserietheke von Lenôtre. Supermarkt – die umworbene Kundschaft. Dokumentarfilm, Schweiz, 2005, 30:24 min, Buch und Regie: Ursula Bischof Scherer, Produktion: NZZ Format, Erstsendung: 24. April 2005 bei SRF 1, , online-Video von NZZ Format. Ein Kaufhaus wird geliftet. Neuer Glanz für das KaDeWe. Fernseh-Reportage, Deutschland, 2005, 92 min, Buch und Regie: Nadja Kölling, Produktion: Spiegel TV, Erstsendung: 3. November 2005, Filminformationen von Spiegel online.Anlässlich einer weiteren Modernisierung des KaDeWe im Jahre 2005 werden Kunden, Verkäufer, Dekorateure, Handwerker, Konditoren und Köche über ihre Tätigkeit befragt. Die Abteilungsleiter von Damenoberbekleidung (DOB), Taschen und Schuhe sind bei ihren auswärtigen Bestellungen zu sehen. 100 Jahre KaDeWe. Fernseh-Reportage, Deutschland, 2007, 1:50 min, Produktion: Welt-TV, 28. Februar 2007, Tortenanschnitt. 100 Jahre KaDeWe. Fernseh-Feature, Deutschland, 2007, 5:58 min, Produktion: RBB, zibb, 1. März 2007, (mit Wochenschau-Ausschnitten). Noble Adressen. Das KaDeWe – 100 Jahre Kaufrausch. Dokumentation, Deutschland, 2007, 45 min, Buch und Regie: Stephan Düfel, Produktion: RBB, Erstausstrahlung 29. März 2007, Inhaltsangabe. Immer schick ins KaDeWe – Ein Kaufhaus wird zur Legende. Dokumentation, Deutschland, 2007, 30 min, Buch und Regie: Sibylle Trost, Produktion: ZDF, Reihe: Kultur, Erstausstrahlung: 28. August 2007 im ZDF, Filmdaten. Offizielles Präsentationsvideo. des KaDeWe, 2007, 4:05 min. (Flash-Plugin benötigt), 3. Juli 1950, Wochenschau und Interview, Deutschland, 1950/2009, 1:50 min, Produktion: rbb, bpb, Reihe: 60 × Deutschland. Kathedrale des Konsums. Hinter den Kulissen des KaDeWe. Dokumentarfilm, Deutschland, 2015, 43:23 min, Buch und Regie: Sherin Al-Khannak und Ole Apitius, Produktion: ZDFinfo, Erstsendung: 20. August 2015 bei ZDFinfo. verfügbar auf YouTube. Die großen Traumkaufhäuser – KaDeWe, Berlin. Dokumentarfilm, Deutschland, 2017, 52:30 min, Buch und Regie: André Meier, Produktion: Telekult, rbb, arte, Reihe: Die großen Traumkaufhäuser, Erstsendung: 19. Februar 2017 bei arte, Inhaltsangabe von ARD, mit vielen und selten gezeigten Archivaufnahmen. Geheimnisvolle Orte: Das KaDeWe. Dokumentarfilm, Deutschland, 2017, 43:47 min, Buch und Regie: André Meier, Produktion: Telekult, rbb, Reihe: Geheimnisvolle Orte, Erstsendung: 11. September 2017 bei Das Erste, Inhaltsangabe – U. a. mit Vittorio Radice (KaDeWe), Petra Fladenhofer (KaDeWe), Simone Ladwig-Winters (Historikerin), Katja Roeckner (Historikerin) und vielen Archivaufnahmen. Eldorado KaDeWe – Jetzt ist unsere Zeit. Deutsche TV-Miniserie von 2021. Weblinks kadewe.de | In: Welt am Sonntag, 14. Oktober 2007, Nr. 41, Sonderbeilage, 10 S. Historisches KaDeWe-Werbematerial. In: wirtschaftswundermuseum.de. Vermischtes: Das Warenhaus der reichen Leute, Rosenheimer Anzeiger: Tagblatt für Stadt und Land; (mit amtlichen Mitteilungen). 1907 = Jg. 53 ## Nr. 83, 12. April 1907. Bilder Im sechsten Himmel. (PDF; 620 kB) In: Christophorus. Das Porsche Magazin, Juni/Juli 2007, Nr. 326, S. 84–94. Fotostrecke bei: berlin.de, 2007. Historische Originalaufnahmen. In: Deutsche Kunst und Dekoration, Juli 1907, Digitalisat von UB Heidelberg, Dia-Schau: auf Vollansicht klicken. KaDeWe: Bunte westliche Warenwelt In: Orte der Einheit (Haus der Geschichte) Einzelnachweise Warenhaus in Berlin Bauwerk von Johann Emil Schaudt Arisiertes Unternehmen Berlin-Schöneberg Erbaut in den 1900er Jahren Gegründet 1907 Central Group Signa Holding Karstadt
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Rotmilan
Der Rotmilan (Milvus milvus), auch Roter Milan, Gabelweihe oder Königsweihe genannt, ist eine Greifvogelart aus der Familie der Habichtartigen (Accipitridae). Der gut mäusebussardgroße, lang- und schmalflügelige Greifvogel hat seinen Verbreitungsschwerpunkt in Deutschland. Fast der gesamte Weltbestand ist in Europa beheimatet; nur wenige Rotmilane brüten auch in Nordwestafrika. Charakteristisch für diesen eleganten Flieger sind der gegabelte Schwanz sowie die markanten weißen Flügelfelder vor den tief gefingerten schwarzen Handschwingen. Rotmilane sind Teilzieher. Die meisten Vögel Mitteleuropas verlassen im Spätherbst ihre Brutgebiete und ziehen nach Südwesten ab. Sie bleiben meist in Südwesteuropa, nur sehr wenige ziehen weiter bis in die Sahelgebiete Afrikas. In zunehmender Zahl versuchen Rotmilane auch in ihren mitteleuropäischen Brutgebieten zu überwintern. Rotmilane ernähren sich überwiegend von Kleinsäugern, Wirbellosen, Amphibien sowie kleineren Vögeln und Aas. Nach sehr starken Bestandseinbußen gegen Ende des 20. Jahrhunderts nehmen die Bestände etwa seit 2010 wieder deutlich zu, sodass sich die Art in einigen Gebieten neu oder verstärkt etablieren konnte (Südwestdeutschland, Vorarlberg, Donauauen). Sie wurde deshalb aus der Vorwarnstufe der IUCN herausgenommen und erneut als ungefährdet eingestuft. Einordnung Im Gegensatz zum nahe verwandten, geringfügig kleineren Schwarzmilan ist die Verbreitung des Rotmilans im Wesentlichen auf Europa beschränkt. Er brütet vor allem in offenen, mit kleinen Wäldern oder Gehölzen durchsetzten Landschaften. Er ist bedeutend weniger wassergebunden als der Schwarzmilan. Die meisten Rotmilane des zentralen Mitteleuropa sowie die in Nord- und Osteuropa brütenden sind Zugvögel, während ein unterschiedlich hoher Prozentsatz der Brutvögel aus dem westlichen und südwestlichen Mitteleuropa jahrüber als Standvogel im Brutgebiet bleibt. Über 50 Prozent des Gesamtbestandes dieser Art, die sich vor allem von kleineren Säugetieren und Vögeln ernährt, brütet in Deutschland. Zurzeit werden keine Unterarten anerkannt. Die seit 2000 nicht mehr nachgewiesenen Milane der Kapverden wurden als Unterart des Rotmilans (M. milvus fasciicauda), gelegentlich auch als eigenständige Art (Milvus fasciicauda) aufgefasst. Später auf den Kapverden gefangene Milane waren Schwarzmilane. Äußere Merkmale Der Rotmilan ist eine gut bestimmbare Greifvogelart. Verwechseln lässt er sich am ehesten mit dem Schwarzmilan, doch sind auch zu dieser nahe verwandten Milanart gute Unterscheidungsmerkmale gegeben. Der Rotmilan ist größer als ein Mäusebussard und etwas größer als der Schwarzmilan; er hat ausgesprochen lange Flügel und einen langen gegabelten Schwanz. Der sitzende Vogel wirkt rötlichbraun, wobei eine deutlich hellere, meist ockerfarbene Federsäumung vor allem der Deckfedern des Oberflügels und des Rückengefieders einen kontrastreichen Gesamteindruck vermittelt. Das Kopf-, Nacken- und Kehlgefieder erwachsener Rotmilane ist sehr hell, fast weiß, und weist auffallende schwarze Federnschäfte auf, die diese Körperpartien schwarz gestrichelt erscheinen lassen. Der ziemlich kräftige Schnabel ist an der Basis gelb, am Schnabelhaken dunkelgrau oder schwarz. Die kurzen Beine sind gelb, die Krallen schwarz. Die Iris erwachsener Vögel ist blassgelb. Das deutlich schwarz längsgestrichelte Bauchgefieder ist etwas heller und leuchtender rötlichbraun als das Rückengefieder; ebenso gefärbt sind die Unterflügeldeckfedern. Die Arm- und Handschwingen sind an ihren Enden sehr dunkel, fast schwarz. Im Flug fallen vor allem die langen, relativ schmalen Flügel und der tief gegabelte, rostrote Schwanz auf, der immer in Bewegung ist und auch voll gefächert noch eine Kerbung aufweist. In der Oberansicht kontrastieren die schwarzen Arm- und Handschwingen stark mit dem übrigen, rötlichbraunen Gefieder. Noch kontrastreicher ist das Flugbild von unten, da die Handschwingen an der Basis weiß sind und ein ausgedehntes weißes Flügelfeld bilden, während im Flügelbug meist ein schwarzes Abzeichen zu erkennen ist. Die äußersten, tief gefingerten Handschwingen sind in ihrem letzten Drittel schwarz. Im Segelflug sind die Armschwingen leicht über die Horizontale angehoben, die Handschwingen jedoch gerade oder leicht gesenkt, was ein erkennbar geknicktes Flügelprofil ergibt. Die Flügel sind in fast jeder Flugposition im Carpalgelenk deutlich gewinkelt. Die Geschlechter unterscheiden sich in der Färbung nicht, auch das Jugendgefieder ähnelt stark dem Erwachsenenkleid. Bestes und bei sehr gutem Licht auch feldornithologisch brauchbares Bestimmungsmerkmal juveniler Individuen ist der mehr sandfarbene, nicht hellgrau-weiße Kopf und das eher gesprenkelt (nicht längsgestrichelt) wirkende, mehr blassrötlich braune Bauchgefieder. Bei ganz jungen flüggen Rotmilanen kann der Schwanz am äußersten Rand noch eine Rundung aufweisen, da die äußersten Steuerfedern noch nicht ihre volle Länge erreicht haben. Größe und Gewicht Der reverse Geschlechtsdimorphismus ist beim Rotmilan ähnlich wie beim Schwarzmilan in Bezug auf die Körpergröße nicht sehr deutlich, etwas ausgeprägter jedoch in Bezug auf das Körpergewicht. Die schwersten Männchen haben ein Gewicht von 1,1 Kilogramm; im Durchschnitt liegt das Gewicht etwas unter einem Kilogramm (0,93 kg). Die schwersten Weibchen wiegen 1,4 Kilogramm, das Mittel liegt bei 1,06 Kilogramm. Die Körperlänge variiert zwischen 60 und 73 Zentimeter, wovon zwischen 31 und 39 Zentimeter auf den Stoß entfallen. Die Spannweite beträgt 150 bis 180 Zentimeter. Mauser Adulte Vögel vermausern jährlich ihr gesamtes Gefieder. Diese Komplettmauser beginnt mit dem Körpergefieder bereits während der Brutperiode und wird mit dem Wechsel der Schwingen und Schwanzfedern (meist in den Überwinterungsregionen) abgeschlossen. Einige Jungvögel wechseln Teile des Körpergefieders bald nach dem Ausfliegen; eine Komplettmauser beginnt bei allen Jungvögeln im Frühling des 2. Lebensjahres und ist im Spätsommer/Frühherbst abgeschlossen. Ab dann weisen junge Rotmilane das Erscheinungsbild ausgefärbter, älterer Individuen auf. Laute Rotmilane sind akustisch weniger auffällig als Schwarzmilane. Vor allem außerhalb der Balzzeit und in weiterer Entfernung vom Horst verhalten sie sich weitgehend stumm, sieht man von Nahrungsstreitigkeiten mit anderen Vögeln wie Krähen, Bussarden oder anderen Milanen ab, die meist sehr lautstark ausgetragen werden. Auffälligster Ruf ist ein hohes, in der Tonfärbung stark variierendes, jedoch meist schrilles, langgezogenes Wiiieeh, dem in ab- und aufsteigender Tonkurve weitere Elemente hinzugefügt werden. Das erste Element ist langgezogen, oft klagend, die nachfolgenden schließen sich wellenförmig und kürzer werdend, zum Schluss oft stolpernd, an. Verbreitung Das Verbreitungsgebiet des Rotmilans ist heute im Wesentlichen auf Zentral-, West- und Südwesteuropa beschränkt. Der Verbreitungsschwerpunkt dieser Art liegt in Deutschland, das allein über 42 Prozent des weltweit auf maximal 39.000 Brutpaare geschätzten Rotmilanbestandes beherbergt. Daneben gibt es größere Brutvogelbestände in Frankreich, in Spanien, in Italien, der Schweiz und auch in Großbritannien, dort vor allem in Wales. In Nordeuropa ist der Rotmilan nur in Schweden in nennenswerter Anzahl vertreten, während die Art in Finnland und Norwegen nicht vorkommt und auch in den baltischen Staaten sehr selten ist. Größere Vorkommen bestehen noch in Polen und in Tschechien, während in Österreich, der Slowakei und in Ungarn nur wenige Paare brüten. In Osteuropa bestehen Vorkommen nur mehr im äußersten Westen der Ukraine und von Belarus, auch im europäischen Russland brüten nur einige wenige Paare. Ob die Art noch auf dem Balkan als Brutvogel vorkommt, ist ungewiss. Die ehemals nicht unbeträchtlichen türkischen Bestände scheinen nicht mehr zu bestehen. Auch aus Marokko ist der Rotmilan weitgehend verschwunden. Lebensraum Der Rotmilan ist ein Greifvogel offener, mit kleinen und größeren Gehölzen durchsetzter Landschaften. Er ist bedeutend weniger wassergebunden als die Nominatform des Schwarzmilans, mit dem er jedoch häufig in enger Nachbarschaft brütet. Bevorzugte Lebensräume sind Agrarlandschaften mit Feldgehölzen, oft auch Parklandschaften und an Offenland grenzende strukturierte Waldränder, seltener Heide- und Moorgebiete, solange Bäume als Niststandorte zur Verfügung stehen. Häufig nutzt er die günstigen Aufwindverhältnisse in engeren Flusstälern oder an Berghängen. Zum Jagen braucht er offenes Kulturland, Grasland und Viehweiden, daneben können auch Feuchtgebiete als Nahrungsreviere dienen. Abgeerntete oder gerade umgepflügte Getreidefelder schließt er ebenso in die Nahrungssuche ein wie Autobahnen und Mülldeponien, Letztere aber nicht in dem Ausmaß wie der Schwarzmilan. Sein Verbreitungsgebiet stimmt im Wesentlichen mit den Braunerdegebieten Mittel- und Osteuropas sowie den mediterranen Braunerde- und Terra-Rossa-Gebieten überein und liegt schwerpunktmäßig in den Intensivzonen der mitteleuropäischen Landwirtschaft. Im Allgemeinen ist der Rotmilan ein Bewohner der Niederungen und der Hügellandgebiete etwa bis . Im Schweizer Jura liegen einzelne Brutplätze bei fast . In den Pyrenäen sind Vorkommen in der subalpinen Stufe bekannt. Historische Brutplätze im Kaukasus und im Hohen Atlas lagen in Höhen von fast . Im Mittelalter scheint der Rotmilan auch in einigen europäischen Städten, so etwa in London, gebrütet zu haben. Er dürfte dort eine ähnliche Rolle als Abfallvertilger gespielt haben, wie sie heute einige Unterarten des Schwarzmilans (M. migrans parasitus und M. m. govinda) in Afrika beziehungsweise Süd- und Südostasien einnehmen. In günstigen Nahrungshabitaten können Rotmilane in sehr hohen Siedlungsdichten vorkommen. Besonders dicht besiedelt war der Hakel, ein etwa 13 km² großes, mit ausgedehnten Lichtungen durchsetztes Waldgebiet in der Magdeburger Börde, wo 1979 136 Rotmilanpaare brüteten. Seither gingen die Bestandszahlen dort jedoch kontinuierlich zurück. Solche Konzentrationen von bis zu zehn Brutpaaren auf einem Quadratkilometer sind Ausnahmen, doch auch in der Baar und im Eichsfeld kommen Rotmilane in hohen Bestandsdichten vor. Ernährung Nahrungsspektrum Wie der Schwarzmilan ist auch der Rotmilan weitgehend Nahrungsgeneralist, ist im Gegensatz zu diesem aber ein leistungsfähigerer, aktiver Jäger. Fisch, Aas verzehrt er zwar ebenfalls, aber seltener als der Schwarzmilan. Individuell sind die Nahrungs- und Jagdgewohnheiten recht verschieden. Während der Brutzeit besteht die Hauptnahrung aus Kleinsäugern und Vögeln. Nach Menge und Gewicht überwiegen bei den Säugetieren Feldmäuse (Microtus sp.) und Maulwürfe (Talpidae), bei den Vögeln sehr auffällig der Star. Auch verschiedene Tauben (Columbidae), Rabenvögel (Corvidae) und größere Drosseln (Turdidae), so etwa Amseln (Turdus merula), Wacholder- (Turdus pilaris) und Misteldrosseln (Turdus viscivorus), werden relativ häufig geschlagen. Dort, wo der Feldhamster (Cricetus cricetus) noch vergleichsweise häufig vorkommt, zum Beispiel in Ostpolen, kann dieser zur Hauptbeute werden. Oft handelt es sich bei geschlagenen Vögeln um verletzte oder kranke Individuen oder um Jungtiere. In wasserreichen Gebieten können Fische, unter ihnen vor allem Weißfische wie Plötzen (Rutilus rutilus) und Brachsen (Abramis brama), gewichtsmäßig dominieren. Der Rotmilan erbeutet sowohl lebende als auch tote oder sterbend an der Wasseroberfläche treibende oder ans Ufer gespülte Fische. Nicht unbeträchtlich ist die Menge an Wirbellosen, die der Rotmilan sowohl im Flug als auch auf dem Boden aufnimmt. Vor allem im Frühjahr können verschiedene Käfer (Coleoptera) sowie Regenwürmer (Lumbricidae) wichtiger Nahrungsbestandteil sein. Der Anteil an Reptilien und Amphibien am Gesamtnahrungsaufkommen ist regional sehr unterschiedlich, in südlichen Populationen in der Regel etwas größer als in Mittel- oder Nordeuropa. Aas nimmt der Rotmilan seltener zu sich als der Schwarzmilan, doch nutzt auch er totgefahrene oder verendete Tiere. Er ist an großen Kadavern ebenso anzutreffen wie an den Resten von Kleintieren. Auch an Mülldeponien, wo er häufig Ratten erbeutet, oder dort, wo große Mengen tierischen Abfalles anfallen, wie zum Beispiel bei Schlachthäusern oder Tierverwertungsanlagen, finden sich Rotmilane ein. Nahrungserwerb Der Rotmilan ist ein Suchflugjäger offener Landschaften, der große Gebiete seines Nahrungsreviers in einem relativ niedrigen und langsamen Gleit- und Segelflug systematisch nach Beute absucht. Er ist Überraschungsjäger, der bei erfolglosem Angriff in der Regel abstreicht und das verfehlte Beutetier nicht weiter verfolgt. Nicht selten ist er auch schreitend auf dem Boden zu sehen, wo er vor allem nach Insekten und Regenwürmern sucht. Erspähte Beutetiere nimmt der Rotmilan im Darüberfliegen vom Boden auf, ohne dabei zu landen. Auch Fische greift er nach Seeadlerart von der Wasseroberfläche ab und trägt sie davon. Vögel vermag er gelegentlich im Flug oder auf Ästen zu überraschen und zu schlagen, meistens jedoch erbeutet er sie auf dem Boden. Die Beutetiere tötet er in der Regel nicht mit den Krallen, sondern durch kräftige Schnabelhiebe. Rotmilane berauben auch andere Vögel, vor allem Schwarzmilane, Krähen und Möwen. Sie jagen ihnen als Beuteschmarotzer die Beute ab oder belästigen sie so lange, bis sie bereits verschluckte Nahrung wieder auswürgen. Vor allem im Winter scheint diese Art des Nahrungserwerbes zu einem nicht unbeträchtlichen Anteil den Nahrungsbedarf zu decken. Insgesamt ist der Rotmilan in seinen Nahrungserwerbsstrategien sehr flexibel und nutzt günstige Gelegenheiten geschickt aus. Wo durch Mahd- und Erntearbeiten zuvor unzugängliche Beute freigelegt wird, sind Rotmilane schnell zur Stelle. Bis zu ihrem Umbruch bieten auch abgeerntete Felder gute Nahrungsressourcen, auf die sich Rotmilane sehr schnell einstellen können. Bei ausreichendem Nahrungsangebot und außerhalb der Brutzeit beginnt der Rotmilan erst einige Zeit nach Sonnenaufgang mit den ersten Beuteflügen und kann seine Jagdflüge bereits einige Stunden vor Sonnenuntergang beenden. Während des Tages legt er, meist in Horstnähe, längere Ruhepausen ein, die er auch zur intensiven Gefiederpflege nutzt. Die Größe des zur Nahrungsbeschaffung genutzten Areals hängt vom jeweiligen Angebot an Beutetieren ab. Verschiedene Untersuchungen ergaben, dass Nahrungsflüge selten weiter als zwei Kilometer vom Horst wegführen. Meist bleibt der nahrungssuchende Vogel in Sichtweite des Horsts. Verhalten Allgemein- und Sozialverhalten Die Aktivitätszeit ist bei gutem Beutetierangebot auffallend kurz, kann aber, insbesondere während der Brutzeit, schon in der frühen Morgendämmerung beginnen und erst mit Einbruch der Dunkelheit enden. Immer wieder aber legt der Rotmilan zwischen den Beuteflügen ausgiebige Ruhepausen ein, auch dann, wenn die Nestlinge in unmittelbarer Nähe energisch betteln. Außerhalb der Brutzeit ist der Rotmilan sehr gesellig und zeigt kein territoriales Verhalten. Die Art nächtigt fast immer in größeren Schlafgesellschaften und fliegt auch gemeinschaftlich auf Jagd. Diese Schlafgesellschaften können mehrere hundert Individuen umfassen. Häufig kann in diesen Milanansammlungen „spielerisches“ Verhalten wie gegenseitiges Necken sowie synchrone Flugspiele einiger Vögel beobachtet werden. Gelegentlich brechen Rotmilane im Flug Koniferenzapfen ab, um sie einfach nur fallen zu lassen. Auch während der Brutzeit ist territoriales Verhalten nicht sehr ausgeprägt, doch verteidigen beide Partner den Horst und seine weitere Umgebung (bis etwa 100 Meter) sowie den darüberliegenden Luftraum gegenüber Artgenossen und artfremden Eindringlingen. Dabei steigen die Milane hoch auf und attackieren den Eindringling ziemlich energisch von oben. Meist verfolgt ihn vor allem das Männchen eine gewisse Zeit, während das Weibchen recht schnell zum Horst zurückkehrt. Ein eigenes Nahrungsrevier beansprucht der Rotmilan in der Regel nicht, nur bei sehr geringer Nahrungsverfügbarkeit zeigen einzelbrütende Paare auch diesbezüglich territoriales Verhalten. Gelegentlich wurde auch bei sehr großen Populationsdichten, wie sie zum Beispiel im Hakel bestanden und in einigen Gegenden von Wales bestehen, territoriale Verhaltensweisen bezüglich der Jagdflächen festgestellt. Rot- und Schwarzmilane können sehr nahe beieinander brüten. Bei Streitigkeiten um einen günstigen Nistplatz oder einen bereits errichteten Horst ist hier in der Regel der Rotmilan der Unterlegene. Wanderungen Die Zugstrategien dieser Art sind nicht einheitlich. Insgesamt wird in den letzten beiden Jahrzehnten eine Verkürzung der Zugwege und ein vermehrtes Ausharren der Art in zuvor winters geräumten Brutgebieten festgestellt. Schneeärmere Winter sowie ein größeres, allzeit verfügbares Nahrungsangebot auf Müllkippen und entlang stark frequentierter Straßen machen es auch für viele mittel- und einige nordeuropäischen Populationen möglich, während des Winters im Brutgebiet auszuharren. Die größten Winterbestände in Mittel- und Nordeuropa gibt es im nördlichen Harzvorland, in der Schweiz (zum Beispiel bei Neerach), in Baden-Württemberg sowie in Südschweden. In einigen Überwinterungsgebieten in der Schweiz und in Südschweden wurden (und werden) die Überwinterer durch Zufütterungen unterstützt. In Baden-Württemberg ging die Anzahl der überwinternden Rotmilane mit der Schließung einiger Mülldeponien kontinuierlich zurück. Die Mehrheit der nord- und mitteleuropäischen Rotmilane verlässt jedoch im Herbst das Brutgebiet und zieht nach Südwesten, insbesondere nach Spanien. Die Brutvögel des südwestlichen Mitteleuropa, Italiens, Frankreichs und Spaniens sowie die wenigen Rotmilane Südosteuropas und Nordafrikas sind dagegen mehrheitlich Standvögel, mit unterschiedlich weiträumigen Nahrungsflügen innerhalb des Überwinterungsgebietes. In Spanien decken sich die Überwinterungsregionen mit den Brutgebieten der dort residenten Rotmilane. Sie liegen vor allem in der Nord- und Südmeseta, im Ebrobecken, in der Extremadura sowie in Teilen Südandalusiens. Rotmilane ziehen bei Tag und zumeist einzeln oder in kleinen Trupps. Auf dem Wegzug sind die Zuggemeinschaften in der Regel individuenstärker als auf dem Heimzug. Auf Grund der relativ kurzen Zugdistanzen verlassen Rotmilane erst spät das Brutgebiet, selten vor Mitte September, die meisten in der ersten Oktoberhälfte. Die Weibchen ziehen etwa ein bis zwei Wochen vor den Männchen fort. Umgekehrt erscheinen sehr früh, schon in der Februarmitte, die ersten ziehenden Rotmilane wieder im Brutgebiet, die Mehrheit folgt Ende Februar und in der ersten Märzdekade. Ein Großteil der einjährigen und viele zweijährige Rotmilane ziehen auf ihren ersten Heimzügen nicht ins Brutgebiet zurück, sondern verbringen den Sommer entweder im Überwinterungsgebiet oder vagabundieren in kleineren Gesellschaften in Süd- und Mittelfrankreich, zum Teil auch in der Schweiz. Brutbiologie Überblick Rotmilane werden in Ausnahmefällen bereits in ihrem ersten Lebensjahr fortpflanzungsfähig, brüten aber meist erst im dritten Lebensjahr zum ersten Mal. Die Art und Dauer der Paarbindung ist unterschiedlich. Weitgehend monogame Brutsaisonehen sind die Regel, doch wurden mehrjährige Dauerehen ebenso beobachtet wie Partnerwechsel während der Brutzeit. Bei Standvögeln scheint die Paarbindung stabiler zu sein als bei Zugvögeln, bei denen auch die durch das Zuggeschehen höheren Ausfallraten zu häufigerem Partnerwechsel zwingen. Die Art ist sehr brutortstreu. Auch geschlechtsreife Jungvögel versuchen sich meist in der näheren Umgebung ihres Geburtsortes anzusiedeln, selbst dann, wenn im weiteren Umkreis geeignete Brutplätze zur Verfügung stünden. Das führt nach Walz in dichtbesiedelten Rotmilanhabitaten mangels geeigneter Brutplätze zu einer Erhöhung des Bruteintrittsalters. Bei in Mittel- und Osteuropa überwinternden Vögeln wurde Balzverhalten während der gesamten Überwinterungszeit festgestellt. Im Brutgebiet kommen die späteren Partner oft zeitlich versetzt an, nicht selten um bis zu zwölf Tage (in Ausnahmefällen bis zu vier Wochen), wobei das Weibchen oder das Männchen zuerst erscheinen kann. Einige treffen bereits lose verpaart im Brutgebiet ein. Dort beginnen die Standvögel bereits Mitte bis Ende Februar mit der Hauptbalz, die Zugvögel im Durchschnitt etwa zwei bis drei Wochen später. Neuere telemetrische Untersuchungen zeigen, dass die Größe des Aktionsraums um das Revier des Brutplatzes bei Rotmilanen extrem unterschiedlich sein kann. So schwankte während der Phase der Jungenaufzucht der Aktionsraum bei 27 verschiedenen besenderten Männchen von Jahr zu Jahr und von Vogel zu Vogel zwischen 5 und 500 km² (MCP 95 % zwischen 2,4 und 235 km²). Dabei wurde festgestellt, dass die Anzahl flügger Jungvögel (pro Brutpaar) höher lag, wenn der Aktionsraum kleiner war (da schon in der Nähe Beute verfügbar). Horstbau und Balz Die Balz des Rotmilans ist nicht sehr auffällig. Im Wesentlichen besteht sie aus Horstbau, gemeinsamen Flügen über dem Horststandort und häufigen Kopulationen, die bis in die Nestlingszeit hinein anhalten. Zur Kopulation fordert das Weibchen mit leisen Trillerrufen, waagrecht geduckter Körperhaltung und gesenktem Kopf auf. Meist fliegt daraufhin das Männchen seine Partnerin direkt an und landet auf ihrem Rücken. Spektakuläre Steilabstürze über dem Horstrevier, bei dem sich zwei Altvögel ineinander verkrallen, gibt es beim Rotmilan ebenso wie bei vielen anderen Greifvögeln. Nach der Auswertung verschiedener Untersuchungen zu diesem Thema, wird dieses „cartwheeling“ genannte Verhalten inzwischen meistens als Abwehr von Rivalen gedeutet. Denkbar ist auch, dass dieses Verhalten sowohl bei der Abwehr von Rivalen als auch – abgewandelt – als Balzritual auftritt. Bereits in der Nestbauphase stellt das Weibchen eigene Nahrungsflüge weitgehend ein und wird ab dieser Zeit vom Männchen versorgt, bis es sich etwa zwei bis drei Wochen nach dem Schlupf selbst wieder an der Nahrungsbeschaffung beteiligt. Der Horstbau oder die Instandsetzung eines alten Horstes beginnt sofort nach Ankunft der Partner im Brutrevier. Horststandorte und Horstbäume sind sehr unterschiedlich, in Mitteleuropa handelt es sich aber hauptsächlich um Eichen, Buchen oder Kiefern. Felsbruten kommen bei den Populationen auf den Balearen und den nordafrikanischen Rotmilanen vor. Ganz selten wurden auch Horststandorte auf Gittermasten festgestellt. Meist liegen die Horste relativ hoch und in starken Bäumen, doch wurden auch sehr niedrig gelegene Nester in schwachen Bäumen festgestellt. Gerne wählen Rotmilane Nistbäume entlang steiler Abhänge oder über Felsklippen, bevorzugt in Randlagen, oder in stark aufgelichteten Beständen. Nistunterlage ist meistens eine starke Stammgabelung, seltener eine Gabelung in einem starken Seitenast. Am Horstbau beteiligen sich beide Partner. Das Grundgerüst besteht aus starken Reisern und Zweigen, die sie vom Boden auflesen oder mit dem Schnabel oder den Fängen von Bäumen abreißen. Den Horst polstern die Vögel mit unterschiedlichem, weichem, organischem Material, aber auch mit Kulturabfällen wie Folien, Plastiktüten oder Bindegarn aus. Letzteres führt nicht selten später zur Strangulation eines Nestlings. Plastikmaterialien verhindern eine ausgeglichene Luftzirkulation und können zur Durchnässung und Unterkühlung der Jungen führen. Die Größe der Rotmilanhorste ist sehr variabel. Sie können auffallend klein und recht liederlich zusammengefügt sein, mit Durchmessern zwischen nur 45 bis 60 Zentimetern. Mehrjährig benutzte Nester sind jedoch massive Konstruktionen mit einem Durchmesser von einem Meter und mehr, bei einer Höhe von über 40 Zentimetern. Gelege und Brut Das Gelege besteht meist aus drei Eiern, seltener aus einem, zwei oder vier Eiern. Es wurden auch schon Gelege mit fünf Eiern gefunden. Die Eier wiegen etwa 60 Gramm und messen im Mittel 57 × 45 Millimeter. Sie entsprechen in Größe und Form einem mittelgroßen Hühnerei. Auf trübweißem Grund weisen sie unterschiedlich stark ausgeprägte, rötlichbraune Flecken sowie schwärzliche Girlanden auf. Legebeginn in Mitteleuropa ist frühestens Ende März, in der Regel aber erst Anfang bis Mitte April. Bis in den Mai hinein können frische Gelege gefunden werden. In Südeuropa ist der Legebeginn etwa zwei Wochen früher, in den nördlichsten Verbreitungsgebieten nicht vor Ende April, Anfang Mai. Rotmilane brüten nur einmal im Jahr; nur bei frühem Gelegeverlust kommt es zu einem Nachgelege, meistens in einem anderen Horst. Die Eier bebrütet fast ausschließlich das Weibchen etwa 32 bis 33 Tage bereits nach dem ersten Ei intensiv, sodass die Jungen mit deutlichen Entwicklungsunterschieden aufgezogen werden. Nur für kurze Zeit übernimmt das Männchen das Brutgeschäft. In den ersten zwei bis drei Wochen bleibt das Weibchen fast ständig am Horst, hudert und beschattet die Nestlinge und verfüttert die vom Männchen herbeigebrachte Nahrung, die vor allem aus Kleinsäugern und Vögeln besteht. Die Nestlingszeit beträgt, abhängig von Witterung und Nahrungsangebot zwischen 48 und 54 Tagen. In Extremfällen fliegen die Jungen erst nach 70 Tagen aus. Die wesentliche Gefährdung der Nestlinge liegt – abgesehen von mangelnder Nahrung – in der Prädation durch den Habicht. Die Führungszeit ist verglichen mit der von jungen Schwarzmilanen recht kurz und beträgt selten mehr als drei Wochen. Danach verstreichen die Jungvögel, meist verlassen auch die Altvögel die unmittelbare Horstumgebung. Mischbruten In freier Natur wurden gelegentlich Mischbruten zwischen Rot- und Schwarzmilan festgestellt. Der Schwarzmilan war meist der weibliche Vogel. Auch erfolgreiche Bruten zwischen einem Schwarzmilanmännchen und einem hybriden Weibchen wurden bekannt. In Gefangenschaft kommen solche Mischbruten häufiger vor. Im Naturpark Aukrug in Mittelholstein brütete ein Mischpaar 6 Jahre hindurch erfolgreich. Nach Ausbleiben des Rotmilans trat offenbar eine Hybride aus einer vorangegangenen Brut an seine Stelle. Systematik Der Rotmilan ist eine von insgesamt drei Arten der Gattung Milvus. Neben der Nominatform Milvus milvus milvus wurde noch die auf den westlichen und südwestlichen Inseln der Kapverden endemisch vorkommende Unterart M. milvus fasciicauda beschrieben. Diese Unterart wurde zuletzt 1999 mit zwei Individuen festgestellt. Alle danach gefangenen und analysierten Milane von den Kapverden waren Schwarzmilane der Nominatform Milvus migrans migrans. M. milvus fasciicauda scheint also ausgestorben zu sein. Die taxonomische Stellung des Kapverdenmilans bleibt unklar: Er könnte eine Reliktart gewesen sein, die vor der Trennung der beiden Arten Rotmilan und Schwarzmilan bestand, oder eine weitgehend stabilisierte Hybride zwischen diesen beiden Arten. Molekulargenetische Untersuchungen an Museumsbälgen aus dem späten 19. Jahrhundert zeigten jedoch, dass Vögel mit den fasciicauda-typischen Merkmalen in die Rotmilan-Klade einzuordnen sind. Bestand und Gefährdung Deutliche Abnahmen in den Hauptbrutgebieten führten dazu, dass die Weltnaturschutzunion (IUCN) Anfang des Jahrtausends den Bestand in der Roten Liste auf NT (= near threatened) hochstufte. Aufgrund wachsender Population änderte die IUCN im Jahr 2021 die Einstufung in LC (= least concern, ungefährdet). Die Situation in den Bundesländern ist uneinheitlich. Während die Rote Liste der Brutvogelarten Baden-Württembergs den Rotmilan seit 2007 in die Kategorie „ungefährdet“ einstuft, führt ihn die Rote Liste der gefährdeten Brutvögel in Niedersachsen und Bremen seit 2007 als stark gefährdet (Kategorie 2). Ausschlaggebend dafür sind die zum Teil erheblichen Bestandsrückgänge seit Beginn der 1990er Jahre in den Schlüsselländern der Verbreitung Deutschland, Spanien und Frankreich. In Deutschland insgesamt sind die Bestände seit 1996 stabil – allerdings auf einem niedrigeren Niveau als 1990. Die Schätzungen des europäischen Gesamtbestandes schwanken (Stand 2012) je nach Autor zwischen minimal 19.000 und maximal 29.000 Brutpaaren. Dabei gibt es verschiedene Gründe für natürliche Bestandsschwankungen. So nehmen die Bestände zum Beispiel in Jahren mit einer hohen Mäuse- und Feldhamsterverfügbarkeit zu (sogenannte Gradationsjahre), während Jahre mit (plötzlich einsetzenden) feucht-kalten Frühjahrstemperaturen zu Gelegeverlusten durch Unter- bzw. Auskühlen von Eiern oder Jungvögeln führen können, wodurch der Bestand auch insgesamt abnehmen kann. Extreme Wetterereignisse, die durch den fortschreitenden Klimawandel zunehmen werden, könnten den Bestand der Rotmilan-Population künftig negativ beeinflussen. Gründe für die zwischen 1990 und 1996 erlittenen Bestandsrückgänge liegen vor allem in der Intensivierung und Umstellung der Landwirtschaft. Besonders negativ wirkte sich dies nach der Wende auf die Rotmilanbestände im Osten Deutschlands aus, wo regional Einbußen um mehr als 50 Prozent und ein deutliches Absinken der Reproduktionszahlen verzeichnet wurden. Wesentliche Faktoren waren die Verschlechterung der Nahrungsverfügbarkeit durch Umstellung der Mähtermine infolge des verstärkten Anbaus von Wintergetreide und Raps sowie ein Rückgang der Rinderhaltung – mit zugleich weniger Weidewirtschaft und Grünfutteranbau mit regelmäßiger Mahd. Darüber hinaus tragen Verkehr, sekundäre Vergiftung durch Aufnahme vergifteter Beutetiere, Verfolgung durch vorsätzliche Vergiftung, Abschuss sowie Unfallverluste an Freileitungen und Windkraftanlagen zum Rückgang bei. Gravierend sind ferner Verluste durch illegale Abschüsse, vorwiegend während des Vogelzuges und in den Überwinterungsgebieten. Als Folge kehren viele Tiere im Frühjahr nicht zurück. In den Brutgebieten kommt es zu Brutverlusten durch Forstarbeiten in der Brutzeit in Horstnähe. Trotz strikter Verbote und Regularien gemäß EU-Vogelschutzrichtlinie bestehen hier noch enorme Defizite bezüglich der Kontrolle. Das Forschungsprojekt Life-Eurokite, das bis Anfang 2022 die Todesursache von 556 mit GPS-Sendern ausgestatteten toten Rotmilanen untersuchte, kam zu dem Zwischenergebnis, dass die größte Gefahr für Rotmilane in Europa Giftköder seien. Die Rotmilane sterben dabei nach dem Verzehr vergifteter Kleinsäuger wie Ratten und Mäusen. Anschließend folgten der Straßenverkehr, illegaler Abschuss, Stromschlag an Strommasten, Unfälle mit Schienenfahrzeugen und auf Rang sieben Windkraftanlagen. Gemäß Studienleiter Rainer Raab ist eine Kollision eines Rotmilans mit einer Windkraftanlage ein „äußerst seltenes Ereignis“, das vor allem dann auftrete, wenn ein Rotmilan nach einem langen Flug erschöpft oder die Sicht nicht gut sei. In einer Pressemitteilung stellte das Forschungsprojekt Life-Eurokite nach der Ausstrahlung des frontal-Berichts klar, „Diese Ergebnisse sind nicht per se auf die aktuelle Debatte um Todesursachen vom Rotmilan in Deutschland übertragbar (auch wenn dies im Beitrag so dargestellt wurde), da die Todesursachen in Europa ungleichmäßig verteilt sind. So treten bspw. Vergiftungen und illegale Abschüsse sowie der Stromschlag an Elektroleitungen in Deutschland wesentlich seltener auf als in anderen europäischen Staaten“ und kommt zum Schluss „Es ist zum derzeitigen Projektstand nicht auszuschließen, dass es in Zukunft zu Verschiebungen bei der Häufigkeit der Todesursachen kommt.“ Eine kurz nach dem frontal-Bericht veröffentlichte Stellungnahme der „Fachgruppe Rotmilan“ zog für Deutschland aus diesem und älterem Datenmaterial andere Schlüsse und kritisierte die Systematik der Life-Eurokite-Studie. Die Forscher betonten, dass in den letzten 15 Jahren Kollisionen mit WEA mit 15 % eine der häufigsten Todesursachen sowohl bei erstjährigen als auch bei älteren Vögeln gewesen seien und im Vergleich zu früheren Jahrzehnten deutlich zugenommen hätten. Über die in Windparks gefundenen Schlagopfer gibt eine seit 2002 von der staatlichen Vogelschutzwarte Brandenburg geführte Kollisionsstatistik Auskunft. Beim Rotmilan lag diese Zahl zwischen 2002 und Mai 2021 bei insgesamt 629 in Deutschland, nur Mäusebussarde waren mit 683 Schlagopfern häufiger betroffen. Diese Zahlen lassen keinen Rückschluss darauf zu, wie sich Kollisionen auf die Population auswirken. Auch die bisher umfangreichste Studie zu diesem Thema (PROGRESS-Studie, 2016) konnte diese Frage nicht beantworten. Bei einem 2019 durchgeführten Vergleich der Populationsentwicklung des Rotmilans durch den Dachverband Deutscher Avifaunisten von 2005 bis 2014 mit der Windkraftanlagendichte im Jahr 2015 zeigten sich regionale Unterschiede. Es gab deutliche Bestandszunahmen in Südwest- und Westdeutschland ausschließlich in Gebieten, wo bisher nahezu keine Windkraftanlagen standen, deutliche Bestandsrückgänge hingegen in Kreisen mit hoher Windkraftanlagendichte beispielsweise in Sachsen-Anhalt und Ostwestfalen. Im Durchschnitt ergab sich eine hochsignifikante negative Korrelation zwischen Rotmilan-Bestandsveränderung und Windkraftanlagendichte auf Landkreisebene, das heißt, bei zunehmender Dichte der Windkraftanlagen sinkt die Zahl der Rotmilane. Aufgrund neuester Daten haben allerdings IUCN und BirdLife International den Rotmilan als nicht mehr gefährdet eingestuft. Die Bundesregierung Scholz (SPD/FDP/Grüne) hat im Juli 2022 das Bundesnaturschutzgesetz geändert. Kern der Novelle: Nicht mehr der einzelne Vogel steht im Mittelpunkt, sondern der Erhalt der Population. Das Schließen von Mülldeponien wirkte sich Anfang der 1990er Jahre bestandslimitierend aus. Den Vögeln wurden damit ganzjährig verfügbare Nahrungsquellen entzogen. Ob sich zunehmende Schwarzmilanbestände negativ auf den in direkter Konkurrenz stehenden Rotmilan auswirken, ist noch nicht ausreichend geklärt. Ähnliches gilt für Einflüsse durch den aus Nordamerika eingewanderten Waschbären, der sich besonders in Hessen und Brandenburg stark verbreitet hat. Es gibt deutliche Hinweise, dass Waschbären Nistplätze von Greifvögeln nutzen und als Nesträuber Greifvogelnester ausräumen. Lebenserwartung Rotmilane können sehr alt werden. Ein in Freiheit aufgefundener Rotmilan war fast dreißig Jahre alt. Die tatsächliche Lebenserwartung freilebender Vögel ist jedoch bedeutend geringer. In einer Untersuchung von 2009 waren 2/3 von 44 in Thüringen gefangenen Rotmilanen zwischen drei und sieben Jahre alt. Nur 16 % waren älter als 10 Jahre. Besonders der erste Wegzug endet für viele Rotmilane tödlich. Am Ende des ersten Lebensjahres leben von einem Geburtsjahrgang etwa 60–65 Prozent. Mit wachsender Erfahrung verlangsamt sich die Ausfallsrate, sodass nach drei Jahren noch ungefähr 35–45 Prozent eines Jahrgangs am Leben sind und zur Brut kommen können. Diese Zahlen sind jedoch von vielen Faktoren abhängig, sodass sie nur als Annäherungswerte zu sehen sind. Nahrungsmangel, Abschuss, Kollisionen mit Hindernissen und Stromleitungen sowie Vergiftungen sind die häufigsten frühen Todesursachen. Sonstiges Der Rotmilan war 2000 Vogel des Jahres in Deutschland und Österreich. Hierdurch sollte auf seine Gefährdung durch die Intensivierung der Landwirtschaft sowie die besondere Verantwortung Deutschlands für die Erhaltung der Art (Tierart nationaler Verantwortlichkeit Deutschlands) aufmerksam gemacht werden. Denn über die Hälfte aller brütenden Rotmilane weltweit haben ihr Nest in Deutschland. Die Gemeinden Hattorf am Harz (Niedersachsen) und Ilmtal-Weinstraße (Thüringen) führen diesen Greifvogel in rot als Wappentier. Im Wappen von Karbach in Unterfranken wird eine goldene Gabelweihe (Rotmilan) dargestellt. Literatur Adrian Aebischer und Patrick Scherler: Der Rotmilan – ein Greifvogel im Aufwind. Haupt Verlag, Bern 2021, ISBN 978-3-258-08249-3. Hans-Günther Bauer und Peter Berthold: Die Brutvögel Mitteleuropas. Bestand und Gefährdung. Aula, Wiesbaden 1998, ISBN 3-89104-613-8, S. 90 f. Mark Beaman und Steve Madge: Handbuch der Vogelbestimmung. Europa und Westpaläarktis. Ulmer-Stuttgart 1998, ISBN 3-8001-3471-3, S. 181–182, 232. James Ferguson-Lees und David A. Christie: Raptors of the World. Houghton-Mifflin Company, Boston / New York 2001, ISBN 0-618-12762-3, S. 376–379. Dick Forsman: The Raptors of Europe and The Middle East. Christopher Helm, London 2003, ISBN 0-7136-6515-7, S. 55–64. Urs N. Glutz von Blotzheim (Hrsg.): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Bearb. u. a. von Kurt M. Bauer und Urs N. Glutz von Blotzheim. 17 Bände in 23 Teilen. Band 4: Falconiformes. 2. Auflage. Aula-Verlag, Wiesbaden 1989, ISBN 3-89104-460-7, S. 136–163. Kai Gedeon, Christoph Grüneberg, Alexander Mitschke, Christoph Sudfeldt, Werner Eikhorst, Stefan Fischer, Martin Flade, Stefan Frick, Ingrid Geiersberger, Bernd Koop, Matthias Kramer, Thorsten Krüger, Norbert Roth, Torsten Ryslavy, Stefan Stübing, Stefan R. Sudmann, Rolf Steffens, Frank Vökler und Klaus Witt: Atlas Deutscher Brutvogelarten. Atlas of German Breeding Birds (auch: ADEBAR). Stiftung Vogelmonitoring Deutschland und Dachverband Deutscher Avifaunisten, Münster 2014. Christian Gelpke: Artenhilfskonzept für den Rotmilan (Milvus milvus) in Hessen. Abgestimmte und aktualisierte Fassung, 15.08.2012. Staatliche Vogelschutzwarte für Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland, 2012.. In: vswffm.de. Benny Génsbøl und Walther Thiede: Greifvögel. Alle europäischen Arten, Bestimmungsmerkmale, Flugbilder, Biologie, Verbreitung, Gefährdung, Bestandsentwicklung. BLV Buchverlag, München 2005, ISBN 3-405-16641-1. Martin Kolbe: Der Rotmilan: Erforschung und Artenschutz. Ein echter Europäer und heimlicher Wappenvogel Sachsen-Anhalts. In: Sachsen-Anhalt-Journal. 3, 2022, S. 4–5. Martin Kolbe: Das Museum für Vogelkunde Heineanum in Halberstadt und der Rotmilanschutz. In: Sachsen-Anhalt-Journal. 3, 2022, S. 5–9. Martin Kolbe: Der Rotmilan in seiner natürlichen Umgebung. In: Sachsen-Anhalt-Journal. 3, 2022, S. 9–13. Ubbo Mammen, Bernd Nicolai, Jörg Böhner, Kerstin Mammen, Jasper Wehrmann, Stefan Fischer und Gunthard Dornbusch: Artenhilfsprogramm Rotmilan des Landes Sachsen-Anhalt. Berichte des Landesamtes für Umweltschutz Heft 5/2014 (160 S.). Theodor Mebs, Daniel Schmidt: Die Greifvögel Europas, Nordafrikas und Vorderasiens. Biologie, Kennzeichen, Bestände. Kosmos, Stuttgart 2006, ISBN 3-440-09585-1, S. 321–330. Winfried Nachtigall: Der Rotmilan (Milvus milvus, L. 1758) in Sachsen und Südbrandenburg: Untersuchungen zu Verbreitung und Ökologie. Dissertation Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2008.PDF; 31,5 MB. In: uni-halle.de. Rudolf Ortlieb: Der Rotmilan – Milvus milvus. 5. Auflage. Westarp Wissenschaften, Hohenwarsleben 2004, ISBN 3-89432-344-2, (unveränderter Nachdruck der 3. Auflage von 1989). M. Schmidt, R. Schmidt: Langjährig erfolgreiches Mischbrutpaar von Schwarz- (Milvus migrans) und Rotmilan (Milvus milvus) in Schleswig-Holstein. In: Corax. 20 (2006), , S. 165–178. Jochen Walz: Rot- und Schwarzmilan. Flexible Jäger mit Hang zur Geselligkeit. AULA-Verlag, Wiebelsheim 2005, ISBN 3-89104-644-8. Viktor Wember: Die Namen der Vögel Europas. Bedeutung der deutschen und wissenschaftlichen Namen. Aula-Wiebelsheim 2005, ISBN 3-89104-678-2, S. 62. Förderkreis Museum Heineanum e. V.: Red Kite – Roter Drache – Rotmilan. Katalog zur Ausstellung im Museum Heineanum. Halberstädter Druckhaus GmbH, Halberstadt 2012, . Weblinks Red Kite Milvus milvus. Factsheet Birdlife international (englisch). . Birdlife Europe, 27. Oktober 2004 (englisch, PDF; 292 kB; Daten bis 2000). Vogel des Jahres 2000: Der Rotmilan. Nr. 30. In: Bremen.NABU.de. Rotmilanprojekt. In: Biologische-Schutzgemeinschaft.de. Biologische Schutzgemeinschaft – Vereinigung für Natur- und Umweltschutz zu Göttingen e. V. (Forschung zum Rotmilan). Deutschlandweites Projekt zum Rotmilanschutz. In: Rotmilan.org. Javier Blasco-Zumeta, Gerd-Michael Heinze: Geschlechts- und Altersbestimmung (PDF-Datei, englisch) Federn des Rotmilans. In: Vogelfedern.de. Einzelnachweise Habichtartige Vogel des Jahres (Deutschland) Wikipedia:Artikel mit Video Vogel des Jahres (Österreich)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander%20Wilson
Alexander Wilson
Alexander Wilson (* 6. Juli 1766 in Paisley, Schottland; † 23. August 1813 in Philadelphia) war ein amerikanischer Ornithologe, Zeichner und Schriftsteller. Der gelernte Weber schrieb zunächst in seiner schottischen Heimat gesellschaftskritische Gedichte, in denen er das Elend der schottischen Unterschicht anklagend der Oberschicht gegenüber darstellte. Aufgrund verschiedener Probleme wanderte Wilson 1794 nach Amerika aus. Dort begann er ab 1804 mit der enzyklopädischen Darstellung der nordamerikanischen Vogelwelt in Form der Buchserie „American Ornithology“. Im August 1813 verstarb Alexander Wilson noch vor Fertigstellung der letzten beiden Bände seiner Enzyklopädie. Leben Kindheit und Jugend Wilson wurde als fünftes von sechs Kindern eines schottischen Webers und Schnapsbrenners in Seedhills, einem Stadtteil von Paisley, geboren und erhielt den gleichen Namen wie sein Vater. Seine Mutter Mary M’Nab starb an Tuberkulose, als der Junge zehn Jahre alt war. Nachdem sein Vater schnell wieder geheiratet hatte, verließ Alexander Wilson im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren die höhere Schule, auf die er mit dem Ziel einer Ausbildung zum Priester geschickt worden war, um zunächst als Hirte zu arbeiten und 1779 bei seinem Schwager William Duncan das Weberhandwerk zu erlernen. Nachdem er die dreijährige Lehre abgeschlossen hatte, bereiste er als Hausierer Schottland, immer wieder unterbrochen durch kurze Zeiten der Anstellung als Weber, zum Teil bei verschiedenen Verwandten. Briefe aus dieser Zeit belegen, dass Wilson der Arbeit als Weber und Hausierer nur widerwillig nachging und vor allem von der Arbeit am Webstuhl Gesundheitsschäden davontrug. Schon in seiner Jugend soll Wilson großes Interesse für die Natur gezeigt haben. Der gesellschaftskritische Poet In dieser Zeit kam Wilson mit einer Stilrichtung schottischer Dichter in Kontakt, die Werke im Dialekt ihrer Heimat verfassten. Vor allem Robert Burns machte großen Eindruck auf ihn. Bald begann er selbst Gedichte zu schreiben. Einige Jugendwerke wurden in der Zeitung Glasgow Advertiser veröffentlicht. Wilsons Werke dieser frühen Schaffensphase reichen von naiver Natur- und Liebeslyrik bis zu sozialkritischen und naturalistischen Gedichten. In seinen letzten Jahren in Schottland dominierten die kritischen Werke. Es geht in ihnen um zerfallende Familien, Auseinandersetzungen zwischen Arbeitgebern und -nehmern sowie allgemein um das Leben der schottischen Unterschichten dieser Zeit. Diese Werke hatten vor allem beschreibenden und anklagenden Charakter der Oberschicht gegenüber. Sie stellten nicht die Forderung nach einer bestimmten politisch-sozialen Lösung dieser Probleme in den Vordergrund. Mehrfach versuchte Wilson, einen Verleger für seine Werke zu finden, hatte damit jedoch erst 1789 Erfolg. Die Sammlung seiner Werke mit dem Titel Poems, Humorous, Satirical, and Serious erschien 1790. Sie umfasste 308 Seiten in Oktavform und erschien in zwei Auflagen, zunächst mit 700, dann mit 500 Exemplaren. Wilson versuchte das Buch während seiner Hausierertouren zu verkaufen. Die Nachfrage war gering, so dass er mit seinem ersten Geschichtenband vermutlich finanzielle Verluste machte. Möglicherweise deswegen zog Wilson von Paisley in das nahe gelegene Lochwinnoch um. Von dort aus reiste er mehrfach nach Edinburgh, um poetische Werke für die Zeitschrift Bee und an verschiedene literarische Gesellschaften einzureichen. Seine 1792 erschienene Ballade Watty and Meg or the Taming of a Shrew erreichte mit sieben oder acht Auflagen als einzige eine größere Verbreitung und wird noch heute als Wilsons gelungenstes poetisches Werk angesehen. 1793 geriet Wilson zunehmend in gesellschaftliche und politische Schwierigkeiten, die schließlich zu seiner Auswanderung nach Amerika führten. Seine Schilderungen des Elends der Unterschichten waren zunehmend durch die Amerikanische Unabhängigkeitsbewegung und die Französische Revolution beeinflusst worden und hatte ihn in Konflikt mit der Obrigkeit gebracht. Ihm wurde vorgeworfen, dass er unter den Webern Edinburghs Unruhe schüre. Darüber hinaus hatte er satirische Texte verfasst, die Fabrikbesitzer der Region lächerlich machten. Vor allem eine Veröffentlichung mit dem Titel The Shark, or Lang Mills detected führte zu Anzeigen und Gerichtsurteilen gegen ihn, da sich der Manufakturbesitzer William Sharp durch sie persönlich angegriffen fühlte. Wilson musste seine Schriften öffentlich auf einer Wegkreuzung in Paisley verbrennen und erhielt eine kurze Zuchthausstrafe, weil er eine Geldstrafe wegen Verleumdung nicht zahlen konnte. Eine Rolle bei der Entscheidung für das Auswandern mag auch eine gescheiterte Liebesaffäre mit einer Frau namens Mathilda gespielt haben, der er eines seiner populäreren Gedichte widmete. Darüber hinaus ging es Wilson auch finanziell schlecht, vermutlich auch, weil das Schreiben seiner Gedichte ihm wenig Zeit für seine Arbeit als Weber und Hausierer ließ. Geldstrafen wegen seiner gesellschaftskritischen Schriften verschärften seine Lage zusätzlich, weshalb er sich mehrmals Geld leihen musste. Neuanfang in Amerika In Belfast ging der Dichter gemeinsam mit seinem 16-jährigen Neffen William Duncan als Deckspassagier an Bord des Schiffes The Swift, mit dem er am 23. Mai 1794 ablegte und das er am 14. Juli in Delaware in den USA verließ. Wilson zog mit seinem Neffen den Delaware River hinauf nach Philadelphia und arbeitete in dieser Zeit als Tagelöhner, Hausierer, Drucker und Weber. Vor allem während seiner Hausiererreisen, die ihn unter anderem nach New Jersey führten, fertigte er Aufzeichnungen über die Natur an. 1796 fand Wilson eine Stelle als Lehrer an einer Schule in Milestown (Pennsylvania), rund 30 Kilometer entfernt von Philadelphia. Dort blieb er bis 1801, als er den Ort wegen einer Affäre mit einer verheirateten Frau, der er noch einige Zeit später Gedichte widmete, verlassen musste. Kurzfristig fand er in Bloomfield in New Jersey erneut Arbeit als Lehrer, bevor er auf eine gut besoldete Lehrerstelle an einer Schule in Gray’s Ferry (Pennsylvania) wechselte. Dort begann er auch wieder Gedichte zu schreiben, die seinem Frühwerk in Schottland gegenüber eine deutlich höhere Qualität zeigten. Um 1800 hatte sich Wilson für kurze Zeit mit dem Plan getragen, sich im Bundesstaat New York als Farmer niederzulassen, was er aber schnell wieder aufgab. Die Familie seines Neffen William Duncan siedelte sich dort an, hatte jedoch wenig wirtschaftlichen Erfolg. In Gray’s Ferry begann Wilson sich auch stärker mit der Naturbeobachtung zu befassen. Anstoß dazu war die Bekanntschaft mit seinem Nachbarn William Bartram, der einen der ersten botanischen Gärten in Nordamerika betrieb. Bartram stellte Wilson seine umfangreiche Bibliothek zur Verfügung und lenkte dessen bereits in Schottland vorhandene Interesse an der Natur und vor allem an der Vogelkunde in eine wissenschaftliche Richtung. Auf Anraten Bartrams und anderer Freunde begann Wilson auch mit dem Zeichnen vor allem von Säugetieren und Bäumen. Zunächst sollte dies vor allem den Depressionen des jungen Lehrers entgegenwirken. In dieser Zeit lernte Wilson auch George Ord kennen, der später einer der wichtigsten Mitarbeiter beim Erstellen der American Ornithology werden sollte. Vermutlich kam es in dieser Zeit auch zu einer Affäre mit William Bartrams Nichte Ann, die aber von der Familie Bartram beendet wurde. Wendung zur Vogelkunde Im Zeitraum bis 1803 begann Wilson auch mit seinen weiten Wanderschaften durch die erst wenig erforschte Landschaft Nordamerikas. Bis 1808 besuchte er nach eigenen Angaben alle amerikanischen Städte westlich der Atlantikküste zwischen Sankt-Lorenz-Strom und Florida. Eine der ersten Touren führte ihn zusammen mit William Duncan und Isaac Leech, dem Sohn seiner Vermieterin, von Gray’s Ferry bis zu den Niagarafällen. Dabei konzentrierte er sich vor allem auf die Beobachtung von Vögeln sowie darauf, Vögel zu schießen und sie als Anschauungsobjekte herzurichten. Bereits in einem Brief aus diesem Jahr berichtete er von dem Vorhaben, eine illustrierte Aufstellung aller Vögel des Landes zu schaffen. Der Stil seiner Naturbeobachtungen entsprach dabei nur teilweise einem wissenschaftlichen Ansatz. Eher kann man wohl vom Blick eines engagierten Naturfreundes sprechen, bei dem der Schwerpunkt auf der enzyklopädischen Darstellung der nordamerikanischen Vogelwelt lag und nicht etwa auf der Diskussion verschiedener naturwissenschaftlicher Thesen. Wissenschaftliche Kontroversen scheinen, sofern sie in der dünnen Forschungsinfrastruktur Nordamerikas überhaupt bekannt gewesen waren, von Wilson kaum aufgegriffen worden zu sein. Gründe für diesen Ansatz waren Wilsons fehlende wissenschaftliche Ausbildung (Nach Angaben seines Testamentsvollstreckers befand sich bei Wilsons Tod lediglich ein vogelkundliches Buch in dessen Besitz) sowie die Tatsache, dass die weitgehend unerforschte Tierwelt des Kontinents genügend Raum für einen solchen eher breit als tief angelegten Ansatz bot. Beispielsweise trugen viele Vögel noch überhaupt keine allgemein verbindlichen Namen. Die Benennung war ein Problem, das mehrfach in Wilsons Briefen auftauchte und immer wieder zu Auseinandersetzungen mit anderen Naturforschern führte. Teilweise lehnte Wilson sich an Carl von Linnés Systema Naturae an, allerdings besaß er nur grundlegende Kenntnisse dieses Taxonomie-Systems. Obwohl die Naturforschung zu seiner neuen Hauptbetätigung wurde und die American Ornithology sein einziges wissenschaftliches Werk bleiben sollte, verfasste Wilson weiter Gedichte, die sich häufig um Beobachtungen auf seinen Reisen drehten und die Natur der „Neuen Welt“ feierten. So schlug sich die Wanderung zu den Niagarafällen in der Ballade The Foresters nieder, die 1809 erschien. Wilson verfasste auch einige wenige vogelkundliche Aufsätze in den sich gerade erst entwickelnden naturkundlichen Zeitschriften Nordamerikas. Einige dieser Texte wurden später in die American Ornithology übernommen. In den folgenden Jahren sollten die meist einsamen Reisen die wichtigsten Quellen für Alexander Wilsons Arbeit werden. Am 9. Juni 1804 nahm er die amerikanische Staatsbürgerschaft an. 1805 war der erste Satz von 28 Vogelzeichnungen fertig, der zur Grundlage für die American Ornithology werden sollte. Das Jahr 1806 war für Wilson von Rückschlägen geprägt. Zunächst versuchte er, den befreundeten schottischen Kupferstecher Alexander Lawson zum Anfertigen von Druckplatten nach seinen Zeichnungen zu gewinnen. Da Wilson über wenig Geld für das Projekt verfügte, nahm Lawson das Vorhaben jedoch nicht in Angriff. Im gleichen Jahr erfuhr Wilson von einer geplanten Expedition der US-Regierung, die das Land westlich des Mississippi River erkunden sollte, und bewarb sich in einem persönlichen Schreiben an Präsident Thomas Jefferson um die Teilnahme. Eine Antwort erhielt er jedoch nicht. Vermutlich ging der Brief damals verloren, denn Wilson hatte später ein sehr gutes Verhältnis zu Jefferson. Der Politiker interessierte sich ebenfalls lebhaft für Naturkunde. In Briefen tauschte er sich mit Wilson über die korrekte Benennung der von ihm beobachteten Vögel aus. American Ornithology Die Wende zum Besseren kam im Spätsommer des gleichen Jahres: Wilson wurde von Samuel Bradford als Assistent in dessen Verlag in Philadelphia angestellt, wohin er sofort übersiedelte. Seine erste Betätigung war die Mitherausgeberschaft von Rees' Cyclopedia. Er arbeitete aber intensiv weiter an seinen Zeichnungen für das Vogelkunde-Projekt. Bis zum Beginn des folgenden Jahres gelang es Wilson, Bradford zur Drucklegung des Werks zu überreden. Ab 1807 arbeitete Wilson fast ausschließlich für die geplante American Ornithology. Er reiste weite Strecken durch Pennsylvania, meist alleine. Während seiner Aufenthalte in Philadelphia fertigte er Zeichnungen an. Da Bradford das Vorhaben unterstützte, erklärte sich nun auch Alexander Lawson zur Mitarbeit bereit. Später beteiligten sich auch andere Kupferstecher. Im September 1808 erschien der erste von neun Bänden der American Ornithology in einer Startauflage von 200 Exemplaren mit 158 Seiten Umfang und 34 handkolorierten Farbtafeln. Nicht nur die Zeichnungen, auch der größte Teil des Textes stammte von Wilson. Darüber hinaus hatte er auch einige der gedruckten Zeichnungen selbst koloriert. Die American Ornithology weist einen deutlich patriotischen Ansatz auf. Aus den Texten sowie aus verschiedenen Briefen Wilsons geht hervor, dass er sie als Gegenentwurf zu der von vielen europäischen Naturforschern vertretenen Auffassung verstand, die amerikanische Fauna sei der europäischen gegenüber „minderwertig“. Vor allem in Briefen Wilsons, in denen es um die Benennung von Vogelarten geht, fordert er, der bis zu diesem Zeitpunkt herrschenden europäischen Vorrangstellung eine amerikanische „Souveränität“ bei der Namensgebung für die eigene Tierwelt entgegenzusetzen. Der Patriotismus ging sogar so weit, dass Wilson sich bemühte, die Bücher ausschließlich aus Papier und sonstigen Rohstoffen aus den USA herstellen zu lassen. Nachdem der erste Band erschienen war, begab sich Wilson auf Werbereisen, um Subskribenten für die Buchserie zu sammeln. Der Gesamtpreis für alle neun Bände betrug 120 Dollar – mehr als Wilsons Jahresgehalt als Lehrer gewesen war. Dementsprechend kamen nur die wohlhabendsten Bürger als Kunden in Frage. Insgesamt 250 Subskribenten sammelte Wilson auf seiner ersten Verkaufsreise, bei denen ihm sicher seine in Schottland als Hausierer gesammelten Erfahrungen zugutekamen. Darüber hinaus spielte er geschickt auf die patriotische Dimension seines Werks an. Einer der ersten Subskribenten war US-Präsident Thomas Jefferson, mit dem Wilson einige Ansichten seiner „patriotischen Naturkunde“ teilte. Insgesamt hatten Wilsons Verkaufsversuche in den agrarisch geprägten Südstaaten überproportional mehr Erfolg als im stärker bürgerlichen Norden. Die zahlreichen Briefe, die Wilson von seinen Verkaufsreisen an Freunde und Bekannte schrieb, dienen noch heute als aussagekräftige Quellen für Gesellschaft und Wirtschaft in den Anfangsjahren der USA. 1809 dehnte er den Radius seiner Werbereisen bis nach Florida aus und legte den gesamten Weg zu Fuß zurück. 1810 befuhr er mit einem kleinen Boot den Ohio River. In Louisville (Kentucky) traf er auf den einige Jahre jüngeren John James Audubon, den anderen großen amerikanischen Ornithologen dieser Zeit. Seine Reisebeschreibungen über den Weg nach Nashville nahmen teilweise den Charakter einer Lederstrumpf-Erzählung an. Ende 1810 erschien mit einiger Verspätung der zweite Band der American Ornithology, in den folgenden zwei Jahren kamen jeweils zwei Bände heraus. Wilson lebte zu diesem Zeitpunkt meistens im Haus von William Bartram in Gray’s Ferry. Inzwischen war er in den gebildeten Kreisen der USA zu einer populären Erscheinung geworden: Im März 1812 wurde er Mitglied der Gesellschaft der Künstler der Vereinigten Staaten und ein Jahr später der philosophischen Gesellschaft von Philadelphia. 1812 oder 1813 muss Wilson sich mit Sarah Miller, der Schwester des Kongressabgeordneten aus Pennsylvania verlobt haben. Die letzten Jahre Im September 1812 brach Wilson zu seiner letzten Verkaufsreise in die Staaten von Neuengland auf, wo er allerdings wenig Erfolg hatte. Wissenschaftlich hatte er sich zu diesem Zeitpunkt bereits verstärkt den Wasservögeln zugewandt, die den Schwerpunkt der letzten Ornithology-Bände bilden sollten. 1813 erschien der siebte Band. Kurz darauf brach Wilson zusammen mit George Ord zu einer Reise nach Great Egg Harbour auf, um dort Wasservögel zu beobachten. Während dieser vier Wochen dauernden Reise scheint sich Wilsons Gesundheit, die nie besonders robust gewesen war, stark verschlechtert zu haben. Etwa zu diesem Zeitpunkt kündigten nach mehreren vorausgegangenen Auseinandersetzungen sämtliche Zeichner, die für die Kolorierung von Wilsons Zeichnungen zuständig gewesen waren. Wilson übernahm die Fertigstellung des achten Bandes selbst und begann gleichzeitig sowohl am letzten Band der American Ornithology als auch an einem Projekt über Säugetiere zu arbeiten. Damit belastete er seine Gesundheit offenbar zu sehr. Im August 1813 erkrankte er, nachdem er auf der Jagd nach einem Vogel durch einen Fluss gewatet war, an der Ruhr und starb am Ende des Monats. Obwohl er verfügt hatte, dass er „dort, wo die Vögel über mir singen“ begraben werden sollte, befindet sich sein Grab auf den Friedhof der Schwedischen Kirche in Philadelphia. Die Testamentsvollstrecker waren George Ord und Wilsons Verlobte Sarah Miller. Der achte und neunte Band der American Ornithology erschienen bis 1814 unter der Herausgeberschaft von George Ord, der dem letzten Band eine kurze Biografie Wilsons hinzufügte. Insgesamt stellte das Werk 268 Vogelarten vor, von denen 26 zuvor noch nicht beschrieben worden waren. Mehrere amerikanische Vogelarten wurden nach Wilson benannt, darunter Wilson's Storm-petrel (Buntfuß-Sturmschwalbe), Wilson's Plover (Dickschnabel-Regenpfeifer) und Wilson's Phalarope (Wilson-Wassertreter). Charles Lucien Bonaparte, der 1831 eine vierbändige Auflage der Ornithology in Edinburgh betreute, benannte die Waldsänger-Gattung Wilsonia mit den drei Arten Kanadawaldsänger, Kapuzenwaldsänger und Mönchswaldsänger nach ihm. Letztlich verschwand Wilsons Werk relativ schnell aus der öffentlichen Wahrnehmung, da die ab 1827 erscheinenden Birds of America von John James Audubon erheblich populärer wurden. 1935 wurde der Mondkrater Wilson nach ihm, Charles Thomson Rees Wilson und Ralph Elmer Wilson benannt. The Wilson Ornithological Society 1888 schlossen sich Vogelfreunde zur Wilson Ornithological Society zusammen. Heute hat sie rund 2500 Mitglieder und versteht sich als Gemeinschaft von engagierten Amateur-Vogelbeobachtern. Werke (Auswahl) Naturforschung American Ornithology. Neun Bände. Bradford and Inskeep, Philadelphia 1808–1814. Lyrik Poems. J. Neilson, Paisley 1790. Poems, Humorous, Satirical, and Serious. 2. Auflage. P. Hill, Edinburgh 1791. Poems Chiefly in the Scottish Dialect by Alexander Wilson with an Account of His Life and Writings. J. Neilson, Paisley 1816. The Poetical Works of Alexander Wilson. J. Henderson, Belfast 1844. The Poems and Literary Prose of Alexander Wilson. Ed. Rev. Alexander Balloch Grosart. 2 Bd. Alexander Gardner, Paisley 1876. Literatur Robert Cantwell: Alexander Wilson – Naturalist and Pioneer. J.B. Lippincott Company, Philadelphia 1961. Clark Hunter: The Life and Letters of Alexander Wilson. American Philosophical Society, Philadelphia 1983, 1984, ISBN 0-87169-154-X. Edward H. Burtt, William E. Davis: Alexander Wilson. The Scot who Founded American Ornithology. Harvard University Press, Cambridge 2013, ISBN 978-0-674-07255-8. Weblinks Galerie mit vielen Bildern aus der Ornithology The Wilson Ornithological Society Pennsylvania Center for the book Suchmaske für elektronische Ausgaben des Wilson Bulletins. Enthält auch biografische Artikel über Alexander Wilson. Einzelnachweise Ornithologe Autor Lyrik Literatur (Englisch) Literatur (18. Jahrhundert) Person als Namensgeber für einen Mondkrater US-Amerikaner Person (Paisley) Brite Schotte Geboren 1766 Gestorben 1813 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Palais%20Thurn%20und%20Taxis
Palais Thurn und Taxis
Das Palais Thurn und Taxis in Frankfurt am Main, gelegentlich auch Bundespalais genannt, wurde 1731 bis 1739 von Robert de Cotte im Auftrag des Reichserbgeneralpostmeisters Fürst Anselm Franz von Thurn und Taxis erbaut. Das Palais hat eine sehr wechselvolle Geschichte: 1748 wurde es Sitz der Hauptverwaltung der von den Thurn und Taxis betriebenen Kaiserlichen Reichspost, 1805 bis 1813 Residenz des Fürstprimas und Großherzogs von Frankfurt Karl Theodor von Dalberg. Nach der Wiederherstellung der Freien Stadt Frankfurt tagte hier 1816 bis 1866 der Bundestag des Deutschen Bundes. 1895 verkaufte Fürst Albert I. von Thurn und Taxis das Palais an die Reichspost, nachdem er die Innenausstattung in sein Schloss Emmeram in Regensburg hatte verbringen lassen, wo sie sich heute noch befindet. 1993 erwarb der Freistaat Bayern Stücke der Fürstlichen Schatzkammer zur Begleichung von Erbschaftssteuern, darunter wiederum auch Teile der Innenausstattung des Frankfurter Palais. Sie sind heute im Museum zu sehen. 1905 übernahm die Stadt Frankfurt das Palais und richtete darin 1908 das Völkerkundemuseum für die Sammlungen des Afrikaforschers Leo Frobenius ein. 1943 und 1944 wurde das Palais bei mehreren Bombenangriffen stark beschädigt; ein guter Teil der Substanz blieb allerdings erhalten, z. B. Reste von Deckenmalereien und Stuck. Obwohl ein Wiederaufbau möglich gewesen wäre, wurde der Bau 1951 inklusive der Portalbauten für den Neubau des Fernmeldehochhauses abgerissen. Die Portalbauten wurden dann im Zuge der Baumaßnahmen des Fernmeldehochhauses unter anderem mit modernen Stahlbetondecken, aber ohne Mansarddächer unter Verwendung der zuvor gesicherten Sandsteinteile wiedererrichtet. Von 2004 bis 2009 wurde es als Teil des Investitionsprojektes Palaisquartier mit verändertem Grundriss rekonstruiert. Entwickler war die niederländische MAB in einem Joint Venture mit BPF, die verantwortlichen Architekten waren KSP Engel und Zimmermann. Im Gebäude befinden sich heute Geschäftsräume und Läden. Geschichte Familie Thurn und Taxis kommt nach Frankfurt 1724 verlegte Fürst Anselm auf Wunsch von Kaiser Karl VI. seine Residenz von Brüssel nach Frankfurt, wo sich bereits seit 1610 die wichtigste Niederlassung der Kaiserlich Thurn und Taxisschen Post im Reich befand. Obwohl der Kaiser diese Nachricht persönlich am 19. September 1724 dem Rat der Stadt Frankfurt übermittelte, sträubte dieser sich gegen die Ansiedelung des Fürstenhauses; das streng lutherische Patriziat wollte keinen Fürsten in den Mauern der Reichsstadt dulden, schon gar keinen katholischen. Fürst Anselm erwarb die für den Bau notwendigen Grundstücke in der damals noch locker bebauten Neustadt deshalb über einen Strohmann, den Weinhändler Georg Friedrich Lind, einen der wenigen Frankfurter Katholiken, die das Bürgerrecht besaßen und Grundstücksgeschäfte tätigen konnten. Für 30 000 Gulden (etwa das hundertfache Jahresgehalt eines städtischen Beamten) kaufte Lind der Witwe des Obristleutnants Winter von Güldenbronn ihr Anwesen Zum weißen Hof in der Großen Eschenheimer Gasse ab. Als er den Kauf am 25. Juli 1724 im Währschaftsbuch im Römer eintragen ließ, offenbarte er dem Rat, wer sein Auftraggeber war. Der Rat legte ihm dies als arglistige Täuschung aus und erteilte Lind einen strengen Verweis, daß er sich hatte unterfangen mögen, wider seine bürgerlichen Pflichten zu dießem Kauff seinen Nahmen zu spendieren. Trotz eines versöhnlichen Briefes des Fürsten, der auf die großzügige Dotation seiner Hofhaltung verwies und die Vorteile herausstrich, die der Bürgerschaft daraus erwachsen würden, blieb der Rat über Jahre bei seinem hartnäckigen Widerstand. Im Dezember 1724 forderte Kaiser Karl VI. die Stadt zur Befreyung des Grundstücks auf, blieb hiermit aber ebenso erfolglos wie der Mainzer Erzbischof Lothar Franz von Schönborn, der sich als Vermittler einschaltete. Erst im März 1729 schloss der Rat auf Druck des Kaisers einen Vergleich. Der Vertrag zu Bezeugung einer gegen allerhöchste kaiserliche und königliche Majestät allerunterthänigster Devotion umfasste 17 Paragraphen. Detailliert wurde u. a. geregelt, beim Bau des Palais nur Frankfurter Handwerker zu beschäftigen, keinesfalls einen öffentlichen Getränkeausschank durch den Hausmeister zu betreiben, flüchtigen Verbrechern kein Asyl am fürstlichen Hof zu gewähren, den fürstlichen Grundbesitz nicht weiter zu vergrößern und das Schloss beim Verkauf nur in bürgerliche Hände zu geben. Fürst Anselm unterzeichnete den Vertrag am 25. März 1729 in Brüssel. Er war 48 Jahre alt und hatte durch die Hinhaltetaktik des Rates fünf Jahre verloren. Bau des Palais Bereits Mitte 1727 hatte er sich wegen der Planung des Palais unter Zusendung eines vorläufigen Bauprogramms mit Skizzen an Robert de Cotte, den führenden Architekten Frankreichs, gewandt. Wahrscheinlich hatte er dessen Bauten in Paris und in Bonn kennengelernt. De Cotte schrieb ihm am 8. September 1727 ein Gutachten mit den Plänen für ein großzügiges Hôtel, das nicht nur architektonische Konkretisierungen, sondern auch praktische Anforderungen etwa seitens des Hoflebens enthielt. Der Hofstaat des Fürsten umfasste 160 Diener, 50 Beamte der Postverwaltung und 80 Pferde. Sie alle unterstanden zum Ärger des Rates nicht der städtischen Gerichtsbarkeit, sondern dem Fürsten persönlich. De Cotte hatte die Kosten für den Rohbau auf etwa 90 000 Gulden geschätzt. Der Voranschlag wurde trotz der peniblen Rechnungsprüfung durch den fürstlichen Bauleiter Guillaume d’Hauberat deutlich überschritten. D’Hauberat war kurpfälzischer Baumeister zu Mannheim und war neben mehreren jährlichen Inspektionen der Baustelle auch mit der Bearbeitung der Baupläne beauftragt. Die Wahl fiel auf ihn, da Fürst Anselm mit dem kurpfälzischen Hof in verwandtschaftlichen Beziehungen stand: Kurfürst Karl Philipp, der um 1725 beim Schlossbau in Mannheim eine große Anzahl der besten Künstler ihrer Zeit beschäftigte, hatte nach dem Tod seiner zweiten Gemahlin 1712 die taxissche Prinzessin Violanta Therese geheiratet. Schon die Mitte 1727 an de Cotte gesandten Skizzen des Palais stammten vermutlich aus der Feder d’Hauberats. Ein Vergleich zwischen den erhaltenen Skizzen und dem fertigen Bau offenbart, dass die Baupläne wohl noch mehrfach überarbeitet wurden, bis offensichtlich zwischen April 1729 und Juni 1731 eine endgültige Fassung vorlag. Fürst Anselm beschloss am 19. September 1731 das Bauvorhaben und einen die Pflichten der Bauleitung sowie Honoraransprüche d’Hauberats regelnden Vertrag. Demnach erhielt dieser für seine Aufgabe 4 000 Gulden. Trotz dem mit der Stadt beschlossenen Vertrag verhandelte d’Hauberat bereits im Juni 1731 nicht nur mit Frankfurter, sondern auch mit Mannheimer Steinmetzen und Zimmerleuten, die zu günstigeren Preisen arbeiteten. Nach einem hieraus erwachsenen Streit, den der Rat der Stadt durch einen Vergleich der Parteien am 8. September 1731 schlichtete, setzten die Frankfurter Handwerker ihre Forderungen etwas hinab und erhielten so den Auftrag über insgesamt 21 Positionen, ausgewiesen mit Zeichnungen und Preisen. Verträge mit weiteren Handwerkern sind nicht überliefert. Insgesamt haben sich nur zwei Schlussrechnungen erhalten, die des Maurermeisters Adam Schäffer über fl. 44 916 für die Jahre 1733 bis 1736 und die der Steinmetzmeister Simon Arzt und Franz Barban über fl. 29 382 für 1735 bis 1742. De Cotte hatte die Ausgaben für diese beiden Gewerke zusammen auf rund 37 000 Gulden geschätzt. Ein Ratsprotokoll vom 28. August 1731 bezeichnet das „bevorstehende Frühjahr“ als Bauanfang; auch die vorgenannte Rechnung von Schäffer belegt, dass bereits im Dezember 1731 mit dem Ausheben der Baugrube begonnen wurde. Kaum war mit dem Bau des zentralen Corps de Logis begonnen worden, als der Fürst am 21. Juli 1732 beim Rat der Stadt um Erlaubnis zum Kauf der Liegenschaft des Schreinermeisters Fischer in der Kleinen Eschenheimer Gasse bat. Nach langen Verhandlungen stimmte der Rat unter der Bedingung zu, der Fürst solle sich bezeugen und für sich und seine Erben zusagen, niemals wieder Raum zu beanspruchen. In den folgenden Jahren wiederholten sich immer wieder verschiedenste Streitigkeiten mit Anwohnern und Handwerkern, mal wegen angeblicher Missachtung von Brandschutz- oder Lichtvorschriften, mal weil der Fürst erneut gegen das Gebot verstieß, einzig Frankfurter Handwerker zu beschäftigen. All dies zog den Bau wesentlich in die Länge. Die tatsächlichen Baukosten lassen sich nicht mehr ermitteln, zumal noch beträchtliche Aufwände in den Innenausbau des Palais flossen. Über die Rechnungen wurde im Nachhinein noch lange verhandelt. Erst 1743 waren alle Rechnungen für den Bau bezahlt, der 1734 im Rohbau fertig gewesen war und 1739 bezugsfertig. Mit der Ausschmückung seines Palais beauftragte der Fürst zwei bedeutende Künstler, den Bildhauer Paul Egell und den Maler Luca Antonio Colomba. Egell war zuvor kurpfälzischer Hofbildhauer in Mannheim gewesen, Colomba 1715 bis 1717 Hofmaler des Herzogs Eberhard Ludwig von Württemberg. Er hatte u. a. die Wandgemälde für das Residenzschloss Ludwigsburg ausgeführt. Palais als Sitz des Hauses Thurn und Taxis Fürst Anselm pendelte während der Bauzeit häufig zwischen Brüssel und Frankfurt. Wenn er nicht in Frankfurt war, nahm er durch tägliche Briefe an seine Bauleiter mit pedantischem Eifer Einfluss auf jedes Detail des Baufortschrittes. Bereits 1737 nahm er eine Wohnung im Erdgeschoss des Hauptbaus. Aus den Berichten des französischen Diplomaten Blondel, der zu dieser Zeit in verschiedenen deutschen Großstädten verkehrte, und auch in Frankfurt häufig Gast war, lässt sich das Leben im Palais rekonstruieren. Demnach hatte der Fürst einen Palastmarschall, ein Gefolge von fünf bis sechs Edelleuten sowie Pagen und Bedienstete im Überfluss. Täglich kamen rund 25 Personen zur Tafel, die reichlich bedient wurden. Offenbar dauerte die Table d’hôte häufig bis in die frühen Morgenstunden. Die Gesellschaft wurde von eigenen Musikern und Schauspielern im hauseigenen Theater unterhalten. Die Herzogin von Württemberg, eine Tochter des Fürsten, sorgte für Unruhe, wenn sie nach Mitternacht mit Gesellschaft durch die Stadt zu ziehen pflegte und die Bewohner mit Trompeten und Pfeifen aus dem Schlaf schreckte. Dies sorgte schnell für erneuten heftigen Streit zwischen Stadt und Fürstenhaus. Als man nach einigen weiteren Vorfällen gar drohte, den Fürsten, wenn er die Brücke passiere, mit Pferd und Wagen in den Main zu werfen, beklagte sich der Fürst beim Kaiser höchstpersönlich, der die Stadt deshalb streng verwarnte. Fürst Anselm erlebte die endgültige Fertigstellung seines Palais nicht mehr: Er starb am 8. November 1739 in Brüssel. Sein Sohn Alexander Ferdinand verlegte alsbald seine Residenz in das neue Palais. Er entfaltete offenbar eine glänzende Hofhaltung, denn seit seiner Zeit wurden keinerlei Beschwerden über das Gebaren des Fürstenhauses mehr dokumentiert. Bereits nach kurzer Zeit nahm er aktiv Einfluss auf die Reichspolitik, indem er die Wahl seines Freundes Karl Albrecht von Bayern zum Kaiser betrieb. Am 12. Februar 1742 wurde Karl Albrecht in Frankfurt als Karl VII. zum Kaiser gekrönt. Wegen des Österreichischen Erbfolgekrieges nahm er als einziger Kaiser auch seine Residenz in Frankfurt – im Barckhausenschen Palais auf der Zeil, Garten an Garten mit dem Palais Thurn und Taxis. Während seiner Zeit in Frankfurt erhob Karl das Postgeneralat der Fürsten von Thurn und Taxis zum Thronlehen. Seinen Freund Alexander Ferdinand ernannte er zum Kaiserlichen Prinzipal-Kommissar und machte ihn zu seinem persönlichen Vertreter beim Immerwährenden Reichstag in Regensburg. Nach dem überraschenden Tod Karls VII. am 20. Januar 1745 fiel die Kaiserkrone wieder an das Haus Habsburg. Das brachte Alexander Ferdinand in Bedrängnis, da er sich gegen den Vorwurf des Verrats zu verteidigen hatte. Es gelang ihm jedoch durch eine Huldigung vor der Kaiserin Maria Theresia seine Stellung wieder zu festigen. 1748 bestätigte sie seinen Rang als Prinzipal-Kommissar. Daraufhin verlegte er seine Residenz für immer nach Regensburg. Das Frankfurter Palais blieb noch bis 1867 Sitz der General-Postdirektion. Palais nach dem Ende der Hofhaltung Auch nach der Verlegung des Thurn und Taxisschen Hofes blieb das Palais im Besitz der Fürstenfamilie. Als repräsentativstes Wohnhaus in der bürgerlichen Stadt mit ihrer ansonsten bescheidenen Architektur war es als vornehmes Gästehaus sehr begehrt. Am 2. Januar 1759 im Siebenjährigen Krieg besetzten französische Truppen unter der Führung des Herzogs de Broglie Frankfurt. Der Herzog richtete sein Hauptquartier im Palais ein, seine Dienerschaft wurde in den Nachbarhäusern untergebracht. Um ihr einen schnellen Zugang in das Palais zu erlauben, wurde in eine Mauer, die an das Haus des Kutschers Gerlach stieß, eine Öffnung gebrochen. Im Namen des Herzogs bat der französische Stadtkommandant, Graf Thoranc, den Rat um eine Erlaubnis hierzu und versprach zugleich, beim Abzug alles wieder in den Ursprungszustand zurückzuversetzen. Als die Franzosen im Frühjahr 1762 wieder aus Frankfurt abzogen, hatte der Bau erheblichen Schaden gelitten. Kamine und Fußböden waren verdorben, Teile der Einrichtung demontiert worden. Der Herzog von Broglie musste für die Schäden aufkommen, wie aus einer Liste vom 20. Juni 1761 hervorgeht. Es dauerte bis 1764, die Schäden zu beheben. Bei der von Johann Wolfgang Goethe in Dichtung und Wahrheit beschriebenen Kaiserkrönung Josephs II. bezogen die Habsburger mit ihrem Hofstaat das Palais, ebenso wie bei den späteren Krönungen Leopolds II. (1790) und Franz II. (1792). Offenbar kam es 1764, eventuell auch schon 1745, als das Palais anlässlich der Feierlichkeiten den Sammelpunkt verschiedenster fremder Fürstlichkeiten bildete, erneut zu Beschädigungen der Inneneinrichtung. Dies war nicht unproblematisch, als in diesem Falle von den Verursachern kein Schadensersatz eingefordert werden konnte. Interessant im Zusammenhang mit den vorgenannten Beschädigungen und den anschließenden Reparaturarbeiten ist, dass die fürstliche Kanzlei ihre seit Bau des Palais bestehende ablehnende Haltung gegenüber dem Frankfurter Handwerk aufrechterhielt. Der fürstliche Geheimrat Berberich schrieb 1763 in einem Bericht: „Ich kenne die verwegenen Handwerker der Stadt ziemlich genau, und ihre Höfflichkeit nebst ihrer unbändigen Anforderung ist auch bekannt; das beste ist, daß diese Arbeit nicht lange währet und wenig kosten kann.“ Verwalter des Thurn und Taxisschen Besitzes war von 1770 bis 1794 der Hofrat Johann Bernhard Crespel, ein Jugendfreund Goethes, den E.T.A. Hoffmann in seiner Novelle Rat Krespel und Jacques Offenbach in seiner Oper Hoffmanns Erzählungen verewigten. Am 25. Mai 1789 vermählte sich Karl Alexander, der Erbprinz von Thurn und Taxis, mit Herzogin Therese Mathilde von Mecklenburg-Strelitz. Da das Paar den Wohnsitz in Frankfurt nehmen wollte, wurde das Palais von Grund auf saniert. Stadtbaumeister Johann Georg Christian Hess fertigte ein auf den 16. August 1791 datiertes Gutachten, das die Reparaturkosten auf 3 500 Gulden schätzte. Der Auftrag wurde im September desselben Jahres an verschiedene Frankfurter Meister vergeben und blieb in seinen Kosten schließlich unter dem Voranschlag. Bei der Kaiserkrönung Franz II. im März 1792 konnte der Fürst von Thurn und Taxis die fürstliche Gesellschaft nach den gerade abgeschlossenen Reparaturarbeiten somit in einem in neuem Glanze erstrahlenden Palais empfangen. Prinzessin Therese empfing auch ihre Schwestern, Prinzessin Luise von Mecklenburg-Strelitz, die spätere Königin Luise, und Prinzessin Friederike. Anders als viele andere Mitglieder der während der Krönung anwesenden Gesellschaften wohnten sie nicht im Palais, sondern waren bei Goethes Mutter Catharina Elisabeth im Goethe-Haus untergekommen. Goethe selbst erwähnte das Palais Thurn und Taxis in seinen Werken mit keinem Wort. Warum er stattdessen das in der Nähe gelegene Schweitzersche Palais ausführlich beschrieb und sogar ein Modell davon fertigen ließ, ist ungeklärt. Palais als Residenz des Großherzogs Während der Koalitionskriege blieb das Palais zunächst Sitz der Fahrenden Post. Erst 1806 rückte es wieder in den Mittelpunkt des politischen Geschehens: Nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches erhielt der Fürstprimas des Rheinbundes, Karl Theodor von Dalberg, von Kaiser Napoléon ein eigenes Fürstentum. Es wurde aus den östlich des Rheins liegenden ehemaligen kurmainzischen Gebieten, der Reichsstadt Frankfurt und dem Fürstbistum Fulda gebildet. Fürst Karl Theodor residierte zumeist im Aschaffenburger Schloss. Dalberg verlieh dem Fürsten Karl Alexander von Thurn und Taxis namens der Rheinbund-Staaten die „Würde und das Amt eines Erblandpostmeisters“ als Thronlehen. Im Gegenzug erhielt der Fürstprimas das Palais Thurn und Taxis auf 15 Jahre zur kostenlosen Nutzung überlassen sowie zusätzlich eine jährliche Rente von fl. 12 000, die er zu mildtätigen Zwecken bestimmte. Ihm zu Ehren wurde die Große Eschenheimer Gasse in Carlsgasse und das Eschenheimer Tor als Carlstor umbenannt. 1810 wurde Dalberg Großherzog des kurzlebigen Großherzogtums Frankfurt. Bereits am 2. November 1813 musste er Frankfurt für immer verlassen. Bundespalais Aufgrund eines Geheimvertrages zwischen Österreich und Bayern vom 8. Oktober 1813 sollte Frankfurt nach der Niederlage Napoleons eigentlich an Bayern fallen. Der Frankfurter Diplomatie gelang es jedoch, den preußischen Minister Freiherr vom Stein zu überzeugen, sich im Interesse Preußens für die Wiederherstellung der städtischen Freiheit zu verwenden. Der Wiener Kongress beschloss letztlich die Bildung einer Freien Stadt Frankfurt und bestimmte am 8. Juni 1815 in der Bundesakte das Palais zum Sitz des Bundestages, der Versammlung der 41 Staaten des Deutschen Bundes. Seitdem führte es den Namen Bundespalais. Fürst Karl Alexander von Thurn und Taxis erhielt für seine Überlassung eine jährliche Miete. Die Öffentlichkeit war von den Sitzungen der Bundesversammlung ausgeschlossen. Ihr Vorsitzender, der österreichische Gesandte beim Deutschen Bund, hatte seine Privatwohnung im Bundespalais. Nach der Märzrevolution 1848 stellte die Bundesversammlung ihre Arbeit vorerst ein. Stattdessen belegte die am 24. Juni 1848 von der Frankfurter Nationalversammlung eingesetzte Provisorische Reichsregierung für kurze Zeit das Bundespalais. Nach dem Scheitern der Revolution wurden 1849 die früheren Verhältnisse wiederhergestellt. Ende 1850 bezog die Bundesversammlung wieder das Palais. 1851 bis 1859 war Otto von Bismarck preußischer Gesandter beim Deutschen Bund. Die Arbeit der Versammlung wurde mehr und mehr durch den preußisch-österreichischen Gegensatz gelähmt. Der Einladung des österreichischen Kaisers Franz Joseph I. zu einem Fürstentag, einer Versammlung aller deutschen Fürsten in Frankfurt, folgten 1863 alle Staaten des Bundes außer Preußen, dessen König Wilhelm I. auf Anraten Bismarcks fernblieb. Damit war der Bruch Preußens mit dem Deutschen Bund de facto vollzogen, es strebte einen kleindeutschen Bundesstaat unter preußischer Führung an. Im Jahr 1866 brach der preußisch-österreichische Krieg aus, in dem Frankfurt formal bundestreu und neutral blieb, damit aber von Preußen als Kriegsgegner betrachtet wurde. Am 16. Juli 1866 rückte die Preußische Mainarmee unter General Ernst Eduard Vogel von Falckenstein kampflos in die Stadt ein und legte ihr sogleich härteste Kontributionen auf. Der letzte Bürgermeister der Freien Stadt, Karl Konstanz Viktor Fellner, nahm sich aus Verzweiflung über die Gewaltmaßnahmen das Leben, der Chefredakteur der von der Thurn und Taxisschen Post seit 1616 herausgegebenen Frankfurter Oberpostamtszeitung wurde verhaftet und erlitt bei seiner Vernehmung durch preußische Militärs einen tödlichen Schlaganfall. Stadt übernimmt das Palais Am 30. Juni 1867 endete die Geschichte der von den Thurn und Taxis betriebenen Post. In das Palais Thurn und Taxis, das im Besitz der fürstlichen Familie blieb, kehrte Ruhe ein. Gelegentlich fanden hier noch Ausstellungen statt, so 1875 eine Historische Ausstellung kunstgewerblicher Erzeugnisse und 1879 eine Pflanzenausstellung des Verbandes Rheinischer Gartenbau-Vereine. Danach begann die allmähliche Räumung des Palais. Kunstwerke, Möbel, Skulpturen, Gobelins und andere Ausstattungsgegenstände, darunter ganze Gartenpavillons, wurden nach Regensburg abtransportiert. Vom früheren Glanz des Palais war wenig übrig geblieben. Am 1. April 1895 verkaufte das Haus Thurn und Taxis das Palais für 1,5 Millionen Mark an die Reichspost, die bereits auf der Zeil das Rothe Haus und den Russischen Hof übernommen hatte, ein klassizistisches Meisterwerk von Nicolas de Pigage. Die Häuser an der Zeil sowie das hinter ihnen gelegene Stallgebäude und die Reithalle des Palais wurden abgerissen und an ihrer Stelle die kaiserliche Hauptpost im Gründerzeitstil der Neurenaissance errichtet. Auch im Palais wurden eine Reihe von Umbauten vorgenommen, um es für die Briefträgerabfertigung und die Rechnungs- und Geschäftsstelle für den Telegraphen- und Fernsprechbetrieb herzurichten. Der Magistrat wandte sich auf Bitten engagierter Bürger an die Reichspost, um eine weitere Verschandelung des Baudenkmals zu verhindern. Da die Post zu keinen Zugeständnissen bereit war, die einen finanziellen Mehraufwand außerhalb ihres gesetzlich festgelegten Aufgabenbereichs bedeutet hätten, verhandelte die Stadt daraufhin mit dem Ziel einer Übernahme des ganzen Gebäudekomplexes. Am 18. Mai 1905 wurde der Kaufvertrag unterschrieben. 1908 wurde das Palais als Völkerkundemuseum eingerichtet, zunächst mit den Sammlungen von Bernhard Hagen. In den 1920er Jahren wurde es um die Sammlungen des Afrikaforschers Leo Frobenius ergänzt. Ende des Palais 1943 wurde durch den Historiker Fried Lübbecke eine umfangreiche Dokumentation des Palais veranlasst. Dabei entstanden u. a. über 60 Farbfotos der kostbaren Deckengemälde von Luca Antonio Colomba. Am 4. Oktober 1943 wurde das Palais während der Luftangriffe auf Frankfurt am Main erstmals von Brandbomben getroffen. Das Dach der beiden Pavillons und des Corps de Logis gerieten in Brand; doch konnte das Feuer rasch gelöscht werden, bevor es großen Schaden anrichtete. Weitere Angriffe trafen das Palais am 20. Dezember 1943 und am 29. Januar 1944. Beim schwersten Bombenangriff auf Frankfurt am Abend des 22. März 1944 detonierte eine fast 4 000 kg schwere Luftmine im Treppenhaus des Corps de Logis. Die Druckwelle ließ die Hauptfassade in den Innenhof stürzen und warf die Arkaden der Flügelbauten um. Von der zum Garten gelegenen Rotunde blieb der größte Teil stehen. Die Telefonkabel in den Kellern des Palais waren unzerstört geblieben. Bereits kurz nach Kriegsende konnte die Post den Vermittlungsbetrieb wieder aufnehmen, obwohl die Gebäude der Hauptpost und des Telegraphen- und Fernsprechamtes völlig zerstört waren. 1948 plante die Post den Neubau eines Gebäudekomplexes mit einem 70 Meter hohen Hochhaus auf dem Gelände der ehemaligen Thurn und Taxisschen Post. Zunächst war dabei der Wiederaufbau des Palais geplant, doch stellte sich heraus, dass die Verlegung der unter dem Gebäude zusammenlaufenden Kabel einen Millionenbetrag gekostet hätte. Nach langen Verhandlungen stimmte die Stadtverwaltung daher einem Kompromiss zu. Das Corps de Logis und die Seitenflügel wurden niedergelegt, nur die Portalbauten an der Großen Eschenheimer Straße blieben in der alten Form erhalten. Diese waren allerdings Neubauten unter Verwendung der alten Sandsteinelemente gewesen, da die originalen Portalbauten im Zuge der Bauarbeiten der Hauptpost komplett abgetragen worden waren, um eine neue Unterkellerung zu ermöglichen. Anstelle der früheren Mansarddächer erhielten sie jedoch nunmehr eine Attika mit einer Balustrade. 2004 wurden auch die Portalbauten abgetragen, um Platz für die Baustellenzufahrt zu schaffen. Die erhaltenen Sandsteinelemente der ursprünglichen Bausubstanz wurden eingelagert. Sie wurden zum Zwecke des Wiederaufbaus des Palais in Pirna von einem Fachunternehmen gereinigt sowie ergänzt und seit Ende 2008 in das rekonstruierte Palais integriert. Lage und Umgebung Das Palais lag im Stadtteil Innenstadt an der Ostseite der Großen Eschenheimer Straße, die von der Hauptwache zum Eschenheimer Tor führt. Auf dem Gelände des ehemaligen Gartens und des 1951 abgerissenen Corps de Logis, des Zentralbaus des Palais, stand von 1952 bis 2003 das über 70 Meter hohe Fernmeldehochhaus. Es war eines der ersten in Stahlskelettbauweise erbauten Hochhäuser in Frankfurt und ein zentraler Knotenpunkt des deutschen Fernmeldenetzes. Südlich und östlich an das Hochhaus schlossen sich zwei Verwaltungsbauten von 33 und 40 Metern Höhe an. Auf dem Gelände arbeiteten in den sechziger Jahren zeitweise bis zu 5 000 Menschen. Mit dem Neubau einer Netzleitwarte neben dem Europaturm in Bockenheim verlor das Fernmeldehochhaus seine zentrale Bedeutung für das Netz der Deutschen Telekom. 2004 wurde der gesamte Gebäudekomplex für den Neubau des Palaisquartiers abgerissen. Das im Rahmen des Projektes errichtete neue Palais ist keine Rekonstruktion, sondern eine verkleinerte Kopie des ursprünglichen Gebäudes. Um die historische Bedeutung herauszustreichen, hat der zuständige Ortsbeirat dem rückwärtigen Platz zum Einkaufszentrum MyZeil, zum Nextower und dem Jumeirah-Hotel den Namen Thurn-und-Taxis-Platz gegeben. Das südlich gelegene Nachbargebäude, der Kaufhof an der Ecke Zeil/Hauptwache, stammt aus der Wiederaufbauzeit der 1950er Jahre. Architektur Das Palais gehörte der kunsthistorischen Epoche des Spätbarock an. Als letztes Werk de Cottes (zusammen mit dem Palais Rohan in Straßburg) zeigt es einen ausgereiften Stil, der den Zeitgenossen schon fast veraltet erschien. Beim Baubeginn war de Cotte schon über siebzig Jahre alt. Fürst Anselm hatte ihn wahrscheinlich in Paris kennengelernt und um ein Memorandum zum geplanten Bau seiner Residenz in Frankfurt gebeten. De Cotte antwortete ihm am 20. Oktober 1727: Zeichnungen von Robert de Cotte Die Entwürfe Robert de Cottes von 1730 sind erhalten und werden zusammen mit dem Nachlass des Architekten in der Pariser Bibliothèque Nationale verwahrt. Portalbauten Den zur Großen Eschenheimer Gasse gelegenen Portalbauten merkte man ihre Asymmetrie auf den ersten Blick nicht an. Obwohl der linke, nördliche Pavillon fünf Fensterachsen und der südliche, rechte sogar sieben hat, fasste de Cotte bei beiden Pavillons die zur Muschel der Einfahrt hin gelegenen inneren drei Achsen jeweils durch Lisenen zu einem Risalit zusammen und rückte sie um etwa einen halben Meter zur Straßenfront hin vor. Beide Risalite wurden zudem dadurch betont, dass sie Mansarddächer erhielten. Während die Fenster des Erdgeschosses jeweils vier Meter hoch waren, erreichten sie im ersten Stock nur 3,80 Meter, so dass die Pavillons etwas höher erschienen als sie tatsächlich waren. Die unteren Fenster hatten zudem ein etwas breiteres Gesims auf zwei Konsolen, während die Fenster des Obergeschosses nur einfach umrahmt waren. Alle Pavillonfenster waren einheitlich etwa zwei Meter breit, ihr Abstand etwa ein Meter, so dass das Maß zwischen zwei Fensterkanten jeweils genau die Hälfte des etwa sechs Meter hohen Geschosses betrug (gemessen bis zum Gurtgesims). Das Gurtgesims durchschnitt die vom Boden bis zum Dachgesims laufenden gequaderten Lisenen, so dass sie scheinbar ein Fundament für das obere Stockwerk bildeten. Dieses doppelte Gurtband ließ sich auch an den anderen Gebäudeteilen erkennen. Das Gurtgesims bestand aus einem vorspringenden Architrav und einer darunter liegenden Platte. Das darüberliegende Obergeschoss war kaum merklich um etwa vier Zentimeter gegenüber dem Erdgeschoss eingezogen. Um das Eingangsportal zu betonen, verlief die acht Meter hohe Hofmauer zwischen den Pavillons nicht gerade, sondern sprang in zwei Viertelkreisen zurück, denen sich zwei kurze, gerade Wandstücke, durch Lisenen abgetrennt, anschlossen. Die gesamte Wand der Muschel war etwa 26 Meter breit, wovon ein Drittel auf das Portal entfiel. Die von einem Rundbogen überspannte Toreinfahrt war drei Meter breit, was auch für die größten vierspännigen Karossen ausreichte. Die beiden hölzernen Portalflügel waren von dem ansonsten nicht hervorgetretenen Pariser Bildhauer Fressancourt gestaltet. 1893 wurden diese Türen nach Regensburg abtransportiert und durch ein schlichtes schmiedeeisernes Gitter ersetzt. Die Türen waren nach den Proportionen des Goldenen Schnitts gestaltet. Ein geschwungenes Segmentband unterteilte sie in zwei geschnitzte Felder, deren obere sich zur unteren sowie zur Gesamtfläche wie die Fibonacci-Zahlen 3:5:8 verhielten. Links und rechts des Portals befanden sich jeweils zwei vor die Wand gestellte Säulen von 5,11 Metern Höhe, die auf breiten Sockeln von 1,20 Metern Höhe lasteten. Basis und Kapitelle der Säulen entsprachen der toskanischen Ordnung Andrea Palladios. Das umlaufende Gurtband war oberhalb der Kapitelle gekröpft, so dass sich eine Plattform ergab. Sie trug einen steinernen Schild mit der Reichskrone, umhangen von der Kette des Goldenen Vlieses. Gegen den Schild springt von rechts ein Löwe, das Wappentier der aus dem lombardischen Valsassina stammenden Familie von Thurn und Taxis. Links und rechts der Wappengruppe stehen zwei von Putten umspielte Vasen. Diesen Portalschmuck schuf – ebenso wie das Tympanon mit dem Wappen des Fürsten – 1734/35 der Bildhauer Paul Egell. „Cour d’Honneur“ Hinter dem Portal öffnete sich der große Innenhof des Palais, die 30 Meter im Quadrat messende Cour d’honneur. Der nördliche und südliche Flügelbau waren jeweils von Arkadenreihen gesäumt, zwischen denen eine lichte Weite von 22 Metern blieb – groß genug, um mehrere zweispännige oder eine vierspännige Equipagen vorfahren zu lassen. Vom Portal her kommend, durchschritt man eine Säulenhalle, die von vier Säulenpaaren in toskanischer Ordnung gebildet wurde. Die Obergeschosse der Flügelbauten wiesen ebenfalls zum Untergeschoss korrespondiere Arkaden auf, die möglicherweise ursprünglich ebenfalls offen geplant waren, jedoch schon während der Bauzeit Fenster erhielten. Rechts und links des Ehrenhofes befanden sich zwei Nebenhöfe, die Basse Cours. Der nördliche, kleinere der beiden Höfe war der sogenannte „Küchenhof“. Hier lagen die Konditorei und die große Küche des Palais, darunter eine Sickergrube für die Küchenabwässer und die Aborte der Dienerschaft. Der südliche Hof, der „Kutschenhof“, war im Osten wie ein Hufeisen von dem langgestreckten Pferdestall umgeben, der Platz für zunächst 50 Pferde bot, nach einer Erweiterung sogar für 80. An das Stallgebäude grenzten eine einstöckige Reithalle und eine ebenfalls einstöckige Remise für die fürstlichen Kaleschen. Ein Brunnen sowie eine Dunggrube ergänzten den Hof, der sich auf diese Weise deutlich von dem benachbarten Ehrenhof abhob. Eine drei Meter breite Durchfahrt unter dem östlichen Flügelbau des Ehrenhofes verband die beiden Höfe miteinander, so dass die Kutschen vom Stall direkt am Corps de Logis vorfahren konnten. „Corps de Logis“ Der Corps de Logis, der Hauptbau des Palais, schloss den Ehrenhof nach Osten hin ab. Seine Westfassade war streng symmetrisch, mit einem über beide Geschosse ragenden Mittelrisalit und links und rechts davon jeweils drei Fensterachsen. Das umlaufende Gurtgesims teilte die Fassade horizontal, so dass das Obergeschoss mit dem Mansarddach scheinbar einen selbständigen Baukörper bildete. Der Mittelrisalit bestand aus einem Vestibül im Erdgeschoss, das von zwei toskanischen Säulen sowie links und rechts jeweils zwei flachen Pilastern flankiert wurde. Im Obergeschoss befand sich anstelle des Vestibüls ein großes Bogenfenster. Jeweils drei ionische Pilaster trugen das Frontispiz. Den Wappenschmuck dieses Giebeldreieckes schuf der Frankfurter Bildhauer Johann Bernhard Schwarzeburger mit seinen Söhnen. Die beiden Trophäen über den Ecken des Frontispizes stammen von Paul Egell. Auch zur Gartenfront gestaltete de Cotte eine vollkommen symmetrische Fassade aus insgesamt 18 Fensterachsen: in der Mitte einen vorgezogenen Kuppelbau von drei Achsen, links und rechts davon jeweils vier Fensterachsen, außen die wiederum leicht vorgezogenen, von gequaderten Ecklisenen eingefassten und durch zwei quergestellte Mansarddächer abgesetzten Eckrisalite mit ihren jeweils drei Fensterachsen. Die Fenster waren ursprünglich nach französischem Vorbild mit grün gestrichenen, ausstellbaren Klappläden versehen. Als die Läden um 1850 verschlissen waren, hatte man sie kurzerhand ersatzlos entfernt. Im ersten Stock waren die tief herunterreichenden Fenster mit schmiedeeisernen Brüstungsgittern geschützt, die 1892 ausgebaut und nach Regensburg gebracht worden waren. Für den Kuppelbau, die Rotunde, schuf de Cotte einen zierlichen, nur etwa 1,60 Meter tiefen Vorbau, um das Oval auszugleichen und eine zur Gesamtfront parallele Fassade zu bilden. Wie an der Hofseite trugen im Erdgeschoss jeweils zwei flache toskanische Pfeiler das weit vorkragende untere Gesims, auf dem im Obergeschoss zwei Paare ionischer Pfeiler standen. Darauf lag das um den ganzen Bau laufende Kranzgesims, darüber ein Frontispiz, welcher mit einer Kartusche aus den Initialen von Fürst Anselm Franz geschmückt war. Den Übergang von der Rotunde zum Schieferdach der Kuppel bildete eine steinerne Blendbalustrade, auf deren inneren Ecken zwei steinerne Vasen saßen. Auch der Giebel der Rotunde war ursprünglich mit zwei steinernen Vasen geschmückt, die jedoch schon vor 1880 so verwittert waren, dass man sie kurzerhand entfernte. Der obere Ring des Kuppeldaches war ebenfalls mit einer Vase gekrönt, die aus Gewichtsgründen nicht aus Stein gefertigt, sondern in Kupfer getrieben war. Trotz ihrer Höhe von acht Metern wirkte sie dadurch filigran. Anders als die schlichten Fenstergauben der Mansarden der Gartenfront waren die Fenster des Kuppeldachs mit geschnitzten Medaillonrahmen verziert. Besonders reich war der Rundbogen über der Flügeltür geschmückt, durch die man vom Garten aus den Rundbau betrat. Sein Schlussstein bestand aus einer steinernen Agraffe, von der aus nach beiden Seiten vergoldete Füllhörner ragten. Keller Sämtliche Bauten des Palais waren massiv unterkellert. Die Kellergewölbe – Kreuzgewölbe in den kleineren Räumen, Tonnengewölbe in den größeren – waren durchschnittlich über 3,50 Meter hoch, ihre Mauern sechs Frankfurter Werkschuh stark. Unter dem Corps de Logis lag der Weinkeller, der mehreren 1.200 Liter fassenden Stückfässern Platz bot, unter der Küche zwei Eiskeller, unter dem südlichen Pavillon eine Zisterne für die Waschküche und die Pferdetränke sowie zwei Sickergruben von jeweils etwa 40 Kubikmetern Fassungsvermögen. Garten Der barocke Garten war bereits von Robert de Cotte geplant worden. Er erstreckte sich zwischen der Kleinen Eschenheimer Gasse im Norden und der großzügigen Reithalle im Süden und war vollständig von einer sechs Meter hohen Mauer eingefriedet. De Cotte hatte zwei Teppichbeete links und rechts der Mittelallee vorgesehen. Die Beete wurden später durch Rasenflächen ersetzt, die von jeweils 16 kugelförmig beschnittenen Rotdornbäumen gesäumt waren. An der Ostwand des Gartens, genau in der Mittelachse des Palais, stand vor einem Scheinportal die Gloriette, ein kleiner Rundtempel auf vier Paar ionischer Säulen. Der Tempel beherbergte eine Marmorstatue, die der flämische Bildhauer Jerôme Duquesnoy geschaffen hatte. Duquesnoy war 1664 in Brüssel wegen erwiesener Unzucht mit Tieren verbrannt worden, so dass die Statue vorher entstanden sein muss. Sie befand sich also schon lange in Familienbesitz, als Fürst Anselm Franz sie nach Frankfurt mitbrachte. Die Statue zeigte nach den Inventarlisten die Kriegsgöttin Bellona, wird jedoch auch als Minerva bezeichnet. Wenn bei gutem Wetter die Türen des Corps de Logis offenstanden, konnte man sie vom Portal in der Großen Eschenheimer Gasse aus über eine Entfernung von gut 100 Metern sehen. Die Statue und das Tempelchen wurden 1890 abgebrochen und in Regensburg wiederaufgebaut. Der Tempel steht im dortigen Schlosspark, während die Statue einen Platz im Treppenhaus des neuen Schlosses erhielt. 1895 wurde die Gartenmauer abgebrochen, um der Postverwaltung Raum für den Bau einer Garage für die Postwagen zu schaffen. Dabei wurde das Scheinportal hinter dem ehemaligen Tempelchen in den Hof der zur gleichen Zeit errichteten Neuen Hauptpost übertragen und dort wiederaufgebaut. Innenräume des Corps de Logis Vestibül Vom Ehrenhof aus betrat man zunächst das Vestibül, eine 10 Meter breite, neun Meter tiefe und 5,50 Meter hohe Vorhalle. Links lag das Treppenhaus, geradeaus der Gartensaal und rechts der 12 Meter lange und acht Meter breite Speisesaal. Geradeaus führte eine Doppeltür in den Gartensaal, die Sala Terrena. Weil der Gartensaal einen ovalen Grundriss hatte, entstanden am Übergang zum Vestibül zwei schmale Zwickelräume. Der nördliche von beiden wurde als Garderobe genutzt, um die Überkleider der Gäste aufzunehmen. Der südliche Zwickelraum diente als Abstellkammer des fürstlichen Appartements und beherbergte unter anderem die chaises percées, die herrschaftlichen Nachtstühle. Die Decke der Vorhalle wurde von acht toskanischen Säulen aus Sandstein getragen, je zwei an den beiden Eingängen vom Hof und vom Gartensaal aus sowie zur Treppe und zum Speisesaal hin. Die vier ausgerundeten Ecken des Vestibüls wurden von je zwei Paaren eines Pilasters sowie einer Halbsäule mit gemeinsamen Basen und Kapitellen geschmückt. Über den Türen befanden sich Rundbögen aus Sandstein. Deren Kämpfer wurden von einem Zwischengesims verbunden, das die gesamten Wandflächen des Raumes in Zwei-Drittel-Höhe durchschnitt. Auf dem als Untersatz leicht vorgekröpften Kämpfergesims befand sich je eine von zwei Putten gehaltene, barocke Kartusche mit Fürstenkrone und Monogramm. Die Putten saßen auf einem aufwärts gebogenen, leicht geschwungenen und von der Kartusche unterbrochenen Giebelstück. Diese vollständig als Stuckaturen ausgeführten Verzierungen stammten von Paul Egell. Die glatte Decke ruhte mit einer durch Embleme zwischen Konsolen ausgefüllten, sehr flachen Voute direkt auf den Säulen. Gartensaal Fußboden und Sockel des Gartensaales waren reich mit rotem und schwarzem Marmor geschmückt. Die Pfeiler mit ihren ionischen Kapitellen und das umlaufende Gesims bestanden aus weißem und grünem Stuck. Die gesamte Einrichtung des Gartensaales, darunter auch die von Christian Georg Schütz um 1770 in Grisaille gemalten Sopraporten, wurde 1892 nach Regensburg gebracht, so dass bis auf die nackten Wände und die Stuckaturen nichts mehr an die frühere reichhaltige Ausstattung erinnerte. Die Stuckdecke wurde 1924 zerstört, als man den Fußboden des darüberliegenden Kuppelsaals verstärkte. Appartements im Erdgeschoss Vom Gartensaal aus führten Flügeltüren zu den Appartements an der Gartenseite des Corps de Logis. Im südlichen Flügel lag das Appartement des Son Altesse Seigneurale Monseigneur, die bescheidenere der beiden Wohnungen des Fürsten im Palais. Sie bestand aus einem zehn auf zwölf Meter messenden Vorzimmer, dem Schlafzimmer, einem großen und einem kleinen Cabinet mit Fenstern zum Kutschenhof sowie einem gefangenen Cabinet d’aisance für die fürstlichen Toilettenutensilien. Auf der anderen, nördlichen Seite des Gartensaals befand sich das Appartement de Son Altesse Madame, die Wohnräume der Fürstin. Dieses Appartement bestand aus Vorzimmer, Schlafzimmer, Grand Cabinet und Cabinet de Toilette. Nach Norden schloss sich an das Grand Cabinet der Fürstin die Galerie an, ein 16 Meter langer und vier Meter breiter Raum mit drei großen Fenstern entlang der Kleinen Eschenheimer Gasse. Er war reich mit Chinoiserien geschmückt, darunter lederne Tapeten sowie Wandbespannungen und Vorhänge aus Damast. Eine Fenstertür führte in den Garten. Die Galerie diente als privater Speiseraum (en petit comité) der fürstlichen Familie. Der Fürst pflegte jeden Morgen um 10 Uhr das zweite Frühstück gemeinsam mit seiner Gemahlin zu nehmen, die einzige Gelegenheit des Tages, die er mit ihr zusammen verbrachte. Das Cabinet de Toilette war ein sechs auf sechs Meter messende Zimmer zum Ankleiden sowie zum Pudern und Aufsetzen der Perücke. Ein kleines Fenster führte zur Basse cour, dem nördlichen Innenhof. Die Innenausstattung war komplett im indischen Stil gehalten. Eine Treppe führte von hier aus in das im Keller gelegene Badezimmer. Bäder in Privathäusern waren im 18. Jahrhundert noch ungewöhnlich, deshalb bereitete seine Ausführung den Frankfurter Handwerkern einige konstruktive Schwierigkeiten und dem Fürsten große Kosten. Das Bad bestand aus einem Vorraum und einer Badezelle von 3,60 auf 3,70 Metern. Hier stand die marmorne Badewanne, die von einem in die Mauer eingelassenen, vom Vorraum aus geheizten Ofen mit warmem Wasser versorgt wurde. Das Wasser wurde von Bedienten aus dem Brunnen unter der Basse cour in den Kessel gepumpt. Das gebrauchte Badewasser lief in die Grube unter dem Küchenhof, der auch die Abwässer der Küche und der zwei Aborte im Hof aufnahm. Treppenhaus Das Treppenhaus lag nördlich des Vestibüls, von wo aus es über zwei niedrige Stufen erreichbar war. Eine einläufige sandsteinerne Treppe führte in den ersten Stock hinauf. Die Stufenhöhe war mit 14 Zentimetern (ein halber Schuh) vergleichsweise niedrig, so dass sie bequem zu begehen war. Entsprechend der lichten Höhe des Erdgeschosses von 5,60 Metern hatte sie bis zum ersten Podest 18 Stufen, bis zum oberen Podest im Vorraum des Kuppelsaales weitere 20 Stufen. Die Decke des Treppenhauses war mit einem monumentalen Gemälde des Mannheimer Hofmalers Francesco Bernardini geschmückt. Es stellte eine Szene der Griechischen Mythologie dar, den Kampf der Götter und der Giganten: Die Söhne der Gäa türmen Berge aufeinander, um den Olymp zu ersteigen und das herrschende Göttergeschlecht zu vertreiben. Göttervater Zeus stürmt auf einem Adler reitend aus den Wolken heran und schleudert seine Blitze auf die aufrührerischen Giganten, unterstützt von der fackelschwingenden Hekate. Kronos, der Gott der Zeit, verbirgt sich hinter dunklen Wolken – nur an seiner Sense ist er erkennbar. Im Vordergrund kämpfen einige Riesen noch verzweifelt gegen ihren Untergang, während andere bereits mit zerschmetterten Gliedern gefallen sind. Das Gemälde entstand 1734/35, zusammen mit einem Altarbild und einem Deckenbild für die Hauskapelle des Fürsten. Das Altarbild zeigte den Besuch des Zacharias und der Elisabeth mit dem Knaben Johannes bei der Heiligen Familie. Während das Altarbild 1892 nach Regensburg kam und so den Zweiten Weltkrieg überstand, wurden die Deckengemälde 1944 zerstört. Anders als von den Wandgemälden Colombas gibt es von den Gemälden Bernardinis im Palais Thurn und Taxis keine Farbfotos. Wohnräume im ersten Stock Im südlichen Flügel lag ein zweites Appartement für den Fürsten, das Appartement du Maître. Es war vom Kuppelsaal aus zugänglich und entsprach im Grundriss dem Appartement du Monseigneur im Erdgeschoss, war aber reicher ausgestattet, wie eine Inventarliste des Schlossverwalters Duché vom 1. April 1756 beweist. Wahrscheinlich diente es ausschließlich zu repräsentativen Zwecken. Nach dem Vorbild des Hofes von Versailles wurde insbesondere das morgendliche Lever, das feierliche Erwachen und Ankleiden des Fürsten, mit außerordentlicher Pracht zelebriert. Es galt als besondere Ehre, zum Lever akkreditiert zu werden. Die Gäste warteten im Vorzimmer auf besonderen Stühlen und wurden einzeln vorgelassen, um andächtig einem der genau vorgegebenen Schritte der Einkleidung beizuwohnen und dabei ihre Anliegen vorzubringen. Die Räume entlang der Gartenfront bildeten eine langgezogene Zimmerflucht, die sogenannte Enfilade, die bei geöffneten Flügeltüren einen ungehinderten Blick durch alle Räume erlaubten. Über die Nutzung des nördlichen Appartements zu Lebzeiten des Fürsten Anselm Franz ist wenig überliefert. Laut der Inventarliste Duchés befand sich hier ein Garde Meubles, ein Möbellager. Hauskapelle Zur Hofseite hin, über dem Speisesaal gelegen und vom Treppenhaus über einen großzügigen Vorraum, das obere Vestibül, zugänglich lag die Hauskapelle der fürstlichen Familie. Die Decke der Kapelle war gleichfalls von Francesco Bernardini ausgemalt worden. Die allegorische Kampfszene in den Ausmaßen von zehn auf sechs Metern zeigte den Sieg der Wahrheit über die Laster der Lüge, der Verleumdung, des Klatsches und der Bosheit. Frau Wahrheit ruht nackt auf einer hellen Wolke, mit dem rechten Arm die Weltkugel stützend. Ein Engel kniet an ihrer linken Seite. Hinter ihr kniet Saturnus, dessen Sense zwei Putten ergriffen haben. Vor ihrem Angriff weichen die vier Laster zurück: die Bosheit, in der Hand eine giftspeiende Schlange, die Verleumdung, um deren Arme sich Schlangen ringeln, die nackte Lüge, die eine Maske in der Hand trägt und die Chronique Scandaleuse, eine Klatschtante mit Fledermausflügeln. Die ganze Szene wird von Minerva, der Göttin der Klugheit und Tapferkeit, wohlwollend beobachtet. Das Deckengemälde wurde 1944 zerstört, im Gegensatz zur übrigen Ausstattung der Kapelle, die 1892 in die Regensburger Residenz verbracht worden war. Kuppelsaal Prunkvollster Saal des ganzen Schlosses war der Kuppelsaal, der als einziger Raum bis zur Zerstörung weitgehend erhalten geblieben war. Eine zweiflügelige Tür führte vom oberen Vestibül aus hinein. Über der Tür befand sich eine Sopraporte von Paul Egell mit zwei Engeln, die sich um ein Füllhorn in ihrer Mitte lagern. Der Saal bildete eine Ellipse von 14 Metern in Längs- und 12 Metern in der Querachse. Drei jeweils vier Meter hohe Fenster ließen das Licht vom Garten aus in den Saal fallen. Die Wände gliederten sich in zwölf gleich breite pfeilerartige Lisenen, zwischen denen sich jeweils ein Fenster, eine Tür oder ein Kamin befand. Die Lisenen bestanden aus blaugrünem Stucco lustro, auf das weiße Kartuschen gesetzt waren. Jede Kartusche zeigte eine der zwölf olympischen Gottheiten, darüber befand sich ein Schild mit einem der zwölf Tierkreiszeichen sowie Attributen, die zu dem jeweiligen Monat passten. Die Seitenwände waren 8,50 Meter hoch bis zu einer umlaufenden Galerie, über der sich die Kuppel noch weitere 5,30 Meter zu einer Gesamthöhe von fast 14 Metern erhob. Die Kehle der Kuppel ruhte auf den zwölf Lisenen. Das Deckengemälde von Luca Antonio Colomba verstärkte diesen Raumeindruck noch. Es zeigte die antiken Götter, die dem Fürsten Anselm Franz und seiner Gemahlin Ludovika huldigen. Wiederaufbau Nach den Plänen des Architektenbüros KSP Engel und Zimmermann wurde das Palais 2004 bis 2009 als Teil des Palaisquartiers wiedererrichtet. Allerdings handelt es sich um keine originalgetreue Rekonstruktion, sondern eine verkürzte Kopie des ursprünglichen Gebäudes. Unter anderem wurden die Portalbauten nicht in ihrer ursprünglichen, asymmetrischen Form errichtet, sondern nur die beiden jeweils drei Fensterachsen umfassenden Risalite. Teile der historisch wertvollen Natursteinfassadensteine, die zuvor demontiert und in Sachsen eingelagert worden waren, fanden beim Wiederaufbau Verwendung. Anders als früher steht das neue Palais an allen Seiten frei, sodass die beiden Seitenflügel der Cour d’honneur nunmehr Schauseiten nach Norden bzw. Süden besitzen, die sie früher wegen der Nebenhöfe nicht hatten. Diese Fassaden wurden vollkommen neu entworfen. Schließlich musste auch die Gartenfassade des Corps de Logis vollkommen neu gestaltet werden, um sie an die geänderte Kubatur der Rekonstruktion anzupassen. Da der Corps de Logis nicht über die Breite der Straßenfront zur Großen Eschenheimer Straße hinausragt, musste er um fünf Fensterachsen schmaler ausfallen als das Original. Deshalb verzichtete man auf die Wiederherstellung der beiden Eckrisalite. Stattdessen erhielten die Fassaden links und rechts der Rotunde jeweils fünf statt vier Fensterachsen. Das neue Palais wird als Restaurant und Veranstaltungszentrum, die Flügelbauten auch für Büros und Geschäfte genutzt. Der Kuppelsaal soll möglichst originalgetreu – einschließlich des Deckengemäldes – wiedererstehen. Bei einer Aktualisierung der Internetpräsenz des Projektes im Frühjahr 2009 wurden allerdings sämtliche zuvor existierenden Verweise auf eine Wiederherstellung von Innenräumen entfernt. Zeitweilig wurde gemutmaßt, dass die Gestaltung aufgrund der Finanzkrise komplett entfalle. Ende 2009 tauchten jedoch Bilder auf der Internetpräsenz eines Unternehmens auf, das u. a. bereits an Rekonstruktionen am Neumarkt in Dresden beteiligt war, die deutlich erkennbar bereits aufwändig ausgeführte Stuckarbeiten aus dem Kuppelsaal – allerdings noch ohne das Deckengemälde – zeigen. Literatur Fried Lübbecke: Das Palais Thurn und Taxis zu Frankfurt am Main. Kramer, Frankfurt am Main 1955. Fried Lübbecke: Das Antlitz der Stadt. Nach Frankfurts Plänen von Faber, Merian und Delkeskamp. 1552–1864. Kramer, Frankfurt am Main 1952. Einzelnachweise und Anmerkungen Weblinks „Sieg der Wahrheit“ – Deckenbild von Karl Bernardini von 1735 in digitalisierten Farbdias von Paul Wolff, 1943 „Der Olymp“ – Deckenbild von Luca Antonio Colomba von 1736 in digitalisierten Farbdias von Paul Wolff, 1943 Erwerb von völkerkundlichem Museumsgut in den Niederlanden: Bild der Ruine des Palais Virtueller Rundgang durch das Palais mit 360° Impressionen Thurn und Taxis Barockbauwerk in Frankfurt am Main Frankfurt am Main im 19. Jahrhundert Bauwerk der Thurn und Taxis Bauwerk in Frankfurt-Innenstadt Erbaut in den 1730er Jahren Abgegangenes Bauwerk in Frankfurt am Main Rekonstruiertes Bauwerk in Frankfurt am Main
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https://de.wikipedia.org/wiki/Freilichtmuseum%20Roscheider%20Hof
Freilichtmuseum Roscheider Hof
Das Freilichtmuseum Roscheider Hof ist ein 1976 gegründetes Freilichtmuseum in Konz (Landkreis Trier-Saarburg, Rheinland-Pfalz). Das Museum befindet sich auf einer Anhöhe über dem Moseltal im Stadtteil Konz-Roscheid an der Gemarkungsgrenze zu Trier. Seine Aufgabe ist die Darstellung der Volkskultur der Region um Mosel und Saar, wozu Eifel, Hunsrück und das Saarland ebenso gehören wie Teile Luxemburgs und Lothringens. Es zählt mit 4000 Quadratmetern Ausstellungsfläche und 22 Hektar Freigelände zu den größten deutschen Volkskundemuseen. Träger des Museums ist der Verein Volkskunde- und Freilichtmuseum Roscheider Hof, Konz e. V. mit etwa tausend Mitgliedern. Lage: Geschichte Die erste Nennung des Hauptgebäudes des Roscheider Hofs befindet sich in einer Urkunde der Benediktinerabtei St. Matthias in Trier. 1330 verkaufte die Abtei eine Rente und verpfändete zur Sicherheit unter anderem ihren Hof Roscheid. Eine zweite Erwähnung folgte 21 Jahre später. In der ältesten erhaltenen Pachturkunde vergab der Konvent 1448 den Hof Roscheid mit Feldern, Wiesen, Wäldern und allem Zubehör auf 18 Jahre an Johann von Konz und seine Frau Else. Die Namen aller nachfolgenden Pächter sind bis zum letzten Pachtvertrag von 1793 überliefert. Der Hof bestand aus zwei sich gegenüberliegenden Gebäuden. Das Gebäude auf der nordöstlichen Seite mit Wohnteil, Vieh- und Pferdestall ist im noch bestehenden Gebäudeteil des Vierseithofs erhalten. Bei Renovierungsarbeiten kamen 1978 einige Funde zu Tage, die eine Datierung auf das frühe 16. Jahrhundert und früher nahelegen. 1794 ging mit dem Einmarsch französischer Revolutionstruppen das feudalistische Zeitalter auch in Kurtrier zu Ende. Der Roscheider Hof wurde als enteignetes Klostergut 1802 dem französischen Staat zugeschlagen und am 7. März 1805 vom Saarburger Nikolaus Valdenaire für 8500 Franc ersteigert. Valdenaire, ein französischer Soldat, hatte in eine ansässige Familie eingeheiratet. Er war eine einflussreiche Persönlichkeit mit von der französischen Revolution beeinflussten Ideen. Er erweiterte das seit drei Jahrhunderten nur wenig veränderte Gut und errichtete den für das Trierer Land ungewöhnlichen Vierseithof in seiner heutigen Form. Die Nebengebäude des äußeren Hofs entstanden erst später. Nach dem Tod Valdenaires im Jahre 1849 zeigte sein mit Karl Marx befreundeter Sohn Viktor Valdenaire am Hof wenig Interesse. Ein Verkauf des Hofs gelang jedoch erst 1864. Später wurde mit staatlicher Unterstützung eine Ackerbauschule im Roscheider Hof etabliert. Diese wurde 1871 nach Saarburg verlegt. Nach mehrmaligem Besitzerwechsel wurde der Hof mit den dazugehörenden Ländereien 1909 vom königlich-preußischen Fiskus erworben und in der Folge als Staatsdomäne geführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging diese auf das Land Rheinland-Pfalz über. Der letzte Leiter der Staatsdomäne, Edgar Studt, unterstützte die Idee des Freilichtmuseums, um den Betrieb aus den überalterten Baulichkeiten in einen rationellen Neubau verlegen zu können. Dazu kam es nicht mehr, da die Stadt Konz am 9. Juni 1969 den Roscheider Hof für 2.500.000 DM von der Landesdomänenverwaltung mit dem Ziel erwarb, auf 150 Hektar Fläche den neuen Stadtteil Konz-Roscheid zu bauen. Das Hofgebäude war mit einer Fläche von 20 Hektar für ein Freilichtmuseum vorgesehen. Entstehung des Museums Geschichte Nachdem über zehnjährige Bemühungen, das zentrale Freilichtmuseum für Rheinland-Pfalz in Konz zu etablieren, fehlgeschlagen waren, wurde der Trägerverein des zukünftigen Museums am 12. Juni 1973 im Sitzungssaal des Konzer Rathauses gegründet. Dies geschah auch als Trotzreaktion, nachdem durch den damaligen Ministerpräsidenten Helmut Kohl am 15. Mai 1971 verfügt worden war, alle Initiativen hinsichtlich eines Freilichtmuseums auf dem Roscheider Hof einzustellen. Das Museum entstand auf Initiative von Einzelpersonen und mit Unterstützung einiger kommunaler und regionaler Entscheidungsträger. Treibende Kraft war Rolf Robischon, Architekt, Bauforscher und Professor an der Bauschule Trier (heute Hochschule Trier). Ab 1975 wurde gesammeltes Museumsgut in Räumen des Hofgebäudes, das im Vorgriff instand gesetzt wurde, gelagert. Zwischen 1975 und 1976 wurde ein erstes Haus übertragen, das Rathaus aus Gödenroth. Im Hofgebäude wurden acht Räume mit Sammlungsgegenständen eingerichtet und das Museum konnte in bescheidener Ausstattung am 17. Juli 1976 im Beisein des damaligen Kultusministers Bernhard Vogel eröffnet werden. Die ältesten Museumsräume befinden sich hinter dem Eingang aus dem Innenhof des Hofgebäudes. Ein sogenannter Tante-Emma-Laden aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Schulräume und Webkammer befinden sich heute noch fast im Zustand der Ersteinrichtung. Ein Friseursalon und eine Dorfkneipe sind mittlerweile in die Ladengasse und die alte Küche in das Saargauhaus umgezogen. Heute befindet sich in diesem Bereich die Ausstellung Kinderwelten. Rolf Robischon war in der ersten Aufbauphase bis 1985 Museumsleiter. Für seine Verdienste, die er sich bis zu seinem Tod 1989 erwarb, wurde ihm von der Stadt Konz das Ehrenbürgerrecht verliehen. Von 1985 bis zu seinem Tod im Dezember 2015 war Ulrich Haas der ehrenamtliche Leiter des Museums. Zuvor war er bis zu seiner Pensionierung Leiter eines Industriebetriebs. Er widmete sich verstärkt der Vollendung des Hunsrückweilers, dem Moseldorf und vor allem dem Ausbau des Hofgebäudes zum Ausstellungsgebäude. Dies war jedoch bis Ende der 1980er-Jahre an einen landwirtschaftlichen Betrieb verpachtet, wodurch sich der Ausbau verzögerte. Im November 2008 konnte der letzte Teil des Hofgebäudes, eine große Scheune, vom Museum übernommen werden. 1996 wurde das Museumsgelände eingezäunt, um weitere Schäden durch spielende Kinder und Wildschweine zu verhindern. In den folgenden Jahren wurden weitere Räume für thematische Ausstellungen erschlossen. Im Hunsrückweiler entstanden ein Backhaus und eine Schule sowie die ersten Häuser der Baugruppe Mosel. Im Ausstellungsgebäude wurden in dieser Zeit zwei Ladengassen und die Zinnfigurenausstellung eingerichtet sowie mehrere Spielzeugsammlungen ausgestellt. In einem modernen Ausstellungsgebäude wurde eine Ausstellung zum Leben im Wald und in einem ehemaligen Güterschuppen eine Ausstellung zum Eisenbahnknotenpunkt Konz eingerichtet. Am 11. Juni 2006 beschloss der Stadtrat einstimmig, Ulrich Haas für seinen Einsatz als Museumsleiter ebenfalls das Ehrenbürgerrecht der Stadt Konz zu verleihen. Im März 2016 wurde Helge Klaus Rieder von der Mitgliederversammlung des Museumsvereins zum ersten Vorsitzenden des Trägervereins gewählt. Seit Herbst 2019 ist Ursula Ninfa hauptamtliche Geschäftsführerin des Museums. Konzeption und Aufbau Das Museum besteht 2008 aus einem Vierseithof, der als Ausstellungsgebäude und Restaurant genutzt wird. Weitere Teile des Museums sind ein Hunsrückdorf mit elf Gebäuden, ein Moseldorf im Aufbau, ein Wald- und Holzmuseum in einem modernen Ausstellungsgebäude, ein Grenzsteinmuseum, mehrere Gärten, zwei Kapellen, Streuobstwiesen, Ackerbauflächen, ein Kinderspielplatz und eine Ölmühle, die eine etwa zwei Kilometer entfernte Außenstelle bildet. Grundlegende Idee ist die Darstellung der verschiedenen Lebenswelten im ländlichen Raum, die von Tagelöhnern über Bauern und Winzer bis zu eher dörflichen Berufen wie Handwerker, Zahnarzt und Apotheker reichen. Ähnliches gilt für die Wohnverhältnisse. Der zeitliche Kern umfasst dabei die Zeit von 1860 bis 1960, auch wenn einige Exponate deutlich älter sind. So wurden zwei gegenüberliegende Fachwerkhäuser im Stil von 1870 und 1950 eingerichtet. Drei verschiedene Tante-Emma-Läden zeigen die Entwicklung im Einzelhandel in einem vergleichbaren Zeitraum. Eine Besonderheit für Freilichtmuseen ist der Bereich der Kinderwelten, in der drei Spielzeugsammlungen und eine Ausstellung von Zinnfiguren integriert sind. Das Museum veröffentlicht in seiner Schriftenreihe Monographien und zum Jahresende für seine Mitglieder die Roscheider Blätter. Die knappen finanziellen Mittel erlaubten es nicht, einem definierten Aufbauplan zu folgen. Vielmehr mussten günstige Gelegenheiten genutzt werden, Gebäude und Museumsgut zu erwerben. Zahlreiche Exponate kamen als Spenden ins Haus, einige Vitrinen wurden von anderen Museen beigetragen. Aus Platzmangel konnten jedoch nicht alle dem Museum angebotenen Gegenstände angenommen werden, aus finanziellen Gründen nicht alle dem Museum angebotenen Gebäude in das Museum übertragen werden. Auch auf Tierhaltung musste mit Ausnahme von Hühnern und Schafen bisher verzichtet werden. Volkskundliche Ausstellungen Hauptausstellungsgebäude ist der Vierseithof, in dem auf mehr als 3500 m² verschiedene volkskundliche Themen dargeboten werden. Eine thematische Ausstellung zum Thema Wald und Waldwirtschaft befindet sich im Waldmuseum in unteren Bereich des Freigeländes. Einzelne Handwerkerwerkstätten finden sich in den Häusern des Hunsrückweilers und des Moseldorfs. Wein, Viez, Schnaps Die Ausstellung zeigt die für den in römischer Zeit begonnenen Weinbau notwendigen Arbeitsschritte von der Rebenpflanzung bis zur Abfüllung. Neben Wein haben auch Sekt, Viez und Obstbrände eine lange Tradition. Der „Weinberg“ der Ausstellung enthält neben Riesling- und Elbling- auch Müller-Thurgau-Reben, die in Luxemburg auch Rivaner heißen. Die Ausstellung setzt sich in den Anbautechniken fort, bei der auch der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln thematisiert wird. Bilder und ein Diorama von der Traubenlese im frühen 20. Jahrhundert führen zu Keltern verschiedener Bauart. Während die Baumkeltern nach dem Prinzip der Hebelkraft funktionieren, arbeiten Spindelkeltern mit Spindeldruck. Sie nehmen wesentlich weniger Platz in Anspruch. Die älteste Kelter der Ausstellung, die Holzspindelkelter, stammt aus Traben-Trarbach und wurde mit Hilfe der Dendrochronologie auf das Jahr 1641 datiert. Die hölzernen Spindeln waren den hohen Belastungen jedoch oft nicht gewachsen. Der Siegeszug der Spindeldruckkelter begann, als infolge der industriellen Revolution Eisenspindelkeltern zur Verfügung standen. Im Trierer Land und in Luxemburg erlangte eine Kelter der Firma André Duchscher & Co. aus Wecker im Großherzogtum weite Verbreitung. Sie arbeitet mit fünf oder sieben Fallkeilen und wird Weckerkelter oder wegen des Geräuschs der fallenden Keile auch Klippkelter genannt. Keltern mit Fallkeilen haben den Vorteil, weniger Raum zu benötigen, da der Winzer beim Drehen des Hebelarmes nicht um die ganze Kelter herumgehen muss. Die Funktionsweise dieser Kelter wird beim jährlichen Keltertag im Oktober demonstriert. Das letzte Modell der Firma steht für das Ende einer Entwicklung: die Hochdruckkelter presste die Weintrauben so stark aus, dass der damit gewonnene Wein nicht mehr schmeckte. Nach dem Pressen wurde der Most in Fässern vergoren. An Saar und Mosel waren die in der Ausstellung gezeigten Fuderfässer (960 Liter) und Halbfuderfässer (480 Liter) in Gebrauch. Den Abschluss der Weinbauausstellung bilden für das Anbaugebiet Mosel-Saar-Ruwer traditionelle Weinflaschen, Weinetiketten und Abfüllanlagen. In klimatisch ungünstigeren Lagen wurden statt Weinreben Apfelbäume angepflanzt. Diese Äpfel wurden zu Viez gekeltert. Der Saft wurde typischerweise aus einem Porz genannten Porzellan-Gefäß getrunken. Viez war das Getränk der weniger begüterten Leute. Selbst Winzer genossen Wein nur an Festtagen. Dies wird in der Ausstellung an der Reproduktion eines Gemäldes von Beilstein deutlich: In einem Wirtshausgarten genießen die „besseren Herrschaften“ den Wein aus Gläsern, am Nebentisch trinken Bauern und Winzer Viez aus Porzen. Für die Herstellung von Obstbränden liefert ein breites Angebot an Äpfeln, Birnen, Zwetschgen, Mirabellen und anderen Obstsorten den Grundstoff. Die Ausstellung zeigt eine Vielzahl an Destillierapparaten sowie Schaubilder über die Entwicklung des Alkoholverbrauchs pro Kopf und informiert über Bräuche wie die Gesindeverdingung. Dabei handelt es sich um den meist an einem festen Tag im Winter erfolgten Neuabschluss von Arbeitsverträgen bei Dienstboten oder um die Verlängerung von Arbeitsverträgen, meist um ein weiteres Jahr. Dazu kommen Brautwerbung und Totenwache, bei der die Kanne Schnaps ihren festen Platz hatte. Auch eine symbolische Schwarzbrennerei wird gezeigt. Die vollständige Einrichtung einer 2002 aufgegebenen Schnapsbrennerei aus Cochem mit Brennerei, Verkaufs- und Büroräumen befindet sich hingegen im Saargauhaus im Freigelände. Sie konnte 2005 vollständig wieder aufgebaut werden. Bürgerliche Wohnkultur Der Ausstellungsbereich zeigt die Wohnkultur der bürgerlichen Oberschicht vom Biedermeier bis in die Nachkriegszeit. Das repräsentative Biedermeierzimmer hat durchscheinende Gardinen über den großen Fenstern. Die Möbel sind zurückhaltend mit Ornamenten versehen und eher auf die Wirkung ihrer ausdrucksstarken Holzmaserung ausgerichtet. Im frühen Biedermeier bevorzugte man helle Hölzer wie Birnbaum, Birke oder Kirschbaum. In den 1950er und 1960er Jahren kamen mit dem französischen Einfluss auch dunklere Holzsorten wie Nussbaum und Mahagoni hinzu. Weitere Einrichtungsgegenstände sind ein Schreibsekretär, gusseiserne Öfen und ein Tafelklavier. Zur gleichen Epoche gehört eine Schlafkammer und ein weiteres Zimmer, in dem eine Kaffeetafel um 1840 gedeckt ist. Zum Vergleich ist in einem benachbarten Zimmer eine Kaffeetafel im Neo-Biedermeier um 1910 zu sehen. Die weitere Entwicklung der Bürgerlichen Wohnkultur ist in drei Wohnräumen mit Möbeln aus der Gründerzeit um 1890, im Stil des Art Déco um 1920 und aus den 1950er-Jahren im Heimatstil der 1930er-Jahre dargestellt. Schule und Kirche Die Ausstellung zeigt ein Schulzimmer mit einer zur Kaiserzeit typischen Ausstattung: Holzbänke, Schiefertafeln mit daran geknoteten Tafellappen, leicht erhöht stehendes Lehrerpult nebst Schiefertafel, Rechenmaschine, Rohrstock und Ofen. An den Wänden hängen Schulwandbilder. Im Raum neben dem Klassenzimmer werden die Besucher auf Informationstafeln über den Schulalltag von der Einführung öffentlicher Schulen bis zum Ende der Kaiserzeit informiert: Die Schulen auf dem Land waren meist nur einklassig. Die Richtzahl für die Klassenstärke war 60 Schüler – in der Realität waren jedoch bis zu 100 Kinder von der ersten bis zur achten Klasse in einem Raum. Visitationen brachten bestenfalls eine zeitweise Besserung der Zustände. Das Thema Volksfrömmigkeit ist im überwiegend katholischen Trierer Umland von großer Bedeutung. Geburt und Taufe, die Erste Heilige Kommunion, Heirat sowie Tod und Beerdigung waren die Wendepunkte im Leben, die rituell begangen wurden. Diese Stationen werden in Form eines Rundgangs dargestellt. Besonders hervorgehoben ist die Hochzeit mit einem Brautpaar in der um 1900 üblichen schwarzen Hochzeitskleidung. Ein weiteres Thema sind Bruderschaften im Allgemeinen und die Herz-Jesu-Bruderschaft im Speziellen. Eine Vitrine übervoll mit unterschiedlichen Herz-Jesu-Figuren unterstreicht deren Bedeutung. Handwerk und Gewerbe Die Darstellung von Handwerk und Gewerbe konzentriert sich in der 2002 eröffneten Ladengasse. Es handelt sich um insgesamt zwölf Geschäfte und kleine Gewerbeläden, die in ihrer gassenförmigen Aneinanderreihung Einblicke durch Fenster und Türen ermöglichen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts waren Handwerksbetriebe wie Kurbelsticker, Schuhmacher, Polsterer, Messerschmied und Schleifer immer weniger überlebensfähig. Auch das Zinngießer-, Schneider- und Hutmacher- oder Putzmachergewerbe wird heute fabrikmäßig betrieben. Weitere Gewerbe wie Metzgerei und Lebensmittelladen, Uhrmacher und Fotografen fanden Eingang in die Ausstellung, ebenso wie Zahnarzt und Apotheke. Die Entwicklung des ländlichen Einzelhandels wird in drei Tante-Emma-Laden-Läden (um 1890, um 1940 und in den 1960er-Jahren) dargestellt. Am Ende des Ausstellungsbereichs befindet sich eine Dorfwirtschaft aus den 1930er-Jahren, die auch schon als Kulisse für Filmproduktionen diente. Weitere Handwerkerwerkstätten finden sich in den Häusern des Freigeländes. Eine Malerwerkstatt im Haus aus Oberemmel, eine Weberei im Haus Schuche, eine weitere Schuhmacherwerkstatt in der Bosselstube sowie Küfer und Stellmacher (Wagner) im Waldmuseum. Ein Teil der Läden und Werkstätten (Zinngießerei, Messerschmiede, Malerwerkstatt, Polsterei, Friseur, Apotheke, Zahnarzt, Metzgerei, 1960er-Jahre-Lebensmittelladen) konnte von den letzten Besitzern oder deren Erben übernommen werden und wurde allenfalls mit leichten Ergänzungen im Museum wieder aufgebaut. Die anderen Gewerbe wurden aus Depotbeständen des Museums zusammengestellt. Ausgehend von der Spende eines kompletten Metallwarenladens und dem Publikumserfolg der ersten Ladengasse wurde zum Saisonbeginn 2013 eine zweite Ladengasse im Südflügel des Ausstellungsgebäudes eröffnet. Ausgestellt sind ein Metallwarenladen, ein Klempner, ein Hutgeschäft, eine Sparkassenfiliale, eine Landarztpraxis, das Büro eines Architekten, ein Radio- und Fernsehgeschäft, Kleidungsgeschäfte für Damen- und Herrenmode, eine Manufaktur für Lampenschirme und Lampenbau und eine Buchbinderwerkstatt. Am Ende der Ausstellung befindet sich in einem separaten Raum die Backstube der ehemaligen Bäckerei Gail aus Polch im Maifeld, die im Zustand der 1930er-Jahre wiederaufgebaut wurde. Der Zeitschnitt der zweiten Ladengasse ist etwa 1960. Im Frühjahr 2015 konnte das letzte Geschäft für Herrenhüte, der Hutladen Georg in Trier mit seiner vollständig erhaltenen Einrichtung von etwas vor 1900 in das Museum übernommen werden. Es ist im Erdgeschoss links im Durchgang vom Biergarten zum Innenhof ausgestellt. Ebenfalls vom Innenhof zugänglich ist die ehemals in Koblenz ansässige Schirmwerkstatt Genevriére wurde im August 2020 in unserem Museum eröffnet. Sie zeigt die Werkstatt des Elmar Genevrière, eine der letzten Schirmmacherwerkstätten eines heute fast ausgestorbenen Handwerks. In der Ausstellung befinden sich nicht nur Schirme in den verschiedenen Phasen des Fertigungsprozesses, sondern auch alle zur Herstellung von Schirmen eingesetzten Werkzeuge. Eisenkunstguss Heizöfen, Herde und gusseiserne Platten sind eine der Sammlungsschwerpunkte des Museums. Gesammelt wurden an größeren Gegenständen vor allem Küchenherde, Heizöfen sowie Taken-, Kamin- und Ofenplatten. Die meisten Exponate wurden von der lokalen Eisenindustrie, insbesondere den Hütten in Trier-Quint, Weilerbach, Einschmitt und im Saarland gefertigt. Andere stammen aus dem heutigen Schleswig-Holstein, Dänemark oder dem Französischen Jura. Die Ofensammlung reicht von oft aufwändig verzierten Kanonenöfen der Gründerzeit bis zu innen mit Schamotte verkleideten oft bunten Dauerbrand-Regulieröfen – der in letzten Ofengeneration vor deren Verdrängung durch Zentralheizungen. Daneben stehen Säulenöfen zum Verfeuern von Holz aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, Leuchtöfen und mit Gas betriebene Öfen. Ein besonderes Exponat ist ein von der Carlshütte aus Büdelsdorf bei Rendsburg in großer Zahl gefertigter Werkstattofen, der möglicherweise als einziges Exemplar seines Typs die letzten Jahrzehnte ungenutzt in einer Konzer Turnhalle überlebt hat und 2020 kurz vor Abriss dieser in das Museums kam. Küchenherde sind von der Größe für eine Armenwohnung – oft die einzige Wärmequelle in dieser – bis zu großen Restaurantherden ausgestellt. Takenplatten – eine Spezialität dieser Region – sind gusseiserne Platten, die früher in Bauernhäusern in eine Aussparung der Feuerwand zwischen Küche und Stube eingemauert wurden. Wurden sie küchenseitig durch Feuer und Rauch erhitzt, gaben sie auch zur Stube hin Wärme über Strahlung und Konvektion der Luft wieder ab. Takenplatten wurden in Eisenhütten Ost-Belgiens, Lothringens, Luxemburgs, der Eifel, des Hunsrücks und des heutigen Saarlandes hergestellt. Die ältesten bekannten Platten stammen aus dem späten 15. Jahrhundert – einer Zeit, aus der sich ansonsten aus dem ländlichen Kulturkreis in dieser Region nahezu nichts erhalten hat. Rekonstruierte Takenanlagen finden sich im Museum nahe der Türe von der Takenplattenausstellung im Hauptgebäude zum Rosengarten, im Haus Stein (Baugruppe "An der Güterhalle") und im Büro des Restaurants. Kaminplatten wurden in offenen Kaminen hinten angebracht um die Wärme zu reflektieren. Wenn sie rechteckig sind gibt es keinen Unterschied zu Takenplatten. Da im Gegensatz zu jenen die Schauseite auf der Seite des Feuers zeigen sie deutlich mehr Erosionsspuren als die meist sehr gut erhaltenen Takenplatten. Ofenplatten ähneln in Form und Herstellung den Takenplatten, die Seitenplatten verfügen an den Rändern jedoch über Lappen, die es ermöglichten, die zu einem Fünf-Platten-Ofen zusammengesetzten Platten mit der Rückseite in die Wand einzumauern. In der Ausstellung werden Platten verschiedener Gießereien gezeigt. Einen Schwerpunkt bildet dabei die heute verschwundene Hütte in Quint (heute ein Ortsteil von Trier) und die noch in Ruinen erhaltene Hütte von Weilerbach (heute ein Ortsteil von Bollendorf an der Sauer). Die Ausstellung erläutert an vielen Beispielen die Ikonographie der Platten für katholische, evangelische und jüdische Haushalte und erklärt deren Herstellung. Weitere Takenplatten hängen im Museumsrestaurant, in dem sich auch eine rekonstruierte Takenheizung befindet. Waschen und Baden Ziemlich einzigartig in der deutschen Museumslandschaft ist die Darstellung der Geschichte des Waschens vom Waschplatz am Bach bis zu Waschmaschinen und Mangeln. Während im Bauernhaus noch das Beuchen, also das Waschen mit Holzasche, das Spülen am fließenden Gewässer und das Bleichen auf der Wiese üblich war, gab es im städtischen bzw. bürgerlichen Umfeld nur die Waschküche und die Wäscheleine im Hof. Die grundlegende Technik von Waschmaschinen wird anhand einer Miele-Waschmaschine von 1913 dargestellt. Waschen mit der Hand und mit historischen Waschmaschinen wird jährlich am Bauern- und Handwerkertag im September gezeigt. Ein Stockwerk höher geht es dann ums Wasser zum Baden. Da es die meiste Zeit im Jahr zum Baden in der Mosel und in den Maaren noch viel zu kalt ist, zeigen wir wie man früher ein Bad zu Hause angerichtet hat: „Badewannen, Wasserschüsseln, Seifenschalen…“, die Ausstellung zeigt ein Spektrum des „sich Waschens“ in Stadt und Land. Die Thematik erstreckt sich vom Wasser, das man sich noch mühselig aus dem Brunnen schöpfen musste bis zum fließenden Wasser eines reinen „Art Deco“-Badezimmers aus der Trierer Innenstadt. Die Ausstellung stellt dabei die Frage: Wer hat sich wann, wie oft und warum gebadet bzw. gewaschen. Beachtet werden dabei die städtische Umgebung Konz/Trier als auch das ländliche Umfeld. Zinnfigurenmuseum Die Zinnfigurenausstellung ist ein „Museum im Museum“. Der Historiker Klaus Gerteis (Universität Trier) baute nach wissenschaftlichen Kriterien in Aach bei Trier ein privates Zinnfigurenmuseum auf. Dieses zog im Jahre 2005 unter Verdreifachung der Ausstellungsfläche in den Roscheider Hof um. Auf dem 220 Quadratmeter großen Speicher des Gutshofes ist Eine kleine Welt in Zinn mit vielen tausend Figuren, nicht nur Zinnsoldaten, aufgebaut. Die Ausstellung wurde 2007 durch ein Diorama eines römischen Legionslagers von H.-J. Graul, Neuss, und 2008 durch eine Zinngießerwerkstatt ergänzt. Bis auf wenige Exponate wurden die Figuren von Klaus Gerteis in einer sich über mehr als fünf Jahrzehnte erstreckenden Sammlertätigkeit zusammengetragen, hergestellt, bemalt und in Dioramen aufgestellt. Die Ausstellung gliedert sich nach vier Aspekten: Mit alten Figuren und Abgüssen aus alten Formen wird die Entwicklung der Zinnfiguren ab etwa 1800 anschaulich gemacht. Die Ausstellung nimmt dabei Rücksicht auf die persönlichen Schwerpunkte des Sammlers. So werden auch Packungen, in denen die Zinnfiguren verkauft wurden, zusammen mit ihrem Inhalt gezeigt. Einen weiteren Schwerpunkt der Sammlung bilden alte Fahrzeuge und Spiele mit Zinnfiguren. In Dioramen mit Zinnfiguren werden überwiegend Themen zur Geschichte der Region gezeigt. In einer Schauwerkstatt werden die Gravur von Formen, der Guss und die Bemalung von Zinnfiguren gezeigt (s. Video). Freigelände Das Gelände umfasst zwei Baugruppen, die Baracken, die Museumsfelder, die Streuobstwiesen, verschiedene Gärten, technische Denkmäler und Bienenstöcke. Hunsrückweiler Der Hunsrückweiler besteht aus zehn Fachwerkhäusern und einem Backhaus aus dem Hunsrück. Bereits 1974 wurde das Dorfrathaus von Gödenroth als erstes neues Gebäude in das Museum übertragen. Mit dem Innenausbau der Schule aus Würrich wurde der Ausbau des Hunsrückweilers 2008 vorläufig abgeschlossen. Häuser von besonderem Interesse sind: Das Dorfrathaus aus Gödenroth war das erste Gebäude, das im Freilichtmuseum errichtet wurde. Es ist beispielhaft für die Rathäuser in den evangelischen Gemeinden des Hunsrücks. Katholische Gemeinden unterstanden dem Kurstaat Trier und von diesem wurde keine gemeindliche Selbstverwaltung geduldet. Das Erdgeschoss wurde zeitweise als Armenhaus der Gemeinde genutzt. Die Remise nebenan diente zunächst als Kleintierstall, später zur Unterbringung der Feuerlöschgeräte. Das Schulhaus aus Würrich ist das älteste in das Museum translozierte Gebäude. Das Holz des Fachwerks wurde im Frühjahr 1680 geschlagen und verbaut. Das Haus war anfangs einstöckig und diente wohl von Anfang an als Schule und Lehrerwohnung. Da es keine Bilder oder genaue Beschreibungen vom Aussehen von Schulräumen im späten 17. Jahrhundert gibt, war es nicht möglich, einen Schulraum aus dieser Zeit zu rekonstruieren. Im Untergeschoss befindet sich eine Ausstellung zum Thema Schule, im Obergeschoss eine Ausstellung zum Thema „Konservierung von Lebensmitteln“. Das Schulhaus wurde 1996 am Originalstandort abgebaut. Im Mai 2000 konnte Richtfest gefeiert werden. Danach diente das Haus zur Demonstration des Fachwerkbaus und für entsprechende Schulklassenprojekte. Die für Schulklassen zu gefährlichen Arbeiten in den oberen Stockwerken wurden 2007 durch Museumsmitarbeiter und Fachfirmen durchgeführt; das Haus wurde 2008 ausgestattet und für das Publikum geöffnet. Seit Gründung des Museums bestand der Wunsch, ein Backhaus im Hunsrückdorf aufzubauen. Erst nach jahrelanger Suche konnte ein geeignetes Objekt gefunden werden. Es handelt sich um ein kleines einstöckiges Schieferbruchsteingebäude. Das Innere besteht aus einem Raum, dessen hinteres Drittel der Backofen einnimmt. Ursprünglich gehörte es fünf Backgenossen, die es 1932 in Eigenleistung erbauten. Beim Abbau stellte sich heraus, dass nicht nur Ofensteine für das Mauerwerk verwendet wurden, sondern auch zerbrochene Sandsteintröge und anderes Abfallgestein. Das Haus Schug oder auch Schuche Haus, wie es genannt wurde, ist ein Fachwerkhaus mit zweiraumtiefem Grundriss. Solche Wohngebäude gelten seit dem 18. Jahrhundert als charakteristisch für den östlichen Hunsrück. Das Innere ist als Haus eines Nebenerwerbswebers eingerichtet. Bei dem Haus Trappitschens handelt es sich um ein für den Vorderen Hunsrück typischen zweiraumtiefen Bau aus der Zeit um 1830. Bei einem größeren Umbau 1915 wurden unter anderem die ursprünglich vorhandenen Krüppelwalme entfernt, so dass das Gebäude sein heutiges durch das Satteldach bestimmtes charakteristisches Aussehen erhielt. Im Museum wurde das Gebäude im Zustand der frühen 1950er Jahre eingerichtet, einer Zeit also, in der sich das Wirtschaftswunder allenfalls andeutete. Das Mobiliar zeigt dann auch eine eigenartige Mischung aus älteren Möbelstücken, die noch von vor dem Krieg stammten, und typischen 50er-Jahre-Möbeln. Das Haus Molz ist das Haus eines für Hunsrücker Verhältnisse wohlhabenden Bauern aus Fronhofen bei Kleinich. Aufgrund des frühen Todes seines Erbauers wurde es seit 1875 nur noch sporadisch in Notzeiten bewohnt und blieb so ohne gravierende Umbauten erhalten. Das Haus war im Zweiten Weltkrieg Außenstelle eines Kriegsgefangenenlagers, hauptsächlich für französische Kriegsgefangene. Eine thematische Ausstellung hierzu befindet sich im Flur des Hauses. Im Obergeschoss wurde nach alten Fotografien die Vergitterung der Fenster und die Ausstattung des Schlafraums mit aus rohem Holz zusammen gezimmerten Betten für die Kriegsgefangenen rekonstruiert. Das benachbarte Haus Klaesjes ist wesentlich einfacher gebaut und eingerichtet. Es war das Haus eines Schweinehirten, später das eines Schneiders. Zur untersten Schicht in der sozialen Hierarchie eines Dorfes gehörten die Bewohner des Hauses Franz, das im Museum als Schmiede eingerichtet ist. Das Gebäude war ursprünglich ein Haus eines Tagelöhners am Dorfrand von Irmenach. Dessen Tochter bekam drei uneheliche Töchter. Ihre 1800 geborene Tochter bekam ihrerseits eine uneheliche Tochter. Auch diese bekam – kaum zwanzigjährig – eine Tochter, ohne verheiratet zu sein. Sie lebten von kleinen Dienstleistungen für Dorfbewohner, waren Botenfrauen, verkauften Butter auf dem Markt in Traben-Trarbach und arbeiteten möglicherweise auch als Prostituierte. Erst 1928, nach dem Tod seiner letzten Besitzerin, wurde das Haus zur Schmiede umgebaut. Die Gärten im Hunsrückweiler stellen Bauerngärten um etwa 1900 in einer Mittelgebirgslandschaft dar. Am Güterbahnhof Dieser Museumsbereich wurde ursprünglich als Baugruppe Mosel–Saar konzipiert. Seine Ausrichtung änderte sich durch den Wiederaufbau des ehemals am Konzer Bahnhof stehenden Güterschuppens am zentralen Platz dieser Baugruppe. Im Mittelpunkt steht heute die Anlieferung von Stückgut durch die Bahn und deren Verteilung an Weingüter und Bauernhäuser mittels historischer Lastkraftwagen. Zentrales Gebäude dieser Baugruppe ist in Güterschuppen in Fachwerkbauweise, der Ende des 19. Jahrhunderts neben dem Konzer Bahnhof errichtet wurde. Die Güterhalle wurde 1888 im Rahmen des Baus der Kanonenbahn zusammen mit einem zweiten Schuppen errichtet. Letzterer stand gegenüber dem Bahnhofshauptgebäude, etwa auf dem heutigen Park-and-Ride-Parkplatz. Er wurde 1944 durch Artelleriebeschuss stark beschädigt und musste deshalb in der Nachkriegszeit abgerissen werden. Da fast alle Sendungen von Konzer Firmen wie Zettelmeyer und KUAG per Bahn und über diese Halle abgewickelt wurden, gehörte er zur wichtigen Konzer Infrastruktur. Durch die Aufgabe des Stückgutverkehs verlor er seine Funktion. Seine allerletzte Nutzung am Originalstandort war die eines Fahrraddepots, dann stand sie der ab 2014 durchgeführten Neugestaltung des Konzer Bahnhofsumfelds im Weg. Nach der Überführung in das Museum wurde im Inneren als Stückgutlager mit einem Büroraum eingerichtet. An der Rückseite steht ein Güterwagen der Brohltalbahn. Um den Schuppen herum stehen seine „Kunden“: 2 kleine Winzerhäuser mit einem dazwischen liegenden Weinberg und unterhalb des Schuppens ein großes Bauernhaus. Die anderen Gebäude der Baugruppe sind durchweg Steinbauten. Diese sind im Vergleich zu den Fachwerkhäusern aus dem Hunsrück nur mit wesentlich höherem Aufwand und höheren Kosten in ein Freilichtmuseum übertragbar. Gebäude dieser Baugruppe sind: Das Saargauhaus. Bei diesem Gebäude handelt es sich um den Nachbau eines für das Trierer Land typischen Haustyps, der deshalb gemeinhin auch „Trierer Einhaus“ genannt wird. Es ist die Variante eines Haustyps, der im ganzen Südwesten Deutschlands vorkommt („Breitgegliedertes Quereinhaus“). Das Gebäude wurde nach dem Vorbild eines großen Hofes in Köllig auf dem Saargau errichtet. Es wurde 1987 in allen Details aufgemessen und in der Folgezeit im Museumsgelände nachgebaut. Dabei wurden neben Bruchstücken aus Abbruchhäusern auch moderne Baustoffe verwendet. Nach der Fertigstellung des Rohbaus kam der Baufortschritt für über zehn Jahre nahezu zum Erliegen. Im Untergeschoss befindet sich neben einer Küche und einer Wohnstube (Eröffnung 2006) die Brennerei der 1881 gegründeten Firma Jean Marx aus Cochen. Nachdem der Brennereibetrieb 2002 aufgegeben worden war und die Brennerei aus zollrechtlichen Gründen von ihrem Standort entfernt werden musste, gelangte sie 2005 ins Freilichtmuseum. Die Wohnung im Obergeschoss ist wie die im Haus Sensemichel im Hunsrückweiler an einen Museumsmitarbeiter vermietet. Auf der anderen Wegseite befindet sich ein Brunnenhaus, das mindestens seit dem 19. Jahrhundert für die Wasserversorgung des Roscheider Hofs genutzt wurde und das in seiner heutigen Form zur Wasserversorgung mehrerer nahegelegener Westwallbunker errichtet wurde. Eine Schultoilette aus Portz, Ortsteil von Merzkirchen, bei Saarburg. Es handelt sich um einen kleinen mit Ziegeln ausgemauerten Fachwerkbau. Das Häuschen hatte den Wandel der Sanitärkultur wohl nur deshalb überdauert, weil der Schulmeister es später zum Hühnerstall umfunktionierte. Als technisches Denkmal ein Pumpenhäuschen mit einer Lambachpumpe ebenfalls aus Konz-Oberemmel. Eine Lambachpumpe ist eine Hubkolbenpumpe, bei der ein großer, durch eingeleitetes Bachwasser bewegter Schwimmer in einen darüber angeordneten Zylinder einen Kolben antreibt, der Quellwasser durch eine Druckleitung in einen Hochbehälter fördert. Das Pumpenhäuschen selbst ist eine Rekonstruktion, da das Häuschen am Originalstandort erhalten bleiben sollte. Das Haus Stein aus Niedermennig. Das Haus eines Handwerkers (Maurers), mit einer kleinen Wirtschaft für den Eigenbedarf. Ein typisches Nebengebäude aus Konz-Oberemmel aus dem Jahr 1734. Es ist im Obergeschoss als Malerwerkstatt eingerichtet. Wald- und Holzmuseum Das Wald- und Holzmuseum befindet sich in einem modernen Ausstellungsgebäude unterhalb des Hunsrückweilers. Es wurde in den Jahren 2004 und 2005 mit Unterstützung des Kreiswaldbauernverbands Trier-Saarburg errichtet und im Oktober 2006 eröffnet. Die Ausstellung ist eine wichtige Säule im Gesamtkonzept. Sie zeugt von der Arbeit der Waldbauern, Förster, Jäger und Flößer. Weiterhin finden sich im Waldmuseum die Büroeinrichtung eines Forstamts, Werkstätten holzverarbeitender Berufe wie Stellmacher, in manchen Gegenden auch Wagner genannt, und Fassküfer sowie ein großes Sägegatter aus Saarburg. Baracken Im Frühjahr 2016 bot sich für das Freilichtmuseum Roscheider Hof die Möglichkeit eine sehr gut erhaltene, da seit dem Zweiten Weltkrieg fast immer eingelagerte Reichsarbeitsdienstbaracke zu erwerben. Sie wurde durch eine Fachfirma renoviert und im Herbst 2019 eröffnet. Durch den Ausbau der Stadt Konz als Westwallfestung mit einer Vielzahl von Bunkern besteht zu diesen Bauten ein besonderer Bezug, da während der Bauzeit die hierzu notwendigen Arbeiter größtenteils in derartigen Baracken untergebracht wurden. Die ausgestellte Baracke stammt aus der Eifel und wurde der mündlichen Überlieferung nach als Leitstelle für eine V1-Abschussanlage genutzt. Dieser Barackentyp wurde vom nationalsozialistischen System seit 1934 entwickelt und auch für viele andere Zwecke verwendet. Er existierte neben anderen auch in Konzentrationslagern, Wehrmachtseinrichtungen und wurde zur Unterbringung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern genutzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg dienten diese Baracken noch lange Zeit als Notunterkünfte u. a. zur Unterbringung von Flüchtlingen und wie in Trier auch als Notkirche. Konstruiert ist die Baracke in einer Modulbauweise, alle Teile wie Wand, Boden, Decken etc. waren genormt und konnten in einer Art Stecksystem mittels Schrauben zusammengefügt werden. Die Giebelbreite eines Einzelmoduls betrug 3,30 m. Je nach Zweck konnten beliebig viele Elemente aneinandergereiht werden. Seit dem März 2021 steht neben der RAD-Baracke eine Nissenhütte, eine vom kanadischen Ingenieur und Offizier Norman Nissen, im Jahre 1916 entworfene aus Metall gefertigte schnell auf- und abbaubare Behelfsunterkunft. Auch sie wurde in den Weltkriegen für vielerlei Zwecke eingesetzt. Bäume, Gärten, Wein und Steine Korrespondierend zu den Ausstellungen zur bürgerlichen Wohnkultur befindet sich unterhalb des Ausstellungsgebäudes ein Rosengarten mit historischem Pavillon sowie ein Kräutergarten. Oberhalb des Rosengartens befindet sich eine Ausstellung historischer Grenzsteine. Unterhalb des Rosengartens wurden um eine historische Kapelle aus dem Westerwald alte Grabkreuze aufgestellt. Bemerkenswert ist das Grabmal eines russischen Kriegsgefangenen aus dem Ersten Weltkrieg. Weitere Grabsteine kamen ins Museum, als von 2006 bis 2007 im Rahmen der Inwertsetzung des römischen Erbes in Konz neben der Konzer Pfarrkirche römische Mauern freigelegt wurden und deshalb alte Grabsteine weichen mussten. Im Sommer 2019 wurde von der ökumenischen Männer-Arbeitsgruppe "Ora et labora" zwischen den Häusern aus Oberemmel und Niedermennig ein Weinberg angelegt und in diesem Zusammenarbeit neben dem Haus aus Niedermennig ein Weinbergs-Trockenmauer aufgeschichtet. Das Museum besitzt Streuobstwiesen mit regionalen Obstsorten und kleine Museumsfelder, auf denen verschiedene Feldfrüchte angebaut werden. Die Gärten des Hunsrückweilers stellen Gärten im Rheinischen Mittelgebirge etwa um 1900 dar. Der Garten beim Trierer Einhaus stellt einen Garten im Flusstal von Saar oder Mosel, etwa um 1950 dar. Beide Gärten wurden im Rahmen des Projektes Gärten ohne Grenzen in den Jahren 2000 und 2001 neu gestaltet. Seit 2014 befindet sich am Rande der Streuobstwiesen ein vom Konzer Imkerverein betriebener Lehrbienenstand. Außenstelle Ölmühle Lage: Eine Außenstelle des Museums ist eine historische, funktionstüchtige Ölmühle im Konzer Tälchen. Die Mühle im Tal des Niedermenniger Bachs stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und wurde noch bis in die 1960er-Jahre betrieben. Die Ölmühle Niedermennig wurde im Jahr 1849 erbaut. Das Mahlwerk wurde von dem Wasser des Niedermenniger Baches angetrieben. Der natürliche Bachlauf wurde zu diesem Zwecke gestaut und das Wasser über einen künstlich angelegten Mühlenbach in einen Mühlenteich geleitet, der 1.100 m² groß war und einen Wasserinhalt von 900 m³ aufwies. Der wirtschaftliche Einzugsbereich der Mühle erstreckte sich wohl bis nach Pellingen, Hentern, Wiltingen und Kommlingen. Die Niedermenniger Müller waren außerdem Landwirte und Winzer. Die Mühle war durchgehend bis 1943 und nach einer Restaurierung von 1949 bis in die 60er-Jahre in Betrieb. Kurz nach dem Krieg spielte angesichts der schlechten Versorgungslage das Mahlen von Bucheckern eine Rolle. Ansonsten wurden vor allem Raps oder Nüsse verarbeitet. 1967 wurde der Betrieb endgültig eingestellt. Museumsaktivitäten Museumspädagogik Das Museum bietet in Zusammenarbeit mit freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein Programm für Kinder und Jugendliche an. Das Spektrum reicht von Erlebnisführungen für Kindergartengruppen und Grundschulklassen bis zu Kindergeburtstagen im Museum. Im Winterhalbjahr gibt es monatlich einen Basteltag für Kinder und ihre Eltern. Für Erwachsene werden verschiedene, thematisch orientierte Führungen, auch in verschiedenen Sprachen, angeboten. Veranstaltungen Traditionell wird die Eröffnung der Museumssaison am Palmsonntag und der Internationale Museumstag im Mai mit der Eröffnung einer Sonderausstellung oder einer anderen Veranstaltung gefeiert. Seit 2008 gibt es an einigen Wochenenden im Jahr Veranstaltungen der Lebenden Geschichte zu verschiedenen Zeitabschnitten (Spätmittelalter, Französische Revolution/Napoleonische Zeit, Leben um 1900, Nachkriegszeit etc.). Im Advent ist an zwei Adventswochenenden Weihnachtsmarkt. Darüber hinaus gibt es an vielen Wochenenden kleinere Veranstaltungen, die sich oft auch speziell an Familien richten. Auf der Waldbühne finden Musikveranstaltungen, Gottesdienste und ähnliches in Zusammenarbeit mit entsprechenden Partnern statt. Sonderausstellungen Das Museum gestaltet pro Jahr ein bis zwei Sonderausstellungen, die meist bis zum Jahresende zu besichtigen sind. Ihr Themenspektrum reicht von Bekleidungsstücken (Hüte, Schuhe, Unterröcke) über Gebrauchsgegenstände wie Koffer, Schreibzeug und Waagen, elektrisches Spielzeug, Gallier und Römer als Zinnfiguren bis zu Ausstellungen zur Geschichte regionaler Industrieunternehmen. Etwa drei Viertel der Sonderausstellungen sind Eigenproduktionen des Museums, die anderen sind Wanderausstellungen, meist von befreundeten Museen oder Museumsvereinigungen. Internetangebot Das Museum war von 1995 bis 2019 über eine Kooperation mit der Hochschule Trier seit 1995 als eines der ersten Freilichtmuseen mit einer Internetpräsenz vertreten. Sie wurde von Beginn an viersprachig (Deutsch, Englisch, Französisch, Niederländisch) angelegt. Sie lieferte nicht nur Informationen zum Museumsbesuch und eine Beschreibung des Museums, sondern Zusatzinformationen zu weiteren Themen und einen interaktiven virtuellen Museumsrundgang mit Beschreibungen von Ausstellungen und Häusern, Dokumentationen von vergangenen Sonderausstellungen sowie Videos von Ausstellungseröffnungen, Vorführungen und Museumsfesten. Eine exemplarische Dokumentation der moselfränkischen Mundart im Arbeitsgebiet des Museums umfasst über 100 Videos. Im Juni 2013 wurde die Website komplett erneuert. Im Zuge des Relaunch von 2019 wurde die Kooperation aufgelöst. Bis 2019 war die Datenbank der Kulturgüter in der Region Trier ein Bestandteil der Webseite des Roscheider Hofs. Heute (2021) ist das Museum nicht nur mit seiner eigenen Homepage, sondern auch auf vielen Digitalkanälen und Sozialen Netzwerken wie museum-digital, Deutsche Digitale Bibliothek, europeana, instagram und facebook vertreten. Siehe auch Fourneau Saint Michel (Nachbarmuseum in Belgien) Rheinland-Pfälzisches Freilichtmuseum Bad Sobernheim Liste europäischer Freilichtmuseen Literatur Weblinks Webpräsenz des Museums Digitalisierte Museumsobjekte bei Museum Digital Einzelnachweise Hunsrück Bauernhofmuseum in Deutschland Kulturdenkmal in Konz Roscheider Hof Freilichtmuseum in Rheinland-Pfalz Garten in Rheinland-Pfalz Gegründet 1976 Wikipedia:Artikel mit Video Bauwerk in Konz Museum im Landkreis Trier-Saarburg Garten in Europa Organisation (Konz) Handwerksmuseum
310726
https://de.wikipedia.org/wiki/Z%C3%BCrich%20Hauptbahnhof
Zürich Hauptbahnhof
Zürich Hauptbahnhof (kurz Zürich HB, auch Zürcher Hauptbahnhof, bis 1893 Bahnhof Zürich) in Zürich ist der grösste Bahnhof der Schweiz. Er ist ein bedeutender Eisenbahnknoten für Züge aus dem In- und Ausland. Mit durchschnittlich 367'000 Fahrgästen an Werktagen (Stand: 2022) und rund 3000 Zugfahrten pro Tag ist er der meistfrequentierte Bahnhof auf dem Schienennetz der Schweizerischen Bundesbahnen, ebenso gehört er zu den verkehrsreichsten Bahnhöfen Europas. Der Hauptbahnhof liegt nördlich der Altstadt. Er besitzt insgesamt 26 Gleise für den Personenverkehr in vier Teilbahnhöfen. Überwiegend dem Fernverkehr dient der oberirdische Kopfbahnhof. Die Tiefbahnhöfe Museumstrasse an der Nord- und Löwenstrasse an der Südseite sind als Durchgangs­bahnhöfe konzipiert. Ersterer dient ausschliesslich Zügen der S-Bahn Zürich, letzterer auch dem Fernverkehr. Hinzu kommt unter dem südlich angrenzenden Bahnhofplatz der Kopfbahnhof der Sihltal-Zürich-Uetliberg-Bahn (SZU). Die Bahnhofteile sind durch die unterirdische Einkaufspassage Shopville miteinander verbunden. Westlich des Hauptbahnhofs erstrecken sich die Gleisanlagen rund vier Kilometer weit bis zum Bahnhof Altstetten. Im Jahr 1847 wurde der Hauptbahnhof als Endpunkt der ersten Bahnstrecke der Schweiz von Zürich nach Baden eröffnet und zählt somit zu den ältesten Bahnhöfen des Landes. An die Stelle der ersten Bauten trat die von Jakob Friedrich Wanner im Neorenaissance-Stil entworfene und 1871 fertiggestellte Bahnhofshalle. Diese dient heute nicht mehr ihrem ursprünglichen Zweck, nachdem 1930 der Bahnverkehr in die angrenzende Gleishalle verlegt wurde. Die oberirdischen Teile des Hauptbahnhofs stehen als Kulturgut von nationaler Bedeutung unter Denkmalschutz. Der Tiefbahnhof Museumstrasse ging 1989 in Betrieb. Ein Jahr später folgte die Eröffnung des S-Bahn-Verkehrs und des SZU-Bahnhofs. Schliesslich kam 2014 der Tiefbahnhof Löwenstrasse hinzu. Lage Der Hauptbahnhof steht nördlich der Zürcher Altstadt, auf einer sich verjüngenden Landzunge zwischen den Flüssen Limmat im Osten und Sihl im Westen. Die Sihl fliesst zwischen den ebenerdigen und unterirdischen Gleisanlagen hindurch, in einem aus fünf parallelen Durchlässen bestehenden Tunnel von rund 150 m Länge. Sie mündet etwa 400 m weiter nördlich beim Platzspitz in die Limmat. Das Gebiet gehört administrativ zum Quartier City im Kreis 1. Im Osten wird der auf gelegene Hauptbahnhof vom Bahnhofquai an der Limmat begrenzt, im Norden von der Museumstrasse mit dem Landesmuseum auf der gegenüberliegenden Strassenseite, der Zollbrücke und der Zollstrasse sowie im Süden vom Bahnhofplatz, der Postbrücke, dem Europaplatz und der Europaallee. Die Bahnhofbrücke und die Walchebrücke führen vom Bahnhofquai aus zum östlichen Limmatufer. Vom Bahnhofplatz, auf dem seit 1889 ein Denkmal zu Ehren des einflussreichen Eisenbahn­unternehmers Alfred Escher steht, erstrecken sich in südlicher Richtung die Bahnhofstrasse, die Löwenstrasse und parallel zum Ostufer der Sihl die Gessnerallee. Bauwerke Der Zürcher Hauptbahnhof ist in mehrere Teile gegliedert: Ebenerdig befinden sich die historische Bahnhofshalle von 1871 sowie daran angebaut die Querhalle auf der Höhe der Löwenstrasse und die als Kopfbahnhof konzipierte Gleishalle, beide von 1929/30. Hinzu kommen drei betrieblich nicht miteinander verbundene Tiefbahnhöfe, die wie die Gleishalle von Osten nach Westen ausgerichtet sind. Der 1989 eröffnete Tiefbahnhof Museumstrasse an der Nordseite dient ausschliesslich dem Verkehr der S-Bahn Zürich. 2014 kam der Tiefbahnhof Löwenstrasse unter dem südlichen Teil der Gleishalle hinzu, der sowohl dem Fern- als auch dem S-Bahn-Verkehr dient. Beide sind Durchgangsbahnhöfe. Unter dem Bahnhofplatz angeordnet ist der 1990 eröffnete Kopfbahnhof der Sihltal-Zürich-Uetliberg-Bahn. Auf einer Zwischenebene ist das Shopville zu finden. Dieses unterirdische Einkaufszentrum stellt Verbindungen zwischen den ober- und unterirdischen Teilen des Bahnhofs, zu den angrenzenden Strassen und Plätzen sowie zu den rund um den Hauptbahnhof angeordneten Strassenbahn­haltestellen her. Bahnhofshalle Fassaden Die Bahnhofshalle enthielt bis 1930 sechs Gleise, danach provisorische Bauten; seit 1988 ist sie weitgehend leer. Von Süden und Osten her präsentiert sie sich als prunkvolles Neorenaissance-Bauwerk mit Fassaden aus Sandstein. Die symmetrisch gegliederte südseitige Hauptfassade wird von dem als Triumphportal ausgebildeten Mittelrisalit dominiert. Dieser dient als Ein- und Ausgang und steht genau in der Achse der Bahnhofstrasse. Flankiert wird er von je zwei kolossalen Pilastern mit korinthischen Kapitellen. Die Attika der Pforte besitzt reichen Figurenschmuck, entworfen von Ernst Rau. Die mittlere der drei in Zink gegossenen Figuren stellt die Helvetia als Symbol des Verkehrswesens dar. Ihr zur Seite sitzen zwei weitere Frauengestalten als Verkörperung von Eisenbahn und Telegrafie einerseits sowie des Schiffsverkehrs andererseits. Ludwig Keiser schuf die vier darunter befindlichen Standfiguren (Handel, Kunst, Wissenschaft, Handwerk) sowie die Löwen als Schildhalter des Zürcher Wappens. Auch die Mittelpartien der Seitenflügel sind als Pforten ausgebildet. Darüber reihen sich Akroterien und je eine Figurengruppe mit Putten. Abgeschlossen werden die Flügel durch Seitenrisalite. Die östliche, zum Bahnhofquai und zur Limmat ausgerichtete Fassade ist horizontal in drei Bereiche geteilt. Das durchgehend arkadisierte Erdgeschoss umfasst eine Vorhalle mit Terrasse und Brüstung. Auf der Balustrade der Vorhalle sind acht Vasen aufgereiht, mit einer goldenen Kilometersäule nach antikem Vorbild in der Mitte. Die Säule markiert den Ausgangspunkt des Schienennetzes der früheren Schweizerischen Nordostbahn und wird von einer Männer- und einer Frauenfigur begleitet, die den Maschinenbau und die Landwirtschaft darstellen (1907 von Cristoforo Vicari geschaffen). Über zwei der Arkadenbögen befinden sich vier skulptierte Köpfe als Symbole für Handel, Bahnverkehr, Telegrafie und Maschinen­industrie. Zwei grosse Thermenfenster über der Terrasse prägen den mittleren Bereich der Fassade. Begleitet werden sie von vier Löwenköpfen des Bildhauers Ferdinand Barth, die für die Stadt und den Kanton stehen. Genau im Zentrum befindet sich ein schmales Mittelfenster mit einem Schlussstein in Form eines Merkurstabs. Darüber zeichnet ein flacher Segmentbogen die Rundung der Hallendecke nach. Seitlich auf dem Dachgiebel stehen zwei Genien in Zinkguss, die beide ein Zürcher Wappen halten. Den Abschluss bilden zwei seitliche Turmaufbauten und das zentrale Türmchen mit zwei Glocken. Einen modernen Kontrast setzt der 1996 nach Plänen von Ralph Baenziger und Rainer Weibel fertiggestellte Nordosttrakt an der Museumstrasse. Er enthält das Bahnreisezentrum und Gaststätten im Erdgeschoss, Schulungs- und Bahnbetriebsräume in den beiden Obergeschossen sowie Personalräume und -restaurant im Dachgeschoss. Vom Volumen und von der Architektur her hebt er sich deutlich vom Altbau ab und ist von diesem durch einen Lichtschlitz getrennt. Das Dach besitzt die Form einer Welle. An den gläsernen Seitenwänden des Bahnreisezentrums ist das von Andreas Christen geschaffene Kunstobjekt Pyramid Cut befestigt, das vertikale Bahnen und Trapeze darstellt. An der Ostfassade des Nordosttraktes wurde das ehemalige Posttor rekonstruiert, wobei zwei Hochrechteck­reliefs im Original erhalten geblieben sind. Sie zeigen Frauenfiguren mit Attributen von Post und Bahn (Taube und Flügelrad). Innenraum Seit der Entfernung verschiedener Pavillonbauten Ende der 1980er Jahre ist die 131 m lange, 43 m breite und 26 m hohe Bahnhofshalle der grösste überdachte öffentliche Platz der Schweiz, wobei die Leere den monumentalen Eindruck verstärkt. Die einzigen permanenten Einrichtungen sind Treppen, Rolltreppen und Lifte, die durch drei grosse rechteckige Öffnungen im Hallenboden hinunterführen. Das mit Holz verschalte Dach spannt sich über sieben Quergiebel und besitzt mehrere Öffnungen, die einst dem Rauchabzug der Dampflokomotiven dienten. Getragen wird das Dach von sechs eisernen Doppel-Fachwerkbögen und von je einem Bogen an den Hallenenden. Im Erdgeschoss besitzt die Mauer Arkaden im Rhythmus 1-3-1, entsprechend dazu rhythmisiert ist auch der Bereich der Obergeschosse mit kleinen Ochsenaugen und den Thermenfenstern. In der dazwischen liegenden Wandzone sind 15 Medaillons aus Terrakotta befestigt. Sie stellen in allegorischer Form Ackerbau, Bergbau, Gartenbau, Handel, Industrie, Musik, Schifffahrt und Wissenschaft dar. An der Stirnfassade befinden sich zusätzlich sechs Löwenköpfe als Symbol Zürichs, zwei Köpfe über der Mitteltür repräsentieren den Handel und den Eisenbahnverkehr. In der Halle sind mehrere zeitgenössische Kunstinstallationen dauerhaft ausgestellt. Vom Dach hängt seit November 1997 an Stahlseilen die elf Meter hohe und 1,2 Tonnen schwere Figur von Niki de Saint Phalle. Das Geschenk der Securitas AG zur 150-Jahr-Feier des Hauptbahnhofs stellt eine «Nana» dar, eine voluminöse Frau in Form eines Schutzengels. Die aus einem Aluminiumgerüst und Kunststoff bestehende Figur ist mit Pop-Art-Motiven bemalt. Das philosophische Ei von Mario Merz erstreckt sich seit 1991 an der Glaswand des westlichen Hallenabschlusses über eine Fläche von 330 m². Die Skulptur besteht aus spiralförmigen roten Neonröhren, frei hängenden Tierfiguren und blau leuchtenden Ziffern. Letztere stellen die ersten Zahlen der Fibonacci-Folge dar. Dieter Meier versenkte am 9. Mai 2008 im Rahmen des Kunstprojekts («das Nichts aus Gold») eine vergoldete Kugel in einen beleuchteten und mit einer Glasplatte abgedeckten Schacht. Die («goldene Jahrhundertkugel») soll im Verlaufe von genau hundert Jahren sieben Mal aus dem Schacht gehoben, auf einer hölzernen Bahn um zwölf Meter bewegt und in einem neuen Schacht versenkt werden. Im September 2006 installierte die ETH Zürich zu ihrem 150. Geburtstag die NOVA. Das weltweit erste dreidimensionale bivalente Display bestand aus 25'000 einzeln adressierbaren Lichtkugeln auf einer Grundfläche von 5 × 5 m. Es erzeugte ein Lichtspiel aus 16 Millionen möglichen Farben und konnte auch filmische Bildsequenzen zeigen. 2012 wurde die 3,3 Tonnen schwere Installation entfernt. Im Nordosttrakt, neben dem Bahnreisezentrum, befindet sich die Brasserie Federal. Sie war 1902 als Restaurant für Drittklass­fahrgäste erbaut und 1991 abgebrochen worden. Bei ihrer Rekonstruktion im Jahr 1996 bildete man die späthistoristische Wandgestaltung nach. Der Figurenschmuck umfasst vier Medaillons mit Köpfen an den Längsseiten und acht weitere Köpfe in den Feldern über den Wandvorlagen. Sie symbolisieren die Erdteile und die Musen. Original erhalten geblieben ist nur das in die Deckenmitte eingelassene Jugendstil-Glasfenster mit farbigen Ornamenten, dessen zentrales Motiv ein Flügelrad ist. Zwischen der Bahnhofshalle und dem Bahnhofquai erstreckt sich die Vorhalle aus dem Jahr 1871. Ihre kassettierte flache Decke ist mit Unterzügen in 13 verzierte Felder unterteilt. Zwischen den Rundbogen­öffnungen mit verglasten Holztüren stehen halbrunde Säulen mit skulptierten Kapitellen. Südtrakt Vom Bahnhofplatz gelangt man durch die Triumphpforte in die Kuppelhalle, einen annähernd quadratischen Raum als Mittelpunkt des 1871 fertiggestellten Südtrakts. Das Gewölbe mit aufgesetzter Laterne zeigt ein Rad mit 16 Rosetten. Zwei von Ernst Rau geschaffene Atlanten stützen beidseits der Kuppelhalle das Gebälk. Ludwig Keiser gestaltete die vier Medaillons in den Zwickeln, mit allegorischen Darstellungen von Musik, Landwirtschaft, Gartenbau und Bahnverkehr. Links und rechts erstreckt sich die langgezogene Wandelhalle. Sie besitzt Rundbogen­arkaden mit Halbsäulen, Pfeiler mit aufwändig gestalteten Kapitellen sowie Deckenfelder mit reichen Profilen. Auf den Wandvorlagen im West- und Ostteil stehen je zwei von Keiser geschaffene Knabenstatuen mit Geldbeuteln, die Merkur und Reichtum darstellen. Zwischen der Kuppelhalle und der Bahnhofshalle befindet sich die Seitenhalle Süd, eine dreiteilige Raumfolge mit repräsentativer Kassettendecke. Der Arkadenbogen im mittleren Bereich besitzt beidseits Zwickel, aus denen je zwei Köpfe hervor ragen; sie stellen einerseits Handel und Bahnverkehr dar, andererseits Industrie und Landwirtschaft. Das so genannte Jagdzimmer, der östlichste Raum im ersten Obergeschoss, hat seine repräsentative historistische Ausstattung bewahrt. Sie besteht aus einer Kassettendecke mit zentralem Deckenspiegel. Auch im benachbarten Treppenhaus sind Reste der ursprünglichen Decken- und Wandgestaltung zu finden. Das Restaurant Imagine, früher Wartesaal und Restaurant 2. Klasse, besitzt eine vornehm ausgestaltete Raumfolge. Diese umfasst korinthische Säulen, Pilaster, kassettierte Stuckdecken mit und ohne Wölbung sowie stuckierte Wände mit Fruchtgehängen, Medaillons und Ornamentbändern. Der Durchgang zur Wandelhalle ist als Rundbogentor geformt, das mit handwerklichen und landwirtschaftlichen Figuren geschmückt ist. In den Lünetten des südöstlichen Bereichs schwingen tanzende Frauengestalten einen Thyrsosstab. Ebenfalls eine historistische Ausstattung besitzt das Café (ehemals Wartesaal und Restaurant 3. Klasse). Seine Räume besitzen Deckenfelder mit Profilen, ornamentalen Stuckaturen und Schablonenmalereien. Hinzu kommen Wandtäfer, Balken, Konsolen, Rundbögen und Säulen mit Kapitellen. Gleishalle (Gleise 3–18) Zu Beginn reichten die oberirdischen Gleise bis zum östlichen Ende der Bahnhofshalle, ab 1902 bis zu deren Mitte auf der Höhe der Bahnhofstrasse. Als Kopfbahnhof hatte der Zürcher Hauptbahnhof stets mit Platznot zu kämpfen. Aus diesem Grund entstand 1929/30 westlich davon die Gleishalle, eine 294 m lange und 108 m breite Stahlhallenkonstruktion. Sie besteht aus sechs nebeneinander gereihten Dächern von 17,8 m Breite, die jeweils zwei Gleise überspannen. Alle besitzen durchgehende Oberlichtbänder, je eines im First und zwei an den Seiten. Genietete mehrgelenkige Binder-Tragwerke mit Stahlrahmen stützen die Dächer in einem Abstand von 14 m. Ursprünglich war die Gleishalle 128 m breit und besass sieben Dächer. Mit der Absicht, den Bahnhof zur Stadt hin zu öffnen, entfernte man die beiden äussersten. Seit 1997 stehen dort zwei baugleiche, weit ausladende Dachkonstruktionen von 240 m Länge mit nach aussen ansteigenden und ausgeklappten Dachuntersichten, welche die Längsausrichtung des Bahnhofs betonen. Ihre Spannweite beträgt 15 m, die Auskragung rund vier Meter. Sie bestehen aus doppelten Fachwerkträgern, die mit hölzernem Gitterrost und Trapezblech bedeckt sind. Getragen werden sie alle 40 m von acht Meter langen, leicht schräg gestellten Betonstützen. Die neuen Dächer verwischen die Grenzen zwischen Perron und nebenan liegendem Trottoir, zumal die Gleishalle keine Aussenwände besitzt. Die 16 oberirdischen Gleise liegen an sieben Mittel- und zwei Seitenperrons von jeweils 420 m Länge. Nahe dem äusseren Ende der Gleishalle, unmittelbar westlich der Sihl, stehen auf jedem Perron markante Betongehäuse, in denen Treppen und Rolltreppen hinunter in die Passage Sihlquai führen. Gleichzeitig tragen die Gehäuse die Hallendächer und dienen im Brandfall als Schürzen, die das Aufsteigen von Rauch nach oben verhindern. Da die oberirdischen Perrons und jene im Durchgangsbahnhof Löwenstrasse nicht genau übereinander liegen, verbinden Schräglifte mit einer Neigung von 73 Grad die beiden Ebenen miteinander und mit dem dazwischen liegenden Fussgängergeschoss. Die ebenfalls 1929/30 erbaute Querhalle, die mit der Gleishalle eine funktionale Einheit bildet, erstreckt sich über die gesamte Länge des Kopfperrons und bildet eine Art Scharnier zur Bahnhofshalle. Die 108 m lange und 24 m breite Glas-Stahl-Konstruktion wird einerseits von der Wand der Bahnhofshalle getragen, andererseits von sieben Stützen. Letztere bilden gleichzeitig den Beginn der Gleishalle. Auf 17 genieteten Rahmenbindern, die mit Zug- und Druckstäben verstärkt sind, ruht das zum First hin leicht ansteigende Dach mit Oberlichtbändern. In der Gleishalle waren die Gleise ursprünglich durchgehend von 1 bis 16 nummeriert. Im Rahmen der Teileröffnung des Durchgangsbahnhofs Museumstrasse am 28. Mai 1989 erhielten sie die Nummern 3 bis 18. Von der Gleishalle aus verkehren Intercity- und InterRegio-Züge in die meisten Regionen der Schweiz sowie internationale Züge wie EuroCity, TGV, ICE, Railjet und ÖBB Nightjet; hinzu kommen vier S-Bahn-Linien (zwei reguläre Linien auf der linksufrigen Zürichseebahn sowie zwei Entlastungslinien zu den Hauptverkehrszeiten). Bahnhof SZU (Gleise 21–22) 11,60 m unter dem Bahnhofplatz, also südlich der Bahnhofshalle, befinden sich in einem Kopfbahnhof die Gleise 21 und 22 für die Züge der Sihltal-Zürich-Uetliberg-Bahn (SZU). Der im Jahr 1990 eröffnete zweigleisige Tiefbahnhof besitzt einen Mittelperron von 125 m Länge, der über zwei Zugänge erreicht werden kann und am westlichen Ende leicht gekrümmt ist. Von hier aus verkehren zwei S-Bahn-Linien: die als S4 bezeichnete Sihltalbahn über Adliswil nach Langnau am Albis (mit vereinzelten Fahrten nach Sihlwald) sowie die Uetlibergbahn (S10) auf den Uetliberg, den Zürcher Hausberg. Beide befahren vom Hauptbahnhof aus einen 1592 m langen, überwiegend unter der Sihl verlaufenden Tunnel, bevor sie sich beim Giesshübel trennen. Die Seitenwände und Mittelpfeiler des Tiefbahnhofs waren in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre als Bauvorleistung für die nie verwirklichte U-Bahn Zürich erstellt worden. Zu Beginn trugen die Gleise die Nummern 1 und 2, aufgrund der bevorstehenden Inbetriebnahme der Durchmesserlinie erhielten sie beim Fahrplanwechsel im Dezember 2013 die heutigen Nummern. Um die Kapazität des Tiefbahnhofs zu erhöhen, soll bis 2023 ein dritter Zugang geschaffen werden. Im Januar 2019 wurde erstmals die Idee einer Verlängerung des SZU-Tunnels vom Hauptbahnhof zur Universität Zürich präsentiert. Bahnhof Löwenstrasse (Gleise 31–34) 15,40 m unter dem südlichen Teil der Gleishalle erstreckt sich der im Juni 2014 eröffnete unterirdische Durchgangsbahnhof Löwenstrasse. Er umfasst vier Gleise an zwei Mittelperrons von 420 m Länge und 13,5 m Breite. Der Tiefbahnhof ist Teil der Durchmesserlinie Altstetten–Zürich HB–Oerlikon, deren Herzstück der 4,8 km lange Weinbergtunnel zum Bahnhof Zürich Oerlikon im Norden der Stadt ist. Nebst mehreren Linien der S-Bahn Zürich halten seit Oktober 2015 auch zahlreiche Fernverkehrszüge auf der West-Ost-Achse. Damit entfielen zu einem grossen Teil die Wendemanöver, welche die Züge im oberirdischen Kopfbahnhof ausführen mussten, was merklich zu dessen Entlastung beitrug. Der Durchgangsbahnhof schuf genügend Kapazitätsreserven, um die prognostizierte Verkehrszunahme der nächsten Jahrzehnte aufzufangen. Im Vergleich zum 25 Jahre älteren Bahnhof Museumstrasse verfügt der Bahnhof Löwenstrasse über breitere Perrons und ist mit mehr Treppen ausgestattet. Statt auf Schotter sind die Schienen auf gummiartigen, einbetonierten Schwellenblöcken in Schuhschachtel­grösse verlegt. Dieses System namens schützt die Umgebung vor Erschütterungen und Lärm. Die Perrons erhielten einen hellen Steinboden, die Decke einen goldfarbenen Anstrich. Andererseits sind die Tunnelwände schwarz angestrichen, sodass die Perrons wirken, als ob sie wie lange Inseln in einer dunklen Röhre lägen. Die Decken- und Bodenplatten sind diagonal verlegt. So können Anschnitte vermieden werden, die sich aus der unregelmässigen Geometrie von Gleisen, Perrons und Stützen ergeben hätten. Das Fugenraster tritt weniger in Erscheinung, wodurch Decke und Boden flächiger wirken. Bahnhof Museumstrasse (Gleise 41–44) Der zweite Tiefbahnhof befindet sich 13,60 m unter der Museumstrasse, zwischen der Nordseite des Hauptbahnhofs und dem Landesmuseum. In der Halle liegen vier Gleise an zwei 360 m langen und zehn Meter breiten Mittelperrons. Dieser Bahnhof wird ausschliesslich von S-Bahn-Linien bedient und ist der wichtigste Knotenpunkt des Schienennahverkehrs im Zürcher Verkehrsverbund. Die Bahnstrecke führt in südöstlicher Richtung im Hirschengrabentunnel unter der Limmat und der Altstadt hindurch zum Bahnhof Stadelhofen, wo Verknüpfungen zur rechtsufrigen Zürichseebahn sowie durch den Zürichbergtunnel ins Zürcher Oberland und in Richtung Winterthur bestehen. Der Tiefbahnhof war im Mai 1989 zunächst für die Regionalzüge nach Rapperswil und Bülach eröffnet worden, ehe zwölf Monate später die Inbetriebnahme der S-Bahn Zürich folgte. Neben S-Bahnen fuhren im Bahnhof Museumstrasse von 1999 bis 2002 auch die Intercity-Express-Züge nach Stuttgart ab. Diese verkehrten nicht wie üblich über Bülach, sondern über Winterthur, da so eine Kurzwende vermieden werden konnte. Der Boden der Perrons ist mit quer ausgerichteten hell- und dunkelgrauen Platten belegt, während die Wände der Liftgehäuse durchgehend mit horizontalen Streifen in schwarzer und weisser Farbe verziert sind. Dieselben Muster wiederholen sich im darüber liegenden Teil der Fussgängerebene. Architektur, Ausstattungselemente und Oberflächen bilden so eine Einheit, die im Schweizer Bahnhofbau selten derart konsequent ist. Von der Eröffnung bis Mai 2012 trugen die Gleise die Nummern 21 bis 24, seither die Nummern 41 bis 44. Durch die Umbenennung fügen sich die Gleisnummern nun nach dem später hinzugekommenen Bahnhof Löwenstrasse mit den Gleisen 31 bis 34 logisch von Süden nach Norden her ein. Die Änderung war wegen des hohen Aufwands (u. a. Ersatz aller Hinweistafeln) umstritten. Shopville Das zwischen der Bahnhofshalle und den Tiefbahnhöfen gelegene Shopville ist ein weitläufiges unterirdisches Einkaufszentrum, das auch den Bereich unter dem Bahnhofplatz umfasst. Darin befinden sich mehr als 180 Läden, gastronomische Einrichtungen und Dienstleistungsbetriebe. Da die Geschäfte nicht an die kantonalen Ladenöffnungs­vorschriften gebunden sind, haben sie 365 Tage im Jahr (und somit auch sonntags) geöffnet. Mit ironischem Unterton vermarkten die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) das Shopville unter dem Motto «das einzige Einkaufszentrum mit eigenem Hauptbahnhof». Der älteste Teil des Shopville umfasst die «Halle Bahnhofplatz», die 4,70 m unter der Erdoberfläche liegt. Sie besteht seit 1970 und gehört der Stadt Zürich. Ursprünglich bestand der Boden aus rot eingefärbten Kunststeinplatten und trug im Volksmund den Spitznamen «Schwartenmagen». Von 2001 bis 2003 erfolgte eine umfassende Neugestaltung, die dem Prinzip der Lichtarchitektur folgt: Schwarzer Granitboden und schwarz gespritzte Decke bilden den Hintergrund für blau, gelb, grün und rot leuchtende Kuben, Stützen und Bänder. Mittelpunkt ist der Züri-Brunnen, ein Lichtvorhang mit 740 Düsen. 1990 erweiterten die SBB das Shopville um die 7,30 m tief gelegene «Halle Landesmuseum», die «Plaza» sowie um die Passagen Bahnhofstrasse und Löwenstrasse. Ihre Gestaltung ist gleich wie im Durchgangsbahnhof Museumstrasse der S-Bahn und wird von schwarz-weiss gestreiften Marmorpaneelen dominiert. Den Abschluss bildeten 2014 die «Halle Sihlpost» und die Passage Gessnerallee, ebenfalls im Auftrag der SBB und als Ergänzung zur Passage Sihlquai. Am Boden liegt heller Granit, die teilweise leicht geneigte Decke besteht aus weissem Blech und die Wände sind mit weissen Email-Paneelen bedeckt. Auf einem kleinen Zwischengeschoss zwischen Bahnhofshalle und Shopville befindet sich unter anderem die im Juni 2001 eröffnete Bahnhofkirche Zürich, ein interreligiöses Angebot für Reisende und Passanten. Vorbahnhof Der Bereich westlich des Hauptbahnhofs, der sich von der Gleishalle über eine Entfernung von rund vier Kilometern bis zum Bahnhof Altstetten erstreckt, wird als «Vorbahnhof» bezeichnet. Er umfasst ein ausgedehntes, komplexes Gleisfeld mit den Einmündungen mehrerer Strecken, Anschlussgleisen, Wartungseinrichtungen, Abstellanlagen, die Hauptwerkstätten der Schweizerischen Bundesbahnen und Lokomotivdepots (darunter das denkmalgeschützte Lokomotivdepot F aus dem Jahr 1899). Da seine Breite bis zu 400 m beträgt, bildet der Vorbahnhof einen markanten Riegel, der vom Strassenverkehr nur an vier Stellen gequert werden kann (Unterführung Langstrasse, Hardbrücke, Duttweilerbrücke und Europabrücke). Unter der Hardbrücke liegt der gleichnamige S-Bahnhof. Mehrere Überwerfungsbauwerke erlauben die kreuzungsfreie Ein- und Ausfahrt der Züge von und zu den einmündenden Strecken. Dabei ragen vier Brücken heraus. Von der Südseite her quert der 1894 erbaute Aussersihler Viadukt (834 m) das Gleisfeld in einem weiten Bogen und führt nordwärts in Richtung Wipkingen. Er ist Teil der kürzesten Verbindung zwischen dem Hauptbahnhof und dem Bahnhof Oerlikon im Norden der Stadt. 1969 wurde er um den weiter westlich gelegenen Hardturmviadukt (1134 m) ergänzt, der an der Nordseite beginnt und auch Direktfahrten zwischen Altstetten und Oerlikon ermöglicht. Seit 2015 in Betrieb sind die Kohlendreieckbrücke (394 m) und die Letzigrabenbrücke (1156 m), die beide Bestandteil der Durchmesserlinie Altstetten–Zürich HB–Oerlikon sind. Letztere ist die längste Eisenbahnbrücke der Schweiz. Seit März 2021 besteht der Negrellisteg, eine 160 m lange Brücke für Fussgänger, die das Gleisfeld beim Zentralstellwerk überquert. Eine Besonderheit ist ein nichtöffentlicher Bahnübergang mit Barriere, der zwölf Gleise quert. Er befindet sich unmittelbar östlich der Duttweilerbrücke und führt von der Hohlstrasse zur Unterhalts- und Waschanlage inmitten des Gleisfelds. Das beim Aussersihler Viadukt gelegene und von Gleisen umgebene Depot F wiederum ist über die Remisenstrasse sowie durch einen engen und rund 150 m langen nichtöffentlichen Tunnel zur Nordseite des Gleisfelds erreichbar. Der Vorbahnhof diente einst auch als Rangierbahnhof, bis zur Fertigstellung des Rangierbahnhofs Zürich-Limmattal zwischen Dietikon und Spreitenbach im Jahr 1978. Da die zusätzlichen Überwerfungsbauwerke immer mehr Platz beanspruchten, fielen nach und nach die Abstellgleise weg. Aus diesem Grund errichteten die SBB zwischen den Bahnhöfen Hardbrücke und Altstetten die neue Abstell- und Unterhaltsanlage Herdern und nahmen sie im November 2000 in Betrieb. Die Anlage besteht aus einer zweigleisigen Unterhaltshalle für Reisezüge, einer eingleisigen Halle für die Grundreinigung der Züge und einer Durchlauf­waschanlage für die Aussenreinigung. Hinzu kommt ein Abstellfeld mit 24 Gleisen, die zusammen 15 km lang sind. Südwestlich der Kohlendreieck­brücke stand einst der Güterbahnhof Zürich, der von 1897 bis 2009 in Betrieb war. Er wurde 2013 zum grössten Teil abgerissen und wich dem Polizei- und Justizzentrum Zürich. Die verbleibenden Gebäudeteile des Güterbahnhofs sollen 2021 ebenfalls abgerissen werden. Bahnpostwagen wurden zunächst im Nordosttrakt der Bahnhofshalle ver- und entladen, was den übrigen Bahnbetrieb zunehmend störte. 1930 zogen die PTT und die Kreisdirektion III der SBB in die Sihlpost um, die an der Kasernenstrasse unmittelbar südwestlich des Hauptbahnhofs erbaut worden war. Die Anlage verfügte in ihrem hinteren Bereich über sieben (ab 1988 vier) eigene Gleise, die zu einem überdachten Kopfbahnhof zusammengefasst waren. Ab 1938 stand eine führerlose Post-U-Bahn von 340 m Länge zur Verfügung, die eine Verbindung zur Postfiliale im Südtrakt der Bahnhofshalle herstellte und bis 11. Oktober 1980 in Betrieb war. Ihr Tunnel verlief parallel zum Gleis 1 unter dem Trottoir der Postbrücke zum Untergeschoss der Sihlpost. Der Postbahnhof wurde 2009 abgerissen, an seiner Stelle stehen heute Gebäude des Areals Europaallee. Geschichte Zürichs erster Bahnhof Im Mai 1836 beantragte die Zürcher Handelskammer beim Regierungsrat des Kantons Zürich einen Kredit für die Vermessung einer Eisenbahnstrecke von Basel nach Zürich. An einer von der Handelskammer einberufenen Konferenz wurde im Oktober 1837 die Basel-Zürich-Eisenbahngesellschaft gegründet. Diese erteilte dem österreichischen Ingenieur Alois Negrelli den Auftrag, detaillierte Trassenstudien zu erstellen sowie mögliche Verknüpfungen zu bereits bestehenden Bahnen im Ausland zu prüfen. Als Standort des Bahnhofs Zürich war der schmale Landstreifen zwischen der Sihl und dem Schanzengraben im Bereich der Löwen- und Seidenhofbollwerke vorgesehen. Aufgrund der unsicheren politischen Lage (Züriputsch 1839 und Aargauer Klosterstreit 1841) konnten Negrellis Pläne nicht ausgeführt werden und die Gesellschaft löste sich im Dezember 1841 auf. Unter der Leitung des Seidenfabrikanten Martin Escher bildete sich im Mai 1845 ein Komitee, das die Planungen wiederaufnahm und im März 1846 die Schweizerische Nordbahn gründete. Der ersten Bahngesellschaft der Schweiz gelang es, zumindest den 23 km langen Abschnitt durch das Limmattal nach Baden zu bauen, die am 7. August 1847 eröffnete «Spanisch-Brötli-Bahn». Der Architekt Gustav Albert Wegmann hatte von der Nordbahn den Auftrag zur Planung von Stationsgebäude, Bahnhofshallen und Einfriedung erhalten, während Negrelli für die Projektierung der Gesamtanlage und der Betriebsabläufe zuständig war. Ein Architekt namens Meyer entwarf Nebenbauten wie Heizhaus und Lokomotivremisen. Die Bürgergemeinde Zürich stellte 1846 einen Teil des zwischen Limmat und Sihl gelegenen städtischen Schiessplatzes kostenlos als Baugrundstück zur Verfügung. Dem damaligen Schweizer Architekturzeitgeist entsprechend, der grösste Sparsamkeit und die Vermeidung von jeglichem Luxus zum Ziel hatte, schuf Wegmann eine möglichst symmetrische Anlage in einem schlichten spätklassizistischen Stil, die einer Poststation nachempfunden war. Um ankommende und abfahrende Reisende klar zu trennen, entwarf er eine nördliche Ankunftshalle mit Gepäckausgabe und eine südliche Abfahrtshalle mit Empfangsgebäude. Beide Bahnhofteile bildeten zusammen einen «unechten» Kopfbahnhof und besassen je zwei Gleise; hinzu kam ein nicht überdachtes Rangiergleis in der Mitte. Die fünf Gleise führten noch einige Meter weiter bis in die Nähe des Limmatufers, wo sie sich in einer Drehscheibe vereinigten. Einziger Schmuck des Empfangsgebäudes waren vier Medaillons an der limmatseitigen Fassade. Im Gegensatz zu anderen Bahngesellschaften tolerierte die Nordbahn die Akzentuierung der Anlage durch Türme, die in Deutschland und Frankreich häufig vorkamen, in der Schweiz aber als unnötige Zier galten. Mehrgeschossige Eckrisalite flankierten die von Arkaden geprägten Fassaden. Den Akzent in der Mitte setzte ein schlanker, alles überragender Dachreiter mit weitherum sichtbarer Bahnhofsuhr. Im Innern dominierte eine geräumige, breit gelagerte Vor- und Eingangshalle das Erdgeschoss. An der Westseite befanden sich der Wartesaal 3. Klasse, das Gepäckbüro und Dienstlokale, an der Ostseite die Wartesäle der 1. und 2. Klasse mit Gaststätte und Küche. Planung eines Neubaus Auf Initiative des Unternehmers Alfred Escher fusionierte die Nordbahn am 1. Juli 1853 mit der Zürich-Bodenseebahn zur Schweizerischen Nordostbahn (NOB). Da die Fertigstellung der Strecke nach Romanshorn am Bodensee absehbar war, erwog die neue Bahngesellschaft den Bau eines grösseren Bahnhofs an einem anderen Standort. 1854 präsentierte das Technische Bureau der NOB unter der Leitung des Ingenieurs August von Beckh drei Vorschläge, die alle den Bahnhof möglichst nahe bei bestehenden Verkehrs- und Geschäftszentren (Schifflände, Poststation und Kaufhaus) platzieren würden. Der erste Vorschlag sah eine Zweigstrecke vom bestehenden Bahnhof entlang dem Fröschengraben (heutige Bahnhofstrasse) zu einem Güterbahnhof am Ufer des Zürichsees vor. Beim zweiten Vorschlag sollte der Hauptbahnhof unmittelbar am Seeufer stehen, ungefähr im Bereich des heutigen Bürkliplatzes. Der dritte Vorschlag umfasste einen Personenbahnhof beim Neumarkt (heute Paradeplatz) und einen Güterbahnhof am See. Am meisten Zuspruch bei der Stadtbevölkerung fand der zweite Vorschlag, zumal man von der wirtschaftlichen Bedeutung der Zürichseeschifffahrt überzeugt war. In einem von der NOB in Auftrag gegebenen Gutachten rieten die Ingenieure Robert Wilke und Friedrich Busse davon ab, den Bahnhof in die Nähe des Sees zu verlegen. Sie waren der Auffassung, dass der Verkehr in Richtung Bern und Westschweiz in Zukunft viel bedeutender sein werde als jener seeaufwärts. Auf dieser Grundlage beschloss der NOB-Verwaltungsrat am 25. November 1854, den alten Standort beizubehalten. Von 1856 bis 1858 wurde der bestehende Bahnhof provisorisch ausgebaut, um die zusätzlichen Züge der mittlerweile fertiggestellten Bodenseebahn sowie der nach Aarau und Waldshut verlängerten Badener Linie aufzunehmen. Unter anderem entstanden westlich der Sihl weitere Anlagen für den Bahnbetrieb wie Hauptwerkstätte, Güterbahnhof, Remisen, Lagerhäuser und Zollamt. 1860 schrieb die NOB-Direktion einen öffentlichen Wettbewerb aus. Das Wettbewerbs­programm erforderte einen Kopfbahnhof mit einer stützenfreien, 105 × 39 m grossen Bahnhofshalle. Es machte genaue Vorgaben der Anordnung der Räume für Personenverkehr und Bahnverwaltung. Daraufhin lud die Direktion vier renommierte Architekten ein: Johann Jakob Breitinger, Gottfried Semper, Ferdinand Stadler und Leonhard Zeugheer. Mit Ausnahme des Zürcher Staatsbauinspektors Johann Caspar Wolff sind die Namen der Preisrichter nicht bekannt. Im Mai 1861 lagen die Projektentwürfe vor. Breitinger, der schon mehrere Bahnhöfe für die NOB und die Vereinigten Schweizerbahnen entworfen hatte, liess sich vom Pariser Gare de l’Est inspirieren: Grosse Bahnhofshalle mit Rundbögen und offen gezeigter Eisenkonstruktion des lang gestreckten Hallendachs. Semper orientierte sich an klassischen römischen Nutzbauten mit monumentaler Wirkung, wobei er die Stirnseite gegen die Limmat mit einer mächtigen Triumphpforte ausformen und die Eisenträger des Dachs mit einer Holzverschalung bedecken wollte. Dabei bezog er sich auf den von Carl Theodor Ottmer erbauten alten Braunschweiger Bahnhof. Stadler wollte die Bahnhofshalle mit einem mehrtürmigen Gebäudekomplex nach dem Vorbild englischer Bahnhofhotels jener Zeit ummanteln, während die Dachkonstruktion französisch geprägt sein sollte. Zeugheers Entwurf war zurückhaltend, nüchtern und streng symmetrisch, wobei er die Halle hinter Steinbauten versteckte. NOB-Chefarchitekt Jakob Friedrich Wanner erhielt die Wettbewerbs­pläne zur Verfügung gestellt und nutzte sie als Grundlage für sein eigenes Projekt, an dem er ab 1863 auf Empfehlung der Direktion zahlreiche Detailänderungen vornahm. Nach einer weiteren Begutachtung aller Entwürfe im Januar 1865 schloss sich der Verwaltungsrat einstimmig der Meinung Alfred Eschers an und entschied sich für Wanner. Am 24. August 1865 erteilte der Zürcher Stadtrat die Baubewilligung. Der Bahnhof von 1871 Wanners erster Entwurf von 1862 hatte sich noch an jenem von Zeugheer orientiert, danach liess er sich mehr von Semper inspirieren. Auch aus zahlreichen anderen Quellen schöpfte er, insbesondere während einer Studienreise nach Frankreich und Belgien in den Jahren 1863 und 1864, die er im Auftrag der NOB unternahm. Er schuf so einen architektonisch eigenständigen Bau, der in Gesamtdisposition, Organisation und Gestaltung überzeugte. Tatsächlich betonte Semper 1869 in der Deutschen Bauzeitung ausdrücklich, nichts mit dem endgültigen Entwurf des Bahnhofs zu tun zu haben. Wanner entwickelte seinen Entwurf aus der Gleishalle heraus, verlegte aber im Gegensatz zu Semper den Schwerpunkt der Anlage von der Stirn- auf die Längsseite am Bahnhofplatz. Ähnlich wie beim Pariser Gare du Nord stellte er vor die Halle einen breit gelagerten symmetrischen Baukomplex für Aufnahme und Abfertigung der Reisenden sowie für die Bahnverwaltung. Wie beim Brüsseler Gare du Midi gestaltete er den Haupteingang als Triumphpforte. Sie markiert das Ende der Bahnhofstrasse und bildet eine Art Stadttor in die Welt hinaus. Die Bauarbeiten begannen im Oktober 1865. Während die Baumeister Jakob Diener und Christoph Hetzler die Maurer- und Steinhauerarbeiten ausführten, war Friedrich Ulrich für die Zimmerarbeiten zuständig. Hallenmauer und Flügelbauten am Bahnhofplatz waren Ende 1866 fertiggestellt. Nachdem 1867 ein provisorisches Stationsgebäude in Betrieb genommen worden war, begann der Abbruch des alten Bahnhofs, da er dem Südtrakt im Weg stand. Nach der Fertigstellung der Limmatfassade montierte Klett & Comp. aus Nürnberg die Hallenkonstruktion. 1868 deckte man die Bahnhofshalle ein, Ende 1869 war der Rohbau fertiggestellt. Der Innenausbau verzögerte sich aufgrund einer Cholera-Epidemie und eines Unfalls von Wanner, der sich bei einem Sturz ins Kellergeschoss ein Bein gebrochen hatte, sowie durch den Deutsch-Französischen Krieg. Schliesslich konnte der sechsgleisige Neubau am 15. Oktober 1871 dem Betrieb übergeben werden. Wie sein Vorgänger war er ein unechter Kopfbahnhof mit dem Aufnahmegebäude parallel zu den Gleisen. Den Grundriss hatte Wanner so organisiert, dass die Ströme der Reisenden klar gelenkt wurden. Vom Eingang gingen die Erst- und Zweitklass­passagiere nach rechts zu den Billettschaltern, die Drittklass­passagiere nach links. Über Korridore gelangten sie zum Restaurant oder zu verglasten Lichthöfen. Anschliessend folgten die nach Wagenklassen getrennten Wartesäle in Nähe der Perrons. Der Hauptausgang befand sich an der Stirnseite zur Limmat hin. Der alte Bahnhof war relativ schlecht an die Stadt angebunden gewesen, entweder durch eine schmale Brücke über den Schanzengraben oder durch den seit 1662 bestehenden hölzernen Langen Steg über die Limmat. Stadtingenieur Arnold Bürkli ersetzte den Langen Steg 1863 durch die Bahnhofbrücke, 1864/65 entstand die zum See führende Bahnhofstrasse. Somit verfügte der neue Bahnhof von Anfang an über zeitgemässe Zufahrten. Ebenso war Bürkli für die Gesamtplanung des repräsentativen Bahnhofquartiers auf der ehemaligen Schützenwiese unmittelbar südlich des Bahnhofs verantwortlich. Während die dort nach einheitlichen Gestaltungsvorschriften errichteten Häuser zunächst vor allem Wohnzwecken dienten, entwickelte sich das Bahnhofquartier um 1880 zu einem noblen Geschäftsviertel. Der Bahnhof wirkte von der Kernstadt aus gesehen sehr weltstädtisch, hingegen wandelte sich die unmittelbar westlich gelegene Vorortsgemeinde Aussersihl zum Wohnort der unteren Bevölkerungs­schichten. Entlang der Bahnstrecken und rund um die Betriebsanlagen entstanden ausgedehnte Industrieanlagen und ärmliche Wohnviertel, in denen die Einwohner auf engstem Raum lebten. Der starke soziale Kontrast zwischen den angrenzenden Stadtteilen blieb zum Teil bis zum frühen 21. Jahrhundert bestehen. Weitere Neubauplanungen Schon bald nach der Eröffnung des neuen Bahnhofs plante die NOB dessen Erweiterung, da inzwischen mehrere zusätzliche Bahnstrecken nach Zürich gebaut worden waren oder bald hinzukommen würden. Die Anlage fand viel Anerkennung, hatte aber auch Mängel. So verhinderte der Erddamm der Winterthurer Linie, der nahe der Halle begann, einen Ausbau der Gleisanlagen. Der Damm war so steil, dass langen Zügen bis Oerlikon eine zweite Lokomotive vorgespannt werden musste. Ausserdem waren die Güterverkehrs­anlagen ineffizient auf mehrere Standorte verteilt. Die NOB-Oberingenieure Robert Moser und Theodor Weiss erarbeiteten mit externen Fachleuten – darunter Robert Gerwig und Emil Hartwich – ein Projekt, das 1874 vorlag und die vollständige Trennung von Personen- und Güterverkehr vorsah. Wegen der Grossen Depression fehlte das Geld für die Umsetzung, ausserdem verhängte der Bundesrat nach dem Konkurs der Schweizerischen Nationalbahn ein zehnjähriges Bahnbaumoratorium. Schliesslich konnte 1894 nach zweijähriger Bauzeit der Aussersihler Viadukt eröffnet werden, der eine betrieblich deutlich bessere Streckenführung der Winterthurer Linie und die Anbindung der rechtsufrigen Zürichseebahn mit dem Lettentunnel ermöglichte. Nach der Eisenbahnkrise der 1870er Jahre stiegen die Zugfrequenzen allmählich wieder an. Auch der Umfang des Personen- und Güterverkehrs nahm zu, sodass Wanners Bahnhof an seine Kapazitätsgrenzen stiess. Verschiedene Architekten und Ingenieure machten Ausbauvorschläge, die allesamt nicht verwirklicht wurden. Hartwich hatte bereits 1874 vorgeschlagen, die rechtsufrige Zürichseebahn auf einem Viadukt nördlich an der Bahnhofshalle vorbei zu führen. Alfred Chiodera propagierte 1888 einen weiter westlich auf der Höhe der Löwenstrasse gelegenen Reiterbahnhof. 1894 wollte Jacques Gros westlich der Sihl einen neuen Kopfbahnhof errichten, Heinrich Ernst hingegen 1896 einen Durchgangsbahnhof an der Langstrasse. Als Folge der Eingemeindung mehrerer Vororte erhielt Zürich im Jahr 1893 zusätzliche Bahnhöfe. Der bestehende Bahnhof Zürich, der einzige auf dem ursprünglichen Stadtgebiet, wurde fortan Hauptbahnhof genannt. Im selben Jahr legte die NOB ein überarbeitetes Ausbauprojekt vor, das sich im Wesentlichen auf Gleisverschiebungen beschränkte und bei den Aktionären auf Widerstand stiess. Eine von Adolf Guyer-Zeller geleitete Finanzgruppe sicherte sich 1894 an der Generalversammlung die Stimmenmehrheit und tauschte die NOB-Direktion aus, die daraufhin das bisherige Projekt zu den Akten legte. Ein neues Projekt von 1895 brachte zwar betriebliche Vorteile, liess aber wesentliche städtebauliche Forderungen ausser Acht. Die NOB wollte den Personenbahnhof ans linke Sihlufer verschieben und das freiwerdende Areal spekulativ veräussern. Der Schenkungsvertrag von 1846 hatte jedoch festgelegt, dass das Gelände an die Stadt zurückfällt, sobald es nicht mehr für den Bahnbetrieb genutzt wird. Daraufhin war die NOB nicht mehr an einer Verlegung interessiert. 1897 eröffnete sie den Güterbahnhof Zürich an der Hohlstrasse, zwei Jahre später das Lokomotivdepot F im «Kohlendreieck». Oberirdische Erweiterungen Am 20. Februar 1898 nahmen die Schweizer Stimmberechtigten in einem fakultativen Referendum das «Bundesgesetz über die schweizerischen Bundesbahnen» an, das die Verstaatlichung der fünf grössten Privatbahnen vorsah, darunter der NOB. Das Gesetz führte zur Gründung der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), die ab 1. Januar 1902 für den Hauptbahnhof zuständig waren. Obwohl das Ende der NOB absehbar war, baute sie den Personenbahnhof von 1897 bis 1902 in zwei Etappen nach Plänen von Theodor Weiss um. Die sechs bestehenden Gleise in der Bahnhofshalle wurden einerseits auf die Höhe der Bahnhofstrasse verkürzt und mit einem breiten Kopfperron abgeschlossen, andererseits die Mittelperrons über die Sihl verlängert. Nördlich davon kamen ausserhalb der Halle zwei zusätzliche überdachte Mittelperrons mit je zwei Gleisen hinzu. An die Stelle der früheren Gepäckabfertigung entstand ein neuer Hauptausgang zum Bahnhofplatz. Wartesaal und Restaurant der 3. Klasse verlegte man vom Süd- in den neuen Nordosttrakt, wo sich auch die Bahnpost einrichtete. Die Gepäckabfertigung wiederum belegte die frei gewordene Fläche zwischen dem Kopfperron und dem Ausgang zum Bahnhofquai. Durch die Umgestaltung fiel die bisherige klare Lenkung der Reisenden weg. 1904 fügten die SBB an der Nordseite ein elftes Gleis hinzu. Der umgebaute Bahnhof war nach nur anderthalb Jahrzehnten bereits wieder ausgelastet, weshalb die SBB 1916 ein «Generelles Projekt der Bahnhof-Erweiterung Zürich» vorlegten. Es wurde zwar nie realisiert, doch einzelne Elemente flossen in spätere Projekte ein, beispielsweise die Verlegung des gesamten Postverkehrs zur benachbarten Sihlpost im Jahr 1930. Eine von Stadt und Kanton Zürich eingesetzte Expertengruppe unter der Leitung von Karl Moser stand dem «generellen Projekt» kritisch gegenüber. Sie empfahl den Abbruch von Wanners Empfangsgebäude und präsentierte unaufgefordert zwei Neubauvarianten: einen Durchgangsbahnhof in Hochlage am bisherigen Standort und einen Kopfbahnhof monumentalen Ausmasses an der Löwenstrasse mit markant erweitertem Bahnhofplatz. Ebenso schlug sie die Heranführung der Sihltal-Zürich-Uetliberg-Bahn an den Hauptbahnhof vor – ein Vorhaben, das erst sieben Jahrzehnte später verwirklicht werden sollte. 1915 schrieb der Zürcher Stadtrat den Ideenwettbewerb «Gross-Zürich» aus, der zum Ziel hatte, die städtebauliche Planung auf eine fundierte Grundlage zu stellen. Aufgrund des Ersten Weltkriegs und der Spanischen Grippe verzögerte sich der Abgabetermin bis 1919. Einige der von den Teilnehmern untersuchten Fragestellungen betrafen auch die Neuorganisation des Bahnverkehrs. Beispielsweise planten die Wettbewerbssieger Konrad Hippenmeier und Albert Bodmer auf der Höhe der Löwenstrasse einen neuen U-förmigen Kopfbahnhof. Karl Moser brachte zusätzlich zu seinem früheren Vorschlag auch einen Nord-Süd-Durchgangsbahnhof westlich der Langstrasse ins Spiel, wobei das freiwerdende Bahngelände zu einer Prachtallee ausgebaut werden sollte. Keine der Ideen wurde weiterverfolgt, nicht zuletzt wegen des fehlenden Interesses der SBB. Stattdessen entwickelten die SBB den bestehenden Standort unter der Leitung ihres Oberingenieurs Alexander Acatos weiter. Zwischen 1923 und 1927 elektrifizierten sie alle zum Hauptbahnhof führenden Strecken. 1924 lag ein weiteres Ausbauprojekt vor, das über einen Zeitraum von 15 bis 20 Jahren verwirklicht werden sollte. Es war so etappiert, dass die endgültige Entscheidung zwischen Kopf- oder Durchgangsbahnhof erst zu einem relativ späten Zeitpunkt getroffen werden musste. Das erste Vorhaben war das Lokomotivdepot G, das 1927 in Betrieb ging. 1929/30 wurden die Perrons um 125 m nach Westen verlängert, was den Bau mehrerer neuer Brücken über die Sihl erforderte. Darüber errichtete die Theodor Bell & Cie. eine mehrschiffige Gleishalle mit Platz für 16 statt wie bisher elf Gleise. Die Breite des Personenbahnhofs vergrösserte sich dadurch von 68 auf 122 m. Conrad Zschokke entwarf die zwischen Gleis- und Bahnhofshalle liegende Querhalle mit dem neuen Kopfperron, erschlossen durch einen Eingang von der Löwenstrasse her. Die neuen Bauwerke waren architektonisch bewusst schlicht gehalten, da sie nach spätestens zwei Jahrzehnten ersetzt werden sollten. Beim Umbau musste die Bahnhofshalle etwas verkürzt werden, weshalb sie die beiden westlichen Ecktürme einbüsste. Dauerprovisorium Die Gleishalle und die Querhalle waren lediglich als Provisorien bis zum endgültigen Umbau des Hauptbahnhofs gedacht, bestehen aber bis heute. Als die Stadtbehörden im März 1931 von der SBB-Kreisdirektion III das endgültige Projekt vorgelegt erhielten, reagierten sie sehr kritisch, da keine ihrer zuvor geäusserten Wünsche bezüglich der Platzierung einzelner Betriebsteile berücksichtigt worden waren. Verschiedene Architekten liessen es sich währenddessen nicht nehmen, der Öffentlichkeit weitere hochfliegende Pläne zu präsentieren. Schliesslich entschieden sich die SBB dazu, alle Planungen fallenzulassen und den Umbau auf ein Minimum zu beschränken. Dazu gehörten neue Restaurants und Diensträume sowie ein einstöckiger Pavillon im frei gewordenen Teil der Bahnhofshalle, der Platz für verschiedene Dienstleistungen bot. Diese Arbeiten waren 1933 abgeschlossen. Zwei Jahre später kam auf der nicht mehr genutzten Fläche zwischen Bahnhofshalle und Museumstrasse eine Einstellhalle für Autos hinzu. Das Projekt von 1924 war auf halbem Weg steckengeblieben. 1934 verzichteten die SBB definitiv auf den Bau eines Durchgangsbahnhofs und lösten ihr «Studienbureau für den Ausbau des Bahnhofs Zürich» auf. Dennoch blieben mehrere Probleme weiterhin bestehen. Das grösste war der Gepäcktransport, der ebenerdig erfolgte und die Passagierströme kreuzte. Die Billett- und Auskunftsschalter, Wartesäle und Toiletten waren zu klein oder ungünstig gelegen. Nachdem die Fahrgast­frequenzen während der Weltwirtschaftskrise gesunken waren, stiegen sie wieder rasch an und die Hallengleise waren Mitte der 1940er Jahre bereits wieder überlastet. Die Perrons waren seit dem Ausbau 350 m lang, effektiv nutzbar waren aber nur 280 m. Aufgrund der geringen Zuglänge mussten mehr Züge verkehren, was die Kapazität weiter einschränkte. Die Abstell- und Rangieranlagen waren zu klein, ungünstig gelegen oder zu weit auseinander. Ebenso waren die Einfahrgleise nicht nach den Verkehrsbeziehungen geordnet und Güterzüge von und nach Oerlikon oder Meilen mussten gar eine Spitzkehre auf Gleis 9 machen. 1943 richteten die SBB ein neues Studienbüro ein. Nachdem es zwei Varianten eines Durchgangsbahnhofs geprüft und verworfen hatte, stellte es 1946 ein neues Kopfbahnhof­projekt mit 21 Gleisen vor. Das Empfangsgebäude wäre weiter im Westen gewesen, die Perrons wären 420 m lang geworden und der Bahnhofplatz wäre vergrössert worden. Geplant war auch die direkte unterirdische Einführung der rechtsufrigen Zürichseebahn in den Hauptbahnhof, die 43 Jahre später in Form des Hirschengrabentunnels verwirklicht wurde. Entstehen sollte ein neues winkelförmiges, kommerziell nutzbares Empfangsgebäude – mit einem 30 m hohen Haupttrakt entlang der Sihl sowie einem Nebentrakt zwischen der Museumstrasse und dem verbreiterten Bahnhofplatz. Die SBB rechneten mit einer Bauzeit von bis zu 40 Jahren. Da dies der Stadt- und Kantonsregierung viel zu lang erschien, gaben die SBB beim Verkehrswissenschaftler Edmund Frohne ein Gutachten in Auftrag, das im September 1951 vorlag. Frohne war der Meinung, eine weitere Vergrösserung des Personenbahnhofs sei gar nicht erforderlich. Stattdessen sollten die Verkehrsströme entflochten werden, insbesondere durch einen Rangierbahnhof im Limmattal, die Neuordnung des Vorbahnhofs, ein modernes Stellwerk und den Bau einer zweiten Doppelspur nach Oerlikon. Das SBB-Rahmenprojekt von 1954 berücksichtigte seine Vorschläge weitgehend und sie bildeten die Grundlage für alle Ausbauten der nächsten drei Jahrzehnte. Erste Expansion in den Untergrund Durch die in den 1950er Jahren einsetzende Massenmotorisierung begann sich die Verkehrssituation in der Umgebung des Bahnhofs massiv zu verschlechtern, weshalb die Stadtplaner danach strebten, die Strassen autogerecht auszubauen. Die Bahnhofbrücke wurde in den Jahren 1950 bis 1952 verbreitert, der Bahnhofquai 1952/53 unter der Achse Bahnhofbrücke/­Bahnhofplatz in einen Tunnel verlegt. Zu diesem Zweck legte man einen schmalen Seitenarm der Limmat trocken und verband dadurch die Insel Papierwerd mit dem Festland. Das 1955 vorgestellte Projekt Zürcher Expressstrassen-Y forderte ein System von Autobahnen in der Innenstadt. Dabei wäre die Nationalstrasse 3 mit einem Viadukt über die Gleishalle des Hauptbahnhofs geführt worden. Zwar sah eine spätere Projektvariante einen Tunnel vor, doch scheiterte das Y letztlich an starkem politischen Widerstand. 1957 präsentierte der Berner Architekt Ernst Walter Ebersold das Projekt eines Durchgangsbahnhofs entlang der Sihl. Im Norden wäre die Zufahrt über das bestehende Bahnhofvorfeld erfolgt, im Süden über einen Anschluss an die Schleife der Bahnstrecke Zürich–Chur. Im Bahnhof waren vier Mittelperrons von doppelter Länge vorgesehen, die es erlaubt hätten, zwei Züge hintereinander aufzustellen. Das von den niederländischen Bahnhöfen Utrecht Centraal und Amsterdam Centraal bekannte Konzept hätte im neuen Bahnhof 16 Perronkanten ergeben. Der radikale Städtebauentwurf wurde als eine Nummer zu gross für Zürich empfunden und nicht weiterverfolgt. Das städtische Tiefbauamt plante auch, alle rund um den Hauptbahnhof führenden Strassenbahn­strecken in Tunnel zu verlegen und eine Haltestelle sieben Meter unter dem Bahnhofplatz zu errichten. Diese viergleisige Tunnelstation war ein zentraler Bestandteil des Tiefbahn-Projekts, das Tunnelstrecken von insgesamt 21,15 km Länge vorsah. Die Tiefbahn scheiterte jedoch bei der städtischen Volksabstimmung vom 1. April 1962 recht deutlich mit 63,0 % Nein-Stimmen. Nur wenige Monate später verlangte eine Motion im Gemeinderat den Bau einer Fussgängerebene unter dem Bahnhofplatz. Ein entsprechendes Projekt lag bereits Ende Jahr vor, am 2. Februar 1964 wurde es in einer kommunalen Volksabstimmung deutlich angenommen. 1967 begannen die Bauarbeiten am Shopville. Vorrangiges Ziel dieser Ladenpassage war es, die Fussgänger unter den Bahnhofplatz zu verbannen und diesen ausschliesslich dem Strassenverkehr zu überlassen. Mit der Eröffnung am 1. Oktober 1970 war der Platz «fussgängerfrei» geworden, der Bahnhof und die Strassenbahn­haltestellen waren nur noch über Treppen und Rolltreppen erreichbar. Im Shopville waren vorsorglich als Bauvorleistung die Mittelpfeiler und Seitenwände eines geplanten U-Bahnhofs erstellt worden. Kurz nach der Ablehnung des Tiefbahnprojekts hatten die Planungen für die U-Bahn Zürich begonnen, die von der scheinbar grenzenlosen Wachstumseuphorie der 1960er Jahre geprägt waren. In der ersten Phase vorgesehen war eine Linie von Dietikon über den Hauptbahnhof nach Kloten, mit Zweigstrecken zum Flughafen Zürich und nach Schwamendingen. Nach anfänglichem Optimismus scheiterte das U-Bahn-Projekt (das mit dem Bau einer ebenfalls vorgesehenen S-Bahn verknüpft war) am 20. Mai 1973 bei Volksabstimmungen auf kantonaler und kommunaler Ebene ebenfalls deutlich. Diese Ablehnung war kein isoliertes Ereignis, denn im Zuge der Ölkrise von 1973 scheiterten alle damaligen Grossprojekte. Das Nein zur U-Bahn markierte einen Wendepunkt in der Zürcher Verkehrsplanung und führte allmählich zur Abkehr vom Prinzip der autogerechten Stadt. Die Bahnhofshalle entgeht dem Abbruch Währenddessen setzten die SBB das Rahmenprojekt von 1954 um, wobei sich praktisch alle Arbeiten im Vorbahnhof oder noch weiter entfernt abspielten. Zahlreiche Teilprojekte wurden unter der Leitung des SBB-Hausarchitekten Max Vogt verwirklicht. Obwohl langfristig der Abbruch der Bahnhofshalle vorgesehen war, musste sie laufend den sich ändernden Anforderungen angepasst werden. Die Halle bot aber genügend Raumreserven für neu hinzukommende Dienstleistungen. 1958 entstanden darin zwei funktionale Pavillonbauten mit je zwei Stockwerken. Der östliche, von Max Vogt entworfene umfasste Gepäckzollamt, Fundbüro und Fahrrad­einstellhalle. Im westlichen, einem Werk von Fedor Altherr, befanden sich die Auskunft und ein Kino, in dem in ständigen Wiederholungen Kurzfilme und Wochenschauen zu sehen waren. Ab 1959 mietete die Fluggesellschaft Swissair die Autoeinstellhalle an der Museumstrasse und richtete darin ein Reisebüro und einen Wartesaal ein; bis 1980 verkehrten vom Swissair Terminus aus Busse zum Flughafen Zürich. Die Einnehmerei, seit 1930 in einem eingeschossigen Anbau aus Holz untergebracht, benötigte mehr Platz. Deshalb entstand 1967 hinter der Nordwand der Bahnhofshalle ein zweigeschossiger Neubau, der aber nur als Provisorium gedacht war, da man weiterhin mit einem Neubau des mittlerweile verlottert wirkenden Bahnhofs rechnete. Zu diesem Zweck bildeten SBB, Kanton und Stadt 1965 einen Arbeitsausschaus. Vier Jahre später schrieb die daraus entstandene Behördendelegation Regionalverkehr Zürich (RVZ) einen öffentlichen Ideenwettbewerb aus. Gefordert waren um 45 m verlängerte Perrons, ein Busbahnhof, 4000 Parkplätze und eine konsequente Ausrichtung auf kommerzielle Bedürfnisse. Den Wettbewerbsteilnehmern war es freigestellt, ob die Bahnhofshalle erhalten bleiben soll oder nicht. Die hochkarätig besetzte Jury umfasste 18 Preisrichter, fünf Stellvertreter und sechs Experten, darunter die Architekten Alberto Camenzind, Werner Stücheli und Karl Schwanzer. 57 eingegangene Entwürfe wurden im Januar 1971 öffentlich ausgestellt. Das Siegerprojekt «Bagage» von Max Ziegler basierte konsequent auf einem Raster von Sechsecken und umfasste zwei Türme für Hotel- und Büronutzung. Nur wenige Projekte wollten die Bahnhofshalle stehen lassen. Die Jury schrieb dazu: «Es hat sich gezeigt, dass die Einbeziehung des Altbaus in seiner Gesamtheit in die Neugestaltung ohne Beeinträchtigung der Anforderungen kaum möglich ist.» Allenfalls lasse sich der Einbezug von Fragmenten rechtfertigen. Auf dieser Grundlage sollte ein Projektwettbewerb folgen, doch zuvor holte die RVZ eine Expertise bei Suter + Suter und Elektrowatt ein. Die Arbeitsgemeinschaft modifizierte Zieglers Entwurf an verschiedenen Stellen nach technokratischen Gesichtspunkten und rechnete mit einer Bauzeit von 20 Jahren. Kaum hatte sie im April 1973 ihre Arbeit abgeschlossen, folgten die Ablehnung des U-Bahn-Projekts und die Ölkrise, die allen Neubaudiskussionen ein abruptes Ende setzten. In der Zwischenzeit hatten die SBB begonnen, sich intensiver mit Fragen der Denkmalpflege zu beschäftigen. Das 1975 vom Europarat ausgerufene Europäische Denkmalschutzjahr, der wachstumskritische Zeitgeist und eine neue Wertschätzung historischer Bauten trugen ebenfalls zu einem Sinneswandel bei. Schliesslich wurde die Bahnhofshalle 1978 als Kulturgut von nationaler Bedeutung unter Schutz gestellt. Bereits im Herbst 1976 hatten umfangreiche Restaurierungs­arbeiten begonnen, die bis zum Frühjahr 1980 dauerten. Sie betrafen weitgehend die Fassaden, während sie sich im Innern auf das Erstklassrestaurant im Südtrakt beschränkten. 1982 brach man den östlichen Pavillon in der Bahnhofshalle ab, um diesen Teil unterkellern zu können. Im neuen Keller fasste man die Lagerräume und Küchen der Gastronomiebetriebe von Candrian Catering zusammen. Anstelle des Pavillons belegten bald darauf neue provisorische Bauten die Fläche. Ab 1. Juni 1980 ermöglichte die Flughafenlinie direkte Bahnverbindungen über Oerlikon zum Flughafen. Sie war zunächst nur eingeschränkt nutzbar, da alle Züge vom Hauptbahnhof aus über den Aussersihler Viadukt und durch den Wipkingertunnel verkehren mussten, die beide an ihre Kapazitätsgrenzen stiessen. Zwar stand seit dem 1. Juni 1969 auch der weiter westlich gelegene Käferbergtunnel zur Verfügung, dieser diente damals aber ausschliesslich dem Güterverkehr und konnte nur vom Bahnhof Altstetten her angefahren werden. Dies änderte sich zwei Jahre später, als die SBB am 23. Mai 1982 eine kurze Verbindungsstrecke zum Hardturmviadukt in Betrieb nahmen, der südlich an den Käferbergtunnel anschliesst. Am selben Tag wurden auch der Bahnhof Hardbrücke an der Nordseite des Gleisvorfelds eröffnet und der Taktfahrplan auf allen zum Hauptbahnhof führenden Linien eingeführt (auf der rechtsufrigen Zürichseebahn bestand er isoliert seit 1968). S-Bahn und SZU-Bahnhof Bei den Debatten vor den U-Bahn-Volksabstimmungen von 1973 hatte sich gezeigt, dass eine S-Bahn weitgehend unbestritten gewesen wäre, wenn über sie separat hätte abgestimmt werden können. Das kantonale Tiefbauamt nahm die Detailplanungen deshalb umgehend wieder auf. Am 29. November 1981, drei Jahre nach der Genehmigung durch den Zürcher Kantonsrat, befürworteten die Stimmberechtigten des Kantons Zürich den Bau der S-Bahn Zürich mit einem Ja-Anteil von 73,8 %. Das Projekt umfasste den Hirschengrabentunnel vom Hauptbahnhof nach Stadelhofen und den daran anschliessenden Zürichbergtunnel nach Stettbach, mit Anschluss an die bestehenden Strecken in Dietlikon und Dübendorf. Der Spatenstich an der S-Bahn-Stammstrecke fand am 17. März 1983 an der Zollstrasse statt. Dort musste das 1863 erbaute Eilgutgebäude dem späteren Tunnelportal weichen. Unter der Museumstrasse entstand der S-Bahnhof, für dessen Planung das Architekten­ehepaar Robert Haussmann und Trix Haussmann-Högl sowie Hansruedi Stierli zuständig waren. Mittels Deckelbauweise erstellten die Arbeiter zuerst die Schlitzwände und betonierten danach die Tragdecke direkt auf dem Boden. Diese Arbeiten konzentrierten sich zunächst auf der Seite Landemuseum, danach in der Strassenmitte. Für die dritte Phase mussten die beiden nördlichsten Gleise und ein Teil des Daches vorübergehend entfernt werden. Die dort haltenden Züge nutzten ab 3. Juni 1984 zwei provisorische Gleise auf dem Eilgutareal. Das abgelegene Provisorium erhielt den Spitznamen «Bahnhof Nebenwil» und blieb bis zum 29. September 1985 in Betrieb. Unter dem fertiggestellten Deckel begann im Juli 1985 der Aushub. Ab November 1985 stand ein 600 m langes Förderband zur Verfügung, um das Erdreich abzutransportieren und es im provisorischen Bahnhof auf Güterzüge zu verladen. Zur Unterquerung der Sihl kam ebenfalls die Deckelbauweise zur Anwendung. Dabei schloss man für die Dauer der Arbeiten in drei Etappen die fünf Durchlass­öffnungen mit Spundwänden. Unmittelbar westlich davon, parallel zum Fluss, errichtete man als Bauvorleistung Wände und Deckel eines allenfalls später zu bauenden Strassentunnels. Die gedeckte Rampe zum Tunnelportal entstand in einer offenen Baugrube. Am 28. Mai 1989 erfolgte eine Teileröffnung des Tiefbahnhofs Museumstrasse für die Regionalzüge nach Rapperswil und Bülach. Die SBB rechneten mit einem markanten Fahrgastzuwachs. Um die künftigen Passagierströme bewältigen zu können, wurden die Perrons in der Gleishalle von 7,5 auf 9,9 m verbreitert. Platz dafür konnte durch die Aufhebung der schmalen Gepäckperrons zwischen den Gleisen gewonnen werden. Als Ersatz entstanden an den Bahnsteigenden gläserne Aufbauten mit Gepäckliften, mit denen die Karren in ein neues Sortierzentrum im Untergeschoss gelangen. Gleichzeitig erhöhte man die Perrons von 25 auf 55 cm. Ebenso erstellte man Zugänge hinunter zur Unterführung zwischen Kasernenstrasse und Sihlquai. Sie war bereits 1930 von der Stadt errichtet worden, bisher aber nicht an den Bahnhof angeschlossen gewesen. Unter der Bahnhofshalle entstand als Erweiterung des Shopville eine weitläufige Verteilerebene mit H-förmigem Wegnetz, ebenfalls vom Architektenpaar Haussmann entworfen. Im Mai 1988 riss man sämtliche Bauten in der Halle ab, darunter das seit 1985 geschlossene Kino. Erstmals überhaupt war die historische Bahnhofshalle komplett leer. Ein weiteres bedeutendes Projekt war die Anbindung der Sihltal-Zürich-Uetliberg-Bahn an den Hauptbahnhof. Die Strecken vom Uetliberg und vom Sihltal her endeten seit 1875 bzw. 1892 im peripher gelegenen Kopfbahnhof Selnau. Nachdem die Planer zunächst eine kurze Variante mit einer Endstation unter dem Fluss vor der Sihlpost erwogen hatten, entschieden sie sich für den teilweise erstellten, deutlich besser platzierten und nie genutzten U-Bahnhof unter dem Shopville. Am 27. Februar 1983 genehmigten die Stimmberechtigten des Kantons Zürich das Projekt mit einem Ja-Anteil von 67,5 %. Die Neubaustrecke verläuft zum grossen Teil unmittelbar unter der Sihl. Während der Bauarbeiten legte man mit Spundwänden das Flussbett trocken, um in einer offenen Baugrube den Tunnel zu graben und zu betonieren. In der Endstation mussten zweieinhalb zusätzliche Meter ausgehoben werden, damit die Züge der SZU Platz fanden. Zweieinhalb Jahre nach dem Spatenstich am 4. März 1986 war der Rohbau im Herbst 1988 fertiggestellt. Für die Gestaltung des Kopfbahnhofs waren die Innenarchitekten Keller, Bachmann und Partner zuständig. Die SZU-Verlängerung wurde am 5. Mai 1990 eröffnet, drei Wochen später folgte am 27. Mai die vollständige Inbetriebnahme des S-Bahnhofs Museumstrasse und der S-Bahn Zürich. Im Zuge des S-Bahn-Baus war 1983/84 der Nordosttrakt der Bahnhofshalle abgebrochen worden, wobei man die Steine für den geplanten originalgetreuen Wiederaufbau einlagerte. Die SBB-Führung änderte jedoch ihre Meinung und Generaldirektor Hans Eisenring präsentierte im August 1986 Pläne für einen völlig neuen Trakt mit Bahnreisezentrum. Er war der Meinung, man müsse zeitgenössischen Architekten eine Chance geben und der Erhalt «mittelmässiger Architektur» sei Maskerade. Mit dieser Aussage löste er bei Denkmalschützern und Politikern einen Sturm der Entrüstung aus. Das Bundesamt für Verkehr stellte sich auf die Seite der SBB und genehmigte im Oktober 1987 das Projekt des Architekten Ralph Baenziger. Der Schweizer Heimatschutz reichte beim Bundesrat eine Beschwerde ein. Dieser lehnte sie im Sommer 1990 ab. Immerhin konnten die Beschwerdeführer einen Teilerfolg erringen. die Rekonstruktion des Restaurants für Drittklass­fahrgäste und des ehemaligen Posttors. Die SBB sowie die Stadt- und Kantonsbehörden hatten sich ausserdem darauf geeinigt, den First tieferzulegen und das Attikageschoss zurückzuversetzen, damit das Gebäude weniger wuchtig wirkt. Nach fünfjähriger Bauzeit konnte der neue Nordosttrakt im Oktober 1996 feierlich eröffnet werden. Die alten Steine waren 1994 entsorgt worden. Zweite Durchmesserlinie In den Jahren 1988 bis 1992 wurde der Südtrakt der Bahnhofshalle restauriert. 1992 erhielt der Bahnhofplatz nach knapp einem Vierteljahrhundert wieder Fussgängerstreifen, sodass Passanten von der Bahnhofstrasse her durch die Triumphpforte schreiten können, ohne ins Shopville hinunter gehen zu müssen. 1995/95 folgten weitere Restaurierungen im Südtrakt. Am 8. August 1997 feierten die SBB das 150-jährige Bestehen des Hauptbahnhofs. Zu diesem Zweck verlegten Arbeiter für die Dauer des Festwochenendes ein provisorisches Gleis in die Bahnhofshalle hinein, von wo aus historische Sonderzüge nach Baden und zurück verkehrten. Zum Einsatz gelangte dabei ein fünfzig Jahre zuvor konstruierter Nachbau der SNB D 1/3, der ersten Lokomotive der Schweiz. Rechtzeitig auf das Jubiläum hin konnte ein weiteres Bauprojekt abgeschlossen werden. Die Gleishalle erhielt in den Jahren 1995 bis 1997 auf beiden Seiten Schrägdächer auf geneigten Betonstützen, entworfen vom Architekturbüro Meili, Peter & Partner (unterstützt durch Kaschka Knapkiewicz und Axel Fickert). Sie ersetzten unansehnlich wirkende Provisorien aus rotem Stahl und grünem Blech. Die Architekten betonten, sie wollten mit diesem auffälligen Eingriff den Bahnhof zur Stadt hin öffnen und beide Längsseiten gleichberechtigt erscheinen lassen. 1997 schrieben die SBB den viergleisigen Ausbau der Zufahrt vom Bahnhof Wipkingen her aus. Für jene S-Bahn-Linien, die nicht durch den Tiefbahnhof führen, sollte ein Flügelbahnhof bei der Sihlpost errichtet werden. Diese Pläne stiessen bei Stadt- und Kantonsbehörden auf Kritik. Sie störten sich vor allem daran, dass Flügelbahnhof und Bahnhof Museumstrasse bis zu 850 m auseinander liegen würden. 1998 organisierte sich die Bevölkerung der Stadtkreise 5 und 10 im Komitee «Verrückt das Viadükt», um sich gegen den Ausbau des Aussersihler Viadukts zur Wehr zu setzen. Nachdem rund 220 Einsprachen eingegangen waren, versprachen die SBB, Alternativen zu prüfen. Aus eigenem Antrieb präsentierte das Büro Steiger und Partner im Oktober 1998 eine Projektstudie für einen zweiten Durchgangsbahnhof. Eine im Mai 1999 vom Verkehrs-Club der Schweiz (VCS) eingereichte kantonale Volksinitiative, die Unterstützung aus allen politischen Lagern erhielt, verlieh der Idee zusätzlichen Schub. Im November 2000 präsentierten die SBB einen Gegenvorschlag, der weit über die Forderungen der Initiative hinausging: Die Durchmesserlinie Altstetten–Zürich HB–Oerlikon sollte nicht nur dem S-Bahn-Verkehr dienen, sondern auch zusätzliche Kapazitäten für den Fernverkehr schaffen. Der Kantonsrat genehmigte das Vorhaben oppositionslos mit 142:0 Stimmen, die kantonale Volksabstimmung am 23. September 2001 ergab eine Zustimmung von 81,9 %. Der politisch unerwünschte Flügelbahnhof wurde trotzdem gebaut, jedoch als Provisorium für die Dauer der Bauarbeiten an der Durchmesserlinie. Er befand sich zwischen Gleishalle und Sihlpost auf der Höhe der Kasernenstrasse. Ab 12. Juni 2002 umfasste der «Bahnhof Sihlpost» zunächst zwei und ab 12. Dezember 2004 vier Gleise mit den Nummern 51 bis 54. Sie lagen an zwei gedeckten Mittelperrons von 340 m Länge, auf denen Pavillons standen. Hier fuhren S-Bahnen und Fernverkehrszüge auf der linksufrigen Zürichseebahn ab. Ebenfalls 2002 fand ein Architekturwettbewerb für den Durchgangsbahnhof Löwenstrasse statt, den Jean-Pierre Dürig gewann. Die eigentlichen Arbeiten an der Durchmesserlinie begannen zwar erst im September 2007, doch bereits fünf Jahre zuvor fuhren am Hauptbahnhof Baumaschinen auf. Bis Ende 2004 verlängerte man die Perrons des oberirdischen Kopfbahnhofs; dabei betonierte man auch gleich Decken, Aussenwände und Stützen des westlichen Teils des Durchgangsbahnhofs. Von 2005 bis 2008 wurde die Passage Sihlquai von 10 auf 35 m verbreitert und deutlich erhöht. Ausserdem stellte man den zwei Jahrzehnte zuvor teilweise errichteten Strassentunnel neben der Sihl im Rohbau fertig. Durch diesen konnte anschliessend das gesamte Aushubmaterial zur Verladeanlage an der Zollstrasse transportiert werden. Wie schon beim Bahnhof Museumstrasse musste auch beim Bau des Durchgangsbahnhofs Löwenstrasse die Sihl in drei Etappen durch das Schliessen der Durchlass­öffnungen trockengelegt werden, damit darunter ein Hohlraum ausgebaggert werden konnte. Die Anlage musste nicht nur das Flussbett tragen, sondern zusätzlich auch die darüber befindlichen Gleis- und Perronbrücken. Einfacher waren die Verhältnisse unter der Gleishalle. Durch das Verkürzen von jeweils drei Gleisen um 100 m liess sich ein ebenerdiger Bauplatz schaffen, von wo aus in vier Etappen der Aushub mittels Deckelbauweise geschah. Unter den Südtrakt schob man ein provisorisches Fundament und installierte hydraulische Pressen, um das Bauwerk notfalls justieren zu können. Unmittelbar an die Unterfahrung des Südtrakts schliesst sich der 4,8 km lange Weinbergtunnel an. Sein Vortrieb erfolgte ab Oktober 2008 von Oerlikon her in Richtung Hauptbahnhof, der Durchstich konnte am 22. November 2010 gefeiert werden. Am 15. Juni 2014 erfolgte die Inbetriebnahme der Durchmesserlinie zunächst für drei S-Bahn-Linien, wobei die Einweihung im Rahmen eines grossen Bahnhofsfestes sowie die Jungfernfahrt mit Bundesrätin Doris Leuthard und geladenen Gästen bereits drei Tage zuvor stattfanden. Die SBB benötigten den Flügelbahnhof nicht mehr und bauten ihn bis Ende 2014 wieder zurück. Mit der Fertigstellung der Letzigrabenbrücke und der Kohlendreieckbrücke konnte die Durchmesserlinie am 26. Oktober 2015 auch für den Fernverkehr freigegeben werden. Von HB Südwest zu Europaallee Über fünf Jahrzehnte lang gab es mehrere Versuche, die von den Gleisen der Sihlpost belegte Fläche südwestlich des Hauptbahnhofs kommerziell zu nutzen. 1969 schrieben die SBB den Ideenwettbewerb HB Südwest aus. Das Siegerprojekt von Max Ziegler scheiterte an politischem Widerstand und an der Ölkrise; ebenso verhinderte die Unterschutzstellung des Bahnhofs allzu radikale Eingriffe. Der zweite Wettbewerb von 1978 berücksichtigte die geänderten Rahmenbedingungen, entsprechend fiel das Projekt von Ralph Baenziger, Claudia Bersin und Jakob Schilling bedeutend kleiner aus. Am 22. September 1985 mussten die Stimmberechtigten über eine kommunale Volksinitiative befinden, die einen Gestaltungsplan mit nochmals deutlich reduzierter Nutzfläche forderte, und lehnten sie mit 70,7 % ab. Die privaten Promotoren versuchten, aus dem günstigen Ausgang der Abstimmung Kapital zu schlagen und vergrösserten das Projekt um die Hälfte. Da die Änderungen eine neue Baubewilligung erforderten, konnte dagegen ein Referendum ergriffen werden. Am 25. September 1988 sprach sich eine knappe Mehrheit von 50,7 % für den Gestaltungsplan aus. Streitereien unter den Projektpartnern und das Platzen der Immobilienblase liessen das Projekt 1992 scheitern. 1996 lancierte eine Investorengruppe das Projekt unter dem Namen Eurogate neu. Im März 1997 erhielt sie eine Planungsgenehmigung, die aber an zahlreiche Auflagen gebunden war. In der Folge kam es zu rechtlichen Auseinandersetzungen mit der Stadt und dem VCS. 1999 hielten die Investoren das Projekt nicht mehr für rentabel genug und liessen es fallen. Noch im selben Jahr übernahm eine neue Gruppe von Investoren das Projekt und entwickelte es weiter. Mittlerweile hatten die SBB mit der Planung des Bahnhofs Löwenstrasse begonnen, dessen Stützpfeiler der geplanten Überbauung im Weg standen. Alle Beteiligten beharrten auf ihrem Standpunkt und waren nicht zu Kompromissen bereit, weshalb Eurogate im April 2001 ebenfalls scheiterte. Die Arbeiten an der Durchmesserlinie machten eine Neunutzung des Areals mehr als ein Jahrzehnt lang unmöglich. 2003 bildeten die SBB, die Stadt Zürich und die Post eine Planungsgemeinschaft, um ihre gegensätzlichen Vorstellungen unter einen Hut zu bringen. Sie leiteten ein gemeinsames Projekt namens Stadtraum HB in die Wege. Im Dezember 2004 reichten die SBB einen Gestaltungsplan ein, dem der Gemeinderat im Januar 2006 zustimmte. Gegen diesen Entscheid ergriff ein Komitee das Referendum. Es bemängelte den weitgehenden Ausschluss der Öffentlichkeit aus dem Planungsprozess und befürchtete eine Gentrifizierung der Nachbarschaft. Am 24. September 2006 erhielt der Gestaltungsplan in der kommunalen Volksabstimmung eine Zustimmung von 65,5 %. Drei Jahre später begannen die Bauarbeiten unter der geänderten Bezeichnung Europaallee. Ab 2012 konnten die Gebäude auf den acht Baufeldern bezogen werden. Dazu gehören eine Einkaufspassage, die Pädagogische Hochschule Zürich, mehrere Bürokomplexe, 400 Wohnungen, ein Hotel und ein Kino. Die letzten Bauarbeiten wurden Ende 2020 abgeschlossen. Aktuelle Entwicklung Das 191 m lange und 25 m breite Stück Strassentunnel neben der Sihl, das Ende der 1980er begonnen und zwei Jahrzehnte später im Rohbau fertiggestellt wurde, besitzt bis heute keinen Zugang zum übrigen Strassennetz und wird gelegentlich als Ausstellungsraum genutzt. Da eine Verknüpfung mit dem Autobahnnetz aus ökologischen Gründen mittlerweile unwahrscheinlich ist, schlug das Tiefbauamt 2012 vor, den Tunnel als Radweg und Fahrradabstellanlage zu nutzen. Im städtischen «Masterplan und Bauprogramm Velo» ist er als Teil der «Veloroute Sihl–Limmat» vermerkt und soll vom Sihlquai an der Nordwest- zur Sihlpost an der Südwestseite des Hauptbahnhofs führen. Das Tiefbauamt rechnete mit einer Inbetriebnahme Ende 2014. Massive Kostensteigerungen sowie rechtliche Auseinandersetzungen zwischen Stadt, Kanton und Bund zögerten eine Verwirklichung jedoch um fast ein Jahrzehnt hinaus. Nachdem die Stimmberechtigten der Stadt Zürich im Juni 2021 einem Kredit von 27,7 Millionen Franken deutlich zugestimmt hatten, sollen die Bauarbeiten im September 2022 beginnen und im Herbst 2024 abgeschlossen werden. Zurzeit wird der Südtrakt der Bahnhofshalle vollständig saniert. Durch die Entfernung von Ein- und Aufbauten sollen die ursprünglichen Strukturen wieder sichtbar gemacht werden. Die erste Phase dauerte von Juni 2018 bis Anfang 2020 und betraf die Unterkellerung der Arkade. Dort entstand eine Küchenanlage zur Versorgung der Gastronomiebetriebe. Die eigentliche Sanierung des Südtrakts erfolgt vom zweiten Quartal 2020 bis Ende 2023, sie umfasst Arbeiten am Dach und an der Fassade. Verkehr Der Zürcher Hauptbahnhof ist der wichtigste Knotenpunkt des Schweizer Schienenverkehrs. Aktuell (ab Dezember 2021) werden folgende Verbindungen angeboten: Internationaler Fernverkehr Nachtzüge Nationaler Fernverkehr Genève-Aéroport – Lausanne – Bern – Zürich HB – Chur verkehrt nur zweimal täglich am Wochenende RegioExpress S-Bahn Der Hauptbahnhof ist der zentrale Knoten der S-Bahn Zürich und wird von 21 Linien bedient. Davon halten elf im Bahnhof Museumstrasse (S3, S5, S6, S7, S9, S11, S12, S15, S16, S20, S23) und vier im Bahnhof Löwenstrasse (S2, S8, S14, S19). Vier Linien fahren von der oberirdischen Gleishalle ab (S21, S24, S25, S42) und zwei vom SZU-Bahnhof (S4, S10). Nacht-S-Bahn In den Nächten an Wochenenden sowie während Grossanlässen im Raum Zürich verkehren sieben Nacht-S-Bahnlinien über den Hauptbahnhof: Winterthur – Stettbach – Zürich HB – Dietikon – Baden – Brugg – Lenzburg – Aarau Zürich HB – Langnau-Gattikon Knonau – Zürich HB – Uster – Pfäffikon SZ Regensdorf-Watt – Zürich HB – Tiefenbrunnen Bassersdorf – Zürich HB – Meilen – Stäfa Pfäffikon ZH – Effretikon – Zürich HB – Thalwil – Pfäffikon SZ – Lachen Bülach – Zürich HB – Uster Verkehrsanbindung Der Hauptbahnhof ist einer der bedeutendsten Knotenpunkte des Zürcher Strassenbahnnetzes und wird von den Linien 3, 4, 6, 7, 10, 11, 13, 14 und 17 bedient. Sie halten an einer oder mehreren Haltestellen, die rund um den Gebäudekomplex verteilt sind: Sihlquai/HB an der Nordwestseite, Bahnhofquai/HB an der Ostseite, Bahnhofplatz/HB und Bahnhofstrasse/HB an der Südseite sowie Sihlpost/HB im Südwesten. Auch die Linien 31 und 46 des Zürcher Trolleybusnetzes erschliessen den Hauptbahnhof. Für den Betrieb aller Linien sind die Verkehrsbetriebe Zürich zuständig. In unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs befindet sich ausserdem die Schiffsanlegestelle Landesmuseum der Zürichsee-Schifffahrtsgesellschaft. Hinzu kommen sieben Linien des Nachtbusnetzes. Nordwestlich des Hauptbahnhofs befindet sich am Sihlquai die Bus Station Zürich, der zentrale Halteplatz für den internationalen Fernbusverkehr. Von 1959 bis 1980 betrieb die Fluggesellschaft Swissair eine Schnellbuslinie, die den Swissair Terminus an der Museumstrasse mit dem 13 km entfernten Flughafen Zürich in Kloten verband. Zu Beginn standen Saurer-Busse im Einsatz, ab 1971 grau-rot lackierte Büssing-Doppeldecker mit Hess-Gepäckanhängern. Die Busse legten die Strecke ohne Zwischenhalt in rund 35 Minuten zurück; sie beförderten ausschliesslich Passagiere der Swissair und von Partner-Fluggesellschaften mit Codesharing. Mit der Eröffnung der SBB-Flughafenlinie wurde der Betrieb eingestellt. Taxistände befinden sich am Bahnhofplatz, an der Museumstrasse und beim südlichen Ausgang der Passage Sihlquai. Das Angebot an Parkplätzen in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs ist eingeschränkt, da die Stadt gezielt die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln fördert. Öffentliche Parkhäuser sind in näherer Umgebung am Sihlquai, an der Gessnerallee und an der Uraniastrasse zu finden. Von 1972 bis 2004 existierte das Parkdeck Gessnerallee, eine brückenartige Konstruktion über der Einmündung des Schanzengrabens in die Sihl. Im September 2017 eröffnete die Stadtverwaltung die Velostation Zürich. Sie befindet sich am Europaplatz beim südlichen Ausgang der Passage Sihlquai und bietet 1600 überwachte Abstellplätze für Fahrräder. Betrieben wird die Anlage, die auch eine Reparaturwerkstatt umfasst, von einem Arbeitsintegrations­programm der gemeinnützigen Asyl-Organisation Zürich. Sie geriet zwei Jahre später in die Kritik, da sie wegen hoher Gebühren deutlich weniger genutzt wird als prognostiziert. Betriebliche Aspekte Passagierzahlen und Zugbetrieb Durchschnittlich 367'000 Fahrgäste benutzen werktäglich den Zürcher Hauptbahnhof (Stand 2022), der nur während weniger Nachtstunden geschlossen ist. Die Schliessung der insgesamt 93 Gittertore, Schwenktore, Rollgitter, Hubtore und Schiebetore dauert etwa eine Stunde und ist – kurz nach der Ankunft des letzten Zuges – um halb zwei Uhr abgeschlossen. Anschliessend werden Unterhalts- und Reinigungsarbeiten vorgenommen. Ab halb vier Uhr werden die Zugänge nach und nach wieder geöffnet. Die ersten Züge fahren bereits kurz vor 5 Uhr, die letzten nach 1 Uhr in der Nacht. Freitag- und Samstagnacht besteht ausserdem ein wachsendes Angebot an nächtlichen Zugverbindungen der S-Bahn Zürich, sodass einzelne Zugänge offen bleiben. Täglich gibt es fast 3000 Zugfahrten am Zürcher Hauptbahnhof. Das bedeutet, dass etwa alle 25 Sekunden ein Zug ein- oder ausfährt. Die gesamte Gleisanlage ist vier Kilometer lang, insgesamt gibt es ungefähr 100 Kilometer Gleise. Es sind 791 Weichen, 177 Haupt- und 799 Zwergsignale installiert. Aufgrund der zentralen Lage in der Schweiz und in Europa etablierte sich der Hauptbahnhof rasch als wichtiger Umsteigeknoten. Die meisten Verbindungen durch mehrere europäische Länder führen durch die Schweiz. Zudem fahren die meisten Schweizer Fernverkehrszüge von und nach Zürich. Mit dem 1982 in der Schweiz eingeführten Taktfahrplan übernahm Zürich eine Vorreiterrolle und bildete den ersten systematischen Netzknoten, bei dem die Züge des Fernverkehrs jeweils zur vollen und halben Stunde eintreffen und plangemäss untereinander Anschlüsse herstellen. Zürich war somit der «Schrittmacher» für weitere Netzknoten, die zwei Jahrzehnte später mit der Umsetzung von Bahn 2000 hinzukamen. Verspätungen und andere Störungen am Hauptbahnhof Zürich wirken sich zum Teil auf die ganze Schweiz aus. Bei Verspätungen warten Anschlusszüge maximal drei Minuten über die planmässige Abfahrtszeit hinaus, ausgenommen einige internationale Züge und die Züge am späten Abend. Stellwerke und Fernsteuerung Jahrzehntelang mussten Weichen und Signale von Hand umgestellt werden. In der Nacht vom 29. auf den 30. September 1936 ging ein neues elektromechanisches Stellwerk in Betrieb. Das Befehlsstellwerk befand sich auf einer Brücke quer über den Gleisen des Vorbahnhofs, ungefähr bei den heutigen Enden der oberirdischen Perrons. Im oberen Geschoss des schmalen zweistöckigen Gebäudes lag der Bedienungsraum mit in vier Reihen hintereinander angeordneten Stellhebeln und dem Verschlussregister, im unteren Geschoss waren 224 Relais und die Hilfsapparate zu finden. Dezentral verteilt waren vier mechanische und elektromechanische Unterstellwerke, von wo aus die Weichen im äusseren Teil des Vorbahnhofs, der Abstellgruppen und der Eilgutanlage gesteuert werden konnten. Da es in den ersten Betriebstagen aufgrund von Kinderkrankheiten zu zahlreichen Zugverspätungen kam, erhielt das Befehlsstellwerk den Übernamen «Seufzerbrücke». Nach drei Jahrzehnten war die Technik veraltet, insbesondere wegen der nicht weiter ausbaubaren Kapazität. Ab 1960 entstanden ein 1,7 km langes Netz von bergmännisch errichteten Kabelkanälen und am Südrand des Gleisfelds das neue Zentralstellwerk nach Plänen von Max Vogt. Der markante sechsgeschossige Sichtbetonbau besitzt eine Grundfläche von 40 × 7 m und ist 29 m hoch. Vier Etagen und der Keller enthielten die Relais der Sicherungs- und Kommunikationstechnik, im Parterre befand sich eine Werkstatt, zuoberst waren Schulungs- und Aufenthaltsräume eingerichtet. Im fünften Stockwerk kragte übereck der Kommandoraum mit Blick über das gesamte Gleisfeld fünf Meter weit aus. Hier baute man ein Gleisbildstellwerk der Bauform SpDrS60 von Integra ein. Ab 1963 erfolgte schrittweise die Inbetriebnahme, der erste vom Zentralstellwerk aus gesteuerte Zug verliess den Hauptbahnhof am frühen Morgen des 15. Mai 1966. Kurz vor der Eröffnung der S-Bahn im Jahr 1990 fassten die SBB die alten Stellpulte im Zentralstellwerk in einer einzigen Panoramawand zusammen – von der Fensterfront abgewandt, da die Aussicht über das Gleisfeld betrieblich nicht mehr notwendig war. Das Zentralstellwerk wurde 2012 saniert, ist seit September 2014 allerdings nicht mehr personell besetzt, da die Steuerung sämtlicher Züge der Ostschweiz mittlerweile in der vollständig digitalisierten Betriebszentrale Ost der SBB zusammengeführt wurde, die sich im Operation Center am Flughafenkopf in Kloten befindet. Seither wird der Betrieb durch vier Zugverkehrsleiter abgewickelt, die für je einen bestimmten Bereich zuständig sind. Veranstaltungen Die Bahnhofshalle kann gemäss einer Vereinbarung zwischen den SBB und der Denkmalpflege des Kantons Zürich an bis zu 225 Tagen im Jahr für Anlässe gemietet und mit temporären Aufbauten versehen werden. Gemäss der Preisliste von 2018 kostet die Hallenmiete bei kommerziellen Anlässen bis zu 44'000 Franken pro Tag. Für Messen und Kongresse werden bis zu 39'000 Franken verlangt, für Sport- und Kulturanlässe zahlen Veranstalter mit Sponsoring maximal 30'000 Franken (ohne Sponsoring 14'000 Franken) und für Märkte 11'000 Franken. Somit erzielen die SBB jährlich mehrere Millionen Franken Mieteinnahmen. Ausgeschlossen sind religiöse und politische Veranstaltungen sowie Anlässe, die in starker Konkurrenz zur SBB oder ihren Mietern im Hauptbahnhof stehen. Jeweils während der Adventszeit findet seit 1994 der «Zürcher Christkindlimarkt im Hauptbahnhof» statt, gemäss Zürich Tourismus mit 140 Ständen einer der grössten Indoor-Weihnachtsmärkte Europas. Hauptaugenmerk ist ein zehn Meter hoher und mit Tausenden von Swarovski-Kristallen geschmückter Weihnachtsbaum. Die Züri-Wiesn findet seit 2007 alljährlich an 18 Tagen in den Monaten September und Oktober statt; das schweizweit grösste Oktoberfest nach Münchner Vorbild wird jeweils von rund 35'000 Personen besucht. Am 30. September 2008 führte das Schweizer Fernsehen in Zusammenarbeit mit Arte, den SBB und dem Opernhaus Zürich die Oper La traviata von Giuseppe Verdi mitten im laufenden Bahnhofsbetrieb auf. Dafür war ein hoher technischer Aufwand notwendig. Im Hauptbahnhof selber gab es weder Tribünen noch sonstige Zuschauerplätze, die Aufführung war als reine Liveübertragung konzipiert und fand grosse mediale Aufmerksamkeit. Von 1992 bis 2018 fand in der Bahnhofshalle jeweils im April ein Beachvolleyball-Turnier im Rahmen der professionellen Veranstaltungsreihe Coop Beachtour statt. Seit 2010 werden einzelne Wettkämpfe des Leichtathletik-Meetings Weltklasse Zürich nicht wie üblich im Letzigrund-Stadion ausgetragen, sondern in der Bahnhofshalle. Zu diesem Zweck wird jeweils eine kleine temporäre Anlage aufgebaut. Bis 2013 stand Kugelstossen auf dem Programm, nach einer einjährigen Pause werden seit 2015 Wettkämpfe im Stabhochsprung ausgetragen. Naturschutz Der grösste Teil des Gleisfelds zwischen Hafnerstrasse und Europabrücke ist ein kommunales Naturschutzobjekt. Zusätzlich hat die Stiftung Natur & Wirtschaft das Gebiet als Naturfläche zertifiziert. Es ist Heimat einer der grössten Populationen von Mauereidechsen nördlich der Alpen. Die ersten Mauereidechsen dürften durch den Güterverkehr hierher gelangt sein. Weitere Tierarten, die auf dem Gelände gefördert werden, sind die Blauflügelige Sandschrecke, die Gelbbauchunke und Wildbienen. Hinzu kommen zahlreiche Vogel- und Insektenarten sowie Füchse. Durch regelmässige Massnahmen werden heimische Pflanzen unterstützt und die Ausbreitung gebietsfremder Pflanzen gestoppt. So wurden für die Mauereidechse Kies- und Sandstreifen angelegt, über die sie sich vernetzen können. Zusätzlich stellten die SBB entlang der Gleise Gabione mit Steinen auf, wo sich die Mauereidechse sonnen oder zum Überwintern verkriechen können. Für die Gelbbauchunken legten die SBB kleine Laichgewässer an. Literatur Siehe auch Liste der Kulturgüter in Zürich/Kreis 1 (West) Weblinks Website des Hauptbahnhofes Zürich Interaktiver Bahnhofplan Zürich HB Bahnhofplan Zürich HB (PDF; 5,8 MB) Einzelnachweise Hauptbahnhof Bahnhof in Europa Neorenaissancebauwerk in der Schweiz Erbaut in den 1870er Jahren Kulturgut von nationaler Bedeutung im Kanton Zürich Kopfbahnhof Bauwerk des Historismus in Zürich
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https://de.wikipedia.org/wiki/Boeing%20KC-135
Boeing KC-135
Die Boeing KC-135 Stratotanker ist ein in den 1950er-Jahren für die United States Air Force (USAF) entwickeltes vierstrahliges Tankflugzeug. Sie ersetzte die Boeing KC-97. Neben der Luftbetankung dient sie auch zum Transport von Fracht und Truppen. Sie ist ein Untertyp der variantenreichen C-135-Familie, die wie die Boeing 707 auf der Boeing 367-80 basiert. 1954 zunächst als Zwischenlösung gedacht, bestellten die US-Luftstreitkräfte insgesamt 732 Einheiten der Bauart KC-135A. Seither wurde das Modell vielfach umgerüstet und mit moderneren Turbofantriebwerken ausgestattet. Im Oktober 2014 waren weltweit noch rund 422 Maschinen im Einsatz, die mit 397 Stück überwiegende Anzahl bei der USAF und rund zwei Dutzend in Frankreich, der Türkei und in Singapur. Bei allen militärischen Konflikten der USA seit den späten 1960er Jahren spielte dieses Modell eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung der Kampfflugzeuge, Bomber und Aufklärer, deren Einsatzradius sich durch die Luftbetankung erheblich vergrößerte. In der USAF sind Maschinen dieses Typs mit einem Durchschnittsalter von über 50 Jahren, neben der Boeing B-52, die ältesten noch aktiven Flugzeuge. Entwicklungsgeschichte Ursprung Das nach dem Zweiten Weltkrieg im März 1946 gegründete Strategic Air Command (SAC) hatte die Aufgabe, im Ernstfall Ziele mit Langstreckenbombern anzugreifen. Dafür verfügte es über Bomber des Typs B-29 und ab 1948 auch B-50, die aber keine interkontinentale Reichweite hatten. Dadurch blieben Stützpunkte fernab der Heimat zum Auftanken unabdingbar. Die US-Streitkräfte wollten diese Abhängigkeit durch die Einführung neuer Langstreckenbomber und durch die Weiterentwicklung der bis dahin eher experimentell betriebenen Luftbetankung reduzieren. Die ersten Tankflugzeuge des SAC waren umgebaute B-29 und B-50, ab 1951 kamen KC-97 hinzu. Die Betankung erfolgte zunächst durch Schwerkraft über einen Schlauch vom höher fliegenden Tanker zum tiefer dahinter fliegenden Empfängerflugzeug. Ab 1948 experimentierte Boeing erstmals mit einem starren, steuerbaren Teleskopausleger, dem heute noch gebräuchlichen Flying Boom. Mit ihm und mittels Druckbetankung konnten Transferraten von rund 2300 Liter pro Minute erreicht werden, statt rund 950 l/min beim Schlauchsystem. Nach der Indienststellung des strahlgetriebenen Bombers B-47 bei der US Air Force Ende 1951 erfolgte seine Luftbetankung nur auf sehr unbefriedigende Weise durch die propellergetriebenen Tankflugzeuge. Wegen der stark unterschiedlichen Flugleistungen konnte das dafür nötige Rendezvous nur bei relativ niedriger Höhe und Geschwindigkeit und im Sinkflug stattfinden. Der durch den anschließenden Steigflug auf die Einsatzhöhe verursachte zusätzliche Treibstoffverbrauch von bis zu 50 Prozent des gerade erst aufgenommenen Treibstoffs verringerte die Effizienz weiterhin. Die bevorstehende Einführung des B-52-Bombers machte die Beschaffung von ebenfalls strahlgetriebenen Tankern unumgänglich. Boeings Universal-Prototyp Boeing hatte schon Mitte der 1940er Jahre mit Studien für Passagier- und Transportflugzeuge mit dem neuartigen Düsenantrieb begonnen. Aber die Fluggesellschaften befürchteten zu hohe Betriebskosten, und auch den Vorschlag einer überarbeiteten C-97 (Modell 367) als Tanker mit Strahlantrieb lehnte die Luftwaffe im Herbst 1951 noch ab. Sie investierte vorrangig in neue strategische Bomber und wollte nicht auch noch die Entwicklung eines Tankflugzeuges finanzieren. Also entschloss sich Boeing im Frühjahr 1952, ein Demonstrationsflugzeug auf eigene Kosten und eigenes Risiko zu bauen. Am 22. April 1952 bewilligte der Boeing-Vorstand 15 Millionen US-Dollar für die Entwicklung und Produktion der Boeing 367-80, später aufgestockt um eine weitere Million. Der Rollout fand am 14. Mai 1954 in Renton, Washington statt, zwei Monate früher als geplant. Den Erstflug absolvierte die auch Dash 80 genannte Maschine am 15. Juli 1954. Entscheidungen der USAF Im November 1953 empfahl das Strategic Air Command erstmals konkret die Anschaffung von 200 Tankern für das Haushaltsjahr 1954. Mittlerweile lagen der USAF verschiedene Entwurfsvorschläge vor, neben Boeings 367-80 auch der Entwurf für einen Tanker von Douglas mit J67-Strahltriebwerken, aus der die Douglas DC-8 und die Douglas XC-132 entwickelt wurden. Am 5. Mai 1954 lud die Luftwaffe Boeing, Consolidated Vultee Aircraft Corporation, Douglas, Fairchild, Lockheed und Martin zur offiziellen Tankerausschreibung ein, wobei Martin allerdings absagte. Die vier verbliebenen Wettbewerber Boeings rechneten sich aber bestenfalls theoretische Chancen aus, bei der für den 27. August 1954 geplanten Entscheidung berücksichtigt zu werden. Denn während die Dash 80 bereits auf ihrem siebten Flug am 22. Juli 1954 Lufttankmanöver mit einer B-52 probte, existierten die Konkurrenzvorschläge bis dahin nur auf dem Reißbrett. Darüber hinaus hatte Boeing einflussreiche Fürsprecher, allen voran der damalige SAC-Kommandeur, General Curtis E. LeMay, der keine weitere Verzögerung bei der Tankerbeschaffung duldete. Am 3. August 1954 entschied die US Air Force, als „Zwischenlösung“ 29 Tanker auf Basis des Boeingentwurfs für 150 Millionen US-Dollar zu kaufen, bis der endgültige Wettbewerbssieger einsatzbereit sein würde. Rund zwei Wochen später – und immer noch vor dem Ende der Ausschreibung – erhöhte sie die Bestellung um weitere 88 Exemplare für 240 Millionen US-Dollar. Das neue Tank- und Transportflugzeug erhielt die militärische Bezeichnung KC-135A Stratotanker. Boeing benutzte hierfür die Modellnummer 717. Gegenüber der Dash 80 vergrößerte sich der Rumpfdurchmesser um rund 30 Zentimeter. Am 13. Juli 1955 erhielt Boeing die Freigabe durch die USAF, neben der Tankerversion auch ein Zivilflugzeug zu produzieren. Boeing vermarktete diese zivile Variante der 367-80 fortan als Boeing 707 und erhielt am 13. Oktober 1955 die erste Bestellung von Pan American World Airways. Sie hat gegenüber der C-135-Linie einen nochmals 10 cm größeren Rumpfdurchmesser. Die Luftwaffe befürchtete, dass Boeing der KC-135 nicht die nötige Aufmerksamkeit widmete. Sie verlangte daher die Zusage, dass das B707-Projekt die Produktion der Stratotanker keinesfalls verzögert. Erst im Februar 1955 gab die Luftwaffe Lockheed als Gewinner des Tankerwettbewerbs bekannt. Doch während Lockheed nur einen Prototyp (auf Basis seiner L-193) bauen durfte, wurde Boeings Auftrag ein weiteres Mal um 169 KC-135A aufgestockt. Spätestens jetzt war klar, dass auch der Sieger der Ausschreibung zu den Verlierern zählte, denn die USAF hatte auch in den Folgejahren – allein schon aus Kostengründen – nie die Absicht, zwei ähnliche Tankflugzeugtypen gleichzeitig zu betreiben. Der paradoxe Ausgang dieses Wettbewerbs löste Kritik und Protest aus und gipfelte in einer Untersuchung durch den US-Kongress, die im Februar 1956 zu dem Ergebnis kam, dass die Luftwaffe Boeing beim Bau der 367-80 in unzulässiger Weise unterstützt habe, unter anderem durch die Überlassung von Werkshallen und die Lieferung militärischer J57-Triebwerke zur kommerziellen Verwendung. Am Tankergeschäft änderten diese Erkenntnisse nichts, da die KC-135 als einziger Entwurf kurzfristig verfügbar war. Produktionsvertrag Die USAF und Boeing begannen am 13. Dezember 1954 mit Vertragsverhandlungen, die am 30. September 1955 in einen ersten Produktionsvertrag für die KC-135A mündeten: Boeing verpflichtete sich, 29 Maschinen für je 6,82 Millionen US-Dollar zu bauen. Dazu kamen unter anderem 15,66 Millionen für die Erstausstattung an Ersatzteilen, 1,16 Millionen für Handbücher und technische Dokumentation und 1 Million für einen zusätzlichen Rumpf für statische Tests. Der Ausstoß sollte 13 Flugzeuge pro Monat in Renton betragen, die Abnahmeflüge sollten auf der Larson Air Force Base stattfinden. Der tatsächliche Preis betrug im Oktober 1958 schließlich 7,48 Millionen Dollar pro Flugzeug. Am 5. Juni 1956 folgte der zweite Vertrag über 68 Tanker, 20 weniger als im August 1954 geplant. Weitere acht Verträge bis 1964 summierten die Bestellungen alleine für das A-Modell auf 810 Maschinen, von denen letztlich 732 gebaut wurden. Rollout und Erstflug Beim feierlichen Rollout wurde die erste Serienmaschine einer KC-135A am 18. Juli 1956 in Boeings Werk Renton der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Ehefrau von Rentons Bürgermeister Joseph R. Baxter taufte den neuen Tanker (USAF-Seriennummer 55-3118) mit einer Flasche Wasser aus dem nahen Cedar River auf den Namen City of Renton. Wenige Minuten vor der ersten KC-135 hatte auch die letzte von insgesamt 888 C-97 die Werkshalle verlassen. Die Dash 80 und eine B-52 überflogen anschließend zum Gruß die Veranstaltung. Nach einigen Bodentests startete die KC-135A am 31. August 1956 zu ihrem Erstflug, der eine Stunde und 19 Minuten dauerte. Einen Prototyp mit der Bezeichnung XKC-135 oder YKC-135 gab es nicht, da Boeing die meisten Vorserientests mit der 367-80 durchführen konnte. Die US Air Force übernahm die 55-3118 am 24. Januar 1957 und flog sie für weitere Tests zur Edwards Air Force Base. Tests und Flugerprobung Nachdem in den Jahren 1953 und 1954 mehrere Comet-Passagierjets wegen Materialermüdung abgestürzt waren, ordnete die USAF im Oktober 1955 an, den KC-135-Rumpf durch hydrostatische Tests besonders zu untersuchen. Boeing entnahm dafür den achten Rumpf (ohne Seriennummer) aus der laufenden Fertigung und versenkte ihn in einem 1,6 Millionen Liter Wasser fassenden Tank. Durch Erhöhen und Absenken des Innendrucks wurden verschiedene Flugphasen nachgestellt. 14 hydraulische Stempel simulierten äußere Einflusse wie Windböen und Steuerkräfte. Ein Testzyklus repräsentierte dabei sechs Flugstunden. Nach 12.155 Zyklen (entsprechend 72.930 Flugstunden) traten Ende 1957 erste Risse in der Außenhaut auf. Die Schwachstellen wurden bei bereits ausgelieferten Flugzeugen verstärkt und die Serienproduktion angepasst. Die Flugerprobung der KC-135A in den Jahren 1957 und 1958 zeigte gegenüber den bisherigen KC-97-Tankern erheblich verbesserte Flugleistungen. So stieg die Flughöhe zur Luftbetankung von rund 5500 Meter (18.000 Fuß) nun auf die Einsatzhöhe der strategischen Bomber von rund 10.700 Meter (35.000 Fuß). Die maximale Einsatzhöhe lag bei 12.000 m, die Steigrate betrug 671 Meter pro Minute, das maximale Startgewicht 134,7 Tonnen. Die neue Stratotanker konnte mit 100.000 Litern fast doppelt so viel Treibstoff im Flug übergeben wie eine KC-97F (56.700 l), bei einer Transferrate von bis zu 3400 Litern pro Minute. Daneben traten aber auch einige Probleme zutage, deren Lösung sich teilweise über Jahre hinzog. Die mangelhafte Steuerbarkeit des Tankauslegers konnte Boeing recht schnell durch eine hydraulisch unterstützte Steuerung beheben. Als hartnäckiger erwies sich die unzureichende Stabilität um die Hochachse. Sie äußerte sich in hochfrequentem Flattern der Seitenflosse bei Geschwindigkeiten oberhalb von 0,8 Mach und in Pendelbewegungen des Hecks (Dutch Roll) vor allem beim Langsamflug. Abhilfe sollte eine Versteifung des Seitenleitwerks und ein Gierdämpfer bringen, der vom ohnehin vorgesehenen Autopilot angesteuert wird. Dieses System des Typs Lear MC-1 litt aber selbst unter massiven Entwicklungsproblemen, so dass die ersten Serienmaschinen ohne Autopilot – und also ohne Gierdämpfer – ausgeliefert wurden und auch in den nachfolgenden Jahren immer wieder Nachbesserungen nötig waren. Ab 1962 überarbeitete Boeing nochmals das Seitenleitwerk: Die Höhe wuchs um rund einen Meter, das Seitenruder erhielt eine größere Fläche und eine hydraulische Kraftverstärkung. Größtes Manko der Stratotanker war aber die geringe Antriebsleistung. Je nach atmosphärischen Bedingungen benötigte die vollbeladene KC-135A mit den serienmäßigen Triebwerken J57-P-43W mit Wassereinspritzung eine Startrollstrecke von 2800 bis 3300 Meter – eine Bahnlänge, die längst nicht jeder Luftwaffenstützpunkt der USAF vorweisen konnte. Bei einem Triebwerksausfall während des Starts und einem Startgewicht über 119 Tonnen war ein Startabbruch nötig. Die Folge waren Gewichtsbeschränkungen, bis die KC-135-Flotte ab 1982 mit stärkeren Turbofantriebwerken zu E- und R/T-Modellen aufgerüstet wurde. Technik Rumpf und Leitwerk Die KC-135 ist ein vierstrahliger Tiefdecker mit 35° gepfeilten Tragflächen und konventionellem Heckleitwerk. Der 39,3 m lange fensterlose Rumpf ist komplett druckbelüftet und unterteilt sich in das Hauptdeck mit Cockpit, Laderaum sowie einem Gepäckabteil und dem Unterdeck, in dem sich der Einstiegsbereich im Bug, drei Treibstofftanks, die Fahrwerksschächte, Einspritzwassertank (nur A- und Q-Version) und im Heck das Abteil des Tankausleger-Bedieners befindet. Der Laderaum misst 24,7 m in der Länge, 3,28 m in der Breite und 2,11 m in der Höhe und bietet rund 170 m³ Raum für sechs Standardpaletten des Typs 463L und maximal 37,6 t Fracht. Die KC-135A bot 80 Sitzplätze entlang der Seiten, was durch eine zusätzliche Doppelsitzreihe auf 160 Plätze gesteigert werden konnte. Bei der KC-135R finden standardmäßig 37 Personen im Laderaum Platz. Nach einer Umrüstung für MedEvac-Einsätze passen bis zu 44 Patienten auf Krankentragen hinein. Zur Beladung dient eine 2,97 m breite und 1,98 m hohe nach oben öffnende Frachttür auf der linken Seite vor dem Tragflügel. Eine Bug- oder Heckladeklappe hat die KC-135 nicht, so dass die Fracht mit Gabelstapler oder Hebebühne auf drei Meter Höhe gehievt werden muss. Die Tragflügel bestehen wie der Rumpf überwiegend aus Aluminium. Sie haben eine Spannweite von 39,88 m und eine Fläche von 226,0 m². Daraus ergibt sich eine Streckung von 7,0. Sie haben je ein Querruder für niedrige und hohe Geschwindigkeiten, Störklappen und Landeklappen. Ab 1959 rüstete Boeing Vorflügel nach. Dadurch verminderte sich die Überziehgeschwindigkeit um 11 km/h. Das Fahrwerk besteht aus einem Bugfahrwerk mit zwei Rädern und zwei Hauptfahrwerksstützen mit je vier Rädern unter dem Mittelrumpf. Zur Besatzung gehören Pilot, Kopilot, Navigator und Auslegerbediener. Nachdem seit Mitte der 1990er Jahre die KC-135 im Rahmen des Umrüstungsprogramms Pacer CRAG (CRAG für Compass, Radar, GPS) moderne Navigationshilfen und ein digitales Cockpit erhielten, entfiel der Arbeitsplatz des Navigators. Antrieb Die KC-135 wird von vier Strahltriebwerken angetrieben, die einzeln an Pylonen unterhalb der Tragflügel befestigt sind. Dabei kamen bislang drei verschiedene Typen zum Einsatz: J57, TF33 und F108. Das Ende der 1940er-Jahre für die Boeing B-52 entwickelte Pratt & Whitney J57 ist ein Turbojettriebwerk der zweiten Generation. Die ersten drei KC-135A erhielten das J57-P-29 mit einer Schubkraft von 47 kN, die nächsten 26 das J57-P-31W. Dieses ersetzte Boeing noch 1956 durch das modernere, auch von Ford hergestellte J57-P/F-43W (50 kN). Wegen mangelhaft geschmiedeter Titanschaufeln musste es ab Oktober 1956 durch das 180 kg schwerere, aber auch 100.000 Dollar billigere J57-P/F-59W (50 kN) ausgetauscht werden, mit dem fortan alle KC-135A, -D und C-135F ausgestattet wurden. Die Triebwerks-Zapfluft dient zum pneumatischen Anlassen der Motoren, zur Enteisung und sie versorgt die Klimaanlage und die Pumpen der Wassereinspritzung. Durch diese Einspritzung konnte der Schub je Triebwerk beim Start um rund 10 kN gesteigert werden. Der Tank für das demineralisierte Wasser befand sich im Rumpf zwischen den Hauptfahrwerksschächten und fasste 2.536 Liter, was für maximal zwei Minuten Einspritzung reichte. Das System war umständlich und teuer. Sank die Temperatur am Boden unter −7 °C, musste das Wasser abgelassen werden. Fiel die Wassereinspritzung während des Startlaufs bei einem Triebwerk aus, blieb wegen des asymmetrischen Schubs oft nur der Startabbruch. Vor dem nächsten Start musste der Wassertank erst wieder aufgefüllt werden. In den 1950er Jahren kostete das aufbereitete Wasser beinahe so viel wie das Kerosin und musste auf abgelegenen Basen erst aufwändig hergestellt oder herbeigeschafft werden. Mit der Einführung des TF33, der militärischen Version des Pratt & Whitney JT3D, ab 1981 konnte die Wassereinspritzung entfallen, da die Turbofans eine bis zu 30 % höhere Schubkraft erbringen als die J57. Die KC-135B erhielten das TF33-P-9 mit 71,4 kN, die KC-135D und -E übernahmen gebrauchte JT3D-3B (TF33-PW-102, 80 kN) von zivilen B707. Nur letztere haben Schubumkehr. Das F108, so die militärische Bezeichnung des CFM56-2, treibt die KC-135R und -T sowie die C-135FR seit 1982 an. Die Turbofantriebwerke mit hohem Nebenstromverhältnis sind mit 98,5 kN nochmal wesentlich stärker als die TF33 und erfüllen modernere Anforderungen an Lärm- und Abgasemissionen. Während des Umrüstungsprogramms von September 1981 bis Juni 2005 stattete Boeing 420 KC-135 der USAF sowie 14 für Frankreich, sieben für die Türkei und vier für Singapur mit F108 aus. Standard-Treibstoff der Stratotanker war zunächst JP-4, bis die Luftwaffe es in den 1990er-Jahren durch JP-8 ersetzte. Alternativ kann das JP-5 der Marine oder ziviler Kraftstoff (Jet A, A-1/Kerosin und B) verwendet werden. Tankanlage Die Stratotanker besitzt insgesamt zehn Treibstofftanks, je drei in den beiden Tragflügeln (8660 Liter, 7825 l und 1650 l Reserve), einen im Unterdeck zwischen den Flügeln (27.670 l), je einen im Unterdeck vor (21.980 l) und hinter den Tragflächen (24.285 l) sowie einen auf dem Hauptdeck, am Ende des Frachtraums (8.265 l). Ist der Tank auf dem Hauptdeck nicht installiert, dürfen nur drei der vier Zellen des vordersten Tanks (mit dann 17.060 l) befüllt werden, um den Schwerpunkt des Flugzeugs nicht zu weit nach vorne zu verschieben. Zusammengerechnet kann eine KC-135R also maximal 118.470 Liter Treibstoff aufnehmen und bis auf eine Reserve von rund 2300 l auch wieder in der Luft abgeben. Bei der A-Version lag die Gesamtkapazität bei 113.560 Liter. Der Kraftstoff kann zwischen allen Tanks umgepumpt werden, nur die KC-135Q hatte zwei getrennte Kraftstoffsysteme, um Spezialtreibstoff transportieren und übergeben zu können. Acht KC-135 können selbst in der Luft betankt werden, da sie früher für Spezialeinsätze benutzt worden waren. Die Einfüllöffnung liegt an der Stirnseite über dem Cockpit. Der Ausleger für die Betankung anderer Flugzeuge befindet sich unterhalb des Hecks. Die Betankung wird von einem Abteil am Ende des Unterdecks aus durchgeführt. Hier liegt der Auslegerbediener bäuchlings auf einer Pritsche und kontrolliert die Lage des Tankauslegers mit der rechten Hand und seine Länge mit der linken. Dieser Flying Boom besteht aus zwei ineinander geschobenen Rohren, deren Gesamtlänge dadurch teleskopartig zwischen 8,5 und 14,3 m variiert werden kann. Der Innendurchmesser der Treibstoffleitung beträgt rund 10 Zentimeter. Die Steuerung erfolgt über zwei Ruderflächen (ruddevators), die sich mit hydraulischer Unterstützung bewegen. In Ruhestellung liegt der Ausleger am Heckkonus des Rumpfes an, in der typischen Betriebsstellung ist er um 30° nach unten geneigt und auf 12,2 m ausgefahren. Bewegungen von 30° zu beiden Seiten und bis 50° nach unten sind möglich. Verschiedene Markierungen und Lichtzeichen signalisieren dem Piloten des Empfängerflugzeuges die richtige Position für den Kontakt. Hat der Auslegerbediener den Einfüllstutzen des Empfängerflugzeuges getroffen, wird die Verbindung mechanisch verriegelt und der Betankungsvorgang über elektrische Kontakte nach den Vorgaben (Menge, Pumpleistung) gestartet. Die Transferraten liegen zwischen 570 und 1700 Liter pro Minute für Kampfflugzeuge und andere kleine Maschinen und bei bis zu 3400 l/min für große Transporter und Bomber, bei einem Druck von 3,5 bar. Das Tanken dauert wenige Minuten beispielsweise bei einer F-16 Fighting Falcon oder bis über eine halbe Stunde bei einer C-5 Galaxy. Von der moderneren KC-135R besitzen 20 Exemplare seit Mitte der 1990er-Jahre Halterungen für je zwei externe Betankungsbehälter Mk 32B-753 des britischen Herstellers Flight Refuelling. Die 4,4 Meter langen Behälter mit einem Durchmesser von 0,9 m können bei Bedarf an der Unterseite der Tragflächenenden angebracht werden. Sie beherbergen eine Schlauchtrommel, die den Schlauch mit Fangtrichter auf eine Länge von 24 m abwickelt. An der Spitze des Behälters befindet sich eine Staudruckturbine mit zweiblättrigem Rotor, der die Kraftstoffpumpe und Winde antreibt, so dass das System wenn nötig auch unabhängig von der Stromversorgung der KC-135 arbeiten kann. Die Pumpleistung beträgt 1500 Liter pro Minute. Eine mit diesem Multipoint Refueling System (MPRS) ausgerüstete Stratotanker kann ihren Treibstoff während eines Einsatzes sowohl mit starrem Ausleger an andere USAF-Flugzeuge weitergeben als auch mit Schlauchausleger an Flugzeuge der US-Marine/US Marine Corps und der NATO. Zur Betankung dieser Flugzeugtypen mit Tanksonde kann außerdem an den starren Ausleger aller KC-135 ein Schlauchadapter montiert werden (Boom Drogue Adapter, BDA). Varianten Überblick KC-135A: Erstes Modell, 732 Stück mit Pratt-&-Whitney-J57-Triebwerken von 1956 bis 1964 produziert. KC-135B: 17 neu gebaute Exemplare ab 1963, fliegender Kommandoposten des SAC. 1965 umbenannt in EC-135C. KC-135D: 1979 aus RC-135A entstandene Tanker, vier Stück. KC-135E: ab 1982 mit neuen Triebwerken TF33 versehene A-Modelle, 160 Stück, davon sind noch 110 ausschließlich bei den Reservestreitkräften im Dienst. Die E-Modelle sind mit bis zu 49 Jahren die ältesten noch aktiven Flugzeuge der USAF. C-135F: Exportmodell der KC-135A für Frankreich, zwölf Stück. KC-135Q: Zwischen 1961 und 1968 wurden 56 KC-135A für die Betankung der Lockheed SR-71 mit Spezialtreibstoff umgerüstet. KC-135R: 365 ab 1982 unter anderem mit F108-Triebwerken modernisierte A- und E-Modelle. Auch in der Türkei und in Singapur im Einsatz. KC-135T: von 1993 bis 1995 mit F108-Triebwerken auf den Stand der R-Modelle modernisierte Q-Modelle, 54 Stück. KC-135A Die KC-135A ist die ursprüngliche Version der Stratotanker und die einzige neu gebaute Tankerversion für die USAF. Von Anfang 1956 bis Ende 1964 produzierte Boeing 732 Exemplare in 27 Blöcken. Abgesehen von den Testflugzeugen übernahm die USAF die erste Maschine am 28. Juni 1957 für die 93. Luftbetankungsstaffel auf der kalifornischen Castle Air Force Base, wo die Ausbildung der Besatzungen stattfand. Ende desselben Jahres stellte die Luftwaffe die ersten KC-135 für reguläre Einsätze in Dienst. Das letzte A-Modell (USAF-Seriennummer: 64-1480) erreichte am 12. Januar 1965 seine Einheit. Etliche KC-135 wurden im Laufe der Jahre zu einer Vielzahl von Varianten umgebaut, darunter JKC-135 und NKC-135 für Tests, EC-135A und -L als luftgestützte Kommandoposten und Relaisstationen und RC-135 für Aufklärungszwecke. Für den Transport und die Weitergabe von speziellem Treibstoff für die SR-71 und ihrer Vorgänger entstanden zwischen 1961 und 1967 insgesamt 56 KC-135Q. Ab 1981 ließ die Luftwaffe die meisten KC-135A modernisieren. Rund 160 Maschinen erhielten leistungsfähigere Turbofantriebwerke des Typs TF33 und anschließend die Bezeichnung KC-135E. Etwa 345 Exemplare wurden von 1982 bis 1995 unter anderem mit F108-Turbofans zu KC-135R aufgerüstet. Insgesamt vier KC-135A nutzte die USAF ab 1960 gemeinsam mit der NASA für Parabelflüge zum Astronautentraining und für Experimente in der Schwerelosigkeit. Die Maschinen erhielten ein gepolstertes Hauptdeck, das sonst dort installierte Hilfstriebwerk und der Hecktank wurden ebenso wie der Tankausleger entfernt, Elektrik und Hydraulik an die neuen Einsatzbedingungen angepasst. Die so umgebauten Flugzeuge waren als Weightless Wonder (deutsch: schwereloses Wunder) oder auch als Vomit Comet (deutsche Entsprechung: Kotzbomber) bekannt. Zwei dieser KC-135 (55-3129 und 62-3536) sowie eine C-135A betrieb das Air Force Systems Command von 1960 bis 1973 von der Wright-Patterson Air Force Base aus. 1974 übernahm die NASA die Programmleitung und verwendete von der Ellington Air Force Base aus zunächst die 59-1481 als NASA 930 (Kennzeichen N930NA), die bis zu ihrem Einsatzende im Dezember 1995 über 57.600 Parabeln flog. Von Mai 1995 an folgte die 63-7998 als NASA 931 (N931NA), die im Oktober 2004 nach 13.605 Flugstunden und 34.757 Parabeln außer Dienst gestellt wurde. Die NASA 931 wurde außerdem zum Pilotentraining der angehenden Astronauten eingesetzt und begleitete die Shuttlemissionen als Transportflugzeug. Nach ihrem Einsatz als Weightless Wonder testete das Dryden Flight Research Center der NASA an der 55-3129 den Einsatz von Winglets. Im Juli 1979 erhielt diese Maschine 2,7 m hohe Winglets an den Tragflächenenden und absolvierte damit bis Januar 1981 39 Flüge. Sie lieferten wichtige Erkenntnisse über das Strömungsverhalten und mögliche Treibstoffersparnis, kamen bei der KC-135 jedoch nie serienmäßig zum Einsatz. Die US-amerikanische Bundesbehörde für Zivilluftfahrt FAA setzte von 1960 bis 1975 zwei KC-135A ein. Die beiden Flugzeuge (59-1481 und 59-1518) mit den zivilen Kennzeichen N98 beziehungsweise N96 überprüften bestehende und geplante Flugrouten und Navigationsanlagen. KC-135B Ursprung Nach dem Amtsantritt von US-Präsident John F. Kennedy änderten die USA 1961 ihre mit der NATO abgestimmte Militärstrategie der massiven Vergeltung hin zur flexiblen Erwiderung. Ging es bis dahin darum, nach einem feindlichen Angriff möglichst automatisiert einen allumfassenden atomaren Gegenschlag zu starten, sollte nun eine Reihe von dosierten und kontrollierten Gegenangriffen möglich sein. Dazu war es aber nötig, dass die Kommandostrukturen des Strategic Air Command (SAC) – und darüber hinaus bis zum Präsidenten als Oberbefehlshaber – auch nach der Zerstörung der SAC-Befehlszentralen am Boden noch funktionierten. Die Luftwaffe entschied sich daher für den Einsatz von luftgestützten Kommandoposten (Airborne Command Post, ACP). Für diesen Zweck hatte sie schon Mitte bis Ende 1960 fünf umgebaute KC-135A erfolgreich getestet. Die Maschinen erhielten eine Betankungsanlage, um die Einsatzdauer verlängern zu können. Auf dem Hauptdeck entstand ein Abteil mit Kommunikationsgeräten und einem Tisch für Besprechungen, an der Außenseite wurden zusätzliche Antennen angebracht. Das Gesamtsystem bezeichnete das SAC auch als Post Attack Command and Control System (PACCS). Looking Glass Anfang 1961 begannen die fliegenden Befehlszentralen des SAC mit regelmäßigen Einsätzen unter dem Namen Looking Glass. Bis Ende 1962 wuchs die Flotte auf 16 Stück. Gleichzeitig orderte die USAF 17 neue Flugzeuge für diesen Zweck, die Boeing von 1963 an als KC-135B baute und von Februar 1964 bis Februar 1965 auslieferte. Diese Kommandoposten der zweiten Generation hatten verglichen mit der älteren Version leistungsfähigere Turbofantriebwerke des Typs Pratt & Whitney TF33-P-9, zusätzliche Drahtantennen für Längstwellenfunk und modernisierte Kommunikationstechnik. Auch sie konnten in der Luft betankt werden. Wegen ihrer speziellen Rolle und um sie von den anderen Tankern unterscheiden zu können, erhielten die ACPs der Baureihe KC-135B zum 1. Januar 1965 die neue Bezeichnung EC-135C. Nach der Indienststellung der neueren Version dienten die Kommandoposten der ersten Generation nun unter dem Kürzel EC-135A als Reservemaschinen und unter anderem als fliegende Relaisstation für militärischen Funkverkehr. Die Tankanlage einschließlich Teleskopausleger blieb bei all diesen Maschinen erhalten und wurde regelmäßig zum Training oder für Notfälle benutzt. Anfang 1990 rüstete die Air Force vier EC-135C durch das Programm Pacer Link mit einer Anlage zur Satellitenkommunikation aus, äußerlich erkennbar an einem Höcker auf dem Rumpf, unter dem sich die Antenne für den MILSTAR-Funk verbarg. Die Looking-Glass-Missionen bestanden aus Achtstundenschichten. Konnte die Ablösung aufgrund schlechten Wetters oder wegen technischer Probleme nicht stattfinden, verlängerte sich der Einsatz eines ACP um weitere acht Stunden. Bei Bedarf wurde in der Luft nachgetankt. Die Besatzung bestand neben der eigentlichen Flugzeugbesatzung (Pilot, Copilot, Navigator, Auslegerbediener) aus weiteren 10 bis 14 Mitgliedern, darunter ein SAC-Befehlshaber (oft ein General, mindestens aber ein Oberst), stellvertretender Einsatzleiter, Spezialisten für Nachrichtendienst, Datenverarbeitung und Wetter sowie mehrere Funktechniker. Die USAF stationierte die EC-135 zunächst in Andrews Air Force Base (Maryland), Barksdale AFB (Louisiana), March AFB (Kalifornien), Offutt AFB (Nebraska) und Westover AFB (Massachusetts). Waren sie zuerst noch bestehenden Tanker- und Aufklärungseinheiten zugeordnet, gründete das Strategic Air Command zum 1. April 1970 eigenständige Staffeln für die PACCS-Flugzeuge, die Airborne Command and Control Squadrons (ACCS) und verteilte sie auf verschiedene weitere Stützpunkte der USA. Vom 3. Februar 1961 bis zum 24. Juli 1990 befand sich ständig eine solche Looking-Glass-Maschine in der Luft. Nur zweimal, 1963 und 1972, wurde die Mission für längstens 20 Minuten unterbrochen, als jeweils ein erkranktes Besatzungsmitglied abgesetzt werden musste. Zumindest in den zwei Jahren bis zur Auflösung des Strategic Air Command am 1. Juni 1992 startete nur noch ein Einsatz pro Tag. Vier EC-135C legte die Luftwaffe 1992 und 1993 still und lagerte sie im 309th Aerospace Maintenance and Regeneration Group (AMARG) ein. Rund ein halbes Dutzend blieb noch bis Ende der 1990er-Jahre beim 7th ACCS des Air Combat Command in Offutt zur Unterstützung des United States Strategic Command im Dienst. Ab dem 1. Oktober 1998 übernahmen die Boeing E-6 TACAMO der US-Marine die Looking-Glass-Einsätze. Die MILSTAR-Ausrüstung wurde aus den EC-135C aus- und in die E-6A eingebaut, die daraufhin die Bezeichnung E-6B erhielten. Weitere Verwendung Die EC-135C waren dafür ausgerüstet, im Ernstfall den Präsidenten, seinen Stellvertreter und den Verteidigungsminister (National Command Authority) an Bord zu nehmen. Sie fungierten als National Emergency Airborne Command Post (NEACP), also als Befehlszentrale für den Fall des Ausnahmezustands (state of emergency). Dafür hatten die Maschinen zusätzliche Funkgeräte zur besonders geschützten, verschlüsselten Kommunikation mit anderen Befehlsstellen. Von 1965 bis 1967 wurden zunächst drei C-Modelle unter dem Programm Night Watch III mit modernerer Elektronik und einem geräumigeren Abteil für die Oberbefehlshaber ausgestattet und erhielten danach die Bezeichnung EC-135J. Die Luftwaffe stationierte sie bei ihrem Hauptquartier auf der Andrews Air Force Base nahe dem Regierungssitz Washington D.C. Eine davon befand sich ständig in Alarmbereitschaft für Night-Watch-Einsätze. Ab 1974 übernahm die Boeing E-4 die NEACP-Rolle von der EC-135J. Das SAC gab sie daraufhin weiter zur Joint Base Pearl Harbor-Hickam auf Hawaii, wo sie dem Kommandeur der Pacific Air Forces unter dem Einsatznamen Blue Eagle bis 1993 als fliegende Kommandozentrale dienten und ältere EC-135P ablösten. Im Februar 1980 kam eine vierte EC-135J hinzu, die als EC-135C in Hickam zuvor zwei Jahre als Trainingsflugzeug für Blue Eagle gedient hatte. Eine weitere Besonderheit der EC-135C – und einiger EC-135A und EC-135G – war die Möglichkeit, von Bord aus ferngesteuert Starts von Interkontinentalraketen auszulösen, falls die Startzentralen am Boden etwa durch einen gegnerischen Angriff zerstört worden wären. Diese Airborne Launch Control Center (ALCC) waren am 31. Mai 1967 offiziell einsatzbereit. Während des Kalten Krieges hätten im Krisenfall zwei bis drei ALCCs über den Raketensilo-Feldern der USA gekreist und auf den Befehl gewartet, die Minuteman oder Peacekeeper zu starten. Eine ehemalige KC-135B und spätere EC-135C (USAF-Seriennummer 63-8050) baute die Luftwaffe 1993 für das Air Force Materiel Command zu einem Testflugzeug für Laserwaffensysteme um. Ab 1993 war sie auf der Edwards Air Force Base stationiert. Im Oktober 1996 erhielt sie die Bezeichnung NKC-135B und wurde später auch Big Crow II genannt. Seit Anfang 2006 nennt die USAF sie NC-135E. Ihr Vorderrumpf trägt seither auf der Backbordseite eine komplett schwarze Lackierung, auf die eine weiße Rakete aufgemalt ist. Am Heck dieser „Rakete“ sind starke Licht- und Wärmequellen installiert, die den heißen Rückstoßstrahl einer Rakete simulieren. Von der Kirtland Air Force Base aus soll damit die Zieleinrichtung des Prototyps Boeing YAL-1A Airborne Laser getestet werden. Eine EC-135C (62-3582) wurde nach 1998 in WC-135C umbenannt und dient der Messung meteorologischer und atmosphärischer Daten. KC-135D 1962 bestellte die Luftwaffe für photogrammetrische Aufgaben neun RC-135A, die ältere RB-50 ersetzen sollten. Bis 1964 schrumpfte das Programm auf vier Maschinen, die Boeing Ende 1965 auslieferte (USAF-Seriennummer 63-8058 bis -8061). Es waren die letzten vier Exemplare der ganzen C-135-Baureihe. Sie halfen im Frühjahr 1970 bei der Bestimmung des damals umstrittenen Grenzverlaufs zwischen Argentinien und Chile. Insgesamt aber litt das System unter technischen Problemen und erreichte nie die volle Einsatzreife. Außerdem wollte die USAF wegen ihres Engagements im Vietnamkrieg immer weniger Geld für derartige Projekte ohne direkten militärischen Nutzen ausgeben. Daher endeten die Vermessungseinsätze der RC-135A im Jahr 1971 und sie dienten fortan als Transportflugzeuge beim Strategic Air Command. Die Luftwaffe ließ sie 1979 in Tankflugzeuge umrüsten. Zwar waren die RC-135A bis auf den Tankausleger äußerlich identisch mit der KC-135A, trotzdem bestanden mehr als 70 größere technische Unterschiede. Zum Beispiel hatten die RC-135A einen zweiten elektrischen Antrieb der Landeklappen statt eines mechanischen und eine abweichend konstruierte Klimaanlage zur Kühlung der Fotoausrüstung. Folglich erhielten die vier umgebauten Flugzeuge die Bezeichnung KC-135D. In den nächsten Jahren setzte das 305. Luftbetankungsgeschwader sie von der Grissom Air Force Base aus als Tanker ein, bis sie 1990 neue Turbofantriebwerke des Typs TF33-PW-102 erhielten anstelle der J57-Turbojets. Danach dienten sie der Air National Guard zuerst in Alaska und nach 1995 bei der 117. Luftbetankungsstaffel (117th Air Refueling Squadron) des 190. Luftbetankungsgeschwaders (190th Air Refueling Wing) auf dem Forbes Field in Kansas. Im März und April 2007 wurden die KC-135D zum AMARG geflogen und stillgelegt. KC-135E Ab 1975 gab die USAF die ältesten KC-135A weiter an die Reserveeinheiten des Air Force Reserve Command und der Air National Guard. Um die Leistungen der rund 130 Flugzeuge zu verbessern und die Umweltbelastungen zu reduzieren, wurden sie ab 1981 mit neuen Triebwerken ausgerüstet. Boeing erhielt im September 1981 den Auftrag, gebrauchte Pratt-&-Whitney-JT3D-Triebwerke von überschüssigen zivilen B707 zu überholen und gegen die J57 der KC-135A auszutauschen. Im Vergleich zu den alten Turbojets boten die JT3D-3B-Turbofans (militärische Bezeichnung TF33-PW-102) mit 80,1 kN eine um 30 % höhere Schubkraft, einen 12 % geringeren Treibstoffverbrauch, 60 % weniger Lärm und 90 % weniger Abgase. Mit den TF33 entfiel die für die stärksten Emissionen verantwortliche Wassereinspritzung. Ebenfalls von den ausgemusterten B707 übernahm Boeing einige Cockpitinstrumente, das Höhenleitwerk und Gierdämpfer; ein Antiblockiersystem verbesserte die Bremsanlage. Die umgerüsteten Maschinen erhielten die Bezeichnung KC-135E. Durch die gesteigerte Antriebsleistung und den niedrigeren Verbrauch konnte sie rund 20 % mehr Treibstoff an Empfängerflugzeuge abgeben als der Vorgänger. Die Startrollstrecke verkürzte sich um rund 500 Meter. Wegen der zivilen Abstammung ihrer Triebwerke besitzen einzig die D- und E-Modelle Schubumkehr. Das erste E-Modell übergab Boeing am 26. Januar 1982 an die Luftwaffe, bis 1991 waren rund 150 Tanker der A-Variante und einige Spezialversionen (EC-135H, NKC-135A) auf diese Weise modernisiert. Rund 20 KC-135E ließ die USAF ab 1996 weiter aufrüsten zu KC-135R. Ende März 2008 standen noch 67 KC-135E ausschließlich bei den Reservestreitkräften im Dienst, von denen allerdings nur 15 tatsächlich verwendet werden. 25 Maschinen werden zwar flugbereit gehalten aber nicht eingesetzt, was pro Jahr und Flugzeug 121.400 Dollar kostet. Die übrigen 27 unterliegen teilweise seit Jahren einem Flugverbot, weil bei ihnen Schäden durch Korrosion im Bereich der Triebwerksaufhängungen festgestellt wurden. Im Haushaltsjahr 2008 darf die Luftwaffe höchstens 48 KC-135E stilllegen (ausgehend von einem Bestand von 85 Maschinen im Herbst 2007). Die verbleibenden 37 Flugzeuge dürfen erst dann ausgemustert werden, wenn der Entwicklungsvertrag für das Nachfolgemodell KC-X endgültig vergeben ist. Diese E-Modelle sind mit einem Alter von bis zu 50 Jahren die ältesten noch aktiven Flugzeuge der USAF. Über das Foreign Military Sales (FMS) Programm konnte die chilenische Luftwaffe (Fuerza Aérea de Chile) bis Ende 2010 drei gebrauchte KC-135E Tankflugzeuge erhalten. KC-135Q und -T Ende der 1950er-Jahre entwickelte Lockheed für den US-amerikanischen Geheimdienst CIA das Aufklärungsflugzeug A-12 Oxcart, aus der wenige Jahre später die YF-12 und schließlich die SR-71 Blackbird für die Luftwaffe hervorgingen. Die hohe Fluggeschwindigkeit von bis zu Mach 3,3 und die damit verbundene Reibungshitze erforderte einen speziellen thermisch stabilen Treibstoff. Wegen der begrenzten internen Kraftstoffkapazität der A-12 und ihrer Nachfolger mussten sie für ihre Einsätze in der Luft betankt werden können. Für diesen Zweck finanzierte die CIA ab 1961 die Umrüstung von zunächst fast 20 KC-135A. Sie erhielten spätestens im Juni 1966 die außer der Reihe liegende Bezeichnung KC-135Q, logisch wäre C als Versionskennung gewesen. Zur Aufnahme des Spezialtreibstoffs PF-1 dienten die Rumpftanks im Unterdeck und auf dem Hauptdeck, während der Standardtreibstoff JP-4 zur Eigenversorgung der KC-135 in den Flügeltanks unterkam. Um das PF-1 trotz seiner ätzenden Wirkung transportieren zu können, wurden die Kraftstoffleitungen und -tanks mit keramischen Beschichtungen versehen. Als die Luftwaffe Anfang der 1970er Jahre das PF-1 durch das weniger aggressive JP-7 ersetzte, konnte das herkömmliche Kraftstoffsystem wieder installiert werden. Die KC-135Q nahm bis zu 33,8 Tonnen Spezialtreibstoff und 49,9 Tonnen JP-4 auf. Es war auch möglich, nach dem Durchspülen der JP-7-Kraftstoffanlage in allen Tanks JP-4 zu transportieren und weiterzugeben. Die Q-Version war also nicht auf die Luftbetankung der A-12 oder SR-71 beschränkt, sondern hat auch andere Flugzeugtypen versorgt. Weitere Änderungen betrafen die Avionik. Ein zusätzliches, drittes UHF-Funkgerät (AN/ARC-50) mit Entfernungsmesseinrichtung half eine SR-71 über mehrere hundert Kilometer zu orten. Umgekehrt versorgte ein Peilsender (TACAN, AN/ARN-90) an Bord der KC-135Q die Besatzung der SR-71 mit Daten, um den Tanker sicher zu treffen. Dazu kamen Geräte zur präzisen Navigation fernab von gerichteten Funkfeuern (LORAN) sowie Blinklichter und Scheinwerfer zur Orientierung beim Rendezvous. Eine leitungsgebundene Sprechverbindung über den Tankausleger ermöglichte die Kommunikation zwischen den Flugzeugbesatzungen auch bei Funkstille während der geheimen Aufklärungseinsätze. Bis Ende 1966 standen 21 KC-135Q zur Verfügung, 1967 rüstete die Luftwaffe noch einmal 35 A-Modelle um, so dass insgesamt 56 KC-135Q entstanden. Allerdings erhielten nur 21 davon die komplette Avionikausrüstung, 35 wurden lediglich mit dem AN/ARC-50 ausgestattet und sollten die übrigen Geräte nur bei Bedarf mitführen. Der Einsatz der KC-135Q begann unmittelbar nach dem Erstflug der A-12 im April 1962, die ersten Betankungsversuche fanden noch mit gewöhnlichem JP-4 statt. Nach der Einführung der SR-71 im Jahr 1966 waren die Q-Modelle zusammen mit ihr auf der Beale Air Force Base in Kalifornien stationiert und gehörten zur 903. Luftbetankungsstaffel des Strategic Air Command. Zur Unterstützung der Aufklärungsmissionen wurden KC-135Q zusammen mit den A-12 und SR-71 verlegt, unter anderem ab 1967 zur Kadena Air Base (Japan) oder nach RAF Mildenhall (Großbritannien). Seit 1981 wird die KC-135Q durch die KC-10 Extender entlastet, die ebenfalls die Blackbird betanken kann. Nachdem die USAF die SR-71 Anfang 1990 außer Dienst gestellt hatte, diente die Q-Version als normales Tankflugzeug oder transportierte Spezialtreibstoff für die U-2 Dragon Lady zu deren Einsatzorten. Zwei KC-135Q gingen bei Unfällen verloren: Am 3. Juni 1971 stürzte die Maschine mit der Seriennummer 58-0039 beim Anflug auf die Torrejon Air Base in Spanien ab, wobei alle fünf Besatzungsmitglieder ums Leben kamen. Die 60-0338 fing am 8. Februar 1980 bei der Betankung auf der Plattsburgh Air Force Base, New York, Feuer und wurde stark beschädigt. Der Rumpf diente anschließend noch als Testobjekt für Antennenmontagen. Zwischen Mitte 1993 und Ende 1995 ließ die Luftwaffe alle 54 verbliebenen KC-135Q mit neuen Triebwerken des Typs F108 ausrüsten und brachte sie so auf den technischen Stand der R-Version. Sie erhielten anschließend die Bezeichnung KC-135T. Eine einzelne Stratotanker trug die Bezeichnung KC-135T schon früher. Die Maschine mit der Seriennummer 55-3121 entstand im Dezember 1969 aus einer KC-135R (alt) und diente zur elektronischen Aufklärung. Ende 1970 ließ die Luftwaffe sie für Fernmeldeaufklärungseinsätze umrüsten und führte sie ab Mai 1971 als RC-135T. KC-135R Mitte der 1970er Jahre plante die USAF die Modernisierung ihrer Tankerflotte. Das Verteidigungsministerium hatte ein Programm gestartet für ein neues kombiniertes Tank- und Transportflugzeug (Advanced Tanker/Cargo Aircraft, ATCA), aus dem schließlich 1980 die KC-10 Extender entstand. Nach dem Ende der Einsätze im Vietnamkrieg gab das Strategic Air Command (SAC) rund 130 KC-135 an die Reservestreitkräfte ab. Die verbliebenen Tanker sollten aufgewertet werden, um sie effizienter einsetzen zu können. Fünf Vorschläge schafften es ab 1977 in die engere Wahl. Der mit 10,6 Millionen US-Dollar pro Flugzeug teuerste und aufwändigste sah vor, die J57-Turbojettriebwerke durch moderne Turbofans zu ersetzen und neu konstruierte Tragflügel mit superkritischem Profil zu installieren. Nach dem billigsten – und ungewöhnlichsten – Entwurf sollten die KC-135 eine gemischte Motorisierung erhalten, indem jeweils nur die beiden inneren Triebwerke erneuert würden. Boeing stattete 1979 seine letzte für zivile Zwecke gebaute B707 mit Turbofantriebwerken des Typs CFM56-2 aus und unternahm 1980 mit dieser B707-700 eine Werbetour über 15 Luftwaffenstützpunkte, um möglichst vielen Piloten und Offizieren den neuen Antrieb vorzustellen. Schließlich entschied sich die Luftwaffe für genau diese Motorisierung aber gegen neue Tragflügel. Allerdings ließ sie unabhängig davon zwischen 1975 und 1988 die Beplankung der Tragflächenunterseite aller KC-135 erneuern, um deren Lebensdauer zu erhöhen. 1981 erhielt Boeing den Auftrag, die über 400 KC-135 des SAC aufzurüsten. Neben den CFM56-Triebwerken (militärische Bezeichnung: F108-CF-100) gehörten dazu unter anderem zwei Hilfstriebwerke statt wie bisher eines, ein verstärktes Fahrwerk, ein von 46,5 auf 50,6 Quadratmeter vergrößertes Höhenleitwerk und über 20 weitere technische Änderungen. Die modernisierte Tankerversion erhielt die Bezeichnung KC-135R. Das erste Exemplar verließ am 22. Juni 1982 Boeings Werkshallen in Wichita (Kansas) und flog erstmals am 4. August desselben Jahres. Als Prototyp fungierte die 61-0293, ein ehemaliger fliegender Kommandoposten (EC-135A) des SAC, der schon seit Anfang der 1960er Jahre selbst in der Luft betankt werden konnte. Das kam der Flugerprobung des R-Modells zugute, da so die Leistungen bei verschiedenen Fluggewichten leichter ermittelt werden konnten. Tatsächlich verbesserten sich die Flugleistungen durch den neuen Antrieb enorm: Bei einem typischen Einsatzprofil (Start, 3700 Kilometer Flug zum Rendezvous, 3700 km Rückflug zur Basis) kann eine KC-135R maximal 31,8 Tonnen Treibstoff übergeben, eine KC-135A nur 18,1 t. Die Schubkraft stieg um rund 70 % auf 98,5 kN, der Verbrauch sank um 25 % und die Lärmemissionen um 96 %. Ein entscheidender Pluspunkt sind auch die niedrigeren Wartungs- und Betriebskosten. Im Grunde erbringen zwei R-Modelle die gleiche Leistung wie drei A-Modelle. Bei Langstreckeneinsätzen übertrifft die Leistungsfähigkeit der KC-135R sogar die der KC-10, da diese bei hohem Gewicht relativ viel Treibstoff für den Eigenverbrauch benötigt. Insgesamt rüstete Boeing bis Juni 2005 345 A-Modelle und 20 E-Modelle der USAF zu R-Version auf, außerdem rund 25 Exportmodelle für Frankreich (C-135FR, siehe unten), Singapur und die Türkei. Acht KC-135R der US-Luftwaffe können selbst in der Luft betankt werden, weil sie vorher schon für spezielle Aufgaben eingesetzt waren, etwa als mobile Befehlsstation des SAC oder als Aufklärer. Sie gehören seit 1994 zum 22. Luftbetankungsgeschwader auf der McConnell Air Force Base. Zwanzig Maschinen besitzen an der Unterseite der Tragflächenenden Halterungen für externe Betankungsbehälter des Typs Mk 32B, über die gleichzeitig zwei Flugzeuge der US-Marine und anderer NATO-Staaten mittels Schlauch und Fangtrichter betankt werden können (Multipoint Refueling System, MPRS). KC-135R war auch die Bezeichnung für eine frühe Aufklärerversion der KC-135A. Die vier Maschinen (55-3121, 58-0126, 59-1465 und 59-1514) erhielten zum 1. Juni 1967 diesen Namen, waren auf der Offutt Air Force Base (Nebraska) beheimatet und nahmen weltweit an Spezialmissionen teil. Bis 1976 waren sie entweder in andere Varianten umgebaut oder abgestürzt (59-1465, 17. Juli 1967 in Offutt), so dass die Bezeichnung ab 1981 für die neu motorisierten Tanker wieder verwendet werden konnte. C-135F – Tanker für Frankreich Hintergrund Bis Mitte der 1990er-Jahre blieb Frankreich das einzige Land, in das die USA die KC-135 exportierten, obwohl auch Anfragen aus Iran, Israel und Kanada vorlagen. Die Lieferung von zwölf neu gebauten Tankflugzeugen 1964 war in der US-Regierung umstritten, weil Frankreich damit seine mit Atomwaffen ausgerüstete Force de dissuasion nucléaire noch schlagkräftiger und unabhängiger machen wollte. Ursprünglich planten die französischen Luftstreitkräfte Mitte der 1950er Jahre den Bau eines überschallschnellen strategischen Bombers, um Ziele in der Sowjetunion angreifen zu können, er wurde aus Kostengründen aber nie verwirklicht. Stattdessen erhielt der vorhandene Bomber Dassault Mirage IV ab 1962 neben anderen Modernisierungen eine Luftbetankungseinrichtung zur Steigerung der Reichweite. Diese neue Mirage IVA konnte nun mit einer Luftbetankung 5510 Kilometer weit fliegen, statt 2870 km ohne Nachtanken. Um die Bomberflotte im Ernstfall schnell mit Treibstoff versorgen zu können, kam nur ein Tanker mit Strahlantrieb infrage. Eine kurzzeitig erwogene Transall-Variante erwies sich als zu langsam. Verhandlungen Frankreich begann 1960 Verhandlungen mit den USA über den Kauf von zehn Stratotankern. Ein Tanker sollte vier Mirage bedienen können, so dass die Armée de l’air bei einer geplanten Bomberflotte von 36 Maschinen mit neun KC-135 plus eine Reservemaschine kalkulierte. Ohne Tankflugzeuge wären die Bomber wirkungslos, da sie die entfernten Ziele im Osten nicht erreichen würden. Die Gespräche blieben zunächst ohne Erfolg, denn die USA wollten die militärische Unabhängigkeit Frankreichs auf keinen Fall fördern. Einige US-Generäle befürworteten zwar die Lieferung, aber Präsident John F. Kennedy erklärte am 7. Juni 1962 öffentlich, dass eine Unterstützung des französischen Atomwaffenprogramms kein Thema sei. Genau am selben Tag jedoch genehmigte der stellvertretende US-Verteidigungsminister Roswell Gilpatric den Verkauf von zwölf KC-135 im Wert von 50 Millionen US-Dollar an Frankreich. Noch neun Tage nach diesem Abschluss wetterte Verteidigungsminister Robert McNamara gegen die französische Abschreckungsstrategie und bezeichnete sie als unzureichend, unglaubwürdig und gefährlich. Einen weiteren Monat später gab er den Vertrag bekannt, der die verbesserten Beziehungen der beiden Staaten widerspiegele. Produktion und Lieferung Boeing produzierte die Tanker in zwei Blöcken zu je sechs Maschinen unter der internen Modellnummer 717-165. Da Frankreich sie sowohl als Tank- als auch als Transportflugzeug einsetzen wollte, erhielten sie die Bezeichnung C-135F. Sie tragen Kennzeichen nach dem Schema der USAF (63-8470 bis 8475 und 63-12735 bis 12740) und zusätzlich die beiden letzten Buchstaben einer pseudo-nationalen Kennzeichen, die als Rufzeichen dienen (F-UKCA bis -UKCL). Frankreich wollte ursprünglich Turbofan-Triebwerke als Motorisierung, entschied sich wegen der niedrigeren Anschaffungskosten aber letztlich für die üblichen Pratt-&-Whitney-J57-Turbojets. Im Gegensatz zu den Stratotankern der USAF wurden die C-135F serienmäßig mit einem Schlauch am Tankausleger versehen, da die französische Luftwaffe bis 1990 ausschließlich das Schlauch-Sonden-System zur Luftbetankung verwendete. Der Rollout der ersten C-135F fand am 5. November 1963 in Renton, Washington, der Erstflug am 26. November statt. Die USA lieferten am 3. Februar 1964 das erste Tankflugzeug an Frankreich, das zwölfte und letzte am 10. Oktober 1964. Am 1. August 1963 stellte die Armée de l’air ihre erste Einheit zur Luftbetankung auf, die 90. Escadron de Ravitaillement en Vol (ERV, deutsch: Luftbetankungsstaffel) auf dem Luftwaffenstützpunkt 125 in Istres. Die 90. ERV erhielt am 3. Februar 1964 ihren ersten Ravitailleur (franz. für Tanker). Die zwölf C-135F wurden auf drei Stützpunkte verteilt, neben Istres noch Mont-de-Marsan und Avord. Seit Juli 1976 gehören die Tanker zum 93. ERV. Modernisierungen Boeing erneuerte 1977 die Außenhaut an der Unterseite der Tragflächen, um die Lebensdauer der Flugzeuge zu erhöhen. 1980 entschloss sich Frankreich, die Tanker mit neuen Turbofantriebwerken vom Typ CFM56-2B1 auszurüsten. Die erste modernisierte Maschine (63-12736) flog erstmals am 3. August 1985, bis 1988 war die Umrüstung abgeschlossen. Die neu motorisierten Tankflugzeuge erhielten die Bezeichnung C-135FR. Ab 1993 wurden die Maschinen mit Betankungsbehältern an den Tragflügelenden ausgestattet, so dass nun zwei Empfänger gleichzeitig bedient werden können. Der starre Ausleger am Heck hat nun ohne Schlauchadapter einen höheren Durchsatz, was die Versorgung der französischen AWACS-Aufklärer E-3F verbessert. Genutzt wurde diese Möglichkeit in der Praxis jedoch lange Zeit nicht. Da die Bedienung auch nicht geschult wurde, konnten mit diesem System ausgerüstete alliierte Kampfflugzeuge wie die F-16 auch nicht beim internationalen Militäreinsatz in Libyen 2011 von den französischen Tankern versorgt werden. Um dem gestiegenen Bedarf an Luftbetankungskapazität gerecht zu werden, leaste Frankreich von Ende 1992 bis 1997 drei KC-135R von der US Air Force. Ab Mitte 1997 übernahm die Armée de l’air zum Ausgleich fünf KC-135R, die zuvor als KC-135A beim AMARG zwischengelagert waren und vor der Auslieferung neue CFM56-Triebwerke erhielten, um sie auf den Stand der R-Version zu bringen. Einsatz Kalter Krieg Die regulären Einsätze der KC-135 begannen Ende 1957. Sie versorgten unter anderem die fliegenden Kommandoposten des Strategic Air Command über dem Gebiet der USA und betankten in der Operation Chrome Dome die B-52 Stratofortress, die in den 1960er Jahren ständig mit Atomwaffen in der Nähe der Sowjetunion patrouillierten. Ein Teil der Tankerflotte befand sich während des Kalten Krieges in ständiger Alarmbereitschaft am Boden, um im Ernstfall die strategischen Bomber des SAC bei einem Erst- oder Zweitschlag zu unterstützen. Dazu kamen die Spezialeinsätze der KC-135Q zur Betankung des Höhenaufklärers SR-71 Blackbird. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des SAC im Juni 1992 übernahm das Air Mobility Command der USAF die Tankerflotte. Kampfeinsätze Am 9. Juni 1964 kam die KC-135 zum ersten Mal bei Kampfhandlungen zum Einsatz, als sie über Vietnam Kampfflugzeuge des Typs F-100 Super Sabre betankte, die anschließend Ziele in Laos angriffen. Die Einsätze in Südostasien begannen schon im Oktober 1961 mit der Unterstützung von Aufklärungsflügen, und von Mitte 1962 bis Ende 1963 begleiteten 200 KC-135 insgesamt 29 Verlegungen von Kampfjets in die Krisenregion. Im Vietnamkrieg waren bis zu 172 KC-135 vor Ort, verteilt hauptsächlich auf die Stützpunkte Kadena Air Base (Japan), U-Tapao Air Base (Thailand), Andersen Air Force Base (Guam) und Clark Air Base (Philippinen). Während des Krieges flogen die Stratotanker insgesamt 194.687 Einsätze, führten 813.878 Luftbetankungen durch und übergaben dabei rund 4,07 Millionen Tonnen Treibstoff. Im Zweiten Golfkrieg kamen die Tanker während der ersten 22-wöchigen Phase Desert Shield ab August 1990 13.168 mal zum Einsatz und betankten 28.857 Empfänger mit 160.425 Tonnen Treibstoff. In den anschließenden sechs Wochen von Desert Storm absolvierten 262 KC-135 13.587 Einsätze und 40.781 Betankungen mit 234.562 Tonnen Sprit. Während dieses Golfkrieges setzte die Luftwaffe erstmals die modernere KC-135R im Kampf ein, die bei oft heißer und feuchter Witterung die Arbeit von zwei KC-135A oder -Q leistete. Am Kosovokrieg (Operation Allied Force) 1999 nahmen 151 KC-135 teil. Während der Invasionsphase des Irak-Kriegs (Operation Iraqi Freedom) von März bis Mai 2003 flogen 149 KC-135 und 33 KC-10 der USAF über 6000 Einsätze und transferierten dabei mehr als 136.000 t Kraftstoff. Die französischen C-135F flogen ab 1966 regelmäßig Tankeinsätze für die alarmbereiten Mirage-Bomber, von denen bis 1967 ständig zwölf in der Luft waren. Der erste Kampfeinsatz der Ravitailleurs fand 1977 statt, als die französische Luftwaffe Polisario-Rebellen in Mauretanien bekämpfte (Operation Lamantin). Es folgten 1983 und 1986 Einsätze im Tschad (Operationen Manta und Épervier). Zwischen 1990 und 2003 unterstützten die französischen Tankflugzeuge die Koalitionstruppen im Zweiten Golfkrieg und im Irakkrieg. Obwohl die KC-135 auch ein Transportflugzeug ist, wurde sie eher selten in dieser Rolle eingesetzt. Zum einen gab es mit der C-135A und -B reine Frachtervarianten, zum anderen verfügte die Luftwaffe ab 1965 mit der C-141 Starlifter und später mit der C-5 Galaxy und C-17 Globemaster III über geeignetere Transporter mit leichter zugänglichem und größerem Laderaum. Im Jahr 2006 beförderten die über 200 KC-135 des Air Mobility Command nur rund 284 Tonnen Fracht gegenüber 1732 t der 59 KC-10 und 228.875 t der rund 150 C-17. Zwischenfälle Insgesamt gingen 76 Flugzeuge der Boeing C-135 Familie durch Abstürze oder Unfälle verloren. Stand: 1. Januar 2010 In den Anfangsjahren sind mehrere KC-135A während der kritischen Startphase verunglückt. Fiel ein Triebwerk aus oder versagte die Wassereinspritzung, konnte die Maschine oft nicht mehr abgefangen werden. Die übrigen Verluste hatten meist technische Defekte, Wartungsfehler oder schlechtes Wetter in Verbindung mit Pilotenfehlern als Ursache. Kein Stratotanker ist durch direkte Feindeinwirkung verloren gegangen. Nur vier Stratotanker sind bei der eigentlichen Luftbetankung verunglückt. Der folgenschwerste derartige Vorfall ereignete sich am 17. Januar 1966 über der spanischen Mittelmeerküste. Während eines Chrome-Dome-Einsatzes stieß eine KC-135A mit einer B-52G zusammen, woraufhin beide Flugzeuge nahe Palomares abstürzten und sieben der insgesamt elf Insassen starben. Zwei der vier Wasserstoffbomben der B-52 wurden dabei beschädigt und kontaminierten den Boden. Eine weitere Bombe konnte erst im April 1966 aus dem Mittelmeer geborgen werden. Eine KC-135E der Washington Air National Guard stürzte am 13. Januar 1999 bei einem Durchstartversuch am deutschen NATO-Flugplatz Geilenkirchen ab. Die Ursache für das Unglück, bei dem alle vier Besatzungsmitglieder ums Leben kamen, war eine fehlerhafte Stellung des Trimmruders des Höhenleitwerks. Es konnte jedoch nicht eindeutig geklärt werden, ob dies auf einen technischen Fehler oder Fehlbedienung zurückzuführen war. Die verunglückte C-135F war die 63-8473/F-UKCD. Sie stürzte am 1. Juli 1972 unmittelbar nach dem Start zu einem Wetter-Aufklärungsflug vom Stützpunkt Hoa (Tuamotu-Archipel, Französisch-Polynesien) ab. Ein Triebwerk der vollbeladenen Maschine wurde beim Start zerstört, weil das Einspritzwasser verunreinigt war. Bei dem Unglück kamen alle sechs Besatzungsmitglieder ums Leben. Gegenwart und Zukunft Von den insgesamt 732 für die USAF gebauten Stratotankern betrieb sie Ende März 2008 noch rund 490. Aufgeteilt auf die verschiedenen Varianten entfielen 67 auf die KC-135E, 365 sind R- und 54 T-Modelle. Davon gehörten etwa 200 zur aktiven Luftwaffe, die meisten zum Air Mobility Command, aber auch die Pacific Air Forces und die United States Air Forces in Europe unterhalten eigene Staffeln. Die Air National Guard verfügte 2007 über 24 Staffeln mit 250 Stratotankern und repräsentierte damit 45 % der gesamten Tankerflotte. 84 KC-135 entfielen auf das Air Force Reserve Command. Einige Maschinen sind außerdem für Testzwecke beim Air Force Materiel Command im Einsatz. Im Februar 2011 wählte die U.S. Air Force die Boeing KC-46 als Nachfolger für die KC-135 aus. Nutzerstaaten 397 Total im aktiven Service United States Air Force (Air Mobility Command/USAFE/Pacific Air Forces) 171 × KC-135R/T 4 × GKC-135E als flugunfähige Trainingsmaschine für Mechaniker Air National Guard 163 × KC-135R Air Force Reserve Command 63 × KC-135R Armée de l’air (französische Luftwaffe) 14 × KC-135FR/R muss den Dienst zwischen Oktober 2020 und 2024 verlassen. Türkische Luftwaffe (Turk Hava Kuvvetleri) 7 × KC-135R ex-USAF, die zwischen Dezember 1997 und Juli 1998 eingegangen war, hatte zwischen Juli 1995 und Dezember 1997 zwei Exemplare von der USAF gemietet Luftwaffe von Singapur 4 × KC-135R am 2. Oktober 2020 an Meta Aerospace verkauft. Fuerza Aérea de Chile 3 × KC-135E ex-USAF, in San Antonio instand gesetzt und bis Ende 2010 nach Chile ausgeliefert. Technische Daten Literatur Robert S. Hopkins: Boeing KC-135 Stratotanker. More than just a Tanker. Earl Shilton (UK), 1997. ISBN 1-85780-069-9. Mark Ayton: 135 The World's Greatest Tanker… and more. Key Publishing Ltd, 2014. Weblinks Einzelnachweise Vierstrahliges Flugzeug Tankflugzeug KC135 Luftfahrzeug im Vietnamkrieg Militärluftfahrzeug (Frankreich) Erstflug 1956
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https://de.wikipedia.org/wiki/Markuelia
Markuelia
Markuelia ist eine aus der erdgeschichtlichen Periode des Tommot im mittleren Kambrium erhaltene Gattung fossiler Würmer. Es gibt zwei bekannte Arten, die vermutlich die engsten bekannten Verwandten der drei modernen Tierstämme der Korsetttierchen (Loricifera), Hakenrüssler (Kinorhyncha) und Priapswürmer (Priapulida) darstellen. In der Hunan-Provinz Südchinas wurden Embryos von Markuelia hunanensis, in Ostsibirien solche von Markuelia secunda gefunden. Erstere haben sich aus nahezu allen Entwicklungsstadien von den ersten Zellteilungen bis zum Zeitpunkt des Schlüpfens erhalten und geben einen einmaligen Einblick nicht nur in die Embryonalentwicklung dieser Tiere, sondern auch in die Stammesgeschichte der gesamten, als Scalidophora bekannten, Gruppe. Die Fossilien Die Konservierung weichkörperiger Tiere als Fossilien ist bereits äußerst ungewöhnlich, die Möglichkeit einer Erhaltung embryonaler Lebensstadien wurde hingegen lange Zeit praktisch völlig ausgeschlossen. Aus diesem Grund sind die vorliegenden Funde von hohem wissenschaftlichen Wert. Bei beiden Arten wurde eine Konservierung in Kalkstein durch feinkörniges Calciumphosphat ermöglicht, das die Weichgewebe entweder durch komplette Ersetzung oder durch einen feinen Filmüberzug vor dem Verfall bewahrt hat. Da dieser Vorgang nach dem Eintritt des Todes sehr schnell abgelaufen sein muss, nimmt man an, dass die Einwirkung von Bakterien dabei eine Rolle spielte. Sedimentäre Phosphatablagerungen und die damit verbundenen außergewöhnlichen Erhaltungsbedingungen finden sich in der Übergangszeit vom Ediacarium zum Kambrium vergleichsweise häufig – warum dies ausgerechnet in diesen frühen erdgeschichtlichen Epochen der Fall war, ist jedoch noch nahezu unverstanden – möglicherweise war diese Frühzeit des Erdaltertums durch eine ganz andere Ozeanchemie als heute geprägt. Markuelia hunanensis Die fossilen Embryos von Markuelia hunanensis stammen aus der Bitiao-Formation Wangcuns in der Hunan-Provinz Südchinas – von letzterer leitet sich auch der zweite Bestandteil, das Epithet, des wissenschaftlichen Namens ab. Der Erhaltungsgrad der Fossilien ist sehr unterschiedlich; im besten Fall lassen sich aber noch Strukturen in einer Größenordnung von etwa 0,3 Mikrometern ausmachen. Von den Tieren liegen unterschiedliche Entwicklungsstadien vor, deren Abmessungen zwischen etwa 240 und 410 Mikrometern liegen. Das früheste Stadium zeigt den Embryo im Blastula-Stadium, die Teilungsfurchen zwischen den einzelnen Zellen, den Blastomeren, deren Zahl auf 485 geschätzt wird, sind dabei gut zu erkennen. In späteren, aber immer noch kugelförmigen Stadien lassen sich differenziertes Embryogewebe und undifferenzierte Oberflächenteile unterscheiden, die vermutlich Dotter darstellen. Der Embryo hat nun bereits ein wurmähnliches Aussehen und ist so auf der Oberfläche der mutmaßlichen Dotterkugel zusammengerollt, das Kopf und Schwanz nebeneinander zu liegen kommen. Der Rumpf verbindet beide durch eine Doppelschleife in der Form eines umgekehrten S. Er ist außen von mehr als hundert etwa 180 bis 190 Mikrometer breiten und 20 bis 25 Mikrometer langen Ringen bedeckt, die sich, wie in aufgebrochenen Exemplaren erkennbar ist, nach innen hin fortsetzen, also keine Oberflächenmerkmale darstellen. Senkrecht zu den Ringen ist der Körper durch feine, nur etwa 0,3 bis 0,5 Mikrometer breite Bänder gezeichnet. In der Schwanzregion sind die Ringe weitaus schwächer ausgeprägt; hier befinden sich stattdessen sechs gekrümmte, 50 bis 90 Mikrometer lange Stacheln, die bei den lebenden Tieren wahrscheinlich ringförmig um eine den Schwanz abschließende Mulde angeordnet waren, die sich als Körperöffnung, zum Beispiel als After, interpretieren lässt. Der Kopf ist nur bei einem Exemplar in einem aussagekräftigen Erhaltungszustand. Wie auch auf dem Schwanz sind die Ringe hier nur sehr unauffällig; stattdessen finden sich wie dort zahlreiche, allerdings mit etwa 30 Mikrometern etwas kürzere Stacheln. Sie sind in drei ringförmigen, einander überlappenden Reihen angeordnet und weisen in die mundabgewandte Richtung. Abgeflacht und mit einer glatten Oberfläche waren sie vermutlich von einer Außenhaut (Cuticula) umgeben, lassen sich aber nach Angaben der entdeckenden Wissenschaftler nicht als starre Fortsätze der Körperwand ansehen. An der Spitze des Kopfes liegt der abschließende Mund, für den ein Durchmesser von 46 Mikrometern gemessen wurde. Die Entdecker schätzen, dass der Embryo zum Zeitpunkt der Fossilisierung eine Länge von etwa drei Millimetern erreicht hatte – er war damit bereits größer als die meisten erwachsenen Tiere der modernen Scalidophora. Es kann als sehr wahrscheinlich gelten, dass es sich um direkt entwickelnde Tiere handelte, also kein zwischengeschaltetes Larvenstadium existierte. Der Holotyp der Art befindet sich heute im Geologischen Museum der Universität Peking. Markuelia secunda Die Fossilien von Markuelia secunda wurden zuerst in den 1980er Jahren von russischen Paläontologen in der ostsibirischen Pestrotsvet-Formation am Fluss Aldan in Süd-Jakutien gefunden, jedoch erst spät als Embryos erkannt. Auch sie stammen zeitlich aus der erdgeschichtlichen Periode des Tommotium. Die kugelförmigen Fossilien mit einem Durchmesser von etwa einem halben Millimeter ähneln stark Markuelia hunanensis, befinden sich aber in schlechterem Erhaltungszustand. Auch hier sind die Embryos von wurmförmigem, außen geringtem Aussehen und schleifenförmig um die Kugeloberfläche gewickelt. Wie bei Marcuelia hunanensis ist der Rumpf in Form eines umgekehrten S angeordnet, so dass die etwas verbreiterten Kopf- und Schwanzregionen auf einer Hemisphäre nebeneinander zu liegen kommen. Die Gesamtlänge des Embryos wird mit 3, die Breite mit 0,2 bis 0,4 Millimetern angegeben, während die Länge der etwa 75 Ringe auf etwa 30 bis 50 Mikrometer geschätzt wird. Das Kopfende von Markuelia secunda ist nicht gut erhalten; dafür lassen sich in der Schwanzregion insgesamt vier in zwei spiegelsymmetrischen Paaren angeordnete stachelartige Strukturen ausmachen. Gleichzeitig wiederholen sich auf jedem dritten Segment in ungefähr gleicher Position kegelförmige, spitz zulaufende Vorsprünge. Im Körperinneren lassen sich bei aufgebrochenen Exemplaren feine stabähnliche Objekte erkennen, die jeweils genau einem Ring zugeordnet werden können, aber vermutlich nicht Teil der Körperwandung sind – dies spräche für eine interne Segmentierung der Tiere. Ob es sich um innere Organe handelt, und wenn ja, um welche, ist allerdings nur sehr schwer zu entscheiden, da die Phosphatablagerungen die ursprünglichen Abmessungen der Strukturen verfälscht haben könnten. Auch bei Markuelia secunda war die Entwicklung vermutlich direkt und der Embryo spiegelt bereits die grundlegende Körperform des erwachsenen Tieres wider. Unter anderem wegen der eher spiegelsymmetrischen, zangenartigen statt radialen Anordnung der Stacheln wird Markuelia secunda von Markuelia hunanensis unterschieden; ihre Ähnlichkeiten schienen den Entdeckern letzterer Art allerdings hinreichend, um beide in dieselbe Gattung zu stellen. Exemplare von Markuelia secunda befinden sich heute im Schwedischen Museum für Naturgeschichte in Stockholm. Stammesgeschichtlicher Verwandtschaftskreis Für Markuelia secunda wurden bis zur Entdeckung von Markuelia hunanensis verschiedene moderne und ausgestorbene Tiergruppen als engere Verwandtschaftsgruppe in Betracht gezogen, darunter besonders die Stummelfüßer (Onychophora), die Ringelwürmer (Annelida) und die ebenfalls segmentierten Halkieriiden (Halkieriida). Letztere sind eine paraphyletische Gruppe ausgestorbener Arten, die systematisch vermutlich auf der Stammlinie von Ringelwürmern und Weichtieren (Mollusca) liegen. Da man annehmen kann, dass die meisten Merkmale von Markuelia hunanensis für die Gattung charakteristisch sind, machten diese eine Revision der oben angeführten älteren Vorstellungen notwendig: So lässt sich das Fehlen jeglicher Form von Körperanhängen selbst in späten Entwicklungsstadien der Embryos nur schwer mit einer engeren Verwandtschaft mit Ringelwürmern oder Stummelfüßern in Einklang bringen. Schon in der wissenschaftlichen Literatur zu Marcuelia secunda, also vor dem Fund der zweiten, besser erhaltenen Art, wird zudem auf das Fehlen transversaler, also quer zur Körperachse angeordneter Querwände (Septa) aufmerksam gemacht und eine evolutionäre Entsprechung der vorgefundenen stachelförmigen Strukturen mit den Körperanhängen (Parapodien) der Ringelwürmer in Frage gestellt. Demgegenüber ist bei den Halkieriden die Orientierung der Stacheln verschieden angelegt und der Mund anders positioniert, nicht wie bei Markuelia den Körper nach vorne abschließend (terminal), sondern dahinter (subterminal). Auch die direkte Entwicklung von Markuelia, also ohne zwischengeschaltetes Larvenstadium, widerspricht einer allzu engen Verwandtschaft mit den oben genannten Tiergruppen. Stattdessen sprechen Aufbau, Anordnung und Orientierung der Kopfstacheln für eine enge Verwandtschaft mit den Scalidophora, einer natürlichen Verwandtschaftsgruppe aus Hakenrüsslern (Kinorhyncha), Priapswürmern (Priapulida) und Korsetttierchen (Loricifera); die Position des Mundes ist für ein weiter gefasstes Taxon namens Cyclioneuralia charakteristisch, das zusätzlich noch Faden- (Nematoda) und Saitenwürmer (Nematomorpha) umfasst. Eine kladistische Analyse ergab die folgende systematische Einordnung der beiden Markuelia-Arten: Auswirkungen für Embryologie und Systematik Die Fossilienfunde bestätigen einerseits Vorhersagen der vergleichenden Embryologie und unterstreichen damit die Bedeutung, die embryologischen Studien für ein Verständnis der stammesgeschichtlichen Verwandtschaftsverhältnisse von Taxa (systematisch benannten Gruppen von Lebewesen) zukommt. Andererseits vermehren sie das Wissen um die embryonale Entwicklung der Scalidophora selber – die frühe Lebensgeschichte der mehr als 500 Millionen Jahre alten Markuelia-Arten ist ironischerweise besser bekannt als die ihrer meisten modernen Verwandten. Sie haben zudem direkte Relevanz für die moderne Systematik und erlauben daneben erstmals den historischen Vergleich und damit einen Einblick in die evolutionäre Entwicklung ontogenetischer, also lebensgeschichtlicher Vorgänge. Die Vorhersage der vergleichenden Embryologie, dass sich bereits die ersten Scalidophora direkt, also ohne Umweg über ein planktonlebendes Larvenstadium zum erwachsenen Tier entwickelten, wurde durch die Markuelia-Funde als richtig erkannt; es scheint also möglich zu sein, aus der Lebensgeschichte der modernen Taxa vergleichend auf den ursprünglichen Verlauf bei ihren ausgestorbenen Vorgängern zu schließen. Durch ein detailliertes Studium der lebensgeschichtlichen Entwicklung der Markuelia-Arten lassen sich zudem von der vergleichenden Embryologie vorgebrachte Hypothesen zur Evolution einzelner Merkmale bzw. Merkmalskombinationen erstmals wissenschaftlich testen. Eine wichtige systematische Konsequenz der Funde liegt darin, dass die Larvenstadien von Priapswürmern und Korsetttierchen als abgeleitete Merkmale (Apomorphien) gedeutet werden müssen und vielleicht sogar als gemeinsame abgeleitete Merkmale (Synapomorphien) interpretiert werden können. In letzterem Fall würde die Kontroverse um die stammesgeschichtlichen Beziehungen der drei Scalidophora-Taxa zueinander im Sinne eines Schwestertaxonverhältnis zwischen Priapswürmern und Korsetttierchen aufgelöst. Eine konvergente Entwicklung, also das unabhängige Auftreten strukturell ähnlicher (analoger), aber nicht auf eine gemeinsame Vorgängerstruktur zurückführbarer (homologer) Merkmale, ist allerdings derzeit noch nicht auszuschließen. Auch auf die stammesgeschichtlichen Beziehungen der Scalidophora selber werfen die Markuelia-Funde ein neues Licht, da zahlreiche vermutete Homologien zwischen den Scalidophora und ihrer mutmaßlichen Schwestergruppe, den Nematoida (Faden- und Saitenwürmer), nun schon von der Stammlinie der Scalidophora her bekannt sind, also keine abgeleiteten Merkmale der modernen Taxa darstellen. Dies führt gleichzeitig zu der Frage, welche der Charaktere der Scalidophora als abgeleitet und welche als ursprünglich anzusehen sind, oder mit anderen Worten, wie stark die Scalidophora vom gemeinsamen Grundbauplan aller Cycloneuralia (der Zusammenfassung von Scalidophora und Nematoida) abgewichen sind. Da zahlreiche Merkmale möglicherweise als evolutionäre Homologien auch in der Außengruppe der Bauchhärlinge (Gastrotricha) zu finden sind, können die Scalidophora wohl als eine vergleichsweise konservative Gruppe der Cycloneuralia und eventuell sogar des umfassenderen Taxons der Häutungstiere (Ecdysozoa) angesehen werden, so dass einer ihrer frühen Vertreter wie Markuelia eine Vorstellung von den Charakteristika der Stammart vermitteln könnte. Damit verbunden ist die evolutionsgeschichtlich interessante Frage, ob die Segmentierung des Körpers, die zum Beispiel bei den Gliederfüßern (Arthropoda), zu denen man etwa die Insekten (Insecta), Spinnen (Araneae) oder Krebstiere (Crustacea) zählt, deutlich erkennbar ist, ein ursprüngliches oder ein abgeleitetes Merkmal der Häutungstiere darstellt. Lange Zeit wurden zum Beispiel die Zonite genannten Körperabschnitte der wurmartigen Hakenrüssler als konvergent entstanden angesehen. Sollten sich die paläontologischen Befunde hinsichtlich der sich tief in den Körper fortsetzenden Ringe von Markuelia bestätigen, könnte es sein, dass diese Ansicht noch einmal überdacht werden muss. Paläontologisch beweist Markuelia die Existenz der Scalidophora-Gruppe im mittleren Kambrium, eine Tatsache, die bisher aus der Kenntnis von kambrischen Gliederfüßern (Arthropoda), die den anderen Zweig der Häutungstiere bilden, indirekt erschlossen werden konnte, die jetzt aber unabhängig davon bestätigt ist. Sie verstärkt zudem die Vorhersage, dass auch die Stammlinie der Nematoida zu diesem Zeitpunkt bereits etabliert war, deren paläontologischer Nachweis aus kambrischen Schichten im Jahre 2004 aber noch aussteht. Die Funde von Markuelia liefern somit ein gutes Beispiel dafür, wie die Verschränkung paläontologischer, embryologischer und paläoembryologischer Forschungsergebnisse in Wechselwirkung mit den Erkenntnissen der modernen Systematik zu einem vertieften Verständnis evolutionärer Vorgänge führen können – sowohl auf der Ebene des Einzelorganismus und seiner Ontogenese, also lebensgeschichtlichen Entwicklung, als auch auf der Ebene der Abstammungsgemeinschaft und ihrer Phylogenese, also stammesgeschichtlichen Entwicklung. Literatur S. Bengtson, Z. Yue: Fossilized metazoan embryos from the earliest Cambrian. In: Science. Washington DC 277.1997, S. 1645. S. Conway-Morris: Eggs and embryos of the Cambrian. In: Bioessays. Cambridge University Press, Cambridge 20.1998, S. 678. X-P. Dong, P. C. J. Donoguhe, H. Cheng, J. B. Liu: Fossil embryos from the Middle and Late Cambrian period of Hunan, south China. In: Nature. Macmillan Journals, London 427.2004, S. 237. Weblinks Fotos von Markuelia hunanensis (englisch) Fotos von Markuelia secunda Vielzellige Tiere Metazoa Ausgestorbenes Tier
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kloster%20Muri
Kloster Muri
Das Kloster Muri ist eine ehemalige Benediktinerabtei in der Schweiz. Sie befindet sich in Muri im Kanton Aargau, im Zentrum der Region Freiamt. Das denkmalgeschützte Hauskloster der Habsburger ist eines der bedeutendsten Wahrzeichen des Aargaus. Aufgrund seines grossen historischen, architektonischen und kulturellen Wertes ist es als Kulturgut von nationaler Bedeutung eingestuft. Gegründet wurde das Kloster im Jahr 1027 durch Ita von Lothringen und ihren Ehemann, den habsburgischen Grafen Radbot. Fünf Jahre später begannen die ersten, aus Einsiedeln entsandten Mönche mit dem Aufbau der Abtei. Etwas mehr als hundert Jahre lang war Muri ein Doppelkloster, bis sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts das Benediktinerinnenkloster Hermetschwil abspaltete. Die Abtei erwarb Güter und Rechte in den heutigen Kantonen Aargau, Luzern, Thurgau und Zürich. Nach der Eroberung des Aargaus im Jahr 1415 lösten die Eidgenossen die Habsburger als Schirmherren ab. Nach internen Reformen stieg Muri im 17. Jahrhundert zur reichsten Abtei der Schweiz auf, erhielt 1701 den Rang einer Fürstabtei und erwarb daraufhin ein Herrschaftsterritorium am Neckar. Der Niedergang begann 1798 mit dem Franzoseneinfall und den darauf folgenden politischen Umwälzungen. 1841 hob der Kanton Aargau das Kloster auf und löste dadurch den Aargauer Klosterstreit aus, der heftige innen- und aussenpolitische Spannungen zur Folge hatte. Die Benediktiner zogen einerseits nach Sarnen, um dort am Kollegium zu unterrichten, andererseits nach Gries bei Bozen, wo sie 1845 die Abtei Muri-Gries gründeten. Den Kern der weitläufigen Klosteranlage bildet die Klosterkirche St. Martin, die bis in die Mitte des 11. Jahrhunderts zurückreicht. Sie vereint Elemente der Romanik, der Gotik und hauptsächlich des Barocks. Prägend sind die drei Türme sowie das Oktogon, der grösste Kuppelzentralbau der Schweiz. Der daran anschliessende Kreuzgang enthält einen kunsthistorisch bedeutenden Glasgemäldezyklus, das Klostermuseum und eine Ausstellung mit Bildern des Malers Caspar Wolf. Von besonderer Wichtigkeit ist die Loretokapelle, deren Gruft seit 1971 als Begräbnisstätte der Habsburger dient. Das grösste Gebäude des Klosters ist der Ende des 18. Jahrhunderts entstandene Lehmannbau, dessen Ostflügel die längste klassizistische Fassade des Landes besitzt. Im Kloster Muri soll auch die russische Autorin Ljubow Fjodorowna Dostojewskaja, Tochter des Schriftstellers Fjodor Dostojewski, begraben worden sein. Heute ist das Kloster Muri ein kulturelles Zentrum von überregionaler Bedeutung. Dazu tragen vor allem die fünf Orgeln der Klosterkirche bei, die regelmässig für Konzerte genutzt werden. Die Nutzung der übrigen Gebäude ist vielfältig (Schule, Bezirks- und Gemeindebehörden, öffentliche Bibliothek, Fachbibliothek und Pflegeheim). Lage und Überblick Das Kloster befindet sich im Ortsteil Wey, nahe dem nördlichen Rand der Bebauung auf einer nach Osten und Norden leicht abfallenden Geländeterrasse. Das ungefähr 250 × 200 Meter grosse Areal wird im Osten von der am Bahnhof vorbeiführenden Aarauerstrasse (Hauptstrasse 25) begrenzt, im Süden von der über den Lindenberg führenden Seetalstrasse. Im Westen grenzt es an das Zentrum von Wey mit dem Leontiusbrunnen. Die weitläufige Klosteranlage besteht aus mehreren Teilen. Leicht vom Zentrum des Areals versetzt befindet sich die Klosterkirche St. Martin. Südlich schliesst der Konventflügel an, der auf drei Seiten den Kreuzgang umgibt. Westwärts erstreckt sich der schmale Singisenflügel. Nicht mit diesen Gebäuden verbunden ist der so genannte Lehmannbau, der sich aus dem Ostflügel und dem Südflügel zusammensetzt. Am nördlichen Ende des Ostflügels ist ein moderner Zweckbau angebaut. Geschichte Gründung und Ringen um Eigenständigkeit Die einzige Quelle über die ersten Jahrzehnte des Klosters sind die Acta Murensia, eine um 1160 von einem anonymen Autor verfasste Chartularchronik. Gemäss dieser gab es in Muri vor Gründung des Klosters eine Eigenkirche im Besitz lokaler Freibauern. Vor der Jahrtausendwende stellten sie sich unter den Schutz des Habsburgers Lanzelin, der jedoch seine Machtposition missbrauchte, indem er die Freibauern vertrieb und durch Leibeigene ersetzte. Lanzelins Sohn Radbot, der als Gründer der habsburgischen Stammburg gilt, schlug einen Aufstand der Erben der Vertriebenen gewaltsam nieder. Er eignete sich die Besitztümer in Muri endgültig an und liess dort für sich ein Haus errichten. Um 1025 hatte eine Fehde mit seinem jüngeren Bruder Rudolf die Plünderung des Ortes zur Folge. Radbot heiratete Ita von Lothringen und schenkte ihr als Morgengabe die Güter in Muri. Ita erfuhr von der unrechtmässigen Herkunft und wollte die auf sich geladene Schuld sühnen. Auf Anraten und mit Hilfe ihres Schwagers Werner, dem Bischof von Strassburg, konnte sie ihren Ehemann im Jahr 1027 dazu bewegen, die Güter einem neu zu gründenden Kloster zu stiften. Radbot bat Embrich, den Abt von Einsiedeln, um die Entsendung von Mönchen. Der Aufbau des Klosters begann 1032 unter der Leitung von Propst Reginbold. Er liess umgehend die bestehende Pfarrkirche St. Goar abbrechen und etwas weiter südlich neu errichten. Diese Massnahme diente dazu, der Abtei die Rechtsnachfolge an der Pfarrei Muri zu sichern, die an das Grundstück gebunden war. Rumold von Konstanz, der Bischof von Konstanz, nahm am 16. Oktober 1064 die Weihe der anstelle der Pfarrkirche errichteten Klosterkirche vor. 1065 wurde Propst Burkard zum ersten Abt gewählt. Graf Werner I. war ein Unterstützer der Hirsauer Reform und konnte diese 1082 durchsetzen, nachdem er Abt Giselbert von St. Blasien um die Entsendung von Mönchen nach Muri gebeten hatte. Zur Reform gehörte auch die Bildung einer klostereigenen Domäne. Das Kloster Muri war nun ein Priorat St. Blasiens und wählte den Vogt selbst. Dieses Vorgehen bewährte sich jedoch nicht, da die zwei nacheinander gewählten nichthabsburgischen Vögte das Kloster nicht ausreichend schützen konnten. 1085 übernahm deshalb Werner I. wieder die Schutzherrschaft. Um den Rechtsstand der Abtei (freie Abtwahl, Bindung der Vogtei an die Habsburger) zu legitimieren, verfassten Graf und Konvent ein auf 1027 zurückdatiertes «Testament», das Bischof Werner von Strassburg als Stifter des Klosters und Gründer der Habsburg bezeichnete. 1086 erlangte der Graf eine darauf basierende Urkunde, die er vom Kardinalskollegium bestätigen liess. Sein Sohn Albrecht konnte 1114 von Kaiser Heinrich V. einen Freiungsbrief erwirken. Auf diese Weise entstand das Amt Muri, in welchem die Habsburger nun anstelle der zunehmend bedeutungslos werdenden Lenzburger die Blutgerichtsbarkeit ausübten. In den 1130er Jahren kam es zu einer Spaltung des Konvents in zwei Gruppen, die Bischof Werner bzw. Ita als Klosterstifter betrachteten. Grund für den Zwist war der Versuch der habsburgischen Vögte, gestützt auf das gefälschte Testament die Pfarrei Muri wieder in ihren Besitz zu bringen. Zwei 1139 und 1159 ausgestellte päpstliche Schirmbriefe bestätigten zwar den Rechtsstand der Abtei, eine Aufzählung des Eigentums (mit Ausnahme der ausserhalb von Muri gelegenen Kirchen) fehlte aber weiterhin. Diese Umstände bewogen einen Anhänger der «Ita-Partei» dazu, die Acta Murensia zu verfassen. Darin versuchte er den Nachweis zu erbringen, dass Kirche und Pfarrei seit der Stiftung zur Abtei gehörten. Allmählich setzte sich diese Sichtweise durch, doch erst 1242 verzichteten die Habsburger endgültig auf alle Besitzansprüche. Von den Habsburgern zu den Eidgenossen Ab 1083 war Muri ein Doppelkloster, als dem Männer- ein Frauenkonvent angegliedert wurde. Als Standort wird ein an die Klosterkirche grenzendes, im Jahr 1694 abgerissenes Gebäude vermutet. Eine räumliche Trennung der beiden Konvente erfolgte um 1200 mit der Gründung des sechs Kilometer nördlich gelegenen Klosters Hermetschwil. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts erlangte es mit eigenen Gütern die wirtschaftliche Unabhängigkeit, blieb aber weiterhin unter der geistlichen Leitung des Abtes von Muri. Mönche aus Muri wiederum besiedelten im Jahr 1120 das durch Konrad von Sellenbüren gegründete Kloster Engelberg im heutigen Kanton Obwalden. Die Beziehungen zu den Habsburgern schwanden allmählich und die Klosterkirche diente letztmals 1260 als Grablege. Die Gründe dafür waren vielfältig: Die mit dem Kloster verbundene Hauptlinie hatte zunehmend Auseinandersetzungen mit der 1232 abgespaltenen Laufenburger Linie und verlagerte 1282 ihren Herrschaftsmittelpunkt nach Wien. Ausserdem gründete Agnes von Ungarn 1308 im nahe gelegenen Windisch zum Gedenken an ihren dort ermordeten Vater Albrecht I. das Kloster Königsfelden, dem in den folgenden Jahrzehnten eine gezielte Förderung zuteilwurde, während Muri rasch an Bedeutung verlor. Gemäss der Klosterchronik richteten Brände in den Jahren 1300 und 1363 grosse Schäden an. 1386 brandschatzten die Eidgenossen das Kloster während des Sempacherkriegs. Herzog Leopold IV. tätigte 1399 und 1403 mehrere Schenkungen zugunsten des Klosters, mit dem expliziten Hinweis auf die erlittenen Schäden. Mitte des 14. Jahrhunderts hatten die Habsburger die Ämter Muri und Hermetschwil verpfändet. Herzog Leopold III. gestattete 1379 die Einlösung des Pfandes, woraufhin die Ämter in den Besitz der Familie Gessler gelangten. Dieses Ministerialengeschlecht, das durch die Tellsage Bekanntheit erlangte, liess sich durch Untervögte vertreten. Nach dem Tod von Heinrich III. Gessler wollte die Abtei die durch die Pfandnahme entstandene vögtliche Gewalt ausschalten und das Pfand selbst übernehmen. Herzog Friedrich IV. erteilte 1408 die entsprechende Genehmigung. Zum angestrebten Besitzerwechsel kam es jedoch aufgrund der folgenden Ereignisse nicht mehr. Als Friedrich beim Konzil von Konstanz einem der drei damals amtierenden Päpste, Johannes XXIII., zur Flucht verhalf, forderte König Sigismund die Nachbarn der Habsburger auf, deren Ländereien im Namen des Reiches einzunehmen. Im April und Mai 1415 eroberten die Eidgenossen den Aargau. Muri war nun Teil der Freien Ämter, einer Gemeinen Herrschaft der neuen Landesherren. Am 16. Oktober 1431 stellten die sechs Orte Zürich, Luzern, Schwyz, Unterwalden, Zug und Glarus einen neuen Schirmbrief aus, der die Rechte der Abtei bestätigte. Uri, das 1532 in die Mitherrschaft aufgenommen wurde, tat 1549 dasselbe. Besitzungen des Klosters Die klösterliche Domäne in Muri wuchs bis 1779 auf eine Fläche von 1031,12 Jucharten (418,82 Hektaren) an. Sie war hauptsächlich ein Ackerbaubetrieb, die Abtei besass aber auch Wälder sowie Schweine-, Pferde- und Schafherden. Knapp ein Viertel der Fläche entfiel auf den um 1500 entstandenen Sentenhof, überwiegend auf dem Gebiet der Nachbargemeinde Boswil gelegen. Der einzige Milchwirtschaftsbetrieb der Region diente der Eigenversorgung mit Fleisch- und Milchprodukten. Mit einer Fläche von 112 Hektaren ist der im Jahr 1846 verkaufte Sentenhof heute der grösste private Landwirtschaftsbetrieb des Aargaus. Fische bezog das Kloster aus der Vogtei Gangolfswil am Zugersee, nach deren Verkauf an Zug im Jahr 1486 aus eigens angelegten Weihern in Muri. Leiter der Domäne war ursprünglich ein Propst, später ein beamteter Schaffner, dem mehrere Dutzend Angestellte unterstanden. Weitere wichtige Ämter waren Grosskellner (Weinkeller und Küche), Unterkellner (Fischteiche und Wasserversorgung), Markstaller (Pferde und Wagen) und Ackermeister. Je nach Bedarf arbeiteten Handwerker im Taglohn. Hinzu kamen saisonal zahlreiche landwirtschaftliche Hilfskräfte. Im landesherrlichen Amt Muri war die Abtei alleiniger Kirchen-, Zehnt- und Niedergerichtsherr sowie Besitzer sämtlicher Güter und Höfe. Der grösste Teil des Amtes bestand aus der Pfarrei Muri, welche die heutigen Gemeinden Aristau (mit Althäusern und Birri), Buttwil, Geltwil (mit Isenbergschwil) und Muri umfasste. Hinzu kamen die Weiler Grod, Grüt und Winterschwil im nördlichen Teil der Pfarrei Beinwil. Der Zwing- und Niedergerichtsbezirk überschritt diese Grenzen: Er umfasste zusätzlich die Weiler Brunnwil und Horben in der Pfarrei Beinwil sowie einen Teil von Besenbüren im Amt Boswil. Teil der Pfarrei Muri, aber nicht des Amtes Muri war die Exklave Wallenschwil im Amt Meienberg. Ein weiterer Sonderfall war der Weiler Werd in der heutigen Gemeinde Rottenschwil: Dort besass die Abtei einen Drittel der gesamten niederen und Blutgerichtsbarkeit (die anderen zwei Drittel gehörten zum Kelleramt der Stadt Bremgarten). Die Blutgerichtsfälle im Amt Muri erledigte der nicht residierende Landvogt, dem Niedergericht stand ein vom Kloster eingesetzter und entlöhnter Ammann vor. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts ist eine klösterliche Kanzlei verbürgt, die sämtliche notariellen Aufgaben im Amt Muri erledigte und auch den Gerichtsschreiber stellte. Von besonderer Bedeutung waren die Kirchenpatronate, welche die Abtei im Laufe der Zeit geschenkt erhielt oder erwarb. Sie strebte danach, die Patronate möglichst rasch zu inkorporieren, um über den Ertrag der Kirchengüter (insbesondere die Zehnten) zu verfügen. Zur frühen Ausstattung des Klosters gehörten die Kirchen in Eggenwil und Hermetschwil, die später an das Kloster Hermetschwil übergingen. 1321 kam Bünzen hinzu, 1399 Villmergen und Sursee, 1403 Lunkhofen, 1483 Boswil und 1484 Wohlen. Die nördlich von Muri gelegenen Güter wurden überwiegend vom Muri-Amthof in Bremgarten aus verwaltet, wo die Abtei seit 1397 Steuerfreiheit genoss. Die Verwaltung der Güter in der ausgedehnten Pfarrei Sursee erfolgte vom Murihof aus. Seit der Zeit der Klostergründung war die Abtei im Besitz von zwölf Höfen in Thalwil, bis 1244 verfügte sie auch über die dortige Kirche. Das Amtshaus des Klosters (1900 abgebrochen) lag am Ufer des Zürichsees. Der aus der Gründungszeit stammende Streubesitz in Gersau, in Nidwalden, im Elsass und im Markgräflerland ist seit dem 14. Jahrhundert nicht mehr überliefert. Zu umfangreichen Besitzerweiterungen kam es im 17. und 18. Jahrhundert im Thurgau und am Neckar (mehr dazu im übernächsten Abschnitt). Krise und Reformen Das Kloster Muri war nie ein reines Adelsstift und nahm auch Novizen aus unteren Gesellschaftsschichten auf. 1380 wählte der Konvent Konrad Brunner zum ersten Abt grossbäuerlicher Herkunft. Wie in anderen Klöstern auch wurden die Ordensregeln nicht mehr strikt eingehalten und es entwickelte sich eine Pfründenwirtschaft, mit der die Mönche jeweils ihren eigenen Haushalt mitsamt Bediensteten finanzierten. 1402 musste Brunner ein Gericht anrufen, damit die Einkünfte aus der Pfarrei Sursee zumindest vorübergehend für den Wiederaufbau der Klostergebäude eingesetzt werden konnten. Auch beschränkte er die Anzahl der Pfründen auf ein Dutzend, um die Klosterwirtschaft nicht zu überlasten. Zum Lebensstil der Mönche gehörte der Besuch der Bäder in Baden oder gesellschaftlicher Anlässe in Zürich. Der Zölibat wurde kaum durchgesetzt; beispielsweise hinterliess Abt Johannes Hagnauer vier Kinder. 1523 begann sich die Reformation von Zürich aus in den Freien Ämtern auszubreiten. Obwohl Abt Laurentius von Heidegg einen Sohn hatte und mit Dekan Heinrich Bullinger, dem Vater des gleichnamigen Reformators, befreundet war, wandte er sich gegen die Neuerungen. 1529 traten mehrere Pfarreien im Einzugsbereich des Klosters geschlossen zur Reformation über, in Muri selbst stellten die Neugläubigen eine knappe Mehrheit. Truppen aus dem reformierten Bern, die zu spät zur Schlacht bei Kappel erschienen waren, besetzten Mitte Oktober 1531 das Kloster und richteten bei einem Bildersturm grosse Schäden an. Der einen Monat später geschlossene Zweite Kappeler Landfriede hatte die Rekatholisierung der Freien Ämter durch die siegreichen Innerschweizer Orte zur Folge. Heidegg finanzierte die Instandsetzung und Erweiterung des Klosters zum Teil aus seinem Privatvermögen. Die folgenden Äbte versuchten die beim Konzil von Trient beschlossenen Reformen durchzusetzen, stiessen aber auf heftigen Widerstand des Konvents. Einen Rückschritt erlitten die Bemühungen unter Abt Jakob Meier, der zwei Konkubinen hatte und das Kloster durch Misswirtschaft an den Rand des Ruins brachte. 1596 wurde er mit Erlaubnis des Nuntius verhaftet und abgesetzt. Erst Meiers Nachfolger Johann Jodok Singisen gelang es, die Reformen konsequent durchzusetzen. Dazu gehörten die Einführung der strikten Klausur, die Abschaffung der Pfründen, der Ersatz der Dienstboten durch Laienbrüder und die systematische Ausbildung der Mönche. Den Widerstand des Konvents konnte Singisen mit Unterstützung des Nuntius rasch brechen. Er liess das Kloster baulich erweitern; bis 1610 entstand ein an den Kreuzgang angebautes Gebäude, das heute unter der Bezeichnung Singisenflügel bekannt ist. 1622 erreichte er die Exemtion der Abtei von der bischöflichen Gerichtsbarkeit. Papst Gregor XV. bestätigte diese zwar, doch erst 1645 willigte das Bistum Konstanz endgültig ein, nachdem ein Kompromiss ausgehandelt werden konnte (Bestätigung der Wahl eines neuen Abtes durch das Bistum). Aufgrund seiner zahlreichen Verdienste gilt Singisen als zweiter Stifter des Klosters Muri. Während seiner 48 Jahre langen Amtszeit wuchs der Konvent um rund das Dreifache auf 30 Mönche an. Aufstieg zur Fürstabtei und Territorialherrschaft Abt Dominikus Tschudi veranlasste 1647 die Überführung der Reliquien des Katakombenheiligen Leontius von Rom nach Muri. Daraufhin war das Kloster ein viel besuchter Wallfahrtsort. Während des Dreissigjährigen Kriegs fanden wiederholt Mönche aus befreundeten süddeutschen Klöstern in Muri Zuflucht. 1656 wurde der Kirchenschatz während des Ersten Villmergerkriegs aus Angst vor Plünderungen vorübergehend nach Luzern gebracht. 1651 erwarb Tschudi für die Abtei die Herrschaft Klingenberg bei Homburg im Thurgau. Die Innerschweizer Schirmorte hatten ihn dazu aufgefordert, damit die zum Verkauf stehende Herrschaft in katholischen Händen blieb. Die Abtei, die nun dem Gerichtsherrenstand im Thurgau angehörte, musste zur Finanzierung der Transaktion eine Anleihe aufnehmen, deren Rückzahlung sich über mehrere Jahrzehnte erstreckte. Als bedeutendster Abt neben Singisen gilt Plazidus Zurlauben, der in hohem Masse auf Repräsentation bedacht war. Wenige Monate nach seinem Amtsantritt beschloss er 1684 einen umfassenden Neubau der Klosteranlage. Am 1. Mai 1684 wurde der Katakombenheilige Benedictus in einer Translationsfeier in die Klosterkirche gebracht. Den Anfang machten 1685/86 Abtskapelle und Abtswohnung. 1694 folgte ein neuer Westflügel, 1696 ein neuer Südflügel. Hinzu kamen um die Jahrhundertwende verschiedene Ökonomiebauten. Das wichtigste Bauvorhaben betraf die Klosterkirche, die nicht mehr den Bedürfnissen der Zeit entsprach. Zurlauben liess zwischen 1694 und 1697 das Kirchenschiff durch ein Oktogon nach oberitalienischem Vorbild ersetzen, 1698 entstand im Kreuzgang die Loretokapelle. Die erneuerte und erweiterte Klosteranlage war nun überwiegend von barocker Architektur geprägt, die Baukosten betrugen mehr als 150'000 Gulden. 1700/01 liess Zurlauben ausserdem auf dem Lindenberg oberhalb von Muri das Schloss Horben errichten, als Sommersitz und Erholungsheim der Mönche. Zurlauben erweiterte die bestehenden Gerichts- und Grundherrschaften der Abtei im Thurgau: 1693 erwarb er die Herrschaft Sandegg in Salenstein, fünf Jahre später die Herrschaft Eppishausen in Erlen. Der grösste Prestigegewinn gelang ihm 1701, als er am kaiserlichen Hof in Wien für sich und seine Nachfolger den Titel eines Fürstabtes erwarb. Als Mitglieder des Reichsfürstenrates hatten die Fürstäbte von Muri das Recht, an Reichstagen teilzunehmen, was sie aber nie in Anspruch nahmen. Die Abtei baute ein zusammenhängendes Herrschaftsterritorium am oberen Neckar auf, bestehend aus Gütern und Rechten verarmter Reichsritter des Ritterkantons Neckar-Schwarzwald. Das Territorium umfasste mehrere Dörfer um Horb am Neckar und Sulz am Neckar. Am Anfang stand 1706 der Erwerb der Herrschaft Glatt mit dem Schloss Glatt. 1708 folgten die Orte Diessen, Dettlingen und Haidenhof, 1715 Dettensee, 1725 Dettingen und 1743 das Rittergut Neckarhausen. Für die territorialen Erweiterungen wendete die Abtei 310'000 Gulden auf. Während des Zweiten Villmergerkriegs im Jahr 1712 suchten die Mönche erneut in Luzern Zuflucht. Auch Klosterschatz, Archiv und Bibliothek überführte man vorübergehend dorthin. Das Kloster blieb unbehelligt, doch Kriegssteuern, Beschlagnahmungen und Schäden in den Kollaturen verursachten Verluste von rund 100'000 Gulden. Muri, das mittlerweile als reichste Abtei der Schweiz galt, konnte diese bald wettmachen. Ab 1712 war auch Bern an der Landesherrschaft in den Freien Ämtern beteiligt. Um 1750 zählte der Konvent über 50 Mitglieder. Fürstabt Gerold Meyer erteilte 1788 den Auftrag zum Bau eines neuen Ost- und Südflügels. Er reagierte auf den zunehmenden Druck aufklärerischer Kreise, die Klosterschule breiteren Bevölkerungsschichten zu öffnen. Das monumentale Gebäude sollte genügend Platz für Schule und Bibliothek bieten, ausserdem war die Gründung eines Priesterseminars geplant. 1798 waren die Gebäude im Rohbau fertiggestellt. Der ebenfalls geplante Neubau des Westflügels und der Kirchtürme gelangte nicht mehr zur Ausführung, da sich die politischen Ereignisse überschlugen. Niedergang und Aufhebung Der Franzoseneinfall fegte die alte Ordnung hinweg. Im März 1798 begab sich der Fürstabt ins Exil und der Konvent verzichtete in seinem Namen auf seine Herrschaftsrechte. Die Regierung der neuen Helvetischen Republik stellte das Kloster unter staatliche Verwaltung und ordnete ein Inventar an. Im August mussten die Mitglieder des Konvents einen Eid auf die Verfassung ablegen. Die Abtei musste hohe Kriegssteuern entrichten und umfangreiche Requisitionsleistungen erbringen. Hinzu kam zwischen Januar und September 1799, in der Frühphase des Zweiten Koalitionskriegs, die Unterbringung und Verpflegung von 5500 französischen Soldaten. Im Vorgriff auf den Reichsdeputationshauptschluss nahm das Fürstentum Hohenzollern-Sigmaringen am 2. November 1802 fast die gesamte Muri-Herrschaft am Neckar in Besitz (das spätere Oberamt Glatt), ein kleiner Teil gelangte an das Herzogtum Württemberg. Gerold Meyer verlor seinen Fürstabttitel, der finanzielle Verlust betrug insgesamt 950'000 Gulden. Zwar versuchte die Abtei auf juristischem Wege eine angemessene Entschädigung zu erhalten, doch erst 1830 wurde in einem Vergleich die geringe Summe von 70'000 Gulden vereinbart. Im 1803 entstandenen Kanton Aargau durften die Klöster ihre Güter wieder frei verwalten, andererseits konnten sich die Bauern von Zinsen und Zehnten freikaufen. Um den beträchtlichen finanziellen Schaden wenigstens teilweise auszugleichen, verkaufte die Abtei 1807 die thurgauischen Herrschaften Sandegg und Eppishausen. Der 1815 geschlossene Bundesvertrag garantierte ausdrücklich den Fortbestand der Klöster. 1830 gelangten liberale Kräfte an die Macht, die den Einfluss der als staatsfeindlich geltenden katholischen Kirche zurückdrängen wollten. Sieben liberale Kantone, darunter der Aargau, beschlossen 1834 die Badener Artikel. Die Kirche wurde unter staatliche Kontrolle gestellt, während die Klöster das Schul- und Armenwesen finanziell unterstützen mussten. Die Abtei Muri, die damals drei Millionen Franken Vermögen besass und 80 Angestellte zählte, musste ein umfangreiches Inventar erstellen. Die Kantonsregierung stellte am 7. November 1835 die Abtei unter staatliche Verwaltung und verbot die Aufnahme von Novizen. Erst nachdem aargauische Truppen das Freiamt besetzt hatten, leisteten die Geistlichen am 30. November einen Eid auf die Verfassung. Der Verwalter Rudolf Lindenmann verkaufte die übrig gebliebenen Klostergüter, zum Teil unter Wert. Am 10. Januar 1841 kam es im Freiamt nach der Annahme einer neuen Verfassung, die in allen katholischen Bezirken deutlich abgelehnt worden war, sowie nach der Verhaftung des Bünzer Komitees zu einem bewaffneten Aufstand, den die Regierungstruppen rasch niederschlugen. Die Kantonsregierung beschuldigte die Klöster, allen voran Muri, den Aufstand angestiftet zu haben. Auf Antrag von Augustin Keller beschloss der Grosse Rat am 13. Januar deren sofortige Aufhebung. Oberst Friedrich Frey-Herosé (der spätere Bundesrat) erhielt den Befehl, den Beschluss umzusetzen. Er schränkte die Bewegungsfreiheit der Mönche ein und forderte sie am 25. Januar auf, den Kanton innerhalb von 48 Stunden zu verlassen. Abt Adalbert Regli blieb für einige Tage mit vier Mönchen zurück, um die Übergabe des Klostervermögens zu regeln. Am 3. Februar verliess er Muri als Letzter. Der Aargauer Klosterstreit führte zu innen- und aussenpolitischen Spannungen. Fürst Metternich, der österreichische Staatskanzler, erwog sogar eine militärische Intervention. Schliesslich stimmte der Kanton Aargau 1843 einem Kompromiss zu und liess die Frauenklöster wieder zu, die Männerklöster blieben jedoch endgültig aufgehoben. Noch im Februar 1841 nahm der vertriebene Konvent ein Angebot des Kantons Obwalden an, woraufhin mehrere Ordensbrüder im November 1841 nach Sarnen zogen, um dort am Kollegium zu unterrichten. Die Benediktiner leiteten es bis zur Gründung der säkularisierten Kantonsschule Obwalden im Jahr 1974, von 1868 bis 2000 betrieben sie auch ein angeschlossenes Internat. Bis Ende des Schuljahres 2012/13 gehörten Ordensbrüder zum Lehrkörper der Kantonsschule. Abt Adalbert Regli führte ab September 1843 Verhandlungen mit Metternich zur Übernahme des leerstehenden Augustiner-Chorherrenstifts in Gries bei Bozen. Im Juni 1845 übersiedelten die ersten Ordensbrüder und begründeten die Abtei Muri-Gries, die heute noch Mitglied der Schweizerischen Benediktinerkongregation ist. Weitere Entwicklung Der erste Gottesdienst in der Klosterkirche fand erst wieder am Martinstag (11. November) 1850 statt. Die römisch-katholische Kirchgemeinde Muri anerkannte 1863 die Klosterkirche als zweite Pfarrkirche. Sie blieb aber im Besitz des Kantons, der nur die allernötigsten Reparaturen veranlasste. Nachdem im Jahr 1928 Teile der Stuckdecke heruntergefallen waren, führte man von 1929 bis 1933 erstmals eine Innenrestaurierung durch. Kirchgemeinde und Kanton schlossen 1939 einen Rückgabevertrag; die feierliche Übergabe erfolgte am 13. Januar 1941, genau hundert Jahre nach der Klosteraufhebung. Die erste umfassende Aussenrestaurierung der Klosterkirche erfolgte zwischen 1953 und 1957, eine zweite zwischen 1995 und 1997. Die Kirchgemeinde richtete 1960 im Konventflügel ein kleines Hospiz ein; seither sind wieder einzelne Benediktiner in Muri präsent und übernehmen seelsorgerische Aufgaben in der Region. Nach der Klosteraufhebung gab es zahlreiche Pläne zur Nutzung der leer stehenden Gebäude. Adalbert Regli wollte ursprünglich im Frühjahr 1840 eine progymnasiale Bezirksschule eröffnen, die wie gesetzlich vorgeschrieben unter staatlicher Aufsicht stehen würde, doch die Ereignisse kamen ihm zuvor. Später sollte im geräumigen Ostflügel das kantonale Lehrerseminar eingerichtet werden, doch der Grosse Rat entschied sich 1846 für das ebenfalls aufgehobene Kloster Wettingen. 1851 beabsichtigte der deutsche Verleger Joseph Meyer, sein Bibliographisches Institut von Hildburghausen nach Muri zu verlegen. Die Verhandlungen scheiterten ein Jahr später, nachdem die Kantonsregierung bekanntgab, eine psychiatrische Klinik einrichten zu wollen (ein letztlich in Königsfelden verwirklichtes Vorhaben). 1861 wurde eine kantonale Landwirtschaftsschule eröffnet. Sie konnte nie richtig Fuss fassen und musste 1873 wegen zu geringem Interesse der Landwirte geschlossen werden. Projekte für eine Zuckerfabrik und eine Maschinenstickerei scheiterten ebenfalls. Im November 1883 genehmigte der Grosse Rat den Umbau des Ostflügels. Es entstand eine kantonale Pflegeanstalt «für arbeitsunfähige und gebrechliche Erwachsene», die im September 1887 eröffnet wurde und im Endausbau 340 Personen Platz bieten sollte. 1843 nahm im Südflügel die Bezirksschule Muri doch noch ihren Lehrbetrieb auf. Sie war die einzige Schule dieser Art im Aargau, die direkt dem Kanton und nicht wie sonst üblich einem Gemeindeverband unterstand. Die liberale Regierung befürchtete, die überwiegend konservativen Gemeindebehörden des Bezirks Muri würden sonst Einfluss auf den Schulstoff nehmen. Erst 1976 wurde die Bezirksschule Muri per Dekret gleichgestellt, zwei Jahre später erfolgte die Gründung eines kommunalen Zweckverbandes. 1851 beschloss die Gemeinde Muri die Zusammenlegung der auf drei Gebäude verteilten Primarschule. Geplant war zuerst der Umzug ins Amtshaus, doch das Vorhaben verlief im Sande. 1857 entschied sich die Gemeinde stattdessen für die Nutzung des Konventflügels, ein Jahr später war der Umzug abgeschlossen. Im Erdgeschoss dieses Gebäudes, in der ehemaligen Klosterküche, befand sich von 1868 bis 1897 eine Käserei. Im Singisenflügel bestand von 1847 bis 1876 eine «Armenversorgungs- und Arbeitsanstalt». An ihre Stelle trat 1900 das Altersheim St. Martin, welches das Gebäude bis 1991 nutzte und dann einen Neubau in der Nachbarschaft bezog. Die seit 1705 bestehende und seit 1839 von Pächtern geführte Klosterapotheke im Südflügel zog 1862 in den Singisenflügel um und wurde 1895 geschlossen; die aus dem 18. Jahrhundert stammende Einrichtung wird seither im Landesmuseum Zürich ausgestellt. Anfang Februar 1871 überschritt die französische Bourbaki-Armee die Grenze und liess sich internieren. Am 7. Februar wurden 970 der insgesamt rund 87.000 Soldaten nach Muri gebracht. Als Unterkunft diente das Kloster, die Bevölkerung spendete Geld und Kleidung. Bis zum Ende der Internierung am 13. März starben 22 Soldaten an Typhus, woran eine Gedenktafel an der Pfarrkirche erinnert. Am 21. August 1889 brach aus nie geklärten Gründen im Dachboden des Ostflügels ein Brand aus. Alle Insassen der Pflegeanstalt konnten rechtzeitig gerettet werden. Begünstigt durch eingelagertes Holz und starken Wind brannte der Ostflügel vollständig aus. Die Flammen griffen auf die Abtskapelle und die Sakristei über, die irreparabel beschädigt und danach abgebrochen wurden. Ein Übergreifen auf den Südflügel und den Chor der Klosterkirche konnte knapp verhindert werden. 43 Feuerwehren aus vier Kantonen standen bis zu fünf Tage im Einsatz, da der Brand immer wieder aufflackerte. Die kantonale Brandversicherungsanstalt geriet beinahe in Konkurs und konnte diesen nur mit 25 % höheren Prämien abwenden. Der Ostflügel erhielt ein provisorisches Dach, das hundert Jahre bestehen blieb. Der Kanton verzichtete auf die Wiederherstellung der Pflegeanstalt und bot der Gemeinde die Brandruine zum Kauf an. Als die Gemeindeversammlung dieses Angebot ablehnte, verkaufte der Grosse Rat das Gebäude an ein Konsortium, das die Ansiedlung von Industrie versprach. Weder der Aufbau einer Zigarren- noch einer Konservenfabrik kam zustande. 1897 bekundete ein deutscher Bierbrauer sein Interesse, setzte sich aber nach Vertragsabschluss in die USA ab. Eine wohltätige Stiftung erwarb 1899 den Ostflügel aus der Konkursmasse und liess ihn instand setzen. Sie betrieb darin ein Altersasyl, eine Sprachschule und ein Erziehungsheim für Waisenkinder. Ein Verein kaufte 1908 der Stiftung den Ostflügel ab und richtete ein Pflegeheim ein, das 1909 den Betrieb aufnahm und bis heute besteht. 1938 wurde an das Nordende des Ostflügels ein Zweckbau angebaut (2009 modernisiert). Ende der 1950er Jahre wollte das Pflegeheim einen zweiten Erweiterungsbau errichten, der die Klosterkirche an deren Nordseite flankiert hätte. Der Gemeinderat genehmigte das Vorhaben, doch die Kantonsregierung hiess eine von der Kirchgemeinde eingereichte Beschwerde aus denkmalpflegerischen Gründen gut. Kultureller Einfluss Gemäss den Acta Murensia gab es in Muri von Anfang an eine Klosterschule. Sie beschränkte sich auf die Ausbildung des eigenen Nachwuchses und zählte nie mehr als zwölf Schüler gleichzeitig. Für Bücher und Schulmaterial mussten die Familien der Schüler selbst aufkommen. Neben den Lateinschulen in Bremgarten und Mellingen war die Klosterschule der einzige Ort in den Freien Ämtern, wo höhere Bildung vermittelt wurde. In Muri war sie lange Zeit sogar die einzige Bildungsstätte. Die Eröffnung einer Dorfschule erfolgte erst 1735, als die Abtei zu diesem Zweck 2000 Gulden spendete und dafür das Recht der Wahl des Schulmeisters beanspruchte. Auf politischen Druck hin musste die Abtei die Klosterschule zu Beginn des 19. Jahrhunderts für externe Schüler öffnen. Sie wandelte sich zu einem Gymnasium mit 40 bis 50 Schülern, wurde aber 1835 auf Anordnung des Kantons geschlossen. Die Klosterbibliothek geht auf den ersten Klostervorsteher Reginbold zurück. Die Acta Murensia enthalten eine Liste der von ihm erworbenen Bücher. Ausserdem werden die Mönche Nokerus und Heinricus namentlich als erste Schreiber des Skriptoriums erwähnt. Über die Jahrhunderte wuchs der Bücherbestand trotz Bränden und kriegerischen Ereignissen an. 1609 liess Abt Johann Jodok Singisen die Vorhalle der Klosterkirche aufstocken und im neuen Raum die Bibliothek einrichten (der Aufbau wurde 1810 wieder abgebrochen, nachdem die Bibliothek in den Südflügel umgezogen war). Singisen eröffnete parallel dazu eine Buchbinderei, 1644 auch eine Druckerei. Letztere blieb bis 1799 in Betrieb, als die Druckerpresse beschlagnahmt und nach Zürich gebracht wurde. Während man das Klosterarchiv nach der Aufhebung ins Aargauer Staatsarchiv überführte, verblieb den Benediktinern über die Hälfte der Kodizes. Sie wurden zunächst in Gries aufbewahrt und 1914 nach Sarnen ins Archiv des Kollegiums gebracht. Die übrigen Kodizes sind im Besitz der Aargauer Kantonsbibliothek. Die Abtei brachte einige herausragende Künstler hervor. Dazu gehören unter anderem der Dichter Konrad von Mure (ca. 1210–1281) sowie die Maler Johann Caspar Winterlin (ca. 1575–1634) und Leodegar Kretz (1805–1871). Einen hohen Stellenwert besass die Geschichtsschreibung, angefangen bei den Acta Murensia. Zum Bestand gehörte ab etwa 1500 auch das Chronicon Murense, das im 12. Jahrhundert in Engelberg entstanden war und eine Abschrift der Kaiserchronik enthielt. Darauf basierend verfasste der Historiker Aegidius Tschudi in den 1530er Jahren eine Klosterchronik. Sein Neffe Dominikus Tschudi erstellte mithilfe derselben Quellen eine Genealogie der Habsburger, Augustin Stoecklin legte verschiedene Quellensammlungen an und auch Fürstabt Fridolin Kopp betrieb historische Forschung. Als bedeutendster Chronist gilt Pater Anselm Weissenbach, der zwischen 1683 und 1693 eine Klostergeschichte verfasste. Sein Werk bildete die Grundlage für das bisher umfangreichste historische Werk, das Pater Martin Kiem 1881 und 1891 in zwei Bänden publizierte. Das bedeutendste Werk der Klosterbibliothek ist das Osterspiel von Muri. Diese fragmentarisch erhalten gebliebene Handschrift aus der Mitte des 13. Jahrhunderts wurde 1840 im Einband einer Vulgata-Ausgabe entdeckt und gilt als das älteste bekannte geistliche Drama in deutschen Reimen. Vom einst umfangreichen Kirchenschatz, den die Abtei erwarb oder geschenkt erhielt, ist in Muri nur noch ein Bruchteil vorhanden. Erste Verluste musste die Abtei 1798 hinnehmen, als die in Geldnöten steckende helvetische Regierung eine beträchtliche Anzahl von Objekten einschmelzen liess. 1803 erstattete der Kanton Aargau einen Teil des damals beschlagnahmten Gutes zurück. Vor und nach der Klosteraufhebung entzogen die Mönche zahlreiche Objekte dem Zugriff des Staates und brachten sie nach Sarnen. Den Rest liessen die Behörden nach Aarau schaffen und einlagern. In den folgenden Jahren verteilte der Kanton Kultgeräte an verschiedene Aargauer Kirchgemeinden, darunter auch Muri. Der Rest des beschlagnahmten Kirchenschatzes wurde zwischen 1844 und 1851 an Kunsthändler verkauft. Auf diese Weise gelangten die Objekte in den Besitz von Museen, Privatsammlungen und auch der päpstlichen Kurie. Wappen und Siegel Der Konvent besass ab etwa 1480 ein Wappen, das eine gekrönte goldene Schlange im blauen Feld zeigt. Abt Johannes Feierabend führte 1508 für die Abtei ein eigenes Wappen ein. Abgeleitet vom lateinischen Ursprung des Ortsnamens Muri (murus) ist darauf eine dreireihige, schwarz gefugte Mauer mit drei Zinnen abgebildet. Die Gemeinde Muri führte ab 1930 das Wappen der ehemaligen Abtei, wechselte jedoch 1972 in Anlehnung an eine Darstellung von 1618 zu einer zweireihigen Mauer. Die ältere Version gilt heute unverändert als Wappen des Bezirks Muri. Das älteste überlieferte Siegel ist jenes von Abt Arnold (ab 1223). Die Äbtesiegel wechselten in der Folge bei Amtsantritt jedes neuen Klostervorstehers. Sie zeigten eine figürliche Darstellung des jeweiligen Abtes. Ab der Amtszeit von Abt Georg Russinger in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde der heraldische Aspekt immer stärker gewichtet, bis schliesslich Jakob Meier 1585 mit der Tradition ganz brach und sich auf ein Wappenmotiv mit Inschrift beschränkte. Klosteranlage Klosterkirche St. Martin Äusseres Die geostete Klosterkirche ist dem Heiligen Martin von Tours geweiht und steht im Winkel zwischen Kreuzgang und Ostflügel. Sie ist 60 Meter lang und beim Querschiff bis zu 31 Meter breit. Über die Jahrhunderte ist sie äusserlich zu einer Einheit aus Romanik, Gotik und Barock verwachsen, gekennzeichnet durch kubische Strenge, reiche Gliederung und vielfältige Abstufungen. Die ältesten Teile reichen bis in die Mitte des 11. Jahrhunderts zurück; es handelt sich dabei um den Unterbau der beiden Kirchtürme, die Mauern des Querschiffs und des Chors sowie die Krypta. Das Gebäude besteht überwiegend aus weiss verputztem Bruchsteinmauerwerk, hinzu kommen stellenweise Hausteine. Eine Vielfalt an Wandöffnungen gliedern den Baukörper. Das Oktogon besitzt grosse Thermenfenster, der Chor schmale rundbogige Lichter, das Querhaus ein spätgotisches Masswerkfenster und eine romanische Blendarkade. Der Nord- und der Südturm an der Westfassade (beide 1558 erbaut) sind bis zu den Wimpergen jeweils 32 Meter hoch. Prägend ist auch die 25 Meter hohe Kuppel über dem Oktogon. Dieser Kuppelzentralbau, das grösste Bauwerk dieser Art in der Schweiz, wird von einer Kugel bekrönt, auf der ein Posaunenengel steht. Über der Vierung des Querschiffs erhebt sich ein achtseitiger, im Jahr 1491 erbauter Dachreiter, der wegen des Hahns an der Spitze die schweizerdeutsche Bezeichnung «Güggelturm» trägt. Innenraum Durch das Hauptportal im Westen gelangt man in die niedrige, mit Fresken geschmückte Beichtkirche. An den Seiten befinden sich die Fundamente der beiden Kirchtürme sowie drei der ursprünglich acht Beichtstühle. Ein grosser Bogen bildet den Übergang zum zentralen Oktogon, ein Werk des Tessiner Stuckateurs Giovanni Battista Bettini. Der Raum wurde in den annähernd quadratischen Grundriss des Kirchenschiffs eingefasst. Auf diese Weise entstanden vier kleine Räume in den Diagonalachsen sowie zwei grössere Seitenräume. Das Sterngewölbe der Kuppel ruht ohne Attika oder Tambour auf dem Gebälk. Ein rundes Allerheiligen-Motiv ziert die Kuppelmitte, die Kuppelzwickel enthalten Darstellungen benediktinischer Missionare. Hinzu kommen weitere Gemälde über den mit einem durchgehenden Kranzgesims verbundenen Bogenscheiteln. Alle Deckenbilder stammen von Francesco Antonio Giorgioli. Unter dem Boden des Oktogons befinden sich Gräber mit den sterblichen Überresten der Klosterstifter Ita von Lothringen und Radbot sowie von Abt Johann Jodok Singisen. Östlich des Oktogons folgt die Vierung (auch Mönchschor genannt), die drei Treppenstufen höher liegt. Schmale Durchgänge führen zu den Seitenarmen des Querschiffs, in denen Kapellen für die Muttergottes (Norden) und den heiligen Benedikt von Nursia (Süden) eingerichtet sind. Sechs Treppenstufen führen von der Vierung in den östlich angrenzenden Hochchor, der ein Sterngewölbe besitzt. Die Decken der Vierung, des Hochchors und der Seitenkapellen sind mit weiteren Fresken von Giorgioli bemalt. Unter dem Boden des Hochchors und des Querschiffs befindet sich die romanische Krypta, eine von sechs Säulen getragene, dreischiffige Halle mit Kreuzgratgewölbe. Zugang zu ihr erhält man durch schmale Korridore von den Querschiffkapellen her. Ausstattung Mit wenigen Ausnahmen ist die heutige Innenausstattung im Rokoko-Stil gehalten und entstand zwischen 1743 und 1750. Diese von Fürstabt Gerold Haimb in Auftrag gegebenen Arbeiten stammen überwiegend vom fürstenbergischen Hofschreiner Matthäus Baisch und vom allgäuischen Maler Franz Joseph Spiegler, daneben kamen auch verschiedene regionale Künstler zum Zuge. Im und neben dem Oktogon sind sechs Altäre angeordnet, die nach Grösse und Proportion stark variieren. Die grössten sind der Leontiusaltar im nördlichen und der Benediktaltar im südlichen Seitenraum; sie enthalten die aus Rom überführten Reliquien zweier Katakombenheiliger. In der nordöstlichen und südöstlichen Nische befinden sich der Petrusaltar bzw. der Kreuzabnahmealtar. An den Vierungspfeilern links und rechts des Chorbogens stehen der Heiligkreuz- und der Michaelsaltar. Die Kanzel mit vielfältigen Schnitzereien und trichterförmig hochgezogenem Kanzelkorb ist an der Wand zwischen Leontius- und Petrusaltar angebracht. Ein als Epitaph an der Wand zwischen Kreuzabnahme- und Benediktaltar hängendes Stifterdenkmal erinnert an Ita und Radbot, die Stifter des Klosters. Ein Chorgitter, geschaffen vom Konstanzer Stadtschlosser Johann Jakob Hoffner, trennt den Kuppelraum vom angrenzenden Mönchschor. Die verschiedenen Muster sind so angeordnet, dass ein dreidimensionaler Eindruck entsteht. Das zweiteilige Chorgestühl im Mönchschor ist ein Werk des einheimischen Bildschnitzers und Zeichners Simon Bachmann. Es gehört zu den bedeutendsten Schweizer Bildschnitzerwerken des 17. Jahrhunderts. Der Hochaltar, stilistisch am Übergang vom Régencestil und Rokoko, nimmt die gesamte Ostwand des Hochchors ein. Er wirkt weniger durch seine Architektur (beispielsweise sind die Säulen unterschiedlich hoch), sondern mehr durch seine zahlreichen vergoldeten Schnitzereien, welche die blau-weiss marmorierten Glieder verzieren. An den Seitenwänden des Hochchors befinden sich der Abtsthron und die Zelebrantensitze. Die Sessel stehen auf niedrigen Parkettstufen vor geschnitztem Gebälk, das durch Pilaster dreigeteilt ist. Orgeln Die Klosterkirche besitzt fünf Orgeln unterschiedlicher Grösse. Auf der westlichen Empore über der Beichtkirche befindet sich die «Grosse Orgel». Sie wurde zwischen 1619 und 1630 von Thomas Schott erbaut und besitzt 34 Register. Die Firma Orgelbau Goll räumte das Gehäuse 1919/20 vollständig aus und veränderte die Disposition grundlegend, da die Orgel dem damaligen Zeitgeist als veraltet galt. Der Restaurator Josef Brühlmann und der Orgelbauer Bernhardt Edskes von Metzler Orgelbau rekonstruierten die Grosse Orgel zwischen 1965 und 1972, wobei sie darauf achteten, den Originalzustand wo immer möglich wiederherzustellen. Auf der Empore über dem Kreuzabnahmealtar steht die Epistelorgel mit 16 Registern, 1743 von Joseph und Victor Ferdinand Bossart erbaut. Im selben Jahr erbauten Vater und Sohn Bossart auch die Evangelienorgel mit acht Registern. Beide Orgeln sind von der äusseren Erscheinung her fast identisch, die Unterschiede sind marginal. Hinzu kommen zwei transportable Kleinorgeln im Chor, ein Positiv und ein Regal. Dabei handelt es sich um originalgetreue Nachbildungen zweier Kleinorgeln aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die Bernhardt Edskes 1992 anfertigte. Glocken In den Türmen der Klosterkirche hängen elf Kirchenglocken. Die Jubiläums- oder Leontiusglocke aus dem Jahr 1750 ist die grösste. Sie ist die einzige im Nordturm und wiegt rund 4300 kg bei einem Durchmesser von 190 cm. Die Reliefs zeigen die Verkündigung, den heiligen Benedikt, das Wappen von Fürstabt Gerold Haimb sowie den heiligen Martin mit Bettler. 1907 wurde sie in der Giesserei H. Rüetschi in Aarau umgegossen. Als einzige wird sie nicht manuell geläutet. Sechs Glocken sind im Südturm zu finden. Die älteste, die Angelusglocke von 1551, wiegt rund 2200 kg bei 155 cm Durchmesser; das Relief zeigt doppelt die Wappen des Abtes Johann Christoph vom Grüth und des Konvents. Aus dem Jahr 1679 stammen drei weitere Glocken. Die Vesperglocke (1100 kg, 125 cm) besitzt ein Relief mit dem heiligen Sebastian und dem Wappen von Abt Hieronymus Troger. Die Sturm- und Feuerglocke (550 kg, 95 cm) stellt den heiligen Michael dar, umgeben von Engeln und den Wappen von Abt und Konvent. Eine unbenannte Glocke (130 kg, 67 cm) zeigt eine Darstellung der Heiligen Agatha, Katharina, Antonius und Hieronymus. Aus dem Jahr 1750 stammt die Festglocke (200 kg, 65 cm) mit dem Wappen von Fürstabt Ambrosius Bloch, den heiligen Wendelin und der Muttergottes. Die Bruder-Klausen-Glocke von 1977 (360 kg) ersetzte die aus dem Jahr 1827 stammende Pestglocke, die sich heute im Kreuzgang befindet. Der «Güggelturm» besitzt zwei Glocken. Die ältere mit einem Durchmesser von 96 cm wurde Ende des 15. Jahrhunderts gegossen. Die jüngere (66 cm) stammt aus dem Jahr 1602; als Relief abgebildet sind das Wappen von Abt Johann Jodok Singisen und des Konvents, der heilige Martin, die Muttergottes und der Gekreuzigte. Schliesslich hängen in den Dachreitern der beiden Seitenkapellen zwei weitere Glocken. Die Glocke auf der Leontiuskapelle (46 cm) stammt aus dem Jahr 1647 und besitzt Reliefs der Heiligen Martin und Leontius sowie der Muttergottes. 1695 gegossen wurde die Glocke auf der Benediktkapelle (43 cm), abgebildet ist das Wappen von Fürstabt Plazidus Zurlauben. Konventflügel und Singisenflügel Der Konventflügel umgibt den Kreuzgang auf drei Seiten. Im 1601 umgebauten Osttrakt befindet sich der ehemalige Kapitelsaal, der seit 1890 als Sakristei dient. Der Saal besitzt eine Mittelsäule aus Stuckmarmor und eine mit Akanthusranken verzierte Decke, beide 1707 entstanden. Die polygonale Apsis an der Ostwand enthält einen Altar für Maria Magdalena aus dem Jahr 1759, der bis 1933 in der Krypta stand (der frühere Altar wurde um 1890 abgetragen). 1957 legte man beidseits davon barocke Fresken aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts frei, welche die Kreuzigung und die Beweinung darstellen. Im selben Jahr fügte man die Sakristeischränke aus älteren Bestandteilen (um 1700) zusammen. Der 1604 erbaute Westtrakt des Konventflügels enthält einen Gewölbekeller, der einst zur Weinlagerung diente. 1685/86 entstand der Südtrakt des Konventflügels. Seine Fassade weist 13 Achsen auf; vier Achsen, die zum Lehmannbau überleiteten, wurden 1867 abgebrochen. Umbauten in den Jahren 1899/1900 und 1963–1966 führten zu weiteren starken Veränderungen der äusseren Erscheinung. Im Erdgeschoss liegt die ehemalige Küche, eine zweischiffige Halle mit Kreuzgratgewölbe und fünf Vierkantpfeilern. An der Wand steht ein Muschelkalk-Brunnen aus dem Jahr 1788. Die Decke des Korridors im ersten Stockwerk des Südtrakts schuf der Stuckateur Giovanni Battista Bettini. Am westlichen Endes des Korridors befindet sich das ehemalige Refektorium. Darin steht ein 1762 geschaffener Kuppelofen, dessen Frieskacheln von Caspar Wolf bemalt wurden. Der Singisenflügel, benannt nach Abt Johann Jodok Singisen, wurde 1610 errichtet und 1692/94 vollständig umgebaut. Das lang gestreckte, dreigeschossige Gebäude ist rechtwinklig an den Kreuzgang angebaut und ragt nach Westen hinaus. Die schlicht wirkende Fassade weist an der Längsseite 13 Achsen und an der Querseite zwei Achsen auf, gegliedert durch Gurtgesimse. Das Portalgewände ist ein gequaderter Korbbogen, flankiert von toskanischen Pilastern und einem Segmentgiebel. Die Südmauer ist mit dem Wappen Zurlaubens verziert, die Unterseiten des Dachgiebels mit Volutenkonsolen und Rauten. Kreuzgang Unter Abt Laurentius von Heidegg wurde der Kreuzgang 1534/35 neu errichtet. Er setzt sich aus Teilen der drei anstossenden Gebäude zusammen (Klosterkirche, Konventflügel, Singisenflügel). Die Decke des Westtraktes ist mit Akanthusmedaillons stuckiert, der Osttrakt besitzt eine Balkendecke (ersetzte 1956 die stark zerstörten Stuckaturen), der Südtrakt ein Kreuzgratgewölbe. Verbindendes Element der drei unterschiedlich gestalteten Flügel sind die 19 dreiteiligen, zum Innenhof hin platzierten Lanzettfenster. Sie sind mit insgesamt 57 Kabinettscheiben geschmückt, die zu den wichtigsten Werken der Renaissance-Glasmalerei in der Schweiz gehören. Die Fensterbögen waren zunächst unverglast. Abt Johann Christoph vom Grüth liess sie ab 1554 mit Kabinettscheiben schmücken, die gemäss damaligem Brauch von befreundeten Klöstern, den eidgenössischen Schirmorten der Abtei, benachbarten Städten, Magistraten und ausländischen Gesandten gestiftet wurden. Die Scheiben sind mit biblischen und weltlichen Motiven bemalt. Beim Neubau der Klosterkirche brach man 1695 den Nordtrakt zum grössten Teil ab, wodurch die dort vorhandenen Fenster verlorengingen. Nach der Klosteraufhebung wurden die Kabinettscheiben entfernt, nach Aarau gebracht und dort ab 1869 im Regierungsgebäude ausgestellt. Ab 1897 zierten sie das Aarauer Kunst- und Gewerbemuseum. 1957 brachte man die Scheiben nach Muri zurück und setzte sie am ursprünglichen Standort in die restaurierten Fensterbögen ein. Loretokapelle Beim Abbruch des Nordtraktes des Kreuzgangs blieben drei Joche in der nordwestlichen Ecke übrig. Abt Plazidus Zurlauben liess dort eine Loretokapelle einrichten, die er 1698 weihte. Der kleine und in seiner künstlerischen Ausstattung recht einfach gehaltene Kapellenraum enthält einen blau gefassten Altarvorbau, das Kreuzrippengewölbe ist ebenfalls blau mit der Darstellung des Firmaments bemalt. Die Schlusssteine sind mit den Wappen des Abtes und des Klosters skulptiert, der Altar besitzt einen niedrigen Kartuschenaufsatz. Hinter dem Gitter ist eine hölzerne, von vier Engeln flankierte Muttergottesstatue angebracht. Von Bedeutung ist die Kapelle vor allem als Zugang zur Familiengruft der Nachkommen des letzten österreichisch-ungarischen Herrscherpaares. Traditionelle Begräbnisstätten wie die Kaisergruft in Wien blieben der Familie Habsburg-Lothringen nach ihrer Entmachtung jahrzehntelang verwehrt. Im März 1970 unterzeichnete Rudolph Habsburg-Lothringen einen Vertrag mit der katholischen Kirchgemeinde Muri zur Nutzung der Loretokapelle als neuen Bestattungsort. Der dafür benötige Gruftraum wurde neu angelegt, da unterhalb der Loretokapelle bis dahin kein Keller existiert hatte. Den Anfang der Beisetzungen dort machte 1971 die Herzbestattung des 1922 verstorbenen letzten Kaisers Karl I. Die Herzurne befindet sich in einer gemauerten Stele hinter dem Altar, an der Rückwand der Kapelle, seit 1989 ebenso die Herzurne der letzten Kaiserin Zita. In der Gruft selbst fanden unter anderem Robert (1996), Rudolph (2010) und Felix Habsburg-Lothringen (2011) ihre letzte Ruhe. Das Kloster Muri ist somit die älteste bekannte und zugleich auch die jüngste Grablege seiner Stifterfamilie. An Kaiser Karl erinnert seit 2010 zusätzlich eine im Kreuzgang aufgestellte Bronzebüste. Lehmannbau (Ost- und Südflügel) Das grösste und zugleich jüngste Gebäude der Klosteranlage ist der im frühklassizistischen Stil errichtete «Lehmannbau», benannt nach dem fürstenbergischen Hofarchitekten Valentin Lehmann. Er veranschlagte 1789 die Kosten für den Ost- und Südflügel auf 353'676 Gulden (ein ebenfalls geplanter Westflügel wurde nie realisiert). Finanziert wurde der Bau zum Teil über die Rückzahlung einer Schuldverschreibung der Fürstenberger an die Abtei. Lehmann hatte die Bauleitung inne und vergab verschiedene Aufträge an Künstler aus der Schweiz und dem süddeutschen Raum. Beispielsweise führte Peter Anton Moosbrugger die Stuckaturen im Festsaal aus. Als die Bauarbeiten 1798 abgebrochen werden mussten, waren die Kosten auf rund 570'000 Gulden angestiegen. Von der damaligen Ausstattung ist nichts erhalten. Nach der Brandkatastrophe von 1889 erhielt der Ostflügel ein provisorisches Dach. 1985 begann eine umfassende Aussenrestaurierung; dabei rekonstruierte man das Dach, die Fassade und die Fenster gemäss Lehmanns Originalplänen. Feierlich abgeschlossen wurden die Arbeiten am 21. August 1989, genau hundert Jahre nach dem Brand. Der Ostflügel des Lehmannbaus ist vier Stockwerke hoch und erstreckt sich über eine Länge von 218 Metern. Die nach Osten zeigende Schaufront mit 49 Achsen ist die längste klassizistische Fassade der Schweiz. Sie zeichnet sich durch rigorose Einfachheit und Regelmässigkeit aus, wobei Risalite und unterschiedliche Dachformen Akzente setzen. Ein Gurtgesims trennt die beiden unteren Stockwerke voneinander, andererseits fassen gequaderte Lisenen sie zu einer Einheit zusammen. Die beiden oberen Stockwerke werden durch Pilaster zusammengefasst (an den Ecken in doppelter Ausführung). Das Hauptportal ist von einer Ädikula mit dorischen Säulen umrahmt; darauf sitzt ein Dreieckgiebel mit Akroterien. Der Mittelrisalit nimmt neun Achsen ein, von denen die drei mittleren nochmals vorspringen und sich zudem überwölben. In diesem Bereich haben die Fenster Spitzbögen, in den drei mittleren Achsen sind sie ausserdem verdacht. Alle übrigen Fenster sind rechteckig und ruhen auf Konsolen. Der 65 Meter lange Südflügel hat drei Stockwerke und ist sehr schlicht gestaltet. Die leicht vorspringenden Eckpavillons sind von gequaderten Lisenen gesäumt, bei den rechteckigen Fenstern fehlen die Konsolen völlig. Durch die Mitte des Südflügels führt ein schmaler korbbogenförmiger Durchgang, dessen äusseres Portal von zwei Lisenen mit Akroterien und einem Dreieckgiebel umrahmt ist. Brunnen und Gärten Im Klosterhof, zwischen Konvent- und Südflügel, steht der Martinsbrunnen. Er war 1632 von Abt Johann Jodok Singisen in Auftrag gegeben worden und stand ursprünglich im angrenzenden Konventgarten. Die Figur, eine Darstellung des Klosterpatrons Martin von Tours, schuf der aus dem Elsass stammende Bildhauer Gregor Allhelg. Der Brunnen wurde 1881 nach Luzern versetzt, die Figur gelangte in den Besitz der Familie Keusch aus Boswil. Auf Initiative der Vereinigung «Freunde der Klosterkirche Muri» wurde das Brunnenbecken 2008 rekonstruiert. Im Zuge dessen restaurierte Josef Ineichen die originale Brunnensäule und die Figur. Östlich der Klosteranlage erstreckt sich ein Park im Stil eines englischen Landschaftsgartens. Der Bereich vor dem Mittelrisalit des Ostflügels, der frühere Abtgarten, ist als Barockgarten ausgeführt. Das Areal wurde früher landwirtschaftlich genutzt und war Standort der klösterlichen Stallungen. Mit der Zeit wandelte es sich zu einer öffentlich zugänglichen Grünfläche mit altem Baumbestand. Seit der Sanierung im Jahr 2011 ist der Park rollstuhlgängig. Nördlich der Klosterkirche liegt der Küchengarten, der seit 1609 auf Ansichten des Klosters bezeugt ist. Seit der Neugestaltung 2001/02 dient er wieder dem ursprünglichen Zweck, dem Anbau von Nutzpflanzen. Die Stiftung ProSpecieRara pflanzte Sträucher mit alten Beerensorten. Der Konventgarten beim Singisenflügel wurde 2003/04 neu gestaltet. Dabei stellte man die historische räumliche Ordnung der barocken Anlage, wie sie bis zur Klosteraufhebung im Jahr 1841 bestand, wieder her. Abgebrochene Gebäude An der Nordseite des Klosterareals befand sich das «Weiberhaus», in dem die weiblichen Gäste des Klosters lebten. Es war 1703/04 errichtet worden und glich äusserlich dem Singisenflügel, 1787 erhielt es Stuckaturen von Peter Anton Moosbrugger. Nach der Klosteraufhebung diente das Gebäude als Erziehungsanstalt, ab 1912 befand sich darin das Hotel Löwen. 1949 wurde das Weiberhaus abgerissen, um Platz für ein Betriebsgebäude des Pflegeheims zu schaffen. Erhalten blieben das Wirtshausschild und ein Fragment der Täfelung (heute in Sursee bzw. Aarau). 1697 und 1698 entstanden an der Strasse östlich des heutigen Lehmannbaus zwei klösterliche Speichergebäude (als «Vordere Föhn» und «Hintere Föhn» bezeichnet). Nach markanten Umbauten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind nur die Grundmauern erhalten geblieben, die je ein Wappenrelief von Abt Plazidus Zurlauben aufweisen. Südlich des Kreuzgangkomplexes liess Zurlauben 1694 ein bereits bestehendes Gebäude umbauen und erweitern. Es enthielt Räume für Dienstboten und Handwerker, Krankenzimmer, Kanzlei, Mühle und Bäckerei. Das Gebäude, dessen Baukosten sich auf 22'400 Gulden beliefen, wurde 1789 abgerissen, um Platz für den Südflügel des Lehmannbaus zu schaffen. Nutzung Musik und Kunst 1969 wurde auf Initiative des damaligen Aargauer Regierungsrates Leo Weber die Kulturstiftung St. Martin (seit 2011 Stiftung Murikultur) gegründet. Ihr Ziel ist die Förderung des kulturellen Angebots innerhalb und ausserhalb des Klosters. Ein Dutzend fest angestellte und zahlreiche ehrenamtliche Mitarbeiter organisieren jährlich rund 100 Veranstaltungen. Seit 2011 wird Murikultur von der Kantonsregierung als Kulturinstitution von mindestens kantonaler Bedeutung anerkannt und erhält dafür Betriebsbeiträge. Eng mit Murikultur zusammen arbeitet die 1992 gegründete Vereinigung «Freunde der Klosterkirche Muri». Sie bezweckt, die benediktinische Tradition in der Klosterkirche zu pflegen und die Kirche zu erhalten. Heute gehören vier Museen sowie Konzerte, ein Theater und eine Bibliothek zu Murikultur. Das Oktogon der Klosterkirche ist seit 1971 Aufführungsort zahlreicher klassischer Konzerte. Mit ihren fünf Orgeln und den vier Emporen für zusätzliche Musiker eignet sich die Kirche besonders gut für szenische Oratorien. Künstlerischer Leiter der jeweils von Mai bis September dauernden Konzertreihe ist seit 2001 der österreichische Kirchenmusiker Johannes Strobl. Im Winterhalbjahr finden im Festsaal des Ostflügels kammermusikalische und symphonische Aufführungen statt. Konzerte im Refektorium dienen der Förderung von Nachwuchstalenten, hinzu kommen vereinzelt Konzerte und Theateraufführungen im Hof des Klosters. Für die Sparten Pop, Jazz und World Music wiederum gibt es die Konzertreihe Musig im pflegidach. Vom Kreuzgang aus sind zwei Museen zugänglich. Das 1992 eröffnete Klostermuseum befindet sich im Osttrakt neben der Sakristei. Ausgestellt wird dort ein Teil des ehemaligen Kirchenschatzes der Abtei, der 1841 bei der Klosteraufhebung aufgeteilt und verstreut wurde. Zur Sammlung gehören ein silberner Tabernakel, Paramente, Monstranzen, Kelche und andere liturgische Gegenstände. Das «Museum Caspar Wolf» im Singisenflügel ist die grösste permanente Ausstellung mit Werken des aus Muri stammenden Malers Caspar Wolf, der als Pionier der Hochgebirgsmalerei gilt. Zu sehen sind Ölbilder, Aquarelle, Gouachen, Kreidezeichnungen, Skizzen, Stiche und Reproduktionen. Es war 1981 im Refektorium eröffnet worden, befand sich ab 1997 im Gewölbekeller des Westtrakts und bezog seine heutigen Ausstellungsräume im Januar 2018. Das im Jahr 1998 eröffnete «Singisenforum» im Erdgeschoss des Singisenflügels ist auf zeitgenössische Kunst spezialisiert; jährlich gibt es Wechselausstellungen mit Werken regionaler Künstler. 2016 wurde das «Museum für medizinhistorische Bücher» eröffnet. Es basiert auf der Privatsammlung von Büchern aus dem 15. bis 20. Jahrhundert des Arztes und Medizinhistorikers Gustav Adolf Wehrli, welche 2010 von Franz Käppeli antiquarisch erworben worden ist. Sonstige Nutzer Das im Jahr 1909 eröffnete Pflegeheim im Ostflügel des Lehmannbaus tritt heute unter der Bezeichnung «Pflegimuri» auf. Knapp 300 Mitarbeiter betreuen rund 200 pflegebedürftige Bewohner. Das Pflegeheim, das auch Abteilungen für Schwerstbehinderte und Demenzkranke umfasst, ist der zweitgrösste Arbeitgeber in Muri. Die Trägerschaft ist ein Verein mit etwa 600 Mitgliedern. Der Konventflügel war fast ein Jahrhundert lang der einzige Standort der Primarschule. Durch das Bevölkerungswachstum und die Ausweitung des Bildungsangebotes ergaben sich zunehmend Platzprobleme. 1954 wurde der erste Schulhausneubau eröffnet, dem vier weitere folgten. 1985 zog ausserdem die Bezirksschule aus dem Südflügel aus. Heute werden im Konventflügel noch acht Primarschulklassen unterrichtet. Den Südflügel teilen sich die Gemeindeverwaltung von Muri, das Bezirksgericht, das Bezirksamt und seit 2011 die Staatsanwaltschaft der Bezirke Muri und Bremgarten. Seit dem Auszug des Altersheims St. Martin im Jahr 1991 wird der Singisenflügel von einigen Amtsstellen der Gemeindeverwaltung und vom Benediktinerhospiz genutzt. Im Dachgeschoss dieses Gebäudes befindet sich die öffentliche Bibliothek mit 17.000 Medien. Seit November 2009 besteht im Konventflügel, im früheren Raum des Benediktinerhospizes, die Sammlung Murensia. Diese Fachbibliothek, die unter anderem von den Universitäten Zürich, Freiburg und Luzern unterstützt wird, soll Publikationen und Quellen zum Kloster Muri und zum Freiamt sowie wissenschaftliche Werkzeuge an einem Ort vereinen. Mit Hilfe der Sammlung soll im Hinblick auf das 1000-jährige Bestehen des Klosters im Jahr 2027 die Geschichte der Abtei systematisch aufgearbeitet und vervollständigt werden (die jüngsten wissenschaftlichen Arbeiten stammen überwiegend aus den 1960er Jahren). Sage Eine im Freiamt bekannte Sage erzählt vom «Stifeliryter» (Stiefelreiter). Dabei handelt es sich um einen jähzornigen, scheinheiligen und raffgierigen Schaffner (Verwalter) des Klosters Muri, der hoch zu Ross und in grossen Stiefeln die Landbevölkerung schikanierte. Eines Tages wurde er in einen Rechtsstreit mit einer Gruppe von Bauern verwickelt, woraufhin der Landvogt Recht sprechen musste. Als der Stifeliryter vor Gericht einen gotteslästerlichen Meineid schwor, fiel er augenblicklich tot um. Seither soll er als feuerspeiende Geistergestalt auf seinem Schimmel reitend die Gegend unsicher machen. Literatur Rupert Amschwand, Roman Brüschweiler, Jean-Jacques Siegrist: Muri. In: Helvetia Sacra. Bd. III/1, 1986, S. 896–952. Peter Felder, Martin Allemann: Das Kloster Muri. In: Schweizerische Kunstführer GSK, Band 980, Bern 2015. Weblinks Hauptseite Kloster Muri-Gries auf www.muri-gries.ch Stiftung Murikultur Verein Freunde der Klosterkirche Muri Website des Pflegeheims Luftansicht des Klosters Augustin Keller: Vom Aargauer Klosterstreit zum Bundesstaat In: Zeitblende von Schweizer Radio und Fernsehen vom 8. April 2023 (Audio) Einzelnachweise Muri Muri Muri Muri Muri Kulturgut von nationaler Bedeutung im Kanton Aargau Denkmalschutzobjekt im Kanton Aargau Grabstätte der Habsburger Habsburg Habsburg-Lothringen Bauwerk in Muri AG Organisation (Muri AG) Kultur (Muri AG) Geschichte der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz
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https://de.wikipedia.org/wiki/Restless-Legs-Syndrom
Restless-Legs-Syndrom
Das Restless-Legs-Syndrom (kurz RLS), auch bekannt als Willis-Ekbom-Disease (kurz WED) oder Wittmaack-Ekbom-Syndrom, äußert sich durch einen unbeherrschbaren Bewegungsdrang und quälende Missempfindungen insbesondere in den Beinen. Die Beschwerden treten hauptsächlich in Ruhe auf und bessern sich bei Bewegung. Typischerweise verstärken sich die Symptome deutlich zum Abend und zur Nacht hin. Deshalb kann das RLS zu massiven Schlafstörungen führen. Vermutete Ursachen sind Störungen des Eisenstoffwechsels und verschiedener Neurotransmittersysteme, vorwiegend des Dopaminhaushalts. Die Gabe von Levodopa (L-Dopa), einer Vorstufe von Dopamin, oder dopaminähnlich wirkenden Substanzen (Dopaminagonisten) lindert die Beschwerden. Man unterscheidet zwischen einer primären Form mit ungeklärter Ursache und einer sekundären Form als Folge anderer Erkrankungen, von Mangelzuständen oder Nebenwirkungen von Medikamenten. Das RLS wird aktuell (im ICD-11) den schlafbezogenen Bewegungsstörungen zugerechnet und als Schlaf-Wach-Störung kategorisiert. Geschichte Thomas Willis hat die Störung bereits 1685 zum ersten Mal als eine Ruhelosigkeit mit Bewegungsdrang (Akathisie) beschrieben. Der deutsche Arzt Theodor Wittmaack beschrieb 1861 in seinem Lehrbuch der Nervenkrankheiten erstmals drei zentrale Symptome des Restless-Legs-Syndroms. 1945 identifizierte Karl-Axel Ekbom das Syndrom als eine neurologische Störung. Symptomatik Das RLS äußert sich in Form oft quälender Missempfindungen (Parästhesien), die einen unbeherrschbaren („imperativen“) Bewegungsdrang auslösen. Die Symptome treten hauptsächlich in körperlicher Ruhe auf, insbesondere bei längerem Sitzen oder Liegen, und betreffen hauptsächlich die Beine. Arme und andere Körperpartien können ebenso beteiligt sein. Sind nur die Arme betroffen, handelt es sich um das verwandte seltene Restless-Arms-Syndrom (RAS). Die Beschwerden nehmen so lange zu, bis dem Bewegungsdrang nachgegeben wird. Das führt zu einer sofortigen Linderung. Das Ausmaß der hierfür notwendigen Bewegung hängt dabei von der Stärke der Symptome ab. So kann bei leichtem RLS ein Wippen mit den Füßen ausreichend sein, schwerere Ausprägungen erzwingen beispielsweise ein dauerhaftes Umhergehen oder sportliche Aktivität. In Ruhe kehren die Beschwerden zurück. Begleiterscheinungen sind Muskelzuckungen (Myoklonien) im Schlaf- oder Wachzustand (Periodic Limb Movements (PLM)) über das normale Maß hinaus. Nur im Schlaf auftretende PLMs sind den Patienten meist nicht bewusst. Der Bewegungsdrang verursacht keine unwillkürlichen Bewegungen wie Muskelzuckungen (Tics) oder Muskelzittern (Tremor). Die auftretenden Missempfindungen werden von Betroffenen etwa als Ziehen, Spannen, Kribbeln („Ameisenlaufen“), Druck-, Kälte- oder Wärmegefühl, aber auch als diffuse Schmerzen, Krämpfe oder eine Art Pulsieren beschrieben. Oft beschränken sie sich auf die Unterschenkel bzw. -arme, können aber auch bis in die Oberschenkel bzw. Schultern ausstrahlen. Häufig werden die Empfindungen als tief in der Muskulatur, teilweise auch als in den Knochen sitzend beschrieben oder bei Auftreten in den Beinen vom Knöchel über das untere Schienbein ins Knie aufsteigend. Die Beschwerden können beidseitig symmetrisch, einseitig oder wechselnd (alternierend) auftreten. Charakteristisch ist die Zunahme der Symptome zum Abend hin. Je nach Schweregrad können sie sich auch auf die Abend- und Nachtzeit beschränken, während der Rest des Tages weitgehend beschwerdefrei bleibt. Zudem kann die Erkrankung auch ausschließlich in tage- bis monatelangen Schüben auftreten, auf die unterschiedlich lange beschwerdefreie Phasen folgen. Leichte Formen treten mitunter auch nur unregelmäßig an einzelnen Tagen auf. Auswirkungen Das RLS kann zu massiven Ein- und Durchschlafstörungen führen, insbesondere bei zugleich auftretenden nächtlichen PLMs. Betroffene müssen sich dieser Schlafstörungen dabei nicht bewusst sein. Das ist v. a. der Fall, wenn die Symptome nur zu gehäuften kurzen Wachzuständen (Arousals) während des Nachtschlafs führen. Insbesondere bei schweren Ausprägungen sind auch zirkadiane Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen zu beobachten. Der Schlafmangel kann gravierend sein und alle dafür typischen Auswirkungen wie chronische Tagesschläfrigkeit, Antriebslosigkeit, chronische Erschöpfung, Konzentrationsstörungen, Gereiztheit, Gedächtnisstörungen, Schwindel, Migräne oder Depressionen nach sich ziehen. Aus einem schmerzhaften RLS kann sich wie bei allen länger andauernden Schmerzzuständen ein chronisches Schmerzsyndrom entwickeln. Unbehandelt kann ein längerfristig bestehendes RLS einen massiven Leistungsabfall und soziale Isolation zur Folge haben und die Lebensqualität Betroffener somit massiv beeinträchtigen. Symptomverstärkende Faktoren Schlafmittel, Antidepressiva, Neuroleptika und Betablocker können die neuromuskulären Störungen des RLS verstärken. Körperliche Ruhe, auch die Immobilisation im Rahmen eines diagnostischen Tests, führt zur Zunahme der Symptome, besonders am späten Abend und in der Nacht. Ein negativer Einfluss auf die Symptome ist von Koffein bekannt, insbesondere bei Konsum am Nachmittag. Weiterhin wird häufig von einer Verschlimmerung der Symptome infolge intensiver oder ungewohnter Bewegung am Tage berichtet, aber auch nach zu wenig Bewegung. Formen Man unterscheidet zwischen einer primären (idiopathischen) und einer sekundären (symptomatischen) Form des RLS. Eine Studie zum erstmaligen Auftreten des RLS nach Lebensjahren ermittelte mithilfe eines statistischen Verfahrens (Kerndichteschätzung) signifikante Unterschiede eines frühen (Early-onset) oder späten (Late-onset) Krankheitsbeginns. Statistisch ergab sich ein Abgrenzungsalter von 36 Jahren. Primäre und sekundäre Form ließen sich damit den beiden ermittelten Gruppen mit hoher Trennschärfe zuordnen. Das lässt vermuten, dass den beiden Formen unterschiedliche pathologische Mechanismen zugrunde liegen. Primäre Form Bei der primären Form des RLS liegen keine klinisch feststellbaren körperlichen Ursachen vor. Ein primäres RLS beginnt in der Regel vor dem 36. Lebensjahr (Early-onset, s. o.) und zeigt einen starken Zusammenhang mit dem Auftreten von RLS in der Familie sowie eine Verschlechterung der Erkrankung in höherem Alter. Daher wird eine starke genetische Komponente angenommen. Eine starke Häufung der Ersterkrankung fand sich im 20. Lebensjahr. Insbesondere in der Anfangszeit sowie bei leichteren Ausprägungen können Form, Häufigkeit und Stärke der Beschwerden stark variieren. Ein idiopathisches RLS führt nach gegenwärtigem Kenntnisstand nicht zur Zerstörung von Nervenzellen und ist damit keine neurodegenerative Erkrankung. Das idiopathische RLS ist bisher nicht ursächlich heilbar, da die zugrundeliegenden Mechanismen noch nicht umfassend geklärt sind. Die Therapie beschränkt sich daher auf die Linderung der Symptome. Symptomatisch unterscheiden sich beide Formen des RLS nicht, die idiopathische Form ist daher nur im Ausschlussverfahren zu diagnostizieren. Dabei werden alle potentiellen Auslöser der sekundären Form als Ursachen definitiv ausgeschlossen. Sekundäre Form Die sekundäre Form beginnt in der Regel nach dem 36. Lebensjahr (Late-onset, s.o), eine Häufung ist um die Mitte des fünften Lebensjahrzehnts zu beobachten. Dabei bleiben die Symptome eher langfristig stabil. Sie tritt meist als Folge eines Mangelzustands oder einer anderen Erkrankung auf. Als häufige Auslöser bekannt sind Eisenmangel und Eisenmangelanämie, Folsäuremangel, Vitamin-B12-Mangel, perniziöse Anämie, Urämie, Niereninsuffizienz mit Dialyse, Arthritis, Diabetes mellitus, Hypothyreose, Hyperthyreose, Fibromyalgie, Polyneuropathie, Radikulopathie, Morbus Parkinson und andere neurologische Erkrankungen. Als Nebenwirkung diverser Medikamente kann ein RLS-ähnlicher Symptomkomplex auftreten, so bei Antidepressiva, Lithium, Antipsychotika, Dopaminantagonisten (Neuroleptika und bestimmte Antiemetika wie Metoclopramid), Östrogenen, L-Thyroxin, Simvastatin, Antihistaminika etc. Nach schweren operativen Eingriffen wie etwa einer Total-Endoprothese des Knies kann es zum erstmaligen Auftreten eines RLS kommen. Im Rahmen von Entzugsbehandlungen (Opioide, Alkohol) kann die Symptomatik aufgrund einer Störung des Dopaminhaushalts eintreten. Lässt sich die Ursache des sekundären RLS beheben, kann dieses wieder vollständig verschwinden. Epidemiologie Die Verbreitung (Prävalenz) der Störung wird auf 5–10 % der Bevölkerung in Europa und Nordamerika geschätzt. Von den Betroffenen benötigen 10-15 % eine medikamentöse Behandlung. In Asien wird die Erkrankung seltener diagnostiziert. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Die Störung tritt selten auch schon im Kindesalter auf. Bei Frauen liegt die Prävalenz während und nach einer Schwangerschaft bei 25 %, in 97 % der Fälle klingt die Symptomatik nach der Geburt wieder ab. Pathophysiologie Die Pathophysiologie des RLS wird, auch aufgrund der hohen Kosten für das Gesundheitssystem, intensiv beforscht, ist aber nicht abschließend geklärt. Aktuell gelten Störungen des Eisen- und Dopaminstoffwechsels im Gehirn als Hauptursachen für das RLS. Zwischen beiden bestehen verschiedene Wechselwirkungen, die Auswirkungen auf Vorgänge im zentralen Nervensystem (ZNS) haben. Dopamin löst neben weiteren Botenstoffen u. a. die Reizweiterleitung vom Gehirn über die peripheren Nerven zu den Muskeln aus. Eine (beim primären RLS genetisch bedingte) Störung des Transports von Eisen über die Blut-Hirn-Schranke wird als ursächlich für einen Eisenmangel im Gehirn Betroffener (BID – Brain Iron Deficiency) vermutet. Das häufige Auftreten von RLS bei Patienten mit Atemwegserkrankungen wie COPD stützt diesen Zusammenhang. Dieser zerebrale Eisenmangel beeinflusst die Signalübertragung durch Dopamin (dopaminerge Signalübertragung) im Gehirn auf unterschiedlichen Wegen. Darauf basieren verschiedene Erklärungsmodelle: Eisen ist Bestandteil vielfältiger Verbindungen im Gehirn und spielt als Cofaktor des Enzyms Tyrosinhydroxylase eine essenzielle Rolle bei der Synthese von L-Dopa (der Vorläufersubstanz von Dopamin) aus der Aminosäure Tyrosin. Die Aktivität der Tyrosinhydroxylase folgt einer tageszeitlichen Regelmäßigkeit (zirkadiane Rhythmik), die die Verschlechterung der Symptome in der Nacht erklären könnte. Der Sauerstofftransport wird beeinträchtigt und führt zu einem zerebralen Sauerstoffmangel (Hypoxie). Dieser soll eine Kette verschiedener Gegenreaktionen in Gang setzen ("hypoxic pathway"), die u. a. durch erhöhte Aktivität der Tyrosinhydroxylase zu einer gesteigerten Produktion von Dopamin führen. Die dadurch erhöhte dopaminerge Aktivität wird zum Ausgleich auf Dopaminrezeptor- und intrazellulärer Ebene heruntergeregelt (Downregulation). Da der Dopaminspiegel einem deutlichen zirkadianen Rhythmus mit morgendlichem Ansteigen und Absinken am Abend und nachts folgt, soll dieser Ausgleich speziell in der Nacht zu einer übermäßig starken Verringerung (Überkompensation) der erhöhten dopaminergen Aktivität führen. Diese kann wiederum mit gängigen Medikamenten (L-Dopa oder Dopaminagonisten, s. u.) behandelt werden. Zusätzlich wird durch den Eisenmangel die Bildung der Markscheide (Myelinisierung) um die Fortsätze von Nervenzellen (Axone) herum gehemmt, die für die Geschwindigkeit der Signalübertragung wesentlich ist. Bei Untersuchungen verstorbener RLS-Patienten wurde in deren Nervenzellen bis zu 25 % weniger Myelin gefunden, was einen Teil der Symptome in Bezug auf die Reizweiterleitung außerhalb des ZNS (im peripheren Nervensystem) erklären könnte. Durch den beeinträchtigten Eisentransport ins Gehirn wird einer anderen Hypothese zufolge die Funktion dopaminproduzierender Zellen gestört. Das äußere sich in einer verminderten Menge extrazellulären Dopamins, einer verringerten Aktivität des Dopamintransport-Eiweißes (DAT), das Dopamin von den Synapsen in die Neurone schleust, und einer Abnahme der Anzahl von D1- und D2-Rezeptoren, die die Signalübertragung an periphere Nerven steuern. Bei PET-Scans Betroffener mit radioaktiv markiertem Methylphenidat wurde in einigen Bereichen des Striatums, eines Teils des Großhirns, das u. a. an der Steuerung körperlicher Bewegungen beteiligt ist, ein signifikant vermindertes Bindungspotential des Dopamin-Transportproteins (DAT) am Tag und in der Nacht festgestellt. Der zerebrale Sauerstoffmangel beeinflusst neuen Forschungen zufolge weitere Botenstoff-/Hormonsysteme im Gehirn: Verstärkung der durch Glutamat vermittelten Aktivierung der Reizweiterleitung (exzitatorische Wirkung), gleichzeitig verminderte Aktivität des hemmend (inhibitorisch) auf die Reizweiterleitung wirkenden Botenstoffs Gamma-Aminobuttersäure (GABA) sowie Verringerung der hemmenden Aktivität von Adenosin auf andere aktivierende Botenstoffe über eine Herunterregulierung von Adenosin-A1-Rezeptoren (A1R) und Veränderung der Gleichgewichte verschiedener auf Dopamin als Zwischenprodukt basierender Botenstoffe wie Noradrenalin und dessen Folgeprodukt Adrenalin. Dadurch ließen sich nächtliche Arousals und Störungen im Zusammenspiel von Sinneswahrnehmungen und Bewegungen (sensomotorische Symptome) erklären. Diese Zusammenhänge spielen auch bei einigen chronischen Schmerzerkrankungen eine Rolle und könnten zusätzliche Therapiemöglichkeiten eröffnen. Komorbidität Häufig auftretende Komorbiditäten bestehen u. a. mit Eisenmangelerkrankungen, Nierenerkrankungen, aber auch kardiovaskulären, neurologischen und rheumathologischen Erkrankungen, rheumatoider Arthritis, Diabetes Mellitus, Fibromyalgie, Depression und Angststörungen, Polyneuropathie, verschiedenen somatoformen Störungen und Störungen des Respirationstrakts wie COPD oder obstruktiver Schlafapnoe (OSA). Gemeinsame Ursachen des Restless-Legs-Syndrom und des Parkinson-Syndroms werden mittlerweile differenziert gesehen. Parkinson-Erkrankte weisen eine erhöhte Prävalenz für das Auftreten des RLS auf. Beide Erkrankungen werden u.a mit Störungen des zerebralen Eisen- und Dopaminstoffwechsels in Verbindung gebracht, die Mechanismen sind jedoch im Einzelnen unterschiedlich. Genetik Eine genetische Beteiligung an der Entwicklung des primären (idiopathischen) Restless-Legs-Syndroms gilt als gesichert. Die Prävalenz der idiopathischen Form des RLS ist unter Angehörigen ersten Grades von RLS-Patienten drei- bis fünfmal so hoch wie bei Personen ohne RLS. Mehr als 50 % der Patienten mit einem idiopathischen RLS haben eine positive Familienanamnese. Von Tiermodellen ist bekannt, dass bestimmte genetische Abweichungen zu Schlafstörungen und Bewegungsauffälligkeiten führen. Die Veranlagung scheint zumindest teilweise autosomal-dominant vererbt zu werden. Durch genomweite Assoziationsstudien konnten mittlerweile (Stand 2021) 23 Genvarianten in 5 Genomregionen bei hauptsächlich europäisch-stämmigen Patienten identifiziert werden, die mit einem höheren Risiko für ein idiopathisches RLS einhergehen. Dabei scheinen insbesondere Veränderungen des Gens MEIS1 eine Rolle beim gestörten Eisentransport über die Blut-Hirn-Schranke zu spielen. Es gibt teilweise Übereinstimmungen einzelner genetischer Marker (nicht zu verwechseln mit Biomarkern) zwischen RLS und verschiedenen anderen Erkrankungen. Dazu gehören u. a. verschiedene Schlafstörungen, Parkinson, chronische Schmerzerkrankungen, PLMD etc. Diagnose Da bisher keine eindeutig mess- oder sichtbaren Diagnosekriterien wie Biomarker, bildgebende Verfahren oder paraklinische Untersuchungen zur Verfügung stehen und die Begleiterscheinungen des RLS vielfältig sind, ist die Diagnose anfällig für Fehlinterpretationen. Neurologische und bildgebende Untersuchungen verlaufen beim RLS in aller Regel unauffällig. Das kann dazu führen, dass bei Patienten Hypochondrie, somatoforme Störungen, Depressionen oder andere psychische Leiden diagnostiziert werden und das RLS nicht angemessen behandelt wird. Bekannte Vorerkrankungen, insbesondere ein Eisenmangel bzw. eine Eisenmangelanämie, können beim sekundären RLS einen Hinweis auf die Diagnose geben. Letztlich erfolgt die Diagnose jedoch anhand der Symptome. Hierzu werden nach den Leitlinien der DGN (Stand 2012, Aktualisierung ist für Juli 2022 angekündigt) folgende Kriterien herangezogen: Essentielle Diagnosekriterien (müssen alle erfüllt sein) Bewegungsdrang der Beine (u. U. auch der Arme), meist verbunden mit unangenehmen Parästhesien oder Schmerzen Auftreten oder Verstärkung des Bewegungsdrangs in Ruhe und Entspannung Besserung oder Aufhören der Symptomatik bei Bewegung Überwiegen der Beschwerden am Abend und in der Nacht (zur Unterscheidung von durch Neuroleptika hervorgerufener Akathisie) Unterstützende Kriterien zusätzlich zu den Hauptkriterien Vorhandensein periodischer Beinbewegungen im Schlaf (PLMS) oder ruhenden Wachzustand (PLMW) über das medizinisch erwartbare Maß hinaus, feststellbar durch Polysomnografie Besserung der Symptome nach Verabreichung einer Testdosis Levodopa (L-Dopa-Test) positive Familienanamnese des RLS bei Verwandten ersten Grades Die Anamnese kann sich beim RLS schwierig gestalten, da Betroffene die Symptome häufig nur schwer beschreiben können oder teilweise nicht als solche erkennen. Der charakteristische Bewegungsdrang wird oft nicht als eigenständiges Symptom, sondern nur als Folge der Missempfindungen wahrgenommen. Schmerzhafte Ausprägungen können die Diagnosefindung erschweren, wenn die Schmerzen vom Patienten als Hauptproblem wahrgenommen werden und dadurch andere Symptome verschleiern. Tritt ein RLS nur während des Schlafs auf, kann die Diagnose oft nur im Schlaflabor per Polysomnografie gestellt werden. Die Betroffenen erkennen die eigentlichen Symptome im Schlaf nicht bewusst, sondern nur deren Auswirkungen am Tag. Der 2009 eingeführte Restless-Legs-Diagnose-Index erleichtert die Differentialdiagnose und soll u. a. auch RLS-ähnliche Symptome („Mimics“) zu erkennen helfen. Er beinhaltet eine Abfrage sämtlicher Diagnosekriterien, vorhandener Schlafstörungen und familiärer Belastung, das Ansprechen auf dopaminerge Therapien oder den L-Dopa-Test, das Vorliegen einer klinisch relevanten Anzahl von PLMS in einer Schlaflaboruntersuchung sowie Befunde einer neurologischen Untersuchung zum Ausschluss anderer Erkrankungen. In den meisten Studien wird der Schweregrad eines RLS mittels des Symptomfragebogens IRLS (International RLS Study group rating scale) eingeschätzt. Dabei werden zehn Symptome abgefragt und mit insgesamt maximal 40 Punkten bewertet. Man unterscheidet ein mildes (1-10 Punkte), ein mittelschweres (11-20 Punkte), ein schweres (21-30 Punkte) und ein sehr schweres RLS (31-40 Punkte). Auch Therapieeffekte werden mit Hilfe der Punkteverschiebungen auf der IRLS-Skala bewertet. Differenzialdiagnostik Differentialdiagnostisch muss das RLS gegenüber Polyneuropathie, funikulärer Myelose, Vitamin-B12-Mangel, Radikulopathie, Akathisie, Venenleiden, nächtlichen Wadenkrämpfen, arterieller Verschlusskrankheit („Schaufensterkrankheit“), Pruritus und Einschlafmyoklonien abgegrenzt werden. Dazu werden u. a. Blut- und Urinuntersuchungen sowie Messungen der Nervenleitgeschwindigkeit (Elektroneurografie) und der elektrischen Muskelaktivität (Elektromyografie) durchgeführt. Behandlung Die Behandlung wird am subjektiven Leidensdruck der Patienten ausgerichtet. Eine medikamentöse Therapie ist für die Mehrheit der Betroffenen notwendig. Bei der sekundären Form des RLS muss nach Möglichkeit die zugrundeliegende Ursache beseitigt werden. Kontraindizierte Medikamente sollten vermieden, Eisen substituiert und erhöhte Nierenwerte notfalls durch Dialyse abgesenkt werden. In Fällen, in denen die Behandlung mit nur einer bestimmten Wirkstoffgruppe (Monotherapie) nicht ausreicht oder nach längerer Anwendung in ihrer Wirkung nachlässt, kann eine Kombinationstherapie hilfreich sein. Augmentation Unter Augmentation versteht man die Verschlechterung von Symptomen während einer fortgesetzten Behandlung, nachdem zunächst eine Besserung eingetreten ist. Sie tritt beim RLS vor allem bei Behandlung mit Levodopa und Dopaminagonisten auf. Es ist zu unterscheiden zwischen therapieunabhängigen („spontanen“) und von nach Absetzen der Medikamente erfolgenden („Rebound“) Verschlechterungen der RLS-Symptome. Typisch für eine Augmentation ist ein früheres Eintreten der Symptome im Tagesverlauf (mindestens 4 Stunden im Vergleich zu Beginn der aktuellen Therapie) oder verkürzte Zeiten von Beschwerdefreiheit: Traten RLS-Beschwerden beispielsweise vorher erst Stunden nach Medikamenteneinnahme erneut auf, kehren sie nun schon weitaus schneller zurück. Weiterhin können sich die Symptome von den Beinen auf andere Körperteile, insbesondere die Arme, ausbreiten. Dopaminwirksame Medikamente Levodopa (L-Dopa) Bei leichten und nur gelegentlich auftretenden Beschwerden wird Levodopa (z. B. Restex, Madopar), eine Vorstufe von Dopamin, erfolgreich eingesetzt. Es führt zu fast sofortiger Linderung der Beschwerden. Bei längerfristiger Behandlung mit L-Dopa kann eine Verschlechterung (Augmentation) der Symptomatik eintreten. Das führt gemäß der Behandlungsleitlinien meist zu einer medikamentösen Umstellung auf Opiate (s. u.). In einigen Fällen kann die Verschlechterung mit einer geringeren täglichen Dosis oder Verteilung der Dosis auf mehrere kleine Dosen rückgängig gemacht werden. Außerdem stellen Toleranzentwicklung sowie schnelles Abklingen der Wirkung im Laufe der Nacht ein häufiges Problem dar. Beim Überwinden der Blut-Hirnschranke konkurriert L-Dopa mit Aminosäuren aus der Nahrung, die den gleichen Transporter nutzen. Daher sollte es nüchtern oder zumindest nicht mit eiweißreicher Nahrung eingenommen werden. Dopaminagonisten Bei der Behandlung schwerer bzw. täglicher Beschwerden gelten dopaminähnlich wirkende Substanzen (Dopaminagonisten) inzwischen als Mittel der Wahl. Diese Substanzen stimulieren Dopamin-Rezeptoren. Von Mutterkornalkaloiden abgeleitete Dopaminagonisten (auch „ergoline Dopaminagonisten“ oder „Ergot-Derivate“ genannt) wie die auch bei der Therapie des Morbus Parkinson eingesetzten Cabergolin (Cabaseril) und Pergolid (Parkotil) sind hochwirksame, aber nebenwirkungsreiche Wirkstoffe. Sie können, sofern sie vertragen werden, zeitlich unbegrenzt eingenommen werden und steigern die Lebensqualität der Betroffenen erheblich (ca. 50 % der Anwender sind länger als ein Jahr beschwerdefrei). Weitere eingesetzte Substanzen dieser Wirkstoffgruppe waren zeitweise Bromocriptin (Off-Label-Use) und Lisurid (wegen starker Nebenwirkungen seit 2016 nicht mehr auf dem Markt). Die nicht von Mutterkornalkaloiden abgeleiteten (nonergolinen) Dopaminagonisten Ropinirol (Adartrel bzw. Requip) und Pramipexol (Sifrol bzw. Mirapexin), die beide Anfang 2006 für die Behandlung von RLS zugelassen wurden, können die Symptome des RLS ebenfalls lindern. Bei lang andauernder Behandlung beispielsweise mit Pramipexol kommt es weniger häufig zur Augmentation wie unter L-Dopa. 2008 wurde zusätzlich Rotigotin in transdermaler Applikation (Neupro-Pflaster, Leganto-Pflaster) in D zur Behandlung mittelschweren und schweren RLS (IRLS-Score > 15) zugelassen. Das Risiko einer Augmentation hat sich dabei als besonders gering erwiesen. Opioide Opioide wie Oxycodon (z. B. Oxygesic), Tilidin (z. B. Valoron N) oder Codein werden in schweren und schmerzhaften Fällen erfolgreich eingesetzt. Sie können ebenso wie Levodopa alleinstehend oder ergänzend zu einer Basistherapie eingesetzt werden. Die derzeit für RLS geltende Leitlinie empfiehlt, bei nachlassender Wirkung von L-Dopa oder Dopaminagonisten (Augmentation, s. o.) auf Opioide (auch in Kombination mit Gabapentin oder Pregabalin) umzustellen. Nachdem für eine Fixkombination aus retardiertem Oxycodon mit Naloxon (Targin) die Wirksamkeit bei vorbehandelten Patienten mit RLS nachgewiesen wurde, erfolgte im Mai 2014 die Zulassung des Präparats für das RLS. Die dopaminerge Wirkung ist ähnlich symptomdämpfend wie bei L-Dopa und Dopaminagonisten. Die Kombination mit Naloxon soll dabei die Verstopfung (Obstipation) als typische Nebenwirkung bei Einnahme von Opioiden lindern. Eisensubstitution Sonografische, laborchemische und einzelne neuropathologische Untersuchungen zeigten einen verringerten Eisenspeicher im Gehirn von RLS-Patienten. Die dortige Eisensättigung steht in engem Zusammenhang mit derjenigen im Blut. Eine der Kenngrößen für das im Blut verfügbare Eisen ist das Transportprotein Ferritin. Tatsächlich leiden Patienten mit einem tief-normalen Ferritingehalt im Blut (< 50 ng/ml) eher an schweren RLS-Symptomen. Daher werden Laboruntersuchungen mit Bestimmung des Ferritins im Serum durchgeführt, wenn ein RLS diagnostiziert wurde. Die Gabe von Medikamenten, die die Eisenversorgung verbessern, kann hilfreich sein. Ausweichmedikationen Verschiedene Antikonvulsiva wie Gabapentin (Gabax/Neurontin etc.) oder Pregabalin (Lyrica) haben unterstützende Wirksamkeit beim RLS gezeigt. In einer 2014 durchgeführten Vergleichsstudie war Pregabalin bei RLS ähnlich gut wirksam wie der Dopaminagonist Pramipexol und zeigte eine wesentlich geringere Augmentationsrate. Es löst jedoch häufig ausgeprägte Nebenwirkungen wie Benommenheit und Somnolenz hervor. Pregabalin gilt außerdem besonders bei Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen als problematisch. Außerdem kommen weitere Antikonvulsiva (z. B. Clonazepam, Carbamazepin, Valproinsäure) und Clonidin zum Einsatz. Eine Studie weist auf die Wirksamkeit von Thalidomid hin. Einzelne Patienten berichteten über signifikante Verbesserungen der RLS-Symptomatik durch Tetrahydrocannabinol. Studien zum Thema liegen bis jetzt nicht vor. Da Cannabinoide bei dauerhafter Nutzung langfristig den Dopaminhaushalt negativ beeinflussen, ist eine eventuelle kurzfristige Wirkung kritisch zu bewerten. Nicht-medikamentöse Maßnahmen Psychotherapeutische Maßnahmen können bei der Alltagsbewältigung der Symptome und Folgen des RLS helfen. RLS-Patienten haben eine gegenüber Kontrollpersonen verminderte Hautdurchblutung. Die Anwendung von Vibrationen auf den gesamten Körper (Whole Body Vibration) 1 Woche lang täglich etwa 1/4 Stunde im Rahmen einer Studie führte nicht nur zu einer Normalisierung der Hautdurchblutung, sondern auch zur Verbesserung von RLS-typischen Beschwerden. Eine weitere Woche täglicher Vibrations-Anwendungen führte zu keiner zusätzlichen Verbesserung. Sonstiges Eine 2006 veröffentlichte Untersuchung kam zum Schluss, dass die durch erhöhte Medienpräsenz erzeugte Aufmerksamkeit für das Restless-Legs-Syndrom – vor allem auch im Rahmen der Vermarktung von Medikamenten – als ein paradigmatisches Beispiel für Disease Mongering gelten könne. Die durch Medien und Lobbygruppen erzeugte awareness beeinflusse die Diagnosefindung und Krankheitswertzuschreibung von Symptomen durch Ärzte und Patienten. Obwohl RLS eine schwerwiegende Erkrankung ist, sei die überwiegende Zahl der von Symptomen betroffenen Menschen nicht oder noch nicht dringend behandlungsbedürftig. Die mediale Präsenz der Krankheit und die Bewerbung von Medikamenten könne nach Ansicht der Autoren die Wahrscheinlichkeit für die Diagnose „RLS“ erhöhen. Eine eventuell unnötige medikamentöse Behandlung auf Kosten von Patient und Gesundheitswesen könne die Folge sein. Verwendete Literatur Klinik Lisa Klingelhoefer et al: Restless legs syndrome. In: Clin Med. (London 2016), S. 379–382. PMID 27481386 Abeera Mansur et al: Restless Legs Syndrome. StatPearls Publishing. (2021 e-Book) PMID 28613628 Shiyi Guo et al: Restless Legs Syndrome: From Pathophysiology to Clinical Diagnosis and Management. In: Front Aging Neurosci. Band 171, 2017, S. 1–14. PMID 28626420 Joannes Hallegraeff et al: Criteria in diagnosing nocturnal leg cramps: a systematic review. In: BMC Fam Pract. Band 18, Nr. 1, 28. Feb 2017, S. 29. PMID 28241802 Mauro Manconi et al: Restless legs syndrome. In: Nat Rev Dis Primers. Band 7, Nr. 1, 3. Nov 2021, S. 80. PMID 34732752 Verlauf Giuseppe Didato et al: Restless Legs Syndrome across the Lifespan: Symptoms, Pathophysiology, Management and Daily Life Impact of the Different Patterns of Disease Presentation. In: Int J Environ Res Public Health. Band 17, Nr. 10, 22. Mai 2020, S. 3658. PMID 32456058 Pädiatrie Pamela Hamilton Stubbs et al: Tools for the Assessment of Pediatric Restless Legs Syndrome. In: Front Psychiatry. Band 11, 5. Mai 2020, S. 356. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte%20der%20Berliner%20U-Bahn
Geschichte der Berliner U-Bahn
Die Geschichte der Berliner U-Bahn nahm ihren Ursprung 1880 mit einer Anregung des Unternehmers Werner Siemens, in Berlin eine Hoch- und Untergrundbahn zu bauen. In den neun Jahren nach Gründung des Deutschen Kaiserreiches war die Einwohnerzahl von Berlin um über ein Drittel angestiegen, was zunehmende Verkehrsprobleme verursachte. Anfang 1896 begann daraufhin Siemens & Halske mit dem Bau der ersten Strecke als Hochbahn. Am 1. April 1897 wurde die Gesellschaft für elektrische Hoch- und Untergrundbahnen in Berlin (Hochbahngesellschaft) gegründet, die den weiteren Bau und Betrieb übernahm und 1929 in der Berliner Verkehrs-AG aufging. Das 1938 in Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) umfirmierte Unternehmen wurde Eigenbetrieb der Stadt Berlin. Die BVG ist seit 1994 eine Anstalt des öffentlichen Rechts. Als erste Linie eröffnete die Hochbahngesellschaft am 18. Februar 1902 die Strecke zwischen Stralauer Thor und Potsdamer Platz (weitgehend die heutige Linie U1). Bereits am 15. Februar war die „Ministerfahrt“ auf der Strecke Potsdamer Platz–Zoologischer Garten–Stralauer Tor–Potsdamer Platz vorausgegangen, im Fahrgastverkehr war der Zoologische Garten aber erst ab dem 11. März erreichbar. Bis 1913 wurden vier weitere Strecken ausgeführt, ehe der Erste Weltkrieg und die in der Weimarer Republik folgende Hyperinflation zunächst den weiteren Ausbau verhinderten. Erst 1923 wurde wieder eine neue U-Bahn-Linie eingeweiht, die mit dem neu eingeführten Großprofil breitere Wagen besaß. Von 1923 bis 1931 wurden dann neue Strecken dieses Typs dem Fahrbetrieb übergeben, auch im Kleinprofil gab es noch Neueröffnungen. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden keine weiteren Bahnhöfe gebaut. Der Zweite Weltkrieg richtete im Netz der Berliner U-Bahn große Schäden an: die Luftangriffe der Alliierten zerstörten viele Stationen und gegen Ende der Schlacht um Berlin Anfang Mai 1945 wurden mit der Sprengung des Nord-Süd-Tunnels der S-Bahn neben diesem auch weite Streckenabschnitte der U-Bahn überflutet. Der Wiederaufbau des vor dem Krieg bestehenden Netzes war erst 1950 abgeschlossen. Der Bau der Berliner Mauer im August 1961 brachte neue Einschränkungen: die beiden U-Bahn-Linien C (ab 1966: Linie 6) und D (Linie 8) fuhren fortan ohne Halt durch die zu Geisterbahnhöfen gewordenen Stationen der beiden Ost-Berliner Tunnelstrecken – Ausnahme war der zum Grenzübergang ausgebaute Bahnhof Friedrichstraße (siehe auch: Tränenpalast). Die Bahnhöfe Warschauer Straße und Potsdamer Platz wurden stillgelegt. Während der U-Bahn-Bau auf West-Berliner Gebiet durch den S-Bahn-Boykott weiter voranschritt, gab es in Ost-Berlin einen Quasi-Baustopp. Lediglich der Bahnhof Tierpark (Linie E) eröffnete 1973 neu. Von 1985 bis 1989 wurde die Linie E (heute: U5) ab Tierpark oberirdisch bis Hönow verlängert. Schon zwei Tage nach dem Mauerfall konnte am 11. November 1989 der erste ehemalige Geisterbahnhof Jannowitzbrücke als Grenzübergangsstelle wiedereröffnet werden. Am 22. Dezember folgte die Station Rosenthaler Platz, am 12. April der nur von West-Berlin aus zugängliche Bahnhof Bernauer Straße, alle an der U8 gelegen. Am 1. Juli 1990 wurden schließlich auch alle anderen früheren Geisterbahnhöfe der U-Bahn wiedereröffnet. Nun war vor allem die Zusammenführung der Netze das Ziel. 1993 konnte die Linie U2 von Vinetastraße nach Ruhleben wieder durchfahren, seit 1995 fährt die Linie U1 wieder von Kreuzberg über die Oberbaumbrücke nach Friedrichshain zum Bahnhof Warschauer Straße. Danach wurden nur noch die an der Linie U2 gelegene Station Mendelssohn-Bartholdy-Park (Oktober 1998) und der kurze Abschnitt von Vinetastraße nach Pankow (September 2000) neu eröffnet. Wegen der angespannten Haushaltslage der Stadt Berlin stagniert seitdem der weitere Ausbau. Im Hauptstadtvertrag war eine Verlängerung der U5 vom Alexanderplatz nach Westen durch das Regierungsviertel vorgesehen, die 2009 zur Eröffnung der Linie U55 und 2020 zur Eröffnung der neuen Strecke über das Rote Rathaus und Unter den Linden führte. Der U-Bahn-Ausbau wird allgemein in drei Entwicklungsphasen unterteilt: bis 1913 (Aufbau des Kleinprofilnetzes in Berlin, Schöneberg, Charlottenburg, Wilmersdorf und Dahlem im Deutschen Kaiserreich) bis 1930 (Aufbau des Großprofilnetzes im Groß-Berlin der Weimarer Republik) ab 1953 (Netzausbau nach dem Zweiten Weltkrieg) Erste Bauphase Die Anfänge Die zunehmenden Verkehrsprobleme in der Millionenstadt Berlin führten Ende des 19. Jahrhunderts zur Suche nach modernen, leistungsfähigen Verkehrsmitteln. Inspiriert von Werner von Siemens’ Vorschlag, neue Wege zu gehen, entstanden zahlreiche Ideen für Hängebahnen nach dem Beispiel der Wuppertaler Schwebebahn, Hochbahnen nach New Yorker Vorbild und Röhrenbahnen wie in London. Schließlich legte Siemens den Plan für eine Hochbahn in der Friedrichstraße vor, der aber nicht die Zustimmung der Behörden fand. Auch die AEG entwickelte Projektideen, in diesem Fall für Untergrundbahnen. Doch die Berliner Stadtverwaltung wehrte sich gegen deren Bau, da sie Schäden an der gerade erst angelegten Kanalisation befürchtete. Daraufhin bemühte sich die Firma Siemens & Halske zunächst, ihre Leistungsfähigkeit an anderer Stelle zu demonstrieren. Dies gelang ihr in Budapest mit dem Bau der elektrischen Untergrundbahn Ferencz József. Den Auftrag hatte ein Konsortium von Nahverkehrsunternehmen erteilt, das sich zur Errichtung einer Schnellverbindung von der Innenstadt zum Gelände der Millenniumsausstellung gebildet hatte. Zur Lösung des Problems einer Beeinträchtigung des Stadtbildes durch eine Hochbahn hatte Siemens eine elektrische Unterpflasterbahn angeboten. Nach nur zwanzigmonatiger Bauzeit vom 13. August 1894 bis zum 2. Mai 1896 stellte Siemens & Halske die über drei Kilometer lange Strecke mit neun unterirdischen und zwei oberirdischen Bahnhöfen fertig. Der Berliner Bürgermeister Martin Kirschner befürwortete nach einem Besuch in der ungarischen Hauptstadt das Projekt von Siemens & Halskes in Berlin. Beim späteren Bau der U-Bahn konnte Siemens & Halske auf ihre Budapester Erfahrungen aufbauen. Unterdessen baute die AEG einen ersten Bahntunnel auf dem eigenen Betriebsgelände, durch den vom 31. Mai 1897 bis 1904 eine elektrische Bahn für die interne Personen- und Lastenbeförderung verkehrte. Dieser 295 Meter lange, 3,60 Meter breite und 3,15 Meter hohe unterirdische Bau gilt als erster U-Bahn-Tunnel Deutschlands. Im Ersten Weltkrieg wurde der Tunnel neben oberirdischen Standorten auf dem Werksgelände zur Produktion von Wurfminen benutzt. Im Zweiten Weltkrieg war er Luftschutzraum für die AEG-Mitarbeiter. Der Tunnel kann bei Führungen besichtigt werden. Im Dezember 1899 wurde der im Februar 1896 begonnene Spreetunnel zwischen Stralau und Treptow in Betrieb genommen. Beim Bau dieses Tunnels hatte die AEG zum ersten Mal den bergmännischen Schildvortrieb angewandt. Der Tunnel kann, auch wenn er für den Betrieb einer Straßenbahn diente, als Vorläufer der U-Bahn angesehen werden. Die aus England übernommene bergmännische Bauweise setzte sich im Folgenden jedoch nicht als Standardbauweise durch – der Konkurrent Siemens baute später Tunnel in offener Bauweise dicht unter der Straßenoberfläche. Nach vielen Jahren und Verhandlungen setzte sich Siemens schließlich mit einer Hochbahntrasse von der Warschauer Brücke über Hallesches Tor und Bülowstraße, auf großen Teilen entlang der Führung der 30 Jahre zuvor abgerissenen Berliner Zollmauer, durch. Die private Firma Siemens & Halske führte als Bauherr auch alle Bauarbeiten aus. Der erste Spatenstich erfolgte am 10. September 1896 in der Gitschiner Straße. Die Bauarbeiten mussten schnell vorangehen, denn der Konzessionsvertrag mit Berlin sah eine Vertragsstrafe von 50.000 Mark vor (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund  Euro), wenn die Strecke nicht innerhalb von zwei Jahren fertiggestellt worden wäre. Für die Hochbahn entwickelten die Ingenieure spezielle Hochbahn-Pfeiler. Da diese den Berlinern überhaupt nicht gefielen, wurde der Architekt Alfred Grenander beauftragt, eine künstlerisch akzeptable Lösung für dieses Problem vorzulegen. Grenander blieb 30 Jahre lang der Hausarchitekt der Hoch- und U-Bahn. Nach zähen Verhandlungen mit der Stadt Charlottenburg wurde beschlossen, in der Tauentzienstraße keine Hochbahn, sondern eine Unterpflasterbahn zu bauen und die Strecke bis zum Knie (dem heutigen Ernst-Reuter-Platz) zu führen. Somit konnte die Vorgabe, die Strecke bis zum 1. Januar 1900 fertigzustellen, nicht eingehalten werden. Die gerade ausgewechselte Führungsspitze des Berliner Stadtbauamtes betrachtete das Thema U-Bahn mit deutlich größerem Wohlwollen. Da die U-Bahn offensichtlich keine Schäden an der Kanalisation anrichtete, sollte eine unterirdische Abzweigung zum Potsdamer Platz entstehen. Damit war nun auch eine weitere Verlängerung in das Berliner Stadtzentrum jederzeit möglich. Die staatliche Genehmigung für die Planungsänderungen ging in einem Nachtrag am 1. November 1900 an die Hochbahngesellschaft. Das Gesamtprojekt der Hoch- und Untergrundbahn hatte im Jahr 1900 eine Länge von 10,1 Kilometern. Der größte Teil der Trasse, ungefähr acht Kilometer, sollte auf Viadukten errichtet werden und elf Hochbahnhöfe verbinden. Dazu kamen noch zwei Kilometer unterirdischer Strecke mit drei U-Bahnhöfen. Die damaligen Planer glaubten nicht, dass 8-Wagen-Züge benötigt würden, und ließen die Bahnsteige mit 80 Meter Länge errichten, was für einen 6-Wagen-Zug ausreichte. Im ersten Jahr nach der Jahrhundertwende waren sechs Kilometer Strecke fertiggestellt. Nach etwa -jähriger Bauzeit war die Stammstrecke fertig. Am 15. Februar 1902 fand die sogenannte „Ministerfahrt“ auf der Strecke Potsdamer Platz – Zoologischer Garten – Stralauer Tor – Potsdamer Platz statt. Diese hieß so, weil mehrere preußische Minister an der Eröffnungsfahrt teilnahmen, so der Minister der öffentlichen Arbeiten Karl von Thielen, der Minister des Inneren Hans von Hammerstein-Loxten, der Kriegsminister Heinrich von Goßler und der Kultusminister Heinrich Konrad von Studt. Am 18. Februar 1902 wurde die erste Teilstrecke (Stralauer Tor – Potsdamer Platz) der Berliner U-Bahn offiziell eröffnet, am 11. März die sogenannte „westliche Stammstrecke“ zum Zoologischen Garten in Betrieb genommen. Sie konnte am 14. Dezember bis zum damaligen Knie verlängert werden. Am 17. August wurde außerdem die Strecke zum Stralauer Tor um 380 Meter bis zur Warschauer Brücke verlängert. Ende 1902 gab es drei Linien: Warschauer Brücke – (Gleisdreieck –) Potsdamer Platz Warschauer Brücke – (Gleisdreieck –) Zoologischer Garten Potsdamer Platz – (Gleisdreieck –) Zoologischer Garten Die Hochbahngesellschaft war zu einem 5-Minuten-Betrieb vertraglich verpflichtet worden, den sie dadurch sicherstellte, dass jede der drei Linien im 10-Minuten-Takt befahren wurde und somit auf jedem Streckenast ein Zugabstand von fünf Minuten bestand. Verlängerung nach Westen Nach der Eröffnung der Stammstrecke entstanden weitere Pläne zur Verlängerung der drei Streckenäste: auf Charlottenburger Stadtgebiet zum Wilhelmplatz (heutiger U-Bahnhof Richard-Wagner-Platz) und in Richtung Reichskanzlerplatz (heute: U-Bahnhof Theodor-Heuss-Platz), vom Potsdamer Platz ausgehend in die Berliner Innenstadt und durch die Warschauer Straße zum Frankfurter Tor. Am schnellsten waren die Verhandlungen mit der jungen und aufstrebenden Stadt Charlottenburg abgeschlossen, da es dort sehr viel unbebautes Gelände gab, das erschlossen werden konnte. Wichtigster Verhandlungspunkt war der Bau einer Strecke zum Rathaus Charlottenburg am Wilhelmplatz. Hier hätte sich die Verlängerung entlang der Berliner Straße (heutige Otto-Suhr-Allee) angeboten, doch dort fuhr zu dieser Zeit die Berlin-Charlottenburger Straßenbahn und ein Parallelverkehr erschien nicht sinnvoll. Deshalb sollte diese Strecke unter der Bismarckstraße weiter in Richtung Westen und dann in einem Bogen zum Rathaus verlaufen. Unter dem Arbeitstitel Krumme Straße wurden zunächst die Bahnhöfe Bismarckstraße (heute: Deutsche Oper) und weiter der Endbahnhof Wilhelmplatz. geplant. Die Eröffnung der Strecke zwischen Knie (heute: Ernst-Reuter-Platz) und Wilhelmplatz fand am 14. Mai 1906 statt. Beide U-Bahn-Linien fuhren nun bis Bismarckstraße, aber nur die den Abzweig zum Potsdamer Platz befahrende Linie führte bis zum Wilhelmplatz. Während diese Strecke im Bau war, einigten sich die Hochbahngesellschaft und die Stadt Charlottenburg auf eine Linienabzweigung Richtung Westend. Daher wurde am geplanten Bahnhof Bismarckstraße eine Planungsänderung notwendig, denn hier sollte die Linie nach Westend abzweigen. Deshalb wurde der Bahnhof als erster viergleisiger U-Bahnhof Deutschlands eingerichtet. Von den beiden inneren Gleisen sollte die Strecke zum Wilhelmplatz, von den äußeren nach Westend fahren. So entstand eine ungewohnte Situation: Obwohl der kurze Abschnitt zum Charlottenburger Rathaus eigentlich als Hauptstrecke geplant war, wurde es nun die Strecke nach Westend. Da das westliche Charlottenburger Gebiet noch völlig unbebaut und damit nicht bewohnt war, konnte die Strecke in ihren Anfangsjahren keine Gewinne erbringen. Die Hochbahngesellschaft handelte deshalb mit der Stadt Charlottenburg und den anderen Grundstücksbesitzern einen Ausgleich des Streckendefizits aus: dieser Vertrag wurde am 23. Juni 1906 abgeschlossen. Für die Strecke Richtung Westen sollten folgende Bahnhöfe gebaut werden: Bismarckstraße (heute: Deutsche Oper) Sophie-Charlotte-Platz Kaiserdamm Reichskanzlerplatz (heute: Theodor-Heuss-Platz, vorläufiger Endpunkt) Am 16. März 1908 befuhr Kaiser Wilhelm II., in Anlehnung an die „Ministerfahrt“, erstmals diese Strecke. Offiziell wurde die Strecke am 29. März eingeweiht. Die zwei vorhandenen Linien führten nicht weiter bis zum Reichskanzlerplatz; vielmehr wurde eine dritte Linie eröffnet, die nur zwischen Bismarckstraße und Reichskanzlerplatz verkehrte. Wegen der deutlich erweiterten Streckenlänge entstand der Wunsch nach einer neuen Werkstatt, denn die bisherige Werkstatt in der Rudolfstraße (bzw. Warschauer Brücke) genügte nun nicht mehr. Deshalb suchte die Hochbahngesellschaft ein passendes Gelände. Da die preußische Forstverwaltung ihr Gelände des Grunewaldes gewinnbringend vermarkten wollte, trafen sich die Interessen beider Partner. Die Gesellschaft kaufte dort 14 Hektar Land, um ihre neue Betriebswerkstatt zu errichten. Gleichzeitig verpflichtete sie sich, eine Streckenverlängerung zum Bahnhof Stadion (heute: Olympia-Stadion) vorzunehmen. Dafür zahlte die Forstverwaltung einen Zuschuss von 200.000 Mark an die Hochbahngesellschaft. Es sollten hier nur Betriebs- und Gelegenheitsverkehre stattfinden, ein Linienverkehr war nicht vorgesehen. Gleichzeitig mit der Verlängerung zum Bahnhof Stadion erbaute man auf der Strecke die Station Neu-Westend im Rohbau mit, denn ein Verkehrsbedürfnis bestand damals noch nicht. Zur Eröffnung des Deutschen Stadions am 8. Juni 1913 konnte der Streckenabschnitt mit der neuen Endstation Stadion und der im Rohbau fertigen Station Neu-Westend in Betrieb gehen. Die dazugehörige Betriebswerkstatt Grunewald wurde bereits im Januar 1913 vollendet. Das für die Stromversorgung der U-Bahn errichtete nahegelegene Kraftwerk Unterspree am Wiesendamm in Ruhleben hatte schon 1911 den Betrieb aufgenommen. Die ursprünglich von Warschauer Brücke zum Frankfurter Tor geplante östliche Verlängerung der Stammstrecke wurde nicht realisiert. Die von der Hochbahngesellschaft als Vorläufer angelegte und als Straßenbahn betriebene Flachbahn vom U-Bahnhof Warschauer Brücke zum Central-Viehhof wurde 1909 von der Stadt erworben und ging am 1. Januar 1910 in den Straßenbahnen der Stadt Berlin auf. Der Weg ins Stadtzentrum Nachdem die Stammstrecke bis zum Wilhelmplatz verlängert worden war, plante die Hochbahngesellschaft, auch das Stadtzentrum Berlins an die neue U-Bahn anzubinden. Die Stadt Berlin untersagte dies jedoch erst, da sie angesichts des Erfolgs der ersten Strecke eigene Pläne für den Bau von Untergrundbahnen hatte. Doch der höchste Entscheidungsträger, der Berliner Polizeipräsident, griff ein und stimmte den Plänen zu. Die Hochbahngesellschaft plante, die neue Strecke geradlinig unter der Leipziger Straße vom Potsdamer Platz zum Spittelmarkt zu führen. Die „Große Berliner Straßenbahn“, deren Strecke durch diese Straße verlief, verhinderte mit der Androhung von Schadensersatzforderungen, gemeinsam mit der Stadt Berlin, die Realisierung dieser Pläne. Die Verhandlungspartner einigten sich schließlich auf die langfristige Streckenführung über den Spittelmarkt, Alexanderplatz und die Schönhauser Allee zum Bahnhof Nordring. Die Pläne sahen zunächst die Bahnhöfe Kaiserhof (heute: Mohrenstraße), Friedrichstraße (heute: Stadtmitte), Hausvogteiplatz und Spittelmarkt vor. Später sollte die Linie über folgende Bahnhöfe weiter verlaufen: Inselbrücke (heute: Märkisches Museum), Klosterstraße, Alexanderplatz, Schönhauser Tor (heute: Rosa-Luxemburg-Platz), Senefelderplatz, Danziger Straße (heute: Eberswalder Straße; als Hochbahnhof) und Nordring (heute: Schönhauser Allee; als Hochbahnhof). Da der Streckenabschnitt am Spittelmarkt durch die erforderliche Unterfahrung der Spree sehr aufwendig und kostenintensiv werden sollte, sahen die Pläne als Kompensation eine (preiswertere) Hochbahntrasse in der Schönhauser Allee vor. Die Bauarbeiten begannen am 15. Dezember 1905. Um eine Weiterführung zu ermöglichen, wurde der damals mit Seitenbahnsteigen versehene Bahnhof Potsdamer Platz abgerissen. Am 28. September 1907 wurde der 200 Meter entfernte neue Bahnhof Leipziger Platz (heute: Potsdamer Platz) eröffnet. Hinter dem Spittelmarkt entstand im Jahr 1908 ein gleichnamiger Bahnhof. Dieser liegt unmittelbar an der Spree, wo der Untergrund sehr morastig ist. Damit der Bahnhof nicht absackte, war eine Pfahlgründung notwendig. Zur Spree erhielt er eine Fenstergalerie, die im Zweiten Weltkrieg geschlossen wurde. Erst nach der deutschen Wiedervereinigung und der Zusammenführung der Berliner Verkehrsadern, im Jahr 2004, wurde die Galerie wieder geöffnet. Am 1. Oktober 1908 wurde die „Spittelmarktlinie“ offiziell eröffnet. Es gab nun vier verschiedene Linien, zwei davon nutzten die Neubaustrecke: Warschauer Brücke – Potsdamer Platz – Spittelmarkt Wilhelmplatz (Charlottenburg) – Wittenbergplatz – Potsdamer Platz – Spittelmarkt Die Schönhauser Allee bekommt eine Hochbahn Im März 1910 begannen die Bauarbeiten zur Verlängerung der „Spittelmarktlinie“ (jetzt auch „Centrumslinie“ genannt) in Richtung Norden. Auch hier gab es einige Herausforderungen. Hinter dem Bahnhof Spittelmarkt verläuft die Strecke am Ufer der Spree entlang. Deshalb musste ein Gefälle vorgesehen werden, um unter dem Bett des Hauptstadtflusses hindurchzukommen. Dort entstand etwa 6,5 Meter unter der Straßenoberfläche der Bahnhof Inselbrücke (heute: Märkisches Museum). Weil die Station in so großer Tiefe lag, konnte mit einem Korbbogengewölbe ein in Berlin einmaliger Bahnhof gebaut werden. Er ist neben dem U-Bahnhof Platz der Luftbrücke der einzige stützenfreie Untergrundbahnhof Berlins. Hinter dem Märkischen Museum unterquerte die Linie die Spree und schwenkte auf die Klosterstraße mit dazugehörigem Bahnhof ein. Da damals bereits Pläne existierten, eine U-Bahn-Strecke (Linie E) unter der Frankfurter Allee zu bauen, blieb in der Mitte des Bahnsteigs der Station Klosterstraße Platz für ein weiteres Gleis. Das wurde aber nicht benötigt, denn heute fährt vom Bahnhof Alexanderplatz aus die Linie U5 in Richtung Frankfurter Allee. Von der Klosterstraße ging die „Centrumslinie“ weiter bis zum Alexanderplatz. Beim Bau dieses Bahnhofs wurde darauf geachtet, dass später Umstiegsmöglichkeiten zu anderen Linien eingefügt werden konnten. Die Eröffnung der Strecke zwischen Spittelmarkt und Alexanderplatz fand am 1. Juli 1913 statt. Die Linie zwischen dem Wilhelmplatz mit dem U-Bahnhof Kaiserhof (heute: Mohrenstraße) und dem Alexanderplatz wurde schnell zur meistgenutzten Berliner U-Bahn-Linie. Im weiteren Verlauf führt diese Strecke zur Schönhauser Allee. Dort entstand der erste Bahnhof unter der heutigen Torstraße mit dem Namen Schönhauser Tor (heute: Rosa-Luxemburg-Platz). Da die Schönhauser Allee breit genug war, gab es keine Probleme beim Tunnelbau. Darauf folgte der Bahnhof Senefelderplatz. Hinter diesem steigt eine Rampe aus dem Tunnel hervor und führt zum damaligen Bahnhof Danziger Straße (heute: Eberswalder Straße). Dieser wurde – wie erwähnt – als Hochbahnhof ausgeführt, denn die Tunnelstücke am Spittelmarkt waren sehr kostenintensiv, und auf der breiten Schönhauser Allee war der Bau als Hochbahn recht günstig zu bewerkstelligen. Hinter dem Bahnhof Danziger Straße folgte ein längerer Hochbahnviadukt zur Station Nordring (heute: Schönhauser Allee). Dort wurde die bereits vorhandene Ringbahn auf dem Viadukt gekreuzt. Die heutige S-Bahn verläuft dort im Einschnitt. Damit war der vorläufige Endpunkt der Strecke erreicht. Die Erweiterung vom Alexanderplatz zum Nordring wurde schon 3½ Wochen nach Eröffnung der Strecke zum Alexanderplatz, am 27. Juli 1913, eröffnet. Die erste kommunale U-Bahn Die damals selbstständige Stadt Schöneberg plante seit 1903 den Bau einer U-Bahn zur besseren Erschließung ihres Stadtgebietes. Die Verhandlungen zwischen der Schöneberger Stadtverwaltung und der Hochbahngesellschaft führten zu keinem Ergebnis, weil die Strecke nach Ansicht der Hochbahngesellschaft keinen Gewinn versprach. Deshalb nahm Schöneberg die Angelegenheit selbst in die Hand und plante die erste kommunale U-Bahn Deutschlands. Diese U-Bahn-Linie sollte als Unterpflasterbahn vom bestehenden Hochbahnhof Nollendorfplatz bis zur Hauptstraße im Süden verlaufen. Auch eine Verlängerung nach Norden wurde nicht ausgeschlossen, sogar eine Strecke bis Weißensee erwogen. Zunächst plante man jedoch die Bahnhöfe Nollendorfplatz (als eigenen U-Bahnhof neben dem bestehenden Hochbahnhof), Viktoria-Luise-Platz, Bayerischer Platz, Stadtpark (heute: Rathaus Schöneberg) und Hauptstraße (heute: Innsbrucker Platz). Der erste Spatenstich fand am 8. Dezember 1908 bei volksfestähnlicher Stimmung der Schöneberger statt. Alle Normen wurden der bereits in Berlin bestehenden Hoch- und Untergrundbahn angepasst, um später eine direkte Anbindung an deren Strecken zu ermöglichen. Nach zwei Jahren Bauzeit konnte die Strecke am 1. Dezember 1910 eröffnet werden. Die Feierlichkeiten waren jedoch sehr zurückhaltend, da der Schöneberger Oberbürgermeister Rudolph Wilde als größter Förderer der neuen Strecke vier Wochen zuvor gestorben war. Die Schöneberger U-Bahn war anfangs vom restlichen Berliner Netz völlig getrennt und deshalb mussten für die Linie neben den Wagen auch eigene Betriebsanlagen bereitgestellt werden. Dazu gehörten ein Umformerwerk und eine kleine Werkstatt, die am südlichen Ende der Strecke gebaut wurden. Während des Zweiten Weltkriegs diente bei Luftangriffen die Werkstatt als Schutzraum. Sie ist seit dem Bau der Stadtautobahn am Innsbrucker Platz vom U-Bahn-Netz abgetrennt. Als einzige Anbindung an das restliche Berliner U-Bahn-Netz wurde ein überdachter Fußgänger-Übergang zwischen den beiden Bahnhöfen am Nollendorfplatz gebaut. Die Stadt Schöneberg war zwar Bauherr und Eigentümer der Strecke, übertrug aber den Betrieb auf die Berliner Hochbahngesellschaft. Da einen Tag vor der Eröffnung eine Tarifgemeinschaft vereinbart worden war, merkten die Fahrgäste kaum die verschiedenen Besitzverhältnisse. U-Bahn nach Dahlem und unter dem Kurfürstendamm Im Sommer 1907 schlug die Hochbahngesellschaft der jungen Stadt Wilmersdorf den Bau einer U-Bahn-Strecke durch Wilmersdorfer Gebiet vor. Vorgesehen war eine Führung bis zum Nürnberger Platz und, falls Wilmersdorf dies bezahlen würde, weiter bis zum Breitenbachplatz. Da die Gemeinde Wilmersdorf eine schlechte Verkehrsanbindung hatte, nahmen die Wilmersdorfer Stadtväter diesen Vorschlag erfreut auf. Auch hatte die königliche Domäne Dahlem, die südlich von Wilmersdorf lag und noch unbebaut war, großes Interesse an einer U-Bahn-Verbindung. Diese wollte die projektierte Linie vom Breitenbachplatz weiter bis zum Thielplatz bauen. Nun ergab sich jedoch ein großes Problem. Die zukünftige Strecke würde teilweise über Charlottenburger Gebiet verlaufen. Und diese damals selbstständige Stadt sah in der ebenfalls unabhängigen Stadt Wilmersdorf einen großen Konkurrenten bei der Ansiedlung finanzstarker Steuerzahler. Es wurden langwierige Verhandlungen geführt, bis sich schließlich im Sommer 1910 ein Vorschlag durchsetzte: Neben der bereits geplanten sollte eine weitere Linie unter dem Kurfürstendamm mit einem Endbahnhof an der Uhlandstraße gebaut werden. Im Sommer 1910 begannen die Arbeiten. Folgende Bahnhöfe waren neu zu bauen: Wittenbergplatz (Umbau/Erweiterung) Nürnberger Platz (1959 geschlossen und durch den U-Bahnhof Spichernstraße ersetzt) Hohenzollernplatz Fehrbelliner Platz Heidelberger Platz Rüdesheimer Platz Breitenbachplatz (ursprünglich als Rastatter Platz geplant) Podbielskiallee Dahlem-Dorf Thielplatz (vorläufiger Endbahnhof) sowie auf der Charlottenburger Linie: Uhlandstraße Der 1902 eröffnete Bahnhof Wittenbergplatz, der mit nur zwei Seitenbahnsteigen ausgerüstet war, musste umfassend erweitert werden. Es entstand nun ein Bahnhof mit fünf Gleisen, ein sechstes wurde vorbereitet und eine Vorhalle gebaut. Die Städte Wilmersdorf und Charlottenburg legten viele Vorschläge vor. Schließlich empfahl der Königliche Polizeipräsident aber die Idee des Hausarchitekten der Hochbahngesellschaft, Alfred Grenander. Die Bahnhöfe auf dem Wilmersdorfer Gebiet erhielten eine pompöse Ausgestaltung, denn die Gemeinde hatte Geld und wollte dies auch zeigen. Heute kann man das noch vor allem an den Bahnhöfen Hohenzollernplatz, Fehrbelliner Platz, Heidelberger Platz, Rüdesheimer Platz und Breitenbachplatz sehen. Am Bahnhof Heidelberger Platz musste der S-Bahn-Ring sehr tief unterquert werden, deshalb gab es hier die Möglichkeit, die Station kathedralenartig auszugestalten. Dieser Bahnhof wird in einigen U-Bahn-Büchern sogar mit Moskauer Metrobahnhöfen verglichen. Hinter dem Breitenbachplatz erreichte die Strecke die Domäne Dahlem. Da es dort nur lockere beziehungsweise keine Bebauung gab, gelang es, die Strecke im Einschnitt verlaufen zu lassen. Die Architekten gestalteten die Eingangshäuser besonders aufwendig, weil die Bahnsteige nicht übermäßig auszuschmücken waren. Die zusätzliche Linie zur Uhlandstraße, die Charlottenburg im Verhandlungspoker gewonnen hatte, besaß nur eine neue Station. Die Strecke zweigt am Wittenbergplatz ab und führt unter dem Kurfürstendamm zum U-Bahnhof Uhlandstraße. Geplant war eine spätere Verlängerung nach Halensee, jedoch bekam die Linie erst 1961 mit dem Bau der Linie U9 einen weiteren Bahnhof, den U-Bahnhof Kurfürstendamm. Beide Strecken, sowohl die zum Thielplatz als auch die zur Uhlandstraße, eröffnete die Hochbahngesellschaft am 12. Oktober 1913. Zusammen waren sie etwa zehn Kilometer lang. Dies war die letzte U-Bahn-Eröffnung in Berlin vor dem Ersten Weltkrieg, der am 1. August 1914 begann. Erst zehn Jahre später sollte das nächste neue Stück U-Bahn eröffnet werden. Das neue Gleisdreieck Das Gleisdreieck, das die Hauptstrecke zwischen Warschauer Brücke und Zoologischem Garten mit der Zweigstrecke zum Potsdamer Platz verband, bildete einen beträchtlichen Gefahrenpunkt. Diese Abzweigung wurde nur durch Signale gesichert, sodass ein unaufmerksamer Zugfahrer reichte, um eine Katastrophe auszulösen. Am 26. September 1908 geschah solch ein Unglück. Ein U-Bahn-Zug fuhr einem anderen Zug in die Flanke und drückte zwei Wagen aus dem Gleis. Einer der Wagen stürzte dabei vom Viadukt. 21 Fahrgäste kamen ums Leben. In der Folge wurde ein Umbau des Gleisdreiecks angeordnet. Im Mai 1912 begannen die Bauarbeiten. Statt eines Dreiecks war jetzt eine kreuzförmige Anlage mit einem Turmbahnhof geplant, der dennoch Gleisdreieck genannt wurde. Nur noch für betriebliche Fahrten gibt es noch ein Verbindungsgleis zwischen beiden Strecken. Der Umbau erfolgte grundsätzlich bei vollem Betrieb, wobei verschiedene Verbindungen kurzzeitig eingestellt werden mussten. Am 3. November 1912 wurde der neue Bahnhof Gleisdreieck eröffnet, die Bauarbeiten dauerten aber noch bis August 1913 an. Zweite Bauphase Überblick Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sollte das Liniennetz wiederum erweitert werden. Bislang bestand das Netz der Hochbahn überwiegend aus Ost-West-Strecken, die hauptsächlich durch die Wohngebiete der Besserverdienenden (Charlottenburg, Schöneberg, Wilmersdorf) führten. Die Stadt Berlin beabsichtigte, auch die Wohngebiete der Arbeiter (Neukölln, Wedding) durch neue U-Bahn-Strecken in Nord-Süd-Richtung zu erschließen. Daran zeigt sich allerdings der Interessensunterschied zwischen der privaten Hochbahngesellschaft, die vor allem rentable Strecken bauen wollte, und der Stadt Berlin, die eher kommunale Aufgaben im Sinn hatte. Etwas anderes rückte außerdem in den Vordergrund: In den ersten Jahren der Hoch- und Untergrundbahn war es noch nötig, mit den einzelnen Gemeinden und Städten über Verträge zu verhandeln. Schon früh wollte man den Raum Berlin verwaltungstechnisch zusammenfassen, denn die Gemeinden waren sowieso schon so sehr aneinander gewachsen, dass ein Fahrgast das Überschreiten einer „Grenze“ üblicherweise nicht bemerkte. Bereits 1912 wurde der Zweckverband Groß-Berlin gegründet, meistens nur „Zweckverband“ genannt. Dieser übernahm bereits alle Pflichten und Rechte bezüglich der Planung, Erbauung und Ausführung der schienengebundenen Verkehrsmittel. Das hatte aber noch keine Auswirkung auf die U-Bahn. Mit dem Groß-Berlin-Gesetz wurden dann 1920 fast alle umliegenden Gemeinden mit der Stadtgemeinde Berlin zu Groß-Berlin zusammengefasst. Die Nord-Süd-Bahn Bereits um 1901 besaß die Stadt Berlin Pläne für eine Untergrundbahn unter der Friedrichstraße von Nord nach Süd. Werner von Siemens hatte Pläne für eine parallele Linie unter der Nobelstraße. Auch deshalb verweigerte die Stadt Berlin dem Unternehmen Siemens die Zustimmung für eine Nord-Süd-Linie und baute die U-Bahn, die damit in kommunaler Hand blieb, selbst. Die Bauarbeiten für die Nord-Süd-Linie von Wedding bis Tempelhof mit Abzweig nach Neukölln wurden durch den Ersten Weltkrieg erschwert und im Verlauf des Krieges eingestellt. Im Jahr 1919 begannen die Bauarbeiten wieder, doch wurde 1921 in der Zeit der Hyperinflation aus Geldmangel sogar erwogen, die bereits vorhandenen Tunnel zuzuschütten. Dennoch wurden die Bauarbeiten stückweise fortgesetzt und so konnte schließlich am 30. Januar 1923 – noch vor Einführung der Rentenmark – der erste Tunnelabschnitt zwischen Hallesches Tor und Stettiner Bahnhof (heute: Naturkundemuseum) doch noch eröffnet werden. Eine weitere Teilstrecke der U-Bahn wurde am 8. März zwischen Stettiner Bahnhof und Seestraße in Betrieb genommen. Eine Betriebswerkstatt kam am Bahnhof Seestraße hinzu. Da die Stadt Berlin sehr sparsam sein musste, wurde auf jegliche Verschönerung der Bahnhofswände verzichtet. Der Fahrgast sieht nur einfachen Putz. An der Ecke Mohren-/Friedrichstraße kam es zur ersten Kreuzung zweier U-Bahn-Linien (Nord-Süd-Bahn (Linie C) und die Stammstrecke Linie A). Doch die Stadt Berlin baute 160 Meter weiter einen eigenen U-Bahnhof mit dem Namen Leipziger Straße (heute: Stadtmitte), auch deshalb, weil das Turmbahnhofsprinzip noch nicht verbreitet war. So müssen noch heute die Fahrgäste beim Umsteigen zwischen den beiden Linien durch einen langen Tunnel gehen, der von den Berlinern „Mäusetunnel“ genannt wird. Der Abzweigungsbahnhof an der Belle-Alliance-Straße (heute: Mehringdamm) wurde als dreigleisiger Bahnhof Belle-Alliance-Straße in Betrieb genommen. Vom östlichen Mittelbahnsteig fuhren die Züge aus Neukölln und Tempelhof in Richtung Innenstadt, der westliche Seitenbahnsteig diente dem Verkehr in Richtung Süden. Der Bahnhof wurde in den 1960er Jahren im Zuge des Baus der heutigen U7 vollkommen umgestaltet und heißt jetzt Mehringdamm. Zuerst wurde der Streckenast nach Neukölln (Linie CI) gebaut. Dieser verläuft direkt unter der Gneisenaustraße. Am Hermannplatz entstand der erste unterirdische Turmbahnhof Berlins, denn hier sollte, so sahen es die Pläne vor, eine weitere Nord-Süd-Linie gekreuzt werden (Linie D, heute: U8). Die neue Linie befuhr den unteren Bahnsteig, die andere sollte über dieser fahren. Da am Hermannplatz von 1927 bis 1929 Berlins erstes Karstadt-Warenhaus entstand und dessen Geschäftsführung in den U-Bahn-Fahrgästen neues Kundenpotenzial sah, finanzierte das Unternehmen den Bau des Bahnhofs Hermannplatz, der als Gegenleistung einen direkten Zugang zum neuen Warenhaus erhielt. Die Station gilt als eine der prächtigsten in Berlin. Der Streckenast nach Neukölln wurde in verschiedenen Abschnitten in Betrieb genommen: Hallesches Tor – Gneisenaustraße (19. April 1924) Gneisenaustraße – Hasenheide (14. Dezember 1924) Hasenheide – Bergstraße (11. April 1926) Bergstraße – Grenzallee (21. Dezember 1930) Die Arbeiten für den Streckenast der Linie CII Richtung Tempelhof begannen ebenfalls 1924. Am 14. Februar 1926 konnte der erste Abschnitt Belle-Alliance-Straße – Kreuzberg (heute: U-Bahnhof Platz der Luftbrücke) eröffnet werden. Ein Jahr später ging es zum Bahnhof Flughafen (heute: Paradestraße). Östlich der Strecke war von 1923 bis 2008 der Flughafen Tempelhof in Betrieb. Zwischen 1927 und 1929 wurde die Strecke von der Station Flughafen zum Bahnhof Tempelhof gebaut. Dieser erhielt ein gemeinsames Zugangsbauwerk mit der U-Bahn, die am 22. Dezember 1929 bis Tempelhof eröffnet wurde. Da der U-Bahnhof sehr tief unter der Ringbahn gebaut werden musste, ergab sich die Möglichkeit einer großzügigen Halle. Doch das auffälligste an der neuen U-Bahn-Linie waren die Tunnelanlagen beziehungsweise die Züge. Aus den Erfahrungen der konkurrierenden Hochbahngesellschaft lernend, wurde ein größeres Tunnelprofil, das Großprofil gewählt. Das Lichtraumprofil der Tunnel ist für die breiteren Züge größer angelegt. Diese fahren zwar auch auf normalspurigem Gleis, doch liegt ihre Wagenkastenbreite bei 2,65 Meter (Kleinprofil: 2,35 Meter). Der Grund dafür war, dass die Stadt Berlin meinte, größere Züge würden eine wesentlich größere Kapazität haben. Damals betrachtete der Betreiber eine Bahnsteiglänge von 80 Meter (bei einer damaligen Wagenlänge von 13 Meter) als ausreichend. Dies erwies sich später als falsch. Die Konsequenz war, dass die Bahnsteige in den 1950er beziehungsweise 1990er Jahren verlängert werden mussten. Waren die finanziellen Mittel für die Bauarbeiten schon sehr knapp, fehlten diese beim Wagenmaterial vollkommen. Deshalb wurde 1922 ein Vertrag mit der Hochbahngesellschaft geschlossen, der vorsah, dass diese die Linie verwalten und mit ihren Zügen betreiben sollte. So kam es zur eigenartigen Situation, dass Kleinprofilzüge beim Großprofil fuhren. Wegen der nun unterschiedlichen Wagenbreite mussten an den Seiten Ausgleichshölzer angebracht werden, die im Volksmund „Blumenbretter“ genannt wurden. Von Gesundbrunnen nach Neukölln – die GN-Bahn Wie schon erwähnt, hatte auch die AEG sowohl Untergrund- als auch Hochbahnpläne vorgestellt. Manche davon waren schon sehr gewagt, andere waren durchaus realistisch. Schließlich legte AEG 1907 einen Plan für eine Nord-Süd-U-Bahn von Gesundbrunnen nach Neukölln vor. Die Verhandlungen mit Berlin waren sehr zäh, bis sich schließlich die beiden Parteien 1912 auf einen Vertrag einigen konnten. Denn es drohte der bereits erwähnte Zweckverband, der das U-Bahn-Projekt nicht akzeptieren wollte. In dem Vertrag wurde der ungefähre Streckenverlauf sowohl mit U-Bahn- als auch mit Hochbahn-Abschnitten festgelegt. Die Linie sollte als Hochbahn in der Schwedenstraße beginnen, dann weiter über die Badstraße und die Brunnenstraße und weiter zum Humboldthain verlaufen. Dann sollte die Linie als U-Bahn über die Brunnen-, Rosenthaler- und die Münzstraße weiter zum Alexanderplatz führen. Durch die Litten-, Brücken- und Neander- und Dresdener Straße sollte die U-Bahn zur Kottbusser Straße gehen. Außerdem gab es eine Festlegung darauf, dass die neue Linie im Großprofil gebaut werden sollte. Der Bau begann 1912. Ähnlich wie Siemens & Halske die Hochbahngesellschaft, hatte auch die AEG mit der AEG-Schnellbahn-AG eine Tochterfirma gegründet. Diese führte alle Bauarbeiten aus. Doch bis zum Ersten Weltkrieg wurden nur wenige Tunnelabschnitte fertiggestellt, unter anderem die Unterführung der Spree an der Jannowitzbrücke. Schließlich war die wirtschaftliche Lage der AEG so schwierig, dass sie im Oktober 1919 alle Bauarbeiten einstellte. Darauf klagte die Stadt Berlin erfolgreich gegen die AEG. Schließlich musste die AEG-Schnellbahn-AG liquidiert werden. Die Stadt Berlin erhielt nun alle bereits gebauten Tunnelabschnitte. Berlin wollte die Linie in Eigenregie fertigbauen, war aber noch an die Bauarbeiten zur ersten Nord-Süd-U-Bahn gebunden. Erst 1926 konnten die Bauarbeiten an der GN-Bahn (nach den beiden Ortsteilendpunkten Gesundbrunnen und Neukölln) fortgesetzt werden. Der Wechsel des Bauherrn hatte Vorteile für Berlin, denn man korrigierte einige Abschnitte, zum Beispiel den nördlichen Hochbahnabschnitt, der ganz wegfiel, und den Verlauf zwischen Alexanderplatz und Jannowitzbrücke sowie Moritzplatz und Kottbusser Tor. Zuerst begannen die Bauarbeiten im südlichen Bereich der GN-Bahn, sodass am 17. Juli 1927 zwischen Boddinstraße und Schönleinstraße der Betrieb aufgenommen werden konnte. Zwischen diesen Stationen lag auch der bereits erwähnte U-Bahnhof Hermannplatz, an dem die Fahrgäste zum ersten Mal zwischen zwei verschiedenen Großprofillinien umsteigen konnten. Dabei berücksichtigten die Projektanten vorsorglich, dass im Zuge des Nord-Süd-U-Bahn-Baus auch ein Überführungsgleis zwischen beiden Linien benötigt wurde. Dann fingen die Bauarbeiten weiter nördlich an. Am U-Bahnhof Kottbusser Tor wurde der bereits erbaute Hochbahnhof verschoben, um eine günstige Umsteigesituation zu schaffen. Der Betrieb der Stammstrecke erfolgte über Holzviadukte weiter. Nun lag es nahe, die Linie weiter über die Dresdener Straße zur Neanderstraße (heute: Heinrich-Heine-Straße) verlaufen zu lassen. Doch hatte der Wertheim-Konzern den Vorteil einer U-Bahn-Anbindung auch erkannt (ähnlich wie Karstadt am Hermannplatz) und so bezahlte dieser fünf Millionen Mark für eine Planänderung. Die GN-Bahn sollte nun zum Moritzplatz schwenken und dann eine scharfe Kurve zur Neanderstraße machen. Am U-Bahnhof Moritzplatz gab es einen direkten Zugang zu dem im Zweiten Weltkrieg zerstörten Wertheim-Kaufhaus. Darauf folgte die Linie der Neanderstraße und endete vorläufig am gleichnamigen Bahnhof (heute: U-Bahnhof Heinrich-Heine-Straße). Die Strecke Schönleinstraße – Neanderstraße wurde am 6. April 1928 eröffnet. Ein Jahr später im August 1929 wurde südlich des Bahnhofs Boddinstraße noch eine weitere Station eröffnet, der Bahnhof Leinestraße. Hinter dem Bahnhof Neanderstraße folgte die nun bereits erbaute Spreeunterführung. Da diese aber korrigiert werden musste und die Jannowitzbrücke sowieso schlechten Zustandes war, wurde eine ganz neue Brücke mit Unterquerung gebaut. Der alte Tunnel (auch „Waisentunnel“ genannt) wurde später für ein Betriebsgleis zwischen der U2 und U8 verwendet. Am Alexanderplatz zog sich der U-Bahn-Bau lange hin, denn die Situation wurde für eine gänzliche Umgestaltung des Platzes genutzt. Es mussten einige Gebäude abgerissen werden, darunter das Haus mit den 99 Schafsköpfen. Auch wurden, wie bereits erwähnt, einige Korrekturen am Streckenverlauf vorgenommen, und somit die GN-Bahn wesentlich besser in den öffentlichen Nahverkehr integriert. Am Alexanderplatz erbaute man einen für damalige Zeiten riesigen Umsteigebahnhof für U-Bahn, S-Bahn, Straßenbahn und Omnibus. Damals entstand auch die sogenannte „Mutter aller unterirdischen Ladenpassagen“. Heute wirkt sie im Vergleich zum Beispiel zur Passage An der Hauptwache in Frankfurt am Main eher bescheiden. Auf einer Karte erkennt man den Bahnhof Alexanderplatz als „H“. Den östlichen Schenkel des „H“ bildet der schon 1913 eröffnete U-Bahnhof der heutigen U2, den westlichen Schenkel der damals erbaute Bahnhof der GN-Bahn (heute: U8). Das Mittelstück bildet das Ende der damals schon in Bau befindlichen U-Bahn-Strecke unter der Frankfurter Allee (heute: U5). Hier wurden zwei parallele Bahnsteige mit insgesamt vier Gleisen erbaut: Die beiden inneren Gleise für die heutige U5 und die beiden äußeren für eine geplante Linie vom Potsdamer Platz nach Weißensee. Im weiteren Verlauf gab es keine großen Hindernisse mehr, größtenteils waren bereits errichtete Tunnel der AEG-Schnellbahn-AG vorhanden. Am 18. April 1930 wurde der Abschnitt Neanderstraße – Gesundbrunnen eröffnet. Der Linienbetrieb wurde wie schon bei der anderen Großprofillinie auf die Hochbahngesellschaft übertragen. Der Hochbahnvertrag Die Schaffung einer einheitlichen Stadtverwaltung für Groß-Berlin im Jahr 1920 schwächte die Position der privaten Hochbahngesellschaft, die nur noch einen einzigen Verhandlungspartner hatte. Die Stadt Berlin konnte nun in den Verhandlungen erheblichen Druck auf die Hochbahngesellschaft ausüben, zumal die Stadt bereits einen großen Teil des Straßenbahn- und Omnibus-Netzes besaß und deshalb sehr gut mit der U-Bahn konkurrieren konnte. Deshalb wurde am 10. Juli 1926 der Hochbahnvertrag geschlossen. Dieser sah vor, dass sich die Stadt Berlin mit gewaltigen aktienrechtlichen Transaktionen das Bestimmungsrecht über das gesamte U-Bahn-Netz einverleibte. Da die Hochbahngesellschaft einer ungewissen Zukunft entgegenblickte, stimmten auch die Hochbahnaktionäre für den Vertrag. Schließlich wurden alle Nahverkehrsmittel mit Ausnahme der S-Bahn am 1. Januar 1929 zur „Berliner Verkehrs Aktiengesellschaft“ zusammengeschlossen. Das dazugehörige Kürzel „BVG“ wird auch heute noch genutzt, obwohl es nun „Berliner Verkehrsbetriebe“ heißt. Letzte Eröffnungen im Kleinprofil In den Jahren der Weimarer Republik wurde das Kleinprofil-Netz nur geringfügig erweitert. So gab es seit dem 22. Mai 1922 regelmäßigen Zugverkehr zum Stadion, und auch der bereits im Rohbau errichtete Bahnhof Neu-Westend konnte endlich seiner Bestimmung übergeben werden. Mit der Fertigstellung des neuen Bahnhofs Gleisdreieck konnte am 24. Oktober 1926 auch die „Entlastungsstrecke“ vom Gleisdreieck über Kurfürstenstraße zum Nollendorfplatz eröffnet werden. Der sparsam ausgestaltete U-Bahnhof Kurfürstenstraße zeugt von der schwierigen Finanzlage der damaligen Zeit. Im Zusammenhang mit dem Bau der Entlastungsstrecke sollte auch der U-Bahnhof Nollendorfplatz umfassend umgebaut und umgestaltet werden, da die Schöneberger U-Bahn immer noch autark betrieben wurde, obwohl sie bereits seit 1920 Eigentum der Stadt Berlin war. Der erweiterte Bahnhof Nollendorfplatz wurde gemeinsam mit der Entlastungsstrecke eröffnet. Er besitzt seitdem zwei unterirdische Bahnsteige, die direkt übereinander liegen und identisch aussehen. Oben befindet sich der Bahnsteig der Züge zum Innsbrucker Platz (U4) sowie der Züge, die in Richtung Warschauer Straße fahren (U1). Unten fahren die Züge in Richtung Uhlandstraße (U1) bzw. Krumme Lanke (U3). Nollendorfplatz ist somit ein Bahnhof mit Richtungsverkehr, bei dem die Bahnsteige übereinander liegen. Der Hochbahnhof der heutigen U2 blieb völlig unverändert. Die imposante Kuppel wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und erst zum 100-jährigen U-Bahn-Jubiläum 2002 vereinfacht in Profilform wiedererrichtet. Die sogenannte „Stammlinie“ von Nordring zum Stadion sollte in beide Richtungen um jeweils eine Station verlängert werden. Im Norden entstand 1930 der Bahnhof Pankow (heute: Vinetastraße). Für dessen Bau gab es vor allem einen Grund: Die Züge am Bahnhof Nordring (heute: Schönhauser Allee) fuhren so oft, dass eine Zugwende auf dem Viadukt nicht möglich war. Es war wesentlich einfacher, die Züge im Untergrund zu kehren. Eine weiter geplante Verlängerung bis zur Breiten Straße in Pankow und zum S-Bahnhof Pankow kam nicht mehr zustande, erst 1997 wurde hier weitergebaut. Von Anfang an war eine Verlängerung der Stammlinie bis nach Spandau beabsichtigt, die jedoch wegen der sehr teuren Havelquerung nicht gebaut wurde. Zur besseren Anbindung des Spandauer Straßenbahnnetzes begannen im Sommer 1928 die Bauarbeiten für eine Verlängerung zum zukünftigen Bahnhof Ruhleben. Diese Strecke verkehrte auf Dammlage und wurde am 22. Dezember 1929 eröffnet. Die Station besitzt keine Kehrgleise, sodass die Züge direkt am Bahnsteig enden und wieder zurückfahren. Zwar gibt es Planungen, die U2 eines Tages bis zum Rathaus Spandau zu verlängern. Doch gibt es dafür keinen erkennbaren Bedarf, nachdem 1984 die U7 bis Spandau geführt wurde, das zudem seit 1998 auch wieder von der Spandauer Vorortbahn bedient wird. Im Süden der Wilmersdorfer-Dahlemer-Bahn sah es nicht gerade günstig für eine Verlängerung aus. Die Strecke war hoch defizitär, ab Breitenbachplatz fuhr sogar nur ein sogenannter „Solowagen“ (ein Waggon) bis zum Endbahnhof Thielplatz. Die Stadt Berlin sträubte sich sehr dagegen, diese Strecke von der Domäne Dahlem beziehungsweise dem preußischen Finanzministerium zu übernehmen. Doch 1926 verbesserte sich die Situation erheblich. Der preußische Staat wollte die Strecke Berlin unentgeltlich und schuldenfrei übergeben. Gleichzeitig bot der Sommerfeld-Konzern, der große, noch zu bebauende Gebiete im Berliner Süden besaß, kostenloses Gelände und eine Baukostenübernahme für eine Verlängerung bis Krumme Lanke. Somit bekam Berlin faktisch drei Kilometer U-Bahn geschenkt. Die Strecke sollte diese ebenfalls im Einschnitt befindlichen Bahnhöfe haben: Oskar-Helene-Heim Onkel Toms Hütte Krumme Lanke (vorläufiger Endpunkt) Der Abschnitt ging am 22. Dezember 1929 in Betrieb. Der auch heute noch so benannte Bahnhof Onkel Toms Hütte erhielt diesen nach einem in der Nähe liegenden Lokal. Der Bahnhof Krumme Lanke erhielt ein sehr sachliches Eingangsgebäude, das eines der späten Werke Alfred Grenanders ist. 1988 kam es zum Abriss des baufälligen Gebäudes, 1989 wurde es originalgetreu wiedererrichtet. Der Endbahnhof der heutigen Linie U3 ist nach dem in der Nähe liegenden See Krumme Lanke benannt. Eine Verlängerung der Linie um eine Station zum S-Bahnhof Mexikoplatz ist möglich, um die U-Bahn an die Wannseebahn anzubinden. Die zu erwartende Nachfrage wird allerdings als relativ gering eingeschätzt. Die U-Bahn unter der Frankfurter Allee Für eine Linie unter der Frankfurter Allee gab es bereits sehr früh Pläne. Wie erwähnt, wollte auch die Hochbahngesellschaft unter dieser belebten Straße eine Kleinprofil-Strecke bauen, extra dafür wurde der schon erbaute, heute auf der U2 befindliche, Bahnhof Klosterstraße ausgebaut. Die Hochbahngesellschaft bemühte sich schon seit 1908 um eine Konzession für diese Strecke, die sie 1914 auch erhielt. Doch dann kam der Erste Weltkrieg, der den weiteren U-Bahn-Bau verhinderte. Nach dem Krieg sollten jedoch alle neuen Linien im Großprofil eingerichtet werden, außerdem schien es nicht angebracht, eine weitere Zweiglinie von der Stammstrecke zu bauen. Deshalb wurden am Bahnhof Alexanderplatz bereits bei der Fertigstellung der GN-Bahn (U8) zwei Bahnsteige für die Linie zur Frankfurter Allee und für eine weitere noch nicht realisierte Strecke nach Weißensee eingerichtet. Die Hochbahngesellschaft besaß weiterhin die Konzession für ihre Pläne, die sie 1927 verlängern ließ. Doch wie bereits beschrieben, gehörte das gesamte U-Bahn-Netz bereits der Stadt Berlin, sodass das Kuriosum eintrat, dass die Hochbahngesellschaft erstmals eine Großprofil-Strecke baute. Die Bauarbeiten begannen im Mai 1927. Es sollten folgende Bahnhöfe gebaut werden: Alexanderplatz (teilweise bereits vorhanden) Schillingstraße Strausberger Platz Memeler Straße (heute: Weberwiese) Petersburger Straße (heute: Frankfurter Tor) Samariterstraße Frankfurter Allee (Übergang zur S-Bahn) Magdalenenstraße Lichtenberg (Übergang zur Reichsbahn) Friedrichsfelde (vorläufiger Endpunkt; Anbindung an neue Betriebswerkstatt) Die Bauarbeiten unter der Frankfurter Allee gelangen ohne größeren Aufwand. Die Bahnhöfe lagen genau unter der Straße, sodass Verteilergeschosse errichtet wurden. Am bereits bestehenden Bahnhof Frankfurter Allee gab es gleichzeitig mit dem U-Bahn-Bau eine Erneuerung der Eisenbahnbrücke. Der vorläufige Endbahnhof Friedrichsfelde war nicht aus einem bestimmten Verkehrsbedürfnis entstanden, sondern diente lediglich als Endpunkt dieser Strecke. In dem damals noch unbebauten Gebiet entstand ein Unterpflasterbahnhof, und es wurde gleichzeitig eine neue Betriebswerkstatt für die neue U-Bahn-Strecke erbaut. Diese war die erste im Osten der Stadt. Am 21. Dezember 1930 wurde die Linie unter der Frankfurter Allee mit zehn Bahnhöfen und sieben Kilometern Länge vollständig eröffnet. Ende der zweiten Bauphase In den letzten Jahren der Weimarer Republik wurden noch die Nord-Süd-U-Bahn verlängert und die Linie E unter der Frankfurter Allee eröffnet. Das Netz erreichte eine Streckenlänge von 76 Kilometern. 1931 wurden 265,5 Millionen Fahrgäste befördert. Während der Weltwirtschaftskrise fehlte der Stadt das Geld für den Neubau weiterer U-Bahn-Strecken. In den 1930er Jahren wurde vorrangig an der neuen unterirdischen Nord-Süd-S-Bahn gebaut. Außerdem erhielten die einzelnen U-Bahn-Strecken Linienbezeichnungen, wie bei Omnibus und Straßenbahn schon lange üblich. Bisher wurden diese Strecken immer nur nach den Planungsnamen benannt, zum Beispiel „GN-Bahn“ oder „Nord-Süd-Bahn“. Doch schon bei den letzten Eröffnungen ergaben sich immer mehr sprachliche Probleme, zum Beispiel „Wilmersdorfer-Dahlemer-Bahn“. Ende der 1920er Jahre wurden die Bezeichnungen aus Buchstaben und römischen Ziffern endlich eingeführt. Diese setzten sich jedoch nur nach und nach durch. Die Berliner U-Bahn zur Zeit des Nationalsozialismus Neue politische Situation Nachdem Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt worden war, griffen die Nationalsozialisten in alle Bereiche des Lebens ein. Ob Politik, Bildung, Gesundheit oder Verkehr – es gab allgemein tiefgreifende Veränderungen. So fanden diese auch bei der U-Bahn statt. Zum 1. Dezember 1933 wurde der U-Bahn-Bereich der BVG völlig umstrukturiert in Bauplanung/Bauerhaltung, Stromversorgung, Materialbeschaffung und Wagenunterhaltung. Am 24. April 1933 wurde der Reichskanzlerplatz zusammen mit dem gleichnamigen Bahnhof (heute: Theodor-Heuss-Platz) in Adolf-Hitler-Platz umbenannt. Der Bahnhof Schönhauser Tor (heute: Rosa-Luxemburg-Platz) wurde zur Station Horst-Wessel-Platz. Diesen Namen trug der Bülowplatz ab dem 1. Mai 1934. Damals war es üblich, dass in allen Bahnhöfen die Nationalflagge (Hakenkreuz auf rotem Untergrund) hing. Nach Kriegsende wurden die alten Namen zunächst wieder verwendet. Große Pläne für Berlin Die geplante riesige neue Reichshauptstadt Deutschlands (geplanter Name: „Germania“) sollte eine Einwohnerzahl von zehn Millionen erreichen. Dafür war auch eine erhebliche Erweiterung des U-Bahn-Netzes vorgesehen. Zahlreiche U-Bahn-Linien sollten neu gebaut oder verlängert werden. Die meisten Pläne konzipierte der neue Generalbauinspektor Albert Speer. Geplant war neben dem bereits bestehenden S-Bahn-Ring eine Berliner „Circle-Line“. Diese sollte alle damals bestehenden Linien kreuzen und etwa 30 Bahnhöfe haben. Auch sollte es verschiedene Linien nach Spandau, Gatow, Kladow, Lichterfelde, Marienfelde, Weißensee, Karlshorst und Lankwitz geben. Teile dieser Linie verwirklichte der Senat später mit dem Bau der U7. Der U-Bahn-Bau ruhte aber ab 1930, weil der Bau der neuen unterirdischen Nord-Süd-S-Bahn und des Olympiastadions vorrangig ausgeführt wurde. Erst im Sommer 1938 fanden erste Bauarbeiten am Reichskanzlerplatz, am Reichstag und am Tempelhofer Damm statt. Es kam jedoch nicht zu einer Verlängerung des U-Bahn-Netzes. Olympische Spiele Am 13. Mai 1931 verkündete das Internationale Olympische Komitee, dass die XI. Olympischen Sommerspiele vom 1. bis 16. August 1936 in Berlin ausgetragen werden sollten. Das Deutsche Stadion auf dem Reichssportfeld wurde zugunsten eines neuen Olympiastadions abgerissen; in Döberitz entstand für die Teilnehmer das Olympische Dorf. Da ein hohes Verkehrsaufkommen nur für einen geringen Zeitraum zu erwarten war, entschloss man sich, keine neuen Strecken zu bauen, sondern die Verkehrsströme mit der S-Bahn (Spandauer Vorortbahn) und der U-Bahn-Linie A (heute: U2) zu bewältigen. Es erfolgten jedoch Bauarbeiten an den einzelnen Bahnhöfen: So wurde der U-Bahnhof Reichssportfeld am neuen Stadion mit drei Gleisen und einem neuen Empfangsgebäude ausgebaut. Der S-Bahnhof Olympiastadion (bis 1935: Stadion – Rennbahn Grunewald) bekam vier zusätzliche Bahnsteige mit acht dort endenden Gleisen. Auch heute wird dieser Service von Fußball-Fans genutzt. Der zusätzliche Personalbedarf während der Spiele wurde durch eine 46-Stunden-Woche und viele Überstunden ausgeglichen. 1937 wurde die Arbeitszeit auf 48 Arbeitsstunden pro Woche erhöht. Kriegszerstörungen Bereits vor dem Anfang des Zweiten Weltkriegs gab es merkliche Veränderungen bei der U-Bahn. So wurden die Messingtürgriffe durch Holz ersetzt. Ebenso wurden die gusseisernen Bremsklötze bei den Kleinprofilwagen gegen Holz ausgetauscht. Außerdem verschwanden die BVG-Liniennetzpläne, die annähernd genau Berlin darstellten. Nachdem am 1. September 1939 die Nationalsozialisten den Zweiten Weltkrieg begonnen hatten, erfolgte sofort der Befehl zur Verdunkelung. So durfte auf den offenen Strecken der U-Bahn abends und nachts kein Licht mehr brennen. Zur besseren Orientierung für die Fahrgäste wurden die Bahnsteigkanten, heute längst üblich, mit weißer Farbe angestrichen. Auch wurden vor den Signallampen Verdunkelungsscheiben eingesetzt. Am 29. August 1940 traf die erste Bombe den U-Bahn-Tunnel am Kottbusser Tor. Da die Bombe aber ein Blindgänger war, richtete sie nur geringen Sachschaden an. Infolgedessen wies die Reichsregierung an, dass in einigen U-Bahnhöfen Luftschutzräume eingerichtet werden sollten. Dies geschah an den Bahnhöfen Alexanderplatz, Ruhleben, Friedrichstraße, Gesundbrunnen, Gleisdreieck, Hermannplatz, Moritzplatz, Nollendorfplatz und Seestraße, im Waisentunnel, im Eisacktunnel, im ungenutzten Tunnel unter der Dresdener Straße sowie am teilweise noch im Rohbau befindlichen U-Bahnhof Hermannstraße. – Die Bunker in den Bahnhöfen Alexanderplatz, Gesundbrunnen, Hermannstraße und im Waisentunnel sind erhalten und können besichtigt werden. Eine weitere Folge des Krieges war, dass die meisten Kraftfahrzeuge, auch Omnibusse, eingezogen wurden. Damit waren die Berliner auf die schienengebundenen Verkehrsmittel, also S-Bahn, U-Bahn und Straßenbahn, angewiesen. So stiegen die Fahrgastzahlen drastisch an. Die S-Bahn beförderte im Jahr 1942 etwa 700 Millionen Fahrgäste, die U-Bahn etwa 405 Millionen. Dies war ein neuer Rekord bei beiden Verkehrsmitteln. Doch beförderten diese nun nicht mehr nur Personen, auch der Güterverkehr verlagerte sich auch auf die Schiene. Transportiert wurden nun auch Lebensmittel, Papier und Zeitungen, Maschinenteile sowie die Post. In den folgenden Jahren nahmen die alliierten Luftangriffe mit den damit resultierenden Bombenschäden immer weiter zu. Erst wurden auf den Liniennetzen die Strecken gekennzeichnet, die nicht befahren wurden. Später wurden nur noch diejenigen markiert, auf denen überhaupt noch Züge fuhren. Der schlimmste Tag für die U-Bahn war der 3. Februar 1945: 27 Volltreffer auf Bahnhöfe und Anlagen wurden registriert. Die Tunneldecke am Bahnhof Halleschen Tor wurde von einer Bombe durchschlagen, es starben 43 Menschen. Der Bahnhof Bayerischer Platz, an dem sich gerade zwei Züge befanden, wurde von mehreren Bomben zerstört, wobei 63 Menschen ums Leben kamen. Ebenfalls Treffer erlitt der nördliche Teil des Bahnhofs Moritzplatz, in dem 36 Personen umkamen. Das schrecklichste Ereignis geschah jedoch am Bahnhof Memeler Straße (heute: Weberwiese), wo durch mehrere gleichzeitig fallende Bomben etwa 200 Menschen den Tod fanden. Obwohl es einer reinen Sisyphos-Arbeit glich, versuchten die Bautrupps, jeden Schaden wieder zu beheben. Es galt, den Betrieb so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, ob nun als Pendelverkehr oder mit Umsteigen von Station zu Station. Nach und nach wurden jedoch die Schäden so groß, dass auf vielen Abschnitten ein Betrieb nicht mehr möglich war und der Verkehr gänzlich zum Erliegen kam. Darüber hinaus wurden Teile der U-Bahn-Tunnel umgewidmet. So wurden zum Beispiel der Bahnhof Grenzallee und der angrenzende Tunnelabschnitt stillgelegt und an ein Rüstungsunternehmen vermietet. Schließlich meldeten die Nachrichten am 25. April 1945, dass das BVG-eigene Elektrizitätswerk Unterspree in Ruhleben beschossen wurde. Dieses stellte etwa um 18 Uhr die Stromversorgung ein. An diesem Tag fuhren lediglich auf zwei Strecken Züge im Pendelverkehr: Wittenbergplatz bis Kaiserdamm und von Kaiserdamm bis Ruhleben. Auch diese konnte nun nicht mehr betrieben werden. Der Verkehr ruhte nun in ganz Berlin. Die U-Bahn unter Wasser Kurz vor Ende der Schlacht um Berlin verursachten Truppen der SS einen der größten Schäden für das Berliner Nahverkehrsnetz: Am 2. Mai 1945 sprengten sie zwischen den Stationen Anhalter Bahnhof und Yorckstraße (Großgörschenstraße) der S-Bahn die Tunneldecke der Nord-Süd-Bahn. Die Angaben zu Datum und Verursachung gelten seit der Nachkriegszeit als umstritten. Das Wasser des Landwehrkanals ergoss sich in den S-Bahn-Tunnel und lief am Bahnhof Friedrichstraße über den erst ein paar Jahre zuvor eröffneten Übergang auch in den Tunnel der Nord-Süd-U-Bahn (Linie U6) bis hinter die Stationen Wedding im Norden und Belle-Alliance-Straße (heute: Mehringdamm) im Süden. Vom damaligen U-Bahnhof Leipziger Straße (heute: Stadtmitte) der Nord-Süd-U-Bahn lief das Wasser über die Strecke der Linie A (heute: U2) zum Bahnhof Alexanderplatz und von dort in den Tunnel der Linie D (GN-Linie, heute: U8) bis hinter die Station Rosenthaler Platz. Auch die Linie E (heute: U5) unter der Frankfurter Allee stand bis zum Bahnhof Samariterstraße unter Wasser. Von insgesamt 63,3 Tunnelkilometern der U-Bahn waren rund 19,8 Kilometer von über einer Million Kubikmetern Wasser überflutet. Bezogen auf das Gesamtnetz war fast ein Viertel der Strecken betroffen. Am Bahnhof Potsdamer Platz war der Wasserhöchststand noch bis zur Sanierung nach 1989 zu erkennen. Jahre der Spaltung Wiederaufbau Mit Inkrafttreten der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endete in Europa der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945. Die Schadensbilanz für die Berliner U-Bahn war beträchtlich: Insgesamt wurden 437 Schadensstellen gezählt, sowie 496 beschädigte Fahrzeuge. 144 Volltreffer auf unterirdische, 33 auf oberirdische Strecken. Am schwersten hatte es die Frankfurter-Allee-Linie (heute: U5) und die Schöneberger U-Bahn (heute: U4) getroffen. Aber auch andere Streckenteile waren zerstört: zwischen Stadtmitte und Hallesches Tor (heute: U6), von Stadtmitte bis Gleisdreieck und vom Nollendorfplatz zum Bahnhof Zoo (beide: U2). Zu den zahlreichen Bombentreffern kamen aber auch noch die Wassermassen des Landwehrkanals hinzu. Etwa ein Drittel aller Strecken und 26 Bahnhöfe waren überflutet. Es wurden insgesamt etwa 400 Opfer bei der Berliner U-Bahn angenommen. Das Ausmaß der Schäden war für heutige Zeiten unvorstellbar. Dennoch resignierten die Berliner nicht, sondern engagierten sich bei Schadensbeseitigung und Reparatur, sodass der Wiederaufbau bis 1950 bewerkstelligt war. Es gab auch immer wieder Verzögerungen, vor allem beim Auspumpen der überfluteten Tunnel, denn oft fehlte der nötige Treibstoff. Doch bereits am 14. Mai 1945 konnten aufgrund eines noch funktionsfähigen Unterwerkes zwei Streckenteile im eingleisigen Pendelbetrieb eröffnet werden. Die ersten U-Bahn-Züge fuhren zwischen Hermannplatz und Bergstraße (Teil der heutigen U7) sowie zwischen Boddinstraße und Schönleinstraße (Teil der heutigen U8). In den nächsten Wochen und Monaten konnten immer weitere neue Streckenstücke wiedereröffnet werden, sodass am 16. Juni 1945 die gesamte Linie D (heute: U8) wieder im Umlaufbetrieb befahren werden konnte. Die Bahnhöfe Adolf-Hitler-Platz und Horst-Wessel-Platz wurden wieder umbenannt. Man schraubte einfach die vorhandenen Schilder ab, darunter kamen die ursprünglichen Namen Reichskanzlerplatz und Schönhauser Tor wieder zum Vorschein. Ende 1945 waren bereits 69,5 Kilometer Streckenlänge und 93 U-Bahnhöfe wieder befahrbar, etwa 91,6 Prozent des damaligen Netzes. Da die Bahnhöfe Stadtpark (heute: Rathaus Schöneberg), Kaiserhof (heute: Mohrenstraße) und Hausvogteiplatz total zerstört waren, verzichtete man vorerst auf deren Eröffnung und die Züge fuhren dort einfach durch. Der Bahnhof Osthafen wurde aufgrund der Nähe zur Station Warschauer Brücke (heute: Warschauer Straße) als einziger Berliner U-Bahnhof nicht wieder aufgebaut. Die Spreeunterfahrung zwischen den Bahnhöfen Märkisches Museum und Klosterstraße bereitete große Schwierigkeiten. Zuerst konnte nur ein provisorisch hergestelltes Gleis befahren werden. Am 17. November 1946 konnte das zweite Gleis eröffnet werden. Das letzte Stück U-Bahn konnte am 27. April 1947 zwischen Gleisdreieck und Hallesches Tor (heute: U1) wiedereröffnet werden. Und am 18. August 1950 konnte die letzte noch nicht wiederhergestellte Station Mohrenstraße nun mit dem neuen Namen Thälmannplatz in Betrieb gehen. Der Fahrzeugmangel war in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein großes Problem und konnte nur schrittweise behoben werden. Grund hierfür war einerseits der am 11. Juli 1945 eingegangene Befehl der sowjetischen Besatzer, dass 120 C-Wagen aus der Betriebswerkstatt Friedrichsfelde beschlagnahmt werden sollten. Der Protest der BVG war vergeblich. Die eingezogenen U-Bahn-Züge verrichteten nun in Moskau ihren Dienst, zwischen 1949 und 1966 fuhren die Berliner C-Wagen nun auf der Moskauer Filjowskaja-Linie. Andererseits dezimierte aber auch ein Brand in der Abstellanlage Tempelhof den Wagenbestand weiter. Somit standen für die Linie E (Frankfurter Allee-Linie) sehr wenige Großprofil-Fahrzeuge zur Verfügung. Deshalb mussten vorhandene Kleinprofil-Fahrzeuge, wie schon in den 1920er Jahren, mit zusätzlich angebrachten Holzbrettern (auch „Blumenbretter“ genannt) auf dieser Großprofil-Linie fahren. Spaltung der BVG Nachdem die Westalliierten beschlossen hatten, am 20. Juni 1948 in den Westzonen eine Währungsreform durchzuführen, reagierte die UdSSR und tat selbiges in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, einschließlich des Gebietes von Berlin. Daraufhin beschloss der Magistrat die Einführung der Westmark auch in Berlin, die aber nur in den Westsektoren verwirklicht werden konnte. Als Antwort riegelten die Sowjets ab dem 24. Juni mit der Berlin-Blockade die Transitwege zwischen Westdeutschland und den Westsektoren ab und unterbanden deren Stromversorgung aus dem Umland und dem Ostsektor. Die Straßen-, Bahn- und Schiffsverbindungen waren dagegen nicht blockiert. Am 26. Juni befahl der amerikanische General Lucius D. Clay die Einrichtung der Berliner Luftbrücke zur Versorgung der Westsektoren. Diese bestand bis zur Wiederfreigabe der Transitwege durch die Sowjets am 12. Mai 1949. Ab dem 9. Juli 1948 18 Uhr musste die U-Bahn in den Westsektoren den Betrieb aus Strommangel einstellen, weil die West-Berliner Kraftwerke nicht genug Strom produzieren konnten. In Ost-Berlin wurden alle Strecken befahren. Auch auf den späteren Transitlinien (Linie C, später: U6; Linie D, später: U8) fuhren Züge. Dieses Ereignis belastete die BVG neben der sich gerade vollziehenden Teilung Berlins erheblich. Der Sitz der BVG war seit 1945 in der Potsdamer Straße. Um die Trennung beider Stadthälften zu verhindern, wurde in der Stralauer Straße im Ostsektor ein Kontaktbüro eingerichtet. Der damalige Leiter war Wilhelm Knapp, und so wurde das Büro nur noch das „Büro Knapp“ genannt. Dies war die De-facto-Spaltung der BVG. Ab dem 19. September 1949 nannte sich das „Büro Knapp“ nun „BVG-Ost“. So wurde die Trennung des stadteigenen Betriebs auch de jure vollzogen. Für die BVG-Ost entstand dadurch ein großes Problem: Die Wartung der Kleinprofil-Fahrzeuge. Denn alle Kleinprofil-Werkstätten befanden sich in West-Berlin (Bw Grunewald und Bw Krumme Lanke). Die Fahrzeuge mussten fortan per Tieflader zur Großprofil-Werkstatt Friedrichsfelde gebracht werden. Um dieses Problem zu beseitigen, beschloss die BVG-Ost, einen Tunnel von der Linie A (heute: U2) zur Linie E (heute: U5) zu bauen. Die Bauarbeiten begannen 1951 und konnten rechtzeitig zum 50-jährigen U-Bahn-Jubiläum 1952 fertiggestellt werden. Durch den ersten Nachkriegs-Tunnelneubau in Berlin wurden die eigentlich zum Wiederaufbau vorgesehenen Reste des Grauen Klosters stark beschädigt. Die betriebsinterne Strecke wurde „Klostertunnel“ genannt. Dritte Bauphase 200-Kilometer-Plan, Richtlinien und neue Verkehrspolitik Da Berlin zu weiten Teilen zerstört war, gab es die große Chance, einige Strecken neu- oder umzubauen. Erste Vorschläge zielten darauf ab, die Hochbahnviadukte zu entfernen, denn diese wurden teilweise als hässlich, immer noch störend und ärgerlich empfunden. Der damalige Stadtrat für Verkehrsfragen, Ernst Reuter, lehnte dies jedoch ab: Erstens seien diese Viadukte nun schon so alt, dass eine Gewöhnung eingetreten sei, an der man nicht rühren sollte; zweitens aber sollte man, wenn man schon viel Geld für U-Bahn ausgeben wolle, damit lieber neue U-Bahn-Strecken bauen, die der Bevölkerung auch neue Verkehrsverbindungen bringen würden. Da dies nun vom Tisch war, wurde ein Plan für die Erweiterung des U-Bahn-Netzes vorgelegt: Der Plan wurde von 1953 bis 1955 entworfen und wurde alle paar Jahre an die aktuelle Situation angepasst. Das Ziel war, das Berliner U-Bahn-Netz auf 200 Kilometer Länge zu verlängern. Daher stammt auch der Name 200-Kilometer-Plan. Dieser Plan ist heute auch insofern noch gültig, da er in den Berliner Flächennutzungsplan eingegangen ist. Das Besondere damals war, dass der Plan sich ausschließlich an den Pendlerströmen und nicht an den damaligen Grenzen orientierte. Höchste Priorität im 200-Kilometer-Plan besaß der Ausbau der Linie C nach Tegel und Mariendorf. Deshalb wurden diese Streckenabschnitte auch zuerst gebaut. Neben dem 200-Kilometer-Plan wurden auch die Richtlinien für den Bau von U-Bahnen beschlossen. Die neue Verkehrspolitik sah vor, dass die U-Bahn und der Autobus die zwei wichtigsten Verkehrsmittel werden würden, während die Straßenbahn durch jene ersetzt werden sollte. Dieser Beschluss stand nicht von Anfang fest, er kristallisierte sich erst nach und nach heraus. Es begann mit einer Bestellung neuer Straßenbahnwagen und Autobusse, die inzwischen dringend benötigt wurden und für deren Finanzierung ein Kredit über zwölf Millionen Mark (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund  Millionen Euro) für den Kauf von 40 Straßenbahnwagen und 20 Autobussen beantragt wurde. An der Spitze der BVG wurden immer mehr Bedenken geäußert, denn einmal seien die Tests für den neuen Straßenbahntyp nicht erfolgversprechend verlaufen und zweitens wies man auf andere europäische Metropolen, in denen die Straßenbahnen ebenfalls eingestellt wurden. Die Straßenbahn wurde als überflüssig betrachtet, da Berlin zu jener Zeit bereits ein gutes Basis-U-Bahn-Netz besaß. Der damals stark wachsende Oberflächenverkehr würde die Straßenbahn (die damals meist ohne eigenen Gleiskörper fuhr) nur behindern. Diesem Problem könne man nur mit Tunnelstrecken entgegenwirken. Aufgrund dieser Argumente wurde der Kredit schließlich umgewandelt und mit Zustimmung des Berliner Senats für den Kauf von 120 Doppeldeckerbussen verwendet. Dies war zwar kein direkter Beschluss zur Abschaffung der Straßenbahn, doch war dies die logische Konsequenz daraus, wenn der Wagenpark nicht erneuert werden würde. In den Richtlinien für den Bau von U-Bahnen wurde beschlossen, dass es zukünftig keine Linienverzweigungen, die es damals noch sehr häufig gab, geben sollte. Die Richtlinien gingen auch ausführlich darauf ein, wie die Bahnhöfe auszusehen haben, welche Geometrie die Tunnel haben, und dass Neubaustrecken nur noch im Großprofil gebaut werden sollten. Außerdem wurde festgelegt, dass in Zukunft bevorzugt Turmbahnhöfe oder Richtungsbahnsteige erbaut werden sollten. T- oder L-förmige Umsteigebahnhöfe sollten, wenn möglich, vermieden werden. Die Netze trennen sich Die Gründung der DDR löste bei den Berlinern eine große Unsicherheit aus. Viele West-Berliner mieden den Ostteil der Stadt und so bildeten sich neue Verkehrsströme, die den Ostsektor umfuhren. Anfang 1953 stellte die BVG auf den letzten Bahnhöfen in den Westsektoren Lautsprecher auf, die vor der Durchquerung des sowjetischen Sektors warnten (Beispiel: „Kochstraße, letzter Bahnhof im Westsektor“). Vor oder hinter diesen Bahnhöfen wurden Weichen eingebaut, um die Züge gegebenenfalls dort wenden zu lassen. Außerdem gestaltete die West-Berliner BVG den Fahrplan so, dass gleichzeitig eine U-Bahn Richtung Osten fuhr und ein anderer Zug wieder zurückkehrte. Somit würde der Westen bei Zwischenfällen nur wenige Fahrzeuge an den Osten verlieren. Dies bewährte sich im Juni des Jahres 1953, als Ost-Berliner Arbeiter mit Protest auf die Erhöhung der Arbeitsnorm reagierten. Im Laufe des 17. Juni 1953 entwickelte sich ein Generalstreik. Die BVG-Ost und die Deutsche Reichsbahn stellten gegen etwa 11 Uhr den Betrieb der U-Bahn beziehungsweise der S-Bahn ein. Die Westzüge wendeten nun über die vorbereiteten Wendeanlagen. Insgesamt verlor die West-Berliner BVG aufgrund des durchdachten Fahrplans nur 18 Züge. Die BVG (West) legte auch den Nordabschnitt der Linie D mit den Bahnhöfen Voltastraße und Gesundbrunnen still, da dieser ohne Netzverbindung verkehrstechnisch unbedeutend war. Wenige Tage später normalisierte sich die Lage wieder. Nun fuhren auch die S- und U-Bahnen in Ost-Berlin wieder. Als Folge des Aufstandes vom 17. Juni wurde eine neue Linienführung von Krumme Lanke nach Kottbusser Tor eingerichtet. Außerdem fuhr die Schöneberger U-Bahn jetzt nur noch bis Nollendorfplatz, nicht wie vorher bis Warschauer Brücke. Die erste neue U-Bahn-Strecke nach Tegel Als die Linie C in den 1920er Jahren gebaut wurde, wurde deren Verlängerung nach Tegel fest eingeplant. Nun konnten diese Pläne endlich verwirklicht werden. 1929 waren bereits 400 Meter Tunnel dafür entstanden. Da in Berlin seit gut 20 Jahren keine Tunnel mehr gebaut wurden, mussten die U-Bahn-Bauer praktisch bei Null anfangen. Die Strecke vom bereits bestehenden Bahnhof Seestraße zum Zentrum des Ortsteils Tegel sollte keine schweren Hindernisse haben und mit dem Bau konnten auch einige Autobus- und Straßenbahnlinien eingestellt werden. So entschied man sich für diese Strecke als ersten Nachkriegsneubau im Westteil der Stadt. Der erste Rammschlag fand am 26. Oktober 1953 in der Müllerstraße nördlich des Bahnhofs Seestraße statt. Die 6,9 Kilometer lange Strecke sollte in zwei Abschnitten gebaut werden: Seestraße – Kurt-Schumacher-Platz und Kurt-Schumacher-Platz – Tegel. Aus Kostengründen wählte man nördlich des Bahnhofs Kurt-Schumacher-Platz eine Dammbahn, denn der sehr hohe Grundwasserstand sprach gegen eine Einschnittbahn. Hinter jenem genannten Bahnhof steigt eine Rampe bis zum 15 Meter hohen Damm auf und erreicht den ersten Großprofildammbahnhof Scharnweberstraße. Hinter dem Bahnhof Holzhauser Straße geht die Strecke wieder in den Untergrund und folgt der wichtigen Berliner Straße bis ins Tegeler Zentrum. Die Bahnhöfe wurden im Stil der Vorkriegszeit sehr sachlich mit hellen pastellfarbenen Keramikfliesen ausgestaltet. Die Dammbahnhöfe wurden aus dem damals sehr beliebten Spannbeton gebaut. Diese erscheinen heute nur noch sehr wuchtig und strahlen nicht den Flair der Vorortbahnhöfe, wie zum Beispiel auf der südlichen U3, aus. Der erste Abschnitt wurde am 23. April 1956, der zweite am 31. Mai 1958 eröffnet. Mit der Eröffnung der Linie C erfolgte eine weitgreifende Umstrukturierung des nördlichen BVG-Netzes. Dabei wurden auch zahlreiche Straßenbahnlinien in diesem Bereich stillgelegt. Die neue Linie G – von Steglitz bis zum Wedding Wie schon erwähnt, fixierten sich die West-Berliner nun auf Busse und Straßenbahnen, die den Ostsektor umfuhren. Außerdem brauchten die bevölkerungsreichen Bezirke Steglitz, Wedding und Reinickendorf eine Schnellbahnverbindung zum damals neu entstandenen West-Zentrum um den Zoologischen Garten. Diesen Verkehrsbedürfnissen konnte man jedoch nicht mit Streckenverlängerungen gerecht werden, sodass ein Neubau nötig wurde. Deshalb konzipierte man nach dem damals geltenden Buchstabenkonzept eine neue Linie G (heute: U9). Sie sollte von der Osloer Straße (Gesundbrunnen) über Moabit, das Zentrum am Zoo und Kurfürstendamm, die Bundesallee und die Schloßstraße zum Rathaus Steglitz am Hermann-Ehlers-Platz geführt werden. Diese Linie war nun bereits die dritte Nord-Süd-Linie, nach den Linien C (U6) und D (U8). Der erste Rammschlag für den Bau der neuen Linie erfolgte am 23. Juni 1955 im Großen Tiergarten. Diese U-Bahn-Strecke musste vier U-Bahn-Linien (heutige Linien U1, U2, U3 und U6), zwei S-Bahn-Strecken (Ring- und Stadtbahn) sowie drei Wasserläufe (Spree, Landwehrkanal und Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal) unterqueren. So fuhren 1960 für sechs Monate die Züge der Linie C (heute: U6) ohne Halt an der Station Leopoldplatz durch. In dem Zeitraum wurden der alte Mittelbahnsteig abgerissen und für die Linie C zwei neue Seitenbahnsteige erbaut. Direkt darunter erhielt die Linie G einen Mittelbahnsteig. Außerdem kam ein Betriebsgleis zur Haupt- und Betriebswerkstatt Seestraße dazu. Südlich des Leopoldplatzes folgt die Strecke der Luxemburger- und Putlitzstraße. Hier waren nun einige der erwähnten Hindernisse zu unterqueren: Der Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal, die Ringbahn und ein sehr massiver Häuserblock. Diese Herausforderungen wurden erfolgreich gemeistert. Das nächste große Hindernis war das neue West-Zentrum um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, den Kurfürstendamm und den Bahnhof Zoo. Außerdem fuhr hier die stark benutzte Linie A (Stammlinie, heute: U2) zwischen Ruhleben und Pankow (Vinetastraße), deren Betrieb nicht gestört werden durfte. Am Kurfürstendamm, wo sich bereits die heutige U1 mit der Endhaltestelle Uhlandstraße befand, war der Tunnelbau wesentlich einfacher. Diese Kleinprofilstrecke als Teil der Linie B wurde vorübergehend stillgelegt und an der Kreuzung mit der Joachimsthaler Straße entstand der neue Umsteigebahnhof Kurfürstendamm. Diese Situation wiederholte sich am vorläufigen Endpunkt der Linie G in der Bundesallee. Da es dort an der Querung mit der heutigen Linie U3 im Bereich Bundesallee/Spichernstraße keinen Bahnhof gab, wurde der neue Umsteigebahnhof Spichernstraße erbaut und Mitte 1959 der nahe gelegene Bahnhof Nürnberger Platz der U3 geschlossen. Jetzt war jedoch der Abstand von 1106 Metern zwischen den Stationen Wittenbergplatz und Spichernstraße nicht mehr akzeptabel, sodass als Ersatz der neue Bahnhof Augsburger Straße gebaut wurde. Diese beiden U-Bahn-Stationen erhielten Seitenbahnsteige, um den Eingriff in die vorhandene Substanz so gering wie möglich zu halten. Sie wurden am 2. Juni 1959 (Spichernstraße) beziehungsweise am 8. Mai 1961 (Augsburger Straße) eröffnet. Alle neu erbauten Stationen orientierten sich sehr am Vorbild Grenanders. Sie folgten dem Stil der Neuen Sachlichkeit, die vom damaligen U-Bahn-Architekten Bruno Grimmek ausgeführt wurde. Letztendlich wurden diese Bahnhöfe erweitert bzw. neu gebaut: Leopoldplatz (Erweiterung) Amrumer Straße Putlitzstraße (heute: Westhafen, später mit Übergang zur Ringbahn) Birkenstraße Turmstraße Hansaplatz Zoologischer Garten (Erweiterung, Übergang zur U2 und zur Stadtbahn) Kurfürstendamm (Übergang zur U1) Spichernstraße (Übergang zur U3) Augsburger Straße (auf der Linie U3) Die Linie G sollte am 2. September 1961 in Betrieb genommen werden. Doch bereits am 13. August befahl die DDR-Regierung den Bau der Mauer. Deshalb wurde der Eröffnungstermin auf den 28. August vorverlegt, was die Notwendigkeit dieser neuen U-Bahn-Linie bewies. Mauerbau 1961 befahl der SED-Generalsekretär Walter Ulbricht den Bau der Berliner Mauer rund um West-Berlin. Der damalige Innenminister Karl Maron ließ im Punkt 3 des Befehls 003/61, auch als „Maron-Befehl“ bekannt, folgendes verkünden: Durch diesen Beschluss wurden die Bahnhöfe der Linien C und D im Ostsektor zu sogenannten „Geisterbahnhöfen“. Die Umsteigemöglichkeiten an den Bahnhöfen Alexanderplatz und Stadtmitte wurden zugemauert. Die BVG ließ ihre Züge jedoch nicht wie von Karl Maron geplant am Potsdamer Platz kehren, sondern bereits eine Station zuvor am Gleisdreieck. Dort hatte man als Vorsichtsmaßnahme Anfang der 1950er Jahre die Kehrgleise eingebaut. So benutzte die BVG-Ost den Bahnhof Potsdamer Platz nach Absprache mit der West-BVG als Kehranlage. Mit diesem Beschluss waren die letzten gemeinsamen Berliner Verkehrsmittel, U-Bahn und S-Bahn, getrennt, denn die Straßenbahn fuhr bereits seit 1953 (Anlass war, dass die West-Berliner Polizei Straßenbahn-Züge mit Fahrerinnen stoppte) und die Omnibusse schon lange nicht mehr über die Sektorengrenze. Die Folge des 13. August 1961 war, dass in West-Berlin zu einem S-Bahn-Boykott für die von der Deutschen Reichsbahn betriebenen Strecken aufgerufen wurde. Es skandierten nicht selten die Sprüche: „Der S-Bahn-Fahrer zahlt den Stacheldraht“ oder „Keinen Pfennig mehr für Ulbricht“. So fuhren die Berliner mehr mit U-Bahn, Bus und – wenn noch vorhanden – mit der Straßenbahn. Für die Nutzung der beiden Nord-Süd-Strecken, auf deren „Geisterbahnhöfen“ die Züge nur langsam durchfahren konnten und deren Bahnsteige lange Zeit von bewaffneten „Grenzorganen“ bewacht wurden, zahlte der West-Berliner Senat jährlich 20 Millionen Mark an die DDR. U-Bahn-Bau bis Rudow Im Süden West-Berlins wurden zwei riesige neue Wohnsiedlungen mit dem Namen Britz und Britz-Buckow-Rudow (BBR), die heutige Gropiusstadt, errichtet. Für diese Großprojekte sollte auch eine möglichst gute Schnellbahnverbindung ins West-Berliner Zentrum erbaut werden. Dafür sah man die Linie CI vor, die künftig als eigene Linie betrieben werden sollte. Die Strecke von 6,2 Kilometer Länge wurde in drei Abschnitten in Richtung Süden gebaut. Grenzallee – Britz-Süd (1963), Britz-Süd – Zwickauer Damm (1970) und Zwickauer Damm – Rudow (1972). Der erste Rammschlag für die Verlängerung fand am 2. November 1959 in der Nähe des damaligen Endbahnhofs Grenzallee statt. Damals diskutierte man heftig, ob die Linie im Süden nicht als Damm- oder Einschnittbahn angelegt werden sollte. Die Planer, besonders Professor Walter Gropius, und die BVG wehrten dies ab mit der Begründung, dass so die Siedlung geteilt werden würde, was nicht das Ziel wäre. Die Strecke folgt der Buschkrugallee unter dem Teltowkanal hindurch, schwenkt unter die Fritz-Reuter-Allee und unterfährt diese bis zum U-Bahnhof Britz-Süd. Dort wurde beim U-Bahn-Bau auch die erste Halle der neuen Betriebswerkstatt Britz-Süd errichtet, denn diese war nun durch die Verlängerungen und die dafür beschafften Fahrzeuge nötig geworden. Die Linie war direkt mit dem Siedlungsbau Britz-Buckow-Rudow verbunden; so waren keine Straßen zu unterqueren, da diese ja erst später gebaut werden mussten. Eine weitere Folge war, dass die Ausgänge nun günstig gelegt werden konnten und keine Verteilergeschosse vorzusehen waren. Einziges bauliches Hindernis auf dieser Strecke war der Teltowkanal, der aber gut gemeistert werden konnte. Die Ausgestaltung der Bahnhöfe bis Britz-Süd übernahm nun Werner Düttmann, nachdem Bruno Grimmek seine Arbeit bei der U-Bahn beendete. Düttmann arbeitete vor allem mit kleinteiligen und rechteckigen Fliesen. Ab Johannisthaler Chaussee war der Architekt Rainer Gerhard Rümmler für die Stationen zuständig. Dieser verwendete wiederum größere Keramikfliesen, gestaltete die Bahnhöfe jedoch dunkler als die bisherigen Berliner Bahnhöfe. Rümmler war für alle neu zu bauenden Berliner U-Bahnhöfe bis 1998 zuständig. Linie C bis nach Mariendorf Schon seit dem Bau der Linie C (heute: U6) war es geplant, diese Linie bis nach Alt-Mariendorf zu verlängern. Auch die Nationalsozialisten planten diese Linie bis zur Mariendorfer Trabrennbahn zu bauen. Nun, da das Geld aus dem Bundeshaushalt reichlich zur Verfügung stand, konnte die lang ersehnte Verlängerung erbaut werden. Dennoch diskutierte man oft über die Kosten, es wurde zum Beispiel vorgeschlagen die Strecke neben dem Tempelhofer beziehungsweise Mariendorfer Damm als Einschnittbahn zu bauen. Die BVG wehrte sich dagegen mit der Begründung, dass man ja das Tempelhofer Rathaus und die wichtige Einkaufsstraße anbinden wolle und dies nur mit einer unterirdischen Linie möglich wäre. Der erste Rammschlag für die 3,5 Kilometer lange Strecke fand am 6. März 1961 statt. Eröffnet wurde sie bis zum U-Bahnhof Alt-Mariendorf am 28. Februar 1966. Die Strecke folgt vom S- und U-Bahnhof Tempelhof geradlinig Richtung Süden dem Tempelhofer Damm und trifft dann auf den Teltowkanal. Ähnlich wie beim Bau der heutigen Linie U7 in Richtung Rudow war auch hier dieses Gewässer das größte Problem auf der Strecke. Da es generell weit kostengünstiger ist, eine Brücke zu bauen als einen Tunnel, die U-Bahn aber unter den Straßen Tempelhofer Damm bzw. Mariendorfer Damm verlaufen sollte, wählte man hierzu eine Doppelstockbrücke, bei der die U-Bahn unten fährt und oben die Straße verläuft. Im östlichen Teil der heutigen Stubenrauchbrücke befindet sich sogar noch ein Teil des U-Bahnhofs Ullsteinstraße. Da aber für die Schiffe die Durchfahrtshöhe von 4,6 Metern eingehalten werden musste, erbaute man für die Straße Rampen. Die Straßenebene lag durch diese Konstruktion 1,2 Meter über dem ursprünglichen Niveau. Südlich des Teltowkanals folgt die U-Bahn dem Mariendorfer Damm bis zum Endbahnhof Alt-Mariendorf, der an der Kreuzung der Reißeckstraße bzw. Friedenstraße mit dem Mariendorfer Damm errichtet wurde. Von diesem Ort führen heute zahlreiche Buslinien in die locker bebaute Umgebung, die eine U-Bahn-Linie nicht unbedingt rechtfertigt. Mit diesem Ausbau war die heutige Linie U6 vollendet. Weitere Ausbauten sind heute nicht mehr geplant. Abgesehen vom Bahnhof Alt-Tempelhof wurden alle Bahnhöfe vom senatsangestellten Architekten Rainer Gerhard Rümmler gestaltet. Genauso wie bei der südlichen U7 verwendete er hier große rechteckige Keramikfliesen. Bei Fahrgästen sind diese Bahnhöfe nicht sehr beliebt, denn sie sind recht dunkel gehalten. Außerdem bedürfen die Bahnhöfe inzwischen einer dringenden Sanierung. Der Tierpark bekommt eine U-Bahn Schon seit langem wurde eine Verlängerung der Linie E (heute: U5) über ihren damaligen Endpunkt Friedrichsfelde hinaus geplant. Diese Linie sollte sogar bis zum Ortsteil Karlshorst führen, der vor allem für seine Villenkolonie bekannt war. Dort hatte sich auch in der Nachkriegszeit die sowjetische Militäradministration eingerichtet. Doch beide Gründe reichten nicht aus, um die Verlängerung der Linie E dorthin zu rechtfertigen. Denn das Einzige, was die DDR damals baute, waren Wohnungen in ungeahnten Ausmaßen. Zu den ersten zu bebauenden Gebieten gehörten Flächen um den Tierpark. Für etwa 25.000 Bewohner sollten hier 9000 Wohnungen errichtet werden. Dieses Wohnviertel sollte selbstverständlich auch eine Nahverkehrsanbindung bekommen. Die beste Variante war, die Linie E um eine Station zu verlängern. Zusätzlich zu den zukünftigen Einwohnern des Viertels wurden auch noch etwa 2,5 Millionen Tierparkbesucher pro Jahr hinzugezählt. Für diese zu erwartenden Fahrgastströme lohnte sich die Verlängerung der U-Bahn. Die Bauarbeiten für das erste U-Bahn-Neubau-Projekt der DDR begannen 1969. Die Strecke verläuft nordöstlich an der Betriebswerkstatt Friedrichsfelde vorbei und erreicht dann die Straße Am Tierpark. Dort entstand der neue Endbahnhof Tierpark. Die Gestaltung des Bahnhofs orientierte sich an den davor liegenden von Grenander entworfenen Bahnhöfen. Cremefarbene Fliesen und türkisfarbene Stützen prägen heute das Stationsbild. Der Bahnhof wurde mit einer großen, dreischiffigen Halle, die mit zwei Stützenreihen versehen war, erbaut. Damals wie heute sehr ungewöhnlich wurde das Abfertigungshäuschen hochgelegt, sodass das Personal zwar einen guten Überblick über den Bahnhof hat, für die Fahrgäste jedoch der Blick durch die Halle versperrt wird. Die 1,2 Kilometer lange Strecke wurde am 25. Juni 1973 eröffnet. Die lange Bauzeit von vier Jahren entstand einerseits durch die Mangelwirtschaft der DDR und das Fehlen von Betonfertigteilen, andererseits durch die notwendigen Verlegungsarbeiten der Betriebswerkstatt und durch einen Brand in der Abstellanlage Alexanderplatz. Die neue Linie 7 und geänderte Linienbezeichnungen Im Jahr 1924 wurde der heutige U-Bahnhof Mehringdamm als Belle-Alliance-Straße eröffnet. Dieser Bahnhof besaß zwei Bahnsteige: einen Seitenbahnsteig und einen Mittelbahnsteig. Vom Mittelbahnsteig fuhren die Linien CI und CII in Richtung Seestraße, vom Seitenbahnsteig abfahrend trennten sie sich. Diese Linienverzweigung stellte sich später als problematisch heraus, sodass in den 1950er Jahren in den Richtlinien für den Bau von U-Bahnen die Abschaffung der Linienverzweigungen beschlossen wurde. Außerdem führten diese Linien die Verkehrsströme am damaligen Zentrum um den Bahnhof Zoo vorbei. Dadurch würde die Umsteigestation Hallesches Tor sehr belastet, wofür diese nicht ausgelegt war. Deshalb sollte der Neuköllner Ast von der Nord-Süd-U-Bahn getrennt und zu einer eigenständigen U-Bahn-Linie umgebaut werden. Im 200-Kilometer-Plan war zwar festgeschrieben, dass die getrennte Linie H (heute: U7) nach Wilmersdorf fahren sollte, doch dies war nicht so schnell zu realisieren wie gewünscht. Auch ein Ende der Linie am Bahnhof Mehringdamm war ungünstig, denn es wäre trotzdem zum großen Umsteigeverkehr am Halleschen Tor gekommen. Deshalb wählte man den bereits bestehenden Hochbahnhof Möckernbrücke als Knotenpunkt aus. Die zukünftige Linie H würde nun auf eigener Strecke zum Bahnhof Möckernbrücke verkehren und die Linie C ebenfalls auf eigener Strecke von Tegel bis nach Mariendorf. Neben dem Neubau des U-Bahnhofs Möckernbrücke wurde auch ein Umbau des Bahnhofs Mehringdamm notwendig, der nun eine Station mit Richtungsverkehr sein sollte. Die Bauarbeiten begannen im Sommer 1962 und wurden am 26. Februar 1966 beendet. Ab 1. März wurden im West-Netz die Linienbezeichnungen und Linienführungen gemäß den U-Bahn-Richtlinien umgestellt, die Buchstaben wurden schon 1958 abgeschafft. Der Bahnhof Möckernbrücke liegt direkt neben dem Landwehrkanal, sodass eine teure Unterfahrung des Kanals vermieden werden konnte. Dieser Bahnhof wird von einer Spundwandkonstruktion abgegrenzt, ähnlich wie am Bahnhof Spittelmarkt der heutigen U2. Eine überdachte Brücke über dem Landwehrkanal verbindet den U- mit dem Hochbahnhof. Gleichzeitig erhielt der Hochbahnhof der heutigen Linie U1 vier Rolltreppen. Mit Eröffnung der Linie 7 war das Berliner U-Bahn-Netz 93 Kilometer lang und hatte 105 Bahnhöfe. Die Fahrgäste konnten somit niemals die Linie H benutzen, weil das Buchstabensystem am 28. Februar 1966, dem Tag der Betriebseröffnung der Strecke zur Möckernbrücke, durch ein System mit arabischen Ziffern ersetzt wurde. Nun hieß die Linie H fortan „Linie 7“. Die Linienziffern wurden der komplizierten Chronologie nach geordnet. Nachdem die Pendelstrecke zum Richard-Wagner-Platz wegen des Baus der U7 stillgelegt wurde, wurde die Nummer 5 stets für die Ost-Berliner U-Bahn-Linie zum Tierpark, die später nach Hönow verlängert wurde, freigehalten. 1984, als die BVG auch die West-Berliner S-Bahn übernahm, wurden nach westdeutschem Vorbild vor die Liniennummer auch ein „U“ für U-Bahn beziehungsweise ein „S“ für S-Bahn davorgesetzt. U-Bahn-Bauboom im Westen Da die Subventionen aus dem Bundeshaushalt auch weiterhin nach Berlin flossen, wurde wie bisher an der U-Bahn gebaut. Am 29. Januar 1971 wurde eine der bisher größten Streckenverlängerungen verwirklicht. Die Linie U7 fuhr nun von der Möckernbrücke bis zum Fehrbelliner Platz, die Linie U9 von der Spichernstraße bis zum Walther-Schreiber-Platz. Elf neue Bahnhöfe mit neun Kilometern Strecke gingen an diesem Tag in Betrieb. Bei beiden Neubauten war der Rammschlag am 1. Juli 1962. Damit erhielten die Steglitzer und Neuköllner Einwohner eine neue Verbindung ins West-Berliner Zentrum und mussten nicht mehr den langsameren Busverkehr benutzen. Die Linie U7 führt hinter dem U-Bahnhof Möckernbrücke mit großen Kurven unter dem Anhalter Güterbahnhof und dem S-Bahnhof York- bzw. Großgörschenstraße durch. Außerdem wurde ein Umsteigebahnhof zu den S-Bahn-Linien S1 und S2 errichtet. Nun führt die Strecke unter dem Wilmanndamm zum neuerbauten U-Bahnhof Kleistpark. Hier erhielt auch endlich die BVG-Verwaltung, die direkt am Kleistpark in der Potsdamer Straße ihren Sitz hatte, einen direkten U-Bahn-Anschluss. Wie im damaligen 200-Kilometer-Plan vorgesehen, sollte eine Linie U10 von Weißensee über den S-Bahnhof Greifswalder Straße, Alexanderplatz, Leipziger Straße, Potsdamer Platz, Potsdamer Straße, Schloßstraße nach Lichterfelde geführt werden. Am Bahnhof Kleistpark sollten sich die Linien U7 und U10 kreuzen. Deshalb entstand neben dem sowieso zu bauenden Bahnsteig ein Bahnhof im Rohbau für die U10. Da diese Planung aufgrund des S-Bahn-Parallelverkehrs obsolet geworden ist, wurden die leeren Räume für eine Sicherheits- und Informationszentrale der BVG benutzt. Weiter führt die Linie U7 unter der Grunewaldstraße zum Bayerischen Platz. Beim Bau der damaligen Schöneberger U-Bahn (heute: U4) verlangte die Bauaufsicht eine Brückenkonstruktion für eine zukünftige Linie. Diese konnte nun beim Bau der U7 mitbenutzt werden. Der Bahnhof wurde ebenfalls, wie der schon vorhandene Kleinprofil-Bahnhof, mit weißen und blauen Farbelementen, in Erinnerung an das Bayerische Staatswappen, verziert. Der folgende Bahnhof entstand als erster geplanter Kreuzungsbahnhof in Berlin, der nicht nachträglich zu einer Umsteigestation umgebaut wurde. Hier kreuzen sich nun die Linien U7 und U9. Der untere Bahnsteig ist ein Mittelbahnsteig, jener der U9 ist allerdings ein Seitenbahnsteig. Dies aber nicht im üblichen Sinne: An einem Seitenbahnsteig steigen die Fahrgäste normalerweise auf der rechten Seite aus, am Bahnhof Berliner Straße geschieht dies aber auf der linken Seite. Man könnte die Bahnsteige auch als auseinandergezerrte Mittelbahnsteige sehen. Nur ein Gang am nördlichen Ende beider Bahnsteige verbindet diese. Der Grund dafür war, dass mit dem U-Bahn-Bau auch ein Straßentunnel zwischen den beiden Seitenbahnsteigen errichtet wurde. Die Strecke der U7 folgt nun der Brandenburgischen Straße und hatte am Bahnhof Fehrbelliner Platz vorläufig ihren Abschluss. Hier treffen sich heute die Linien U3 und U7. Beim Bau des Bahnhofs wurde ein neues Eingangsbauwerk für beide Linien errichtet, um eine ampelfreie Kreuzung des Hohenzollerndamms mit der Brandenburgischen Straße zu erreichen. Die U9 folgt direkt vom bisherigen Endbahnhof Spichernstraße der Bundesallee und kreuzt dabei, wie beschrieben, die Linie U7. Ähnlich wie am Bahnhof Berliner Straße beherbergt auch der neu erbaute Bahnhof Bundesplatz einen Autotunnel. Deshalb konnte auch hier kein Mittelbahnsteig errichtet werden. Die Gleise trennen sich kurz vor dem Bahnhof und es wurden zwei Seitenbahnsteige errichtet. Seit dem Wiederaufbau der Ringbahn und Verschiebung des ehemaligen Bahnhofs Wilmersdorf über die Bundesallee kann hier seit Dezember 1993 direkt zwischen der U9 und der Ringbahn umgestiegen werden. Den vorläufigen Abschluss fand die U9 am Walther-Schreiber-Platz. Erst 1974 konnte diese Linie von hier aus weiter in Richtung Süden in Betrieb genommen werden. Alle errichteten Bahnhöfe wurden von Rainer Gerhard Rümmler ausgestaltet. Dabei benutzte dieser aber auch schon, statt wie bisher große Keramikfliesen, großformatige bunte Metallplatten, so zum Beispiel am Bahnhof Eisenacher Straße. Auch sollen in der Farbgestaltung immer neue Assoziationen geweckt werden. Am Bahnhof Berliner Straße sollen die Farben Weiß und Rot an das Berliner Landeswappen erinnern, an der Station Eisenacher Straße die grünen Flächen an den Thüringer Wald bei Eisenach. Ebenso wie die Bahnhöfe auf der südlichen U7 sind die Stationen teilweise sehr dunkel und in schlechtem Zustand. Eine Sanierung wäre nach Meinung von Berliner Verkehrsexperten auch hier fällig. Endausbau der Linie 9 Während die U9 ab 1971 bis zum Walther-Schreiber-Platz fuhr, waren die Bauarbeiten in Richtung Süden in vollem Gange. An der Kreuzung Bundesallee/Rheinstraße verbanden sich die zwei Straßen zur Schloßstraße. Hier sollte nach dem 200-Kilometer-Plan die U10 auf die U9 treffen. Aufgrund der beengten Platzverhältnisse in der Schloßstraße sollten die zwei Linien im Richtungsverkehr übereinander fahren. Dies kann man bis heute sehr gut am Bahnhof Schloßstraße erkennen: Auf dem oberen Bahnsteig fährt die U9 in Richtung Zoologischer Garten, auf den unteren Bahnsteig in Richtung Rathaus Steglitz. Die Gleiströge der U10 sind, ähnlich dem Bahnhof Jungfernheide, mit Zäunen abgesperrt. Bis heute hängt dort das Schild „Kein Zugverkehr“. Durch diese enorme Bauvorleistung stiegen die Kosten für einen Kilometer U-Bahn-Strecke auf rund 78 Millionen Mark, das waren exorbitante Höhen. Hinter dem Bahnhof Schloßstraße endet die U9 am Bahnhof Rathaus Steglitz. Auch hier wurde ein Bahnsteig für die zukünftige U10 in Richtung Weißensee mit erbaut. Bis heute benutzt die U9 jedoch den Bahnsteig der U10, da es damals aufgrund erfolgloser Verhandlungen mit der Deutschen Reichsbahn, die hier den S-Bahnhof Berlin-Steglitz betrieb, nicht zu einer Einigung kam. Nach der Übernahme der S-Bahn-Betriebsführung durch die BVG am 9. Januar 1984 wurde der westliche Seitenbahnsteig als Verbindungsgang zum S-Bahnhof ausgebaut. Am U-Bahnhof Steglitz kann man auch heute noch in zahlreiche Buslinien umsteigen, die in einem eigens dafür erbauten Busbahnhof im Steglitzer Kreisel halten. Der Bahnhof Schloßstraße wurde ausnahmsweise nicht von Rainer Rümmler, sondern vom Architektenbüro Schüler & Witte entworfen. Die Bahnhofswände wurden verhältnismäßig sparsam mit roten, gelben und blauen Wandelementen ausgestaltet. Es dominiert jedoch der Nacktbeton. Der Bahnhof Rathaus Steglitz erhielt dagegen wieder eine typische Gestaltung Rainer Rümmlers. Es wurden riesige weiße und rote Wandelemente angebracht, außerdem versah man diese noch mit großen, matt-silberfarbenen Lettern, die den Stationsnamen bilden. Die Neubaustrecke ist 1,6 Kilometer lang und wurde am 30. September 1974 eröffnet. Bis heute gibt es Pläne für eine Verlängerung der U9 in Richtung Lankwitz. Im Norden der Linie U9 wurde ebenfalls weiter gebaut. Man sah eine Verlängerung der Linie bis nach Pankow vor. Da dies aber aufgrund der politischen Verhältnisse nicht zu realisieren war, ließ man die U9 bis zur Kreuzung Osloer/Schwedenstraße bauen. Es waren zwei neue Bahnhöfe vorgesehen: Nauener Platz und der neue Turmbahnhof Osloer Straße. Bis dahin sollte auch die U8 verlängert werden. Hier ergab sich eine optimale Situation, denn der Turmbahnhof konnte ohne Rücksicht auf anderen U-Bahn-Verkehr erbaut werden, der Bahnhof musste nicht nachgerüstet werden. Mitgebaut wurde auch ein großzügiges, helles Zwischengeschoss, in dem sich zahlreiche Läden und Imbisse befinden. Der Bahnhof Nauener Platz wurde ähnlich der Station Rathaus Steglitz mit großen Wandelementen und silbernen Lettern ausgestaltet. Hier dominieren die Farben Rot, Weiß und Blau. Dies sollte eine Assoziation an die Machtverhältnisse wecken, denn die Station befindet sich im ehemaligen Französischen Sektor. Die Strecke vom Leopoldplatz zur Osloer Straße war 1,5 Kilometer lang und wurde am 30. April 1976 eröffnet. Nun war die U9 in ihrem vorläufigen Endzustand. Bis heute wurde diese Linie nicht weiter verlängert. Im Februar 1989 beschloss der bereits abgewählte CDU/FDP-Senat den Weiterbau der U9 nach Lankwitz statt des Ausbaus des Südrings. Diese Entscheidung wurde kurz darauf vom damals neuen SPD/AL-Senat zurückgenommen und die Wiederinbetriebnahme des S-Bahn-Ringes beschlossen. Schlechtes Schicksal für die Linie 8 Nach 1961 stand es nicht gut für die Linie 8. Im Süden mit sechs Stationen beginnend, schloss sich ein sehr langer Transitabschnitt unter Ost-Berlin an (ebenfalls mit sechs Stationen) und endete am Bahnhof Gesundbrunnen. Der Verkehrswert dieser Linie war infolgedessen sehr niedrig, zumal sie gegebenenfalls immer den Störungen seitens der DDR ausgesetzt war. 1962 kristallisierten sich Pläne für ein neues Wohnviertel in West-Berlin heraus. Das Märkische Viertel sollte ebenso wie die Gropiusstadt einen U-Bahn-Anschluss erhalten. Die dort in der Nähe vorbeifahrende S-Bahn nach Frohnau wurde von den Planern nicht berücksichtigt, weil die Berliner S-Bahn von der Deutschen Reichsbahn betrieben wurde. Stattdessen sollte die U-Bahn-Linie 8 verlängert werden. Bereits bei der Streckenerweiterung der Linie 9 zur Osloer Straße, wurde ein darunterliegender Bahnsteig für die U8 mitgebaut. Die ersten Bauarbeiten fanden 1973 statt, eröffnet wurde die 1,4 Kilometer lange Erweiterung am 5. Oktober 1977. Die Strecke verläuft hinter dem Bahnhof Gesundbrunnen weiter unter der Badstraße. An der Kreuzung mit der Pankstraße wurde ein gleich lautender Bahnhof errichtet. Der U-Bahnhof Pankstraße wurde so gebaut, dass dieser auch als Schutzraum beispielsweise in Kriegsfällen genutzt werden kann. So besitzt die Station Sanitärräume, eine Notküche, eine gefilterte Frischluftversorgung und so weiter. Im Notfall können hier genau 3339 Personen Schutz finden. Die Mehrkosten wurden vom Bundesfinanzministerium bezahlt. Die Wände wurden mit braunen Fliesen ausgestaltet, die Stützen mit Aluminiumblechen verkleidet. Die Strecke folgt nun weiter der Schwedenstraße und trifft auf den schon vorbereiteten U-Bahnhof Osloer Straße. Zusätzlich wurde hier auch ein Betriebsgleis mitgebaut, sodass nun auch Züge von der U8 zur U9 überführt werden konnten. Erst zehn Jahre später, am 27. April 1987, konnte das nächste Streckenstück bis zum Paracelsus-Bad in Betrieb genommen werden (die Bauarbeiten fingen 1980 an). Waren die Verlängerungen bei den anderen Linien wesentlich schneller vorangegangen, dauerte es hier ungewöhnlich lange für die Neubaustrecke. Auch dies zeigt, dass die U8 nicht wirklich unter einem guten Stern stand. Hinter dem Bahnhof Osloer Straße folgt die U8 weiter der Schwedenstraße, die ab der Kreuzung mit der Reginardstraße Residenzstraße heißt. In der Nähe des Schäfersees entstand ebenfalls ein U-Bahnhof. Es gab viele Streitigkeiten, wie denn die Station zu heißen habe. Schließlich einigte man sich auf ‚Franz-Neumann-Platz (Am Schäfersee)‘. Dieser Bahnhof ist, genauso wie die folgenden Stationen, mit der unverwechselbaren Handschrift Rainer Rümmlers versehen worden. An den Wänden sieht man Bäume, die die Parklandschaft um den Schäfersee verdeutlichen sollen. Die Strecke verläuft weiter unter der Residenzstraße, wo auch ein gleichnamiger Bahnhof errichtet wurde, macht dann eine lange Kurve unter der Kreuzung Residenzstraße/Lindauer Allee und endet nach wenigen Metern am Bahnhof Paracelsus-Bad. Der Bahnhof Residenzstraße, der an die Residenz Berlin erinnern sollte, ist mit Stadtplänen des Berliner Stadtschlosses versehen. Die Stützen sind äußerst bunt gestaltet und sollen wohl an die reichen Teppiche in der Residenz erinnern. Der Bahnhof Paracelsus-Bad sollte Assoziationen mit dem in der Nähe gelegenen Schwimmbad wecken. Zusätzlich wurden auch noch Bilder angebracht, eins davon zeigt den Arzt und Philosophen Philippus Aureolus Theoprastus Bombastus von Hohenheim. Dieser ist jedoch unter dem Namen Paracelsus bekannter. Eigentlich sollte der neue Streckenabschnitt am 30. April 1987, pünktlich zur 750-Jahr-Feier Berlins, eröffnet werden. Bis heute ist nicht klar, wieso dieser dennoch drei Tage früher als geplant in Betrieb ging. Die nächste Verlängerung in Richtung Märkisches Viertel dauerte wieder recht lange. Um eine bessere Anbindung des Bezirks Reinickendorf zu erreichen, macht die Linie U8 einen kleinen Umweg zum Märkischen Viertel, d. h. die U-Bahn-Strecke führt nicht unter dem Industriegebiet um den S-Bahnhof Wilhelmsruh entlang, sondern über den Umweg über das Karl-Bonhoeffer-Krankenhaus und das Rathaus Reinickendorf. Erst 1994 konnte man mit der U8 bis zum S-Bahnhof Wittenau fahren. In drei Etappen nach Spandau Bereits zu Zeiten der Hochbahngesellschaft gab es Pläne eine U-Bahn nach Spandau zu bauen. Erste Schritte wurden Ende der 1920er Jahre mit der Verlängerung der heutigen Linie U2 bis Ruhleben getan. Der Endbahnhof Ruhleben liegt jedoch direkt an der Bezirksgrenze zu Spandau in kaum besiedeltem Gebiet und hatte lediglich als Umsteigepunkt zum Straßenbahn- und Busliniennetz eine verkehrliche Bedeutung. Ende der 1960er Jahre wurden diese Pläne wieder aktuell, denn nun waren ausreichend finanzielle Mittel vorhanden, um sich mit einer U-Bahn nach Spandau zu befassen. In Erwägung gezogen wurde eine Verlängerung der Ruhlebener U-Bahn. Alternativen gab es indes: Die bis heute am Bahnhof Uhlandstraße endende Linie hätte über Adenauerplatz, Messe, Theodor-Heuss-Platz und weiter auf der schon bestehenden Linie 1 verlängert werden können. Die letzte Variante bestand darin, die Linie 7 über Mierendorffplatz, Jungfernheide und die Nonnendammallee zu verlängern. Diese Variante wurde von den Planern bevorzugt und letztendlich auch gebaut, weil sie die Siemensstadt mit ihren vielen Arbeitsplätzen erschloss. Die Bauarbeiten für den Abschnitt vom Fehrbelliner Platz zum Richard-Wagner-Platz begannen 1969. Diese Trasse verläuft weiter unter der Brandenburgischen Straße und kreuzt den Kurfürstendamm am U-Bahnhof Adenauerplatz. Dieser ist bereits als Kreuzungsbahnhof angelegt, denn auch heute noch ist es geplant, die jetzige U1 zum Adenauerplatz zu verlängern. Darauf schwenkt die Linie unter die Wilmersdorfer Straße und unterquert wenige Meter weiter die Stadtbahn. Die Wilmersdorfer Straße wurde in diesem Zusammenhang in eine Fußgängerpassage umgewandelt. Dabei war diese wichtiger als die Umsteigemöglichkeit zum in der Nähe liegenden S-Bahnhof Charlottenburg. Im Jahr 2006 sind die Bauarbeiten zum Umklappen des S-Bahnsteigs abgeschlossen, die Umsteigewege haben sich damit verkürzt. Als Kreuzungspunkt mit der Kleinprofilstrecke der früheren Linie A (heute: U2) wurde der Bahnhof Bismarckstraße als vollkommen neuer Turmbahnhof ausgeführt. Die schon bestehenden Tunnel an der Bismarckstraße waren jedoch in einem schlechten Zustand. Damals besaß man keine Erfahrungen mit diesem Problem und riss deshalb die ganze Konstruktion ab und erbaute diese erneut aus Stahl. Hinter der Bismarckstraße macht die U7 einen großen Schwenk von der Wilmersdorfer Straße zur Richard-Wagner-Straße. Dabei mussten 23 Häuser unterfahren werden, deshalb wurde hier der Schildvortrieb gewählt. Bis zum Jahr 1970 pendelte die damalige Linie 5 als kürzeste U-Bahn-Linie Berlins zwischen Deutscher Oper und Richard-Wagner-Platz. Diese Linie brachte verständlicherweise keinen großen Profit ein. Durch die Verlängerung der Linie U7 sollte eine wirtschaftlichere Strecke entstehen. Damals wurde die alte Strecke stillgelegt und ein neuer U-Bahnhof entstand mehrere Meter unter dem alten Bahnhof. Die übrig gebliebene Tunnelanlage wandelte sich zu einer Betriebsstrecke um, die somit die zweite Austauschstrecke zwischen Klein- und Großprofil ist. Die Etappe vom Fehrbelliner Platz bis zum Richard-Wagner-Platz wurde am 28. April 1978 eröffnet. Damit konnte auch die Anbindung des Charlottenburger Rathauses erfolgen, denn eigentlich nur dafür war die Kleinprofil-Linie 5 gebaut worden. Die Bahnhöfe, durchweg von Rainer G. Rümmler gestaltet, bekamen sehr unterschiedliche Gesichter. Die schwarzen, orangefarbenen, roten, gelben und weißen Längsstreifen am Bahnhof Konstanzer Straße, die an das Konstanzer Stadtwappen erinnern sollen, repräsentieren die Schnelligkeit der U-Bahn. Dagegen bekam der Bahnhof Wilmersdorfer Straße eine ganz neuartige Wandgestaltung. Kleine rechteckige Fliesen sind in Mustern angeordnet, die stilisierte Lilien zeigen, die sich im Wappen des namensgebenden damaligen Bezirks Wilmersdorf befanden. Die Bauarbeiten für die nächste Etappe in Richtung Spandau begannen 1973. Die U-Bahn fährt hinter dem Bahnhof Richard-Wagner-Platz weiter unter der Sömmeringstraße. Auf halbem Wege zum Mierendorffplatz wird wieder einmal die Spree unterquert. Diese Strecke wurde in Senkkastenbauweise errichtet. Nach wenigen Metern folgt auch schon der Bahnhof Mierendorffplatz. Hinter diesem macht die Trasse einen großen Bogen, um den bereits bestehenden S-Bahnhof Jungfernheide an der Berliner Ringbahn zu erreichen. Hier wurde, ähnlich dem Bahnhof Schloßstraße in Steglitz, ein Bahnsteig mit zwei Ebenen erbaut. Die anderen Gleise waren für eine mögliche Verlängerung der Linie U5 vorgesehen. Diese sollte vom Alexanderplatz kommend über Turmstraße und Jungfernheide zum Flughafen Tegel führen. Nach dem Senatsbeschluss zur Außerbetriebsetzung des Flughafens Tegel nach Inbetriebnahme des neuen Großflughafens Berlin Brandenburg ist eine Verlängerung zum Flughafen Tegel jedoch nicht mehr zu erwarten. Die aktuelle Planungsdiskussion geht davon aus, die U5 bereits am Hauptbahnhof, eventuell später an der Turmstraße enden zu lassen. Hinter dem Bahnhof Jungfernheide unterqueren der Tunnel der Linie U7 und der Tunnelstumpf der Linie U5 den Westhafenkanal. Darauf macht die Trasse der Linie U7 einen großen Bogen zum Jakob-Kaiser-Platz. Der bereits beim Bau des Berliner Stadtrings mit errichtete U-Bahnhof Jakob-Kaiser-Platz wurde zwischenzeitlich als Fußgängerunterführung benutzt. Hinter der Station Halemweg fährt die U-Bahn unter der Nonnendammallee. Hier gab es große Kritik von Umwelt- und Fahrgastverbänden sowie des Bundes der Steuerzahler, da die Strecke auch oberirdisch hätte geführt werden können. Der Berliner Senat war jedoch in dieser Sache stur geblieben. An der Kreuzung Nonnendammallee/Rohrdamm endete die zweite Etappe des U-Bahn-Baus nach Spandau mit der vorläufigen Endstation Rohrdamm. Wie auch zuvor gestaltete Rainer Gerhard Rümmler alle Bahnhöfe, jedoch wesentlich schlichter als zuvor: Der Bahnhof Mierendorffplatz erhielt die gleichen Fliesen wie schon die Station Wilmersdorfer Straße. Die Bahnhöfe Jakob-Kaiser-Platz, Halemweg und Siemensdamm enthielten viele Komplementärkontraste. Der Bahnhof Siemensdamm könnte, ähnlich wie die Station Pankstraße, als Schutzraum für 4500 Menschen genutzt werden. Den Bahnhof Rohrdamm zieren Abbildungen von Zahnrädern und Rohren, die auf die umgebende Industrie hinweisen sollen. Zusätzlich wurde die Decke nicht verkleidet, dadurch sind unter anderem auch die Kabel der Beleuchtungsanlage sichtbar. Die 4,6 Kilometer lange Strecke vom Richard-Wagner-Platz zum Rohrdamm wurde am 1. Oktober 1980 eröffnet. Damit erhielt der Bezirk Spandau den ersten richtigen U-Bahn-Anschluss. Aber es war geplant, die U7 bis ins Spandauer Zentrum zu führen. Auf dem Weg dorthin gab es mehrere Varianten. So gab es Überlegungen die U-Bahn durch das Haselhorster Ortszentrum zu führen. Der Nachteil war allerdings, dass die Havel an einer ihrer breitesten Stellen unterquert werden müsste. Eine weitere Variante war, dass die U-Bahn die bestehende Spandauer Vorortstrecke der S-Bahn kreuzen würde und die U-Bahn von Süden her zum Spandauer Rathaus geführt werden würde. Diese Variante hätte jedoch die Spandauer Altstadt nicht an das U-Bahn-Netz angebunden, was das eigentliche Ziel dieser Verlängerung war. Die ursprünglich diskutierte Version mit einem Endbahnhof am Falkenseer Platz legte man aus gleichem Grund zu den Akten, obwohl dieses Vorhaben jahrzehntelang Bestandteil des 200-Kilometer-Plans war. Schließlich entschied man sich für eine Variante, dass die Trasse weiter der Nonnendammallee beziehungsweise der Straße Am Juliusturm folgen würde, südlich an der Spandauer Zitadelle vorbei und dann direkt zur Altstadt und weiter zum Spandauer Rathaus. Die Kosten für diese Verlängerung stiegen in ungeahnte Höhen: 680 Millionen Mark war dieses Bauprojekt, das wesentlich günstiger hätte gebaut werden können, teuer. Die Kosten waren vor allem dadurch entstanden, dass die Havel unterquert werden musste und dass der Boden in diesem Umfeld bedingt durch tote Seitenarme der Spree sehr sumpfig war. Deshalb wurden hier fünf verschiedene Bauweisen eingesetzt: Erst arbeitete man weiter mit der Berliner Bauweise, die auch im restlichen Netz sehr oft angewendet wurde. Der anschließende Abschnitt wurde in Schlitzwand-Sohle-Bauweise errichtet. Bei der Havelunterquerung wurde die Senkkastenmethode eingesetzt. Die Spandauer Altstadt mit ihren sehr engen Straßen und Gassen konnte nur mit dem sehr teuren bergmännischen Schildvortrieb unterfahren werden. Der Endbahnhof Rathaus Spandau wurde schließlich in der Deckelbauweise errichtet. Die Bahnhofsgestaltung überließ die Senatsbauverwaltung wieder Rainer G. Rümmler. Auch hier setzte er seine „kreative“ Arbeit fort. Der Bahnhof Paulsternstraße gleicht einer bunten Blumenwiese. Diese zeigt sehr deutlichen den damaligen Geschmack. Der Bahnhof Haselhorst dagegen besticht durch Schlichtheit, hier kam vor allem die Lichtgestaltung zum Zuge. Der Endbahnhof schließlich war der Höhepunkt der ganzen Strecke. Mit äußerst breiten Säulen, Lampen und anderer pompöser Dekoration fällt der viergleisige Bahnhof sehr auf. Die beiden inneren Gleiströge benutzt die U7, die beiden äußeren Gleiströge werden für die geplante Verlängerung der heutigen Linie U2 freigehalten. Am 1. Oktober 1984 wurde mit dieser 4,9 Kilometer langen Strecke das letzte Teilstück der vollständigen Linie U7 eröffnet. Auch der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl wohnte der Eröffnung bei. U-Bahn in die Neubaugebiete des Ostens Ende der 1970er Jahre begannen die Planungen für ein neues Wohngebiet im dafür neu zu schaffenden Bezirk Hellersdorf. Die Größe des Neubaugebietes, in etwa doppelt so groß wie die Gropiusstadt, verlangte einen Schnellbahnanschluss ins Zentrum Ost-Berlins. Dafür wurden mehrere Vorschläge unterbreitet. Eine S-Bahn, wie schon für die neuen Wohnviertel in Marzahn und Hohenschönhausen, zu bauen, wurde verworfen, da die Stadtbahn schon vollkommen ausgelastet war und eine weitere Zuggruppe nicht mehr aufnehmen konnte. Eine Schnellstraßenbahn, wie schon in Potsdam realisiert, besaß jedoch nicht die erforderliche Kapazität. Letztendlich kam nur noch die U-Bahn in Frage, die vom damaligen Endpunkt Tierpark weiter verlängert werden sollte. Auch hier gab es mehrere Streckenvarianten. Man entschloss sich dafür, die U-Bahn oberirdisch über die nicht mehr genutzte Bahntrasse der VnK-Strecke (Verbindung nach Kaulsdorf) fahren zu lassen. Außerdem war eine Kreuzung der Ostbahn, die von der S-Bahn befahren wurde, vorgesehen. Die Projektierung der Strecke fand in den Jahren 1983/1984 statt. Die Strecke sollte 10,1 Kilometer lang sein und neun Bahnhöfe haben. Der Neubau, der fast ausschließlich oberirdisch erfolgen sollte, wurde in zwei Abschnitten eröffnet. Die Bauarbeiten begannen am 1. März 1985. Die Strecke beginnt direkt hinter dem Bahnhof Tierpark und macht dann eine sehr scharfe Kurve in Richtung Osten, kommt aus dem Tunnel und fährt dann auf der VnK-Strecke. Nach der Kreuzung des Berliner Außenrings erreicht die U5 die Station Biesdorf-Süd. Diese wurde als dreigleisige Anlage ausgeführt, um hier Verstärkerzüge enden zu lassen. Am Westende des Bahnhofs wurde eine Umsteigemöglichkeit für einen Bahnhof einer möglichen S-Bahn-Strecke mitgeplant. Danach folgt, auf einem Damm gelegen, der vorzeitige Endbahnhof für die Strecke, Elsterwerdaer Platz. Endstation war dieser von Juli 1988 bis Juli 1989. Der Abschnitt Tierpark – Elsterwerdaer Platz wurde am 1. Juli 1988 eröffnet. Hinter dem Bahnhof Elsterwerdaer Platz geht die Strecke in nordöstlicher Richtung weiter und erreicht den Bahnhof Wuhletal. Diese Station, als Kreuzung mit der S-Bahn, ist bis heute einmalig im Berliner U-Bahn-Netz. Hier konnte durch die staatlich gelenkte Verkehrspolitik ein fahrgastfreundlicher Umsteigepunkt entstehen. Dort halten U-Bahn und S-Bahn an einem Bahnsteig, es kann in gleicher Richtung am gleichen Bahnsteig umgestiegen werden. Vergleichbare Anlagen gibt es in Deutschland nur am Endbahnhof München-Neuperlach Süd der dortigen U5, im Bahnhof Konstablerwache in Frankfurt am Main und am Endbahnhof der Hamburger U-Bahn-Linie U1, dem Bahnhof Norderstedt Mitte. Beim Bau des Umsteigepunktes wurde gleichzeitig ein Verbindungsgleis zur Eisenbahn geschaffen. Dadurch konnten die umständlichen und teuren Zugüberführungen per Tieflader aufgegeben werden. Auch heute noch wird dieses Gleis zur Anlieferung von neuen U-Bahn-Zügen, wie zum Beispiel des Typs H, benutzt. Nordöstlich des Bahnhofs Wuhletal schließt sich ein hier notwendiger Tunnel unter der Gülzower Straße an. Dahinter kommen sechs weitere Stationen: Albert-Norden-Straße (heute: Kaulsdorf-Nord), Heinz-Hoffmann-Straße (heute: Kienberg [Gärten der Welt]), Cottbusser Platz, Hellersdorf, Paul-Verner-Straße (heute: Louis-Lewin-Straße) und der Endbahnhof Hönow. Die letzten beiden Bahnhöfe befanden sich kurzzeitig im Bezirk Frankfurt (Oder) und wurden nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 zu Berlin eingemeindet. Am Endbahnhof Hönow wurde eine große Kehranlage errichtet, hier war der Bau einer neuen Betriebswerkstatt geplant. Diese Gleise sind heute größtenteils abgebaut. Der Abschnitt zwischen Elsterwerdaer Platz und Hönow wurde am 1. Juli 1989 eröffnet. Alle Bahnhöfe gestaltete der Entwurfs- und Vermessungsbetrieb der Deutschen Reichsbahn (EVDR). Erstmals wurden die Stationen mit Rampen ausgestattet, sodass auch Kinderwagen und Rollstuhlfahrer die U-Bahn bequem nutzen konnten. Die dadurch im Bahnhof Elsterwerdaer Platz errichtete Rampenanlage stellt schon fast ein Kuriosum dar, weil die Fahrgäste zwei Minuten benötigen, um vom Bahnsteig bis zum Ausgang zu kommen. In Hellersdorf wurde eine vorbildliche Umsteigestation zur dortigen Straßenbahn geschaffen, die Haltestelleninseln können über Tunnel erreicht werden, das lästige Überqueren der Straße entfiel nun. Die Verlängerung der Strecke bis nach Hönow blieb die einzige U-Bahn-Verlängerung in der DDR. Fall der Mauer und Wiedervereinigung der Netze Am 9. November 1989 verlas das SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski vor laufenden Kameras nach einer entsprechenden Frage und eher nebensächlich, dass „sofort und unverzüglich Privatreisen ins Ausland ohne Vorliegen von Voraussetzungen wie Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse beantragt werden“ könnten. Die Genehmigungen würden „kurzfristig erteilt“. Ausreisen könnten „über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen“. Massen von DDR-Bürgern eilten zu den Grenzübergängen. Als erstes wurde um etwa 22:30 Uhr der Grenzübergang Bornholmer Straße geöffnet. Auch andere Übergänge wurden nach und nach geöffnet. Es kam zu überschwänglichen Freudenszenen. Die BVG und die BVB ließen die Züge rund um die Uhr fahren. Auch Mitarbeiter, die frei hatten, halfen bei der Bewältigung der Massen mit. Teilweise mussten die Bahnsteige gesperrt werden, Züge fuhren ohne Halt durch, beispielsweise von Leopoldplatz zum Zoologischen Garten. Noch am gleichen Tag beschlossen die beiden Chefs von BVG und BVB, nach einem vorher in der Öffentlichkeit diskutierten IGEB-Vorschlag, den noch verschlossenen U-Bahnhof Jannowitzbrücke zu öffnen. Mitarbeiter beider Verkehrsgesellschaften reinigten gemeinsam kurzfristig die Bahnsteige, sodass die Station bereits am 11. November dem Fahrgastverkehr zur Verfügung stand. Da die Station zwei Zugänge hatte, konnten hier die immer noch als notwendig erachteten Grenzkontrollen vorgenommen werden. Seit dem 22. Dezember hielten nun auch wieder Züge im U-Bahnhof Rosenthaler Platz. Am 12. April wurden die Tore der Station Bernauer Straße geöffnet, bis zum 1. Juli 1990 war sie nur von West-Berlin aus zugänglich. Vielen DDR-Bürgern waren die Verkehrslinien der BVG unbekannt, da sie auf ihren Stadtplänen nicht eingezeichnet waren und die westlichen Bezirke durch weiße Flächen dargestellt wurden. Ab dem 1. Januar 1990 gab es die erste grenzüberschreitende Tarifgemeinschaft, die von den Betrieben BVG, BVB, Deutsche Reichsbahn und VKP Potsdam (VE Verkehrskombinat Potsdam) gebildet wurde. Zunächst bedeutete dies, dass Fahrscheine und Zeitkarten der BVG auch in Ost-Berlin und dem Umland galten. Für Bürger der DDR entfiel die Freifahrt auf Verkehrsmitteln der BVG. Dafür wurden neue Fahrscheine als Zwei-Stunden-Ticket bzw. Tageskarte im Ermäßigungs- und Normaltarif eingeführt. Diese Regelung galt bis zum 1. August 1991. Dann trat ein neuer Tarif mit gegenüber West-Berlin niedrigeren Fahrpreisen in Ost-Berlin und Brandenburg in Kraft. Am 1. Juli 1990 trat eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik in Kraft. In diesem Zusammenhang wurden alle übrigen, noch verschlossenen Stationen wiedereröffnet. Außerdem wurden die Ost-Linien A und E ins (West-)Berliner Nummernschema integriert. Die Linie E bekam nun die unbenutzte Linienbezeichnung „U5“. Die Linie A, die wieder an das West-Berliner U-Bahn-Netz angeschlossen werden sollte, erhielt die Bezeichnung „U2“. Das führte zu der dreijährigen Situation, dass die Linie „U2“ auf zwei getrennten Teilabschnitten verkehrte. Vier Monate später, am 3. Oktober 1990, wurden alle Bahnhofsnamen geändert, die nach kommunistischen Politgrößen benannt waren und nunmehr in der Bundesrepublik als unerwünscht galten: Dimitroffstraße → Eberswalder Straße Otto-Grotewohl-Straße (bis 1986: Thälmannplatz) → Mohrenstraße Marchlewskistraße → Weberwiese Albert-Norden-Straße → Kaulsdorf-Nord Heinz-Hoffmann-Straße → Neue Grottkauer Straße Paul-Verner-Straße → Louis-Lewin-Straße Gleichzeitig wurden drei weitere Bahnhöfe umbenannt: Frankfurter Tor → Rathaus Friedrichshain Stadion der Weltjugend → Schwartzkopffstraße Nordbahnhof → Zinnowitzer Straße (heute: Naturkundemuseum) Beim U-Bahnhof Frankfurter Tor entwickelte sich dies jedoch zu einer politischen Posse. Innerhalb weniger Jahre wechselte die Bezeichnung mehrfach: Frankfurter Tor → Rathaus Friedrichshain → Petersburger Straße → Frankfurter Tor. Im August 1991 wurden die Tarife „A“ und „B“ eingeführt. Der „A“-Tarif galt in West-Berlin, der „B“-Tarif im Ostteil der Stadt und im Umland. Fahrgäste, die nachweislich ihren Wohnsitz vor dem 18. Oktober 1989 (Rücktritt des DDR-Staats- und Parteichefs Erich Honecker) im Ostteil hatten, durften im Tarifgebiet A mit Fahrausweisen des B-Tarif fahren. Alle anderen Fahrgäste durften den „B“-Tarif nur dort selbst nutzen. Der Einheitstarif der BVB und der Zonentarif der S-Bahn, die beide 1944 als Kriegstarife eingeführt wurden, waren damit abgeschafft. Nachdem die ersten Schritte nach der Einheit vollbracht waren, war es an der Zeit über Reaktivierung von geschlossenen Strecken nachzudenken. Dies waren zwei: Die Verbindung vom Wittenbergplatz über Gleisdreieck und Potsdamer Platz zur Mohrenstraße. Die anderen waren der Wiederaufbau der Oberbaumbrücke und die Wiedereröffnung des Bahnhofs Warschauer Straße. Außerdem mussten die Bahnsteige der U6 auf dem ehemaligen Transitabschnitt verlängert werden, da aus Spargründen diese nur mit einer Bahnsteiglänge von 80 Metern gebaut wurden. Nun gab es aber Kapazitätsprobleme und so musste dieses Hindernis beseitigt werden. Im ehemaligen West-Berlin war dies schon in den 1950er Jahren geschehen. Bei der Reaktivierung der U2 zwischen Mohrenstraße und Wittenbergplatz mussten einige Hindernisse überwunden und Probleme gelöst werden. Die Strecke zwischen Wittenbergplatz und Gleisdreieck wurde bis 1972 betrieben, danach wurde diese Linie verkürzt, weil sie als überflüssiger Parallelverkehr zur U1 angesehen wurde. Seitdem tat sich auf dem Streckenabschnitt so einiges. Im ungenutzten Bahnhof Bülowstraße quartierte sich ein „Türkischer Basar“, im Hochbahnhof Nollendorfplatz der Flohmarkt „Nolle“ ein. Zwischen beiden Bahnhöfen wurde auf der ehemaligen Hochbahntrasse eine Museumsstraßenbahn betrieben. All dies musste beseitigt werden, außerdem war eine Grundsanierung für beide Bahnhöfe überfällig, genauso wie für den seit 1961 stillgelegten Bahnhof „Potsdamer Platz“. Doch es bestand noch ein weiteres Problem: Vom Gleisdreieck aus war 1983/1984 eine Magnetschwebebahn (in Berlin „M-Bahn“ genannt) erbaut worden. Diese verlief aber teilweise über das Gelände der ehemaligen U-Bahn. Deshalb beschloss der Berliner Senat, die M-Bahn sowie ihre Bahnhofsgebäude abzureißen, um die alte U-Bahn-Trasse wiederaufzubauen. Dies geschah ab dem 1. August 1991. Im Osten dagegen mussten noch die zahlreichen Sicherungs- und Grenzanlagen entfernt werden. Schließlich konnten nach zahlreichen Sanierungen, Um- und Rückbauten die beiden Strecken am 13. November 1993 wieder zusammengefügt werden. Gleichzeitig mit der Wiedereröffnung der U2 wurde eine Umsortierung im Berliner Kleinprofilnetz vorgenommen: U1, bisher Ruhleben – Schlesisches Tor, nun Krumme Lanke – Schlesisches Tor U2, bisher Krumme Lanke – Wittenbergplatz (West) und Mohrenstraße – Vinetastraße (Ost), nun Vinetastraße – Ruhleben. U3, bisher Uhlandstraße – Wittenbergplatz, nun als U15 Uhlandstraße – Kottbusser Tor neue Linie U12 Ruhleben – Schlesisches Tor Das zweite Reaktivierungsprojekt betraf die Strecke vom Bahnhof Schlesisches Tor über die Oberbaumbrücke zum ehemaligen Bahnhof Warschauer Brücke, heute Warschauer Straße. Die Strecke, 1902 eröffnet, wurde bis zum August 1961 betrieben. Danach war die Strecke der heutigen U1 bis zum Schlesischen Tor gekürzt worden, denn der Bahnhof Warschauer Brücke gehörte damals zu Ost-Berlin. Über Jahre hin verfiel die Station, auch wenn sie teilweise von Betrieben der DDR genutzt wurde. Auch eine Aufnahme in die Liste „Nationale Kulturerben der DDR“ half nichts. 1992 begannen die ersten Bauarbeiten für die Strecke. Es waren zahlreiche Sanierungsarbeiten zu verrichten, auch Neubauten waren nötig, da einige Gebäude des Bahnhofs zu DDR-Zeiten abgerissen wurden. Als erstes wurde die Oberbaumbrücke saniert, die sich in einem desolaten Zustand befand. Der spanische Architekt Santiago Calatrava gewann die Ausschreibung und entwarf die Pläne zur Sanierung der Oberbaumbrücke. Neben dieser war auch noch der Bahnhof selber mit seinen drei Bahnsteigen, das alte Stellwerk und die Wagenhalle an der Rudolfstraße instand zu setzen. Schließlich konnten alle Bauarbeiten abgeschlossen werden, und so fuhr am 14. Oktober 1995 der erste Zug wieder zum heutigen Bahnhof Warschauer Straße, der diesen neuen Namen bekam, um die Umsteigemöglichkeit zwischen U-Bahn und S-Bahn zu verdeutlichen. Die Planungen, dass beide Schnellbahnhöfe näher aneinanderrücken, bestehen noch immer (Stand Ende 2018). Die erste Zielstellung, dies ab 2010 in Verbindung mit der Sanierung der S-Bahnhöfe Warschauer Straße und Ostkreuz vorzunehmen, wurde nicht umgesetzt. Mit der Wiedereröffnung der Strecke über die Oberbaumbrücke wurden auch die damaligen zwei Hochbahnlinien, die U1 und U15, bis zur Warschauer Straße verlängert. Heute führt nur noch die U1 dorthin. Als die heutige U6 in den Jahren 1912 bis 1923 gebaut wurde, herrschte einerseits der Erste Weltkrieg und andererseits die darauf folgende Hyperinflation. Deshalb musste die Stadt Berlin, als Bauherrin der neuen Nord-Süd-U-Bahn, sehr viel sparen. Während die vorher gebauten Kleinprofilbahnhöfe schmuckvoll ausgestattet waren, bekamen die Bahnhöfe der U6 nur weißen Putz als Verkleidung. Einziges Unterscheidungsmerkmal waren die Kennfarben der Stützen und Stationsschilder, glichen sich die Bahnhöfe doch sehr stark. Doch am meisten gespart wurde an der Bahnsteiglänge: Bei Neubauten sind heute Bahnsteige von 110 bis 120 Meter Länge üblich. Damals wurden nur 80 Meter lange Bahnsteige gebraucht und die Stadt Berlin rechnete damit, dass dies auch ausreichen würde. Schon in den 1970er Jahren gab es erste Kapazitätsprobleme, weil auf diesen Strecken nur 4-Wagen-Züge eingesetzt werden konnten. In den 1960er und 1970er Jahren wurden die ersten West-Berliner U-Bahnhöfe umgebaut, damit dort längere Züge hätten halten können. Da aber auf den drei Grenzbahnhöfen Friedrichstraße, Kochstraße und Reinickendorfer Straße ein Umbau nicht möglich war (an den anderen Bahnhöfen hielten ja keine Züge) beziehungsweise man sehr viel Geld an die DDR hätte überweisen müssen, blieb es bei dem Betrieb mit 4-Wagen-Zügen. Die BVG ließ die Züge deshalb bis zur Wiedervereinigung im 3-Minuten-Takt fahren. Nach der deutschen Wiedervereinigung waren die kurzen Bahnsteige ein nicht akzeptabler Zustand in der nun nicht mehr geteilten Stadt. Deshalb beschloss der Berliner Senat, 250 Millionen Mark für die Verlängerung der Bahnsteige der Bahnhöfe Kochstraße, Stadtmitte, Französische Straße, Friedrichstraße, Oranienburger Tor, Zinnowitzer Straße, Schwartzkopffstraße und Reinickendorfer Straße zu investieren. Veranschlagt war eine Bauzeit von vier Jahren, das heißt von Juli 1992 bis September 1996. Die Zeitdauer der Bauarbeiten ergibt sich dadurch, dass die Arbeiten bei laufendem Betrieb zu verrichten waren. Um den Eingriff in die Bausubstanz möglichst gering zu halten, entschieden sich die Planer dafür, die Bahnsteige nur an einer Seite zu verlängern. Dies konnte aufgrund folgenden Zustands gemacht werden: Die Bahnsteige enden mit jeweils zwei Treppen, um den Fahrgastfluss zu beschleunigen. Beide Treppen schlossen den Bahnsteig ab. Der Abstand von der ersten zur zweiten Treppe entsprach genau der des zu verlängernden Bahnsteigs. Nach dem Umbau befindet sich deshalb die erste Treppe noch auf dem Bahnsteig, während die zweite Treppe nun den neuen Bahnsteigsabschluss bildet. Die ersten Arbeiten begannen am Bahnhof Oranienburger Tor, der auch schon im April 1994 fertig war. Zuletzt wurden die Stationen Zinnowitzer Straße und Schwartzkopffstraße ausgebaut, denn hier war die gerade laufende Olympiabewerbung Berlins zu berücksichtigen. Die Arbeiten begannen dort im April 1995 und endeten im September 1996. Seitdem können 6-Wagen-Züge auf der U6 verkehren. Endausbau der U8 Schon seit Ende der 1960er Jahre war den Einwohnern des Märkischen Viertels eine U-Bahn-Verbindung versprochen worden. Nach Prüfung mehrerer Varianten entschieden sich die Planer für eine Verlängerung der U8. Bis 1987 wurden bereits zwei Etappen (Gesundbrunnen – Osloer Straße und Osloer Straße – Paracelsus-Bad) auf dem Weg in Richtung Märkisches Viertel erreicht. Die dritte Etappe stand noch aus. Nach der Übernahme der West-Berliner S-Bahn durch die BVG und der Wiedereröffnung der Strecke am 1. Oktober 1984 Richtung Frohnau gab es immer mehr Kritik an der Verlängerung der U8, sollte diese doch nahezu parallel zur S-Bahn verlaufen. Der West-Berliner Senat ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken und setzte weiter auf den U-Bahn-Bau. Selbst eine Mahnung aus der damaligen Bundeshauptstadt Bonn, die Zuschüsse einzustellen und das zu verbauende Geld in die sanierungsbedürftige S-Bahn zu investieren, stieß bei den BVG-Verantwortlichen auf taube Ohren. Die BVG argumentierte damit, dass ein Stopp des Berliner U-Bahn-Baus der Stadt schweren wirtschaftlichen Schaden bringen würde. Der erste Rammschlag fand am 27. Februar 1985 statt, damals war der Streckenabschnitt davor noch in Bau. Als Endbahnhof der dritten Etappe der U8 war der Bahnhof Wilhelmsruher Damm in der Nähe des S-Bahnhofs Wittenau vorgesehen. Man grenzte sich damit offensichtlich von der S-Bahn ab. Erst kurz vor der Einweihung der Neubaustrecke korrigierte der Senat den Bahnhofstitel. Seitdem heißt die Station „Wittenau (Wilhelmsruher Damm)“, gebräuchlich ist allerdings nur „Wittenau“. Die Strecke verläuft hinter dem Bahnhof Paracelsus-Bad weiter unter der Lindauer Allee. Darauf schließt sich auch gleichnamiger Bahnhof an, der als einzige Station der U8 einen Seitenbahnsteig hat. Nach einer langen Kurve unterfährt die U8 nun die S-Bahn. Hier wurde die Station so gelegt, dass ein sehr langer Umsteigeweg entstand. Auch hier gab es einen Namensstreit: Der neu anzulegende U-Bahnhof an dortiger Stelle sollte von vorneherein „Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik“ heißen. Der S-Bahnhof in der Nähe hieß „Wittenau (Kremmener Bahn)“, der nicht zu verwechseln ist mit „Wittenau (Nordbahn)“. Aufgrund dieser Verwechslungsgefahr wurde er auch in „Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik“ umbenannt. Für Geografen ein wahres Wortmonstrum, setzte sich der Name nur nach und nach durch. Bei der S-Bahn wird bis heute zwar „Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik“ angesagt, aber nur „Karl-Bonhoeffer-Klinik“ (ohne „Nerven“) angezeigt. Im Anschluss unterfährt die U-Bahn die Klinik. Um den Betrieb nicht zu stören, musste hier der Schildvortrieb eingesetzt werden, sogar eine Gummimattierung musste hier eingesetzt werden. Die rief wieder die Kritiker auf den Plan, die eine offene Bauweise mit Gebäudeabfangung favorisierten. Bei dem Bau dieses Streckenabschnittes kamen aber noch andere Probleme: Der märkische Sand machte die Arbeiten besonders schwierig und auch zahlreiche überdimensionale Findlinge verzögerten die Bauarbeiten. Hinter der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik schwenkt die U8 auf den Eichborndamm, wo auch die Station Rathaus Reinickendorf errichtet wurde. Nach 1101 Metern erreicht die U-Bahn-Linie U8 ihren eigentlich vorläufigen, aber wahrscheinlich wohl endgültigen Endbahnhof Wittenau. Bis heute ist es zwar vorgesehen, diese Linie ins Märkische Viertel zu verlängern. Doch wie auch bei anderen U-Bahn-Projekten verhindert die extreme Haushaltsnotlage des Landes Berlin einen Weiterbau. Die gesamte Neubaustrecke, die 3,6 Kilometer lang ist und vier neue Bahnhöfe hat, wurde am 24. September 1994 eröffnet. Der Streckenbau kostete 600 Millionen Mark. Genau wie bei anderen neu gebauten U-Bahnstrecken dieser Zeit übernahm Rainer Gerhard Rümmler die Gestaltung der Bahnhöfe. Kritiker meinen, dieser Abschnitt würde seinen Höhepunkt darstellen, neigte Rümmler doch etwas zur Übertreibung. Dies stellt sich insbesondere im U-Bahnhof Lindauer Allee dar. Hier verwendete er vor allem das Symbol des Lindauer Wappens, des Lindenbaums. Am U-Bahnhof sollen die Farben grün und gelb eine gewisse Ruhe ausstrahlen, die er mit dem geplanten Bahnhofsnamen „Wilhelmsruher Damm“ assoziierte. Baupläne für eine U-Bahn zum S-Bahnhof Hermannstraße gibt es bereits seit 1910. Auch als die sogenannte „GN-Bahn“ zwischen 1927 und 1930 schrittweise eröffnet wurde, gab man die Pläne für eine Verlängerung nicht auf. Im Jahr 1929 begannen die ersten Arbeiten in Richtung Süden, doch die damalige Wirtschaftskrise verhinderte deren weitere Ausführung. Letztendlich stellt die Stadt Berlin als Bauherrin 1931 die Arbeiten ein. Bis dahin war der Tunnel vom Bahnhof Leinestraße und etwa ein Drittel des zukünftigen Bahnsteigs Hermannstraße fertiggestellt. Der noch in Rohbau befindliche Bahnhof wurde 1940 in einem Schutzbunker ausgebaut, da dieser aufgrund der Unterquerung der S-Bahn sehr tief lag. Auch heute erinnern noch Relikte an die Zeit. Nach 1961 wurden die Verlängerungspläne nicht mehr weiterverfolgt, da eine Umsteigeverknüpfung mit der von der DDR betriebenen S-Bahn nicht erwünscht war. Den bereits errichteten Tunnel benutzte die BVG als Abstellanlage für nicht mehr gebrauchte Züge. Nach der deutschen Wiedervereinigung schien auf einmal vieles möglich. Der S-Bahn-Ring, der 1980 nach einem S-Bahner-Streik von der Deutschen Reichsbahn stillgelegt worden war, sollte wiedereröffnet werden. Die Eröffnung war für den 17. Dezember 1993 vorgesehen – dies bedeutete, der Senat und die BVG mussten sich sehr beeilen, da die Bauarbeiten des U-Bahnhofs vor der Wiedereröffnung des S-Bahn-Rings beginnen mussten. Bei den Arbeiten für den Bahnhof entdeckte die BVG auch die in den 1960er Jahren dort abgestellten Züge. Viele U-Bahn-Liebhaber freuten sich, da dort ein schon musealer Zug wiedergefunden wurde, ein BI-Zug. In den Bauarbeiten war die Sanierung des Altbautunnels und des schon vorhandenen Bahnsteigs inbegriffen sowie der Neubau des restlichen Bahnsteigs und eine 320 Meter lange Kehranlage. Außerdem waren Übergänge zum darüber liegenden S-Bahnsteig sowie mögliche Treppen zu einem geplanten Regionalbahnhof zu berücksichtigen. Schließlich wurde am 13. Juli 1996 der 168. Berliner U-Bahnhof eröffnet. Auch hier war wieder Rainer Gerhard Rümmler, zum letzten Mal, für die Gestaltung des Bahnhofes zuständig. Er orientierte sich sehr stark an den auf der Strecke davorliegenden Bahnhöfen und entwarf einen sehr sachlichen mit türkisfarbenen Fliesen versehenen Bahnhof. An manchen Stellen wurden Fliesen entfernt, um die historischen Bunkerhinweise in die Station zu integrieren. Mit diesem Bahnhof hat die U8 bisher ihren Endzustand erreicht. Auch wenn eine Verlängerung ins Märkische Viertel vorgesehen ist, so ist es doch unwahrscheinlich, dass diese in den nächsten Jahrzehnten realisiert wird. Eine Verlängerung in Richtung Britz, wie früher vorgesehen, wurde aufgrund des Parallelverkehrs mit der U7 aufgegeben. Zwei neue Stationen für die U2 Bereits bei der Wiedereröffnung der Linie U2 im Jahr 1993 waren Vorleistungen für einen neuen Bahnhof auf der Linie errichtet worden. Seinerzeit musste die Rampe zwischen den Bahnhöfen Gleisdreieck und Potsdamer Platz ganz neu gebaut werden, da es die Regelung gibt, dass ein 120 Meter langer Bahnhof vollkommen waagerecht sein muss. So musste die Rampe neu konzipiert und auch etwas steiler gebaut werden. Ein Bedarf für diesen Bahnhof besteht erst seit den letzten Jahren, seitdem das neue Areal um den Potsdamer Platz entstand. Angeblich soll auch der damalige DaimlerChrysler-Konzern zehn Millionen Mark für diesen Neubau bezahlt haben. Geplant als „Hafenplatz“ (Arbeitstitel) wurde der in BVG-Eigenregie erbaute Bahnhof Mendelssohn-Bartholdy-Park mit zwei Seitenbahnsteigen am 1. Oktober 1998 eröffnet. Die Bauarbeiten waren ohne Behinderung des Betriebes der Linie U2 erfolgt. Die vom Architektenbüro Hilmer, Sattler und Partner entworfene Station ist 619 Meter vom U-Bahnhof Potsdamer Platz und 469 Meter vom U-Bahnhof Gleisdreieck entfernt. Seit Jahrzehnten gab es Planungen für eine Verlängerung der U2 zum S-Bahnhof Pankow an der Stettiner Bahn. 1930 war die Strecke bereits zum U-Bahnhof Vinetastraße verlängert worden. Eine weitere Verlängerung in Richtung Norden kam aufgrund der Weltwirtschaftskrise nicht mehr zustande. Auch in den Erweiterungsplänen der NS-Zeit war es stets vorgesehen, die U-Bahn mindestens bis zum Bahnhof Pankow, wenn nicht sogar bis zur Pankower Dorfkirche, zu führen. Gleiche Pläne gab es auch zu DDR-Zeiten und Ende der 1980er Jahre gab es sogar konkrete Bauankündigungen. Das lag vor allem daran, dass den Berliner Verkehrsbetrieben der DDR (abgekürzt: BVB) eine Kleinprofilwerkstatt fehlte. Alle Züge wurden sowohl in der Großprofil-Betriebswerkstatt Friedrichsfelde als auch im Reichsbahnausbesserungswerk Schöneweide gewartet, das die Funktion einer Hauptwerkstatt übernahm. Diese Zustände waren schon lange nicht mehr akzeptabel, und so suchte man Platz für eine neue Werkstatt, da auch die bestehende (sehr kleine) Werkstatt am U-Bahnhof Rosa-Luxemburg-Platz nicht den Ansprüchen genügte. Diese sollte östlich an der Granitzstraße am Rangier- und Güterbahnhof der Stettiner Bahn errichtet werden. Im Zusammenhang damit sollte auch die U-Bahn um eine Station verlängert werden. Bis 1988 wurde der Tunnel verlängert, nach dem Mauerfall wurde bis 1994 der Tunnel zu einer Kehranlage ausgebaut. Erst Mitte der 1990er Jahre wurde dieses Thema wieder aktuell. An zahlreichen Stellen im U-Bahn-Netz waren Lückenschlüsse zwischen S- und U-Bahn vorgesehen, dazu gehörte auch die U2 nach Pankow. Im Sommer 1997 begannen schließlich die ersten Bauarbeiten für diese Netzerweiterung. Diskutiert wurde auch der Mitbau einer neuen Kleinprofil-Werkstatt, wie sie zu DDR-Zeiten vorgesehen war. Man verzichtete zwar auf deren Bau, da die derzeitige Werkstatt Grunewald alle Arbeiten ohne Kapazitätsprobleme verrichten konnte, dennoch bereitete man baulich auch die Anbindung der geplanten Werkstatt vor. Äußerst schwere Bodenverhältnisse, der extrem hohe Grundwasserstand und Funde einer mittelalterlichen Siedlung verzögerten die Arbeiten dennoch erheblich. Schließlich konnte erst am 16. September 2000 der Lückenschluss zwischen S- und U-Bahn eröffnet werden. Zeitweilig war der Name „Bahnhof Pankow“ vorgesehen, die BVG entschied sich jedoch für „Pankow“. Der in den Farben Blau, Weiß und Gelb gehaltene 110 Meter lange U-Bahnhof erhielt die im Berliner U-Bahn-Netz seltenen Oberlichter, so kann auch Tageslicht in die Station dringen. Bei den Bauarbeiten wurde gleichzeitig ein großzügiges Empfangsgebäude mit errichtet, das durch Rolltreppen und einem Aufzug ein gutes Umsteigen zur S-Bahn-Linie S2 nach Bernau ermöglicht. Es bestehen auch weiterhin Planungen, wonach die U2 bis zur Pankower Kirche bzw. der Breiten Straße verlängert werden würde. Diese Planung ist auch im „Finanzszenario 2030“ des Berliner Senats vorgesehen. So ist eine mittelfristige Realisierung sehr wahrscheinlich. Beide Stationen waren die ersten Neubauten im Berliner Kleinprofilnetz seit Jahrzehnten. Auch damit wird verdeutlicht, dass die BVG das Großprofil favorisiert. Der Hauptbahnhof bekommt einen U-Bahnhof Die Verlängerung der Linie U5 (damals: Linie E) nach Westen war bereits im seinerzeitigen 200-Kilometer-Plan enthalten, wurde jedoch lange Zeit nicht realisiert. Der Bau startete 1995. Nach mehreren Komplikationen wurde der Abschnitt zwischen dem Hauptbahnhof und dem Brandenburger Tor als Linie U55 (sogenannte „Kanzler-U-Bahn“) am 8. August 2009 eröffnet. Im gleichen Jahr begannen die Bauarbeiten für den Lückenschluss zwischen Alexanderplatz und Brandenburger Tor. Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurde am 18. März 2020 der Betrieb der U55 vorübergehend eingestellt. Anfang Mai 2020 wurde entschieden, die Linie vor der Anbindung an die Linie U5, die am 4. Dezember 2020 eröffnet wurde, nicht wieder in Betrieb zu nehmen. Eröffnungsdaten Die folgende Liste enthält das Eröffnungsdatum und den Streckenabschnitt. Entwicklung der Fahrgastzahlen Anmerkungen Literatur Sabine Bohle-Heintzenberg: Architektur der Berliner Hoch- und Untergrundbahn. Planungen – Entwürfe – Bauten bis 1930. Verlag Willmuth Arenhövel, Berlin 1980, ISBN 3-922912-00-1. Biagia Bongiorno: Verkehrsdenkmale in Berlin – Die Bahnhöfe der Berliner Hoch- und Untergrundbahn. Michael-Imhof-Verlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-86568-292-5. Johannes Bousset: Die Berliner U-Bahn. Verlag von Wilhelm Ernst & Sohn, Berlin 1935. Ulrich Conrad: Planungen der Berliner U-Bahn und anderer Tunnelstrecken. Verlag Bernd Neddermeyer, 2008, ISBN 978-3-933254-87-0. Petra Domke und Markus Hoeft: Tunnel Gräben Viadukte – 100 Jahre Baugeschichte der Berliner U-Bahn. kulturbild Verlag, Berlin 1998, ISBN 3-933300-00-2. Gustav Kemmann: Zur Eröffnung der elektrischen Hoch- und Untergrundbahn in Berlin. Berlin, Verlag von Julius Springer 1902. Verkleinerter Nachdruck hrsg. von der AG Berliner U-Bahn, GVE-Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-89218-077-6. Ulrich Lemke, Uwe Poppel: Berliner U-Bahn. 3. Aufl. age-alba Verlag, Düsseldorf 1992, ISBN 3-87094-346-7. Brian Hardy: The Berlin U-Bahn. Capital Transport Publishing, Middlesex/UK 1996, ISBN 1-85414-184-8. Jürgen Meyer-Kronthaler: Berlins U-Bahnhöfe. Die ersten hundert Jahre. be.bra verlag, Berlin 1995, ISBN 3-930863-07-3. Jürgen Meyer-Kronthaler, Klaus Kurpjuweit: Berliner U-Bahn – In Fahrt seit Hundert Jahren. be.bra verlag, Berlin 2001, ISBN 3-930863-99-5. Uwe Poppel: Berliner U-Bahn: Zeitgeschichte in Liniennetzplänen – von 1902 bis heute. GVE-Verlag, Berlin 2017, ISBN 978-3-89218-488-1. Walter Schneider: Der städtische öffentliche Nahverkehr Berlins, Aufl. o. D. in 12 Bänden, Bd. 9, S. 232. Neuauflage des Historischen Archivs der BVG, Berlin 2014. (Mitteilung in BVG PLUS 07/14, S. 7.) Klaus Konrad Weber, Peter Güttler, Ditta Ahmid (Hrsg.), Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin (Hrsg.): Berlin und seine Bauten. Teil X, Band B. Anlagen und Bauten für den Verkehr. Bd. 1. Städtischer Nahverkehr. Verlag von Wilhelm Ernst & Sohn, Berlin – München – Düsseldorf 1979. Weblinks Übersicht zu Strecken, Fahrzeugen, Geschichte etc. Zahlreiche Dokumente zum Download Historische Dokumente als Webseiten aufbereitet Die Elektrische Hoch- und Untergrundbahn zu Beginn des Jahres 1902. In: Königlich privilegierte Berlinische Zeitung. Einzelnachweise U-Bahn U-Bahn Berlin U-Bahn Berlin Berlin
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Sebastian Franck
Sebastian Franck (auch Sebastian Franck von Wörd, lateinisch Sebastianus Francus Woerdensis, Pseudonyme Friedrich Wernstreyt, Felix Frei; * 1499 in Donauwörth; † 1542 in Basel) war ein deutscher Theologe, Schriftsteller, Publizist, Chronist, Geograph, Philosoph, Übersetzer und Buchdrucker. Nach seinem Theologiestudium war Franck zunächst als katholischer Priester in der Seelsorge tätig, dann schloss er sich der Reformation an und wurde lutherischer Prediger. Später verzichtete er auf das geistliche Amt und konzentrierte sich auf die Schriftstellerei, wobei er eine radikalreformatorische und autoritätskritische Haltung einnahm. In Straßburg veröffentlichte er eine Weltchronik, in der er schonungslose Kritik an der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit übte, was zu seiner Ausweisung aus der Stadt führte. In Ulm, wo er ab 1535 eine Druckerei betrieb, geriet er wegen seiner „Ketzerei“ erneut in einen schweren Konflikt, der wiederum damit endete, dass ihn eine mächtige Gegnerschaft vertrieb. Daraufhin wich er 1539 nach Basel aus, wo er sich in seinen letzten Lebensjahren weiterhin als Schriftsteller und Drucker betätigte. Im Zentrum von Francks Welt- und Geschichtsbild stand eine für damalige Verhältnisse ungewöhnlich radikale Ablehnung jeder Form von religiöser Bevormundung. Als Betroffener der erbitterten Glaubenskämpfe der Reformationszeit sah er die Wurzel des Übels im konfessionellen Dogmatismus. Diesen hielt er für eine unvermeidliche Folge der Etablierung des institutionellen Kirchenwesens. Daher verwarf er grundsätzlich jede Art von kirchlicher Organisation und plädierte für Unparteilichkeit in den konfessionellen Streitigkeiten. In den kirchlichen Institutionen sah er die Ursache der Korrumpierung des Christentums. Vor allem verurteilte er die Verbindung von Kirche und Staat und die staatliche Intervention bei religiösen Meinungsverschiedenheiten. An die Stelle der äußeren Autoritäten einschließlich der Bibel setzte Franck das „innere Wort“ im Geist des einzelnen Individuums als handlungsleitende Instanz, Norm der Erkenntnis und alleinige Quelle des Heils. Außerdem betonte er die Rolle der historischen und individuellen Erfahrung als Erkenntnisquelle. Seine historischen Studien führten ihn zu einer vernichtenden Bilanz der Machtausübung im monarchischen Staat. In gewaltsamem Aufruhr sah er aber keinen Weg zur Besserung der Verhältnisse. Die zeitgenössischen Gelehrten wiesen Francks Ansichten scharf zurück. Die zahlreichen Ausgaben seiner Werke im 16. Jahrhundert zeugen jedoch von dem lebhaften Interesse, auf das sein Gedankengut bei einem breiteren Publikum stieß. Insbesondere in den Niederlanden fanden die Ideen des radikalreformatorischen Schriftstellers in Dissidentenkreisen starke Resonanz. In der Moderne haben ihm seine Autoritätskritik, sein Pazifismus und seine Toleranzforderung viel Anerkennung eingebracht; er wird als Vorläufer aufklärerischer Denker gewürdigt. Leben Herkunft, Ausbildung und Tätigkeit als Geistlicher Sebastian Franck wurde 1499 in Donauwörth geboren. Das oft genannte Geburtsdatum 20. Januar ist spekulativ. Er stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Sein Vater war wahrscheinlich der Weber Sixt Franck. Ein Onkel namens Michael Franck war Gastwirt in Nördlingen. Nach dem Besuch der Lateinschule in Nördlingen oder der Schule des Benediktinerklosters Heiligkreuz in Donauwörth wurde Sebastian Franck am 26. März 1515 an der Universität Ingolstadt als Hörer der Artistenfakultät immatrikuliert. Am 13. Dezember 1517 schloss er das Studium der artes liberales mit dem Erwerb des Grades eines Baccalaureus ab. Anschließend setzte er seine Ausbildung am Kolleg der Dominikaner in Heidelberg mit dem Studium der katholischen Theologie fort. Dort waren Martin Bucer und Martin Frecht, die später namhafte Reformatoren wurden, seine Studienkollegen. Sowohl in Ingolstadt als auch in Heidelberg dominierte eine konservative Mentalität. Der Unterricht orientierte sich an der herkömmlichen Vorgehensweise der mittelalterlichen Scholastik. Immerhin waren in Ingolstadt schon einige Humanisten tätig – darunter Johannes Aventinus, den Franck schätzte. Später, in seinen letzten Lebensjahren, stellte Franck rückblickend fest, er sei als Deutscher in einem barbarischen Zeitalter geboren und habe in einem „amusischen“ Milieu einen unzulänglichen Unterricht erhalten. Damit bezog er sich auf den Umstand, dass sich das humanistische Bildungswesen in seiner Heimat erst spät und mühsam durchgesetzt hatte, weswegen er in seiner Jugendzeit kaum davon hatte profitieren können. Oft beklagte er, dass er seine Bildungslücken nie ganz habe beseitigen können. Tatsächlich blieb sein Latein schwerfällig und unbeholfen. Sein Leben lang bedauerte Franck, dass er keine umfassende humanistische Ausbildung erhalten hatte, und bewunderte die kulturelle Erneuerungsbewegung der Humanisten. Er verfügte nur über begrenzte Griechisch-Kenntnisse und keinerlei Kenntnis des Hebräischen. Wahrscheinlich war Franck am 26. April 1518 unter den Zuhörern der Heidelberger Disputation, in der Martin Luther, der damals noch Augustinermönch war, seine Rechtfertigungslehre verteidigte. Das junge Publikum war von Luthers Auftreten stark beeindruckt. Bei diesem Anlass kann Franck einen ersten Eindruck von der neuen Theologie erhalten haben. Nach dem Abschluss seiner theologischen Ausbildung wurde Franck frühestens 1523 zum Priester geweiht. Anschließend war er im Bistum Augsburg, vermutlich in Benzenzimmern, als katholischer Seelsorger tätig. In dieser Zeit wandte er sich jedoch endgültig dem reformatorischen Gedankengut zu und wechselte seine Konfession. Gegen Ende 1524 (oder in den ersten Monaten des Jahres 1525) sandte ihn der Rat der Stadt Nürnberg als lutherischen Prediger nach Büchenbach bei Roth. Dort bekleidete er die Funktion des Frühmessers, die mit einem geringen und unsicheren Einkommen verbunden war. Sein ärmliches Gehalt betrug einen dreiviertel Gulden wöchentlich. In dieser Zeit erlebte er den Bauernkrieg mit. Später missbilligte er rückblickend die Kompromisslosigkeit der Bauern, die vernünftige Vorschläge abgelehnt hätten. Im Jahr 1527 wechselte er nach Gustenfelden, wo er wiederum als Frühmesser tätig war. Am 17. März 1528 heiratete Franck in Nürnberg Ottilie Beham, die eine Schwester oder nahe Verwandte der bekannten Maler und Kupferstecher Barthel Beham und Sebald Beham war. Die beiden Brüder waren im Januar 1525 wegen ihrer religiösen und politischen Ansichten in Nürnberg verhaftet, vor Gericht gestellt und aus der Stadt verbannt worden. Zusammen mit Georg Pencz galten sie als „die drei gottlosen Maler“, denn sie wurden beschuldigt, weder die biblische Autorität noch die weltliche Obrigkeit anzuerkennen. Barthel Beham sympathisierte mit der sozialrevolutionären Strömung um Thomas Müntzer. Zum Umfeld der Brüder gehörte der Nürnberger Schulrektor und Reformator Hans Denck, der ebenfalls 1525 Nürnberg verlassen musste. Spätestens um diese Zeit begann Franck, sich mit dem Gedankengut der radikalreformatorischen und sozialrevolutionären Kreise um die „gottlosen Maler“ und Denck zu befassen. Dabei dürfte seine Frau, die der staatlich verfolgten Täuferbewegung nahestand, eine Rolle gespielt haben. Allerdings arbeitete Franck damals noch mit dem täuferfeindlichen Reformator Andreas Althamer zusammen. Er übersetzte Althamers gegen Denck gerichtete Schrift Diallage aus dem Lateinischen ins Deutsche, erweiterte sie und stellte ihr ein Vorwort voran. In diesem 1528 gedruckten Werk nahm er eine weitgehend lutherische Position ein. Als Schriftsteller trat Franck leidenschaftlich für seine Überzeugung ein, dass es keinen Glauben ohne Änderung des Lebenswandels geben könne. Damit bekannte er sich zu einer Hauptforderung der radikalreformatorischen Strömung. Ein lebenspraktisches Beispiel behandelte er in seinem ersten eigenständigen Traktat, das er wahrscheinlich schon um 1528/1529, aber spätestens 1531 verfasste. In dieser Schrift prangerte er das damals sehr verbreitete „greuliche Laster der Trunkenheit“ an, welches mit der Religion unvereinbar sei. Wenn ein Prediger merke, dass er mit seiner Forderung nach einer Besserung des Lebenswandels auf taube Ohren stoße, solle er schweigen oder davongehen. Die tiefe Frustration, die aus Francks Worten spricht, lässt erkennen, wie wenig er als Seelsorger auszurichten vermochte. Offizielle Moral und Alltagswirklichkeit klafften in dem dörflichen Milieu, in dem er tätig war, weit auseinander. Gegen Ende 1528 oder im folgenden Jahr zog Franck daraus die Konsequenz: Er gab sein geistliches Amt auf und ließ sich in Nürnberg nieder, um fortan als Schriftsteller und Übersetzer ein empfänglicheres Publikum anzusprechen. Dissidententum und Provokation der Autoritäten Nürnberg war damals eine bedeutende, wirtschaftlich und kulturell blühende Reichsstadt. Die Reformation war dort 1525 offiziell durchgeführt worden. Ein Teil der Bevölkerung war für radikale religiöse und sozialreformerische Ideen aufgeschlossen. Der Stadtrat war jedoch misstrauisch und gewillt, gegen die Verbreitung ketzerischer und aufrührerischer Gedanken hart einzuschreiten. Daher eignete sich Nürnberg nur bedingt als Wohnort für einen Publizisten wie Franck, der sich zunehmend der herrschenden Hauptströmung des Luthertums entfremdet und der autoritätskritischen Haltung des 1527 verstorbenen Hans Denck genähert hatte. Es waren wohl die relativ repressiven Verhältnisse in Nürnberg, die Franck dazu bewogen, 1530 oder 1531 nach Straßburg zu übersiedeln. Die Reichsstadt Straßburg war seit der Mitte der 1520er Jahre eine Zufluchtsstätte religiöser Dissidenten. Später beschrieb Franck in seinen Schriften die dortige relativ liberale Mentalität: In Straßburg nehme man Flüchtlinge auf, ohne nach ihrer Herkunft und ihren Fluchtgründen zu fragen; wer eine Straftat begangen habe, für die man anderswo gehängt werde, der werde in Straßburg nur ausgepeitscht. Allerdings kam es auch dort zu Ausweisungen aus religiösen Gründen. An seinem neuen Wohnsitz kam Franck in Kontakt mit anderen Dissidenten, deren Überzeugungen mit den seinigen teilweise oder weitgehend übereinstimmten. Zu ihnen zählten vor allem Kaspar Schwenckfeld und Johannes Bünderlin, wahrscheinlich Christian Entfelder und vermutlich auch Michael Servetus. Schwenckfeld, der einen großen Wirkungskreis hatte, wurde für Franck zu einem wichtigen Verbündeten, wenngleich sie in einem zentralen Bereich, der Anthropologie, verschiedener Meinung waren: Schwenckfelds Auffassung von der menschlichen Natur war wesentlich pessimistischer als die Francks und stärker lutherisch beeinflusst. Über Bünderlin, dessen Gedankengut weitgehend den Ideen von Hans Denck entspricht, äußerte sich Franck mit großer Bewunderung. Ansonsten betrachtete er die zeitgenössischen Theologen und die Dissidentenszene eher distanziert. Insbesondere missbilligte er die Tendenz zur Sektenbildung, den verbreiteten schwärmerischen Enthusiasmus sowie die Neigung zu Traumvisionen. Immer entschiedener wurde im Lauf der Zeit seine Abneigung gegen jedes institutionelle Kirchen- oder Sektenwesen und gegen den Glauben an die Bedeutsamkeit äußerlicher Praktiken. Gründe für die Abweisung aller kirchlichen Autoritätsansprüche fand Franck in der Weltgeschichte, mit der er sich intensiv auseinandersetzte. Die Frucht dieser Studien war sein umfangreiches Werk Chronica, Zeitbuch und Geschichtbibel, das im September 1531 in Straßburg erschien. In dieser Weltchronik gelangte Franck zu einem vernichtenden Urteil nicht nur über das Papsttum, sondern auch über das Kaisertum und die weltlichen Machthaber im Allgemeinen. Manche Autoren hingegen, die als Häretiker – Vertreter von Irrlehren – galten, stellte er als vorbildliche Christen dar. Zu den lobenswerten „Ketzern“ zählte er auch den zeitgenössischen katholischen Humanisten Erasmus, den er damit für die Strömung des Dissidententums vereinnahmen wollte. Zu diesem Zweck stellte er Äußerungen des Humanisten zusammen, die aus streng kirchlicher katholischer Sicht verdächtig oder häretisch klangen. Dagegen setzte sich Erasmus heftig zur Wehr, denn er wollte keineswegs mit der katholischen Kirche brechen. Er beschwerte sich beim Straßburger Stadtrat und forderte ihn zum Einschreiten auf. Daraufhin ordnete der Stadtrat am 18. Dezember 1531 die Verhaftung Francks an. Man beschuldigte ihn, die Zensur, die in Straßburg mild und oberflächlich gehandhabt wurde, umgangen zu haben. Er habe die Zensoren getäuscht, indem er ihnen nicht den gesamten Text vorgelegt habe und den Eindruck erweckt habe, sein Buch sei nur eine harmlose historische Kompilation. Diese Beschuldigung entsprach wohl zumindest teilweise der Wahrheit. Am 30. Dezember 1531 beschloss der Stadtrat die Ausweisung des missliebigen Publizisten aus Straßburg. Für Franck und seinen Drucker Balthasar Beck war der Verlauf des Konflikts katastrophal. Die Publikation war wohl ein finanzielles Desaster, denn die noch greifbaren Exemplare des Buchs wurden beschlagnahmt. Allerdings gelang es Beck möglicherweise, einen Teil der Auflage zu verstecken. Dafür spricht die relativ große Zahl der Exemplare, die erhalten geblieben sind. Der Vorgang erregte beträchtliches Aufsehen. Er wurde Kaiser Karl V. zur Kenntnis gebracht, und der führende Straßburger Ratspolitiker Jakob Sturm musste das Verhalten seines Magistrats gegenüber dem aufgebrachten Erzbischof von Mainz, Albrecht von Brandenburg, verteidigen. Für den Stadtrat war zu dieser Zeit die reichspolitische Lage heikel. Unter diesen Umständen war Härte angesagt. Das bekam Franck zu spüren. Er hatte nach seiner Vertreibung aus Straßburg zunächst in der nahen Stadt Kehl am Rhein Zuflucht gefunden. Von dort aus bemühte er sich, den Straßburger Rat zur Aufhebung des Verbannungsbeschlusses zu bewegen. Sein Ansinnen wurde jedoch entschieden abgelehnt. Mit seiner fundamentalen Kritik an der geistlichen und weltlichen Obrigkeit hatte er sich viele Feinde gemacht. Die konfliktträchtige Zeit in Ulm Im Herbst 1532 begab sich Franck nach Esslingen. Dort übte er den Beruf eines Seifensieders aus, doch mit wenig Erfolg, da die Nachfrage gering war; das Waschen mit Seife war in dieser Gegend nur im Adel üblich. Daher entschloss sich Franck zur Übersiedlung nach Ulm, wo er sich 1533 mit seiner Frau und seinen beiden Kindern niederließ. Nun nahm er seine Tätigkeit als Autor und Übersetzer wieder auf. Arbeit fand er in der Druckerei von Hans Varnier. Im Oktober 1534 erhielt er das Ulmer Bürgerrecht, allerdings nur unter der Bedingung, dass er keine gefährlichen Schriften veröffentlichte. Im Herbst 1535 erlaubte ihm der Ulmer Rat, eine eigene Druckerei zu eröffnen. In Ulm trat Franck weiterhin für seine stark umstrittenen religiösen Überzeugungen ein und beharrte auf seiner Ablehnung jeder kirchlichen Amtsautorität. Dadurch geriet er in einen schweren Konflikt mit den einflussreichen Theologen Martin Frecht, Martin Bucer und Philipp Melanchthon. Man beschuldigte ihn der Zugehörigkeit zur Täuferbewegung. Dieser Vorwurf war geeignet, ihn der weltlichen Obrigkeit verdächtig zu machen, denn die als „Wiedertäufer“ diskreditierten Dissidenten galten als Aufrührer. Melanchthon wandte sich an den Landgrafen Philipp von Hessen, der daraufhin in einem Brief vom 31. Dezember 1534 an den Ulmer Stadtrat die Ausweisung des „Aufrührers“ forderte. Dieser widersetzte sich jedoch hartnäckig, wobei ihm sein neuer Status als Stadtbürger zustatten kam. Er betonte, dass er keineswegs ein Wiedertäufer sei. Eine vom Rat eingesetzte Untersuchungskommission ermittelte gegen ihn und legte ein von Frecht verfasstes negatives Gutachten vor, und ein Gutachten der Schulpfleger, bei dem Frecht wohl federführend war, kam zum selben Ergebnis. Unterstützung fand Franck jedoch bei dem Bürgermeister Bernhard Besserer, der in einer Stellungnahme vom 26. Oktober 1535 vor einer Tyrannei der Theologen warnte. Nach einer langwierigen Auseinandersetzung beschloss der Stadtrat am 5. November 1535, Franck das Bleiben zu gestatten, unter der Bedingung, dass er sich strikt einer städtischen Zensur unterwarf. Es folgte eine relativ ruhige Zeit, in der Franck seine brisante Schrift Die Guldin Arch, die in Ulm nicht erscheinen durfte, in Augsburg drucken ließ. Daraufhin wurden seine Widersacher erneut aktiv, und der Stadtrat ordnete am 1. Juli 1538 eine neue Untersuchung an. Nun stellte sich Franck auf den Standpunkt, die Zensurpflicht gelte nur für Veröffentlichungen in Ulm. Einige Zeit konnte er das Verfahren aufhalten, doch Frecht, der in Ulm der führende Theologe war und die Stadtgeistlichkeit hinter sich hatte, forderte nachdrücklich seine Vertreibung. Schließlich beschloss der Stadtrat, einer Stellungnahme der Kommission folgend, im Januar 1539 endgültig die Ausweisung des Dissidenten und seiner Familie. Dieser verließ Ulm im Juli mit seiner Frau und fünf Kindern und übersiedelte nach Basel. Dort nahm man ihn auf, obwohl Frecht brieflich vor ihm gewarnt hatte. Letzte Jahre in Basel In Basel oder schon auf dem Weg dorthin starb Francks Gattin Ottilie. Im Jahr 1541 heiratete er Margarete (Barbara) Beck, die Stieftochter des Straßburger Druckers Balthasar Beck, der es zehn Jahre zuvor gewagt hatte, seine Chronica zu veröffentlichen. In beruflicher Hinsicht erwies sich der Wechsel nach Basel als Erfolg. Franck konnte seine Tätigkeit als Autor und Buchdrucker ungehindert fortsetzen. Schon 1540 brachte er einen Druck heraus. In der Folgezeit arbeitete er mit dem Drucker Nikolaus Brylinger zusammen. Offenbar waren seine Vermögensverhältnisse nun günstig: Im Mai 1541 erwarb er das Bürgerrecht der Stadt Basel, wobei er die beträchtlichen Gebühren bar bezahlte, im Juli wurde er in die Safranzunft aufgenommen und im November kaufte er ein Haus zum Preis von 60 Pfund. Nach seinem Tod im Herbst des folgenden Jahres wurde am 31. Oktober 1542 das Inventar seines Nachlasses erstellt, das sich heute im Staatsarchiv Basel-Stadt befindet. Seine Witwe verkaufte im März 1543 das Haus für 147 Pfund. Werke Neben eigenständigen Schriften veröffentlichte Franck auch seine Übersetzungen lateinischer Werke anderer Autoren, die er damit einem breiteren Lesepublikum zugänglich machte. Zum Teil übertrug er sie nicht nur in seine Muttersprache, sondern überarbeitete sie beträchtlich, wobei er insbesondere kommentierende Ausführungen und eigene Überlegungen einfügte. Daher ist der Übergang zwischen Übersetzungen und eigenständigen Werken fließend. Die bedeutenderen Schriften und Übersetzungen sind: Diallage (Nürnberg 1528), die deutsche Übersetzung einer lateinischen Schrift des Theologen Andreas Althamer, die der Auflösung von Unstimmigkeiten in der Bibel dienen soll. In Francks Vorwort sind bereits Grundzüge seines späteren Denkens skizziert, allerdings noch im Rahmen der lutherischen Theologie. Klagbrief (Nürnberg 1529), die bearbeitete deutsche Fassung eines antikatholischen Pamphlets des englischen Reformators Simon Fish. Franck übersetzte eine lateinische Version des ursprünglich in englischer Sprache abgefassten Werks, wobei er den Text stark erweiterte und in einer Einleitung seine Auffassung des Buches darlegte. Chronica und Beschreibung der Türkei (Nürnberg und Augsburg 1530), Francks stark bearbeitete, mit eigenen Erörterungen versehene Übersetzung der lateinischen Schrift Libellus de ritu et moribus Turcorum, einer wichtigen Quelle für die Geschichte des Osmanischen Reichs. Deren Verfasser, ein Dominikaner aus Siebenbürgen, verbrachte im 15. Jahrhundert zweiundzwanzig Jahre als Gefangener im Osmanischen Reich und berichtete danach über die dortigen Sitten. Den aktuellen Anlass zur Übersetzung bot die großes Aufsehen erregende erste türkische Belagerung von Wien im Jahr 1529. In seinem Nachwort mahnte Franck, die Auseinandersetzung mit dem Islam und dem expandierenden Osmanenreich solle den Christen Anlass zu Selbstkritik geben, denn die moralische Verkommenheit, die sie den Türken vorwarfen, sei unter ihnen selbst weit verbreitet. Den Teil des Originaltextes, der die Überlegenheit des Christentums über den Islam behandelt, ließ Franck in seiner Übersetzung weg. Von dem grewlichenn laster der trunckenheit [Von dem greulichen Laster der Trunkenheit] (Augsburg 1531), eine drastische Schilderung der seelischen und körperlichen Folgen des sehr verbreiteten Alkoholmissbrauchs. Hinsichtlich der Aussicht auf Abhilfe ist der Autor skeptisch. Das zentrale Thema ist der schroffe Gegensatz zwischen dem Bekenntnis zum Christentum und der fehlenden Bereitschaft zur Umsetzung christlicher Moral im Alltag. Ein künstlich höflich Deklamation (Nürnberg 1531), Francks Übersetzung der Declamatio lepidissima ebriosi, scortatoris, aleatoris de vitiositate disceptantium des italienischen Humanisten Filippo Beroaldo, eines satirischen, unterhaltsamen Streitgesprächs. Ein Erbstreit zwischen drei Brüdern, von denen einer ein Trinker, der zweite ein Hurer und der dritte spielsüchtig ist, wird literarisch dargestellt. Franck stellte seiner Übersetzung einen ironischen Widmungsbrief an seinen Onkel, den Gastwirt Michael Franck, voran. Chronica, Zeitbuch und Geschichtbibel (Straßburg 1531, bearbeitete Neuausgabe Ulm 1536), Francks umfangreiche, 536 Blätter im Folioformat umfassende Welt- und Kirchengeschichte. Sie gliedert sich in drei Teile: die erste Chronik, die als Chronik des Alten Testaments die Menschheitsgeschichte von Adam bis Christus behandelt, die andere Chronik, genannt das Kaiserjahrbuch, welche die Herrschergeschichte von Julius Caesar bis zum damals regierenden Kaiser, Karl V., darstellt, und die dritte Chronik, die Chronik der Päpste und geistlichen Händel. Ein Teil der Papstgeschichte ist die Ketzerchronik, in der dissidente Positionen verständnisvoll beschrieben werden. Das Material ist aus älteren Geschichtswerken, vor allem der Schedelschen Weltchronik, übernommen, die Quellen werden genannt. Die Eigenleistung des Autors besteht in den weitreichenden Folgerungen, die er aus der Betrachtung der Geschichte zieht. Franck betont, dass seine Darstellung unparteiisch sei. Damit meint er, dass er aus keiner konfessionellen oder sektiererischen Perspektive urteile. Sein Ziel sei die moralische Erkenntnis und Weisheit, die man durch das Studium der Geschichte erlangen könne. In diesem Sinne sieht er in der Chronik eine „Geschichtsbibel“. In der Einleitung weist er auf seine Pionierrolle hin: Es bestehe ein Mangel an namhaften Chroniken in deutscher Sprache, und nicht ohne Grund würden die Deutschen von den Italienern als kulturlose Barbaren betrachtet. Weltbuch (Tübingen 1534), die erste Kosmographie in deutscher Sprache. Dieses Handbuch beschreibt als „Spiegel und Bildnis des ganzen Erdbodens“ die vier Kontinente Asien, Afrika, Europa und Amerika. Als Geograph folgt Franck hier in erster Linie dem Konzept beschreibender Natur- und Länderkunde des antiken Gelehrten Strabon, nicht der kosmologisch-astronomischen, mathematischen und kartographischen Ausrichtung des Ptolemäus und der zeitgenössischen „Nürnberger Geographenschule“. Es geht ihm um die qualitativen, nicht die quantitativen Aspekte der Erdbeschreibung. Einen Schwerpunkt bildet die Humangeographie. Besondere Beachtung findet die Volkskunde. Kronbüchlein (Ulm 1534), Francks Bezeichnung für vier zusammen veröffentlichte kleinere Schriften und Übersetzungen, mit denen er die Wertlosigkeit aller weltlichen Scheinweisheit und einer Frömmigkeit ohne spirituelle Fundierung zeigen will: Lob der Torheit, die erste deutsche Übersetzung von Erasmus’ Moriae encomium Von der Heillosigkeit, Eitelkeit und Ungewissheit aller menschlichen Künste und Weisheit nebst dem Anhang Lob des Esels, eine Teilübersetzung der Schrift De incertitudine et vanitate scientiarum declamatio invectiva des zeitgenössischen Gelehrten Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim Von dem Baum des Wissens Gutes und Böses, Francks gegenwartsbezogene Auslegung der biblischen Erzählung vom Baum der Erkenntnis und vom Baum des Lebens Encomium, ein Lob des törichten göttlichen Worts, eine Schrift Francks über den Unterschied zwischen dem „äußeren“ und dem „inneren“ Wort der Bibel Paradoxa ducenta octogina (Ulm 1534), eine Sammlung von paradoxen Aussagen, die der Autor als Ausgangsbasis für theologisch-religionsphilosophische Erörterungen nutzt. Das Material ist teils der Bibel und anderen Quellen entnommen, teils sind es gängige Sprüche; manches hat Franck wohl selbst formuliert. Er will zeigen, dass ein buchstäbliches Verständnis den Paradoxen nicht gerecht werden könne. Es führe in den Irrtum und sei die Ursache der Gegensätze zwischen den Sekten und Richtungen. Die verborgene Wahrheit könne man nur durch das „innere Wort“ erfassen, das dem Menschen innewohne und das man daher in sich selbst finde, nicht in der Außenwelt. Die Unauflöslichkeit der Paradoxe soll im Leser eine Bewegung auslösen, die ihn geistig voranbringt. Die Guldin Arch (Die goldene Arche, Augsburg 1538), eine über fünfhundert Folioseiten umfassende Sammlung von Zitaten aus der Bibel, aus theologischen Schriften und aus Werken von „Heiden und Philosophen“. Die ausgewählten Stellen sollen der Leserschaft das Spiritualitätsverständnis des Autors nahebringen. Franck ergreift auch selbst in der Vorrede, in Einschüben und Randbemerkungen das Wort. Er wirft „unseren Theologen“ – gemeint sind scholastisch denkende Gelehrte – vor, sie würden alles „messen und definieren“, als hätten „sie allein den Heiligen Geist gefressen“. Germaniae Chronicon (Frankfurt am Main und Augsburg 1538), ein umfangreiches Werk, das die politische Geschichte und Kulturgeschichte „des ganzen Deutschlands, aller deutschen Völker“ behandelt. Es fußt auf der Chronik des Johannes Nauclerus. Das verbüthschiert mit siben Sigeln verschlossen Bůch (Augsburg 1539), eine Anleitung zur Lektüre der Bibel, die als „verbütschiertes“ (versiegeltes) Buch dargestellt wird. Der Autor will dem Leser zeigen, wie die „sieben Siegel“, mit denen die Bibel verschlossen sei, zu öffnen seien. Nach seiner Darstellung ergibt sich die Auflösung von Widersprüchen, wenn man von der wörtlichen Bedeutung gegensätzlicher biblischer Aussagen absieht und sich der übergeordneten spirituellen Wahrheit zuwendet, die jeweils beide Aussagen umfasst. Kriegsbüchlein des Friedens (Augsburg 1539), eine unter dem Pseudonym „Friedrich Wernstreyt“ veröffentlichte Kampfschrift, in der Argumente zur Begründung von Francks Friedensethik zusammengestellt sind. Sprichwörter (Frankfurt am Main 1541), eine große Sammlung von fast siebentausend Sprichwörtern, sprichwörtlichen Redensarten und Redewendungen unterschiedlicher Thematik, teils in lateinischer Sprache mit Übersetzung. Meist folgen auf einen lateinischen Spruch mehrere ähnliche deutsche, die allerdings teilweise nicht deutschen Ursprungs, sondern Übertragungen aus dem Lateinischen sind. Eingeschoben sind theologisch-philosophische Erörterungen, die äußerlich an einzelne Sprichwörter anknüpfen, historische Beispiele und Fabeln. Manche Sprichwörter sind erläutert, andere nicht. Franck folgte dem Konzept von Erasmus’ Sprichwortsammlung Adagia. Wie Erasmus sah er in der Dunkelheit und Kürze alter Spruchweisheiten Indizien einer verborgenen Wahrheit. Christliches und paganes Sprichwortgut hielt er für gleichermaßen wertvoll. Er billigte aber keineswegs die Behauptungen aller Sprichwörter, die er anführte. Vielmehr wollte er dem Leser Gelegenheit bieten, durch die Auseinandersetzung mit den vielfältigen, teils gegensätzlichen Aussagen sein Urteilsvermögen zu schärfen. Lehre Francks Weltanschauung ist sowohl vom kritischen Geist des Renaissance-Humanismus als auch vom religiösen Emanzipationsstreben der frühen Reformationszeit geprägt. Zu den Zeitgenossen, von denen er Anregungen empfing, zählen vor allem der junge Luther, Erasmus und Hans Denck. Wesentliche Impulse verdankte er auch zwei spirituellen Autoren des 14. Jahrhunderts: Johannes Tauler und dem unbekannten Verfasser der Theologia deutsch. Intensiv setzte er sich mit dem Corpus Hermeticum auseinander. Religiöse Gedankenwelt Im Zentrum von Francks Gedankenwelt steht das Verhältnis des Menschen zu Gott. Er ist zwar Theologe, doch seine Lehre verlässt sowohl vom Ansatz als auch von den Konsequenzen her den Boden des herkömmlichen theologischen Denkens. Daher ist sie weniger Theologie im üblichen Sinn als vielmehr eine religiöse Philosophie. Ein wichtiger Aspekt ist die eschatologische Erwartung des nahenden Weltendes, die Franck mit vielen seiner Zeitgenossen teilt. Angesichts der düsteren Gegenwart und Zukunft sehnt Franck das Ende herbei, betont aber die Ungewissheit des Zeitpunkts und der Einzelheiten. Fundamentale Kritik am Katholizismus Eines der Hauptanliegen Francks ist die Widerlegung des päpstlichen Autoritätsanspruchs, mit dem er sich in seiner Papstchronik auseinandersetzt. Anhand des Quellenmaterials will er den Päpsten Verfälschung der christlichen Lehre und sonstige Untaten nachweisen. Dabei steht er vor dem Problem, dass er für die Papstgeschichte auf Nachrichten aus italienischen Quellen angewiesen ist, deren katholische Autoren er wegen ihrer Einbindung in die kirchliche Elite nicht für vertrauenswürdig hält. Aus seiner Sicht sind sie Karrieristen, die sich nicht um die Wahrheit bemüht haben. Beim Bestreben, dem Papsttum die Grundlage zu entziehen, stützt er sich vor allem auf eine Argumentation, mit der er beweisen will, dass der Apostel Petrus, der angebliche erste Papst, keineswegs Bischof von Rom gewesen sei und dort den Märtyrertod erlitten habe. In Wirklichkeit habe sich Petrus nie in Rom aufgehalten. Im Gegensatz zu anderen reformatorischen Autoren führt Franck die Korrumpierung des Christentums nicht erst auf die konstantinische Wende im 4. Jahrhundert zurück. Vielmehr meint er, nur in der Apostelzeit habe es eine wahrhaft christliche Gemeinde gegeben. Der Verfall sei schon unter den unmittelbaren Nachfolgern der Apostel eingetreten. Die Verbindung von Kirche und Staat ab der Zeit Konstantins des Großen ist für Franck nur eine weitere Phase im Prozess des zunehmenden Verrats an der christlichen Lehre. Im Unterschied zu Luther und anderen Reformatoren beurteilt Franck nicht nur das Papsttum, sondern auch die Konzile prinzipiell negativ. Sie hätten maßgeblich zur Festigung der kirchlichen Tyrannei beigetragen und den Weg zu einem brutalen Umgang mit den Ketzern gebahnt. Die Entstehung und Entwicklung des Papsttums betrachtet Franck nicht als vermeidbares Unglück, sondern als Notwendigkeit. Nach seiner Meinung will und muss die Welt ein Papsttum haben; nötigenfalls würde sie – wie er sarkastisch bemerkt – das Papsttum „stehlen“, um sich einer solchen Autorität unterwerfen zu können. Das Konzept eines nichtkonfessionellen Christentums Im Anhang seiner Türkenchronik formuliert Franck erstmals seine Auffassung, dass die Reformationsbewegung in vier große Glaubensrichtungen zerfällt: die lutherische, die zwinglische, die täuferische und eine vierte, die nur im Geist besteht, auf alle äußerlichen Mittel verzichtet und sich jenseits aller konfessionellen Konflikte positioniert. Die vierte, spiritualistische Richtung ist seine eigene. Francks Kernanliegen ist die Verbreitung seines Konzepts eines nichtkonfessionellen „unparteiischen Christentums“ jenseits der streitenden Bekenntnisse. Sein Ideal, das er allerdings nicht für erreichbar hält, ist die Überwindung der Aufspaltung der Christenheit in verschiedene Kirchen und Sekten. Damit meint er aber nicht, dass die Etablierung einer Einheitskirche wünschenswert wäre. Vielmehr betrachtet er grundsätzlich jede religiöse Gemeinschaft, die sich dogmatisch festlegt, institutionell organisiert und hierarchisch strukturiert, als ein Übel. Die Entstehung von Konfessionen führt er auf eine Abwendung von Gott und Hinwendung zu unwesentlichen und tendenziell schädlichen Äußerlichkeiten zurück. Francks Gegenkonzept ist eine unorganisierte und daher unsichtbare, rein geistige Gemeinschaft der echten Christen. Diese unterscheiden sich nach Francks Verständnis von ihrer Umwelt durch das Fundament ihrer Überzeugungen und sind untereinander nur durch ihr Verhältnis zu ein und derselben Wahrheit verbunden. Sie beziehen ihre religiöse Gewissheit nicht aus theologischen Dogmen, die ihnen beigebracht wurden, und nicht einmal aus der Bibel, sondern aus einem Wissen, das sie in sich selbst vorfinden. Daher kann es bei ihnen keinen privilegierten Ausleger geben. Die Quelle des Wissens ist – so Franck – im Inneren des Menschen vorhanden. Man kann zu ihr Zugang erlangen, indem man sich von fragwürdigen äußeren Einflüssen befreit und nur auf das „innere Wort“ achtet. Dieses wird dann zur einzigen Autorität und Richtschnur. Erst wenn die entscheidende Wende nach innen, zu dem „vergrabenen Schatz“, vollzogen ist, erschließt sich dem Menschen das richtige Verständnis der wirklichen Lehre der Bibel. Wer sich mit dem bloßen Wortlaut begnügt und nicht zum verborgenen Sinn vordringt, wird durch die Bibel nicht zu Gott geführt, sondern im Gegenteil sogar von ihm entfernt. Diese Überzeugung Francks steht in scharfem Gegensatz zum lutherischen Grundsatz „sola scriptura“, dem zufolge die Heilige Schrift sich selbst auslegt, da ihr Wortlaut klar und der Sinn offenkundig ist. Diese Lehre setzt eine Kontinuität zwischen Gott und Mensch voraus, dank der im Menschen eine göttliche Erkenntnisfähigkeit angelegt ist. Dabei ist sich Franck durchaus darüber im Klaren, dass seine Erhebung des „inneren Wortes“ zur Norm einen problematischen Subjektivismus zur Folge hat: Jeder kann nun den Anspruch erheben, vom inneren göttlichen Wort belehrt zu sein und damit die Wahrheit zu besitzen. Diese Konsequenz nimmt Franck in Kauf. Mit dem Prinzip der vollen Selbstständigkeit lädt er dem einzelnen Individuum auch die Last der vollen Verantwortung auf. Jeder hat für sich zu prüfen, ob das, was er in sich zu hören meint, wirklich das göttliche Wort ist. Zur unsichtbaren Gemeinschaft der wahren Christen gehören für Franck auch viele „Türken und Heiden“, die „Christi Namen nie gehört haben“, aber „seine Kraft durch das innerliche Wort in sich vernommen und dasselbe fruchtbar gemacht“ haben und von Gott „belehrt und inwendig gezogen“ werden. Der Schöpfer sei unparteiisch, er sei auch der „Gott der Heiden“ und wende sich allen zu, die ihm „in der Stille zuhören“. Unter diesen Hörern hebt Franck die antiken Philosophen Diogenes von Sinope und Plotin hervor. Aus dem unbedingten Vorrang des „inneren Wortes“ gegenüber der gesamten Außenwelt ergibt sich für Franck die Forderung nach uneingeschränkter Gewissensfreiheit. Daraus zieht er eine für seine Zeit außergewöhnliche Konsequenz: Im Gegensatz zu anderen radikalreformatorischen Denkern, die für eine tolerante Kirche eintreten, verwirft er das Kirchenwesen als solches. Aus dem bisherigen Geschichtsverlauf folgert er, dass konfessionelle Institutionen generell die Gewissensfreiheit verneinen. Mit ihrem Anspruch auf ein Wahrheitsmonopol säen sie Zwietracht, mit ihren Gehorsamsforderungen unterdrücken sie die Gläubigen. Zwar ist das Böse in der römischen Kirche von den Reformatoren aufgedeckt worden, doch in den reformierten Kirchen erscheint das böse Prinzip in neuer Form. Die Autorität der katholischen Dogmen ist durch die des toten Buchstabens der Bibel ersetzt worden, und so werden die Gläubigen erneut irregeführt. Aus dieser Geschichtsdeutung und der Beobachtung der zeitgenössischen gewaltsamen Konflikte leitet sich ein Kernelement von Francks Lehre ab: die prinzipielle Ablehnung jeder Form von religiöser Bevormundung. Keiner geistlichen Obrigkeit, sei sie katholisch oder protestantisch, darf eine Lenkungsbefugnis zugebilligt werden; keine hat das Recht, verbindliche Dogmen festzulegen und abweichende Positionen als Irrlehren zu brandmarken und zu verfolgen. Insbesondere das Zusammenwirken von geistlicher und weltlicher Gewalt ist Franck ein Gräuel. Heftig greift er die von den Landesherren abhängigen willfährigen Geistlichen an, unter denen die Hofgeistlichkeit eine herausgehobene Stellung einnimmt. In ihnen sieht er Komplizen schlimmer Herrscher, die deren Untaten religiös rechtfertigen und als Christenpflicht darstellen. Offenbarung, Gnade und Heil Für Franck ist die Bibel keineswegs wie für die Lutheraner die einzige Offenbarungsquelle und damit alleinige Richtschnur. Die Vorstellung, das göttliche Wort komme nur in einem einzigen Buch zum Ausdruck, ist nach seinem Offenbarungsverständnis falsch. Vielmehr begleitet das Wort den Menschen, wenn er sich darauf einstellt, zu allen Zeiten und ist vielfältigen Quellen zu entnehmen. Die Offenbarung vollzieht sich kontinuierlich durch den Verlauf der Geschichte, und es kommt nur darauf an, diesen richtig zu deuten. Somit ist die Bibel nur ein historisches Zeugnis unter anderen. Eine Chronik, die historische Vorgänge aus spiritueller Sicht darstellt, kann eine „Geschichtsbibel“ sein, die dem verständigen Leser sogar noch besser als die Bibel die göttliche Botschaft erschließt. Damit wird auch die Bedeutung des historischen Christus relativiert: Er war nach Francks Verständnis zwar eine Erscheinung des göttlichen „Wortes“, aber nicht dessen vollständige Verkörperung; eine solche ist prinzipiell gar nicht möglich, denn sonst wäre Gottes Wort endlich. Aus dieser Sicht erscheint Christus nicht als Erlöser, sondern nur als Vorbild. Außerdem ist einem Brief Francks von 1531 zu entnehmen, dass er sich der Argumentation des dissidenten spanischen Theologen Michael Servetus anschloss, mit der dieser die Trinitätslehre ablehnte. Die Kritik am gängigen Bibelglauben begründet Franck mit einer Reihe von Argumenten: Wenn die Bibel die Quelle des Heils wäre, müsste eifrige Bibellektüre zu ethischer Besserung führen. Dies ist aber nicht der Fall, vielmehr verteidigt jeder sein unsittliches Leben mit Bibelzitaten. Für jede Art der Lebensführung lässt sich eine biblische Rechtfertigung finden und für die gegenteilige ebenso, beispielsweise für Verschwendung und Geiz. Mit Bibelstellen kann man alles beweisen. Nach der Meinung der Lutheraner weiß jeder, der lesen kann und eine Bibel hat, darin den heiligen Geist zu ertappen. Das ist jedoch ein Irrtum. Der Glaube an die buchstäbliche Autorität der Bibel führt zu theologischen Spitzfindigkeiten, die den Blick auf das Wesentliche verstellen. Hierzu zählt Franck den Theologenstreit um die Realpräsenz. In der Bibel finden sich zahlreiche einander widersprechende Aussagen; was wirklich gemeint ist, ist keineswegs – wie die Lutheraner behaupten – offenkundig. Diese Widersprüche könnte es nicht geben, wenn Gott sie nicht gewollt hätte. Er hat sie hineingesetzt, um die Leser zu verunsichern und so zu verhindern, dass sie aus der Schrift einen Abgott machen. In der vorliegenden Bibel fehlen eine Reihe von Schriften, die im Lauf der Zeit verlorengegangen sind, beispielsweise das (heute so genannte) „äthiopische Henochbuch“. Solche Verluste hätte Gott nicht zugelassen, wenn die Heilige Schrift als sein Wort die höchste Autorität wäre. Die menschlichen Sprachen – auch die hebräische – verändern sich im Lauf der Zeit, und eine verdrängt die andere. Daher ist die Sprache ein unzulängliches Instrument für die Übermittlung der überzeitlichen göttlichen Wahrheit. Die Bibel kann nicht verbindliche Norm sein, denn ihre Textüberlieferung ist problematisch, was zu Unsicherheiten führt. Diesbezüglich stützt sich Franck auf die Vorarbeit der humanistischen Bibelkritik. Als „Heilige Schrift“ betrachtet Franck nur das Alte Testament, das nach seiner Ansicht ohne eine rechte Auslegung ein „toter Buchstabe“ ist. Im Gegensatz dazu fasst er das Neue Testament als „mündliche Predigt“ auf. Während Franck den lutherischen Kernsatz „sola scriptura“ – die ausschließliche Berufung auf die Bibel – verwirft, teilt er eine andere Grundüberzeugung Luthers: das Heilsverständnis, dem zufolge der Mensch allein durch den Glauben (sola fide) und die Gnade (sola gratia) sein Heil erlangt. Die guten „Werke“, die man vollbringt, tragen nach dieser „Rechtfertigungslehre“ nichts zum Heil bei. Die damit ausgedrückte dezidierte Ablehnung der „Werkgerechtigkeit“ ist ein Hauptmerkmal der reformatorischen Theologie. Werke dürfen nicht als Leistungen des Menschen aufgefasst werden, mit denen er sich ein Verdienst erwirbt, für das er von Gott einen Lohn erwarten kann. Keinesfalls kann man durch gute Taten ein besserer, gerechterer und frommer Mensch werden. Vielmehr ist das Verhältnis umgekehrt, wie Franck – einen Vergleich Luthers aufgreifend – betont: Die Früchte „folgen“ dem Baum, denn ein guter Baum bringt gute Früchte hervor, ein schlechter schlechte, und es sind nicht die Früchte, die ihn gut oder schlecht machen. Ebenso „folgen“ gute Werke dem Gerechten, weil er bereits gerecht ist. Niemals können sie der Gerechtigkeit eines Handelnden „vorangehen“ und ihn gerecht machen. Man wird nicht gut, indem man Gutes tut. Allerdings weicht Franck in einem wesentlichen Punkt von der lutherischen Rechtfertigungslehre ab: Um jede Werkgerechtigkeit auszuschließen, bestreitet Luther eine naturnotwendige Verknüpfung von Glauben und Werk. Franck hingegen meint, dass sich wahrer Glaube zwangsläufig in Werken zeigen müsse, eine Trennung sei unmöglich. Wenn der Glaube nicht durch die Lebenspraxis umgesetzt werde, wenn beispielsweise ein nomineller Christ trunksüchtig sei, könne man folgern, dass es sich nicht um wirklichen Glauben handle. Ein Zwiespalt zwischen Lehre und Leben sei unannehmbar. Außerdem unterscheidet sich Francks Gnadenbegriff von dem lutherischen. Franck führt die Fähigkeit des Menschen, zu wahrer Erkenntnis Gottes zu gelangen, nicht auf eine besondere historische Gnadenzuwendung Gottes zurück, sondern auf eine naturgegebene Anlage des Menschen. Er meint, die menschliche Gotteserkenntnis sei eigentlich eine Selbsterkenntnis Gottes, und darin liege der Sinn der Schöpfung, denn ohne die Geschöpfe wäre Gott sich selbst unbekannt. Ein zentraler Aspekt von Francks Religiosität ist ihr rein geistiger Charakter. Alle Äußerlichkeiten hält er für spirituell belanglos. Daher verurteilt er den Glauben an die Bedeutsamkeit und heilspendende Wirkung von Riten und Zeremonien. Die Kulthandlungen hält er für Äußerungen eines verhängnisvollen Aberglaubens, der von der göttlichen Wahrheit ablenke und schlimme Zwistigkeiten und Spaltungen verursache. Diesen Vorwurf richtet er nicht nur an die Katholiken, bei denen Kultakte eine herausragende Rolle spielen; er dehnt ihn auf alle Kultgemeinschaften aus. Das Freiheitsideal Francks Skepsis gegenüber der „Welt“ und allem „Weltlichen“ führt ihn zur Hochschätzung einer inneren Zurückgezogenheit und Abgeschiedenheit. Er kultiviert das Ideal der Freiheit von Sorgen um irdische Güter. Als Protestant verwirft er zwar den katholischen Zölibat und ist selbst verheiratet, doch kritisiert er auch die gängige Praxis des bürgerlichen Ehelebens, die sich einseitig an der äußeren Norm der Treue orientiere und innere Werte vernachlässige. Er macht geltend, dass sich hinter äußerlicher Ehrbarkeit und scheinbarer Frömmigkeit ein fragwürdiger Charakter verbergen könne. Verschiedentlich weist er auf die mürrische Art und Streitsucht von Ehefrauen hin. Dennoch hält er an einem hohen Eheideal fest. Seine Haltung ist zwiespältig: Einerseits preist er die eheliche Liebe, andererseits hält er es für wünschenswert, „der Welt abzusterben“, also auf weltliche Bindungen zu verzichten und dadurch Freiheit zu erlangen. Das Familienleben und seine eigene Verantwortung als Familienvater bedeuten ihm Last und Unfreiheit. Als Muster eines geistig freien Weisen verehrt er den „lachenden Philosophen“ Demokrit, den das sinnlose Treiben der Menschen zum Gelächter angeregt habe. Geschichtsverständnis Die Forderung der Unparteilichkeit Für Franck ist die ganze Welt mit allen Kreaturen ein „offenes Buch“, eine „lebendige Bibel“, aus der man ohne jede Anleitung „Gottes Kunst studieren“ kann. Das gilt insbesondere für die Geschichte – sowohl für die Erfahrung der Menschheitsgeschichte als auch für die persönliche Geschichte des nach Erkenntnis strebenden Individuums. Wer den ganzen Verlauf des eigenen Lebens achtsam verfolgt hätte, der hätte „eine eigene Chronik von ihm selbst“ zu schreiben. Die Geschichte ist die „Meisterin des Lebens“, die „lebt“ und dem Betrachter „lebendige Beispiele“ vor Augen stellt. Gottes Wort kann nicht „aus seinem Mund gehen“, vielmehr redet er mit dem Menschen „im Werk und mit der Tat“. Diese Sprache Gottes wird allerdings gewöhnlich nicht verstanden. Das Hindernis ist aus Francks Sicht die Unfähigkeit, sich von subjektiven Perspektiven und den damit verbundenen Affekten und Bewertungen zu lösen. Solcher Befangenheit stellt Franck seinen Anspruch auf Unparteilichkeit entgegen. Er weist darauf hin, dass Unparteilichkeit ein wesentliches Merkmal Gottes sei. Demnach nimmt der Mensch, der sich von der Parteilichkeit befreit, gewissermaßen den göttlichen Standpunkt ein. Gemeint ist eine innere Haltung, die zu allen Kirchen, Sekten, Staaten, Völkern, Parteien, Kulturen und Epochen gleichermaßen Distanz hält. Beim Betrachten der historischen Vorgänge und Akteure hat man sich nicht nur vor der eigenen Voreingenommenheit zu hüten, sondern auch vor allen Autoritäten. Fremde Meinungen und Behauptungen dürfen die eigenständige Urteilsbildung nicht überlagern und verzerren. Benötigt wird eine innere Überlegenheit gegenüber den Sitten und Bräuchen der Welt und damit auch gegenüber allen fremden Bewertungskriterien. Sie wird nach Francks Überzeugung dann gewonnen, wenn man sich bei der Auswertung der kollektiven und individuellen Erfahrungen allein auf das inwendige Wort Gottes verlässt. Dazu bemerkt Franck: „Wer aber mit der Welt dahintanzt, der kann die Torheit der Welt nicht sehen, weil er selbst damit beladen darin steckt. Wer aber hinter dem Tanz steht, der allein wird gewahr, was im Tanz geschieht.“ Er warnt, man dürfe keinem Buch vorbehaltlos vertrauen, nicht einmal der Bibel, solange man nicht „bei sich“ gelernt habe, den Inhalt im Sinne Gottes zu verstehen und zu beurteilen. In diesem Sinne betont er auch, die Beurteilung der Vorgänge, die er als Chronist schildert, bleibe dem Leser anheimgestellt. Die Aufgabe des Autors beschränkt sich für ihn auf das Zusammentragen und Vorweisen des Materials. Der Geschichtsschreiber darf in seinem Werk nicht präsent sein. Er hat Geschichte so darzubieten, wie er sie in seinen Quellen vorfindet. Die „unparteiische“ Grundhaltung Francks zeigt sich auch in seinem Umgang mit den nichtchristlichen Religionen. Dabei wendet er sich gegen die gängige Verteufelung der „Ungläubigen“. Den Überlegenheitsanspruch vieler Christen gegenüber Andersgläubigen aufgrund des bloßen Bekenntnisses zum Christentum weist er zurück. Nach seiner Ansicht haben alle Kulturen und Zeiten den gleichen Abstand von Gott; Gott hat sein Volk überall. Mit dem Judentum, dem Islam und dem „Heidentum“ setzt sich Franck auf dieselbe Weise auseinander wie mit dem Konfessionalismus seiner Umgebung. Er verwirft die Institutionen, Regelsysteme und Kultbräuche der fremden Religionen aus demselben Grund, aus dem er die hierarchischen Strukturen, formalen Vorschriften und Zeremonien der christlichen Glaubensgemeinschaften ablehnt. Insbesondere kritisiert er die buchstäbliche Befolgung der traditionellen Gebote im Judentum, denn er sieht darin eine Abhängigkeit von Äußerlichkeiten, die den Gläubigen von Gott entferne und zwangsläufig zum Pharisäismus führe. Am Islam tadelt er die enge Verbindung von Staat und Religion und die Ausbreitung mit gewaltsamen Mitteln. Bei den „Heiden“ missfallen ihm die Kultpraktiken und Götterbilder, die aus seiner Sicht eine Hinwendung zu gottferner Vordergründigkeit darstellen. All diese Kritik an religiösen Regeln und Institutionen überträgt Franck jedoch nicht auf die gläubigen Individuen. Vielmehr legt er Wert auf die Feststellung, dass die individuelle Gotteserfahrung allen Anhängern fremder Religionen, auch den Polytheisten, ebenso wie den Christen offenstehe. Zur Unparteilichkeit gehört für Franck auch eine entschiedene Zurückweisung des Nationalismus. Er lehnt es ab, mit einseitigem Lob des deutschen Volkes „ein großes Feldgeschrei“ zu machen, denn die Deutschen hätten zwar bedeutende Taten vollbracht, aber auch oft große Tyrannei und Ungerechtigkeit geübt. Kein Volk sei besser als ein anderes. Herrschermacht und Krieg Francks Geschichtsbild ist von tiefem Misstrauen gegen den Staat und die staatliche Macht geprägt. Insbesondere die herkömmliche Sakralisierung der Herrschaft ist ihm verhasst. Hinter den grandiosen Fassaden herrscherlicher Selbstdarstellung steckt lauter Elend. Die Weltgeschichte ist einheitlich und verläuft gleichartig, sie wiederholt sich in Katastrophen. Jede Gesellschaft scheitert schließlich katastrophal, weil sie ihre Fehler nicht wahrnimmt. Einen historischen Fortschritt im Sinne einer Humanisierung oder Einführung christlicher Moralgrundsätze in die Welt der Politik sieht Franck nicht. Die Christianisierung des spätantiken römischen Staates im Verlauf der konstantinischen Wende stellt für ihn keineswegs eine begrüßenswerte Entwicklung dar, sondern ist als umfassende Korrumpierung des Christentums zu beklagen. Die Ernsthaftigkeit der Bekehrung Kaiser Konstantins des Großen hält er für zweifelhaft; er berichtet von einer Legende, der zufolge bei der Taufe des Kaisers eine Stimme in der Luft gehört wurde, die verkündete, ein Gift oder eine Seuche sei in die Kirche gefallen. Seither hat sich nach Francks Einschätzung das Verhältnis von Herrschern und Untertanen kaum verbessert. Obwohl die Kaiser und Könige seit mehr als einem Jahrtausend nominell Christen sind, verhalten sie sich gewöhnlich despotisch wie ihre heidnischen Vorgänger. Von ihnen ist kaum etwas Gutes zu erwarten. Wohlwollende und verantwortungsbewusste Herrscher sind seit jeher selten. Die Mentalität der Machthaber ist im Wesentlichen immer noch dieselbe wie zur Zeit der ersten Könige Israels. In den christlichen Staaten folgt die Machtpolitik denselben Gesetzmäßigkeiten wie in der vorchristlichen Staatenwelt des Altertums. Die Herrscher sind meist räuberisch, unersättlich und verblendet; hinzu kommt die Anmaßung der Päpste, die weltliche Macht beanspruchen und erringen. Alle Herrlichkeit der hochmütigen Herrscher beruht letztlich auf Gewalt, ist hinfällig und geht früher oder später durch fremde Gewalt zugrunde. Kriege werden mutwillig angezettelt und dann auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen. Wenn schließlich nach all dem Blutvergießen und den Verheerungen allgemeine Ermüdung eintritt, versöhnen sich die streitenden Fürsten und legen ihre Meinungsverschiedenheit bei. Besonders deutlich zeigt sich die eigentliche Natur der militärischen Konflikte im Söldner- und Landsknechtwesen: Der Krieg ist zum Normalzustand geworden, Söldner machen aus dem Kriegshandwerk ein einträgliches Geschäft, stellen sich dem Meistbietenden zur Verfügung und wenden sich schließlich auch gegen ihre Auftraggeber. Mancher Krieg wäre unterblieben, wenn es dieses „unnütze Gesind“ nicht gäbe. Im Krieg sieht Franck die schlimmste aller Torheiten. Er verwirft militärische Gewalt generell als für wahre Christen unzulässigen Weg. Über Soldaten, die ihre Heimat verteidigen, maßt er sich kein Urteil an, doch weist er darauf hin, dass der Friedensweg immer sicherer sei und dass zu seiner Zeit ein christlicher Krieg so selten sei wie Störche im Winter. Mit seiner Polemik gegen das Blutvergießen will er Gleichgesinnte bestärken. Ein Pazifist im Sinne einer Friedensbewegung ist er aber nicht, denn er glaubt nicht an das Ziel eines künftigen Weltfriedens. Eine allgemeine Ächtung des Krieges hält er für utopisch. Nach seiner Einschätzung wird sich an dem Unrechtsregime der Herrschenden und an der gewaltsamen Austragung politischer Konflikte niemals etwas grundsätzlich ändern, da das politische Geschäft seiner Natur nach teuflisch ist. Man kann – so Franck – den Krieg nicht durch sein Gegenteil, den Frieden, bekriegen und vertreiben. Erreichbar ist nur, dass einzelne Menschen das Wesen der Gewalt durchschauen und sich dann konsequent davon abwenden. An dieses Publikum wendet sich Francks Publizistik. Als Symbol für die Fragwürdigkeit der weltlichen Obrigkeit betrachtet Franck, Überlegungen des Erasmus aufgreifend, den Adler als Wappentier der Kaiser und Fürsten. Charakteristisch für diesen Vogel sei, dass er weder von Natur aus zahm sei noch wie etwa der Falke gezähmt werden könne. Der Adler sei blutgierig und hasse den Frieden. Man sehe seiner Gestalt an, dass er dazu geboren sei, zu rauben, zu morden und zu streiten. Dass die Herrscher gerade diesen Raubvogel in ihren Wappen zu führen pflegen, hält Franck für sehr bedeutsam. Er sieht darin ein Zeichen für das wahre Wesen der Machthaber, die sich – wie er spöttisch bemerkt – als sanftmütige, ganz uneigennützige Förderer des Gemeinwohls ausgeben. In Wirklichkeit finde man in den Chroniken kaum einen oder zwei, die tatsächlich einer solchen Selbstdarstellung entsprächen. Trotz seiner scharfen Kritik am Verhalten der Herrscher hält Franck die Monarchie für vernünftig und notwendig. Er meint, sie verhindere das Elend anarchischer Verhältnisse und sei daher ein kleineres Übel als die Dummheit und Unmenschlichkeit des entfesselten Pöbels, die er oft anprangert. Das Kaisertum betrachtet er als weltliche Institution, das Gottesgnadentum lehnt er ab. Die Wahlmonarchie zieht er der Erbfolge vor. Überhaupt verwirft er das Prinzip der Erblichkeit von Machtstellungen und damit die Existenzgrundlage des Adels. Dem Herrschaftsanspruch des Adels fehle eine Begründung, da Herrschertugenden nicht vererbt würden. Außerdem brandmarkt Franck die unter den Adligen verbreitete Rohheit und Gewalttätigkeit. Beifällig äußert er sich hingegen über den Defensor pacis des Marsilius von Padua, eine gegen Willkürherrschaft gerichtete Schrift. Zu den wenigen Herrschern, die Franck günstig beurteilt, zählen Ludwig der Bayer, den er als Widersacher des Papstes schätzt, und Kaiser Friedrich III., dessen Friedensliebe er lobt. Ein vernichtendes Urteil fällt er hingegen über Karl den Großen, der durch seine Kaiserkrönung das Reich dem Papsttum ausgeliefert habe, und über die Karolinger. Wenig hält Franck von dem zu seinen Lebzeiten regierenden Kaiser Karl V., dessen Prunkentfaltung er tadelt und dem er unter anderem die Plünderung Roms durch Landsknechte im Sacco di Roma verübelt. Die Italienpolitik der römisch-deutschen Kaiser lehnt er grundsätzlich als Irrweg ab. Besonders verwerflich erscheint ihm die Verknüpfung von politischer Macht und religiöser Autorität in der islamischen Welt. Aus Francks allgemeinen Überzeugungen ergibt sich für ihn auch eine scharfe Ablehnung der gewaltsamen Christianisierung der Sachsen durch Karl den Großen. Den heidnischen Sachsen hält er zugute, dass sie keine Bilder von ihren Göttern angefertigt hätten, da sie erkannt hätten, dass sich die unbegreifliche Gottheit nicht abbilden lasse. Solche Heiden sind aus Francks Sicht gewissermaßen „christlicher“ als Christen, die Bilderverehrung betreiben. Widerstand und Gewaltlosigkeit Das Unheil sieht Franck grundsätzlich in der Gewalt als solcher. Es geht ihm nicht um die Frage, wer zur Gewaltanwendung legitimiert ist. Daher verwirft er auch die Gegengewalt der Unterdrückten, die sich durch Aufruhr zur Wehr setzen, wie etwa im Bauernkrieg. Gegen bewaffneten Widerstand wendet er ein, Gegengewalt führe zu noch schlimmeren Verhältnissen als die vorherige Unterdrückung, wie der Ausgang des Bauernkriegs zeige. Die Lage der Bauern habe sich durch den Aufstand dramatisch verschlechtert. Tyrannei bewirke Aufruhr und dieser wiederum eine noch härtere Tyrannei. Die Aufgabe des Einzelnen sieht Franck darin, die Despotie und das Elend des Krieges als Gelegenheit zur Erkenntnis aufzufassen und das eigene Leben entsprechend auszurichten, somit selbst kein Unrecht zu begehen. Damit solle man die Lehre aus dem Geschichtsverlauf oder auch aus dem eigenen Schicksal ziehen. Die Belehrung durch leidvolle Erfahrung entspreche dem Willen Gottes, denn sie sei das Mittel, mit dem manche verblendete Menschen zur Einsicht gebracht werden könnten. Allerdings verfehle sogar dieses drastische Mittel meist seinen Zweck, denn die meisten Menschen seien störrisch und kaum belehrbar. Francks Geschichtsverständnis schließt eine Optimierung der politischen Verhältnisse im Sinne der Verwirklichung eines Staats- und Gesellschaftsideals aus. Die Reformation hält er für gescheitert, eine wirklich christliche Gesellschaft für unmöglich. Mit sarkastischer Schärfe verurteilt er den im Täuferreich von Münster unternommenen Versuch, gewaltsam ein Gottesreich auf Erden mit Gütergemeinschaft einzuführen, und weist auf die katastrophalen Folgen hin. In der Frage der Gehorsamspflicht gegenüber einer tyrannischen Obrigkeit, die Frevelhaftes anordnet, setzt sich Franck mit den Ansichten Luthers und des spätmittelalterlichen Theologen Johann Wessel (Gansfort) auseinander. Für Wessel gibt es in solchen Fällen nicht nur ein Recht zum aktiven Widerstand, sondern er hält den Tyrannensturz sogar für eine naturrechtlich begründete Aufgabe. Auf jeden Fall fordert Wessel Gehorsamsverweigerung bei unmoralischen Befehlen, da man sonst zum Komplizen werde. Luther vertritt zwar eine Pflicht zur Gehorsamsverweigerung bei frevelhaften Befehlen, hält aber Teilnahme an einem möglicherweise unrechtmäßigen Krieg nicht für absolut unzulässig, sondern lässt dort den Soldaten einen Ermessensspielraum. Die Beteiligung an einem gerechten Verteidigungskrieg betrachtet er sogar als Pflicht. Franck widerspricht Wessel hinsichtlich des aktiven Widerstands, den er grundsätzlich ablehnt, und Luther hinsichtlich des passiven Widerstands, den er strenger einfordert. Im Gegensatz zu Luther hält er die Gehorsamspflicht für automatisch erloschen, sobald eine Obrigkeit kriegerische Maßnahmen ergreift. Falls der Krieg mutwillig angefacht wurde, nimmt Franck eine unbedingte Pflicht zur Gehorsamsverweigerung an; wer sich an einem solchen Unternehmen beteilige, der sei selbst ein Tyrann, Mörder und Räuber. Rezeption Eine eigene Schule bildete Franck nicht, doch löste seine Lehre ein starkes Echo aus. Die zahlreichen Ausgaben seiner Schriften, die teils in mehrere Sprachen übersetzt wurden, sorgten für eine breite Rezeption. Die Heftigkeit, mit der seine Thesen sowohl von katholischer als auch von protestantischer Seite verdammt und bekämpft wurden, lässt die Stärke der Ausstrahlung seines Gedankenguts erkennen. Frühe Neuzeit Die Stellungnahmen namhafter Zeitgenossen zu Francks Lehre waren fast einhellig ablehnend. Ihre Urteile waren abschätzig und meist von starker Feindseligkeit geprägt. Oft verband sich drastische Kritik an den Ansichten des Dissidenten mit persönlicher Schmähung. Seine Hauptgegner waren bekannte und einflussreiche Autoren, die eine lebhafte publizistische Aktivität entfalteten, während seine Sympathisanten angesichts des obrigkeitlichen Missfallens Zurückhaltung übten. Von katholischer Seite setzte schon bald nach dem Erscheinen der 1531 in Straßburg gedruckten Chronik scharfe Kritik ein. Erasmus, den die Berufung auf seine angeblich „ketzerischen“ Ansichten in der Chronica in Verlegenheit gebracht hatte, beklagte sich in einem Schreiben vom 2. März 1532 an Martin Bucer über Franck, der eine absurde Schrift verfasst habe. Überdies sei dieser „Schwätzer“ (nugo) so unverschämt gewesen, ihm, Erasmus, aus dem Straßburger Gefängnis – anscheinend eher aus einer Kneipe – einen selbstbewussten Brief zu schicken, statt sich zu entschuldigen. Im April 1532 äußerte Albrecht von Brandenburg, der als Kardinal und Erzbischof von Mainz ein führender Repräsentant des Katholizismus in Deutschland war, er habe die Chronica gelesen, sie sei ein sehr schädliches und böses Buch. Der katholische Theologe Johannes Cochlaeus veröffentlichte 1533 zwei Abhandlungen, in denen er gegen einzelne Aussagen der Chronica polemisierte. Eine Provinzialsynode der Kirchenprovinz Köln setzte die Chronica 1549 auf die Liste der verbotenen Bücher. Sehr feindselig waren auch die Stellungnahmen prominenter Reformatoren. Martin Luther nannte Franck in einer Tischrede von 1540 einen bösen, giftigen Buben. Als der lutherische Theologe Johannes Freder 1545 die hochdeutsche Fassung seines Dialogus dem Ehestand zu Ehren veröffentlichte, in dem er Francks Sprichwortsammlung kritisierte, schrieb Luther dazu die Vorrede, in der er den drei Jahre zuvor verstorbenen Dissidenten ausführlich und vehement angriff. Freder und Luther machten Franck für die Frauenfeindlichkeit mancher der von ihm gesammelten Sprichwörter verantwortlich. Luther beschrieb Franck als böses Lästermaul und Sakramentschänder, der alles nur tadle und über jeden gern das Ärgste schreibe und rede. Lustvoll wühle er in Unglück, Irrtum und Sünde der armen Menschen wie eine „unflätige Sau“ im Dreck. Er sei eine schändliche Fliege, die sich erst auf den Kot und dann auf das Gesicht des Menschen setzen wolle. Das Interesse der Öffentlichkeit an der Geschichte habe er genutzt, um als Chronist sein Gift unter den Honig und Zucker des historischen Stoffs zu mischen und so den größtmöglichen Schaden anzurichten. Luther schloss mit dem Wunsch, dass Christus den „Beelzebub Francken“ zerstören möge. Heftig polemisierte auch Martin Bucer, einer der prominentesten Theologen der Reformation, gegen Franck. Ihn störte insbesondere die Ablehnung der kirchlichen Ordnung und der Aufsicht der Obrigkeit über das Kirchenwesen. Bucer schrieb 1535, Franck überschütte die Welt mit seinen Irrtümern, die er unter prächtigen Titeln als gewisseste Wahrheit verkaufe. Er habe viel Falsches und Böses eingeführt und verspotte heilige, gottesfürchtige Lehrer und Kaiser. Der Druck seiner Chronik sei nur erlaubt worden, weil er die Straßburger Zensur belogen habe. Der lutherische Superintendent in Magdeburg, Nikolaus von Amsdorf, wandte sich in einer 1535 gedruckten Schrift gegen die Unterscheidung des buchstäblichen und des geistlichen Sinns der Bibel, die Franck, „gar ein grober und ungelehrter Geselle“, in seiner Kritik an Luthers Abendmahlslehre vertreten habe. In Ulm kämpfte Martin Frecht in den 1530er Jahren mit großem Eifer gegen Francks Gedankengut. Er brachte unter anderem vor, Franck bringe täglich „unverschämt und frech“ seine Bücher unter das Publikum, um das Ansehen, das er „bei dem gemeinen Pöbel“ erlangt habe, zu bewahren. Im März 1540 tagte in Schmalkalden eine Gruppe von angesehenen protestantischen Theologen, die ein Verdammungsurteil über Schwenckfeld und Franck fällte und ihrem Verdikt durch eine gemeinsame Erklärung Gewicht verlieh. Die zwölf Unterzeichner waren Nikolaus von Amsdorf, Martin Bucer, Johannes Bugenhagen, Anton Corvinus, Caspar Cruciger der Ältere, Justus Jonas der Ältere, Johannes Kymaeus, Johannes Lening, Philipp Melanchthon, Balthasar Raid, Nikolaus Scheubel und Johannes Timan. Der lateinische Text des Gutachtens stammt von Melanchthon. Das Schriftstück verurteilt Schwenckfeld, Franck und „einige andere Umherstreicher“, die das Volk „von der richtig bestellten Kirchengemeinschaft abführen“, in der „die Lehre des Evangeliums richtig und rein übermittelt wird“. Durch die Frechheit dieser „fanatischen und hochmütigen Heuchler“, welche die Wirksamkeit des Predigtamtes leugneten, werde Gott zweifellos schwer beleidigt. Franck habe ein Blendwerk von Wortgefechten hervorgebracht. Er habe die Gläubigen der einen (protestantischen) Kirche, die allein die Braut Christi sei, das Evangelium richtig lehre und die Sakramente richtig verwalte, mit den „Papisten“ (Katholiken) auf dieselbe Ebene gestellt. In den Kreisen von Francks protestantischen Gegnern wurden Gerüchte über sein Privatleben verbreitet. Schon 1538 spielte Frecht darauf an und bemerkte dazu, er wolle darüber nicht urteilen. Melanchthon behauptete in den 1550er Jahren, Franck sei ein Ehebrecher und Hurer gewesen, er habe „Gulden gemacht“ und sei dann davongelaufen. Eine Ausnahme von der allgemeinen Verurteilung Francks bildete der Humanist Sebastian Castellio (1515–1563), der 1554 eine Anthologie von Aussagen gegen die Ketzerverfolgung herausbrachte und dabei die Straßburger Chronica ausführlich zitierte. Allerdings nannte Castellio den Urheber der zitierten Texte vorsichtshalber nicht namentlich, sondern gab nur ein Pseudonym an. Johannes Calvin erwähnte 1562 die „Träume eines Phantasten namens Sebastian Franck“, der als hirnlos bekannt sei. In den Niederlanden fanden Francks Ideen bei Freigeistern viel Anklang. Dort erschienen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und im frühen 17. Jahrhundert zahlreiche Ausgaben niederländischer Übersetzungen von Werken des deutschen Dissidenten, darunter die 1611 und 1617 in Gouda gedruckte Schrift Van het rycke Christi (Vom Reich Christi), die überhaupt nur in der niederländischen Fassung überliefert ist. Diese Drucke zeugen von der anhaltenden Aktivität einer Strömung, deren Vertreter von calvinistischer Seite abschätzig als „Franckisten“ oder „Franckonisten“ bezeichnet wurden. Der bekannteste „Franckist“ war Dirck Volkertszoon Coornhert (1522–1590). Ein führender calvinistischer Kritiker war Philips van Marnix (1540–1598), der 1595 und 1598 zwei Traktate gegen niederländische Libertins publizierte. Als die beiden Haupturheber des von ihm bekämpften Gedankenguts betrachtete er den niederländischen Täufer David Joris und Franck. Marnix forderte den Einsatz staatlicher Gewalt, mit der die Dissidenten zum Schweigen gebracht werden sollten. Die Kunsthistoriker Jürgen Müller und Thomas Schauerte haben in ihren Büchern über Pieter Bruegel d. Ä. auf eine innere, geistige Verbindung zwischen Franck und Bruegel hingewiesen. Der niederländische Maler habe sich zu seinen zeit- und kirchenkritischen Gemälden durch Franck inspirieren lassen. Prominente Beispiele sind „Der Kampf zwischen Karneval und Fasten“, „Die niederländischen Sprichwörter“ sowie die „Kinderspiele“. Diese Gemälde erzählten von verfehlter Gottessuche. Eine persönliche Begegnung zwischen Franck und Bruegel ist nicht nachgewiesen. Francks Sprichwortsammlung erzielte ab den 1540er Jahren einen großen Verkaufserfolg. Es erschienen viele Nachdrucke einer bearbeiteten und benutzerfreundlicher gestalteten Ausgabe von 1548. Im 17. Jahrhundert diente das Werk als Materialbasis für neue Spruchsammlungen. Auch für rhetorische Zwecke wurde es verwertet. Unter sprachgeschichtlichem Gesichtspunkt wurde Franck als Förderer und Pfleger der deutschen Sprache gewürdigt. Im 18. Jahrhundert fand der theologische Streit um Franck wenig Beachtung. Lutherische Gegner seiner Lehren wie Valentin Ernst Löscher und Gustav Georg Zeltner zählten ihn zur Gattung der „Fanatiker“. Im katholischen Bereich blieb er weitgehend unerwähnt. Die erste Dissertation über Franck und seine Lehre verfasste der Lutheraner und spätere Königsberger Theologieprofessor Samuel Gottlieb Wald. Er wurde mit dieser Arbeit, in der er Franck als Vorläufer Immanuel Kants darstellte, 1793 an der Universität Erlangen promoviert. Moderne In der Forschung dominieren seit dem 19. Jahrhundert positive, teils von Bewunderung geprägte Einschätzungen der Persönlichkeit und Leistung Francks. Oft wird sein Denken als zukunftsweisend und gleichsam „modern“ beschrieben. Mit der Autoritäts- und Bibelkritik, dem Antidogmatismus und der weitreichenden Toleranzforderung habe er Impulse gesetzt, die ihrer Zeit weit voraus gewesen seien. Er sei ein Vorläufer der Aufklärung. Auch mit seinem Pazifismus und dem Konzept der Gewissensautonomie erscheint Franck als Vorläufer moderner Ideen. Manche Forscher zählen ihn zu den Repräsentanten einer „dritten Kraft“, einer Reformströmung, die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vergeblich versucht habe, Europa vor den verheerenden Folgen der konfessionellen Aufspaltung zu retten. Außerdem wird er als bedeutender Volksschriftsteller und Wissensvermittler gewürdigt. Allerdings wird ihm mitunter Pessimismus, zersetzende Kritik, Wirklichkeitsfremdheit und das Fehlen eines konsequent ausgearbeiteten Systems vorgeworfen. Anerkennung findet die literarische Qualität der Werke; Franck gilt als einer der überragenden Prosaschriftsteller der Reformationszeit. Laut der Einschätzung von Johannes Bolte ist seine Sprache klar und kraftvoll, und er hat den Vergleich mit Luther, dem „größten Prosaisten seiner Zeit“, nicht zu scheuen. Nach dem Urteil des Dresdner Philosophiehistorikers Siegfried Wollgast ist Franck „ein überragender Meister der deutschen Sprache“, und Christoph Dejung befindet, er schreibe „die beste deutsche Prosa der Zeit neben Luther“. In neuerer Zeit richtet sich ein besonderes Interesse auf die „medialen“ Aspekte der Schriften Francks: Kompilations- und Aufbereitungsmethoden, Kompositions- und Vermittlungstechnik. 19. Jahrhundert In den 1840er Jahren machte sich eine Interpretationsrichtung geltend, die in Franck einen Vorläufer von Ludwig Feuerbach sah, da er wie dieser die Lehre von Gott als eine durchaus subjektive aufgefasst habe. Dieser Ansicht waren der Historiker Karl Hagen, der in der Frankfurter Nationalversammlung ein Vertreter der Linken war, und der Philosoph Moritz Carrière. Der Bonner Philologe Franz Weinkauff schrieb den Artikel über Franck in der Allgemeinen Deutschen Biographie, der 1877 erschien. Weinkauff würdigte den radikalreformatorischen Schriftsteller als „ächten freien Protestanten“, der als „makelloser Charakter und geistreicher Selbstdenker“ seinen Überzeugungen konsequent gefolgt sei. Als volkstümlicher Schriftsteller habe er für eine breitere Leserschaft Handbücher in musterhaftem Deutsch verfasst und sei „dem Dünkel der Gelehrten und dem Fanatismus der Parteien“ entgegengetreten. Seine Gegner hätten ihn bösartig angegriffen und verleumdet. Der Tübinger Kirchenhistoriker Alfred Hegler stellte 1892 in seiner Studie Geist und Schrift bei Sebastian Franck den Gegensatz zwischen Geist und Schrift (Bibeltext) als Kernelement des reformatorischen Spiritualismus dar. Er betonte Francks zentrale Stellung hinsichtlich der Ideenentwicklung innerhalb der radikalen Reformbewegungen. Kritisch merkte er an, Franck habe „die geschichtliche und gemeinschaftsbildende Kraft des Christentums verkannt“. Hegler verfasste auch den ausführlichen biographischen Artikel in der 3. Auflage der Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, der 1899 erschien. Er sah in Franck einen Pantheisten, ein „Mittelglied zwischen der Philosophie der älteren Renaissance und den Anfängen der pantheistischen Spekulation der Neuzeit“. In vielem sei Franck „der erste Typus des modernen Litteraten“. Ein tiefer Denker sei er nicht gewesen, aber ein Schriftsteller von großer Begabung, „immer lebendig, kraftvoll, anschaulich schreibend“, eine Persönlichkeit, „in der sich in gewisser Hinsicht mehr moderne Empfindung ankündigt, als in den Reformatoren“. Der Philosoph Wilhelm Dilthey behandelte Franck eingehend in einem 1891/1892 publizierten Aufsatz. Dilthey befand, Franck sei ein „wahrhaft genialer Denker und Schriftsteller“ und ein Panentheist gewesen. Er habe die spiritualistische Richtung der deutschen Reformationsbewegung mit einer ruhigen Klarheit durchgeführt, „die den Sektenhäuptern fehlte“. In Francks Lehre werde Christus mit dem allen Menschen gemeinsamen „Licht der Natur“ und mit der Vernunft gleichgesetzt und Adam mit der Selbstsucht im Menschen. Der unsichtbare Christus sei demnach nichts als die „göttlich immanente moralische Anlage des Menschen“. Aus diesem Konzept ergebe sich eine totale Umdeutung der Rechtfertigungslehre; die Rechtfertigung werde zu einem subjektiven Bewusstseinsvorgang. Franck habe aus seinen Annahmen Konsequenzen abgeleitet, durch die er „Vorläufer oder Begründer der modernen Religionsphilosophie“ geworden sei: „In hundert Rinnsalen fließen die Ideen Franck’s der modernen Zeit entgegen.“ 20. und 21. Jahrhundert Der Theologe, Philosoph und Historiker Ernst Troeltsch stellte 1912 fest, die Verwandtschaft von Francks Ideen mit der modernen Religionsphilosophie sei offenkundig, doch habe Dilthey zu stark modernisiert und den Zusammenhang mit der mittelalterlichen Mystik zu wenig betont. Troeltsch sah in Franck „einen der edelsten und freiesten Geister“ der damaligen Zeit, der als „literarischer Prophet der alleinigen Erlösungskraft des Geistes und des inneren Wortes“ gelebt habe. Er habe einen kultlosen Individualismus und mystischen Immanenzgedanken vertreten, der nun „den Beifall der Modernen“ finde. Ganz anders urteilte der Kirchenhistoriker Karl Holl 1923 über den „heute stark überschätzten, weil offenbar nur wenig gelesenen“ Franck. Dieser habe in hohem Maße von dem aus Büchern Aufgelesenen gelebt. Sein Einfluss sei größtenteils darauf zurückzuführen, dass seine Schriften wegen ihrer Vielseitigkeit und untheologischen Art relativ unterhaltsam seien. Da er die Tragik jeder Gemeinschaftsgründung tief empfunden habe, sei er für eine unsichtbare Kirche eingetreten, von der er alles abgestreift habe, was eine Gemeinschaft bedeute. Demgemäß sei bei ihm ein „fast völliges Zurücktreten des sozialen Sinns“ festzustellen. Holl warf Franck mangelndes Verständnis für die aufständischen Bauern vor; in seiner ablehnenden Stellungnahme zum Aufruhr liege „ein gutes Stück Menschenverachtung“. Eine ausführliche kritische Auseinandersetzung mit Francks Geschichtsbild bot der Historiker Rudolf Stadelmann 1929 in seiner Habilitationsschrift. Stadelmann befand, der Protestantismus habe einen scharfen Trennungsstrich zwischen sich und dem von Franck repräsentierten „Geist der Verneinung“ gezogen. Franck habe als Pessimist die menschliche Gesellschaft prinzipiell verachtet und sich damit gegen den Optimismus des Luthertums gestellt, der nach Stadelmanns Worten „zu den allertiefsten Kraftquellen der lutherischen Persönlichkeit gehört“. Die Geschichtstheorie Francks weise zwar „einen genialen Duktus“ auf und habe „eine großartige dramatische Bewegtheit und tragischen Ernst“, doch bestreite er den Fortschritt und beschränke sich auf ein eintöniges Beklagen von Übelständen. Der Nihilismus seiner Geschichtsverachtung sei „letzten Endes durchaus ahistorisch“. Positiv beurteilte der Philosoph Ernst Bloch 1936 Francks Position zum sozialen Konflikt, wobei er sich auf sozialkritische Äußerungen in den Paradoxa berief. Er hielt den frühneuzeitlichen Dissidenten für einen Vorläufer seiner eigenen Richtung und nannte ihn „einen großen Freund“ und einen „der echtesten Bekenntnischristen gegen die Schinder und Mörder“. Franck sei zwar von den Massen distanziert gewesen, aber zeitlebens ein Verehrer Thomas Müntzers geblieben. Der Ausgang des Bauernkriegs habe ihn tief niedergedrückt, daher seien seine Bücher voll Verzweiflung über die „Welt“, die er in einem starren Gegensatz zum Reich der Freiheit und Brüderlichkeit gesehen habe. An ein breites fachfremdes Publikum wandte sich 1943 der Schriftsteller Will-Erich Peuckert mit seiner umfangreichen Biographie Sebastian Franck. Ein deutscher Sucher. Er pries Francks „Treue zu dem für recht Erkannten und die unerbittliche klare Konsequenz des Denkens“. Es sei ihm gelungen, in einer Zeitenwende, als die alten Werte brüchig wurden, vor dem Neuen gültig zu bestehen. Darin liege sein dauerhafter Ruhm. Der Philosophiehistoriker Wilhelm Nestle bezeichnete Franck 1947 als bedeutenden Kopf, der Luther an Spannweite des Geistes und Folgerichtigkeit des Denkens überlegen sei. Franck sei der wirkliche Humanist unter den reformatorischen Persönlichkeiten „im Sinn der Erkenntnis, dass das Menschliche dem Christlichen überlegen ist“. Er erscheine als Vorbote der Toleranzidee der Aufklärung und zeichne sich durch einen freien, „allem Menschlichen offenstehenden“ Geist aus. Da er seiner Zeit geistig voraus gewesen sei, sei er zu seinen Lebzeiten vielfach unverstanden geblieben. Der Theologe Eberhard Teufel, der schon 1940 eine ausführliche Forschungsübersicht geboten hatte, veröffentlichte 1954 eine Franck-Biographie, in der er auch das Nachleben behandelte. Er beschrieb Franck als „faustischen Menschen“, der von allen Parteien in die Einsamkeit abgerückt sei; er sei „der Unbehauste, Heimatlose“ geworden, „überall bekämpft und ausgestoßen“. Der Religionswissenschaftler Kurt Goldammer wies 1956 darauf hin, dass Franck in seiner „geradezu antimonarchistischen, kaiser-, fürsten- und reichsfeindlichen Kritik der politischen Zustände“ Töne angeschlagen habe, „die man in dieser Zeit nicht für möglich halten sollte“. Sein „erbarmungsloser Versuch der Demaskierung“ habe auf die Zeitgenossen ausgesprochen nihilistisch wirken müssen. Als Analytiker habe er den historischen Scherbenhaufen durchsucht und viele interessante Teilstücke herausgelesen, ohne sie zu etwas Einheitlichem und Sinnvollem zusammenfügen zu können. Man könne den Autor der Paradoxa „den Mann der ungelösten Antithese, den dialektischen Denker ohne Synthesis“ nennen. Der Kulturhistoriker Friedrich Heer lobte 1959 die Leistung Francks, als erster den „Fluchnamen ‚Ketzer‘“ zum Heilsnamen und Ehrennamen erhoben zu haben. Der gegen Franck von „Konfessionschristen“ erhobene Vorwurf des Relativismus sei unberechtigt, denn er sei kein Relativist, wohl aber Relationist gewesen: Er habe „die Beziehungen, die Interdependenzen in allen geschichtlichen Gebilden, Religionen, Ideen“ erkannt und sich bemüht, „den Konfessionen den Giftzahn zu ziehen“. Mit seiner Auflösung des dogmatischen Christentums sei er ganz nah an die Frühaufklärung herangekommen, und von ihm seien durch den Untergrund „breite Ströme in das Europa des siebzehnten bis zwanzigsten Jahrhunderts“ geflossen. Der in Dresden lehrende marxistische Philosophiehistoriker Siegfried Wollgast befand 1972, dass „bei Franck eindeutig Pantheismus vorliegt“, was von den „bürgerlichen Franckforschern“ nicht zugegeben werde. Franck sei „die theoretisch profilierteste Figur nach dem Scheitern der frühbürgerlichen Revolution“. Oft wird Franck in der Forschung zum „linken Flügel der Reformation“ gezählt. Unter diesem Begriff werden einige radikalreformatorische Denker und Strömungen zusammengefasst, die zum lutherischen Kirchenwesen in Opposition standen. Horst Weigelt legte 1972 eine Studie vor, in der er Franck als Repräsentanten des „linken Flügels“ herausgriff und seine Auseinandersetzung mit der lutherischen Reformation untersuchte. Im Jahr 1992 begann unter der Leitung des Germanisten Hans-Gert Roloff eine kritische Gesamtausgabe der Werke Francks mit separaten Kommentarbänden zu erscheinen. Das Vorhaben wird an der Freien Universität Berlin realisiert. Geplant sind sechzehn Bände. Bisher sind drei Textbände und ein Kommentarband herausgebracht worden. Seit dem späten 20. Jahrhundert lässt sich ein verstärktes Forschungsinteresse erkennen. Es zeigt sich in einer Reihe von Monographien, darunter die Dissertationen von Christoph Dejung (1970/1980, über Francks Geschichtsphilosophie), Bruno Quast (1993, über die Friedensethik), Patrick Hayden-Roy (1994, eine Biographie Francks), Andreas Wagner (2007, über die gesellschaftliche Bedeutung von Francks Theologie aus sozialwissenschaftlicher Sicht), Yvonne Dellsperger (2008, über die Straßburger Chronik) und Vasily Arslanov (2017, über die Arbeitsweise Francks als Historiker und den Zusammenhang zwischen seiner Geschichtsschreibung und seiner Kirchen- und Sektenkritik). Außerdem erschienen zwei Sammelbände: die Tagungsbeiträge eines „Arbeitsgesprächs“ über Franck in Wolfenbüttel (1993) und eine Aufsatzsammlung anlässlich seines 500. Geburtstags (1999). Jean-Claude Colbus analysierte 2005 die Straßburger Chronica. Er sieht in Franck den Urheber eines „Gegenprojekts“ zu den kirchlichen Projekten, die aus der Sicht des dissidenten Kritikers Gott nach dem Bilde des Menschen erschaffen und dann dieses Götzenbild und damit sich selbst verehren. Das Gegenprojekt ist – so Colbus – die Formung des Menschen nach dem Bilde Gottes auf der Grundlage einer individuellen Beziehung zu dem pantheistisch aufgefassten Gott. Dabei erscheint der Mensch als Fragment des Göttlichen. Eine Voraussetzung für den Erfolg des Gegenprojekts ist die Erlangung der Unparteilichkeit und der damit verbundenen Freiheit. Dadurch wird man Teil einer überzeitlichen und überräumlichen, strikt informellen Gemeinschaft. Colbus bezeichnet dies als einen Prozess der Hominisation (Menschwerdung). Er hält Francks individualistisches Gesellschaftskonzept für den Ausgangspunkt einer neuen Epoche. Ausgaben und Kommentare Hans-Gert Roloff (Hrsg.): Sebastian Franck: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Peter Lang, Bern u. a. 1992–1993 und Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 2005 ff. Band 1 (Editionsteil): Peter Klaus Knauer (Hrsg.): Frühe Schriften. 1993, ISBN 3-906750-31-0 (enthält: Diallage, Klagbrief, Chronica und Beschreibung der Türkei, Ein künstlich höflich Deklamation, Von dem greulichen Laster der Trunkenheit) Band 1 (Kommentarteil): Christoph Dejung: Frühe Schriften: Kommentar. 2005, ISBN 3-7728-2233-9. Band 4: Peter Klaus Knauer (Hrsg.): Die vier Kronbüchlein. 1992, ISBN 3-261-04594-9. Band 11: Peter Klaus Knauer (Hrsg.): Sprichwörter. 1993, ISBN 3-906752-23-2. Alfred Hegler (Hrsg.): Sebastian Francks lateinische Paraphrase der Deutschen Theologie und seine holländisch erhaltenen Traktate. Schnürlen, Tübingen 1901 (kritische Teiledition der Paraphrase mit Untersuchung) Johannes Bolte (Hrsg.): Zwei satirische Gedichte von Sebastian Franck. In: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, 1925, S. 89–114 (Edition der Gedichte Sankt Pfennings Lobgesang und Die Gelehrten die Verkehrten) Sebastian Franck: Chronica. Straßburg 1531 (Erstausgabe) (Digitalisat) Sebastian Franck: Chronica. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1969 (Nachdruck der Ausgabe Ulm 1536). Digitalisat dieser Ausgabe Sebastian Franck: Weltbuch. Tübingen 1534 (Digitalisat) Sebastian Franck: Paradoxa. Ulm 1534 (Digitalisat) Sebastian Franck: Paradoxa. Herausgegeben und eingeleitet von Siegfried Wollgast. 2., neubearbeitete Auflage. Akademie Verlag, Berlin 1995, ISBN 3-05-002608-1 (Übertragung in modernes Deutsch) Sebastian Franck: Die Guldin Arch. Augsburg 1538 (Digitalisat) Sebastian Franck: Germaniae Chronicon. Augsburg 1538 (Digitalisat) Sebastian Franck: Das verbüthschiert mit siben Sigeln verschlossen Buch. Minerva, Frankfurt am Main 1975, ISBN 3-86598-408-8 (Nachdruck der Ausgabe Augsburg 1539). Digitalisat dieser Ausgabe Sebastian Franck: Schrifftliche vnd gantz gründtliche ausslegung des LXIIII. Psalm. Aupperle, Schwäbisch Gmünd 1957 (Faksimile der Ausgabe Straßburg 1539). Digitalisat dieser Ausgabe Sebastian Franck: Kriegsbüchlein des Friedens. Augsburg 1539 (Digitalisat) Sebastian Franck: Krieg Büchlin des Friedes. Olms, Hildesheim 1975, ISBN 3-487-05381-0 (Nachdruck der Ausgabe Frankfurt am Main 1550) Sebastian Franck: Das Kriegbüchlin des Friedes. In: Siegfried Wollgast (Hrsg.): Zur Friedensidee in der Reformationszeit. Texte von Erasmus, Paracelsus, Franck. Akademie-Verlag, Berlin 1968, S. 63–278 (Übertragung in modernes Deutsch) Sebastian Franck: Brief an Johannes Campanus. In: Manfred Krebs, Hans Georg Rott (Hrsg.): Quellen zur Geschichte der Täufer. Band 7: Elsaß, Teil 1: Stadt Straßburg 1522–1532. Mohn, Gütersloh 1959, S. 301–325 (Nr. 241; frühneuhochdeutsche und niederländische Übersetzung des lateinischen Originaltextes des Briefs vom 4. Februar 1531) Sebastian Franck: Brief an Johannes Campanus. In: Heinold Fast (Hrsg.): Der linke Flügel der Reformation. Carl Schünemann, Bremen 1962, S. 219–233 (Übertragung in modernes Deutsch) Literatur Übersichtsdarstellungen Yvonne Häfner: Franck, Sebastian. In: Wilhelm Kühlmann u. a. (Hrsg.): Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Band 2, de Gruyter, Berlin/Boston 2012, ISBN 978-3-11-025486-0, Sp. 409–424 Bruno Quast: Sebastian Franck. In: Stephan Füssel (Hrsg.): Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450–1600). Ihr Leben und Werk. Erich Schmidt, Berlin 1993, ISBN 3-503-03040-9, S. 464–476. André Séguenny: Franck, Sebastian. In: Theologische Realenzyklopädie. Band 11, de Gruyter, Berlin/New York 1983, ISBN 3-11-008577-1, S. 307–312. Horst Weigelt: Sebastian Franck. In: Martin Greschat (Hrsg.): Gestalten der Kirchengeschichte. Band 6: Die Reformationszeit II. Kohlhammer, Stuttgart 1981, ISBN 3-17-007302-8, S. 119–128. Gesamtdarstellung Patrick Hayden-Roy: The Inner Word and the Outer World. A Biography of Sebastian Franck. Peter Lang, New York u. a. 1994, ISBN 0-8204-2083-2. Aufsatzsammlungen Jan-Dirk Müller (Hrsg.): Sebastian Franck (1499–1542) (= Wolfenbütteler Forschungen. Band 56). Harrassowitz, Wiesbaden 1993, ISBN 3-447-03454-8. Siegfried Wollgast (Hrsg.): Beiträge zum 500. Geburtstag von Sebastian Franck (1499–1542). Weidler, Berlin 1999, ISBN 3-89693-134-2. Untersuchungen zu einzelnen Themenbereichen Vasily Arslanov: „Seliger Unfried“. Modalitäten und Strategien der Popularisierung historischen Wissens bei Sebastian Franck (1499–1542). Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2017, ISBN 978-3-374-05065-9. Christoph Dejung: Wahrheit und Häresie. Eine Untersuchung zur Geschichtsphilosophie bei Sebastian Franck. Samisdat, Zürich 1980 (Dissertation Universität Zürich 1970) Andreas Wagner: Das Falsche der Religionen bei Sebastian Franck. Zur gesellschaftlichen Bedeutung des Spiritualismus der radikalen Reformation. Berlin 2007 (Dissertation FU Berlin, online) Horst Weigelt: Sebastian Franck und die lutherische Reformation. Mohn, Gütersloh 1972, ISBN 3-579-04304-8. Untersuchungen zu einzelnen Werken Jean-Claude Colbus: La Chronique de Sébastien Franck (1499–1542). Vision de l’histoire et image de l’homme. Peter Lang, Bern u. a. 2005, ISBN 3-03910-371-7 (Rezension von Vasily Arslanov) Yvonne Dellsperger: Lebendige Historien und Erfahrungen. Studien zu Sebastian Francks „Chronica Zeitbuoch vnnd Geschichtbibell“ (1531/1536). Erich Schmidt, Berlin 2008, ISBN 978-3-503-09837-8. Ralph Häfner: Kompositionsprinzip und literarischer Sinngehalt von Sebastian Francks Florilegium Die Guldin Arch (1538). In: Euphorion 97, 2003, S. 349–378. Albrecht Hagenlocher: Sebastian Francks ‚Kriegbüchlin des Friedes‘. In: Franz Josef Worstbrock (Hrsg.): Krieg und Frieden im Horizont des Renaissance-Humanismus. VCH, Weinheim 1986, ISBN 3-527-17014-6, S. 45–67. Peter Klaus Knauer: Der Buchstabe lebt. Schreibstrategien bei Sebastian Franck (= Berliner Studien zur Germanistik. Band 2). Peter Lang, Bern u. a. 1993, ISBN 3-906751-56-2 (zu den Kronbüchlein) Ulrich Meisser: Die Sprichwörtersammlung Sebastian Francks von 1541. Rodopi, Amsterdam 1974, ISBN 90-6203-121-8. Bruno Quast: Sebastian Francks ‚Kriegbüchlin des Frides‘. Studien zum radikalreformatorischen Spiritualismus. Francke, Tübingen/Basel 1993, ISBN 3-7720-2022-4. Bibliographien Christoph Dejung: Sebastian Franck. In: André Séguenny (Hrsg.): Bibliotheca dissidentium. Répertoire des non-conformistes religieux des seizième et dix-septième siècles. Band 7, Valentin Koerner, Baden-Baden 1986, ISBN 3-87320-106-2, S. 39–119. Klaus Kaczerowsky: Sebastian Franck. Bibliographie. Verzeichnisse von Francks Werken, der von ihm gedruckten Bücher sowie der Sekundär-Literatur. Guido Pressler, Wiesbaden 1976, ISBN 3-87646-034-4 (enthält bibliographische Angaben zu allen frühneuzeitlichen Drucken) Weblinks (Ulrich Goerdten) Anmerkungen Mystiker Evangelischer Theologe (16. Jahrhundert) Person des Spiritualismus Sachbuchautor (Theologie) Sachliteratur (Theologie) Reformator Literatur (16. Jahrhundert) Literatur (Deutsch) Chronik (Literatur) Christliche Literatur Sachliteratur Sprichwort Übersetzer aus dem Latein Übersetzer ins Deutsche Deutscher Buchdrucker (Basel) Antitrinitarier Geboren 1499 Gestorben 1542 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Zwergkaninchen%20%28Art%29
Zwergkaninchen (Art)
Das Zwergkaninchen (Brachylagus idahoensis) ist eine Säugetierart aus der Familie der Hasen (Leporidae). Es ist die kleinste Art der Hasen in Amerika und eng mit der Gattung der Baumwollschwanzkaninchen (Sylvilagus) verwandt, der es manchmal auch zugeordnet wird. Die im Tierhandel unter dem Namen „Zwergkaninchen“ angebotenen Tiere sind Zuchtformen des Hauskaninchens und mit dem Zwergkaninchen nicht näher verwandt. Zwergkaninchen leben im zentralen Westen der Vereinigten Staaten in den Bundesstaaten Washington, Idaho, Montana, Wyoming, Nevada und dem nördlichen Kalifornien. Ihr Verbreitungsgebiet deckt sich weitgehend mit dem Verbreitungsgebiet des Wüsten-Beifußes (Artemisia tridentata), der ihnen vor allem im Winter als Hauptnahrungsquelle sowie als Deckung und Schutz vor Fressfeinden wie Kojoten und Greifvögeln dient. Die hauptsächlich dämmerungs- und nachtaktiven Tiere sind die einzigen Hasen Amerikas, die eigene Baue graben. Das Zwergkaninchen gilt insgesamt als ungefährdet, allerdings kam es vor allem im Columbia-Becken (Bundesstaat Washington) und auch in anderen Gebieten zu rapiden Rückgängen des Bestandes, durch die die Art regional vom Aussterben bedroht ist. Speziell in Washington wurde zur Erhaltung der Population ein mehrstufiger Rettungsplan mit einem Zuchtprogramm für die Tiere aufgebaut. Merkmale Allgemeine Merkmale Das Zwergkaninchen ist die kleinste Art der Hasen in Nordamerika, wobei sich die Größe der Tiere regional und nach Geschlechtern nur wenig unterscheidet. Die Kopf-Rumpf-Länge beträgt in der Regel maximal etwa 30 Zentimeter bei einem Gewicht von etwa 400 bis 450 Gramm. Nach Green & Flinders 1980 betrug die Kopf-Rumpf-Länge von Männchen aus Kalifornien 25,2 bis 28,5 Zentimeter mit einem Durchschnitt von 27,2 Zentimetern, bei Weibchen war sie 23,0 bis 29,5 und durchschnittlich 27,3 Zentimeter lang. In Utah wurde bei den Männchen eine Länge von 26,1 bis 28,3 Zentimetern mit einem Durchschnitt von 27,8 Zentimetern und bei den Weibchen eine Länge von 27,3 bis 30,5 Zentimetern mit einem Durchschnitt von 29,1 Zentimetern gemessen. Das Gewicht der Männchen in Columbia betrug durchschnittlich 409 Gramm und das der Weibchen 398 Gramm, in Utah wogen die Männchen durchschnittlich 405 Gramm und die Weibchen 436 Gramm und in Idaho wogen die Männchen durchschnittlich 418 Gramm und die Weibchen durchschnittlich 462 Gramm. Das Fell ist im Herbst lang und seidenartig und an der Oberseite sandfarben bis grau gefärbt. Nach dem Ende des Winters ist es silbergrau bis zum nächsten Fellwechsel im Herbst. Die Unterseite ist weißlich und die Beine, die Kehle und der Nacken sind zimtbraun. Die Hinterbeine sind sehr kurz, weswegen Zwergkaninchen auch nicht die von anderen Hasen bekannte hoppelnde Fortbewegungsweise haben. Die Hinterfüße sind im Vergleich zu anderen Arten sehr breit und stark behaart. Die Ohren sind kurz, abgerundet und innen wie außen mit dichtem Fell versehen. Die Vibrissen sind schwarz und weiß. Auch der Schwanz ist kurz, anders als bei den Baumwollschwanzkaninchen ist die Schwanzunterseite bei Zwergkaninchen eher sandfarben als weiß. Die Weibchen besitzen insgesamt 10 Zitzen, die jeweils paarig angelegt sind. Das Zwergkaninchen ist durch seine geringe Größe, die sehr kurzen Ohren und den sehr kurzen Schwanz, der keine weißen Stellen aufweist, sowie die graue Farbe nicht mit anderen nordamerikanischen Hasen, wie den nahe verwandten Baumwollschwanzkaninchen, zu verwechseln. Schädelmerkmale Der Schädel hat eine Basilarlänge von durchschnittlich etwa 39 Millimetern, im Bereich der Jochbögen ist der Schädel 27,3 Millimeter breit und im Bereich des Hirnschädels 20,2 Millimeter. Dabei sind die Schädel der Männchen und der Weibchen in ihren Maßen weitgehend identisch. Der Schädel ist damit kleiner als der anderer Hasen, der Hirnschädel und die Paukenblase (Bulla tympanica) sind vergleichsweise groß ausgebildet. Die Schnauze ist kurz und spitz und die Überaugenfortsätze (Processus supraorbitalia) sind im Vergleich zu den verwandten Baumwollschwanzkaninchen lang. Die vorderen Gaumenfenster sind breit, die Gaumenbrücke ist kurz und in der Regel mit einem Fortsatz ausgestattet. Die Art besitzt jeweils in einer Oberkieferhälfte zwei Schneidezähne (Incisivi) und nach einer Lücke (Diastema) drei Prämolaren und drei Molaren und in einer Unterkieferhälfte einen Schneidezahn, zwei Prämolaren und drei Molaren. Insgesamt besitzen die Tiere also 28 Zähne. Wie bei anderen Hasen sind die zweiten Schneidezähne im Oberkiefer stiftartig ausgebildet (Duplizidentie) und liegen hinter denen als Nagezähnen ausgebildeten ersten Schneidezähnen. Die Oberflächen der Backenzähne sind im Vergleich zu anderen Arten relativ klein. Verbreitung Zwergkaninchen leben im zentralen Westen der Vereinigten Staaten im Bereich des Großen Beckens und einiger angrenzender Regionen, ihr Verbreitungsgebiet deckt sich weitgehend mit dem Verbreitungsgebiet des Wüsten-Beifußes (Artemisia tridentata; „sagebrush“). Es reicht vom Südwesten des Bundesstaats Montana und dem westlichen Wyoming bis in den Südwesten von Utah und das zentrale Washington, wo die Art in einem isolierten Bestand vorkommt. Außerdem reicht es vom zentralen Nevada bis zum nordöstlichen Kalifornien, dem nordöstlichen Oregon und dem südlichen Idaho. Da der Wüsten-Beifuß nur in trockenen, wüstenartigen Gebieten auf sandigen bis lehmigen Böden vorkommt, ist auch der Lebensraum des Zwergkaninchens durch diese Habitate gekennzeichnet. Innerhalb des Verbreitungsgebietes sind die einzelnen Vorkommen häufig isoliert und punktuell an Regionen mit Vorkommen des Wüsten-Beifußes gebunden. In Washington kam die Art historisch in großen Teilen des Columbia-Beckens vor, bis die Beifußbestände in vielen Bereichen für den Ausbau von landwirtschaftlichen Flächen fast vollständig beseitigt wurden. Die Bestände der Art sind entsprechend von anderen Verbreitungsgebieten vollständig getrennt, allerdings ergaben genetische Untersuchungen und Fossilfunde, dass eine Trennung der Population im Columbia-Becken von anderen Populationen bereits vor etwa 10.000 Jahren stattgefunden hat. Aus dem benachbarten Oregon liegen nur unzureichende Daten vor. Populationen der Zwergkaninchen konnten im Deschutes, Lake, Harney und Malheur County nachgewiesen werden. Auch in Idaho sind die Bestände fragmentiert, in einigen Gebieten vor allem im nördlichen und zentralen Idaho wie im Lemhi County, am Birch Creek, dem Big und Little Lost River sowie den Tälern am Pahsimeroi River sind die Populationen jedoch stabil und die Bestände vergleichsweise groß. Isolierte Populationen finden sich unter anderem im Owyhee County und der Camas-Prärie. Eine starke Isolationsbarriere stellt wahrscheinlich der Snake River mit seiner landwirtschaftlichen und städtischen Erschließung dar, wodurch die Populationen südlich des Flusses von den nördlichen getrennt werden und erst im südwestlichen Montana Übergänge bestehen. In Montana selbst kommt die Art fast im gesamten Bundesgebiet vor. In Wyoming ist das Zwergkaninchen vor allem in den Beifuß-dominierten Bereichen des Bear und des Green Rivers verbreitet. Besonders im Fossil Butte National Monument am Bear River sowie in den Bereichen südlich und westlich der Städte Pinedale und Boulder am Green River kommt die Art vergleichsweise häufig vor. Ein weiterer Verbreitungsschwerpunkt ist das Great Divide Basin mit den Jack Morrow Hills und für den Bereich des Sweetwater River Basin liegt der bislang einzige Nachweis östlich der nordamerikanischen kontinentalen Wasserscheide (Continental Divide) vor. In Utah sind die Gebiete mit den größten Beständen das westliche Box Elder County, das nördliche Rich County sowie der nordwestliche Bereich des Garfield County, wo die Art vergleichsweise häufig ist. Im Zentralbereich des Großen Beckens Utahs kommt das Zwergkaninchen allerdings heute nicht mehr vor, obwohl es historisch hier verbreitet war. In Nevada reicht das Verbreitungsgebiet vom äußersten Norden bis zur Nordgrenze des Nye County und des Lincoln County im Süden von der östlichen Grenze bis Vya im Westen. Die Art ist in den meisten Talregionen des Bundesstaates verbreitet und kommt auch in den historisch belegten Verbreitungsgebieten noch vor. In Kalifornien kommt die Art vor allem im Mono County vor und ist dort von den Bodie Hills bis südlich des Mono Lake verbreitet. Im Norden Kaliforniens wurden bislang keine Zwergkaninchen nachgewiesen, obwohl sie historisch auch im Modoc County und im Lassen County vorkamen. Lebensweise Als Lebensraum bevorzugen Zwergkaninchen dicht mit Wüsten-Beifuß bestandene Gebiete. Die Tiere können den ganzen Tag über aktiv sein, sind jedoch vorwiegend dämmerungs- (abends wie morgens) und nachtaktiv und verbringen den Tag ruhend in oder in der Nähe ihrer Baue. Die höchste Aktivität zeigen sie mit Ausnahme des Winters im Morgengrauen, wobei die Aktivität in besonders wetterexponierten Habitaten deutlich erhöht sein kann. Zwergkaninchen graben mehrere bis zu einem oder zwei Meter tiefe Baue, die üblicherweise vier oder fünf und maximal etwa zehn Ausgänge haben. Zwergkaninchen sind die einzigen amerikanischen Hasen, die aktiv Baue graben, diese Tätigkeit unterscheidet sie entsprechend von den Baumwollschwanzkaninchen und anderen nordamerikanischen Hasenarten. Die Ausgänge befinden sich meist direkt unterhalb eines Busches und haben in der Regel einen Durchmesser von zehn bis zwölf Zentimetern. Sie verbreitern sich unter der Erdoberfläche, wo sie Kammern bilden. Neben diesen selbst gegrabenen Bauen nutzen die Tiere jedoch auch natürliche Höhlen in Gestein sowie aufgegebene Baue von Silberdachsen (Taxidea taxus) und Gelbbauchmurmeltieren (Marmota flaviventris). Die Anzahl der Baue entspricht nicht zwingend der Anzahl der in einem Gebiet vorkommenden Zwergkaninchen. In den Bauen lebt in der Regel ein ausgewachsenes Tier, zur Fortpflanzungszeit können jedoch auch Männchen und Weibchen den gleichen Bau bewohnen und aufgeschreckte Tiere fliehen häufig zu mehreren Individuen in den gleichen Bau. Die Tiere legen Trampelpfade durch das Buschwerk an, die ihnen ein schnelles Vorwärtskommen ermöglichen und entfernen sich bei der Nahrungssuche oft nicht mehr als 30 bis 100 Meter von ihrem Bau. Die weitesten Entfernungen legen sie im Frühjahr und Sommer zurück, wobei die maximale Entfernung vom Bau mit etwa 2,5 Kilometern dokumentiert ist. Bei Störung können sie schnell durch die Büsche zu ihren Bauten laufen. Dabei haben sie anders als andere Hasen keine hoppelnde Fortbewegungsweise, sondern einen eher hetzenden Gang. In ihren Lebensräumen können Zwergkaninchen mit anderen Hasenarten vergesellschaftet sein. In Idaho leben sie beispielsweise häufig in den gleichen Habitaten wie das Berg-Baumwollschwanzkaninchen (Sylvilagus nuttallii), der Präriehase (Lepus townsendii) und der Eselhase (Lepus californicus). Obwohl die Arten untereinander keinerlei soziale Kontakte haben, wurden Berg-Baumwollschwanzkaninchen gemeinsam mit Zwergkaninchen in den gleichen Bauen nachgewiesen. Ernährung Die Hauptnahrung des Zwergkaninchens ist der Wüsten-Beifuß, an den die Tiere entsprechend gebunden sind. Im Winter stellen die Pflanzenteile des Wüsten-Beifußes bis zu 99 % der Nahrung dar, während im Sommer etwa 30 bis 40 % der Nahrung aus Gräsern wie Rispengräsern (Poa) und Agropyron-Arten bestehen. Dabei liegt die Vorliebe der Tiere für den Wüsten-Beifuß nicht allein an der Verfügbarkeit und den enthaltenen Nährstoffen, da beispielsweise auch der strauchige Purshia tridentata in der Regel mit einem ähnlichen Nährwert verfügbar ist, jedoch maximal 2 % der Nahrung ausmacht. Fortpflanzung und Entwicklung Die Fortpflanzungszeit der Zwergkaninchen ist regional verschieden. Wie bei anderen Hasen kommt es bei den Männchen vor der Fortpflanzungszeit zu einem Hodenabstieg und der temporären Ausbildung des vollständigen Hodensacks (Scrotum), wobei der Zeitpunkt der Hodenentwicklung wahrscheinlich von der Tageslänge abhängt. In Idaho wurde der Hodenabstieg ab Mitte Dezember beobachtet, der Hodensack war im späten Januar ausgebildet und enthielt spätestens im März reife Spermien, während die Hodenentwicklung in Utah im Januar lag und im März abgeschlossen war. Die Fortpflanzungsfähigkeit der Weibchen ist ebenfalls an die Tageslänge sowie zusätzlich an die Nahrungsverfügbarkeit gebunden. So konnten trächtige Weibchen der ersten Fortpflanzungsperiode in Utah von Ende Februar bis Ende März und in Idaho von Ende März bis Ende Mai nachgewiesen werden. Zwergkaninchen erreichen ihre Geschlechtsreife im ersten Jahr. Die Weibchen verpaaren sich mit mehreren Männchen (Promiskuität), wobei die Tiere eines Wurfes unterschiedliche Väter haben können. Die Tragzeit wird wie bei anderen Hasen und speziell Arten der nahe verwandten Baumwollschwanzkaninchen mit 27 bis 30 Tagen angenommen. Die Weibchen bringen dabei bis zu dreimal im Jahr jeweils vier bis acht Jungtiere zur Welt, wobei der letzte Wurf vor dem Herbst stattfindet. Die Jungtiere kommen nackt zur Welt und haben eine Länge von durchschnittlich etwa 72 Millimetern. Das Geschlechterverhältnis der Jungtiere liegt bei etwa 1:1. Die Wachstumsgeschwindigkeit ist abhängig vom Zeitpunkt der Geburt, wobei früher geborene Tiere durch die längere Zeit bis zum Winter am Ende des Jahres größer sind als die Tiere späterer Würfe. Die meisten Jungtiere verlassen den Bau der Eltern nach spätestens zwölf Wochen und suchen oder graben dann innerhalb von einer Woche einen neuen Bau. Die Männchen siedeln sich dabei durchschnittlich einen Kilometer und die Weibchen durchschnittlich drei Kilometer entfernt vom Elternbau an. Der Abstand kann jedoch auch bis zu zwölf Kilometer betragen, Straßen und Gewässer werden dabei passiert. Die Mortalität der Jungtiere ist zwischen der Geburt und der fünften Lebenswoche am höchsten. Nach Beobachtungen liegt die Mortalität der Jungtiere innerhalb des ersten Jahres nach Verlassen des Baus bei den Männchen bei etwa 70 % und den Weibchen bei fast 90 %, wobei die meisten Tiere innerhalb der ersten zwei Monate sterben. Die Jungtiere werden innerhalb des Geburtsjahres nicht geschlechtsreif, jedoch sind im Folgejahr die überlebenden Tiere aller Würfe geschlechtsreif. Bei den ausgewachsenen Tieren ist die Mortalität besonders im Winter und frühen Frühjahr sehr hoch, wobei ein Maximum von 88 % am Gesamtbestand angenommen wird. Fressfeinde und Parasiten Wie bei anderen Hasenarten und Kleinsäugern werden auch Zwergkaninchen von zahlreichen Prädatoren gejagt und erbeutet. Speziell Wiesel (Gattung Mustela) dringen in die Bauten ein und erbeuten die darin lebenden Tiere. Weitere generalistische Beutegreifer, denen auch Zwergkaninchen als Beute dienen, sind Kojoten (Canis latrans), Rotfüchse (Vulpes vulpes), Eulen und Hudsonweihen (Circus hudsonius) sowie Rotluchse (Lynx rufus) und Dachse. Bei Untersuchungen zur Mortalität von mit Transmittern ausgestatteten Tieren im Südosten von Oregon und im Nordwesten von Nevada konnte festgestellt werden, dass die Mortalität durch Prädatoren sowohl bei ausgewachsenen Tieren (88,6 %) wie auch bei Jungtieren (89,4 %) sehr hoch ist; die Daten entsprechen dabei dem Anteil der erbeuteten Tiere gemessen an den markierten Individuen im Untersuchungszeitraum von einem Jahr. Dabei stellten Kojoten mit 19,6 %, Greifvögel mit 18,5 % und Wiesel mit 9,8 % die häufigsten Prädatoren dar. Unter den Parasiten wurden zahlreiche Endo- und Ektoparasiten beschrieben. Nach Green & Flinders 1980 werden die Tiere von den Fadenwürmern Dermatoxys veligera und Nematodirus-Arten und den Larven von Dasselfliegen der Gattung Cuterebra befallen. Als Ektoparasiten kommen die Zeckenarten Dermacentor parumapertus, Haemaphysalis leporis-palustris und Ornithodoros spec. und die Flöhe Cediopsylla inaequalis, Odontopsyllus dentatus und Orchopeas sexdentatus hinzu. 2007 wurde zudem eine bislang unbekannte und nur auf dem Zwergkaninchen nachgewiesene Art der Tierläuse als Haemodipsis brachylagi beschrieben. Ebenfalls artspezifisch ist die Eimeria-Art Eimeria brachylagia, die 2005 wissenschaftlich erstbeschrieben wurde. Unter in Gefangenschaft gehaltenen Tieren, die für eine Wiederbesiedlung des Columbia-Beckens in Washington gezüchtet wurden, wurde zudem eine sehr hohe Infektionsrate und Mortalität durch Mycobacterium avium festgestellt. Evolution und Systematik Fossilgeschichte Die frühesten dem Zwergkaninchen zugeordneten Fossilien stammen aus der Jaguar Cave (Jaguar-Höhle) im Lemhi County in Idaho aus der Übergangszeit von der Wisconsin-Eiszeit und der postglazialen Zeit und werden auf ein Alter zwischen 10.370 ± 350 bis 11.580 ± 250 Jahre geschätzt. Es wird angenommen, dass vor mehr als 7.000 Jahren der höchste Bestand existierte und dieser dann mit der Veränderung des Klimas und der Vegetation abgenommen hat. Systematik Das Zwergkaninchen wird als eigenständige Art und monotypische Gattung Brachylagus den Hasen (Leporidae) zugeordnet. Innerhalb der Art werden keine Unterarten unterschieden. Die Erstbeschreibung der Art erfolgte 1891 durch Merriam als Lepus idahoensis in einem gemeinsam mit Leonhard Steineger veröffentlichten Werk mit dem Titel „Results of a biological reconnaissance of south-central Idaho“, das in der Serie „North American Fauna“ des United States Fish and Wildlife Service erschien. Er beschrieb die Art anhand von Individuen aus dem Pahsimeroi River im Custer County in Idaho. 1900 beschrieb Gerrit Smith Miller die Gattung Brachylagus als Untergattung von Lepus und ordnete die Art dort ein. 1904 wurde sie dann erstmals von Marcus Ward Lyon als eigene, monotypische Gattung mit Brachylagus idahoensis als einziger Art beschrieben. Innerhalb der Hasen ist das Zwergkaninchen nah verwandt mit den Arten der Baumwollschwanzkaninchen (Gattung Sylvilagus) und wurde diesen auch bereits zugeordnet. Auf der Basis von molekularbiologischen Daten wurde von Conrad A. Matthee et al. 2004 ein Kladogramm entwickelt, das die phylogenetischen Verwandtschaften der Gattungen der Hasen zueinander darstellt. Demnach ist das Zwergkaninchen tatsächlich die Schwesterart der Gattung der Baumwollschwanzkaninchen und bildet mit diesen ein Taxon. Diesem steht ein Taxon aus vier jeweils monotypischen Gattungen mit dem Wildkaninchen (Oryctolagus cuniculus), dem Borstenkaninchen (Caprolagus hispidus), dem Buschmannhasen (Bunolagus monticularis) und dem Ryukyu-Kaninchen (Pentalagus furnessi) gegenüber, während die Echten Hasen (Lepus) die Schwestergattung der Gesamtgruppe darstellt. Auch eine bereits 1997 veröffentlichte Untersuchung der Verwandtschaftsbeziehungen der Baumwollschwanzkaninchen untereinander bestätigt, dass das Zwergkaninchen als Schwesterart der Baumwollschwanzkaninchen anzusehen ist. Namensgebung Die Namensgebung der Gattung Brachylagus leitet sich von der Zusammensetzung der griechischen Wörter „brachýs“ (βραχύς) für „kurz“ und „lagōs“ (λαγός) für „Hase“ ab. Der Artname „idahoensis“ bezieht sich auf den Fundort des Typusexemplars, das aus Idaho stammt. Gefährdung und Schutz Die Tiere werden aufgrund ihres großen Verbreitungsgebietes und zahlreicher Populationen von der IUCN als nicht gefährdet (least concern) eingestuft. Aufgrund ihrer engen Bindung an Bestände des Wüsten-Beifußes sind die Tiere vor allem gegenüber der Umwandlung ihres Lebensraumes in Weideland sowie gegen Feuer und die damit einhergehende Zerstörung der Vegetation empfindlich. Die Bestände des Zwergkaninchens variieren entsprechend innerhalb des Verbreitungsgebietes regional sehr stark, wobei die Fragmentierung zu einer Verringerung der genetischen Diversität führt. In einigen Regionen, vor allem im Columbia-Becken in Washington, sind die Bestände drastisch zurückgegangen. Speziell im Columbia-Becken wurden bei einer Bestandsaufnahme zwischen 1987 und 1990 nur noch sechs isolierte Teilpopulationen mit 10 bis 590 aktiven Bauen entdeckt, woraufhin die Art 1990 in Washington als gefährdet und 1993 als bedroht eingestuft und 1995 ein Rettungsplan entworfen und in den Folgejahren weiter entwickelt wurde. Zwischen 1997 und 2001 reduzierte sich die Anzahl der aktiven Teilpopulationen auf eine einzelne in der Sagebrush Flat Wildlife Area nahe Ephrata. 2001 wurde aus diesem Grund ein Zuchtprogramm auf der Basis einer Gründerpopulation von 16 Wildfängen aufgebaut, an der zu Beginn vor allem die Washington State University und der Oregon Zoo beteiligt wurden. Die Verpaarungen wurden auf der Basis der genetischen Diversität der Einzeltiere geplant, um eine maximale Streuung zu erreichen. Die Hinzunahme von Tieren aus anderen Regionen wurde aufgrund der vergleichsweise großen genetischen Unterschiede insbesondere der Columbia-Population gegenüber anderen Populationen zuerst abgelehnt, nach zwei Jahren wurden jedoch vier Tiere aus Idaho in die Gruppe eingebracht. Dies geschah vor allem aufgrund der sehr niedrigen Fortpflanzungs- und Überlebensrate der Columbia-Population, die zu einer Fortpflanzungsrate von weniger als einem Nachkommen pro Weibchen führte und so ein Aussterben unvermeidlich machte. Die Idaho-Weibchen sind dagegen deutlich reproduktiver, mit höheren Nachkommenzahlen und besserer Überlebensrate. Bei der Vermischung beider Populationen wurde versucht, die genetische Variationsbreite der kleinen Population langsam zu erhöhen und dabei mindestens 75 % der Gene der Columbia-Population in den Nachkommen beizubehalten. 2004 starb die letzte bekannte wildlebende Population aus. 2006 wurde ein Zeitplan für die allmähliche Aussiedlung der in Gefangenschaft gezüchteten Tiere veröffentlicht, der bei Gelingen ein Ansteigen der Population in Washington auf bis zu sechs Teilpopulationen mit insgesamt etwa 1000 bis 1700 Tieren über einen Zeitraum von 10 Jahren modellierte. 2007 wurden die ersten 20 nachgezüchteten Tiere in der Wildnis ausgesetzt, diese starben jedoch wahrscheinlich bis 2008. Im Jahr 2011 wurden erneut nachgezüchtete Tiere freigesetzt, der darüber hinausgehende Plan wurde weiter entwickelt und veröffentlicht. Bis 2017 wurden auf der Basis des Freisetzungsplanes insgesamt etwa 1200 Individuen freigesetzt, von denen etwa 180 im jeweiligen Folgejahr nahe dem Freisetzungsgebiet aufgefunden werden konnten. Jungtiere entfernten sich durchschnittlich etwa 780 Meter vom Freisetzungsgebiet, ausgewachsene Tiere etwa 470 Meter von diesem. Innerhalb des Beobachtungszeitraums konnten nur 14 in der Wildnis geborene Jungtiere gefunden werden. Auch für andere Regionen liegen Bestandsaufnahmen, genetische Untersuchungen und Naturschutzpläne vor, in keinem Bundesstaat ist die Bedrohung jedoch so groß wie in Washington. Vor allem die Bindung an den Wüsten-Beifuß und die damit einhergehende inselartige Verbreitung stellen dabei ein Problem dar und führen zu einer starken genetischen Isolierung der Populationen sowie einer Reduzierung der genetischen Vielfalt in den einzelnen Populationen. Bei einer exemplarischen Untersuchung der genetischen Variabilität im Süden von Wyoming wurde festgestellt, dass die Variabilität gegenüber den Beständen im zentralen Verbreitungsgebiet in Montana und Idaho sowie gegenüber zum Vergleich herangezogenen und sympatrisch vorkommenden Baumwollschwanzkaninchen deutlich geringer ist. Dabei besteht ein Zusammenhang zwischen der Variabilität und dem Abstand der Teilpopulationen voneinander, davon abgeleitet wurde die Forderung, bei Artenschutzbemühungen vor allem die Verinselung der Populationen zu reduzieren. Belege Literatur Ronald M. Nowak: Walker’s Mammals of the World. Johns Hopkins University Press, 1999, ISBN 0-8018-5789-9 Frederick C. Dobler, Kenneth R. Dixon: The Pigmy Rabbit Brachylagus idahoensis. In: Joseph A. Chapman, John E. C. Flux (Hrsg.): Rabbits, Hares and Pikas. Status Survey and Conservation Action Plan. (PDF; 11,3 MB) International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN), Gland 1990, ISBN 2-8317-0019-1, S. 111–115. Weblinks Pygmy Rabbit (Brachylagus idahoensis) – Artprofil des United States Fish and Wildlife Service Hasenartige
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Sebastian Sailer
Sebastian Sailer OPraem (* 12. Februar 1714 in Weißenhorn als Johann Valentin Sailer; † 7. März 1777 in Obermarchtal) war ein deutscher Prämonstratenser, Prediger und Schriftsteller des Barock. Er wurde besonders bekannt durch seine Komödien in oberschwäbischem Dialekt und gilt als Begründer und Meister der schwäbischen Mundartdichtung. Leben und Werk Sailer wurde als Sohn eines gräflich Fuggerschen Amtsschreibers in Weißenhorn geboren. Bereits als Schüler trat er ins Prämonstratenserkloster Obermarchtal ein. 1730 nahm er den Ordensnamen Sebastian an, 1732 legte er die Ordensgelübde ab und 1738 wurde er zum Priester geweiht. Ab 1739 war er an der Klosterschule in Obermarchtal als Lehrer unter anderem für Kirchenrecht tätig. Daneben war er Pfarrer der klostereigenen Dörfer Seekirch am Federsee und Reutlingendorf (heute Ortsteil von Obermarchtal). Die schwäbische Schöpfung Am 10. November 1743 führte er im Kloster Schussenried sein neues Singspiel Schöpfung der ersten Menschen, der Sündenfall und dessen Strafe (später bekannt als Die schwäbische Schöpfung) auf. Das Werk, das als das unübertroffene Meisterwerk Sailers gilt, versetzt auf liebevolle, wenn auch derbe Weise die biblische Schöpfungsgeschichte um Adam und Eva in die Welt oberschwäbischer Bauern. Gottvater, Adam und Eva sprechen und singen auf der Bühne in oberschwäbischem Dialekt. Die Komödie war sehr erfolgreich und wurde 1796 sogar – wahrscheinlich unter Einbeziehung Sailers eigener Melodien – von dem Weingartener Klosterkomponisten Meingosus Gaelle als Oper Adam und Evas Erschaffung vertont. Die Schwäbische Schöpfung fand zu allen Zeiten viele Freunde, erlebte – wenn auch erst nach Sailers Tod – zahlreiche, teils illustrierte Ausgaben. Die Anfang des 20. Jahrhunderts im Kloster Mehrerau aufgefundene Fortsetzung der Schöpfungsgeschichte Kain und Abel lässt sich Sailer nicht sicher zuordnen und könnte – auch aufgrund der hochdeutschen Teile – eine Bearbeitung oder ein Werk eines Nachahmers sein. Der Fall Luzifers Sailers Dialektkomödie Der Fall Luzifers lässt sich nicht genau datieren, muss aber aufgrund einer Referenz auf die Hinrichtung Joseph Süß Oppenheimers nach 1738 entstanden sein. Die skurrile Komödie erzählt von der Teufelwerdung Luzifers und der Notwendigkeit, entbehrliche Schutzengel von der Erde zurückzuholen, um die himmlischen Heerscharen zu verstärken. Sailer verspottet in der Komödie, indem er Sprachen und Dialekte parodiert, die Eigenheiten der Völker und ihre Sünden. So prangert der Franzosenengel den Hochmut an, der Schwabenengel geißelt die Völlerei, der Schweizerengel den höllischa Giz (Geiz), und auch ein bayerischer Hanswurst tritt auf. Luzifer wird gegen Ende in ein Toilettenhäuschen eingesperrt, und schließlich wird ihm zur Strafe für jede seiner Untaten der Genuss eines Schlucks Bodenseeweins angedroht, den Sailer anscheinend nicht sonderlich schätzte. Die sieben Schwaben Auch in Sailers weltlichem Schwank Die sieben Schwaben, in dem sieben wackere Schwaben auf Hasenjagd gehen, bietet sich Raum für seinen Spott. Die Hauptfiguren sind der Gelbfüßler, der verfressene Spätzlesschwab, der schlafmützige Nestlerschwab, der aufsässige Mückenschwab, der schmutzige Spiegelschwab, der grobe Blitzschwab, der ehrgeizige Suppenschwab und ein redseliger Allgäuer. Im Schwank Schwäbischer Sonn- und Mondfang versuchen schwäbische Bauern, das Wetter zu kontrollieren, indem sie Sonne und Mond einfangen wollen. Sailers hauptsächlich in Alexandrinern verfasstes Schauspiel Die Schultheißenwahl zu Limmelsdorf wurde in der Klosterschule Obermarchtal aufgeführt und enthält Elemente des Schwanks wie eines Lehrstücks. Gefragter Prediger und vielseitiger Autor Von 1756 an war Sailer Pfarrer in Dieterskirch. 1761–1763 besuchte er wiederholt den kunstsinnigen Grafen Friedrich von Stadion in Warthausen, wo er auch Christoph Martin Wieland und Sophie von La Roche begegnete. Sailer war ein gefragter Prediger und war für seine Predigten häufig auf Reisen. 1750 wurde er von der mächtigen Reichsabtei Salem eingeladen, die Predigt anlässlich der Überführung des Gnadenbilds in die Wallfahrtskirche Birnau zu halten. 1762 reiste er nach Augsburg und Landsberg am Lech, 1764 hielt er die Ignatius-von-Loyola-Predigt bei den Jesuiten in Würzburg, 1766 hielt er die Kirchweihpredigt anlässlich der Tausendjahrfeier des Klosters Ottobeuren und 1767 die St.-Ulrichs-Predigt für die schwäbische Landesgenossenschaft in Wien. Auf dieser Reise erhielt er sogar eine Privataudienz bei Maria Theresia. Als Maria Theresias Tochter Maria Antonia (die spätere französische Königin Marie-Antoinette) auf der Reise von Wien zu ihrer Hochzeit nach Paris am 1. Mai 1770 auch das Kloster Obermarchtal besuchte, wurde ihr zu Ehren Sailers Huldigungskantate Beste Gesinnungen Schwäbischer Herzen (in einer einfältigen Kantate abgesungen) aufgeführt. In dem amüsanten Stück wechseln pathetische hochdeutsche Verse von Marchtalls Genius und der Liebe mit schwäbischen der vier Bauern Theißle, Joackele, Veitle und Michel und des Chors. Als Dank an das Kloster Obermarchtal übersandte Maria Antonia diesem nach ihrer Ankunft und Vermählung in Paris ihr Brautgewand, das in zwei Priestergewänder umgearbeitet wurde, die man noch heute im Museum des Klosters betrachten kann. Die Beste Gesinnungen Schwäbischer Herzen verbreiteten sich nach der Aufführung rasch. Bereits am 10. Mai 1770 konnte das Stück in Druck mit Noten zum Nachsingen beim Augsburger Buchdrucker und Verleger Johann Michael Späth für 15 Kreuzer erworben werden. Auch in Sailers Kantate auf die Aderlässe wird ein hochdeutsch sprechender Doktor mit einem oberschwäbischen Bauern konfrontiert, bis hin zu einem „zweisprachigen“ Duett (Herr Dokter! krank bi-n-i, As beißt mi, und klimmt mi / Freund! schick nur zum Bader, Lass öffnen ein Ader). Gegen Ende tendieren auch des Doktors Worte zum Dialekt. 1771 veröffentlichte Sailer zur Sechshundertjahrfeier des Klosters seine Klostergeschichte Das Jubilierende Marchtall. In seiner Prosakomödie Die schwäbischen heiligen drei Könige (um 1771, abzuleiten aus einer Erwähnung des 4. Russischen Türkenkriegs auf der Krim durch die drei Könige) vermischte Sailer die Legende mit der dörflichen Welt seiner Heimat. Herodes wird als schwäbischer Dorfwirt dargestellt, die heiligen drei Könige begehren als Sternsinger Speis und Trank, was die findige Wirtsfrau jedoch mit Hinweis auf das Fastengebot vor dem Dreikönigsfest ablehnt. 1773 erlitt Sailer einen Schlaganfall und zog sich von seiner Pfarrstelle in Dieterskirch in das Kloster Obermarchtal zurück. Nach seinem Tod 1777 wurde er in der Gruft des Klosters beigesetzt. Bedeutung und Eigenart Zu seinen Lebzeiten war Sailer außerhalb seiner Pfarreien vor allem als Prediger und Gelehrter bekannt. Sein Nachruhm gründet jedoch auf seinen schwäbischen Dialektdichtungen, die in der Tradition der altbairischen Rustikaltravestien und der Salzburger Benediktinerkomödie stehen und am ehesten mit den oberösterreichischen Mundartkomödien des Lambacher Benediktinermönchs Maurus Lindemayr zu vergleichen sind. Monika Küble hält in einem Aufsatz von 2003 die Vorstellung, Sailer habe seine Dialektkomödien als volksnaher Seelsorger den Bauern seiner Pfarrgemeinden zur Unterhaltung vorgeführt, für eine romantische Verklärung. Sie sieht Sailers Publikum in den adeligen und bürgerlichen Kreisen etwa am Warthauser Musenhof des Grafen von Stadion, wo man sich auch über die satirische Darstellung von Wielands Biberacher Mitbürgern in dessen Geschichte der Abderiten amüsierte. (Lit.: Küble, 2003) Die wenigen bekannten Zeugnisse von Aufführungen verweisen eher auf ein klösterliches Publikum: Die Schwäbische Schöpfung zumindest wurde vor dem Konvent des mit dem Kloster Obermarchtal befreundeten Stiftes Schussenried uraufgeführt; auch der lateinische Prolog zielt auf ein gebildetes Publikum; die Schüler der Klosterschule in Obermarchtal führten die Schultheißenwahl auf. Der Humor in Sailers Werken ist nie herablassend oder denunzierend. So kann davon ausgegangen werden, dass – wer auch immer das Publikum gewesen sein mag – Sailer mit seinen schwäbischen Pfarrkindern, nicht jedoch über sie lachte. Sailer war der erste Autor, der den schwäbischen Dialekt nicht nur einsetzte, um zu karikieren oder eine gewisse Leutseligkeit zu gewinnen. Er handelte auch die ihm wichtigen Themen konsequent in erstaunlich originalgetreuer Mundart ohne jede hochdeutsche Glättung oder Verniedlichung ab. Die Übertragung des biblischen Geschehens in die Lebenswelt der oberschwäbischen Landbevölkerung verrät die erstaunliche Einfühlungskraft Sailers – immerhin ein auf der Höhe seiner Zeit stehender anerkannter Theologe – in das Leben seiner Gemeindekinder. Er integriert den bäuerlichen Alltag vielfältig in das theologische Geschehen der Bibel (das Paradies hat selbstverständlich eine Gartentür – Gott Vatter gôht grad zuar Gatathür rei) – bis hin zu direkten, einfallsreichen Übertragungen von Bibelzitaten. Mit den Worten Gottvaters: Nuits ischt Nuits und wead Nuits weara, drum hau-n-i wölla a Wealt gebäara, grad um dui Zeit, wo's nimma viel schneit und bessare Lüftla geit. beginnt seine Schwäbische Schöpfung, die der Schöpfer aus einleuchtenden Gründen in den Frühling verlegt hat: Im Sommer eaba, dô geit as mit Weatter an au’b'schtändigs Leaba, wenn’s durnat, wenn’s blitzat und haglat; wia bald ischt as g’ scheha, dass as Weatter drei’ schlecht, denk noache, ob’s ebba-n-itt au so gauh’ mecht. Zuadeam, wenn as hoiß, hôt oinar viel Schwoiß. Im Früehling ischt g’schwinder ällz g’schaffat und g’naglat. Mangels Mitarbeitern legt Gott selbst Hand an: Auhne Menscha, auhne Goischter bin i seall dar Zimmermoischter. und bläst schließlich Adam in genauer Analogie zu 1. Mose 2, 7 den lebendigen Odem ein: Bursch, wach auf! Huescht und schnauf! Pf! Pf! … Nieaß, zur Prob! (Adam niest) Healf dar Gott! Jetz leabt ar, Gott Lob! Woher Sailer 40 Jahre vor der Montgolfière und 160 Jahre vor dem ersten Flugzeug Kenntnis der Flugkrankheit hatte, ist unbekannt. Wackelnde Kutschen hat er aber wahrscheinlich auf seinen langen Reisen als Prediger zur Genüge kennengelernt. Adam jedenfalls jammert, als er von Gottvater im Flug mitgenommen wird: Adam: Um tausad Gotts willa, i fluig wie a Balla. Gott Vatter, i bitt-ana, lau'd mi itt falla! Gott Vater: Druck d'Auga zua, thua itt so schreya. Adam: As g’schwindlat mar oimôl, i moi’ i müess speya. Adam fühlt sich bald einsam, und der Vers Ich muss auch bei den Leuten sein aus seiner Arie kann getrost als Sailers eigenes Credo verstanden werden: Karthäuser leabat so; i muass au bey dia Leuta sey’, suscht g’ schmorrat mir mei’ Maga ei’. ’s ka’ sey’, i henk mi no. Krieg i Krankhoit und Trüebsala, wear wead nôh da Dokter zahla? Bei Sailer sind Adam und Eva ein von Anfang an zankendes Ehepaar, das sich schon um die Rippe streitet, aus der Eva entstanden ist. Schon bald seufzt Adam: O wär i no ledig und hätt no koi’ Weib, so brucht i koi’ Predig, i bey ar itt bleib. O liaber Gott Vatter! Ui gib i sui hoi’, i leg mi dô nieder, will leaba-n-alloi! Ähnliche Pointen sind noch heute im Volkstheater, in Büttenreden und in Comedyshows sichere Lacher, und ein Publikum des 18. Jahrhunderts dürfte auf solche Späße gerade aus dem Munde eines Prämonstratensers besonders lebhaft reagiert haben. Adams Stoßseufzer nach seinem Apfelbiss (Dar Tuifel hôt is b'schissa; o hätt i itt drei' bissa) dürfte bis heute kirchliche Sittenwächter provozieren. Da Sailer aber im Kloster Obermarchtal sogar die Huldigungskantate für die künftige französische Königin im schwäbischen Dialekt verfassen durfte, ist davon auszugehen, dass wenigstens seine Klosteroberen mit seiner Art zu schreiben einverstanden waren und diese zumindest nicht behinderten. Die erst nach Sailers Tod veröffentlichte Schwäbische Schöpfung wurde geschätzt von Dichtern wie Johann Wolfgang von Goethe, der „durch Sailern höchlich ergötzt“ war, und Eduard Mörike, der sie „mit hellem Behagen“ gelesen hat und gerne daraus zitierte. Trotz ihrer Wertschätzung sind jedoch weder der Hesse Goethe noch der Schwabe Mörike mit Dichtungen in Mundart hervorgetreten, obgleich Goethe in Dichtung und Wahrheit II,6 schrieb: Jede Provinz liebt ihren Dialekt: denn er ist doch eigentlich das Element, in welchem die Seele ihren Atem schöpft. Martin Stern (1956) sieht Sailers Schöpfung immerhin als Vorspiel zu Goethes Farcen. Der Schriftsteller Wilhelm Schussen schrieb 1924: Man hat Gerhart Hauptmann zuliebe schlesisch, Fritz Reuter zuliebe plattdeutsch und Ludwig Thoma zuliebe oberbayrisch gelernt. Man müßte diesem prachtvollen Sailer zuliebe auch oberschwäbisch lernen. Wiederaufführungen Viele Jahre führte die Theaterei Herrlingen (zeitweise auch auf Schloss Erbach/Ulm) die Schwäbische Schöpfung als Bearbeitung von Jörg Ehni in Mundart auf. Die Rolle von Gottvater, Adam und Eva übernahm der Lehrer und Schauspieler Walter Frei. Die Schwäbische Schöpfung wurde von diesem Schauspieler auch am Ort ihrer Entstehung, im Spiegelsaal des Klosters Obermarchtal, im Rahmen der Sebastian-Sailer-Tage aufgeführt. Werke Werke in schwäbischem Dialekt Sailers schwäbischer Dialekt ist einerseits von seiner Heimatstadt Weißenhorn (heute im bayerischen Schwaben gelegen) geprägt, andererseits von dem deftigen Dialekt seiner dörflichen oberschwäbischen Pfarreien. Schöpfung der ersten Menschen, der Sündenfall und dessen Strafe (Die schwäbische Schöpfung, Komisches Singspiel, 1743) Der Fall Luzifers (komisches Singspiel, nach 1738) Die sieben Schwaben, oder: Die Hasenjagd (Schwank, um 1756) Beste Gesinnungen Schwäbischer Herzen (Kantate, 1770) Die Schultheißenwahl zu Limmelsdorf (Schauspiel, 1770) Die schwäbischen heiligen drei Könige (Komödie, 1771) Bauernhochzeit (Erzählgedicht) Peter als Gott Vater (Erzählgedicht) verschiedene Gelegenheits-Singspiele, die neben lateinischen und hochdeutschen Passagen auch Dialektstellen enthalten Theologische und historische Werke Vier Sendschreiben wider H. P. Aug. Dornblüth (unter dem Pseudonym Benastasii Liares, 1755–1756) Das Marianische Orakel (Erbauungsbuch, 1763) Kempensis Marianus (lateinisches Erbauungsbuch, 1764) Geistliche Reden (3 Bände, 1766–1770) Das jubilierende Marchtall oder Lebensgeschichte des hochseligen Konrad Kneers. Weiland dreyzehnten Abtens des besagten unmittelbaren freyen Reichsstifts, des heiligen exempten Ordens von Praemonstrat an der Donau in Schwaben / nebst Vortrab von dessen Stiftung, und Nachtrab dessen Vorstehern binnen 600 Jahren, aus sichern Urkunden niedergeschrieben von Sebastian Sailern (Geschichtswerk, 1771) Geistliche Schaubühne (Oratorientexte, 1774) Ausgaben Das Jubilierende Marchtall. Obermarchtal 1771 (Nachdruck: Hrsg. von Wolfgang Schürle. Konrad, Weißenhorn 1995, ISBN 3-87437-370-3) Sebastian Sailers geistliche Schaubuehne des Leidens Jesu Christi. In gesungenen Oratorien aufgefuehrt. Rieger, Augsburg 1774 (Nachdruck: Konrad, Weißenhorn 1997, ISBN 3-87437-394-0) Adams und Evens Erschaffung und ihr Sündenfall. 1783 (Faksimile: Biberacher Verlagsdruckerei, Biberach 1977) Schriften im schwäbischen Dialekte. Hrsg. von Sixt Bachmann. Buchau am Federsee 1819 Nachdruck. Ulm 1827 Neuauflage. Ebner'sche Buchhandlung, Ulm 1842–1893 (bis 1860 mit Illustrationen von Julius Nisle, später mit Illustrationen von G. Heyberger) Nachdruck mit Einführung und Erläuterungen von Franz Georg Brustgi. Knödler, Reutlingen 2000, ISBN 3-87421-061-8 Neu hrsg. von Hans Albrecht Oehler. Konrad, Weißenhorn 2000, ISBN 3-87437-437-8 Ausgewählte Dialektdichtungen aus den Schriften Sebastian Sailers. Hrsg. und Lebensbeschreibung von Johann Schneiderhan. Friedrich Alber, Ravensburg 1907 Die biblischen und weltlichen Komödien des hochwürdigen Herrn S. Sailer weiland Kapitulars im Kloster zu Obermarchthal. Hrsg. von Dr. Owlglass. Langen, München 1913 Die schwäbische Schöpfungsgeschichte. Mit Zeichnungen von Fr. Bilek. Günther, Stuttgart 1948 Dreikönigspiel. Die schwäbischen heiligen drey Könige. Die sieben Schwaben. Lustspiel in 2 Teilen. Neubearbeitung von Carl Oskar Renner. Höfling, München 1949 Die Schöpfung der ersten Menschen, der Sündenfall und dessen Strafe. Hrsg., Nachwort und Übersetzung des lateinischen Prologs ins Schwäbische von Sebastian Blau, Marbach am Neckar 1956 Sebastian Sailer. Jubiläumsausgabe zum 250. Geburtstag des Dichters. Hrsg. von Lorenz Locher. Lorenz Locher (Selbstverlag), Munderkingen 1965 Schwäbische Schöpfung samt Sündenfall. Neu bearb. und hrsg. von Alfred Weitnauer. Verlag für Heimatpflege, Kempten 1968 Die Schöpfung. Hrsg. von Martin Stern. (Reclams Universalbibliothek; Bd. 4231). Reclam, Stuttgart 1969 Die Schöpfung der ersten Menschen, der Sündenfall und dessen Strafe. Erneuert und verhochdeutscht von Ernst Leopold Stahl. Chronos-Verlag Mörike, Hamburg ca. 1970 Meingosus Gaelle: Adam und Evas Erschaffung. Aufnahme: SWF, 1989. LP-Ausgaben mit Libretto: SWF, Baden-Baden 1987 und Attempto-Verlag, Tübingen 1987. CD-Ausgabe mit Libretto: Deutsche Austrophon, Diepholz 1999 Meingosus Gaelle: Adam und Evas Erschaffung. Eine komische Oper nach P. Sebastian Sailers „Schwäbischer Schöpfung“. Hrsg. von Maria Bieler, Rudolf Faber und Andreas Haug. Partitur. Friedemann Strube, München und Berlin 2001, ISBN 3-921946-50-6 Geistliche Reden. Eine Auswahl. Neu hrsg. und kommentiert von Konstantin Maier. Edition Isele, Konstanz 2012, ISBN 978-3-86142-551-9 Literatur Sixt Bachmann: Vorrede. in: Sebastian Sailer: Schriften im schwäbischen Dialekte. Buchau am Federsee 1819 Paul Beck: Sebastian Sailer, in: Alemannia, 5. Band 1877, S. 104–115 Paul Beck: Bibliographie zu Sebastian Sailer, in: Alemannia, 19. Band 1892, S. 36–42 Paul Beck: Schwäbische Biographieen; 12. Sebastian Sailer. In: Diöcesan-Archiv von Schwaben, 15. Jg. 1897, Heft 1, S. 1–11 Robert Lach: Sebastian Sailers „Schöpfung“ in der Musik. Denkschriften, Band 60. Kaiserliche Akademie der Wissenschaften, Wien 1916 Liselotte Lohrer: Sebastian Sailers Komödien. Gießen 1943 Martin Stern: Sebastian Sailers „Schöpfung“. Ein Vorspiel zu Goethes Farcen. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft. Kröner, Stuttgart 1956 (9. Jg.), S. 131–166 Sebastian Sailer. Jubiläumsausgabe zum 250. Geburtstag des Dichters. Hrsg. von Lorenz Locher. Lorenz Locher (Selbstverlag), Munderkingen 1965 Hans Albrecht Oehler: Sebastian Sailer. 1714–1777. Chorherr, Dorfpfarrer, Dichter. Marbacher Magazin, Band 76. Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 1996, ISBN 3-929146-49-5 [Reinhard Breymayer (Bearbeiter):] Sailer, Sebastian 1714–1777. In: Heiner Schmidt [Hauptbearbeiter und Hrsg.]: Quellenlexikon zur deutschen Literaturgeschichte. Verlag für Pädagogische Dokumentation, Duisburg 2001, S. 15–17 (Verzeichnis von Forschungsliteratur aus den Jahren 1945–1990) Anton Gälli (Hrsg.): Adam und Evas Erschaffung. Eine comische Oper aus Schwaben von Sebastian Sailer. In Musik gesetzt von Meingosus Gaelle. Im Vergleich der Texte. Gälli, München 2003, ISBN 3-929262-05-3 Georg Günther: „Jetzt hent er e Komädi g’seh, wie d’Erbsünd der Welt sei g’scheh’“. Die Stuttgarter Oper und „Die Schwäbische Schöpfung“ von Sebastian Sailer, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung, 121. Jg. 2003, S. 103–142 (Digitalisat) Monika Küble: Schwäbische Dialektliteratur bis 1800. Von den „Suavischwaifigschwetzigen Schwäbischen Froschgoschigen breiten schwatzmäulern“. In: Ulrich Gaier, Monika Küble, Wolfgang Schürle (Hrsg.): Schwabenspiegel. Literatur vom Neckar bis zum Bodensee 1000-1800. Band II. Aufsätze. Oberschwäbische Elektrizitätswerke, Ulm 2003, ISBN 3-937184-01-5, S. 41–53 Wolfgang Grassl: Culture of Place: An Intellectual Profile of the Premonstratensian Order. Bautz, Nordhausen 2012, S. 352–357 Lothar Bidmon: Sebastian Sailer. Ein bibliographischer Versuch. Konrad, Weißenhorn 2014, ISBN 978-3-87437-564-1 (80 S.) Wolfgang Ott und Ulrich Scheinhammer-Schmid (Herausgeber): Hexen, Herren, Heilige. Die geistige Welt des Prämonstratensers Sebastian Sailer (1714–1777). Heimat- und Museumsverein 1908 e.V., Weißenhorn 2018 ISBN 978-3-928891-13-4. Weblinks Sebastian Sailer im Internet Archive Sailer-Gedenkstätte in Dieterskirch Sebastian-Sailer-Medaille des Schwäbischen Albvereins für Verdienste um die Mundart Einkehr beim Vater der süddeutschen Mundart-Dichtung (Artikel aus der Zeit mit ausführlicher Würdigung der Schöpfung) Sebastian Sailer (Allgäu-Schwäbisches Musikarchiv Eglofs) Lesung der Schwäbischen Schöpfung bei Youtube Einzelnachweise Prediger Römisch-katholischer Geistlicher (18. Jahrhundert) Prämonstratenser Autor Literatur (Deutsch) Literatur (Schwäbisch) Literatur des Rokoko Literatur (18. Jahrhundert) Christliche Literatur Heimatdichtung Historiker Person (Württemberg bis 1803) Deutscher Geboren 1714 Gestorben 1777 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Siebdruck
Siebdruck
Der Siebdruck ist ein Druckverfahren, bei dem die Druckfarbe mit einer Gummirakel durch ein feinmaschiges Gewebe hindurch auf das zu bedruckende Material gedruckt wird. An denjenigen Stellen des Gewebes, wo dem Druckbild entsprechend keine Farbe gedruckt werden soll, werden die Maschenöffnungen des Gewebes durch eine Schablone farbundurchlässig gemacht. Im Siebdruckverfahren ist es möglich, viele verschiedene Materialien zu bedrucken, sowohl flache (Folien, Platten etc.) als auch geformte (Flaschen, Gerätegehäuse etc.). Dazu werden je nach Material spezielle Druckfarben eingesetzt. Hauptsächlich werden Papiererzeugnisse, Kunststoffe, Textilien, Keramik, Metall, Holz und Glas bedruckt. Das Druckformat reicht – je nach Anwendung – von wenigen Zentimetern bis zu mehreren Metern. Ein Vorteil des Siebdrucks besteht darin, dass durch verschiedene Gewebefeinheiten der Farbauftrag variiert werden kann, so dass hohe Farbschichtdicken erreicht werden können. Im Vergleich zu anderen Druckverfahren ist die Druckgeschwindigkeit jedoch relativ gering. Der Siebdruck wird hauptsächlich im Bereich der Werbung und Beschriftung, im Textil- und Keramikdruck und für industrielle Anwendungen eingesetzt. Der Siebdruck wird neben dem Hochdruck, dem Tiefdruck und dem Flachdruck (Offsetdruck) auch als Durchdruck bezeichnet, da die druckenden Stellen der Siebdruckform farbdurchlässig sind. Der Siebdruck gilt historisch gesehen als viertes Druckverfahren. Verfahren Die Druckform des Siebdrucks besteht aus einem Rahmen, der mit einem Gewebe bespannt ist. Auf das Gewebe wird fotografisch (bei künstlerischen Arbeiten manchmal auch von Hand) eine Schablone aufgebracht. Die Schablone verhindert an denjenigen Stellen des Druckbildes, die nicht drucken sollen, den Farbauftrag. Die Druckform wird in einer Druckmaschine über dem zu bedruckenden Material (Bedruckstoff) befestigt. Nun wird Druckfarbe auf das Gewebe aufgetragen und mit einer Gummirakel durch die offenen Stellen der Schablone auf den Bedruckstoff gestrichen (gerakelt). Die Farbe wird dabei durch die Maschen des Gewebes gedrückt und auf die zu bedruckende Oberfläche (von z. B. Folien, Stoff) aufgetragen. Nach dem Druck wird das bedruckte Material der Maschine entnommen und zum Trocknen ausgelegt. Geschichte und Perspektiven des Siebdrucks Grundsätzlich ist zwischen mittelalterlichen Schablonentechniken, wie sie beispielsweise in Europa zur Dekoration von Spielkarten, Wänden etc. oder in Japan zum Bedrucken von Textilien verwendet wurden, und der Entwicklung, die zum heutigen Siebdruck führte, zu unterscheiden. Oft werden in der Literatur die japanischen Schablonentechniken des 18. und 19. Jahrhunderts als Ursprung des heutigen Siebdruckverfahrens dargestellt, was aber nicht belegt ist. Der in Frankreich bekannte Begriff „Pochoir“ bezeichnet ebenfalls keine Siebdruckschablonen, sondern aus Papier, Kunststofffolie oder Blech geschnittene Schablonen. Pochoirs dienten seit Mitte des 19. Jahrhunderts zur einfachen Kolorierung von im Buchdruck gedruckten Bildern. In der Zeit des Art déco erlebte die Pochoir-Technik ihren kunsthandwerklichen Höhepunkt. Die japanischen Katagami bestanden aus einem mit Kakitanninen wasserfest gemachten dicken Papier. Die einzelnen Elemente der Schablonen wurden beim Schneiden durch stehen gelassene „Verbindungsstege“ miteinander fixiert, oder durch ein Netz aus Seidenfäden miteinander „verbunden“. Das Bedrucken des Textils (Kimonos etc.) erfolgte mit Hilfe eines Rakel, mit dem die Druckpaste auf das Textil gerieben wurde. Im 19. Jahrhundert gelangte diese Technik nach Europa und den USA, wo sie auf großes Interesse stieß. Diese faszinierende Art japanischer Druckkunst wird auch heute noch in kunsthandwerklichem Sinne ausgeführt. Die Drucktechnik wird in Japan als „Katazome“ bezeichnet, die Schablonen als „Katagami“. Im gleichen Zeitraum wurde in Europa und den USA im Bereich der Beschriftung (Schilderherstellung) und teilweise im Textildruck mit einem Schablonengewebe aus Seidengaze experimentiert. Es ist belegt, dass solche Seidengazeschablonen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA zum Bedrucken von Filzwimpeln und Schildern eingesetzt wurden. Man darf annehmen, dass die technischen Impulse zum heutigen Siebdruck nicht aus Asien, sondern aus dem Bereich der „Schildermaler“ in den USA kamen. Ein europäischer Pionier der Siebdruckfarbenherstellung war Hermann Pröll aus Deutschland, der um 1926 die Produktion ölbasierender Farben für den Schilderdruck aufnahm. Seidengaze wurde hauptsächlich in Europa hergestellt, seit 1830 in der Schweiz, später dann auch in Frankreich, Deutschland und Italien. Die Seidengaze wurde weltweit exportiert und in Mühlen zum Sieben von Mehl eingesetzt. Vor allem die Schweizer Seidengazehersteller förderten seit den späten 1910er Jahren die frühe Entwicklung des Siebdruckverfahrens in den USA, weil das Verfahren einen neuen Absatzmarkt für ihre Gaze darstellte. Das Verfahren verbreitete sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts an der Ostküste der USA und in Kalifornien. 1908 wurde in San Francisco die Firma Velvetone gegründet. Velvetone war eine der ersten Firmen, die das Siebdruckverfahren vom Filzwimpeldruck übernahm und ab 1912 grafische Siebdruckarbeiten (Plakate und Displays) ausführte. Bedeutend für die Entwicklung und Verbreitung des Siebdrucks war auch die 1915 gegründete amerikanische Firma Selectasine in San Francisco. Selectasine platzierte 1918 ein Patent zur Schablonenherstellung und den „Mehrfarbendruck“. Gegen eine Lizenzgebühr konnten interessierte Firmen die Rechte zur Ausübung des „Selectasine-Verfahrens“ erwerben. Selectasine platzierte seine Patente in den USA, Europa und Australien. Um 1923 wurde eine Zweigstelle der Firma in London gegründet und das Verfahren in England verbreitet. 1926 wurde das Selectasine-Verfahren von England her mit Hilfe der Schweizer Seidengazefabrikanten in Zürich eingeführt. Von dort aus wurde 1928 ein Selectasine-Patent in Berlin eingereicht. In Deutschland wurde der Siebdruck etwa seit Mitte der 1920er Jahre im Bereich der Schilderherstellung und im Textildruck angewendet, in den 1930er Jahren für Werbedrucke eingesetzt und im Zweiten Weltkrieg dann offenbar auch für Beschriftungen von Rüstungsgütern der Wehrmacht. Im gleichen Zeitraum verbreitete sich das Verfahren zunehmend auch in Nord-, Süd- und Osteuropa. Bis zum Zweiten Weltkrieg wurde das Siebdruckverfahren vor allem in den USA mit großem Engagement weiterentwickelt. Bedruckt wurden Schilder, Plakate, Textilien und vieles Andere mehr (künstlerische Grafik ab ca. 1937), während des Zweiten Weltkriegs dann auch Produkte für die US-Armee (Schilder, Propagandaplakate etc.). Mitte der 1940er Jahre wurden im Siebdruck anstelle der Seidengaze erstmals Nylongewebe eingesetzt, was die Druckqualität entscheidend verbesserte. Weiterentwicklungen in den Bereichen Schablonenherstellung, Druckfarben und dem Maschinenbau verhalfen dem Verfahren in der Nachkriegszeit weltweit zum Durchbruch. Das Siebdruckverfahren wird äußerst vielseitig eingesetzt. Man unterscheidet heute drei wichtige Einsatzgebiete: Den grafischen Siebdruck, den industriellen Siebdruck und den Textildruck. Hinzu kommen weitere wichtige Anwendungen, beispielsweise im Glas- und Keramikdruck oder im Etikettendruck. Obwohl eine genaue Einteilung oft nicht möglich ist, sollen hier einige Druckbeispiele aufgeführt werden: Grafischer Siebdruck: Plakate, Kleber, Displays, Verkehrs- und Hinweisschilder, Werbeplanen, Werbegeschenke wie Feuerzeuge etc., Kunstdrucke (Serigrafien), Druckveredelung mit Glanzlackierungen, Dekore auf CDs und DVDs, Kisten und Bierkästen, Rubbelfarben auf Lotterielosen, Industrieller Siebdruck: Leiterplatten und elektronische Schaltkreise, Solarzellen, Herdvorsatzgläser, Tastaturfolien, Heckscheibenheizungen, Armaturenbretter, durch Niedervoltspannung beleuchtete Beschichtungen, Textildruck: T-Shirts, Sporttaschen, Gardinenstoffe, Bettwäsche, Bekleidungstextilien, Teppiche, Fahnen und vieles andere. Vor allem im Bereich der Textilveredelung (Textildruck) entscheidet oft die jeweilige Auflage über das zu bevorzugende Druckverfahren. Wohingegen beispielsweise im Transferdruck selbst kleine Auflagen nicht allzu komplexer Motive vergleichsweise kostengünstig hergestellt werden können, ist der Siebdruck bei größeren Auflagen oder komplexen Motiven stets das Mittel der Wahl. Hier können auch sogenannte „unechte“ Farben wie Farben mit glanz- oder nachtleuchtenden Effekten wiedergegeben werden, da eine beliebig zusammengesetzte Pigmentstruktur unmittelbar auf das Textil aufgebracht wird. Voraussagen zur weiteren Perspektive des Siebdruckverfahrens im Umfeld der sich schnell entwickelnden grafischen Industrie zu machen, ist äußerst schwierig. Neueste Entwicklungen im Digitaldruck ermöglichen das Bedrucken vieler Materialien (z. B. Textilien), die bisher ausschließlich im Siebdruck bedruckt wurden. Die im Siebdruck erreichbare hohe Farbschichtdicke, die Beständigkeiten der Druckfarben und die hohe Flexibilität des Verfahrens sind auch in Zukunft Vorteile des Siebdrucks, sowohl im grafischen als auch im industriellen Bereich. Während grafische Siebdruckanwendungen rückläufig sind, verbreitet sich das Verfahren im industriellen Bereich weiterhin zunehmend. Am 1. August 2011 trat der Beruf des Siebdruckers außer Kraft. Sein Nachfolger ist der Ausbildungsberuf Medientechnologe Siebdruck. Siebdruckgewebe Im Siebdruck werden spezielle Gewebe in unterschiedlichen Feinheiten eingesetzt. Der Vorteil des Siebdruckverfahrens liegt darin, dass der Farbauftrag je nach Gewebefeinheit variiert werden kann und dass viele verschiedenartige Farbsysteme (Farbsorten) verdruckt werden können. Gewebe mit geringer Siebfeinheit ergeben dabei einen hohen Farbauftrag (zum Beispiel im Textildruck). Allerdings können damit keine feinen Linien oder Raster gedruckt werden, weil das grobe Gewebe die feinen Schablonenelemente kaum mehr verankern kann. Umgekehrt ist es bei Geweben mit hoher Feinheit: Es können feine Details gedruckt werden. Die Herstellung von Siebdruckgeweben ist äußerst anspruchsvoll, da die Maschenöffnungen der Gewebe sehr gleichmäßig sein müssen. Es gibt weltweit wenige Hersteller, die sich auf das Weben von Siebdruckgeweben spezialisiert haben. Folgende Siebgewebematerialien werden heute verwendet: Polyestergewebe: Sie besitzen grundsätzlich eine hohe Verzugsfreiheit, da sie sehr stark gespannt werden können und keine Feuchtigkeit aufnehmen. Diese Eigenschaften ermöglichen ein sehr passgenaues Druckergebnis. Polyestergewebe werden deshalb für 90 % aller Siebdruckarbeiten eingesetzt. Nylongewebe (Polyamid): Sie sind dehnbarer und elastischer als Polyestergewebe und sehr beständig gegenüber abrasiven Druckfarben. Sie werden zum Bedrucken von nicht flachen Bedruckstoffen oder im Keramikdruck (scheuernde Druckpasten) eingesetzt. Aufgrund ihrer Elastizität und einer relativ hohen Feuchtigkeitsaufnahme sind Polyamidgewebe für passgenaue, großformatige Druckarbeiten nicht geeignet. Stahlgewebe: Sie sind sehr hoch spannbar, was eine äußerst gute Verzugsfreiheit und Passgenauigkeit beim Drucken ergibt. Zudem sind die Gewebedrähte im Vergleich zu Polyestergeweben bei gleicher Siebfeinheit dünner. Stahlgewebe haben deshalb eine größere Maschenöffnung als Polyestergewebe, was einen höheren Farbauftrag und gleichzeitig auch den Druck von feinsten Linien ermöglicht. Allerdings sind Stahlgewebe sehr teuer und knickempfindlich. Sie werden deshalb meistens nur im Elektronik- oder im Keramikdruck verwendet. Screeny: Neueste Generationen von vernickeltem, rostfreiem, gewobenem Stahlgewebe (Gallus Screeny S-Line) machen die Nachteile des Stahlgewebes durch die hohe Standzeit wett. Im Etikettendruck (rotativer Siebdruck) ist Screeny die am häufigsten eingesetzte Siebdruckplatte. Rotamesh: Hier handelt es sich nicht um ein Gewebe, sondern um eine Platte mit sehr feinen wabenartigen Öffnungen. Es sind je nach Druckarbeit verschiedene Lochfeinheiten erhältlich. Rotameshplatten werden zu einem runden Zylinder geformt und in Rotationsdruckmaschinen zum Bedrucken von Textilien oder im Etikettendruck eingesetzt. Seidengewebe: Sie wurden bis in die 1950er Jahre im Siebdruck eingesetzt und danach durch Polyamid- und Polyestergewebe ersetzt. Fadenstruktur In der Textilindustrie unterscheidet man Gewebefäden, die „monofil“ oder „multifil“ beschaffen sein können. Monofile Fäden sind „einfasrig“ wie ein Draht, also nicht gesponnen. Multifile Fäden sind hingegen „mehrfasrig“, also aus mehreren dünneren Fäden versponnen. Multifile Fäden werden im Siebdruck seit den 1970er Jahren nicht mehr zur Gewebeherstellung verwendet, da solche Gewebe keine Druckpräzision bieten und schlecht zu reinigen sind. Gewebefeinheiten Die Wahl der Gewebefeinheit ist abhängig von der Beschaffenheit des Bedruckstoffs, der Feinheit des Druckmotivs, der Größe der Farbpigmente und dem gewünschten Farbauftrag. Es gibt im Siebdruck also kein „Standardgewebe“, das universell einsetzbar wäre. Die Feinheit wird entweder in der Einheit Faden pro Zentimeter oder Maschen Pro Inch gemessen. Letztere Einheit wird beim industriellen Siebdruck meist verwendet und mit einer sogenannten Meshzahl abgekürzt. Die meisten Gewebehersteller bieten Feinheiten von etwa 5 Fäden pro Zentimeter bis 200 Fäden pro Zentimeter an. Die Wahl einer geeigneten Gewebefeinheit erfordert daher eine gewisse Erfahrung. Als ungefähre Richtlinie können folgende Angaben dienen (die Zahl bezeichnet die Anzahl Fäden/cm): bis ca. 30: Druck von Glitter etc., Reliefdruck (Druck von feinen Linien oder Rastern nicht möglich). 30–60: Textildrucke (bei deckendem direkten Druck auf dunkle Textilien ca. 30–40, bei feineren Linien oder Rastern 50–60). Grobpigmentierte Farben wie Nachleuchtfarben, Grobsilber etc. 77–90: Deckende Drucke auf Papiere, Kunststoffe etc. mit glatter Oberfläche, feinpigmentierte Metallicfarben, Tagesleuchtfarben. 120–140: Für feine Linien und Raster auf glatte Bedruckstoffoberflächen bei geringem Farbauftrag. 150–180: Für feinste Linien und Raster. Reduzierter Farbauftrag (UV-Farben). Verschiedene Fadendicken bei gleicher Gewebefeinheit Für die meisten Siebdruckgewebe werden innerhalb einer bestimmten Feinheit (zum Beispiel 120 Fäden pro Zentimeter) Gewebe mit verschiedenen Fadendicken angeboten. Bei einem 120er Gewebe mit dicken Fäden ist die Reißfestigkeit höher und der Farbverbrauch etwas geringer als bei einem 120er Gewebe mit dünnen Fäden. Beim 120er Gewebe mit dünnen Fäden sind hingegen die Maschenöffnungen größer, was den Druck von feinen, sägezahnfreien Linien oder Rastern erleichtert. Unter dem Begriff „Sägezahn“ versteht man im Siebdruck den störenden Einfluss der Gewebefäden auf das Druckbild. Dünne Linien können dabei durch die Gewebefäden „unterbrochen“ werden, die Linie wirkt an ihren Rändern „gezackt“. Früher wurden die Fadendicken mit den Kürzeln S (small), T (thick) oder HD (heavy-duty) bezeichnet. Als Beispiel: 120 S bezeichnete ein Gewebe mit 120 Fäden pro cm mit dünnen Fäden, großer Maschenöffnung und geringer Gewebedicke. 120 T bezeichnete ein Gewebe mit 120 Fäden pro cm mit mitteldicken Fäden (Standarddicke). 120 HD bezeichnete ein Gewebe mit 120 Fäden pro cm mit dicken Fäden, kleiner Maschenöffnung und höherer Gewebedicke. Durch den immer stärker werdenden Einsatz des Siebdruckes im technisch-industriellen Bereich wurde eine genauere Beschreibung des Siebgewebes erforderlich: Die alten Bezeichnungen S, T und HD wurden durch die Angabe der Fadendicke in Tausendstelmillimeter (Mikrometer) ersetzt. Beispiele zur neuen, heute üblichen Kennzeichnung: 120-31 statt 120-S 120-34 statt 120-T 120-40 statt 120-HD Beispiele für mögliche Einsatzgebiete: Gewebe mit dünnen Fäden sind speziell für den Druck feiner Linien und Raster geeignet (dünne Fäden, große Maschenöffnung). Gewebe mit mitteldicken Fäden sind für die meisten grafischen Siebdruckarbeiten geeignet. Gewebe mit dicken Fäden sind reiß- und scheuerfester. Sie werden auch für einen reduzierten Farbauftrag eingesetzt (kleine Maschenöffnung). Im Vergleich zum Durchmesser eines menschlichen Haares sind die Fäden eines 120er Gewebes nur etwa halb so dick. Gewebefarbe Die Gewebefarbe hat bei der Siebbelichtung einen Einfluss auf die Druckqualität der Schablone. Bei der Belichtung dringt das Licht in die Kopierschicht ein und wird an der Fadenoberfläche reflektiert. Dies kann bei ungefärbtem „weißen“ Gewebe eine Unterstrahlung der Kopiervorlage (Film) bewirken. Dünne Linien oder Rasterpunkte werden durch die Unterstrahlung noch dünner oder werden in der Schablone gar nicht mehr abgebildet. Bei gelb gefärbtem Gewebe wird nur gelbes Licht in die Kopierschicht reflektiert. Gelbes Licht bewirkt keine „Aushärtung“ der lichtempfindlichen Schablonenschicht. Gefärbte Gewebe ermöglichen so eine gute Detailwiedergabe. Gewebe mit geringer Siebfeinheit (z. B. 30er Gewebe) werden oft nicht eingefärbt. Der Grund dafür ist, dass die Maschenweite größer ist als bei hohen Siebfeinheiten und deshalb geringer unterstrahlt wird. Ebenso verkürzt sich die Belichtungszeit wesentlich. Zudem werden mit solch groben Geweben auch kaum feinste Motive gedruckt. Müssen bei gleicher Siebfeinheit (z. B. 120 Fäden/cm) sowohl ungefärbte („weiße“) wie auch gelb gefärbte Gewebe belichtet werden, so sollte die Belichtungszeit bei ungefärbtem Gewebe im Vergleich zu gefärbtem Gewebe um etwa die Hälfte verkürzt werden. Beispiel: gefärbte Gewebe 2 Minuten, ungefärbte Gewebe eine Minute. Siebdruckrahmen Siebdruckrahmen werden aus Aluminium, teilweise aber auch aus Stahl oder selten aus Holz angefertigt. Sie werden straff mit dem Gewebe bespannt. Die Gewebespannung kann mit derjenigen eines Tennisschlägers verglichen werden. Rahmen aus Holz werden nur noch im Hobby-Bereich eingesetzt, da sie sich bei Feuchtigkeit verziehen und wenig stabil sind. Aluminiumrahmen haben gegenüber Stahlrahmen den Vorteil, dass sie ein geringeres Gewicht haben und rostfrei sind. Stahlrahmen werden eingesetzt, wenn eine äußerst hohe Dimensionsstabilität gefordert ist, beispielsweise bei speziellen industriellen Siebdruckanwendungen mit hohen Anforderungen an die Verzugsfreiheit des Druckbilds. Die Siebdruckrahmen müssen größer sein als das Druckbild, damit auf allen Seiten der Schablone genügend Raum besteht, um das Druckbild sauber auszudrucken. Je nach der Größe der Druckrahmen und der Druckaufgabe sind die Siebrahmenprofile (Rahmenquerschnitte) unterschiedlich dimensioniert. Je größer der Rahmen, desto größer und dicker ist auch das Rahmenprofil. Dies ist notwendig, damit die hohe Spannung des Siebdruckgewebes den Siebrahmen nicht verformt. Eine Verformung des Siebdruckrahmens bewirkt einen Spannungsabfall des Gewebes und kann folgende Druckprobleme ergeben: Verzug des Druckbildes und damit kein passgenaues Druckresultat, Beim Druckvorgang schlechtes Auslösen des Gewebes hinter der Rakel („Wolkenbildung“ in der Farbfläche), Passerprobleme im Mehrfarbendruck beim Einsatz von Druckrahmen mit unterschiedlicher Gewebespannung. Siebbespannung Siebdruckgewebe werden mit hoher Spannung auf den Rahmen aufgeklebt (Holzrahmen können für Hobby-Zwecke auch mittels Heftklammern bespannt werden). Das Bespannen der Rahmen erfolgt in der Regel nicht in den Siebdruckereien, da es zeitaufwändig ist und geschultes Personal erfordert. Die Zulieferindustrie bietet deshalb spezielle Spanndienste als Dienstleistung an. Zum Bespannen des Rahmens wird das Gewebe in ein Spanngerät eingelegt und an allen vier Seiten mit Kluppen festgeklemmt. Der Rahmen befindet sich unter dem Gewebe. Nun wird das Gewebe langsam gestreckt, und zwar gleichmäßig in alle vier Richtungen, bis die gewünschte Spannung erreicht ist. Die Gewebespannung wird in Newton pro Zentimeter entlang der Außenkante des Rahmens gemessen, ein Polyestergewebe von 120 Fäden/cm wird mit etwa 18–20 N/cm vorgespannt. Das gespannte Gewebe wird mit der Klebefläche des Rahmens in Kontakt gebracht. Um einen einwandfreien Gewebekontakt zu erreichen, werden an der Innenseite des Rahmens Stahlgewichte (Stahlstäbe) auf das Gewebe gelegt. Mit einem Pinsel wird nun ein schnell aushärtender Zweikomponentenklebstoff durch das Gewebe hindurch auf den Rahmen gestrichen. Der Kleber diffundiert dabei durch die offenen Gewebemaschen und verklebt das Gewebe mit dem Druckrahmen. Nach der Aushärtung des Klebstoffs innerhalb von 30 Minuten ist das Gewebe fest und unlöslich mit dem Rahmen verklebt. Nun können die Spannkluppen gelöst und der bespannte Rahmen aus dem Spanngerät entnommen werden. Überstehendes Gewebe, das sich außerhalb an den Rahmenkanten befindet, wird mit einem Messer weggeschnitten. Der bespannte Rahmen benötigt eine Ruhezeit von etwa 24 Stunden, da sich beim Gewebe zwangsläufig ein leichter Spannungsabfall ergibt. Danach kann der Rahmen für den passgenauen Druck eingesetzt werden. Siebvorbereitung (Gewebereinigung und Gewebeentfettung) Als Siebvorbereitung bezeichnet man das Entfernen von nicht mehr benötigten Schablonen aus dem Siebdruckgewebe („Entschichten“), die Reinigung des Gewebes von Farbresten und das Entfetten des Gewebes. Die Entfettung ist wichtig, damit neu hergestellte Schablonen einwandfrei am Gewebe haften. Nicht mehr benötigte Schablonen können mit speziellen flüssigen „Entschichtern“ aus dem Gewebe entfernt werden. Zuvor muss die Schablone allerdings sauber von Farbresten gereinigt werden, damit die Entschichterflüssigkeit die Schablonenschicht einwandfrei benetzen kann. Nach dem Auftragen des Entschichters und einer kurzen Einwirkungszeit beginnt sich die Schablone aufzulösen. Die Schablonenreste können nun mit einem scharfen Wasserstrahl (Hochdruckgerät) aus dem Gewebe entfernt werden. Zur Reinigung der Gewebe von Farbresten bietet der Siebdruckfachhandel spezielle „Geweberegeneratoren“ oder Lösungsmittel an, die keine Abwasserbelastung aufweisen (Umweltschutz). Vor der erneuten Schablonenherstellung muss das Gewebe entfettet werden, damit die Schablonenhaftung einwandfrei ist. Dabei werden ölige Rückstände oder Fette (Fingerabdrücke etc.) vom Gewebe entfernt. Dazu wird mit einem Pinsel oder einem Schwamm eine tensidhaltige Entfetterflüssigkeit auf das Gewebe aufgetragen und nach einer kurzen Einwirkungszeit mit Wasser weggespült. Haushaltsreinigungsmittel, wie beispielsweise Geschirrspülmittel, dürfen nicht verwendet werden, da sie rückfettende Öle oder silikonhaltige Entschäumer enthalten, was die Schablonenhaftung beeinträchtigen kann. Das entfettete Sieb wird in einem Trocknungsofen bei etwa 30 bis 40 °C getrocknet. Das Entfernen des Wassers mit einem Sauger führt zu einer deutlichen Reduzierung der Siebtrocknungszeit und einer geringeren Luftfeuchtigkeit im Trocknungsofen. Eine hohe Luftfeuchtigkeit könnte bei neu beschichteten Sieben, die sich im Trocknungsofen befinden, die spätere Schablonenherstellung beeinträchtigen, da die Belichtungszeit in unberechenbarer Weise verlängert werden müsste. Manuelle (künstlerische) Druckformherstellung Heute werden Siebdruckschablonen fast ausschließlich auf fotografischem Weg hergestellt. Dennoch soll hier kurz auf die Möglichkeiten zur manuellen Herstellung von Siebdruckschablonen eingegangen werden. Diese Techniken werden teilweise im Schulunterricht oder bei künstlerischen Arbeiten angewendet. Geschichtlich gesehen wurden diese Techniken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – in der Frühzeit des Siebdruckverfahrens – im gewerblichen Siebdruck sogar hauptsächlich eingesetzt. Bei der manuellen Druckformherstellung wird das Druckmotiv von Hand auf das Gewebe aufgebracht. Dies kann durch das Aufmalen des Motivs auf das Gewebe erfolgen oder durch das Aufkleben von geschnittenen Papieren oder speziellen Schneidefilmen auf die Unterseite des Gewebes. Im Vergleich zu fotografisch hergestellten Schablonen ist der Zeitaufwand zur manuellen Schablonenherstellung oft größer, vor allem aber müssen gewisse Einschränkungen bei der Wiedergabefeinheit und der Druckqualität akzeptiert werden. Trotzdem kann das Experimentieren mit manuellen Schablonentechniken sehr spannend und das Druckresultat von überraschender Schönheit sein. Es lassen sich die folgenden Techniken unterscheiden: AbdeckschabloneHier wird das Motiv mit einem Pinsel in das Gewebe gemalt (abgedeckt). Dazu wird zuerst auf einem Blatt Papier eine Zeichnung des Motivs (Konturen) angefertigt. Es ist darauf zu achten, dass allzu feine Details später Schwierigkeiten beim Aufmalen bereiten. Die Zeichnung wird nun unter das Sieb gelegt und mit einem Siebfüller (Flüssigkeit, welche die Maschen des Gewebes verstopft) das Motiv der Zeichnung entsprechend ins Gewebe gemalt. Das Sieb sollte dabei wenige Millimeter Distanz zur Zeichnung haben, damit diese nicht mit dem Siebfüller verkleben kann. Alle Stellen des Gewebes, die nicht drucken sollen, werden abgedeckt, beim Druckbild bleiben die Gewebemaschen offen. AuswaschschabloneHier wird das Motiv direkt mit weicher Fettkreide ins Gewebe gezeichnet. Die Fettkreide muss dabei die Gewebemaschen verstopfen. Anschließend wird mit einem Spachtel eine dünne (!) Schicht wasserlöslicher Siebfüller auf das gesamte Gewebe aufgetragen. Nach dem Trocknen des Siebfüllers kann die Fettkreide mit einem Lösemittel wie Nitroverdünner aus dem Gewebe ausgewaschen werden. Das gezeichnete Druckbild kann jetzt gedruckt werden. Mit etwas Übung lassen sich mit dieser Technik lithografieähnliche Effekte erzielen. Es eignen sich dazu Siebfeinheiten um 90–120 Fäden/cm. PapierschabloneDies ist sicher die einfachste aller Schablonenmöglichkeiten im Siebdruck. Hier wird das Motiv in ein dünnes Papier geschnitten oder gerissen. Dieser „Scherenschnitt“ wird in Kontakt unter das Sieb gelegt. Nun wird dickflüssige Farbe auf das Sieb gegeben und gedruckt. Wegen der dickflüssigen Farbe bleibt das Papier am Sieb kleben. Es sollten dazu eher Gewebe mit geringen Feinheiten verwendet werden, zum Beispiel 40–70 Fäden/cm. SchneideschabloneSie ist vergleichbar mit der „Papierschablone“, das Motiv wird hier allerdings in spezielle, im Fachhandel erhältliche Schneidefilme geschnitten. Sie bestehen aus einer transparenten Kunststofffolie, auf der sich die Schablonenschicht befindet. Das Motiv wird in die Schicht geschnitten, ohne dabei die Trägerfolie zu durchschneiden. Danach werden diejenigen Teile, die später drucken sollen, von der Trägerfolie abgelöst. Nun wird der Schneidefilm in Kontakt unter das Sieb gelegt. Von der Oberseite des Siebes werden mit einem Lappen, der mit einem geeigneten Lösemittel getränkt ist, Film und Gewebe miteinander verklebt. Nach dem Trocknen der Schablone wird die Trägerfolie entfernt. Es sind wasserübertragbare oder lösemittelübertragbare Filme erhältlich. ReduktionsschabloneHier wird nur ein einziges Sieb zum Drucken eines mehrfarbigen Motivs benötigt. Die Schablone wird nach jeder Druckfolge dem Motiv entsprechend zunehmend abgedeckt. Zuerst wird die Farbe mit dem größten Flächenanteil gedruckt, zuletzt die Farbe mit dem geringsten Flächenanteil. Diese anspruchsvolle Technik wurde 1918 in den USA patentiert; das erste Patent zum heutigen Siebdruck („Selectasine-Verfahren“). Eine vergleichbare Technik ist im Holz- und Linolschnitt unter den Bezeichnungen „Eliminationstechnik“, „Verlorene Platte“ oder „Reduktions-Holzschnitt“ bekannt und von Pablo Picasso eingesetzt worden. Fotomechanische Druckformherstellung Im Vergleich zu den anderen Druckverfahren sind die Möglichkeiten zur Druckformherstellung im Siebdruck sehr vielfältig. Einerseits gibt es äußerst viele verschiedene Gewebefeinheiten. Andererseits kommt nun die Wahl zwischen zwei (oder eigentlich drei) verschiedenartigen Techniken zur Schablonenherstellung hinzu. Innerhalb dieser Techniken gibt es wiederum mehrere Möglichkeiten, bei der Schablonenherstellung das Druckresultat zu beeinflussen. Zudem soll auch berücksichtigt werden, dass die Schablone beständig gegenüber der Druckfarbe sein muss. Vor allem Neueinsteiger im Siebdruck sind im ersten Moment oft etwas irritiert ob der vielen Gewebefeinheiten, Chemikalien, Schablonenmaterialien und auch Druckfarben. Trotz dieser Vielfalt an chemisch-technischen Produkten zur Schablonenherstellung sind die Grundzusammenhänge aber relativ einfach zu verstehen. Übersicht zu den fotomechanischen Siebdruckschablonen Man unterscheidet im Siebdruck grundsätzlich zwei verschiedene Arten zur Schablonenherstellung, die je ihre Vor- und Nachteile haben: Die direkte Methode (Direktschablone) Die indirekte Methode (Indirektschablone) Bei der Direktschablone wird das Gewebe mit einer lichtempfindlichen Schicht beschichtet, belichtet und entwickelt. Die Schablone wird also direkt auf dem Gewebe hergestellt (daher die Bezeichnung „Direktschablone“). Hier gibt es zwei Möglichkeiten, das Sieb zu beschichten: Durch das beidseitige Auftragen einer flüssigen Kopierschicht auf das Gewebe oder durch das Übertragen einer mit Kopierschicht beschichteten Folie auf das Gewebe (Direktfilm). Bei der Indirektschablone befindet sich die lichtempfindliche Schicht wie bei den Direktfilmen auf einer transparenten Kunststofffolie. Der Indirektfilm wird aber erst nach dem Belichten und Entwickeln auf das Gewebe übertragen (daher die Bezeichnung „Indirekt“). Vor- und Nachteile der Direktschablone mit Flüssigschicht Sie ist preisgünstig und hat eine sehr gute Verankerung im Gewebe (Druck von sehr hohen Auflagen bei guter Druckqualität). Die Schicht enthält allerdings 50–60 % Wasser, was zu einem entsprechenden Schwund der Beschichtung beim Trocknen führt. Dieser Schwund bewirkt eine gewisse Rauheit der Schablonenoberfläche. Da eine Schablone auf ihrer Unterseite (Bedruckstoffseite) möglichst glatt sein sollte, kann dieser Schwund im Extremfall zu einem leichten Ausfließen der Druckfarbe an den Schablonenkanten führen – vor allem, wenn die Druckfarbe relativ dünnflüssig ist. Vor- und Nachteile der Indirektschablone Die Schablone hat eine äußerst glatte Oberfläche (Bedruckstoffseite) und eignet sich hervorragend für den Druck feinster Raster und Linien. Die Schablonenhaftung ist aber vergleichsweise gering – Indirektschablonen sind für hohe Druckauflagen nicht geeignet. Zudem sind sie empfindlich gegenüber Feuchtigkeit (für Wasserfarben nicht geeignet). Teuer. Versuche, die Beständigkeit der Direktschablone mit Flüssigschicht mit der Druckqualität der Indirektschablone zu kombinieren, führten zu Beginn der 1980er Jahre zur Entwicklung der Direktfilme. Solche Schablonen werden umgangssprachlich deshalb auch als „Kombi-Schablonen“ bezeichnet. Direktfilme werden meistens mit Wasser auf die Unterseite der Druckform übertragen, manchmal auch mit Hilfe von Flüssigschicht. Vor- und Nachteile der Direktfilme Die Schablone hat eine sehr glatte Oberfläche (Bedruckstoffseite) und ist sehr gut für den Druck feinster Raster und Linien geeignet. Im Gegensatz zu Indirektfilmen ist die Schablonenhaftung bei Direktfilmen gut (geeignet für den Druck hoher Auflagen). Direktfilme werden in verschiedenen Dicken angeboten, die Schichtdicke ist definiert (in Tausendstelmillimeter). Es sind wasserbeständige Filme erhältlich. Direktfilme sind wie Indirektfilme teuer. Die Übertragung auf das Gewebe erfordert etwas Übung. Die weltweiten Marktanteile der verschiedenen möglichen Schablonentechniken (grafischer und industrieller Siebdruck, Textildruck) verhalten sich in etwa so: Indirektschablone mit Flüssigschicht („Kopierschicht“) ca. 90 Prozent. Die restlichen 10 Prozent Anteile verteilen sich auf Direktfilme und Indirektfilme, wobei Direktfilme dabei den größeren Anteil haben. Direktschablone – Die verschiedenen Kopierschichtsysteme Sowohl bei Flüssigschichten als auch bei Direktfilmen sind mehrere Produktgruppen erhältlich, die sich vor allem in der Beständigkeit gegenüber Wasser- und Lösemittelfarben, aber auch in der Belichtungszeit und Entschichtbarkeit unterscheiden. Flüssigschichten müssen zudem teilweise vor dem Gebrauch mit einem Sensibilisator lichtempfindlich gemacht werden. Der Sensibilisator wird beim Kauf einer Kopierschicht mitgeliefert und dann in diese eingerührt. Es sind auch Kopierschichten erhältlich, die bereits lichtempfindlich sind („vorsensibilisiert“). Direktfilme sind immer in lichtempfindlichem Zustand erhältlich, in Bogen oder ab Rolle. Für den Neueinsteiger ist eine Kopierschicht zu empfehlen, die vorsensibilisiert, lösemittel- und wasserbeständig und vor allem auch leicht entschichtbar ist. Diazo-sensibilisierte KopierschichtenDiazo ist ein Sensibilisator, der seit den 1970er Jahren als Ersatz für die bis dahin eingesetzten Bichromate dient. Diazoschichten belasten im Gegensatz zu den Bichromaten das Abwasser kaum. Diazoschichten sind vergleichsweise preisgünstig und haben einen hohen Belichtungsspielraum. Es sind Diazoschichten erhältlich, die sich für den Druck mit Lösemittelfarben eignen, andere Diazoschichten eignen sich speziell für den Druck mit Wasserfarben (Textildruck). Wasserbeständige Diazoschichten sind aber teilweise schwer entschichtbar. Fotopolymer-sensibilisierte KopierschichtenDiese Kopierschichten wurden zu Beginn der 1980er Jahre in Japan entwickelt, sie haben eine sehr kurze Belichtungszeit, teilweise aber einen geringen Belichtungsspielraum und erfordern daher eine genau abgestimmte Belichtungszeit. Polymerschichten werden vor allem dort eingesetzt, wo eine kurze Belichtungszeit erwünscht ist, beispielsweise bei hohen Schichtdicken der Schablone oder bei der Projektions- oder Laserbelichtung. Fotopolymerschichten sind immer vorsensibilisiert erhältlich. Diazopolymer-sensibilisierte KopierschichtenDiazopolymerschichten vereinen die Vorteile der Diazoschichten mit denjenigen der Fotopolymerschichten. Diazopolymerschichten haben einen guten Belichtungsspielraum bei gleichzeitig kurzer Belichtungszeit. Zudem sind diese Kopierschichten oft sowohl wasser- wie lösemittelbeständig und leicht entschichtbar. Aufgrund dieser guten Eigenschaften haben Diazopolymerschichten eine große Verbreitung im Siebdruck gefunden. DirektfilmeDirektfilme bestehen aus einem dünnen Polyesterträger, auf den maschinell eine Flüssigschicht aufgegossen wurde. Direktfilme sind in lichtempfindlichem Zustand als Rolle- oder Bogenware im Fachhandel erhältlich. Genau gleich wie bei den Kopierschichten sind Diazofilme, Fotopolymerfilme oder Diazopolymerfilme erhältlich. Direktfilme haben eine genau definierte Schichtdicke. Die Schichtdicke wird von den Herstellern in µm (Tausendstelmillimeter) angegeben. Die Schichtdicken können 15 µm, 20 µm, 25 µm, 30 µm, 40 µm etc. bis zur Dicke von 200 bis 400 µm betragen. Grundsätzlich werden für Gewebe mit hoher Feinheit dünne Direktfilme eingesetzt, für Gewebe mit geringer Feinheit entsprechend dickere Direktfilme. Direktfilm 15 µm: Für Gewebefeinheiten 150–180 Fäden/cm Direktfilm 20 µm: Für Gewebefeinheiten 120–150 Fäden/cm Direktfilm 25 µm: Für Gewebefeinheiten 90–120 Fäden/cm Direktfilme 30–50 µm: Für Gewebefeinheiten 40–80 Fäden/cm Indirektschablone (Indirektfilme) Diese Filme bestehen aus einer Polyesterfolie (Trägerfolie), die mit einer lichtempfindlichen Gelatineschicht beschichtet sind. Sie werden nach dem Belichten, einem chemischen Nachhärten mit Wasserstoffperoxid und dem Auswaschen (Entwickeln) des Druckbildes auf die Unterseite des Siebes übertragen. Nach dem Trocknen des Filmes wird die Polyesterfolie entfernt. Die Indirektschablone haftet nur auf der Unterseite des Gewebes, sie kann sich vergleichsweise gering im Gewebe verankern, daher spricht man hier oft von einer „am-Gewebe-Schablone“. Schablonen, die wie oben beschrieben mit flüssiger Kopierschicht beidseitig auf das Gewebe aufgetragen werden, haften wesentlich besser im Gewebe („im-Gewebe-Schablone“). Trotz der geringen Verankerung im Gewebe und der damit resultierenden beschränkten Auflagenbeständigkeit, werden Indirektschablonen für Spezialarbeiten (vor allem beim Druck von Feinrastern) eingesetzt, da die Qualität des Druckergebnisses sehr hoch ist. Es werden auch Indirektfilme angeboten, die nach der Belichtung nicht mehr chemisch nachgehärtet werden müssen. Indirektschablonen sind sehr dünn und eignen sich nur für Gewebefeinheiten ab 77–90 Fäden/cm und höher. Indirektschablonen eignen sich nicht für den Druck mit wasserverdünnbaren Siebdruckfarben. Beschichtungstechniken Grundbegriffe, die bei der Schablonenherstellung wichtig sind: Druckseite (Bedruckstoffseite) ist die Seite des Gewebes, die dem Druckgut zugewandt ist und dieses beim Druck berührt (Druckformunterseite) Rakelseite ist die Innenseite des Siebrahmens, auf der die Druckfarbe aufgegeben und gerakelt wird (Druckformoberseite) Beschichtungsrinne dient der Aufnahme der Kopierschicht und zum gleichmäßigen Auftragen der Kopierschicht Bei der Herstellung der Schablone (Beschichten mit Flüssigschicht oder Filmübertragung) ist auf eine sorgfältige Arbeitsweise zu achten. Fehler bei der Schablonenherstellung können später im Druck kaum mehr korrigiert werden, sie wirken sich direkt auf das Druckergebnis aus. Manuelle Beschichtung Nass-in-nass-Beschichtung Das Sieb wird auf beiden Seiten mit der flüssigen Kopierschicht dünn und gleichmäßig beschichtet. Dazu wird die Kopierschicht in eine Beschichtungsrinne gefüllt. Das Sieb wird in einer Halterung senkrecht befestigt (oder schräg gegen eine Wand gelehnt). Die Beschichtungsrinne wird nun mit leichtem Druck unten auf das Siebgewebe aufgesetzt. Jetzt wird die Beschichtungsrinne langsam und gleichmäßig in dieser Kippstellung nach oben gleitend über das Siebgewebe gezogen. Die Siebgewebemaschen füllen sich dabei mit der Kopierschicht. Es wird zuerst immer die Druckseite (Bedruckstoffseite) des Siebdruckgewebes beschichtet, anschließend die Rakelseite. Dieser zweite Beschichtungsvorgang auf der Rakelseite kann, je nach der gewünschten Schichtdicke der Beschichtung, mehrmals wiederholt werden. Die Zählweise der unterschiedlichen Beschichtungsfolgen lautet dann zum Beispiel 1:1, 1:2, oder 1:3 (jeweils in der Reihenfolge Druckseite:Rakelseite). Das Ziel ist es, auf der Siebunterseite (Druckseite) eine glatte Schablonenoberfläche zu erreichen, die die Struktur des Gewebes auszugleichen vermag. Dieser Gewebestrukturausgleich ist wichtig, damit beim Drucken die Druckfarbe die Schablonenkante nicht unterfließen kann. Damit sich eine gute Schablonenkante bilden kann, sollte die Schablone etwa 15 bis 20 Prozent dicker als das Gewebe sein. Sowohl die Oberflächenglätte als auch die Schichtdicke der Schablone kann mit speziellen Messgeräten genau ermittelt werden, jedoch besitzen die wenigsten Siebdruckereien solch teure Messgeräte. Die richtige Beschichtungstechnik ist vor allem abhängig von der Siebfeinheit, der verwendeten Kopierschicht und der Beschichtungsrinne und ist daher Erfahrungssache. TrocknungNun wird das beschichtete Drucksieb mit der Druckseite nach unten in einen Trockenschrank gelegt und bei 30 bis 40 °C getrocknet. Es ist wichtig, dass das Sieb mit der Druckseite nach unten in das Trocknungsgerät gelegt wird, damit der Schichtaufbau, der durch die Beschichtungsfolgen erreicht wurde, weiterhin auf der Unterseite des Siebes bleibt. Würde das Drucksieb umgekehrt, also mit der Druckseite nach oben, in den Trockenschrank gelegt, so würde die noch flüssige Kopierschicht durch die Maschenöffnungen des Gewebes zur Rakelseite hin fließen. Bei guter Durchlüftung des Trockenschranks ist das Sieb – je nach Dicke der Beschichtung und Gewebefeinheit – in ca. einer Viertelstunde bis einer Stunde getrocknet und kann danach belichtet werden. In trockenem Zustand sind die beschichteten Drucksiebe lichtempfindlich und müssen vor starkem Licht geschützt werden (Sonneneinstrahlung, Kopierlampe). Idealerweise sollten die beschichteten Siebe bei gelbem Raumlicht verarbeitet werden. Eine längere Lagerung der Siebe vor dem Belichten darf nur in einem dunklen Raum oder einem Schrank erfolgen. NachbeschichtungNach der Trocknung des beschichteten Siebes kann die Oberflächenglätte der Beschichtung – falls erforderlich – durch eine weitere Beschichtung auf der Druckseite verbessert werden (Nachbeschichtung). Die Schichtdicke der Schablone wird dabei etwas erhöht. Werden mehrere Nachbeschichtungen durchgeführt, so muss nach jedem Nachbeschichtungsvorgang das Sieb wieder getrocknet werden, was die Herstellungszeit der Schablone merklich verlängert. Kopierschichten sind heute aber von guter Qualität, so dass vor allem bei hohen Gewebefeinheiten ein Nachbeschichten kaum mehr notwendig ist. Bei tiefen Siebfeinheiten kann ein Nachbeschichten sinnvoll für einen „sägezahnfreien“ Druck sein. Der Sägezahneffekt bezeichnet „gezackte“ Schablonenränder, bedingt durch den ungenügenden Ausgleich der Siebgewebestruktur. Maschinenbeschichtung Beschichtungsmaschinen tragen die Kopierschicht von beiden Seiten automatisch auf das Gewebe auf. Der Vorgang ist der Gleiche wie bei der Beschichtung von Hand. Allerdings lassen sich mit Beschichtungsmaschinen vor allem bei großformatigen Drucksieben sehr gleichmäßige Beschichtungsresultate erzielen. Alle wichtigen Parameter wie die Beschichtungsgeschwindigkeit, der Anpressdruck der Beschichtungsrinne, die Anzahl der Beschichtungsfolgen etc., sind einstellbar. Oft wird das Drucksieb unmittelbar nach der Beschichtung durch eine Infrarotheizung getrocknet. Die Maschinenbeschichtung garantiert ein reproduzierbares, genaues Beschichtungsergebnis und somit auch ein reproduzierbares Druckresultat. Übertragung von Direktfilmen Übertragung des Films mit Wasser (Kapillarmethode) Direktfilme werden auf das nasse Siebgewebe aufgetragen. Vor der Übertragung des Films wird das Drucksieb gleichmäßig mit Wasser benetzt. Oft wird das nasse Sieb mit einem Netzmittel behandelt, das die Oberflächenspannung des Wasserfilms verringert. Es entsteht dabei ein gleichmäßiger, stabiler Wasserfilm auf der Gewebeoberfläche, der das Übertragen des Direktfilms erleichtert. Der auf das gewünschte Format zugeschnittene Film wird durch Abrollen auf das Gewebe übertragen. Dabei verbindet sich der Film sofort gleichmäßig in dem Siebdruckgewebe. Mit einer Gummiflitsche wird das überflüssige Wasser auf der Rakelseite abgestreift. Der Siebrahmen wird dann mit einem Lederlappen abgetrocknet, damit abfallende Wassertropfen nicht auf die Schicht tropfen können. Nach dem Trocknen kann die Trägerfolie des Films von der Schicht abgezogen und das Sieb belichtet werden. Direktfilmschablonen weisen auf der Druckseite des Siebes eine sehr hohe Oberflächenglätte auf, was einen hochwertigen Druck ergibt. Sie sind jedoch deutlich teurer als die Beschichtung mit Kopierschicht. Die Beständigkeit des Drucksiebes bei hohen Druckauflagen ist in der Regel etwas geringer als bei Schablonen mit Kopierschicht. Übertragung des Films mit Kopierschicht („Kombi-Methode“)Bei dieser Methode wird der Film mit Flüssigschicht auf das trockene Gewebe übertragen. Der Film wird dazu auf der Druckseite des Siebes mit dem Gewebe in Kontakt gebracht. Von der Rakelseite her wird nun mit einer Beschichtungsrinne Flüssigschicht auf das Gewebe aufgetragen. Dabei verbindet sich die flüssige Kopierschicht mit der Schicht des Direktfilms. Es entsteht ein „Sandwich“, in dem das Siebgewebe eingebettet ist. In der Regel werden diese Beschichtungen in einer Beschichtungsmaschine automatisch ausgeführt. Nach dem Trocknen der Schicht wird die Trägerfolie des Films abgezogen und das Sieb belichtet. Flüssigschicht und Direktfilm müssen die gleiche Belichtungszeit aufweisen, deshalb sollten nur vom Hersteller dazu empfohlene Produkte verwendet werden. Diese Methode zur Filmübertragung wird eher selten angewendet, da das Risiko von Staubeinschlüssen beim Übertragen des Films größer ist als bei der Filmübertragung mit Wasser (Kapillarmethode). Allerdings ist die Beständigkeit der Schablone im Druck sehr hoch – sie entspricht einer Schablone mit Kopierschicht. Belichtung Lichtquellen Belichtet wird mit einer starken Lichtquelle, die einen hohen UV-Anteil aufweist. Heute verwendet man dazu so genannte Metallhalogenid-Lampen mit einer Leistung von 3000 bis 6000 Watt. Die Belichtungszeit ist abhängig von der Gewebefeinheit, der verwendeten Kopierschicht und der Dicke der Beschichtung. Je tiefer die Gewebefeinheit ist (je dicker die Schichtdicke), desto länger muss belichtet werden. Im Hobbybereich kann auch versucht werden, das beschichtete Sieb mit einem Fotoscheinwerfer oder einer Quecksilberdampflampe zu belichten, allerdings sollten dazu Diazo-Kopierschichten verwendet werden, da Fotopolymerschichten stärkeres UV-Licht benötigen. Heute werden auch schon UV LED eingesetzt. Der Vorteil ist hierbei, dass Film und Siebschablone keiner thermischen Belastung ausgesetzt sind. Zusätzlich werden Überstrahlungen vermieden (MLP Multi LED Präzision verfahren) und es wird deutlich weniger Energie verbraucht. Kopiervorlage (Film) Als Kopiervorlage wird ein transparenter Film benötigt, auf dem das Bildmotiv in sehr guter Deckung (lichtundurchlässige Schwärzung) abgebildet ist. Das Bildmotiv muss seitenrichtig (nicht spiegelverkehrt) und positiv sein. Der Film darf nur transparente und schwarze Bildstellen aufweisen, also keine halb deckenden „Graustufen“. Die Filme werden in Druckereien oder Reprofirmen hergestellt. Folien, die mit einem Laserdrucker oder Fotokopiergerät ausgedruckt werden, eignen sich für den Hobbybereich oder für Motive, die keine Feinheiten aufweisen (nur Texte, Flächen), gegebenenfalls müssen hier sogar zwei gleiche Folien deckungsgleich aufeinander geklebt werden, damit eine gute Lichtundurchlässigkeit erreicht wird. Belichtungsvorgang Vor der Belichtung wird der Film auf die Druckseite des beschichteten Siebes aufgelegt. Die Schicht des Films muss in Kontakt zur Schichtseite des Siebes liegen („Schicht auf Schicht“), damit es nicht zu einer Unterstrahlung feiner Details kommen kann. Nun wird das Sieb in ein spezielles Kopiergerät (Belichtungsgerät) gelegt, welches durch Vakuum das Sieb mit dem Film fest auf eine Glasscheibe presst. Durch die Glasscheibe hindurch wird nun das Sieb belichtet. Durch die Belichtung wird die Kopierschicht wasserfest – diejenigen Stellen der Kopierschicht, die durch den deckenden Film vor dem Licht geschützt sind, bleiben hingegen wasserlöslich. Nach dem Belichten wird das Sieb auf beiden Seiten mit einer Handbrause und lauwarmem Wasser benetzt und das Druckbild ausgewaschen. Dabei werden alle nicht belichteten Stellen der Kopierschicht freigewaschen. Das Auswaschen kann auch mit einem Hochdruckgerät erfolgen, allerdings bei nicht allzu starkem Wasserstrahl. Mit einem Wassersauger wird das Wasser von der Sieboberfläche entfernt, und das Sieb getrocknet. Nach dem Trocknen werden auffällige Fehlerstellen im Sieb mit einem „Siebfüller“ retuschiert. Zur erstmaligen Ermittlung der richtigen Belichtungszeit sollte mit einem „Testsieb“ eine Stufenbelichtung gemacht werden. Durch unterschiedliche Belichtungszeiten (Stufen) auf dem „Testsieb“ kann festgestellt werden, welches die optimale Belichtungszeit ist. Projektionsbelichtung Die Siebkopie mit einem ausbelichteten Film wird auch als „Kontaktkopie“ bezeichnet, da hier der Film im Kopiergerät mit Vakuum an das lichtempfindlich beschichtete Sieb gepresst wird. Siebdruckereien, die häufig großformatig drucken, versuchen aber möglichst die Filmkosten auszuschließen, weil diese bei einer solchen Druckarbeit einen nicht unerheblichen Kostenanteil darstellen. Eine bewährte Möglichkeit dazu ist die Projektionsbelichtung. Bei dieser „kontaktlosen“ Siebbelichtung wird ein kleiner Film (ca. DIN A3) in einer Projektionskamera auf das lichtempfindlich beschichtete Sieb vergrößert. Der Vorgang kann mit dem Projizieren von Ferienfotos auf eine Leinwand verglichen werden. Allerdings ist im Siebdruck eine Projektionskamera mit ihrer äußerst hochwertigen Optik und Mechanik eine finanzielle Investition, die sich nur dann bezahlt macht, wenn häufig großformatige Drucke angefertigt werden sollen. Als Lichtquelle dient eine spezielle UV-Lampe; die Belichtungszeit dauert wenige Minuten. Damit eine lange Belichtungszeit vermieden werden kann, sollte die Beschichtung des Siebes möglichst dünn sein. Digitale Schablonenbebilderung – Computer to Screen (CTS) Während bei der Projektionsbelichtung ab einem kleinformatigen Film eine Vergrößerung auf das Sieb projiziert wird, wird bei dem Computer-to-Screen-Verfahren kein Film mehr benötigt. Hier wird ab digitalen Daten das Druckbild mit Ink-Jet-Bebilderung oder Laserbelichtung direkt auf das lichtempfindlich beschichtete Sieb aufgespritzt (Ink-Jet) oder belichtet (Laser). Bei den Ink-Jet-Verfahren wird das Motiv mit UV-Licht-undurchlässiger Tinte oder Flüssigwachs auf die Schablonenschicht aufgespritzt. Nach der Bebilderung wird das Sieb mit einer Kopierlampe belichtet und anschließend das Druckbild ausgewaschen. Bei der DLP-Lasertechnik (englisch: Direct Light Processing) wird das Motiv hingegen direkt in die lichtempfindliche Schicht belichtet. Im Gegensatz zur Projektionsbelichtung benötigen CTS-Verfahren eine längere Zeit zur Schablonenherstellung (Schreibgeschwindigkeit in dpi). Allerdings können hier feinere Rasterbilder reproduziert werden, als dies beim Projizieren möglich wäre. Die Technik eignet sich (im Gegensatz zur Projektion) auch für dicke Beschichtungen auf geringen Siebfeinheiten. Die Laserbelichtung mit UV Laser (LDS = LaserDirectSreen), wird für kleine Schablonen eingesetzt. Die Schreibbreiten betragen zur Zeit 130 mm oder 380 mm. Die Länge ist variabel. Es sind problemlos 60 Raster möglich. Wird hauptsächlich für CD/DVD und Kartuschendruck eingesetzt. Die Belichtungszeit ist stark von der Emulsion abhängig. Es lassen sich theoretisch alle Beschichtungen einsetzen, aber es empfiehlt sich CTS Beschichtungen zu belichten (schneller und keine Überstrahlungen). Die Digitale Schablonenbelichtung bietet außerdem die Möglichkeit, im Siebdruck Frequenzmodulierte Raster (FM) einzusetzen. Druckgeräte, Druckvorgang Druckrakeln Die Rakel im Siebdruck besteht aus einem Gummi (Elastomer), der in eine Halterung eingespannt ist. Beim Drucken stellt die Rakel einen Kontakt zwischen dem Sieb und dem Bedruckstoff her. Dabei wird die Druckfarbe aus den Maschenöffnungen auf den Bedruckstoff übertragen. Der Rakelgummi besteht aus dem elastischen, relativ lösungsmittelbeständigen und abriebfesten Kunststoff Polyurethan. Die Härte (Elastizität) der Rakel hat einen Einfluss auf das Druckergebnis. Weichere Rakelgummis eignen sich besser für Flächendrucke, Lasurfarben oder Textildrucke, härtere Rakelgummis besser für Rasterdrucke oder Negativdrucke. Es werden drei Härtegrade angeboten: Weich, mittelhart und hart. Der Härtegrad wird dabei in „Shore“ angegeben (die Shore-A-Skala beschreibt die Härte von Elastomeren: 0 = sehr weich, 100 = sehr hart). Eine weiche Siebdruckrakel hat etwa 65 Shore, eine mittelharte Rakel etwa 75 Shore und eine harte Rakel etwa 85 Shore. Meistens werden im Siebdruck mittelharte Rakeln eingesetzt. Beim Druck von hohen Auflagen mit Lösemittelfarben oder UV-Farben kann sich die Rakel mit der Zeit verformen – sie quillt auf und biegt sich durch, was die Druckqualität verschlechtert. Daher werden spezielle Rakeln angeboten, die bei hohen Auflagen formstabiler sind. Unter der Markenbezeichnung „RKS“ wird eine Rakel angeboten, die aus einem lösungsmittelbeständigen, formstabilen Kunststoffstreifen besteht, auf den ein ca. 1 cm breiter Gummi geklebt ist. Andere Hersteller bieten mehrschichtige Rakelgummis an, die einen harten, formstabilen „Kern“ und zwei weichere Außenseiten aufweisen („Sandwich-Konstruktion“). Beim Drucken von Hand werden meistens Rakeln verwendet, bei denen der Gummi mit einem Holzgriff verbunden ist. Mit diesen Handrakeln wird die Druckfarbe über das Sieb gestrichen und dann gedruckt. Beim Druck auf Maschinen werden dazu zwei Rakeln benötigt: Eine Vorrakel und die eigentliche Druckrakel. Die Vorrakel ist ein Metallblech, das die Druckfarbe vor dem Drucken gleichmäßig über das Drucksieb verteilt (flutet) und dadurch die Maschenöffnungen der Schablone mit Farbe füllt. Druckmaschinen Das druckfertige Sieb wird in der Druckmaschine befestigt. Dies kann ein Handdruckgerät, eine halbautomatische-, dreiviertelautomatische- oder vollautomatische Siebdruckmaschine sein: Handdrucktisch Das Einlegen der Bogen in das Druckgerät, das Drucken und das Entnehmen der Drucke erfolgen von Hand. Handdrucktische werden für Kleinauflagen oder für Spezialarbeiten eingesetzt. Halbautomatische Druckmaschine Das Einlegen der Bogen in das Druckgerät erfolgt von Hand, das Drucken automatisch und das Entnehmen der Drucke wiederum von Hand. Die Druckgeschwindigkeit beträgt je nach Druckformat etwa 300 bis 600 Drucke pro Stunde. Dreiviertelautomatische Druckmaschine Das Einlegen der Bogen in das Druckgerät erfolgt von Hand, das Drucken und das Ablegen der Drucke auf das Transportband eines Durchlauftrockners hingegen automatisch. Die Druckgeschwindigkeit beträgt je nach Druckformat etwa 600 bis 1000 Drucke pro Stunde. Vollautomatische Druckmaschine Das Einlegen der Bogen, das Drucken, das Ablegen der Drucke auf das Transportband eines Durchlauftrockners und das Stapeln erfolgen automatisch. Die Druckgeschwindigkeit beträgt je nach Druckformat etwa 1000 bis 3000 Drucke pro Stunde. Siebdruckmaschinen können so konstruiert sein, dass sich das Sieb nach dem Druckvorgang scharnierartig aufklappt (Winkel öffnend) oder sich parallel vom bedruckten Bogen abhebt (parallel öffnend). Vollautomatische Maschinen werden teilweise auch nach dem Zylinderdruckprinzip gebaut. Hier befindet sich das Sieb über einem Gegendruckzylinder. Beim Druckvorgang bewegt sich das Sieb vorwärts, während die Rakel auf den Scheitelpunkt des Gegendruckzylinders drückt. Der Zylinder dreht sich synchron zur Vorwärtsbewegung des Siebes. Zylinderdruckmaschinen haben eine hohe Druckgeschwindigkeit, können aber nur flexible Materialien bedrucken. Druckvorgang Nun werden die Druckrakel und die Vorrakel (Flutrakel) (in nebenstehender Abbildung: B) in die Druckmaschine eingebaut. Anschließend wird die Druckfarbe (A) auf das Sieb (D) gegeben und die Farbe mit der Vorrakel über das ganze Sieb gleichmäßig verteilt (geflutet). Unter dem Sieb befindet sich der Bedruckstoff (Druckbogen) (F). Die Druckbogen müssen sich immer an der genau gleichen Position unter dem Sieb befinden, damit bei mehrfarbigen Arbeiten die Farben passgenau zueinander liegen. Dazu dienen in die Druckplatte eingebaute Anlegestifte oder auf die Druckplatte geklebte Anlegemarken aus Selbstklebefolie. Jetzt wird der Druckbogen an die Marken angelegt und danach die Farbe mit Hilfe der Druckrakel durch die offenen Siebstellen (C) auf den Bogen (F) übertragen. Beim Druckvorgang werden die Druckbogen mit Vakuum auf dem Drucktisch fixiert, damit sie sich nicht verschieben oder am Sieb kleben bleiben. Druckprobleme Je nach Beschaffenheit des Bedruckstoffs, der Gewebespannung, der Farbverdünnung, des Rakelschliffs und Rakeldrucks etc. können sich diverse Druckprobleme ergeben. Zu wenig Absprung (Distanz zwischen Gewebe und Bedruckstoff) kann beispielsweise zur „Wolkenbildung“ im Druck führen, da sich das Gewebe hinter der Rakel nicht sofort aus dem gedruckten Farbfilm lösen kann – es bleibt in der gedruckten Farbe „kleben“. Zu viel Absprung erhöht hingegen die Gewebespannung, was zum unsauberen Ausdrucken der Schablonenkanten führen kann. Zu dünnflüssige Druckfarbe neigt zum „Schmieren“ (Ausfließen der Farbe an den Schablonenkanten), zu dickflüssige hingegen wieder zur schlechten Farbübertragung auf den Bedruckstoff. Ein zu hoher Rakeldruck bewirkt ebenfalls ein „Schmieren“ des Druckbildes, das Gleiche gilt für eine zu rund geschliffene und ungeschliffene Druckrakel. Rastersiebdruck Wie bei den anderen Druckverfahren, ist es auch im Siebdruck möglich, Rasterbilder zu drucken. Allerdings sind beim Siebdruck einige verfahrenstypische Eigenheiten zu beachten, damit ein einwandfreies Druckergebnis erreicht werden kann. Im Siebdruck kann beispielsweise keine „standardmäßige Rasterfeinheit“ gedruckt werden, da die Wahl einer geeigneten Rasterfeinheit von mehreren Fragen abhängig ist, beispielsweise: Auf welches Material soll gedruckt werden (Textilien, glatte Oberflächen etc.)? Welche Siebfeinheit wird eingesetzt (ein Gewebe mit 60 Fäden/cm oder ein Gewebe mit 120 Fäden/cm)? Wie groß ist das Druckbild? Normalerweise werden farbige Bildvorlagen in die Druckfarben Cyan, Magenta, Yellow und Schwarz zerlegt, gerastert und im Druck lasierend übereinander gedruckt (Farbseparation, Vierfarbdruck, Druckraster). Teilweise ist es im Siebdruck aber nicht nötig, eine Druckarbeit zu separieren und aufzurastern. Beispiel: Es soll einfarbig ein oranger Text gedruckt werden. Hier ergibt es keinen Sinn, das Orange zweifarbig durch den Übereinanderdruck eines hell gerasterten Magenta und Gelb zu bilden, da im Siebdruck das Orange problemlos als Sonderfarbe gemischt und einfarbig gedruckt werden kann. Bei Unklarheiten ist es sinnvoll, mit der Druckerei Kontakt aufzunehmen. Rasterarten, Rasterpunktformen Man unterscheidet grundsätzlich zwischen amplitudenmodulierten und frequenzmodulierten Rastern (AM- und FM-Raster). Beim AM-Raster sind die Rasterpunkte streng geometrisch zueinander angeordnet – sie haben immer den gleichen Abstand zueinander. In hellen Bildpartien sind die Rasterpunkte klein, in dunkleren Bildpartien entsprechend größer. Beim FM-Raster sind die Punkte zufällig zueinander angeordnet (wie gestreute Sandkörner), dafür immer gleich groß. In hellen Bildpartien befinden sich weniger Punkte, in dunkleren Bildpartien entsprechend mehr. Das geometrisch angeordnete AM-Raster kann im ungünstigen Fall ein Moiré mit dem Siebdruckgewebe ergeben, da das Gewebe selbst ein „Raster“ darstellt. Moirés sind meist wellenförmige, störende Muster, die bei der Überlagerung zweier Raster entstehen können. Beim zufällig angeordneten FM-Raster sollte es diesbezüglich keine Probleme ergeben (außer die FM-Punkte sind quadratisch und stehen in ungünstigem Verhältnis zur Größe der Maschenöffnungen des Gewebes). Meistens wird im Siebdruck der AM-Raster eingesetzt, da er eine ruhige Bildwirkung aufweist. Beim AM-Raster können unterschiedliche Punktformen gewählt werden: Quadratische, runde oder elliptisch geformte Punkte. Für den Siebdruck sollte die elliptische Punktform gewählt werden, da hier Bildverläufe von hell zu dunkel im Druck schöner wiedergegeben werden, als beispielsweise mit quadratisch geformten Punkten. Rasterweite (Rasterfeinheit) Der Begriff „Rasterweite“ bezeichnet die Anzahl Rasterpunkte pro Zentimeter. Wie zu Beginn dieses Abschnitts erwähnt, ist die Rasterweite im Siebdruck abhängig von der Feinheit des im Druck verwendeten Siebdruckgewebes. Bei einem Gewebe mit geringer Feinheit müssen die Rasterpunkte genügend groß sein, damit sie sich einwandfrei im Gewebe verankern können. Beim Druck mit hohen Gewebefeinheiten ist die Verwendung entsprechend feinerer Raster möglich. Bei einer Gewebefeinheit von 30 bis 60 Fäden/cm dürfte eine Rasterweite von 10 bis 15 Punkten/cm sinnvoll sein. Bei Geweben mit 120 Fäden/cm oder feiner sind Raster bis etwa 48 Punkten/cm druckbar. Wobei darauf hingewiesen sei, dass geringere Rasterfeinheiten im Siebdruck wesentlich problemloser druckbar sind als hohe Rasterfeinheiten (Tonwertzunahme). Hohe Rasterfeinheiten, wie sie im Offsetdruck verwendet werden, können im Siebdruck kaum in der gleichen Qualität gedruckt werden. Die Wahl einer geeigneten Rasterfeinheit sollte in Zusammenarbeit mit der Druckerei geklärt werden. Siebdruckfarben Siebdruckfarben für gewerbliche und industrielle Anwendungen Für den Siebdruck werden sehr viele Farbsorten angeboten. Sie unterscheiden sich vor allem in ihren Haftungseigenschaften und Beständigkeiten auf verschiedenen Materialien (Bedruckstoffe wie Papiere, Kunststoffe, Textilien, Metalle, Glas etc.) und in ihrem Trocknungsverhalten. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen physikalisch und chemisch-reaktiv trocknenden Siebdruckfarben. Bei physikalisch trocknenden Farben verdunstet ein Lösemittel aus dem gedruckten Farbfilm, während bei chemisch-reaktiven Farben – wie es der Name sagt – die Trocknung (besser: „Aushärtung“) durch eine chemische Reaktion erreicht wird. Lösemittelfarben (physikalisch trocknend) Durch das Verdunsten des in der Farbe enthaltenen Lösemittels trocknen diese Farben zu einem festen Farbfilm aus. Die meisten Lösemittelfarben enthalten organische Lösemittel (es sind aber auch wasserverdünnbare Siebdruckfarben erhältlich). Nachteilig bei Lösemittelfarben ist die Belastung der Raumluft durch das aus der Farbe verdunstenden Lösemittels. Lösemittelfarben werden je nach Farbsorte oft zum Bedrucken von Papier und Karton und für diverse Kunststoffe eingesetzt. Es werden dazu teilweise auch wasserverdünnbare Farben angeboten, die aber keine große Verbreitung gefunden haben. Wasserverdünnbare Farben werden hingegen oft im Textildruck oder im Bereich des Kunstdrucks (Serigrafien) bzw. im Schulunterricht eingesetzt. Lösemittelfarben sind meistens nicht druckfertig, das heißt, sie müssen vor dem Drucken mit einem geeigneten Lösungsmittel verdünnt werden. Die Farbenhersteller bieten dazu für jede Farbsorte spezielle „Verdünner“ an. Damit beim Drucken von feinen Linien etc. die Farbe nicht in den Sieböffnungen eintrocknet und diese verstopft, werden auch langsam verdunstende „Verzögerer“ angeboten. Es erfordert eine gewisse Erfahrung, die Farbe mit einer geeigneten Menge Verdünner oder Verzögerer druckfertig zu machen. Zu stark verdünnte Farben ergeben keinen randscharfen Druck, sie neigen zum „Schmieren“, zu dickflüssige Farbe ist hingegen zu „klebrig“ und verschlechtert ebenfalls das Druckverhalten. Chemisch-reaktiv trocknende FarbenZweikomponentenfarben: Diese härten durch die Beigabe eines Katalysators („Härter“) zu einem festen Farbfilm mit hervorragender Beständigkeit aus. Die Aushärtungszeit dauert mehrere Stunden bis Tage. Zweikomponentenfarben werden für den Druck auf Metalle (zum Beispiel Aluminiumschilder), Glas, synthetische Textilien etc. eingesetzt. Kunstharzfarben trocknen durch die Aufnahme von Luftsauerstoff (vergleichbar mit Künstlerölfarben). Die Aushärtungszeit dauert mehrere Stunden bis Tage. Kunstharzfarben sind hochglänzend und haften hervorragend auf Glas und Metall. UV-Farben enthalten keine verdunstenden Lösemittel. Sie härten durch die Bestrahlung mit starkem UV-Licht in Sekunden zu einem festen Farbfilm aus. Sehr geschätzt wird auch, dass UV-Farben während des Druckens nicht in den Maschenöffnungen der Schablone eintrocknen. Geeignete UV-Farben haften auf vielen Kunststoffen, auf Papier, Glas, Metall etc. Aufgrund dieser Eigenschaften sind UV-Farben oft eine Alternative zu Lösemittelfarben. … und viele SpezialfarbenDie Anwendungsmöglichkeiten des Siebdrucks sind sehr groß, daher werden von den Farbenherstellern für jede spezielle Druckarbeit geeignete Druckfarben angeboten. Im Textildruck werden oft Plastisolfarben eingesetzt. Sie enthalten PVC-Pulver und einen flüssigen Weichmacher. Bei höheren Temperaturen ab etwa 170 °C absorbiert das PVC-Pulver den Weichmacher, die Farbe geliert. Plastisolfarben besitzen oft eine gute Deckkraft auf dunklen Textilien und können beim Drucken nicht in den Maschenöffnungen der Schablone eintrocknen. Zum Bedrucken von Glas und Keramik eignen sich spezielle Schmelzfarben, die sich nach dem Einbrennen bei 600 bis 1200 °C dauerhaft mit dem Substrat verbinden. Keramische Gold- oder Silberfarben enthalten Edelmetalle (Gold, Platin). In der Lebensmittelindustrie wird der Siebdruck zur Dekoration von Süßigkeiten (Pralinen, Marzipan etc.), zum Belegen von Brötchen mit Butter, Schokolade oder Marmelade oder zum Verzieren von Torten und Kuchen mit Zuckergussdekor eingesetzt. Weitere Spezialfarben sind: Duftfarben, Perlglanzfarben, Thermochromicfarben (verändern ihren Farbton bei Wärme), Klebstoffe, druckbare Schutzfolien, Glimmer, elektrisch leitfähige Druckpasten, Rubbelfarben (für Wettbewerbskarten), Tagesleucht-, Nachleucht- und Selbstleuchtfarben, Relieflacke (für Blindenschriften oder dekorative Effekte), Metallicfarben mit spiegelähnlichem Glanz etc. Auf Banknoten findet man optisch-variable Tinten, die im fertigen Zustand abhängig vom Betrachtungswinkel eine unterschiedliche Farbe haben. Siebdruckfarben für schulische und künstlerische Anwendungen Oft wird das Siebdruckverfahren im Schulunterricht eingesetzt, wenn die Techniken der verschiedenen Druckverfahren unterrichtet werden. Vor allem beim Drucken mit Kindern, Jugendlichen oder auch mit Studenten ergibt sich dabei das Problem, dass die Dämpfe lösemittelhaltiger Siebdruckfarben, die im Gewerbe verwendet werden, einer gewissen Gewöhnung bedürfen und von den Unterrichtsteilnehmern teilweise als unangenehm empfunden werden. Hinzu kommt, dass Schulen oft nicht über Ablüftungsvorrichtungen verfügen, wie sie in gewerblichen Siebdruckereien vorgeschrieben und installiert sind. Als Alternative zu den Lösemittelfarben bieten sich wasserverdünnbare Siebdruckfarben an. Sie weisen keine Geruchsbelästigung auf und die Siebe sind auf einfache Art mit Wasser zu reinigen. Es sind zwei Arten von wasserverdünnbaren Siebdruckfarben erhältlich: Acrylfarben und Gouachefarben. Acrylfarben haben oft das Problem, dass sie beim Eintrocknen im Sieb (ein mögliches Problem während des Druckens) kaum mehr mit Wasser aus dem verstopften Sieb entfernt werden können. Gouache-Farben verhalten sich diesbezüglich problemloser. Das grundsätzliche Problem aller Wasserfarben ist allerdings, dass sich Papiere nach dem Bedrucken zu wellen beginnen. Es können nur dickere bzw. speziell gestrichene Papiere oder Kartons bedruckt werden. Serigrafie (Siebdruck und Kunstgrafik) Der Begriff „Serigrafie“ bezeichnet den Druck von Kunstgrafik im Siebdruck. Serigrafien werden vom Künstler selbst angefertigt oder in enger Zusammenarbeit mit einer Siebdruckerei. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Siebdruck in den USA zunehmend für den Druck von Schildern, Plakaten oder Displays eingesetzt. Teilweise wurden solche Arbeiten sehr aufwendig, in hoher Farbanzahl und sorgfältiger Gestaltung, hergestellt. Man sprach hier von „Commercial Art“, was man heute als „Gebrauchsgrafik“ bezeichnen würde. Bekannt sind beispielsweise vielfarbige Kalenderbilder, die seit den 1920er Jahren offenbar in hohen Auflagen gedruckt wurden. Solche frühen grafischen Siebdruckarbeiten sind zwar nicht als Kunstgrafik anzusehen, wohl aber als „gehobene, populäre Gebrauchsgrafik“. In Europa wurden mehrere solche Arbeiten ab 1927 vom Kunstmaler Hans Caspar Ulrich entworfen und in seiner Firma Serico in Zürich gedruckt. Zwischen 1923 und 1930 druckte Gilbert Tonge in Los Angeles Gemälde-Repliken in enger Zusammenarbeit mit den Künstlern. Es handelte sich um Werke der kalifornischen Impressionisten Sayre, Lauritz, Payne, Stirling und Gleason. Die Gemälde wurden in Gouache in etwa 30 Farben und in Öl in bis zu 50 Farben reproduziert, um den Originalcharakter der Kunstwerke zu erreichen. Diese Druckarbeiten wurden in für den Siebdruck hohen Auflagen gedruckt und durch Werbeinserate zum Kauf angeboten. Um 1933 wurde in den USA die Siebdrucktechnik teilweise an Kunstschulen unterrichtet. Auch hier wurde nicht die direkte Umsetzung von künstlerischen Ideen ins Siebdruckverfahren gesucht, sondern Plakatgrafik („Commercial Art“) gedruckt. In der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre versuchte die amerikanische Regierung im Rahmen des WPA (Works Progress Administration) den US-Kulturschaffenden (Maler, Bildhauer, Schriftsteller, Fotografen etc.) durch staatliche Aufträge ihre Existenz zu sichern. Dazu gehörte auch das „Federal Art Project“ und dessen um 1935 gegründete „Graphic Division“. Dort wurde der Druck von Kunstgrafik (in Lithografie, Holzschnitt etc.) und der Plakatdruck (zum Teil im Siebdruck) gefördert. Der New Yorker Künstler Anthony Velonis war einer der Ersten, der das preisgünstige und relativ einfach zu handhabende Siebdruckverfahren vom Plakatdruck in den Bereich der Kunstgrafik übernahm. Velonis veröffentlichte 1938 zwei technische Anleitungen zur Anwendung des Siebdrucks zum Druck von Kunstgrafik. Im gleichen Jahr wurde von Velonis und sechs Künstlern des Federal Art Projects die „Silk Screen Unit“ gegründet, die sich mit der Umsetzung des Siebdruckverfahrens für künstlerische Anwendungen beschäftigte. In Abgrenzung zum gewerblichen Siebdruck (Silk Screen, Screen Printing) wurde um 1940 für den künstlerischen Siebdruck der Begriff „Serigraphy“ eingeführt. Um 1949 wurden in Deutschland in den „Amerikahäusern“ der US-Zone erstmals amerikanische Siebdrucke und Serigrafien ausgestellt, was offenbar auf großes Interesse stieß. Das Verfahren wurde nun auch von deutschen Künstlern übernommen. Insbesondere Max Ackermann, Willi Baumeister, Rupprecht Geiger und Fritz Winter entdeckten das neue künstlerische Medium für sich und trugen – zusammen mit experimentierfreudigen Druckern wie Luitpold Domberger, Hans-Peter Haas und Roland Geiger – zu seiner weiteren Verbreitung bei. Ab den 1950er Jahren wurde das Siebdruckverfahren dann in vielen Kunstrichtungen zum Druck von Grafik eingesetzt, beispielsweise von Künstlern, die der Optical Art zugerechnet werden (z. B. Victor Vasarely), sowie von Vertretern der Pop Art (Roy Lichtenstein, Andy Warhol, Tom Wesselmann, Eduardo Paolozzi, Joe Tilson, Peter Phillips und andere). Auch im Bereich der Konkreten Kunst mit ihren wichtigsten Vertretern wie Max Bill, Richard Paul Lohse oder Anton Stankowski wurde das Verfahren zur Herstellung von Druckgrafik bevorzugt eingesetzt. Eine der bekanntesten Vertreterinnen der Serigrafie in der Tiermalerei ist die US-Amerikanerin Anne Senechal Faust, die mit wenig Schablonen auskommt, um einen charakteristischen 3D-Effekt zu erzielen. Eine verfahrenstechnische Trennung zwischen gewerblich-industrieller und künstlerischer Anwendung bestand im Siebdruck nie. Im Hoch-, Tief- und Flachdruck unterscheiden sich hingegen industrielle und künstlerische Anwendungen wesentlich in ihrer drucktechnischen Ausführung. Dies führte dazu, dass der Siebdruck im Kunsthandel während langer Zeit oft als „zweitklassige“ Drucktechnik eingeschätzt wurde. Oft wurden beispielsweise Siebdruckreproduktionen im Vierfarbenrasterdruck als „Serigrafien“ verkauft. Um den Anforderungen einer Siebdruck-Originalgrafik gerecht zu werden, wurde die Forderung geäußert, dass der Künstler das Motiv von Hand (oder mit Schneidefilmen) direkt auf das Sieb übertragen sollte. Diese Forderung macht aber wenig Sinn, da die künstlerischen Möglichkeiten dadurch technisch stark eingeschränkt würden. Zudem würde bei einer Verletzung des Gewebes die künstlerische Vorarbeit unbrauchbar, das Sieb müsste mit entsprechendem Zeitaufwand neu angefertigt werden. Beim Druck von Serigrafien sollten vom Künstler folgende Aspekte beachtet werden: Das Motiv kann direkt auf das Sieb, aber auch auf eine transparente Folie gezeichnet oder ab Computerdaten auf Filme ausbelichtet werden (die Folien bzw. Filme werden dann fotografisch auf das Sieb kopiert). Die Druckform soll nur für den Druck der Kunstgrafik verwendet werden, nicht aber für den Druck von zusätzlicher Werbung (beispielsweise Ausstellungsplakate). Die Druckbogen müssen signiert und nummeriert werden, eine hohe Auflage (Bogenanzahl) soll vermieden werden. Rasterdrucke sollten nur dann eingesetzt werden, wenn dies die künstlerische Umsetzung des Motivs erfordert (reine „Fotodrucke“ im Vierfarbenrasterdruck werden oft als „Reproduktionen“ eingestuft). Fotografisch hergestellte Filme oder gezeichnete Kopiervorlagen sollten nach dem Druck vernichtet werden, damit ein unerlaubter Nachdruck nicht mehr möglich ist. Experimente mit den großen Möglichkeiten des Siebdruckverfahrens (Lasuren, deckende Farben, Reliefdruck, Farbwechsel, Irisdruck etc.) unterstützen oft die Ausdruckskraft einer Siebdruckgrafik. Siebdruck in der Elektronikindustrie Die Herstellung gedruckter Schaltungen (Leiterplatten) im Siebdruckverfahren lässt sich am einfachsten durch eine kleine Rückschau in die Geschichte beschreiben. Entwickelt wurde dieses bahnbrechende Verfahren vom Österreicher Paul Eisler. Eisler studierte an der Technischen Universität in Wien. Zur damaligen Zeit wurden die Bauelemente in elektrischen Schaltungen durch Drähte miteinander verbunden. Eisler schlug stattdessen vor, eine isolierende Platte an ihrer Oberfläche mit einer dünnen Kupferschicht zu versehen, aus der die Verbindungen der Bauteile herausgeätzt werden sollten. Auf die Kupferschicht wurden mit einem säurefesten Lack im Siebdruckverfahren Bahnen aufgedruckt. Anschließend wurde die frei liegende Kupferschicht weggeätzt, so dass nur noch die Leiterbahnen übrig blieben und die Leiterplatte dann mit den Bauteilen bestückt werden konnte. Eislers Erfindung hatte den Vorteil, dass die Produktion elektrischer Geräte vereinfacht und damit rationalisiert werden konnte und zugleich die Geräte kompakter gebaut werden konnten. Gedruckte Schaltungen wurden zuerst in der Kriegsindustrie der Alliierten eingesetzt. Nach dem Krieg wurde das Verfahren zunehmend in der Produktion von Unterhaltungselektronik angewandt. Mit dem Niedergang der europäischen Unterhaltungselektronik-Industrie und deren Verlagerung in ostasiatische Länder seit den späten 1970er Jahren entwickelte sich auch die Produktion von Leiterplatten in Europa stark rückläufig. Heute werden Leiterplatten in hohen Auflagen für Computer, Unterhaltungselektronik, Mobiltelefone etc. hergestellt. Die immer kleiner gebauten Geräte verlangen vom Siebdruckverfahren, die Grenze des drucktechnisch Möglichen zu erreichen. Oberflächenmontierte Bauteile (Surface Mounted Device, „SMD“) ermöglichen eine weitere Reduzierung der Gerätebauweise: Die elektronischen Teile werden nicht mehr in vorgebohrte Löcher in die Leiterplatine gesteckt und verlötet, sondern auf im Siebdruck aufgedruckte Lötpunkte gesetzt und verschmolzen. Ein weiteres Einsatzgebiet des Siebdrucks in der Elektronikindustrie ist die Herstellung von Platinen in Dickschichttechnik. Hier werden elektrische Widerstände oder Leiter direkt mit stromleitenden Druckpasten in hoher Schichtdicke aufgedruckt – teilweise unter Verwendung von Edelmetallen. Hergestellt werden beispielsweise elektrische Regler oder aufheizbare Beschichtungen (z. B. für Heizkannen). Trotz der zunehmenden Verbreitung berührungssensitiver Monitore werden oft Tastaturfolien als Bedienungsoberfläche für elektrische Geräte eingesetzt. Solche Folien werden als Eingabetastatur bei Getränkeautomaten, Kaffeemaschinen und vielen weiteren Geräten verwendet. Die Tastaturen bestehen aus einer Folie, die auf ihrer Rückseite im Siebdruckverfahren mit dem grafischen Abbild der Tastatur bedruckt wurde. Hinter dieser grafisch gestalteten Benutzeroberfläche befinden sich Leiterbahnen und elektrische Kontaktpunkte – ebenfalls im Siebdruckverfahren aufgedruckt. Sie bewirken bei einem Fingerdruck auf die Tasten, dass die jeweiligen elektrischen Kontakte geschlossen und die gewünschte Funktion des Geräts ausgelöst wird. Literatur Karl Bachler: Serigraphie – Geschichte des Künstler-Siebdrucks. Verlag Der Siebdruck, Lübeck 1977. Claus W. Gerhardt – Geschichte der Druckverfahren, Teil 1: Prägedruck und Siebdruck, Copyright: Anton Hiersemann, Stuttgart, 1974 ISBN 3-7772 7421-6 Jacob Biegeleisen: Siebdruck. Hörnemann, Bonn 1971, 1978, 1986, ISBN 3-87384-446-X. Hartmut Büchel: Siebdruck Digest. Dräger Druck, Lübeck 1992, ISBN 3-925402-08-X. Jan van Duppen: Handbuch für den Siebdruck. Dräger Druck, Lübeck 1990, ISBN 3-925402-20-9. Kurt Friedrich Ehlers: Siebdruck. Callwey, München 1980, ISBN 3-7667-0546-6. Brad Faine: DuMonts Handbuch Siebdruck, Geschichte-Technik-Praxis. DuMont, Köln 1991, ISBN 3-7701-2653-X. Siegfried E. Fuchs: Die Serigraphie, ein technischer Leitfaden für Künstler und Sammler. Bongers, Recklinghausen 1981, ISBN 3-7647-0337-7. Claus Gerhardt: Geschichte der Druckverfahren. Teil 1. Prägedruck und Siebdruck. Hiersemann 1974, ISBN 3-7772-7421-6. Wolfgang Hainke: Siebdruck, Technik, Praxis, Geschichte. DuMont, Köln 1979, ISBN 3-7701-1071-4. Henrike Müller: Schablonen. DuMont, Köln 1994, ISBN 3-7701-3184-3 (das Buch enthält ein ausführliches Kapitel zur Geschichte des Schablonierens) Heinz-Josef Homann: Lehrbuch Siebdruck Druckformherstellung. Homann, Emmendingen 1995, ISBN 3-9805022-0-1. Steve Hoskins: Siebdruck mit wasserlöslichen Farben. Haupt, Bern 2002, ISBN 3-258-06424-5. Lothar Lang: Siebdruck. In: Der Graphiksammler. Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin, 1983. Insbes. S. 172–180 Guido Lengwiler: Die Geschichte des Siebdrucks. Niggli, Sulgen 2013, ISBN 978-3-7212-0876-4 André Peyskens: Die technischen Grundlagen der Siebherstellung. Millennium Edition. Hrsg. SAATI, Be.reich Siebdruck. Tecnografica Lomazzo, Como Ital. 1991, 2001 (mehrsprachig). Andreas Rombold: Siebdruck und Serigraphie. Urania, Stuttgart 2002, ISBN 3-363-00997-6. Hans Gerd Scheer: Siebdruck Handbuch. Dräger Druck, Lübeck 1999, ISBN 3-925402-41-1. Sefar: Siebdruckhandbuch. Sefar, Thal Schweiz 2005, ISBN 3-9523064-1-X. Uta Catharina Sienel: Der Siebdruck und seine Druckträger – Zur Materialität eines jungen Druckverfahrens. Herbert Utz Verlag, München 2008, ISBN 978-3-8316-0824-9. Siebdruckpraxis 1. Siebdruck-Partner, Tamm. Pragma COM, Agentur für Kommunikation, Ludwigsburg 2004. Siebdruckpraxis 2. Siebdruck-Partner, Tamm. Pragma COM, Agentur für Kommunikation, Ludwigsburg 2005. Deutschsprachige Fachzeitschriften: Der Siebdruck. Dräger Druck, Lübeck 1955ff. Deutscher Drucker. Deutscher Drucker Verlagsgesellschaft, Ostfildern 1894ff. Siebdruck-Infopost: SIP. Gruber, Rödermark 1985–1997, SIP: Fachzeitschrift für Textilveredlung und Promotion. Gruber, Rödermark 1999–2003, TVP: Fachzeitschrift für Textilveredlung und Promotion. Gruber, Eppertshausen 2004 ff., Internationale Fachzeitschriften: Screen Printing Magazine. st-mediagroup, Cincinnati OH, 1953 ff., . Signs of the Times. Magazine. st-mediagroup, Cincinnati OH, 1906 ff., . Weblinks Die Website enthält ein 70-seitiges PDF zur Entstehung des grafischen Siebdrucks. Museum zur Geschichte der Büromaschinen (Die Website enthält ein Kapitel zur Geschichte der Schablonenumdrucker – Direktlink zum Kapitel) Bundesinnung Print- und Digitalmedienhandwerk, deutschlandweiter Fachverband der Siebdrucker und Flexografen Einzelnachweise Druckverfahren Drucktechnik (Kunst) Verfahren (Textilveredelung) Design Durchdruck Buntpapier
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https://de.wikipedia.org/wiki/Oe-Cusse%20Ambeno
Oe-Cusse Ambeno
Die Sonderverwaltungsregion Oe-Cusse Ambeno ( RAEOA, auch Oecusse RAEO) ist eine Exklave Osttimors an der Nordküste des ansonsten indonesischen Westtimors. Kulturell, wirtschaftlich und auch familiär bestehen enge Verbindungen zwischen Oe-Cusse Ambeno und dem restlichen Westtimor. An der Küste Oe-Cusse Ambenos landeten 1515 die Portugiesen als erste Europäer auf der Insel Timor. Hier gründeten sie mit Lifau ihre erste Hauptstadt der Kolonie. Die Topasse, eine europäisch-malaiische Mischbevölkerung aus Flores und Solor, bauten in den namensgebenden Reichen Oecusse und Ambeno ihre Machtbasis aus. Sie kontrollierten lange Zeit den profitablen Sandelholz- und Bienenwachshandel und vertrieben 1769 sogar die Portugiesen nach Dili. Später kehrte das Gebiet der beiden Reiche wieder unter die portugiesische Oberhoheit zurück und blieb es auch, nachdem die Niederländer das umgebende Land ihrer Kolonie Niederländisch-Indien einverleibt hatten. Das später daraus entstandene Indonesien besetzte 1975 die Exklave als erstes Gebiet Portugiesisch-Timors, bevor einige Monate später die große Invasion in das restliche Osttimor begann. Das vom Guerillakrieg der osttimoresischen Unabhängigkeitsbewegung weitgehend verschonte Gebiet zerstörten indonesische Armee und pro-indonesische Milizen infolge des Unabhängigkeitsreferendums Osttimors 1999. Nach drei Jahren UN-Verwaltung wurde Osttimor unabhängig und Oe-Cusse Ambeno seine westlichste Provinz. Oe-Cusse Ambeno wird in der Verfassung von Osttimor ein administrativer und wirtschaftlicher Sonderstatus zugestanden. 2014 wurde zur Umsetzung des Sonderstatus die Behörde der Sonderverwaltungsregion Oe-Cusse Ambeno (, ARAEO) geschaffen. Außerdem wurde eine Sonderzone für soziale Marktwirtschaft (, ZEESM) eingerichtet, der auch die Insel Atauro angehört. Name Wie in Osttimor nicht ungewöhnlich, gibt es zahlreiche unterschiedliche Schreibweisen für den Namen der Region: Oe-Kusi, Oecusse, Ocussi, Oecússi, Oecussi, Oekussi, Oekusi, Okusi, Oé-Cusse. Die Schreibweisen mit „k“ leiten sich meist von Tetum oder anderen austronesischen Sprachen ab. Mit „c“ sind Schreibweisen, die sich am Portugiesischen orientieren. Inzwischen wird wieder im offiziellen Gebrauch der Doppelname Oecusse-Ambeno (auch Oecussi-Ambeno, Ocussi-Ambeno, Oecússi-Ambeno, Oe-Kusi Ambenu) verwendet, statt Oecusse allein. Selten wird die Exklave, wie in der indonesischen Besatzungszeit, nur Ambeno (Ambenu) genannt. Das historische timoresische Reich, das den Großteil des Territoriums der heutigen Sonderverwaltungsregion einnahm, hieß Ambeno und hatte seine Zentren in Tulaica und Nunuhenu. Oecusse ist der traditionelle Name der heutigen Hauptstadt Pante Macassar und ihrer Umgebung. Hier lag das zweite traditionelle Reich der Exklave mit Sitz in Oesono. „Oecusse“ und „Ambeno“ wurden schon in der portugiesischen Kolonialzeit als Synonyme für die Exklave verwendet. Später kam der Doppelname Oecusse-Ambeno auf. In der offiziellen Auflistung aller Verwaltungseinheiten Osttimors von 2009 wird der damalige Distrikt aber nur mit seinem Kurznamen „Oecusse“ bezeichnet. Eine reale politische Teilung der Sonderverwaltungsregion entlang der Grenzen der alten Reiche gibt es nicht. „Oe-Cusse Ambeno“ ist wieder offiziell im Ministerialen Diplom 16/2017 angegeben. Der Name „Oe-Kussi“ stammt aus dem lokalen Baikeno-Dialekt. „Oe“ bedeutet „Wasser“. Für „Kussi“ gibt es unterschiedliche Deutungen. Häufig wird es mit dem Namen einer bestimmten Art von traditionellen Tonkrügen gleichgesetzt, womit „Oe-Kussi“ in etwa „Wasserkrug“ bedeuten würde. Zu dieser Namensgebung gibt es eine Legende, um einen steinernen „Kussi“ im Suco Banafi. Andere Quellen geben an, dass Kussi ein einheimischer Herrscher von Ambeno war. Auch „Ambenu“ besteht aus zwei Wörtern. „Ama“ oder „am“ bedeutet „Vater“, beziehungsweise „König“. „Benu“ ist der Name zweier legendärer Herrscher der Region. Geographie Übersicht Oe-Cusse Ambeno hat eine Fläche von 813,62 km². Die Sonderverwaltungsregion ist außer im Norden, wo sie an die Sawusee grenzt, vollständig von indonesischem Staatsgebiet umgeben. Das restliche Territorium von Osttimor liegt 58 Kilometer Luftlinie weiter östlich; auf der Straße beträgt die Distanz über 70 Kilometer. Die Küstenlinie Oecusses ist etwa 50 km lang, die Landgrenze etwa 300 km. Im Osten und Süden liegt der indonesische Regierungsbezirk Nordzentraltimor. Im äußersten Westen reicht Oe-Cusse Ambeno bis an den Regierungsbezirk Kupang. Bis 2019 stritten sich Osttimor und Indonesien um die Área Cruz (Verwaltungsamt Passabe), bis man sich auf die Zugehörigkeit zu Osttimor einigte. Weiterhin umstritten sind das 1069 Hektar große Citrana-Dreieck mit dem Ort Naktuka (Verwaltungsamt Nitibe) und die Insel Fatu Sinai, 12 km vor der Küste des westlichsten Punkts der Sonderverwaltungsregion. Von Oe-Cusse Ambeno aus führen Grenzübergänge bei Bobometo (Verwaltungsamt Oesilo), Sacato (Verwaltungsamt Pante Macassar) und Passabe (Verwaltungsamt Passabe) nach Westtimor. Allerdings sind nur Bobometo und Sacato legale Übergänge. Oe-Cusse Ambeno ist in vier Verwaltungsämter (Posto Administrativo) mit insgesamt 18 Sucos und 63 Aldeias unterteilt. Die Verwaltungsämter sind Nitibe, Oesilo, Pante Macassar und Passabe. Die Hauptstadt Pante Macassar (Pante Makasar, Oecussi) befindet sich in dem als urban klassifizierten Suco Costa und liegt 281 km westlich von Dili. Der wichtigste Fluss ist der Tono. Er entspringt im Verwaltungsamt Oesilo und mündet bei Lifau in die Sawusee. Außerhalb der Regenzeit fällt der Fluss aber trocken. Abseits des Tonos besteht die Sonderverwaltungsregion aus einer Landschaft mit wasserarmen Hügeln von 800 bis Höhe. Der Nordosten Oe-Cusse Ambenos bildet die jüngste und wildeste Oberflächenstruktur der gesamten Insel und ist vulkanischen Ursprungs. Hier liegt im Verwaltungsamt Pante Macassar mit einer der höchsten Punkte Oe-Cusse Ambenos, der Sapu (Fatu Nipane). In Passabe steigt das Land kontinuierlich an und erreicht an der Südwestspitze des Verwaltungsamts mit dem Bisae Súnan bei den höchsten Punkt der Sonderverwaltungsregion. Weitere Berge sind der Manoleu () im Nordwesten von Nitibe und der Puas () in Passabe. In Oesilo befinden sich südlich des Ortes Saben (Suco Bobometo) die Schlammvulkane von Poto. Geologie Regionalgeologisch befindet sich die Insel Timor im Bereich des Äußeren Bandabogens. Der Bandabogen (Banda arc) entstand bei der Kollision der Australischen mit der Eurasischen Platte. Dabei wurden seit dem späten Miozän distale (landferne) Sedimente des australischen Kontinentalrandes südwärts auf proximale (landnahe) Gesteinskomplexe überschoben. Einzelne Gesteinsblöcke aus dem Untergrund werden im Zuge der Subduktionsvorgänge an bestehende Inselbogengesteine angegliedert (aggregiert). Der komplexe Falten- und Überschiebungsgürtel entwickelt sich bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt stetig weiter, da sich die Australische Platte durchschnittlich mit 70 Millimetern pro Jahr nordwärts unter die Eurasische Platte schiebt. Ausdruck dieser plattentektonischen Prozesse sind zahlreiche Erdbeben in dieser Region. Tektonostratigrafisch lassen sich in Oe-Cusse Ambeno drei Einheiten untergliedern. Die älteste Einheit, die genetisch dem australischen Kontinentalrand (Australian continental margin unit) zugeordnet werden kann, wird in Oe-Cusse Ambeno im Süden des Sucos Naimeco durch die triassische Aitutu-Formation gebildet. Die hell- bis dunkelgraue, karbonatisch – tonige Wechselfolge ist durch fein- bis grobgeschichtete Gesteine charakterisiert, in die zahlreiche Karbonat- und Chert-Knollen sowie zahlreiche Fossilien eingelagert sind. Das harte radiolaritische Calcilutit, das 80 % der Formation ausmacht, bildet schroffe Klippen, auf denen nur eine spärliche Vegetation wächst. 15 % des Gesteins der Aitutu-Formation besteht aus Fossilschalen und 5 % werden durch Calcarenite, Schillkalksteine, Quarzarenite, Radiolarite und stark bitumenhaltige Gesteine gebildet. Im Osten von Nitibe sind in einigen Gebieten Kalksteine der Dartollu-Formation aufgeschlossen, die sich im Eozän in seichten Meeresgewässern des australischen Kontinentalhanges gebildet haben. Die meist honigbraunen Biocalcarenite werden aus einer Mischung aus körnigen, kalkhaltigen Skelettfragmenten in einer Matrix aus Mikrit gebildet. Diese Gesteinsformation ist durch das Auftreten von zahlreichen Höhlensystemen gekennzeichnet, die auf eine intensive Verkarstung zurückgehen. Ein Großteil Oe-Cusse Ambenos besteht aus Gesteinen des sogenannten Bobonaro-Komplexes. Diese Gesteine entstanden im Ergebnis der Kollision der beiden Kontinentalplatten. Diese allochthone Gesteinsformation kommt nicht nur in der nächstgelegenen osttimoresischen Gemeinde Bobonaro vor, sondern ist eine der häufigsten Gesteinsformationen der gesamten Insel. Eingebettet in eine Matrix aus Tonstein sind chaotisch eingelagerte, lithologisch äußerst unterschiedliche, kantige bis abgerundete Felsbrocken aus älteren geologischen Formationen (Perm bis unteres Miozän), die am australischen Kontinentalhang gebildet wurden. Während die vorwiegend dunkle, braune und grüne Tonmatrix die Sedimentation im Becken während der Bildung präsentiert, wurden die Gesteinsbrocken, vom Kontinentalhang durch submarine Erdbeben ausgelöst, in die weiche Tonmatrix eingelagert. Verschiedene Gesteinstypen können dabei sehr unregelmäßig in der Tonmatrix verteilt sein. Derartige Bildungen werden genetisch als Olisthostrome bezeichnet. Heftige Bodenbewegungen und tektonische Unruhe während der Bildung der Olisthostrome ab dem späten Miozän werden durch eine intensive Verschuppung der Gesteine und die Ausbildung von zahlreichen Harnischstriemen auf den eingebetteten Felsbrocken (Olistholithe) angezeigt. Die wesentlich härteren Olistholithe bilden dabei mehr als 90 % der Felsen der Region aus. Die Größe der eingelagerten Fremdgesteine reicht von wenigen Millimetern bis zu 500 Metern Durchmesser. Die jüngsten Ablagerungen sind an den Mündungen von Tono im Zentrum und Noel Besi an der Westgrenze zu finden, die sich in syn- und postorogenen Sedimentbecken seit dem Jüngsten Miozän abgelagert haben. Diese und die Küste Pante Macassars sind mit jungen Alluvialböden (Schwemmland) bedeckt. Im Norden Pante Macassars und an der Westgrenze gibt es noch diverse Gebiete, von denen es keine datierbaren geologischen Daten gibt. Bei einer Rohstoffprospektion im Jahr 2002 wurden diverse Mineralien und Bodenschätze in Oe-Cusse Ambeno kartiert. So gibt es in Usitaco Basalt- und Dioritvorkommen, die als Werksteine geeignet sind. An der Küste finden sich verschiedene Metallvorkommen: in Nipane Gold, in Beneufe Eisen und an verschiedenen Stellen Kupfer. Letzteres wurde bereits in den 1980er Jahren von einem multinationalen Konzern auf eine Verwertung hin geprüft. Weitere nutzbare Rohstoffe in der Sonderverwaltungsregion sind Gips, Kaolin, Kalkstein, Ton, Sand, Bentonit, Mergel und Kies. Bei Pante Macassar wird Meersalz gewonnen. Entfernungen Die Stadt Pante Makassar liegt von der Landeshauptstadt Dili 210 Kilometer entfernt. Klima Die Trockenzeit herrscht zwischen Mai und November. An der Küste setzt der Regen teilweise erst im Januar ein. In der Regenzeit kommt es vor allem im Hochland zu schweren Regenfällen, die an den Flüssen zu Überschwemmungen führen, besonders in Citrana und Passabe. Passabe wird in dieser Zeit völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Die jährliche Niederschlagsmenge beträgt hier zwischen 2000 und 2500 mm. In Oesilo und Nitibe fallen jährlich etwa 1500 und 2000 mm Regen, in Pante Macassar sind es 1000 bis 1500 mm. In der Regenzeit nimmt auch die Gefahr durch die Malaria zu. Bereits einen Monat nach dem Ende der Regenzeit verliert die Landschaft wieder ihre grüne Farbe und dörrt aus. Die höchsten Temperaturen werden im November mit bis zu 32,4 °C gemessen, die niedrigsten im Juli mit 22,4 °C. Fauna und Flora Die einheimische Froschwelt besteht hauptsächlich aus Vertretern der Reisfrösche Fejervarya und einem Frosch, der dem Weißbart-Ruderfrosch ähnelt (Polypedates cf. leucomystax). Zahlreich ist auch die vom Menschen vor wenigen Jahren eingeführte Schwarznarbenkröte (Bufo melanostictus). Auffällig ist der Timor-Flugdrache (Draco timorensis), der mit seinen Flughäuten von Baum zu Baum segeln kann. An Geckos finden sich der Tokeh (Gekko gecko), der Asiatische Hausgecko (Hemidactylus frenatus), der Saumschwanz-Hausgecko (Hemidactylus platyurus), der Roti-Hausgecko (Hemidactylus tenkatei) und eine unbestimmte Art der Bogenfingergeckos (Cyrtodactylus). Von einer wissenschaftlichen Expedition von 2010 wurde von drei Arten von Skinken in Oe-Cusse Ambeno berichtet: eine nicht näher bestimmte Art der Regenbogen-Skinke (Carlia), Vielstreifen-Skink (Eutropis cf. multifasciata) und Elbert-Smaragdskink (Lamprolepis cf. smaragdina). Daneben fand man die Riesenschlange Netzpython (Malayopython reticulatus) und die Seeschlange Nattern-Plattschwanz (Laticauda colubrina). Möglicherweise gibt es hier auch die Timor-Wasserpython (Liasis mackloti). Für Wasser- und Küstenvögel sind zwei Feuchtgebiete in Oe-Cusse Ambeno bedeutend: die Mündung des Tono in Lifau mit 10 Hektar und ein Sumpfgebiet bei Pante Macassar mit 200 Hektar. Hier leben neben verschiedenen Entenarten, Zwergseeschwalben (Sterna albifrons), Rifftriele (Esacus giganteus), Malaienregenpfeifer (Charadrius peronii) und Königslöffler (Platalea regia). Insgesamt sind 30,8 % der Sonderverwaltungsregion mit Wald bedeckt, bei dem es sich meistens um Flachland-Trockenwald handelt. Im Westen gibt es letzte Reste von ursprünglichem Küstenwald. Der Suco Beneufe, der schnell auf eine Meereshöhe von ansteigt, weist aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte und schlechten Zugänglichkeit die größte Vielfalt an Laubbäumen in Oe-Cusse Ambeno auf. Am häufigsten sind hier Pterocarpus vertreten. An trockenen Stellen finden sich Gyrocarpus americanus, in der Nähe von Wasser Corypha utan. Harthölzer, wie Teak, gibt es noch in Bobometo (Verwaltungsamt Oesilo). 52 % des Waldes werden wegen Brandrodung und illegalem Holzeinschlag als bedroht eingestuft. Weit verbreitet ist Eucalyptus alba. Die letzten Bestände des Sandelholzbaums (Santalum album) verschwanden in der indonesischen Besatzungszeit. In dieser Zeit verzehnfachte sich die Exportmenge aus Oe-Cusse Ambeno gegenüber jener in der portugiesischen Kolonialzeit. Am Unterlauf des Tono und einem kleinen Abschnitt am Noel Besi werden die Feuchtgebiete für den Reisanbau genutzt, die anderen Ackerflächen liegen zumeist im Zentrum Oe-Cusse Ambenos. Daneben gibt es noch kleinere Savannenflächen, die größte südlich der Hauptstadt Pante Macassar. Einwohner Für 2022 wird eine Bevölkerungszahl von 80.685 Einwohnern angegeben, davon waren 40.991 Männer und 39.694 Frauen. Im urbanen Teil von Pante Macassar leben 15.240 Menschen. Auf 103 Männer kommen 100 Frauen 2011 hatte Oe-Cusse Ambeno 67.266 Einwohner. Sie leben zum größten Teil an den Ufern des Tono. Mit 2,3 % jährliches Bevölkerungswachstum zwischen 2015 und 2022 hat Oe-Cusse Ambeno nach der Landeshauptstadt Dili (2,7 %) das zweithöchste Bevölkerungswachstum in Osttimor. Zwischen 1990 und 2004 wuchs die Zahl der Einwohner jährlich noch um 1,16 %. Hatte 2004 in Passabe jede Frau durchschnittlich 5,54 Kinder, stieg die Anzahl über 5,92 in Pante Macassar und 6,76 in Oesilo, bis auf 6,88 Kinder pro Frau in Nitibe an (Landesdurchschnitt 6,99). Die Kindersterblichkeit lag 2002 in Passabe bei 80 Todesfällen pro 1000 Lebendgeburten (1996: 78), in Oesilo bei 115 (133), in Nitibe bei 119 (137) und in Pante Macassar bei 122 (119). Der Landesdurchschnitt betrug 98. Pante Macassar und Passabe sind zwei von 14 damaligen Subdistrikten, in denen die Kindersterblichkeit entgegen dem Landestrend anstieg. Der Altersdurchschnitt in Oe-Cusse Ambeno liegt bei 18,8 Jahren (2010). Die Einwohner gehören größtenteils zu den Atoin Meto (Atoni), der größten ethnischen Gruppe in Westtimor. Dabei wird in der Sonderverwaltungsregion zwischen den Bewohnern des Hochlandes und des Tieflandes unterschieden. Das Verhältnis der Gruppen ist meist friedlich, ab und zu kommen aber Spannungen zum Vorschein. Gesprochen wird zumeist Uab Meto (Dawan), das auch im indonesischen Teil Westtimors die häufigste Sprache ist. 59,7 % nannten 2004 in Oe-Cusse Ambeno als ihre Muttersprache Baikeno, einen Dialekt des Uab Meto. Die Baikenosprecher bilden die größte Bevölkerungsgruppe in den Verwaltungsämtern Pante Macassar und Passabe, in Nitibe und Oesilo herrscht der Atoni-Dialekt vor. Allerdings muss man bei diesen Angaben aus Volkszählungen berücksichtigen, dass viele Einwohner Oe-Cusse Ambenos die Bezeichnungen Uab Meto, Baikeno und Dawan als Synonyme verwenden und keinen Unterschied zwischen Sprache und Dialekt machen. 2015 wurde in der Volkszählung kein Unterschied zwischen den verschiedenen Bezeichnungen gemacht, so dass man 98,1 % Baikeno-Muttersprachler registrierte. Tetum, Indonesisch und Portugiesisch sind ebenfalls verbreitet, allerdings nennen lediglich 1,6 % der Einwohner Tetum als ihre Muttersprache, Muttersprachler von Bahasa Indonesia und Portugiesisch sind eine verschwindend geringe Minderheit. Berücksichtigt man auch die Zweitsprachen, so sprachen 2015 54,7 % Tetum, 34,5 % Bahasa Indonesia, 24,2 % Portugiesisch und 9,6 % Englisch. Jeder, der europäische Kleidung trägt, wird schlichtweg als malai („Ausländer“) bezeichnet, was auch in anderen Teilen Timors üblich ist. Kompliziert sind die Bezeichnungen Kaes muti und Kaes metan. Kaes bedeutet in Uab Meto eigentlich „Fremder“, in Oe-Cusse Ambeno aber bezeichnet es eher jemanden, der anders und manchmal hochgestellt ist. So kann eine Frau ihren Ehemann so nennen oder ein Dorfbewohner einen Beamten oder jemanden aus einem anderen Dorf. Muti bedeutet „weiß“ und metan „schwarz“. Dabei sind die Definitionen, wer weiß und wer schwarz ist, in Westtimor allgemein sehr vielschichtig. Mit den niederländischen Kaes muti verbündete Timoresen trugen weiße Streifen auf ihrer Kleidung, im Gegensatz zum Schwarz der Timoresen mit portugiesischer Abstammung. Schwarz war auch die Farbe Wehales, des alten kulturellen Zentrums Timors. Weiß wird mit dem Äußeren in Verbindung gebracht, schwarz mit dem Inneren. In Ritualen gilt Schwarz als anziehend, weiß als abstoßend. Beispielsweise soll das Winken mit einem schwarzen Tuch Regen bringen, ein weißes Tuch beendet die Niederschläge. In Oe-Cusse Ambeno kann man die Farben nicht als Beschreibung der Hautfarbe verwenden. Kaes muti werden Nicht-Timoresen genannt, egal welcher Hautfarbe. Als nach der indonesischen Besetzung UN-Kräfte aus Afrika und Ozeanien im Land waren, wurden auch sie als weiße Fremde bezeichnet. Kaes metan werden in Oe-Cusse Ambeno die Bewohner des Flachlands genannt (manchmal ist dies auch eine Eigenbezeichnung), während die Hochlandbewohner sich als Atoni sehen. Beide Gruppen sprechen verschiedene Dialekte: Baikeno wird an der Küste, Atoni im Hochland gesprochen. Die soziale Unterscheidung geht so weit, dass bei einigen Familien im Hochland die Heirat mit Angehörigen einer bestimmten Abstammungslinie der Kaes metan verboten ist. Aufgrund von Konflikten in der Vergangenheit wurde dieses Verbot auf alle Kaes metan ausgedehnt. Auch wenn Kaes metan in die Berge ziehen, bleibt die kulturelle Unterscheidung über Generationen. Bei den Kaes metan werden traditionell Land und anderes Eigentum in der weiblichen Linie weiter vererbt, wobei das jüngste gegenüber den älteren Kindern bevorzugt wird. Männer zogen noch bis zur vorigen Generation immer nach der Hochzeit zur Familie der Frau (Matrilokalität). Im Hochland hat das älteste Kind das Vorrecht, ohne Berücksichtigung des Geschlechts. Die Volkszählung 2010 ergab, dass 99,3 % der Einwohner Katholiken und 0,6 % Protestanten sind. Außerdem gab es in Oe-Cusse Ambeno 36 Hindus, 21 Muslime, 10 Anhänger der traditionellen Religion Timors und einen Buddhisten. Bei der Volkszählung 2015 registrierte man 99,50 % Katholiken, 0,39 % Protestanten, 44 Hindus, 16 Muslime, vier Buddhisten und keinen offiziellen Anhänger des alten Glaubens mehr. 12 Personen machten andere Angaben. Jährlich findet eine Karfreitagsprozession (Procissão do Ama Senhor Morto) in Lifau statt, zu der mehr als tausend Christen kommen, auch aus dem indonesischen Westtimor. Dabei wird die Kreuzigung Jesu in einem Schauspiel nachgestellt. Im Gegensatz zum restlichen Osttimor kommt es hier noch immer zu Fällen von Lepra, auch weil Bewohner moderne Behandlungsmethoden ablehnen. 2003 hatte Oe-Cusse Ambeno laut International Leprosy Mission die höchste Infektionsrate weltweit. Weitere verbreitete Krankheiten sind Malaria und Tuberkulose. Dengue kam in den letzten Jahren, im Gegensatz zu anderen Regionen Timors, in Oe-Cusse Ambeno nicht vor. Die Analphabetenrate betrug 2015 30,3 % (Frauen: 31,0 %; Männer: 29,6 %), die höchste im Land. 2004 lag sie noch bei 61,9 %. Von den Einwohnern, die drei Jahre oder älter sind, besuchten 2015 34,7 % eine Schule. 21,8 % hatten die Schule verlassen. Nie eine Schule besucht haben 40,8 %; der Landesdurchschnitt liegt bei 28,9 %. 3,0 % der Einwohner Oe-Cusse Ambenos haben nur die Vorschule besucht, knapp ein Drittel nur die Grundschule. Weiterführende Schulen haben 17,5 % der Einwohner abgeschlossen. Ein Diplom oder abgeschlossenes Studium können 3,3 % vorweisen, was weniger als der Hälfte des Landesdurchschnitts entspricht. In der Sonderverwaltungsregion arbeiten 525 Lehrer und 40 Personen in der Schulverwaltung der Sonderverwaltungsregion. Es gibt 68 Grundschulen und vier Schulen der Sekundärstufe. Zu Problemen führt, dass die meisten Lehrer kein Portugiesisch sprechen. Auch Uab Meto sprechen nicht viele, obwohl es seit 2012 eine Vorgabe gibt, dass der Unterricht in der Muttersprache erfolgen soll. Die meisten Lehrer benutzen Tetum oder Indonesisch. Kultur Übersicht Oe-Cusse Ambeno gilt als sehr traditionell. Adat, der alte kulturelle Kodex, hat hier noch mehr Einfluss als in den Regionen Osttimors. Gerade die Bergregion ist sehr isoliert. Teilweise gab es hier mit der modernen Welt erst in den 1950er Jahren den ersten Kontakt und in einigen Dörfern hat man nie einen portugiesischen oder indonesischen Beamten gesehen. Selbst die Zivilverwaltung des unabhängigen Osttimors erreichte teilweise erst 2003 die Bergbewohner. Viele Bewohner oder ihre Vorfahren im Flachland Oe-Cusse Ambenos sind erst vor wenigen Jahrzehnten aus dem Bergland an die Küste umgesiedelt. Allerdings bleibt für diese Menschen das Hochland das kulturelle Zentrum. Hier stehen rituelle Häuser und liegen heilige Stätten, wie die Gräber der Urahnen. Zu traditionellen Festlichkeiten kehren sie in die Region ihrer Herkunft in den Bergen zurück. Zu den Festen gehören die jährlichen Fruchtbarkeitsriten, das rituelle Herrichten der Friedhöfe, Opfergaben in Krankheitsfällen oder das Vergraben der Nabelschnur von Neugeborenen. Die Zeit der Feste fällt in die trockenen Monate von Juli bis Oktober, wenn die Feldarbeit zum Erliegen kommt. Vor allem Hochzeiten finden dann statt, aber auch für den Hausbau nutzt man diese Zeit. Regional können sich Namen, Daten und Riten bei den traditionellen Festen stark unterscheiden. Eine Besonderheit in Oe-Cusse Ambeno ist das verbreitete Nahrungstabu. Je nach Clanzugehörigkeit (kanaf oder fama) werden bestimmte Lebensmittel nicht gegessen, was Meeresfrüchte, Kokosnüsse oder auch Eier betreffen kann und ein Grund dafür ist, dass die Fischerei hier wenig entwickelt ist. Grundnahrungsmittel sind Reis, Maismehl (U-saku), Maniok, Sago, Sorghumhirse und Süßkartoffeln. Bohnen, Salate und Obst ergänzen den Speiseplan. Fleisch wird fast nur zu festlichen Anlässen gegessen. Weit verbreitet ist das Kauen der Betelnuss. Jeder Clan verehrt bestimmte Pflanzen und Tiere und hat einen heiligen Ort, an dem die ersten Ahnen ihre Gräber haben. Über den Clan geordnet ist der Sapu, der die Clans eines Sucos vereint. Zwischen den Sapus in Oe-Cusse Ambeno gibt es kulturelle Unterschiede und auch der Baikenodialekt der Region unterscheidet sich im Akzent von Suco zu Suco. Einige Clans sind durch die Grenze zu Indonesien geteilt, halten aber Kontakt und führen ihre gemeinsamen Traditionen weiter. Traditionelle Kleidung, wie der Beti, der gewebte Wickelrock der Männer oder Tais bei den Frauen sind auch heute noch Alltagskleidung, während dies in den anderen Regionen abnimmt. Farben und Muster repräsentieren dabei die Herkunft aus den 18 verschiedenen Sucos. Beit Bose, eine besondere Form der Tais, wird nur von den Liurai (Titel der timoresischen Stammesfürsten, regional hier auch Usif genannt) getragen. Ursprünglich stammt der Beit Bose aus Naimeko, heute findet er sich aber auch in anderen Sucos. Schon früh in ihrer Präsenz auf Timor vergaben die Portugiesen militärische Ränge an die Herrscher und andere Autoritäten der verschiedenen Reiche. So erhielt der Herrscher von Oe-Cusse Ambeno den Rang eines Tenente general (). Damit wollte man sie als Vasallen in eine koloniale Struktur einbinden und Hierarchien aufstellen. Noch heute verwenden, sowohl in Ost- wie in Westtimor, Personen vererbte Ehrentitel wie „Cornel“ (von Coronel, ) oder „Tenenti“ (von Tenente, ). In Oe-Cusse Ambeno ist dies aber selten der Fall. Die Verwendung ging zurück, nachdem die Portugiesen Oe-Cusse Ambeno verlassen hatten, um ihre neue koloniale Hauptstadt in Dili zu errichten. Die Topasse-Herrscher benutzten die lokalen Rängebezeichnungen. Architektur Ein Großteil der Wohnhäuser in Oe-Cusse Ambeno sind einfache Hütten, die noch immer aus Materialien aus der Natur errichtet werden (siehe Tabelle im Kapitel Infrastruktur und Verkehr). Die traditionellen Häuser haben dicke, zylindrische Dächer aus Palmwedeln der Gewang (Corypha elata) oder dem Alang-alang-Gras (Imperata cylindrica, ). Die Palmwedel werden vor allem an der Küste verwendet, aber auch einige Kilometer landeinwärts, da sich das Gras allein nicht besonders gut als Dachmaterial eignet. Gerade entlang der Hauptstraßen werden beide Materialien zusammen verwendet. Im äußersten Süden finden sich fast nur noch Grasdächer, da der Transport von Palmwedeln von der Küste aufwändiger ist als der von Alang-alang aus dem Hochland. Die Dachspitze ist teilweise mit Rinde abgedeckt. Das Dach reicht fast bis zum Boden. Nur eine niedrige Basiswand aus Lehm, Ästen, Bambus und Felsen bildet den unteren Teil des Hauses. Gebückt gelangt man durch eine kleine, niedrige Holztür ins Haus. Die Räume im Haus sind dunkel, verraucht, aber geräumig. Geschlafen wird in den ländlichen Regionen meist auf dem Boden. Ansonsten sind Betten und Körbe mit Reis oder Mais entlang der Außenwand aufgestellt. Im Zentrum liegt die Herdstelle mit einem ständig schwelenden Feuer, das das Dach innen einschwärzt. Im oberen Teil des Daches, oberhalb der Feuerstelle, befinden sich ein oder zwei Geschosse, in denen weitere Essensvorräte gelagert werden. Der Rauch des Feuers hält Ungeziefer und Schädlinge ab. Anders als im restlichen Osttimor sind die heiligen Häuser von Oe-Cusse Ambeno von außen nicht von Wohnhäusern zu unterscheiden. Unterschiede zwischen den Häusern der Regionen Oe-Cusse Ambenos fallen dem Außenstehenden nicht auf, sind aber für Einheimische anhand der Bauweise der Wände deutlich erkennbar. Eine Ausnahme betrifft das Flachland in den Regionen, die regelmäßig von den Flüssen überflutet werden. Früher wurden hier entlang der Straßen die Häuser in einem Pavillonstil errichtet. Herabhängende, gewebte Strohmatten dienten als Wände. Für die Bergbewohner Oe-Cusse Ambenos ist die ehemalige Bauweise ein Zeichen dafür, dass die Flachlandbewohner ursprünglich nicht aus Oe-Cusse Ambeno stammen. Tatsächlich sind die Reisbauern in den Überflutungsgebieten des Tono zumeist Nachkommen von Einwanderern aus dem Südwesten Timors und den benachbarten Inseln. In den 1980er Jahren wurden die Hütten durch Häuser mit festen Wänden und Zementböden ersetzt. Im Hochland bildet das Haus der Eltern mit den Häusern für die Kinder kleine Weiler. Inzwischen bestehen diese oft aus einer Mischung von traditionellen und „modernen“ Bauten. Neben den traditionellen Hütten stehen rechteckige Häuser, die aus den verschiedensten Materialien errichtet wurden: Ziegel, Zement, Lehm, Steinblöcken, Holz oder Bambus. Internationale Hilfsorganisationen brachten zwischen 2001 und 2003 Zinkdächer nach Oe-Cusse Ambeno, um den vielen Obdachlosen nach der Gewaltwelle von 1999 eine Unterkunft zu schaffen. Dies hat das Erscheinungsbild des Hochlands stark verändert. Manchmal lässt man sich Jahre Zeit, diese Neubauten fertigzustellen, auch da das Material für die Wände fehlt. Oft stehen sie als eine Art Pavillon da, nur mit Dach und Zementboden und man nutzt sie tagsüber zum Weben oder als Sonnen- und Regenschutz. Hat man die Wahl, zieht man zum Schlafen und Kochen meistens die traditionellen Rundhütten den Neubauten vor. Sie sind wärmer und die Hochlandbewohner empfinden sie als familiärer. Früher bestanden ganze Dörfer aus einzelnen Familienclans, doch durch die indonesische Umsiedlungspolitik wurden diese Familienbande auseinandergerissen. Heute siedeln die meisten Menschen entlang der Straßen, ohne dass man darauf achtet, möglichst neben den nächsten Verwandten zu wohnen. Geschichte Früh- und Kolonialzeit Bereits vor den Europäern trieben chinesische, malaiische und arabische Händler mit den Einwohnern Oe-Cusse Ambenos Handel. Ortsnamen wie Pante Macassar (Strand der Makassaren) oder Kolam Cina (Chinesisches Becken) zeugen noch heute davon. Dabei waren Chinesen über Jahrhunderte die einzigen Ausländer, die das Risiko wagten, das Inselinnere zu bereisen. Ansonsten blieben die Händler an der Küste in saisonalen Siedlungen und warteten auf den Südwestmonsun für die Heimreise. Vor allem Sandelholz und Bienenwachs waren beliebte Handelswaren, um die es immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Reichen der Region kam. Der Sandelholzbaum (Santalum album) wird daher in Uab Meto hau lasi (Baum des Streits), hau nitu (Teufelsbaum) und hau plenat (Regierungsbaum) genannt. Vor dem Handel mit der Außenwelt hatte das Sandelholz paradoxerweise keinerlei besonderen Nutzen für die Timoresen. Erst die Chinesen fragten nach dem Sandelholz. In der Regel baten sie beim Usif um die Ware, dieser beauftragte die Naijufs mit der Lieferung und diese ließen die Bäume von den Tobes beschaffen. Bienenwachs war für die katholische Kirche von Bedeutung. So entstand später der Brauch des ninik-abas (Wachs-Baumwolle-Tributs), der den Usifs von Oecusse und Ambeno vor Ostern übergeben wurde. Ein Großteil des Wachses wurde dann der Kirche für Karfreitagskerzen gegeben. Eine Gedenktafel an einem nachgebauten Padrão dos Descobrimentos, sechs Kilometer westlich des heutigen Pante Macassar, markiert die Stelle, an der am 18. August 1515 portugiesische Dominikaner erstmals Timor betraten. Das Denkmal ist ein Symbol der Sonderverwaltungsregion. Im November 2015 wurde zusätzlich das Lifau-Monument in Form eines Nachbaus einer Karavelle und acht lebensgroßen, goldenen Bronzestatuen eingeweiht. Hier gründeten die Portugiesen 1556 den Ort Lifau. Diese erste europäische Siedlung auf Timor sollte Portugal den Sandelholzhandel sichern, während in dieser Zeit das regionale Zentrum der Portugiesen auf der benachbarten Insel Solor lag. 1641 trat der Liurai von Amanuban (Amanubang), Herrscher des Gebietes um Lifau, zum Christentum über, ließ mehrere Kirchen errichten und schloss ein Bündnis mit den Portugiesen. 1642 führte der Topasse Francisco Fernandes eine portugiesische Expedition in das Innere Timors gegen die bisher dominierenden Reiche von Sonba’i und Wehale. Fernandes errang mit seinem Sieg für Portugal die Vorherrschaft auf Timor. Danach nahm die Einwanderung der Topasse (auch schwarze Portugiesen genannt) nach Timor zu. Die Topasse waren Nachfahren von portugiesischen Soldaten, Seeleuten und Händlern, die Frauen von Solor geheiratet hatten. Sie bestimmten maßgeblich die Entwicklungen auf Timor im 17. und 18. Jahrhundert. Unterstützt wurden die Topasse dabei von den Dominikanern. Zentrum der Topasse wurde Lifau, die Hauptbasis der Portugiesen auf Timor. Von hier aus breiteten die Topasse sich weiter ins Landesinnere bis nach Kefamenanu und Niki-Niki aus und gründeten ihre eigenen Reiche, die sie als Liurais regierten. Zwei Reiche kontrollierten das Gebiet der heutigen Sonderverwaltungsregion und wurden später dessen Namensgeber: Oecusse an der Küste im Nordosten der heutigen Exklave und Ambeno im gebirgigen Westen und Süden. Oecusse wurde von den Topasse regiert, während Ambeno bis in das 20. Jahrhundert von einheimischen Herrschern regiert wurde. Zwar wurde 1642 ein portugiesischer Verwalter (Generalkapitän) für die Kolonie ernannt, aber die wirkliche Macht lag bei zwei Familienclans der Topasse, die um die Macht konkurrierten: die Hornay (Ornai) und die Costa. Die Costas stellen noch heute unter anderem den Usif von Oecusse. Die Linie der Hornay gilt in Oecusse als ausgestorben. Doch auch heute noch wird während der Karfreitagsfeiern vor der Kirche an der Küste Pante Macassars neben Bambuspfeilern (um-uma) mit Bienenwachskerzen für die Costas und die Cruz (die Dynastie von Ambeno) auch einer für die Hornays aufgestellt. Auch zahlen Bauern aus dem Suco Lifau noch einen Reistribut an die Hornays. Angenommen wird er nun vom Herrscher der Costas. Ein Fluss in Pante Macassar soll früher die Grenze zwischen den beiden Familien markiert haben. Nach dem Aussterben der Hornays dehnten die Costas das Territorium ihres Reiches von Oecusse im Westen bis nach Lifau aus. 1663 wurde erstmals ein Topasse zum Generalkapitän ernannt. 1701 wurde Manuel de Santo António von Papst Clemens XI. zum Bischof von Malakka ernannt und residierte bis 1722 in Lifau. Er gilt als erster Bischof auf Timor. Nachdem bereits zwei Gouverneure zuvor am Versuch gescheitert waren, die Kontrolle zurückzugewinnen, entsandte Portugal 1701 mit António Coelho Guerreiro (1702 bis 1705) erneut einen Gouverneur nach Timor, der am 20. Februar 1702 mit seinem Dienst in Lifau begann. Damit waren die Dominikaner von der Administration der Besitzung offiziell entbunden. Bis 1705 blieb Guerreiro im Amt, bevor er von den Topasse vertrieben wurde. Die Portugiesen kehrten nach Lifau zurück, aber ihre Macht blieb eingeschränkt. Die Topasse kontrollierten weiterhin den Sandelholzhandel im Inselinneren. Bischof Manuel de Santo António wurde 1722 von Gouverneur António de Albuquerque Coelho von der Insel verbannt. Zwei weitere Bischöfe von Malakka residierten in Lifau: António de Castro (1738–1743), der 1738 das erste Priesterseminar Timors in Lifau gründete, und Geraldo de São José (1749–1760), Beide starben in Lifau. Die Topasse sahen sich aber von mehreren Seiten bedroht: einmal durch portugiesische Händler, die durch die Krone eine Erlaubnis erhielten, die Kontrolle über den Sandelholzhandel zu übernehmen, dann durch die Dominikaner, die versuchten, eine eigene unabhängige Machtbasis auf Timor aufzubauen, und auch die einheimischen Kleinkönige rebellierten regelmäßig, sowohl gegen Topasse als auch Portugiesen. Jedoch einigte alle der Kampf gegen die Expansion der Niederländer, die sich 1640 in Kupang, an der Westspitze Timors, festgesetzt hatten. Als Gouverneur António Moniz de Macedo zu seiner zweiten Amtszeit 1734 antrat, wurde er überraschend freundlich vom Topasse-Führer und Capitão-Mor Gaspar da Costa begrüßt. Gaspar ermöglichte auch den Bau des ersten Priesterseminars auf Timor in Lifau. Er selbst residierte zu diesem Zeitpunkt in Animata, einem Ort mit 1800 Hütten, wenige Kilometer südlich von Lifau, in dem Portugiesen und Einheimische lebten. Nochmals kam es 1737 zum Bündnis zwischen Portugiesen und Topasse, auch wenn es 1741 erneut zu Unruhen in Oecusse kam. Dreimal versuchten die Topasse auch die Niederländer von Timor zu vertreiben. Als jedoch 1749 ein Angriff von Portugiesen und Topasse auf Kupang, trotz Übermacht, in einem Desaster endete, brach die Herrschaft beider in Westtimor zusammen. Bei der Schlacht von Penfui (heute liegt dort der Flughafen Kupangs) wurden viele Führer der Topasse getötet. Ein Großteil der regionalen Herrscher Westtimors schloss 1756 im Vertrag von Paravicini mit der niederländischen Ostindien-Kompanie ein Bündnis. Manche daraus resultierende niederländische Ansprüche waren äußerst fragwürdig. So unterzeichneten den Vertrag auch ein Nai Kobe als König von Tabenoe (damit ist Ambeno gemeint) und Sitenomie als König von Liphoa (Lifau). Beide Territorien waren aber in fester Hand der mit den Portugiesen verbündeten Topasse. Andererseits beanspruchten die Portugiesen das gesamte von den Topasse kontrollierte Gebiet bis weit in die Bergwelt im Inselinneren, südlich von Oecusse. Dazu gehörte nicht nur die dort gelegene Exklave Noimuti, sondern auch Regionen, in die nie zuvor ein Portugiese seinen Fuß gesetzt hatte. Die Fläche entsprach mit geschätzten 2.461 km² mehr als dem Dreifachen der heutigen Exklave. 1759 entschied sich Gouverneur Vicento Ferreira de Carvalho (1756 bis 1759), aufgrund der Situation aufzugeben und Lifau eigenmächtig an die Niederländer zu verkaufen. Als die Niederländer 1760 unter dem deutschen Kommandanten Hans Albrecht von Plüskow aber Besitz von dem Ort nehmen wollten, sahen sie sich einer Streitmacht der Topasse gegenüber. Von Plüskow wurde von den Topasse-Herrschern Francisco da Hornay III. und António da Costa ermordet. Inwieweit der neue portugiesische Gouverneur Sebastião de Azevedo e Brito (1759 bis 1760) an der Abwehr beteiligt war, ist in den Quellen widersprüchlich angegeben. Am 11. August 1769 wurde der portugiesische Gouverneur António José Teles de Meneses am Ende der Cailaco-Rebellion durch die Topasse gezwungen, Lifau zu verlassen. Neue Hauptstadt der Portugiesen auf Timor wurde Dili. Trotzdem wehte weiterhin die portugiesische Flagge über Oecusse und Ambeno. 1785 schloss der Topasse-Herrscher Pedro da Hornay erneut eine Allianz mit den weißen Portugiesen und João Baptista Vieira Godinho, ihrem Gouverneur in Dili. Pedro da Hornay wurde dafür der Titel eines Generalleutnants (tenente general) zugesprochen. 1790 schworen Pedro da Hornay und sein Schwager, der Herrscher von Ambeno, auf einer Reise nach Dili Portugal erneut ihre Treue. Ein Priester hatte die beiden Herrscher dazu bewegt. 1848 sah sich Gouverneur António Olavo Monteiro Tôrres gezwungen, den Herrscher von Oecusse um Hilfe im Kampf gegen Rebellen zu bitten. Oecusse griff daraufhin das mit den Rebellen verbündete Reich von Balibo an. Bei dieser Gelegenheit setzten die Truppen Oecusses in Janilo (Djenilo), zwischen Batugade und Oecusse die portugiesische Flagge, was wiederum die Niederländer auf den Plan rief, die befürchteten, dass der Flusshafen von Atapupu seine Verbindung zum Landesinneren verliert. Verhandlungen zur Beilegung der Grenzstreitigkeiten blieben erfolglos. Zur selben Zeit beklagten sich Herrscher von Pantar und Alor, Oecusses Herrscher würden in innere Konflikte auf den Nachbarinseln eingreifen und diese für Portugal beanspruchen. Tôrres widerrief diese Ansprüche. Erst 1859 wurde die Insel vertraglich zwischen den beiden Kolonialmächten in einen niederländischen Westteil und einen portugiesischen Ostteil aufgeteilt und Oecusse kam auch offiziell unter portugiesische Kontrolle (siehe Vertrag von Lissabon). 1863 wurde das Gebiet als Oecussi zur elften Militärkommandantur von Portugiesisch-Timor erklärt. Da der Konflikt mit den Niederländern nun weitgehend beigelegt war, konnte Portugal seine Kräfte dafür verwenden, die Kontrolle über die lokalen Herrscher auszubauen. Dies führte zwischen 1860 und 1912 zu zahlreichen Aufständen in Portugiesisch-Timor. Während der Rebellion in Cová (1868–1871) unterstützten Oecusse und Ambeno die Portugiesen. Tribute oder Steuern zahlten die beiden Reiche aber bereits seit 1861 nicht mehr an die portugiesische Kolonialverwaltung. Erst auf Betreiben des Missionars Francisco Xavier de Mello entsandten Oecusse und Ambeno im August 1879 Vertreter nach Dili, zur Erneuerung des Treueeids. Aus Oecusse kamen die beiden Prinzen (Principaes) Domingos da Costa und Alexandre Hornay dos Santos Cruz, da der Herrscher João da Hornay Madeira zu krank zum Reisen war. Aus Ambeno kam der Herrscher Pedro Paulo dos Santos Cruz, zusammen mit fünf Prinzen. Die Portugiesen verliehen dem Herrscher von Oecusse den Titel rei (), während Pedro Paulo dos Santos Cruz den untergeordneten Titel coronel rei () bekam. Damit machte die Kolonialmacht die Hierarchie zwischen den beiden Herrschaftsgebieten in der Exklave deutlich. Weitere militärische Titel erhielten die Prinzen und andere Würdenträger Oecusses und Ambenos. Anfang der 1880er Jahre gehörte Fatumasi (im heutigen Gemeinde Liquiçá) als Enklave im Reich von Motael zum Reich von Oecusse und produzierte viel Kaffee. Truppenunterstützungen Oecusses und Ambenos an Portugal im Krieg von Manufahi (1896) und anderen Konflikten waren mit ein Grund, weshalb Gouverneur José Celestino da Silva (1894–1908) von der Idee abkam, die Exklave gegen den Hafen Atapupu zu tauschen. Trotzdem hatten die beiden Reiche noch in den 1880er Jahren bei den Portugiesen den Ruf einer fragwürdigen Vertrauenswürdigkeit. Tatsächlich kam es dann im Mai 1912 während der großen Rebellion von Manufahi auch in Ambeno zum Aufstand gegen die Kolonialherren. Alle Portugiesen in dem Reich, die keine Kirchenangehörige waren, wurden zum Regierungssitz von João da Cruz, Usif von Ambeno, gebracht und hingerichtet. Oecusses Herrscher Hugo Hermenegildo da Costa, der zu Portugal loyal blieb, musste in der Zeit sein Reich verlassen. Das Kanonenboot Pátria brachte in Timor stationierte afrikanische Soldaten und 150 Moradores unter dem Kommando von Capitão Pimenta de Castro nach Ambeno. Die Rebellion wurde niedergeschlagen, unter anderem wurde dabei die Kirche von Oecusse zerstört. João da Cruz floh in den niederländischen Teil Timors und Nunuhenu verlor seinen Status als Sitz des Herrschers von Ambeno. Der von den Portugiesen neueingesetzte Verwandte von João da Cruz ließ sich in Tulaica nieder. Zudem wurde das Reich von Ambeno nun endgültig dem Reich von Oecusse und Hugo da Costa untergeordnet. Auch viele der an der Rebellion beteiligten Naijufs flohen nach Niederländisch-Timor. Die Portugiesen setzten als Ersatz Chefes de Suco, die dem portugiesischen Staat die Treue schworen. Folge ist, dass es in manchen Dörfern zwei Naijufs gibt. Es ist umstritten, was der Auslöser für die Rebellion war. Zum einen wird er mit der Rebellion von Manufahi in Verbindung gebracht und dem Aufbegehren gegen Kopfsteuer und Zwangsarbeit. Einheimische verweisen heutzutage auf traditionelle Herrscher, die bei der Einführung der neuen kolonialen Verwaltungsstruktur benachteiligt wurden und daher revoltierten. Der damalige portugiesische Chronist Jaime do Inso spricht hingegen von der alten Rivalität zwischen Costas und Hornays, die hier erneut eskalierte. Die Grenzziehung zwischen den Kolonialmächten war weiter umstritten. 1899 kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Einheimischen auf den beiden Seiten der Ostgrenze zu Tunbaba, wo es noch reiche Sandelholzvorkommen gab. Außerdem beanspruchten die Herrscher Oecusses den Bikomistreifen (Bicome) im Südosten, um eine Verbindung zur Exklave Noimuti zu schaffen. Angebote der Niederlande, Oecusse zu kaufen, lehnten die Portugiesen ab. Im Vertrag von 1904 wurden den Niederländern die umstrittenen Gebiete in Tunbaba und der Erwerb von Noimuti und dem Bikomistreifen zugesichert, sobald die Grenzen Oecusses definiert seien. 1913 wurde schließlich der Ständige Schiedshof in Den Haag angerufen, um eine Entscheidung in dem Streit zu treffen. Prinzipiell wurden sowohl koloniale als auch einheimische Vertreter zur Grenzziehung befragt. Da man aber die innertimoresischen Streitigkeiten als zu konfliktgeladen ansah, orientierte sich der Schiedshof an den bestehenden kolonialen Gegebenheiten. Folge war, dass ein späterer Militärverwalter berichtete, dass die Grenze für die lokale Bevölkerung ohne großen Belang war, da in den der Niederlande überlassenen Gebieten oft Freunde und Verwandte der Bevölkerung Oecusses lebten. Die endgültige Grenze zwischen Niederländern und Portugiesen wurde 1916 vertraglich in Den Haag festgelegt. Oecusse und Ambeno waren bereits durch den Vertrag von Paravicini vom Osten Timors getrennt. Nun wurde auch die südlich von Oe-Cusse Ambeno gelegene portugiesische Exklave Noimuti gegen die niederländische Besitzung Maucatar eingetauscht. 1926 war von Portugal angesichts der verschwindenden Bestände ein Handelsverbot für Sandelholz verfügt worden, doch bereits 1929 lockerten die Portugiesen das Verbot für die Exklave Oe-Cusse Ambeno. Es war schlichtweg unmöglich gewesen, hier die Einhaltung zu überwachen. Die Bäume wurden illegal geschlagen und einfach über den Landweg in das niederländische Westtimor geschmuggelt. Daher wurde Einheimischen das Fällen von ausgewachsenen Bäumen erlaubt, unter Schutz blieben nur junge Bäume und die Wurzeln. Die Bestände nahmen trotzdem weiter ab, Im Zweiten Weltkrieg besetzten die Japaner zwischen 1942 und 1945 die gesamte Insel. Obwohl die Portugiesen in dieser Region das erste Mal auf Timor landeten, waren es einige entlegene Dörfer in den Bergen Oe-Cusse Ambenos, die als letzte auf Timor in Kontakt mit den Europäern kamen. In einige Bergdörfer kamen erst in den 1950er Jahren zum ersten Mal Europäer. Der Priester Norberto Parada begann damals mit der Missionierung im Bergland, erstmals auch mit der Hilfe von einheimischen Missionaren. Zu dieser Zeit wagte sich noch der koloniale Administrator von Nitibe nur mit sechs bis zehn bewaffneten Wachen in diese „wilde“ Region. In den 1960ern wanderten die Clans der Bobos und der Mekos aus Usitasae aufgrund von Überbevölkerung nach Lifau ab. In dieser Zeit begannen Einwohner des indonesischen Dorfes des Manusasi (Distrikt Westmiomaffo, Regierungsbezirk Nordzentraltimor) Ansprüche auf den Bisae Súnan und das fruchtbare Gebiet nordöstlich davon zu erheben. Die Bewohner von Haemnanu hielten dagegen. Der Konflikt eskalierte. 1965 töteten portugiesische Polizisten in dessen Folge einen Indonesier. Der Streit um das Gebiet schwelt bis heute. Im Dezember 1966 kam es zu Zusammenstößen zwischen indonesischen und portugiesischen Streitkräften. Die Indonesier brannten in Oe-Cusse Ambeno einige Dörfer nieder und beschossen das portugiesische Territorium mit Mörsern. Nur die schnelle Reaktion der portugiesischen Armee scheint die indonesischen Truppen von weiteren Attacken abgehalten zu haben. Im August 1973 wurde die Militärkommandantur Oecusse in den Kreis (conselho) Oecussi-Ambeno umgewandelt. Jaime Oliveira, der portugiesische Administrator von Oe-Cusse Ambeno in der Endzeit der Kolonialzeit, stammte aus Kiukole (Suco Naimeco). Er war Sympathisant der FRETILIN und unterstützte die Delegation, die von Dili geschickt wurde, um Basisarbeit für die Partei in der Exklave zu betreiben. Die Mitglieder gehörten zur osttimoresischen Studentenorganisation UNETIM, die mit der FRETILIN verbunden war. Indonesische Besatzung In den Wirren der letzten Monate der portugiesischen Herrschaft über Osttimor besetzte Indonesien Oe-Cusse Ambeno bereits am 6. Juni 1975. Die Soldaten wurden dabei als Kämpfer der UDT getarnt, die im Konflikt mit der dominierenden Partei FRETILIN standen. Im Oktober folgte die Invasion in die osttimoresischen Grenzregionen Bobonaro und Cova Lima. Als die FRETILIN schließlich am 28. November 1975 Osttimor für unabhängig von Portugal erklärte, wurde bereits am Tag darauf die indonesische Flagge in Pante Macassar gesetzt. Die offene militärische Offensive begann mit der Invasion Dilis am 7. Dezember 1975. Am 13. Dezember organisierte El Tari, der indonesische Gouverneur von Nusa Tenggara Timur eine offizielle Zeremonie, in der die „Integration“ von Oe-Cusse Ambeno in Indonesien proklamiert wurde. Administrator Jaime Oliveira und José Valente, ein portugiesischer Militärkommandant, erklärtenam 19. Dezember in einer weiteren Zeremonie ihre Loyalität zu Indonesien. Die UNETIM-Mitglieder wurden verhaftet und bis 1977 in Dili gefangen gehalten. Von den Kämpfen des Unabhängigkeitskrieges blieb die Region aber weitgehend verschont. Es gab keine Kampfeinheiten der osttimoresischen FALINTIL in Oe-Cusse Ambeno, dafür aber ein weites Netzwerk des Widerstands. Trotz der geographischen Trennung blieb Oe-Cusse Ambeno auch unter indonesischer Herrschaft als Kabupaten Teil der Provinz Osttimor (). Ein Teil der Bevölkerung wurde Anfang der 1980er Jahre aus dem bergigen Landesinneren, wo sie traditionell aufgrund von Hitze, Malaria und Überfällen von See aus lebte, an die Küste zwischen Citrana und Sacato zwangsumgesiedelt, die bis dahin weitgehend unbewohnt war. Nur an den Ufern des Tonos gab es die kulturell von den Bergbewohnern unterschiedlichen Flachlandbewohner, die in den Überflutungszonen Reis anbauten. Während die administrative Verwaltung weiterhin über Dili erfolgte, lief der Warenverkehr nun über die benachbarten Orte Wini, Kefamenanu und Kupang im indonesischen Teil Westtimors. Die Sandelholzbestände, die hier im Gegensatz zu den meisten anderen Gebieten auf Timor noch 1975 existierten, verschwanden zumeist in den ersten Jahren der indonesischen Besatzung. Immerhin gab es Fortschritte bei der Bildung, Infrastruktur und Gesundheitsprogrammen und der Waren- und Personenverkehr nach Westtimor wurde erleichtert. Im Unabhängigkeitsreferendum von 1999 entschied sich die Bevölkerung Osttimors für die völlige Unabhängigkeit von Indonesien. Es folgte eine letzte Welle der Gewalt durch indonesische Sicherheitskräfte und pro-indonesische Milizen. Um den 18. September 1999 wurden wahllos Häuser angezündet. Verschont blieben nur Citrana, Bebo, Baocnana (Verwaltungsamt Nitibe), Mahata (Pante Macassar) und Passabe. Die Miliz Sakunar und die indonesische Armee verübten mehrere Massaker unter der Bevölkerung, die folgenreichsten in Tumin und Passabe. 4.500 Einwohner wurden auf Lastwagen nach Indonesien zwangsdeportiert. 10.000 Menschen flohen in die Berge. In Cutete (Suco Costa) hatten sich Ende September 5000 Flüchtlinge in einem Lager zusammengefunden. Der amerikanische Pfarrer Richard Daschbach führte hier bereits seit 1991 das Kinderheim Topu Honis Kutet und war zuvor Priester in Lelaufe. Bei seiner Arbeit hatte er sich den Ruf erworben, über große Lulik (Magie) zu verfügen, weswegen die Menschen sich hier Schutz vor den Milizen erhofften. Am 23. September griff die Sakunar aber Cutete an. Die Unterkünfte wurden niedergebrannt, zwei Menschen erschossen und die Flüchtlinge vertrieben. Der 14-jährige Fredolino José Landos da Cruz Buno Sila (Lafu) wurde daraufhin von Anhängern der Unabhängigkeitsbewegung von Cutete losgeschickt, um Hilfe zu holen. In den Sohlen seiner Flip-Flops wurde ein Brief an die UN-Mission in Osttimor versteckt. Der Junge durchquerte zu Fuß das indonesische Westtimor und erreichte schließlich einen australischen Posten der internationalen Eingreiftruppe INTERFET an der Grenze zwischen Westtimor und Bobonaro. Mit einem Hubschrauber wurde Lafu nach Dili gebracht, wo er seine Nachricht abgeben konnte. Allerdings schickte die INTERFET nicht sofort Soldaten nach Oe-Cusse Ambeno, sondern brachte dem Jungen bei, wie man ein Funkgerät bedient. Dann setzte man ihn am Strand von Pante Macassar ab, wo sich ein Großteil der Flüchtlinge versammelt hatte und von den Milizen belagert wurde. Als die Lage brenzlig wurde, verständigte Lafu die INTERFET über Funk, dass der Angriff der Milizen kurz bevor stehe. Am nächsten Morgen landeten INTERFET-Soldaten mit Hubschraubern in Pante Macassar. Daschbach führte in den späteren Jahren seine Arbeit in Oe-Cusse Ambeno fort. 2018 wurde er beschuldigt in mindestens 14 Fällen Kinder aus seinem Heim missbraucht zu haben. Er ist der erste katholische Priester in Osttimor, gegen den dieser Vorwurf erhoben wurde. Daschbach wurde das Priesteramt entzogen und er wurde vor Gericht gestellt. Die INTERFET sorgte ab dem 23. Oktober auch in Oecussi-Ambeno im Auftrag der Vereinten Nationen wieder für Ruhe und Ordnung. Am 20. Dezember fanden UN-Mitarbeiter Massengräber mit Opfern der Gewalt. Insgesamt wurden in der osttimoresischen Exklave mindestens 164 Menschen durch die Milizen ermordet. Viele Tote gab es auch durch die Flucht der Zivilbevölkerung. 90 % der Häuser in Oecussi-Ambeno wurden zerstört, ebenso die restliche Infrastruktur. Die Zerstörungen waren zum Teil schwerwiegender als in anderen Teilen des Landes, auch weil INTERFET hier später eingriff. Viele Milizionäre, die sich vor der INTERFET aus den anderen Teilen Osttimors zurückgezogen hatten, kamen nach Oe-Cusse Ambeno und schlossen sich hier der Sakunar an. Usif José Hermenegildo da Costa war vor der Gewalt nach Kupang geflohen. Er verstarb dort am 4. November 1999. Ihm folgte sein Sohn António Hermenegildo da Costa im Amt. Das unabhängige Osttimor 2002 wurde Osttimor mit Oe-Cusse Ambeno als Exklave ein unabhängiger Staat. UN-Truppen aus Australien, Neuseeland, Fidschi und bis 2003 aus Japan und Südkorea unterstützten die neue Verwaltung im damaligen Distrikt. Dazu kamen internationale Militärbeobachter der Vereinten Nationen (UNMO), die die Grenze zu Indonesien überwachten. Am 23. Oktober 2003 kamen am Fluss Noel Ekab (Oesilo) Major Byong Jo Min, Major Jin Kyu Park, Coporal Jong Hun Membali, Coporal Hee Choi und Kim Jung Joung ums Leben. Die fünf südkoreanischen Soldaten gehörten zum Bataillon ROKBATT VII. Nach dem Abzug der UN-Truppen sorgte zunächst nur die Nationalpolizei Osttimors und ihre Grenzeinheit Unidade de Patrulhamento de Fronteira (UPF) für die Sicherheit in Oe-Cusse Ambeno. Soldaten der Verteidigungskräfte Osttimors (F-FDTL) waren nicht in der Exklave stationiert. Im August 2022 wurde in Lalisuc der Militärstützpunkt der Verteidigungskräfte in Oe-Cusse Ambeno eröffnet. Im mit Indonesien umstrittenen Gebiet von Naktuka kam es seit der Unabhängigkeit immer wieder zu Zwischenfällen mit der indonesischen Armee. Im September 2009 fuhr eine Gruppe von indonesischen Soldaten in das osttimoresische Dorf Naktuka und begann Fotos von neu errichteten Gebäuden zu machen. Sie wurden von den Einwohnern kurzerhand hinausgeworfen und über die Grenze zurückgeschickt. Am 26. Mai 2010 drangen 28 bewaffnete Soldaten der Streitkräfte Indonesiens in Beneufe ein und setzten in Naktuka ihre Flagge, einen Kilometer von der Grenze entfernt. Am 29. Mai 2010 zerstörten sie die beiden Häuser zweier sozialen Einrichtungen im Suco. Am 24. Juni drang erneut eine bewaffnete Einheit der indonesischen Armee einen Kilometer in das Gebiet von Naktuka ein, zog sich aber zurück, als sie auf eine Einheit der osttimoresischen Grenzpolizei traf. Einwohner sehen einen Zusammenhang mit der unklaren Grenzziehung zwischen den Ländern. Dies war der schwerste Vorfall zwischen den beiden Ländern seit der Unabhängigkeit Osttimors 2002. Am 4. März 2011 verletzten indonesische Soldaten erneut die Grenze und vertrieben Einwohner vom umstrittenen Landstreifen. Am 28. Oktober 2011 schossen indonesische Soldaten auf Osttimoresen, die die Grenze illegal mit einem Wagen überquert hatten. Ende 2012 wurde Fisen Falo, ein Lian Nain, in Naktuka ermordet aufgefunden. Auch einige Häuser sollen von Unbekannten niedergebrannt worden sein. Laut Pressemeldungen wurde er bei der Feldarbeit von Fremden entführt und zu Tode gefoltert. In Gerüchten verdächtigte man indonesische Soldaten. Francisco da Costa Guterres, Osttimors Staatssekretär für Sicherheit, entsandte ein Untersuchungsteam. Die Grenze wurde in dem Gebiet vorerst geschlossen. Politik Regionale Verwaltung In Artikel 71 der Verfassung Osttimors steht unter Punkt 2: An der faktischen Umsetzung dieses Verfassungsartikels haperte es die ersten Jahre allerdings. In der I. (2002–2006), II. (2006–2007) und IV. Regierung Osttimors (2007–2012) gab es einen eigenen Staatssekretär für Oe-Cusse Ambeno. Wie auch in den anderen damaligen Distrikten Osttimors wurde der Distriktsadministrator von der nationalen Regierung eingesetzt, ebenso die Administratoren der Subdistrikte. Mit dem Gesetz 03/2014 vom 18. Juni 2014 wurde die Autoridade da Região Administrativa Especial de Oecusse (ARAEO) geschaffen. Marí Alkatiri, Generalsekretär der FRETILIN und ehemaliger Premierminister, wurde am 25. Juli zum Präsidenten der ARAEO ernannt. Die Ernennung erfolgte durch Staatspräsident Taur Matan Ruak, auf Vorschlag von Premierminister Xanana Gusmão. Am 23. Januar 2015 beschloss die V. konstitutionelle Regierung Osttimors auf einer Sondersitzung in Pante Makassar, an Alkatiri Befugnisse zu übertragen, um dem verfassungsmäßigen Sonderstatus Oe-Cusse Ambenos zu entsprechen. Die zeremonielle Übergabe erfolgte am 25. Januar. Ebenfalls bei der Sitzung wurden vom Kabinett drei neue Mitglieder der ARAEO ernannt. Arsénio Paixão Bano stammt aus Oe-Cusse Ambeno. Der ehemalige Minister für „Arbeit und Solidarität“ ist stellvertretender Vorsitzender der FRETILIN. Leónia da Costa Monteiro aus der Gemeinde Manatuto war 2003 Central Finance Officer im Staatssekretariat für Sicherheit. Pedro de Sousa Xavier war früher Direktor des Nationaldirektorats für Land und Eigentum ( DNTP), die dem Justizministerium unterstellt ist. Die weiteren Mitglieder der Behörde wurden von Präsident Alkatiri vorgeschlagen und mit der Regierungsresolution No. 21/2015 am 19. Mai 2015 ernannt. Darunter war der ehemalige Distriktsadministrator Francisco Xavier Marques. Im Staatsbudget für 2015 sind 81,93 Millionen US-Dollar für die Sonderverwaltungszone Oe-Cusse Ambeno und die Sonderhandelszonen Oe-Cusse Ambeno und Atauro vorgesehen, um Wirtschaft und den Aufbau der Basisinfrastruktur zu ermöglichen. 2017 wurde Alkatiri Premierminister von Osttimor und wurde von Arsénio Bano als Präsident der Regionalbehörde abgelöst. Nach seiner Abwahl 2018 als Regierungschef wurde Alkatiri wieder Chef der ARAEO und der ZEESM. Alkatiris Amtszeit endet am 25. Juli 2019. Am 8. Juli stimmten 34 Abgeordnete des Parlaments, ohne Gegenstimme, für die Änderung des Gesetzes 3/2014 zur Sonderverwaltungsregion Oe-Cusse Ambeno. Damit wurde dem Staatspräsidenten die Beteiligung bei der Ernennung der Verantwortlichen in der Behörde entzogen. Der Präsident der Behörde wird nun für maximal zweimal fünf Jahre von der Regierung durch Beschluss ernannt. Die Abgeordneten der FRETILIN hatten das Parlament zu Beginn der Diskussion verlassen, jene der PD direkt vor der Abstimmung. Mit der Gesetzesänderung sollte Staatspräsident Francisco Guterres die Möglichkeit genommen werden, die Absetzung seines Parteifreundes Alkatiri zu blockieren. Demonstrativ empfing Guterres am 12. Juli die traditionellen Würdenträger Oe-Cussi Ambenos als Vertreter des Atoni-Volkes, die ihn dazu aufforderten, die Änderung des Gesetzes zu verhindern und Alkatiri eine weitere Amtszeit zu gewähren. Alkatiri verzichtete schließlich aber auf eine Verlängerung seiner Amtszeit und Arsénio Bano wurde erneut Interimspräsident von ARAEO und ZEESM. Am 6. November 2019 nominierte der osttimoresische Ministerrat José Luís Guterres zum neuen Präsidenten. Nach Kritik an seiner Amtsführung und der Verschiebung der Machtverhältnisse in der VIII. Regierung zugunsten der FRETILIN wurde José Luís Guterres am 10. Juni 2020 als Präsident entlassen. Innerhalb von sieben Monaten hatte Guterres keine Mitglieder der Regionalregierung ernannt. Außerdem wurde kritisiert, dass er viel Zeit außerorts verbrachte. Auch die Ernennung verschiedener Berater wurde negativ kommentiert. Arsénio Bano erhielt nun am 12. Juni die offizielle Ernennung zum Präsidenten der Autonomiebehörde. 2014 wurden die Distrikte in ganz Osttimor in „Gemeinden“ und die Subdistrikte in „Verwaltungsämter“ umgewandelt. Oe-Cusse Ambeno erhielt entsprechend einem besonderen Status die Bezeichnung „Sonderverwaltungsregion“. Stand 2005: Distriktadministrator: Francisco Xavier Marques Vizedistriktadministrator: Francisco Bano Distriktentwicklungsbeamter: Domingos Maniquin Chef des Bildungsamt: Venancio Lafu Chef des Gesundheitsamt: Manuel da Cunha Chef des Landwirtschaftsamt: José Oki Kommandant der Distriktpolizei: Mateus Mendes Administrator des Subdistrikts Pante Macassar: Jose „Camada“ Martins Administrator des Subdistrikts Oesilo: Lamberto Punef Administrator des Subdistrikts Passabe: Adelino Cau Administrator des Subdistrikts Nitibe: Miguel Busan Chefe Emnasi: António Bobo 2007 bis 2013: Distriktadministrator: José Tanesib Anuno Stand 2014: Distriktadministrator: Salvador da Cruz Stand 2015: Distriktadministrator: José Tanesib Anuno stellvertretender Distriktadministrator: Francisco Bano Administrator des Verwaltungsamts Pante Macassar: Gonçalo Eko Administrator des Verwaltungsamts Oesilo: Alberto Punef Nini Administrator des Verwaltungsamts Passabe: ? Administrator des Verwaltungsamts Nitibe: Eurico C. Babo Präsident der ARAEO: Marí Alkatiri Mitglieder der ARAEO: Regionalsekretär für Bildung und soziale Solidarität: Arsénio Paixão Bano Regionalsekretärin für Finanzen: Leónia da Costa Monteiro Regionalsekretär für Landesplanung und das Katasterwesen: Pedro de Sousa Xavier Regionalsekretär für Verwaltung: Francisco Xavier Marques Regionalsekretär für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung: Régio Servantes Romeia da Cruz Salu Regionalsekretärin für Gesundheit: Lúcia Taeki Regionalsekretärin für kommunalen Tourismus: Inácia da Conceição Teixeira 2017–2018, 2019: Präsident der ARAEO: Arsénio Bano 2018–2019: Präsident der ARAEO: Marí Alkatiri Stellvertreterin: Leónia da Costa Monteiro seit 2019 Präsident der ARAEO: José Luís Guterres seit 2020 Präsident Bano wurde am 12. Juni 2020 ernannt. Seine Regionalsekretäre erhielten die Ernennung am 27. Juli. Präsident der ARAEO: Arsénio Bano Regionalsekretärin für Bildung und soziale Solidarität: Avelina da Costa Regionalsekretärin für Finanzen: Elisa Manequim Regionalsekretär für Grundbesitz und Eigentum: António Hermenegildo da Costa Regionalsekretär für Verwaltungsangelegenheiten: Martinho Abani Elu Regionalsekretär für Landwirtschaft: José Eta Regionalsekretär für Gesundheit: Manuel da Costa Regionalsekretär für Handel und Industrie: Pedro da Cunha da Silva stellvertretender Regionalsekretärin für die Stärkung der Institutionen: Leónia da Costa Monteiro stellvertretender Regionalsekretär für soziale Angelegenheiten: Maximiano Neno Traditionelle Herrscherstrukturen Der Liurai (hier Usif genannt) ist ein traditioneller Herrscher, der offiziell zwar keine Macht mehr hat, trotzdem auch heute noch eine Respektsperson mit großem Einfluss ist. Sein Amt wird vererbt. Es gibt mehrere Liurais, die aber jeweils einen unterschiedlichen Status haben. Zwei Usif sind die traditionellen Herrscher in der Sonderverwaltungsregion, die noch immer einen starken Einfluss haben. Aus der Topasse-Familie der Costa stammen die Usif von Oecusse. Nur ihnen ist die Dynastie der Usif von Ambeno untergeordnet, die Cruz heißen. Große Bedeutung hat neben dem Usif auch der Tobe, der traditionelle Ritualchef, der eine Autorität über das Land, den Wald und das Wasser darstellt. Der traditionelle Dorfvorsteher wird Naijuf genannt. Noch heute bringen Würdenträger der verschiedenen Dörfer in der Vorosterzeit Tribute zum Sitz der Costas in Oesono (Suco Costa) und zum Herrschersitz von Ambeno in Tulaica (Suco Lifau). Teilweise werden sogar Tributzahlungen von Dörfern aus dem indonesischen Teil Westtimors an Ambeno geleistet. Es gibt durchaus Stimmen, die eine stärkere Rolle der Monarchen im Oe-Cusse Ambeno des unabhängigen Osttimors fordern. Das Gefolge der Costa besteht hauptsächlich aus Kaes metan, Flachlandbewohnern. Die Ajantis, Diener und Palastwachen, werden im jährlichen Wechsel von vier Einzelpersonen aus Cunha und Lalisuk gestellt. Die Familie der Costas selbst gelten als schwarze Portugiesen, die durch jahrhundertelange Einheirat in die einheimischen Herrscherfamilien ihre Legitimität erlangten. Usif von Oecusse: António da Costa Usif von Ambeno: Carlos da Cruz Wahlen auf nationaler Ebene Bei den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung, aus der später das Nationalparlament hervorging, erhielt die FRETILIN in Oe-Cusse Ambeno mit 38,60 %, wie auch landesweit, die meisten Stimmen. Das damalige Direktmandat erlangte António da Costa Lelan, ein unabhängiger Kandidat. Er war landesweit der Einzige, der nicht der FRETILIN angehörte. Diese hatte in Oe-Cusse Ambeno keinen eigenen Kandidaten aufgestellt, aber Costa Lelan unterstützte die Partei. Bei den Parlamentswahlen 2007 verlor die FRETILIN in Oe-Cusse Ambeno deutlich und kam nur noch auf 27,2 %. Stärkste Partei wurde nun der Congresso Nacional da Reconstrução Timorense (CNRT) mit 34,2 %. Bei den Parlamentswahlen 2012 erhielt der CNRT 39,0 % und die FRETILIN nur noch 18,6 %. 2017 wurde die FRETILIN mit 39,3 % stärkste Kraft. Der CNRT erhielt 29,3 %. Bei den vorgezogenen Neuwahlen 2018 musste die FRETILIN so schwere Verluste hinnehmen, dass die Partei Wahlfälschungen vermutete, was aber vom Tribunal de Recurso de Timor-Leste zurückgewiesen wurde. Die FRETILIN kam nur noch auf 28,4 % (mehr als 3000 Stimmen weniger), während die Aliança para Mudança e Progresso (AMP), der der CNRT nun angehörte, auf über 58,9 % kam. Der lokale FRETILIN-Chef Arsénio Bano übernahm die persönliche Verantwortung und entschuldigte sich über Facebook öffentlich. Bei den Präsidentschaftswahlen gewann in Oe-Cusse Ambeno die meisten Stimmen des ersten Wahlgangs Fernando de Araújo von der Partido Democrático (PD). Er schied aber als landesweit Dritter aus. In der Stichwahl setzte sich der unabhängige José Ramos-Horta sowohl in Oe-Cusse Ambeno als auch in Osttimor gegen den FRETILIN-Kandidaten Francisco Guterres durch. 2012 erhielt der spätere Wahlsieger Taur Matan Ruak im ersten Wahlgang die meisten Stimmen, ebenso im zweiten Wahlgang mit 75,92 %. Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 holte António da Conceição von der PD in Oe-Cusse Ambeno, knapp vor dem Wahlsieger Francisco Guterres von der FRETILIN, die meisten Stimmen. 2022 gewann José Ramos-Horta sowohl in Oe-Cusse Ambeno, als auch in ganz Osttimor. Symbole Das Profil des Distrikts Oecusse von 2012 der Direksaun Nacional Administrasaun Local nennt das Denkmal zum Gedenken der ersten Landung der Portugiesen in Lifau als das Symbol Oecusses. Es ist einem Padrão nachempfunden, einer Steinsäule, mit der die portugiesischen Seefahrer die Besitzansprüche neu entdeckter Gebiete für die portugiesische Krone dokumentierten. Mit Schaffung der Sonderverwaltungsregion ARAEO und der Sonderzone für soziale Marktwirtschaft ZEESM wurden zwei Logos eingeführt. Im Büro des Präsidenten finden sich neben der Nationalflagge Osttimors auch eine Flagge mit dem Logo der ARAEO auf grünen Grund und eine weiße Flagge mit der grünen Schrift der ZEESM. Wirtschaft und Infrastruktur Oe-Cusse Ambenos Wirtschaft ist geprägt von Ackerbau und Viehzucht. Nur in geringem Maße wird die Haushaltskasse durch Weben, Töpfern, Backen, kleine Geschäfte und Salzgewinnung aufgebessert. Landwirtschaft Laut der Volkszählung von 2010 arbeiten 46 % aller Einwohner, die zehn Jahre oder älter sind, 4 % sind arbeitslos. 84,0 % der Haushalte betreiben Ackerbau, 85,4 % Viehzucht, wobei jeweils in Nitibe am seltensten und in Passabe am häufigsten Landwirtschaft betrieben wird (Stand: 2010). Vier Fünftel der Haushalte in der Sonderverwaltungsregion bauen Reis an. Der Großteil der Ernte kommt aus den Anbaugebieten an den Ufern des Tono in Lifau und Padiae. Auch Mais, Maniok und Kokosnüsse gehören zu den häufig angebauten Nahrungspflanzen. Mehr als zwei Drittel der Haushalte pflanzen Gemüse wie Süßkartoffeln, Bohnen, Sojabohnen, Erdnüsse und verschiedene Kürbisse an. Daneben werden für den Handel Betel, Tabak, Tomaten, Schalotten, Knoblauch und Salate angebaut. In keiner anderen Region Osttimors pflanzen so viele Haushalte Feldfrüchte an und auch die Viehzucht wird hier überdurchschnittlich oft betrieben. Meist dient das der Eigenversorgung. Nur Kaffee wird deutlich seltener in Oe-Cusse Ambeno angebaut. Nur ein Fünftel der Haushalte haben Kaffeepflanzen. Fast die Hälfte davon liegt im südlichen, hoch gelegenen Verwaltungsamt Passabe, wo 67 % der Haushalte Kaffee anpflanzen. Weit verbreitet ist die Brandrodung, bei der jährlich die Felder gewechselt werden. Geerntet wird einmal im Jahr zwischen März und Mai. Im Juni wird dann das neue Feld ausgewählt und im September oder Oktober von der Vegetation befreit. Sie ist dann mangels Regen ausgetrocknet und leicht abzubrennen. Baumstümpfe werden mit langen Stangen langsam aus dem Boden gehebelt. Nach dem ersten Regen in November bis Januar wird angepflanzt und ein- bis zweimal am Höhepunkt der Regenzeit gejätet. Wilde Affen und Vögel gefährden den Ernteerfolg und können ganze Felder ausplündern. Die Feldarbeit wird von Männern und Frauen gemeinsam ausgeführt. Die Bewässerungssysteme in der Sonderverwaltungsregion haben eine Gesamtlänge von 140 Kilometern und versorgen die Felder von 5000 Familien. Zwar befindet sich der Großteil der Anlagen im Besitz der Regierung oder der lokalen Kommunen, Missmanagement sorgt aber dafür, dass angesichts der Mengen an Wasser und fruchtbarem Land die Ernteerträge hinter den Möglichkeiten liegen. Zwischen Oktober/November und der Ernte ab März herrscht in den meisten Dörfern der Sonderverwaltungsregion eine Nahrungsmittelknappheit, da die Ernte des Vorjahres nicht ausreicht. Drei Fünftel der Kinder unter fünf Jahren leiden an ständiger Unterernährung. Es fehlt zudem in der alltäglichen Ernährung an Proteinen und Vitaminen. Anfang 2010 drohte eine Hungersnot, als eine Dürre zu Missernten führte. Die meisten Familien versuchen durch Sammeln von Wildpflanzen zusätzliche Nahrung zu gewinnen. Dazu sucht man Wildbohnen (coto, ipe), Palmfarnsamen (peta), Sago, Tamarinde und anderes. Immerhin hat sich die Versorgungslage der Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten insofern gebessert, dass man sich auf den Märkten mit Nahrungsmitteln versorgen kann. Ein Großteil der Grundnahrungsmittel, wie Zucker, Reis, Mehl, Speiseöl oder Nudeln, wird aus Dili oder Indonesien importiert, was die Preise spürbar erhöht. Allein die Importsteuer für Dinge des täglichen Bedarfs aus Indonesien beträgt 5 %. Die Preise steigen noch weiter, wenn die Waren in die Verwaltungsämter außerhalb Pante Macassars gebracht werden. Seit 2008 ist die Rinderzucht rückläufig. Betrieben sie 2008 noch 65 % der Haushalte, war es 2010 weniger als die Hälfte. Die Anzahl der Tiere sank von 25.089 um ein Drittel. Die Cooperativa Café Timor (CCT) arbeitet seit 2009 an einem Rinderzuchtprogramm. Sie organisiert den Kauf und Export von etwa einem Drittel der gemästeten Rinder und Büffel nach Indonesien. Zuvor arbeiteten die Züchter eigenständig. Mehrere Kooperativen betätigen sich zum Beispiel auch im Bereich der Fischerei und des Webens von Tais. Drei Viertel der Haushalte halten Hühner, fast ebenso viele Schweine, was für Osttimor nicht ungewöhnlich ist. Relativ hoch ist im Vergleich der Anteil der Haushalte mit Ziegenhaltung, während Wasserbüffel und Schafe kaum eine Rolle spielen. 5 % der Haushalte in Oe-Cusse Ambeno halten sich Pferde, die in der Sonderverwaltungsregion angesichts der Straßenverhältnisse noch immer ihre Daseinsberechtigung als Transportmittel haben. Die Fischerei spielt nur eine geringe Rolle. Industrie In Naimeco befindet sich ein Steinbruch und eine Asphaltmischanlage. In Cunha gibt es weitere Gesteinsvorkommen, die sich als Baustoff eignen. Bausand findet sich in Kinloki. Daneben gibt es einige Zementziegeleien, Reismühlen, Tischlereien und in Heimarbeit werden Tais gewebt. Oft fehlt es aber an Investitionskapital und ausgebildeten Arbeitskräften. Dazu kommt die Abhängigkeit von Lieferungen von Rohmaterial und Rohstoffen aus Dili oder Indonesien. Trotzdem gibt es etwa 600 Unternehmen in Oe-Cusse Ambeno, mehr als die Hälfte davon Kleinstunternehmen und meistens in Pante Macassar. In den Sucos Costa und Nipane (Verwaltungsamt Pante Macassar) ist auf 107 bis 300 ha eine Sonderzone für soziale Marktwirtschaft (ZEESM) geplant. Hier sollen sich Firmen nah dem Seehafen und dem Flughafen ansiedeln. Dazu kommen zwei Touristenressorts mit Yachthafen und Golfplätzen. Wert wird auf die soziale Verantwortung der Unternehmen gelegt. Die Einrichtung erfordert Investitionen von 4,11 Milliarden US-Dollar über 20 Jahre, davon 2,75 Milliarden US-Dollar aus privaten Quellen und 1,36 Milliarden US-Dollar vom Staat. Am 25. Mai 2014 wurde offiziell mit den Bauarbeiten für die Infrastruktur der Sonderzone begonnen. 2015, zum 500. Jahrestag der ersten portugiesischen Landung, sollen die grundlegenden Anlagen fertig sein. Handel Der Rinderhandel mit Indonesien war in den letzten Jahren eine Haupteinnahmequelle der Einwohner der Sonderverwaltungsregion. Allerdings sind die Bedingungen für die Osttimoresen für den Grenzübertritt ein Problem. Reisepass und Visum müssen in der Landeshauptstadt Dili beantragt werden, beides mit einem für die örtlichen Verhältnisse hohen finanziellen Aufwand. Oft läuft der Viehexport daher, ohne dass man die offiziellen Import-/Exportwege beachtet, zu Ungunsten der osttimoresischen Staatskasse. Allgemein ist der Schmuggel über die „Mäusepfade“ (jalan tikus) ein ernstzunehmendes Problem. Neben dem Viehhandel soll destillierter Palmwein ein Hauptexportgut Oe-Cusse Ambenos in das benachbarte Indonesien und nach Dili sein. In Pasar Tono findet einmal die Woche der wichtigste Markt der Region statt. Andere Märkte finden im Sechs-Wochen-Rhythmus statt. Neben Obst und Gemüse wird hier mit lokalen Backwaren, Tabak, Betel, Palmwein, Trockenfisch, Eier und Waren aus Indonesien, wie Kleidung und Haushaltsgegenständen gehandelt. Auch Karotten, Blumenkohl, große Zwiebeln, Kohl und Kartoffeln kommen meist aus dem indonesischen Teil Westtimors und sind entsprechend deutlich teurer. Einzige handwerkliche Produkte aus Oe-Cusse Ambeno auf den Märkten sind gewebte Tücher, Betelschachteln und Tonkrüge. Der Import von Gütern aus Indonesien hat im Laufe der Jahre zugenommen. Durch Importzölle konnte die Staatskasse Osttimors 15.873,26 US-Dollar im Jahr 2008 einnehmen, 2010 waren es schon 60.317,86 US-Dollar. Neben einer Filiale der Zentralbank Osttimors sind in der Sonderverwaltungsregion die Banco Nacional Ultramarino (BNU) und die Banco Nacional Comercial de Timor-Leste (BNCTL) vertreten. Die Zentralbank kümmert sich unter anderem um den Umtausch fremder Währungen, während die beiden kommerziellen Banken zum Beispiel Kredite ab 80 US-Dollar zur Geschäftsgründung anbieten. Bei der BNCTL haben 1191 Kunden in Oe-Cusse Ambeno Kredite, 3261 besitzen ein Sparkonto (Stand 2014). Infrastruktur und Verkehr Das Inur-Sacato-Kraftwerk in Sacato ist seit 2015 im Betrieb. Gebaut wurde es von der finnischen Firma Wärtsilä. Bis 2016 sollte es durch ein Gas-und-Dampf-Kombikraftwerk ergänzt werden, um auch die Neubauten der ZEESM zu versorgen. Das 37 Millionen US-Dollar teure Kraftwerk hat mit vier Generatoren eine Leistung von 17,3 kW und soll die gesamte Sonderverwaltungsregion versorgen. Derzeit wird die Anlage mit Leichtöl betrieben, ein Wechsel auf Erdgas ist möglich. Davor waren nur fünf der 18 Sucos ans Stromnetz angeschlossen. Strom wurde nur für wenige Stunden in der Nacht von Dieselgeneratoren erzeugt, sofern die Fähre ausreichend Treibstoff nach Oe-Cusse Ambeno gebracht hatte. Meistens werden Petroleumlampen als Lichtquelle verwendet. Fast alle Haushalte benutzen Holz zum Kochen. Die Wasserversorgung ist mangelhaft, auch wenn über 60 % der Haushalte Zugang zu sauberen Trinkwasserquellen haben. Dabei haben nur 20 % das Wasser am oder im Haus. Die Bewohner der anderen Haushalte müssen zumeist das Trinkwasser aus öffentlichen Leitungen, Brunnen, Quellen (89 in der ganzen Sonderverwaltungsregion) oder Gewässern holen. In den ländlichen Regionen liegt der Pro-Kopf-Wasserverbrauch bei 30 bis 60 Litern pro Tag, in der Stadt bei 60 bis 120 Litern. Davon sind aber nur fünf Liter Trinkwasser, welches immer vor der Nutzung gekocht werden muss. Mitschuld an der mangelnden Infrastruktur haben die Indonesier, die 1999 nahezu das gesamte Strom- und Wassernetz zerstörten oder abbauten und fortbrachten, ebenso wie Metalldächer, Solarzellen und Fahrzeuge. 35 % der städtischen und 18,9 % der ländlichen Haushalte haben funktionierende Toiletten. 94 % der Haushalte Oe-Cusse Ambenos wohnen im Eigenheim, bei 3 % gehört das Haus der Familie. Nur ein Fünftel aller Wohnhäuser sind aus Ziegeln oder Beton, der Großteil der Gebäude wird immer noch aus Naturmaterialien wie Bambus, Palmwedeln oder Lehm hergestellt. Auch die Dächer bestehen meist aus Palmwedeln, wobei ein Drittel der Wohnhäuser inzwischen Dächer aus Zink- und Eisenblech hat. Das problematische Asbest, das während der indonesischen Besatzungszeit Verwendung fand, benutzen nur noch 45 Wohnhäuser. Gerade mal ein Fünftel der Wohnhäuser hat Beton- oder Fliesenböden. Ansonsten herrscht noch gestampfter Lehm als Baumaterial vor. Von Sacato aus führt die Überlandstraße A19 die Küste entlang nach Westen bis Pante Macassar. Weiter bis zur indonesischen Grenze geht die A18. Die A17 führt von Pante Macassar bis nach Passabe und dann wieder nach Norden bis nach Nitibe. Kleinere Orte werden durch schlechter ausgebaute Straßen und Pisten mit der Außenwelt verbunden. Insgesamt verfügt Oe-Cusse Ambeno über 350 Straßenkilometer, 23 Kilometer davon sind Ortsstraßen (2014). Die Straßen sind bestenfalls mit Schotter bedeckt, meist sind es aber einfachste Pisten. Den öffentlichen Personentransport zwischen den Orten übernehmen zumeist Kleinbusse mit neun Sitzen (Mikroléts) oder Lastwagen. Seit 2004 gibt es in Pante Macassar auch Motorrad-Taxis. 2022 führte die Regionalbehörde für Fahrzeuge aus der Exklave Kfz-Kennzeichen ein, die statt der ersten zwei Ziffern oder dem einzelnen Buchstaben für das Motorrad die Buchstaben OE haben. Oe-Cusse Ambeno hat einige Hubschrauberlandeplätze und den Aeroporto Internacional de Oe-Cusse Rota do Sândalo (ehemals Flugfeld Palaban), zwischen Lifau und Pante Macassar (ICAO: WPOC, IATA: OEC), der inzwischen für größere Passagiermaschinen ausgebaut ist. Seit Juni 2017 besteht eine Flugverbindung nach Dili mit einer Zwei-Propeller-Maschine der ZEESM-Behörde. Täglich außer sonntags wird die Route hin und zurück in 35 Minuten geflogen. Die Verbindung mit dem Mutterland wird durch die Fähren Berlin-Ramelau, Berlin Nakroma und einige Frachtschiffe gehalten, die zwischen Pante Macassar und Dili verkehren. Kitahara Mahata, der Hafen von Pante Macassar liegt zwei Kilometer östlich des Zentrums bei Mahata. Er wurde zwischen 2011 und 2013 mit japanischer Hilfe erweitert, kann aber nur Schiffe mit maximal 22 Bruttoregistertonnen bedienen. Insgesamt kann der Hafen 2000 Tonnen an Gütern aufnehmen. Pante Macassar verfügt über das einzige Krankenhaus der Sonderverwaltungsregion. Die medizinische Versorgung der Bevölkerung außerhalb übernehmen kommunale Gesundheitszentren in Baqui, Oesilo, Passabe und Citrana, 17 medizinische Stationen in kleineren Orten und 18 kommunale Gesundheitsdienste. Timor Telecom, Telkomcel und Telemor betreiben Telekommunikationsnetze in Oe-Cusse Ambeno. Jeder vierte Haushalt verfügte 2010 über ein Telefon, Mobiltelefone mit eingerechnet. Der lokale Radiosender ist Radio Komunidade Atoni Lifau auf 93,3 MHz. Ein Viertel der Haushalte verfügt über ein Radio, jeder zehnte über einen Fernseher. Einzige regionale Zeitung ist die seit 2003 bestehende Lifau Post. Sport Das Fußballteam Associação Desportiva Oecusse (Ad. Oecusse) spielte in der nationalen Liga Taça Digicel. Im Mai 2014 fand der ZEESM Cup (Copa ZEESM) statt, bei dem mehrere lokale Fußballvereine gegeneinander antraten. Persönlichkeiten aus Oe-Cusse Ambeno Francisco Xavier Marques (1962–2022), Distriktsadministrator Arsénio Bano (* 1974), Politiker Fernando Hanjam, Hochschullehrer und Politiker Noémia Sequeira (* 1980), Politikerin Lúcia Taeki (* 1972), Politikerin Jorge da Conceição Teme, Politiker Partnerschaften Oeiras, Portugal (seit 30. September 2014) Der fiktive Staat Occussi-Ambeno In den 1970er Jahren gründete eine Gruppe um den neuseeländischen Anarchisten Bruce Grenville einen fiktiven Staat, das Sultanat von Occussi-Ambeno. Sie erfanden eine Geschichte des Landes und begannen Briefmarken, Briefköpfe usw. herauszugeben. Die Briefmarken fanden unter Sammlern weltweit Absatz. Literatur Michael Rose: The Book of Dan. The Door in the Tree. Emergent Frameworks for Faith and Healing among the Meto of Timor-Leste, 2017. Weblinks Sonderzone für soziale Marktwirtschaft ZEESM (englisch) Ministerium für Staatsverwaltung und Territorialmanagement: Oecusse (englisch) Laura Suzanne Meitzner Yoder: Tensions of Tradition: Making and remaking claims to land in the Oecusse enclave, Australian National University 2011 Jornal da República: Gesetz 03/2014 zur Schaffung der Behörde der Sonderverwaltungsregion Oecusse ARAEO (portugiesisch) La’o Hamutuk: Special Economic Zone in Oecusse: Kritische Bewertung der ZEESM durch eine osttimoresische NGO (englisch & tetum) Belege Hauptbelege Michael Geoffrey Audley-Charles: The Geology of Portuguese Timor. In: Memories of the Geological Society of London. Nr. 4, 1968. Arsenio Bano: Zonas Especiais de Economia Social de Mercado de Timor-Leste [ZEESM T-L] (Projecto Piloto Distrito Oecusse), 2014 (englisch). Geoffrey C. Gunn: History of Timor. iseg.utl.pt (PDF; 805 kB) verfügbar vom Centro de Estudos sobre África, Ásia e América Latina, CEsA der TU-Lissabon; abgerufen am 18. Juni 2014. Boaventura Soares da Silva u. a. (Hrsg.): Perfil Distritu Oecusse. Direksaun Nacional Administrasaun Local, Dili, Timor-Leste, 2012; descentralizasaun.files.wordpress.com (PDF; tetum). Laura Suzanne Meitzner Yoder: Custom, Codification, Collaboration: Integrating the Legacies of Land and Forest Authorities in Oecusse Enclave, East Timor. Dissertation, Yale University, 2005; . District Profile Oecussi Enclave, Democratic Republic of East Timor. Ministry of State Administration, Government of Timor-Leste, 2002 (englisch);estatal.gov.tl (PDF; 687 kB). Einzelnachweise Gemeinde in Osttimor Exklave Grenze zwischen Indonesien und Osttimor
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https://de.wikipedia.org/wiki/John%20Vanbrugh
John Vanbrugh
Sir John Vanbrugh [], auch [] (getauft 24. Januar 1664 in London; † 26. März 1726 ebenda) war ein englischer Barock-Architekt und Dramatiker. Sein bekanntestes Bauwerk ist Blenheim Palace. Seine beiden provokanten Komödien The Relapse (Der Rückfall, 1696) und The Provoked Wife (Die provozierte Ehefrau, 1697) waren große Bühnenerfolge und wurden kontrovers diskutiert. Leben Vanbrugh vertrat sein Leben lang radikale Ansichten. Als junger Mann war er ein überzeugter Anhänger der Whig-Partei und an der Glorious Revolution beteiligt, die den Sieg des Parlamentarismus in England besiegelte. In ihrem Verlauf wurde der absolutistisch gesinnte König Jakob II. durch Wilhelm von Oranien-Nassau ersetzt, der 1689 als William III. den englischen Thron bestieg. Vanbrughs Beteiligung an dem Umsturz führte dazu, dass er einige Zeit als politischer Gefangener in der Bastille von Paris verbringen musste. Mit seinen auch in sexueller Hinsicht unverblümten Bühnenstücken, in denen er die Rechte verheirateter Frauen verteidigte, verstieß er gegen die Regeln der englischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Er wurde deshalb immer wieder angegriffen und war das Haupt-Angriffsziel von Jeremy Colliers Schrift A Short View of the Immorality and Profaneness of the English Stage (Eine kurze Betrachtung über die Unsittlichkeit und Gottlosigkeit der englischen Bühne). Als Architekt schuf er Bauten, die später als englischer Barock bezeichnet wurden. Sein architektonisches Werk war nicht weniger kühn als seine frühen politischen Aktivitäten oder seine Bühnenstücke. Auch damit erregte er die Kritik Konservativer. Vanbrughs Londoner Karriere lässt sich nicht als geradlinig bezeichnen. Er versuchte, sein Leben als Dramatiker, Theaterintendant und Architekt in Einklang zu bringen und verfolgte häufig mehrere Tätigkeiten parallel. Frühe Jahre Informationen über Vanbrughs familiären Hintergrund und über seine frühen Lebensjahre sind überwiegend in Form von Gerüchten und Anekdoten überliefert worden. Vanbrughs Biograf Kerry Downes konnte in seiner 1987 veröffentlichten Vanbrugh-Biografie zeigen, dass selbst die Daten seriöser Quellen wie der Encyclopædia Britannica und des Dictionary of National Biography auf vagen Vermutungen des 18. und 19. Jahrhunderts beruhen, die sich im Laufe der Jahrzehnte zu allgemein anerkannten Tatsachen entwickelten. In diesem Artikel wird auf neuere Forschungen von Downes (1987) und McCormick (1991) zurückgegriffen. Vanbrugh wurde 1664 in London geboren und wuchs in Chester auf, wohin die Familie während der Großen Pest 1665/1666 geflüchtet war. Downes bezweifelt die Aussagen früherer Wissenschaftler, dass Vanbrugh aus einer Familie der unteren Mittelschicht kam und interpretiert dies als eine Fehldeutung von Angaben aus dem 18. Jahrhundert, dass sein Vater Giles Vanbrugh den Beruf eines „sugar bakers“ (wörtlich Zuckerbäckers) ausübte. Der Beruf des Zuckerbäckers impliziert Wohlstand, denn damit wurde nicht der Hersteller von Süßigkeiten bezeichnet, sondern der Besitzer einer Manufaktur, in der Rohrzucker aus Barbados veredelt wurde. Die Zuckerveredelung war gewöhnlich auch mit dem Zuckerhandel verbunden und ein lukrativer Geschäftszweig. Downes konnte am Beispiel eines Liverpooler Zuckerbäckers zeigen, dass dieser ein beachtliches Einkommen von ungefähr 40.000 Pfund im Jahr erzielen konnte. Dies wirft ein deutlich anderes Licht auf Vanbrughs sozialen Hintergrund als das Bild einer Jugend in einem Süßigkeitenladen von Chester, das einer der Vanbrugh-Biografen des 19. Jahrhunderts, Leigh Hunt, im Jahre 1840 zeichnete und das spätere Biografien prägte. Unbekannt ist dagegen, was Vanbrugh vom 18. bis 22. Lebensjahr tat, nachdem er die Schule verließ. Für die Vermutung, dass er in dieser Zeit in Frankreich Architektur studierte, lassen sich keine Belege finden. Wie bereits Laurence Whistler in seiner Vanbrugh-Biografie von 1938 anmerkte, gab es für einen talentierten jungen Mann auch keinerlei Grund, nach Frankreich zu gehen, um dort Architektur zu studieren. England hätte dafür ausreichend Möglichkeiten geboten. Vanbrughs erste Entwürfe für das Castle Howard aus dem Jahre 1700 zeigen außerdem, dass er mit architektonischen Zeichnungen weitgehend unvertraut war. Hätte er einige Jahre bei einem französischen Architekten gearbeitet, wäre dies eines der ersten Dinge gewesen, die er gelernt hätte. 1686 erhielt Vanbrugh eine Offizierskommission im Regiment eines seiner entfernten Verwandten, des Earl of Huntingdon. Solche Kommissionen zu vergeben war dem kommandierenden Offizier des Regiments vorbehalten. Dass Vanbrugh eine solche Stelle erhielt, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass er aufgrund seiner Herkunft über wichtige Beziehungen verfügte. Vanbrugh hatte jedoch trotz dieser entfernten adeligen Verwandtschaft und der Betätigung seines Vaters als Zuckerbäcker während keiner Phase seines Lebens ausreichend Eigenkapital, um Unternehmungen wie das Haymarket Theatre eigenständig zu finanzieren. Er griff dabei auf Kredite und Beteiligungen zurück und war die meiste Zeit seines späteren Lebens verschuldet. Dazu mag auch beigetragen haben, dass John Vanbrugh elf Geschwister hatte, mit denen er sich das Erbe seines Vaters teilen musste. Politische Aktivitäten und der Aufenthalt in der Bastille Ab 1686 war Vanbrugh aktiv an den Plänen beteiligt, Jakob II. durch eine bewaffnete Invasion von Wilhelm von Oranien-Nassau zu entmachten. In seiner Beteiligung an der später so genannten Glorious Revolution drückt sich seine lebenslange Identifikation mit dem Hauptanliegen der Whig-Partei aus, dem Erhalt der Parlamentsherrschaft. Im September 1688, zwei Monate bevor Wilhelm mit seinen Truppen in England landete, wurde Vanbrugh, der ihm Nachrichten nach Den Haag überbracht hatte, im französischen Calais verhaftet. Man warf ihm Spionage vor, und er verbrachte die nächsten viereinhalb Jahre in französischen Gefängnissen – darunter auch in der Pariser Bastille –, bis er gegen einen französischen politischen Gefangenen ausgetauscht wurde. Die Erfahrungen der Gefangenschaft, die er mit 24 Jahren antrat und aus der er mit 29 entlassen wurde, scheinen bei ihm eine klare Ablehnung des politischen Systems und eine Vorliebe für die komischen Dramatiker und die Architektur Frankreichs ausgelöst zu haben. Die Vermutung, dass Vanbrugh Teile seiner Komödie The Provoked Wife während der Gefangenschaft in der Bastille geschrieben hat, wird von modernen Wissenschaftlern angezweifelt. Nach seiner Entlassung aus der Bastille 1692 war Vanbrugh gezwungen, sich noch weitere drei Monate in Paris aufzuhalten. Diese drei Monate gaben ihm die Gelegenheit, eine Architektur zu sehen, die in England kein Gegenstück hatte. Vanbrugh kehrte 1693 nach England zurück und war 1694 Teilnehmer der Seeschlacht gegen die Franzosen in der Camaret-Bucht. Der genaue Zeitpunkt, zu dem er sich Mitte der 1690er Jahre aus dem Militärdienst verabschiedete, um in London zu leben, ist nicht bekannt. Der „Kit-Cat-Klub“ Vanbrugh gehörte der Whig-Partei an und war Mitglied des zu dieser Partei gehörigen Kit-Cat-Klubs. Aufgrund seiner charmanten Persönlichkeit und seiner Fähigkeit, Freundschaften zu schließen – charakterliche Eigenarten, die ihm von vielen seiner Zeitgenossen zugeschrieben wurden – gehörte er zu den populärsten und beliebtesten Mitgliedern dieses Klubs. Der Klub wird heute überwiegend als der gesellschaftliche Treffpunkt von politisch und kulturell aktiven Whigmitgliedern beschrieben. Zu seinen Mitgliedern zählten viele Künstler und Schriftsteller wie William Congreve, Joseph Addison, Godfrey Kneller und Politiker wie John Churchill, 1. Duke of Marlborough, Charles Seymour, 6. Duke of Somerset, Thomas Pelham-Holles, 1. Duke of Newcastle-upon-Tyne und Sir Robert Walpole. Politisch verfolgte der Klub die Ziele eines starken Parlaments, einer eingeschränkten Monarchie, des Widerstands gegen Frankreich und einer protestantischen Nachfolge auf dem Thron, auch wenn der Klub nach außen eher seine Rolle als gesellschaftlicher Treffpunkt betonte. Der Vanbrugh-Biograf Downes spekuliert, dass die Ursprünge des Kit-Cat Klubs auf die Zeiten vor dem politischen Umsturz von 1689 zurückgehen und dass er als geheimes politisches Bündnis eine Rolle in der so genannten Glorious Revolution spielte, die zum Umsturz führte. Horace Walpole, Sohn des Kit-Cat-Mitglieds und englischen Premierministers Robert Walpole, behauptete, dass die respektablen älteren Mitglieder, die im Allgemeinen als Salonlöwen beschrieben wurden, „in Wirklichkeit die Patrioten waren, die Großbritannien retteten“ und deutet damit die Rolle an, die Klubmitglieder bei der „Glorious Revolution“ spielten. Da geheime politische Bündnisse in der Regel schlecht dokumentiert sind, lässt sich diese Spekulation nicht belegen. Trifft die Vermutung jedoch zu, dann schloss sich Vanbrugh – der aufgrund seiner Verwicklungen in diesen Umsturz Jahre in französischen Gefängnissen saß – nicht nur einigen Londoner Salonlöwen an, sondern nahm mit der Mitgliedschaft wieder Verbindung zu alten Freunden und ehemaligen Mitverschwörern auf. Das Theater am Haymarket Im Jahre 1703 erwarb Vanbrugh Grundstücke und beauftragte die Errichtung eines neuen, von ihm selbst entworfenen Theaters am Haymarket in London. Das Theater wurde als Queen’s Theatre 1705 eröffnet. Vanbrughs Queen’s Theatre sollte als Spielstätte für eine Schauspielergruppe unter Leitung von Thomas Betterton dienen und der Londoner Theaterszene mehr Entfaltungsmöglichkeiten geben. Dem Londoner Publikum stand eine große Bandbreite an Unterhaltungsmöglichkeiten zur Verfügung: Oper, Tierdressuren, Jonglage, Pantomime, durchziehende Tanztruppen und die Konzerte berühmter italienischer Sänger konkurrierten um ihre Gunst und Eintrittsgelder. Vanbrugh erwarb die Schauspielgruppe in der Hoffnung, mit dem Theater Geld verdienen zu können. Der Kauf der Schauspielergruppe verpflichtete ihn jedoch auch zur Zahlung der Schauspielergehälter und führte letztlich dazu, dass er das Theater leitete. Dafür hatte er aber weder die nötige Erfahrung noch genügend Zeit, zumal er ab 1705 unter anderem den Bau des Blenheim Palace überwachte. Unter diesen Umständen ist es nicht überraschend, dass seine Theaterleitung als konfus, ineffizient und als voll von Fehleinschätzungen beschrieben wird (numerous signs of confusion, inefficiency, missed opportunities, and bad judgments – Judith Milhouse, 1979). Vanbrugh trennte sich 1708 unter großem finanziellem Verlust wieder vom Theatergeschäft. Seine Zeitgenossen fanden es bemerkenswert, dass Vanbrugh während seiner Zeit als Theaterleiter die Gehälter seiner Schauspieler (und als Architekt die seiner Bauarbeitern) nicht nur zuverlässig, sondern auch stets in voller Höhe zahlte. Üblicher war es im Großbritannien des 18. Jahrhunderts, solchen finanziellen Verpflichtungen nur zögerlich nachzukommen. Da Vanbrugh selbst das Opfer einer solch mangelhaften Zahlungspraxis war, hatte er während seines ganzen Lebens erhebliche finanzielle Probleme. Das Queen’s Theatre begründete eine lange Theatertradition am Haymarket. Von 1710 bis 1745 wurden in dem Gebäude fast alle Opern und viele Oratorien Georg Friedrich Händels uraufgeführt. 1790 wurde das seit 1714 King’s Theatre benannte Gebäude durch Feuer zerstört. An der Stelle des Theaters wurde danach ein weiteres King’s Theatre errichtet; heute steht an diesem Ort Her Majesty’s Theatre von 1897, in dem vor allem Musicals aufgeführt werden. Auch an einer anderen Stelle des Haymarkets wird seit 1720 in wechselnden Gebäuden Theater gespielt, seit 1820 im inzwischen ebenfalls mehrfach umgebauten Theatre Royal Haymarket des Architekten John Nash. Heirat und Tod 1719 heiratete der 55-jährige Vanbrugh die 26-jährige Henrietta Maria Yarborough. Trotz des beträchtlichen Altersunterschieds war die Ehe, aus der zwei Söhne hervorgingen, wohl glücklich. Im Gegensatz zu den Wüstlingen und Spottfiguren seiner Stücke war Vanbrughs Privatleben ohne Skandal. 1703 ließ er sich aus den Ruinen des Whitehall Palace ein bescheidenes Stadthaus errichten, das Jonathan Swift spöttisch als „Gänse-Pie“ bezeichnete. Den größten Teil seines Ehelebens verbrachte er jedoch in Blackheath, das damals noch nicht als Teil von London betrachtet wurde, und lebte dort in dem von ihm 1717 errichteten Haus auf dem Maze-Hügel, das heute als Vanbrugh Castle bekannt ist. Dieses Haus mit seinem runden Turm gleicht einer schottischen Burg und wirkt, als sei es befestigt. In manchem scheint Vanbrugh hier den romantischen Geist der Neugotik vorwegzunehmen. 1714 wurde Vanburgh von König Georg I. als Knight Bachelor („Sir“) in den Adelsstand erhoben, 1726 starb er in seinem Londoner Stadthaus. Der Dramatiker Als Vanbrugh in den 1690er Jahren nach London kam, verfügte die Stadt nur über eine einzige königlich anerkannte Theatergruppe mit einem festen Spielort. Nach einem lang währenden internen Streit zwischen der knauserigen Theaterleitung und den unzufriedenen Schauspielern brach diese Theatergruppe in die zwei Schauspielgruppen United Company und Rebel actors auseinander. Der Schauspieler Colley Cibber ergriff die Gelegenheit und schrieb eine für die unterbesetzte United Company spielbare Komödie mit dem Titel Love’s Last Shift, Or, Virtue Rewarded (Der Liebe letzte Verrückung oder die belohnte Tugend). Sich selbst schrieb er dabei die Rolle des eitlen, extravaganten Sir Novelty Fashion auf den Leib und eroberte sich damit die Herzen des Londoner Publikums. In Love’s Last Shift wird weibliche Geduld durch einen außer Kontrolle geratenen Ehegatten auf die Probe gestellt, und das Stück endet in einem dramatischen Finale, in dem der betrügerische Ehemann vor seiner Frau kniend tief bereut. Das Stück war damals ein großer Kassenerfolg, wird jedoch seit dem frühen 18. Jahrhundert nicht mehr gespielt. Vanbrugh war der Überzeugung, dass das Stück nach einer Fortsetzung verlangte und begann, diese Fortsetzung selbst zu verfassen. Der Rückfall oder die gefährdete Tugend Vanbrughs geistreiche Fortsetzung The Relapse, Or, Virtue in Danger (Der Rückfall oder die gefährdete Tugend), die er der United Company sechs Wochen später anbot, hinterfragt die Rolle, die die damalige Zeit einer Frau in einer Ehe zustand. Nicht nur der zu eheliche Treue bekehrte Mann, sondern auch seine geduldige Frau geraten in sexuelle Versuchung, und beide reagieren darauf in einer glaubhafteren und weniger vorhersehbaren Weise als in Cibbers Stück. Die in Love’s Last Shift eher flachen Charaktere erhalten bei Vanbrughs Fortsetzung erheblich mehr psychologischen Tiefgang. In einer witzigen Nebenhandlung kehrt der eitle und extravagante Sir Novelty Fashion zurück, der als erstes mittels Bestechung einen adligen Titel erwirbt und sich nun Lord Foppington nennt (das englische Wort fop bedeutet eitel, aufgeblasen). Auch aus ihm macht Vanbrugh mehr als nur eine lachhafte, lächerliche Randfigur – ihn zeichnet er gleichzeitig als rücksichtslos, rabiat und findig. Vanbrughs Fortsetzung wäre beinahe nicht aufgeführt worden. Der verbliebene Rest der United Company hatte nicht nur die erfahrensten Schauspieler an die Rebel Actors verloren, sondern hatte auch Probleme, überhaupt genügend geeignete neue Schauspieler zu finden, um das Stück auf die Bühne bringen zu können. Da sich die Proben über zehn Monate hinzogen, sprangen einige Schauspieler wieder ab, und am Ende der Proben war die Theatergruppe am Rande des Bankrotts. Von Beginn an war das Stück jedoch ein großer Erfolg und bewahrte die Theatergruppe so vor dem finanziellen Ende. Großen Anteil am Erfolg hatte Colley Cibber, der mit der Rolle des Lord Foppington an seinen Erfolg als Sir Novelty Fashion anknüpfen konnte. Die provozierte Ehefrau Vanbrughs zweite Komödie Die provozierte Ehefrau folgte kurze Zeit darauf und wurde von den Rebel Actors aufgeführt. Das Stück unterscheidet sich im Ton deutlich von The Relapse, das eher als Farce angelegt war, und war auf die größere schauspielerische Erfahrung der Rebel Actors zugeschnitten. Elizabeth Barry, die die Rolle der missbrauchten Ehefrau Lady Brute spielte, war berühmt für ihr tragisches Talent und ihre Fähigkeit, das Publikum zu Mitleid und Tränen zu rühren. Anne Bracegirdle, die ihre Nichte spielte, war ihre komödiantische Ergänzung. Die Rolle des Sir John Brute, des grausamen Ehemanns, wurde von Thomas Betterton gespielt und gilt als eine der Höhepunkte seiner bemerkenswerten Karriere. Der Inhalt des Stückes – eine Ehefrau gefangen in einer unglücklichen Ehe, die schwankt, ob sie den Ehemann verlassen oder sich einen Liebhaber nehmen solle – war ungewöhnlich für eine Komödie der englischen Restaurationszeit und erregte einiges an Kritik. Reaktion auf das Stück Der puritanische Geistliche Jeremy Collier wählte für seine 1698 erschienene Schrift A Short View of the Immorality and Profaneness of the English Stage insbesondere John Vanbrughs Komödien aus, um an diesen die Unmoral und Verkommenheit der britischen Bühnen darzustellen. Er kritisierte diese Stücke insbesondere dafür, dass ihnen die Poetische Gerechtigkeit fehle – unmoralische Handlungen wurden nicht bestraft, Gutes nicht belohnt. Vanbrugh fand diese Vorwürfe lachhaft und veröffentlichte einen ironischen Kommentar, in dem er Collier anklagte, sensibler auf die wenig schmeichelhafte Darstellung des kirchlichen Standes zu reagieren als auf wahre Gottlosigkeit. Die öffentliche Meinung jedoch teilte zunehmend Colliers Ansicht. Die sexuell unzweideutigen Komödien der englischen Restaurations-Zeit wurden zunehmend unpopulärer beim englischen Publikum und daher zunehmend durch „moralischere“ Stücke ersetzt. Schon Cibbers Stück Love’s Last Shift, das mit einer sentimentalen Reueszene endet, war ein Vorläufer dieses Trends. Obwohl Vanbrugh weiterhin in unterschiedlicher Weise für das Theater arbeitete, veröffentlichte er keine weiteren eigenen Stücke. Als sich das Publikum zunehmend weniger für die Komödie im Stil der englischen Restauration interessierte, konzentrierte er seine kreativen Kräfte zunehmend auf Übersetzungsarbeiten, Theaterleitung und Architektur. Der Architekt Es ist heute weitgehend Konsens, dass Vanbrugh keine formale Ausbildung als Architekt erhielt. Seine Unerfahrenheit wurde jedoch durch einen guten Blick für Perspektive und Detail und durch seine enge Zusammenarbeit mit Nicholas Hawksmoor kompensiert. Der ehemalige Mitarbeiter von Sir Christopher Wren war Vanbrughs engster Mitarbeiter bei seinen ambitioniertesten Projekten – insbesondere beim Bau von Castle Howard und Blenheim Palace. Während seiner fast dreißigjährigen Laufbahn als Architekt entwarf und erbaute Vanbrugh zahllose Gebäude. Häufig waren seine Arbeiten lediglich Umbauten wie etwa am Kimbolton Castle, bei denen Vanbrugh weitgehend den Anweisungen seiner Bauherren folgte. Diese Häuser, die heute häufig als Werk Vanbrughs bezeichnet werden, weisen jedoch den für ihn typischen Baustil nicht auf. Vanbrugh bevorzugter Baustil war der Barock, der sich auf dem europäischen Festland dank Gian Lorenzo Bernini und Louis Le Vau während des 17. Jahrhunderts durchgesetzt hatte. Das erste barocke Landhaus Englands, Chatsworth House von William Talman, entstand erst 1696, also drei Jahre vor dem Baubeginn von Castle Howard. In dem Wettbewerb um den Auftrag für Castle Howard schaffte es der unerfahrene Vanbrugh dank seiner Beziehungen und seinem Charme, den erfahreneren Talman auszustechen, der weitaus weniger soziale Verbindungen besaß. Der Bauherr Charles Howard, dritter Earl of Carlisle, der wie Vanbrugh Mitglied des Kit-cat-Klubs war, wählte 1699 Vanbrugh als Architekt und gab ihm damit die Chance, aus dem typischen europäischen Barock mit seiner überbordenden Formfülle eine deutlich verhaltenere, subtilere Variante zu entwickeln, die heute als englischer Barock bezeichnet wird. Castle Howard war das erste Hauptwerk des architektonischen Schaffens Vanbrughs. Die weiteren Hauptwerke sind Blenheim Palace (beauftragt 1704) und Seaton Delaval Hall (Baubeginn 1718). Die Bauarbeiten dieser drei architektonischen Hauptwerke überlappten sich. Vanbrughs sofortiger Erfolg als Architekt kann seinen sozialen Beziehungen zugeschrieben werden. Nicht weniger als fünf seiner Bauherren waren wie er Mitglieder des Kit-cat-Klubs. Seine Ernennung zum Comptroller of the Royal Works – Inspektor der königlichen Bauarbeiten – im Jahre 1702 verdankt er seinen Beziehungen zu Charles Howard, dem Earl of Carlisle. 1703 wurde ihm auch die Überwachung der Baufortschritte am Greenwich Hospital übertragen. Er war damit Nachfolger des bedeutenden englischen Architekten Christopher Wren, Hawksmoor war der ausführende Architekt vor Ort. Vanbrughs kleine, aber deutlich sichtbaren Ergänzungen an dem nahezu fertiggestellten Gebäude werden als gedankliche Fortsetzung von Wrens ursprünglichen Plänen und Intentionen betrachtet. Das ursprünglich als Krankenhaus und Heim für verarmte Seeleute im Ruhestand geplante Gebäude wurde gleichfalls zu einem großartigen nationalen Monument. Sowohl Queen Anne wie auch ihre Regierung sollen von seiner Ausführung begeistert gewesen sein und damit für seine weiteren Erfolge verantwortlich sein. Castle Howard Der von Vanbrugh entworfene Herrensitz Castle Howard wird heute oft als das erste wirklich barocke Gebäude bezeichnet, das in England entstand. Es gilt gleichzeitig als das Gebäude, dessen Stil noch am ehesten dem Barock des europäischen Festlands gleicht. Castle Howard war ein Gebäude, dem kein zweites in England glich, und die Fassaden und Dächer, die mit Säulen, Statuen und fließenden Ornamenten dekorierten waren, ließen dieses Barockgebäude zu einem sofortigen Erfolg werden. Bereits 1709 konnten die meisten Teile von Castle Howard bezogen werden, die abschließenden Arbeiten zogen sich jedoch durch Vanbrughs gesamtes Leben. Die Arbeiten am Westflügel wurden sogar erst nach Vanbrughs Tod abgeschlossen. Der Erfolg des Castle Howard sorgte dafür, dass Vanbrugh einen Anschlussauftrag erhielt, der zu seiner berühmtesten architektonischen Leistung führte. Blenheim Palace John Churchill, 1. Duke of Marlborough, hatte in der Zweiten Schlacht bei Höchstädt in dem kleinen Ort Blindheim (englisch ausgesprochen Blenheim) an der Donau zusammen mit seiner Armee das Heer des französischen Königs Ludwig XIV. geschlagen. Ein prachtvoller Landsitz war das Geschenk einer dankbaren Nation an den Sieger Marlborough. Die Arbeit am Palast begann 1705. Vanbrughs Arbeiten werden gelegentlich dafür kritisiert, dass sie unpraktisch und bombastisch waren und extravaganter ausfielen als von seinen Bauherren ursprünglich gewünscht. Dieser Ruf geht im Wesentlichen auf seine Arbeiten an Blenheim Palace zurück. Die Wahl Vanbrughs als Architekt für dieses Bauprojekt war dabei umstritten. Sarah Churchill, die temperamentvolle Duchess of Marlborough, wünschte Christopher Wren als Architekt für Blenheim Palace. Ein Erlass des Schatzmeisters des Parlaments, Lord Godolphin, bestimmte jedoch Vanbrugh zum Architekten. Dass der Erlass weder die Queen noch den königlichen Haushalt als Auftraggeber nannte, erwies sich später als königliches Schlupfloch, als die Kosten des Baus und die internen politischen Kämpfe zunahmen. Das Parlament hatte zwar dem Bau des Palastes auf Staatskosten zugestimmt, jedoch dabei keine genaue Bausumme festgelegt. Von Beginn an war der Geldzufluss wechselhaft. Queen Anne beglich zwar anfangs einige der Baukosten, doch erfolgte die Bezahlung zunehmend zögerlicher, als sich die Kluft zur Duchess of Marlborough, ihrer vormals engsten Freundin, weitete. 1712 kam es zum endgültigen Bruch zwischen den zwei Frauen; der Duke und die Duchess of Marlborough gingen ins Exil. Alle Arbeiten an Blenheim Palace wurden unterbrochen. 220.000 Pfund waren bis zu diesem Zeitpunkt für den Bau bereits ausgegeben, 45.000 Pfund schuldete man noch den Handwerkern. Einen Tag nach dem Tod der Queen im Jahre 1714 kehrte das Ehepaar Marlborough aus dem Exil zurück und wurde mit Ehren am Hof des neuen Königs George I. aufgenommen. Der mittlerweile 64-jährige Duke entschied sich, Blenheim Palace auf eigene Kosten weiterbauen zu lassen. Obwohl Vanbrugh durch die Kritik gegenüber seinem Bau entmutigt war, nahm er die Arbeit als Architekt wieder auf. 1717 erlitt der Duke einen Schlaganfall, der ihn hilflos zurückließ; die sparsame und Vanbrugh gegenüber sehr kritisch eingestellte Duchess war nun Bauherrin. Die Duchess machte allein Vanbrugh für die zunehmende Extravaganz des Baus verantwortlich und ignorierte dabei, dass den Plänen sowohl ihr Ehemann wie auch das Parlament zugestimmt hatten. Es kam zum Bruch; die Bauarbeiten wurden unter der Leitung von Nicholas Hawksmoor bis 1722 fortgesetzt. Blenheim sollte nicht nur ein großer Landsitz werden, sondern gleichzeitig ein nationales Denkmal darstellen. Der leichtbeschwingte Barock, der Castle Howard kennzeichnet, wäre für ein Haus, das letztendlich auch ein Kriegsdenkmal war, unpassend gewesen. Der Stil des Hauses sollte militärischen Erfolg und Stärke symbolisieren. Das Osttor in der den Palast umgebenden Mauer erinnert daher eher an ein gut zu verteidigendes Stadttor als an den Zugang eines luxuriösen adligen Landsitzes. Von außen ist es kaum zu erkennen, dass dieses Tor dem Palast auch als Wasserturm diente. Blenheim Palace ist der größte nicht königliche Adelssitz in Großbritannien und besteht aus drei Gebäudeteilen. Der Mitteltrakt beherbergt die Empfangs- und Wohnräume, während in einem der flankierenden Flügel die Stallungen, in dem anderen die Küche und Wasch- und Lagerräume untergebracht sind. In den Empfangsräumen ist auf jegliche Behaglichkeit verzichtet – sie sollten bewusst überwältigend und beeindruckend wirken. Die Haupthalle, die in einen großen und mit Fresken verzierten Salon führt, ist 20 Meter hoch. Der Salon ist auf eine 41 Meter hohe Siegessäule im Park des Schlosses ausgerichtet. Die sie umgebenden Bäume symbolisieren Marlboroughs Soldaten. Das Südportal krönt Büste eine des in Blenheim unterlegenen Ludwig XIV., die von dort auf den Reichtum der Anlage herunterblickt. Es lässt sich nicht klären, ob dieser Abschluss des Südportals auf einen Vorschlag von Vanbrugh zurückgeht oder eine Ironie des in Blenheim siegreichen Marlboroughs war. Mit Blenheim Palace realisierte Vanbrugh einen Barockstil, bei dem die Wandmassen kühn und malerisch gestaltet sind. Der Palast zeichnet sich durch eine abwechslungsreiche Silhouette aus, ohne dabei in verschwenderische barocke Formenfülle zu verfallen. Seaton Delaval Hall Vanbrughs letzte Arbeit, das eher düster wirkende Seaton Delaval Hall, halten viele Architekturkritiker für seine beste Arbeit. Vanbrugh setzt hier die barocke Ornamentik auf nur sehr verhaltene und subtile Weise ein. Der Schattenwurf jedes Mauervorsprungs und jeder Säule ist dabei genau geplant, und der Silhouette des Gebäudes wird eine gleich hohe, wenn nicht sogar höhere Bedeutung als der Lage der Räume eingeräumt. Seaton Delaval House entstand zwischen 1718 und 1728 für Admiral George Delaval. Es ist möglich, dass der Entwurf des Hauses durch Palladios Villa Foscari beeinflusst ist, die um 1555 entstand, da beide Häuser sich in bestimmten Bauelementen sehr ähneln. Ähnlich wie bei Castle Howard oder dem Blenheim Palace flankieren zwei Flügel den zentralen Gebäudeteil, der die Empfangs- und Wohnräume enthält. Seaton Delaval Hall ist eines der wenigen Häuser, die Vanbrugh ohne Mitarbeit von Nicholas Hawksmoor entwarf. Die Nüchternheit ihrer gemeinsamen Bauten wird häufig dem Einfluss von Hawksmoor zugeschrieben; gerade aber Saton Delaval ist in seinem Entwurf ausgesprochen nüchtern – manche Architekturkritiker haben es als finsteres und zyklopisches Haus beschrieben, das keinem anderen Bauwerk in England oder anderswo gleiche (Lexikon der Weltarchitektur, 1992). Während Castle Howard im barocken Dresden oder Würzburg hätte stehen können, ist Seaton Delaval der herben Landschaft von Northumberland angepasst. Seaton Delaval Hall wurde im Dezember 2009 nach einem Spendenaufruf durch den britischen National Trust von dem Erben Lord Hastings erworben. Nachwirkung Als Vanbrugh unerwartet starb, fand man in seinen Papieren ein unvollendetes Manuskript für eine weitere Komödie, A Journey to London. Vanbrugh hatte seinem alten Freund Colley Cibber erzählt, dass er mit diesem Stück das traditionelle Rollenverständnis in einer Ehe noch kritischer hinterfragen wolle als mit den zwei Komödien, die er als junger Mann geschrieben hatte. Es erzählt die Reise einer auf dem Land lebenden Familie nach London, die dort den Versuchungen der Stadt zum Opfer fällt. Es ist die Ehefrau, die zum Entsetzen ihres Mannes dem verführerischen Charme der Londoner Halbwelt erliegt, und das Stück sollte nach Vanbrughs Willen mit einer zerbrochenen Ehe enden. Cibber, mittlerweile ein hochverehrter Dichter und Theaterintendant, vollendete das halbfertige Manuskript und veröffentlichte es 1728. Nach Cibbers Ansicht war das von Vanbrugh geplante Ende für eine Komödie ungeeignet; er ließ das Stück daher mit einer Szene enden, in der die Ehefrau voller Reue zu ihrem Ehemann zurückkehrt. Im 18. Jahrhundert wurden die zwei Stücke, die Vanbrugh in den 1690er Jahren schrieb, nur noch in zensierten Fassungen gespielt. Beide Stücke blieben jedoch populär. Colley Cibber spielte während seiner langen und erfolgreichen Bühnenkarriere immer wieder den Lord Foppington in The Relapse. Die Rolle des Sir John Brute in The Provoked Wife wurde zur Paraderolle erst für Thomas Betterton und später für David Garrick. The Relapse wird in unzensierter Fassung auch heute noch aufgeführt. Mit der Fertigstellung des von Vanbrugh entworfenen Castle Howard setzte sich der Barock als Baustil in England durch. Welchen Einfluss Vanbrugh auf die nach ihm folgenden Architekten hatte, lässt sich schwer abschätzen. Nicholas Hawksmoor, Vanbrughs Freund und jahrelanger Mitarbeiter entwarf auch nach Vanbrughs Tod zahlreiche Londoner Kirchen. Vanbrughs Cousin und Schüler Edward Lovett Pearce wurde zu einem der bedeutendsten Architekten Irlands. Der Baustil Vanbrughs hat die Architektur zahlloser englischer Landhäuser beeinflusst; von den von Vanbrugh geschaffen sind gleichfalls noch einige zu sehen. Zu den am besten erhaltenen Landhäusern zählen Kimbolton (1707 bis 1709), King’s Westen (1711 bis 1714), die Eingangsfront von Lumley Castle (ca. 1722) und der nördliche Teil von Grimsthorpe (1723 bis 1724). Owen Hopkins nennt Vanbrugh als einen der „Helden“ von Alison und Peter Smithson, einem Architektenpaar, das nach dem Zweiten Weltkrieg als Teil der Architektur-Gruppe Team Ten die Strömung des Brutalismus entscheidend mitgeprägt hat. Er sieht Parallelen im Wohnungsbau Robin Hood Gardens mit seiner „skulpturalen Kraft“, den die Smithsons entwarfen und der Architektur Vanbrughs. An Vanbrugh erinnern in Großbritannien die Namen zahlreicher Gasthöfe, Straßen, Universitätsgebäude und Schulen. Literatur Max Dametz: John Vanbrughs Leben und Werke. (= Wiener Beiträge zur englischen Philologie, ; Band 7). Braumüller, Wien / Leipzig 1898 (Digitalisat: Google Books, erreichbar mit US-Proxy; Nachdruck: Johnson, New York / London 1964) Kerry Downes: Sir John Vanbrugh. A Biography. Sidgwick and Jackson, London 1987, ISBN 0-283-99497-5 Vaughan Hart: Sir John Vanbrugh. Storyteller in stone. Yale University Press, New Haven/London 2008, ISBN 978-0-300-11929-9 Frank McCormick: Sir John Vanbrugh. The playwright as architect. Pennsylvania State University Press, University Park 1991, ISBN 0-271-00723-0 Laurence Whistler: Sir John Vanbrugh, Architect & Dramatist, 1664–1726. Cobden-Sanderson, London 1938 (Nachdruck: Milliwood, New York / Kraus, London 1978, ISBN 0-527-95850-6) Zum architektonischen Werk Trewin Cropplestone: World Architecture. An illustrated history from earliest times. Hamlyn, London 1963 Adalberto Dal Lago: Ville Antiche. Fabbri, Mailand 1966 Bonamy Dobrée: Introduction. In: The Complete Works of Sir John Vanbrugh. Band 1. Nonesuch Press, London 1927 David Green: Blenheim Palace. Alden Press, Oxford 1982 Robert Harling: Historic Houses. Conversations in stately homes. Condé Nast, London 1969, ISBN 0-900303-05-0 Nikolaus Pevsner, Hugh Honour, John Fleming: Lexikon der Weltarchitektur. Prestel, München 1992, ISBN 3-89853-137-6 David Watkin: English Architecture. A Concise History. Thames and Hudson, London 1979/2001, ISBN 0-500-20338-5 Zum dramatischen Werk Colley Cibber: An Apology for the Life of Colley Cibber. London 1740 (textkritische Neuausgabe, hrsg. von John Maurice Evans: Garland, New York und London 1987, ISBN 0-8240-6013-X) Michael Cordner: Playwright versus priest. Profanity and the wit of Restoration comedy. In: Deborah Payne Fisk (Hrsg.) The Cambridge Companion to English Restoration Theatre. Cambridge University Press, Cambridge 2000, ISBN 0-521-58215-6, ISBN 0-521-58812-X Frank Ernest Halliday: Abn Illustrated Cultural History of England. Thames and Hudson, London 1967 Robert D. Hume: The Development of English Drama in the Late Seventeenth Century. Clarendon Press, Oxford 1976, ISBN 0-19-812063-X Leigh Hunt (Hrsg.): The Dramatic Works of Wycherley, Congreve, Vanbrugh and Farquhar. Routledge, London 1840 Judith Milhous: Thomas Betterton and the Management of Lincoln’s Inn Fields 1695–1708. Southern Illinois University Press, Carbondale 1979, ISBN 0-8093-0906-8 Weblinks Vanbrugh, The Provoked Wife. Leider nur in einer gekürzten und zensierten Fassung Castle Howard Blenheim Palace Seaton Delaval Hall Einzelnachweise Architekt des Barock Autor Knight Bachelor Literatur (Englisch) Literatur (17. Jahrhundert) Drama Mitglied der Whig Party Architekt (London) Brite Geboren 1664 Gestorben 1726 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Mars%20Reconnaissance%20Orbiter
Mars Reconnaissance Orbiter
Der Mars Reconnaissance Orbiter (MRO, für Mars-Erkundungssatellit) ist eine NASA-Raumsonde zur Erforschung des Planeten Mars, die am 12. August 2005 zum Roten Planeten aufbrach und am 10. März 2006 ihr Ziel erreichte. Seit den Sonden Viking 1 und Viking 2 von 1975 des Viking-Programms war sie die schwerste US-amerikanische Mars-Sonde. Beim Start wog sie (mit Antrieb und Treibstoff) über 2 Tonnen. Die Gesamtkosten der Mission betrugen etwa 720 Millionen US-Dollar, davon entfielen 450 Millionen auf die Entwicklung und die Herstellung der Sonde und ihrer Instrumente, 90 Millionen auf die Trägerrakete sowie 180 Millionen für die Mission der fünfeinhalb Jahre lang geplanten Primärmission. Mit der Ankunft von MRO am Mars waren zusammen mit Mars Global Surveyor, Mars Odyssey und Mars Express erstmals vier Orbiter im Marsorbit gleichzeitig aktiv. Missionsziele Das primäre Ziel der Sonde ist die Kartografierung der Mars-Oberfläche: Der Mars Reconnaissance Orbiter bringt die bisher höchstauflösende Kamera in eine Mars-Umlaufbahn. Sie erreicht eine verbesserte horizontale Bildauflösung von einem Meter pro Pixel, während frühere Aufnahmen noch mehrere Meter pro Pixel hatten. Wegen der Begrenzung der Datenmenge, die zur Erde übermittelt werden kann, können nur ausgewählte Teile des Planeten mit der höchsten Auflösung erfasst werden. Die Aufnahmen sollen auch kleinere geologische Strukturen erkennen lassen, z. B. hydrothermale Quellen, in deren Nähe (fossiles) Leben vermutet wird. Sie ermöglichen damit auch eine gezieltere Auswahl interessanter Landestellen für weitere Marsmissionen, wie für die am 25. Mai 2008 am Mars angekommene Phoenix-Sonde und das Mars Science Laboratory im August 2012. Weiterhin sucht der MRO mit Radar nach dicht unter der Mars-Oberfläche vorhandenem Wasser und Eis, insbesondere auch an den Polkappen. Schließlich soll die Sonde für zukünftige Landemissionen als Relaisstation dienen. Technik Ursprünglich sollte der Mars Reconnaissance Orbiter mit einer Atlas-III-Rakete gestartet werden und eine Startmasse von 1.975 kg haben. Doch nachdem die neuere Atlas-V-Rakete 2002 ihren Erstflug erfolgreich absolviert hatte, entschied man sich dafür, die Sonde mit ihr zu starten, da sie zum Preis einer Atlas III mehr Nutzlast erlaubt. Dadurch stieg die Startmasse der Sonde auf 2.180 kg, wobei die Leermasse der Sonde 1.031 kg beträgt (davon sind 139 kg Instrumente) und 1.149 kg auf den mitzuführenden Treibstoff entfallen. Die tragende Struktur der Sonde ohne Geräte wiegt 220 kg und besteht aus leichten, aber festen Werkstoffen wie Titan, Kohlenstofffaser-Verbundwerkstoffen und Aluminium in Sandwich-Wabenkern-Bauweise. Die Struktur muss Startbeschleunigungen von 5 g standhalten können, was dem fünffachen Eigengewicht der Sonde (also 10.900 kg) entspricht. Energieversorgung Die Stromversorgung des Orbiters erfolgt allein durch zwei jeweils 5,35 m lange und 2,53 m breite Solarkollektoren. Die Solarkollektoren können unabhängig voneinander sowohl auf- und abwärts bewegt als auch um die eigene Achse rotiert werden. Auf der Vorderseite jedes Kollektors sind 9,5 m² Fläche jeweils mit 3.744 einzelnen Solarzellen bedeckt. Die sehr effizienten Triple-junction-Solarzellen haben einen Wirkungsgrad von 26 %, d. h., sie können 26 % der Energie des einfallenden Sonnenlichts in Elektrizität umwandeln. Die Solarzellen sind so angeschlossen, dass sie eine konstante Spannung von 32 V liefern, auf die die Instrumente der Sonde ausgelegt sind. Die gesamte Energieausbeute der beiden Solarkollektoren im Mars-Orbit beträgt rund 2.000 Watt (im Erdorbit läge die Energieausbeute aufgrund der geringeren Distanz zur Sonne bei 6.000 Watt). Der Mars Reconnaissance Orbiter führt zwei wiederaufladbare Nickel-Metallhydrid-Akkumulatoren mit einer Kapazität von je 50 Ah (Amperestunden) an Bord mit. Die Akkumulatoren werden zur Stromversorgung während der Flugphasen genutzt, in denen die Solarkollektoren keine elektrische Energie liefern. Dies geschieht beispielsweise beim Start, beim Einschwenken in die Marsumlaufbahn, bei den Aerobraking-Manövern oder wenn die Sonde in den Marsschatten eintritt. Da die zur Verfügung stehende Spannung mit dem fortschreitenden Entladen der Akkumulatoren fällt und sich der Bordcomputer bei einem Absinken der Spannung auf etwa 20 V abschaltet, kann die Sonde nur etwa 40 % der Akkukapazität nutzen. Elektronik Das Herz des MRO-Bordcomputers ist ein 133 MHz schneller, aus 10,4 Millionen Transistoren bestehender, 32-bit-RAD750-Prozessor. Der Prozessor ist eine gegen Strahlung gehärtete Version des PowerPC-750 G3 und ein Nachfolger des RAD6000-Prozessors, der beispielsweise in den Mars-Rovern Spirit und Opportunity Verwendung findet. Er war zur Bauzeit der Sonde der schnellste Prozessor, der – fernab des Schutzes des Magnetfeldes und der Atmosphäre der Erde – noch zuverlässig arbeiten kann. Zur Datenspeicherung verfügt der MRO über 20 GByte, die auf mehr als 700 einzelne Flash-Speicherchips mit einer Kapazität von je 256 Mbit (= 32 MByte) verteilt sind. Die Speicherkapazität der Sonde ist im Vergleich zu einem Bild der HiRISE-Kamera, das bis zu 3,5 Gbyte groß sein kann, nicht besonders hoch. Der Bordcomputer setzt ein VxWorks-Echtzeitbetriebssystem ein, das bereits in vielen Raumfahrtmissionen, wie z. B. in Spirit und Opportunity, zum Einsatz kam. Kommunikation Zur Kommunikation mit der Erde verfügt der MRO über eine Richtantenne (High-Gain-Antenna – HGA) mit einem Durchmesser von drei Metern, mit der Datenübertragungsraten von bis zu 6 MBit/s erreicht werden können. Die Antenne ist beweglich und kann punktgenau auf die Erde ausgerichtet werden. Die Sonde sendet im X-Band auf einer Frequenz von 8 GHz mit einer Leistung von 100 Watt, außerdem ist eine experimentelle Kommunikation im Ka-Band mit 32 GHz und 35 Watt geplant. Mit der höheren Sendefrequenz kann eine höhere Datenübertragungsrate erreicht werden. Sollte sich die Kommunikation im Ka-Band bewähren, werden zukünftige Raumsonden mit der neuen Übertragungstechnologie ausgestattet. Die Sonde verfügt über zwei Verstärker für das X-Band (der zweite ist für den Fall, dass der erste versagt) und einen Verstärker für das Ka-Band. Nach dem Ende der primären Mission sollen mit der Antenne etwa 34 Terabit an wissenschaftlichen Daten zur Erde übertragen worden sein (dies ist mehr als die Datenmenge aller bisherigen planetaren Raumsonden zusammen), wobei pro Tag rund 10–11 Stunden lang Datenübertragung mit einer durchschnittlichen Datenrate von 0,6 bis 5 Mbit/s (abhängig von der Entfernung Erde-Mars) stattfindet. Der Empfänger auf der Erde ist eine 34-m-DSN-Antenne. Zum Vergleich: Die Sender auf MGS und Odyssey hatten/haben eine elektrische Leistung von 25/15 W und eine Datenübertragungsrate von 20–80/14–120 kbit/s – mehr als eine Größenordnung weniger als MRO. Für den Fall, dass die Richtstrahlantenne nicht eingesetzt werden kann, verfügt der MRO über zwei Niedrigverstärkungsantennen (Low-Gain-Antenna – LGA). Die Antennen befinden sich auf der HGA-Schüssel, eine auf der Vorderseite und eine auf der Rückseite. Um mit der Erde zu kommunizieren, brauchen die Niedrigverstärkungsantennen nicht darauf ausgerichtet zu werden, erreichen dafür aber auch nur niedrige Datenraten. Da die Sonde über zwei dieser Antennen verfügt (jeweils eine deckt eine volle Halbkugel ab), kann sie aus einer beliebigen Lage Signale sowohl senden als auch empfangen. Die Antennen werden während des Starts und beim Eintreten in die Marsumlaufbahn verwendet, dienen aber auch zur Absicherung der Kommunikation in einem Notfall. Außerdem verfügt der MRO über eine Electra-UHF-Kommunikationsanlage, mit deren Hilfe die Sonde mit anderen Marssonden kommunizieren kann, sowohl mit dem Phoenix-Lander als auch seit 2012 mit dem Mars Science Laboratory. Dadurch können die Daten der Landemissionen durch den MRO zur Erde weitergeleitet werden. Außerdem kann durch die Messung von Signallaufzeiten die genaue Position der Lander auf der Marsoberfläche bestimmt werden. Antriebssystem Der MRO verwendet ein Antriebssystem, das katalytisch zersetztes Hydrazin als einzigen Treibstoff verbraucht und daher keinen Oxidator mitführt. Der aus Titan bestehende Tank der Sonde mit einem Volumen von 1.175 Liter kann maximal 1.187 kg Treibstoff aufnehmen, wobei jedoch nur 1.149 kg Treibstoff mitgeführt werden, um die maximale Nutzlast der Trägerrakete nicht zu überschreiten. Diese Treibstoffmenge würde ausreichen, um die Geschwindigkeit der Sonde um 1.551 m/s zu ändern. Über 70 % des Treibstoffs wurden beim Einschwenken in die Marsumlaufbahn verbraucht, da hier die Sonde stark abgebremst werden musste, um von der Anziehungskraft des Mars eingefangen zu werden. Um den Treibstoff unter Druck zu setzen, wird Helium-Gas verwendet, das in einem separaten, unter Hochdruck stehenden Tank gelagert wird. Das Antriebssystem der Sonde besteht aus 20 Triebwerken in drei verschiedenen Größen: Sechs große MR-107N-Triebwerke, die jeweils 170 N Schub erzeugen (insgesamt 1.020 N). Diese Triebwerke werden für das erste Kurskorrekturmanöver sowie für den Einschuss in die Marsumlaufbahn verwendet. Sechs mittelgroße MR-106E-Triebwerke, die jeweils 22 N Schub erzeugen. Diese Triebwerke werden zur Korrektur der Flugbahn eingesetzt und um die Sonde beim Einschuss in die Marsumlaufbahn auf dem richtigen Kurs zu halten. Acht kleine MR-103D-Triebwerke, die jeweils 0,9 N Schub erzeugen. Sie werden für die Lageregelung des MRO sowohl während der normalen Operationszeit als auch während des Eintritts in die Marsumlaufbahn und während der Flugbahnkorrekturen eingesetzt. Außerdem werden zur präzisen Lageregelung vier Reaktionsräder eingesetzt, insbesondere bei hochauflösenden Aufnahmen, wo bereits die kleinste Bewegung eine Unschärfe im Bild verursacht. Jedes Rad wird für jeweils eine Bewegungsachse verwendet, das vierte Rad gilt als Reserve, sollte eins der übrigen drei ausfallen. Ein einzelnes Drallrad wiegt 10 kg und kann mit bis zu 6.000 Umdrehungen pro Minute rotieren. Navigationssystem Navigationssysteme und Sensoren liefern Informationen zur Position, Kurs und Ausrichtung der Sonde während des Flugs. Diese Daten sind entscheidend, um genaue Manöver auf dem Weg zum Mars ausführen zu können und um die Solarkollektoren auf die Sonne und um die Antenne auf die Erde ausgerichtet zu halten. Außerdem muss die Lage der Sonde sehr genau kontrolliert werden, um unverschwommene hochauflösende Aufnahmen der Marsoberfläche machen zu können. Für diese Zwecke verfügt das Navigationssystem über mehrere Sensoren und Instrumente: 16 Sonnensensoren (acht davon sind als Reserve gedacht) sind auf allen Seiten der Sonde angeordnet. Die Sensoren sind sehr einfach aufgebaut und liefern als Antwort nur, ob sie die Sonne sehen oder nicht. Aus den Daten einzelner Sensoren errechnet der Computer dann die ungefähre Position der Sonne. Sollte die Sonde die Orientierung verlieren, sind diese Sensoren ausreichend, um die Solarkollektoren auf die Sonne auszurichten und damit die Stromversorgung zu gewährleisten. Allerdings können sie nicht zu einer genauen Ausrichtung der Sonde auf die Erde und auf den Mars genutzt werden. Zwei Star Tracker (einer dient als Reserve) der Marke A-STR von Galileo Avionica zur genauen Ausrichtung sowohl auf die Sonne als auch auf die Erde und den Mars. Ein Star Tracker ist eine kleine Kamera, die Digitalbilder der Sterne aufnimmt. Diese Bilder werden mit den im Bordcomputer gespeicherten Daten tausender von Sternen verglichen. Hat der Star Tracker die Sterne auf dem Bild identifiziert, weiß der Computer sehr genau, wo und in welcher Ausrichtung sich die Sonde befindet. Der Star Tracker nimmt zehn Bilder pro Sekunde auf. Zwei Miniature Inertial Measurement Units (MIMU) (eins dient als Reserve) von Honeywell, bestehend aus jeweils drei Gyroskopen und drei Beschleunigungsmessern. Dabei wird je ein Gyroskop und ein Beschleunigungsmesser pro Bewegungsachse verwendet. Die Gyroskope werden zur Messung der Drehgeschwindigkeit der Sonde eingesetzt (z. B. bei der Drehung zur Lageregelung) und die Beschleunigungsmesser zur Messung der Beschleunigung (z. B. beim Feuern von Triebwerken). Zudem wird bei dem Experiment Atmospheric Structure Investigation Accelerometers mit Hilfe der Beschleunigungsmesser die Bremswirkung der oberen Atmosphärenschichten während des Aerobrakings gemessen. Dies gibt Aufschluss über die Dichte und Struktur der oberen Atmosphäre. Außerdem verfügt der MRO mit der Optical Navigation Camera über ein Experiment zur optischen Navigation für einen genaueren Einschuss in die Marsumlaufbahn. Dazu werden die Mars-Monde Phobos und Deimos 30 bis zwei Tage vor der Ankunft der Sonde am Mars fotografiert, um so die genaue Position der Sonde festzustellen. Die Optical Navigation Camera ist zum sicheren Eintreten des MRO in die Umlaufbahn nicht notwendig. Sollte dieses Experiment jedoch positive Ergebnisse liefern, wird diese Art von Navigation bei zukünftigen Landemissionen eingesetzt, die mit einer sehr hohen Präzision am Mars ankommen müssen, um die sehr genau festgelegten Landestellen nicht zu verpassen. Instrumente An Bord des MRO befinden sich sowohl sechs wissenschaftliche Instrumente als auch einige technische Experimente, wie die Ka-Band-Kommunikation, die Electra-Kommunikationsanlage und die optische Navigationskamera. Die technischen Experimente wurden in dem Abschnitt Technik beschrieben, hier werden die wissenschaftlichen Instrumente vorgestellt. High Resolution Imaging Science Experiment (HiRISE) Das größte und wichtigste Instrument an Bord von Mars Reconnaissance Orbiter ist das HiRISE, das aus einer hochauflösenden Fotokamera mit einem Cassegrain-Teleskop von 1,40 m Länge und einem Durchmesser von 50 cm besteht. HiRISE ist nach HRSC von Mars Express die zweite hochauflösende Stereokamera einer Mars-Sonde. Das Teleskop enthält drei Spiegel und verfügt über ein Sichtfeld von 1,14° × 0,18°. Die Kamera wiegt etwa 65 kg und vermag aus 300 km Höhe Aufnahmen mit einer maximalen vertikalen Auflösung von 20–30 cm pro Pixel zu erzeugen. Für die Aufnahmen stehen drei Spektralbänder zur Verfügung: Blau-Grün BG (400–600 nm), Rot (550–850 nm) und Nah-Infrarot NIR (800–1.000 nm). Im Rot-Band wird ein 6 km breiter Streifen erfasst, in BG und NIR jeweils 1,2 km breit. Die Länge des erfassten Bildes beträgt dabei etwa das Doppelte seiner Breite. Zur Erfassung des einfallenden Lichtes enthält HiRISE insgesamt 14 detector-chip-assemblies (DCA), die jeweils ein CCD-Modul mit der dazugehörenden Steuerelektronik beherbergen. Jedes CCD-Modul besteht dabei aus jeweils 2.048 12 × 12 µm großen Pixeln quer zur Flugrichtung sowie 128 TDI-Elementen entlang der Flugrichtung. Die TDI-Elemente (Time Delay and Integration) werden zur Verbesserung des Signal-Stör-Verhältnisses verwendet. Für das BG- und NIR-Band stehen jeweils zwei DCAs mit insgesamt 4.048 Pixel für jedes Band zur Verfügung. Für das Rot-Band sind es zehn DCAs mit insgesamt 20.264 Pixeln. Zur Echtzeitdatenkompression kann eine Lookup-Tabelle verwendet werden, die mit der Kamera aufgenommene 14-Bit-Signale in 8-Bit-Signale transformiert. Zusätzlich steht eine verlustfreie 2:1-Kompressionsmethode zur Verfügung. Ein typisches hochauflösendes Bild der HiRISE-Kamera ist 20.000 × 40.000 Pixel groß (d. h. ca. 800 Megapixel), und zur Übertragung zur Erde werden in Abhängigkeit von der Erde-Mars-Entfernung und des Kompressionsfaktors 4 bis 48 Stunden benötigt. Die Kamera verfügt über einen internen 28-GBit-Speicher, um die Aufnahmen zwischenzuspeichern, bevor sie an den Bordcomputer weitergegeben werden. Die Entwicklungskosten für HiRISE lagen bei etwa 35 Millionen Dollar. Das Instrument wurde von Ball Aerospace im Auftrag der University of Arizona gebaut. Context Imager (CTX) CTX ist ebenfalls eine Kamera, die Graustufenbilder im sichtbaren Licht mit einer Wellenlänge von 500 bis 800 nm erzeugt und mit einer geringeren Auflösung von etwa sechs Metern arbeitet. Sie soll dazu dienen, Teile vom Mars zu kartografieren, vor allem aber, die Daten der hochauflösenden HiRISE-Kamera und des CRISM-Spektrometers richtig in den globalen Kontext einfügen zu können. CTX verfügt über ein Maksutov-Teleskop mit 35 cm Brennweite und 6° Sichtfeld, zur Aufnahme dient ein aus 5064 Pixeln bestehendes CCD-Zeilenarray. Ein typisches Bild ist etwa 30 km weit. Das Instrument besitzt einen 256 MB großen DRAM-Speicher, was ausreichend ist, um ein 160 km langes Bild intern abzuspeichern, bevor es in den Hauptspeicher der Sonde übertragen wird. Gebaut wurde das Instrument bei Malin Space Science Systems. Mars Color Imager (MARCI) MARCI besteht aus einer Weitwinkelkamera und einer Telekamera, die überwiegend zur Untersuchung der Mars-Atmosphäre eingesetzt werden. MARCI ist eine Kopie der mit dem Mars Climate Orbiter 1999 verloren gegangenen Kamera, lediglich das Objektiv der Kamera wurde durch ein größeres Fischaugenobjektiv mit 180° Blickwinkel ersetzt, um Rollbewegungen der Raumsonde zu kompensieren, die zum Betrieb anderer Instrumente nötig sind. Die Kameras sind an gemeinsame Elektronik angeschlossen und verfügen über sieben Spektralkanäle, davon fünf im sichtbaren Licht bei Wellenlängen von 425, 550, 600, 650 und 725 Nanometern und zwei im UV-Licht bei 250 und 320 Nanometern. Mit dem Instrument sollen Oberflächenänderungen wie Sandbewegungen oder die sich ändernden Ausmaße der Polkappen registriert werden, zudem soll die Atmosphäre nach verschiedenen Elementen, so z. B. nach Ozon, durchsucht werden. Außerdem wird MARCI eingesetzt, um tägliche Wetterberichte vom gesamten Planeten zu liefern. Gebaut wurde das Instrument bei Malin Space Science Systems. Compact Reconnaissance Imaging Spectrometer for Mars (CRISM) CRISM ist ein Spektrometer, mit dem die komplette Marsoberfläche nach Vorkommen von unterschiedlichen Mineralien gescannt wird. Dafür verfügt CRISM über 544 verschiedene Spektralkanäle, womit gezielt nach bestimmten Mineralien gesucht werden kann. Dabei geht es vor allem um die Mineralien, die bei einem Kontakt mit Wasser entstehen können, wie z. B. Hämatit. CRISM soll zunächst die gesamte Marsoberfläche mit einer Auflösung von 100–200 m und in etwa 70 Spektralkanälen scannen, um dann Gebiete auswählen zu können, die mit einer höheren Auflösung erfasst werden (maximal bis 18 m). Der Spektrometer verfügt über einen Teleskop mit einer 10-cm-Apertur und 2° Sichtfeld, mit dem Bilder der Marsoberfläche mit einer Breite von etwa 10 km aufgenommen werden. Das Instrument zeichnet die Lichtintensitäten im Spektralband bei Wellenlängen von 370 bis 3.940 nm auf, wobei dieses Band in 6,55 nm breite Streifen aufgeteilt wird. Die Entwicklungskosten für dieses Instrument betrugen 17,6 Millionen Dollar. Das Instrument wurde vom Applied Physics Laboratory der Johns Hopkins University entwickelt. Mars Climate Sounder (MCS) MCS ist ein Experiment zur Untersuchung der Marsatmosphäre und dient als Ersatz für bei den Missionen Mars Observer und Mars Climate Orbiter verlorengegangene Instrumente mit ähnlicher Zielsetzung. MCS verfügt über zwei Teleskope mit Aperturen von 4 cm. Im Gegensatz zu anderen Instrumenten, die alle senkrecht nach unten schauen, sind die Teleskope des MCS im Normalbetrieb auf den Horizont ausgerichtet, können jedoch auch in andere Richtungen gedreht werden. MCS verfügt über neun Spektralkanäle und soll die Verteilung von Staub und Wasserdampf in der Atmosphäre studieren. Außerdem wird die Veränderung der Lufttemperatur und des Luftdrucks erfasst. Einer der neun Kanäle umfasst die Frequenzen des sichtbaren und des nah-infraroten Lichts bei einer Wellenlänge von 300 bis 3.000 nm. Die übrigen acht Kanäle befinden sich im thermischen infraroten Bereich des elektromagnetischen Spektrums bei Wellenlängen von 12 bis 50 µm. Aus den Daten des MCS soll eine dreidimensionale Karte der Mars-Atmosphäre mit Staub, Wasserdampf, Druck und Temperaturverteilungen bis in 80–100 km Höhe entstehen. Das Instrument wurde vom Jet Propulsion Laboratory entwickelt. Shallow Radar (SHARAD) Das SHARAD-Experiment soll mit Hilfe eines Bodenradars nach unter der Marsoberfläche auftretenden Wasser- und/oder Eisvorkommen suchen. SHARAD ist der Nachfolger des auf der 2003 gestarteten europäischen Mars-Express-Raumsonde eingesetzten MARSIS-Experimentes. Da es jedoch mit Frequenzen von 15–25 MHz in einem etwas anderen Frequenzbereich arbeitet, können sich die Ergebnisse beider Geräte gegenseitig ergänzen. SHARAD kann von 100 Metern bis zu einem Kilometer tief in die Marskruste eindringen, hat eine horizontale Auflösung von 0,3–1 km entlang der Flugrichtung und 3–7 km quer zu der Flugrichtung sowie eine vertikale Auflösung von 7 m. Das bedeutet, dass das Objekt mindestens diese Dimensionen haben muss, um beobachtbar zu sein. Mit SHARAD sollen sich Wasservorkommen unter der Marsoberfläche bis in 100 m Tiefe finden lassen. Das Instrument wurde von Alenia Spazio im Auftrag der Italienischen Raumfahrtagentur (ASI) entwickelt. Ablauf der Mission Die ersten Vorschläge, einen mit einer leistungsfähigen Kamera ausgestatteten Orbiter 2003 zum Mars zu schicken, tauchten bei der NASA im Jahr 1999 auf. Die Raumsonde mit der vorläufigen Bezeichnung Mars Surveyor Orbiter sollte sowohl die vom verlorengegangenen Mars Climate Orbiter erwarteten wissenschaftlichen Daten gewinnen als auch zusätzlich nach Spuren von Wasser auf dem Mars suchen. Die Sonde sollte etwa die Größe des 1996 gestarteten Mars Global Surveyors erreichen und hätte somit relativ günstig hergestellt und gestartet werden können. Für das gleiche Startfenster visierte man auch den Start eines größeren Marsrovers an. Im Juli 2000 entschied die NASA schließlich, dem Rover-Projekt Vorzug zu gewähren und den Rover 2003 zum Mars zu schicken (später wurde daraus die Doppelmission der beiden Rover Spirit und Opportunity). Der Start des Orbiters wurde daraufhin um zwei Jahre auf 2005 verschoben und seine Mission erweitert: es sollte nun ein größerer und entsprechend teurer Orbiter, bestückt mit leistungsfähigen Instrumenten, entwickelt werden. Im Herbst 2000 startete das neue Projekt unter der Bezeichnung Mars Reconnaissance Orbiter. Im Oktober 2001 erhielt Lockheed Martin den Auftrag der NASA zum Bau der Sonde. Start Der Mars Reconnaissance Orbiter sollte am 10. August 2005 mit einer Atlas-V-Trägerrakete vom Cape Canaveral aus gestartet werden. Aufgrund technischer Probleme mit der Trägerrakete wurde der Start zunächst auf den 11. August verschoben. Auch dieser Starttermin konnte aufgrund von Problemen mit der Centaur-Oberstufe nicht gehalten werden. Der Start erfolgte dann beim dritten Versuch am 12. August um 11:43 Uhr UTC. Die Raumsonde wurde 57 Minuten und 54 Sekunden nach dem Start von der Centaur abgetrennt, und drei Minuten später konnte über eine japanische Antenne im Uchinoura Space Center der Kontakt zu der Sonde hergestellt werden. 14 Minuten nach dem Abtrennen wurde das Ausfahren der großen Solarkollektoren erfolgreich beendet. Flugphase (August 2005 bis März 2006) Nach dem erfolgreichen Start und Aktivierung wurde die Sonde in den „cruise mode“ überführt, in dem sie sich bis ungefähr zwei Monate vor der Ankunft am Mars befand. Diese Phase der Mission beinhaltete tägliche Überwachung der Teilsysteme der Sonde, Bestimmung und Korrektur der Flugbahn sowie Tests und Kalibrierung der Instrumente. Am 15. August wurde das MARCI-Instrument getestet, wofür Aufnahmen der Erde und des Mondes angefertigt wurden. Am 8. September folgten Tests der HiRISE, CTX und Optical Navigation Camera, wofür die Instrumente auf den mittlerweile 10 Millionen Kilometer entfernten Mond zurückblickten. Alle Tests verliefen erfolgreich. Die etwa 500 Millionen Kilometer lange Reise zum Mars dauerte ungefähr sieben Monate. Um die Raumsonde auf ihrem Weg zu steuern, waren fünf Kurskorrekturmanöver geplant. Das erste 15 Sekunden lange Manöver (TCM-1) erfolgte am 27. August 2005 unter Verwendung aller sechs großen 170 N Triebwerke. Zuvor feuerten sechs kleinere Triebwerke für 30 Sekunden, um den Treibstoff in dem Tank für einen besseren Durchfluss zu positionieren. Bei dem Manöver wurde eine Geschwindigkeitsänderung von 7,8 m/s erzielt. Die restlichen Kurskorrekturen nutzen die kleineren 22 N Triebwerke, wobei das 20 Sekunden lange zweite Kurskorrekturmanöver (TCM-2) am 17. November erfolgte und eine Geschwindigkeitsänderung von 0,75 m/s erzielte. Das dritte Kurskorrekturmanöver (TCM-3) sollte 40 Tage vor der Ankunft stattfinden, wurde jedoch abgesagt, da die Sonde sich bereits auf einem optimalen Kurs befand. Das vierte Kurskorrekturmanöver (TCM-4) war für den 28. Februar geplant, wurde jedoch aus demselben Grund ebenfalls abgesagt. Auch das optionale fünfte Manöver (TCM-5), welches 24 bis sechs Stunden vor dem Eintritt in die Marsumlaufbahn erfolgen sollte, wurde abgesagt. Ankunft und Bremsmanöver Um in die Marsumlaufbahn einzuschwenken (Mars Orbit Insertion, MOI), sollten am 10. März 2006 die großen Triebwerke der Sonde von 21:24 Uhr bis 21:51 Uhr UTC für etwa 26,8 Minuten (1.606 Sekunden) gezündet werden. Aufgrund einer unerwartet geringeren Leistung der Triebwerke musste der Computer des MRO den Brennvorgang jedoch um 35 Sekunden verlängern. Da die Raumsonde sich zum Ende des Bremsmanövers hinter dem Mars befand und daher nicht mit der Erde kommunizieren konnte, gab es erst um 23:16 Uhr ein Signal von der Sonde sowie einige Minuten später die Bestätigung des erfolgreichen Eintritts in die Marsumlaufbahn. Bei dem Bremsmanöver wurde die Geschwindigkeit der Sonde um 1000,48 m/s (circa 18 % der Anfluggeschwindigkeit) – geplant waren 1000,36 m/s – reduziert, so dass sie von der Anziehungskraft des Mars eingefangen wurde und in einen elliptischen 426 × 43.500 Kilometer Orbit eintrat. Die ersten Testbilder der HiRISE-Kamera der Raumsonde wurden am 24. März empfangen. Die Erwartungen wurden absolut erfüllt. Aus einer Distanz von 2.489 km, die weit über der späteren Arbeitsentfernung liegt, wurden Bilder mit einer Auflösung von 2,5 m pro Pixel gewonnen. Nach weiteren Testbildern am 25. März wurde die Kamera bis zum Beginn der wissenschaftlichen Arbeiten im November 2006 abgeschaltet. Zugleich wurden auch der Context Imager und der Mars Color Imager getestet, wobei die gewonnenen Bilder jedoch erst später veröffentlicht wurden. Mars-Umlaufbahn mittels Aerobraking Am 30. März 2006 wurde mit den Aerobraking-Manövern in der Mars-Atmosphäre begonnen, wobei die Umlaufbahn sukzessiv zu einer etwa 255 × 320 km hohen nahezu polaren sonnensynchronen Bahn mit einer Umlaufzeit von 112 Minuten reduziert werden sollte. Dazu wurden zunächst die MR-106E-Triebwerke der Sonde für 58 Sekunden gezündet, womit der marsnächste Punkt der Umlaufbahn auf 333 km reduziert wurde. Durch weitere Bremsmanöver brachte man den niedrigsten Punkt der Umlaufbahn innerhalb der sehr dünnen oberen Marsatmosphäre, die eine weitere Bremswirkung auf den Orbiter ausübte. Dabei wurden die beiden großen Solarpaneele des MRO in eine Position gebracht, in der sie einen höheren Luftwiderstand erzeugten. Um die Raumsonde durch die aufgrund von Luftreibung entstehende Hitze nicht zu gefährden, durfte jeder einzelne Eintauchvorgang nur eine begrenzte Zeit dauern und somit nur einen Bruchteil der Fluggeschwindigkeit reduzieren. Daher schätzte man am Anfang der Mission die Anzahl der benötigten Eintauchvorgänge auf circa 500. Durch das Aerobraking konnten etwa 600 kg Treibstoff gespart werden, die MRO sonst mitführen müsste, um allein mit Hilfe seiner Triebwerke dieselbe Zielumlaufbahn zu erreichen. Die Aerobraking-Manöver konnten am 30. August 2006 nach 426 Eintauchvorgängen in der Atmosphäre erfolgreich abgeschlossen werden. An diesem Tag feuerte die Raumsonde ihre MR-106E-Triebwerke sechs Minuten lang und brachte damit den marsnächsten Punkt der Umlaufbahn in 210 km Höhe, was deutlich über der Obergrenze der Atmosphäre liegt (während des Aerobrakings lag er im Mittel bei 98 bis 105 km). Am 11. September folgte ein weiteres – und mit 12,5 min Brennzeit das nach Mars Orbit Insertion längste – Bahnkorrekturmanöver, welches die Bahnhöhe auf 250 × 316 km brachte und den niedrigsten Punkt der Umlaufbahn in die Nähe des Südpols sowie den höchsten in die Nähe des Nordpols platzierte. Am 16. September 2006 wurde die 10 m lange Antenne des SHARAD-Radars entfaltet (eine ähnliche Operation bereitete bei der europäischen Raumsonde Mars Express zahlreiche Probleme). Am 27. September folgte das Entfernen der Schutzabdeckung und die Kalibrierung des CRISM-Instruments. Am 3. Oktober fertigte die HiRISE-Kamera Aufnahmen vom Victoria-Krater, an dessen Rand sich zu dem Zeitpunkt der Opportunity-Rover befand. Die hochauflösenden Aufnahmen lassen deutlich den Rover sowie seine Spuren im Marsboden erkennen, selbst der Schatten des Rover-Kameramastes ist sichtbar. Vom 7. Oktober bis zum 8. November 2006 befand sich der Planet Mars in einer Sonnenkonjunktion. In diesem Zeitraum war die Sonne direkt zwischen dem Mars und der Erde, so dass nur eine eingeschränkte Kommunikation des Orbiters mit der Erde stattfinden konnte. Nach der Sonnenkonjunktion wurde der Mars Reconnaissance Orbiter weiteren kleineren Funktionstests unterzogen und steht seit November 2006 für wissenschaftliche Arbeiten zur Verfügung. Primärmission (2006–2010) Die primäre Mission der Sonde am Mars dauerte vier Jahre, davon wurde während der ersten zwei Jahre von November 2006 bis Dezember 2008 der Mars sowohl mit der HiRISE-Kamera kartografiert, als auch mit den übrigen Instrumenten untersucht. Für die darauf folgenden zwei Jahre wurde vorgesehen, dass der Orbiter als eine Plattform zur Kommunikation zwischen zukünftigen Landemissionen und der Erde dient. Aufnahmen von einer Erosionsrinne am Dünenhang des so genannten Russell-Kraters, die zwischen November 2006 und Mai 2009 entstanden, erbrachten nach Auffassung von Forschern des Instituts für Planetologie der Universität Münster den Beweis, dass es auf dem Mars zu bestimmten Jahreszeiten flüssiges Wasser gibt. Im August 2009 versetzte der Orbiter sich nach Problemen mit der Software in einen Sicherheitsmodus. Am 8. Dezember 2009 gelang es dann der NASA, die Sonde nach einem in mehreren Etappen stattfindenden Update der Software wieder in den normalen Betriebszustand zurückzuversetzen. Am 19. Mai 2010 konnte HiRISE einen Einschlagkrater fotografieren, der beim vorherigen Überflug im März 2008 noch nicht existierte. Beim Einschlag wurde nahe unter der Oberfläche liegendes Wassereis freigelegt. Ein weiteres Foto zeigt möglicherweise den Fallschirm von Mars 3, einer sowjetischen Raumsonde, die mittels eines Landers 1971 den Mars erkunden sollte. Die Primärmission endete am 31. Dezember 2010. Nach dem Ende der Primärmission sollte der bordeigene Treibstoff ausreichen, um MRO mindestens weitere fünf Jahre als Kommunikationsplattform betreiben zu können. Nach Ende der Primärmission Am 6. August 2012 fotografierte die HiRISE-Kamera des Mars Reconnaissance Orbiters die Landung des Mars Science Laboratory („Curiosity“-Rover). Als der Komet C/2013 A1 (Siding Spring) am 19. Oktober 2014 in dem ungewöhnlich geringen Abstand von nur etwa 140.100 km am Mars vorbeiflog, konnten mit der HiRISE-Kamera wichtige Daten zur genauen Bahnbestimmung des Kometen gewonnen werden. Aus Aufnahmen des Kometenkerns konnte auch dessen Größe bestimmt werden. Einige Stunden nach dem Vorbeiflug des Kometen wurde mit dem SHARAD-Instrument auf der Nachtseite des Mars eine deutliche Zunahme der Ionisation in der Ionosphäre festgestellt. Auf Fotos der HiRISE-Kamera des MRO vom 29. Juni 2014 konnte im Januar 2015 die unbekannte Landestelle von Beagle 2 an der Position 11,5° Nord und 90,4° Ost ausfindig gemacht werden. Das Bild zeigt die offensichtlich sanft gelandete Sonde, deren Solarpanele zumindest zum Teil geöffnet sind. In der näheren Umgebung konnten auch der Fallschirm und eine Abdeckung identifiziert werden. Siehe auch Hohmannbahn #Transferbahn zum Mars Liste der Raumsonden Chronologie der Marsmissionen Weblinks Mars-Reconnaissance-Orbiter-Website der NASA (englisch) Pressematerial zum MRO-Start der NASA (PDF; 0,2 MB; englisch) Website der HiRISE-Kamera (englisch) Mars Reconnaissance Orbiter von Bernd Leitenberger Einzelnachweise Marssonde NASA Raumfahrtmission 2005
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https://de.wikipedia.org/wiki/Femeiche
Femeiche
Die Femeiche (früher Rabenseiche, Ravenseiche oder Erler Eiche genannt) in Erle im nordrhein-westfälischen Kreis Borken ist mit einem Alter zwischen 600 und 850  Jahren eine der ältesten Eichen Deutschlands. Die Stieleiche (Quercus robur) steht in der Nähe der Pfarrkirche. Unter der Eiche wurden nachweislich bis zum 16. Jahrhundert Femegerichte abgehalten. Sie gilt als der älteste und bekannteste Gerichtsbaum in Mitteleuropa. Seit über 100 Jahren ist die durch Blitzeinschläge, Stürme, Einflüsse des Menschen und ihr hohes Alter gezeichnete Eiche als Naturdenkmal eingetragen. Der Stamm ist seit etwa 250 Jahren hohl und besteht nur noch aus Splintholz. Die Stammhülle, die von Stangen zusammengehalten wird, umschließt einen Hohlraum mit einem Durchmesser von beinahe drei Metern. Standort Der Ort Erle liegt am Rande des Westmünsterlands, auf der Schwelle vom fränkischen Rheinland zum sächsischen Hamaland, in einer typischen Heidelandschaft innerhalb des Naturparks Hohe Mark-Westmünsterland, drei Kilometer südöstlich von Raesfeld an der Bundesstraße 224. Die Eiche steht südwestlich der Ortsmitte am Rande eines Neubaugebietes direkt neben dem ältesten Haus von Erle, dem alten Pastorat, auf etwa Höhe über Normalhöhennull. Beschreibung Der Stamm der Eiche ist völlig ausgehöhlt und bis auf drei Stammteile, die sich in etwa vier Meter Höhe vereinen, zerstört. Die Eiche ist entgegen der Hauptwindrichtung stark nach Südwesten geneigt. Durch den schrägen Wuchs wurden die Saftflussbahnen auf der geneigten Seite am Wurzelhals gequetscht, so dass etwa ein Drittel des Stammumfangs abstarb. Die abgestorbenen Stammpartien wurden bei der Sanierung 1965 entfernt. Der Stamm besteht nur noch aus den äußeren Teilen des Splintholzes mit Kambium, Bast und Rinde, die zum Teil nach innen eingerollt ist. Das Kernholz ist nicht mehr vorhanden. Die früheren großen Äste sind nur noch in Ansätzen zu erkennen. Weil sie überlang und kopflastig geworden waren, brachen sie vor Jahrhunderten durch Sturm und Blitzschlag heraus. Von dem immer morscher gewordenen tragenden Stamm brachen weitere Äste ab. Der Reststamm bildet eine Sekundärkrone, die von mehreren, teilweise auf Steinplatten ruhenden Holzstangen gestützt wird, ohne die der Baum umstürzen würde. Die tief angesetzte, einseitig ausladende Sekundärkrone besteht aus mehreren verzweigten Ästen. Sie ist im Sommer gut belaubt und hat einen reichen Blüten- und Fruchtansatz. Der Baum war im Jahr 2005 elf Meter hoch und hatte einen Kronendurchmesser von acht Metern. Stammumfang 1989 betrug der Umfang des Stammes, in einem Meter Höhe gemessen, zwölf Meter. Die Eiche liegt mit diesen Maßen nach dem Deutschen Baumarchiv, dem der Stammumfang in einem Meter Höhe als wichtigstes Auswahlkriterium dient, über dem unteren Grenzwert der national bedeutsamen Bäume (NBB). Vollständig erhalten hätte der Stamm einen Umfang von etwa 14 Metern. Damit handelt es sich um die dickste Eiche in Deutschland. Nur die einstmals stärkste Eiche Deutschlands, die Dagobertseiche im hessischen Dagobertshausen, deren letzte Reste um 1900 verschwanden, hatte im Jahr 1851 mit 14,86 Metern, auf einem Meter Höhe gemessen, einen größeren Umfang. Der Durchmesser des Stammes in Brusthöhe (BHD) wurde 1892 mit etwa 4,5 und der Umfang des Stammes in Mannshöhe 1902 mit 12,5 Metern angegeben. 1927 betrug er 14 Meter. Alter Zur Altersangabe der Eiche gibt es stark voneinander abweichende Angaben. Da das älteste Holz aus dem Zentrum des Stammes fehlt, ist weder eine Jahresringzählung noch eine Radiokohlenstoffdatierung möglich. Das Alter der Eiche kann deshalb nur anhand des Stammumfangs und der geschichtlichen Überlieferungen grob geschätzt werden. Die Eiche ist den neuesten Erkenntnissen nach vermutlich zwischen 600 und 850 Jahre alt. Damit wäre sie die älteste Eiche in Deutschland. Das Deutsche Baumarchiv schätzte das Alter der Eiche im Jahr 2008 auf 600 bis 850 Jahre, wobei die 600 Jahre von Bernd Ullrich stammen und die 850 Jahre vom Deutschen Baumarchiv. Diese Angabe basiert auf einem jährlichen Umfangszuwachs bei alten Eichen von etwa 1,8 Zentimetern, der sich anhand langjähriger Untersuchungen von Stammumfängen und dem rekonstruierten Stammumfang der Femeiche von 14 Metern ergab. Jahresringzählungen bei bis zu 450-jährigen Eichen der Region ergaben jährliche Umfangszuwächse von 1,5 bis 1,7 Zentimetern. Anhand dieser Werte wäre die Eiche etwa 800 bis 900 Jahre alt. Andere Altersangaben liegen zwischen 1000, 1300 und 1500 Jahren. Diese Schätzungen basieren überwiegend auf der geschichtlichen Überlieferung. Böckenhoff schrieb 1966: „Da man Freistühle an ausgezeichnete Stellen setzte, sie alsdann nicht mehr verrückte, müßte die Eiche, als man den Stuhl aufstellte, wohl zur Zeit Karls des Großen, schon ein mächtiger Baum gewesen sein. Demnach wäre sie heute etwa 1500 Jahre alt.“ Ein Grund für das hohe Alter der Eiche könnte sein, dass sie als erste in der Region ihre Blätter entfaltet. Der Eichenwickler, ein Laubschädling, konnte ihr bisher nichts anhaben, da er sich erst nach dem Austrieb der übrigen Eichen entwickelt. Naturdenkmal Die Femeiche mit der Nummer I.J. 1 ist seit 1. Juli 1996 als Naturdenkmal ausgewiesen und aufgrund einer Verordnung des Kreises Borken für den Schutz von Naturdenkmalen bei der Unteren Landschaftsbehörde (ULB) gelistet, die auch für die Pflege zuständig ist. Bauliche Anlagen, Abgrabungen und Aufschüttungen in ihrer Umgebung sind untersagt. Die Eiche erhält dadurch den größtmöglichen Schutz. Der Baum kam 1975 durch die kommunale Neugliederung zum Kreis Borken. Zuvor gehörte er zum Amt Dorsten im Kreis Recklinghausen, wo er seit 12. April 1954 in der Naturdenkmalliste geführt wurde. Erstmals geschützt wurde die Eiche um 1900. Das Kuratorium Nationalerbe-Bäume der Deutschen Dendrologische Gesellschaft hat im Oktober 2021 die Erler Femeiche als zwölften Nationalerbe-Baum ausgerufen. Die Femeiche ist damit der erste Nationalerbe-Baum im Westmünsterland und in Nordrhein-Westfalen. Mit der am 16. Juni 1871 gepflanzten Piuseiche ist in Erle seit 1996 ein weiterer Baum als Naturdenkmal eingetragen. Geschichte Der alte Name Rabens- beziehungsweise Ravenseiche und der Name der Gegend Aßenkamp deuten auf eine Verbindung zur germanischen Mythologie hin. Der Rabe ist das Symbol des germanischen Toten- und Kriegsgottes Odin und die Asen waren ein germanisches Göttergeschlecht. Die Landschaftsarchitektin Anette Lenzing hat daraus in ihrem Buch Gerichtslinden und Thingplätze in Deutschland die Vermutung abgeleitet, die Femeiche sei möglicherweise bereits zu germanischer Zeit als Gerichtsstätte (Thing) benutzt worden. Es ist allerdings nicht gesichert, ob es sich tatsächlich um die heutige Femeiche handelte oder ob an gleicher Stelle eine Vorgängereiche stand. Nach einer Sage saß der Gott Odin selbst als Richter unter der Eiche, seine beiden Raben, Hugin und Munin, hockten in den Zweigen des Baumes. Femegerichte Unter der Eiche tagte der Freistuhl, das Erler Femgericht, „den vryen Stoel tum Aßenkampe“, welcher am Ende des Mittelalters seine größte Macht ausübte. Von einem Freistuhl, einer großen Steinplatte aus hielten die freien Grafen mit sechs Schöffen nach dem Recht Kaiser Karls des Großen Gericht über Schwerverbrechen wie Mord, Raub, Brandstiftung und Meineid; ein Schuldspruch zog stets den Tod am Strang nach sich. Das Gericht unterstand bis 1335 dem Stuhlherrn von Heiden und war für das Gebiet der Kirchspiele Erle, Raesfeld, Alt-Schermbeck und die nördlich von Lippe liegenden Dorstener Stadtteile Rhade und Holsterhausen zuständig. Im Jahr 1335 verpfändete der Stuhlherr seine Freigrafschaft dem Grafen von Cleve. 1375 war der Burgherr der Burg Raesfeld Inhaber der Freigrafschaft. Überliefert ist, dass 1441 der Freigraf Bernt de Duiker unter der Eiche Gert von Diepenbrock und zwei seiner Knechte wegen Schöffenmord verfemte und sie in Abwesenheit für vogelfrei erklärte. Der Bericht über die Gerichtsverhandlung ist der älteste schriftliche Nachweis der Eiche. In einem Schreiben im Stadtarchiv von Bocholt aus dem Jahr 1441 heißt es: „Bernd die Ducker, Freigraf zu Heiden verfehmt den Gerd Deipenbroik und dessen Knechte, und fordert alle Freischöpfen des H. R. Reichs auf, dieselben an den ersten Baum aufzuhängen, weil sie zwei Freischöpfen ermordet hatten.“ Dort ist auch die Rede vom „Vrygenstole tor Ravenseick“ und dem „Vryenstoel ten Hassenkampe by Erler“. Im Jahr 1442 wurden die Befugnisse der Femegerichte durch den Reichstag stark eingeschränkt, so dass sie an Bedeutung verloren. Eine weitere Gerichtsverhandlung ist von 1543 überliefert. Unter der Eiche wurde bis zum Jahr 1589 Femegericht abgehalten. Im 16. Jahrhundert musste das Femegericht mit dem Erstarken der Landeshoheit des Fürstbischofs von Münster einen Großteil seiner Zuständigkeiten abgeben und wurde Ende des 18. Jahrhunderts aufgelöst. Die Steinplatte des Freistuhls wurde an der Brücke bei Dorsten als Denkmal aufgestellt; 1945 warfen britische Soldaten sie in den Fluss. Geschichtliche Überlieferungen Die Hauptkrone der Eiche brach vermutlich im 17. Jahrhundert heraus; im Lauf der Jahrhunderte bildete sich die heutige Krone. Durch das Fehlen des Mittelstammes drang Wasser ein, so dass Pilze das Holz zersetzten und sich die Höhlung bildete. Nachdem der Baum von Pilz befallen war, ließ der Pfarrer de Weldige dem kranken Baum um das Jahr 1750 mit scharfem Gerät zu Leibe rücken und das morsche Mittelstück herauskratzen, um ihm das Überleben zu sichern. Es entstand ein schmaler, mannshoher Eingang. In der Pfarrchronik von Erle steht: In der Dorfchronik von Erle wird über mehrere Begebenheiten in der hohlen Eiche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts berichtet. Landrat Devens heftete am 5. Juli 1814 im Innern der Eiche dem damals 81-jährigen Pastor Lohede den Roten Adlerorden an. Der Kronprinz von Preußen, der spätere König Friedrich Wilhelm IV., ließ am 26. September 1819 während eines Manövers in der Erler Heide 36 voll ausgerüstete Infanteristen in der Eiche aufstellen, so groß war die entstandene Höhlung. Vorher nahmen der Kronprinz und seine Generäle von Haacke und von Thielemann in der Eiche an einem gedeckten Tische ihr Frühstück ein. Wenn der Bischof von Münster zur Firmung in Erle weilte, wurde die Eiche festlich geschmückt und darin ein Umtrunk eingenommen. Am 1. Juni 1832 wurde der Bischof Kaspar Maximilian Droste zu Vischering nach der Firmung unter Gesang zur festlich geschmückten Eiche geleitet und erfrischte sich dort mit einem Glase Wein. Ein weiteres Mal wurde der Bischof Kaspar Maximilian Droste zu Vischering am 16. Juli 1842 feierlichst empfangen, nachdem er in der Gemeinde Raesfeld am Tage vorher 150 Kinder gefirmt hatte. Auch soll der Bischof Johann Georg Müller am 11. Juli 1851 bei einer Firmung mit seinem Hofkaplan den Landdechanten von Droste-Senden und neun Geistliche an einem runden Tisch in der Eiche zwei Stunden lang bewirtet haben. Damals fanden auch Festlichkeiten wie Hochzeiten und Firmungen in und unter der Eiche statt. Sicherungsmaßnahmen In einem Brief vom 11. November 1892 des Königlichen Landrats und Geheimen Regierungsrats des Kreisausschusses Recklinghausen an den Pfarrer Karthaus von Erle bei Dorsten ist die Rede von einer Sanierung: 1892 erhielt die Eiche daraufhin mehrere Stützbalken, um ein Umfallen zu verhindern. Die Stammteile hielten zusätzlich zwei Eisenringe zusammen. Die Arbeiten führte von Buerbaum, Gartenarchitekt in Düsseldorf, gemeinsam mit dem Forstmeister Joly aus. Über die Stützbalken schreibt Albert Weskamp 1902: „[…] Seit dem Jahre 1892, wo die Stützbalken tiefer in die Erde eindrangen, so daß eine fast meterhohe Spalte auf der Neigungsseite fast ganz in der Erde verschwand, beträgt der Neigungswinkel nur noch 60 Grad.“ Ob schon vor 1892 Stützbalken vorhanden waren, ist nicht bekannt. Im Jahr 1897 sangen der Überlieferung nach 40 Mitglieder des Forstvereins im Hohlraum der Eiche ein Lied. 1927 brach der Wipfel, so dass sich die Höhe des Baumes reduzierte, die vorher 18 Meter betrug. Sanierung Bevor der Baumpfleger Michael Maurer 1965 die Eiche aufwendig sanierte, berichtete er im Heimatkalender der Herrlichkeit Lembeck über den Zustand des Baums: Ziel der Sanierung war, dass der Jahreszuwachs außen den Holzabgang im Inneren des Stammes überstieg, so dass die Stammschalen nicht dünner wurden. Der letzte verbliebene Eisenring, der inzwischen eingewachsen war und den Saftfluss verhindert hatte, wurde entfernt. Um den Saftfluss im Bereich der ehemals tief eingewachsenen Eisenringe zu fördern, schnitten die Baumpfleger die Zellschicht der Rinde ein und entfernten im Stamm das gesamte morsche und pilzbefallene Holz, dexelten den Rest ab, glätteten es und behandelten es mit pilztötenden Mitteln. Es blieben drei Fragmente übrig, die sich in vier Meter Höhe vereinigen. Das dürre Holz im oberen Teil des Baumes wurde entfernt, die Schnittflächen überzog man mit Lackbalsam. Die Holzstützen aus dem Jahr 1892 wurden durch sechs neue ersetzt, um die Sekundärkrone zu schützen. Zusätzlich erhielt der Baum zur Verbindung der Stammteile Gewindestäbe mit Überrohren und das rindenlose Holz eine wasserabweisende Beschichtung. Der festgetretene Boden um die Eiche wurde bis in 40 Zentimeter Tiefe ausgehoben und durch neue Erde, Humus und Baumfutter, einen Spezialdünger mit Langzeitwirkung, ersetzt. Darüber kam eine Kiesschicht zur besseren Belüftung und Bewässerung. Bohrungen bis zum Schwemmkies in vier Meter Tiefe sollten der Bodenverdichtung entgegenwirken. Das Betreten des Wurzelbereiches wurde untersagt, um zu vermeiden, dass der Boden erneut verdichtet wird. Die Sanierungskosten, die der Landkreis Recklinghausen übernahm, beliefen sich auf rund 20.000 Deutsche Mark. Weitere Maßnahmen Ein zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Schutz angebrachter Zaun wurde während der Sanierung 1965 entfernt. 1986 und 1987 wurde der Stamm erneut behandelt, wobei der Kies gegen wasserspeicherndes Lavagranulat ausgetauscht wurde. Seit April 1994 schützt den Baum eine neue Umzäunung, um Kletterversuche und Beschädigungen der Äste und Zweige zu unterbinden. Bei einem Sturm im Mai 2000 erlitt die Eiche einige Schäden. Die Krone musste zurückgeschnitten werden; den Rest tragen drei neue Stützen. Zur Erinnerung an die Femegerichte unter der Eiche wurde im Sommer 2006 außerhalb des Zaunes eine Skulptur aus Granit aufgestellt, die einen Gerichtstisch mit einem Henkerseil und einem Schwert darstellen soll. 2008 sollte eine erneute Pflege die Krone der Tragkraft des Stammes anpassen. Hörbuch Seit dem Jahr 2009 gibt es ein interaktives Hörbuch mit dem Titel Die Femeiche aus dem Genre Mysterythriller, das von der Gemeinde Erle und der Femeiche handelt, jedoch mit der realen Geschichte der Femeiche und des Dorfes nichts zu tun hat. Siehe auch Liste markanter und alter Baumexemplare in Deutschland Liste der Eichen Europas mit einem Stammumfang ab zehn Metern Literatur Weblinks . Einzelnachweise Naturdenkmal im Kreis Borken Einzelbaum in Nordrhein-Westfalen Raesfeld Einzelbaum in Europa Individuelle Eiche oder Baumgruppe mit Eichen
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Francesco Patrizi da Cherso
Francesco Patrizi da Cherso (auch Patrizzi, Patricio, latinisiert Franciscus Patricius, kroatisch Frane Petrić, Franjo Petrić oder auch Franjo Petriš; * 25. April 1529 in Cres; † 7. Februar 1597 in Rom) war ein venezianischer Humanist, Philosoph, Schriftsteller, Literatur-, Staats- und Geschichtstheoretiker, Militärwissenschaftler und Dichter kroatischer Abkunft. Patrizi studierte an der Universität Padua aristotelische Philosophie, wandte sich aber schon in der Studienzeit dem Platonismus zu. Er wurde zu einem scharfen, profilierten Gegner des Aristotelismus, mit dem er sich in umfangreichen Schriften eingehend auseinandersetzte. Nach langjährigen vergeblichen Bemühungen um eine dauerhafte materielle Existenzsicherung erhielt er schließlich 1577 eine Einladung an den herzoglichen Hof der Este in Ferrara. An der dortigen Universität wurde eigens für ihn ein Lehrstuhl für platonische Philosophie eingerichtet. In der Folgezeit gewann er als Professor Ansehen, verwickelte sich aber auch in wissenschaftliche und literarische Kontroversen; er neigte zur Polemik und wurde seinerseits von Gegnern heftig angegriffen. Im Jahr 1592 folgte er einer Einladung nach Rom, wo dank päpstlicher Gunst wiederum ein neuer Lehrstuhl für ihn geschaffen wurde. Seine letzten Lebensjahre verdunkelte ein schwerer Konflikt mit der kirchlichen Zensurbehörde, die sein Hauptwerk, die Nova de universis philosophia, verbot. Als einer der letzten Renaissance-Humanisten zeichnete sich Patrizi durch eine umfassende Bildung, vielseitige wissenschaftliche Aktivität, einen starken Willen zur Innovation und außergewöhnliche schriftstellerische Fruchtbarkeit aus. Er untersuchte etablierte, allseits anerkannte Lehren kritisch und schlug Alternativen vor. Insbesondere wollte er die vorherrschende aristotelische Naturphilosophie durch ein eigenes Modell ersetzen. Der traditionellen Auffassung vom Sinn historischer Studien, den man auf moralische Belehrung einzuengen pflegte, setzte er sein Konzept einer breit angelegten, neutralen, wissenschaftlichen Geschichtsforschung entgegen. In der Dichtungslehre betonte er die Bedeutung der Inspiration und kämpfte gegen herkömmliche Regeln, die er für willkürliche, wirklichkeitsferne Einschränkungen der schöpferischen Freiheit hielt. In der Frühen Neuzeit fand Patrizis stark umstrittene Naturphilosophie trotz der kirchlichen Verurteilung beträchtlichen Widerhall, blieb aber eine Außenseiterposition. Die moderne Forschung würdigt seine Beiträge zur Konstituierung des modernen Raumbegriffs und zur Geschichtstheorie. Herkunft und Name Francesco Patrizi stammte aus der Stadt Cres auf der vor Istrien gelegenen gleichnamigen Insel (italienisch Cherso). Die Insel gehörte damals zur Republik Venedig, doch ein großer Teil ihrer Bevölkerung war kroatisch. Francesco war ein unehelicher Sohn des Priesters Stefano di Niccolò di Antonio Patrizi (Petrić), der dem niederen Adel angehörte. Seine Mutter war Stefanos Lebensgefährtin Maria Radocca. In der älteren Fachliteratur wurde Francescos Vater irrtümlich mit dem gleichnamigen Richter Stefano di Niccolò di Matteo Patrizi identifiziert und seine Mutter Maria mit Maria Lupetino, der angeblichen Gattin des Richters, gleichgesetzt. Unzutreffend ist auch die mit der irrigen Genealogie zusammenhängende Behauptung einer Verwandtschaft des Philosophen mit dem berühmten Theologen Matthias Flacius. Nach Francescos Angaben war seine Familie ursprünglich in Bosnien ansässig und ihrem Wappen zufolge von königlicher Abstammung. Infolge der türkischen Eroberung ihrer Heimat sei sie ausgewandert, und so sei ein Vorfahre namens Stefanello nach Cres gelangt. Dies geschah, wenn die Mitteilung zutrifft, in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Einem humanistischen Brauch folgend latinisierte der Philosoph seinen Namen und nannte sich Patricius oder Patritius. Da er in Italien lebte und seine Werke dort veröffentlichte, hat sich international die Namensform Francesco Patrizi durchgesetzt, doch in Kroatien werden Varianten der kroatischen Form bevorzugt. Der Zusatz „da Cherso“ (aus Cres) dient zur Unterscheidung von dem aus Siena stammenden Humanisten Francesco Patrizi (Franciscus Patricius Senensis), der im 15. Jahrhundert lebte. Leben Jugend und Studienzeit Francesco Patrizi wurde am 25. April 1529 in Cres geboren. Seine Kindheit verbrachte er zunächst in der Heimatstadt. Sein Onkel Giovanni Giorgio Patrizi, der ein venezianisches Kriegsschiff befehligte, nahm im Februar 1538 den erst neunjährigen Knaben auf einen Kriegszug gegen die Türken mit. So ergab es sich, dass Francesco an der Seeschlacht von Preveza teilnahm, in der die christliche Flotte geschlagen wurde. Beinahe geriet er in türkische Gefangenschaft. Mehrere Jahre verbrachte er auf See. Im September 1543 begab er sich nach Venedig, um eine Berufsqualifikation zu erwerben. Anfangs besuchte er nach dem Willen Giovanni Giorgios eine kaufmännische Schule, doch seine Neigung galt dem Humanismus. Da sein Vater dafür Verständnis zeigte, erhielt der Jugendliche Lateinunterricht. Später schickte ihn der Vater zum Studium nach Ingolstadt, wo damals der Sitz der bayerischen Universität war. Dort eignete er sich Griechischkenntnisse an. Im Jahr 1546 musste er jedoch wegen der Wirren des Schmalkaldischen Krieges Bayern verlassen. Im Mai 1547 ging Patrizi nach Padua, dessen Universität zu den europaweit angesehensten Hochschulen zählte. Anfangs studierte er auf Wunsch seines praktisch denkenden Vaters Stefano Medizin bei Giambattista Montano, Bassiano Lando und Alberto Gabriele, allerdings nur sehr widerwillig. Als Stefano 1551 starb, konnte er die ärztliche Ausbildung abbrechen. Die medizinischen Bücher verkaufte er. Sein Interesse galt weiterhin der humanistischen Bildung. Im Lauf seiner Studienzeit besuchte er philosophische Lehrveranstaltungen der Professoren Bernardino Tomitano, Marcantonio de’ Passeri (Marcantonio Genova), Lazzaro Buonamici und Francesco Robortello. Zu seinen Freunden und Studiengenossen gehörte Niccolò Sfondrati, der später als Gregor XIV. Papst wurde. Der Philosophieunterricht war für Patrizi eine Enttäuschung, denn Padua war damals eine Hochburg des Aristotelismus, dessen Vertreter die Tradition der mittelalterlichen Scholastik fortsetzten. Das war eine Richtung, die Patrizi entschieden ablehnte und später heftig bekämpfte. Unter dem Einfluss eines franziskanischen Gelehrten wandte er sich dem Platonismus zu. Der Franziskaner empfahl ihm die neuplatonische Lehre des Humanisten Marsilio Ficino (1433–1499). Die Lektüre von Ficinos Schriften, insbesondere seines philosophisch-theologischen Hauptwerks, der Theologia Platonica, wurde für Patrizi wegweisend. Seine Distanz zum scholastisch-aristotelisch geprägten Lehrbetrieb Paduas drückte er später aus, indem er sich 1587 in einem autobiografischen Brief als Autodidakten darstellte. In seiner Studentenzeit verfasste und publizierte er bereits philosophische und philologische Schriften; im Jahr 1553 ließ er in Venedig eine Sammlung seiner Jugendwerke drucken. Erste Versuche der Existenzsicherung (1554–1560) Im Jahr 1554 musste Patrizi wegen eines langwierigen Erbstreits mit seinem Onkel Giovanni Giorgio nach Cres zurückkehren. Dort erlebte er eine unerfreuliche Zeit, die von Krankheit, Isolation und dem familiären Konflikt geprägt war. Offenbar gehörte er damals – zumindest bis 1560 – dem geistlichen Stand an. Zur dauerhaften Sicherung seines Lebensunterhalts versuchte er vergeblich in der Heimat eine kirchliche Pfründe zu erlangen. Nach diesem Fehlschlag begab er sich 1556 nach Rom, doch auch dort scheiterten seine Bemühungen um eine Pfründe. Dann übersiedelte er nach Venedig. Erfolglos erstrebte der junge Gelehrte eine Anstellung am glanzvollen Hof des Hauses Este in Ferrara. Immerhin fasste er in den Venezianer Humanistenkreisen Fuß: Er trat der Accademia della Fama bei, einer Gelehrtengemeinschaft, in der er Gleichgesinnte fand. Aktivitäten auf Zypern (1560–1568) Der Philosoph trat 1560 in den Dienst des Adligen Giorgio Contarini, der einem der vornehmsten Geschlechter Venedigs angehörte. Zunächst hatte er seinem Dienstherren Unterricht in aristotelischer Ethik zu erteilen. Bald gewann Patrizi das Vertrauen Contarinis und erhielt einen bedeutenden Auftrag: Er wurde nach Zypern geschickt, wo er den Familienbesitz, der von einem Bruder Contarinis verwaltet wurde, inspizieren und dann Bericht erstatten sollte. Als er nach seiner Rückkehr im Sommer 1562 die vorgefundenen Verhältnisse schilderte, sandte ihn Contarini erneut nach Zypern und erteilte ihm Vollmacht, Verbesserungsmaßnahmen durchzuführen. Als neuer Verwalter sorgte Patrizi durch Melioration für eine bedeutende Wertsteigerung des Landbesitzes, der nun zum Baumwollanbau genutzt werden konnte. Allerdings waren die erforderlichen Maßnahmen kostspielig, und auch Missernten verringerten die Einkünfte, sodass es nicht gelang, den Auftraggeber zufriedenzustellen. Die zyprischen Verwandten Contarinis, die Patrizi mit seinem Bericht diskreditiert hatte, nutzten diese Gelegenheit, sich zu rächen und den Verwalter beim Familienoberhaupt anzuschwärzen. Als Patrizis Rechtfertigung nicht akzeptiert wurde, bat er 1567 um seine Entlassung. In der Folgezeit blieb Patrizi zunächst auf Zypern. Er trat nun in den Dienst des katholischen Erzbischofs von Nikosia, des Venezianers Filippo Mocenigo, der ihn mit der Verwaltung der dem Erzbistum gehörenden Dörfer betraute. Doch bereits 1568 verließ er zusammen mit dem Erzbischof die von den Türken bedrohte Insel und begab sich nach Venedig. Rückblickend betrachtete er die Jahre auf Zypern als verlorene Zeit. Immerhin nutzte er den Aufenthalt im griechischsprachigen Raum für ein wichtiges humanistisches Anliegen: Er suchte mit beträchtlichem Erfolg nach griechischen Handschriften, die er dann kaufte oder abschreiben ließ, vielleicht auch selbst abschrieb. Wechselhafte Bemühungen um eine materielle Lebensgrundlage (1568–1577) Nach seiner Rückkehr wandte sich Patrizi wieder der Wissenschaft zu. Er ging nun erneut nach Padua, wo er sich anscheinend nicht mehr an der Universität betätigte, sondern nur privat Unterricht erteilte. Zu seinen Schülern zählte Zaccaria Mocenigo, ein Neffe des Erzbischofs. Sehr wichtig war ihm der befruchtende Gedankenaustausch mit dem namhaften Philosophen Bernardino Telesio, mit dem er auch später im Briefwechsel blieb. In dieser Zeit verschlechterte sich Patrizis Verhältnis zum Erzbischof. Er knüpfte nun Kontakt mit Diego Hurtado de Mendoza y de la Cerda, dem Vizekönig von Katalonien, der ein begeisterter Büchersammler war. Der Anfang dieser Verbindung war vielversprechend: Der Vizekönig lud ihn nach Barcelona ein und stellte ihm eine Anstellung als Hofphilosoph mit einem jährlichen Gehalt von fünfhundert Dukaten in Aussicht. Daraufhin unternahm Patrizi seine erste Spanienreise. In Barcelona erlebte er jedoch eine schwere Enttäuschung, denn die finanzielle Zusage wurde nicht eingehalten. Unter diesen Umständen sah sich der Philosoph 1569 zur Heimkehr gezwungen. Ein Ertrag der Reise bestand allerdings in der Aussicht, im Fernhandel mit Büchern ein Auskommen zu finden. Der Bücherexport von Italien nach Barcelona schien lukrativ, eine entsprechende Vereinbarung mit dortigen Geschäftspartnern hatte Patrizi vor seiner Abreise treffen können. Der Versand kam in Gang und erwies sich anfangs tatsächlich als lohnend, das Unternehmen scheiterte aber schließlich an der Unerfahrenheit und mangelnden geschäftlichen Begabung des Philosophen. Ein schwerer Schlag traf Patrizi 1570, als die Türken in Zypern eine ihm gehörende, für den Export nach Venedig bestimmte Warenladung, für die er 3500 Dukaten ausgegeben hatte, erbeuteten. Dadurch geriet er in solche Not, dass er sich an seinen früheren Dienstherren Contarini wandte, der ihm nach seiner Auffassung noch 200 Dukaten schuldete. Als dieser die Zahlung verweigerte, kam es zu einem langwierigen Prozess, den Patrizi anscheinend verlor. Um seine Finanzverhältnisse zu sanieren, wandte sich Patrizi der Buchproduktion zu. Im August 1571 schloss er einen Vertrag mit der Erbin des Manuskripts einer Schrift des verstorbenen Gelehrten Girolamo Ruscelli über Embleme, Le imprese illustri. Er übernahm die Herausgeberschaft, und das Werk erschien im folgenden Jahr bei einem venezianischen Drucker. Patrizi sah sich aber wegen seiner prekären Finanzlage außerstande, seine vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen. Daraus ergab sich ein Konflikt, dessen Beilegung nur mit Mühe gelang. Nach dieser unerfreulichen Erfahrung gründete Patrizi einen eigenen Verlag, all’Elefanta. Dort brachte er 1573 drei Bücher heraus, doch danach ging der Verlag ein. Darauf unternahm der Philosoph 1574 eine neue Reise nach Spanien, um seine früheren Geschäftspartner zu verklagen und griechische Handschriften zu verkaufen. Im Februar 1575 wurde er von Antonio Gracián, dem Sekretär König Philipps II., empfangen, der ihm für die königliche Bibliothek im Escorial 75 Codices abkaufte. Aus humanistischer Sicht war dieser kommerzielle Erfolg allerdings fragwürdig, denn bei den Gelehrten galt der Escorial als „Büchergrab“. Als sich das Gerichtsverfahren um den gescheiterten Buchhandel ohne absehbares Ergebnis hinzog, trat Patrizi nach dreizehn Monaten die Heimreise an. Nach seiner Rückkehr ließ sich Patrizi 1577 in Modena nieder, wo er in den Dienst der angesehenen Musikerin und Dichterin Tarquinia Molza trat, der er Griechischunterricht erteilte. Professur in Ferrara (1578–1592) In Modena erhielt Patrizi die schon vor zwei Jahrzehnten erstrebte Einladung an den herzoglichen Hof von Ferrara. Um die Jahreswende 1577/1578 traf er in Ferrara ein. Bei Herzog Alfonso II. d’Este, einem bedeutenden Kulturmäzen, fand er freundliche Aufnahme. Sein dortiger Fürsprecher war der herzogliche Rat – ab 1579 Sekretär – Antonio Montecatini, der ihn sehr schätzte, obwohl er ein Vertreter des von Patrizi aus platonischer Perspektive bekämpften Aristotelismus war. Auf Vorschlag Montecatinis wurde eigens für Patrizi an der Universität Ferrara ein Lehrstuhl für platonische Philosophie eingerichtet. Das Anfangsgehalt von 390 Lire wurde später auf 500 erhöht. Die Zeit der materiellen Sorgen war vorbei. Mit der Übersiedlung nach Ferrara begann für den neuen Professor eine erfreuliche und ertragreiche Lebensphase. Sowohl am glanzvollen Hof Alfonsos als auch im akademischen Umfeld genoss er hohes Ansehen. Mit dem Herzog war er befreundet. Auch zu dem berühmten Dichter Torquato Tasso, der in Ferrara lebte, hatte Patrizi ein gutes persönliches Verhältnis, obwohl er eine Meinungsverschiedenheit mit ihm in einer aufsehenerregenden Kontroverse austrug. In den vierzehn Jahren seiner Tätigkeit in Ferrara publizierte er zahlreiche Schriften. Die dezidierten Stellungnahmen Patrizis zu philosophischen und literarischen Streitfragen riefen allerdings auch Widerspruch hervor und führten zu Auseinandersetzungen. So entspann sich wegen der Aristoteleskritik eine schriftliche Polemik mit dem Aristoteliker Teodoro Angelucci. Auf literarischem Gebiet engagierte sich Patrizi in einem Streit um die Kriterien poetischer Qualität, in dem Camillo Pellegrino und Torquato Tasso die Gegenmeinung vertraten. Professur in Rom, Konflikt mit der Zensur und Tod (1592–1597) Ihren Höhepunkt erreichte Patrizis akademische Karriere schließlich dank dem Wohlwollen des Kardinals Ippolito Aldobrandini, der ihn im Oktober 1591 nach Rom einlud. Im Januar 1592 wurde Aldobrandini zum Papst gewählt und nahm den Namen Clemens VIII. an. Er bereitete dem Gelehrten, der am 18. April 1592 in Rom eintraf, einen enthusiastischen Empfang. An der römischen Universität La Sapienza wurde für Patrizi ein Lehrstuhl für platonische Philosophie geschaffen. Seinen Wohnsitz hatte der Professor im Hause von Cinzio Passeri Aldobrandini, der ein Neffe des Papstes und ein namhafter Mäzen war und 1593 zum Kardinal erhoben wurde. Am 15. Mai hielt er vor großem Publikum seine Antrittsvorlesung über Platons Timaios. Die ihm bewilligte Vergütung – 500 Dukaten Grundgehalt, mit Zulagen gut 840 Dukaten – war die höchste an der Sapienza. Es war ein Zeichen der besonderen päpstlichen Gunst, die dem Platoniker zuteilwurde. Zu seinen Hörern und Gesprächspartnern zählte der nunmehr in Rom lebende Torquato Tasso, der ihm die Auseinandersetzung in Ferrara nicht nachtrug. Trotz seines ausgezeichneten Verhältnisses zum Papst geriet Patrizi schon bald ins Visier der kirchlichen Zensur. Den Anlass bot sein philosophisches Hauptwerk Nova de universis philosophia, das er 1591 in Ferrara veröffentlicht hatte. Dort entdeckte der Zensor Pedro Juan Saragoza eine Reihe von Aussagen, die er für häretisch oder zumindest verdächtig hielt und in einem Gutachten anprangerte. Für irrig erklärte er unter anderem die Behauptung, dass die Erde rotiere, denn dies sei mit der Heiligen Schrift unvereinbar. Gemäß dem Konsens der Theologen sei der Bibel zu entnehmen, dass sich der Fixsternhimmel um die unbewegliche Erde drehe. Im Oktober 1592 wurde die Indexkongregation, die für den Index der verbotenen Bücher zuständige Behörde, aktiv. Sie lud den Autor der suspekten Schrift im November 1592 vor und gestattete ihm, Saragozas Gutachten zu lesen, was für damalige Verhältnisse ein ungewöhnliches Entgegenkommen gegenüber dem Beschuldigten war. Auf den Angriff des Zensors reagierte Patrizi mit einer Verteidigungsschrift, der Apologia ad censuram, in der er zwar im Prinzip seine Unterwerfung bekundete, aber in der Sache seine Position offensiv vertrat und Saragoza Inkompetenz unterstellte. Damit stieß er auf kein Verständnis. Später versuchte er erfolglos, das Gremium mit schriftlichen Erläuterungen zu seiner Lehre und Zugeständnissen zufriedenzustellen. Auch nachdem die Kongregation im Dezember 1592 die Anführung der Nova de universis philosophia in der Neufassung des Index beschlossen hatte, setzte der Autor seine Rettungsbemühungen fort, während sich die Publikation des neuen Index von 1593 verzögerte. Ungünstig wirkte sich vor allem aus, dass der zuletzt zuständige Zensor, der Jesuit Francisco Toledo, ein namhafter Vertreter des von Patrizi bekämpften scholastischen Aristotelismus war. Im Juli 1594 verhängte die Kongregation ein absolutes Verbot der Verbreitung und Lektüre des Werks und ordnete die Vernichtung aller auffindbaren Exemplare an. In der aktualisierten Ausgabe des Index, die 1596 erschien, und in den folgenden Ausgaben wurde die Schrift aufgeführt. Allerdings wurde dem Autor ausdrücklich anheimgestellt, eine geänderte Fassung zur Genehmigung vorzulegen. Der gealterte und vom Konflikt zermürbte Philosoph nahm zwar die Überarbeitung in Angriff, konnte sie aber nicht mehr zu Ende führen, denn er starb am 7. Februar 1597 an einem Fieber. Er wurde in der römischen Kirche Sant’Onofrio al Gianicolo neben Torquato Tasso beigesetzt. Werke Die meisten Schriften Patrizis sind in italienischer Sprache abgefasst, die übrigen lateinisch. Zum lateinischen Teil des Œuvres zählen vor allem zwei monumentale Werke: die Discussiones peripateticae, eine umfangreiche Kampfschrift gegen den Aristotelismus, und die Nova de universis philosophia, die unvollendet gebliebene Gesamtdarstellung seiner Lehre. Antiaristotelische Schriften Discussiones peripateticae Der Kampf gegen den Aristotelismus war ein zentrales Anliegen Patrizis, das allenthalben in seinen Texten hervortritt. Er wollte nicht nur einzelne Lehren des antiken Denkers widerlegen, sondern dessen gesamtes System zum Einsturz bringen. Eigens zu diesem Zweck verfasste er eine polemische Schrift, die er Discussiones peripateticae (Peripatetische Untersuchungen) nannte, womit er auf den Peripatos, die Philosophenschule des Aristoteles, Bezug nahm. Den ersten Impuls dazu gab ihm ein Wunsch seines Schülers Zaccaria Mocenigo, der ihn bat, eine Geschichte des Aristoteles zu schreiben. Diese Bitte erfüllte Patrizi mit der Urfassung der Discussiones, einer kritischen Untersuchung des Lebens und der Werke des griechischen Philosophen, die er 1571 in Venedig publizierte. Später griff er nach langer Unterbrechung die systematische Analyse des Aristotelismus erneut auf und erweiterte seinen ursprünglichen Text zu einer umfassenden Kritik an der peripatetischen Weltdeutung. Bei diesem Ausbau des Projekts wurden die 1571 gedruckten Discussiones als erster Band in ein vierbändiges Gesamtwerk übernommen, das Patrizi 1581 in Basel bei Pietro Perna im Folioformat drucken ließ. Damit legte er eine polemische Schrift vor, die zugleich als Handbuch des Aristotelismus angelegt war. Der erste Band besteht aus dreizehn Büchern. Das erste Buch bietet eine ausführliche Lebensbeschreibung des Aristoteles, das zweite ein Werkverzeichnis. Die folgenden sieben Bücher enthalten philologische Untersuchungen. Dort geht es um die Klärung der Fragen, welche der traditionell Aristoteles zugeschriebenen Schriften tatsächlich von ihm stammen, welche Werktitel authentisch sind und wie die Schriften systematisch zu ordnen sind. Für die Unterscheidung der echten von den unechten Schriften legt Patrizi eine Reihe von stilistischen, inhaltlichen und historischen Kriterien fest. Besonderes Augenmerk gilt den Fragmenten aus verlorenen Werken des griechischen Denkers, die in späterer antiker Literatur überliefert sind. Sie sind in großer Zahl zusammengestellt. Das zehnte Buch behandelt die Rezeptionsgeschichte. Die letzten drei Bücher sind den verschiedenen Methoden gewidmet, die für die Auslegung der Lehre und für ein aristotelisches Philosophieren in Betracht kommen. Im zweiten Band vergleicht Patrizi die peripatetische Philosophie mit älteren Lehren, vor allem dem Platonismus. Seine Absicht ist, Aristoteles als Plagiator und Kompilator zu diskreditieren. Dabei drückt er sich aber vorsichtig aus, denn dieser Band ist seinem Freund und Kollegen Antonio Montecatino gewidmet, dem Inhaber des Lehrstuhls für aristotelische Philosophie in Ferrara. Einen Kontrast dazu bietet die offene, heftige Polemik in den letzten beiden Bänden, in denen der Autor seine Zurückhaltung aufgibt. Der dritte Band stellt die peripatetischen Lehren als unvereinbar mit denen der Vorsokratiker und Platons dar. Patrizi bespricht die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Autoritäten anhand einer Fülle von gegensätzlichen Aussagen, wobei er stets die Ansicht des Aristoteles für falsch erklärt. Aus seiner Sicht ist der Aristotelismus eine geistesgeschichtliche Verfallserscheinung, eine Verfälschung und Zerstörung der Erkenntnisse früherer Denker. Das vierte Buch dient dem Nachweis von Irrtümern in der aristotelischen Naturphilosophie. Bei der Auseinandersetzung mit dem peripatetischen Denken legt Patrizi Wert darauf, die Lehrmeinungen des Aristoteles unmittelbar dessen eigenen Worten zu entnehmen und sich nicht – wie seit dem Mittelalter üblich – von den Interpretationen der zahlreichen Kommentatoren beeinflussen zu lassen. Überdies fordert er, die jeweilige Auffassung des Aristoteles nicht, wie bisher üblich, nur durch eine einzige Aussage zu belegen, sondern möglichst alle einschlägigen Äußerungen des Philosophen heranzuziehen. In den Discussiones peripateticae geht Patrizi nicht konsequent von einem platonischen Alternativsystem zum Aristotelismus aus, sondern macht sich auch Argumente zunutze, die auf nichtplatonischem, eher nominalistischem und empiristischem Gedankengut fußen. Philosophiegeschichtlich sieht er eine verhängnisvolle Entwicklung: Die ersten Schüler des Aristoteles hätten noch selbstständig gedacht und ihrem Lehrer auch widersprochen; später habe sich jedoch Alexander von Aphrodisias vorbehaltlos dem Schulgründer hingegeben und damit auf freies Denken verzichtet. Die ersten mittelalterlichen arabischsprachigen Interpreten, Avicenna, Avempace und Alfarabi, seien noch relativ unbefangen gewesen, doch dann habe Averroes die absolute Autorität des Aristoteles proklamiert und damit dem unfruchtbaren scholastischen Aristotelismus den Weg gewiesen. Kontroverse mit Teodoro Angelucci Das vernichtende Urteil über die aristotelische Philosophie in den Discussiones peripateticae führte zu einer Kontroverse mit dem Aristoteliker Teodoro Angelucci. Dieser reagierte auf die Discussiones mit einer Gegenschrift, in der er Patrizis Darlegungen zur Metaphysik und Naturlehre scharf kritisierte. Darauf antwortete der Angegriffene mit der Apologia contra calumnias Theodori Angelutii (Verteidigung gegen die Verleumdungen Teodoro Angeluccis), die er 1584 drucken ließ. Im folgenden Jahr setzte Angelucci den Streit mit einer weiteren Kampfschrift, den Exercitationes (Übungen), fort. Metaphysik, Naturphilosophie, Mathematik und Zahlensymbolik Vorarbeiten zum System der „neuen Philosophie“ In den 1580er Jahren befasste sich Patrizi mit Vorarbeiten zu einer Gesamtdarstellung seines philosophischen Systems, das er als Alternative zum Aristotelismus konzipierte. Zunächst stellte er einschlägiges Material bereit. Er übersetzte den Kommentar des Pseudo-Johannes Philoponos zur Metaphysik des Aristoteles sowie die Elementatio physica und die Elementatio theologica des spätantiken Neuplatonikers Proklos ins Lateinische. Beide Übersetzungen wurden 1583 gedruckt. Dann arbeitete Patrizi seine Theorie des Raumes aus. In der 1586 abgeschlossenen Abhandlung Della nuova geometria, die er Herzog Karl Emanuel I. von Savoyen widmete, legte er eine neue Grundlage für die Geometrie vor, die er den euklidischen Definitionen vorzog. Im Jahr 1587 erschien eine lateinische Darstellung seines Verständnisses der Räumlichkeit als erster Teil einer Philosophia de rerum natura (Philosophie über die Natur der Dinge). Diese Publikation besteht aus den beiden Büchern De spacio physico (Über den physischen Raum) und De spacio mathematico (Über den mathematischen Raum). Dort präsentierte er seine Alternative zur aristotelischen Kosmologie und Physik. Im Rahmen dieser Vorarbeiten entstand auch Patrizis Werk Zoroaster et eius CCCXX oracula Chaldaica (Zarathustra und seine 320 chaldäischen Orakel), die erste eigenständige neuzeitliche Sammlung von Fragmenten der Chaldäischen Orakel. Er glaubte, es handle sich um authentische Lehren Zarathustras und die Orakel seien das älteste Zeugnis der Geschichte des philosophischen Denkens. Daher war es ihm wichtig, den Textbestand zu sichern. Die Stellen entnahm er Werken der spätantiken Autoren Proklos, Damaskios, Simplikios, Olympiodoros und Synesios. Seine Sammlung, die 318 Orakelverse umfasst, war eine starke Erweiterung der zuvor maßgeblichen Zusammenstellung des Georgios Gemistos Plethon, die nur sechzig Hexameter enthält. Nova de universis philosophia Das Hauptwerk Patrizis, die Nova de universis philosophia (Neue Philosophie über die Dinge in ihrer Gesamtheit) sollte nach seinem Plan aus acht Teilen bestehen und seine gesamte Weltdeutung darlegen. Davon konnte er aber nur die ersten vier Teile fertigstellen und 1591 in Ferrara veröffentlichen. An einem weiteren Teil, De humana philosophia, arbeitete er 1591/1592, doch blieb das Manuskript unabgeschlossen, der Konflikt mit der Zensurbehörde stand der Vollendung und Publikation entgegen. Die Erstausgabe von 1591 widmete der Autor Papst Gregor XIV., mit dem ihn eine Jugendfreundschaft aus seiner Studienzeit in Padua verband. In der Vorrede empfahl Patrizi dem Papst eine tiefgreifende Umwälzung im katholischen Schulwesen: Er schlug vor, im Unterricht der kirchlichen Bildungseinrichtungen – der Ordensschulen und der Universitäten unter päpstlicher Kontrolle – den seit dem Mittelalter dominierenden Aristotelismus durch eine alternative Weltdeutung zu ersetzen, die der vorherrschenden Schulphilosophie überlegen sei. Dafür kämen fünf Modelle in Betracht. Das erste sei sein eigenes System gemäß der Nova de universis philosophia, das zweite der Zoroastrismus, das dritte die Hermetik, die Lehre des Hermes Trismegistos, das vierte eine angeblich altägyptische Philosophie – gemeint ist die Lehre der fälschlich Aristoteles zugeschriebenen Theologia Aristotelis –, das fünfte der Platonismus. Die vier älteren Philosophien habe er rekonstruiert, geordnet und erläutert. Alle fünf Modelle seien der Religion förderlich und aus katholischer Sicht annehmbar, im Gegensatz zum Aristotelismus, der gottlos und mit dem Glauben unvereinbar sei. Die Übereinstimmung des Platonismus mit dem Christentum hätten schon die antiken Kirchenväter erkannt. Dennoch habe die aristotelische Philosophie die Vorherrschaft errungen. Ihre weiterhin andauernde Dominanz gehe auf die mittelalterlichen Scholastiker zurück. Diesen seien die Werke Platons unbekannt gewesen, daher hätten sie sich den untauglichen Schriften des Aristoteles zugewandt. Provokativ übte Patrizi in der Vorrede Kritik am Vorgehen der gegenreformatorischen Kirche, die den Glauben an ihre Lehre mittels der Zensur, der Inquisition und staatlicher Gewalt abzusichern versuchte. Er empfahl nachdrücklich, lieber auf die Vernunft und die Überzeugungskraft philosophischer Argumente zu setzen, statt sich auf Zwang zu verlassen. Der erste Teil der Schrift, betitelt Panaugia (Allerhellung oder Allglanz), handelt vom Lichtprinzip, das als die formende und belebende Kraft im Universum dargestellt wird, und vom physischen Licht und dessen Eigenschaften. Erörtert werden unter anderem die Reflexion und Brechung des Lichts und die Natur der Farben. Der zweite Teil heißt Panarchia (Allherrschaft oder Allursächlichkeit). Das ist eine vom griechischen Substantiv archḗ („Ursprung“, „Ursache“, „Herrschaft“) ausgehende Wortschöpfung des Autors, die sich auf die hierarchische Weltordnung und deren göttliche Quelle bezieht. Die Panarchia beschreibt die Emanation – das stufenweise Ausströmen der Entitäten aus ihrer göttlichen Quelle – und die darauf beruhende Rangordnung im Universum. Der dritte Teil trägt den Titel Pampsychia (Allbeseeltheit). Dort stellt der Philosoph sein Konzept der Beseelung des gesamten physischen Kosmos durch die Weltseele vor und bespricht besonders die Seelen der Tiere. Im vierten Teil, der Pancosmia (Allordnung), werden Themen der physikalischen Kosmologie erörtert, insbesondere die Frage nach der räumlichen Ausdehnung des Universums, die Patrizi für unendlich hält. Als Anhänge beigefügt sind neben Quellentexten zwei Exkurse des Autors über spezielle Themen: ein Versuch, die Reihenfolge von Platons Dialogen zu bestimmen, und eine Zusammenstellung von Gegensätzen zwischen der aristotelischen und der platonischen Philosophie. Die Quellentexte sind Patrizis Sammlung der Fragmente der Chaldäischen Orakel, hermetische Literatur sowie die als „mystische Philosophie der Ägypter“ bezeichnete Theologia Aristotelis, eine pseudo-aristotelische Schrift, deren Inhalt Patrizi mit der nur mündlich vorgetragenen „ungeschriebenen Lehre“ Platons gleichsetzte. Er meinte, es handle sich um eine von Aristoteles angefertigte Aufzeichnung von Weisheitslehren altägyptischen Ursprungs, die Platon seinen Schülern im Unterricht vermittelt habe. Trotz seines großen Respekts vor den Urhebern der uralten Weisheitslehren zögerte Patrizi nicht, im Einzelfall eine abweichende Meinung zu vertreten. Er betonte die Notwendigkeit stichhaltiger Beweise und lehnte es ab, Zitate von ehrwürdigen Autoritäten als Ersatz für fehlende Argumente zu akzeptieren. Seine Aufgabe sah er darin, Argumente für das zu liefern, was in den überlieferten Texten der Weisen des Altertums nicht hinlänglich begründet war. De numerorum mysteriis Von Zahlensymbolik gemäß der pythagoreischen Zahlenlehre handelt die Schrift De numerorum mysteriis (Über die Geheimnisse der Zahlen), die Patrizi 1594 im Auftrag des Kardinals Federico Borromeo verfasste. Sie ist handschriftlich überliefert, aber unediert geblieben. Staatstheorie, Geschichtstheorie und Militärwissenschaft La città felice La città felice (Die glückliche Stadt) ist ein Jugendwerk des Philosophen, das er als Student verfasste, 1551 vollendete und 1553 in Venedig drucken ließ. Die Abhandlung soll die Bedingungen für ein gelungenes Leben in einer idealen staatlichen Gemeinschaft aufzeigen. Die Ausgangsbasis bilden die einschlägigen Überlegungen in der Politik des Aristoteles, dessen Ansichten der junge Humanist hier noch weitgehend folgt. Daneben ist aber schon der Einfluss des Platonismus erkennbar. In dem Staatsmodell ist auch Material aus stoischer Literatur verwertet, und die Einwirkung Niccolò Machiavellis macht sich ebenfalls bemerkbar. Della historia diece dialoghi Patrizi war einer der Pioniere der Geschichtstheorie, eines damals noch jungen Forschungszweigs. Von den Grundlagen der Geschichtsphilosophie und den Methoden der Geschichtsforschung handeln zehn Dialoge des venezianischen Gelehrten, die er 1560 unter dem Titel Della historia diece dialoghi veröffentlichte. Die fiktiven Dialoge spielen sich in Venedig unter Freunden und Bekannten des Verfassers ab, er selbst ist immer dabei. Die Gesprächsteilnehmer vertreten in Rede und Gegenrede unterschiedliche Auffassungen. Ihre Ausführungen werden so dargeboten, wie es einem natürlichen Gesprächsverlauf entspricht, mit häufigen Unterbrechungen und Abschweifungen, mit Ironie, Zweifel, Spott und einer Fülle von geistreichen Bemerkungen. La militia romana di Polibio, di Tito Livio, e di Dionigi Alicarnaseo Die Abhandlung La militia romana di Polibio, di Tito Livio, e di Dionigi Alicarnaseo (Das römische Kriegswesen nach Polybios, Titus Livius und Dionysios von Halikarnassos), die Patrizi 1573 schrieb, wurde erst zehn Jahre später gedruckt. Sie ist stark von Ideen Machiavellis inspiriert. Den Ausgangspunkt bildet die These, die Kriegskunst sei die Grundlage des Friedens und eine Voraussetzung für das menschliche Glück. Maßgeblich sei die Kriegsführung der antiken Römer, die allen anderen, insbesondere der türkischen, überlegen sei. An dieses Vorbild habe man sich zu halten, denn wenn es gelinge, die alte römische Schlagkraft wieder zu erreichen, brauche man die Türken nicht mehr zu fürchten. Der einzige, dem dies bisher annähernd gelungen sei, sei Herzog Alfonso I. d’Este, der als Feldherr ebenso wie in der Belagerungstechnik und im Festungsbau das unerreichte Vorbild aller anderen Herrscher sei. Mit dieser Schmeichelei wollte Patrizi den damals in Ferrara regierenden Herzog Alfonso II. d’Este, den Enkel Alfonsos I., beeindrucken. Ihm widmete er seine Schrift. Paralleli militari Die Paralleli militari (Militärische Vergleiche), in zwei Teilen 1594 und 1595 gedruckt, sind Patrizis letzte Veröffentlichung. Sie enthalten die Bilanz seiner Überlegungen angesichts der politischen und militärischen Krise Italiens im späten 16. Jahrhundert. Er erhob den Anspruch, mit seiner Theorie des Kriegswesens die Militärs auf ihrem eigenen Gebiet belehren zu können. Zu diesem Zweck übersandte er seine Schrift den namhaften Truppenbefehlshabern Ferrante Gonzaga, Francesco Maria II. della Rovere und Alfonso II. d’Este. Literaturwissenschaft Discorso della diversità de’ furori poetici Der Discorso della diversità de’ furori poetici (Abhandlung über die Verschiedenartigkeit der dichterischen Ergriffenheiten), ein 1553 gedrucktes Jugendwerk Patrizis, behandelt den Ursprung und die unterschiedlichen Erzeugnisse der dichterischen Inspiration. Dabei befasst sich der Autor mit dem umstrittenen Verhältnis von inspiriertem Schaffen im Zustand der Ergriffenheit und erlernter, auf traditionellen Normen und Mustern beruhender Verstechnik. Nach dem Konzept des Discorso ist der inspirierte Dichter ein Schöpfer, der seinen Eingebungen folgt, ohne sich an Regeln zu binden; seine Kunst ist nicht erlernbar, sondern ein göttliches Geschenk. An die Poetik des römischen Lyrikers Horaz anknüpfend nimmt der humanistische Theoretiker ein Zusammenwirken von ingegno und furore bei der poetischen Produktion an. Unter ingegno versteht er individuelle Neigung, Talent und hier speziell geistige Beweglichkeit, unter furore die Inspiration durch die göttlichen Musen. Dank dem Zusammenspiel dieser Faktoren erlange der Dichter eine privilegierte Beziehung zur Gottheit, die ihn aus der Perspektive verständnisloser Menschen als krank und verrückt erscheinen lasse. Allerdings räumt Patrizi ein, dass daneben auch die Rezeption fremder Werke, Gelehrsamkeit und Übung einen Beitrag zum Gelingen leisten könnten. Lettura sopra il sonetto del Petrarca «La gola, e’l sonno, e l’ociose piume» Auch diese Schrift zählt zu den schon 1553 gedruckten Jugendwerken Patrizis. Hier analysiert er aus philosophischer Perspektive das Sonett La gola, e’l sonno, e l’ociose piume des berühmten Dichters Francesco Petrarca, wobei er ihm eine symbolische Bedeutung im Kontext der platonischen Seelenlehre unterlegt. Della retorica dialoghi dieci Patrizis zehn Dialoge über die Rhetorik wurden 1562 in Venedig gedruckt. Sie sind dem Kardinal Niccolò Sfondrati, dem späteren Papst Gregor XIV., gewidmet. Jeder Dialog ist nach einem der jeweiligen Gesprächsteilnehmer benannt. Der Autor selbst ist an allen Diskussionen beteiligt. Die Schrift wendet sich gegen die in Humanistenkreisen verbreitete, auf der Auffassung des Aristoteles und Ciceros fußende Meinung, die Rhetorik sei eine für jede Wissensvermittlung benötigte Überzeugungskunst. Darin sieht Patrizi eine Überschätzung dieser Disziplin, die er für ein Täuschungsmittel hält und skeptisch beurteilt. Er beschreibt sie als bloße Technik des Umgangs mit den sprachlichen Ausdrucksmitteln ohne inneren Bezug zur Wahrheit und zur Wirklichkeit. Da das Prinzip der Rhetorik unbekannt sei und da sie sich mit dem Wahrscheinlichen und nicht mit dem Wahren befasse, könne sie beim gegenwärtigen Kenntnisstand nicht als Wissenschaft bezeichnet werden, wenngleich die Möglichkeit einer künftigen wissenschaftlichen Rhetorik offen bleibe. Weitere Themen der Rhetorikschrift sind die Entstehung der Sprache und die Macht der Worte. Der Autor glaubt, dass das gesprochene Wort in einer mythischen Vergangenheit eine magische Kraft besessen habe. Die später eingeführte Lenkung der Gemüter mit der Überzeugungskunst sei nur ein schwacher Nachklang dieser ursprünglichen Macht, denn die einstige Verbindung mit der Wahrheit sei der Menschheit abhandengekommen. Patrizi zeichnet ein kulturpessimistisches Bild der Menschheitsgeschichte, wobei er die Furcht als maßgeblichen Faktor hervorhebt, der zum beklagenswerten Zustand der Zivilisation in seiner Zeit geführt habe und das soziale Leben dominiere. In den Zusammenhang dieses Niedergangs ordnet er die Entstehung und Geschichte der Rhetorik ein. Parere in difesa dell’Ariosto Das Erscheinen der endgültigen Fassung von Torquato Tassos Epos La Gerusalemme liberata im Jahr 1581 löste in Ferrara eine lebhafte Kontroverse aus. Dabei standen Bewunderer Tassos einer Gruppe von Literaturkritikern gegenüber, für die Ariosts Orlando furioso das maßgebliche Muster darstellte. Nachdem sich der Dichter Camillo Pellegrino abwertend über Ariosts Stoffbehandlung geäußert hatte, griff Patrizi 1585 mit einer Streitschrift in die Debatte ein. In seiner Stellungnahme, betitelt Parere in difesa dell’Ariosto, lobte er die Unabhängigkeit Ariosts, der weder die Epen Homers nachgeahmt noch die Regeln der Poetik des Aristoteles befolgt habe. Anhand der aktuellen Kontroverse wollte Patrizi die Unbrauchbarkeit der etablierten aristotelischen Dichtungslehre zeigen. Dabei machte er unter anderem geltend, schon Homer habe sich ebenso wie Ariost nicht an die Regeln dieser Poetik gehalten. Darauf reagierte Tasso umgehend mit einer Entgegnung, in der er die herkömmlichen Grundsätze verteidigte. Poetica Die Poetica ist eine großangelegte Darstellung von Patrizis Dichtungstheorie, ein Gegenentwurf zur Poetik des Aristoteles. Sie umfasst sieben Bände, die Dekaden genannt werden, weil sie aus jeweils zehn Büchern bestehen. Die beiden ersten Dekaden, die Deca istoriale und die Deca disputata, wurden 1586 gedruckt. Die Deca istoriale bietet eine eingehende Beschreibung der poetischen Erzeugnisse des Altertums und der Formen von deren öffentlicher Rezeption. Auf die Bestandsaufnahme folgen die Klassifizierung, die Untersuchung der Metrik und die Darstellung der Präsentation von Dichtung im kulturellen Leben. Eine hier vorgetragene These lautet, bei den Tragödienaufführungen im antiken Griechenland hätten die Schauspieler stets gesungen. Die zweite Dekade behandelt die Theorie. Ihren Abschluss bildet eine Auseinandersetzung mit Torquato Tassos Verständnis von poetischer Qualität. Diesen Teil seines Werks nannte Patrizi Trimerone (Dreitagewerk), da die Abfassung drei Tage in Anspruch genommen hatte. Die restlichen fünf Dekaden, die in der Frühen Neuzeit verschollen waren, wurden erst 1949 entdeckt und 1969/1971 herausgegeben. Kontroverse mit Jacopo Mazzoni Eine intensive Auseinandersetzung führte Patrizi mit dem Gelehrten Jacopo Mazzoni, der ihm in einer philologischen Frage widersprach. Es ging um das verlorene Werk Daphnis oder Lityerses des hellenistischen Dichters Sositheos, das wohl ein Satyrspiel war. Patrizi glaubte zu Unrecht, Daphnis und Lityerses seien die Titel zweier Tragödien des Sositheos, während Mazzoni – ebenfalls fälschlich – annahm, es handle sich um eine Ekloge mit dem Titel Daphnis und Lityerses. Patrizi reagierte 1587 auf Mazzonis Kritik an seiner Hypothese mit einer Entgegnung, der Risposta di Francesco Patrizi a due opposizioni fattegli dal Signor Giacopo Mazzoni (Antwort auf zwei Einwände des Herrn Jacopo Mazzoni), worauf Mazzoni eine Erwiderung veröffentlichte, auf die wiederum Patrizi mit einer neuen Replik antwortete, der Difesa di Francesco Patrizi dalle cento accuse dategli dal Signor Iacopo Mazzoni (Verteidigung Francesco Patrizis gegen die hundert gegen ihn erhobenen Beschuldigungen des Herrn Jacopo Mazzoni). Erotik Discorsi et argomenti zu Luca Contiles Sonetten Patrizi war mit dem Dichter Luca Contile befreundet. Als er 1560 in Venedig eine Ausgabe der gesammelten poetischen Werke seines Freundes herausbrachte, fügte er ihr seine discorsi et argomenti bei, einführende und erläuternde Texte, in denen er eine philosophische Basis für die Liebeslyrik vorlegte. Dabei knüpfte er an die Behandlung der Erosthematik in Platons Dialog Symposion an und übertrug seiner verehrten Freundin Tarquinia Molza die Rolle von Platons berühmter literarischer Figur Diotima, die das wesentliche Wissen über die Liebe vermittelt. Er verglich die antike Liebesdichtung mit derjenigen der Renaissance. Nach der Behandlung der Theorie ging er auf die poetische Umsetzung der philosophischen Gedanken ein und kommentierte fünfzig Sonette Contiles. Il Delfino overo Del bacio Wann Patrizi den Dialog Il Delfino overo Del bacio (Delfino oder Über den Kuss) verfasste, ist umstritten. Veröffentlicht hat er ihn nicht; das Werk wurde erst 1975, als die kritische Erstedition erschien, im Druck zugänglich gemacht. Die Gesprächspartner sind der Autor und ein nicht mit Sicherheit identifizierbarer Angelo Delfino, nach dem das Werk benannt ist. Wahrscheinlich handelt es sich bei Delfino um einen Angehörigen des bedeutenden venezianischen Adelsgeschlechts der Dolfin. Den Ausgangspunkt bildet eine Frage, die der junge Delfino dem zurückgezogen lebenden Patrizi stellt: Er möchte erfahren, was die Ursache der „Süßigkeit“ des Kusses ist. In der Liebesliteratur hat er nichts darüber gefunden; sie übergeht den Kuss, als wäre er für die Liebe belanglos. Die beiden Männer besprechen die verschiedenen Arten des Küssens und ihre Wirkungen, und Patrizi gibt eine ausführliche physiologische Erklärung, die den Fragesteller befriedigt. Dabei geht er auf die unterschiedliche erotische Sensibilität einzelner Körperteile ein und rehabilitiert den von Marsilio Ficino abschätzig beurteilten Tastsinn. Abschließend richtet der dankbare Delfino ein Gebet an den „überaus mächtigen“ Liebesgott Amor. L’amorosa filosofia L’amorosa filosofia zählt zur Gattung der im 16. Jahrhundert in Italien äußerst beliebten Liebesabhandlungen, der trattati d’amore. Es handelt sich um eine Schrift über weibliche Attraktivität und über die Liebe, die Patrizi 1577 in Modena verfasste, aber nicht veröffentlichte. Das unvollständig überlieferte, offenbar unvollendet gebliebene Werk wurde erst 1963 anhand des eigenhändigen Manuskripts des Autors ediert. Es besteht aus vier Dialogen. Gesprächsteilnehmer sind eine Reihe von Personen, darunter neben dem Verfasser und Bernardino Telesio als zentrale Figur Tarquinia Molza. Im ersten Dialog, der etwa die Hälfte des Textes ausmacht, tritt Tarquinia nicht selbst auf, steht aber im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, denn die Gesprächsteilnehmer schildern und preisen ihre intellektuellen, künstlerischen und körperlichen Vorzüge. Nach dieser Darstellung verkörpert sie in einzigartiger Vollkommenheit das Frauenideal ihrer Zeit, das dem Renaissance-Ideal des Universalmenschen nachgebildet ist. Sie entstammt einer edlen Familie, ist musikalisch und literarisch hervorragend gebildet und eine ausgezeichnete Lyrikerin, verfügt über eine rasche Auffassungsgabe und ein vorzügliches Gedächtnis und ist von leidenschaftlicher Wissbegier beseelt. Ihr Charakter ist vorbildlich, ihre Stimme engelhaft, ihre Schönheit macht sie göttergleich. In den übrigen drei Dialogen kommt Tarquinia selbst zu Wort und legt im Gespräch mit hoher Autorität ihre Ansicht dar. Hier treten die traditionellen Vorstellungen, die den Konzepten der platonischen, der höfischen und der christlichen Liebe entstammen, in den Hintergrund; betont wird die Selbstliebe als Basis aller anderen Erscheinungsformen von Liebe. Wasserwirtschaft Mit einer wasserwirtschaftlichen und zugleich politischen Frage setzte sich Patrizi 1578/1579 auseinander. Der Anlass war eine gravierende Problematik am Unterlauf des Po, an dessen Ufer Ferrara liegt. Nach einer verheerenden Überschwemmung des Flusses Reno war dieser 1442 kanalisiert und in den Po geleitet worden. Die Meliorationsmaßnahme lag im Interesse der von der Überschwemmung geschädigten Stadt Bologna, an welcher der Reno vorbeifließt. Sie war aber nach der Meinung der Ferraresen die Ursache der Anlandung, die in ihrem Gebiet den Schiffsverkehr auf dem Po schwer beeinträchtigte. Deshalb stimmten die Herrscher von Ferrara im 15. und 16. Jahrhundert nur widerwillig der Einleitung des Renowassers in den Po zu oder verweigerten die Genehmigung. In den 1570er Jahren kam es aus diesem Grund zu einem neuen Konflikt zwischen den beiden Städten, in dem Papst Gregor XIII. die Vermittlung übernahm. Der Papst setzte eine Untersuchungskommission ein, in der Scipione di Castro, ein politischer Ratgeber ohne ingenieurwissenschaftliche Kompetenz, tonangebend war. Di Castro schrieb 1578 ein Gutachten, in dem er zum Ergebnis kam, die Anlandung sei nicht vom Reno verursacht. Dies erzürnte die Ferraresen, für die Patrizi nach eingehenden Studien das Wort ergriff. Er formulierte und begründete seine Auffassung zunächst in einem 1579 erstellten Gutachten für Herzog Alfonso II. d’Este, dem Discorso sopra lo stato del Po di Ferrara (Abhandlung über den Zustand des Po von Ferrara), und dann in einer vernichtenden Stellungnahme zum Schriftstück di Castros, der Risposta alla scrittura di D. Scipio di Castro sopra l’arrenamento del Po di Ferrara. Sein Ansprechpartner seitens der Kurie war der Bischof Tommaso Sanfelice, mit dem er sich gut verständigen konnte. Im Jahr 1580 schrieb Patrizi einen Bericht über seine Verhandlungen mit Sanfelice. Seine kühnen Vorschläge für den Bau neuer Kanäle wurden jedoch vom Herzog nicht aufgegriffen. Il Barignano Ein ethisches Thema behandelt Patrizis 1553 in der Sammlung der Frühwerke veröffentlichter Dialogo dell’honore (Dialog über die Ehre), den er Il Barignano benannte. Der Namensgeber ist Fabio Barignano, ein zeitgenössischer, damals noch sehr junger Dichter aus Pesaro, der als einer der beiden Teilnehmer der fiktiven Diskussion auftritt. Sein Gesprächspartner ist ebenfalls eine historische Gestalt, der Graf Giovan Giacomo Leonardi, ein Diplomat im Dienst des Herzogs von Urbino. Im Widmungsbrief bemerkt Patrizi, auf die Ehre lege jeder großen Wert. Auch der schlechteste Mensch wolle überall Ansehen genießen und für ehrenwert gehalten werden und räche sich für Beleidigung und üble Nachrede. Dennoch habe noch nie jemand der Ehre eine eigene Schrift gewidmet und philosophisch untersucht, worin sie eigentlich bestehe. Nur ein Sonderaspekt, das Duell, sei bisher in der Literatur erörtert worden. Diesem Mangel soll der Barignano abhelfen. Im Lauf des Gesprächs vermittelt Leonardi seinem jungen Dialogpartner sein Verständnis der wahren Ehre. Diese besteht nach seinen Ausführungen nicht im Ansehen, sondern in einer unerschütterlichen tugendhaften Grundeinstellung. Daher könne man die wahre Ehre, die nicht von den Urteilen anderer abhänge, niemals einbüßen, im Gegensatz zur Scheinehre, einem vergänglichen Ansehen, das auf äußerlichen Werten und fragwürdigen Vorstellungen beruhe. Gedichte Von Patrizi stammen zwei Lobgedichte aus den späten 1550er Jahren. Außerdem verherrlichte er 1559 die Malerin Irene di Spilimbergo nach ihrem frühen Tod in zwei Sonetten. Das erste der beiden Lobgedichte, L’Eridano (Der Po), entstand, als sich der Philosoph vergeblich um eine Anstellung am Hof des Herzogs von Ferrara, Ercole II. d’Este, bemühte. Es sollte dem Herrscherhaus die humanistische Qualifikation des Autors zeigen und zugleich mit der üblichen Schmeichelei Eindruck machen. Patrizi widmete das Gedicht, in dem er das regierende Geschlecht rühmte, einem Bruder des Herzogs, dem Kardinal Ippolito d’Este. Er ließ es 1557 drucken und fügte eine Erläuterung zur Versform bei, die Sostentamenti del nuovo verso heroico. Wie auf anderen Gebieten trat er auch hier als Neuerer auf: Er behauptete, er führe ein neues heroisches Versmaß in die italienische Dichtung ein, das zum heroischen Inhalt eines Epos passe. Dabei handelt es sich um Dreizehnsilbler mit einer Zäsur nach der sechsten Silbe, eine dem klassischen Hexameter nachgestaltete Form. In Wirklichkeit war dieses wohl auf den Alexandriner zurückgehende Versmaß nicht neu, es wurde schon im 14. Jahrhundert verwendet. Das zweite Lobgedicht, der Badoaro, entstand im Jahr 1558 und ist ebenfalls im „neuen“ heroischen Versmaß abgefasst. Patrizi rühmt darin den venezianischen Humanisten, Politiker und Diplomaten Federico Badoer. Der lange verschollene Text wurde erst 1981 veröffentlicht. Briefe Es sind rund hundert Briefe Patrizis erhalten geblieben, darunter ein als Quelle besonders wichtiger Brief vom 26. Juni 1572 an Bernardino Telesio, in dem er dessen philosophische Prinzipien kritisch untersucht, und ein autobiographischer Brief an seinen Freund Baccio Valori vom 12. Januar 1587. Sie machen nur einen bescheidenen Teil seiner Korrespondenz aus und stammen größtenteils aus den Jahren in Ferrara und Rom; alle Briefe aus der Jugendzeit sind verloren. Der Stil ist sachlich und trocken, ohne literarischen Schmuck. Dieses Quellenmaterial zeigt den Gelehrten als bedeutende Figur im Kulturleben seiner Epoche. Del governo de’ regni Nach einer Hypothese von John-Theophanes Papademetriou, die als plausibel gilt, hat Patrizi die 1583 in Ferrara gedruckte italienische Übersetzung einer orientalischen Märchensammlung unter dem Titel Del governo de’ regni angefertigt. Die Vorlage war eine griechische Fassung dieses ursprünglich in Indien entstandenen Werks, das als Fabeln des Bidpai oder Kalīla wa Dimna bekannt ist. Lehre Mit seinen Lehren in unterschiedlichen Themenbereichen wollte sich Patrizi als Kritiker traditioneller Denkweisen und Finder neuer Wege profilieren. Mit Vorliebe grenzte er sich von allem Bisherigen ab und wählte einen ungewöhnlichen Ansatz, den er – teils übertreibend – als grundlegende Neuerung vorstellte. Er trachtete danach, den Horizont zu erweitern und gewohnte Grenzen zu überschreiten. Dabei stieß er auf ein Haupthindernis, das er zu beseitigen versuchte: das relativ starre, in der Schulphilosophie dominierende Gehäuse des Aristotelismus, das sich im Lauf der Jahrhunderte durch die umfangreiche Aristoteles-Kommentierung ausgeformt hatte und Innovation nur in einem vorgegebenen engen Rahmen zuließ. Angesichts dieser Situation richtete sich die Polemik des Humanisten nicht nur gegen Aristoteles, sondern auch gegen die vom aristotelischen Denken geprägte scholastische Tradition und insbesondere gegen deren averroistische Strömung. Er warf den Aristotelikern und Scholastikern vor, dass sie sich mit Wörtern – willkürlich und grundlos eingeführten Abstraktionen – statt mit Dingen befassten und jeden Kontakt mit der Realität der Natur verloren hätten. Generell ist Patrizis Philosophie durch den Vorrang der deduktiven Vorgehensweise charakterisiert. Er leitete seine Thesen aus Prämissen ab, deren Richtigkeit er für evident hielt. Damit erstrebte er eine Wissenschaftlichkeit, die sich am Vorbild des mathematischen Diskurses orientieren sollte. Das Ziel war Erkenntnis des durch Ordnung bestehenden Ganzen (rerum universitas) über ein Begreifen von Strukturen. Patrizi begründete seine Ablehnung der aristotelischen Beweisführung damit, dass sie gegenüber dem Kontingenten versage. Diesen Mangel sollte sein Ansatz beheben; er wollte das Kontingente systematisieren und damit wissenschaftsfähig machen. Metaphysik, Naturphilosophie und Mathematik In der Naturphilosophie betonte Patrizi mit besonderem Nachdruck die Neuartigkeit seiner Lehre; er stellte fest, er verkünde „Großes“ und „Unerhörtes“. Tatsächlich vollzog er einen fundamentalen Bruch mit der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen scholastischen Tradition. Raumkonzeption In der scholastischen, auf aristotelischen Vorgaben fußenden Physik, die im 16. Jahrhundert noch vorherrschte, war die Raumvorstellung an den Begriff des Ortes gebunden. Der Ort wurde als eine Art Gefäß aufgefasst, das Körper aufnehmen kann und den Raum konstituiert. Es fehlte die Vorstellung eines unabhängig von Orten als Realität eigener Art existierenden dreidimensionalen Raumes. Dieser Denkweise stellte Patrizi seine neue Raumkonzeption entgegen. Nach seinem Verständnis ist der Raum weder eine Substanz noch ein Akzidens, er lässt sich nicht in das aristotelische Kategorienschema einordnen. Er ist auch nicht ein „Nichts“ oder dem Nichtseienden ähnlich, sondern ein tatsächlich seiendes Etwas, und zwar das erste Seiende in der Welt des sinnlich Wahrnehmbaren. Das Sein des Raumes geht allem anderen physikalischen Sein zeitlich und ontologisch voraus, es ist die Voraussetzung für dessen Existenz. Wenn die Welt zugrunde ginge, bliebe der Raum dennoch bestehen, nicht nur potenziell, sondern tatsächlich. Als seiendes Etwas ist der Raum qualitativ bestimmt; seine Merkmale sind Aufnahmefähigkeit, Dreidimensionalität und Homogenität. In Bezug auf das, was in ihm ist, ist er indifferent. An und für sich betrachtet ist er mit dem Vakuum gleichzusetzen. Der physikalische Raum ist einerseits körperlich, weil er wie ein Körper drei Dimensionen aufweist, andererseits unkörperlich, weil er keinen Widerstand leistet. Philosophie der Mathematik Mit der „neuen Geometrie“, die Patrizi vorschlug, meinte er eine neue philosophische Grundlegung dieser Wissenschaft. Deren Notwendigkeit begründete er mit einer Unzulänglichkeit des euklidischen Systems: Euklid habe zwar elementare Begriffe wie Punkt, Linie und Fläche definiert, habe es jedoch versäumt, ein philosophisches System zu erarbeiten, das eine einwandfreie Bestimmung der übrigen geometrischen Begriffe ermöglichen würde. Vor allem fehle bei Euklid eine Definition des Raumes, obwohl der Raum der primäre Gegenstand der Geometrie sein müsse. Diesem Mangel versuchte Patrizi abzuhelfen, indem er den Raum zur Basis seines eigenen Systems machte und Punkte, Linien, Winkel, Oberflächen und Körper daraus ableitete. Nach Patrizis Verständnis ist das Kontinuum eine reale Gegebenheit, das Diskrete hingegen ein Denkprodukt. Daraus ergab sich für ihn innerhalb der Mathematik der Vorrang der Geometrie vor der Arithmetik. Diese Auffassung entsprach dem damaligen Kenntnisstand; die analytische Geometrie, die den Begriff der Zahl erweitert und kontinuierlich macht, war noch nicht entdeckt. Kosmologie und Weltentstehung Nach der aristotelischen Kosmologie bildet die vom kugelförmigen Himmelsgewölbe umschlossene Welt der materiellen Dinge die Gesamtheit des Universums. Außerhalb dieses begrenzten Universums kann nichts sein, nicht einmal Zeit und leerer Raum. Patrizi hingegen hielt den Teil des dreidimensionalen Raumes, der nach seiner Vorstellung die gesamte Materie enthält, für einen abgegrenzten, vom leeren Weltraum umgebenen Bereich. Offen blieb die Frage nach der Form dieses Bereichs. Die aristotelische Annahme, die materielle Welt sei kugelförmig, betrachtete Patrizi mit Skepsis, da ein Beweis für die Kugelgestalt des Himmels nicht erbracht worden sei. Anscheinend bevorzugte er die Hypothese, dass der stoffliche Teil des Universums die Gestalt eines regelmäßigen Tetraeders habe. In der Mitte der materiellen Welt befindet sich nach seinem Modell die Erde, die täglich um ihre Achse rotiert. Die Gegenhypothese, eine tägliche Drehung des Himmelsgewölbes um die Erde, hielt er nicht für plausibel, da die dafür erforderliche Geschwindigkeit kaum möglich sei. Er verwarf die herkömmliche Erklärung der Bewegungen der Himmelskörper, der zufolge die Gestirne an durchsichtigen materiellen Kugeln (Sphären) befestigt sind, deren Umdrehungen sie mitvollziehen. Stattdessen nahm er an, dass sie sich frei im Raum bewegen. Damit wurde für ihn die traditionelle Vorstellung, die Bahnen seien kreisförmig, ebenfalls hinfällig. Daher gab er auch das seit der Antike verbreitete Konzept der Sphärenharmonie auf, das physische Sphären voraussetzt. An der Vorstellung einer harmonischen Struktur des Kosmos im Sinne der platonischen Naturphilosophie hielt er jedoch fest. Das Auftauchen eines neuen Sterns, der Supernova von 1572, nahm er zum Anlass, auch die Behauptung des Aristoteles, der Himmel sei unveränderlich und unvergänglich, für widerlegt zu erklären. Umgeben ist die materielle Welt in Patrizis Modell von einem unendlich ausgedehnten, homogenen, leeren Raum. Dieser ist von Licht durchflutet; ein leerer Raum muss hell sein, weil das Licht überall präsent ist, wo keine Materie ist, die mit ihrer Undurchdringlichkeit Dunkelheit erzeugen könnte. Der Raum, der die materielle Welt umfasst, existierte schon vor der Erschaffung der Materie, die dann in ihn hineingesetzt wurde. Mit dieser Hypothese widersprach der humanistische Denker der aristotelischen Lehre, der zufolge ein Vakuum prinzipiell unmöglich ist. Auch innerhalb der Körperwelt nahm er Vakua an; diese seien winzige Leerräume zwischen den Materieteilchen. Einen von mehreren Beweisen für die Existenz solcher Vakua sah er in den Kondensationsvorgängen, bei denen nach seiner Meinung die Leerräume gefüllt werden. In der Kosmogonie, der Lehre von der Weltentstehung, übernahm Patrizi die Grundzüge des neuplatonischen Emanationsmodells, das die Erzeugung alles Geschaffenen als ein stufenweises Hervorgehen aus einer göttlichen Quelle darstellt. Dabei verwertete er Gedankengut der Chaldäischen Orakel und der Hermetik. Im Gegensatz zu Aristoteles nahm Patrizi einen zeitlichen Anfang der Welt an. Nach seiner Lehre ist die Erschaffung des Kosmos kein willkürlicher Akt Gottes, sondern eine Notwendigkeit. Sie ergibt sich zwangsläufig aus Gottes Natur, die eine Schöpfung fordert. Gott muss erschaffen. Als Schöpfer ist er die Quelle, das erste Prinzip, in dem alles seinen Ursprung hat. Diese Quelle wird im Neuplatonismus „das Eine“ genannt. Patrizi verwendete dafür eine eigene Wortschöpfung: un’omnia („Ein-Alles“). Nach dem Modell der „neuen Philosophie“ ist das erste Produkt des Schöpfungsvorgangs das Raumprinzip, das indifferente, neutrale Prinzip des Örtlichen. Seine Existenz ist die Voraussetzung für alles andere, für die Entfaltung der Natur. Den Ausgangspunkt der Natur bildet das zweite Prinzip, das „Licht“. Damit ist nicht Licht als Naturphänomen und Gegenstand von Sinneswahrnehmung gemeint, sondern eine übergegenständliche Naturgegebenheit, das erzeugende Formprinzip, das zugleich das Prinzip des Erkennens und Erkanntwerdens ist. Aus diesem Licht gehen in einem kontinuierlichen Prozess Entitäten hervor, die metaphorisch als die „Samen“ der Dinge bezeichnet werden. Diese werden durch die „Wärme“ (lateinisch calor) in das „Fließen“ oder die „Feuchtigkeit“ (lateinisch fluor) eingeführt, ein flexibles Substrat, aus dem dann die Vorformen der Weltdinge, ihre Muster, gestaltet werden. Bei all dem handelt es sich noch nicht um Materielles; die ersten Emanationsvorgänge spielen sich in einem rein geistigen Bereich ab. Ausdrücke wie fluor und calor dienen also in diesem Kontext nur der veranschaulichenden Beschreibung des Unanschaulichen. So ist mit fluor das Kontinuitätsprinzip gemeint, das den Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Elementarbereichen, Kräften und Gestaltungen herstellt. Zugleich ist fluor das passive Prinzip der Aufnahme von Form und der Faktor, der den Körpern die Widerstandskraft verleiht, die erforderlich ist, damit ihre wechselseitige Abgegrenztheit erhalten bleibt. Die „Wärme“ stellt ein aktives Prinzip dar, sie ist die dynamische Entfaltung des Lichtprinzips im fluor. Somit sind die vier Grundprinzipien „Raum“, „Licht“, „Fließen“ und „Wärme“ die Grundlage des Kosmos. Aus ihnen geht die materielle Welt hervor. Sie bilden eine komplexe ideale Einheit, die allem stofflichen Sein innewohnt und ihm als Existenzbedingung vorausgeht. Auf der stofflichen Ebene zeigt sich das Prinzip fluor in Gestalt der relativen „Flüssigkeit“ der materiellen Objekte. Damit sind deren verschiedene Dichtegrade gemeint. Diese sind die Ursache des unterschiedlichen Widerstands physischer Körper, ihrer Härte oder Weichheit. Diese Kosmologie hat auch einen erkenntnistheoretischen Aspekt. Wenn das physische Universum vom erzeugenden Formprinzip Licht abhängt, ist es lichtartig. Die Natur erscheint demgemäß aus Patrizis Perspektive nicht als undurchdringliche, fremde und dunkle Materie, sondern sie ist an sich klar, sie manifestiert sich selbst. Ihre Klarheit muss nicht erst vom menschlichen Beobachter gesetzt und produziert werden. Demnach kann es kein prinzipielles, unlösbares Naturerkenntnisproblem geben. Zeitbegriff Bei der Untersuchung der Zeit setzte sich Patrizi mit der Begriffsbestimmung des Aristoteles auseinander, die er einer fundamentalen Kritik unterwarf. Mit der Definition, Zeit sei „Zahl oder Maß der Bewegung mittels des Früher oder Später“, habe Aristoteles mehrere Fehler zugleich begangen. Er habe Maß und Zahl, die Erzeugnisse des menschlichen Denkens seien, zu Wesensmerkmalen der durch sich bestehenden Naturgegebenheit Zeit gemacht, als ob ein Gedanke des Menschen einem Naturding das Sein verleihen würde. In Wirklichkeit existiere die Zeit ohne irgendwelche Messung oder Zählung. Außerdem habe Aristoteles nur die Bewegung berücksichtigt und den Stillstand oder die Ruhe übergangen. Nicht die Zeit messe die Bewegung, sondern die Bewegung die Zeit. Nicht einmal für die menschliche Zeitwahrnehmung seien Bewegung und Messung wesentlich. Auch das „Früher“ und „Später“ der dem Zeitablauf unterworfenen Dinge gehöre nicht zur Wesensbestimmung der Zeit. Vielmehr sei die Zeit nichts anderes als die Dauer der Körper. Nach diesem Verständnis kann die Zeit dem Raum nicht ontologisch gleichrangig sein. Da sie als Dauer von Körpern bestimmt ist, die Existenz von Körpern aber die des Raumes voraussetzt, muss die Zeit dem Raum, der primären Gegebenheit, und auch den Körpern nachgeordnet sein. Anthropologie Mit der Bestimmung des spezifisch Menschlichen durch Abgrenzung vom Tierischen befasste sich Patrizi in der Pampsychia, dem dritten Teil der Nova de universis philosophia. Dort behandelte er den animus, die belebende und zur Bewegung befähigende Instanz im Kosmos und speziell in den Lebewesen. Er kam zum Ergebnis, einen von Natur aus irrationalen animus könne es nicht geben. Damit wandte er sich gegen die gängige Meinung, die Tiere hätten eine irrationale Seele. Nach seinem Verständnis ist die Rationalität keine Besonderheit des Menschen, sondern mehr oder weniger ausgeprägt auch in der Tierwelt vorhanden. Der empirische Befund lasse keine prinzipielle Abgrenzung des Rationalen vom Irrationalen zu, vielmehr seien die Unterschiede zwischen den Arten hinsichtlich der Rationalität nur graduell. Es sei auch nicht sinnvoll, den Sprechakt – definiert als „mit Worten vorgetragene Äußerung“ – als Abgrenzungsmerkmal des Menschen heranzuziehen, denn auch diesbezüglich bestehe keine prinzipielle Diskontinuität. Bei den Lautäußerungen der Tiere handle es sich um Kommunikationsmittel, die Bestandteile ihrer Sprachen seien, und diese seien in ihrer Funktion den menschlichen Sprachen analog. Den Tieren sei auch ein gewisses Maß an Erkenntnis (cognitio) gegeben, das sie zu zielgerichtetem Handeln befähige, und sie verfügten über Verstand (ratiocinium), denn sie seien in der Lage, einzelne Gedächtnisinhalte sinnvoll mit neuen Wahrnehmungen zu verknüpfen, und darin bestehe die Verstandestätigkeit. Die Sonderstellung des Menschen beruhe nur auf seiner Fähigkeit, mit dem Intellekt tiefe Einsicht in Kausalzusammenhänge zu erlangen, und auf der Unsterblichkeit seiner Seele. In der Schrift La gola, e’l sonno, e l’ociose piume nannte Patrizi als Merkmal des spezifisch Menschlichen neben dem Zugang zu einer Erkenntnis, die über das von der Sinneswahrnehmung Bezeugte hinausreiche, noch die Impulskontrolle. Wie alle Neuplatoniker setzte sich Patrizi intensiv mit dem Verhältnis zwischen der geistigen (intelligiblen) und der sinnlich wahrnehmbaren Welt auseinander. In der hierarchischen Ordnung seines Systems ist die materielle Sphäre der geistigen in jeder Hinsicht untergeordnet, da sie deren Abbild und Erzeugnis ist. Das Geistige ist als übergeordneter Bereich das Einfachere und dem göttlichen Ursprung Nähere, das sinnlich Wahrnehmbare tritt in der Vielfalt der einzelnen Sinnesobjekte und der Komplexität der Körperwelt in Erscheinung. Jede der beiden Sphären ist in sich gestuft, wobei jeweils das Einfachere immer das nach Rang und Macht Überlegene ist. Das relativ Einfache ist stets zugleich das Umfassende, da es das relativ Komplexe und Mannigfaltige aus sich hervorbringt. Innerhalb dieser Ordnung der gesamten Wirklichkeit nimmt der Mensch eine Mittelstellung ein. Er bildet die unterste Ausdrucksstufe der geistigen Welt, denn sein Intellekt ist diejenige geistige Form, die ihre Einheit mit dem größten Ausmaß an Vielheit verbindet. Zugleich ist er die oberste Daseinsstufe im Bereich der an ein körperliches Substrat gebundenen Wesen, da er als einziges unter ihnen einen Intellekt aufweist. Hinsichtlich der Einordnung der Seele in dieses System stimmt Patrizis Auffassung mit der Lehre Plotins, des Begründers des Neuplatonismus, überein. Dabei geht es um die unter den Neuplatonikern umstrittene Frage, ob sich die Seele durch ihren Abstieg in die Körperwelt gänzlich den materiellen Gegebenheiten ausliefert, wie die spätantiken Neuplatoniker meinten, oder ihre Präsenz in der geistigen Welt jederzeit wahren kann, wie Plotin annahm. Nach Patrizis Überzeugung hat die menschliche Seele in sich selbst keinerlei nichtrationales oder nur erleidendes Leben, sondern ausschließlich erkennendes Leben; die Triebhaftigkeit, das Irrationale ist ein Resultat der Körperlichkeit, das ihr von außen entgegentritt. Geschichte und Staatstheorie Der Entwurf einer Staatsutopie Mit seiner Jugendschrift La città felice legte Patrizi ein an der politischen Theorie des Aristoteles orientiertes utopisches Staatsmodell vor. Damals waren für ihn die aristotelischen Vorgaben noch maßgeblich. Den Ausgangspunkt bildet die Bestimmung des menschlichen Lebensziels. Dieses kann für den Autor als Christen nur in der Erlangung des höchsten Gutes, der künftigen Seligkeit im Jenseits, liegen. Die Hoffnung darauf hält den Menschen in der Not seiner irdischen Existenz aufrecht. Allerdings muss es auch ein vorläufiges, diesseitiges Ziel geben: die Schaffung von vorteilhaften Lebensbedingungen, die das höhere Streben begünstigen. Das Optimum, das im irdischen Dasein erreichbar ist, stellt für Patrizi wie für andere Humanisten die felicità dar, das Glück, das er wie schon antike Peripatetiker und Stoiker mit der Betätigung der Tugend (operazione della virtù) gleichsetzt. Dem Staat, der als Stadtstaat im Sinne der antiken polis und der italienischen Stadtrepublik aufgefasst wird, kommt die Aufgabe zu, stabile Rahmenbedingungen dafür zu schaffen und zu gewährleisten. Das Glück der Stadt ist die Summe des Glücks ihrer Bürger. Dieses setzt die Gelegenheit zu beglückender Betätigung voraus. Auf sozialer Ebene sind die Bedürfnisse zu befriedigen, die sich aus der natürlichen Liebe zum Leben in Gemeinschaft ergeben. Auf individueller Ebene geht es um die sorgfältige Bewahrung des Bandes, das Seele und Körper verbindet, die Erhaltung des Lebensgeistes durch Erfüllung der körperlichen Bedürfnisse. Zunächst muss das Physische gewährleistet sein; zu den Bedingungen zählen günstige klimatische Verhältnisse und ausreichende Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln. Sind diese elementaren Voraussetzungen gegeben, so kann das gemeinschaftliche und öffentliche Leben optimiert werden. Dazu ist erforderlich, dass die Bürger einander kennen und miteinander Umgang pflegen, etwa durch gemeinsame Mahlzeiten, und insbesondere dass sie sich durch Bildungsstreben und geistigen Austausch miteinander verbinden. Damit dies möglich wird, darf die Bürgerschaft eine bestimmte Größe nicht überschreiten. Des Weiteren muss die soziale und ständische Ungleichheit unter den Bürgern in Grenzen gehalten werden; der Staat soll öffentliche Begegnungsstätten zur Verfügung stellen, und die Gesetzgebung soll den privaten Feindschaften entgegenwirken. Zentrale Forderungen Patrizis sind die zeitliche Begrenzung der Machtausübung und der freie Zugang jedes Bürgers zu den höchsten Staatsämtern. Damit soll tyrannischem oder oligarchischem Machtmissbrauch vorgebeugt werden. Die äußere Sicherheit ist durch die Bürgerschaft selbst, nicht durch Söldner zu gewährleisten. Religiösen Kult, Riten und eine Priesterschaft zur Befriedigung eines menschlichen Grundbedürfnisses hält Patrizi für notwendig, es sollen „Tempel und Kirchen“ errichtet und „die Götter“ verehrt werden. Die Religion der „glücklichen Stadt“ wird nicht näher beschrieben, sie zeigt jedenfalls keinen spezifisch christlichen Charakter. Ein besonders wichtiges Staatsziel ist die Erziehung der Kinder zur Tugendhaftigkeit. Der Gesetzgeber hat dafür zu sorgen, dass sie keinen schlechten Einflüssen ausgesetzt sind. Großes Gewicht ist auf die musikalische Ausbildung der Jugend zu legen. Dem Unterricht in Musik und Malerei kommt eine propädeutische Funktion im Hinblick auf die spätere philosophische Betätigung zu. Gemäß der Staatstheorie des Aristoteles ist die Einwohnerschaft des Stadtstaates ständisch gegliedert. Nur die oberen Stände, die regierende Schicht, bilden die mit politischen Rechten ausgestattete Bürgerschaft. Die Angehörigen der unteren Stände – Bauern, Handwerker und Händler – sind mit ihrer mühevollen Existenzsicherung beschäftigt und haben keine Gelegenheit, das in der „glücklichen Stadt“ angestrebte Glück zu verwirklichen. Dazu sind sie auch, wie der Autor meint, von Natur aus nicht veranlagt und befähigt. Ihr mühseliges Dasein ist eine Voraussetzung für das Wohlergehen der Oberschicht. – Hinsichtlich der Unumgänglichkeit der Unterdrückung folgte der junge Patrizi den Vorgaben des Aristoteles, der die Möglichkeit eines gelungenen Lebens einer Elite vorbehielt und in solchen sozialen Verhältnissen eine Naturgegebenheit sah. Diese Auffassung war in der italienischen Bildungsschicht, der Patrizi angehörte, verbreitet. Die Bewertung der Regierungsformen Beim Vergleich der verschiedenen Regierungsformen kam Patrizi zum Ergebnis, dass eine ausgewogene republikanische Mischverfassung allen Alternativen überlegen sei. Man dürfe weder einem Einzelnen zu große Machtmittel anvertrauen noch den Staat durch radikale Demokratisierung lähmen. Die Herrschaft einer kleinen Gruppe stachle den Ehrgeiz zu sehr an, was zu Bürgerkriegen führen könne. Optimal sei die Mischverfassung der Republik Venedig, in der Aspekte der unterschiedlichen Staatsformen kombiniert seien. Dort sei das Element der Einzelherrschaft durch das Amt des Dogen vertreten, das Prinzip der Herrschaft einer kleinen Elite komme durch den Senat zur Geltung und der Gedanke der Mitsprache aller werde durch die Einrichtung des Großen Rates berücksichtigt. Die Begründung des Interesses an der Geschichte Wie in seiner Staatsutopie geht Patrizi auch im Umgang mit der Geschichte von seiner Bestimmung des menschlichen Lebensziels als Glück (felicità) aus. Dieses hat nach seiner Lehre drei Aspekte: das bloße Sein als geglückte Selbsterhaltung, das ewige Sein als Vereinigung mit der Gottheit und das Sein „auf gute Art“ (bene essere), das gelungene Leben im sozialen Kontext. Bei der Betrachtung der Geschichte geht es um das Studium des menschlichen Strebens nach einem in diesem Sinn „guten“ Sein. Ihm wendet sich der Philosoph in seiner Auseinandersetzung mit der historischen Dimension des Lebens zu. Das Bedürfnis nach Glück im Sinne dieses guten Seins entspringt nach Patrizis Befund der Sinnlichkeit und damit dem Bereich der Affekte. Der Mensch ist ein sinnliches, von Leidenschaften erfülltes Wesen. Die Affekte sind primäre Gegebenheiten und an sich weder lobens- noch tadelnswert, aber sie schaffen die Möglichkeit eines Verhaltens, auf das Lob oder Tadel bezogen werden kann. Ob es gelingt, das bene essere zu verwirklichen, hängt davon ab, ob der Mensch lernt, mit seinen Leidenschaften richtig umzugehen. Beim Verhalten gegenüber der eigenen Affektbezogenheit beginnt die Arbeit einer Person an sich selbst, und nur dort kann „gutes Sein“ als Ziel gefordert werden. Dabei ist zu beachten, dass – so Patrizi – die Leidenschaften nicht ohne Anlass im Inneren des Einzelnen zur Geltung kommen, sondern sich immer in der Begegnung mit anderen Menschen entzünden und immer darauf abzielen, dass eine bestimmte Wirkung auf andere ausgeübt wird. Das richtige Verhältnis zu ihnen kann man somit nur durch Praxis in der Gemeinschaft gewinnen und festigen. Damit erweist sich das gute Sein durch Meisterung der Leidenschaften als identisch mit ethischem Verhalten im sozialen Leben, in der Familie und im Staat. Hier kommt nun für Patrizi die zeitliche Dimension ins Spiel. Die Gemeinschaft ist nicht nur durch die Gegenwart bestimmt, sondern ebenso durch ihre Geschichte. Daher muss die Auseinandersetzung mit der sozialen Herausforderung die gesamte Vergangenheit einbeziehen, die sich als Geschichte zeigt. Ein nur in der Gegenwart lebender Mensch wäre wie ein Tier seinen Affekten ausgeliefert. Was ihn davor bewahrt, ist die Konfrontation mit der Vergangenheit. Erst die Geschichte erschließt das Feld, auf dem sich das Individuum seiner sozialen Aufgabe zu stellen hat und sich durch sein ethisches Verhalten bewähren kann. Über die Analyse und das Bewusstsein des Vergangenen wird ein konstruktiver Bezug zum Gegenwärtigen hergestellt. Die Kritik an den herkömmlichen Ansätzen der Historiker Der Gedanke, dass der Sinn der Befassung mit Geschichte darin bestehe, die Gültigkeit moralischer Lehren beispielhaft zu veranschaulichen und sich anspornende oder abschreckende Muster vor Augen zu stellen, war seit der Antike sehr verbreitet. Auch in der Renaissance hatten sich zahlreiche Autoren zu dieser Auffassung bekannt, darunter der namhafte Humanist Giovanni Pontano und Patrizis Lehrer Francesco Robortello. Damit wurde die Geschichtsbetrachtung in den Dienst der sittlichen Erziehung gestellt und deren Zwecken untergeordnet. Dadurch wurde sie der Dichtung und der Rhetorik angenähert, die ebenfalls auf pädagogischen Ertrag abzielen sollten. Außerdem wurde vom Geschichtsschreiber wie vom Dichter oder Redner eine packende, unterhaltsame, literarisch gestaltete Erzählung erwartet. Infolgedessen verschwammen die Unterschiede zwischen historischer Berichterstattung und fiktionaler Literatur, beispielsweise in den von Geschichtsschreibern erfundenen Reden von Staatsmännern und Feldherren. Dieser seit Jahrtausenden üblichen Art des Umgangs mit historischen Stoffen widersetzte sich Patrizi rigoros, obwohl er letztlich ebenfalls ein ethisches Ziel verfolgte und die Vorbildfunktion großer Gestalten der Vergangenheit enthusiastisch bejahte. Wie seine Vorgänger betonte er den praktischen Nutzen der Geschichtskenntnis im bürgerlichen Leben und vor allem in der Politik. Seine Neuerung war jedoch, dass er auf einer konsequenten Trennung zwischen Wahrheitsfindung und moralischer Belehrung oder Nutzanwendung bestand und jede Ausschmückung verurteilte. Dabei griff er die berühmten Historiker Thukydides und Livius an, denen er vorwarf, dass sie angebliche Reden erfunden hätten, die niemals in Wirklichkeit so gehalten worden wären. Bei den Lehren, die aus der Geschichte zu ziehen sind, handelt es sich nach seinem Konzept um ein Wissen, das nicht durch rhetorische Sprachkunst vermittelt, sondern anhand der vom Historiker eruierten Fakten durch Reflexion und Kontemplation erworben werden soll. Nach Patrizis Argumentation beruht das seit der Antike gängige Konzept der Historiographie auf einem widersprüchlichen Verhältnis zum Gegenstand der Betrachtung. Die Ausgangsbasis seiner Überlegungen lässt sich so zusammenfassen: Die Geschichtstheoretiker bekennen sich dogmatisch zu dem Ideal, dem zufolge Historiker verpflichtet sind, unparteiisch zu sein und sich strikt an die Wahrheit zu halten. Es ist jedoch offenkundig, dass dies in der Praxis kaum jemals der Fall ist, denn die Darstellungen der Geschichtsschreiber widersprechen einander in unzähligen Punkten. Überdies stehen der Erfüllung des Wahrheitsanspruchs gewichtige Hindernisse entgegen: Wegen der offenkundigen Subjektivität der Wahrnehmungen und Sichtweisen und der Mangelhaftigkeit der quellenmäßigen Überlieferung haben Geschichtsschreiber nur einen sehr begrenzten Zugang zur historischen Realität. Bestenfalls können sie die Ergebnisse der historischen Vorgänge einigermaßen korrekt feststellen, während die näheren Umstände, die Hintergründe und Ursachen im Dunkeln bleiben. Die tatsächlichen Zusammenhänge sind nur den jeweiligen Akteuren bekannt, denen jedoch die für eine wahrheitsgetreue Darstellung erforderliche Unbefangenheit fehlt. Wirklich zuverlässig sind nur unparteiische Augenzeugen, doch solche Berichterstatter stehen gewöhnlich nicht zur Verfügung. Dem neutralen Historiker sind die Informationen, die er eigentlich für seine Arbeit benötigen würde, unzugänglich. Für Patrizi lässt sich der Gedankengang nun so fortsetzen: Ein Vertreter der herkömmlichen moralisierenden, rhetorisch ausschmückenden Geschichtsdarstellung mag wegen der genannten Schwachpunkte einräumen, dass demnach die reine Wahrheit verborgen bleiben müsse. Er wird aber geltend machen, dass immerhin eine grobe Annäherung möglich sei. Man müsse sich damit abfinden, die Hintergründe nicht erhellen zu können. Diese Konzession wird ihm nicht allzu gravierend vorkommen, denn aus seiner Perspektive ist die historische Wahrheit ohnehin nebensächlich. Er meint ja, geschichtliches Wissen sei nicht an sich erstrebenswert, sondern nur als Mittel zum Zweck einer Belehrung, die letztlich dem eigentlichen Ziel diene, der Erlangung der Glückseligkeit. Hier setzt nun aber das entscheidende Gegenargument an, mit dem Patrizi die Auffassung, die er angreift, widerlegen will. Es lautet: Den angestrebten moralischen Ertrag kann eine freie poetische Erfindung – etwa die Epen Homers und Vergils – ebenso gut erbringen wie ein Geschichtswerk, das Wahres mit Ersonnenem mischt. Somit wird, wenn man hinsichtlich der Wahrheitsfindung resigniert und nur noch am erzieherischen Effekt festhält, der Unterschied zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung aufgehoben. Die Historizität verliert ihren Eigenwert und damit die Geschichtsforschung ihren Sinn. Dann kann man – so Patrizi – auf historische Studien verzichten und stattdessen mit beliebigen Fabeln Glückseligkeit lehren. Das Konzept einer wissenschaftlichen Geschichtsforschung Dem kritisierten Geschichtsverständnis stellte Patrizi seine gegenteilige Überzeugung entgegen, der zufolge das einzige Ziel des Geschichtsforschers die Kenntnis der historischen Wahrheit zu sein hat und die Auffindung der Fakten als Beitrag zum bene essere einen bedeutenden Wert darstellt. Nach diesem Konzept müssen Objektivität und Gewissheit in dem Ausmaß erreicht werden, das dem menschlichen Geist überhaupt möglich ist. Bei solcher Arbeit kommen Maßstäbe der Moral nicht in Betracht, es wird nicht nach gut oder böse gefragt. Die Bewertung des Geschehenen ist wichtig, doch sie steht auf einem anderen Blatt und ist in anderem Zusammenhang, aus anderer Perspektive zu leisten. Patrizi verwarf die Verbindung von Philosophie und Geschichtsschreibung, wie sie etwa Polybios unternommen hat; nach seiner Meinung soll der Historiker nicht über verborgene Ursachen des Geschichtsablaufs philosophieren, sondern sich nur mit Tatsachen – einschließlich der erkennbaren Beweggründe der Akteure – befassen. Als Gegenstand einer in diesem Sinne wissenschaftlichen historischen Forschung bestimmte Patrizi die dokumentierten und in der Erinnerung bewahrten Abläufe in der Welt des sinnlich Wahrnehmbaren in ihrer Gesamtheit. Er nannte sie effetti („Wirkungen“), womit er die einzelnen konkreten Wirklichkeiten im Zeitablauf meinte. Es sind die singulären und kontingenten Fakten, die durch die Sinne Eintritt finden und dann vom Verstand verarbeitet und ihren Gründen zugeordnet werden. Wirkungen sind sie im Gegensatz zu den allgemeinen Ursachen und rein geistigen Gegebenheiten, mit denen sich die Philosophie befasst. Die Tätigkeit des Historikers beschränkt sich aber nicht auf das Zusammentragen und die Dokumentation der effetti; vielmehr kann er durch akribische Forschung auch deren Entstehungsgründe ermitteln, die Absichten und Motive hinter ihnen erkennen. Die Möglichkeit, die empirischen historischen Fakten kausal zu erklären, begründet den Anspruch der Geschichtsforschung, eine Wissenschaft zu sein. Nach dieser Definition des Forschungsobjekts ist das Arbeitsfeld des Historikers die Universalgeschichte des empirisch Vorgefundenen. Damit wandte sich Patrizi gegen die gängige Begrenzung auf die Handlungen von Menschen und die weitere Einengung des Blickfelds auf die Taten von Königen, Staatsmännern und Feldherren. Über die Menschenwelt hinausreichend umfasst die Universalgeschichte aus seiner Sicht auch die Vorgänge in der Natur, also die Naturgeschichte. Er forderte auch die volle Einbeziehung der Kulturgeschichte, also der Leistungen auf geistigem Gebiet, der technischen Errungenschaften, der Entdeckungen unbekannter Länder und Völker und der Geschichte einzelner Stände wie der Handwerker, Bauern und Schiffsleute. Besondere Beachtung verdiene die Verfassungsgeschichte; stets sei nach der Ursache von Verfassungsänderungen zu fragen. Die Geistesgeschichte, die sich mit Vorstellungen, Ideen, Meinungen und Haltungen (concetti dell’animo) befasst, hielt Patrizi für wichtiger als die Geschichte der Taten. Zum kulturhistorisch Relevanten zählte er neben Sitten und Bräuchen auch Produkte wie Kleidung, Bauwerke und Schiffe sowie alle für Beruf und Alltag hergestellten Geräte. Des Weiteren verlangte Patrizi die Einbeziehung der Wirtschaftsgeschichte, die von den Historikern völlig vernachlässigt worden sei. Ohne Berücksichtigung der ökonomischen und finanziellen Situation eines Staates sei die Darstellung von dessen Geschichte leer und luftig, denn die Wirtschaft sei die Grundlage für das Leben jeder Gemeinschaft. Wichtig seien genaue Angaben zum Staatshaushalt. Ein weiteres Feld, dessen bisherige Vernachlässigung Patrizi beklagte, ist die Friedensforschung. Dazu bemerkte er, dass er noch nie von einer Geschichte des Friedens gehört habe, obwohl gerade dieses Gebiet ein besonders lohnendes Thema wäre. Die Methode Hinsichtlich der Methode bestand Patrizi auf klaren Kriterien der Quellenkritik. Auf keine etablierte Autorität dürfe man sich verlassen, vielmehr müsse man alles selbst prüfen. Auch Übereinstimmung der Angaben mehrerer Autoren sei kein Beweis der Richtigkeit, es könne sich auch dann um ein bloßes Gerücht handeln. Die besten Quellen seien die Schilderungen von Geschichtsschreibern, die selbst an den Ereignissen beteiligt gewesen seien. Allerdings müssten sie mit Darstellungen aus gegnerischer Sicht verglichen werden. In zweiter Linie seien sonstige zeitgenössische Berichte als relativ glaubwürdig einzuschätzen. Drittrangig seien Angaben von Autoren, die zwar über länger Zurückliegendes schrieben, denen aber immerhin eine gewisse Sachkenntnis zuzubilligen sei, weil sie selbst dem betreffenden Volk angehörten. Zu besonderer Vorsicht mahnte Patrizi bei Historikern, die über fremde Völkern berichten und dabei Vorgänge behandeln, die schon zu ihrer Zeit lange zurücklagen. Der Wert von allgemeinen Geschichtswerken wie etwa Weltchroniken liegt nach seiner Einschätzung nur darin, dass man die Verarbeitung des zusammengestellten Materials aus älteren Quellen untersuchen kann. Stets müsse man sich fragen, über welche Sachkenntnis der jeweilige Berichterstatter habe verfügen können, inwieweit ihm Unbefangenheit zuzutrauen sei und was von seinen Gewährsleuten zu halten sei. Als besonders zuverlässig betrachtete Patrizi annalistische Quellen, sofern sie in der ursprünglichen, unverfälschten Fassung vorliegen. Außerdem solle man den ohne Überlieferungsabsicht entstandenen Texten – Überresten nach der Terminologie der modernen Geschichtswissenschaft – die gebührende Beachtung schenken. Das Vordringen des Historikers von den Handlungsumständen zur Handlungsursache verglich Patrizi mit dem Abtrennen der einzelnen Zwiebelschalen, mit dem man schrittweise zum Kern der Zwiebel gelangt. Er verwendete auch die Metapher des Anatomen, dem der Historiker gleiche. So wie der Anatom mit dem Körper habe der Geschichtsforscher mit der Handlung, die er untersuche, zu verfahren. Jede Handlung habe einen Hauptakteur (principal attore), dessen Tatgrund gleichsam durch Schneiden freizulegen sei. Die Geschichte der Zukunft Die Bestimmung des Untersuchungsgegenstands als Gesamtheit der zeitlichen Abläufe führte Patrizi zur Annahme, dass die Geschichtsforschung sogar auf die Zukunft ausgedehnt werden könne. Er hielt es grundsätzlich für möglich, eine Geschichte der Zukunft zu schreiben, das heißt aufgrund erkannter Gesetzmäßigkeiten seriöse wissenschaftliche Prognosen zu erstellen. Den Hintergrund bildete sein Verständnis der Kunst des Staatsmanns, dem zufolge diese auf der Fähigkeit beruht, vorauszusehen und zu verwirklichen, was noch nicht ist. Demnach wäre ein dazu befähigter Herrscher in der Lage, über das korrekt Vorausgesehene Aufzeichnungen anzufertigen. Dann liegt eine Geschichte der Zukunft im Bereich des Vorstellbaren. Das Militärwesen Besondere Beachtung widmete Patrizi dem Militärwesen. Er fand es unbefriedigend, die militärischen Kräfte eines Staates nur durch Berichte über Schlachten, Eroberungen, Belagerungen, Siege oder Niederlagen zu zeigen. Notwendig sei vielmehr ein Verständnis der militärischen Organisation. Man benötige genaue Kenntnisse über die Struktur und Verwaltung der Streitkräfte, über Waffen, Munition und Besoldung. Ausführlich kritisierte Patrizi im Anschluss an Machiavelli den Einsatz fremder Söldner, dessen Nachteile er hervorhob. Nur auf eine Streitmacht aus Bürgern und Freiwilligen sei Verlass. Verhängnisvoll sei es, die eigene Aufrüstung zu vernachlässigen und sich der Illusion hinzugeben, man könne den Frieden durch Bündnisse, Verhandlungen und Zahlungen wahren, statt die eigene Schlagkraft zu sichern. Gänzlich verfehlt sei auch der Glaube, man könne eine feindliche Invasion mit Festungen aufhalten. Patrizi betonte die maßgebliche Rolle der Infanterie, die in der Regel ausschlaggebend sei. Nur in drei Schlachten – darunter die Schlacht bei Ravenna 1512 – habe der Einsatz der Artillerie die Entscheidung herbeigeführt. Generell sind Patrizis militärwissenschaftliche Ausführungen von einer Unterschätzung der Artillerie und der Arkebusen gekennzeichnet. Daher waren seine Paralleli militari unter technischem Gesichtspunkt schon beim Erscheinen überholt. Immerhin würdigte er den Wert der Geschütze in Seeschlachten und bei Belagerungen. Dichtungstheorie Die Bestimmung des Gegenstands Mit seiner Dichtungstheorie distanzierte sich Patrizi von den traditionellen Vorgaben, sowohl von den antiken Begriffsbestimmungen als auch von den in der Renaissance entwickelten Ansätzen. Vor allem wandte er sich gegen die Poetik des Aristoteles. Sein Protest richtete sich gegen alle herkömmlichen Festlegungen von Wesen und Sinn der Dichtkunst, die dem dichterischen Schaffen formale oder inhaltliche Begrenzungen auferlegen und dadurch die dichterischen Gestaltungsmöglichkeiten einschränken. In erster Linie bekämpfte er die antike, von dem einflussreichen zeitgenössischen Aristoteles-Kommentator Lodovico Castelvetro aufgegriffene These, die Aufgabe des Dichters sei die Nachahmung der natürlichen oder historischen Gegebenheiten. Castelvetro behauptete, die Poesie nehme ihr ganzes Licht von der Geschichte. Er meinte, Dichtung bedürfe der Glaubwürdigkeit und solle daher zumindest in der Haupthandlung nur Verhältnisse und Ereignisse darstellen, die mit den Naturvorgängen im Einklang stünden und als historische Tatsachen vorstellbar seien. Dem stellte Patrizi sein Konzept einer Universalpoesie entgegen, deren Gegenstandsbereich sowohl das Göttliche als auch das Menschliche und das Natürliche umfasst. Jeder beliebige Stoff könne Gegenstand einer dichterischen Gestaltung sein, wenn er poetisch behandelt werde. Als formales Definitionsmerkmal akzeptierte er ausschließlich die Versform. Der Vers gehöre zum Wesen der Poesie und grenze sie von der Prosa ab. Die aristotelische Definition der Dichtung durch ihren angeblichen Charakter als Nachahmung sei unbrauchbar, da Aristoteles selbst den Begriff „Nachahmung“ in verschiedenen Bedeutungen verwende. Die Besonderheit und Funktion der Dichtkunst Ein zentraler Begriff der Poetik Patrizis ist das mirabile, das „Wunderbare“, also das, was beim Leser Staunen oder Bewunderung hervorruft, weil es aus der Masse der gewöhnlichen, gleichförmigen und selbstverständlichen Phänomene herausragt. Das mirabile ist nach dem Verständnis des humanistischen Philosophen das maßgebliche Merkmal der Dichtung, durch das sie inhaltlich definiert ist. Bei der Bestimmung der Funktion dieses Wunderbaren zeigt sich eine Analogie zwischen der Besonderheit und Stellung des Menschen im Kosmos und der spezifischen Natur und Aufgabe der Dichtung in der Kultur. Nach einer in der Renaissance verbreiteten anthropologischen Prämisse steht der Mensch als vermittelnde und verbindende Instanz zwischen der Welt des Geistigen und der des Körperlichen. Dadurch ist er befähigt, Geistiges ins Körperliche hineinzutragen und auch Körperliches im Geistigen abzubilden. Er überträgt vom einen zum anderen Bereich, wobei er transformiert und transfiguriert. Dieser Rolle des Menschen in der Schöpfung entspricht bei Patrizi die Aufgabe der Dichtung im Bereich der „Kunst“ (arte), der menschlichen Produkte: Die Poesie vermittelt auf analoge Weise zwischen dem rein Geistigen und dem Stofflichen. Die damit konstatierte Analogie erstreckt sich auch auf den Faktor, der jeweils die vermittelnde Instanz zu dem macht, was sie ist. Die Besonderheit des Menschen, die seine Natur bestimmt und aus der sich seine Sonderstellung ergibt, ist der Geist (mente) oder die Vernunft. Das, was der Geist in Bezug auf den Menschen ist, ist nach einer ausdrücklichen Feststellung Patrizis das mirabile hinsichtlich der Dichtung. So wie die Vernunft die universale Form des Menschen ist, die ihn als Menschen konstituiert, so ist das Wunderbare die spezifische Qualität, die jede Dichtung zu einer solchen macht. Daraus ergibt sich auch eine Analogie in der Rangordnung der jeweils Tätigen: So wie die Betätigung der Vernunft den Menschen über alle anderen beseelten Wesen stellt, so erhebt die sprachliche Gestaltung des mirabile den Dichter über alle anderen, die Texte beliebiger Art abfassen. Als bestimmender Faktor ist das mirabile Formprinzip dessen, was es gestaltet. Damit ist seine Funktion derjenigen der Seele im Menschen vergleichbar. So wie die Seele alle Teile des Körpers durchdringt und durchformt, übt das mirabile seine formende Kraft auf das Ganze einer Dichtung aus. Nur dort, wo die wirkende Gegenwart des Wunderbaren spürbar ist und dem gesamten Erzeugnis die entsprechende Qualität verleiht, kann von Poesie die Rede sein. Somit bestimmen drei Aspekte das Poetische: erstens die Einwirkung seines spezifischen Formprinzips, zweitens die Würde, die dem hohen Rang dieses schöpferischen Prinzips entspricht, und drittens die universale Präsenz des Formprinzips in dem von ihm Geformten. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Versform, da sie nach Patrizis Urteil die einzige sprachliche Form ist, die der vom mirabile ermöglichten inhaltlichen Qualität angemessen ist. Zu den in der Renaissance geläufigen Konnotationen des Wunderbaren gehört, dass es nicht nur Staunen und Bewunderung erregt, sondern auch, indem es in die Welt des Neuen und Erstaunlichen hineinführt, Erkenntnis ermöglicht. Diese bezieht sich nach Patrizis Lehre im Bereich der Dichtung auf ein besonderes Sein, eine eigenständige Wirklichkeit, die der Dichter durch seine Formgebung (formazione) erschaffen hat. Die Besonderheit des mirabile in der Poesie besteht für den humanistischen Denker darin, dass es sich in einer gelungenen Mischung (mescolanza) von Vertrautem und Unvertrautem zeigt. Ein Dichter darf und soll die von Theoretikern willkürlich gesetzten Grenzen des Zulässigen überschreiten, er soll Normen wie Nachahmung des Natürlichen und Übereinstimmung mit der normalen Lebenserfahrung bewusst missachten und das Ungewöhnliche und Unwahrscheinliche einbeziehen. Da er dem Publikum sowohl Vertrautes und glaubhaft Wirkendes als auch Neuartiges und Unglaubliches zu präsentieren hat, muss er Gegensätze mischen, und in der Meisterung dieser Aufgabe zeigt sich seine Kunst. Der poetische Akt vollzieht sich auf der Grenze von Sein und Nichtsein, von Möglichem und Wirklichem, von Glaubhaftem und Unglaublichem, lässt diese Grenze aber nicht bestehen, sondern verleiht dem Unglaubhaften das „Gesicht“ des Glaubhaften und umgekehrt. Durch das Gelingen dieser Vermischung entsteht in dem Erzeugnis das mirabile, das es zu Dichtung macht. Die universale Konzeption von Patrizis Poetik schließt Einengung der dichterischen Produktivität durch einseitige Maßstäbe aus. Eine Bevorzugung bestimmter Vorbilder wie Homer oder Richtungen wie des Petrarkismus kommt somit nicht in Betracht. Besonderes Gewicht wird in Patrizis Dichtungslehre auf die Forderung gelegt, dass das Ziel der Poesie nicht die Erzeugung von Affekten sein solle, nicht ein Verzaubern und Täuschen, sondern eine Umlenkung der Seele des Hörers oder Lesers durch die ihm vermittelte Einsicht. Die Mischung von Vertrautem und Unvertrautem, Verstandenem und Unverstandenem soll im Leser eine Spannung erzeugen, die ihn dazu antreibt, das nicht Verstandene begreifen zu wollen. Sie soll einen Lernvorgang initiieren. Die Rolle des mirabile als zentrales Wirkungsprinzip der Dichtung ist somit nicht Ausdruck einer subjektivistischen Ästhetik Patrizis oder einer Hinwendung zum Irrationalen; vielmehr ergibt sie sich aus dem didaktischen Anliegen der Poesie, einen Übergang von Unwissenheit zum Wissen zu bewirken. Dieser erfolgt durch einen Anstoß zur Reflexion. Ein wichtiges Ziel von Patrizis Poetik ist die Verteidigung der Inspirationstheorie, der zufolge bedeutende Dichter an einer transzendenten Wirklichkeit Anteil haben und ihre Produktivität die Frucht göttlicher Eingebungen ist. Die Inspiration zeige sich im furore poetico, dem ekstatischen Enthusiasmus bei der dichterischen Produktion, der nur als Resultat der Einwirkung einer Gottheit erklärbar sei. Patrizis Ausführungen sind eine Entgegnung auf die fundamentale Kritik des Aristotelikers Lodovico Castelvetro an der Enthusiasmuslehre. Nach Castelvetros Meinung existiert der furore poetico nur in einem naiven Volksglauben, der von der Geltungssucht und Selbstmystifikation der Dichter genährt wird. Demnach handelt es sich um eine List der Dichter, die behaupten, inspiriert zu sein, um sich Prestige und Gehör zu verschaffen. Dagegen steht Patrizis Plädoyer für die Authentizität der Ergriffenheit. Es versucht die physiologische Argumentation der Aristoteliker zu entkräften, nach der die „Besessenheit“ des vom furore Ergriffenen als Symptom eines Temperaments zu deuten ist. Allerdings ist nach Patrizis Meinung der furore nur bei Autoren vergangener Zeitalter am Werk gewesen, nicht in der petrarkistisch geprägten Dichtung seiner eigenen Zeit. Die gelungenen zeitgenössischen Gedichte seien nicht göttlich inspiriert, sondern Produkte von Talent und Kunstfertigkeit. Liebestheorie Auch auf dem Gebiet der Liebestheorie trat Patrizi als Neuerer auf, er verkündete eine „neue Philosophie der Liebe“. Die Kernbestandteile seines Konzepts waren allerdings bereits bekannt, sie beruhten auf antikem Gedankengut oder waren schon von anderen Humanisten vorgetragen worden. Als Ausgangsbasis diente die in Platons Dialogen Symposion und Phaidros vorgetragene Lehre. Wie Platon fasste Patrizi die Liebe als Neigung zum göttlichen Schönen auf, die der Seele die „Flügel“ verleihe, mit denen sie sich in ihre transzendente Heimat erheben könne. Das war eine dem gebildeten Publikum vertraute Vorstellung. Weniger konventionell waren zwei weitere Thesen des Humanisten: Er behauptete, die Liebe gehöre nicht zum Wesen des Menschen, sondern komme ihm als Akzidens von außen zu, und alle Arten der Liebe seien aus der Liebe zu sich selbst, der philautia, entstanden. Neu waren aber auch diese Ideen nicht. Sie waren schon im frühen 16. Jahrhundert von Mario Equicola vorgebracht worden, und bereits Aristoteles hatte die Liebe zu anderen auf Selbstliebe zurückgeführt. Für damalige Verhältnisse war das allerdings ein subversives Konzept, denn die Aufwertung der Liebe zu sich selbst war ungewöhnlich und für weite Kreise anstößig. Provokant war insbesondere, dass auch die christliche Nächstenliebe und die Gottesliebe des Gläubigen als Abwandlungen der Selbstliebe gedeutet wurden. Sowohl in der platonischen und stoischen als auch in der christlichen Tradition galt Selbstliebe als suspekt. Der Verdacht einer Rechtfertigung des Egoismus oder einer epikureischen Denkweise war naheliegend. Patrizis These war jedoch nicht so gemeint, denn er fasste die Selbstliebe nicht im Sinne einer egoistischen Selbstbevorzugung auf. Vielmehr wies er auch auf einen Aspekt hin, der den Selbstbezug kompensiert: die schon von Platon thematisierte Neidlosigkeit des Guten. Diese bewirkt nach platonischem Verständnis zwangsläufig, dass sich das Gute altruistisch mitteilt. Eine echte Neuerung war die Einfügung der Sexualität in das alte Konzept des vom Eros angetriebenen Aufstiegs des Liebenden. Gemäß der herkömmlichen platonischen Auffassung meinte Patrizi, die menschliche Liebe beginne mit dem Anblick körperlicher Schönheit und schwinge sich dann zur geistigen Schönheit der geliebten Person auf, und so bewege man sich stufenweise auf die göttliche Liebe zu. Im Gegensatz zur Tradition nahm der humanistische Theoretiker aber an, der Erotiker steige anschließend wiederum über mehrere Stufen zur sinnlichen Liebe hinab, bis er die unterste und letzte Stufe erreiche, und das sei die körperliche Vereinigung. Damit verlagerte Patrizi den Endpunkt der erotischen Bewegung von der Transzendenz zur Sexualität. Der platonischen Tradition folgend wies Patrizi der Liebe auch eine metaphysische und kosmologische Dimension zu. Er sah in ihr nicht nur ein Phänomen der Menschenwelt, sondern ein reales Prinzip im Kosmos, den er für beseelt hielt. Auf kosmischer Ebene fällt nach seiner Philosophie der Liebe die Funktion zu, als verbindende Kraft die einzelnen Bestandteile der Welt zusammenzuhalten und die Fortdauer des Seienden zu gewährleisten. Demnach ist sie das Fundament der Existenz aller Dinge. Ihre universale Präsenz durchdringt das gesamte Leben im Universum. Auch hier ist sie ursprünglich Selbstliebe, denn Gott hat die Schöpfung aus Liebe zu sich selbst erzeugt, und er liebt die Dinge, weil sie Aspekte seiner selbst sind. Somit liebt er sich selbst in ihnen. Dementsprechend liebt der Mensch als Abbild Gottes ebenfalls zunächst sich selbst. Dies ist die Voraussetzung für seine Liebe zu anderen und insbesondere zu Gott. Jede menschliche oder göttliche Liebe zu anderen ist nach diesem Verständnis eine Selbstmitteilung, die voraussetzt, dass der Liebende sein eigenes Sein und seine Selbstidentität bejaht. Die so aufgefasste Selbstliebe ist eine Manifestation von Einheit als Selbstbezug. Wenn sich dann die Liebe des Individuums der Außenwelt zuwendet, wird sein Selbsterhaltungsstreben dorthin ausgedehnt. Darüber hinaus ist die Eigenliebe die Quelle und das Fundament aller menschlichen Gefühle, Gedanken und Handlungen einschließlich der religiösen. Den Hintergrund dieses Konzepts bildet Patrizis Überzeugung, dass das Sein alles Seienden durch die Grundstruktur des Selbstverhältnisses gekennzeichnet ist. Er prägte in diesem Zusammenhang den lateinischen Ausdruck persentiscentia („Selbstempfindung“), mit dem er die Erfahrung des Beisichbleibens, das Bewusstsein der dauerhaften Selbstidentität bezeichnete. Rezeption Frühe Neuzeit Im Wissenschaftsbetrieb konnte sich Patrizi nach langer Erfolglosigkeit schließlich Respekt verschaffen, wie die Errichtung zweier Lehrstühle an bedeutenden Universitäten eigens für ihn erkennen lässt. Sein Vorschlag, in den kirchlichen Bildungseinrichtungen das aristotelische Programm durch ein platonisches zu ersetzen, fand aber bei Papst Clemens VIII. kein Gehör. Dass seine Philosophie als unzeitgemäß galt, zeigt der Untergang der beiden auf ihn zugeschnittenen Lehrstühle für platonische Philosophie nach seinem Ausscheiden. Der römische Lehrstuhl wurde 1600 aufgehoben. Patrizis Naturlehre und Aristoteleskritik wurden im ausgehenden 16. und im 17. Jahrhundert stark rezipiert, obwohl sein Hauptwerk auf dem Index der verbotenen Bücher stand, aus dem es erst im Jahr 1900 entfernt wurde. Sogar in Italien konnte das Verbot der Nova de universis philosophia zunächst nicht flächendeckend durchgesetzt werden: In Venedig erschien eine Neuausgabe mit dem falschen Datum 1593, mit dem vorgetäuscht wurde, sie sei schon vor dem Verbot von 1594 gedruckt werden. Diese Ausgabe wurde im protestantischen Nord- und Mitteleuropa verbreitet, wo damals ein katholisches Verdammungsurteil als Werbung wirkte. Positive Aufnahme Viel Zustimmung fand Patrizis Naturphilosophie bei antiaristotelischen Denkern, die seine Argumente gern verwerteten. Ein früher Rezipient war der englische Naturphilosoph Nicholas Hill, der Ideen des italienischen Humanisten in seiner 1601 gedruckten Philosophia Epicurea aufgriff, ohne ihn zu nennen. Pierre Gassendi (1592–1655), der eine Schrift gegen den Aristotelismus verfassen wollte, gab sein Vorhaben auf, als er die Nova de universis philosophia entdeckte. Gassendis Konzept des Raumes zeigt deutlich den Einfluss dieses Werks. Tommaso Campanella (1568–1639) nahm Patrizis Prinzipienlehre positiv auf, Johann Amos Comenius (1592–1670) knüpfte an seine Lichtmetaphysik an. Pierre Bayle (1647–1706) schätzte die Metaphysik und Naturlehre des venezianischen Philosophen. Er hielt ihn für einen bedeutenden Denker und meinte, die Nova de universis philosophia lasse die sehr bewundernswerte Geistestiefe ihres Verfassers erkennen. Wertschätzung fand Patrizis Hauptwerk im 17. Jahrhundert auch bei den Cambridger Platonikern, vor allem bei Henry More, der das dort dargelegte Raumkonzept weiterentwickelte. Auf beträchtliche Resonanz stießen die Dialoge über die Geschichte und ihre Erforschung. Eine lateinische Übersetzung, De legendae scribendaeque historiae ratione dialogi decem, erschien 1570 in Basel, eine von Thomas Blundeville angefertigte englische Kurzfassung, The true order and methode of wryting and reading hystories, 1574 in London. Bei dem in England lebenden italienischen Emigranten Jacopo Aconcio, einem Freund Blundevilles, fand Patrizis Konzept begeisterte Zustimmung. Im frühen 17. Jahrhundert wurde es von Paolo Beni und Tommaso Campanella aufgegriffen. Kritische Stimmen Zu den zeitgenössischen Gegnern des venezianischen Platonikers zählten Verteidiger des Aristotelismus wie Teodoro Angelucci und Jacopo Mazzoni, aber auch Giordano Bruno, der zwar ebenso wie Patrizi den Aristotelismus bekämpfte, aber von den Discussiones peripateticae nichts hielt. Er bezeichnete dieses Werk als Pedantenmist und bedauerte, dass der Autor so viel Papier mit seinen Ergüssen besudelt habe. Später scheint Bruno jedoch zu einem milderen Urteil gelangt zu sein. Er soll sich darüber geäußert haben, dass Patrizi ein ungläubiger Philosoph sei und dennoch als Günstling des Papstes in Rom zum Erfolg gelangt sei. Sehr abschätzig urteilte Francis Bacon, ein jüngerer Zeitgenosse. Er befand, Patrizi habe neuerdings gleichsam in einem Zustand der Umnachtung unsinnige und phantastische Behauptungen vorgebracht. Scharfe Kritik kam von astronomischer Seite. Tycho Brahe beschwerte sich im Dezember 1599 in einem Brief an Johannes Kepler darüber, dass seine Position in der Nova de universis philosophia falsch wiedergegeben sei. Dies trifft zu; Patrizi hatte Brahes Auffassung anhand einer fehlerhaften Darstellung aus zweiter Hand kritisiert, da ihm dessen Abhandlung über den Kometen von 1577 nicht zugänglich war. Kepler griff dann in seiner 1600/1601 verfassten Apologia pro Tychone contra Ursum, einer Verteidigungsschrift für Tycho, Patrizi heftig an. Er warf ihm vor, nicht zwischen wirklichen und scheinbaren Bewegungen zu unterscheiden. Diese Kritik Keplers beruhte allerdings darauf, dass er Patrizis Modell missverstanden hatte. Eine ungünstige Meinung hatte auch Gottfried Wilhelm Leibniz. Er beschrieb Patrizi als einen Mann von beträchtlicher Begabung, der aber seinen Geist durch die Lektüre der Schriften von „Pseudoplatonikern“ verdorben habe. Damit meinte Leibniz vor allem die antiken Neuplatoniker. In der Geometrie habe der Venezianer Mängel erkannt, sei aber außerstande gewesen, sie zu beheben. Der Philosoph als Dialogfigur Der Schriftsteller Annibale Romei ließ Patrizi in seinen 1586 vollendeten Discorsi als Dialogfigur auftreten. Dort trägt der venezianische Philosoph seine Kosmologie und Schönheitslehre vor und beteiligt sich am Meinungsstreit über die Ehre, das Duell, den Adel und den Reichtum. Am siebten und letzten Tag der Dialoge diskutiert er mit dem kriegserfahrenen Höfling Giulio Cesare Brancaccio über die Frage, ob der Philosophie oder dem Kriegsdienst der Vorrang gebühre. Moderne In der sehr reichhaltigen modernen Forschungsliteratur wird Patrizi oft als eigenständiger, innovativer Denker gewürdigt und seine Leistung als bedeutend eingeschätzt. Dies bezieht sich auf die philosophischen und literaturtheoretischen Werke, auf die Geschichtstheorie und die philologische Kompetenz des Humanisten, nicht jedoch auf seine mathematischen Vorstellungen. Hanna-Barbara Gerl beschreibt ihn als scharfsinnigen Vordenker genuiner Renaissancephilosophie, der den unbedingten Willen zur Methode und zum einheitlichen Erklärungsgrund für alles Wirkliche repräsentiere. Nach dem Urteil von Thomas Leinkauf war er der nach Marsilio Ficino bedeutendste Platoniker der Frühen Neuzeit. Allerdings wird auch darauf hingewiesen, dass seine Stärke in der Kritik am Herkömmlichen lag, nicht in der Ausarbeitung tragfähiger Alternativen. In diesem Sinne äußerte sich schon 1903 Benedetto Croce. Beachtung und Anerkennung findet vor allem das naturphilosophische Modell, in erster Linie die Theorie des Raumes. So urteilte Ernst Cassirer 1911, die Nova de universis philosophia sei neben Telesios Hauptwerk De rerum natura der bedeutendste Versuch einer einheitlichen und selbstständigen Naturerklärung in der damaligen Philosophie. Paul Oskar Kristeller drückte eine verbreitete Meinung aus, als er 1964 konstatierte, es gebe gute Gründe, Patrizi zu den Naturphilosophen zu rechnen, die „der neuen Wissenschaft und Philosophie des 17. Jahrhunderts und der Moderne den Weg bereiteten“. Er habe als Denker einer Übergangszeit auf neue und originelle Weise eine systematische Erklärung des physischen Universums zu entwickeln versucht. Diese sei eine Mischung von Wissenschaft und Spekulation. Sein Werk stelle einen großartigen Versuch der Systembildung dar, offenbare aber zugleich eine Reihe von Lücken und Unstimmigkeiten. Als außergewöhnliche Leistung gilt die Dichtungstheorie des Humanisten, deren Sonderstellung in der reichhaltigen Literatur des Cinquecento zu diesem Thema hervorgehoben wird. Patrizis Kampf gegen die aristotelische Poetik wird als innovativer, wenngleich nur wenig nachwirkender Impuls eingeschätzt, der die Dominanz des Aristotelismus auf diesem Gebiet im 17. und 18. Jahrhundert kaum beeinträchtigen konnte. George Saintsbury befand 1902, als Literaturkritiker sei Patrizi seiner Zeit um zwei Jahrhunderte voraus gewesen. Rainer Stillers hob 1988 das hochentwickelte Methodenbewusstsein hervor, das sich in Patrizis vorsichtig abwägendem Umgang mit der Überlieferung und seinem methodischen Fortschreiten von den Fakten zur Theorie zeige. Kritisch urteilte hingegen Bernard Weinberg, der 1961 den Vorwurf eines Mangels an Konsistenz erhob und die antiaristotelische Argumentation als nicht stichhaltig zurückwies. Auch die Geschichtstheorie findet viel Wertschätzung. So schrieb beispielsweise Franz Lamprecht 1950, Patrizi habe inmitten einer zum leeren Formalismus erstarrten Geisteshaltung „die reine Grundidee der humanistischen Weltbetrachtung“ bewahrt. Er sei ein Hauptvertreter der Strömung gewesen, die „einen Weg zu einer umfassenderen und allseitig wissenschaftlich begründeten Geschichtsauffassung suchte“. In seinem Konzept sei aus der Geschichtskunde zum ersten Mal Wissenschaft im modernen Sinne geworden. Ähnlich äußerten sich zu Patrizis Pionierrolle bei der Begründung einer wissenschaftlichen Geschichtsforschung u. a. Giorgio Spini (1948), Rüdiger Landfester (1972) und Thomas Sören Hoffmann (2007). Thomas Leinkauf (2017) meinte, Patrizi habe das wohl interessanteste und kühnste Konzept von Geschichte im 16. Jahrhundert hervorgebracht. Lobend hervorgehoben werden der Fleiß des humanistischen Gelehrten, seine gründliche Kenntnis der philosophiegeschichtlichen Quellen und seine genaue Textarbeit. Kritisiert wird jedoch die teils als fanatisch eingeschätzte Voreingenommenheit in seinen polemischen Bemühungen, Aristoteles auf allen Gebieten zu widerlegen und zu diskreditieren. Einigkeit besteht darüber, dass Patrizis Versuch einer neuen Begründung der Geometrie verfehlt war. Aus mathematikhistorischer Sicht wird festgestellt, dass er tatsächlich eine Schwäche in Euklids Elementen fand, dass es ihm aber nicht gelang, sie mit seinem eigenen Ansatz zu beheben. Sein Entwurf einer Alternative zur euklidischen Geometrie wird als Rückschritt hinter einen bereits in der Antike erreichten Erkenntnisstand gesehen. Auch sein astronomisches Weltbild hat sich trotz einzelner zutreffender Annahmen insgesamt als untauglich erwiesen. Als Grund für diesen Fehlschlag wird in der Forschung seine rein philosophische Herangehensweise an naturwissenschaftliche Probleme genannt. Unterschiedlich wird die Frage nach der geistesgeschichtlichen Einordnung von Patrizis vielfältigen Impulsen beantwortet. Manche Forscher wie Cesare Vasoli und Lina Bolzoni verorten seine Ideen mitten in der Gedankenwelt des Cinquecento. Andere, insbesondere Giorgio Spini, Stephan Otto und Danilo Aguzzi Barbagli, betonen das revolutionäre Potenzial seiner Thesen, das über die Renaissance hinaus in die Zukunft weise. Sie sehen in ihm einen Exponenten eines epochalen Umbruchs, einen Vorläufer des in der Folgezeit erstarkenden rationalistischen, auf wissenschaftliche Präzision abzielenden Diskurses. Carolin Hennig verortet ihn in einer Zone des Umbruchs zwischen Renaissance und Barock und registriert „protobarocke Tendenzen“. Wegen seiner philosophischen Ausrichtung wird sogar seine Zugehörigkeit zum Renaissance-Humanismus nicht einhellig akzeptiert. Quellen Ugo Baldini, Leen Spruit (Hrsg.): Catholic Church and Modern Science. Documents from the Archives of the Roman Congregations of the Holy Office and the Index. Band 1: Sixteenth-Century Documents. Teilband 3. Libreria Editrice Vaticana, Rom 2009, ISBN 978-88-209-8288-1, S. 2197–2264 (die Akten des Verfahrens der Indexkongregation, darunter die Gutachten sowie Briefe und Stellungnahmen Patrizis) Ausgaben und Übersetzungen Moderne Ausgaben und Übersetzungen Danilo Aguzzi Barbagli (Hrsg.): Francesco Patrizi da Cherso: Della poetica. 3 Bände. Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento, Florenz 1969–1971 (enthält im dritten Band auch den Discorso della diversità de’ furori poetici) Danilo Aguzzi Barbagli (Hrsg.): Francesco Patrizi da Cherso: Lettere ed opuscoli inediti. Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento, Florenz 1975 (enthält u. a. die Schriften zur Wasserwirtschaft und den Dialog Il Delfino overo Del bacio. Kritische Rezension: Lina Bolzoni: A proposito di una recente edizione di inediti patriziani. In: Rinascimento. Band 16, 1976, S. 133–156) Lina Bolzoni (Hrsg.): La poesia e le «imagini de’ sognanti» (Una risposta inedita del Patrizi al Cremonini). In: Rinascimento. Band 19, 1979, S. 171–188 (kritische Edition einer dichtungstheoretischen Stellungnahme Patrizis) Lina Bolzoni (Hrsg.): Il «Badoaro» di Francesco Patrizi e l’Accademia Veneziana della Fama. In: Giornale storico della letteratura italiana. Band 18, 1981, S. 71–101 (Edition mit ausführlicher Einleitung) Silvano Cavazza (Hrsg.): Una lettera inedita di Francesco Patrizi da Cherso. In: Centro di Ricerche Storiche – Rovigno: Atti. Band 9, 1978/1979, S. 377–396 (Edition eines Briefs Patrizis an die Indexkongregation mit ausführlicher Einleitung und Kommentar des Herausgebers) Antonio Donato (Übersetzer): Italian Renaissance Utopias. Doni, Patrizi, and Zuccolo. Palgrave Macmillan, Cham 2019, ISBN 978-3-030-03610-2, S. 61–120 (englische Übersetzung von La città felice) Alessandra Fiocca: Francesco Patrizi e la questione del Reno nella seconda metà del Cinquecento: tre lettere inedite. In: Patrizia Castelli (Hrsg.): Francesco Patrizi, filosofo platonico nel crepuscolo del Rinascimento. Olschki, Florenz 2002, ISBN 88-222-5156-3, S. 253–285 (Edition dreier Briefe Patrizis von 1580 und 1581 an den Herzog von Ferrara) Francesco Fiorentino: Bernardino Telesio ossia studi storici su l’idea della natura nel Risorgimento italiano. Band 2. Successori Le Monnier, Florenz 1874, S. 375–391 (Edition von Patrizis Brief an Telesio) Sylvie Laurens Aubry (Übersetzerin): Francesco Patrizi: Du baiser. Les Belles Lettres, Paris 2002, ISBN 2-251-46020-9 (französische Übersetzung) John Charles Nelson (Hrsg.): Francesco Patrizi: L’amorosa filosofia. Felice Le Monnier, Florenz 1963 Sandra Plastina (Hrsg.): Tommaso Campanella: La Città del Sole. Francesco Patrizi: La città felice. Marietti, Genua 1996, ISBN 88-211-6275-3 Anna Laura Puliafito Bleuel (Hrsg.): Francesco Patrizi da Cherso: Nova de universis philosophia. Materiali per un’edizione emendata. Olschki, Florenz 1993, ISBN 88-222-4136-3 (kritische Edition von Texten Patrizis, die im Rahmen der geplanten Überarbeitung der Nova de universis philosophia entstanden) Frederick Purnell (Hrsg.): An Addition to Francesco Patrizi’s Correspondence. In: Rinascimento. Band 18, 1978, S. 135–149 (Edition eines Briefs von 1590) Thaddä Anselm Rixner, Thaddä Siber (Übersetzer): Leben und Lehrmeinungen berühmter Physiker. Heft 4: Franciscus Patritius. Seidel, Sulzbach 1823 (Übersetzung von Auszügen aus der Nova de universis philosophia, online) Giovanni Rosini (Hrsg.): Parere di Francesco Patrizi in difesa di Lodovico Ariosto. In: Giovanni Rosini (Hrsg.): Opere di Torquato Tasso. Band 10. Capurro, Pisa 1824, S. 159–176 Hélène Védrine (Hrsg.): Patrizi: De spacio physico et mathematico. Vrin, Paris 1996, ISBN 2-7116-1264-3 (französische Übersetzung mit Einleitung) Nachdrucke frühneuzeitlicher Ausgaben Vladimir Filipović (Hrsg.): Frane Petrić: Deset dijaloga o povijesti. Čakavski Sabor, Pula 1980 (Della historia diece dialoghi, Nachdruck der Ausgabe Venedig 1560 mit kroatischer Übersetzung) Zvonko Pandžić (Hrsg.): Franciscus Patricius: Discussiones Peripateticae. Nachdruck der vierbändigen Ausgabe Basel 1581 (= Quellen und Beiträge zur kroatischen Kulturgeschichte. Band 9). Böhlau, Köln u. a. 1999, ISBN 3-412-13697-2 (mit Einleitung des Herausgebers) Anna Laura Puliafito Bleuel (Hrsg.): Francesco Patrizi: Della retorica dieci dialoghi. Conte, Lecce 1994, ISBN 88-85979-04-1 (Nachdruck der Ausgabe Venedig 1562) Ausgaben des 16. Jahrhunderts Di M. Francesco Patritio La città felice. Del medesimo Dialogo dell’honore Il Barignano. Del medesimo Discorso della diversità de’ furori poetici. Lettura sopra il sonetto del Petrarca La gola e’l sonno e l’ociose piume. Giovanni Griffio, Venedig 1553 (online) L’Eridano in nuovo verso heroico. Francesco de Rossi da Valenza, Ferrara 1557 (online) Le rime di messer Luca Contile, divise in tre parti, con discorsi et argomenti di M. Francesco Patritio et M. Antonio Borghesi. Francesco Sansovino, Venedig 1560 (online) Della historia diece dialoghi. Andrea Arrivabene, Venedig 1560 (online) Della retorica dieci dialoghi. Francesco Senese, Venedig 1562 (online) Discussionum Peripateticarum tomi IV. Pietro Perna, Basel 1581 (online) La militia Romana di Polibio, di Tito Livio, e di Dionigi Alicarnaseo. Domenico Mamarelli, Ferrara 1583 (online) Apologia contra calumnias Theodori Angelutii eiusque novae sententiae quod metaphysica eadem sint quae physica eversio. Domenico Mamarelli, Ferrara 1584 (online) Della nuova Geometria di Franc. Patrici libri XV. Vittorio Baldini, Ferrara 1587 (online) Difesa di Francesco Patrizi dalle cento accuse dategli dal Signor Iacopo Mazzoni. Vittorio Baldini, Ferrara 1587 Risposta di Francesco Patrizi a due opposizioni fattegli dal Signor Giacopo Mazzoni. Vittorio Baldini, Ferrara 1587 Philosophiae de rerum natura libri II priores, alter de spacio physico, alter de spacio mathematico. Vittorio Baldini, Ferrara 1587 (online) Nova de universis philosophia. Benedetto Mammarelli, Ferrara 1591 (online) Paralleli militari. Luigi Zannetti, Rom 1594 (erster Teil des Werks; online) De paralleli militari. Parte II. Guglielmo Facciotto, Rom 1595 (online) Literatur Übersichtsdarstellungen Thomas Sören Hoffmann: Philosophie in Italien. Eine Einführung in 20 Porträts. Marixverlag, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-86539-127-8, S. 293–304 Paul Oskar Kristeller: Acht Philosophen der italienischen Renaissance. Petrarca, Valla, Ficino, Pico, Pomponazzi, Telesio, Patrizi, Bruno. VCH, Weinheim 1986, ISBN 3-527-17505-9, S. 95–108 Thomas Leinkauf: Francesco Patrizi (1529–1597). In: Paul Richard Blum (Hrsg.): Philosophen der Renaissance. Eine Einführung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1999, S. 173–187 Gesamtdarstellungen und Untersuchungen zu mehreren Themenbereichen Christiane Haberl: Di scienzia ritratto. Studien zur italienischen Dialogliteratur des Cinquecento und ihren epistemologischen Voraussetzungen. Ars una, Neuried 2001, ISBN 3-89391-115-4, S. 137–214 Sandra Plastina: Gli alunni di Crono. Mito linguaggio e storia in Francesco Patrizi da Cherso (1529–1597). Rubbettino, Soveria Mannelli 1992, ISBN 88-728-4107-0 Cesare Vasoli: Francesco Patrizi da Cherso. Bulzoni, Rom 1989 Aufsatzsammlungen Patrizia Castelli (Hrsg.): Francesco Patrizi, filosofo platonico nel crepuscolo del Rinascimento. Olschki, Florenz 2002, ISBN 88-222-5156-3 Tomáš Nejeschleba, Paul Richard Blum (Hrsg.): Francesco Patrizi. Philosopher of the Renaissance. Proceedings from The Centre for Renaissance Texts Conference [24–26 April 2014]. Univerzita Palackého v Olomouci, Olomouc 2014, ISBN 978-80-244-4428-4 (online) Metaphysik und Naturphilosophie Luc Deitz: Space, Light, and Soul in Francesco Patrizi’s Nova de universis philosophia (1591). In: Anthony Grafton, Nancy Siraisi (Hrsg.): Natural Particulars. Nature and the Disciplines in Renaissance Europe. MIT Press, Cambridge (Massachusetts) 1999, ISBN 0-262-07193-2, S. 139–169 Kurt Flasch: Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire. Klostermann, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-465-04055-2, S. 275–291 Geschichts- und Staatstheorie Paola Maria Arcari: Il pensiero politico di Francesco Patrizi da Cherso. Zamperini e Lorenzini, Rom 1935 Franz Lamprecht: Zur Theorie der humanistischen Geschichtschreibung. Mensch und Geschichte bei Francesco Patrizi. Artemis, Zürich 1950 Literaturwissenschaft Lina Bolzoni: L’universo dei poemi possibili. Studi su Francesco Patrizi da Cherso. Bulzoni, Rom 1980 Luc Deitz: Francesco Patrizi da Cherso on the Nature of Poetry. In: Luc Deitz u. a. (Hrsg.): Neo-Latin and the Humanities. Essays in Honour of Charles E. Fantazzi (= Essays and Studies. Band 32). Centre for Reformation and Renaissance Studies, Toronto 2014, ISBN 978-0-7727-2158-7, S. 179–205 Carolin Hennig: Francesco Patrizis Della Poetica. Literaturtheorie der Renaissance zwischen Systempoetik und Metaphysik (= Ars Rhetorica. Band 25). Lit, Berlin 2016, ISBN 978-3-643-13279-6 Weblinks Patrizi/Petriš - Philosoph und Universalgelehrter Anmerkungen Philosoph der Frühen Neuzeit Person (italienische Geschichte) Person (kroatische Geschichte) Hochschullehrer (Universität Ferrara) Hochschullehrer (Universität La Sapienza) Historische Person (Italien) Historische Person (Südosteuropa) Literatur (16. Jahrhundert) Literatur (Italienisch) Literatur (Neulatein) Universalgelehrter Mann Autor Geboren 1529 Gestorben 1597
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Zitadelle Petersberg
Die Zitadelle Petersberg (auch Festung Petersberg) ist eine ursprünglich kurmainzische, später preußische Stadtfestung des 17. bis 19. Jahrhunderts, die im Zentrum der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt liegt. Sie gilt als eine der größten und besterhaltenen ihrer Art in ganz Europa und wurde 1665 auf Befehl des kurmainzischen Kurfürsten und Erzbischofs Johann Philipp von Schönborn als Zwingburg gegen die Stadt im neuitalienischen Stil errichtet. Im weiteren Verlauf sollte sie als nördlichste Festung das Kurfürstentum vor Angriffen der protestantischen Mächte schützen. Die strategische Bedeutung der Zitadelle erkannten später auch Preußen und dann Frankreich, die sie Anfang des 19. Jahrhunderts für kurze Zeit annektierten. Mit dem Wiener Kongress im Jahre 1815 kam sie mit Erfurt endgültig zu Preußen und wurde bis zur deutschen Reichsgründung 1871 als Befestigungsanlage genutzt. Sie blieb auch während der beiden Weltkriege und in der Nachkriegszeit ein zentraler militärischer Ort der Region. Ab 1963 war das Gelände der Öffentlichkeit teilweise zugänglich. Ab 1990 führten das Land Thüringen und die Stadt Erfurt Sanierungen in größerem Umfang durch. Heute befinden sich in den Gebäuden der Festung staatliche Ämter, Wohnungen sowie touristische und kulturelle Einrichtungen. Geschichte Vorgeschichte Die Stadt Erfurt war seit dem frühen Mittelalter das kirchliche, politische und wirtschaftliche Zentrum Thüringens und gehörte ab 750 zum Erzbistum Mainz. Während der folgenden Jahrhunderte erlangte die Stadt weitgehende politische und wirtschaftliche Autonomie, die im Mittelalter zur Blüte der Stadt führte. Im Westfälischen Frieden 1648 wurde Erfurt wieder dem Kurfürstentum Mainz zugesprochen. Erfurt leistet daraufhin Widerstand und wurde vom Kaiser mit der Reichsacht belegt. Schließlich zwang ein Heer aus 15.000 kurmainzischen und französischen Soldaten die Stadt zur Aufgabe und Erfurt erhielt den Status einer Provinzstadt, die dem Kurfürsten von Mainz direkt unterstellt war. Um weiteren Aufständen vorzubeugen und als Schutz gegen die protestantischen Mächte ließ der kurmainzische Kurfürst und Erzbischof, Johann Philipp von Schönborn, auf dem Gelände des Petersberges eine Zitadelle errichten. An deren Planung war vermutlich der Münsteraner Bischof Christoph Bernhard Reichsfreiherr von Galen beteiligt. Zu dieser Zeit befand sich auf dem Petersberg das Benediktinerkloster St. Peter und Paul (Peterskloster). Die erste Besiedelung durch die Benediktiner erfolgte um 1060. Zwischen 1103 und 1147 erbauten sie die Peterskirche und 1530 das Schirrmeisterhaus. Errichtung der Zitadelle (1665–1707) Am 1. Juni 1665 wurde der Grundstein der Zitadelle Petersberg gelegt, die anfangs noch Citadelle Johann Philippsburg hieß. Damit begann die erste von drei Bauphasen. Zunächst errichteten bis etwa 1669 fronende Bauern aus Erfurt gemeinsam mit italienischen Steinmetzen unter Leitung des Ingenieurs Wilhelm Schneider die vier der Stadt zugewandten Bastionen Martin, Philipp, Leonhard und Kilian im neuitalienischen Stil sowie das nach Antonio Petrini entworfene Peterstor mit Kommandantenhaus. Dabei wurde die neu entstandene Festungsmauer mit der alten Stadtbefestigung verbunden und in ihrem Fuß Konterminen („Horchgänge“) angelegt. In ihnen patrouillierten Soldaten, um im Belagerungsfall feindliche Mineure frühzeitig zu lokalisieren und sie an ihrem Zerstörungswerk zu hindern. Zwischen 1675 und 1700 wurden die vier restlichen Bastionen Johann, Michael, Gabriel und Franz, die drei Kasernengebäude wie auch die beiden Ravelins Anselm und Lothar realisiert. Sie sind Vorwerke in Form von Wallschilden, die vor den Kurtinen (Verbindungsmauer zwischen zwei Bastionen) zum Schutz errichtet wurden. Während des Baus kam es wiederholt zu Verzögerungen. Erst nach fast vierzig Jahren (1702) war die Festung von allen Seiten umschlossen. Damit endete der erste Bauabschnitt (1665–1702). Im 17. und dem 18. Jahrhundert lagen in den Kasernen des Petersbergs die 500 bis 800 Mann starke Mainzer Garnison zusammen mit der Erfurter Miliz. Erste Modernisierung und anschließender Verfall (1707–1802) Während des Großen Nordischen Krieges (1700–1721) bedrohten die Schweden die nördlichen Gebiete des Kurfürstentums, zu denen Erfurt gehörte. Aus diesem Grund entschloss sich Mainz zu einem Ausbau der Zitadelle Petersberg und engagierte dafür den Festungsbaumeister Johann Maximilian von Welsch. Nach dem Vorbild des französischen Festungsbaumeisters Vauban legte er besonderen Wert auf die Verstärkung der Vorfestungen und Grabenverteidigungen. Das führte zur Errichtung von zwei Lünetten sowie zwei weiteren Ravelins (Wilhelm und Peter) mit kurzen Wallstücken (1708) und zu einem neuen Hornwerk vor der Bastion Gabriel (zwischen 1725 und 1728). Vermutlich stützte sich von Welsch dabei noch auf die ersten Baupläne der Festung. Des Weiteren wurde ein großer Festungsgraben mit einem gestaffelten Palisadensystem rund um die Festung angelegt und die Konterminen im Mauerwerk weiter ausgebaut. Um den Zugang zur Kernfestung besser kontrollieren zu können, erfolgte der Bau eines Wachgebäudes vor dem Ravelin Peter (1735). Mit der Fertigstellung der beiden Geschützkasematten in den Bastionen Philipp und Johann in Richtung der Bastion Franz (1737) ging die zweite Bauphase (1707–1737) zu Ende. Die hohen finanziellen Aufwendungen für die Instandhaltung der Gebäude und Anlagen sowie neue militärische Entwicklungen führten in den 1770er Jahren zu neuen Überlegungen bei den Mainzer Verantwortlichen. Man dachte sogar über eine Schleifung der Festung nach. Doch mit dem Bayerischen Erbfolgekrieg (1778–1779) änderte sich die Sichtweise. Die Festung mit ihren Außenwerken wurde weiter genutzt und notdürftige Reparaturen wurden vorgenommen. Unter preußischer Herrschaft (1802–1806) Im Vorgriff auf den Reichsdeputationshauptschluss hatte Frankreich in einem Geheimvertrag vom 23. Mai 1802 Preußen seine Unterstützung zugesichert, wenn es als Entschädigung für die an Frankreich verlorenen Gebiete links des Rheinufers unter anderem das Eichsfeld und Erfurt in Besitz nehme. Daraufhin besetzten im Juni 1802 preußische Truppen unter Ludwig Ernst von Voß und Leopold Alexander von Wartensleben die Stadt mit dem Petersberg. Bereits im März 1803 wurde das Benediktinerkloster St. Peter und Paul (Peterskloster) von den neuen Besitzern der Zitadelle aufgelöst, um Platz für die wesentlich stärkere Besatzung zu haben. Außerdem sollte die Festung auf Grund ihrer wichtigen geopolitischen Lage erneuert werden. Doch diesen Plänen folgten zunächst kleine Reparaturen. Erst mit Ausbruch des Krieges zwischen Frankreich und Preußen (1806) wurden die Ausbauarbeiten wieder aufgenommen. Diese konzentrierten sich auf die Errichtung neuer Palisadenwände und einer dahinter liegenden Schanze (Glacis). Zudem wurde für den Fall einer Belagerung ein Lebensmittelvorrat angelegt, der die Mannschaft einen Monat lang ernähren sollte. Nach der Niederlage in der Schlacht von Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 flüchteten Teile des zerschlagenen preußischen Heers in die schützende Zitadelle Petersberg. Bereits am Tag darauf kapitulierten die Preußen auf Befehl von Prinz Wilhelm von Oranien vor den napoleonischen Truppen. Unter französischer Herrschaft (1806–1813) Bei der widerstandslosen Übergabe fiel den Franzosen der große Festungsvorrat an militärischen Gerätschaften in die Hände. Die etwa 1400 preußischen Soldaten kamen in Kriegsgefangenschaft. Am 23. Juni 1807 traf Napoléon Bonaparte in Erfurt ein, um sich sowohl die Stadt als auch die Zitadelle direkt unterstellen zu lassen. Bei dieser Gelegenheit und im Rahmen des Erfurter Fürstenkongresses 1808 in Begleitung von Zar Alexander I. besuchte er die Befestigungsanlage des Petersbergs. In den folgenden Jahren herrschte Napoleon uneingeschränkt in Süd- und Mitteleuropa, so dass er mit dem Gedanken spielte, die Anlage zu schleifen. Die Wendung sollte der Russlandfeldzug 1812 bringen, in dem das französische Militär erstmals entscheidend geschlagen wurde und sich anschließend nach Westen zurückdrängen lassen musste. In der Zitadelle wurde am 24. Februar 1813 der Belagerungszustand ausgerufen und der Ausbau sowie die Reparatur der Verteidigungsanlagen aufgenommen. So wurden viele Gebäude mit bombensicheren Dächern versehen, der Glacis erneuert und Traversen geschaffen, um die Einsicht von außerhalb zu beschränken. Lebensmittel für die 2000 Mann Besatzung und Pferdefutter wurden auf sechs Monate angelegt und in der zum Magazin umgewandelten Peterskirche eingelagert. Im April und im Oktober 1813 traf Napoleon letztmals in Erfurt ein, um dabei die Zitadelle Petersberg zu besichtigen. Die Völkerschlacht bei Leipzig (16.–19. Oktober 1813) besiegelte den Untergang der napoleonischen Truppen. Teile der französischen Armee flohen nach dem Kampf in die Stadt Erfurt. Hier sollte sich das französische Heer sammeln und ein erstes Widerstandszentrum gegen die Verfolger entstehen. Die Leitung für dieses Vorhaben erhielt Generalfeldmarschall Alexandre d’Alton, der daraufhin am 25. Oktober 1813 mit dem Schließen aller Tore und Verkaufsläden die Blockade der Stadt einleitete. Nach drei Tagen hatte eine 34 900 Mann starke Belagerungsarmee, bestehend aus dem preußischen II. Armeekorps unter Generalleutnant Graf Kleist von Nollendorf sowie österreichischen und russischen Truppenteilen, Erfurt von allen Seiten eng umschlossen und ihre Quartiere in den umliegenden Dörfern bezogen. Die Belagerungsgeschütze wurden in der Nähe der Schwedenschanze aufgestellt. Zunächst versuchten die Franzosen, sich durch Angriffe zu verteidigen und zerstörten dabei das Dorf Daberstedt, um es als Quartier für die Belagerer unbrauchbar zu machen. Daraufhin wurden am 4. November 1813 die französischen Besetzer aufgefordert, die Zitadelle kampflos zu übergeben. Doch Generalfeldmarschall Alexandre d’Alton erklärte: Der Kaiser hat mir die Verteidigung des Platzes Erfurt anvertraut. Ich werde seinen Erwartungen entsprechen, indem ich meine Pflicht tue. Ich kann mich auf ein anderes Arrangement nicht einlassen. Als dann auch noch am gleichen Abend das Dorf Ilversgehofen durch 1500 Franzosen überfallen wurde, waren die Belagerungstruppen zum Handeln gezwungen. Die wenige Tage zuvor durch den Kriegsrat besprochene Bewerfung des Petersberges sollte nun in die Tat umgesetzt werden. Dafür wurden am Abend des 5. Novembers zwei österreichische und russische Batterien im Dorf Marbach sowie eine preußische Batterie im Steigerwald in Stellung gebracht und am 6. November um sechs Uhr morgens das Feuer auf die Festung eröffnet. Schon nach kurzer Zeit brannten erste Gebäude auf dem Petersberg. Das Klostergebäude, die alte Hauptwache, Teile der Peterskirche und zahlreiche Häuser unterhalb des Berges fielen den Flammen zum Opfer. Trotz des starken Bombardements und erheblicher Zerstörungen kapitulierten die Franzosen nicht. Es kam jedoch zu einem Waffenstillstand, der in der folgenden Zeit nach und nach verlängert wurde. Anfang Januar 1814 erfolgte die Übergabe der Stadt Erfurt ohne die beiden Zitadellen Petersberg und Cyriaksburg an die Preußen. Während die französische Hauptstadt Paris im April 1814 von den verbündeten Truppen eingenommen wurde, befanden sich die napoleonischen Truppen weiterhin in der Zitadelle Petersberg. Erst am 5. Mai 1814 gab Generalfeldmarschall Alexandre Dalton auf und übergab die Zitadelle friedlich an die Preußen. Dazu hatte er von der französischen Regierung eine Vollmacht erhalten. Daraufhin zogen die 1700 französischen Soldaten mit 6 Geschützen unbehelligt nach Straßburg ab. Festung in Preußen (1814–1871) Nach dem Wiener Kongress (1814–1815) kam es zu einer Neuordnung Europas. Als Ergebnis erhielt Preußen unter anderem die Stadt Erfurt, die der neuen Provinz Sachsen zugeschlagen wurde. Die Festung Erfurt gehörte nun zu den am südlichsten gelegenen Befestigungsanlagen Preußens. Deshalb sollte sie als Festung ersten Ranges zusammen mit den beiden Zitadellen Petersberg und Cyriaksburg ausgebaut werden. Damit begann der letzte Bauabschnitt (1815–1831). In diesem Zeitraum erfolgte zunächst die Reparatur der beschädigten Gebäude und Wehranlagen. Weiterhin entstanden nach dem neupreußischen System zwischen 1823 und 1825 Geschützkaponnieren zur Verteidigung des Festungsgrabens. An der Spitze der Bastion Martin entstand 1830 ein Kanonenhof, und zwischen 1828 und 1831 erfolgte auf dem Gelände des völlig zerstörten Benediktinerklosters St. Peter und Paul der Bau einer Defensionskaserne. Sie sollte als Artilleriestellung die Einsicht des oberen Plateaus von Norden her einschränken und zusammen mit der Abschnittsmauer die Festung in zwei unabhängige Abschnitte teilen. Außerdem ließ man zur Lagerung des Pulvers in Kriegs- oder Friedenszeiten 1822 auf dem Ravelin Anselm und dem Hornwerk Friedenspulvermagazine sowie um 1830 auf der Bastion Franz und Philipp Kriegspulvermagazine bauen. Als letzte Modernisierungsmaßnahme sollten sieben weit vorgeschobene Forts aufgestellt werden, von denen aber nur die Nr. I vor der Auenschanze und die Nr. II auf der Schwedenschanze zwischen 1866 und 1869 realisiert wurden. Diese selbstständigen stark befestigten Außenwerke sollten den Beschuss der Kernfestung durch die damals aufkommenden Geschütze mit gezogenem Lauf verhindern. Neben dem Ausbau der Zitadelle kam es auch zu Veränderungen innerhalb der Besatzung. So wurde 1860 ein neues Regiment mit dem Namen 3. Thüringer Infanterie-Regiment Nr. 71 gegründet, das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs in der Defensionskaserne des Petersbergs stationiert war. Standort des deutschen Heeres (1871–1945) Mit Gründung des Deutschen Reichs 1871 wurden Preußen und die ihm früher feindlichen süddeutschen Staaten wie Bayern und Württemberg zu Verbündeten. Dadurch verloren zahlreiche Festungen an Bedeutung, die daraufhin offengelegt oder sogar geschleift wurden. Auch für die Festung Erfurt mit den Zitadellen Petersberg und Cyriaksburg gab Kaiser Wilhelm I. den Befehl zur Entfestigung (20. Juni 1873). Aus Geldmangel wurden schließlich nur die beiden Ravelins Peter und Wilhelm, das Hornwerk sowie die Kavaliere entlang der Mauern abgetragen. Des Weiteren wurde eine Zufahrtsstraße gebaut, wobei große Teile der Bastion Gabriel und die Lünette I. vollständig geschleift und verschiedene Festungsgräben gefüllt wurden. Nach einigen Jahren stieg das Interesse am Militärstandort Petersberg wieder, so dass man neue Gebäude, wie Werkstätten, Lagergebäude, die Hornwerkkaserne zwischen 1912 und 1913 und eine Militärarrestanstalt zwischen 1913 und 1914 errichtete. Anstelle der Erdaufschüttung auf dem bisherigen zweistöckigen Flachbau erhielt die Defensionskaserne in neobarockem Stil ein Mansarddach mit Obergeschoss, architektonisch gut an die benachbarte Peterskirche angepasst. Die aufgestockte Defensionskaserne gehört seitdem zur weithin sichtbaren Stadtkrone von Erfurt. Infolge des Friedensvertrags von Versailles von 1919 kam es zu einer allmählichen Räumung der militärischen Einrichtungen. Bis 1933 erfolgte die teilweise Nutzung als Wohngebäude und als Quartier der Schutzpolizei sowie zwischenzeitlich des Freikorps Thüringen. 1921 wurde die Lauentorstraße fertig gestellt, die seither die Spitze der Bastion Martin von der Zitadelle trennt. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde das Gelände auf dem Petersberg erneut zu militärischen Zwecken genutzt. Zwischen 1936 und 1938 dienten Teile der Kasernen als Quartier des neu aufgestellten motorisierten Infanterie-Regiments Nr. 71 und zwischen 1938 und 1943 als Sitz von Verwaltungsstellen der Wehrmacht. Des Weiteren befand sich ab 1940 im Kommandantenhaus das Kriegsgericht 409. ID und im ehemaligen Polizeigefängnis eine Untersuchungshaftanstalt für politische Gefangene. In die Artilleriekaserne zogen das Heeresbauamt und in die Defensionskaserne ein Durchgangs- und Erfassungslager für Vertriebene ein. Die unterirdischen Konterminen bekamen zur Stadtseite hin neue Eingänge, in denen Erfurter Bürger bei Luftangriffen Zuflucht finden konnten. Im April 1945 richtete der für die Verteidigung Erfurts verantwortliche Kampfkommandant Oberst Otto Merkel seinen Befehlsstand auf dem Petersberg ein. Die Zitadelle wurde am 12. April 1945 von den Amerikanern besetzt. Mit dem 2. Juli 1945 gehörte die Stadt Erfurt und das Land Thüringen zur sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Nutzung nach dem Zweiten Weltkrieg In den ersten fünf Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bestand eine Mischnutzung aus Wohnungen, Verwaltungs- und Gewerbegebäuden. Mit Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 kam wieder Militär auf das Gelände. Gebäude vor der Bastion Johann wurden als Fahrbereitschaft der Staatssicherheit und die Kasernen zwischenzeitlich als Quartier der Kasernierten Volkspolizei, einer Polizeischule und der Nationalen Volksarmee (NVA) verwendet. Ab 1963 gelangte der Petersberg wieder in städtischen Besitz, wodurch das Gelände teilweise für die Öffentlichkeit zugänglich wurde. Die geringen Mittel der Stadt reichten jedoch nur zu einer notdürftigen Unterhaltung der Gebäude und Anlagen. Die Defensionskaserne und die Peterskirche wurden zu Lagerräumen umfunktioniert und in das Kommandantenhaus zog die Pionierorganisation Ernst Thälmann ein. Mit der Wende 1989/1990 errichtete die Stadt Erfurt eine Bauhütte auf dem Petersberg. Unter Leitung des städtischen Hochbauamtes erfolgte mit zahlreichen ABM-Kräften seither die Sanierung und Rekonstruktion der verschiedenen Anlagen und Gebäude, die seit Jahrzehnten stark vernachlässigt worden waren. Gleichzeitig wurde am Fuße und auf der Krone der Festungsmauern ein Rundwanderweg über das gesamte Gelände eingerichtet. 1995 wurde durch den Künstler Thomas Nicolai das Denkmal für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur und für die Opfer der NS–Militärjustiz vor der Bastion Philipp geschaffen. Es trägt die Inschrift Seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt von Günter Eich und besteht aus acht Stelen, von denen eine aus der Reihe hervortritt und den Fahnenflüchtigen symbolisieren soll. Im Kommandantenhaus der Zitadelle Petersberg war seit 1940 das Kriegsgericht 409 ID der Wehrmacht untergebracht, das rund 50 Deserteure zum Tode verurteilte und diese in der Nähe des Denkmals erschießen ließ. In Verbindung mit den Sanierungsarbeiten wurde ein Nutzungskonzept entwickelt, das eine Mischnutzung aus Verwaltungsgebäuden, Wohnungen sowie touristischen und kulturellen Einrichtungen vorsieht. So befindet sich seit 1993 in der Artilleriekaserne/Kaserne B und in der Neuen Hauptwache der Amtssitz des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie (TLDA), in der Unteren Kaserne die Birthler-Behörde (Erfurter Außenstelle des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR) sowie im Kommandantenhaus seit 1998 ein Jugendtreff und ein Folklore-Ensemble. Die Obere Kaserne, die Militärarrestanstalt sowie das Schirrmeisterhaus werden seit wenigen Jahren als Wohnhäuser und als Büroräume verwendet. Seit 1999 befindet sich das aus Kassel umgezogene Bundesarbeitsgericht in einem modernen Gebäude der Architektin Gesine Weinmiller auf dem ehemaligen Hornwerk. Für die unsanierte Defensionskaserne konnte bisher noch kein Nutzer gefunden werden. Zurzeit gibt es die Planung, sie als Jugendherberge und Kindermuseum zu nutzen. Auf dem ehemaligen Exerzier- und Paradeplatz finden seit 2000 das jährliche Petersbergfest und Veranstaltungen der Bundeswehr statt. Die Zitadelle Petersberg ist heutzutage ein viel besuchtes Bauwerksensemble, das einen weiten Rundblick über die Stadt bietet. Aufbau Die Zitadelle Petersberg zählt zu den größten und besterhaltenen Stadtfestungen aus dem 17. Jahrhundert in Deutschland. Ihre Kernfestung erstreckt sich über eine Fläche von ca. 12 ha und besitzt einen unregelmäßigen, sternförmigen Grundriss, der sich aus den acht Bastionen Martin, Gabriel, Michael, Johann, Franz, Philipp, Leonhard und Kilian im neuitalienischen Stil zusammensetzt. Auf der Bastionskrone führt ein kurmainzischer Postenweg mit einer mannshohen Brüstungsmauer und Wacherkern an den Bastionsspitzen fast vollständig um die Zitadelle. Die Mauern besitzen eine Länge von ca. 2 km bei einer Höhe zwischen 8 und 23 m und sind im 4 bis 6,5 m dicken Fußbereich von Konterminen durchzogen. In ihnen patrouillierten Soldaten, um im Belagerungsfall feindliche Mineure frühzeitig zu lokalisieren und sie an ihrem Zerstörungswerk zu hindern. Rings um die Kernfestung liegen vorgelagert im ehemaligen Festungsgraben Ravelins und Lünetten, die als eigenständige Verteidigungswerke die Nordwestseite stärken sollten. Des Weiteren gehörte dazu auch das Hornwerk, das zusammen mit dem Ravelin Wilhelm und der Lünette I nach der Festungsaufhebung 1873 geschleift wurde. In das Innere der Zitadelle gelangt man über die Petersbrücke mit Peterstor, den ursprünglich einzigen Zugang und seit 1828 über das Anselmi-Hilfstor. Außerdem führen auf das Festungsgelände zwei Straßen aus der Zeit der Entfestigung 1873 und eine vor wenigen Jahren errichtete Treppe an der Bastion Franz. Die barocke Fassade des Peterstors wird von Wandpfeilern, Gesimsen und Löwenköpfen geschmückt und trägt zwischen einem durchbrochenen Dreiecksgiebel das Amtswappen des Kurmainzischen Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn. In der Torhalle liegen auf jeder Seite Kasematten und in der Decke sind zwei Fallgitter sowie Pechlöcher verankert. Die Petersbrücke wurde ursprünglich als Holzkonstruktion mit Zugbrücke errichtet und unter den Preußen 1864 mit Steinen eingewölbt. In der Kernfestung sind bis heute Überreste der Stadtmauertürme, Turm Nr. III, Hoher Glockenturm und Lauenturm zu finden, die mit Errichtung der Zitadelle zu Pulvermagazinen umfunktioniert und in ihrer Höhe mehrfach reduziert wurden. Der Lauenturm war zusammen mit dem Lauentor, einem Stadttor unterhalb der Bastion Martin, bis 1308 im Besitz der Grafen von Gleichen und nach dem gräflichen Wappentier, einem Löwen, benannt. Beim Durchbruch der Lauentorstraße 1921 wurde der Turm wiederentdeckt und dient mit der Bastion Martin seither als Aussichtsplattform. Der mittlere Bereich der Kernfestung wird als Oberes Plateau bezeichnet und erstreckt sich zwischen den Bastionen Leonhard, Philipp und der Verbindungsmauer der Bastionen Gabriel/Michael. In diesem Bereich liegt die Peterskirche, die zwischen 1103 und 1147 als romanische dreischiffige Pfeilerbasilika errichtet wurde und bis zur Säkularisation 1803 als Klosterkirche des Benediktinerklosters St. Peter und Paul diente. 1813 zerstörten Artilleriegeschosse weite Teile der Klosteranbauten und wenig später wurde sie unter den Preußen dauerhaft zu einem Magazin umgebaut. Heutzutage findet die Peterskirche als Kunstausstellungsraum Verwendung. Nach Nordwesten wird das Obere Plateau von der Defensionskaserne abgeschlossen, die zwischen 1828 und 1831 auf dem Gelände des ehemaligen Benediktinerklosters im preußischen Klassizismus errichtet wurde. Ihre nördlichen Mauern besitzen eine Stärke bis zu 2,5 m und sind über drei Stockwerke von Infanterie- und Artillerieschießscharten durchsetzt. Die ehemaligen Mannschaftsräume mit drei Eingangsportalen liegen auf der Südseite und boten durch Aufbau eines Mansarddaches 1912/13 für insgesamt 750 Soldaten Platz. Im Inneren besteht die Defensionskaserne aus zahlreichen einzelnen Abschnitten, die im Falle einer feindlichen Erstürmung durch einsetzbare Palisadenwände voneinander getrennt werden konnten. Nach Nutzung als Truppenunterkunft und Lager steht sie seit dem Jahr 2000 leer. An die Ostseite der Defensionskaserne schließt sich seit 1832 eine Seitenkaponniere mit Festungsbäckerei an, die noch heute genutzt wird. Im Norden des Oberen Plateaus liegt die 1675 erbaute Obere Kaserne, die zu den ältesten Kasernengebäuden Thüringens zählt. Festungskommandanten Unter kurmainzischer Regentschaft: Generalmajor Baron von der Leyen (1665–1673) Oberst Schütz von Holzhausen (1674–1680) Oberst Johann Theodor Mortaigne (1680–1690) Obristwachtmeister von Sommerlat (1690–1690), Interimskommandant Baron Johann Adolf Langwerth von Simmern (1690–1700) Generalmajor Christoph Erhard von Bibra (1700–1706) Generalmajor Johann Sigmund Freiherr von Hirschberg (1706–1718) Generalmajor Georg Melchior von Harstall (1718–1733) Generalmajor Philipp Wilhelm Lucas Freiherr von Rieth (1733–1748) Generalmajor von Schwan (1748–1748), Interimskommandant Generalleutnant Otto Christoph Baron von Hagen (1748–1770) Generalleutnant Ludwig Wilhelm Baron von Harstall (1770–1773) Generalleutnant Franz Arnold Freiherr von Brencken (1774–1776) General von Rothelinsky (1776–1778), Interimskommandant General von Faber (1778–1779), Interimskommandant Generalmajor Ernst Friedrich Freiherr von Hagen (1780–1787) Generalmajor Christoph Freiherr von Knorr (1788–1802) Unter preußischer Regentschaft: Generalleutnant Leopold Alexander von Wartensleben (Gouverneur, 1802) Major Georg Heinrich von Heckel (1803) Major Ludwig Karl von Prüschenk (1804–1806) Unter napoleonischer Regentschaft: Generalfeldmarschall Alexandre d’Alton (1806–1813) Unter preußischer Regentschaft: Oberstleutnant Johann Karl August von Streit (1813) Oberst Heinrich Wilhelm von Weltzien (1813–1815) Generalmajor Karl Ludwig von Oppeln-Bronikowski (1815–1821) Generalmajor Wilhelm Johann Maria von Blumenstein (1821) Oberst Karl von Kehler (1823) Generalleutnant Ernst Ludwig von Tippelskirch (1825–1827) Generalleutnant Oldwig von Natzmer Generalleutnant Karl Georg von Loebell (1832–1839) (mit der Wahrnehmung der Geschäfte beauftragt) Generalleutnant August von Hedemann (1840–1848) Generalleutnant Ferdinand von Voß-Buch (1848–1854) Oberst Ferdinand von Bialcke (1854–1856) Oberst Hermann Hofer von Lobenstein (1856–1857) Oberst Louis von Alvensleben (1857–1858), später Kommandeur des Garde-Grenadier-Regiments Nr. 1 Oberst Bernhard von Hanfstengel (1858–1863) Oberst Robert von Frankenberg und Ludwigsdorf (1864) Oberst Joseph Ignaz Anton von Saenger (1864–1867) Generalmajor Hermann von Michaelis (1868–1871) Bernhard von dem Knesebeck (1871–1874) Siehe auch Petersberg Fachbegriffe Festungsbau Zitadelle Cyriaksburg Literatur Rolf Berger: Die Peterskirche auf dem Petersberg zu Erfurt: eine Studie zur Hirsauer Baukunst. 1. Auflage. Wehle, Witterschlick/Bonn 1994, ISBN 3-925267-86-7. H.-P. Brachmanski, H. W. Schirmer: Der Erfurter Petersberg Geschichte und Geschichten. VHT 1993, ISBN 3-86087-107-2. Georg Dehio (Hrsg.): Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler Thüringen. Deutscher Kunstverlag, München 1998, ISBN 3-422-03095-6. Hans Giesecke: Das alte Erfurt. Verlag Koehler & Amelang, Leipzig 1972. Willibald Gutsche (Hrsg.): Geschichte der Stadt Erfurt. Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1986, ISBN 3-7400-0095-3. Mathias Haenchen: Die entwicklungsgeschichtliche Stellung der Klosterkirche auf dem Petersberg bei Erfurt in der Baukunst des europäischen Hochmittelalters. Habilitationsschrift, Dresden 2003. O. Kürsten: Der Petersberg: die Akropolis von Erfurt. Band 27, Engelhard-Reyher-Verlag, Gotha 1943. Horst Moritz: Die Festung Petersberg unter Kurmainz 1664–1802. Stadtmuseum Erfurt, Erfurt 2001. Horst Moritz: Die Festung Petersberg unter Preußen 1802–1918. Stadtmuseum Erfurt, Erfurt 2002. Placidus Muth: Über den Einfluß des königlichen Benedictiner Stiftes auf dem Petersberge zu Erfurt, auf die erste Urbarmachung der hiesigen Gegenden. Beyer & Maring, Erfurt 1798. Frank Palmowski: Die Belagerung von Erfurt 1813/14. Sutton Verlag, Erfurt 2015, ISBN 978-3-95400-604-5. Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten: 700 Jahre Erfurter Peterskloster: Geschichte und Kunst auf den Erfurter Petersberg 1103–1803. Schnell & Steiner, Regensburg 2004, ISBN 3-7954-1675-2. Niedersächsische Landesbibliothek Hannover, Wehrbereichsbibliothek, Sign.: WBB 24034-5926-2 Freunde der Citadelle Petersberg zu Erfurt e.V.: 350 Jahre Zitadelle Petersberg Historischer Kontext - Bauphasen - Schicksal und Chancen des Petersberges Weblinks Der Petersberg auf erfurt-web Freunde der Citadelle Petersberg zu Erfurt e. V. Glashütte – Bar, Café, Restaurant auf dem Petersberg Festungsbäckerei der Zitadelle Petersberg Forum Konkrete Kunst Erfurt auf der Zitadelle Petersberg Außenstelle Erfurt der Birthler-Behörde auf der Zitadelle Petersberg Denkmal für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur Einzelnachweise Petersberg Barockbauwerk in Erfurt Petersberg (Erfurt) Kulturdenkmal in Erfurt Festung in Europa Befestigungsanlage in Erfurt
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https://de.wikipedia.org/wiki/Tau%20Ceti
Tau Ceti
Tau Ceti [] (τ Ceti, abgekürzt: τ Cet) ist ein 11,9 Lichtjahre entfernter gelber Hauptreihenstern (Spektralklasse G8) im Sternbild Walfisch. Von der Sonne aus gesehen ist er nach Alpha Centauri A der zweitnächste sonnenähnliche Stern. Der Stern hat keinen traditionellen Eigennamen. Die Benennung „Tau Ceti“ ist eine Bezeichnung nach der Bayer-Klassifikation. Tau (τ) ist das 19. griechische Schriftzeichen, und „Ceti“ zeigt die Zugehörigkeit zum Sternbild Walfisch (lat. Cetus) an. Tau Ceti ist mit freiem Auge als schwacher Stern dritter Größenklasse zu erkennen. Umgekehrt betrachtet wäre die Sonne von Tau Ceti aus etwas heller im Sternbild Bärenhüter zu sehen. Wie bei der Sonne sind die meisten Nachbarsterne schwache Rote M-Zwerge und von Tau Ceti aus mit freiem Auge nicht sichtbar. Der nächstgelegene Nachbar von Tau Ceti ist mit einem Abstand von 1,6 Lj YZ Ceti. Das zweitnächste Sternsystem, Luyten 726-8, ist 3,19 Lj entfernt. Tau Ceti wurde immer wieder als Ziel für die Suche nach außerirdischer Intelligenz (SETI) anvisiert. Bislang wurden mit Hilfe astrometrischer Methoden und Beobachtung der Radialgeschwindigkeit vier Planeten mit der 1,75- bis 4-fachen Masse der Erde gefunden, zwei befinden sich womöglich in der habitablen Zone, und es gibt Anzeichen für die Existenz weiterer Planeten. Tau Ceti ist von mehr als zwölfmal so viel Staub umgeben wie die Sonne. Wegen dieser Staubscheibe, die auch Kometen und Asteroiden enthalten muss, sind die Planeten mehr Einschlägen ausgesetzt als die Erde. Obwohl dies eventuelles Leben stark beeinträchtigen würde, erweckte die Ähnlichkeit mit der Sonne weit verbreitetes Interesse. Physikalische Eigenschaften Tau Ceti ist wahrscheinlich ein Einzelstern. In einem scheinbaren Abstand von 137 Bogensekunden (laut Messung im Jahr 2000) befindet sich allerdings ein lichtschwacher (13,1m) Stern, der gravitativ an Tau Ceti gebunden sein könnte. Tau Ceti gehört wie die Sonne der Spektralklasse G an, hat aber mit G8 einen etwas späteren Untertyp als die Sonne mit G2. Dieser geringe Unterschied kommt durch die gegenüber der Sonne etwas niedrigere Oberflächentemperatur von etwa 5070 °C (5344 ± 50K) zustande. Beide Sterne sind Hauptreihensterne der Leuchtkraftklasse V. Folglich befinden sie sich in der stabilen Phase des Wasserstoffbrennens (Fusion von Wasserstoff zu Helium). Die Abweichungen der physikalischen Parameter zwischen Tau Ceti und der Sonne sind im Wesentlichen durch die unterschiedlichen Sternmassen bedingt. Das spiegelt sich auch in der Lage der Sterne zueinander auf der Hauptreihe wider. Die Masse von Tau Ceti beträgt etwa 0,77 Sonnenmassen. Daher wird der Stern etwa 12 Mrd. Jahre – somit eine Mrd. Jahre länger als die Sonne – in der Hauptreihe verweilen. Die meisten Parameter der physikalischen Eigenschaften des Sterns wurden durch spektroskopische Messungen ermittelt. Durch den Abgleich des Spektrums mit Computermodellen der Sternentstehung und -entwicklung können Masse, Alter, Radius und Leuchtkraft des Sterns bestimmt werden. Darüber hinaus kann mit astronomischen Interferometern der Radius von Tau Ceti direkt und ziemlich genau gemessen werden. Es wird dabei eine lange Grundlinie genutzt, um sehr kleine Winkel (viel kleiner als bei herkömmlichen Teleskopen) auflösen zu können. Dadurch konnte der Radius von Tau Ceti zu 77,3 Prozent (± 0,02 %) des Sonnenradius bestimmt werden. Dies ist in etwa die Größe, die für einen Stern mit 0,75 Sonnenmassen zu erwarten ist. Rotation Die Rotationsdauer von Tau Ceti wurde durch periodische Veränderungen in den klassischen Absorptionslinien H und K des einfach ionisierten Calciums (Ca II) gemessen. Diese Linien werden durch die magnetische Aktivität an der Oberfläche beeinflusst, so dass die beobachtete Variationsperiode gleich der Zeitspanne ist, welche die aktiven Bereiche für eine volle Rotation um den Stern brauchen. Auf diese Weise wurde eine Rotationsdauer von 34 Tagen festgestellt. Die Rotationsgeschwindigkeit eines Sternes beeinflusst aufgrund des Dopplereffekts die Breite der Absorptionslinien im Lichtspektrum. So kann durch Messung der Linienbreite die in Richtung der Sichtlinie liegende Komponente der Rotationsgeschwindigkeit geschätzt werden. Sie beträgt für Tau Ceti: Die Geschwindigkeit am Äquator ist und gibt den (unbekannten) Neigungswinkel der Rotationsachse gegen die Sichtlinie an. Aus der Rotationsperiode und dem Radius von Tau Ceti ergibt sich die Äquatorgeschwindigkeit von 1 km/s, woraus der Inklinationswinkel von etwa 42° abgeschätzt werden kann. Für einen typischen G8-Stern beträgt die Rotationsgeschwindigkeit etwa 2,5 km/s. Der relativ geringe Wert weist darauf hin, dass Tau Ceti der Erde einen seiner Pole zuwendet. Die Breite der Absorptionslinien im Spektrum eines Sternes wird neben der Rotation auch durch die Druck-Verbreiterung (engl. pressure broadening) beeinflusst (siehe auch Spektrallinien). Die Strahlung, die von einem einzelnen Teilchen ausgesendet wird, kann durch die Gegenwart anderer Teilchen verändert werden (z. B. durch Stöße). Daher ist die Linienbreite des Lichtspektrums auch von dem Druck an der Oberfläche des Sterns abhängig. Der Druck wiederum hängt von der Temperatur und der Schwerkraft ab. Dieser Zusammenhang wurde verwendet, um die Schwerebeschleunigung an der Oberfläche von Tau Ceti zu bestimmen. Dieser Wert beträgt etwa g = 251 m/s2 und liegt damit sehr nahe bei dem entsprechenden Wert der Sonne (g = 272,7 m/s2). Metallizität Die chemische Zusammensetzung eines Sterns liefert wichtige Hinweise zu seiner Entwicklung, insbesondere den Zeitpunkt seiner Entstehung. Das interstellare Medium von Staub und Gas, aus dem sich Sterne bilden, besteht hauptsächlich aus Wasserstoff und Helium mit Spuren von schwereren Elementen. Während ständig neue Sterne entstehen und vergehen, reichern sie das interstellare Medium kontinuierlich mit schwereren Elementen an. Daher tendieren jüngere Sterne dazu, höhere Anteile an schwereren Elementen in ihren Atmosphären aufzuweisen als die älteren. Diese schwereren Elemente werden von den Astronomen „Metalle“ genannt und der Anteil der Metalle wird als Metallizität bezeichnet. Die Metallizität eines Sterns wird durch das Verhältnis von Eisen (Fe) zu Wasserstoff (H) angegeben. Der Logarithmus des relativen Eisengehalts wird mit dem der Sonne verglichen. Im Fall von Tau Ceti beträgt die atmosphärische Metallizität etwa Das entspricht etwa einem Drittel (10−0,52) des Anteils in der Sonne. Ältere Messungen hatten Werte zwischen −0,13 und −0,60 ergeben. Der niedrigere Anteil von Eisen weist darauf hin, dass Tau Ceti älter ist als die Sonne. Sein geschätztes Alter beträgt etwa 10 Mrd. Jahre. Das ist ein beträchtlicher Anteil am Alter des sichtbaren Universums. Zum Vergleich: Die Sonne ist nur 4,57 Mrd. Jahre alt. Leuchtkraft und Veränderlichkeit Da die Leuchtkraft von Tau Ceti etwa 52 Prozent der Sonne beträgt, liegt die habitable Zone ungefähr zwischen 0,6 und 0,9 Astronomischen Einheiten (AE). Ein Planet müsste Tau Ceti in einem Abstand von weniger als 0,7 AE umkreisen, um die gleiche Strahlung wie die Erde im Sonnensystem zu erhalten. Das liegt knapp unter der Durchschnittsentfernung der Venus zur Sonne. Die Chromosphäre – die Atmosphärenschicht unmittelbar über der lichtaussendenden Photosphäre – zeigt derzeit wenig bis gar keine magnetische Aktivität. Das weist auf einen stabilen Stern hin. Eine neunjährige Studie der Temperatur, der Granulation und der Chromosphäre zeigte keine systematischen Veränderungen. Emissionen in den H- und K-Linien des Ca II zeigten einen möglichen 11-Jahreszyklus. Dieser wäre verglichen mit dem der Sonne relativ schwach. Es wurde auch vermutet, dass der Stern sich in einem vorübergehenden Zustand niedriger Aktivität befindet, vergleichbar mit dem Maunder-Minimum, jener historischen sonnenfleckenarmen Periode, die mit der kleinen Eiszeit in Europa zusammenfiel. Staubscheibe Die ungewöhnlich starke Strahlung, die das Tau-Ceti-System im fernen Infrarotbereich des Spektrums aussendet, deutet bereits darauf hin, dass der Stern von einer Staubscheibe umgeben ist. Die Staubpartikel werden von der Strahlung des Sterns erwärmt und geben dadurch wiederum selbst Wärmestrahlung im ferninfraroten Spektralbereich ab. 2004 konnte ein Team britischer Astronomen, unter Leitung von Jane Greaves, auf hoch aufgelösten Ferninfrarotaufnahmen mit dem James-Clerk-Maxwell-Teleskop auf dem Mauna Kea (Hawaiʻi) in der Tat eine flache Wolke aus −210 °C warmem Staub erkennen. Da die Staubteilchen durch den Strahlungsdruck des Sterns und andere Mechanismen in relativ kurzer Zeit aus dem System entfernt werden, kann eine solche Staubscheibe nur über einen längeren Zeitraum erhalten bleiben, wenn sie ständig durch Kollisionen zwischen schwereren Körpern aufgefüllt wird. Es handelt sich angesichts des Alters von Tau Ceti bei diesem Staub somit um den „Abrieb“ bereits bestehender größerer Körper (engl. debris disc) und nicht um den kurz nach der Sternentstehung vorhandenen Staub, aus dem sich Planeten und andere Körper erst noch bilden. Die Scheibe bildet eine symmetrische Struktur um den Stern und weist einen äußeren Radius von 55 AE auf. Das Ausbleiben infraroter Strahlung aus wärmeren Bereichen der Scheibe nahe Tau Ceti deutet auf eine zentrale Lücke mit einem Radius von 10 AE hin. Im Vergleich dazu erstreckt sich der Kuipergürtel des Sonnensystems von 30 bis 50 AE außerhalb der Umlaufbahn Neptuns. Die Staubmenge in der Scheibe um Tau Ceti ist etwa zwölfmal so groß wie die des Kuipergürtels im Sonnensystem. Aufgrund dieses Anteils lässt sich folgern, dass sich in der Scheibe etwa 1,2 Erdmassen an größeren Objekten (> 10 km) befinden. Mit diesem Ergebnis wird die Hoffnung auf komplexes Leben im Tau-Ceti-System gedämpft, da Planeten dort 10-mal häufiger schwere Einschläge (Impakte) hinnehmen müssten als die Erde. Greaves bemerkte: „Es ist damit zu rechnen, dass [eventuelle Planeten] einem konstanten Bombardement durch Asteroiden ähnlich jenem ausgesetzt wären, das vermutlich die Dinosaurier ausgelöscht hat.“ Sollte allerdings ein Gasriese von der Größe Jupiters im System existieren, könnte er unter Umständen die Kometen und Asteroiden ablenken und so andere Planeten schützen. Tau Ceti zeigt, dass Sterne mit zunehmendem Alter ihre Staubscheiben nicht verlieren müssen. Somit sind sonnenähnliche Sterne mit einer dicken Staubscheibe wahrscheinlich nicht ungewöhnlich. Dennoch ist nach gängigen Modellen mit einem allmählichen Staubverlust zu rechnen. Die Staubdichte in der Scheibe um Tau Ceti (4,4 bis 12 Mrd. Jahre alt) beträgt in Übereinstimmung mit den Modellen nur noch 1/20 der Staubdichte, die in der Scheibe seines jüngeren Nachbarn Epsilon Eridani (0,73 Mrd. Jahre alt) vorhanden ist. Die Sonne, die ihrem Alter nach (4,5 Mrd. Jahre) zwischen den beiden liegt, besitzt jedoch zu wenig Staub, um sich in die Reihe der beiden anderen einzufügen. Das könnte bedeuten, dass die Sonne hier eine Ausnahme darstellt. Möglicherweise zog an der Sonne in ihren jungen Jahren ein anderer Stern knapp vorbei und entriss ihr dabei die meisten Kometen und Asteroiden. Sterne mit ausgeprägter Geröllscheibe haben die Vorstellungen der Astronomen von Planetenentstehung verändert. Sterne mit Geröllscheibe, in der Staub andauernd durch Kollisionen erzeugt wird, scheinen geeignet zu sein, Planeten zu bilden. Bewegung Tau Cetis Eigenbewegung (die quer zur Sichtlinie gerichtete Bewegungskomponente am Himmel) ist mit fast 2 Bogensekunden pro Jahr relativ hoch und damit bereits ein Indikator für einen relativ geringen Abstand zur Sonne. Wegen seiner Nähe kann die Entfernung des Sterns durch Messung seiner Parallaxe gut bestimmt werden – sie beträgt 274,18 ± 0,80 mas (milliarcsecond = ein Tausendstel einer Bogensekunde), das entspricht 11,9 Lichtjahren oder 3,65 Parsec. Damit liegt er an 23. Stelle in der Liste der nächsten Sterne. Die Radialgeschwindigkeit (die Geschwindigkeitskomponente in Richtung der Sichtlinie des Beobachters) lässt sich im Gegensatz zur Eigenbewegung nicht direkt beobachten; sie muss durch Untersuchung des Spektrums bestimmt werden. Entfernt sich der Stern, verschieben sich aufgrund des Dopplereffekts die Absorptionslinien des Sternspektrums in Richtung größerer Wellenlängen. Analog verschieben sich die Linien zu kürzeren Wellenlängen, falls sich der Stern nähert. Tau Cetis Radialgeschwindigkeit beträgt etwa −16 km/s. Das negative Vorzeichen besagt, dass sich der Stern der Sonne nähert. Der Stern wird in 43.000 Jahren mit 10,6 Lj seine größte Annäherung zur Sonne erreicht haben. Mit dem bekannten Abstand, der Eigenbewegung und der Radialgeschwindigkeit kann die Gesamtbewegung des Sterns errechnet werden. Es ergibt sich eine Raumgeschwindigkeit von 37 km/s relativ zur Sonne. Mit diesem Wert kann man die Umlaufbahn von Tau Ceti in der Milchstraße berechnen. Die Bahn hat eine für einen Stern der galaktischen Scheibe relativ hohe Exzentrizität von 0,22 und einen durchschnittlichen Abstand zum Zentrum der Galaxis von 32.000 Lj (9700 pc). Die derzeitige Entfernung von Tau Ceti zum galaktischen Zentrum entspricht der der Sonne, 25.900 Lj (7940 pc). Suche nach Planeten und Leben Ein Hauptfaktor, der das Interesse an der Erforschung Tau Cetis antreibt, sind seine sonnenähnlichen Eigenschaften und deren Bedeutung für mögliche Planeten und Leben. Diese Tatsache inspiriert seit Jahrzehnten die Science Fiction. Dass Tau Ceti ein Einzelstern ist, könnte einen Vorteil für die Planetenentstehung bedeuten, da die Planetenbildung nicht durch einen zweiten Stern gestört wird. Da der Stern schon so lange existiert, wäre für die Entstehung komplexen Lebens genug Zeit vorhanden gewesen. Suche nach Planeten Bereits 1988 ergab eine Auswertung von langjährigen Messreihen der Astrometrie und der Radialgeschwindigkeit keine direkten Hinweise auf einen großen Begleiter (Hot Jupiter) in einer engen Umlaufbahn, schloss aber nur die Existenz von Begleitern mit einer Masse größer als 4,2 Jupitermassen aus. Bisherige Messungen der Radialgeschwindigkeit erreichten Genauigkeiten von 11 m/s über eine Zeitspanne von 5 Jahren und konnten die Existenz von „Hot Jupiters“ ausschließen. Ebenso können Planeten mit mehr als einer Jupitermasse und Umlaufzeiten von weniger als 15 Jahren ausgeschlossen werden. Zusätzlich wurde 1999 eine Untersuchung von nahen Sternen durch die „Wide Field and Planetary Camera“ des Hubble Space Teleskops abgeschlossen, die auch die Suche nach schwachen Begleitern von Tau Ceti umfasste. Bis zur Detektionsgrenze des Teleskops konnte jedoch keiner gefunden werden. Das Fehlen von „Hot Jupiters“ innerhalb der Lebenszone ist möglicherweise eine wichtige Voraussetzung für die Existenz erdähnlicher Planeten, da „Hot Jupiters“ in einem sternnahen Orbit vermutlich keine stabilen Planetenbahnen zulassen würden. Auch der Nachweis der dicken Geröllscheibe erhöht die Wahrscheinlichkeit auf terrestrische Planeten. Andererseits haben statistische Untersuchungen ergeben, dass für Sterne mit geringerer Metallizität wie Tau Ceti die Wahrscheinlichkeit, Planeten zu besitzen, geringer ist. Im Dezember 2012 gaben Astronomen bekannt, dass Radialgeschwindigkeitsdaten von Tau Ceti das Vorhandensein von fünf Planeten in dynamisch-stabilen Orbits andeuteten: Die drei inneren entdeckten Planeten Tau Ceti b, Tau Ceti c und Tau Ceti d besitzen mindestens 2, 3,1 und 3,6 Erdmassen und haben Umlaufzeiten von 13,9, 35,3 und 94,1 Tagen. Zwei weitere Planeten, Tau Ceti e und Tau Ceti f, besitzen Massen von mindestens 3,9 Erdmassen und könnten potentiell lebensfreundlich sein, da sie sich durch ihre Umlaufzeiten von 162 und 642 Tagen am jeweils inneren bzw. äußeren Rand der habitablen Zone des Sterns befinden. 2017 wurden weitere Untersuchungen veröffentlicht, welche die Existenz der beiden Planeten Tau Ceti e und f bestätigten, jedoch keine klaren Anzeichen für die Existenz der drei inneren Planeten fanden. Dafür entdeckte man mit hoher Signifikanz zwei weitere Planeten, nämlich Tau Ceti g und h. Die beiden neu entdeckten Planeten besitzen mindestens 1,75 und 1,83 Erdmassen und umkreisen den Stern in jeweils 20 und 49,4 Tagen. 2020 wurden in einer weiteren Arbeit anhand Beobachtungen anderer Planetensysteme dynamische Vorhersagen möglicher weiterer Planeten im System getroffen. Hierbei wurden drei Planeten vorhergesagt, deren Umlaufbahnen mit den inneren Planetenkandidaten b, c und d übereinstimmen, so dass deren tatsächliche Existenz belegt würde. Zudem wurde ein weiterer Planet mit einer Umlaufzeit von 270 bis 470 Tagen vorhergesagt, was einer Planetenbahn in Tau Cetis habitabler Zone entspricht und im Falle der tatsächlichen Existenz des Planeten lebensfreundliche Temperaturen ermöglichen würde. Suche nach Leben Suche nach Indizien In Zukunft könnten Teleskope wie das im Bau befindliche European Extremely Large Telescope mit noch höherer Auflösung nach atmosphärischem Wasser und lebensfreundlichen Temperaturen Ausschau halten. Leben sollte sich durch eine atmosphärische Zusammensetzung bemerkbar machen, die für anorganische Prozesse untypisch ist. Beispielsweise kann der hohe Sauerstoffgehalt der Erdatmosphäre als Indikator für Leben angesehen werden. Suche nach intelligentem Leben Das bislang am meisten zielgerichtete Suchprojekt war das Projekt Ozma, das 1960 für die Suche nach außerirdischer Intelligenz („Search for Extraterrestrial Intelligence“: SETI) Tau Ceti und Epsilon Eridani auf künstliche Radiosignale abhorchte. Es wurde von dem Astronomen Frank Drake geleitet, der die beiden Sterne wegen ihrer Nähe und Sonnenähnlichkeit als Ziele auswählte. Es wurden trotz 200 Beobachtungsstunden keine künstlichen Signale gefunden. Auch nachfolgende Versuche, Signale von Tau Ceti aufzufangen, verliefen bis heute erfolglos. Diese fehlgeschlagenen Versuche haben jedoch die Anstrengungen nicht gedämpft, das Tau-Ceti-System weiter auf Biosignaturen zu untersuchen. 2002 erstellten die Astronominnen Margaret Turnbull und Jill Tarter unter der Schirmherrschaft von „Projekt Phoenix“ (einem SETI-Projekt) den „Catalog of Nearby Habitable Systems“ (HabCat). Diese Liste enthält mehr als 17.000 theoretisch bewohnbare Systeme, das sind etwa 10 Prozent der Sterne des zugrunde gelegten Hipparcos-Katalogs. Im darauffolgenden Jahr wählte Turnbull aus den 5000 Systemen, die der Katalog im Umkreis von 100 Lj. um die Sonne enthielt, die 30 meistversprechenden aus (unter anderem Tau Ceti). Diese Auswahl wird zur Arbeitsgrundlage für die Radio-Durchmusterungen mit dem Allen Telescope Array gehören. Turnbull wählte Tau Ceti auch in den Kreis der fünf geeignetsten Sterne, die mit dem Terrestrial Planet Finder untersucht werden sollten. Dieses Projekt wurde jedoch 2011 eingestellt. Tau Ceti in der Fiktion In dem Roman Der Astronaut von Andy Weir dient das Planetensystem um Tau Ceti als Haupthandlungsort. Der von der Erde ausgesandte Wissenschaftler Ryland Grace untersucht den Stern, da dieser als einziger der erdnahen Systeme nicht von den sogenannten Astrophagen befallen ist. Außerdem stellt er dort den Erstkontakt mit einem intelligenten außerirdischen Wesen her, das aus demselben Grund von 40 Eridani dorthin gereist ist. Siehe auch Liste der nächsten Sterne Weblinks http://stars.astro.illinois.edu/sow/taucet.html Anmerkungen Einzelnachweise Gelber Zwerg
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hesselberg
Hesselberg
Der Hesselberg () ist mit die höchste Erhebung Mittelfrankens. Er liegt 4 km nordwestlich von Wassertrüdingen und 60 km südwestlich von Nürnberg. Der Berg, der gelegentlich (fälschlich) als „höchster Berg der Frankenalb“ bezeichnet wird, liegt nördlich des Franken- und Schwabenalb trennenden Kraters des Nördlinger Ries im Vorland der Südlichen Frankenalb, Fränkisches Keuper-Lias-Land, innerhalb derer er eine inselartige Singularität darstellt. Die erste überlieferte Bezeichnung war Öselberg; ihre Bedeutung war vermutlich öder Berg. Aus diesem Namen entwickelte sich später Eselberg und schließlich die heutige Bezeichnung Hesselberg. Der Berg gibt als alter Zeugenberg einen aufschlussreichen Einblick in die Erdgeschichte der Jurazeit. Er ist zudem Zeuge einer wechselvollen Geschichte. Viele Begebenheiten wurden von Generation zu Generation überliefert und haben sich in sagenhaften Legenden mit den Tatsachen vermischt. Heute ist der Hesselberg vor allem ein Ausflugsziel, das bei sehr klarem Wetter einen Blick auf die über 150 km entfernten Alpen bietet. Lage, Form und Ausdehnung Der Hesselberg liegt zwischen den jeweils nur gut 1 km entfernten Dörfern Röckingen (Südosten), Gerolfingen (Süden), Wittelshofen (Südwesten), Ehingen (Norden) nebst Ortsteil Lentersheim (Nordosten), die alle zur Verwaltungsgemeinschaft Hesselberg im Landkreis Ansbach gehören. Über den Westteil des Kammes mit seinen höchsten Gipfel verläuft die Gemeindegrenze zwischen Ehingen und Gerolfingen, über den Ostkamm die zwischen Ehingen und Röckingen. Der Berg hat eine Länge von etwa 6 km in ungefährer West-Ost-Ausrichtung und ist durchschnittlich 1–2 km breit. Mit Ausnahme der Südseite sind die Hänge größtenteils mit Nadel- oder Mischwald bedeckt. Im oberen Bereich und vor allem am Osthang des Röckinger Berges befinden sich auch größere Flächen mit Laubwald. Die markante Südseite ist im oberen Teil weitgehend waldfrei. Im Süd- und Nordosthang befinden sich großflächige Magerrasen mit ihren typischen Wacholderbüschen. In seiner Längsachse lässt sich der Hesselberg in fünf Zonen einteilen (siehe Panoramabild): Im westlichen Anstiegsbereich überwiegt Nadelwald. Hier beginnt der geologische Lehr- und Wanderpfad. Die westliche Hochfläche, auch Gerolfinger Berg genannt, mit ihren dolinenartigen Vertiefungen, ihren vielen Hecken und Sträuchern und einigen Aussichtspunkten hat ein besonders ursprüngliches Aussehen. Die Vertiefungen sind nicht natürlich entstanden, sondern die Folge von ehemaligen Abgrabungen. Das hier gewonnene Material wurde zum Wegebau und zum Kalkbrennen verwendet. Der Mittelteil, auch Ehinger Berg genannt, mit dem Hauptgipfel und dem Fernsehturm ist seit 1994 wieder größtenteils zugänglich; zuvor war hier ein militärisch abgesperrter Bereich der US-amerikanischen Streitkräfte. Touristisch am bedeutendsten ist die als Osterwiese oder Röckinger Berg bezeichnete, waldfreie, östliche Hochfläche. Dieser Abschnitt dient als Startplatz für Modellflugzeuge und Drachenflieger und als Aussichtsplattform zum Wandern und Flanieren. An besonders klaren Tagen können sogar die Alpen mit der Zugspitze erkannt werden. Der sagenumwobene, östlichste Ausläufer des Hesselbergs ist stark bewaldet und trägt die Bezeichnung Schlössleinsbuck. Diese kleine Bergkuppe wird auch als der „Kleine Hesselberg“ bezeichnet. Der Röckinger Berg und der Schlössleinsbuck werden durch das Druidental getrennt. Geotope Der Hesselberg ist vom Bayerischen Landesamt für Umwelt (LfU) im Rahmen einer Feierstunde am 24. September 2005 durch Regierungsdirektor Georg Schlapp als eines von Bayerns schönste Geotopen ausgezeichnet worden. Es befinden sich zusätzlich zwei Einzelgeotope auf dem Hesselberg. Der ehemalige Steinbruch auf dem Hesselberg (Geotop-Nummer: 571A001) und der Doggeraufschluss am Hesselberg (Geotop-Nummer: 571A018) sind als geowissenschaftlich wertvolle Geotope ausgewiesen. Entstehungsgeschichte und geologischer Aufbau Die Entstehung in der Jurazeit Vor 200 Millionen Jahren erstreckte sich das Jurameer vom Nordseebecken bis weit in den Süden und bedeckte das alte Keuperland. Die Hesselbergregion befand sich zu dieser Zeit am Rande dieses Meeres. Zahlreiche Zuflüsse brachten vom östlich gelegenen Festland riesige Geröllmassen heran und formten am Meeresboden eine an Tieren und Pflanzen reiche vielschichtige Landschaft. Nacheinander lagerten sich im Laufe von über 40 Millionen Jahren die verschiedenen Schichten des Juragesteins ab: unten die des Schwarzen Jura (Lias), darüber die des Braunen Jura (Dogger) und als oberer Abschluss die des Weißen Jura (oberer Jura oder Malm). Jede dieser Schichtstufen kennzeichnet durch das typische Gestein und die darin enthaltenen, ebenso artspezifischen Fossilien ihre eigene Zeitepoche. Da manche Fossilien nur in bestimmten Gesteinsschichten vorkommen, spricht man von Leitfossilien. Im Juragestein sind die Leitfossilien fast ausschließlich Ammoniten. Im Laufe der Erdgeschichte verlandete das Jurameer vollständig. In weiteren Jahrmillionen wurden durch Erosion ganze Gesteinsschichten abgetragen. Die schützende Mulde des Schwarzjuras, in der sich der Hesselberg befindet, ist der Grund, weshalb der Hesselberg durch Wind und Wasser nicht so stark angegriffen werden konnte wie die Ebene zwischen dem Berg und dem Hahnenkamm. Das harte Gestein konnte widerstehen und ließ den Hesselberg als markanten Zeugenberg übrig, der heute wie eine Insel aus der Landschaft ragt. Diese Art der Entstehung eines Berges wird in der Geologie als Reliefumkehr bezeichnet. Die Gesteinsschichten des Berges Die Informationstafeln des Geologischen Lehrpfades erklären dem Wanderer die Entstehungsgeschichte auf eine sehr anschauliche Art. Die drei Hauptstufen des Jura (Lias, Dogger, Malm) werden in der Geologie jeweils in sechs Unterstufen eingeteilt und mit den griechischen Buchstaben alpha bis zeta bezeichnet (Quenstedtsche Gliederung). Die in den Schichtstufen vorhandenen Gesteine werden diesen Bezeichnungen zugeordnet. Die Schichten des Schwarzen Jura (Lias) Die dunklen Farben aus Tonen und Mergeln geben dem Schwarzen Jura seinen Namen. Diese circa 50 m mächtige Schichtstufe bildet die fruchtbare hügelige Umgebung des Berges. Seine untersten Schichten (Lias alpha bis gamma) befinden sich unter der Erdoberfläche. Der „Amaltheenton“ (heute Amaltheenton-Formation, Lias delta) bildet mit einer Mächtigkeit von 35 m die höchste Unterstufe des Lias. Eine Besonderheit ist die 10 m mächtige Posidonienschiefer-Formation (Lias epsilon). In ihm befinden sich auch Fossilien von größeren Tieren, so wurden zum Beispiel Fischsaurier in dieser Schicht gefunden. Die Posidonienschiefergrube am Beginn des Lehrpfads ist im weiten Umkreis einzigartig und als geologisches Naturdenkmal ausgewiesen. Das Suchen und Sammeln von Versteinerungen ist deshalb verboten. Über diese gut erkennbaren Schieferschichtungen schließt sich die etwa 2,7 m mächtige Jurensismergel-Formation (Lias zeta) an. Die Schichten des Braunen Jura (Dogger) Die tiefbraunen Verwitterungsfarben der höheren Schichten geben dem Braunen Jura seinen Namen. Ursache ist der höhere Eisengehalt. Insgesamt bildet die 135 m mächtige Schicht des Dogger den Hauptanstieg der Hesselberghänge. Die unterste Schicht ist der 75 m mächtige „Opalinuston“ (heute Opalinuston-Formation) (Dogger alpha). Die Unebenheiten der Wiesen sind die Folge von Hangabrutschungen; die Böden dieses Bereichs sind sehr rutschgefährdet. Über dem Opalinuston folgt die 40 m mächtige Schicht des „Eisensandstein“ beziehungsweise der Eisensandstein-Formation (Dogger beta). Diese Schicht ist wegen ihres steilen Anstiegs besonders markant. Da der Opalinuston wasserundurchlässig ist, hat sich am Übergang zum Eisensandstein ein Quellhorizont gebildet. Die Schichten des Dogger gamma (Wedelsandstein-Formation mit Sowerbyi-Bank an der Basis), des Dogger delta („Ostreenkalk“ beziehungsweise Ostreenkalk-Formation) (4 m) und des Dogger epsilon (Sengenthal-Formation) (2 m) sind reich an Versteinerungen. Den Abschluss des Doggers bildet der nur 2 m mächtige „Ornatenton“ (jetzt Ornatenton-Formation) (Dogger zeta). Diese geringmächtige Schicht bildet eine Terrasse um den Hesselberg. Auf ihrer Südseite wurden die Häuser der Volkshochschule erbaut. Die Schichten des Weißen Jura (Malm) Diese oberste Juraschicht ist nach ihrer hellen Farbe benannt. In der Fränkischen Alb können diese Schichten bis zu 400 m hoch werden. Am Hesselberg sind sie jedoch zum größten Teil bereits abgetragen, so dass nur noch 85 m erhalten sind. Die Malm-Gesteine sind zum Teil Meeressedimente, teils Riffe ehemaliger Meeresschwämme. Am Hauptgipfel ist das aus den Schwammriffen entstandene Felsgestein stark verbreitet. Der helle Kalkstein des Weißen Jura war schon immer ein beliebtes Baumaterial für den Hausbau (Branntkalk) und den Straßenbau (Schotter). Die im Bereich der westlichen Hochfläche entstandenen Vertiefungen sind die Folge von Materialabgrabungen. Die untersten Schichten bilden die als Malm alpha zusammengefassten, etwa 25 m hohen Impressaschichten (tiefer Malm alpha) und die Bimammatumkalke (hoher Malm alpha). Der alte Name der Planulakalke (Malm beta) ist Werkkalk, was wiederum auf die Verwendung als Baumaterial hinweist. Diese etwa 15 m hohe, stark von Schwammriffen durchsetzte Schicht baut die Hochfläche der Osterwiese auf. Der kleine Steinbruch unterhalb des Hauptgipfels besteht in seinem unteren Bereich aus Planulakalken und in seinem oberen Bereich zeigt er die Ataxioceratenschicht (Malm gamma). Der Hauptgipfel wird durch diese bis 20 m mächtige Schicht aufgebaut. Die obere Schicht des Malm gamma und die Schichten des Malm delta bis Malm zeta sind auf dem Hesselberg bereits abgetragen. Besiedlungsgeschichte und wichtige Ereignisse im Hesselbergraum Auf einigen Parkplätzen im Bereich der Fremdenverkehrsregion Hesselberg stellten die zuständigen Gemeinden Schautafeln auf, die einen guten Einblick in die Besiedlungsgeschichte dieser Region vermitteln. Vor- und Frühgeschichte Bereits in vorgeschichtlichen Zeiten suchten erste Siedler den Hesselberg als Flucht- und Wohnstätte auf. Archäologische Funde aus der Steinzeit (etwa 10.000 bis 2000 v. Chr.) wurden vor allem im Bereich der Osterwiese gemacht. In der Bronzezeit (ca. 2000 bis 1300 v. Chr.) setzte eine kontinuierliche Besiedlung des Bergs ein. In der Urnenfelderzeit (etwa 1200 bis 750 v. Chr.), wurde die Siedlung auf den Hochflächen mit Ringmauern, Gräben und Wallanlagen umgeben. Noch heute lassen die Reste der 5 km langen Randwälle um die Osterwiese, den Ehinger und den Gerolfinger Berg die einstige Bedeutung dieser Befestigungsanlage erahnen. Hinter dem schützenden Mauerwerk entwickelte sich ein bedeutendes politisches, wirtschaftliches und religiöses Stammeszentrum. Lange Zeit wurden diese Anlagen den Kelten zugeordnet. Aber nur ein Einzelfund (Waffenausstattung eines Kriegers) aus der Latènezeit (500 bis 15 v. Chr.) weist auf einen kurzen Besuch durch die Kelten hin. In den unruhigen Zeiten der Völkerwanderung und bis ins Mittelalter nutzten die Menschen die alten Wallanlagen des Hesselbergs als Zufluchtsort und zur Verteidigung. Im Stadtmuseum in Oettingen und im Museum für Vor- und Frühgeschichte in Gunzenhausen sind zahlreiche Exponate in Form von Werkzeugen und Waffen zu besichtigen. Die Römer Unter den Kaisern Domitian (81–96 n. Chr.) und Hadrian (117–138) verlegten die Römer die Grenze ihrer Provinz Rätien weiter nach Norden. Den Grenzwall Limes bauten sie zum Schutz vor den Germanen weiter aus und bestückten ihn mit zahlreichen Wehr- und Wachtürmen. In unmittelbarer Nähe des Hesselberges wurden große Kastelle errichtet. Unter Kaiser Caracalla (um 213 n. Chr.) erfolgte der letzte und stärkste Ausbau des rätischen Limes. Der Grenzwall überquerte im Westen des Berges die Flüsse Wörnitz und Sulzach in nordsüdlicher Richtung. Einige Kilometer nördlich von Wittelshofen machte er einen Knick nach Osten. Durch diesen Knick wurde der strategisch wichtige Hesselberg in das Römische Reich einbezogen. Bei Aufkirchen, Ruffenhofen, Dambach und Unterschwaningen befanden sich Kastelle (Siehe dazu Kastell Unterschwaningen). Das Kastell Ruffenhofen war das größte im Hesselbergraum. Auf dem Berg selbst konnten die Archäologen keine römischen Bauten nachweisen. Reste des Limes sind als Steinrücken noch versteckt in Wäldern zu finden. Die meisten zivilen und militärischen Mauerreste sind heute im Boden der Wiesen und Felder verborgen. Über dem Kastell Ruffenhofen wird derzeit ein Römerpark angelegt. Im Heimatmuseum in Weiltingen sind einige römische Fundstücke zu sehen. Die Alamannen und Franken Um 260 n. Chr. brachen alamannisch-elbgermanische Verbände in die Region ein und zerstörten die Wehrbauten des Limes, Kastelle und Wohnsiedlungen. Die Römer mussten den Grenzverlauf ihres Reiches wieder an die Donau zurückverlegen. Die Alamannen gründeten die ersten Gehöftgruppen und bewirtschafteten das Land als Bauern und Viehzüchter. Die ausgeprägte Langstreifengewannflur ist neben den Ortsnamen mit der Endung -ingen ein sicherer Hinweis auf eine alamannische Gründung. Die Dörfer Röckingen, Ehingen, Gerolfingen, Weiltingen und Irsingen haben ihren Ursprung in dieser Zeit. Gegen Ende des 5. Jahrhunderts kamen aus dem unteren Maintal die Franken und leiteten die zweite Siedlungsbewegung ein. Unter dem Merowingerkönig Chlodwig I. besiegten sie 496 bis 506 die Schwaben/Alamannen, welche ihre vormals bis ins Neuwieder Becken reichenden nördlichen Territorien verloren und hinter die Linie Oos–Hornisgrinde–Asperg–Hesselberg zurückgedrängt wurden; bis heute entspricht diese Linie fast exakt der Dialektgrenze zwischen Ostfränkisch und Schwäbisch/Alemannisch. Obwohl die Franken teils mit großer Gewalt gegen die Alamannen vorgingen, entwickelten sich im Hesselbergraum auch Mischsiedlungen (zum Beispiel Ehingen und Röckingen), in denen allerdings immer ein Franke Dorfvorsteher war. Die Franken gründeten unter anderem die Dörfer Lentersheim, Obermögersheim, Geilsheim, Frankenhofen und Königshofen. Die fränkischen Bauern führten die Dreifelderwirtschaft mit dem Flurzwang ein, die bis zur neuzeitlichen Flurbereinigung praktiziert wurde. Im 7. Jahrhundert setzte unter dem Merowingerkönig Dagobert I. von Augsburg aus die Christianisierung ein. Angelsächsische Missionare gründeten im 8. Jahrhundert unter den fränkischen Karolingern das Hahnenkammkloster Heidenheim. Das Mittelalter Im frühen Mittelalter gehörte die Hesselberggegend zu den Forstbereichen der Könige. Spärliche Reste von mittelalterlichen Burganlagen findet man auf dem Ehinger Berg und dem Schlössleinsbuck. Die Anlage auf dem Ehinger Berg geht auf die karolingisch-ottonische Zeit zurück (8.–9. Jahrhundert). Gräberfunde weisen auf ein gewaltsames Ende im 10. Jahrhundert durch ungarische Soldaten hin. Dabei brannten die Ungarn die gesamte Burg ab. Die Anlage auf dem Schlössleinsbuck wurde im 9. Jahrhundert ursprünglich als Fliehburg errichtet. Die Herren von Lentersheim bauten sie im 11. oder 12. Jahrhundert zu einer wehrhaften Ritterburg aus. Im Familienstammbuch der Herren von Lentersheim ist über den Untergang der Burg Folgendes nachzulesen: Als Conrad von Lentersheim 1246 von den Feldzügen Kaiser Friedrichs II. aus Norditalien zurückkehrte, war seine Burg völlig zerstört. Daraufhin hat er begonnen, in Neuenmuhr eine völlig neue Burg zu bauen. Tatsächlich zogen 1239 auch Soldaten aus dem Hesselbergraum an der Seite des hier erwähnten Stauferkaisers Friedrich II. in den Kampf gegen Papst Gregor IX. nach Italien. Die Herren von Lentersheim lebten bis zu ihrem Aussterben zu Beginn des 19. Jahrhunderts in ihren Schlössern in Alten- und Neuenmuhr, dem heutigen Muhr am See. Danach endete die direkte Besiedlung des Hesselbergs. Der im Mittelalter befestigte Ort Aufkirchen hatte eine Stadtmauer und vier Stadttore. Aufkirchen besaß damals Stadtrecht. Die Burggrafen- und Markgrafenzeit Der Ursprung der Burggrafenzeit geht im mittelfränkischen Raum auf das Hochmittelalter zurück, als der staufische Kaiser Heinrich VI. den aus dem Schwäbischen stammenden Zollern Friedrich III. im Jahre 1192 mit dem vererbbaren Reichslehen des Nürnberger Burggrafenamtes belehnte. Dieser begründete als Burggraf Friedrich I. von Nürnberg die fränkische Linie des Hauses Hohenzollern. Durch die spätere Heirats- und Tauschpolitik gewannen die fränkischen Zollern im Hesselbergraum immer mehr Besitzungen und Einflüsse. 1331 verlegten die Burggrafen ihren Sitz nach Ansbach. 1363 wurden sie in den Reichsfürstenstand erhoben und 1417 mit der Markgrafschaft Brandenburg belehnt. Am 6. Mai 1525 brach auch im südlichen Franken der Bauernkrieg aus. Als führender Kopf der lokalen Erhebung rief der Schmalzmüller (die Schmalzmühle liegt zwischen Röckingen und Reichenbach am Fuß des Hesselbergs) Thomas Wiedemann die hiesigen Bauern zum Aufstand gegen die Obrigkeit auf. Der Schmalzmüller war zu dieser Zeit Freibauer, verlor aber all seine Rechte nach der Niederlage der Bauern. An diesem Tag trafen sich die aufständischen Bauern auf dem Gipfel des Hesselberges. Von dort zogen sie nach Wassertrüdingen und nahmen den markgräflichen Vogt der Stadt gefangen. Danach plünderten sie das Kloster Auhausen. Auf dem Weg nach Heidenheim wurden sie von markgräflichen Soldaten aus Gunzenhausen gefangen genommen oder getötet. Im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) wurden weite Bereiche des heutigen Mittelfranken größtenteils verwüstet und entvölkert. Erst Ende des 17. Jahrhunderts verbesserte sich unter den Markgrafen die wirtschaftliche und finanzielle Situation. Sie bürgerten österreichische und französische Glaubensflüchtlinge ein und unterstützten jüdische Händler bei der Existenzgründung, sodass sich auch in den Dörfern rund um den Hesselberg viele Juden niederließen. Die aufwändige Hofhaltung der Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach und ständige Streitereien mit der Reichsstadt Nürnberg führten zur hohen Verschuldung des Fürstentums (bei der Amtsübernahme des letzten Markgrafen betrugen die Schulden fünf Millionen Gulden; bei seiner Abdankung 30 Jahre später lag der Schuldenstand nur noch bei 1,5 Millionen Gulden). Zudem betrieben die Markgrafen eine merkantilistische Wirtschaftspolitik und bauten das landwirtschaftliche Bildungswesen aus. Der letzte Markgraf Alexander trat sein Fürstentum 1791 gegen eine jährliche Leibrente an das Königreich Preußen ab. Das 19. Jahrhundert Ein in der Geschichte des Berges wichtiges Datum war der 10. Juni 1803, als der preußische König Friedrich Wilhelm III. im Rahmen eines Besuchs seiner fränkischen Ländereien den Hesselberg erstieg. Der König stiftete zum Andenken die Hesselbergmesse. 1806 kam die Hesselbergregion im Zuge eines Ländertausches zwischen den Königreichen Bayern und Preußen an Bayern: Bayern erwarb das preußische Fürstentum Ansbach mit dem Hesselberg – Preußen wurde im Gegenzug mit dem bis dato wittelsbachischen Herzogtum Berg (Hauptstadt Düsseldorf) am Niederrhein entschädigt (bayerisch-preußischer Vertrag von Paris, 15. Februar 1806). 1808 begründete die erste Gemeindeordnung die gemeindliche Selbstverwaltung. Das zweite bayerische Gemeindeedikt von 1818 erweiterte die kommunale Selbstverwaltung. Viele kleine Dörfer bekamen dadurch ihre eigene Verwaltung und den Status einer Gemeinde im Rechtssinne als juristische Personen. Die Frankentage Julius Streichers In der NS-Zeit machte der fränkische Gauleiter Julius Streicher den Hesselberg zum politischen Versammlungsort der Nationalsozialisten. Aus Parteikundgebungen, bei denen 1930 auch Adolf Hitler anwesend war, entwickelten sich nach der Machtübernahme der NSDAP im Jahre 1933 die jährlich bis 1939 abgehaltenen Frankentage. Diese waren neben den Nürnberger Reichsparteitagen die größten NS-Kundgebungen in Franken. Bis zu 100.000 Besucher hörten auf der Osterwiese die antisemitischen Reden Streichers. Zweimal besuchte Hermann Göring die Frankentage als Redner. Die Frankentage dienten der allgemeinen Mobilisierung für die Ziele des Nationalsozialismus sowie der Befriedigung persönlichen Machtstrebens des „Frankenführers“ Julius Streicher aus Nürnberg. Die Frankentage hatten pseudoreligiösen, neuheidnischen Charakter und der Hesselberg wurde „Heiliger Berg der Franken“ genannt. Die besondere Mischung aus Volksfest, politischer Indoktrination und religiösem Erleben machten die Frankentage auf dem Hesselberg nach 1933 zu einem zentralen Datum im Feierkalender der Nationalsozialisten. Eine Veranstaltung dieser Art, in der sich der Gauleiter als Führergestalt bejubeln ließ und die gleichzeitig ein rassisch motiviertes Überlegenheitsgefühl der Gaubevölkerung befeuerte, war im Deutschen Reich eine einmalige Angelegenheit. Zeugnisse aus dieser Zeit sind auf dem Hesselberg heute nicht mehr zu finden. Die hochfliegenden Pläne der NS-Parteiführung wurden nie verwirklicht, der Bau der Adolf-Hitler-Schule ebenso wenig wie die Errichtung eines Julius-Streicher-Mausoleums. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs konnten die Nationalsozialisten nur ein Verwaltungsgebäude mit Garage fertigstellen. Diese Garage wurde später von den auf dem Berg untergebrachten Flüchtlingen als Kapelle genutzt. Während der Reichspogromnacht 1938 wurden auch in den Städten und Dörfern um den Hesselberg Synagogen zerstört. In den folgenden Jahren wurde die jüdische Bevölkerung, die bereits im 14. Jahrhundert urkundlich erwähnt wurde und deren Angehörige teilweise als Geschäftsleute und Gelehrte zu hohen Ehren im Hesselbergraum gelangt waren, in Konzentrationslager deportiert und dort ermordet. Nach 1945 Seit 1951 ist der Hesselberg in kirchlichen Händen. Es ist das Gründungsjahr der Evangelischen Landvolkshochschule und das Jahr der ersten Veranstaltung des Bayerischen Evangelischen Kirchentags. Zwischen 1945 und 1992 diente der Bereich um den Hauptgipfel den amerikanischen Streitkräften als Radarstation. 1972 wurde im Rahmen der Kreisreform der Landkreis Dinkelsbühl, zu dem auch die Hesselberggemeinden gehörten, aufgelöst und in den Landkreis Ansbach integriert. In der späteren Gemeindereform wurden viele ehemals selbstständige kleine Gemeinden zu den heutigen Gemeinden oder Verwaltungsgemeinschaften zusammengefasst. Die Hesselbergregion heute Einrichtungen und Veranstaltungen auf dem Hesselberg Die Evangelisch-Lutherische Volkshochschule Hesselberg wurde als erste Volkshochschule in Bayern am 14. Mai 1951 gegründet. Ihre zentrale Aufgabe ist die Erwachsenenbildung für die ländliche Diakonie (Familienpflegerin, Dorfhelferin, Betriebshelfer). Am 15. September 2005 erfolgte die Umbenennung in Evangelisches Bildungszentrum Hesselberg (EBZ Hesselberg). Der Hintergrund ist eine Erweiterung des Bildungsangebots mit den Schwerpunkten „Glauben, Ländlicher Raum und Persönlichkeitsentwicklung“, so Pfarrer Bernd Reuther, Vorsitzender des neuen Bildungszentrums. Weiterhin sollen vermehrt Gastgruppen mit eigenen Bildungsprogrammen angesprochen werden. Das evangelisch-lutherische Dekanat Ansbach hat das alte Hesselberghaus in der Nähe des Gipfels zu einem beliebten Freizeitheim für die Jugend ausgebaut. Wichtigstes Ereignis ist der weit über die regionalen Grenzen hinaus bekannte Bayerische Evangelische Kirchentag. Jedes Jahr an Pfingstmontag treffen sich Tausende von Christen zu diesem Fest auf dem Berg. Seit 1803 findet traditionell jeden ersten Sonntag im Juli die Hesselbergmesse auf der Osterwiese statt; damals besuchten der Preußenkönig Friedrich Wilhelm und seine Gemahlin Luise den Berg. Sendestation auf dem Hesselberg Der weithin sichtbare 119 m hohe Fernsehturm ist ein Grundnetzsender für das bayerische DVB-T-Sendernetz. Das Sendegebiet umfasst die Region westliches Mittelfranken und nördliches Schwaben. Der bei gelegene Sendeturm ist von ungewöhnlicher Bauweise: Er ist als Hybridturm ausgeführt und besteht aus einem freistehenden Stahlfachwerkturm als Unterbau und einem abgespannten Sendemast als Oberteil. Von ihm aus wird auch das Programm Radio 8 auf UKW ausgestrahlt. Die vier Gemeinden rund um den Berg Die Grenzen von vier Gemeinden verlaufen über den Hesselberg. Eine Besonderheit ist, dass die Hauptorte dieser Gemeinden direkt am Fuße des Berges liegen, während die übrigen Gemeindeteile fast sternförmig von diesen Zentren ausstrahlen. Im Norden liegt die Gemeinde Ehingen (ca. 2100 Einwohner/4700 ha). Ein Wanderweg führt durch Obstwiesen und durch den bewaldeten Nordhang hinauf zum Gipfel. Informationstafeln informieren über die Imkerei. Östlich des Berges ist die kleine Gemeinde Röckingen (ca. 800 Einwohner/1091 ha) zu finden. Der Wanderweg zur Osterwiese führt im letzten Teilbereich durch eine malerische, schattige Lindenallee. Am Südhang liegt Gerolfingen (ca. 1.100 Einwohner/1.300 ha) mit einer Fahrstraße zu den Parkplätzen auf dem Hesselberg. Von Gerolfingen führt ein Wanderweg durch alte Streuobstwiesen und eine schöne Kastanienallee, deren alter Teil im Herbst 2004 mit einer Neupflanzung von Kastanien ergänzt wurde, auf den Berg. Zu Gerolfingen gehört das Dorf Aufkirchen mit dem historischen Rathaus und der weithin sichtbaren St. Johanniskirche. Im Westen befindet sich Wittelshofen (ca. 1.300 Einwohner/2.422 ha), am Zusammenfluss von Wörnitz und Sulzach. Der Ort ist Ausgangspunkt des Geologischen Lehrpfads. Zusammen mit der Gemeinde Unterschwaningen bilden diese vier Gemeinden die Verwaltungsgemeinschaft Hesselberg. Erholungsregion Hesselberg Die Hesselberggemeinden Ehingen, Gerolfingen, Röckingen und Wittelshofen haben sich mit den Gemeinden Dürrwangen, Langfurth, Mönchsroth, Unterschwaningen, Wassertrüdingen, Weiltingen, und Wilburgstetten am 31. Januar 1973 zum Fremdenverkehrsverband Hesselberg e. V. zusammengeschlossen. Dürrwangen hat den Verband inzwischen wieder verlassen. Anlässlich des 30-jährigen Bestehens wurde der Fremdenverkehrsverband 2003 in Touristikverband Hesselberg e. V. umbenannt. Derzeitige Mitglieder sind die Gemeinden Ehingen, Gerolfingen, Röckingen, Weiltingen und Wittelshofen. Seinen Hauptsitz hat er in Gerolfingen-Aufkirchen. Die Bezeichnung Erholungsregion Hesselberg bezieht sich auf das Gebiet dieser Mitgliedsgemeinden. Die Deutsche Limesstraße führt von West nach Ost durch die Region. Die Entwicklungsgesellschaft Region Hesselberg mbH (auch ERH abgekürzt) wurde am 5. Oktober 1999 gegründet. Sie ist ein Zusammenschluss von insgesamt 25 Gemeinden (von Auhausen im Süden bis Leutershausen im Norden), der weit über die regionalen Grenzen des Hesselbergraums hinausgeht (Stand: 11/2020). Die ERH setzt sich für die Stärkung der Region Hesselberg in unterschiedlichen Bereichen der ländlichen Entwicklung ein (z. B. Wirtschaft, Kultur, Tourismus) und greift hierfür auch auf Förderprogramme, etwa das EU-Förderprogramm LEADER oder das bayerische Förderprogramm Regionalmanagement, zu. Die Geschäftsstelle befindet sich im Schloss in Unterschwaningen. Der große Bestand an Streuobstwiesen führte im Jahr 2004 zum Zusammenschluss von insgesamt 29 Kommunen rund um den Hesselberg zur Interessengemeinschaft Moststraße. Ziel war die bessere Vermarktung der aus dem Obst resultierenden Produkte. Auf und um den Hesselberg verlaufen zahlreiche Wanderwege. Die beiden wichtigsten informieren den Wanderer mit Hilfe zahlreicher Thementafeln. Der 3 km lange geologische Lehrpfad führt vom Ausgangspunkt bei Wittelshofen auf den Gipfel des Berges. Er informiert über die erdgeschichtliche Entstehung des Berges und dessen geologischen Aufbau. Der Hesselberg-Pfad ist ein Rundweg auf den Hesselberghöhen und gibt Auskunft über allgemein Wissenswertes vom Hesselberg. Beide Wanderwege sind sehr gut miteinander kombinierbar. Die Osterwiese ist Treffpunkt von Modellfliegern. Dort befinden sich auch die Startplätze der Drachenflieger und Paraglider. Im nahen Irsingen ist der regionale Segelflugplatz. Das wettkampfmäßige Tontaubenschießen wurde wegen der Bleibelastung der Umwelt verboten. Der Touristikverband Hesselberg, der Bund Naturschutz in Bayern (Kreisgruppe Ansbach) und der Landesbund für Vogelschutz in Bayern (Kreisgruppe Ansbach) veranstalten geführte Exkursionen und Wanderungen. Am Fuße des Berges können Angler an Wörnitz und Sulzach ihr Hobby ausüben(jedoch nur, wenn sie einen Angelverein angehören; keine Tageskartenausgabe). Für den Wintersport hat der Deutsche Alpenverein (Sektion Hesselberg mit Sitz in Bechhofen) am Nordhang eine kleine Schutzhütte mit Liftbetrieb errichtet. Am 16. April 1985 hat der Landkreis Ansbach zum Schutz des Hesselbergs eine entsprechende Landschaftsschutzgebietsverordnung erlassen. Ausflugsziele Die alten Städte Nördlingen, Dinkelsbühl, Feuchtwangen, Rothenburg, Ansbach und Gunzenhausen Das Fränkische Seenland Der Hahnenkamm Der Naturpark Altmühltal Der Römerpark Ruffenhofen Landschaftspflege am Hesselberg Zum Erhalt der offenen Halbtrocken- und Trockenrasenflächen ist die Beweidung der Wiesenflächen mit Schafen (Hutungsflächen) unerlässlich. Jedoch dringt an vielen Stellen des Berges trotz Hüteschafhaltung durch zwei Schafbetriebe die Verbuschung mit Schlehen (Schwarzdorn), Rosen, Wacholder und Esche stark voran. Daher werden wichtige Entbuschungs- und Pflegearbeiten im Rahmen alljährlich stattfindender Bürgeraktionen durchgeführt, in Form von vier Stunden gemeinsamer Arbeit. Im Schnitt sind dabei in Ehingen jeweils 40 Personen ehrenamtlich aktiv. Dem Beispiel folgen seit 2001 auch die Hesselberggemeinden Röckingen und Gerolfingen. Flora und Fauna Der Hesselberg hat durch seine vielschichtige Beschaffenheit in Bezug auf Gestein, Boden, Klima und Bewirtschaftung eine sehr vielseitige Vegetation mit teils eigenwilligen Pflanzengesellschaften hervorgebracht. Die Vegetation der Magerrasen Eine wichtige Aufgabe der Landschaftspflege ist die Erhaltung der trockenen, waldfreien Magerwiesen und Trockenrasenhänge. Botaniker bezeichnen diese Vegetationsart als Magerrasen. Der Boden ist hier mit schütterem dürrem Gras bedeckt. Typisch sind die unregelmäßig verstreuten Wacholderbüsche. Weit über 40 Arten von Blütenpflanzen wachsen auf diesem nährstoffarmen, ungedüngten Boden. Häufig sind verschiedene kleine Enziane zu finden: Deutscher Kranzenzian, Frühlings-Enzian und Gewöhnlicher Fransenenzian. Im Spätsommer zeigt sich die Silberdistel. Von April bis Juni fliegen die kleinen Aurorafalter über die sonnigen Hänge. Eine der wichtigsten Maßnahmen zur Erhaltung der Magerrasen ist die traditionelle Huteschäferei. Die Beweidung durch Schafe ist Grundvoraussetzung für die langfristige Erhaltung der Magerrasen. Würde die Beweidung teilweise oder ganz ausbleiben, würden zunächst vermehrt dornen- und nadelbewehrte Sträucher wachsen, da diese von den Schafen gemieden werden. Das ist auch der Grund, weshalb viele Wacholderbüsche vorhanden sind. Im Schutze der Dornensträucher und -hecken könnten sich auch andere Gehölze und die ersten Bäume entwickeln. Im Endstadium würde der Berg weitgehend mit Wald zuwachsen. Die gesunden Kräuter und Gräser des Magerrasens wirken sich wiederum vorteilhaft auf die Qualität des Schaffleisches aus. Die Gastronomie der Hesselbergregion bietet deshalb immer mehr Gerichte vom Hesselberglamm an. Wiesen, Hecken und Quellen Geradezu das Gegenteil der nährstoffarmen Magerrasen bilden die fruchtbaren Wiesen und Felder der Schwarzjuraböden im Umland des Hesselbergs. Diese Region wird traditionell landwirtschaftlich genutzt. Auf den Äckern werden Weizen, Roggen, Hafer, Rüben und Futtermais angebaut. Auf den Höfen werden Schweine und Rinder gezüchtet und die Milchwirtschaft betrieben. In den unteren und mittleren Bereichen der Hänge bieten alte ungedüngte Streuobstwiesen noch die bunte Farbenpracht der verschiedenen Wiesenblumen. Mit ihren hochstämmigen Obstgehölzen bieten sie zahlreichen Kleintieren, Vögeln und Pflanzen den optimalen Lebensraum. Der Wendehals ist ein typischer Bewohner von Streuobstwiesen, da er kahle Flächen ebenso meidet wie dichte Wälder. Genauso wertvoll für Kleintiere, Vögel und Pflanzen sind die vielen Hecken und Gebüsche, die überall um und auf dem Hesselberg anzutreffen sind. Hecken haben die höchste Vielfalt an Kleinstrukturen in unserer Kulturlandschaft. Zu den Gehölzen kommen im Idealfall noch eine artenreiche Krautschicht, ein sonniger Krautsaum, Totholz und eventuell Sonderbiotope, wie beispielsweise Steinhaufen. Durch den Übergang von wasserdurchlässigen zu wasserundurchlässigen Gesteinsschichten haben sich auf dem Hesselberg Quellhorizonte gebildet, die den Reichtum an Quellen erklären. Es gibt dort einige Sturzquellen, meist jedoch Quellen in Form von flächigen Versumpfungen. Die spezielle Pflanzen- und Tierwelt der Quellen ist nicht ohne weiteres ersichtlich, da es sich meist um winzige Organismen im mikroskopischen Bereich handelt. Eine sehr selten gewordene Pflanze dieser Feuchtgebiete ist der Sonnentau. Die Vielfalt des Waldes Auf dem Hesselberg sind praktisch alle Waldformen (Hochwald, Mittelwald, Niederwald) und Waldarten (Nadelwald, Mischwald, Laubwald) zu finden. Das eigenartigste Waldbild besitzt der Niederwald in den oberen Regionen des Nordhangs. Nach einem Stockhieb kommt viel Licht auf den Waldboden, dann fühlen sich wärmeliebende Tiere, wie die Zauneidechse, hier besonders wohl. Später, wenn sich das Blätterdach wieder schließt, finden hier andere Spezialisten, wie zum Beispiel die Waldschnepfe, den geeigneten Lebensraum. An Wild sind in den Wäldern des Hesselbergs alle Arten vertreten, die für deutsche Wälder typisch sind (Feldhase, Reh, Fuchs, Eichhörnchen und andere). Das Trommeln der Spechte und der Ruf des Kuckucks gehören ebenso zur Waldatmosphäre wie der Gesang unzähliger Vögel. Verschiedene Hahnenfußgewächse wie Leberblümchen und Buschwindröschen sind Frühlingsboten der Hesselbergwälder. Im Mai verwandelt der Bärlauch die Böden der Laubwälder in einen grünweißen Blütenteppich. Nach seiner Blüte liegt der intensive knoblauchartige Geruch dieser Pflanze in der Luft. Wesentlich seltener geworden sind verschiedene Orchideenarten wie das Rote Waldvögelein. Knabenkräuter sind keine Seltenheit. Der zu den Liliengewächsen gehörende Türkenbund ist noch relativ häufig zu finden. Besonders interessant ist die Variationsvielfalt dieser sehr schutzbedürftigen Blume. Das Heidekraut und der Besenginster bevorzugen die Gesteinsschichten des Eisensandsteins in den unteren Bereichen der Hänge. Sportereignisse Der Hesselberg bildete 2008 den Schlussanstieg der zweiten Etappe des wichtigsten deutschen Radsport-Etappenrennens, der Deutschlandtour. Die Zielankunft lag unterhalb des Gipfels bei 595 m und zählte als Anstieg der 3. Kategorie. Seit der Befahrung durch die Deutschlandtour fand einige Jahre lang die sogenannte Tour de Hesselberg statt, bei der auf verschiedenen Distanzen für Radsportler, Läufer und Skater die bis zu 450 Höhenmeter des Hesselberges zu überwinden waren. Zurzeit gibt es Überlegungen, eine solche Veranstaltung neu aufzulegen (Stand: 11/2020). Der Hesselberg als Filmkulisse Der Werner-Herzog-Film Jeder für sich und Gott gegen alle aus dem Jahr 1974 enthält zu Beginn eine Sequenz, in der Kaspar Hauser auf dem Rücken eines Mannes von seinem Verlies heraus in die Stadt getragen wird. Man sieht dort die Darsteller auf dem Gerolfinger Berg von Osten nach Westen gehen, mit der Kamerarichtung zunächst nach Süden über den Oettinger Forst. Danach laufen sie zur Steintreppe oberhalb der „Schwarzen Fichten“ und erleben dort den Sonnenuntergang. Sagen und Erzählungen Es ist nicht verwunderlich, dass sich um einen so eigentümlichen Berg mit soviel Geschichte und Geschichten auch zahlreiche Sagen ranken. Parallelen zur realen Geschichte um Kriege und Burgen sind erkennbar. Aberglaube, Furcht und Fantasie trugen ohne Zweifel erheblich zur Entstehung dieser Sagen bei. Im Blitz und Donner schwerer Gewitter erkannten die Einwohner in den Mauerresten der Ruinen unheimliche Gestalten und Gespenster, die sie mit den früheren Burgbewohnern in Verbindung brachten. Die später zur weiteren Verwendung als Baumaterial abgetragenen Mauerreste der Ruinen verstärkten die Vorstellung, dass die Burgen im Berg versunken seien. Aus der großen Anzahl der Hesselbergsagen im Folgenden drei Beispiele: Die Sage vom Teufelsloch Vor langer Zeit hüteten einige Knaben auf dem Hesselberg Schafe. Zu dieser Zeit gab es auf dem Berg eine tiefe Höhle, die inzwischen verschüttet ist. Von Neugier geplagt, wollten die Jungen wissen, was sich in dieser Höhle befindet. Deshalb wurde einer von ihnen mit einem Strick in das tiefe Loch hinabgelassen. Zuvor beschlossen die Buben, dass sie ihn sofort hochziehen würden, sobald er am Strick zöge. Kaum war der Junge jedoch in der Höhle, als ein dreibeiniger Hase über den Weg humpelte. Kurzentschlossen rannten die Knaben dem Hasen nach, um ihn zu fangen. Aber je weiter sie ihm nachrannten, desto schneller wurde der Hase. Schließlich gaben sie die Jagd auf. Als sie zur Höhle zurückkamen, fiel ihnen ihr Freund in der Höhle wieder ein. Schnell zogen sie den Strick herauf. Dieser war mit Blut befleckt und an seinem Ende hing ein Bocksfuß. Der Knabe war jedoch für immer verschwunden. Der Berggeist Es wird erzählt, dass vor sehr langer Zeit auf dem Hesselberg eine gewaltige Burganlage gestanden hat. Auf dieser Burg lebte der Burgherr mit seiner einzigen Tochter. Das Mädchen führte den Haushalt für ihren Vater und besaß die Schlüssel zu allen Räumen der gesamten Burg. Zu dieser Zeit fielen die Hunnen auch in die Hesselbergregion ein. Sie zerstörten die Burg und brannten sie ab. Dabei kam das Mädchen in den Gemäuern ums Leben. Es wird weiter erzählt, dass sie noch heute mit ihrem Schlüsselbund am Gürtel auf dem Berg umhergeistert. Sie wird meistens in der Samstagnacht nach den vier Quatembern gesehen. Die unerlösten Jungfrauen vom Schlößleinsbuck Die Einheimischen erzählen, dass auf dem Schlößleinsbuck die Geister von drei verfluchten Jungfrauen hausen. Zwei von ihnen sind vollkommen weiß gekleidet, die dritte trägt jedoch einen schwarzen Rock. Einem Knecht, der in der Nähe des Berges den Acker bestellte, erschienen die drei Jungfrauen und flehten ihn an, ihnen in den Berg zu folgen, um sie dort zu erlösen. Da er reinen Herzens sei, brauche er die bösen Mächte des Dunkeln nicht zu fürchten. Sie erzählten ihm, dass sie auf dem Weg in den Berg auf sechs Männer treffen würden, die mit ihren bis zum Boden reichenden Bärten um einen Tisch säßen. Im zweiten Raum werde ein schwarzer Hund mit feurigen Augen hocken, der einen Schlüssel im Maul habe. Diesen Schlüssel müsse der Knecht nehmen, auch wenn der Hund Feuer speie. Mit diesem Schlüssel komme er in eine Kammer mit einem riesigen Schatz, der dann ihm gehören würde. Der Knecht bekam jedoch fürchterliche Angst und verließ die Jungfrauen unerlöst. Es wird weiter erzählt, dass die Jungfrauen auch heute noch mutige Männer ansprechen, die ihnen in den Berg folgen sollen, damit sie erlöst werden können. Siehe auch Liste von Bergen und Erhebungen der Fränkischen Alb Literatur Johann Georg Leuchs: Der Hesselberg im Rezatkreise des Königreiches Baiern mit Hinblick auf seine Eigenschaften, Zeiten, Landesbesitzer, Umgebungen und Jahresmessen. Beitrag zur Erdbeschreibung und Geschichte Baierns. Wassertrüdingen 1822. Max Börner (Hrsg.): Im Bannkreis des Hesselbergs. Ein Heimatbuch. unter Mitarbeit von Dr. Heinrich Eidam, August Engelhard und Hans Scherzer. Buchschmuck von Conrad Scherzer. Krüger, Dinkelsbühl 1927. Johann Friedrich Gebert: Der Hesselberg und seine Fernsicht. Selbstverlag, Weissenburg a. S., 1884. 2. Auflage UB Eichstätt. Christian Gruber: Der Hesselberg am Frankenjura und seine südlichen Vorhöhen. Stuttgart 1898 Internet Archive. Johann Friedrich Gebert: Der Hesselberg und seine Sagen. In: Die Fränkische Alb, 15. Jahrgang, 1928. S. 24–26, 37–40 Internet Archive. August Gabler, H. Pültz & Albert Schlagbauer: Rund um den Hesselberg in alter Zeit. Mittelfränkische Heimatbögen Nr. 53. 1953. Johann Schrenk, Karl Friedrich Zink, Walter E. Keller: Vom Hahnenkamm zum Hesselberg, Bilder einer fränkischen Kulturlandschaft. Keller, Treuchtlingen 2000, ISBN 3-934145-06-X. Arthur Berger: Der Hesselberg. Funde und Ausgrabungen bis 1985, Lassleben, Kallmünz 1994, ISBN 3-7847-5066-4. Hermann Schmidt-Kaler: Vom Neuen Fränkischen Seenland zum Hahnenkamm und Hesselberg, Wanderungen in die Erdgeschichte. Bd. 3. F. Pfeil, München 1991, ISBN 3-923871-58-9. Albert Schlagbauer: Der Hesselberg zwischen Franken und Schwaben, Steinmeier, Nördlingen 1980, ISBN 3-923645-12-0. Albert Schlagbauer: Die Frankenhöhe, im oberen Wörnitzgrund, im Tal der Sulzach, rund um den Hesselberg, Steinmeier, Nördlingen 1988, ISBN 3-923645-94-5. Schlagbauer Albert, Fischer Adolf: Rund um den Hesselberg, Fränkisch-Schwäbischer Heimatverlag, Oettingen 1965 August Gabler: Die alamannische und fränkische Besiedlung der Hesselberglandschaft, Augsburg 1961, ISBN 3-922518-04-4. Heinrich Grimm: Menschen um den Berg, Ein Hesselbergroman (Heimatroman um den Dreißigjährigen Krieg). Brügel, Ansbach 1932 (Neuaufl. Ansbach 1977), ISBN 3-88388-007-8. Gerfrid Arnold: Hinter der Teufelsmauer: Sagen, Spuk, Legenden zwischen Dinkelsbühl und Wassertrüdingen, Selbstverlag, Dinkelsbühl 1999 Karl Grünwald: Sichtbare Spuren der Geschichte im Land um den Hesselberg, Verlag Reinhard Wagner, Nürnberg 2002, ISBN 3-930349-05-1. Schrenk-Verlag, Frank Baumeister: Hesselbergland, Land und Leute in Ehingen, Dambach und Lentersheim, ISBN 3-924270-21-X. Thomas Greif: Frankens braune Wallfahrt. Der Hesselberg im Dritten Reich. Historischer Verein für Mittelfranken, Ansbach 2007 (= Mittelfränkische Studien. Band 18), ISBN 978-3-87707-698-9. Thomas Greif (Hrsg.): Der Hesselberg: Eine Kulturgeschichte. Schrenk, Gunzenhausen 2011, ISBN 3-924270-77-5. Mittelfränkische Heimatkunde, Band 1, Alfred Kriegelstein Sagen, Legenden, Geschichten aus Mittelfranken, Verlagsdruckerei Heinrich Delp GmbH, Bad Windsheim 1983: Die versunkene Burg auf dem Hesselberg, S. 37–38, Der Schatz im Hesselberg, S. 38–40 Weblinks Touristikverband Hesselberg e. V. Entwicklungsgesellschaft Region Hesselberg mbH Landschaftspflegeverband Mittelfranken (Projekt Tag für den Berg) Fundstück Hesselberg Alpensicht vom Hesselberg Einzelnachweise Geographie (Landkreis Ansbach) Gerolfingen
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https://de.wikipedia.org/wiki/See-%20und%20Luftschlacht%20im%20Golf%20von%20Leyte
See- und Luftschlacht im Golf von Leyte
Die See- und Luftschlacht im Golf von Leyte (auch als Schlacht am Leyte-Golf, Schlacht von Leyte, oder Zweite Schlacht in der Philippinensee bezeichnet) fand vom 23. bis 26. Oktober 1944 während des Pazifikkriegs im Zweiten Weltkrieg in den Gewässern der Philippinen statt. Die Kaiserlich Japanische Marine versuchte durch einen massiven Angriff mit der 1. Mobilen Flotte aus dem Norden und zwei weitere Flotten aus dem Süden auf die US-geführten, alliierten Flotten, die ab dem 17. Oktober eingeleitete Landungsoperation von Truppen auf den Philippinen abzuwehren. Unter dem Oberbegriff „Schlacht im Golf von Leyte“ wurden vier örtlich unabhängige, aber strategisch zusammenhängende Gefechte geführt. Der Golf von Leyte ist ein buchtähnliches Seegebiet zwischen den Inseln Leyte und Samar, auf denen alliierte Transportschiffe Truppen absetzten. An der Schlacht nahmen 173 US-amerikanische und 63 japanische Kriegsschiffe teil, wobei Transporter und kleinere Schiffe als Zerstörer nicht eingerechnet sind. Die Schlacht markierte den letzten ernsthaften Versuch Japans, den alliierten Vormarsch im Pazifik noch aufzuhalten. Vorgeschichte Japan Die japanische Marineführung rechnete im Herbst 1944 fest mit weiteren großangelegten Landungsoperationen der Alliierten, nachdem diese im Sommer die Inselgruppe der Marianen erobert hatten. Die militärische Initiative hatten die Japaner bereits 1942 in der verlustreichen Schlacht von Midway verloren. Für jedes der in Frage kommenden nächsten Ziele – Philippinen, Formosa (das heutige Taiwan), die Ryūkyū-Inseln oder das japanische Mutterland selbst – wurde ein eigener Verteidigungsplan mit der Bezeichnung Shō-Gō ausgearbeitet. Er war in vier Einzelpläne unterteilt, von denen die Shō-Operation Nr. 1 eine große Marineoperation in den Gewässern der Philippinen umfasste. Diese wurde auf einer Konferenz im Imperialen Großen Hauptquartier (IGHQ) in Tokio am 24. Juli 1944 beschlossen. Nach längeren Debatten und dem Abwiegen eines Für und Wider entschied sich die Marineabteilung des IGHQ dafür, die gesamte verbleibende Stärke der Flotte in kühnen Offensivaktionen bei den Philippinen aufs Spiel zu setzen. Bodentruppen der 14. Regionalarmee unter dem Befehl von General Yamashita Tomoyuki und der 35. Armee unter dem Befehl von Generalleutnant Suzuki Sōsaku, unterstützt von landgestützten Kampfflugzeugen, sollten einen konzertierten Angriff starten, der darauf abzielte, die feindliche Flotte von Invasionstransportern an den Landungspunkten abzufangen und zu zerstören. Ein Täuschungsmanöver sollte den Angriff erleichtern und die feindlichen Seestreitkräfte, die die Landungsoperationen deckten, ablenken, oder sogar von der Küste weglocken. Feldmarschall Terauchi Hisaichi, der die gesamte südliche Nachschubregion von Saigon aus kommandierte, befahl General Yamashita, sich auf die Verteidigung von Luzon, der Hauptinsel der philippinischen Gruppe, zu konzentrieren. Vereinigte Staaten und Alliierte Im September 1943 hatte das IGHQ einen „absoluten“ Verteidigungsbereich festgelegt, der mittlerweile von den Alliierten an zwei strategisch entscheidenden Punkten durchbrochen worden war. Die Streitkräfte von General MacArthur hatten Im Süden innerhalb von sechs Monaten nach ihrem Durchbruch über die Vitiaz- und Dampier-Straße die alliierte Offensive mehr als 1.600 Kilometer entlang der Nordküste Neuguineas vorgebracht und dabei eine große Zahl japanischer Truppen entlang der Vormarschachse umgangen und isoliert. Die Eroberung von Hollandia verschaffte jetzt den Alliierten ein wichtiges Aufmarschgebiet für weitere Offensivbewegungen, und landgestützte Luftstreitkräfte mit vorgeschobenen Stützpunkten auf Biak und Noemfoor waren in der Lage, die Herrschaft über die Molukken, Palau und die Seezugänge in die südlichen Philippinen auszudehnen. Der nördliche Zweig der alliierten Offensive hatte im Zentralpazifik die japanische Marinebasis Truk umgangen, um an einem zweiten wichtigen Punkt in den Marianen in die geplante Verteidigungslinie einzudringen, die nur 2.400 Kilometer von den japanischen Heimatinseln selbst entfernt lag. Die Einnahme der Insel Saipan brachte nicht nur die Vulkan- und Bonin-Inseln in die Reichweite taktischer Bomberflugzeuge der Alliierten, sondern bedrohte auch Japan selbst mit verstärkten Angriffen der neuen B-29, die bereits von Westchina aus operierten. Noch schwerwiegender erwies sich aber, dass die verheerenden Verluste, die die japanische Marine in der Seeschlacht in der Philippinensee am 19. und 20. Juni 1944 erlitten hatte, insbesondere an Luftstärke, den Alliierten nun die unbestrittene Flotten- und Luftüberlegenheit im Westpazifik verschafft hatte. Für die US-Oberbefehlshaber war eine Landung auf den Philippinen allerdings noch nicht ausgemacht. Ursprünglich wurde daran gedacht, schrittweise vorzugehen. Es war vorgesehen, nach der Eroberung diverser kleinerer Inseln erst am 20. Dezember auf den Philippinen zu landen. Daneben kam die Idee auf, nur auf der Philippineninsel Mindanao Flugplätze einzurichten, während der Hauptschlag gegen Formosa und das chinesische Festland zu führen sei. Gegen diesen Plan protestierte der Oberbefehlshaber der südwestpazifischen Streitkräfte General MacArthur erfolgreich bei Präsident Roosevelt: Man dürfe die amerikafreundliche philippinische Bevölkerung, der MacArthur zu Beginn 1942 versprochen hatte, als Befreier zurückzukehren, nicht im Stich lassen. Nachdem Mitte September trägergestützte Luftangriffe auf die Philippinen auf wenig Gegenwehr gestoßen waren, wurde nicht nur MacArthurs Forderung angenommen, sondern auch der Zeitpunkt der Landung auf den 20. Oktober vorverlegt. Die Heranführung der Kräfte Die alliierten und japanischen Streitkräfte Die Alliierten führten zwei mit hauptsächlich US-amerikanischen Kräften bestückte Flotten heran. Die 7. Flotte unter dem Oberkommando des Southwest Pacific Area von General Douglas MacArthur war zur Landung auf Leyte und zur Verteidigung der Gewässer im direkten Landungsgebiet vorgesehen. Die Deckung weiter draußen in der Philippinensee übernahm die 3. Flotte unter dem Oberkommando der Pacific Ocean Areas von Admiral Chester W. Nimitz. Zur Ablenkung von den bevorstehenden Landungsoperationen auf Leyte startete die britische Eastern Fleet die Operation Millet. Dazu lief am 15. Oktober die Task Force 63 in drei Gruppen unter dem Befehl von Vizeadmiral Arthur Power von Trincomalee auf Ceylon aus. Die Schiffe unternahmen vom 17. bis zum 19. Oktober Luftangriffe auf die von Japan besetzten Inseln der Nikobaren. Vorbereitende Operationen der Alliierten Noch während die Japaner sich beeilten, ihre Vorbereitungen gegen die erwartete Invasion der Alliierten auf den Philippinen abzuschließen griffen am 9. September 1944 in einer groß angelegten zehnstündigen Luftoperation 400 Trägerflugzeuge der Alliierten Süd-Mindanao an. Sie konzentrierten ihre Angriffe auf Davao, Sarangani, Cagayan und Digos. Den japanischen Luftpatrouillen hatten die anfliegenden Flugzeuge nicht entdeckt und so kamen die Angriffe völlig überraschend. Es wurden weitreichende und schwere Schäden an Bodenanlagen, Flugplätzen, Ankerplätzen und Nachschublinien angerichtet. Die Stadt und der Hafen von Davao lagen in Trümmern und die Kommunikation war weitestgehend lahmgelegt. Panik und Unruhen brachen aus. Sofort wurden die japanischen Boden- und Marineeinheiten im Davao-Gebiet in Alarmbereitschaft versetzt, um auf die mögliche Gefahr eines Invasionsversuchs nach den Luftangriffen reagieren zu können. Inmitten der verursachten Verwirrung sandte ein Aussichtspunkt am Golf von Davao gegen 09:30 Uhr plötzlich eine Meldung, dass sich alliierte Landungsboote der Küste näherten. Erst am Nachmittag wurde durch Luftaufklärung über dem Golf festgestellt, dass tatsächlich keine Schiffe anwesend waren. Nachdem die Erste Luftflotte den früheren Invasionsbericht zurückgezogen hatte, stornierten am späten 10. September die Kombinierte Flotte und die 35. Armee die Alarme Shō 1 und Suzu 1. Weniger als 48 Stunden nach Beendigung der Angriffe auf Mindanao flogen weitere Trägerflugzeuge der Alliierten Angriffe auf die zentralen Philippinen. Am Morgen des 12. September meldete eine Radarstation der japanischen Marine auf der Insel Suluan im Golf von Leyte eine riesige Formation alliierter Trägerflugzeuge nach Westen in Richtung der Visayas. Um 09:20 Uhr griffen die Flugzeuge die Flugplätze von Cebu an, wo die Hauptstreitmacht der Ersten Luftflotte nach ihrer Verlegung aus Davao stationiert war. Obwohl sich die Angriffe über das gesamte Visayas-Gebiet erstreckten und später auch Tawi-Tawi im Sulu-Archipel erfassten, waren die Cebu-Flugfelder das Hauptziel der Angriffe. Allein auf Cebu verloren die Japaner 50 Zero-Jäger und 30 weitere Flugzeuge aller Art. Das Bodenpersonal erlitt zahlreiche Verluste und die Ausbildung musste unterbrochen werden. Auch die Lufteinheiten der Armee erlitten schwere Schäden. Die 13. Luftbrigade wurde so schwer getroffen, dass sie zur Neugruppierung nach Japan zurückbeordert werden musste, während das 45. Jagdbomberregiment um die Hälfte reduziert wurde. Darüber hinaus wurden elf Transporter und dreizehn Schiffe der japanischen Marine im Hafen von Cebu versenkt. Am 21. September flogen Trägerflugzeuge in vier Wellen mit insgesamt weit über 400 Flugzeugen Angriffe auf die Flugplätze rund um Manila, darunter Clark Field und Nichols Field. Auch der Hafen von Cavite wurde bombardiert. Bei den Angriffen auf den Hafen und die Schifffahrt entlang der Westküste wurden 22 Schiffe versenkt oder schwer beschädigt, während die Angriffe auf die Flugplätze den am Boden stehenden Flugzeugen erheblichen Schaden zufügten. 42 Zero-Jäger konnten noch abheben, um die alliierten Formationen anzugreifen, aber 20 von ihnen gingen verloren. Zwei Tage nach dem Ende des Luftangriffs auf Manila war Cebu zum zweiten Mal Ziel von Luftangriffen. Auch Legaspi und die Coron-Bucht wurden getroffen. Die Eroberung diverser kleinerer Inseln im Seegebiet um die Philippinen und Neuguinea, wie Peleliu, Morotai und Ulithi, im Verlauf des September bildete den weiteren Rahmen für den US-amerikanischen Aufmarsch. MacArthur wurden zusätzliche Einheiten der zentralpazifischen Kräfte von Admiral Chester W. Nimitz unterstellt. Den Befehl über die 3. Flotte mit den Flugzeugträgergruppen führte Admiral William F. Halsey. Nachdem ein Taifun die amerikanischen Schiffe am 3. Oktober bei Ulithi getroffen hatte sammelte sich die Flotte von Admiral Halsey am 6. Oktober wieder und bereitete sich auf ein Ablenkungsmanöver für die Landung MacArthurs auf Leyte vor. Weitere neutralisierende Luftangriffe der Task Force 38 auf japanische Flugplätze sowie Angriffe gegen Flugzeuge, Überwasserfahrzeuge und militärische Einrichtungen begannen im Morgengrauen des 10. Oktober auf Okinawa. Die Task Force überraschte die Japaner völlig. Es gab keinen ernsthaften Widerstand und im Morgengrauen des 12. Oktober wurde mit dem Angriff auf Formosa begonnen. Nach den Luftangriffen auf Formosa zwischen dem 12. und 16. Oktober, die ebenfalls dazu gedacht waren die japanische Luftverteidigung zu dezimieren, was auch gelang, vermeldeten überlebende japanische Flieger einen erstaunlichen Sieg nach Tokio. Tokio behauptete danach zum wiederholten Mal, dass die Seestärke der Vereinigten Staaten kümmerlich geworden sei. In den Wochen vor der Landung dezimierte die 3. Flotte ebenfalls systematisch die japanischen Luftstreitkräfte im Bereich der Philippinen und zerstörte dabei insgesamt 1.200 Flugzeuge. Die japanischen Gegenangriffe konnten nur zwei US-Kreuzer beschädigen. Die japanische Führung meldete jedoch die Versenkung von elf Flugzeugträgern, zwei Schlachtschiffen und drei Kreuzern – eine fatale Übertreibung, die dazu führte, dass weitere japanische Kampfflugzeuge in das Gebiet entsandt wurden, um die „Reste“ der alliierten Flotte zu vernichten. Diese Fehleinschätzung führte dazu, dass die japanischen Verstärkungen ebenfalls vernichtet wurden. Der japanische Plan Die japanischen Seestreitkräfte waren aufgrund von Versorgungsengpässen beim Öl, die durch den alliierten U-Boot-Einsatz hervorgerufen wurden, zwischen dem Mutterland und Indonesien verteilt. Nach den Kämpfen über Formosa und den gemeldeten Erfolgen hatte sich in Japan eine große Euphorie verbreitet, jedoch hatten die Luftstreitkräfte 312 Flugzeuge aller Art verloren. Die 2. Luftflotte, die die Hauptstärke der Basisluftstreitkräfte der japanischen Marine darstellte, hatte 50 Prozent ihrer Stärke verloren und war auf 230 einsatzfähige Flugzeuge reduziert worden. Die 1. und 4. Luftflotte auf den Philippinen blieben mit einer gemeinsamen Einsatzflotte in der Stärke von nur etwas mehr als 100 Flugzeugen zurück. Von 143 Trägerflugzeugen, die zur Verstärkung der 2. Luftflotte eingesetzt wurden, war etwa ein Drittel mit ihrer Besatzung verloren gegangen. Dieser Verlust an Trägerflugzeugen und Piloten führte zu einer weiteren Verzögerung bei der Wiederbesetzung der 3. und 4. Trägerdivision, die Admiral Toyoda nach Süden schicken wollte, um sich der 1. Mobilen Flotte anzuschließen und sie so mit dringend benötigter Luftunterstützung zu versorgen. Die japanische Führung hoffte, dass der den amerikanischen Flugzeugträgern zugefügte Schaden den Invasionsplan lange genug verzögern würde, um die Flugzeugverluste wieder auszugleichen und die Kriegsschiffe neu zu stationieren. Beginn der Landungsoperation Im Morgengrauen des 17. Oktober entdeckte die japanische Radarstation und Aussichtspunkt auf der Insel Suluan am Eingang zum Golf von Leyte plötzlich die Anwesenheit einer feindlichen Einsatzgruppe an der Küste. Um 7:19 Uhr wurde eine dringende Warnung an alle Hauptquartiere der Marine gesendet, in der die Annäherung eines feindlichen Schlachtschiffs mit sechs Zerstörer gemeldet wurde. Eine Stunde später folgte ein zweiter kurzer Bericht mit den Worten: „Feindliche Elemente haben mit der Landung begonnen.“ Dann verstummte die Suluan-Radiostation. Admiral Toyoda Soemu, Oberbefehlshaber der Vereinigten Flotte, befand sich noch in Shinchiku auf Formosa, als diese Berichte eintrafen. Da er die Landung umgehend als Vorbereitung für eine Invasion interpretierte, erließ er um 8:09 Uhr einen Befehl, der für die gesamte kombinierte Flotte den Verteidigungsplan Shō-gō 1 auslöste. Um 9:28 Uhr folgte ein Befehl, der Vizeadmiral Kurita anwies, sofort von seinem Ankerplatz auf Lingga zur Brunei-Bucht in Nord-Borneo auszulaufen, um einen Ausfall gegen die feindliche Invasionsflotte vorzubereiten. Durch die Zerstreuung der Kräfte bedingt sollten die japanischen Schiffe in vier Gruppen getrennt zum Golf von Leyte laufen und gegen die Landungsflotte vorgehen: Die erschöpfte 1. Mobile Flotte unter dem Kommando von Vizeadmiral Ozawa Jisaburō, deren Flugzeugträger praktisch keine Flugzeuge mehr hatten, lag in der Seto-Inlandsee und sollte sich als Köder dem Kampfgebiet von Norden her nähern und die amerikanischen Flugzeugträger der Task Force 38 auf sich ziehen. Eine Vernichtung der als Köder eingesetzten eigenen Träger wurde dabei in Kauf genommen. Gleichzeitig waren die zwei Schlachtschiffgruppen unter Vizeadmiral Kurita, die in Singapur und Brunei trainiert hatten, getrennt nach Norden unterwegs und versuchten, die Landungsstrände von Leyte über die nördliche San-Bernardino-Straße und die südliche Straße von Surigao zu erreichen. So sollten vor allem die den Japanern noch zur Verfügung stehenden Schlachtschiffe den Kampf entscheiden. Am 18. Oktober begann ein alliierter Verband von sechs älteren Schlachtschiffen und fünf Kreuzern, die Task Group 77.2 unter Admiral Jesse B. Oldendorf, die Küste zu bombardieren. Am 20. begann die Landung der alliierten Truppen, und am selben Tag liefen das Gros der japanischen Schlachtflotte unter Vizeadmiral Kurita von Singapur und die Flugzeugträgergruppe unter Admiral Jisaburō Ozawa aus der japanischen Binnensee aus. Am 22. lief die Schlachtflotte nach einem Zwischenstopp in Brunei, nun aufgeteilt in zwei Kampfgruppen unter Kurita und Vizeadmiral Shōji Nishimura, in Richtung des Golfs von Leyte. Dem Verband Kuritas gehörten fünf Schlachtschiffe, darunter die Yamato und Musashi, die größten jemals gebauten Schlachtschiffe, zehn Schwere und zwei Leichte Kreuzer mit 15 Zerstörern an. Nishimura befehligte zwei Schlachtschiffe, einen Schweren Kreuzer und vier Zerstörer. Die Verbände sollten nördlich (Kurita) und südlich (Nishimura) der Insel Samar laufen und die Invasionsflotte „in die Zange nehmen“. Hinter Nishimura folgte ein kleinerer Verband mit drei Kreuzern und vier Zerstörern unter Vizeadmiral Kiyohide Shima. Am Tag nach Beginn der Landung waren bei geringem Widerstand der japanischen Armee bereits 132.000 Mann mit 200.000 Tonnen Nachschub gelandet. Die östlich von Samar liegenden Transporter wurden im Wesentlichen durch die Schlachtschiffe der TG.77.2 und die 18 Geleitflugzeugträger der TG.77.4 gedeckt, während die amerikanische Hauptstreitmacht, die TF.38, östlich von Luzon kreuzte. U-Boot-Angriff in der Palawan-Passage Gegen Mitternacht vom 22. auf den 23. Oktober passierten Kuritas Schiffe der Zentralflotte die Insel Palawan auf deren Westseite. Nahe der Palawan-Passage, die eine natürliche Wasserstraße im südöstlichen Südchinesischen Meer westlich der Insel Palawan bildet, waren die beiden amerikanischen U-Boote Darter und Dace positioniert. Die Darter ortete mit ihrem Radar die anlaufende japanische Formation in einer Entfernung von 30 Kilometern und stellte Sichtkontakt her. Unmittelbar darauf nahmen beide U-Boote Fahrt auf um die Schiffe zu verfolgen. Als die Darter den ersten von drei Kontaktberichten absetzte wurde mindestens einer von einem Funker auf der Yamato abgehört. Admiral Kurita versäumte es jedoch, entsprechende Vorsichtsmaßnahmen zur U-Boot-Abwehr zu treffen. Nach einer längeren Verfolgung konnten beide U-Boote vor die japanische Formation gelangen und starteten bei Tagesanbruch einen Unterwasserangriff. Die Darter feuerte sechs Mark-14-Torpedos ab, von denen mindestens vier Kuritas Flaggschiff, den Schweren Kreuzer Atago, gegen 6:33 Uhr steuerbords trafen. Zwei weiterer Treffer gelangen auf deren Schwesterschiff Takao. Kurz darauf trafen vier Torpedos der Dace den Schweren Kreuzer Maya. Die Atago stoppte und lag 8° schräg im Wasser. Doch durch die schnelle Überflutung der getroffenen Räume unter Deck lag sie schnell bis auf 54° schräg und begann zu sinken. Die Zerstörer Kishinami und Asashimo nahmen bis zu 700 Matrosen des Schiffes, sowie Admiral Kurita mit seinem Stab, an Bord. Knapp eine halbe Stunde nach der Torpedierung sank die Atago. 300 Matrosen versanken zusammen mit Kapitän Araki Tsutau im Meer. Nach den heftigen Torpedotreffern auf der Maya war der Wassereinbruch so stark, dass sie schnell eine Schlagseite von 30° bekam. Feuer breitete sich aus und brachte das Munitionsdepot zur Explosion. Der Zerstörer Akishimo konnte 769 Männer der Maya an Bord nehmen, bevor diese in den Fluten versank. Der Kreuzer Takao konnte trotz 10° Schlagseite nach den Torpedotreffern wieder stabilisiert werden. Er war aber so schwer beschädigt, dass er, begleitet von zwei Zerstörern, nach Brunei zurückkehren musste. Bei dem Versuch, die Takao zu überholen und endgültig zu versenken, lief die Darter auf ein Riff und musste aufgegeben werden; die Besatzung konnte von der Dace gerettet werden. Admiral Kurita wurde anschließend auf das Schlachtschiff Yamato gebracht. Verlust der Princeton Aufgrund der Kontaktmeldungen der beiden U-Boote wurden die Flugzeugträger der TF 38 östlich von Luzon und Samar in Stellung gebracht. Landgestützte japanische Flugzeuge griffen am nächsten Tag eine der Trägergruppen an. Einem Sturzkampfbomber Yokosuka D4Y gelang der Abwurf einer 250 Kilogramm schweren Bombe auf das Flugdeck des leichten Flugzeugträgers Princeton. Eine schwere Explosion ereignete sich im hinteren Teil des Hangars, welcher drei weitere folgten, die das Flugdeck in die Luft schleuderten und beide Flugzeugaufzüge zerstörten. Die Leichten Kreuzer Birmingham und Reno sowie die Zerstörer Irwin und Morrison versuchten die Brände zu bekämpfen. Sie mussten sich jedoch zurückziehen, nachdem das Anlaufen japanischer Streitkräfte gemeldet wurde. Als sie schließlich zurückkehren konnten explodierte die Munition an Bord der Princeton, wobei die Oberseite des Kreuzers Birmingham mit Splittern übersät wurde die Hunderte von Männern töteten. Die Princeton war nun so schwer beschädigt, dass sie am frühen Abend aufgegeben und versenkt werden musste. Sie war der letzte amerikanische Flugzeugträger, der im Pazifikkrieg verloren ging. Kurita setzte unterdessen mit seiner dezimierten Streitmacht den Weg in den Golf fort. Verlauf der einzelnen Gefechte Nach dem japanischen Plan waren vier Flotteneinheiten vorgesehen, die die alliierten Landungseinheiten im Golf von Leyte aus drei Richtungen angreifen sollten: Angriff aus dem Norden durch die Flugzeugträger der 1. Mobilen Flotte unter dem Kommando von Vizeadmiral Ozawa Jisaburō. Zeitgleich mit dem Versuch, die wichtigsten alliierten Flotten von den Landungen am Golf von Leyte abzuziehen. Angriff von Westen durch die anlaufenden Einheiten unter Admiral Kurita, die die im Golf von Leyte befindlichen Landungseinheiten zerstören sollte. Dazu Einteilung seiner Flotte in eine Nord- und eine Südgruppe. Die Nordgruppe sollte südlich von Mindoro in die Sibuyansee einfahren um dann nach Osten durch die San-Bernardino-Straße, die Luzon und Samar trennt, zu laufen. Schließlich sollte er nach Süden abbiegen, die Küste von Samar entlang fahren und von Norden den Golf von Leyte erreichen. Die Südgruppe sollte den Golf von Leyte von Süden her angreifen, unterstützt von der vierten und kleinsten Flotte. Unterdessen befanden sich die zwei alliierten Flotten ostwärts der Philippinen. Dies waren die 3. Flotte unter dem Oberbefehl von Admiral Chester W. Nimitz mit ihren neuen Schlachtschiffen und schnellen Flugzeugträgern, die sich in der Task Force 38 unter dem Befehl von Vizeadmiral Marc Andrew Mitscher konzentrierten, die wiederum in vier Task Groups eingeteilt war. Deren Kommandanten waren Vizeadmiral John S. McCain senior, sowie die Konteradmirale Gerald F. Bogan, Frederick C. Sherman und Ralph E. Davison. Die 7. Flotte unter dem Kommando von Admiral Thomas C. Kinkaid unterstand dem Oberbefehl von General Douglas MacArthur und deckte dessen Landungseinheiten an den Stränden von Leyte. Die Schlacht in der Sibuyansee Die nach den U-Boot Angriffen bei Palawan dezimierte japanische Flotte fuhr am frühen 24. Oktober in die Sibuyansee ein. Zwischen 8:00 Uhr und 9:00 Uhr wurden die beiden Kampfgruppen von amerikanischen Aufklärern entdeckt. Admiral Halsey übernahm das direkte Kommando und befahl drei seiner Träger-Einsatzgruppen, die ankommenden japanischen Einheiten anzugreifen. Da Admiral Kurita ahnte, dass seine Schiffe wahrscheinlich angegriffen würden, daher ersuchte er die auf den Philippinen stationierten Truppen um Luftunterstützung, aber die meisten auf den Inseln verbliebenen japanischen Flugzeuge waren in die Schlacht um Leyte verwickelt. Die Alliierten attackierten Kuritas Schiffe am Vormittag. In den folgenden Angriffswellen wurden mehrere japanische Schiffe beschädigt; der Kreuzer Myōkō erhielt von der ersten Welle mit 21 Jagd-, 12 Sturzkampf- und 12 Torpedobombern der Intrepid und Cabot einen schweren Torpedotreffer, dass er sich nach Westen zurückzog. Anschließend flogen 19 Jäger, 12 Bomber und 11 Torpedoflugzeuge der gleichen Träger eine zweite Welle, die vier Bomben- und zwei Torpedotreffer auf dem Schlachtschiff Musashi erzielte. Die dritte Welle wurde mit 16 Jägern, 20 Bombern und 32 Torpedoflugzeugen der Lexington und Essex geflogen. Weitere vier Bomben- und zwei Torpedotreffer gab es auf der Musashi, sowie zwei Bombentreffer mit minimaler Wirkung auf der Yamato. Die Musashi war so schwer getroffen worden, dass sie hinter dem restlichen Verband zurückblieb. Nachdem fast gleichzeitig weitere Wellen der Träger Franklin, Enterprise, Intrepid und Cabot mit 42 Jägern, 33 Bombern und 21 Torpedoflugzeugen das Schlachtschiff angriffen, sank die Musashi. Sie hatte nicht weniger als 19 Torpedo- und 17 Bombentreffer erhalten. Auch die anderen Schlachtschiffe erhielten einige Treffer, die aber nur geringen Schaden verursachten und deren Kampfkraft nicht beeinträchtigen konnten. Bei den Angriffen verloren die Alliierten insgesamt 30 Flugzeuge. Als gegen 15:30 Uhr der vorübergehende Rückzug der Japaner erfolgte, wurde dieser später von allzu optimistischen alliierten Piloten als möglicher Rückzug der japanischen Zentralstreitkräfte bezeichnet. Admiral Kurita hatte jedoch nicht die Absicht, seine Mission aufzugeben und setzte zunächst einen Ausweichkurs, steuerte jedoch auf Befehl Toyodas ab 17:14 Uhr wieder in Richtung der San-Bernardino-Straße, die Samar von Luzon trennt. Er konnte aber nicht mehr darauf hoffen, während der Nachtstunden auf die amerikanische Invasionsflotte zu treffen – diese war nicht vor 7:00 Uhr morgens zu erreichen, was seine Einheiten erneut der Gefahr amerikanischer Luftangriffe aussetzen würde. Sein Verband war nun auf vier Schlachtschiffe, sechs Schwere und zwei Leichte Kreuzer mit ihrer Zerstörerbegleitung geschrumpft. Die Schlacht in der Surigao-Straße Während die Hauptstreitmacht unter ständigen Luftangriffen lag, fuhren Nishimura und Shima südlich davon plangemäß in Richtung Surigao-Straße, um von Süden her in den Golf von Leyte einzudringen. Südlich des Cagayan-Archipels entdeckten 22 alliierte Trägerflugzeuge am 24. Oktober den japanischen Verband und starteten einen Angriff. Das Schlachtschiff Fusō und der Zerstörer Shigure erhielten Bombentreffer, die aber nur geringen Schaden verursachten. Nishimuras Schiffe fuhren weiter in Richtung der Surigao-Straße. Dicht hinter ihnen fuhr der zweite Verband unter Vizeadmiral Shima Kiyohide, der gegen 4:00 Uhr aus der Coron-Bucht gestartet war. Am Abend funkte Nishimura, der sich mit seiner Flotte inzwischen weit in der Mindanaosee befand, an Vizeadmiral Kurita eine Nachricht, die besagte, dass die Truppe voraussichtlich bis zum 25. Oktober um 04:00 Uhr durch die Surigao-Straße in den Golf von Leyte vordringen werde. Dies geschah nun viel früher, als Kuritas eigene Einheiten das Ziel möglicherweise erreichen konnten, da sie durch ihren Rückzug verzögert wurden. Eine Überarbeitung des koordinierten Zeitplans wurde eindeutig notwendig. Vizeadmiral Kurita antwortete um 21:45 Uhr mit einer Depesche, in der er den Angriffsplan wie folgt abänderte: Der Hauptteil der Zentralflotte wird am 25. Oktober um 01:00 Uhr die San-Bernardino-Straße passieren um dann südwärts entlang der Ostküste von Samar vordringen und gegen 11:00 Uhr in den Golf von Leyte einlaufen. Die südliche Einheit wird wie geplant in den Golf von Leyte eindringen und sich dann am 25. Oktober um 09:00 Uhr an einem Treffpunkt 16 Kilometer nordöstlich der Insel Suluan mit der Haupteinheit vereinen. Die Absicht der japanischen Flotte wurde vom US-Oberkommando erkannt und die Aufgabe, die Durchfahrt durch die Straße zu sperren, fiel den alten Schlachtschiffen der TG.77.2 unter dem Befehl von Konteradmiral Jesse B. Oldendorf zu. Diese patrouillierten in klassischer Kiellinie die Surigao-Straße. Nishimuras Streitmacht, die seit dem Morgen des 24. Oktober von alliierten Flugzeugen zunächst ignoriert wurde, drang am 25. Oktober um 01:30 Uhr in die Surigao-Straße ein und wurde sofort zum Ziel ständiger Torpedoangriffe alliierter PT-Boote. Die japanischen Schiffe mussten heftig manövrieren um einem Treffer zu entgehen. Vizeadmiral Nishimura drängte seine Einheiten weiter vor und nahm um 03:00 Uhr und 03:15 Uhr kurze Kontakte mit kleineren alliierten Zerstörergruppen auf, die sich zurückzogen, als die Japaner das Feuer aus sie eröffneten. In der Folge entspann sich die letzte Schlacht zwischen Schlachtschiffen in der Seekriegsgeschichte. Die alliierten Zerstörerdivisionen begannen ebenfalls um 3 Uhr mit radargeleiteten massierten Torpedoangriffen. Etwa gegen 03:20 Uhr wurde die Formation von beiden Flanken mit schweren Torpedoangriffen getroffen. Das Schlachtschiff Yamashiro, Flaggschiff von Admiral Nishimura, wurde in Brand gesetzt. Zudem gelang es den Alliierten den Schweren Kreuzer Mogami schwer zu beschädigen und die Zerstörer Yamagumo und Michishio zu versenken. Auch der Zerstörer Asagumo wurde schwer beschädigt, verließ die Formation und sank einige Stunden später. Yamashiro und Mogami konnten die Fahrt in der Formation fortsetzen, obwohl sie beschädigt waren. Die japanischen Schiffe drangen trotz des Beschusses nun immer weiter in die Surigao-Straße ein und es gelang zunächst weiteren Torpedoangriffen auszuweichen. Die amerikanische Kiellinie lief jetzt quer vor der japanischen und konnte somit alle Geschütze einsetzen, während die japanischen Schiffe nur mit den vorderen Türmen feuern konnten, was in der Seekriegstheorie als „Crossing the T“ bezeichnet wird. Die amerikanischen Schiffe hatten außerdem radargeleitetes Feuer und konnten auf über 20 Kilometer feuern und treffen, während die Japaner während der gesamten Schlacht überhaupt nur den vorgeschobenen amerikanischen Kreuzerflügel erfassen und erfolglos beschießen konnten. Kurz vor 03:50 Uhr eröffneten die alliierten Schlachtschiffe ihr Artilleriefeuer. Innerhalb von nur fünf Minuten musste sich die Mogami, schwer getroffen und in Flammen stehend, zurückziehen. Das Flaggschiff Yamashiro sank wenige Minuten später unter einem Granatenhagel und die Fusō folgte ihr gegen 04:10 Uhr auf den Grund. Die Shigure befand sich weit vorn und hatte weiter Fahrt in Richtung auf die Alliierten, bis ihr Kommandant um 04:03 Uhr feststellte, dass der Rest der Streitmacht verschwunden war. Er beschloss sich zurückzuziehen und der Zerstörer fuhr in schneller Fahrt nach Süden. Versehentlich kam es zu zahlreichen amerikanischen Treffern auf den vorgeschoben operierenden Zerstörern des Zerstörergeschwaders 56 unter Roland N. Smoot. Dies betraf vor allem die Treffer auf der Albert W. Grant, die fast alle Personalverluste der Amerikaner in dieser Schlacht verursachten. Wenige Minuten später traf der nachfolgende Verband unter Vizeadmiral Shima ein, der den katastrophalen Verlauf der Operation erkannte und umdrehte, nachdem der Leichte Kreuzer Abukuma von Schnellbooten torpediert und Shimas Flaggschiff durch den fast manövrierunfähigen Schweren Kreuzer Mogami gerammt worden war. Er wurde am nächsten Tag von Flugzeugen versenkt, ebenso später das Flaggschiff Shimas, der Schwere Kreuzer Nachi, vor Manila. Nachdem in den frühen Morgenstunden auch die zusammengeschossene Mogami und der vorher beschädigte Zerstörer Asagumo versenkt worden waren, blieb von Nishimuras Gruppe nur ein Zerstörer, die Shigure, übrig. Vizeadmiral Shimas Schiffe hatten jetzt sicher die Mindanaosee erreicht, allerdings erfolgte kurz darauf ein Luftangriff der Alliierten, der 95 Japaner das Leben kostete. Damit war Shima klar geworden, dass ein erneuter Versuch bei Tageslicht in die Surigao-Straße einzufahren mit ziemlicher Sicherheit eine Zerstörung seiner Flotte bedeuten würde. Zudem ging allen Schiffen der Treibstoff aus und die Lage der Hauptangriffstruppe von Vizeadmiral Kurita blieb weiterhin unbekannt. Die Aufgabe, die alliierte Invasionsflotte im Golf von Leyte zu zerstören, ruhte nun ausschließlich auf den Schultern der Flotte unter Vizeadmiral Kurita. Die Schlacht vor Kap Engaño Im Norden hatte die 1. Mobile Flotte unter dem Befehl von Vizeadmiral Ozawa Jisaburō ihre Zerstörer etwa 1300 Kilometer östlich von Formosa aufgetankt und dann einen südwestlichen Kurs angelegt. Zudem wurde ein leistungsstarker Langwellensender an Bord des Flaggschiffs Ōyodo aktiviert um die Aufmerksamkeit der Alliierten zu erregen. Um 06:30 Uhr am Morgen des 24. Oktober startete die gesamte Stärke der japanischen 1. und 2. Luftflotte mit insgesamt 199 Flugzeugen von Clark Field, um die Alliierten aus den Gewässern östlich von Luzon zu vertreiben. Nach einem fast zweieinhalb Stunden dauernden Flug konnte schließlich eine alliierte Gruppe mit einem Kern von sechs Flugzeugträgern 260 Kilometer östlich von Manila entdeckt und angegriffen werden. Den eingegangenen Berichten zufolge wurde ein Schlachtschiff in Brand geschossen, ein Flugzeugträger sowie ein Kreuzer beschädigt und 32 alliierte Flugzeuge abgeschossen. 67 japanische Flugzeuge kehrten nicht zum Stützpunkt zurück. Noch während der Angriff lief, entdeckte ein japanisches Suchflugzeug eine zweite Gruppe mit zwei Flugzeugträgern rund 65 Kilometer nördlich. Eine dritte Gruppe wurde mit drei Flugzeugträgern dann um 09:40 Uhr genau östlich der San-Bernardino-Straße gesichtet. Um das Vordringen von Kuritas Flotte zu erleichtern war es wichtig diese dritte Gruppe auszuschalten. Allerdings konnten die japanischen Flugzeuge, durch die enormen Anstrengungen des Morgens, bis zum frühen Abend keinen weiteren Angriff starten. Vizeadmiral Ozawa Jisaburō orderte die beiden Schlachtschiffe Ise und Hyūga südöstlich zu laufen, in der Hoffnung, dass sie Kuritas Streitkräfte bei einem Gefecht vor Samar unterstützen könnten. Dann hörte er, dass Kurita sich zurückzog, daher befahl er der Ise und der Hyūga, sich wieder der eigenen Flotte anzuschließen. Während am Nachmittag des 24. Oktober die amerikanischen Trägerflugzeuge Kuritas Schlachtflotte angriffen, wurde nördlich von Luzon die heraneilende Trägerflotte Ozawas gesichtet. Admiral Halsey wurde um 17:30 Uhr über die Entdeckung informiert. Allerdings befanden sich die japanischen Flugzeugträger noch über 320 Kilometer östlich vom Kap Engaño auf Palaui und waren damit noch zu weit entfernt, um sie vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Jetzt hatte Halsey eine komplette Übersicht über alle japanischen Einheiten und er sah diese Gruppe als Hauptziel an und gruppierte seine Flotte um. Die Schlachtschiffe, auch das Flaggschiff Admiral Halseys, die New Jersey, und eine Anzahl Kreuzer wurden aus den Trägergruppen herausgenommen und bildeten die TF.34 unter Vizeadmiral Willis A. Lee mit insgesamt sechs Schlachtschiffen, zwei Schweren und zwei Leichten Kreuzern sowie 18 Zerstörern. Halsey entschied nach Abwägung verschiedener taktischer Möglichkeiten drei der Trägergruppen der TF.38 und die eben gebildete TF.34 nach Norden zu schicken, um die japanische Trägerkampfgruppe abzufangen. Daher blieben keine Kräfte zur Deckung der San-Bernardino-Straße und damit der Landungskräfte und Begleitträger gegen die japanische zentrale Angriffsgruppe unter Admiral Kurita zurück, da die US-amerikanische Trägergruppe TG.38.1 unter Admiral John S. McCain seit dem 22. Oktober zur Betankung und Aufmunitionierung nach Ulithi unterwegs war. Sie wurde zu spät zurückgerufen, um noch wesentlich eingreifen zu können. Dieses Risiko ging Admiral Halsey ein, da er annahm, die Kämpfe des vergangenen Tages hätten die zentrale japanische Angriffsgruppe derart geschwächt, dass diese sich auf dem Rückzug befände und zu weiteren Kampfhandlungen nicht mehr in der Lage sei. Die missverständlich formulierten Funksprüche, mit denen diese Umgruppierung und der Abmarsch nach Norden an Admiral Nimitz nach Hawaii und an Admiral Kinkaid gemeldet wurden, ließen diese glauben, dass Halsey nur mit drei Trägergruppen nach Norden eilte, um die japanischen Träger abzufangen, und die Task Force 34, die Schlachtschiffe, zur Deckung der San-Bernardino-Straße zurückgeblieben sei. Tatsächlich dampfte Halsey mit allen Kräften nach Norden. Zwischen 02:02 Uhr und 02:35 Uhr am Morgen des 25. Oktober waren alle japanischen Schiffe Ozawas von Admiral Mitschers Aufklärungsflugzeugen ausgemacht und Admiral Halsey befahl die erste Angriffswelle bei Tagesanbruch zu fliegen und unmittelbar eine zweite Welle vorzubereiten. Im Morgengrauen befanden sich die alliierten Schiffe in Reichweite und ließen um 6:30 Uhr die erste Angriffswelle von ihren Trägern starten. Ozawa war kaum zur Gegenwehr fähig: Der Ausbildungsstand der japanischen Piloten war zu diesem Zeitpunkt äußerst niedrig und seine Träger ohnehin nicht voll besetzt. Gegen 08:50 Uhr meldeten die US-amerikanischen Piloten ihre Erfolge. Schon die erste Angriffswelle zerstörte den Träger Chitose und beschädigte die Zuikaku, sowie einen Leichten Kreuzer. Nach der vierten Angriffswelle waren alle vier japanischen Träger (Zuihō, Zuikaku, Chitose und Chiyoda) und zwei Zerstörer versenkt, nur die beiden zu „Halbflugzeugträgern“ umgebauten Schlachtschiffe der Ise-Klasse, die Ise und die Hyūga, die überhaupt keine Flugzeuge an Bord hatten, konnten mit den Begleitschiffen in der folgenden Nacht entkommen. Ozawa hatte trotz der immensen Verluste sein operatives Ziel erreicht: Die 3. US-Flotte mit der TF.38 hatte sich an seine Fersen geheftet und die Bewachung der San-Bernardino-Straße aufgegeben. Was Ozawa nicht mitbekommen hatte war, dass Halsey schon während des zweiten Angriffs mit der Hälfte seiner Flotte nach Süden abgedreht hatte um in die Kämpfe dort einzugreifen. Nur die TG.38.3 unter Konteradmiral Frederick C. Sherman und die TG.38.4 unter Konteradmiral Ralph E. Davison beendeten den Kampf gegen seine Flotte. In der Folge versenkten die amerikanischen Task Groups den Leichten Kreuzer Tama und die beiden Zerstörer Akizuki und Hatsuzuki. Der Leichte Kreuzer Ōyodo wurde schwer beschädigt. Ozawa entschied sich zur Flucht und der Rest seiner Einheiten wurde von vier schnellen Leichten Kreuzern verfolgt. Weiterhin lagen auf ihrem Kurs etliche U-Boote der Alliierten. Die Schlacht vor Samar Die schwierige Navigation durch die Meerenge der San-Bernardino-Straße, die eine Acht-Knoten-Strömung besitzt, stellte die Flotte Kuritas vor Probleme. Es war schon nicht einfach dies mit einem einzigen Schiff zu meistern, aber Kurita musste es mit einer großen Schiffsformation bei Nacht bewerkstelligen. So musste er in einer einzigen Kolonne manövrieren, die sich über mehr als 16 Kilometer erstreckte. Anschließend musste die Formation auf eine Nachtsuchdisposition umgestellt werden, die sich auf fast 33 Kilometer auseinanderzog. Zum Zeitpunkt des Formationswechsels war die Flotte äußerst anfällig für Angriffe. Da die Alliierten aber ihre Flugzeuge für die Nacht zurückzogen, passierte zunächst nichts. Während Halseys Flotte jetzt nach Norden lief, konnte Kurita mit seinem dezimierten, aber immer noch kampfkräftigen Verband ungehindert durch die San-Bernardino-Straße laufen. Bei Tagesanbruch des 25. Oktober um 06:40 Uhr wurden alliierte Flugzeugträger am Horizont gesichtet. Etwa 30 Kilometer südöstlich kamen mehrere Masten in Sicht und kurz darauf war zu sehen, wie Flugzeuge gestartet wurden. Es handelte sich um die Geleitflugzeugträger der TG.77.4 unter dem Befehl von Konteradmiral Thomas L. Sprague, die den im Golf von Leyte verbliebenen Transportern Luftdeckung lieferten. Die Yamato erhöhte sofort die Geschwindigkeit und eröffnete das Feuer aus einer Entfernung von 31 Kilometern. Die dritte Abteilung der Gruppe (Rufzeichen Taffy 3), sechs Geleitflugzeugträger, drei Zerstörer und vier Geleitzerstörer unter Konteradmiral Clifton Sprague, geriet um 7 Uhr unter das Feuer der japanischen schweren Einheiten. Sprague sendete sofort Hilferufe, aber die meisten Flugzeuge der Träger waren unterwegs, und Oldendorfs Schlachtschiffe aus der Straße von Surigao konnten erst in drei Stunden eintreffen und hatten in den vergangenen Kämpfen gegen die südliche japanische Angriffsgruppe zudem einen Großteil ihrer Munition verschossen. Admiral Kurita befahl sofort: „Generalangriff.“ Den Zerstörergeschwadern wurde befohlen, der Hauptstreitmacht zu folgen. Die alliierte Flotte zog sich zuerst nach Osten, dann nach Süden und dann nach Südwesten auf einer bogenförmigen Bahn zurück. Spragues Schiffe begannen sich einzunebeln und hatten das Glück, von einer Regenwand zeitweilig verdeckt zu werden. Für die Japaner war die Feindlage verwirrend. Abgefangene Fragmente von Funksprüchen in Klartext deuteten darauf hin, dass ein eilig errichteter Flugplatz auf Leyte bereit war, Flugzeuge für einen Angriff auf Kuritas Flotte zu starten. Zudem sickerte durch, dass Admiral Kinkaid die baldige Entsendung einer starken Angriffseinheit anforderte und dass die 7. Flotte der Vereinigten Staaten in der Nähe im Einsatz war. Etwa zur gleichen Zeit wurde vom Flottenhauptquartier der Südwestregion durchgegeben, dass sich um 09:45 Uhr eine „U.S. Carrier Striking Task Force“ in einer Position befand, die rund 210 Kilometer vom Suluan-Leuchtfeuer entfernt war. Ein Bericht, der sich später als unbegründet herausstellte. Kurita, der sich wegen der Gefahr durch Luftangriffe gezwungen sah, möglichst viel Schaden in möglichst kurzer Zeit zu verursachen, löste seine Kiellinie auf und ließ seine Schiffe einzeln operieren. Spragues Zerstörer und Begleitzerstörer fuhren Torpedoangriffe, um die Japaner zu Ausweichmanövern zu zwingen, drei davon wurden dabei versenkt. Die wenigen einsatzbereiten Flugzeuge der Träger flogen Luftangriffe, darunter auch einige Scheinangriffe. Sie erzielten Torpedotreffer auf mehreren japanischen Kreuzern, von denen die Chikuma, die Chōkai und die Suzuya im Verlauf des Gefechtes sanken. Ein weiterer wurde schwer beschädigt und später auf dem Rückmarsch durch Flugzeuge versenkt. Die Amerikaner verloren nur einen der Geleitträger, die Gambier Bay, was zum Teil auch an der panzerbrechenden Munition der japanischen Schiffe lag, deren Granaten die leichten Bordwände der Träger oftmals lediglich durchschlugen, ohne zu detonieren. Ferner wurden die Zerstörer Hoel und Johnston sowie der Geleitzerstörer Samuel B. Roberts versenkt. Um 09:11 Uhr rief Kurita alle Einheiten zurück. Er hatte die Übersicht über seine Einheiten verloren und wollte sie neu formieren. Die zunehmende Intensivität der Luftangriffe und die Nachricht über die Vernichtung von Nishimuras Kampfgruppe veranlassten ihn aber schließlich, das Gefecht abzubrechen und sich Richtung Westen zurückzuziehen, wobei er am nächsten Tag noch einen Leichten Kreuzer verlor. Stattdessen griffen nun landgestützte Kamikaze-Flugzeuge die Geleitträger der TG.77.4 an. Sie beschädigten mehrere Träger und versenkten einen davon, die St. Lo durch eine organisierte Selbstmordattacke der Tokubetsu Kōgeki Tai, einem speziellen Angriffsverband für Kamikaze-Flüge. Zusammenfassung Die japanische Marine setzte fast alle einsatzfähigen Schiffe ein, die ihr zu diesem Zeitpunkt geblieben waren, um die alliierte Rückeroberung der Philippinen zu verhindern. Dieses Ziel war wichtig genug, um hohe Verluste zu riskieren, drohte beim Verlust der Philippinen doch die Verbindung zwischen den japanischen Hauptinseln und den rohstoffreichen Besitzungen in Indonesien abzureißen. Die Verluste der Japaner in der Schlacht von Leyte waren aber exorbitant hoch: Drei Schlachtschiffe, vier Flugzeugträger, zehn Kreuzer und neun Zerstörer gingen insgesamt verloren – das war etwa die Hälfte aller größeren Einheiten. Von diesen Schiffen wurden fünf Kreuzer allein beim An- oder Rückmarsch durch U-Boote versenkt – so überlegen war die alliierte Seeherrschaft mittlerweile. Japan verblieben noch vier Schlachtschiffe (dazu die beiden Träger-Schlachtschiffe), fünf Schwere und fünf Leichte Kreuzer; fast alle mehr oder weniger stark beschädigt. Ein paar Flugzeugträger befanden sich im Bau, es mangelte jedoch seit geraumer Zeit an auch nur halbwegs erfahrenen Piloten. Anders bei den Alliierten: Ein einziger amerikanischer Flugzeugträgerverband umfasste schon fast so viele Einheiten, wie den Japanern insgesamt noch blieben. Der Verlust des leichten Trägers Princeton, zweier Geleitträger, dreier Zerstörer und eines U-Bootes schränkte die Operationsfähigkeit der US-Flotten in keiner Weise ein; von nun an war die japanische Marine keine ernstzunehmende Bedrohung mehr. Nach Leyte verlor die US-Navy an größeren Einheiten im Pazifik nur noch den Schweren Kreuzer Indianapolis. Keine andere Seeschlacht des Zweiten Weltkrieges endete mit einem derart überwältigenden Sieg für eine Seite. Die japanische Marine hatte jede Befähigung eingebüßt, noch Einfluss auf den alliierten Vormarsch auszuüben; es reichte lediglich noch zu Selbstmordkommandos, wie es die Yamato am 6. und 7. April 1945 vor Okinawa durchführte. Die Seeschlacht vor den Philippinen sicherte den Alliierten die Brückenköpfe der Operation King II und die anschließende Stationierung der 6. Armee auf der Insel Leyte vor Angriffen vom Meer aus. Die japanische Besatzung auf Leyte kämpfte auf verlorenem Posten. Es waren jedoch noch viele Kämpfe erforderlich, bis die Insel Ende Dezember 1944 vollständig in alliierter Hand war. Weihnachten 1944 verkündete General Douglas MacArthur den Zusammenbruch des japanischen Widerstandes. Anmerkungen Literatur Thomas Cutler: The Battle of Leyte Gulf, 23–26 October, 1944. Naval Institute Press, Annapolis MD 2001, ISBN 1-55750-243-9 (englisch). Samuel Eliot Morison: History of United States Naval Operations in World War II. Band 12: Leyte. Little Brown, Boston 1947–1962, ISBN 0-252-07063-1. Michael Clodfelter: Warfare and armed conflicts. A statistical encyclopedia of casualty and other figures, 1494–2007. McFarland, Jefferson 2008, ISBN 978-0-7864-3319-3 (englisch). Elmar B. Potter, Chester W. Nimitz: Seemacht. Eine Seekriegsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. Pawlak, Herrsching 1986, ISBN 3-88199-082-8. Geoffrey Bennett: Seeschlachten im II. Weltkrieg. Heyne, München 1984, ISBN 3-453-01998-9. Weblinks Richard W. Bates: The Battle for Leyte Gulf - Strategical and Tactical Analysis, Naval War College, 1957: Volume I. Preliminary Operations until 0719 October 17th, 1944 including Battle off Formosa (PDF, englisch) Volume II. Operations from 0719 October 17th until October 20th (D-Day) (PDF, englisch) Volume III. Operations from 0000 October 20th (D-Day) until 1042 October 23rd (PDF, englisch) Volume V. Battle of Surigao Strait, October 24th - 25th (PDF, englisch) (englisch) “Glorious Death: The Battle of Leyte Gulf” (englisch) battle-of-leyte-gulf.com (englisch) Informationen zu der Schlacht vor Samar (englisch) Return to the Philippines (PD Dokumente) (englisch) Einzelnachweise Leyte Leyte Leyte Rückeroberung der Philippinen Marinegeschichte der Vereinigten Staaten Militärgeschichte der Vereinigten Staaten (Zweiter Weltkrieg) Australische Militärgeschichte Golf von Leyte Konflikt 1944
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https://de.wikipedia.org/wiki/Antiochos%20von%20Askalon
Antiochos von Askalon
Antiochos von Askalon (; * wohl zwischen 140 v. Chr. und 125 v. Chr. in Askalon; † wohl 68 v. Chr. in Mesopotamien) war ein antiker griechischer Philosoph im Zeitalter des Hellenismus. Er ging nach Athen und trat in die Platonische Akademie ein, die sich damals in der Endphase der vom Skeptizismus geprägten Epoche der „Jüngeren Akademie“ befand. Im Lauf der Zeit gelangte er jedoch zu einer entschiedenen Ablehnung des Skeptizismus. Dies führte zu seinem Austritt aus der Akademie und zur Gründung einer eigenen Schule. Er nannte seine Schule programmatisch „Alte Akademie“. Damit wollte er ausdrücken, dass er zum ursprünglichen Platonismus zurückkehrte, der nach seiner Überzeugung von den Skeptikern der Jüngeren Akademie verraten worden war. Antiochos war der „Hausphilosoph“ des römischen Politikers und Feldherrn Lucullus, den er auf einer Reise nach Nordafrika und auf einem Feldzug nach Armenien begleitete. Zu seinen Hörern gehörten die berühmten Römer Varro und Cicero. Nach dem Untergang der Jüngeren Akademie in den achtziger Jahren des 1. Jahrhunderts v. Chr. war seine Schule die einzige Erbin der platonischen Tradition in Athen, doch überdauerte sie seinen Tod nur um rund zwei Jahrzehnte. Sein Gedankengut war trotz seiner Betonung der platonischen Tradition mehr von der Stoa als vom Platonismus geprägt; insbesondere gab er die platonische Transzendenzphilosophie zugunsten einer materialistischen Naturlehre auf. Leben Quellen Eine Beschreibung von Antiochos’ Tätigkeit verfasste sein jüngerer Zeitgenosse Philodemos in den Academica (Academicorum index), einer nur fragmentarisch erhaltenen Darstellung der Geschichte der platonischen Schule. Ein erheblicher Teil des einschlägigen Abschnitts ist wegen des schlechten Erhaltungszustands des Papyrus verloren oder schwer lesbar. Einige biographische Nachrichten stammen von Cicero, der mit Antiochos befreundet war, und von Plutarch. Jugend, Ausbildungszeit und eigene Schulgründung Die Geburt des Antiochos lässt sich nur ungefähr auf den Zeitraum zwischen 140 und 125 v. Chr. eingrenzen. Über seine Herkunftsfamilie ist nichts bekannt. Zu einem unbekannten Zeitpunkt verließ er seine Heimatstadt Askalon; anscheinend nicht vor 110/109 begab er sich nach Athen, wo er sich der Platonischen Akademie anschloss. Er wurde Schüler Philons von Larisa, des damaligen Leiters (Scholarchen) der Akademie. Außerdem nahm er auch in der Stoa, einer mit der Akademie rivalisierenden Philosophenschule, am Unterricht teil. Den Kontakt zur Stoa vermittelte vermutlich der Stoiker Sosos, der ebenfalls aus Askalon stammte. Der stoische Lehrer des Antiochos in Athen war Mnesarchos, der nach dem Tod des Scholarchen Panaitios, eines berühmten Philosophen, die Leitung der Stoa übernommen hatte. Unbekannt ist, ob Antiochos zunächst der Stoa angehörte und erst später zur Akademie überwechselte oder von Anfang an Akademiker war und nur nebenbei stoische Lehrveranstaltungen besuchte. Antiochos’ Schülerverhältnis zu Philon dauerte länger als das aller anderen Schüler des Scholarchen, doch zu einem unbekannten, in der Forschung umstrittenen Zeitpunkt kam es zu einer Entfremdung zwischen den beiden Philosophen. Die Ursache waren Meinungsverschiedenheiten über den Skeptizismus. Seit der Scholarch Arkesilaos den Skeptizismus in der Akademie eingeführt hatte, war die „akademische Skepsis“ die philosophische Haltung, die dort in verschiedenen Varianten unangefochten herrschte. Maßgeblich war im späten 2. und frühen 1. Jahrhundert v. Chr. vor allem die Autorität des berühmten Skeptikers Karneades, der bis 137/136 als Scholarch der Akademie amtiert hatte. Der Skeptizismus war mit einer scharfen Ablehnung des stoischen Gedankenguts verbunden. Unter der Leitung Philons, der von 110/109 bis 88 Scholarch war, hielt die Akademie zwar grundsätzlich am Skeptizismus fest, doch war schon unter den Schülern des Karneades eine Spaltung zwischen einer radikal skeptischen Richtung und Vertretern gemäßigterer Positionen eingetreten. Philon, der erst nach Karneades’ gesundheitsbedingtem Rücktritt in die Akademie eingetreten war, vertrat eine abgemilderte Variante des Skeptizismus. Antiochos tendierte wohl schon vor der Mitte der neunziger Jahre zu einem Verzicht auf die Kernthesen des Skeptizismus, die ihm unhaltbar schienen. Damit geriet er in einen Gegensatz zur herrschenden Strömung in der Akademie, die damals zwar bereits gemäßigt und kompromissbereit, aber doch weiterhin der Tradition des Karneades verpflichtet war. Dies führte nach einiger Zeit dazu, dass er die Akademie verließ und in Athen eine eigene Schule gründete. In programmatischer Anknüpfung an die Zeit vor der Einführung des Skeptizismus nannte er seine Schule „Alte Akademie“. Erst in der römischen Kaiserzeit kommt die Bezeichnung „fünfte Akademie“ für diese Neugründung vor, wobei Philon – historisch unzutreffend – als Gründer einer „vierten Akademie“ aufgefasst wird. Exil und Rückkehr Im Jahre 88 v. Chr. floh Philon mit einem Teil seiner Schüler und anderen Angehörigen der Oberschicht Athens wegen politischer Wirren nach Rom. Im folgenden Jahr begannen in Griechenland die Kampfhandlungen des Ersten Mithridatischen Krieges. Antiochos, der schon vor Philons Flucht seinen eigenen Weg eingeschlagen hatte, folgte seinem ehemaligen Lehrer nicht nach Rom. Wahrscheinlich floh er vor der Terrorherrschaft des in Athen regierenden Tyrannen Aristion und fand im Lager der die Stadt belagernden Römer Zuflucht. Vermutlich kam es dort zu seiner Begegnung mit Lucullus, einem Sulla unterstellten römischen Offizier, der später als Politiker und Feldherr Prominenz erlangte. Lucullus wurde sein Freund und Gönner. Angeblich orientierte sich der Römer in der Folgezeit an der philosophischen Ausrichtung des Griechen, doch dürfte seine Beschäftigung mit philosophischen Fragen oberflächlich geblieben sein. Als Lucullus im Auftrag Sullas über Kreta nach Afrika segelte, blieb sein neuer Freund in seiner Umgebung. Zunächst begab sich Lucullus nach Kyrene, wo ihm der dort beheimatete Antiochos wohl nützlich war. Möglicherweise half Antiochos dem römischen Kommandeur, eine neue Verfassung für Kyrene zu entwerfen. Später folgte er Lucullus nach Alexandria. Dort hatte er zwei einheimische Schüler, doch über eine förmliche Schulgründung in Alexandria ist den Quellen nichts zu entnehmen. Im Jahr 87 verfasste Philon in Rom eine Schrift in zwei Büchern, die nicht erhalten geblieben ist; sie wird in der Forschung als seine „römischen Bücher“ bezeichnet, da ihr authentischer Titel unbekannt ist. Darin gab er wichtige Grundsätze des Skeptizismus auf, verzichtete aber nicht auf den Anspruch, weiterhin Skeptiker in der Tradition des Karneades zu sein. An der Vorstellung einer einheitlichen Lehrtradition der Akademie seit ihrer Gründung hielt er fest. Als Antiochos im Winter 87/86 in Alexandria die „römischen Bücher“ erhielt, reagierte er mit Empörung und verfasste eine (ebenfalls verlorene) Gegenschrift Sōsos. Damit war der Bruch endgültig vollzogen. Antiochos bestritt sowohl die Tauglichkeit von Philons philosophischem Ansatz als auch die historische Richtigkeit seines Verständnisses der Philosophiegeschichte. Später, vermutlich bald nach dem Ende der militärischen Auseinandersetzungen, kehrte Antiochos in das ab März 86 von den Römern kontrollierte Athen zurück und nahm dort seine Lehrtätigkeit wieder auf. Alleiniger Erbe der akademischen Tradition Da die skeptische „Jüngere Akademie“ die Kriegswirren nicht überstanden hatte – nach Philons Flucht wurde anscheinend kein neuer Scholarch mehr gewählt –, war Antiochos’ „Alte Akademie“ nunmehr die einzige Institution, die den Anspruch erhob, die Tradition der Akademie Platons fortzusetzen. Dieser Umstand kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine institutionelle Kontinuität nicht bestand. Antiochos war nicht, wie in älterer Forschungsliteratur behauptet wurde, Philons Nachfolger als „Scholarch der Akademie“, sondern seine Schule war eine Neugründung, die von Anfang an ihren scharfen Gegensatz zur skeptischen „Jüngeren Akademie“ betonte. Er unterrichtete nicht auf dem Gelände, auf dem sich seit Platons Zeit der Sitz der Akademie befunden hatte, sondern im Ptolemaion, einem im Stadtzentrum gelegenen Gymnasion. Das Akademiegelände wurde nicht mehr für philosophischen Unterricht genutzt. Wohl um 83 v. Chr. hielt sich der berühmte römische Gelehrte Varro in Athen auf und nahm am Unterricht des Antiochos teil. Im Jahr 79 war in der „Alten Akademie“ ein Kreis prominenter Römer versammelt: Cicero, der sechs Monate bei Antiochos verbrachte, sein jüngerer Bruder Quintus Tullius Cicero, sein Vetter Lucius Tullius Cicero, sein Freund Titus Pomponius Atticus und der Politiker Marcus Pupius Piso. Atticus lebte mit Antiochos in häuslicher Gemeinschaft. Zu den Freunden des Antiochos zählte auch Philodemos von Gadara. Gesandtschaftsreisen des Antiochos nach Rom und „zu den Statthaltern in den Provinzen“, von denen Philodemos berichtet, zeugen vom Ansehen des Philosophen in dieser Zeit, in der er auf der Höhe seines Ruhmes stand. Als sein Freund und Gönner Lucullus im Jahr 69 im Dritten Mithridatischen Krieg einen Feldzug nach Armenien unternahm, begleitete er ihn und war bei der Schlacht von Tigranokerta gegen die Truppen des armenischen Königs Tigranes II. am 6. Oktober 69 anwesend. Zum Kampfverlauf bemerkte Antiochos, die Sonne habe noch nie eine solche Schlacht gesehen; Tigranes erlitt eine katastrophale Niederlage, wobei auf römischer Seite nur fünf Mann gefallen sein sollen. Wohl im folgenden Jahr starb Antiochos in Mesopotamien, wohin er Lucullus begleitet hatte. Werke Antiochos verfasste eine Reihe von Schriften, von denen aber außer einzelnen Titeln und Zitaten oder Paraphrasen in Werken anderer Autoren nichts überliefert ist. Als er noch Schüler Philons war, schrieb er Abhandlungen, in denen er – wie Cicero berichtet – den Skeptizismus „überaus scharfsinnig“ vertrat. Unbekannt sind Abfassungszeit und Thema einer Schrift mit dem Titel Kanoniká. Der um 86 entstandene Dialog Sōsos, in dem Fragen der Erkenntnistheorie erörtert wurden, war Antiochos’ Entgegnung auf die „römischen Bücher“ Philons. Der Stoiker Sosos, nach dem der Dialog benannt ist, trat darin offenbar als wichtiger Gesprächsteilnehmer auf. Um 78 v. Chr. schrieb Antiochos eine Abhandlung, in der er seine Ansicht darlegte, wonach zwischen der Stoa und dem Peripatos, der Schule des Aristoteles, hinsichtlich der Lehrinhalte Übereinstimmung besteht und die Unterschiede sich auf Formulierungsfragen reduzieren lassen. In seinem letzten Lebensjahr entstand die Schrift „Über die Götter“. Cicero kennt Werke des Antiochos und entnimmt ihnen Gedanken, die er in drei seiner philosophischen Schriften (De finibus, Lucullus, Academica posteriora) wiedergibt. Dabei nennt er zwar Antiochos als Urheber des Gedankenguts, gibt aber in keinem Fall eine bestimmte schriftliche Quelle an. Eine Reihe von Versuchen, darüber hinaus größere Textpartien in diesen und weiteren Werken Ciceros und in Schriften anderer Autoren Antiochos zuzuweisen, obwohl sein Name dort nicht genannt wird, bleibt hypothetisch. Eine klare, den Bedürfnissen des Publikums entsprechende Präsentation des Stoffs war Antiochos wichtig. Seine Kritik an einer gekünstelten philosophischen Fachsprache, die man nur mit Hilfe eines Dolmetschers verstehen könne, lässt erkennen, dass er auf Allgemeinverständlichkeit großen Wert legte. Lehre Während des langen Zeitraums, in dem Antiochos der Schule Philons angehörte, trat er mit Entschiedenheit für den Skeptizismus ein. Nach seinem Meinungswandel bekämpfte er die skeptische Philosophie ebenso heftig, wie er sie zuvor verteidigt hatte. Alle überlieferten Einzelheiten seiner Lehre beziehen sich auf die zweite, antiskeptische Phase. Quellen In den philosophischen Schriften Ciceros liegen zusammenfassende Darstellungen der Lehren des Antiochos vor, vor allem im Lucullus (Erkenntnistheorie) und in De finibus (Ethik). Hinzu kommen einzelne Angaben des Skeptikers Sextus Empiricus, der ein wörtlich zitiertes Antiochos-Fragment überliefert. Inwieweit doxographische Ausführungen des Sextus zur Erkenntnistheorie auf einer verlorenen Schrift des Antiochos fußen, ist unklar. Auch der Kirchenvater Augustinus äußerte sich über Antiochos’ Philosophie. Der Quellenwert seiner Ausführungen beruht darauf, dass ihm die verlorene Schrift Varros Über de Philosophie zur Verfügung stand. Da es sich größtenteils um lateinische Quellen handelt, ist die Terminologie teilweise nur in lateinischer Übersetzung aus dem Griechischen überliefert. Philosophieverständnis Antiochos betrachtet sich nicht als Neuerer, der eigene Erkenntnisse vorträgt, sondern will nur ein getreuer Verkünder einer traditionellen Lehre sein, zu der er sich bekennt. Obwohl er zentrale Bestandteile des Platonismus nicht übernimmt, sieht er sich als Platoniker und beruft sich auf die „Alten“; zu seinen Autoritäten zählen die Scholarchen der Älteren Akademie, aber auch Aristoteles. Seine Sicht der Philosophiegeschichte lässt sich so zusammenfassen: Der authentische Platonismus der Älteren Akademie stimmt grundsätzlich mit der Lehre der Stoa und der des Aristoteles überein. Alle drei Philosophenschulen haben ursprünglich ein und dieselbe Wahrheit verkündet und sie nur unterschiedlich präsentiert. Erst mit dem von Arkesilaos eingeführten Skeptizismus hat sich die Akademie von diesem Konsens und damit von der Wahrheit abgewendet. Im Peripatos, der Schule des Aristoteles, ist es ebenfalls zu einer Fehlentwicklung gekommen. Am besten hat sich die Stoa von Verfälschungen ihrer ursprünglichen Lehre freihalten können. Die Stoa ist ein Versuch, den authentischen Platonismus vor den akademischen Skeptikern zu retten und ihn auch in Einzelheiten zu „berichtigen“. Die Berichtigungsversuche betrachtet Antiochos teilweise als geglückt, teilweise als verfehlt; die Lehre der „Alten“ ist für ihn somit zwar wahr, aber nicht in jeder Hinsicht vollkommen, sondern im Detail verbesserungswürdig. In dem heftigen Konflikt zwischen den Stoikern und den Skeptikern der Jüngeren Akademie über die Erkenntnistheorie sind demnach die Stoiker faktisch die Verteidiger des Platonismus gegen Platons eigene abtrünnig gewordene Schule. Allerdings erhebt Antiochos gegen die Stoiker einen Plagiatsvorwurf; er meint, sie hätten die Ethiklehre der Älteren Akademie „gestohlen“ und dies durch Einführung einer abweichenden, unzweckmäßigen Terminologie vertuscht. Mit seiner Neugründung der Akademie präsentiert sich Antiochos als geistiger Erbe aller drei Traditionen. Zu seinen Hauptforderungen gehört der Vorrang der Ethik gegenüber den anderen Teilgebieten der Philosophie. Er hält es für ein wesentliches Verdienst des Sokrates, die Aufmerksamkeit auf die Lebensführung als den Kernbereich der Philosophie gelenkt zu haben, statt sich wie die Vorsokratiker und ein Teil der Peripatetiker auf naturphilosophische Spekulationen zu konzentrieren. An zweiter Stelle steht für Antiochos die Dialektik, insbesondere die Erkenntnistheorie. Als drittrangig stuft er die Naturphilosophie ein; an ihr hat er auszusetzen, dass sie sich mit dunklen, schwierigen Fragen befasse, deren Klärung weit weniger wichtig sei als die Aufgabe des Menschen, sein Leben in rechter Weise zu führen. Allerdings erschließt sich seine Ethik nur dem, der dabei den naturphilosophischen und erkenntnistheoretischen Hintergrund seiner Weltanschauung berücksichtigt. Diese Auffassung von Geschichte und Aufgaben der Philosophie bildet die Basis von Antiochos’ Lehre. Daher legt er besonderes Gewicht auf die Darlegung seiner Sicht der Philosophiegeschichte. Dabei bemüht er sich, im Sinne seines Konzepts die Unterschiede zwischen den Philosophenschulen, deren Lehren er für wahr hält, als unwesentlich erscheinen zu lassen. Durch die einseitige Betonung der Übereinstimmungen und das Bagatellisieren oder Verschweigen von Gegensätzen entsteht ein verzerrtes, unhistorisches Bild der Philosophiegeschichte. Materialistische Naturlehre In der Naturlehre macht sich der stoische Hintergrund des Antiochos sehr deutlich bemerkbar. Er nimmt zwei Urprinzipien der gesamten Wirklichkeit an, eine bewirkende Kraft und die Materie, die sich der Kraft darbietet und von ihr gestaltet wird. Wirkkraft und Materie gehören von Natur aus zusammen, jedes der beiden ist im anderen enthalten. Ohne Materie kann es keine Wirkkraft geben, und die Materie bedarf der Kraft, von der sie zusammengehalten wird. Da die Wirkkraft außerhalb von Materie nicht denkbar ist, außer den beiden Prinzipien nichts existiert und alles Seiende notwendigerweise räumlich ist, gibt es für Antiochos kein von der körperlichen Existenz unabhängiges Sein. Das widerspricht der Ideenlehre Platons, der Ideen als eigenständige, transzendente Urbilder der Sinnesobjekte annahm. Somit hat Antiochos die Ideenlehre zumindest in ihrer ursprünglichen Version aufgegeben. Allerdings schreiben ihm einige Philosophiehistoriker, unter ihnen Paul Oskar Kristeller, eine eigene Ideenlehre zu. Sie führen die im späteren Platonismus bezeugte Deutung der Ideen als Gedanken Gottes auf Antiochos zurück und berufen sich dabei auf Äußerungen seiner Schüler Varro und Cicero, die sie als Indizien für ihre Hypothese betrachten. Andere Forscher lehnen dies mit der Begründung ab, dass sich daraus ein Widerspruch zum materialistischen Weltbild des Antiochos ergäbe und dass ein belastbarer Beleg fehle. Die Wirkkraft (lateinisch vis oder res efficiens) nennt Antiochos gemäß der stoischen Terminologie auch Eigenschaft (griechisch poiótēs, lateinisch qualitas). Theoretisch ist die Urmaterie eigenschaftslos, völlig ungeformt und daher zur Aufnahme jeder beliebigen Form geeignet. Da aber Wirkkraft und Materie nicht unabhängig voneinander existieren können, gibt es die eigenschaftslose Urmaterie nicht wirklich; die beiden Urprinzipien lassen sich nur im Denkakt, nicht in der Realität trennen. Von der Wirkkraft erhält die Materie ihre vielfältigen, in ständigem Wandel begriffenen Formen. In Übereinstimmung mit der Stoa hält Antiochos die Materie für unendlich teilbar, womit er der Meinung der Atomisten und Epikureer widerspricht. Auch die Seele fasst er als materiell auf. Die Wirkkraft, die dem Kosmos immanent ist, ihn zusammenhält und zu einer Einheit macht, ist mit der Gottheit und der Weltseele gleichzusetzen. Sie ist die Instanz, welche die Welt vernunftgemäß beherrscht. Alle Vorgänge am Himmel und auf der Erde sind von ihr schicksalhaft und unabänderlich festgelegt und verknüpft. Damit spielt sie zugleich im menschlichen Leben die Rolle der göttlichen Vorsehung. Wegen der Unauflöslichkeit der Verbindung von Wirkkraft und Materie und weil die Existenz der Materie diejenige der Wirkkraft bedingt, kann dieses Weltbild als materialistisch bezeichnet werden. Es ist in erster Linie stoisch geprägt. Allerdings wird in der Quelle, die darüber berichtet, Ciceros Academica posteriora, nicht ausdrücklich festgestellt, dass Antiochos sich die stoischen Ansichten, die er in seinen philosophiegeschichtlichen Ausführungen darlegt, zu eigen macht. Es lässt sich jedoch erschließen, dass er sie weitgehend billigt. Erkenntnistheorie Auch in seiner Erkenntnislehre stimmt Antiochos nachdrücklich der stoischen Auffassung zu. Er greift die Position der Skeptiker an, der zufolge alle Aussagen – insbesondere alle philosophischen Lehren – nur Meinungen sind, deren Richtigkeit sich bestenfalls plausibel machen, aber niemals zwingend beweisen lässt. Nach seiner Überzeugung gibt es eine „erkenntnisvermittelnde Vorstellung“ (katalēptikḗ phantasía), die ein gesichertes Wissen ermöglicht; an der Korrektheit der auf diesem Weg gewonnenen Einsicht in die Wirklichkeit ist nicht zu zweifeln. Die erkenntnisvermittelnde Vorstellung – ein Fachbegriff der Stoa – ist dadurch gekennzeichnet, dass ihre Richtigkeit deswegen unzweifelhaft ist, weil keine falsche Vorstellung denkbar ist, die denselben Eindruck hervorrufen könnte wie die richtige. Im Gegensatz zu den Skeptikern hält Antiochos diese Bedingung für erfüllbar. Sie ist für ihn wie für die Stoiker das Wahrheitskriterium. In seiner Auseinandersetzung mit Philon wendet er sich vor allem gegen dessen Ablehnung des stoischen Wahrheitskriteriums, da er in diesem Kriterium eine unerlässliche Voraussetzung für eine sinnvolle Unterscheidung zwischen Wahrem und Falschem sieht. Nach seiner Erkenntnistheorie gibt es ein Wissen, dessen absolute Zuverlässigkeit daraus folgt, dass die Möglichkeit eines Irrtums logisch ausgeschlossen werden kann. Nur dann kann überhaupt von Wissen gesprochen werden. Die Gegenposition Philons lautet, dass man die logische Möglichkeit eines Irrtums zugeben kann, ohne damit zwangsläufig in jedem Einzelfall den Anspruch auf Wissen aufgeben zu müssen. Gegen die Behauptung der Skeptiker, dass nichts mit Sicherheit erkannt werden könne, erhebt Antiochos den Einwand, ein solcher prinzipieller Zweifel könne sich nicht – wie Arkesilaos und Karneades behauptet hatten – auch auf sich selbst beziehen. Vielmehr seien die Skeptiker gezwungen, inkonsequenterweise für ihren eigenen Grundsatz einen Wahrheitsanspruch zu erheben. Außerdem liege ein Widerspruch darin, dass die Skeptiker einerseits das tatsächliche Vorhandensein von objektiv wahren bzw. falschen Vorstellungen annehmen und andererseits bestreiten, dass eine Unterscheidung von Wahrem und Falschem möglich ist. Ferner wiederholt Antiochos den bekannten Vorwurf von Gegnern der Skepsis, die skeptische Haltung sei nicht in der Lebenspraxis umsetzbar, da sie dem skeptischen Philosophen kein Kriterium belasse, nach dem er vernünftige Entscheidungen treffen könnte, und ihn damit zur Untätigkeit verdamme. Ein weiteres Argument beruft sich auf den empirischen Erfolg, der erzielt werden könne, wenn man auf der Basis einer korrekten, erkenntnisvermittelnden Vorstellung handle; dieser Erfolg setze einen Zusammenhang zwischen der Vorstellung und der Wirklichkeit voraus, der bei einer trügerischen Vorstellung nicht gegeben sei. Antiochos unterscheidet zwischen dem sinnlich Wahrnehmbaren, das ständiger Veränderung unterworfen sei, und dem Unwandelbaren, welches der einzige legitime Gegenstand von Wahrheitsbehauptungen sei. Nach seiner Lehre können die Sinnesdaten, da sie nur Veränderliches betreffen, von sich aus keinen Zugang zur Wahrheit verschaffen, sondern nur Meinungen erzeugen; die Wahrheitserkenntnis ist eine Leistung des Verstandes im Umgang mit den Begriffen, denen die Eigenschaft des Bleibenden und Beharrenden zukommt. Diese Unterscheidung erinnert an Platons Trennung zwischen der Welt der Erscheinungen und der Welt der Ideen. Sie ist aber nicht in diesem Sinne gemeint, denn Antiochos weist dem Unwandelbaren keine ontologisch eigenständige Existenz zu. Für ihn existiert das stets Gleichbleibende nicht in einer separaten intelligiblen Welt, sondern nur in Gestalt der Allgemeinbegriffe und der aus ihnen gezogenen Folgerungen, insoweit diese im Verstand vorhanden sind. Das Allgemeingültige wird vom Verstand ausschließlich aus den Sinneseindrücken abgeleitet – anders kann es nicht erschlossen werden – und hat nur durch seinen Zusammenhang mit ihnen eine Bedeutung. Der Verstand, der die von den Sinnesorganen vermittelten Eindrücke auswertet und ordnet, ist in Antiochos’ materialistischem Weltbild selbst auch ein Sinn. Diese unplatonische Lehre des Antiochos wertet gegenüber dem Platonismus die Sinneswahrnehmungen stark auf. Platon hatte den Sinnen misstraut, da deren Objekte nur unzulängliche Abbilder von Urbildern (Ideen) seien, und eine eigenständige Ideenwelt angenommen, der man sich unmittelbar zuwenden könne und solle. Ein platonisches Element und ein Unterschied zur Stoa besteht jedoch bei Antiochos darin, dass er die Bezeichnung „wahr“ nur für Allgemeinbegriffe zulässt, während die Stoiker sie auch für einzelne Sinneswahrnehmungen verwenden. Ethik Für Antiochos besteht das höchste Gut des Menschen und somit das Ziel (télos) des Lebens darin, „entsprechend der Natur zu leben“. Das Ideal des Naturgemäßen bezieht er auf die spezifisch menschliche Natur in ihrer Vollendung, wenn sie einen Zustand erreicht hat, in dem ihr nichts mangelt. Dass das Naturgemäße die Norm sei, wurde schon in der Älteren Akademie gelehrt. Dieses Konzept war – wie Antiochos historisch korrekt feststellt – den Platonikern und den Stoikern gemeinsam, denn die Stoa übernahm es von der Akademie. Allerdings erfuhr der Naturbegriff in der Stoa einen Bedeutungswandel; die Rolle des Leitbildes übernahm zunehmend die All-Natur, die allgemeine Natur des Kosmos, die damit an die Stelle einer spezifisch menschlichen Natur trat. Somit war die Menschennatur nur noch insofern von Bedeutung, als sie einen Ausdruck der Weltnatur darstellt. Für die Stoiker bestand der Wert der Menschennatur darin, dass die menschliche Vernunft als Erscheinungsform der göttlichen, den Kosmos von innen lenkenden Weltvernunft betrachtet wurde. Daher wurde in der stoischen Wertordnung nur den seelischen Gütern, den Tugenden, die ein vernunftgemäßes Leben ermöglichen, ein eigener Wert zugesprochen. In diesem Punkt widerspricht Antiochos der Stoa. Für ihn kann die Natur, die dem Menschen Vorbild sein soll, nicht die Allnatur sein, sondern nur die menschliche Gattungsnatur in ihrer Besonderheit. Damit zielt er auf die Einbeziehung des menschlichen Körpers. Er wirft den Stoikern vor, sich mit der Missachtung der körperlichen Güter (wie Gesundheit, Kraft und Schönheit) in Wirklichkeit von der Natur entfernt zu haben. Da der Mensch aus Körper und Seele bestehe, könne man den Körper nicht einfach aufgeben. Vielmehr sei die Menschennatur in jeder Hinsicht zur Vollendung zu bringen, also auch auf der körperlichen Ebene. Daher dürfe man den körperlichen Gütern nicht jeden Eigenwert absprechen. Auch im Bereich des Körperlichen gebe es ein Naturgemäßes, das um seiner selbst willen erstrebenswert sei und sogar zur Erreichung des höchsten Ziels, des vollendet naturgemäßen Lebens, beitrage. An sich wertvoll und erstrebenswert seien überdies auch die äußeren Güter wie Freunde, Verwandte und das Vaterland, ja sogar Reichtum, Ehre und Macht. Allerdings seien die äußeren Güter im Unterschied zu den seelischen und körperlichen für ein vollendetes Leben gemäß der Menschennatur nicht unbedingt erforderlich. Es sei zwar richtig, dass den seelischen Gütern, nämlich den Tugenden, ein prinzipieller Vorrang gebühre, und dass ein tugendhafter Charakter allein zur Erlangung der Eudaimonie (Glückseligkeit) ausreiche. Dies hätten schon die frühen Akademiker und die Peripatetiker (mit Ausnahme von Theophrast) mit Recht gelehrt. Dadurch werde aber das ebenfalls legitime Streben nach den körperlichen und den äußeren Gütern nicht entwertet und überflüssig gemacht. Die (charakterliche) Tugend sei nicht das einzige Gute im Menschen; Antiochos spricht sogar von körperlichen „Tugenden“ im Sinne von erstrebenswerten Vollendungszuständen des Körpers. Damit meint er nicht nur, dass die einzelnen Organe gesund sind und ihre Aufgaben störungsfrei erfüllen, sondern er zählt zu den körperlichen Tugenden auch Eigenschaften wie natürliche Haltung und anmutigen Gang. Als Tugenden (lateinisch virtutes) bezeichnet er nicht nur positive Charaktermerkmale, sondern allgemein erwünschte, naturgemäße Eigenschaften. Antiochos betont, dass die Entwicklung des Individuums, die zur Vollendung seiner Menschennatur führe, sich schrittweise vollziehe, wobei das Spätere auf dem Früheren aufbaue. Der Verlauf eines Menschenlebens führe vom anfänglichen instinktiven, „dunklen“ Streben nach Selbsterhaltung, das allen Lebewesen gemeinsam sei, zur Wahrnehmung und Nutzung der eigenen Fähigkeiten und Anlagen, einer bei Mensch und Tier, nicht aber bei Pflanzen vorgesehenen Entwicklungsstufe. Schließlich – im günstigsten Fall – münde der Fortschritt in die Selbsterkenntnis hinsichtlich des spezifisch Menschlichen, dessen Verwirklichung von der Menschennatur gefordert werde. Die Möglichkeit solcher Besinnung auf das Naturgemäße sei wie ein Samen von der Natur in den Menschen hineingelegt. Ihm obliege es dann, diese Anlage zu verwirklichen. Die Entwicklungsstufen sind nach der Lehre des Antiochos hierarchisch geordnet. Das Voranschreiten ist nicht ein Ersetzen des Niederen durch das Höhere, sondern ein Hinzutreten des Höheren zum Niederen. In der Regel erstrebt der Mensch das Naturgemäße und daher Wertvolle. Wenn es dabei zu Irrtümern und ethischen Konflikten kommt, ist dies darauf zurückzuführen, dass die hierarchische Ordnung der Güter nicht beachtet wird, sondern ein niederer Wert einem höheren vorgezogen wird. Bei den seelisch-geistigen Tugenden unterscheidet Antiochos zwischen solchen, die von der Natur als Begabungen verliehen sind und „von selbst entstehen“, wie rasche Auffassungsgabe und Gedächtnis, und „freiwilligen“, die der Vernunfttätigkeit zu verdanken sind. Die freiwilligen Tugenden – die Kardinaltugenden Klugheit, Mäßigung, Tapferkeit und Gerechtigkeit – eignet man sich an, nachdem man sich für sie entschieden hat. Ihr Erwerb steht jederzeit in der Macht des Individuums. Nur sie sind für die Erlangung der Glückseligkeit notwendig, und sie sind auch hinreichende Voraussetzung dafür. Daher ist ein glückliches Leben jederzeit durch eigene Entscheidung möglich; körperliche und äußere Hindernisse und Übel können es nicht verhindern. Antiochos teilt aber nicht die radikale Auffassung derer, die körperlichen und äußeren Gütern jeden Einfluss auf das Glück eines Weisen absprechen. Er meint zwar, die Kardinaltugenden seien für ein glückliches Leben ausreichend, doch sieht er in den körperlichen und äußeren Gütern zusätzliche verstärkende Faktoren, welche die Glückseligkeit noch steigern können. Dadurch werde ein vollendet glückliches Leben (lateinisch vita beatissima) ermöglicht, während die seelisch-geistigen Tugenden allein nur ein glückliches Leben (vita beata) gewährleisten könnten. Auch hinsichtlich der Frage nach der besten Lebensform wendet sich Antiochos gegen Einseitigkeiten. Ideal sei weder das aktive, auf äußeren Erfolg ausgerichtete Leben von Nichtphilosophen (griechisch bíos praktikós, lateinisch vita activa) noch das beschauliche, zurückgezogene mancher Philosophen (bíos theōrētikós, vita contemplativa), sondern eine Verbindung beider Lebensformen. Rezeption Antike Nach dem Tod des Antiochos übernahm sein Bruder und Schüler Aristos die Leitung der Schule. Anscheinend wich er kaum von der Lehre des Antiochos ab. Mit seinem Tod scheint Antiochos’ „Alte Akademie“ als Institution untergegangen zu sein; jedenfalls ist von weiteren Scholarchen nichts bekannt. Die Nachwirkung der Philosophie des Antiochos in der Antike beruhte vor allem auf seinem erheblichen Einfluss auf seine beiden sehr prominenten römischen Schüler Cicero und Varro. Indirekt beeinflusste er auch den republikanisch gesinnten Politiker Marcus Iunius Brutus, der bei der Ermordung Caesars und im anschließenden Bürgerkrieg eine wichtige Rolle spielte. Brutus war ein Schüler und Freund des Aristos und ein Bewunderer des Antiochos, den er aber nicht persönlich kannte. Er verfasste mehrere philosophische Werke. In seiner heute verlorenen Abhandlung Über die Tugend schloss er sich eng an die Ethik des Antiochos an. Cicero schließt sich zwar Antiochos’ Kritik am Skeptizismus nicht an, zeichnet aber ein sehr positives Bild von seiner Persönlichkeit. Er lobt seine außergewöhnliche Begabung und Bildung, seine Klugheit, seinen sanften, friedfertigen Charakter und die Überzeugungskraft seines Auftretens. Auf die rhetorischen Fähigkeiten des Philosophen bezog sich wohl sein Beiname „der Schwan“ (kýknos), den der spätantike Gelehrte Stephanos von Byzanz überliefert. Gegner des Antiochos unterstellten ihm, sein Motiv für den Bruch mit der akademischen Skepsis und die Gründung einer eigenen Schule sei Ruhmsucht gewesen. Cicero und Plutarch erwähnen derartige Beschuldigungen. Ungünstig fielen hingegen Urteile in der römischen Kaiserzeit aus. Plutarch gab seine Missbilligung nur indirekt zu erkennen. Dem Mittelplatoniker Numenios missfiel Antiochos’ Nähe zur Stoa; er tadelte die Einführung zahlreicher „fremder“ (mit dem Platonismus nicht kompatibler) Elemente. Der Skeptiker Sextus Empiricus, ein Vertreter der radikalen „pyrrhonischen“ Skepsis, hielt Antiochos für einen Stoiker, der die stoische Philosophie in die Akademie gebracht und dort gelehrt habe. Besonders scharf urteilte der Kirchenvater Augustinus, der auf die Gerüchte hinwies, nach denen Antiochos mehr von Ruhmsucht als von Wahrheitsliebe motiviert war. Er sei ein „strohener Platoniker“ gewesen, der nichts Wesentliches geleistet und den Platonismus mit stoischem Übel verunreinigt habe. Der materialistische Aspekt der Lehre des Antiochos konnte in christlichen Kreisen nur auf schärfsten Widerspruch stoßen. Moderne In der Moderne betonen viele Gelehrte die unplatonischen Aspekte der Lehre des Antiochos. Eine von Willy Theiler vorgetragene Deutung, wonach er ein echter Platoniker war und als solcher den Mittel- und Neuplatonismus vorbereitete, hat sich nicht durchgesetzt. Die Urteile in der modernen Forschung sind teilweise vernichtend ausgefallen, vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Anstoß erregte der Eklektizismus, die Vermischung unterschiedlicher philosophischer Traditionen, die ohne Verständnis für die Besonderheiten der teils miteinander unvereinbaren Lehren erfolgt sei. In diesem Sinne äußerte sich beispielsweise Theodor Mommsen, der meinte, Antiochos habe stoische Vorstellungen mit platonisch-aristotelischen „zusammengeklittert“; daraus sei die „Modephilosophie der Conservativen seiner Zeit“ geworden, eine „mißgeschaffene Doctrin“. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff urteilte, Antiochos habe „eine Lehre zurechtgestutzt, die dem Bedürfnis und dem Gefühle der sogenannten Gebildeten entgegenkam, weil sie sich um alle scharfe Dialektik herumdrückte und alles Gute und Schöne beizubehalten schien.“ Diese Einschätzung teilte auch Eduard Zeller. Auch in neuerer Zeit kommt scharfe Kritik vor; Michelangelo Giusta hält Antiochos für stark überschätzt. Seit dem späten 20. Jahrhundert überwiegen aber positivere Einschätzungen. Jonathan Barnes hält Antiochos’ Rückwendung zur Vergangenheit für verständlich, da sie in einer Zeit des Niedergangs der Philosophenschulen den Blick auf die Leistungen bedeutender Vorgänger gelenkt habe. Zu einer relativ günstigen Einschätzung gelangt auch Woldemar Görler. Nach seiner Ansicht ist Antiochos’ Philosophie „kein vager Kompromiss“, sondern „in sich geschlossen“. Nicht aus Unredlichkeit habe der Gründer der „Alten Akademie“ Platons Lehre im stoischen Sinne umgedeutet und die gravierenden Unterschiede zwischen den Schulen verwischt, sondern weil ihm metaphysisches Denken fremd war; sein Synkretismus sei Ausdruck einer Tendenz des damaligen Zeitgeistes. So sei er ungeachtet seiner Stellung als Leiter einer „platonischen“ Schule faktisch fast ein reiner Stoiker geworden. Auch John Dillon hält Antiochos’ Denken für kohärent. Nach der Einschätzung von Mauro Bonazzi war Antiochos keineswegs ein platonisch verbrämter Stoiker. Vielmehr hat er seine Strategie geschickt verfolgt: Er wollte nicht Platonismus und Stoa verschmelzen, sondern die stoischen Lehren dem Platonismus unterordnen und in ihn eingliedern. Quellensammlungen Heinrich Dörrie (Hrsg.): Der Platonismus in der Antike, Band 1: Die geschichtlichen Wurzeln des Platonismus. Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, ISBN 3-7728-1153-1, S. 188–211, 449–483 (Quellentexte mit Übersetzung und Kommentar) Hans Joachim Mette: Philon von Larisa und Antiochos von Askalon. In: Lustrum 28/29, 1986/87, S. 9–63 (Zusammenstellung der Quellentexte) Literatur Jonathan Barnes: Antiochus of Ascalon. In: Miriam Griffin, Jonathan Barnes (Hrsg.): Philosophia togata. Essays on Philosophy and Roman Society. Clarendon Press, Oxford 1989, ISBN 0-19-814884-4, S. 51–96 John Dillon: The Middle Platonists. Duckworth, London 1977, ISBN 0-7156-1091-0, S. 52–106 Ludwig Fladerer: Antiochos von Askalon. Hellenist und Humanist (= Grazer Beiträge, Supplementband 7). Berger und Söhne, Graz/Horn 1996 (vgl. die sehr kritische Rezension von John Glucker in Gnomon 74, 2002, S. 289–295) John Glucker: Antiochus and the Late Academy (= Hypomnemata Bd. 56). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1978, ISBN 3-525-25151-3 Woldemar Görler: Antiochos aus Askalon und seine Schule. In: Hellmut Flashar (Hrsg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, Bd. 4: Die hellenistische Philosophie, 2. Halbband, Schwabe, Basel 1994, ISBN 3-7965-0930-4, S. 938–980 David Sedley (Hrsg.): The Philosophy of Antiochus. Cambridge University Press, Cambridge 2012, ISBN 978-0-521-19854-7 Weblinks Anmerkungen Philosoph (Antike) Griechische Philosophie Grieche (Antike) Geboren im 2. Jahrhundert v. Chr. Gestorben im 1. Jahrhundert v. Chr. Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht%20bei%20Ligny
Schlacht bei Ligny
In der Schlacht von Ligny trafen am 16. Juni 1815 – zwei Tage vor der Schlacht bei Waterloo – die französischen Truppen der Grande Armée unter Napoleon auf eine preußische Armee unter dem Kommando des Feldmarschalls Blücher. Ligny war Napoleons letzter Sieg. Er konnte die Truppen Blüchers unter Einsatz der Alten Garde zwar schlagen, aber nicht völlig vernichten. Dies sollte in Waterloo fatale Folgen für ihn haben. Sie ist daher die Schlüsselschlacht für die darauf folgenden Ereignisse. Die Ausgangslage für Napoleon Ermutigt von Meldungen über die wachsende Unzufriedenheit des französischen Volkes mit der Herrschaft Ludwigs XVIII. war Napoleon am 1. März 1815 von seinem Exil auf der Insel Elba nach Frankreich zurückgekehrt. Österreich, Russland, Großbritannien und Preußen hatten sich daraufhin auf dem Wiener Kongress zum militärischen Eingreifen entschieden. Am 25. März erneuerten sie ihre große Allianz von 1814 und verpflichteten sich, eine Armee von insgesamt 700.000 Mann aufzustellen. Napoleon wusste, dass er einem solchen Heer nichts Gleichwertiges entgegenzustellen hatte, und entschied sich für einen Präventivschlag, solange die Armeen der Österreicher und Russen sich noch nicht mit den britischen und preußischen Truppen vereinigt hatten. Zu diesem Zweck baute er bis Mitte Juni ein neues, schlagkräftiges Heer auf und verließ am 12. Juni Paris, um das Kommando über die rund 128.000 Mann starke Armée du Nord zu übernehmen, die er in der Gegend um Beaumont konzentrierte. Seine Zielobjekte waren die britische Streitmacht unter dem Befehl des Herzogs von Wellington, der 35.000 Briten, 41.000 Deutsche (Hannoveraner, Braunschweiger und Nassauer) sowie über 24.000 Niederländer und Belgier bei Brüssel zusammengefasst hatte, sowie die von Feldmarschall Blücher befehligte 117.000 Mann starke preußische Armee, die auf der Linie Charleroi–Namur–Lüttich stand. Aufmarsch der Truppen Aufmarsch Napoleons Der Aufmarsch Napoleons war ein militärisches Meisterstück. Am 6. Juni brach das IV. Korps von Metz auf, wenig später das I. Korps von Lille. Parallel wurde der Aufmarsch der verstärkten Vorposten aus den Festungen dem Feind verschleiert. Am 8. Juni brach die Garde von Paris auf, simultan mit dem VI. Korps von Laon und dem II. Korps von Valenciennes. Der Heerhaufen wurde am 13. Juni in Philippeville und Avesnes gesammelt und in Marsch gesetzt. Bonaparte selbst hatte Paris am 12. Juni verlassen und traf mit der Kutsche dort am 13. Juni ein. Die konzentrische Aktion war auf die Überraschung des Gegners abgestimmt. Am 14. Juni. zogen sich die französischen Korps zusammen und formierten sich zu 3 Kolonnen: rechter Flügel, 16.000 Mann stark, bestehend aus dem IV. Korps und etwas Kavallerie, bei Philippeville; Mitte, 64.000 Mann stark, bestehend aus dem V. und VI. Korps, der Garde und dem größten Teil der Kavallerie, bei Beaumont; linker Flügel, 44.000 Mann stark, bestehend aus dem I. und II. Korps, bei Solre und Sambre. Diese Formation war von Charleroi vier Meilen entfernt. Erst in der Nacht vom 14. auf den 15. Juni meldete General Ziethen, dass der Feind sich vor seiner Stellung verstärke. Er hatte eine Vermehrung der Lagerfeuer beobachten können. Es blieben 36 Stunden bis zum Beginn der Schlacht. Napoleon Garde impériale (14.949) Alte Garde (Infanterie) General de division Friant (8.089) Junge Garde (Infanterie) Duhesme (6.860) II. Korps General de division Reille (bei Quatre Bras, außer:) 7. Infanteriedivision General de division Girard (3.941) III. Korps General de division Vandamme (16.128) 8. Infanterie-Division Lefol (5.023) 10. Infanterie-Division Habert (5.439) 11. Infanterie-Division General de division Berthezène (4.468) 3. Kavallerie-Division Domon (1.198) IV. Korps General de division Gérard (14.798) 12. Infanterie-Division Pécheux (4.689) 13. Infanterie-Division Vichery (4.037) 14. Infanterie-Division Hulot (4.138) 7. Leichte Kavallerie-Division General de division Maurin (1.934) IV. Kavallerie-Korps Milhaud (2.701) (Kürassiere) 13. Kavallerie-Division Wathier Saint-Alphonse (1.141) 14. Kavallerie-Division Delort (1.560) Im Anmarsch VI. Korps Generallieutenant Lobau Marschall Grouchy I. Kavallerie-Korps Generallieutenant Pajol (2.465) 4. Kavallerie-Division Soult (1.301) 5. Kavallerie-Division Subervie (1.164) II. Kavallerie-Korps Generallieutenant Exelmans (3.332) 9. Kavallerie-Division Strolz (1.606) 10. Kavallerie-Division Chastel (1.726) Marschall Ney (bei Quatre Bras) II. Korps Generalleutnant Reille III. Kavallerie-Korps Kellermann Leichte Kavallerie-Division der kaiserlichen Garde Lefebvre-Desnouettes Zwischen Quatre-Bras und Ligny I. Korps General Drouet d’Erlon Aufmarsch Blücher Blücher erließ noch in derselben Nacht einen Befehl an alle Armeekorps, sich in der Gegend um Sombreffe zu sammeln. Dennoch konnte er nur mit drei seiner vier Armeekorps sich dem überlegenen Feind stellen. Bülow Neuere Forschungen gehen davon aus, dass eine Animosität zwischen Bülow und Gneisenau, der als Generalstabschef den Befehl im Namen Blüchers auszuführen hatte, dazu geführt hat, dass Bülow den ersten Befehl glatt ignorierte. Andere glauben, dass der mangelnde Befehlston in dem Schreiben Gneisenaus Bülow über den Ernst der Lage hinwegtäuschte. Erst auf dem zweiten Befehl reagierte Bülow, deutlich zu spät, um mit dem IV. Korps noch in die Schlacht eingreifen zu können. Bülow meldete dem Hauptquartier, dass er am 16. Juni erst in Hannut eintreffen werde. Daher erreichte ihn auch nicht mehr der 3. und 4. Befehl, die man vom Hauptquartier, der Windmühle von Bussy, nach Namur schickte und ihn dazu aufforderte, gleich nach Sombreffe durchzumarschieren: Bülow war am 15. Juni noch in Lüttich geblieben. Die besagten Befehle gelangten erst am 17.6. um 3 Uhr morgens nördlich von Gembloux zu Bülow. Wäre Bülow mit seinem IV. Korps nur 12 Stunden früher gekommen, hätte er noch in das Schlachtgeschehen eingreifen können. Zieten, Pirch und Thielmann Das I. Korps zog sich planmäßig von St. Anmad nach Ligny zurück. Das III. Korps erhielt den Marschbefehl erst den 15. morgens um 10 Uhr, konnte sich aber um 10 Uhr noch auf dem Schlachtfeld einfinden, kurz vor dem II. Korps, das die Phalanx schloss. Blüchers Truppen (Organisation und Stärke) I. Korps Generallieutenant von Zieten (29.096) 1. Brigade Generalmajor von Steinmetz (7.835) 2. Brigade Generalmajor von Pirch II. (6.876) 3. Brigade Generalmajor von Jagow (6.698) 4. Brigade Generalmajor Henckel von Donnersmarck (4.106) Reserve-Kavallerie Generallieutenant von Röder (2.865) Reserve-Artillerie Major von Rentzell (716) II. Korps Generalmajor von Pirch I (30.026) 5. Brigade Generalmajor von Tippelskirch (6.498) 6. Brigade Generalmajor von Krafft (6.334) 7. Brigade Generalmajor von Brause (6.353) 8. Brigade Generalmajor von Bose (6.072) Reserve-Kavallerie Generalmajor von Wahlen-Jürgass (4.069) Reserve-Artillerie Major Lehmann (700) III. Korps Generallieutenant von Thielmann (23.544) 9. Brigade Generalmajor von Borcke (6.557) 10. Brigade Oberst von Kemphen (4.130) 11. Brigade Oberst von Luck (4.201) 12. Brigade Oberst von Stülpnagel (6.199) Reserve-Kavallerie Generalmajor von Hobe (2.038) Reserve-Artillerie Major von Grevenitz (419) Im Anmarsch IV. Korps General von Bülow (aus Richtung Lüttich) Die Lage am Morgen der Schlacht Am 15. Juni hatte Napoleon die Sambre bei Charleroi überschritten und einen Keil zwischen Wellington und Blücher geschoben. Seine Armee war in drei Teile aufgeteilt: Auf dem linken Flügel standen ein Korps und zwei Kavallerie-Divisionen unter dem Kommando Marschall Neys, auf dem rechten Flügel zwei Kavallerie-Korps unter Marschall Grouchy und im Zentrum drei Korps (darunter die Kaiserliche Garde) und Milhauds Kürassiere als Kavallerie-Reserve unter den Augen des Kaisers. Napoleons wichtigstes Ziel bestand darin, die beiden gegnerischen Armeen voneinander getrennt zu halten und einzeln zu schlagen. Zu diesem Zweck sollte Ney gegen die Briten auf Quatre-Bras vorrücken und dort Wellingtons Kräfte binden. Gleichzeitig sollten auf dem anderen Schauplatz die beiden Korps unter General Vandamme und General Gérard die Preußen frontal auf ihrer Verteidigungslinie zwischen Wagnelée, St. Amand und Ligny angreifen, während Grouchy, den linken preußischen Flügel umfassend, auf Sombreffe marschierte. Napoleon selbst wollte im Zentrum auf Fleurus vorstoßen und mit einem Schlag unter Einsatz der Alten Garde die endgültige Entscheidung gegen die Preußen herbeiführen. Der Plan einer Trennung der beiden gegnerischen Armeen entsprach damit vollkommen jener Idee, mit der Napoleon ganz zu Beginn seiner militärischen Karriere im Italienfeldzug seine ersten großen Siege errungen hatte, als er am 12. und 14. April 1796 zunächst die Österreicher zu seiner Rechten und am 13. April die Sarden zu seiner Linken getrennt voneinander geschlagen hatte. Blüchers Truppen bestanden aus dem I. preußischen Korps unter General Zieten, dem II. Korps unter General Pirch und dem III. Korps unter General Thielmann. Das I. Korps stand in vorderster Linie und hatte die Aufgabe, die Dörfer Ligny, Brye und St. Amand zu verteidigen, während das III. Korps bei Mont Potriaux und Tongrinnes den linken Flügel bildete und die Rückzugswege nach Gembloux und Namur deckte. Blücher und Gneisenau gingen davon aus, von Wellington unmittelbar bei Ligny unterstützt zu werden. Noch gegen 10 Uhr hatte der Herzog, der inzwischen an der Kreuzung von Quatre Bras eingetroffen war, eine Nachricht an die Preußen gesandt, in der er behauptete, seine Armeereserve sowie seine Reservekavallerie könnten bis Mittag bei Quatre Bras sein. (Tatsächlich erschien die Spitze der Armeereserve, General Thomas Pictons 5. Division, erst nach 15 Uhr an der Kreuzung, die Reservekavallerie sogar erst am frühen Abend.) Auch als er drei Stunden später selbst bei der Windmühle von Brye mit Blücher und Gneisenau konferierte, vermied er eine Korrektur seiner allzu optimistischen Annahmen, sondern erklärte lediglich, er komme zu Hilfe, falls er bei Quatre Bras nicht selbst angegriffen werde. Gneisenau nahm diese bedingte Zusicherung des Briten zum Anlass, den rechten Flügel der preußischen Armee mit dem I. Armeekorps (Zieten) in einer vorgeschobenen und beinahe rechtwinklig zum linken Flügel abknickenden Linie entlang der Dörfer Ligny und St. Amand sowie St. Amand La Haye in Stellung gehen zu lassen. Dahinter stellte er das II. Armeekorps (Pirch) mit 33.000 Mann und 80 Geschützen vorwärts der Namur-Straße in Reserve auf. Die rechte Flanke dieser exponierten Position blieb in der Hoffnung auf Wellingtons Unterstützung aus Richtung Quatre Bras offen. Obwohl das IV. Armeekorps unter General von Bülow auf Grund eines zu höflich ausgefallenen Befehls des dienstjüngeren Gneisenaus sich nicht zeitig genug in Marsch gesetzt hatte und daher kaum vor Abend mit seinen Spitzen bei Ligny erscheinen konnte, war die Aufgabe für die Preußen nicht unlösbar. Sie hatten beinahe 83.000 Mann gegen nur 60.000 Franzosen massiert und standen auf ihrem rechten Flügel in gut verbarrikadierten Stellungen entlang der Ortschaften. Das gesamte II. Armeekorps stand als Reserve zur Verfügung und auch vom III. Armeekorps auf dem linken Flügel ließen sich notfalls Kräfte abzweigen. Bei Ligny standen insgesamt rund 60.800 Franzosen (55.000 Napoleon und 5.800 Grouchy) rund 82.700 Preußen gegenüber: Das Schlachtfeld Das Schlachtfeld von Ligny lag auf der Wasserscheide zwischen den Flüssen Schelde und Maas. Westlich von Fleurus entsprang der Ligny-Bach, der sich in nordöstlicher Richtung durch das kleine Dorf Ligny hindurch bis nach Sombreffe schlängelte. Der Bach war zwar nur wenige Meter breit, an seinen Rändern jedoch stellenweise sumpfig, so dass den Brücken in Ligny und St. Amand eine strategische Bedeutung zukam. Die befestigten Punkte von Bedeutung waren Ligny, St. Amand und Wagnelée, das mit St. Amand durch die beiden Weiler St.-Amand-le-Hameau und St.-Amand-la-Haye verbunden war. Die Gebäude dieser drei Ortschaften – und insbesondere diejenigen Lignys – waren durch ihre feste Bauweise und die sie umgebenden Bäume bestens zur Verteidigung geeignet. Weite Teile des übrigen Schlachtfeldes bestanden aus Feldern, auf denen das Getreide mannshoch stand. Auf einem Hügel nordwestlich von Ligny stand die Windmühle von Brye (auch Windmühle von Bussy genannt), die gut als Aussichtspunkt geeignet war und in deren Nähe General Blücher während der Schlacht sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Napoleons Hauptquartier lag bei Fleurus, wo er von der Windmühle von Naveau aus ebenfalls einen guten Überblick über das Schlachtfeld hatte. Chronologie der Schlacht Auftakt: Angriff auf St. Amand Erst als er gegen 14:30 Uhr von Quatre-Bras aus Kanonendonner hörte und damit klar war, dass vom linken Flügel keine Gefahr drohte, konnte Napoleon seinen Angriff gegen die preußischen Linien beginnen. Zudem war Gérards IV. Korps, das von Südwesten in Richtung Ligny vorrückte und eine wichtige Rolle in den Angriffsplänen Napoleons spielte, erst verspätet in Fleurus eingetroffen. Beide Verzögerungen sollten sich später als verhängnisvoll erweisen. Napoleon begann den Angriff mit einem Artilleriefeuer der bei Fleurus stehenden Garde. Kurz darauf griff Vandammes III. Korps den kleinen Weiler St.-Amand-la-Haye an. Die dort stehenden Preußen der Brigade Jagow konnten der angreifenden Division Lefol nicht standhalten und mussten zurückweichen. Doch nur kurze Zeit später erfolgte der Gegenangriff durch General Steinmetz, der das Dorf mit sechs Bataillonen der 1. Brigade zurückeroberte. Ein erneuter Angriff der Franzosen, bei dem Vandamme seine Truppen durch die Division Girard (Korps Reille) verstärkte, führte zu einem erbitterten Kampf, in dessen Verlauf die Preußen rund 2.500 Mann verloren und St.-Amand-la-Haye aufgeben mussten. Damit drohte Blüchers rechte Flanke zusammenzubrechen, weshalb er Pirchs 2. Brigade in den Kampf um St.-Amand-la-Haye schickte. Obwohl General Girard hierbei schwer verwundet wurde (er starb am 25. Juni an den Folgen der Verwundung in Paris), konnten die Franzosen ihre Stellung behaupten. Daraufhin beorderte Blücher Teile des von General von Tippelskirch geführten II. Korps zu einem Umfassungsangriff auf die linke Flanke der Franzosen. Die in der Zwischenzeit von Vandamme vor Wagnelée platzierten Verstärkungen verhinderten diesen Plan jedoch, indem sie die auf dem Marsch befindliche Brigade Tippelskirchs aus dem Schutz der Getreidefelder heraus überraschten und in das Dorf zurücktrieben. Nun verließ Blücher seinen Beobachtungsposten in der Windmühle von Brye und griff persönlich in den Kampf ein. Unter seiner Führung gelang der preußische Gegenangriff auf die in den vorangegangenen Kämpfen stark geschwächten Franzosen, so dass sich St.-Amand-la-Haye wieder in der Hand der Preußen befand. Damit wurden um 17 Uhr immer noch St. Amand, St.-Amand-la-Haye und Wagnelée von preußischen Truppen gehalten. Die Schlacht um Ligny Gegen 15 Uhr eröffnete General Gérard mit dem IV. französischen Korps die Schlacht um Ligny. Unter schwerem preußischen Artilleriefeuer gelang der 12. Infanteriedivision unter Baron Pécheux der Einbruch bis zur Kirche des Dorfes. Bei ihrem Vorstoß gerieten die Franzosen jedoch unter heftigen Beschuss von allen Seiten. In kurzer Zeit fielen über 500 Mann, darunter 20 Offiziere, während sich der Rest wieder zurückziehen musste. Daraufhin schickte Napoleon ihm eine Anzahl von 12-Pfünder-Geschützen der Garde zur Unterstützung, die – zusammen mit der Artillerie des IV. Korps – zahlreiche Gebäude Lignys in Brand schossen. Bei dem folgenden erneuten Angriff der Infanterie entbrannte ein erbitterter Häuserkampf, in dessen Verlauf die Preußen, verstärkt durch die 3. Brigade unter General von Jagow, Ligny zurückerobern konnten. Der preußische Leutnant Gerhard Andreas von Garrelts berichtete später als Augenzeuge von den Qualen, denen die unvermutet in den Mittelpunkt des Schlachtgeschehens geratene belgische Zivilbevölkerung in diesen Stunden ausgesetzt war: Die verpasste Chance Gegen 17 Uhr entschied Feldmarschall Blücher sich zu einem Einsatz des noch frischen II. Korps unter General von Pirch, das er in die Gegend südlich von Brye beorderte. Etwa zur selben Zeit sichtete General Vandamme auf der linken französischen Flanke eine Truppe von 20.000–30.000 Mann beim Vorrücken in Richtung Fleurus, die er fälschlicherweise für den Feind hielt. Napoléon, der gerade im Begriff stand, den entscheidenden Schlag auf das Zentrum vorzubereiten, wurde von dieser Nachricht völlig überrascht. Er hatte um 15:30 Uhr eine handschriftliche Notiz (in der englischsprachigen Literatur als pencil note bezeichnet) an Ney geschickt, wonach dieser das I. Korps unter Marschall Drouet d’Erlon zum Angriff im Rücken der rechten preußischen Flanke beordern sollte. Die von Vandamme gemeldeten Truppen schienen jedoch die linke französische Flanke zu bedrohen. Darüber hinaus konnte es sich – unter Berücksichtigung der Zeit, die der mit der Überbringung der handschriftlichen Notiz beauftragte Comte de la Bédoyère bis zu Ney brauchte – noch gar nicht um Drouet d’Erlons I. Korps handeln. Napoléon wusste allerdings nicht, dass de la Bédoyère das I. Korps zu einem Zeitpunkt erreicht hatte, als d’Erlon gerade in Richtung Quatre Bras vorausgeritten war, um sich dort einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Angesichts der Dringlichkeit, mit der der Kaiser die Verstärkung bei Ligny erwartete, hatte de la Bédoyère das I. Korps unter Überschreitung seiner Kompetenzen nach Osten abdrehen lassen, so dass es schon kurz nach 17 Uhr in Sichtweite Vandammes geriet. Ney, der sich über die Pläne Napoleons zu diesem Zeitpunkt offensichtlich nicht voll im Klaren war, hatte inzwischen von dem Abdrehen des I. Korps erfahren und diesem einen entgegengesetzten Befehl hinterhergeschickt, in dem er Drouet d’Erlon zur sofortige Umkehr nach Quatre-Bras aufforderte. Als Drouet d’Erlon, der seine Truppen inzwischen wieder eingeholt hatte, Neys Order erhielt, ließ er sein Korps – nur wenige Kilometer von Ligny entfernt – erneut wenden und nach Quatre Bras zurückmarschieren, was schließlich zur Folge hatte, dass das I. Korps an diesem Tag nicht mehr in die Kämpfe eingriff. Die auf französischer Seite hervorgerufene Verzögerung nutzte Blücher aus, indem er einen Angriff auf die linke Flanke der Franzosen befahl. Von seinem Beobachtungsposten in der Mühle von Brye konnte er sehen, wie seine Truppen über St. Amand hinaus nach Westen vorstießen. In diesem Moment erhielt Vandammes Korps jedoch unverhoffte Unterstützung durch Duhesmes Junge Garde. Diese stoppte den gegnerischen Vormarsch und warf die Preußen wieder in ihre ursprünglichen Stellungen zurück. Preußischer Gegenangriff Gegen 19 Uhr stellte sich die Situation etwa wie folgt dar: Grouchys Kavallerie hatte Tongrenelle erobert und rückte auf Mont-Potriaux vor, im Zentrum bei Ligny fanden weiterhin heftige Kämpfe statt, während sich die angreifende Junge Garde auf der rechten preußischen Flanke erschöpft zu haben schien. Als Blücher in diesem Moment aus Quatre Bras die Nachricht erhielt, Wellington werde selbst schwer von Ney bedrängt und könne deshalb keinesfalls Unterstützung nach Ligny schicken, entschied er sich zu einem Gegenangriff auf die linke französische Flanke, um hier die Entscheidung herbeizuführen. Zunächst verstärkte er die angeschlagenen Truppen in Ligny, dann sammelte er die letzten zu seiner Verfügung stehenden Reserven und führte persönlich einen Angriff auf St. Amand. Auf diese Weise gelang den Preußen zunächst die Rückeroberung von St.-Amand-le-Hameau. Auf ihrem weiteren Vormarsch wurden sie jedoch von den Jägern der Kaiserlichen Garde westlich von St. Amand zurückgeschlagen und traten einen ungeordneten Rückzug nach St.-Amand-la-Haye an. Napoleon setzt die Alte Garde ein; Blücher entgeht nur knapp dem Tod In dieser Situation entschied sich Napoleon für den finalen Gegenschlag und setzte die Alte Garde, die von Guyot geführte Reserve-Kavallerie der Jungen Garde sowie die schwere Kavalleriedivision Milhauds – rund 2.700 Mann Kürassiere – in Richtung des preußischen Zentrums bei Ligny in Bewegung. Nach einem vom Beschuss der preußischen Artillerie begleiteten etwa zwanzigminütigen Marsch leitete Napoleons eigene Gardeartillerie den Angriff auf die preußischen Stellungen ein. Gegen 19:45 Uhr begannen die beiden Divisionen der Alten Garde den Sturm auf Ligny, und die nach fünfstündigem Kampf erschöpften Preußen wichen zurück. Als Reaktion auf den Ansturm der Garde befahl Blücher nun den Gegenangriff der Reserve-Kavallerie unter Generalleutnant von Röder, bei dem er erneut selbst mitritt. Dabei wurde sein Pferd von einer Kugel tödlich getroffen und der 72-jährige Blücher beim anschließenden Sturz unter ihm begraben. Von den über ihn hinwegreitenden französischen Kürassieren unentdeckt, wurde er zwar später von einem seiner Adjutanten, Major von Nostitz, gerettet, war aber genau zu jenem Zeitpunkt außer Gefecht, als die französische Kavallerie den preußischen Gegenangriff zurückschlug. Rückzug der Preußen Bereits gegen 20 Uhr meldete Generalmajor von Krafft, das Dorf Ligny nicht mehr halten zu können. Nur eine halbe Stunde später brach die Alte Garde durch Ligny hindurch. Damit war die Schlacht für die Preußen verloren. Jetzt lastete die Verantwortung der Entscheidung auf Generalleutnant von Gneisenau, der an Stelle des vermissten Blücher den Befehl übernommen hatte. Gneisenau entschied sich zum Rückzug in nördlicher Richtung auf Tilly zu, was zwar die Verbindungslinien zum Rhein bedeutend verlängerte, jedoch die Möglichkeit offen hielt, Wellington im Falle eines französischen Angriffs zu Hilfe zu kommen. Doch zunächst ging der Kampf weiter. Noch bis drei Uhr morgens hielt Generalmajor von Jagow den kleinen Ort Brye, während die übrigen preußischen Truppen in einem ungeordneten Rückzug nach Norden strömten. Der Einbruch der Dunkelheit verhinderte jedoch die konsequente Verfolgung durch die Franzosen. Darüber hinaus hatte Röders Gegenangriff einem Teil der im Zentrum kämpfenden preußischen Infanterie zur Flucht verholfen. Und die auf den Flanken stehenden Truppen unter Zieten und Thielemann hatten sich bis zu dem Punkt halten können, als das Zentrum endgültig zusammenbrach. Die preußische Armee war am 16. Juni ihrer Vernichtung entgangen und Napoleons Schlachtplan von Ligny damit gescheitert. Grouchy war nach Berichten, das preußische Heer wäre Richtung Rhein abgerückt, diesem vermeintlich gefolgt. Dabei handelte es sich jedoch nur um etwa 8000 Mann westfälische Landwehr, die sich vom Heer getrennt hatte und entgegen klaren Befehlen nach Hause abzog. Folgen Napoleons versäumte Chance einer vollständigen Vernichtung der preußischen Armee hatte maßgeblichen Einfluss auf den weiteren Verlauf des Belgienfeldzuges. Während Grouchy zusammen mit den Einheiten Vandammes und Gérards den Auftrag erhielt, Blücher weiter zu verfolgen, verband sich Napoleon mit den Einheiten von Ney und zog Richtung Norden zum Kampf gegen Wellington, den er am Abend des 17. Juni südlich von Waterloo stellte. Aufgrund des schlechten Wetters und der Erschöpfung seiner Soldaten verschob Napoleon den Angriff jedoch auf die Mittagszeit des nächsten Tages. Diese Verzögerung stellte sich später als verhängnisvoll heraus. Während in Waterloo bereits die Schlacht tobte, gelang es den Preußen nämlich, ihrem Verfolger Grouchy zu entkommen und Wellington im entscheidenden Moment zu Hilfe zu eilen. Damit war der britisch-preußische Sieg am 18. Juni 1815 auch eine indirekte Folge der Ereignisse, die sich zwei Tage zuvor bei Ligny abgespielt hatten. Nur einen Tag nach seiner Rückkehr nach Paris dankte Napoleon am 22. Juni zugunsten seines Sohnes ab. Am 8. Juli 1815 kehrte Ludwig XVIII. als König nach Paris zurück. Die Episode der Herrschaft der Hundert Tage war beendet, Napoleon starb sechs Jahre später in der Verbannung auf St. Helena. Militärgeschichtliche Bewertung des Schlachtverlaufs In ihrer Analyse der Ereignisse vom 16. Juni hat die militärgeschichtliche Forschung verschiedene Theorien darüber entwickelt, warum Napoleons Plan einer vollständigen Vernichtung der preußischen Armee misslang. Am naheliegendsten ist es dabei, der zu langen Bindung der Kräfte Neys bei Quatre Bras die Schuld für das Scheitern zuzuweisen. In den Befehlen, die Ney am Morgen des 16. Juni von Napoleon erhielt, war lediglich von einer Einnahme Quatre Bras’ die Rede. Um 14 Uhr schickte Napoleon dann den Befehl an Ney, dieser solle nach der Einnahme von Quatre Bras nach Ligny vorrücken, um dort in die rechte Flanke und den Rücken der Preußen zu fallen. Um 15:15 Uhr ließ Napoleon durch Marschall Soult eine erneute Depesche an Ney schicken, in der er seinen Befehl von 14 Uhr dahingehend präzisierte, dass Ney die britischen Truppen bei Quatre Bras nur mit einem absoluten Minimum an eigenen Truppen aufhalten und stattdessen den größeren Teil seiner Kräfte zur Unterstützung nach Ligny schicken solle. Die bereits erwähnte handschriftliche Notiz von 15:30 Uhr (pencil note), die Ney ganz ausdrücklich anwies, das von Südwesten anrückende I. Korps unter Drouet d'Erlon sofort zur Unterstützung nach Ligny zu beordern, kam jedoch nie bei Ney an. Dieses für den Schlachtverlauf nicht unerhebliche Dokument ist jedoch nicht überliefert worden und gab damit der militärgeschichtlichen Forschung Anlass für zahlreiche Spekulationen. Klar ist, dass das Ausbleiben des I. Korps in Ligny den Schlachtverlauf entscheidend beeinflusste. Hätten die frischen Truppen die Preußen gemäß Napoleons Anweisung im Rücken angegriffen, wäre das Schicksal der preußischen Armee besiegelt gewesen und der gesamte weitere Verlauf des Belgienfeldzuges hätte womöglich eine andere Wendung genommen. Die zahlreichen Kommentatoren der Schlacht sehen die Hauptschuld mal bei Ney, dem sie vorwerfen, Napoleons Pläne nicht voll und ganz begriffen zu haben, mal bei Drouet d’Erlon, der es auf seinem Weg nach Ligny versäumte, Kontakt zu den nicht weit von ihm entfernt stehenden Truppen General Vandammes aufzunehmen, oder aber bei de la Brédoyère, als er das I. Korps nach Osten schwenken ließ und damit seine Kompetenzen überschritt. Wieder andere Stimmen meinen, der späte Beginn der Schlacht habe deren Ergebnis schon vorherbestimmt. Welcher der von der militärgeschichtlichen Forschung angeführten Gründe auch immer für den Ausgang der Schlacht bei Ligny ausschlaggebend gewesen sein mag, unbestritten ist, dass das Misslingen des entscheidenden Schlags gegen Blüchers Preußen zwei Tage vor Waterloo schon den Keim für das endgültige Scheitern Napoleons in sich trug. Rezeptionsgeschichte Neben einer Fülle von militärgeschichtlichen Abhandlungen, die in ihrer Schilderung und Bewertung der Schlachtereignisse – je nach Nationalität des Autors – zumeist deutlich dem einen oder dem anderen Lager zuzuordnen sind, wurde die Erinnerung an die Napoleonische Ära lange Zeit durch die zahlreichen bildlichen Darstellungen vorwiegend französischer, britischer und deutscher Künstler wachgehalten. Für Frankreich sind vor allem Louis Ernest Meissonier, Jean Baptiste Édouard Detaille, Félix Philippoteaux, Théodore Géricault und Emile Jean Horace Vernet zu nennen, deren Darstellungen einzelner Situationen aus den Feldzügen Napoleons bis heute unsere Vorstellung prägen. In der deutschen Historienmalerei des 19. Jahrhunderts rangierten die Befreiungskriege noch vor den Rückbezügen auf die germanische Zeit und das mittelalterliche Kaisertum an erster Stelle. Motiviert durch ein steigendes Interesse an der nationalen Vergangenheit und in dem Glauben an die Macht der Geschichte entstanden zahlreiche Gemälde, die das Bild vom Kampf der Deutschen in den Kriegen der napoleonischen Ära verklärten und dabei eine Popularität erlangten, die heute kaum noch vorstellbar ist. Die heute verfügbaren Darstellungen zur Schlacht von Ligny stammen also aus einer Zeit, in der sich Vereine die „Förderung des vaterländischen Geschichtsbildes“ zur Aufgabe machten und Prachtbände wie der „Bildersaal deutscher Geschichte“ zum Schmuck bürgerlicher Wohnzimmer gehörten. Während im 19. Jahrhundert wohl vorausgesetzt werden durfte, dass mit Bildunterschriften wie „Leutnant von Schmeling bei Ligny“ beim Betrachter konkrete Vorstellungen zu den Hintergründen der dargestellten Szene abgerufen werden konnten, bleibt dem heutigen Betrachter der Kontext der Darstellung zumeist verschlossen. Keines der Gemälde zur Schlacht von Ligny ist in der breiteren Öffentlichkeit überhaupt noch bekannt. Sowohl in den äußerst zahlreichen Napoleonbiografien als auch in den militärgeschichtlichen Werken zum Feldzug von 1815 finden sich überwiegend Abbildungen, die die zwei Tage später stattfindende Schlacht von Waterloo thematisieren. Dies spiegelt nicht allein den Wandel des öffentlichen Geschichtsbildes, sondern auch den Bedeutungswandel der heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Ereignisse von Ligny wider. Literatur Peter Hofschröer: 1815, the Waterloo campaign, Band 1: Wellington, his German allies and the battles of Ligny and Quatre Bras, London 1998, ISBN 1-85367-304-8 – Der Feldzug von 1815 in einer modernen und fundierten Darstellung von einem Militärhistoriker und Fachmann für die Armeen dieser Zeit. Erarbeitet nach teils bisher unbekanntem Material (Augenzeugenberichte und Regiments-Berichte aus deutschen, britischen und holländischen Archiven). Insgesamt ergibt sich hieraus eine neue Beurteilung des Schlachtgeschehens. Detlef Wenzlik: Waterloo – Der Feldzug von 1815, Hamburg 1997, ISBN 3-931482-04-9 – Gesamtüberblick über das Jahr 1815: Wiener Kongress, Hundert Tage, Zusammensetzung der französischen und verbündeten Armee. Der Schwerpunkt liegt auf dem Feldzug in Belgien mit den Schlachten von Ligny, Quatre-Bras, Waterloo und Wavre. Andrew Uffindell: The Eagle’s Last Triumph: Napoleons’s Victory at Ligny, 1815. Greenhill, London [u. a.] 1994, ISBN 1-85367-688-8. Weblinks French Orders and Reports from the Waterloo Campaign Zusammenstellung von ausgewählten Dokumenten vom 15. und 16. Juni 1815, jeweils im französischen Original und in einer englischen Übersetzung (The Napoleon Series) http://www.ligny1815.be/ französische Seite mit Karten und Fotos vom Museum Einzelnachweise Ligny Ligny Konflikt 1815 Sommerfeldzug von 1815 Gebhard Leberecht von Blücher Sombreffe Napoleon Bonaparte Geschichte (Wallonien)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Atlash%C3%B6rnchen
Atlashörnchen
Das Atlashörnchen, Nordafrikanische Borstenhörnchen oder Berberhörnchen (Atlantoxerus getulus) ist eine im Atlasgebirge in Marokko und Algerien verbreitete Art der Borstenhörnchen. Es handelt sich um die einzige rezente Art der Gattung Atlantoxerus, die darüber hinaus in mehreren fossilen Arten seit dem Miozän nachgewiesen ist. Die mittelgroße Hörnchenart ist durch ein deutliches Streifenmuster auf dem Rücken gekennzeichnet. Sie ist bodenlebend und ernährt sich vor allem von Pflanzen, primär Samen und Früchten. Auf der Insel Fuerteventura wurden die Tiere in den 1960er Jahren eingeführt und gelten dort heute als Schädlinge für die Landwirtschaft sowie als Bedrohung für heimische Tiere und Pflanzen, sind aber bei Touristen, die sich ihrer Gegenwart erfreuen, sehr beliebt. Merkmale Allgemeine Merkmale Das Atlashörnchen ist ein mittelgroßes Hörnchen und erreicht eine Kopf-Rumpf-Länge von 16,5 bis 23,0 und durchschnittlich etwa 19,4 Zentimetern, hinzu kommt ein Schwanz mit einer Länge von 9,0 bis 19,0, durchschnittlich 15,8 Zentimetern. Die Hinterfußlänge beträgt 41 bis 52, durchschnittlich 46 Millimeter und die Ohrlänge 12 bis 18, durchschnittlich 15 Millimeter. Das Gewicht beträgt etwa 250 Gramm. Das Fell ist kurz mit etwa drei bis fünf Millimeter langen Haaren und rau. Es ist rückenseits blass gelb- bis graubraun und besteht aus Haaren, die an der Basis hellbraun oder sandfarben sind und manchmal eine schwarze Spitze besitzen. Im Bereich der Wirbelsäule und am Rumpf befinden sich zusätzlich vereinzelte längere schwarze Haare. An jeder Flanke verläuft von den Schultern bis in den hinteren Rumpf ein deutlich sichtbarer weißer Streifen, der nicht bis zum Schwanzansatz reicht und beiderseits von etwas dunklerem Fell flankiert wird. Hinzu kommt ein weniger auffälliger heller Streifen, der den mittleren Rücken entlang läuft und kürzer als die Seitenstreifen ist. Dieser Streifen kann allerdings auch undeutlich erkennbar sein oder ganz fehlen. Die Bauchseite ist nur dünn mit weißen oder grauweißen Haaren bedeckt. Der Kopf ist rundlich mit stumpfer Schnauze und kräftiger Kaumuskulatur und entspricht in seiner Färbung dem Rücken. Die Ohren sind klein ohne Haarbüschel und die Augen besitzen einen hellen Augenring. Die Nasenlöcher sind eng und unbehaart und können verschlossen werden. Die Beine sind etwas verlängert im Vergleich zu verwandten Arten, auch sie entsprechen in der Färbung der Oberseite. Die Vorderfüße besitzen vier lange Zehen, die in scharfen Krallen auslaufen, der fünfte Zeh ist reduziert auf einen kleinen Rest ohne Kralle. Die Hinterfüße besitzen nackte Sohlen und fünf schmale Zehen mit langen und leicht gebogenen Krallen, wobei hier der fünfte Zeh verkürzt ist. Der Schwanz hat eine moderate Länge, die etwa 80 % der Kopf-Rumpf-Länge entspricht. Er ist buschig und besteht aus etwa 25 bis 30 Millimeter langen Haaren. Die Haare sind cremeweiß mit zwei deutlichen breiten schwarzen Bändern und einer weißen Spitze, dadurch bekommt der Schwanz ein Muster aus hellen und dunklen Streifen, die jeweils weiß auslaufen. Die Weibchen besitzen insgesamt vier Paar Zitzen. Die Jungtiere unterscheiden sich von den ausgewachsenen Tieren neben der Größe vor allem durch ein deutlich weicheres Fell. Das Atlashörnchen ähnelt den Afrikanischen Borstenhörnchen, hat aber ein nicht ganz so borstiges Fell. Verwechslungsgefahr besteht mit dem Gestreiften Borstenhörnchen (Xerus erythropus), dessen Verbreitungsgebiet mit dem des Atlashörnchens allerdings nur in der Souss-Ebene im Südwesten Marokkos überlappt. Das Fell dieser Art ist rauer und braun, es besitzt zudem nur jeweils einen kurzen hellen Streifen auf jeder Körperseite. Zudem ist die Schnauze länger mit deutlich spitzer Nase. Merkmale des Schädels und des Skeletts Der Schädel der Tiere hat eine Gesamtlänge von 38,4 bis 50,0, durchschnittlich 45,9 Millimetern, im Bereich der Jochbögen beträgt die Breite 23,6 bis 30,8, durchschnittlich 27,9 Millimeter. Er ist weniger kantig als der anderer paläarktischer Erdhörnchen und besitzt einen deutlich ausgeprägten Scheitelkamm. Die Tiere besitzen im Oberkiefer und im Unterkiefer pro Hälfte einen zu einem Nagezahn ausgebildeten Schneidezahn (Incisivus), dem eine Zahnlücke (Diastema) folgt. Hierauf folgen im Oberkiefer je zwei Prämolaren und im Unterkiefer je ein Prämolar sowie drei Molaren. Insgesamt verfügen die Tiere damit über ein Gebiss aus 22 Zähnen. Die oberen Schneidezähne besitzen eine undeutliche Grube. Der obere erste Prämolar (P3) ist sehr klein und stiftförmig, er kann manchmal auch fehlen. Die Molaren haben eine leicht konkave Oberfläche mit deutlichen transversalen Leisten. Der knöcherne Gaumen ist mit etwa 62 % der Länge des Schädels vergleichsweise lang, endet jedoch deutlich vor dem dritten Molar. Der Penisknochen (Baculum) ist lang und schmal und endet in einer löffelartigen Verbreiterung mit einem kleinen Grat oberseits und einem größeren unterseits, der sich nach links biegt. Genetische Merkmale Das Genom der Art besteht aus einem diploiden Chromosomensatz mit 2n = 68 Chromosomen. Verbreitung und Lebensraum Atlashörnchen kommen als Endemiten im Atlasgebirge im nordwestlichen Afrika von dem Territorium Westsahara über Marokko bis in den Nordwesten Algeriens in den Ksour-Bergen vor. Die Hauptverbreitung haben die Tiere im Mittleren und im Hohen Atlas südlich von Agadir in Marokko sowie im Antiatlas und dem nördlichen Rand von Westsahara südlich des Saguia el Hamra. Die Höhenverbreitung reicht von der Meeresküste bis in Höhen von 4165 Metern im Atlas. Die Tiere wurden durch den Menschen auf den zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln vor der afrikanischen Atlantikküste eingeführt. Auf Fuerteventura leben sie seit 1965 und haben sich dort weit verbreitet. Auf Gran Canaria wurden sie 1996 und auf Lanzarote 2006 eingeführt, mittlerweile jedoch wieder entfernt. Atlashörnchen leben in trockenen und steinigen Habitaten in Felsregionen bis in die Wüste. Sie bevorzugen offene Lebensräume mit einer Vegetation aus vereinzelten Bäumen und Gebüschen, vornehmlich Wacholder (Juniperus spec.), Sandarakbäumen (Tetraclinis articulata) und Arganbäumen (Argania spinosa), vermeiden jedoch vegetationsfreie Regionen und Wälder. Sie leben zudem in verschiedenen landwirtschaftlich genutzten Flächen und nutzen Steinwälle, die Versteckmöglichkeiten bieten. In Bewässerungsflächen und bewässerten Feldern kommen die Tiere dagegen nicht vor. Lebensweise Viele Informationen zur Lebensweise des Atlashörnchens stammen von Beobachtungen auf Fuerteventura, treffen jedoch wahrscheinlich auch für die Tiere im natürlichen Verbreitungsgebiet zu. Sie sind tagaktiv und leben primär am Boden. Die Ernährung ist überwiegend herbivor, die pflanzliche Nahrung macht in der Regel mehr als 75 % der Gesamtnahrung aus. Den Hauptteil der Nahrung im natürlichen Verbreitungsgebiet stellen Samen, Nüsse beziehungsweise Früchte unter anderem des Arganbaums, des wilden Olivenbaums (Olea europaea), der Pistazie (Pistacia atlantica), Wacholder und des Sandarakbaumes. Hinzu kommen Gräser und Wurzeln, Getreide in landwirtschaftlich genutzten Flächen sowie seltener Insekten und fressbare Überreste auf Müllhalden im Bereich menschlicher Siedlungen. Auf Fuerteventura und auch im natürlichen Verbreitungsgebiet kommen zahlreiche weitere Pflanzen als potenzielle Nahrungsquellen hinzu, vor allem die Früchte und Pflanzenteile der ebenfalls eingeführten Opuntien, Wolfsmilch (Euphorbia), Atractylis, Mesembryanthemum, Blaugrüner Tabak (Nicotiana glauca), Salzkräuter (Salsola), Stechampfer (Emex spinosa), Blausterne (Scilla) und Ästiger Affodill (Asphodelus ramosus). Vor allem bei Spargel (Asparagus), Opuntien, Färberröten (Rubia), Bocksdornen (Lycium) und Prunus-Arten bevorzugen die Tiere die Früchte und tragen aktiv zur Verbreitung der Samen bei. Hinzu kommt tierische Nahrung, unter anderem Landschnecken oder auch kleine Vögel wie den Wüstengimpel (Bucanetes githagineus) sowie Eier und Nestlinge auf Fuerteventura. Atlashörnchen weisen dabei in ihrer Aktivität zwei Hauptphasen auf, in denen sie Nahrung suchen. Diese liegen morgens zwischen 7 und 11 Uhr mit einer Hauptaktivität gegen 9 Uhr und nachmittags zwischen 14 und 18 Uhr, vor allem um 15 Uhr. Die Tiere sind sehr empfindlich gegenüber Temperaturschwankungen und -abfälle, die optimale Temperatur für ihre Aktivität beträgt etwa 24 °C. Sie haben eine Körpertemperatur von 36 – 39 °C, die durch zu niedrige Temperaturen bis auf 25 °C fallen oder durch Überhitzung um 1 bis 1,5 °C steigen kann; in beiden Fällen können diese Temperaturveränderungen tödlich sein. Während der sehr heißen Mittagszeit und in der Nacht verstecken sich die Tiere in ihren Bauen, die sie im Boden unter Felsen oder zwischen Steinen in Geröllflächen anlegen, wobei die Eingänge häufig von Vegetation verdeckt sind. Im südlichen Teil des Verbreitungsgebietes bedarf es permanenter Verfügbarkeit von Wasser, wodurch die Art nicht sehr weit in Wüstenlebensräume vordringen kann. In höheren Bereichen des Atlasgebirges kommt es im Winter zu einer deutlichen Reduzierung der Aktivität, unabhängig von einer Schneedecke. Einen Winterschlaf halten die Tiere jedoch nicht. Atlashörnchen leben in Familiengruppen und kleinen Kolonien zusammen. Die kleinste Einheit der Kolonie bildet dabei ein einzelnes Weibchen mit ihren Jungtieren. Zwei Weibchen können jedoch auch gemeinsam mit ihrem Nachwuchs einen Bau nutzen, wenn dieser genug Platz bietet. Diese Paare aus zwei Weibchen können sich auch bereits vor der Fortpflanzungszeit zusammenfinden und ein gemeinsames Nest bilden. Aus mehreren dieser Familiengruppen bildet sich eine lose Kolonie, wobei auch komplexere Zusammensetzungen mit mehreren säugenden Weibchen, deren Nachwuchs und einem männlichen Tier vorkommen können. Die Zusammensetzung der Gruppen kann sich jedoch auch schnell ändern, vor allem während der Paarungszeit, wobei einzelne Tiere auch in benachbarte Kolonien abwandern können. Innerhalb der Kolonie zeigen Atlashörnchen wie einige andere Erdhörnchen ein Wachverhalten, um sich vor Beutegreifern zu schützen. Dabei wechseln sich die ausgewachsenen Tiere einer Kolonie nach jeweils etwa einer Stunde ab und beobachten von erhöhten Steinen oder Wällen die Umgebung, um potenzielle Bedrohungen auszumachen. Steine und Steinwälle werden zudem zum Schutz der Eingänge und als Verstecke sowie zur Thermoregulation genutzt. Während der Paarungszeit nehmen paarungswillige Männchen häufig eine erhöhte Position auf Felsen ein und rufen nach Weibchen, zugleich überwachen sie ihr Territorium. Diese Felsen sind gekennzeichnet durch den Kot der Männchen. Die konkrete Fortpflanzungszeit variiert regional und kann auf Fuerteventura bis zu drei Mal im Jahr mit einem Abstand von jeweils vier Monaten stattfinden, einzelne Weibchen können von mehreren Männchen begattet werden. So wurden trächtige Weibchen im Osten von Marokko im April beobachtet während zu dieser Zeit die Jungtiere in der Sahara bereits geboren waren und in der Westsahara bereits entwöhnt wurden. In höheren Lagen werden die Jungtiere erst im Juli geboren. Der Wurf besteht aus bis zu vier Jungtieren, auf Fuerteventura wurden auch bis zu neun Jungtiere in einem Wurf beobachtet. Die Jungtiere wiegen bei der Geburt etwa 6 bis 9,5 Gramm, sie verlassen den mütterlichen Bau nach fünf bis sechs Wochen. Das maximale Alter freilebender Tiere ist nicht bekannt, in Gefangenschaft sind bis zu fünf Lebensjahre dokumentiert. Hauptprädatoren der Atlashörnchen sind tagaktive Greifvögel, seltener Eulen, sowie Füchse und Schleichkatzen. Auf Fuerteventura sind Hauskatzen neben dem Mäusebussard (Buteo buteo), dem Kolkraben (Corvus corax) und dem Turmfalken (Falco tinnunculus) die größte Bedrohung. Mehrere Parasiten wurden dokumentiert, wobei die Laus Neohematopinus pectinifer als Überträger von Spirochäten bekannt ist, die ein Rückfallfieber beim Menschen auslösen können. Hinzu kommen Acanthamoeben sowie zahlreiche parasitische Würmer (Brachylaima, Catenotaenia chabaudi, Dermatoxys getula, Protospirura muricola, Syphacia pallaryi, Trichostrongylus). Brachylaima wurde dabei nur auf Fuerteventura nachgewiesen und wird auf den Konsum von infizierten Schnecken zurückgeführt, Dermatoxys getula und Syphacia pallaryi wurden sowohl bei den kontinentalen wie auch den Inselpopulationen identifiziert. Atlashörnchen als Neozoon Das Atlashörnchen wurde als Neozoon, also als gebietsfremde Art, auf mehreren Kanarischen Inseln eingeführt. Während sie auf Gran Canaria (eingeführt 1996) und auf Lanzarote (eingeführt 2006) allerdings wahrscheinlich erfolgreich wieder entfernt werden konnten, haben sie auf Fuerteventura stabile Populationen etabliert. Hier wurden sie 1965 als Heimtiere eingeführt und konnten sich in der Wildnis etablieren, danach wurden sie, teilweise aktiv durch Menschen, auf der gesamten Insel etabliert. Die Tiere gelten heute als Schädlinge für die heimische Landwirtschaft sowie als Bedrohung für heimische Pflanzen und Tiere, auf der anderen Seite stellen sie allerdings auch eine touristische Attraktion dar und werden in zahlreichen Reiseführern entsprechend beschrieben. Neben der Hausratte (Rattus rattus), der Wanderratte (Rattus norvegicus) sowie der Hausmaus (Mus musculus domesticus) stellt das Atlashörnchen eine von vier eingeschleppten Nagetierarten auf den Kanarischen Inseln dar, wobei es die einzige Hörnchenart ist. Auf Fuerteventura ist das Atlashörnchen häufig und in fast allen Habitaten anzutreffen, wobei die Bestandsdichten in den sandigen Gebieten geringer als in den felsigeren Trockenregionen der Insel sind. Die Effekte auf das ökologische Gleichgewicht der Insel durch das Atlashörnchen sind vielfältig. So wurden neben Verlusten landwirtschaftlicher Erträge auch deutliche Effekte auf die Vegetationszusammensetzung und Verbreitung von Neophyten, ein Einfluss auf die Zusammensetzung der Prädatoren auf der Insel, die Einschleppung von Parasiten und Krankheiten sowie direkte Effekte auf Seevogelpopulationen und endemische Schneckenarten dokumentiert. Die Konkurrenz um Ressourcen mit heimischen und anderen eingeführten Arten, vor allem Nahrung, sowie die Effekte auf die lokale Fauna und Flora standen bisher im Mittelpunkt der Untersuchungen. So untersuchten López-Darias & Nogales 2008 vor allem die Konkurrenz des Atlashörnchens mit der heimischen Ostkanareneidechse (Gallotia atlantica) und dem ebenfalls eingeführten Wildkaninchen (Oryctolagus cuniculus). Da auf der trockenen Insel vor allem saftige und fleischige Früchte als essenzielle Nahrungs- und Wasserquelle eine Rolle spielen, ist die Nutzung dieser Pflanzenteile für alle Herbivoren relevant. Sie konnten nachweisen, dass sich die bevorzugten Nahrungspflanzen der Arten deutlich unterschieden; während Früchte des Strauchigen Krapp (Rubia fruticosa) vor allem von der Eidechse gefressen werden, konsumieren Atlashörnchen hauptsächlich die Früchte von Lycium intricatum und der ebenfalls auf Fuerteventura eingeführten Opuntienart Opuntia maxima (nach aktuellem Stand ein Synonym zu Opuntia ficus-indica). Asparagus pastorianus wird von allen Früchtekonsumenten gleichermaßen gefressen. Während die heimischen Eidechsen ursprünglich vor allem für die Verbreitung der Samen heimischer Arten verantwortlich waren, wird dieser Effekt nun durch die eingeführten Arten reduziert, zugleich führen vor allem die Atlashörnchen zu einer schnellen Verbreitung der Opuntien auf der Insel, indem sie deren Samen verteilen und damit zu einer Veränderung der Inselvegetation führen. Anhand von Modellierungen über klimatische Faktoren wurde das Invasionspotenzial des Atlashörnchens auch für andere Regionen kalkuliert. Betrachtet wurden dabei vor allem die Temperatur- und Feuchtigkeitsbedingungen. Als Ergebnis wurde festgestellt, dass anhand der klimatischen Lebensraumbedingungen im natürlichen Verbreitungsgebiet eine potenzielle Verbreitung der Art über die gesamte Maghreb-Region, die vollständigen Kanarischen Inseln sowie große Bereiche der Westeuropäischen Mittelmeerregion möglich wäre. Unter den Kanarischen Inseln würden vor allem El Hierro, Lanzarote und Gran Canaria passende Lebensbedingungen bieten. Ausgehend von den Lebensraumfaktoren der bereits eingeschleppten Tiere auf Fuerteventura wären nur Lanzarote und Gran Canaria optimal geeignet. Auch ökologische Faktoren, anhand derer die Verbreitung und die Ansiedlung positiv beeinflusst werden, wurden anhand der Tiere auf Fuerteventura untersucht. Hier ergab sich als ein wesentlicher Faktor die Verfügbarkeit von Steinen und Steinmauern, die sowohl Versteckmöglichkeiten vor Beutegreifern wie auch Unterstützung bei der Thermoregulation und Sonnenschutz bieten. Daneben spielen Steinhaufen und Wälle eine große Rolle im Sozialverhalten der Tiere. Neben diesen Strukturen spielen darüber hinaus sandige Bereiche für den Nestbau sowie die Verfügbarkeit von Pflanzen als Nahrung eine zentrale Rolle bei der Habitatwahl. Systematik Das Atlashörnchen wird als einzige rezente Art innerhalb der damit monotypischen Gattung Atlantoxerus eingeordnet. Die wissenschaftliche Erstbeschreibung stammt von Carl von Linné als Sciurus getulus aus dem Jahr 1758, der die Art in der 10. Auflage seines Systema Naturae als eine von sieben Arten der Hörnchengattung Sciurus beschrieb. Die Art gehört damit neben dem Eurasischen Eichhörnchen (S. vulgaris), den amerikanischen Fuchshörnchen S. niger und S. cinereus, dem Europäischen Gleithörnchen (S. volans), dem Streifen-Backenhörnchen (S. striatus) und der nicht zuordenbaren Art Sciurus flavus zu den ältesten Arten der modernen wissenschaftlichen binominalen Beschreibung, die Linné mit diesem Werk einführte. Als terra typica, also als Herkunftsbeschreibung, gab Linné nur „in Afrika“ an, dies wurde 1911 durch Oldfield Thomas auf „Barbary“ und damit auf die Heimat der Berber sowie 1932 durch Ángel Cabrera Latorre auf Agadir im Süden von Marokko eingegrenzt. Die Art wurde später gemeinsam mit mehreren anderen Arten der Gattung Xerus zugeordnet. 1893 untersuchte der Schweizer Zoologe und Paläontologe Charles Immanuel Forsyth Major die Zahnstrukturen mehrerer rezenter und ausgestorbener Hörnchen und unterteilte die Gattung Xerus basierend darauf in mehrere Untergattungen, wobei er neben Atlantoxerus mit dem Atlashörnchen als Typusart auch die heutigen Gattungen Protoxerus und Paraxerus als Untergattungen erstbeschrieb. Oldfield Thomas erhob Atlantoxerus 1909 ebenfalls auf der Basis von Zahnmerkmalen in den Gattungsrang mit dem Atlashörnchen als einziger Art. Gemeinsam mit den Afrikanischen Borstenhörnchen sowie der Zieselmaus (Spermophilopsis leptodactylus) wird das Atlashörnchen der Tribus Xerini zugeordnet. Auf der Basis von Merkmalen des Unterkiefers sowie molekularbiologischen Merkmalen der DNA ist ein Schwestergruppenverhältnis von Atlantoxerus und Xerus wahrscheinlich. Die Zieselmaus wäre in dem Fall als Schwesterart dieser beiden Gattungen als gemeinsames Taxon zu betrachten. Die Xerini stellen zudem wahrscheinlich die basalste Gruppe innerhalb der Erdhörnchen (Xerinae) dar. Die Verbreitung der beiden heute nur in Afrika vorkommenden Gattungen Atlantoxerus und Xerus auf dem Kontinent wird auf eine nur einmal erfolgte Besiedelung durch gemeinsame Vorfahren beider Gattungen zurückgeführt. Innerhalb der Art werden neben der Nominatform Atlantoxerus getulus getulus keine weiteren Unterarten unterschieden. Fossilgeschichte Fossil ist die Gattung Atlantoxerus seit dem frühen Miozän im heutigen China sowie im mittleren Miozän auf der Arabischen Halbinsel nachgewiesen. Sie diversifizierte und verbreitete sich in der Folgezeit schnell über weite Teile von Ostasien, Südeuropa und Nordafrika. Für das obere Miozän sind mindestens vier Arten bekannt, die in Spanien, Frankreich, Algerien, Marokko und auf Rhodos lebten. Das Atlashörnchen selbst ist in Marokko zuerst im frühen bis mittleren Pleistozän nachgewiesen, wobei die Herkunft der Art unbekannt ist und sie sich keiner der vorher ausgestorbenen Arten des Maghreb sicher anschließen lässt. Eine nahe Verwandtschaft mit der ursprünglich in Spanien vorkommenden Art Atlantoxerus androveri wurde nahegelegt, jedoch nicht endgültig geklärt. Status, Gefährdung und Schutz Vor allem in den Flachlandbereichen und niedrigeren Bergzügen des Verbreitungsgebietes kommt das Atlashörnchen sehr häufig vor und bis in Höhen von etwa 2000 Metern ist es regelmäßig anzutreffen. Oberhalb dieser Höhe nehmen die Bestände stark ab. Auch im östlichen Teil des Verbreitungsgebietes kommt es zu einer starken Abnahme der Bestände, allerdings existieren in den Wüstenregionen lokale Populationen. Insgesamt wird angenommen, dass es zu natürlichen Bestandsschwankungen kommt. Das Atlashörnchen wird von der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) als ungefährdet (Least Concern) eingestuft. Begründet wird dies mit der vergleichsweise weiten Verbreitung und dem häufigen Auftreten der Tiere. Sie kommen dabei in verschiedenen Lebensräumen vor und sind entsprechend anpassungsfähig, auch in von Menschen veränderten und gestörten Habitaten. Die Art wurde außerhalb ihres natürlichen Verbreitungsgebietes angesiedelt und wird in den neuen Lebensräumen als Schädling betrachtet. Bestandsgefährdende Risiken bestehen für das Atlashörnchen nicht. Belege Literatur Richard W. Thorington Jr., John L. Koprowski, Michael A. Steele: Squirrels of the World. Johns Hopkins University Press, Baltimore MD 2012; S. 200–201. ISBN 978-1-4214-0469-1 Stéphane Aulagnier, Patrick Gouat, Michel Thévenot: Atlantoxerus getulus – Barbary Ground Squirrel. In: Jonathan Kingdon, David Happold, Michael Hoffmann, Thomas Butynski, Meredith Happold und Jan Kalina (Hrsg.): Mammals of Africa Volume III. Rodents, Hares and Rabbits. Bloomsbury, London 2013, S. 43–44; ISBN 978-1-4081-2253-2. Stéphane Aulagnier: Genus Atlantoxerus – Barbary Ground Squirrel In: Jonathan Kingdon, David Happold, Michael Hoffmann, Thomas Butynski, Meredith Happold und Jan Kalina (Hrsg.): Mammals of Africa Volume III. Rodents, Hares and Rabbits. Bloomsbury, London 2013, S. 42; ISBN 978-1-4081-2253-2. Weblinks Artbeschreibung beim Tree of Life Projekt (englisch) Erdhörnchen Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Flagge%20Osttimors
Flagge Osttimors
Die Flagge Osttimors wurde erstmals von der FRETILIN als Nationalflagge verwendet, als die Partei am 28. November 1975 die Unabhängigkeit der Kolonie Portugiesisch-Timor erklärte. Nach der Besetzung des Landes durch Indonesien wurde die Flagge erst mit der Wiederherstellung der Unabhängigkeit 2002 als Nationalflagge Osttimors angenommen. Beschreibung und Bedeutung Die Grundfläche der Nationalflagge ist rot. Ein gelbes Dreieck verbindet die Ecken der Flagge an der Mastseite (Liek) mit der Mitte der Flagge. Auf dem gelben liegt ein schwarzes Dreieck, das mit seiner Spitze ein Drittel in die Flagge hineinreicht. Im Zentrum des schwarzen Dreiecks befindet sich ein fünfzackiger weißer Stern, dessen eine Spitze in die obere Ecke der Mastseite zeigt. Die Größe des Sterns entspricht einem Drittel der Flaggenhöhe. Mit der Verfassung der Demokratischen Republik Timor-Leste vom 28. November 1975 wurde die Flagge erstmals offiziell angenommen. Der Symbolik dieser Flagge wurde folgende Bedeutung zugesprochen: Schwarz steht für die vier Jahrhunderte kolonialer Unterdrückung. Die gelbe Pfeilspitze erinnert an den Kampf für die Unabhängigkeit. Rot steht für das vergossene Blut der Bevölkerung. Der weiße Stern symbolisiert die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Heute werden sowohl die Farben als auch deren Bedeutung in der neuen Verfassung der Demokratischen Republik Timor-Leste von 2002 (Teil I, Abschnitt 15) angegeben: Schwarz symbolisiert den Obskurantismus, der überwunden werden muss. Gelb steht für den Reichtum des Landes. Rot symbolisiert den Kampf für die nationale Freiheit. Weiß steht für den Frieden. Flaggen sind in der Kultur Osttimors machtvolle Symbole und haben eine hohe kulturelle Bedeutung. Sie spielen bei den Osttimoresen eine bedeutende Rolle bei der Identifikation als Gemeinschaft. Flaggen wird automatisch eine symbolische Kraft zugesprochen, so dass sie zum heiligen Objekt wird. Variationen Die Töne der einzelnen Farben sind in der Verfassung nicht genau definiert. Das Independence Day Celebrations Committee der Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen für Osttimor (UNTAET) gab das leicht orange (PMS 123) als korrekten Gelbton an, welches meist auf offiziellen Flaggen zu finden ist. In Flaggenabbildungen in Büchern oder im Internet, aber auch bei in Osttimor gebräuchlichen Flaggen ist zudem ein helles Gelb weit verbreitet. Das Rot entspricht laut der UNTAET-Quelle dem Ton PMS 485. Auch hier gibt es in Osttimor Versionen mit einem hellen Rot. Noch dunklere Versionen tauchen nur als Flaggenabbildung auf, aber nicht als Flaggen. Zwar gibt die UNTAET die Größe des schwarzen Dreiecks mit einem Viertel der Flaggenlänge an, die existierenden Flaggen und Abbildungen haben aber alle ein Dreieck mit einer Größe von einem Drittel. Über die korrekten Proportionen der Flagge herrscht Uneinigkeit. Während die Flagge von 1975 immer das im Großteil Europas übliche Verhältnis 2:3 hatte, tauchten mit der Unabhängigkeit Osttimors Flaggen mit einem Verhältnis von 1:2 auch im offiziellen Gebrauch auf. Der Grund hierfür ist vermutlich, dass diese Flaggen in Australien hergestellt werden und hier die Proportionen 1:2 üblich sind. Eine klare einheitliche Regelung stand zunächst aus, doch das Gesetz 02/2007 über die nationalen Symbole zeigt im Anhang das Bild einer Flagge mit 1:2-Verhältnis. Des Weiteren führt das Gesetz im Artikel 4 die verschiedenen Formate der Flagge auf, in der die Flagge aus Stoff in öffentlichen Ämtern, Kasernen, privaten und staatlichen Schulen hängen soll. Typ 1 besteht aus einem Tuch mit einer Breite von 45 Zentimeter, Typ 2 aus einem Tuch mit 90 Zentimeter Breite, Typ 3 mit 135 Zentimeter und so weiter bis zu Typ 7 mit 315 Zentimeter Breite. Allerdings erlaubt der Artikel im Absatz 2 ausdrücklich auch kleinere und größere Flaggen sowie solche mit dazwischen liegenden Größen, solange die Proportionen eingehalten werden. Oft sieht man auch Flaggen, bei denen der Stern mit seiner oberen Spitze gerade nach oben zeigt. Dies war bei der Flagge von 1975 häufig der Fall. Doch die heutige Verfassung gibt klar vor, dass der Stern mit einer Spitze in die linke obere Ecke zeigen soll. Dem folgt auch die Abbildung im Gesetz 02/2007. Die Flagge Osttimors, die bei der Unabhängigkeitsfeier am 20. Mai 2002 verwendet wurde, hatte trotz der klaren Vorgaben einen geraden Stern. Außerdem hatte sie ein Seitenverhältnis von 1:2 und verwendete das helle Gelb in Kombination mit dem hellen Rot. Geschichte Bis zur Unabhängigkeit von Portugal verwendete die Kolonie Portugiesisch-Timor nur die Flagge Portugals. Die Liurais, die traditionellen Herrscher Timors, schöpften einen Teil ihres Herrschaftsanspruchs aus heiligen (Lulik) Gegenständen, die im Besitz der Herrscherfamilien waren. Als die Portugiesen die Timoresen unterwarfen, übergaben sie den Liurais als Vasallen die portugiesische Flagge, die in den Augen der Timoresen, genauso wie der Flaggenmast, selbst zu heiligen Objekten wurden, welche die Herrschaft der Portugiesen und der ihnen treuen Liurais legitimierte. Besonders in der Kultur der Mambai erhielt der Flaggenkult eine zentrale Bedeutung. Nach deren Ursprungsmythos entsteht die Weltordnung durch zwei Brüder. Der ältere Bruder, von dem demnach die Völker Timors abstammen, hat die die rituelle Macht über den Kosmos inne. Der jüngere Bruder besitzt die Macht über die gesellschaftliche Ordnung. Von diesem stammen die nichttimoresischen Völker ab, in diesem Fall die Portugiesen. Der Mythos berichtet vom Verlust, der Suche und der Wiedererlangung eines verlorenen, heiligen Gegenstandes, nämlich der portugiesischen Flagge. Diese heilige Bedeutung der blau-weißen Flagge führte zu einigen Problemen, als die Flagge Portugals 1910 beim Wechsel von der Monarchie zur Republik geändert wurde. Am 15. Februar 1946 traf die Angola im portugiesischen Marinestützpunkt Alcântara aus Portugiesisch-Timor ein. Sie brachte Portugiesen in das Heimatland, die während der Schlacht um Timor im Zweiten Weltkrieg in der Kolonie gelebt hatten. In der Menschenmenge taucht eine weiße Flagge mit dem Wappen Portugiesisch-Timors auf einem grün-roten Kreuz auf. 1961 benutzte eine kleine, linksorientierte timoresische Widerstandsbewegung – das Bureau de Luta pela Libertação de Timor (BLLT) – eine Flagge, die bereits einige Elemente der heutigen Nationalflagge aufwies. Sie bestand aus einer gelbumrandeten schwarzen Scheibe mit einem fünfzackigen weißen Stern auf rotem Tuch. Später gründete das BLLT eine kurzlebige Exilregierung in Jakarta mit dem Namen Vereinigte Republik von Timor, welche dieselbe Flagge verwendete. Im Jahre 1967 gab es Vorschläge für eigene Flaggen für die einzelnen portugiesischen Kolonien, bei denen auf die Flagge Portugals unten rechts das Wappen der Kolonie hinzugefügt wurde. Die Vorschläge wurden aber nie umgesetzt. Nach der Nelkenrevolution in Portugal wurden auch in Portugiesisch-Timor Parteien zugelassen. Die dominierende, linksorientierte Partei Osttimors, die Frente Revolucionária de Timor-Leste Independente (FRETILIN) benutzte in ihrer Parteiflagge die gleichen Farben wie das BLLT und auch den weißen Stern auf schwarzem Grund. Abgesehen von ihrer politischen Orientierung gibt es zwischen beiden Organisationen keine Verbindungen. Inwieweit die Flagge als Vorbild diente oder einfach nur allgemein übliche sozialistische Symbole, wie fünfzackiger Stern und die Farbe Rot auf der Parteiflagge Verwendung fanden, ist nicht geklärt. Basierend auf der Flagge der FRETILIN entwarf der Legende nach der Widerstandskämpfer Natalino Leitão die heutige Nationalflagge in der Nacht vor Ausrufung der Unabhängigkeit von Portugal am 28. November 1975. Die beginnende Besetzung des Landes durch Indonesien hatte die FRETILIN in Zugzwang gebracht. Heutzutage ist der 28. November der Nationalfeiertag Osttimors, an dem offizielle Gebäude beflaggt werden. Nur neun Tage nach der Unabhängigkeitserklärung begann Indonesien offen mit der Invasion Osttimors. Natalino Leitão kam dabei ums Leben. Die Unabhängigkeitserklärung war nur von wenigen Staaten anerkannt worden. Politisch wurde Indonesien durch die USA und Australien unterstützt, da man aufgrund der linken Orientierung der FRETILIN ein zweites Kuba befürchtete. Inwieweit die rote Grundfarbe und die gewisse Ähnlichkeit des Flaggendesigns zur Flagge Kubas diese Vermutung unterstützten, ist strittig. Dass die Flagge Kubas oder die Flagge Mosambiks Vorbild für Leitãos Dreiecks-Entwurf waren, kann nur vermutet werden. Zumindest gab und gibt es in Osttimor Sympathien für Kuba und insbesondere für Ernesto Che Guevara. Zu Mosambik und dessen Regierungspartei FRELIMO hatte die FRETILIN schon damals enge Beziehungen. Jenseits der parteipolitischen Zugehörigkeit wurde die Flagge der FRETILIN für die Menschen in der Zeit der Besatzung immer mehr zum Symbol der Organisation des Widerstands und die Nationalflagge von 1975 zum Symbol der Bevölkerung und ihrem Drang zur Unabhängigkeit. Auf die Verwendung der Flaggen reagierte die Besatzungsmacht mit schweren Repressionen. Die Verwendung anderer als die Flagge Indonesiens war verboten. Bis 1999 wurde Osttimor von Indonesien als Provinz regiert, während es international als „abhängiges Territorium unter portugiesischer Verwaltung“ galt. Als indonesische Provinz erhielt es auch eine Provinzflagge, die aber nur im Büro des Gouverneurs verwendet wurde, wie es bei allen Provinzflaggen üblich war. Die Flagge Timor Timurs, wie Osttimor damals offiziell hieß, zeigte das Provinzwappen auf einem orangen Grund. Als 1989 eine portugiesische Parlamentsdelegation Osttimor besuchen sollte, verteilte die indonesische Regierung 30.000 indonesische Flaggen, die an den Häusern von Dili gesetzt werden sollten. Damit wollte man eine Integration Osttimors in Indonesien belegen. Den bewaffneten Widerstand gegen die Indonesier führte die FALINTIL, die ursprünglich der militärische Arm der FRETILIN war. 1987 wandelte ihr Führer Xanana Gusmão die FALINTIL zu einer nationalen Armee des osttimoresischen Widerstands um. Er entwarf eine neue blau-weiß-grün-schwarze Flagge der FALINTIL. Der Conselho Nacional de Resistência Timorense (CNRT), der 1998 gegründete Dachverband des osttimoresischen Widerstands, übernahm die FALINTIL-Flagge als parteipolitisch neutrales Symbol. Man ersetzte den Schriftzug „FALINTIL“ durch „CNRT“ und änderte die Symbole im Schild. Bei der FALINTIL fanden sich hier ein gelber, fünfzackiger Stern, zwei traditionelle Schwerter (Suriks) und drei Federn. Der CNRT verwendete statt der Federn einen Speer und zwei Pfeile, der Stern war nun weiß. Die FALINTIL übernahm relativ bald diese Wappenversion für ihre Flagge. Der Schild in der Flagge des CNRT findet sich auch in leicht veränderter Form mit denselben Elementen im späteren ersten Wappen Osttimors (2002–2006) nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit. In den Lagern der FALINTIL war es streng verboten, durch den Schatten der Flagge zu laufen. Angeblich stammt diese Regel aus der Kolonialzeit, in der Timoresen verprügelt worden seien, wenn sie durch den Schatten der Flagge Portugals liefen. Beim Unabhängigkeitsreferendum in Osttimor 1999 konnte sich die Bevölkerung zwischen der vollen Unabhängigkeit und einem Verbleib bei Indonesien als Special Autonomous Region of East Timor SARET entscheiden. Artikel 20 des Entwurfs für eine Verfassung der SARET sah die Möglichkeit der Annahme eines eigenen Wappens, nicht aber einer eigenen Flagge vor. Stattdessen sollte weiterhin die Flagge Indonesiens verwendet werden. Als die Vereinten Nationen nach dem Referendum die Kontrolle in Osttimor übernahmen, verwendeten sie die Flagge der Vereinten Nationen. Bei den Olympischen Spielen von Sydney im Jahr 2000 nahmen vier osttimoresische Athleten als Independent Olympic Athletes unter der Flagge der Olympischen Spiele teil, da Osttimor noch nicht unabhängig war und es auch kein Nationales Olympisches Komitee gab. Es begann eine Diskussion, welche Flagge ein zukünftiges, unabhängiges Osttimor verwenden sollte. Es gab Stimmen, welche die Änderung der Nationalflagge fordern, da die Flagge von 1975 ein Symbol der FRETILIN sei. Schon beim ersten osttimoresischen Nationalkonvent vom 23. bis 27. April 1998 in Peniche (Portugal) entschieden sich die Delegierten der timoresischen Parteien für die Flagge des CNRT als vorläufige Flagge Osttimors. Im Referendum über die Unabhängigkeit 1999 hatte die UNO auf die Wahlzettel entsprechend zur Entscheidungshilfe die indonesische Flagge für einen Verbleib bei Indonesien und die Flagge des CNRT für die Unabhängigkeit abgebildet. Die Veteranenorganisation CPD-RDTL warf der FRETILIN vor, sie habe die jetzige Nationalflagge monopolisiert. Die Gruppe Colimau 2000 forderte, dass man ein christliches Kreuz in die Nationalflagge aufnehmen solle, um die Bedeutung des Katholizismus in Osttimor zu symbolisieren. Die meisten Parteien und der Großteil der Bevölkerung unterstützen eine Änderung jedoch nicht. Sie sahen in der Nationalflagge ein Symbol für die Leiden im Kampf für die Unabhängigkeit, unabhängig von ihrer Urheberschaft. Die Flagge des CNRT, als Symbol der Einheit der Osttimoresen, fand nicht die gleiche Unterstützung der Bevölkerung. Auf Demonstrationen in und außerhalb Osttimors wurden fast nur die alte Flagge von 1975 und die FRETILIN-Flagge gezeigt. Gerade die Ähnlichkeit der beiden Flaggen wurde anerkannt in Respekt für die Verdienste der FRETILIN im Unabhängigkeitskampf. So griff man letztlich auf die Flagge von 1975 zurück. Ein weiterer Grund dürfte die überwältigende Mehrheit der FRETILIN im neuen Parlament gewesen sein. Aber auch die Partido Socialista de Timor (PST) hatte die rot-gelb-schwarze Flagge gefordert. Die Flagge wurde am 20. Mai 2002 offiziell wieder eingeführt, als um Mitternacht die Flagge der Vereinten Nationen eingeholt und die Flagge Osttimors gehisst wurde. Die heruntergeholte UN-Flagge wurde in einem gewebten, traditionellen, timoresischen Tuch (Tais) eingeschlagen, um ihre mystischen, spirituellen Kräfte zu schützen. Diese Flagge wurde für die Timoresen zum Symbol der Befreiung und des Schutzes. Die Verteidigungskräfte Osttimors (F-FDTL), in denen die FALINTIL aufgingen, verwenden heute die FALINTIL-Flagge und das Wappen in der Speer-und-Pfeile-Version. Flaggen und Symbole der Gemeinden Osttimors Ursprünglich gab es für die Gemeinden Osttimors keine eigenen Flaggen. Allerdings hatte Dili in der Kolonialzeit zwischen 1962 und 1975 als einziger Ort in Portugiesisch-Timor eine Gemeindeflagge, die im Design den portugiesischen Gemeindeflaggen entsprach. Sie war grün-weiß achtfach geständert und zeigte im Zentrum das Stadtwappen: Rot, ein Sandelholzbaum in Silber zwischen zwei Pfeilbündeln mit Hellebarden und Jagdspeer. Über dem Wappenschild eine gemauerte Krone mit fünf Türmen, die Dilis Status als Hauptstadt einer Überseeprovinz repräsentieren. Dazu ein Spruchband mit den Worten „O Sol logo em nascendo vê primeiro“ (Wo die Sonne zuerst geboren). Als Zeichen der Solidarität wurde die Flagge Dilis 1991 im Rathaus Lissabons aufgehängt. Seit 2015 nehmen die Gemeinden Logos und Wappen als Symbol auf, die dann auch auf Flaggen mit einfarbigem Hintergrund präsentiert werden. So hat die Sonderverwaltungsregion Oe-Cusse Ambeno eine grüne Flagge mit Logo und die Gemeinde Manufahi eine orange Flagge mit dem Wappen. Baucau zeigt sein Wappen auf weißem Hintergrund. Andere Flaggen in Osttimor Im Laufe der letzten Jahre tauchen immer mehr Flaggen von Behörden, Schulen und anderen Institutionen auf. In der Regel sind es einfarbige Flaggen mit dem Logo oder Wappen der Organisationen. Auch die Fußballvereine des Landes schmücken sich mit Logos und Flaggen. Vielfältig sind die Flaggen der politischen Parteien Osttimors. Sie dienen als Werbeträger bei politischen Veranstaltungen und wurden auch für Analphabeten als Erkennungszeichen auf den Wahlscheinen der Parlamentswahlen am 30. Juni 2007 abgebildet. Welche Bedeutung die Parteiflaggen für die Anhänger haben, machten drei Vorfälle deutlich, die während der Unruhen nach den Parlamentswahlen 2007 stattfanden. Zu dieser Zeit hatten Anhänger der FRETILIN ihre Flaggen in ihren östlichen Hochburgen als Zeichen des Protestes gegen die neue Regierung aufgehängt. Australische Truppen sollen daraufhin drei FRETILIN-Flaggen verunglimpft und gestohlen haben. Der australische Kommandeur, Brigadier John Hutcheson, gab persönlich eine der Flaggen zurück und bedauerte den Vorfall. Die zwei anderen Flaggen wurden über andere Behörden zurückgegeben. FRETILIN-Generalsekretär Alkatiri forderte trotzdem den Abzug der Australier, da sie nicht mehr neutral seien. Bei katholischen Prozessionen und Feierlichkeiten, sieht man blau-weiße und gelb-weiße Flaggen, letztere teilweise mit roten Kreuzen. Blau-Weiß (wie sie auch auf der ehemaligen Flagge Portugals zu finden war) sind die traditionellen Farben Unserer Lieben Frau der Empfängnis (Nossa Senhora da Conceição). Maria gilt als Schutzpatronin des Landes. Gelb und Weiß sind die Farben der katholischen Kirche (siehe auch: Flagge der Vatikanstadt). Die Veteranenorganisation CPD-RDTL zeigte ursprünglich auf ihren Demonstrationen die Nationalflagge Osttimors. Ende 2012 wurden aber Flaggen verwendet, die in ihrem Design an die Flagge des Bureau de Luta pela Libertação de Timor von 1961 erinnert. Sonstiges Nach der Unabhängigkeit erhielt jedes Dorf des Landes ein Exemplar der neuen Nationalflagge, die ihnen in einer feierlichen Zeremonie übergeben wurde. Bewusst oder unbewusst folgt man hier der portugiesischen Tradition, bei der man den Vasallen die portugiesische Flagge übergab. Im Lied Timor der kolumbianischen Sängerin Shakira, das von der Gewalt in Osttimor 1999 und der mangelnden Berichterstattung darüber in der westlichen Welt handelt, heißt es in einer Zeile „For our flag, we die or kill“ („Für unsere Flagge sterben oder töten wir“). Offizielle Ehrungen der Flagge, wie eine eigene Flaggenhymne nach dem Vorbild Boliviens oder eine Erwähnung in der Nationalhymne, gibt es ebenso wenig wie einen besonderen Tag der Flagge, was manche bei einer so jungen Nation als einendes Symbol zwar erwarteten, was aber nicht der portugiesischen Tradition entspricht. Seit dem 1. August 2011 wird an jedem ersten Montag des Monats die Nationalflagge vor öffentlichen Einrichtungen gesetzt. Ebenso am 2. Februar (Tag der Verteidigungskräfte Osttimors FDTL), am 27. März (Tag der Nationalpolizei Osttimors PNTL) und am 20. August (Tag der FALINTIL). Die Flagge wird jeweils um 8 Uhr morgens gesetzt, Angestellte und Beamte der Einrichtung sind dabei alle anwesend und singen die Nationalhymne. Bei den Feiern zum siebten Jahrestag der Unabhängigkeit am 20. Mai 2009 fiel die Nationalflagge zu Boden. Viele Timoresen sahen das als böses Omen an. Bei der Flaggenzeremonie 2002 flatterte die Flagge nicht im Wind und es kam wenige Monate darauf zu gewaltsamen Unruhen. Die Oppositionspartei FRETILIN sah im erneuten Vorfall ein Zeichen, dass die Regierung in Schwierigkeiten steckt und eine der größten Zeitungen des Landes, die Timor Post, berichtete auf der Titelseite von dem Geschehen. 2016 kritisierten die Abgeordneten Manuel Castro, Manuel Guterres und Natalino dos Santos Nascimento, dass vermehrt Leute auf die Flagge schreiben, zum Beispiel mit Unterschriften. Dies sei aus Sicht der Politiker ein „Verbrechen“, gegen das die Polizei vorgehen solle. Die Flagge, die „mit Knochen und Blut“ erkauft worden sei, werde dadurch entweiht. Literatur Cathrine E. Arthur: Political Symbols and National Identity in Timor-Leste (2019). Weblinks When East Timor first flew its flag in defiance (englisch) Flags of the world – East Timor (englisch) Die nationalen Symbole Osttimors auf der offiziellen Regierungsseite (englisch) Bilder Flagge in Com/Osttimor. Beispiel für eine Flagge mit dunklem Gelb. Flagge Osttimors bei einer Demonstration. Beispiel für eine Flagge mit geradem Stern. Belege Verfassung der Demokratischen Republik Timor-Leste (englisch) Bilder und Informationen über die Flaggen Osttimors auf FOTW (englisch) Konstruktionsvorlage der Flagge Osttimors laut UNTAET Einzelnachweise Osttimor Nationales Symbol (Osttimor) !
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gottorfer%20Riesenglobus
Gottorfer Riesenglobus
Der Gottorfer Riesenglobus ist ein begehbarer Globus, der im Garten des Gottorfer Schlosses bei Schleswig aufgestellt war und sich heute in der Kunstkammer in Sankt Petersburg befindet. Der Globus mit einem Durchmesser von drei Metern, der zwischen 1650 und 1664 im Auftrag Herzog Friedrichs III. von Gottorf entstand, wurde europaweit berühmt. Die Konstruktion des Globus oblag dem herzoglichen Hofgelehrten und Bibliothekar Adam Olearius, der Limburger Büchsenmacher Andreas Bösch führte das Werk aus. Weitere solcher Hohlgloben befinden sich im Chicagoer Adler-Planetarium und auf der Heilbronner Robert-Mayer-Sternwarte. Zusammen mit dem modernen Nachbau in Gottorf sind somit vier Hohlgloben bekannt. Das Globushaus im Neuwerkgarten Vermutlich war der Globus schon recht früh wichtiger Bestandteil in der Planung des Neuwerkgartens. Während dieser jedoch bereits ab 1637 angelegt wurde, sah Herzog Friedrich erst 1650 die Zeit gekommen, auch den Bau des Zentralpunktes, des Globushauses, in Angriff zu nehmen. Sieben Jahre später war das Gebäude vollendet. Wesentlich länger dauerte der Bau des Globus: die Arbeiten wurden 1659 durch den Tod Herzog Friedrichs III. und den Zweiten Nordischen Krieg unterbrochen und fanden erst 1664 ihren Abschluss. Wahrscheinlich war Adam Olearius der Architekt des Globushauses. Es stand nord-südlich ausgerichtet im Scheitelpunkt einer Mauer, die den halbkreisförmigen sogenannten „Globusgarten“ nördlich des Herkulesteiches einfriedete. Äußerlich war es ein symmetrisch aufgebautes viergeschossiges, quaderförmiges Backsteingebäude mit einem begehbaren Flachdach. In den drei- bzw. sechsachsigen Wänden standen große, überwiegend vierflügelige Steinzargenfenster. An allen vier Seiten besaß das Globushaus zum Teil mächtige Anbauten, die bis zum zweiten Obergeschoss reichten; der nördliche Anbau ragte als Turm über das übrige Gebäude hinaus und wurde von einem zwiebelförmigen Kupferhelm bekrönt. Die Anbauten an den Längsseiten waren das Ergebnis einer nachträglichen Änderung des Bauentwurfs. Das Raumkonzept des Gebäudes sah zwei übereinander liegende niedrige Kellergeschosse vor, darüber das Hauptgeschoss mit dem Globussaal und schließlich das Obergeschoss mit zwei Schlafkammern, Kabinett und einem größeren Saal nach Süden. Die beiden oberen Geschosse verband eine Spindeltreppe im Turm, die auch weiter auf das große Flachdach führte. Das Niveau des Hauptgeschosses mit dem Haupteingang im Norden lag auf Höhe der ersten Gartenterrasse. Der untere der beiden Keller lag ebenerdig mit dem südlich davor gelegenen Globusgarten. Mit einer Grundfläche von 200 m² (ohne die Anbauten) und einer Höhe von fast 14 m (ohne den Turm) handelte es sich um ein für damalige Zeiten stattliches Bauwerk. Vielleicht wurde ihm deshalb gelegentlich der Name „Friedrichsburg“ beigelegt. In der Gottorfer Amtssprache hieß das Gebäude jedoch nur „Lusthaus“, erst in den letzten Jahrzehnten seines Bestehens wurde es als „Globus-Haus“ benannt. Mit seinem kubushaften Baukörper und dem begehbaren Flachdach entsprach das Globushaus den zeitgenössischen Lusthäusern in Italien, den Niederlanden und in Dänemark. Die Form des Gebäudes sollte exotisch wirken, daher wurde es gelegentlich auch als „Persianisches Haus“ bezeichnet. In seinen baulichen Details folgte das Globushaus allerdings noch ganz den Formen der niederländischen Renaissance, wie sie damals in Schleswig und Holstein allgemein üblich war. Über die Nutzung des Globushauses ist wenig überliefert, obgleich Grabungsfunde von ausgedehnten Mahlzeiten im Gebäude zeugen. Nach dem Tode Herzog Friedrich III. scheint es jedoch nur noch selten benutzt worden zu sein. Dementsprechend wies es zahlreiche Bauschäden auf, die insbesondere auf die undichten Flachdächer zurückzuführen waren. Der große Globus blieb allerdings stets ein beliebtes Vorzeigeobjekt, das interessierten Besuchern gerne vorgeführt wurde. Der Globus Mittelpunkt und Kernstück des Globushauses war der große Globus. Von außen stellte er die Weltkugel dar, in seinem Inneren barg er ein Planetarium, das den Sternenhimmel und den Sonnenlauf samt seinen Bewegungen so zeigte, wie sie von der Erde aus zu sehen sind. Sein besonderer Reiz bestand darin, dass man in ihn hineinsteigen, sich dort setzen und die Sterne um sich herumkreisen lassen konnte, ohne dabei selbst bewegt zu werden. Der Globus war eine eigene Erfindung des Herzogs, die „wissenschaftliche Leitung“ dieses Projektes hatte allerdings sein Hofgelehrter und Bibliothekar Adam Olearius inne. Der aus Limburg herbeigeholte Büchsenmacher Andreas Bösch schließlich setzte die Idee des Herzogs in die Praxis um. Der Globus entstand gleichzeitig mit und in dem Gebäude, seine Einzelteile wurden in einer vom Hofe angemieteten Schmiedewerkstatt auf dem Hesterberg angefertigt und im Globushaus zusammengesetzt. Dazu beschäftigte Andreas Bösch über Jahre hinweg einen Handwerkerstamm von sieben bis neun Personen, der sich aus Schmieden, Schlossern, Uhrmachern, Kupferstechern, Graveuren, Tischlern und Malern zusammensetzte und zu dem gelegentlich noch auswärtige Betriebe, wie zum Beispiel eine Husumer Messinggießerei, herangezogen wurden. Unter ihnen befanden sich die Gottorfer Uhrmacher Nikolaus Radeloff und Hans Schlemmer, der Gottorfer Kupferstecher Otto Koch und die Kartographen Christian und Andreas Lorenzen, genannt Rothgießer aus Husum. Auch Adam Olearius selbst betätigte sich mit Pinsel und Feder als Kartograph. Zusätzlich entstand in den Jahren 1654 bis 1657 die sogenannte „Sphaera Copernicana“, die Andreas Bösch selbständig entwickelt hatte und unter eigener Regie baute. Offenbar entstand sie als Ergänzung und Erweiterung des kosmologischen Konzepts des großen Globus und zu einem Zeitpunkt, da die Arbeiten am Globus selbst bereits weit fortgeschritten waren. Transport nach St. Petersburg Die genauen Umstände der Schenkung des Globus an Zar Peter den Großen bleiben etwas umstritten. Im dritten Nordischen Krieg folgte das Herzogtum Gottorf einem Mittelkurs zwischen dänischer Besatzung und Sympathien zu Schweden. Friedrich IV. war gefallen, sein Sohn Karl Friedrich war nicht volljährig, dessen Onkel Christian August war Regent. Anfang 1713 hielt Zar Peter Gespräche mit seinem Alliierten, König Friedrich IV. von Dänemark in Holstein, möglicherweise in Gottorf. Anschließend bat Peter, dass der Globus nach Russland verschifft werde. Im Juli 1713 ordnete Christian August an, dass der Globus nach Sankt Petersburg zu schicken sei, wo er 1717 eintraf. Wegen des Krieges ging der Transport auf dem Seeweg nach Pillau (ein Hafen bei Königsberg), dann über Land nach Riga, auf dem Seeweg nach Reval (Tallinn) und über Land nach Sankt Petersburg. Schließlich wurde der Globus 1726 Teil der Kunstkammer, aber der Transport und die Zeit hatten sich auf den Zustand des Globus negativ ausgewirkt. In einem ungeklärten Feuer in der Kunstkammer 1747 wurde der Globus fast vollständig zerstört; nur wenige der Metallteile waren noch brauchbar. Die Eingangstür war im Keller gelagert und war vom Feuer unberührt. Der Globus wurde aus der Kunstkammer entfernt, damit Benjamin Scott ihn von 1748 bis 1750 rekonstruieren konnte. Das Aufbringen der Erdkarte verzögerte sich jedoch erheblich und wurde erst 1790 von Friedrich Theodor von Schubert vollendet. 1753 wurde ein neuer Pavillon errichtet und der Globus dorthin verbracht. 1828 wurde der Globus in die östliche Rotunde des Zoologischen Museums überführt, und 1901 in die Sommerresidenz nach Zarskoje Selo (Puschkin), südlich von Sankt Petersburg. 1941 erbeuteten deutsche Truppen den Globus, und er wurde in einem Sondertransport mit der Bahn nach Neustadt in Holstein verschickt, wo er, verpackt und auf dem Waggon, gelagert wurde, vermutlich, um ihn schließlich zum Schloss Gottorf weiter zu transportieren. 1946 brachten britische Truppen den Globus in das nahe gelegene Lübeck, wo er drei Wochen lang öffentlich ausgestellt wurde. 1947 wurde der Globus nach Hamburg gebracht, um nach Murmansk und weiter zur Eremitage in Leningrad gesandt zu werden. Es wurde entschieden, die Kunstkammer zu rekonstruieren, den Globus dorthin zu bringen und zu restaurieren. In Schleswig hatte man, um die gewaltige Kugel unzerlegt aus dem Globushaus herauszubekommen, an dessen Westseite eine große Öffnung in die Wand stemmen müssen. Damit war das Gebäude seines eigentlichen Inhaltes beraubt und sein Schicksal besiegelt. Es führte von nun an nur noch ein Schattendasein. Alle anfallenden Reparaturen wurden nur noch halbherzig ausgeführt und konnten den fortschreitenden Verfall nicht aufhalten. Noch gut 50 Jahre stand das Gebäude ohne Nutzung da, bis es im November 1768 auf Anordnung von König Christian VII. von Dänemark öffentlich zum Abbruch versteigert wurde. Ein Schleswiger Handwerksmeister erwarb die Ruine; ein Jahr später erinnerte nichts mehr an das Globushaus. Solcherart ging ein Bauwerk verloren, dessen Entwurf, Konzeption und Programmatik in der Architektur- und Technikgeschichte wohl einzigartig dasteht. Ein Besuch im Globushaus Man betrat das Globushaus durch den portalgeschmückten Haupteingang unter dem Treppenturm im Norden. Von dort kam man durch einen kurzen Flur in den Globussaal, dessen Grundfläche fast das ganze Geschoss einnahm. Der Saal hatte zahlreiche Fenster und war ganz in Weiß gehalten, damit der Globus in vollem Licht erschien. Unter den grün gemalten Fenstern saßen Bleitafeln, die nach Art holländischer Wandfliesen bemalt waren. Die Saaldecke war stuckiert. Der Globus selbst stand in einem breiten, begehbaren, zwölfseitigen hölzernen Horizontring, der wechselweise von geschnitzten Hermenpfeilern und korinthischen Säulen getragen wurde. Auf seiner Außenseite war die damals bekannte Welt – Europa, Afrika, Amerika und Asien – „…so fein alß in den gedruckten Land Charten“ eingezeichnet, mit farbig umrissenen Ländergrenzen und von „allerhand Thieren nach Landes Art“ sowie „Flotten von Schiffen […] Meerwundern und Seefischen“ bevölkert. Als Vorlage für die Kartographierung dienten Globen aus dem berühmten Amsterdamer Kartenverlag von Willem Janszoon Blaeu und Joan Blaeu, zu dem Adam Olearius gute Beziehungen besaß. Durch eine kleine Luke konnte man in den Globus hineinklettern und um einen runden Tisch in der Mitte Platz nehmen. Hier sah man den Sternenhimmel – die Sterne wurden durch über 1.000 strahlenförmige messingvergoldete Nagelköpfe dargestellt, während die Sternbilder farbig-figürlich auf den blauen Himmelshintergrund gemalt waren. Darüber hinaus barg der Globus noch besondere Mechanismen, um die jährliche Bewegung der Sonne darzustellen und eine „Weltzeituhr“ anzutreiben, die anzeigte, auf welchen Orten der Erde gerade Mittag bzw. Mitternacht herrschte. In Bewegung setzen ließ sich der Globus wahlweise durch einen Wasserantrieb im Keller – damit er „nach des Himmels Lauff seine Bewegung und Umbgang in den behörlichen 24 Stunden haben […]“ konnte – oder aber durch einen Handantrieb aus seinem Inneren heraus, um die ansonsten unmerklich langsame Rotation zu beschleunigen. In seiner Art war der Gottorfer Globus das erste begehbare Planetarium der Geschichte. Gleichzeitig bildete er ein großes Modell des alten geozentrischen Weltbildes nach Ptolemäus. War der Globus außer Betrieb, wurde die Luke durch einen Deckel mit dem aufgemalten Gottorfer Wappen verschlossen und über die Kugel ein schweres grünes Wolltuch gezogen. Auf den Türen im Globussaal befanden sich die Porträts von Nikolaus Kopernikus und Tycho Brahe – eine Reminiszenz an die astronomischen Koryphäen der Zeit. Eine Tür führte in der Nordostecke des Globussaales in einen kleinen Vorraum, in dem eine schmale, steile Treppe in den Treppenturm führte. Dort stand eine geschnitzte Spindeltreppe, die in das Obergeschoss und weiter hinauf auf das Dach führte. Während das Hauptgeschoss mit dem Globus den gelehrten Diskussionen eines größeren Besucherkreises offenstand, besaß das Obergeschoss mit seinen Schlafkammern und dem Festsaal mehr privaten Charakter. Die Schlafgemächer waren mit grünem Laubwerkdekor ausgemalt, der Festsaal war rot gehalten. Die Decken der Räume waren stuckiert und teilweise auch bemalt und vergoldet. Fenstertüren führten auf die begehbaren Flachdächer der Anbauten hinaus. Die große Dachterrasse, die einen prachtvollen Blick auf die Gartenanlagen bot, lud zu Tafeleien unter freiem Himmel ein. Das Mobiliar des Globushauses bestand in der Hauptsache aus Gemälden, insbesondere die Wände des Globussaales waren von zahlreichen Bildern mit unterschiedlicher Thematik geschmückt. Im Festsaal darüber befanden sich neben Gemälden auch ein langer Tisch und 16 dazugehörige Stühle. Das Schlafgemach des Herzogs war mit einem großen Himmelbett ausgestattet, während die Kammerdiener nebenan in Alkoven schliefen. Die beiden Kellergeschosse waren nur von außen zugänglich. Im oberen Keller stand eine große offene Herdstelle. Schließlich war das Globushaus gleichzeitig als Lusthaus gedacht, in dem man auch die Tafelfreuden nicht missen wollte. Im unteren Keller befand sich die Wassermühle, die dem Globus seinen kontinuierlichen Antrieb verleihen sollte. Die Kraftübertragung durch zwei Geschosse hindurch erfolgte über schwere Schneckengetriebe aus Messing und lange eiserne Wellen. Technik Der Gottorfer Globus war im Kern eine schmiedeeiserne Konstruktion. Die Kugel besaß ein Gerippe aus 24 Meridianringen, die als T-Eisen ausgeführt waren und durch einen Äquatorring versteift wurden. Außen wurde das Gerippe mit Kupferblech belegt, das wiederum eine mehrschichtige Kreide-Leinwand-Grundierung erhielt, deren oberste Lage man polierte. Damit besaß man einen sauberen und glatten Malgrund für die als äußerst fein geschilderte Kartographierung. Innen wurde der Globus mit dünnen Kiefernleisten ausgekleidet, auf die ebenfalls eine mehrschichtige Kreide-Leinwand-Grundierung kam. Der Lukendeckel in der Globuswandung wurde von zwei Springschlössern gehalten. Befanden sich Personen im Globus, blieb die Luke entfernt. Die Kugel rotierte um eine feststehende schwere, schmiedeeiserne Achse. Diese fußte am Fußboden in einem Mühlstein, oben war sie an einem Deckenbalken angeschlagen. Die Neigung der Achse entsprach – abweichend von der üblichen Globenaufstellung – mit 54° 30' der Polhöhe Schleswigs. Der Grund für diese Neigung lag darin, dass das Planetarium im Globusinneren den Sternenhimmel über Schleswig darstellen sollte. An der Achse war die ringförmige Sitzbankkonstruktion angebracht, die der Überlieferung zufolge zehn bis zwölf Personen Platz bot. Sie bestand aus schweren Eisenschienen, die untereinander verklammert mit schweren Schellen an der Achse befestigt waren und von dort astartig und mehrfach verkröpft nach außen wuchsen. Die „Äste“ trugen nicht nur die schmale Sitzbank, sondern auch die Lauffläche und eine runde Tischplatte in der Mitte. Als Rückenlehne diente ein breiter Horizontring aus Messing, der Einträge zum gregorianischen und julianischen Kalender sowie astronomische Daten zur täglichen Sonnenhöhe trug. Auf der Tischplatte in der Mitte des Globus lag ein kupferner Halbglobus. Er symbolisierte (dem kosmologischen Konzept entsprechend) die Erde als Mittelpunkt des Himmelsgewölbes. Der Achsneigung im Globus entsprechend lag Gottorf auf dem Scheitelpunkt des Tischglobus und bildete damit das Zentrum dieser künstlichen Wunderwelt. Um den Tischglobus lag ein horizontaler Ring mit geographischen Längenindikationen verschiedener Orte auf der ganzen Welt. Wurde der große Globus in Bewegung gesetzt, strichen zwei diametrale Zeiger über diesen Ring und zeigten an, an welchen Orten der Welt gerade Mittag oder Mitternacht herrschte. Der Sternenhimmel im Globus war – dem Zeitgeschmack entsprechend – farbig-figürlich gestaltet. Achtstrahlig gefeilte Nagelköpfe aus vergoldetem Messing stellten die Sterne dar. Sie waren in die traditionellen sechs Größenklassen unterteilt, um die reellen Helligkeitsverhältnisse anzudeuten. Zwei Kerzen auf dem Tisch brachten die Sterne zum Funkeln. Entlang der Ekliptik im Himmelsgewölbe bewegte sich ein rollengelagerter Zahnkranz, auf dem ein Sonnenmodell aus geschliffenem Kristall montiert war. Die Sonne vollführte sowohl ihre täglichen (Auf- und Untergang) als auch ihre jährliche Bewegung (wechselnde Sonnenhöhen und Auf- bzw. Untergangsazimute im Jahreslauf). Über den Betrachtern wölbte sich ein Meridianhalbring mit einer Gradskala. Mond- und Planetenlauf ließen sich aufgrund ihrer komplizierten Bahnbewegungen (Wanderung der Knotenpunkte, Planetenschleifen) nicht in das mechanische Konzept des Globus aufnehmen. Am Südpol des Globusinneren lagen drei Getriebe. Eines davon bewegte über lange Wellen die „Weltzeituhr“ auf der Tischplatte und ein Planetengetriebe besorgte die Bewegung der Sonne. Das dritte wurde für die Kraftübertragung zum Handantrieb benötigt, denn der Globus ließ sich von seinem Inneren aus über eine Handkurbel bewegen; hierbei genügte die Kraft eines Fingers. Eine Umdrehung dauerte etwa 15 Minuten, was ausreichte, um dem Besucher alle Himmelsbewegungen eines Tages vorzuführen (wie sie von Gottorf aus zu sehen waren). Natürlich ließ sich die Position des Sonnenmodells justieren, um auch andere Jahreszeiten zu simulieren. Es handelte sich mithin um das erste begehbare Planetarium der Geschichte, das dem Besucher das Himmelsgeschehen „live“ demonstrierte. Eine weitere ungewöhnliche Antriebsmöglichkeit verlieh dem Globus die Möglichkeit, die Tagesdrehung „in Echtzeit“ darzustellen. Im Keller des Globushauses befand sich ein hölzernes Wasserrad, das seine Bewegungen über ein vierstufiges Schneckenreduziergetriebe auf den Globus übertrug. Das Wasser für die Mühle wurde durch Bleirohre an das Haus herangeführt, im Keller stürzte es auf das Wasserrad und floss durch einen unterirdischen Ausgang in den Herkulesteich ab. Die zum Teil zentnerschweren Räder und Schnecken bestanden ausnahmslos aus Messing, was zu schweren Reibungsverlusten führte. Die Bewegungsübertragung verlief durch zwei Stockwerke mittels langer schmiedeeiserner Wellen. Der oberste Getriebeabschnitt befand sich am Fuß der Globusachse und war dort von einer bemalten, schräg anlaufenden Holzkiste verkleidet. Vermutlich diente der Wasserantrieb jedoch mehr dem Beweis technischen Könnens und weniger zu gelehrsamen Demonstrationen. 50 Jahre nach der Fertigstellung des Globushauses befand er sich in starkem Verfall. Die Sphaera Copernicana Während der Bau des Riesenglobus seiner Vollendung entgegenging, begann Andreas Bösch bereits mit seinem neuen Projekt, der sogenannten Sphaera Copernicana. Offenbar sollte sie das Konzept des großen Globus ergänzen und erweitern. Dieser bildete ja in seinem Inneren ein mechanisches Modell des geozentrischen Weltsystems nach Ptolemäus, das man aber am Gottorfer Hof bereits als antiquiert erkannt hatte. Es lag also nahe, ein Demonstrationsmodell zu schaffen, das die wirklichen Verhältnisse im Universum nach der Theorie Kopernikus’ zeigte – eine „Sphaera Copernicana“. Dass sich bei der Sphaera Copernicana manche konstruktive und darstellungstechnische Parallele zum großen Globus findet, kann nicht verwundern. Allerdings war an der Sphaera Copernicana „noch mehr Kunst als am großen Globo zu sehen.“ Hier erregten die imposante Größe und die originelle Konzeption Staunen und Bewunderung, dort das komplizierte Räderwerk, das – von einem einzigen Uhrwerk angetrieben – 24 verschiedene Funktionen und Anzeigen gleichzeitig steuerte. Obwohl man annehmen muss, dass Adam Olearius auch bei dem Bau der Sphaera Copernicana im Hintergrund stand, war offenbar Andreas Bösch allein für die technische Durchbildung des Werkes verantwortlich. Natürlich beschäftigte er auch hier zahlreiche Mitarbeiter, so lieferte beispielsweise Hans Schlemmer das kräftige Uhrwerk für den Antrieb und Otto Koch besorgte die Ausgestaltung der Sternbilder. Nach ihrer Vollendung wurde die Sphaera Copernicana in der Gottorfer Kunstkammer, später in der Gottorfer Bibliothek aufgestellt. Im Zuge der Räumung des Schlosses gelangte die kopernikanische Armillarsphäre im Jahr 1750 in die königliche Kunstkammer nach Kopenhagen. Dort sollte sie 1824 ausrangiert werden; auf abenteuerlichen Umwegen gelangte sie dann 1872 an das Nationalhistorische Museum auf Schloss Frederiksborg in Hillerød. Dort ist sie auch heute noch zu besichtigen. Die Sphaera Copernicana wurde unlängst sorgfältig restauriert (Atelier Andersen in Virket, Dänemark). Dabei konnten nicht nur fehlende Teile ergänzt oder an ihren ursprünglichen Platz zurückversetzt, sondern auch ihre originale Farbfassung teilweise wiedergewonnen werden. Die Sphaera Copernicana ist wesentlich kleiner als der Globus. Ihr Durchmesser beträgt 1,34 m und ihre Gesamthöhe 2,40 m, doch ist sie technisch wesentlich anspruchsvoller als der große Globus aufgebaut. Sie ruht auf einem hölzernen Sockelgehäuse, in dem sich ein sehr kräftiges Federuhrwerk verbirgt. Es verfügt über ein Gehwerk mit einer Laufzeit von acht Tagen sowie über ein Viertelstunden- und ein Stundenschlagwerk, gleichzeitig muss es aber auch 24 Bewegungsabläufe in der Armillarsphäre selbst in Gang halten. Die Hauptantriebswelle läuft dabei aus der Mitte des Uhrwerks senkrecht durch die ganze Armillarsphäre. Die Welle lässt sich abkuppeln, wenn die Bewegungen in der Armillarsphäre – unabhängig vom Uhrwerk – durch einen Handantrieb demonstriert werden sollen. Im Zentrum der Armillarsphäre verkörpert eine blanke Messingkugel die Sonne. Um sie herum liegen auf Rollen gelagerte und geführte gezahnte Messingringe, welche die Bahnen der damals bekannten Planeten darstellen (von innen nach außen: Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter und Saturn). Die Planeten selbst werden durch kleine Silberfigürchen dargestellt, die ihr jeweiliges Symbol in den Händen halten. Sie bewegen sich in den gleichen Zeiträumen um die Sonne wie die wirklichen Planeten im Sonnensystem. Ausgeklügelte Zahnradsysteme sorgen für die richtige Untersetzung von der senkrechten Antriebswelle bis zum Planetenring. Die Position eines jeden Planeten lässt sich manuell korrigieren. Die Erdbahn trägt als einzige keine Silberfigur. Hier verkörpert eine Miniaturarmillarsphäre Erde und Mond. Die beiden Himmelskörper sind modellhaft durch Kugeln dargestellt. Die Erde vollführt ihre tägliche Rotation, wobei die Erdachse stets in dieselbe Richtung zum Himmelsnordpol weist. Der Mond kreist in 27,3 Tagen um die Erde und zeigt dabei seine Phasen. Anhand eines kleinen Zifferblattes auf dieser Miniaturarmillarsphäre lässt sich außerdem die Tageszeit ablesen. Die äußere Umfassung des Planetensystems bilden zwei Armillarsphären, deren innere beweglich ist, während die äußere feststeht. Beide setzen sich aus jeweils sechs vertikalen Halbringen und einem Horizontring zusammen. Die innere Sphäre verkörpert das sogenannte „Primum mobile“, das seinerzeit die langsame Verschiebung von Frühlings- und Herbstpunkt auf der Ekliptik erklärte. Zwei Messingbänder mit eingravierten Gradskalen machen diese Bewegung sichtbar. Ein Umlauf des Primum Mobile dauert 26.700 Jahre. Die äußere feststehende Sphäre trägt an ihren Ringen die Sternbildfiguren. Sie verkörperte damit das von der Erde aus sichtbare Himmelsgewölbe. Von den ursprünglichen 62 Sternbildfiguren sind nur noch 46 vorhanden. Sie bestehen aus Messingblech und sitzen innen an den Ringen der Sphäre. Ihre Innenseiten sind graviert und mit ihrem jeweiligen lateinischen Namen versehen. Als Vorlage für die figürliche Darstellung der Sternbilder konnte zweifelsfrei ein Himmelsglobus aus dem Amsterdamer Kartenverlag von Willem Janszoon Blaeu identifiziert werden. Die Sternbilder tragen auf ihren Innenseiten kleine aufgenietete sechsstrahlig zugefeilte Silbersternchen, die – ihren tatsächlichen Helligkeiten entsprechend – von sechserlei Größe sind. Der Handantrieb für die Armillarsphäre besteht aus einer auszieh- und arretierbaren Welle, auf die eine Kurbel gesteckt werden kann. Drehte man diese, so ließen sich die Bewegungsabläufe in der Sphaera Copernicana – genau wie im Riesenglobus – bedeutend beschleunigen, so dass sie dem Auge sichtbar wurden. Die ganze Armillarsphäre wird von einem Anzeigewerk für verschiedene Tageseinteilungen und der darauf stehenden „Sphaera Ptolemaica“ bekrönt. Das Anzeigewerk besteht aus drei konzentrischen Zylinderwandungen, die sich wie Kulissen voreinander verschieben. Eine kleine Sonnenscheibe, die ihre Höhe täglich verändert, zieht vor dem innersten Zylinder vorbei. Anhand der Kulissen und der Sonne lassen sich die Tageszeiten nach bürgerlicher, römisch-babylonischer und jüdischer Zeitrechnung ablesen. Da sich die letzteren beiden nach dem Sonnenlauf orientierten, verschieben sich ihre Tagesanfänge um jeweils einige Minuten. Aus diesem Grunde maßen die Astronomen schon seit der Antike den Tag von Mitternacht zu Mitternacht. Diese Einteilung setzte sich im 16. und 17. Jahrhundert allmählich auch im bürgerlichen Leben durch. Die verschiedenen Tageszeiten können also im 17. Jahrhundert auch am Gottorfer Hofe noch eine gewisse Rolle gespielt haben, wenngleich auch sie wohl eher von wissenschaftlichem Interesse waren. Oben auf dem Anzeigewerk sitzt schließlich die erwähnte kleine ptolemäische Armillarsphäre, die in Aufbau und Bewegungen eine vollständige Miniaturdarstellung des Riesenglobus ist. In der Mitte befindet sich eine kleine Erdkugel, die dem geozentrischen Weltsystem entsprechend stillsteht. Um sie herum liegt – ähnlich der Tischplatte im Riesenglobus – eine horizontale Scheibe, auf der eine Kompassstrichrose eingraviert ist. Die darumherum liegende Sphäre symbolisiert den Sternenhimmel und bewegt sich einmal am Tage um die Erde. An der Innenseite der Sphäre bewegt sich ein Zahnkranz, der eine Sonnenfigur einmal im Jahre durch die Ekliptik trägt. Historische Rekonstruktion Der ungewöhnlichen Größe und Konzeption des Globus ist es zu verdanken, dass über ihn von der ältesten bis in die jüngste Vergangenheit viel berichtet worden ist. Doch alle Berichte vermittelten kein genaues Bild, wie die Gottorfer Anlage wirklich beschaffen war. Auch den historischen Abbildungen war in dieser Hinsicht nichts abzugewinnen. So beschränkte sich der Kenntnisstand gezwungenermaßen auf das Wissen um die Erbauer des Globus, die Bauzeit, die übrigen Zeitumstände und auf mehr oder weniger oberflächliche Beschreibungen des Globus und des Gebäudes, in dem er stand. Alle Beschreibungen ließen weder Rückschlüsse über die genaue Aufstellung des Globus im Gebäude noch über sonstige baulich-technische Details oder das Aussehen des Globushauses zu. Allein ein um 1708 im Zuge einer Generaltaxation entstandenes umfangreiches Bauinventar der herzoglichen Residenz, das über den baulichen Wert und Zustand aller Hofgebäude und Gärten Rechenschaft ablegte, lieferte konkrete Angaben. Auch beim Globushaus wurde hier fast bis zum letzten Nagel alles verzeichnet, was sich in und am Gebäude fand. Die Qualität und Anschaulichkeit des Inventars vermochte nahezu das in den Bildquellen bislang fehlende zu ersetzen. Ausgehend vom Inventartext begann Felix Lühning ab 1991, eine verlässliche zeichnerische Rekonstruktion des Globushauses vorzubereiten. Dazu gehörten vor allem umfangreiche Archivrecherchen, die sich auf die baulich-technischen Aspekte der Globusanlage konzentrierten – insbesondere die Abrechnungen der herzoglichen Rentenkammer über den Bau, die Reparaturen und den Unterhalt des Globushauses. Aus ihnen ergab sich eine Fülle weiterer Angaben hinsichtlich der Art und Menge der für den Globus und das Haus gelieferten Bauteile sowie über die Kosten, die Anzahl und die Namen der beim Bau beteiligten Leute. Eine Ergrabung und Einmessung der Globushausfundamente bestätigte die Maßangaben aus den schriftlichen Quellen. Der Globus selbst ist heute noch in Sankt Petersburg in seinen wesentlichen konstruktiven Teilen vorhanden, so dass ein Aufmaß möglich war und die Rekonstruktion fehlender Bauteile keine Schwierigkeiten bot. Bestehende Zweifel hinsichtlich technischer Details wurden durch Vergleiche mit der Sphaera Copernicana im Nationalhistorischen Museum auf Schloss Frederiksborg in Hillerød, Dänemark, überprüft oder ausgeräumt. Auch zur verlorengegangenen Originalfassung der Kartierung (Erde und Himmel) konnten zweifelsfreie Vorbilder zugeordnet werden. Die Rekonstruktion des Globus ließ sich daher sowohl hinsichtlich seiner Konstruktion, seiner technisch-astronomischen Inhalte, als auch seiner Gestaltung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anfertigen. So lag am Ende der Nachforschungen umfangreiches Material vor, das zunächst geordnet werden musste und dann wie ein Mosaik unter handwerklich-konstruktiven Gesichtspunkten zusammengefügt und zu einem in sich schlüssigen Ganzen errichtet werden konnte. Als Ergebnis legte Felix Lühning im Jahre 1997 eine Rekonstruktion des Globushauses im Neuwerkgarten in Zeichnungen und Modellen vor, die in der Hauptsache auf einem intensiven Studium schriftlicher Quellen fußt. Diese belegen zu etwa 80 % das Vorhandensein der Baumaterialien, zu 90 % die Raumfolge und -verteilung, zu 80 % die Dimensionen und zu 50 % das Aussehen des Gebäudes und seiner einzelnen Teile. Hier muss allerdings eine feinere Abstufung erfolgen: bestimmte Bauteile sind dank Grabungsfunden zu 100 % gesichert, andere Teile ließen sich anhand genauer Beschreibungen und andernorts erhaltener Vorbilder aus der Werkstatt desselben Meisters zu 90 % belegen (insbesondere die Portale), andere Bauteile sind wiederum überhaupt nicht beschrieben und mussten unter Anlehnung an zeitgenössische Vorbilder und unter Maßgabe der im 17. Jahrhundert üblichen bautechnischen Lösungen rekonstruiert werden (insbesondere Balkenlagen). Die äußere und innere Gestaltung (Mauerwerk, Maueranker, Fenster, Stuck, Zierelemente und ähnliches) der Rekonstruktion lehnt sich, solange eindeutige Belege fehlen, stets an die schlichteste Form zeitgenössischer Vorbilder an. Die Grundrissmaße des Gebäudes sind zu 100 % gesichert. Jüngste Grabungen, die seitens des Landesamtes für Ur- und Frühgeschichte mit erheblich mehr technischen Mitteln durchgeführt werden konnten, als sie Felix Lühning seinerzeit zur Verfügung gestanden hatten, machen möglicherweise eine Revision der bisherigen Rekonstruktion in den Kellergeschossen notwendig. Sie werden dafür aber gerade in den Bereichen, in denen Felix Lühning bei seiner Arbeit noch auf Mutmaßungen angewiesen war, gesicherte Befunde liefern. Einzig der Wasserantrieb für den Globus bildet einen Sonderfall. Die wesentlichen Getriebeteile (Zahnräder, Schnecken, Wellen) sind zwar sämtlich archivalisch nachzuweisen und lassen über die in den Quellen angegebenen Gussgewichte gute Rückschlüsse auf ihre Dimensionen zu, ebenso ist auch die Lage einiger Bauteile im Gebäude beschrieben worden. Da die Maschinerie jedoch letztlich eine singuläre Erscheinung war und keine Vorbilder besaß, musste Felix Lühning hier zu 60 % eigene Mutmaßungen anstellen. Globus und Neuwerkgarten heute Im vergangenen Jahrzehnt wurden von denkmalpflegerischer Seite große Anstrengungen unternommen, das Gelände des Neuwerkgartens freizulegen, um die großartige Gartenanlage wieder sicht- und nachvollziehbar zu machen. Geldknappheit und schwieriges Terrain sorgten jedoch dafür, dass die Arbeiten lange andauerten. Dabei war die Arbeit Felix Lühnings über den Globus ein gegebener Anlass, den seit Bestehen der Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen existierenden Wunsch, den Terrassengarten von Schloss Gottorf in seiner barocken Pracht – mit Globushaus und Globus – wiedererstehen zu lassen, in die Tat umzusetzen. Garten, Globus und Globushaus bilden einen festen Bestandteil im historischen Zusammenhang mit der Schlossanlage und ist in seiner langen Geschichte nie grundlegend überformt worden. Die Pläne sahen allerdings keine historisch-authentische Rekonstruktion vor, sondern eine designorientierte Lösung, bei der überwiegend die ästhetischen Gesichtspunkte im Vordergrund standen (Architekten Hillmer & Sattler und Albrecht, Berlin). Die Umsetzung dieses Vorhabens war durch das Engagement verschiedener Stiftungen möglich geworden. Die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, die Deutsche Bundesstiftung Umwelt und die Deutsche Stiftung Denkmalschutz finanzierten die Wiederherstellung des Gartens, während die Förderung der Hermann Reemtsma Stiftung Hamburg den Bau des neuen Globushauses und einer getreuen Replik des Gottorfer Globus ermöglichte. Im Mai 2005 wurde das Globushaus mit dem neuen Gottorfer Globus und die erste Ausbaustufe des Gartens unter großer Beteiligung der Bevölkerung und der Presse eröffnet. Garten und Globushaus sind seither zu einer international beachteten Attraktion geworden. Seit 2019 bieten die Schleswig-Holsteinischen Landesmuseen neue Vermittlungsangebote im Globushaus an. Neben neu gestalteter Ausstellungsgrafik mit Informationen zu Globus, Globushaus, Barockgarten und frühbarocker Pflanzenkultur zeigt ein Virtual Reality-Film die Entstehungsgeschichte des Globus. In dem sechsminütigen Film treten Adam Olearius und Herzog Friedrich in der Bildsprache des barocken Kulissentheaters auf. Der 360-Grad-Film setzt den Bau des Globus in den gesellschaftlichen Kontext des Dreißigjährigen Krieges, stellt die Protagonisten und ihre Lebenswelten vor, zeigt die am Bau beteiligten Gewerke und visualisiert die komplexe Mechanik des Globus. Ausschnitte aus dem Film und zusätzliche Infos zu Riesenglobus und Globushaus können Besucher seit Anfang des Jahres 2020 von zuhause aus in einer 360-Grad-Anwendung auf der Website des Museums erkunden. Siehe auch Eartha Literatur Herwig Guratzsch (Hrsg.): Der neue Gottorfer Globus. Koehler & Amelang, Leipzig 2005, ISBN 3-7338-0328-0. Engel Petrovic Karpeev: Bol'soj Gottorpskij globus (Der große Gottorfer Globus). Muzej Antropologii i Etnografii Imeni Petra Velikogo (Museum für Anthropologie und Ethnographie), St. Petersburg 2003, ISBN 5-88431-016-1 (russisch) Felix Lühning: Der Gottorfer Globus und das Globushaus im 'Newen Werck'. Katalogband IV der Sonderausstellung „Gottorf im Glanz des Barock“. Schleswig 1997. Felix Lühning: Das ganze Universum auf einen Blick – die Gottorfer Sphaera Copernicana von Andreas Bösch. In: Nordelbingen. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte. , Jg. 60 (1991), S. 17–59. Yann Rocher (Hrsg.): Globes. Architecture et science explorent le monde. Norma éditions / Cité de l'architecture, Paris 2017, S. 42–45, ISBN 978-2-37666-010-1. Ernst Schlee: Der Gottorfer Globus Herzog Friedrichs III. Westholsteiner Verlagsanstalt, Heide 2002, ISBN 3-8042-0524-0. Weblinks Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf Der Gottorfer Globus – ein barockes Welttheater – Website von Felix Lühning zum Gottorfer Riesenglobus Virtueller Rundgang durch Globus, Globushaus und Barockgarten Einzelnachweise Teilherzogtum Schleswig-Holstein-Gottorf Globus Kultur (Schleswig) Hilmer Sattler Architekten Ahlers Albrecht
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https://de.wikipedia.org/wiki/H.%20H.%20Asquith
H. H. Asquith
Herbert Henry Asquith, 1. Earl of Oxford and Asquith KG, PC, KC (* 12. September 1852 in Morley, Yorkshire; † 15. Februar 1928 in Sutton Courtenay, Berkshire), üblicherweise bekannt als H. H. Asquith, war ein britischer Politiker der Liberalen Partei und Premierminister des Vereinigten Königreichs von 1908 bis 1916. Asquiths Name ist vor allem verbunden mit den großen sozialen Reformen der liberalen Regierungen in den Jahren 1906 bis 1914 und den daraus resultierenden heftigen Auseinandersetzungen mit der konservativen Opposition. Aus einer mittelständischen Familie stammend, gewann Asquith ein Stipendium am Balliol College der University of Oxford, wo er brillierte. Nach einer Karriere als Anwalt bewarb er sich als Kandidat der Liberalen Partei für einen Sitz im Unterhaus (House of Commons). Von 1892 bis 1895 war er in den Regierungen von Gladstone und Rosebery Innenminister. Nach einer längeren liberalen Oppositionsphase bekleidete er von 1905 an das Amt des Schatzkanzlers in der liberalen Regierung von Henry Campbell-Bannerman. Bereits ab 1895 in seiner Partei als kommender Mann gehandelt, wurde er als Nachfolger des sterbenden Campbell-Bannerman 1908 Premierminister. In seine Ägide als Premierminister fielen die andauernden politischen Auseinandersetzungen um die sozialen Reformvorhaben der Liberalen und um die umstrittene Frage der Selbstverwaltung Irlands (Home Rule). Im Parliament Act 1911 konnte schließlich das Vetorecht des traditionell konservativ dominierten Oberhauses (House of Lords) gebrochen und folgend auch eine Altersrente sowie Versicherungen gegen Krankheit und Invalidität eingeführt werden. Außenpolitisch wurde seiner Regierung das Flottenwettrüsten mit dem kaiserlichen Deutschland aufgezwungen, und Großbritannien band sich in einer immer engeren Allianz an Frankreich. Im August 1914 führte Asquith das Vereinigte Königreich in den Ersten Weltkrieg. Nach sich mehrenden Rückschlägen und militärischen Niederlagen war er gezwungen, 1915 eine Koalitionsregierung mit der Konservativen Partei zu bilden. In der Folge sank Asquiths politischer Stern und er geriet zunehmend in die Kritik einer ihm größtenteils feindlich gesinnten Presse. Erfolge wurden seinem innerparteilichen Rivalen Lloyd George zugeschrieben, Misserfolge Asquith angelastet. Ende 1916 wurde er schließlich von Lloyd George und den Konservativen gestürzt; er führte daraufhin den größeren Teil der Liberalen Partei in die Opposition und in den nachfolgenden Jahren in die politische Bedeutungslosigkeit. Herkunft und früher Werdegang Asquith wurde als zweiter Sohn von Joseph Dixon Asquith und seiner Frau Emily in eine mittelständische Dissenter-Familie in Morley geboren. In jungen Jahren wurde er in der Familie „Herbert“ gerufen, seine zweite Frau nannte ihn jedoch „Henry“. In der Öffentlichkeit wurde er immer H. H. Asquith genannt, er selbst unterschrieb ebenfalls immer mit „H. H. Asquith“. Sein Biograph Roy Jenkins schreibt dazu: „Es gibt wenige Personen von nationaler Bedeutung, deren Vornamen in der Öffentlichkeit so wenig bekannt waren“. Die Asquiths waren seit langem eine der bekannteren Familien in Morley, wo sich ihre Wurzeln (teils auch Askwith buchstabiert) mindestens bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Sein Vater, als mittelständischer Angestellter im Wollhandel beschäftigt, konnte der Familie einen bescheidenen Wohlstand ermöglichen. Asquith beschrieb diese frühen Jahre als „ein Leben in einfacher Behaglichkeit inmitten einer halbländlichen Umgebung“. Joseph Asquith starb frühzeitig an einer plötzlichen Krankheit im Juni 1860, als Asquith erst acht Jahre alt war; er hatte aufgrund dieses frühen Todes im Gegensatz zu seiner Mutter kaum einen prägenden Einfluss auf Asquith. Zu seinem Bruder William hatte er in der Jugendzeit ein enges Verhältnis. Die Familie zog nach dem Tod des Vaters nach Huddersfield, wo sie von Asquiths Onkel, William Willans, unterstützt wurde. Dieser sorgte dafür, dass Asquith das Huddersfield New College besuchen konnte. Nachdem Willans ebenfalls verstorben war, zog die Familie nach Sussex um und wurde von John Willans unterstützt. Als John Willans aus geschäftlichen Gründen nach Yorkshire umzog, wurde die Familie getrennt und bei verschiedenen Familien untergebracht. Asquith und sein Bruder besuchten nun die City of London School, wo Asquith hervorragende Leistungen erzielte, wobei er vor allem in Englisch und der Klassischen Altertumswissenschaft brillierte. Dazu erlernte er mehrere Fremdsprachen wie Deutsch und Französisch. In seiner Freizeit besuchte er den Palace of Westminster und hörte sich als Zuschauer einige der Parlamentsdebatten an. In einem Brief an seine Mutter bemerkte er, er habe den Reden von Benjamin Disraeli und Robert Lowe zugehört. Seinem Schuldirektor Edwin Abbott Abbott blieb er zeitlebens verbunden und äußerte, dass er tief in dessen Schuld stehe. Dieser meinte jedoch, er habe nie einen Schüler gehabt, der ihm weniger verdanke und so viel seinen eigenen vorhandenen Fähigkeiten. Abbott ermutigte Asquith, sich für ein Stipendium am Balliol College der Universität Oxford zu bewerben, eines der landesweit führenden Stipendien. Asquith erhielt es und im Herbst 1870 begann er seine Studien am Balliol College. Er kam ans Balliol College zu einer Zeit, als dieses in seiner Reputation und der Zahl seiner Studenten stark anwuchs. Verdankten Balliol und die anderen Colleges in Oxford ihre Studenten vormals mit großer Mehrheit den Public Schools (vor allem Eton und Harrow), begann sich dies in den 1870ern graduell zu ändern und Balliol zog nun Studenten aus aller Welt an. Unter der Leitung von Benjamin Jowett blühte Balliol auf und errang im Renommee einen führenden Platz unter den Colleges in Oxford. Asquith übertraf alle Erwartungen und erbrachte glänzende Leistungen. Er machte sich schnell einen Namen und wurde Mittelpunkt einer Gruppe junger Studenten, zu der auch Charles Gore, Herbert Woodfield Paul und William Hurrell Mallock gehörten. Alle vereinte das Interesse am Debattierclub Oxford Union, wo Asquith bereits einen Monat nach seiner Ankunft sprach und in seinem letzten Jahr zum Präsidenten gewählt wurde. Die progressiven liberalen Ansichten des Tutoren Thomas Hill Green, die in Oxford großen Einfluss hatten, beeinflussten ihn zudem in seinen politischen Ansichten. Gegen Ende seiner Zeit in Oxford wurde er Vorsitzender einer einflussreichen Studentenvereinigung. Er schloss sein Studium mit Bestnoten in Greats bzw. Literae humaniores ab. Balliol blieb sein ganzes Leben lang seine spirituelle Heimat. Nach der Ansicht seiner Zeitgenossen verkörperte er wie kein anderer den von ihm geprägten Spruch, dass die Menschen des Balliol „das ruhige Bewusstsein einer mühelosen Überlegenheit“ besäßen. Seine Biographen sehen in seiner Zeit in Oxford seine formativen Jahre, in denen er bereits seine späteren Stärken – wie etwa seine Debattenstärke und seine schnelle Auffassungsgabe – aber auch seine Schwächen herausbildete. So sah der Historiker R. B. McCallum kurz nach dessen Tod gerade durch das Greats-Studium Asquiths spätere Tendenz zu einer zu starken Betonung intellektueller Analyse und einer Abwertung von tatsächlicher Erfahrung angelegt. Dieser „für das Greats-Training charakteristische Fehler“ hätte später zu einer zu eng gefassten Vision geführt. Dazu sei durch das Studium griechisch-römischer Autoren ein Stoizismus zu seinem zweiten Naturell geworden. Zudem wird seine Außenseiter-Position in seinen frühen Jahren betont; auch wenn er unter intellektuell Gleichen Freunde fand, erfuhr er von gesellschaftlich Höherstehenden Ablehnung, was ihn später Offenheit und Inklusion befürworten ließen. Familie 1877 heiratete Asquith Helen Kelsall Melland, die Tochter eines Arztes aus Manchester. Dem vorangegangen war eine lange Phase der (zunächst heimlichen) Verlobung. Helen entstammte einem ähnlichen sozialen Umfeld wie Asquith. Helens Vater war ein prominenter Arzt in Manchester, der ebenfalls für Liberalismus und Freihandel eintrat. Dazu hing die Familie ebenfalls den Nonkonformisten an. Aus der Ehe gingen vier Söhne und eine Tochter hervor, bevor Helen im Sommer 1891 an Typhus starb, während die Familie in Schottland Urlaub machte. Helen wird als eine einfache Frau des viktorianischen Zeitalters beschrieben, die vor allem ihre Familie als den Mittelpunkt ihres Lebens und ihre Lebensaufgabe ansah. Dagegen hegte sie keinerlei eigene Ambitionen und hatte auch für ihren Mann nur wenig Ehrgeiz; seine Entscheidung, politisch aktiv zu werden, bedauerte sie zunächst gegenüber einer Verwandten. Asquith selbst schrieb posthum in einem Brief an Richard Haldane: „Sie war eher eine zurückhaltende als eine stimulierende Kraft, die aber loyal und hingebungsvoll jeden Schritt duldete, den ich machte, obwohl es mich in Sphären führte, die ihr fremd und ungleichartig waren.“ Der älteste Sohn Raymond (1878–1916), übertraf seinen Vater noch in akademischen Errungenschaften; er fiel 1916 an der Somme, und so ging der Adelstitel auf dessen einzigen Sohn Julian (geboren 1916, wenige Monate vor dem Tod seines Vaters) über. Raymond blieb nach seinem frühen Tod als ein legendäres Talent in Erinnerung. Derzeitiger Titelträger ist Asquiths Urenkel Raymond Asquith, 3. Earl of Oxford and Asquith. Der zweite Sohn, Herbert Asquith (* 1882), meist „Beb“ genannt, der oft mit seinem Vater verwechselt wird, folgte seinem Vater und älteren Bruder in deren Fußstapfen, jedoch insgesamt mit weniger Erfolg. Er avancierte ebenfalls zum Präsidenten des Oxford-Debattierclubs und wurde dann Dichter und Romancier. Der dritte Sohn Arthur (* 1883), wenig intellektuell, schlug eine militärische Laufbahn ein und wurde mit 31 Jahren Brigadier-General. Die einzige Tochter aus dieser Ehe, Violet Asquith (später Violet Bonham-Carter), geboren 1887, idolisierte ihren Vater, teilte sein politisches Interesse und begann in den 1920ern, sich politisch für die Liberale Partei zu engagieren. Sie wurde später eine angesehene Autorin. 1915 heiratete sie den Privatsekretär ihres Vaters; ihr wurde 1964 ein Adelstitel auf Lebenszeit verliehen. Ein weiterer Sohn, Cyril, wurde 1890 geboren. Er folgte wiederum den akademischen Pfaden der Familie und schlug dann eine juristische Laufbahn ein. Er wurde Law Lord (Mitglied des Oberhauses mit besonderem Verantwortungsbereich in Rechtsfragen). Für Asquiths Biografen Roy Jenkins waren drei der Kinder bemerkenswert und die beiden anderen zumindest nicht unbedeutend. Das einzige, was ihnen von ihrem Vater fehlte, sei ein anhaltender Ehrgeiz gewesen, um Einfluss auf das große Geschehen zu nehmen. Nach dem Tod seiner ersten Frau kaufte Asquith ein Haus in Surrey und engagierte Kindermädchen und Hauspersonal für seine Kinder, während er selbst während der Werkwochen in London arbeitete. 1894 heiratete Asquith Emma Alice Margaret Tennant (1864–1945), genannt „Margot“, die er 1891 kennengelernt und dann über eine längere Phase intensiv umworben hatte. Die meinungsfreudige und extrovertierte Margot Asquith stellte in vielen Bereichen das Gegenteil von Asquiths erster Frau dar. Stephen Bates nennt sie in seiner Biographie Asquiths die Antithese Helens und eine der dynamischsten Frauen, die je in 10 Downing Street (dem Londoner Wohnsitz der Premierminister) wohnten. Sie war die Tochter von Sir Charles Clow Tennant, 1. Baronet, einem liberalen Parlamentsmitglied und einem der reichsten Männer Schottlands. Anders als Helen war sie als Frau für die viktorianische Zeit ungewöhnlich gut ausgebildet worden. Äußerst meinungsfreudig, interessierte sie sich stark für Kunst und Politik und kleidete sich auffallend extravagant und chic. Aus dieser Ehe gingen fünf Kinder hervor, von denen zwei die Kindheit überlebten: Elizabeth (1897–1945; später Prinzessin Antoine Bibesco), eine Schriftstellerin, und Anthony (1902–1968), später Filmregisseur. Mit der Tochter aus erster Ehe, Violet, hatte Margot ein notorisch angespanntes Verhältnis, welches Asquith zuweilen als ein „chronisches Mißverständnis“ beschrieb. Unter seinen weiteren Nachfahren befinden sich die beiden Schauspielerinnen Helena Bonham Carter und Anna Chancellor, Dominic Asquith, Karrierediplomat und derzeitiger britischer Hochkommissar in Indien sowie Laura Miranda, Tochter Violet Bonham Carters und Frau des früheren Chefs der Liberalen Partei, Jo Grimond. Beginn der politischen Karriere Um sein Einkommen aufzubessern, begann Asquith ab 1876, Artikel für den Spectator zu schreiben, der damals eher liberal ausgerichtet war. Nach dem Studium entschied er sich dazu, Rechtsanwalt zu werden und erhielt 1876 seine Gerichtszulassung. Im viktorianischen Zeitalter war der Beruf des Rechtsanwalts eine übliche Berufsentscheidung für einen späteren Einstieg in die Politik, insbesondere auch für Leute, die sich aufgrund ihrer Herkunft den Gang in die Politik (die zu dieser Zeit in fast allen Bereichen eine unbezahlte Tätigkeit war) zunächst noch nicht leisten konnten. Wie er später gestand, war der Anfang schwer; „für die ersten fünf oder sechs Jahre war meine Arbeit klein, unregelmäßig und von einem materiellen Standpunkt aus weder produktiv noch vielversprechend.“ Ab den frühen 1880er Jahren kam er schließlich zu Wohlstand. 1885 wurde sein enger Freund Richard Haldane ins Unterhaus (House of Commons) gewählt; bei den fälligen Neuwahlen 1886 schlug Haldane Asquith vor, als liberaler Kandidat für den Wahlkreis von East Fife zu kandidieren, da der lokale liberale Abgeordnete nicht mehr die liberale Regierung, sondern Joseph Chamberlains unabhängige Unionisten unterstützte. Obwohl er keinerlei Verbindungen zu Schottland hatte, wurde Asquith von der lokalen liberalen Parteiorganisation bestätigt. Asquith gelang auf Anhieb der Einzug ins House of Commons für diesen abgeschiedenen Wahlkreis, der seit dem Great Reform Act von 1832 fest in liberaler Hand war. Mit Haldane und Edward Grey, einem weiteren jungen Parlamentsmitglied, formte Asquith bald eine enge Freundschaft. Asquiths politische Karriere fiel zusammen mit immer weiter zunehmenden Spannungen im politischen Gefüge Großbritanniens. Zudem erlebte das Land einen Zeitenwechsel; war das 19. Jahrhundert über lange Strecken von den Liberalen politisch dominiert worden, führte Gladstones Eintreten für die irische “Home Rule” nun zur Spaltung der Liberalen Partei und zu einem Ende der liberalen Dominanz in der Wählergunst. Das radikale Gebaren irischer Extremisten alarmierte Teile der britischen Mittelschicht, die in deren aggressiven Verhalten einen Angriff auf die soziale Ordnung und die Eigentumsrechte sah. Eine Gruppe Liberaler, die in Gladstones Initiative eine Gefahr für die ab 1800 bestehende Union zwischen Großbritannien und Irland sahen, wandten sich von den Liberalen ab und bildeten als Liberale Unionisten eine eigenständige Fraktion im Unterhaus. In Verbund mit der konservativen Partei brachten sie Gladstones Gesetzesvorlage für die irische Selbstverwaltung 1886 zu Fall. Die schrittweise Annäherung der Liberalen Unionisten an die Konservativen bedeutete für die Liberale Partei eine schwere Hypothek und erlaubte den Konservativen unter ihrem führenden Vertreter Salisbury eine Phase der Dominanz. Besonders schwerwiegend waren die Folgen im Oberhaus (House of Lords), wo die große Masse liberaler Peers die Seiten wechselte und das Kräfteverhältnis nachhaltig und drastisch zu Gunsten der Konservativen beeinflusst wurde. Die Diskussion über die “Home Rule” sorgte für erhebliche Spannungen zwischen Anhängern und Gegnern. Vor diesem Hintergrund hielt Asquith im März 1887 seine erste Rede im Unterhaus; während des Rests der parlamentarischen Sitzungsperiode meldete er sich gelegentlich dort zu Wort, meist zu irischen Fragen, die das dominierende politische Thema waren und für den liberalen Premierminister William Ewart Gladstone mehr und mehr zur zentralen Sachfrage und einer obsessiven persönlichen Agenda wurden. Asquiths Potential fiel sehr schnell den liberalen Größen auf. Sir William Harcourt vermerkte 1890 in einem Brief an John Morley, Asquith sei bei weitem der beste der jungen Abgeordneten. Auch Gladstone wurde schnell auf ihn aufmerksam, lud ihn zu sich ein und erteilte ihm politische Ratschläge. Den ersten Posten verschaffte ihm Gladstone 1892, als er Asquith zum Innenminister in seinem vierten Kabinett machte. Während andere neue Parlamentsmitglieder sich mit Posten als einfache Juniorminister außerhalb des Kabinetts begnügen mussten, war er damit der mit Abstand am höchsten beförderte Politiker seiner Generation. Zudem wurde er in den Privy Council aufgenommen. Im folgenden Jahr (1893) nahm Gladstone einen neuen Anlauf, um die Home Rule in Irland zu etablieren. Asquith als Innenminister hielt im Verlauf der hitzigen Unterhausdebatten eine vielbeachtete Rede. Obwohl das Gesetz das Unterhaus schließlich erfolgreich passierte, wurde es im September 1893 vom Oberhaus mit einer Mehrheit von 419 zu 41 Stimmen abgelehnt. Damit war Gladstones Bestrebungen ein Ende gesetzt. Diese Agenda fortzuführen, hätte eine direkte Konfrontation mit dem Oberhaus und eine konstitutionelle Krise bedeutet. Gladstone musste sich einer ablehnenden Mehrheit des Kabinetts beugen, die nun zurückschreckte und nicht so weit gehen wollte, die Nation wegen Irland in eine konstitutionelle Krise zu stürzen. Im gleichen Jahr musste Asquith als Innenminister mit einem Kohlenarbeiterstreik in Yorkshire fertig werden, der zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und Aufruhr führte. Da die örtliche Polizei die Kontrolle verloren hatte, beorderte er Truppen in die Region, um die öffentliche Ordnung zu gewährleisten; örtliche Magistrate ließen in Featherstone kurz darauf während einer Demonstration den Riot Act öffentlich vorlesen und die anwesenden Soldaten in die Menge feuern, worauf zwei Demonstranten starben. Asquith setzte deshalb in der Folge eine unabhängige Kommission ein, die sich mit der Handhabung der Angelegenheit seitens der Verantwortlichen befassen sollte. Dennoch verfolgte ihn dieses Ereignis noch jahrelang und er wurde auch in den kommenden Jahrzehnten bei Wahlkampfauftritten gelegentlich von Demonstranten mit dieser Episode konfrontiert, die seine Reden mit Rufen nach Featherstone unterbrachen. Auf seine Initiative hin wurde ein Gesetzentwurf verabschiedet, der auf Minenbetreiber zielte und diese haftbar machen sollte für Unfälle ihrer Angestellten im Betrieb. Das Gesetz wurde jedoch vom Oberhaus zurückgewiesen. 1894 trat der hochbetagte Gladstone zurück; er selbst sah William Harcourt als seinen Nachfolger vor, die Liberalen entschieden sich jedoch für Lord Rosebery – auch wegen Königin Victorias Abneigung für ersteren. Die folgende Phase der liberalen Regierung war von einem unsicheren Balanceakt gekennzeichnet. Harcourt trat Roseberys Regierung nur gegen weitreichende Zugeständnisse als neuer Schatzkanzler (Finanzminister) bei. Als Führer der liberalen Regierungsfraktion im Unterhaus unterlief er wiederholt die Führung Roseberys, der im Oberhaus saß. Über Fragen der Außen- und Finanzpolitik waren beide völlig zerstritten. Im Zuge der Armenischen Krise kam zudem Gladstone aus seinem Ruhestand zurück und unterminierte Rosebery, indem er energisch – wie schon im Zuge seiner Midlothian-Kampagne vor dem Hintergrund der Balkankrise 1877/78 – eine militärische Intervention Großbritanniens gegen das Osmanische Reich forderte. Asquith neigte in dieser einjährigen parteiinternen Auseinandersetzung instinktiv Rosebery zu; über Harcourt äußerte er: „Um die nackte Wahrheit zu sagen, [er] war ein nahezu unmöglicher Kollege und wäre ein gänzlich unmöglicher Chef geworden.“ 1895 verlor die Liberale Partei die Unterhauswahlen und ging in die Opposition. Die Liberalen wurden von ihren internen Machtkämpfen zunehmend paralysiert. Zwischen Rosebery, als Führer der Liberalen im Oberhaus, und Harcourt als dem liberalen Fraktionsführer in Unterhaus herrschte auch nach der Niederlage kein Einvernehmen. Beide traten jedoch 1896 respektive 1898 zurück. Asquith wurde von mehreren Parteifreunden aufgefordert, als liberaler Oppositionsführer im Unterhaus zu kandidieren, lehnte jedoch ab, da er es sich nicht leisten konnte, sein Einkommen als Barrister für den unbezahlten Vollzeitposten des Oppositionsführers aufzugeben. Er unterstützte stattdessen Henry Campbell-Bannerman, der im Februar 1899 gewählt wurde. Innerhalb der liberalen Partei wurde er der Anführer des gegen Joseph Chamberlain gewandten Freihandelsflügels, der dessen Zollreformplänen widersprach. Zudem unterstützte er nach einigem Zögern die irische Selbstverwaltung. Dazu trat er für den Imperialismus und das Britische Empire ein; zunächst zögerlich, dann offen, unterstützte er zusammen mit Rosebery den Kurs der konservativen Regierung im Zweiten Burenkrieg. Der Burenkrieg in Südafrika bedeutete für die Liberale Partei erneut eine innere Zerreißprobe. Rosebery, Asquith und Grey unterstützten den Krieg im Zeichen des Britischen Imperialismus, John Morley und der junge David Lloyd George waren dagegen strikt gegen den Krieg. Mit Ende des Krieges rückten jedoch schnell wieder andere Themen in den Vordergrund. Erneute Regierungsübernahme der Liberalen Im Verlauf des Jahres 1905 wurde deutlich, dass die konservativ-unionistische Regierung von Arthur Balfour, die in der Freihandelsfrage tief gespalten war, sich nicht mehr lange im Amt würde halten können. Parallel dazu begannen sich bei der liberalen Opposition mehrere Kandidaten für führende Kabinettsposten in Stellung zu bringen, da Henry Campbell-Bannerman zu diesem Zeitpunkt eher als ein Platzhalter und Übergangslösung gesehen wurde. Asquith, Edward Grey und Richard Haldane fanden sich im September 1905 während eines Urlaubs in Schottland zusammen, wo sie im „Relugas Compact“ Vereinbarungen trafen, unter welchen Bedingungen sie bereit wären, in eine neue Regierung einzutreten. Asquith sollte Schatzkanzler, Haldane Lord Chancellor und Grey Außenminister werden. Der Führer der Liberalen im Oberhaus und als neuer Premier gehandelte Lord Spencer schied im Oktober aus der Nachfolgediskussion aus, als er einen schweren Schlaganfall erlitt. Dadurch wurde Campbell-Bannerman der Weg für die Nachfolge geebnet. Am 4. Dezember 1905 trat Balfour schließlich (als bislang letzter Premierminister) zurück, ohne zuvor eine Wahl verloren zu haben, und übergab die Regierungsgeschäfte an die liberale Opposition. Campbell-Bannerman bot Asquith nun das Amt des Schatzkanzlers an, was dieser sofort akzeptierte. Haldanes Forderung, ins Oberhaus zu wechseln, lehnte Campbell-Bannerman definitiv ab. Damit war der Versuch von Asquith, Grey und Haldane, Campbell-Bannerman gemäß der getroffenen Vereinbarung ins Oberhaus „abzuschieben“, um so für Asquith zusätzlich zu seinem Posten als Schatzkanzler auch noch die Führung der liberalen Fraktion im Unterhaus zu gewinnen, gescheitert. Grey und Haldane erklärten daraufhin ihre Bereitschaft, ins Kabinett einzutreten. Die Liberalen riefen sofort Neuwahlen aus, um sich im Amt bestätigen zu lassen. In den Wahlen von 1906 (die sich noch über mehrere Wochen erstreckten) erzielten die Liberalen einen klaren Erdrutsch-Sieg, während die Konservativen deutliche Verluste hinnehmen mussten. Die Wahl hatte einschneidende Folgen für die Zusammensetzung des Unterhauses. Auf Seiten der Konservativen wurden besonders Adel und Gentry zahlenmäßig deutlich dezimiert. Vor allem aber auch die Liberale Unterhausfraktion veränderte sich bei dieser Wahl stark in ihrer Zusammensetzung – vor allem Anwälte und Geschäftsleute, die vormals an einer Public school ausgebildet worden waren und später in Oxford oder Cambridge studiert hatten, waren nun weitaus stärker vertreten. Diese Veränderung repräsentierte zuallererst der neue Schatzkanzler und „zweite Mann“ der Regierung, Asquith. Schatzkanzler Im späten viktorianischen Zeitalter hatten sich infolge zahlreicher sozialer Untersuchungen über die Armut in Teilen der Gesellschaft eine Reformbewegung entwickelt, die z. B. auf literarischer Seite die Auswirkungen der Armut in drastischer Weise schilderte und ein Bewusstsein für die Missstände in den unteren Gesellschaftsschichten weckte. Die Dokumentationsarbeit etwa von Charles Booth über die weit verbreitete Armut in Teilen Londons oder die analogen Studien von Benjamin Seebohm Rowntree in York rückten auch Probleme wie Alters- und Kinderarmut ins öffentliche Bewusstsein. In der Politik entspann sich bei den Liberalen zunehmend eine Diskussion über die Rolle des Staates und die Notwendigkeit, den aufgezeigten Problemen und Missständen mithilfe politischer Initiativen zu begegnen. Dies fand nun Widerhall in einem umfangreichen Reform- und Gesetzgebungsprogramm, welches die Liberalen umzusetzen versuchten. Jedoch wurden sie dabei vom konservativ dominierten Oberhaus behindert, was per Veto die meisten wichtigen Gesetzesvorhaben blockierte. Als Schatzkanzler setzte Asquith sich mit großem Nachdruck – wenngleich weniger offensiv-sichtbar als der Handelsminister David Lloyd George – für das Prinzip des Freihandels ein. Zudem bemühte er sich darum, die allgemeinen Ausgaben zu verringern. Das erste von ihm vorgelegte Budget war in den Augen der zeitgenössischen Presse und seiner Biografen wenig beachtlich, da aufgrund der Neuwahlen und der kurzen Einarbeitungszeit des Kabinetts wenig Spielraum für eigene Akzente blieb. Im Unterhaus trug er deshalb bei der Vorstellung des Budgets vor, dass er wenig mehr als vier Monate hatte, um die Lage zu überschauen, hier jedoch die Finanzen eines ganzen Jahres vorstelle, für die er selbst folglich kaum verantwortlich zeichne. In seinem zweiten Budget von 1907 wagte Asquith dagegen einen großen innovativen Schritt und führte – zum ersten Mal in der britischen Geschichte – in der Einkommensteuer eine differenzierte Abstufung für unterschiedliche Einkommensklassen ein. Zudem unterschied er in seinem Budget erstmals zwischen Erwerbseinkommen und Einkommen aus Vermögen. Dazu erhöhte er die Erbschaftssteuer. Zugleich senkte er auf der anderen Seite die Steuern auf ausgewählte Naturalien wie Zucker, was die Armen und Einkommensschwachen begünstigen sollte. In seinem dritten Budget, das er bereits als neuer Premierminister und scheidender Schatzkanzler vorstellte, kündigte er die Einführung einer staatlichen Rente für Menschen über 70 Jahren an, die lediglich über ein geringes Einkommen verfügten. Asquith war in dieser Zeit zunehmend der Vollstrecker des Premierministers im Unterhaus, wo er wiederholt wuchtige Rededuelle mit den führenden Vertretern der Opposition austrug. Premierminister Campbell-Bannerman, seit langem von schlechter Gesundheit, erlitt im Verlauf des Jahres 1907 drei Herzanfälle. Kurze Kuren bewirkten keine Besserung. In dieser Phase vertrat Asquith ihn jeweils. Im Februar 1908 erlitt Campbell-Bannerman einen erneuten Herzinfarkt. Schließlich trat am 3. April 1908, rund drei Wochen vor seinem Tod, aus gesundheitlichen Gründen zurück. Asquiths Anspruch auf seine Nachfolge war unbestritten. König Eduard VII. schickte sofort nach Asquith, der daraufhin nach Biarritz reiste, wo Eduard VII. seinen üblichen Urlaub verbrachte. Dort wurde Asquith am 8. April in einer kurzen Zeremonie zum neuen Premierminister ernannt. Asquith als Premierminister Kabinettsumbildung Bei seiner Rückkehr bildete Asquith das Kabinett in einigen Positionen um; nachdem er kurz damit geliebäugelt hatte, das Amt des Schatzkanzlers weiterhin zu behalten, berief er Lloyd George zu seinem Nachfolger im Schatzamt. Da er selbst und Außenminister Grey zu den Liberalen Imperialisten gerechnet wurden, diente die Beförderung einem Ausgleich der parteiinternen Fraktionen, denn Lloyd George zählte zum linken Parteiflügel. Der junge Winston Churchill wurde an dessen Stelle President of the Board of Trade. Lord Tweedmouth, bislang Erster Lord der Admiralität, wurde auf den Posten des Lord President of the Council abgeschoben, um dafür Reginald McKenna als neuen Ersten Lord der Admiralität zu installieren. Walter Runciman, bisher Juniorminister im Schatzamt, übernahm McKennas altes Ressort, das Erziehungsministerium. Lord Elgin wurde als Kolonialminister ebenso entlassen wie der Earl of Portsmouth als Unterstaatssekretär im Kriegsministerium. Der als moderat geltende Earl of Crewe, bislang Lord President of the Council, wurde neuer Kolonialminister und zugleich Leader of the House of Lords. Das Kabinett Asquiths gilt gemeinhin als eines der talentiertesten in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es vereinte mit Richard Haldane, John Morley und Augustine Birrell intellektuelle Köpfe von hohem Ruf, dazu wurde durch die Beförderungen von Lloyd George zum Schatzkanzler und von Winston Churchill, der Lloyd Georges altes Ressort übernahm, zwei aufstrebende politische Köpfe integriert, die bereits als rhetorische Schwergewichte galten. Beide erkannte Asquith als wertvolle Aktivposten und behandelte sie freundlich, ließ ihnen gegenüber als ehemaliger Balliol-Absolvent jedoch immer intellektuellen Snobismus erkennen. In kurzer Zeit entwickelte Asquith zu Churchill (nicht aber zu Lloyd George) ein enges Verhältnis und verbrachte trotz oder wegen des Altersunterschieds auch privat viel Zeit mit ihm; so schrieb er noch im Oktober 1914 an Venetia Stanley: „Ich kann nicht anders als ihn gern zu haben; er ist so einfallsreich und unverzagt: zwei Qualitäten, die ich am meisten schätze.“ Der einzige Kabinettskollege, der Churchill in dieser Hinsicht gleichkam, war Reginald McKenna. Beide setzte Asquith in einem Brief an Venetia Stanley an vordere Positionen, soweit es um Verdienste fürs Kabinett ging. Diese Liste, mit Crewe an Nummer eins und McKenna an Nummer drei, zeige jedoch in etwas deprimierender Weise, so der Asquith- und Churchill-Biograf Roy Jenkins, wie keine Schwierigkeiten für den Premier zu verursachen ein schneller Weg zu ministerialer Wertschätzung und Kabinettsmeriten sei. Stil als Premierminister Als Premierminister moderierte Asquith die kabinettsinternen Diskussionen als ein primus inter pares im Stil eines Vorsitzenden; gewöhnlich trug er die zu diskutierende Sachfrage vor und bat dann um einzelne Meinungen. Am Ende rekapitulierte er den Inhalt und das Ergebnis einer Debatte. Dieser kollegiale, moderierende Stil der Führung etablierte sich dauerhaft und wurde zum Ideal der Führung des Kabinetts durch den Premierminister; spätestens mit Beginn der Regierung von Margaret Thatcher, die die Diskussionen aggressiv führte und einen kämpferischen, teils rüden Umgangston bevorzugte, überholte sich dieses Modell jedoch. In seinem Buch Great Contemporaries von 1937 beschrieb Churchill rückblickend Asquiths Stil bei Kabinettssitzungen: „Im Kabinett war er bemerkenswert still. Er sprach sogar niemals ein Wort, wenn es nicht notwendig war. Er saß, als der große Schiedsrichter der er war, und hörte sich mit antrainierter Ruhe die Argumente jeder Seite an, hier und da eine Frage oder einen kurzen Kommentar einwerfend, fragend oder prägnant, die die Sache in eine Richtung hin zu einem Ziel brachte, welches er zu erreichen wünschte.“ In ähnlicher Weise äußerte sich Lloyd George 1912 über Asquith: „Er ist ein großer Mann. Er initiiert niemals etwas, aber er ist ein großartiger Schiedsrichter. Er wischt all die kleinen Punkte weg und geht zielstrebig zum Kern des Ganzen. Ich bespreche ein großes Unterfangen lieber mit ihm als mit jedem anderen.“ Nachdem das Kabinett eine gemeinschaftliche Entscheidung getroffen hatte, hielt Asquith eisern daran fest. Seinen Kabinettsmitgliedern gab er gewöhnlich große Freiheiten bei der Arbeit und lehnte es ab, allzu stark in ihre Ressorts hineinzuregieren. Kabinettssitzungen hielt er gewöhnlich einmal pro Woche ab. Nach jeder Sitzung informierte er den König in einem handschriftlichen Protokoll über die Ergebnisse, wobei er kabinettsinterne Auseinandersetzungen gewöhnlich herunterspielte sowie den Neigungen des Königs entsprach und sich inhaltlich auf die Außenpolitik konzentrierte. Auch als Premierminister behielt Asquith das Leben und den Arbeitsrhythmus bei, den er als Anwalt geführt hatte und sparte das Wochenende für sein Privatleben auf, welches er vor allem in den großen Landhäusern der oberen gesellschaftlichen Schichten verbrachte wie auch in The Wharf, seinem 1911 gekauften Landhaus in Sutton Courtenay. Dort verbrachte er seine Freizeit gewöhnlich mit Bridge, Golf und Lesen. An diesem Lebensstil hielt er auch noch ab 1914 in Kriegszeiten fest, was zunehmend für Unmut und Kritik auch bei seinen Anhängern sorgte. Besonders viel Zeit widmete er einer intensiven Briefkorrespondenz mit einem inneren Zirkel Vertrauter. Asquith, der allgemein die Gesellschaft jüngerer Menschen genoss, schrieb bevorzugt an eine Reihe junger weiblicher Freundinnen, die seinem sozialen Zirkel angehörten und meistens Bekannte seiner Kinder waren. Von Margot „der Harem“ genannt, gehörten ihm Pamela Jekyll (Frau des Kabinettsmitglieds Reginald McKenna), Viola Tree (Tochter von Herbert Beerbohm Tree) und Cynthia Charteris (Frau seines Sohnes Herbert) an. 1910 lernte er zudem Venetia Stanley, eine Freundin seiner Tochter Violet, kennen. Mit ihr pflegte er bald einen äußerst intensiven persönlichen und brieflichen Kontakt. Obwohl die Briefe an Venetia von Asquiths Seite (die Antworten verbrannte er) oft mit zärtlichen Anreden verfasst sind, ist es allgemeiner Konsens, dass die Beziehung höchstwahrscheinlich nur rein platonischer Natur war und Asquith eher als ein Ventil für seine politischen Alltagssorgen diente, da Venetia Stanley ihm eine Art ruhige, zuhörende Empathie entgegenbrachte, die seine Frau Margot, streitlustig, überempfindlich und nervös, nicht gab. Als sie sich im Mai 1915 entschied, Edwin Montagu zu heiraten, versetzte sie Asquith damit einen schweren emotionalen Schlag, da er im Laufe der Zeit eine emotionale Abhängigkeit zu ihr entwickelt hatte. Danach endete die Bekanntschaft abrupt. Asquith fand jedoch bald danach in Katherine Scott (der Witwe des Antarktis-Forschers) und in Venetia Stanleys Schwester wiederum Brieffreundinnen, mit denen er eine ähnliche Korrespondenz führte. Fortführung des liberalen Wohlfahrtprogramms Innenpolitisch führte Asquiths Regierung die unter Campbell-Bannerman begonnene Linie fort und rief 1908 ein aufwändiges Wohlfahrtsprogramm mit staatlichen Renten ins Leben. Mit dem Old-Age Pensions Act 1908 wurden staatliche Renten für Menschen über 70 Jahren eingeführt, die nur ein geringes Einkommen aufweisen konnten. Weiter wurde im 1908 Children’s Act ein Jugendgericht eingeführt, um künftig Fälle von straffällig gewordenen Kindern vom bestehenden normalen Justizsystem abzutrennen. Im Gesetz waren zudem mehrere Reformen untergebracht, die dem Kinder- und Jugendschutz galten. So wurde der Verkauf von Zigaretten an Kinder unter 16 Jahren verboten, Maßnahmen zum Schutz von minderjährigen Zeugen vor Gericht getroffen und eine Registrierungspflicht für Neugeborene eingeführt. Dazu wurde von Schatzkanzler Lloyd George eine Krankenversicherung für Arbeiter, die unter einer bestimmten Einkommensgrenze (160 £ im Jahr) lagen, ausgearbeitet. Weiter wurde eine zeitliche begrenzte Arbeitslosenunterstützung für einen Teil der Arbeiterschaft geschaffen. Diese beiden Neuerungen wurde dann letztendlich 1911 im National Insurance Act 1911 Teil der Gesetzgebung. Für Bergarbeiter wurde das Arbeitspensum auf 8 Stunden täglich begrenzt. Dazu wurde 1911 für die Mitglieder des Unterhauses zum ersten Mal ein Gehalt eingeführt, um das Unterhaus für alle Bevölkerungsschichten zu öffnen. Mit diesen Gesetzen und Reformen schuf Asquiths liberale Regierung einen Grundpfeiler des modernen Sozialstaats. Problematisch waren diese Reformen aufgrund ihrer finanziellen Implikationen – parallel zu den Mehrausgaben für das Wohlfahrtsprogramm mussten immer größere Summen für den Unterhalt und Ausbau der Royal Navy aufgewendet werden. Der finanziellen Mehrbelastung standen jedoch keine deutlich gestiegenen Einnahmen gegenüber. Das Wohlfahrtsprogramm war deshalb umstritten und wurde von der konservativen Opposition hart bekämpft. Diese schlug als Alternative Zölle vor, um höhere Steuereinnahmen zu erzielen, was eine Abkehr vom herrschenden Dogma des Freihandels bedeutet hätte. Konflikt mit dem Oberhaus Die Konservativen nutzten ihre traditionelle Mehrheit im Oberhaus und blockierten die liberale Gesetzgebung. Von Lloyd George deshalb als „Balfours Pudel“ geschmäht, wies das Oberhaus aus parteipolitischen Gründen einige ausgewählte Gesetze der Liberalen wieder an das Unterhaus zurück. Der Konflikt spitzte sich zu, als Schatzkanzler Lloyd George 1909 einen provokanten „Volks-Haushalt“ vorlegte, der mit Steuern auf Landbesitz, Einkommen und Luxusgüter finanziert werden sollte. Aufgrund der konservativen Blockade im Oberhaus hatte das liberale Kabinett beschlossen, diese mit einem Kunstgriff zu umgehen; traditionell waren Finanz- und Haushaltsfragen die ureigene Domäne des Unterhauses und wurden vom Oberhaus nicht angefochten. Die Lords hatten sich bisher traditionell in Budgetfragen nicht eingemischt. Die Liberalen bündelten deshalb alle ihre Gesetzesvorhaben in einem großen Gesetz, dem jährlichen Haushaltsentwurf. Die Konservativen, entschlossen, den Entwurf nicht durchzulassen, fochten im Unterhaus das Gesetz in jedem Stadium an und forcierten bei jeder sich bietender Gelegenheit auch eine Division des Hauses durch den Speaker. Dadurch wurde der normale Parlamentsbetrieb erheblich aufgehalten und die Regierung musste die Parlamentssession auf die übliche Sommerpause und darüber hinaus ausdehnen. Den Hauptteil der Belastung trug dabei Schatzkanzler Lloyd George, der die meisten Nächte hindurch bei den späten Sitzungen im Unterhaus verbrachte und das von ihm eingebrachte Gesetz verteidigen musste. Nachdem das Gesetz Anfang November 1909 durch das Unterhaus gebracht war, benutzten die Konservativen, angeführt von Balfour und Lord Lansdowne (dem Führer der Konservativen im Oberhaus) trotz einiger Widerstände in ihrer Partei die große konservative Mehrheit im Oberhaus, um es zu blockieren. So kam es zu einer Verfassungskrise; auf diese Herausforderung reagierte Asquith sofort und rief am 2. Dezember Neuwahlen aus. Er begann den Wahlkampf mit einem großen Auftritt vor 10.000 Anwesenden in der Albert Hall; in einer gefeierten Rede forderte er für das Volk das Recht ein, seine Entscheidungen durch seine gewählten Volksvertreter umgesetzt zu sehen. Zudem kündigte er offen an, die seit 1906 bestehende Zurückhaltung der Liberalen Partei in der Home Rule-Frage künftig aufzugeben. Aus den Neuwahlen im Januar 1910 gingen die Liberalen deutlich geschwächt hervor. Sie büßten vor allem ihre 1906 erzielten Erfolge im südlichen England, wo sie viele Stimmen aus dem Mittelstand hinzugewinnen konnten, nun wieder ein. Diese mittelständischen Wähler kehrten nun zu den Konservativen zurück, da sie drastische Steuererhöhungen durch Lloyd George befürchteten. Jedoch konnten die Liberalen dies bis zu einem gewissen Grad durch Gewinne im industrialisierten Norden und den armen Londoner Bezirken wieder ausgleichen, wo sie von den Stimmen der Arbeiterklasse profitierten. Im Ergebnis waren sie nach der Bildung einer Minderheitsregierung fortan auf die Unterstützung der Irish Parliamentary Party (IPP) angewiesen. Dazu war man weiterhin auf die Hilfe der Labour-Partei angewiesen; mit dieser existierte ohnehin seit Jahren ein loses Wahlbündnis in den einzelnen Wahlkreisen, um den jeweils aussichtsreichsten Kandidaten gegen den lokalen konservativen Kandidaten zu unterstützen. Obwohl die Lords nach einigen Zugeständnissen nun dem Budget zustimmten, entstand damit ein neues Problem, da die IPP ihre Unterstützung von einem neuen Gesetzentwurf über die irische Selbstverwaltung abhängig machten, welche von den Konservativen abgelehnt wurde. Eine Möglichkeit mit großer Sprengkraft in dieser Situation war, König Eduard VII. zu der Drohung zu veranlassen, das Oberhaus mit neuernannten liberalen Peers zu fluten und so durch einen Peerschub die Mehrheitsverhältnisse im Oberhaus zu Gunsten der Liberalen zu ändern. Diese würden das bisherige Veto der Lords überstimmen können. Der König teilte ihm jedoch mit, dass das Ergebnis der Unterhauswahl in seinen Augen nicht schlüssig sei und er eine weitere Unterhauswahl abwarten wolle. Als die Konservativen im Frühjahr 1910 weiterhin unnachgiebig blieben, versuchte Asquith Schritt für Schritt eine bindende Zusage des Königs zu erreichen. Eduard widerstrebte dies zutiefst und er stand den diversen konstitutionellen Vorschlägen über eine Reform des Oberhauses, die nun in Westminster zirkulierten, misstrauisch gegenüber. Er ließ sich jedoch überreden, das Oberhaus vor „gravierenden Konsequenzen“ zu warnen, ohne diese näher zu spezifizieren. Völlig überraschend starb er im Mai 1910; Asquith erreichte die Nachricht an Bord der Admiralsyacht im Golf von Biskaya auf dem Weg zu einem Urlaub in Spanien und Portugal und kehrte sofort um. Eduards Sohn, der neue König Georg V., war politisch unerfahren und als zweiter Sohn Eduards in seinem Werdegang nicht dazu erzogen worden, der neue Monarch zu werden. Er zögerte, als erste Amtshandlung in seiner neuen Funktion eine drastische Attacke auf den Adel durchzuführen. Asquith versuchte deshalb zunächst, in bereits anberaumten informellen Gesprächen mit den führenden Konservativen eine Übereinkunft bzw. einen Kompromiss zu erzielen. In den nun folgenden Gesprächen, die auf eine zeitliche Dauer von sechs Monaten angelegt waren, wurden die Liberalen durch Asquith, Lloyd George, Crewe und Birrell vertreten, die Konservativen durch Balfour und Lansdowne sowie Austen Chamberlain und Cawdor. Asquith und Lloyd George zeigten sich dabei ebenso kompromissbereit wie Balfour auf der anderen Seite. Jedoch wurde die konservative Seite nicht von Balfour, sondern von Lansdowne dominiert, der sich im ganzen Verlauf der Gespräche ebenso pessimistisch wie stur erwies. Lansdowne hatte bei allen vorgeschlagenen Kompromissformeln bereits mögliche Implikationen für die schwelende Home Rule-Frage im Blick, wo er seit den 1880er Jahren als absoluter Hardliner auftrat und unter keinen Umständen nachgeben wollte. Unterstützt von Cawdor, war er deshalb eher bereit, die Konferenzgespräche scheitern zu lassen, als Home Rule in irgendeiner Form wahrscheinlicher werden zu lassen. Auch der Vorschlag Lloyd Georges (zum Ärger Asquiths) eine Koalition aus Konservativen und Liberalen zu bilden, verlief schnell ergebnislos im Sande. Am 10. November 1910 brachen die Gespräche zusammen. Bei einer Kabinettssitzung wurde beschlossen, das Parlament noch vor Weihnachten aufzulösen und eine neue Unterhauswahl auszurufen. Asquith begab sich am folgenden Tag nach Norfolk, um auf Sandringham House den König über die neue Lage zu informieren. Asquith, der sich der Haltung des Königs nicht sicher sein konnte, verhielt sich dem politisch unerfahrenen König gegenüber in den Gesprächen vage und doppeldeutig und vermied es, diesen zu Zusagen zu drängen; er schaffte es schließlich mit dieser Taktik, den König schrittweise zu einer zunächst rein informellen Zusage zu bewegen. Wenige Tage später forderten Asquith und das Kabinett dann auch eine formelle Zusage ein, die zunächst vertraulich behandelt werden sollte. Der König, immer noch hin- und hergerissen, erhielt dabei gegensätzliche Ratschläge von seinen beiden Sekretären Francis Knollys und Arthur Bigge. Bigge wollte den König ermuntern, Asquith jegliche Garantien zu verweigern und notfalls, bei einem Rücktritt der liberalen Regierung, Balfour mit der Bildung einer neuen Regierung zu beauftragen. Knollys dagegen neigte Asquiths Position zu und ließ den König in dem Glauben, dass Balfour keine Minderheitsregierung bilden würde. Unter diesem Eindruck gab König Georg schließlich sein Einverständnis und bindende Zusagen vor der zweiten Wahl im Dezember 1910. Gleichzeitig behielt Asquith das Ausmaß der Gespräche mit dem König für sich und hielt die konservative Opposition im Dunkeln. Darauf bauend, dass die liberale Regierung niemals die Zustimmung des Königs für weitreichende Maßnahmen erhalten würde, versteiften sich die konservativen Lords öffentlich auf eine harte Haltung. Auf der liberalen Seite dominierte Asquith die Wahlkampagne der Liberalen und hielt Reden in allen Landesteilen. Im Ergebnis der Unterhauswahl blieben die Kräfteverhältnisse im Unterhaus im Wesentlichen unverändert – die Liberalen und die Konservativen hielten sich gleichauf die Waage, wobei die Liberalen durch die Unterstützung von Labour und der IPP weiterregieren konnten. Aufgrund der nun öffentlich gemachten Drohung des Königs war die liberale Regierung in der Lage, die Macht des Oberhauses mit dem Parlamentsgesetz von 1911 einzuschränken. Eine Gruppe jüngerer Konservativer um F. E. Smith und Lord Hugh Cecil reagierte, indem sie Asquith bei seiner Eröffnungsrede eine halbe Stunde lang niederschrien und ihn so zwangen, ungehört wieder Platz zu nehmen. Vor die Aussicht gestellt, dass das Oberhaus durch massenhafte Nobilitierungen eine liberale Mehrheit erhalten würde, stimmte eine von Lord Curzon angeführte Gruppe konservativer Peers am 10. August 1911 mit der liberalen Minderheit, so dass das Gesetz das Oberhaus passieren konnte. Tatsächlich wurde durch dieses Gesetz die Macht des Oberhauses gebrochen. Die Lords konnten ein vom Unterhaus verabschiedetes Gesetz nun zwar noch verzögern, aber nicht mehr gänzlich verhindern. Diese Niederlage löste in der Konservativen Partei einen innerparteilichen Machtkampf aus, der den als allzu zögerlich und moderat angesehenen Parteiführer Arthur Balfour schließlich zum Rücktritt brachte. Bei einem Treffen im konservativen Carlton-Club wählten die Konservativen Parlamentsmitglieder Andrew Bonar Law zu ihrem neuen Vorsitzenden im Unterhaus. Im Gegensatz zu Balfour pflegte dieser einen harten, konfrontativen Stil bei seinen Reden im Unterhaus und attackierte die Liberalen scharf. Asquith, der den intellektuellen Balfour sehr respektierte und persönlich mochte, schätzte dagegen den Glasgower Geschäftsmann Bonar Law gering ein und hatte wenig Respekt für diesen. Streiks, Sufragetten und Marconi-Skandal Trotz der eingebrachten Reformen wurde Großbritannien zunehmend von Arbeitskämpfen erschüttert; besonders zwischen 1910 und 1912 brach eine große Welle von Streiks aus. Die liberale Regierung wählte eine vorsichtige Strategie, um hiermit umzugehen. Gewöhnlich versuchte sie, die Streiks durch Verhandlungen zwischen den beiden Seiten zu entschärfen und eine schnelle Kompromisslösung zu erzielen. Asquith beauftragte hierfür gewöhnlich Lloyd George, der als Mediator 1911 einen Streik der Eisenbahner in kürzester Zeit lösen konnte und im folgenden Jahr durch eine Kompromisslösung einen großen Bergarbeiterstreik entschärfte. Diese Lösungen waren allerdings immer kurzfristiger Natur, da der Regierung eine generelle Konzeption über die Rolle des Staates in Arbeitskämpfen fehlte. Hinzu kamen diverse öffentliche Aktionen der Suffragetten, die auf teils militanten Wegen ein Frauenwahlrecht erzwingen wollten. Innerhalb der Liberalen Partei gab es eine große Gruppe von Unterhausmitgliedern, die sich für das Frauenwahlrecht einsetzten. Asquith selbst wurde beim Golfspielen während eines Urlaubs im schottischen Lossiemouth von einer Schar militanter Sufragetten attackiert und musste sich zusammen mit seiner Tochter Violet gegen sie erwehren. Auf dem Weg ins schottische Stirling, wo er ein Denkmal seines Vorgängers Campbell-Bannerman einweihen sollte, wurde er ebenfalls von Sufragetten (u. a. mit einer Bullenpeitsche) attackiert. Diese und ähnliche aufsehenerregende Aktionen der Sufragetten (wie die von Emily Davison, die sich beim Epsom Derby 1913 vor das Pferd Georgs V. stürzte oder die Zerstörung von Fenstern im Einkaufsviertel des Londoner Westend) erzielten einen stark gegenteiligen Effekt bei Asquith, der ihrer Sache zunehmend ablehnend gegenüberstand und sich in seinem Widerstand versteifte. 1917, nachdem er bereits in Opposition war, änderte er schließlich seine Meinung in dieser Frage. Der Marconi-Skandal 1912/1913 bedeutete einen schweren Schlag gegen die Integrität der Regierung. Der Direktor der britischen Marconi Company (die Funkausrüstungen für die Royal Navy lieferte), Godfrey Isaacs, hatte beschlossen, das Volumen der amerikanischen American Marconi Wireless Corporation durch eine Kapitalerhöhung und der Ausgabe neuer Aktien zu erweitern und ein Aktienpaket der amerikanischen Marconi-Firma (die legal formal unabhängig war, jedoch mehrheitlich von der britischen Firma kontrolliert wurde) seinen beiden Brüdern, Harry und Rufus Isaacs, zu einem Preis von 2 ₤ (unter dem Marktwert von 3 ₤) anzubieten. Rufus Isaacs, Attorney General for England and Wales in der Regierung, verkaufte danach einen Teil seines Pakets an Lloyd George und den liberalen Chief Whip Alexander Murray, 1. Baron Murray of Elibank, zum Einkaufpreis. Gleich nachdem die neuen Aktien an der Börse notiert wurden und der Kurs auf 4 ₤ stieg, verkauften beide Minister ihre Aktien. Kurz danach begannen alle und auch Postminister Herbert Samuel jedoch neue Aktienanteile zu erwerben, teils auch für den Liberalen Partei-Fonds. Die Kurse sanken zwar und alle machten nun insgesamt Verluste. Gerüchte begannen jedoch bald in der City und in den Gentlemen-Clubs Londons zu kursieren, dass die Involvierten mithilfe ihres Wissens als Minister fantastische Gewinne erzielt hätten. Dazu wurde die Angelegenheit bald von der Presse ausgeschlachtet; vor allem das von Hilaire Belloc geleitete Magazin Eye Witness griff die Minister scharf an. Vor allem die Zeitung New Witness verwendete in ihrer Berichterstattung zudem auch latent antisemitische Untertöne in ihrer Berichterstattung gegenüber Isaacs und Samuel. Asquith wurde von Isaacs informiert, nahm die Angelegenheit jedoch nicht ernst. Anstatt sich zu erklären und zu entschuldigen, dementierten Isaacs und Lloyd George bei einer Debatte im Unterhaus, dass sie Aktienanteile an „der Marconi-Firma“ erworben hätten, bezogen sich in ihrer sorgfältig ausgearbeiteten Erklärung jedoch nur auf die britische Firma. Die Konservativen erfuhren bald von den Hintergründen und versuchten, Kapital aus der Angelegenheit zu schlagen. Asquith räumte dem König gegenüber ein, dass das Verhalten der involvierten Minister um Lloyd George nur schwer zu rechtfertigen sei. Nichtsdestotrotz stellte er sich vor seine angeschlagenen Kollegen und verteidigte sie im Unterhaus energisch. Für John Campbell war hier ein Modell-Beispiel für einen Premier gesetzt, der sich erfolgreich vor seine Kollegen stellt, anstatt sie einfach zu entlassen. Das eingesetzte Parlamentarische Komitee kam zu einem uneindeutigen Ergebnis, das sich entlang der Parteilinien orientierte. Die involvierten Liberalen des Komitees sprachen Lloyd George und Rufus Isaacs von allen Vorwürfen frei; die involvierten Konservativen sprachen beide ebenfalls vom Vorwurf der Korruption frei, bemängelten jedoch eine „schwere Inkorrektheit“ und eine Respektlosigkeit gegenüber dem Parlament, da beide in den vorherigen Unterhaus-Debatten nicht die volle Wahrheit gesagt hätten. Die Entstaatlichung der Walisischen Kirche war ein weiteres wichtiges liberales Reformprojekt. Da in Wales nur eine Minderheit der Bevölkerung der Anglikanischen Kirche angehörte, erhoben Dissenter und Nonkonformisten die Forderung, dass die walisische Anglikanische Kirche ihren Status als Staatskirche verlieren solle. Ein gleichartiger Schritt war bereits im Jahr 1869 in Irland erfolgt, was eine ähnliche Lösung für Wales nur logisch erscheinen ließ. Die konservative Opposition sah in dem Liberalen Gesetzesentwurf (der das Eigentum der Staatskirche umwandeln sollte) für Wales allerdings einen Angriff auf das Privateigentum. Asquith war mit diesem Problem bereits 1893 als Innenminister konfrontiert worden und hatte es ohne großen Enthusiasmus verfolgt, jedoch war das entsprechende Gesetz ebenfalls von den konservativen Lords zurückgewiesen worden. Auch die weiteren Versuche der Liberalen nach 1905 liefen sich im Oberhaus fest, welches seine verzögernde Vetomacht ausspielte, um das Gesetz zu blockieren. 1914 konnte das Gesetz dann nach zweijährigem Veto das Oberhaus passieren. Eine Inkraftsetzung scheiterte durch den Ausbruch des Krieges. Home Rule: Irische Selbstverwaltung Nach den beiden Unterhauswahlen von 1910 waren die Liberalen aufgrund ihrer reduzierten Mehrheit auf die Unterstützung von Labour und der irischen Nationalisten (IPP) um John Redmond angewiesen. Diese wollten eine irische Selbstverwaltung in Irland (Home Rule) einführen. Gegen dieses Anliegen wehrten sich zum einen die anglo-irischen Lords, die über umfangreichen Landbesitz in Irland verfügten. Zum anderen opponierte auch die schottisch-protestantische Bevölkerung, die seit Jahrhunderten die große Mehrheit in den meisten Counties der nordirischen Provinz Ulster stellten. Die dortige Bevölkerung machte im Fall einer Selbstverwaltung Irlands für sich eine eigenständige Lösung, also eine Abtrennung Ulsters vom Rest Irlands, geltend. Dies wollten sowohl die Liberalen wie auch die irischen Befürworter einer irischen Selbstverwaltung aus ökonomischen Gründen nicht akzeptieren – ohne den generierten Wohlstand aus dem industriell geprägten Belfast und Umgebung schien der Rest Irlands ökonomisch zum Scheitern verurteilt. Der Preis für die weitere Unterstützung der IPP war das dritte Gesetz zur Selbstverwaltung Irlands, welches Asquith schließlich Anfang April 1912 einbrachte. Auch wenn einige Minister wie Churchill und Lloyd George Ulster nicht ignorieren wollten, waren sie intern im Kabinett überstimmt worden. Für Teile der konservativen Opposition um ihren Parteiführer Bonar Law war Ulster eine leidenschaftliche Angelegenheit, in der sie um keinen Preis nachgeben wollten. Die Frage um die irische Selbstbestimmung führte deshalb zu einer erneuten Verschärfung der politischen Auseinandersetzungen und überlagerte schnell alle anderen Tagespunkte. Home Rule stellte in den Worten Robert Blakes eine zunehmende Obsession für das parlamentarische Leben dar, wie sie vorher oder nachher niemals übertroffen wurde. Auf Asquiths Ankündigung im Unterhaus reagierte Bonar Law mit einer feindseligen und scharfen Replik. Unabhängig davon mobilisierten die stärksten Home Rule-Gegner um Sir Edward Carson eine außerparlamentarische Opposition, die zunächst durch öffentliche Demonstrationen und Proteste Ausdruck fand. Dazu gründeten sich Logen und “Clubs”, die paramilitärische Züge annahmen, sich auf bewaffneten Widerstand vorbereiteten und 1913 dann in der Gründung der Ulster Volunteer Force gipfelten. Als direkte Antwort auf Asquiths Gesetzesvorschlag im Unterhaus fand am Osterdienstag 1912 eine große Kundgebung im nordirischen Belfast statt, an dem 100.000 Irische Unionisten teilnahmen, die in militärischer Formation marschierten. Das Oberhaus wies das Home-Rule-Gesetz erwartungsgemäß zurück. Nachdem es zwei Mal vom Oberhaus zurückgewiesen worden war, konnte es Anfang 1914 jedoch auch ohne die Zustimmung der Lords passieren. Asquiths Bemühungen um die irische Selbstverwaltung führten nun in Irland beinahe zum Ausbruch eines Bürgerkriegs in Nordirland, wo Carson bereits Vorkehrungen getroffen hatte, eine provisorische Regierung auszurufen und tausende Freiwillige sich bewaffneten. Auch die Unterstützung der Armee, um dem Gesetz Geltung zu verschaffen, erschien nach dem Curragh-Vorfall fraglich: Als der Kriegsminister J. E. B. Seely die Armee anwies, Truppen vom Armeelager Curragh nach Ulster zu versetzen, um die Provinz unter militärische Kontrolle zu bringen, weigerten sich die meisten involvierten Offiziere und reichten ihren Rücktritt ein, um einer möglichen Konfrontation mit den Ulster-Loyalisten zu entgehen. Nach Bekanntwerden des Vorfalls klagten die Konservativen im Unterhaus Seely und Churchill an, mit der Order eine militärische Eskalation beabsichtigt zu haben. Seely musste daraufhin zurücktreten und Asquith zeitweilig die Geschäfte des Kriegsministers übernehmen. Die Inkraftsetzung von Home Rule und mögliche folgende Implikationen wurden letztlich durch den Beginn des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 verhindert. Außenpolitik Asquith konzentrierte sich während seiner Zeit als Premier vor allem auf die im Vordergrund stehenden innenpolitischen Themen. Die Außenpolitik überließ er weitgehend dem Foreign Office und Außenminister Sir Edward Grey, mit dem er seit langem ein freundschaftliches Einvernehmen hatte und mit dessen außenpolitischen Ansichten er in groben Zügen auch übereinstimmte. Sein Biograph Stephen Bates sieht in Asquiths Passivität ein Paradox, denn er verbrachte – im Gegensatz zu Grey – regelmäßig seine Urlaube im Ausland, etwa an der französischen Riviera und teils auch in Deutschland. Dennoch unternahm er keine Anstrengungen, sich mit seinen ausländischen Gegenparts zu treffen oder substanziellen Einfluss auf die Außenpolitik zu nehmen. Grey seinerseits schirmte die Außenpolitik, so weit es möglich war, systematisch von Kabinett und Unterhaus ab. Die Asquith-Regierung erbte von ihren beiden Vorgängerregierungen die eingeleitete Ausgleichspolitik mit dem republikanischen Frankreich, die Grey fortführte und ausbaute. Bereits früher war Grey zum Schluss gekommen, dass das deutsche Kaiserreich ein internationaler Unruhestifter sei und eine hegemoniale Rolle anstrebe, die dem von Großbritannien verfochtenen Balance-of-Power-Konzept zuwiderlaufe. 1902 hatte er sich zum ersten Mal dahingehend geäußert, dass Großbritannien sich gegen Deutschland orientieren solle. Als die Liberalen 1905 an die Regierung kamen, hatten sie es sich zum erklärten Ziel gemacht, „die gigantischen Rüstungsausgaben“ ihrer Vorgänger zu reduzieren. Als Schatzkanzler hatte Asquith sich folgerichtig noch darum bemüht, die Ausgaben für die Royal Navy einzugrenzen. Jedoch wurde Großbritannien nach 1908 zunehmend in einen teuren Wettlauf in der Marine-Rüstung mit dem Deutschen Reich hineingezogen. Bereits beim liberalen Regierungsantritt im Jahr 1905 hatten die Zuwendungen für die Royal Navy 30 Millionen Pfund betragen, ein Fünftel der gesamten jährlichen Ausgaben. Durch das allgemeine Flottenwettrüsten stiegen diese Ausgaben noch einmal an. In Großbritannien kam es 1909 zum sogenannten Naval Scare, die aus Sorge über die Gefahr der deutschen Flottenrüstung zeitweise in eine Invasionsangst mündete. Dazu kamen bis 1912 (als bis 1914 eine Ruhephase einkehrte) periodisch wiederkehrende Pressekriege zwischen der britischen und deutschen Presse, die die öffentliche Stimmung in beiden Ländern aufzuheizen versuchte. Diese auf britischer Seite vor allem von der Northcliffe-Presse lancierten Pressekampagnen bedeuteten oft eine zusätzliche Belastung für die Liberale Regierung. Parallel zur Verschlechterung des Verhältnisses mit Deutschland band Großbritannien sich – auch auf Greys Betreiben hin – zunehmend enger an Frankreich, besonders nach der Zweiten Marokkokrise. Erst während der Zweiten Marokkokrise wurde Asquith über das Ausmaß der britisch-französischen Militärgespräche informiert, die Grey und die verantwortlichen Militärs bis dahin für sich behalten hatten. Asquith zeigte sich besorgt, dass Frankreich deshalb in jedem Kriegsfall britische Hilfe als selbstverständlich einkalkulieren würde. Grey überzeugte ihn jedoch davon, dass diese Gespräche fortgeführt werden müssten. Gleichzeitig erfolgte ab 1907 ein Ausgleich mit dem zaristischen Russland. Informelle Verhandlungen mit Deutschland über ein Flottenabkommen, welches den kostspieligen Flottenbau begrenzen sollte, scheiterten 1912, da Deutschland im Gegenzug eine britische Neutralitätsgarantie im Fall eines Krieges forderte. Ein konsternierter Asquith schrieb an Grey, dass die Verhandlungen aus seiner Sicht zum Scheitern verurteilt seien: „Ich gestehe, immer mehr Zweifel zu haben über die Klugheit, diese Verhandlungen weiterzuführen. Nichts, was weniger als eine unbedingte Neutralitätsgarantie von unserer Seite beinhaltet, wird ihren Anforderungen gerecht. Und selbst hierfür macht Deutschland im Gegenzug kein festes oder solides Gegenangebot.“ Anders als im heftig umkämpften Feld der Innenpolitik wurden diese Leitlinien der liberalen Außenpolitik von der konservativen Opposition sehr unterstützt, die in Greys Wirken eine Fortsetzung ihrer eigenen Politik sah. So äußerte der konservative Chief-Whip Lord Balcarres 1912 auch, man habe „Grey sechs Jahre lang unter der Voraussetzung unterstützt, daß er die anglo-französische Entente fortsetze, die Lord Lansdowne geschaffen hatte, und die anglo-russische Entente [vollende], zu der Lord Lansdowne den Weg geebnet hatte.“ Asquith in der Julikrise 1914 In der Julikrise konzentrierte sich Asquith zunächst ganz auf die sich weiter zuspitzende Home-Rule-Krise und verhielt sich abwartend; wie bereits in den vorherigen Jahren überließ er seinem langjährigen Freund und Außenminister Edward Grey die Außenpolitik. Im Verlauf der Julikrise kam Asquith dann zum Schluss, dass ein Krieg zwischen den europäischen Großmächten immer wahrscheinlicher werde, sah Großbritannien jedoch nicht als aktiven Teilnehmer. Noch am 24. Juli 1914 schrieb Asquith seiner Vertrauten Venetia Stanley, er sehe keinen Grund für eine aktive Teilnahme Großbritanniens am immer wahrscheinlicher werdenden Krieg: „Wir sind in erkennbarer, oder jedenfalls denkbarer Reichweite eines echten Armageddon, welches Ulster und die Nationalistischen Freiwilligen auf ihr wahres Größenmaß reduzieren wird. Glücklicherweise gibt es keinen Grund, warum wir irgend etwas anderes als bloße Zuschauer sein sollten.“ Sobald sich herauskristallisierte, dass das Deutsche Reich Belgien besetzen und Frankreich angreifen wollte, änderte sich seine Haltung schrittweise. Eine starke Gruppe innerhalb des Kabinetts war zunächst gegen eine Intervention, nach den deutschen Ultimaten an Russland und Belgien jedoch neigte Asquith dazu, sich der Position Greys anzuschließen, der unbedingt die Entente mit Frankreich wahren wollte und deshalb für einen Kriegseintritt eintrat. Bei einer Kabinettsdiskussion am Abend des 29. Juli 1914 unterstützte Asquith (zusammen mit Haldane, Churchill und Crewe) bereits Greys Forderung nach einem Versprechen, Frankreich zu unterstützen; die klare Mehrheit des Kabinetts lehnte dies jedoch entschieden ab. Diese Konstellation innerhalb des Kabinetts hatte sich auch am 31. Juli noch nicht geändert. Asquith schätzte zu diesem Zeitpunkt, dass ungefähr drei Viertel seiner Parlamentsfraktion für „absolutes Nichteingreifen um jeden Preis“ eintrat. Nach der unentschiedenen Kabinettssitzung am 1. August gab Asquith in einem Brief an Venetia Stanley Einblicke in die tief gespaltene Haltung des Kabinetts: John Morley und John Simon als Anführer der antiinterventionistischen Gruppe würden eine sofortige Deklaration verlangen, dass Großbritannien „unter keinen Umständen“ intervenieren dürfe. Churchill dagegen sei „sehr kriegerisch“ eingestellt und verlangte demgegenüber eine sofortige Mobilisierung der britischen Teilstreitkräfte. Grey würde zurücktreten, falls das Kabinett sich mehrheitlich zur Neutralität entschließen würde, Haldane sei sehr „diffus und nebulös“. Weiter gab er Einblicke in seinen persönlichen Entscheidungsprozess: „Es gibt eine starke Gruppe, unterstützt durch Ll George, Morley und Harcourt, die gegen jede Art von Intervention sind. Grey wird dem niemals zustimmen und ich werde mich von ihm nicht trennen.“ Am gleichen Abend gab Asquith Churchill implizit sein Einverständnis für die Mobilisierung der britischen Flotte. In zwei außerordentlichen Kabinettssitzungen am 2. August sicherte sich Asquith die Unterstützung des Kabinetts, aus dem bei Kriegseintritt Großbritanniens lediglich zwei Minister zurücktraten. Am Morgen des Tages listete Asquith in einem Memorandum, welches er an den König, seine Kabinettskollegen und die Oppositionsführer weitergab, 6 Punkte auf, von denen vier für einen Kriegseintritt und zwei zumindest nicht gegen einen Kriegseintritt sprachen. Bei einer morgendlichen Kabinettssitzung erreichten er und Grey zunächst partiell einen Meinungsumschwung, als das Kabinett Grey autorisierte, gegenüber Frankreich zuzusagen, dass die britische Royal Navy im Fall einer drohenden deutschen Attacke auf Frankreichs Küste zugunsten Frankreichs intervenieren würde. Am Abend des gleichen Tages vereinbarte das Kabinett dann, dass eine „substantielle Verletzung“ der belgischen Neutralität Großbritannien zum Handeln verpflichten würde. Die beiden Anführer des noninterventionistischen Flügels, John Morley und John Elliot Burns, traten daraufhin zurück. Erster Weltkrieg Der Beginn des Krieges führte zunächst zu einem Stillhalteabkommen in der Parteipolitik, um nationale Einigkeit zu demonstrieren. Die Konservativen bezeichneten dies als „patriotische Opposition“. Asquiths Regierung reaktivierte sofort zu Kriegsbeginn den im Land äußerst populären Feldmarschall Herbert Kitchener und installierte ihn als Kriegsminister. Dieser begann schnell damit, eine Massenarmee (später „Kitcheners Armee“ genannt) zu rekrutieren, um das zahlenmäßig kleine Britische Expeditionskorps (BEF) zu erweitern. Genau wie die meisten anderen Politiker hatte Asquith zunächst an einen kurzen Krieg geglaubt, der auf britischer Seite vor allem den Einsatz der überlegenen Royal Navy beinhalten und nur ein kleines britisches Expeditionskorps erfordern würde. Jedoch wurde spätestens Ende 1914 deutlich, dass der Krieg länger andauern und auch der Einsatz eines großen Massenheeres nötig sein würde. Dies wurde für die Liberale Partei zunehmend zur Belastung. Traditionell standen die Liberalen Themen wie der allgemeinen Wehrpflicht wie auch der in Kriegszeiten nötig werdenden Zensur ablehnend gegenüber. Statt einem verpflichtenden Wehrdienst wurde 1914 zunächst ein Freiwilligensystem zur Rekrutierung geschaffen, welches jedoch ab 1915 nicht mehr die nötigen zahlenmäßigen Anforderungen für die Westfront lieferte. Ende November 1914 wurde ein Kriegsrat installiert, der in der Praxis schnell zur maßgeblichen politischen Entscheidungsstelle wurde und dessen Entscheidungen erst nachher dem Kabinett (von Asquith) vorgelegt wurden. Asquith berief diesen Kriegsrat jedoch nur äußerst unregelmäßig ein, eine Maßnahme, die zu einer erheblichen Machtkonzentration in den Händen weniger Männer führte und in der Praxis bedeutete, dass die eigentliche Kriegsführung weitestgehend in den Händen von Premierminister Asquith, Kriegsminister Kitchener und dem Ersten Lord der Admiralität Churchill lag. Mit fortdauernder Dauer des Krieges stieß das parteipolitische Stillhalteabkommen zwischen Liberalen und Tories auch zunehmend an seine Grenzen. Kriegsminister Kitchener wurde als zögerlich und unentschlossen wahrgenommen und erwies sich immer mehr als eine Belastung. Vor allem die von Winston Churchill betriebene „Dardanellenstrategie“ mit dem Ziel, das Osmanische Reich aus dem Krieg zu drängen und damit einen sicheren Seeweg zum östlichen Verbündeten Russland zu schaffen, war äußerst umstritten. Dieser Disput war im Kontext eines weitergehenden grundsätzlichen Konflikts zwischen “Westerners” (die einen Sieg an der Westfront gegen das deutsche Heer suchten) und “Easterners” (die zunächst die Verbündeten Deutschlands ausschalten wollten und deshalb das Hauptaugenmerk auf die anderen, vor allem östlichen Kriegsschauplätze legten) bedingt. Asquith selbst hielt sich in dieser Frage moderierend neutral, zählte grundsätzlich jedoch zu den “Westerners”. Die aus der Dardanellenoffensive resultierende fatale und verlustreiche Schlacht von Gallipoli hatte zu heftigen Auseinandersetzungen geführt. Ein angewiderter Asquith schrieb danach an Kitchener: „Ich habe genug gelesen, um mich davon zu überzeugen, dass die bei Suvla involvierten Generäle und der Stab vor ein Militärgericht gestellt werden und aus der Armee entlassen werden sollten.“ Der Rücktritt des Ersten Seelords John Arbuthnot Fisher infolge von Unstimmigkeiten mit Churchill bewirkte eine Kabinettskrise. Nach einer Spaltung des Kabinetts, durch die „Munitionskrise“ (Shell Crisis), den schlechten Verlauf der Gallipoli-Kampagne sowie dem Rücktritt Fishers ausgelöst, drohten die Konservativen, ihre parteipolitische Zurückhaltung aufzugeben und eine Untersuchung zu fordern. Deshalb wurde im Mai 1915 eine Koalition zwischen den von Premierminister Asquith geführten Liberalen und den Konservativen um ihren Parteiführer Andrew Bonar Law gebildet. Dazu wurde diese Regierung von Teilen der Labour-Partei unterstützt – obwohl Teile der Labour-Partei die Regierung ab 1914 nicht mehr unterstützten, da sie nicht ihre pazifistische Überzeugung verraten wollten. Asquith wurde somit nun der Führer einer breiten Koalitionsregierung, die auch führende Köpfe der Opposition ins Kabinett brachte. Als Preis für die konservative Unterstützung mussten mehrere liberale Minister ihren Posten räumen, da sie für die Konservativen inakzeptabel waren. Dies betraf vor allem den Renegaten und Parteiüberläufer Churchill, der auf Betreiben der Konservativen die Admiralität gegen das bedeutungslose Amt des Chancellor of the Duchy of Lancaster tauschen musste. Auch Harcourt und Beauchamp mussten ihre Posten räumen. Daneben fiel vor allem auch Asquiths langjähriger und ältester politischer Freund, Richard Haldane, der Koalitionsbildung zum Opfer. Asquith gab dem Druck der Konservativen nach und entließ Haldane praktisch ohne Widerstand oder ein persönliches Wort, was Asquiths Biograf Roy Jenkins als den uncharakteristischsten Fehler in Asquiths gesamter politischer Karriere nennt. Die führenden Konservativen begnügten sich im Gegenzug mehrheitlich mit subalternen Posten. Von den vier wichtigsten Ämtern hielten sie lediglich die Admiralität. Dazu wurde die Munitionsversorgung aus Kitcheners Ressort abgetrennt; Asquith stellte sicher, dass Bonar Law der Zugriff auf das neugeschaffene Ministerium verwehrt wurde und stattdessen Lloyd George nun Munitionsminister wurde. An die Stelle des Kriegsrats trat das personell erweiterte Dardanellenkomittee. Der ebenfalls entlassene Liberale Charles Hobhouse notierte danach resigniert: „Der Zerfall der Liberalen Partei ist komplett, Ll.G. und seine Tory-Freunde werden Asquith und die ein oder zwei echten übrigen Liberalen bald loswerden.“ Ende 1915 untergruben die andauernden Misserfolge an der Westfront das Vertrauen in Kriegsminister Kitchener und den Oberbefehlshaber der BEF in Frankreich, Sir John French. Wegen seiner unentschlossenen Führung wurde French für die britischen Fehlschläge und die hohen Verluste verantwortlich gemacht. Kitchener war für Bonar Law und Lloyd George untragbar geworden; Asquith stimmte ihnen grundsätzlich zu, fürchtete jedoch die öffentliche Reaktion auf eine Entlassung des im Volk sehr populären Kriegsministers. Deshalb wählte er eine indirekte Methode und ermutigte den zaudernden Kitchener im November, sich für zwei Monate zum Gallipoli-Kriegsschauplatz zu begeben und vor Ort ein Bild zu machen. In der Zwischenzeit übernahm er selbst provisorisch das Amt des Kriegsministers und begann in schneller Folge, einige wichtige von Kitchener aufgeschobenen Aufgaben zu erledigen. So entließ er French im Dezember 1915 und ersetzte ihn durch dessen Stellvertreter und Oberbefehlshaber der 1. Armee, Douglas Haig. Dazu ernannte er Sir William Robertson zum Chef des Imperialen Generalstabs, der von nun an in dieser Funktion dem Kabinett strategische Beratung erteilen sollte. Mit dieser Leistung zeigte Asquith in den Augen seines Biographen Roy Jenkins ein letztes Mal seine außergewöhnlichen administrativen Talente. Dazu wurde eine Veränderung im Dardanellenkomittee vorgenommen, nun erneut Kriegsrat genannt. Das verkleinerte Organ sollte nun neben Asquith selbst nur noch David Lloyd George, Reginald McKenna, Arthur Balfour und Andrew Bonar Law umfassen, um einen schnelleren Entscheidungsprozess zu ermöglichen; diese Absicht wurde jedoch schnell wieder zunichtegemacht durch erneute personelle Erweiterungen und einen grundsätzlichen Mangel an Entscheidungsbefugnis, der zu langwierigen Diskussionen im Kabinett über bereits im Kriegsrat getroffene Entscheidungen führte. Zudem war das Scheitern des auf Freiwilligkeit beruhenden Rekrutierungsystems offenkundig geworden und die Koalitionsregierung schließlich Anfang Januar 1916 gezwungen, einen verpflichtenden Wehrdienst für Junggesellen einzuführen, der später im Jahr auch auf verheiratete Männer ausgeweitet wurde. Wiederum traf diese Maßnahme auf Widerstand in der eigenen Partei und bei der Labour-Partei; John Simon trat zurück. Asquith nahm im Verlauf der Diskussionen wiederum seine charakteristische abwartende Haltung ein, was für großen Ärger bei Politikern wie Lloyd George sorgte, die für einen radikaleren Ansatz in der Handhabung des Krieges waren. Das lange andauernde unentschiedene Kreisen um dieses Thema beschädigte Asquiths Reputation, der in dieser Frage weder die Befürworter noch die Gegner zufrieden stellen konnte. Nach dem Osteraufstand in Dublin Ende April 1916 besuchte Asquith Irland im folgenden Monat und kam zum Schluss, dass das bestehende Regierungssystem völlig zusammengebrochen war. Er gab die Aufgabe an Lloyd George weiter, mit den beiden Antipoden Carson und Redmond eine Form von Home Rule auszuhandeln. Das informelle Übereinkommen sah für die Dauer des Krieges eine provisorische Form von Home Rule für den Süden Irlands mit Ausnahme von Ulster vor. Das Übereinkommen wurde jedoch scharf von den Unionisten kritisiert, vor allem Lansdowne und Walter Long zeigten sich unnachgiebig. Bonar Law und die große Mehrheit der Konservativen lehnte zudem aus konstitutionellen Gründen für den Fall des Inkrafttretens einen weiteren Verbleib der irischen Nationalisten im Unterhaus ab; im Fall von Home Rule sahen sie es inakzeptabel an, dass die irischen Nationalisten weiterhin im Unterhaus das Zünglein an der Waage spielen dürften. Redmond dagegen zeigte sich ebenso unnachgiebig, da er Ulster nur provisorisch, nicht aber permanent aufgeben wollte. Aufgrund dieses Patts musste im Juli 1916 das alte System wieder erneuert werden. Nachdem im Juni 1916 Kitchener bei einem Schiffsuntergang umkam, war sein Posten vakant. Bonar Law und Lloyd George verständigten sich darauf, dass letzterer den Posten übernehmen solle. Bonar Law suchte (in Begleitung seines Freundes Max Aitken, 1. Baron Beaverbrook) Asquith deshalb in dessen Haus in Sutton Courtenay auf, wo dieser laut den Erinnerungen von Lord Beaverbrook eine Partie Bridge spielte und beide deshalb warten ließ. Bonar Law zeigte sich über Asquiths Unbeschwertheit in der vorliegenden Krisensituation schockiert. Zuvor Asquith freundlich gesinnt, driftete er nun schrittweise ins Lager seiner Gegner über. Sturz Im Verlauf des Jahres 1916 rückte Asquith zunehmend selbst ins Zentrum der Kritik; Asquith, der die Presse verachtete, lehnte es ab, sich mit ihr abzugeben und für seine eigene Sache zu werben. Der mächtige Zeitungsmagnat Lord Northcliffe, Eigentümer der Times und der Daily Mail, arbeitete dagegen auf seine Absetzung hin. Bereits in der Munitionskrise 1915 hatten seine beiden Zeitungen harsch die Regierung und Kriegsminister Kitchener kritisiert und die Mängel in der Versorgung bloßgestellt. In der britischen Presse wurde Asquith einerseits wegen seiner Frau Margot (die einen Teil ihrer Schulzeit in Berlin verbracht hatte und auch im Krieg noch offen germanophil war), andererseits vor allem auch wegen seiner notorisch abwartenden Strategie, die er vormals selbst mit den Worten „Wait and see“ (Abwarten und schauen) beschrieben hatte, harsch kritisiert. Der abwertende Spitzname Squiff oder Squiffy (englisch für „angesäuselt“, „leicht betrunken“), da er in Krisenzeiten und in den Augen einiger Beobachter bei Dinner-Partys teils zu sehr dem Alkohol zusprach, wurde von seinen Gegnern nun regelmäßig verwendet. Asquiths Leitung der Kriegsführung stellte bestimmte liberale Politiker und die Konservative Partei nicht zufrieden. Lloyd George hatte Asquith bei anderen Regierungsmitgliedern zum ersten Mal Mitte 1915 kritisiert, da dieser Initiative vermissen lasse und keine Anstrengungen unternehme, die einzelnen Öffentlichen Ressorts zusammen zu halten, die deshalb für sich jeweils ihre eigenen Wegen gehen würden. Seine politischen Gegner, zu denen Edward Carson und Alfred Milner zählten, warfen Asquith Entscheidungsschwäche und Indifferenz vor; andauernde langwierige Diskussionen und zahlreiche interne Intrigen machten einen schnellen Entscheidungsprozess im Kabinett beinahe unmöglich. Der personell stark aufgeblähte Kriegsrat verlor durch die Koalitionsbildung seine entscheidende Machtbefugnis. In der Praxis wurden alle dort getroffenen Entscheidungen erneut im Kabinett langwierig diskutiert. Zwischen Konservativen und Liberalen herrschte auch nach der Koalitionsbildung ein großes Misstrauen, ein Resultat aus den heftigen politischen Auseinandersetzungen der Jahre vor dem Beginn des Krieges. Dazu gaben seine Gegner Asquith die Schuld an einigen politischen und militärischen Katastrophen, darunter der endgültige Fehlschlag der Dardanellen-Expedition Ende 1915, der Osteraufstand im April 1916 und die gescheiterte Schlacht an der Somme. Im Verlauf der Somme-Schlacht fiel auch Asquiths hochbegabter Sohn Raymond; sein Tod und der vorangegangene Verlust seiner langjährigen Vertrauten Venetia Stanley (die den Junior-Minister Edwin Montagu heiratete) bedeuteten für Asquith jeweils einen schweren Schlag – Verluste, von denen er sich in der Meinung seiner Biographen nicht wieder erholte. David Lloyd George erwarb sich als Munitions- und nachfolgend als Kriegsminister dagegen eine Reputation für energisches und tatkräftiges Handeln. In der Absicht, den Premierminister von der operativen Führung auszuschließen, gelang es Lloyd George Mitte November 1916, sich die Unterstützung der Konservativen zu sichern. Ein kleineres Kriegskabinett, bestehend aus vier Personen mit Lloyd George an der Spitze, sollte gebildet werden, Asquith diesem dagegen nicht angehören. Asquith akzeptierte den Vorschlag zunächst, zog sein Einverständnis jedoch wieder zurück, als in der Londoner Times ein gut informierter Artikel über den Vorgang erschien, der ihn als ausgegrenzt aus dem kleineren Kriegskabinett darstellte. Er forderte nun selbst den Vorsitz für sich ein. Daraufhin reichte Lloyd George seinen Rücktritt ein. Da Bonar Law jedoch Lloyd George unterstützte und den Rücktritt aller konservativen Minister aus dem Kabinett androhte, sah Asquith keine andere gangbare Option mehr und trat am 5. Dezember 1916 selbst zurück. Asquith kalkulierte dabei zumindest die Möglichkeit ein, dass weder Lloyd George noch Bonar Law in der Lage wären, eine Koalition zu bilden und er dann wiederum die Chance zur Regierungsbildung erhalten würde. Bonar Law wurde unmittelbar nach Asquiths Rücktritt vom König eingeladen, eine Regierung zu bilden. Dieser hatte sich mit Lloyd George bereits im Vorfeld darauf verständigt, dass er nur dann versuchen würde, eine neue Regierung zu bilden, wenn er Asquith dazu überreden könne, dieser in einer subalternen Position beizutreten. Anderenfalls solle Lloyd George versuchen, eine neue Regierung zu bilden. Bonar Law scheiterte jedoch mit seinem Überredungsversuch. Einen Tag später lud König George Asquith, Lloyd George, Bonar Law, Balfour und Arthur Henderson zu einer Konferenz im Buckingham Palace ein, um sie zur Bildung einer Nationalen Regierung zu überreden. Das Treffen endete jedoch ergebnislos. Nachdem Asquith erneut die Möglichkeit ablehnte, in einem anderen Kabinettsposten zu verbleiben, wurde einen Tag später Lloyd George Chef der neuen Koalitionsregierung. Der als Premierminister verdrängte Asquith ging nun mit seinen Anhängern in die Opposition, während ein (kleinerer) Teil der Liberalen unter dem neuen Premierminister Lloyd George an der Koalition festhielt. Unmittelbar nach seinem Fall besuchte Asquith ein allgemeines Treffen der liberalen Parlamentsmitglieder beider Häuser im Londoner Reform Club. In staatsmännischen Worten verteidigte er sein Handeln und legte die Gründe für sein Scheitern dar. Danach appellierte er an den Patriotismus der Anwesenden und rief sie auf, auch die neue Regierung zu unterstützen. Asquiths Fall wurde bereits unmittelbar nach den Geschehnissen als eine Zäsur empfunden. Von seinen Anhängern und ihm zugeneigten Beobachtern wurde er „der letzte Römer“ genannt, ein Symbol für verworfene alte Tugenden und der letzte Politiker einer alten Generation vor dem Aufkommen von Massenmedien und universalem Wahlrecht. In der Opposition Asquiths Liberale Fraktion nahm nun die Rolle einer Opposition wahr, was zunehmend zu einer Spaltung der Liberalen Partei führte. Versuche von verschiedenen Seiten, auch von Lloyd George, den Bruch noch in der Anfangsphase zu kitten, scheiterten. Vor allem seine unnachgiebige Frau Margot hielt Asquiths verletzten Stolz weiter am Leben. Die sogenannte „Maurice-Debatte“ im Frühjahr 1918, aufgrund der öffentlichen Anschuldigung des Generals Frederick Maurice, führte zu einer starken Verhärtung der Fronten; General Maurice hatte in der Times Lloyd George beschuldigt, die Öffentlichkeit über die aktuelle Lage an der Westfront hinters Licht zu führen, woraufhin Asquiths Liberale eine Debatte im Unterhaus mit anschließender Division des Hauses forcierten. Obwohl die Debatte ergebnislos blieb, vertiefte sie den Graben zwischen Koalitionsanhängern und Asquiths Liberalen. Asquiths Fraktion wurde bei der Division mit 293 zu 106 Stimmen für die Regierung (und vielen Enthaltungen auf Seiten der Liberalen) klar geschlagen. Lloyd George fühlte sich in einem Moment einer sich zuspitzenden militärischen Krise durch die forcierte Debatte verraten und behielt einen persönlichen Groll gegen diejenigen, die gegen ihn gestimmt hatten. Alle diejenigen, die gegen ihn gestimmt hatten, erhielten bei der kommenden „Coupon-Wahl“ kein Unterstützungsschreiben der Regierung. Im September 1918 und noch einmal anlässlich des Waffenstillstands lehnte Asquith Angebote seitens Lloyd George ab, als Lord Chancellor wieder in die Koalition zurückzukehren und zwei seiner eigenen Anhänger für das Kabinett zu nominieren. Umgekehrt verweigerte Lloyd George Asquiths Anliegen, als Teil der britischen Delegation an den Pariser Friedensverhandlungen teilnehmen zu können. Zur Unterhauswahl 1918 gab die Koalition um Lloyd George und den Konservativen vor dem Wahlkampf Unterstützungschreiben an bestimmte Kandidaten der Liberalen und Konservativen heraus, die sie als Anhänger der bestehenden Koalition auswies. Wer bei der vergangenen Maurice-Debatte gegen ihn gestimmt hatten, erhielt kein Schreiben. Asquith bezeichnete diese Schreiben abfällig als Coupons; der Name „Coupon-Wahl“ ist seither ein Synonym für die Unterhauswahl. Die Koalition gewann die Wahl komfortabel, wobei die Konservativen der eindeutige Hauptgewinner waren. Die Liberalen um Asquith, die im Wahlkampf ihren alten Themen wie dem Freihandel verpflichtet blieben, erlebten dagegen ein Debakel; sie konnten nur mit 26 ihrer 253 Kandidaten ins Unterhaus einziehen und schrumpften zu einer Rumpfpartei zusammen. Sie verloren ihre Rolle als führende Oppositionspartei an die Labour-Partei. Labour hatte sich bei der Wahl zum ersten Mal von den Liberalen in einem eigenen Wahlkampf emanzipiert und keine Absprachen mehr in den einzelnen Wahlkreisen mit den Liberalen getroffen. Asquith selbst verlor ebenfalls seinen Parlamentssitz in East Fife, obwohl die Koalition keinen Gegenkandidaten aufgestellt hatte. Er blieb jedoch weiterhin Führer der Liberalen Partei. Durch eine Nachwahl (im schottischen Paisley) kehrte er 1920 ins Unterhaus zurück. Jedoch konnte er in einem feindselig gestimmten Unterhaus – Asquith nannte es das schlechteste Unterhaus überhaupt, in dem er je saß – keine Akzente setzen. Eine von vielen einfachen liberalen Parlamentsmitgliedern betriebene Wiedervereinigung – insbesondere nach dem Bruch der Koalition zwischen Lloyd George und den Konservativen – scheiterte am Widerstand von Asquith selbst und den alten Führungskräften um ihn herum. So äußerte Herbert Gladstone (Sohn des ehemaligen Premierministers) 1923, es sei klar, dass Asquith kein effektiver Anführer mehr sei, Lloyd George jedoch die Nachfolge verwehrt werden müsse. Michael Kinnear sieht in Asquiths anhaltendem Groll und seinem Rachedurst gegen Lloyd George den entscheidenden Faktor, der eine schnelle Wiedervereinigung der beiden liberalen Teilparteien unmöglich machte. 1924 spielte Asquith eine wichtige Rolle bei der Bildung der Labour-Minderheitsregierung, deren Premierminister Ramsay MacDonald wurde. Nachdem der konservative Premierminister Stanley Baldwin Ende 1923 überraschend eine Unterhauswahl ausrief, einigten sich beide liberale Fraktionen auf ein kurzlebiges Wahlbündnis, welches unter dem Banner des Freihandels firmieren sollte. Baldwins Konservative, die auf seine Initiative hin für Zölle eingetreten waren, erlitten bei der Wahl am 6. Dezember 1923 eine Niederlage und verloren 86 ihrer 344 Sitze, während sowohl Labour als auch die Liberalen Unterhausssitze hinzu gewannen. Im Ergebnis kam es zu einem Hung parliament, bei dem keine der drei großen Parteien eine absolute Mehrheit auf sich vereinigen konnte. Asquith gab daraufhin am 18. Dezember öffentlich bekannt, dass die Liberalen keine Koalition mit den Konservativen eingehen würden, nur um Labour von der Regierung fernzuhalten. Während einige konservative Stimmen und auch Churchill einen Bolschewismus heraufziehen sahen, äußerte Asquith, eine Labour-Regierung „könnte schwerlich unter sichereren Bedingungen ausprobiert werden.“ Dem Literaturhistoriker Edmund Gosse gegenüber meinte er gönnerhaft, er würde Ramsay Macdonald nicht eine Stunde seiner kurzen Herrschaft stehlen: „Lass es ihn genießen, solange er kann, denn einmal aus dem Amt, wird niemand jemals wieder etwas von ihm hören.“ Asquith hegte bei seiner Entscheidung die Hoffnung, dass Labour sich als inkompetent herausstellen und die Liberalen sie dann nach ein oder zwei Jahren verdrängen würden. Deshalb entschied er sich auch für eine Tolerierung Labours und schreckte vor einer Koalitionsabsprache zurück, so dass die Liberalen frei vom Makel des aus seiner Sicht kommenden Scheiterns der Regierung sein würden. Lloyd George unterstütze ihn grundsätzlich in seinem Kurs, hätte allerdings aus taktischen Gründen eine Koalition bevorzugt, die aus seiner Sicht in ihrem Regierungsprogramm unweigerlich eine eher liberale Prägung gehabt hätte. Labour-Parteichef MacDonald nahm diese Herausforderung an. Seit Jahren waren es seine beiden Hauptziele gewesen, einerseits der Wählerschaft zu beweisen, dass Labour keine radikale, sondern eine konstitutionelle Partei sein, die eine gemischte Ökonomie managen könne und andererseits die Liberalen von der politischen Mitte zu verdrängen. Deshalb bildete er nun eine Minderheitsregierung, die auf die Tolerierung der Liberalen angewiesen war. Labour gelang es schnell, einige Erfolge in ihrer Regierungsbilanz zu erzielen; so konnte Frankreich dazu bewegt werden, dem Dawes-Plan (der die Reparationen Deutschland an die Siegermächte regeln sollte) zuzustimmen. Der Schatzkanzler Philip Snowden zeigte sich zudem als vorsichtiger Akteur, der einer fiskalischen Seriosität im Sinne Gladstones verpflichtet war. Der Bruch erfolgte nach wenigen Monaten, als Labour einen Handelsvertrag mit der Sowjetunion abschließen wollte und aufgrund der sogenannten Campbell-Affäre: Der kommunistische Zeitungsherausgeber J. R. Campbell hatte in einem Beitrag das Militär aufgefordert, zu meutern. Auf Druck einiger Labour-Hinterbänkler war eine juristische Verfolgung Campbells von der Regierung blockiert worden. Daraufhin wandten sich Konservative und Liberale gemeinsam gegen die Labour-Regierung und forcierten eine Debatte im Unterhaus, bei der sie eine parlamentarische Untersuchungskommission anregten. Die Labour-Regierung widersetzte sich dem und verlor eine Vertrauensabstimmung, woraufhin sie nun Neuwahlen ausrief. Asquith hielt im Zuge der Debatte seine letzte Rede im Unterhaus. Die Wahl von 1924, die nach dem Sturz der Labour-Regierung stattfand, wurde Asquiths letzter Wahlkampf. Die Liberalen waren dabei von Anfang an im Nachteil. Asquiths Fraktion mangelte es an Geld. Lloyd George besaß zwar einen großen persönlichen Wahlkampffonds, den er während seiner Regierungszeit bis 1922 durch den Verkauf von Peerages erworben hatte. Er weigerte sich jedoch, diesen mit Asquiths Liberalen zu teilen, solange er nicht selbst zum Parteiführer einer wiedervereinigten Liberalen Partei gewählt war. Deshalb konnten die Liberalen landesweit nur insgesamt 340 Kandidaten aufstellen. „Matt bis zum Punkt der Indifferenz“ führte Asquith, nunmehr 72 Jahre alt, in den Augen mancher Beobachter in seinem Wahlkreis Paisley seinen letzten Wahlkampf. Am Ende verlor er seinen Wahlkreis mit 2000 Stimmen Unterschied gegen den Labour-Kandidaten, einen ehemaligen Liberalen. Die Wahl geriet auch im Gesamtergebnis zum Debakel – die Liberalen konnten nur noch 40 Sitze im Unterhaus gewinnen; dazu ging ihr Anteil an Wählerstimmen von 4,2 Millionen auf 2,9 Millionen zurück. Labour dagegen verlor zwar 40 Sitze, gewann jedoch landesweit eine Million Stimmen hinzu und etablierte sich weiter als zweite Partei im Machtgefüge. Der König bot ihm nun eine Peerage an. Asquith intendierte zunächst, das Angebot des Königs abzulehnen, da er, wie er meinte, lieber als Bürgerlicher wie vor ihm Pitt der Jüngere und Gladstone sterben wollte. Jedoch akzeptierte er schließlich die Offerte und wurde 1925 als Earl of Oxford and Asquith geadelt. Er hatte den Titel des Earl of Oxford selbst gewählt, da er eine große Vorgeschichte in Person von Robert Harley, 1. Earl of Oxford and Earl Mortimer habe. Die Debatten im House of Lords empfand er als qualitativ substanziell schlechter und hatte kein Vergnügen am dortigen Politikbetrieb. 1925 war er möglicher Anwärter für die Kanzlerschaft der Universität von Oxford. Jedoch sammelten sich die Konservativen um einen Alternativkandidaten, um die Wahl ihres alten Gegners zu verhindern. Trotz der vehementen Unterstützung einiger Freunde, des konservativen Historikers Keith Feiling und auch seines früheren konservativen Gegenspielers F. E. Smith (nun Lord Birkenhead), der Asquith in einem offenen Brief an die Times als den „größten lebenden Oxonian“ bezeichnete, seine akademischen Meriten auflistete und die Wahlberechtigten bat, nicht entlang alter Parteilinien zu wählen, wurde der konservative Politiker Lord Cave mit 987 zu 441 Stimmen zum Kanzler gewählt. Über den Generalstreik von 1926 hatten Asquith und Lloyd George wiederum eine Auseinandersetzung, die sie in veröffentlichten Briefen austrugen; Asquith kritisierte den Generalstreik, während Lloyd George sich ambivalent verhielt. Lloyd George gewann mit dieser Haltung diese letzte Auseinandersetzung. Nach Asquiths Nobilitierung wurde Lloyd George sein Nachfolger als Fraktionsführer der liberalen Abgeordneten im Unterhaus, aber Asquith blieb Parteichef. Am 15. Oktober 1926 trat er schließlich auch als Parteichef zurück. Lloyd George wurde sein Nachfolger und konnte die Spaltung in der Liberalen Partei nun überwinden. Jedoch war er trotz einiger Achtungserfolge nicht mehr in der Lage, die Partei aus ihrer Position als dritte Partei im Parteiengefüge wieder herauszuführen. So errangen die Liberalen bei der Unterhauswahl 1929 zwar mit mehr als fünf Millionen Stimmen einen Wähleranteil von 23,6 %, waren jedoch mit lediglich 59 Stimmen im Unterhaus wiederum schwach repräsentiert und im Ergebnis nur duldende Unterstützer der zweiten Minderheitsregierung von Ramsay MacDonald. Aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts, das ein klares Zweiparteiensystem begünstigt, blieben die Liberalen gefangen in ihrer Position als unterrepräsentierte dritte Partei. Letzte Lebensjahre Asquith verbrachte seine letzten Jahre im Ruhestand; neben privaten Hobbys verfasste er seine Memoiren. Er und seine Frau bewegten sich zudem weiter in den Künstlerkreisen, in denen ihre Kinder involviert waren. Seine letzten Lebensjahre waren von finanziellen Problemen überschattet. Im Januar 1927 erlitt er einen schweren Schlaganfall, der ihn mehrere Monate zwang, einen Rollstuhl zu nutzen; ein weiterer schwerer Schlaganfall Ende 1927 paralysierte ihn fast völlig. Seine Tochter Violet schrieb über seinen Zustand: „Zu sehen, wie Vaters glorreicher Verstand zerbricht und – wie ein großes Schiff – versinkt, ist für mich ein Schmerz jenseits aller Vorstellungskraft.“ Am Morgen des 15. Februar 1928 verstarb Asquith in seinem Landhaus The Wharf. Auf eigenen Wunsch erhielt er ein einfaches Begräbnis in der Kirche All Saints’ in Sutton Courtenay. Sein Grab liegt auf dem Friedhof der Gemeinde. Asquiths zweite Frau Margot überlebte ihn um 17 Jahre; sie starb 1945. Autor Asquith veröffentlichte 1923 sein Buch The Genesis of the War (dt.: Die Entstehung des Krieges), in dem er sich mit den Ursachen des Ersten Weltkrieges auseinandersetzte. Das Buch, Sir Edward Grey gewidmet, war eine Replik auf die Memoiren von Wilhelm II., in dem Asquith die einseitigen Schuldzuweisungen des exilierten deutschen Kaisers und dessen These der Einkreisungspolitik zurückwies, dagegen in seinen Ausführungen die aggressive, von Wilhelm II. mit initiierte deutsche Weltpolitik als eine der Kriegsursachen identifizierte. Im Jahr 1926 veröffentlichte er schließlich seine zweibändigen Memoiren, Fifty Years of Parliament (dt.: Fünfzig Jahre im Parlament). Kurz nach seinem Tod erschien, ebenfalls in zwei Bänden, Memories and Reflections (dt.: Erinnerungen und Betrachtungen). Die vier Bände dienten auch dazu, seine angeschlagenen Finanzen zu sanieren. Sie galten als Quelle bereits in den 1930ern gegenüber der “offiziellen” Biographie von Spender & Asquith, lange das Standardwerk trotz übermäßigen Lobs, als zweitrangig. Forschungsgeschichte Nach Asquiths Tod versuchten seine Witwe Margot und seine Tochter Violet das Gedenken an Asquith zu bewahren. J. A. Spender und Cyril Asquith veröffentlichten 1932 eine zweibändige Biographie, die Asquith in einem äußerst günstigem Licht zeichnet. Margot schilderte in ihren eigenen Memoiren ebenfalls Asquith als herausragenden Staatsmann. Nach Margots Tod bewahrte Violet das Erbe Asquiths umso entschiedener und strengte vereinzelt auch Verleumdungsklagen gegen Autoren an, die kritische Veröffentlichungen herausbrachten; so erhob sie auch erfolgreich eine Verleumdungsklage gegen Robert Blake, der 1955 in seiner Biographie über Andrew Bonar Law eine strittige Weltkriegserinnerung Lord Beaverbrooks zitiert hatte, in der dieser beschrieb, Asquith habe in einer schwelenden Krisensituation weiter Bridge gespielt. Eine rein quantitativ unüberschaubare Anzahl von Publikationen und Büchern ist im Laufe der Jahre erschienen über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die Entscheidung des britischen Kabinetts, in den Krieg einzutreten. Dazu gibt es, beginnend 1935 mit George Dangerfields einflussreichem Buch The Strange Death of Liberal England viele Veröffentlichungen über den Niedergang der Liberalen Partei, in denen Asquith gewöhnlich eine starke persönliche Mitverantwortung zugeschrieben wird. Roy Jenkins veröffentlichte zudem 1954 Mr. Balfour’s Poodle, eine Darstellung über den Konflikt zwischen der liberalen Regierung und dem Oberhaus. Anfang der 1960er Jahre gewährte Violet dann Jenkins für eine Biographie Zugang zu einigem Nachlassmaterial. Dieser schilderte Asquiths politisches Wirken (Asquith: Portrait of a Man and an Era.) ebenfalls tendenziell äußerst wohlwollend, jedoch auf objektiver Basis. Jenkins sieht in Asquith den herausragendsten unter den sozialreformerisch aktiven Premierministern Großbritanniens. Danach verblasste Asquiths Ansehen erneut und in der Folge setzt sich eine Welle von Autoren in einer Reihe von wohlwollenden Werken über David Lloyd George zunehmend kritisch mit Asquith auseinander. Vor allem Beaverbrook und besonders auch A.J.P. Taylor beeinflussten die Wahrnehmung zu Ungunsten Asquiths, während Lloyd Georges Ansehen in umgekehrtem Maße eine Renaissance erlebte. Robert Blake brachte eine oft wiederholte Unterscheidung zwischen Asquith dem Premierminister in den Jahren vor Kriegsausbruch und Asquith dem Führer in Kriegszeiten an: Asquith habe, als längster regierender Premierminister seit einem Jahrhundert, viele herausragende persönliche Qualitäten gehabt. Er sei jedoch 1916 ermüdet gewesen und obwohl ein großer Premierminister im Frieden, wie bereits andere erfolgreiche Premiers vor ihm, von der Veranlagung her ungeeignet gewesen, um die Nation durch einen großen Krieg zu führen. Sein Sturz sei der Forderung nach einer effizienteren und rigoroseren Führung des Krieges geschuldet, urteilte auch der Militärhistoriker Basil Liddell Hart 1970 in seiner Geschichte des Ersten Weltkriegs. Ebenso sah der Lloyd George-Biograph John Grigg Asquith in manchen wichtigen Bereichen als ungeeignet an, die Kriegsanstrengungen zu leiten. 1976 erschien eine kritisch-ausgewogene Biographie von Stephen Koss. In einer langen, bewegten und komplexen Karriere, die sich nicht leicht zusammenfassen lasse, seien Asquiths Fehler ebenso offenkundig wie seine Leistungen, schrieb Koss. Seine historische Statur sei im Nachgang durch den Niedergang der Liberalen Partei eher erhöht worden, argumentierte er weiter. Asquiths Briefkorrespondenz mit seiner Vertrauten Venetia Stanley ist für die Historiker eine wichtige Quelle; Asquith schrieb zwischen 1910 und 1915 bis zu viermal täglich an sie, teils auch während der Kabinettssitzungen und teilte mit ihr ganz offen seine persönlichen Beobachtungen und politischen Probleme. Dabei gab er auch Interna aus dem Kabinett wieder. Diese Briefe sind besonders für die erste Phase des Krieges, in der noch keinerlei schriftliche Protokolle angefertigt wurden, für die Entscheidungsprozesse und Vorgänge im Kabinett relevant. 1982 erschien eine editierte Fassung von Asquiths Briefen in Asquith: Letters to Venetia Stanley, herausgegeben von Michael und Eleanor Block. Im Jahr 1994 veröffentlichte George H. Cassar die Monographie Asquith as War Leader, in welchem er sich mit Asquith als politischen Führer im Ersten Weltkrieg auseinandersetzte. Er kam darin zu einem revisionistischen Fazit und widersprach der gängigen Sichtweise; vor allem beurteilte er Asquiths Leistungen in der ersten Phase des Krieges positiv. Asquith habe schwere Mängel als Führer im Krieg aufgewiesen, er habe jedoch vor Problemen von einer Größe und Komplexität gestanden, die niemand vor dem Krieg vorausgesehen habe. Deshalb sei er zum Improvisieren gezwungen worden. Insgesamt sah er Asquiths Bilanz als Führer im Weltkrieg deutlich positiver, als dies bislang der Kanon der gängigen Forschung gewesen war. Er kam zum Fazit, dass Asquith, wiewohl er als Anführer im Krieg niemals Pitt dem Älteren oder Churchill gleichkam, substanzielle und beeindruckende Erfolge vorweisen könne. Colin Clifford veröffentlichte mit The Asquiths 2002 ein Familienportrait der Asquiths. Er konzentrierte sich dabei inhaltlich auf die Zeit von 1894 bis 1918 und zeichnete die komplexen Beziehungen innerhalb der Familie nach, nachdem Asquith Margot geheiratet hatte. H C. G. Mathew sah 2004 Asquiths Entscheidung, Großbritannien in den Krieg zu führen, als die wichtigste und folgenreichste überhaupt an, die ein britischer Premierminister im 20. Jahrhundert traf. Asquiths Sturz habe den Niedergang der Liberalen Partei mit herbeigeführt. Hieran trage Asquith allerdings ebenfalls einen Teil der Schuld, urteilte Dick Leonard 2005. Laut Roy Hattersley sei das moderne Großbritannien innerhalb von Asquiths Ägide geboren worden. In seinem Buch über das Zeitalter Eduards VII. führt er aus, dass Großbritannien bei Kriegseintritt 1914 ein verändertes Land war, in dem die politische, soziale und kulturelle Revolution bereits geschehen sei. Im Rahmen der Serie 20 British Prime Ministers of the 20th Century erschien 2006 die Kurzbiographie Asquith von Stephen Bates. Obwohl Asquith heute ein größtenteils vergessener Premier ist, sei seine Regierung eine der wichtigsten und weitreichendsten gewesen, meint Bates. Das Volksbudget 1909 sei vor allem sein Verdienst gewesen, ebenso wie die Einführung der Altersrente, eine bleibende soziale Errungenschaft. Wie schon frühere Autoren sah 2009 auch John Campbell Asquiths persönliche Eitelkeit und seine Rivalität mit Lloyd George mit als ursächlich für den tiefen Fall der Liberalen Partei. Zudem sah er in Asquiths Weigerung, Ende 1916 als Minister in ein neues Kabinett entweder unter Bonar Law oder Lloyd George einzutreten, eine außergewöhnlich arrogante Haltung in einem Moment nationaler Krise. Andere ehemalige Premiers der Vergangenheit – wie Wellington unter Peel, Russell unter Palmerston oder Balfour unter ihm selbst – seien als Präzedenzfälle nicht zu stolz gewesen, in einem anderen Amt unter einem anderen Mann zu dienen. Auch Neville Chamberlain sei im nächsten großen Krieg loyal in Churchills Kriegsregierung eingetreten; Asquith dagegen habe sich aus verletztem Stolz und einer Abneigung heraus, gemeinsam mit Männern zu dienen, die sich ihm gegenüber schäbig verhalten hatten, nicht dazu bringen können, erneut ins Kabinett einzutreten. 2019 schließlich erschien H. H. Asquith: Last of the Romans von V. Markham Lester. In seinem Resümee schrieb Lester, dass bis zum Ausbruch des Krieges 1914 Asquith als einer der größten Parlamentarier und Premierminister überhaupt zu sehen sei, da seine Karriere bis hierhin ein ununterbrochener Erfolgslauf gewesen war. Der Krieg habe dann zu einem persönlichen Ansehensverlust geführt und Asquiths stures Festhalten an der Führung der Liberalen Partei verbunden mit seiner Auseinandersetzung mit Lloyd George zum beschleunigten Niedergang der Liberalen Partei geführt. In einer Umfrage der BBC unter Historikern, Politikern und politischen Kommentatoren, bei der die Abstimmenden den besten Premierminister des 20. Jahrhunderts wählen sollten, belegte Asquith den vierten Rang (hinter Churchill, Lloyd George und Clement Attlee). Ehrungen Asquith war seit Mai 1925 auf Vorschlag von Premierminister Stanley Baldwin hin Ritter des Hosenbandordens. Die Stadt London verlieh ihm die Freedom-of-the-City-Ehrenauszeichnung. Zudem war er ein Fellow der Royal Society. Nach ihm benannt ist das Asquith Bluff, ein antarktisches Felsenkliff am Südrand des Ross-Schelfeises. Nach seinem Tod wurde in der Westminster Abbey eine Gedenktafel für ihn angebracht. Veröffentlichungen The Genesis of the War. Cassell & Co., London 1923. Studies and Sketches. George H. Doran, New York 1924. Fifty Years of Parliament. 2 Bände. Cassell & Co, London 1926. Memories and Reflections. 2 Bände. Cassell & Co., London 1928. Literatur Biografien Stephen Bates: Asquith. (20 British Prime Ministers of the 20th Century). Haus Publishing, London 2006, ISBN 1-904950-56-6. Colin Clifford: The Asquiths. John Murray, London 2002, ISBN 0-7195-5457-8. Roy Jenkins: Asquith: Portrait of a Man and an Era. Collins, London 1986, ISBN 0-00-217712-9. (Erstveröffentlichung 1964) Stephen Koss: Asquith. Lane, London 1976, ISBN 0-7139-0897-1. V. Markham Lester: H. H. Asquith: Last of the Romans. Lexington Books, London 2019, ISBN 978-1-4985-9103-4. R. B. McCallum: Asquith. In: Great Lives Series. Duckworth, London 1936, . Dick Leonard: A Century of Premiers: Salisbury to Blair. Palgrave Macmillan, Basingstoke 2005, ISBN 1-4039-3990-X. Sonstige Literatur Paul Adelman: The Decline of the Liberal Party 1910–1931. Longman, London 1995, ISBN 0-582-27733-7. Eleanor Brock, Michael Brock (Hrsg.): H. H. Asquith, Letters to Venetia Stanley. Oxford University Press, Oxford u. a. 1982, ISBN 0-19-212200-2. John Campbell: Pistols at Dawn: Two Hundred Years of Political Rivalry from Pitt and Fox to Blair and Brown. Vintage Books, London 2009, ISBN 978-1-84595-091-0. (Kapitel H. H. Asquith and David Lloyd George, S. 141–194) George H. Cassar: Asquith as War Leader. Hambledon Press, London u. a. 1994, ISBN 1-85285-117-1. Maurice Cowling: The Impact of Labour 1920–1924: The Beginning of Modern British Politics. Cambridge University Press, Cambridge 1971, ISBN 0-521-07969-1. Edward David (Hrsg.): Inside Asquith’s Cabinet: The Diaries of Charles Hobhouse. John Murray, London 1977, ISBN 0-7195-3387-2. Niall Ferguson: The Pity of War: Explaining World War I. Allen Lane/Penguin Press, 1998, ISBN 0-14-027523-1. (Taschenbuchausgabe Penguin Books 1999, ISBN 0-14-027523-1.) dt.: Der falsche Krieg. Dt. Verlagsanstalt, Stuttgart 1998, ISBN 3-421-05175-5. Dominik Geppert: Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen (1896–1912) (= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London. Band 64). Oldenbourg, München 2007, ISBN 978-3-486-58402-8 (Zugleich: Berlin, Freie Universität, Habilitationsschrift, 2005–2006). Basil Liddell Hart: History of the First World War. Macmillan, London 1970, ISBN 0-304-93653-7. Simon Heffer: Power and Place: the Political Consequences of King Edward VII. Weidenfeld & Nicolson, London 1998, ISBN 0-297-84220-X. Roy Jenkins: Mr. Balfour’s Poodle. Bloomsbury Reader, London 2012, ISBN 978-1-4482-0320-8 (Erstveröffentlichung 1954). Trevor Wilson: The Downfall of the Liberal Party: 1914–1935. Faber Finds, London 1966 (Faber & Faber, 2011, ISBN 978-0-571-28021-6). Enzyklopädieartikel Weblinks Anmerkungen Britischer Premierminister Innenminister (Vereinigtes Königreich) Earl of Oxford and Asquith Ritter des Hosenbandordens Vorsitzender der Liberal Party Mitglied des House of Lords Mitglied des Privy Council (Vereinigtes Königreich) Mitglied des Privy Council (Irland) Politiker (Fife) Politiker (19. Jahrhundert) Politiker (20. Jahrhundert) Anthony Asquith H H Brite Geboren 1852 Gestorben 1928 Mann
735904
https://de.wikipedia.org/wiki/Paroxysmale%20n%C3%A4chtliche%20H%C3%A4moglobinurie
Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie
Die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) (synonym: Marchiafava-Micheli-Syndrom) ist eine seltene, potenziell lebensbedrohliche Erkrankung des Blutes, bei der es durch einen erworbenen Gendefekt zur Zerstörung vor allem roter Blutkörperchen (Erythrozyten) durch einen Teil des Immunsystems, das Komplementsystem, kommt. Die PNH kann durch eine Anämie mit Kurzatmigkeit und schnellem Herzschlag, Thromboseneigung, starke Erschöpfung, Bauch- und Rückenschmerzen und eine Dunkelfärbung des Urins durch Hämoglobin (Hämoglobinurie) auffallen. Die Symptome können sich anfallsartig (paroxysmal) verschlimmern. Die namensgebende nächtlich auftretende Hämoglobinurie tritt nur bei einem Viertel der Patienten auf. Der Verlauf kann sehr unterschiedlich sein, die Krankheit ist unbehandelt aber häufig tödlich. Die häufigste Todesursache sind Thrombosen, häufig an untypischen Stellen wie den Lebervenen oder am Gehirn (Sinusthrombose). Die Ursache liegt im Knochenmark, wo aus blutbildenden Stammzellen die Blutzellen gebildet werden. Bei Menschen mit PNH liegt in einer oder mehreren blutbildenden Stammzellen ein Defekt des PIGA-Gens vor, wodurch ein bestimmter Stoff nicht mehr gebildet werden kann: das Glycolipid GPI. GPI ist ein sogenannter Proteinanker, der verschiedene Proteine an der Zelloberfläche befestigt. Unter diesen Proteinen sind zwei wichtige Proteine (CD55 und CD59), die sonst die Blutzellen vor dem Angriff des Komplementsystems schützen. Daher werden alle Blutzellen ohne GPI vom Komplementsystem attackiert, die roten Blutkörperchen sind aber sehr viel anfälliger als die anderen Zellen. Die PNH ist häufig ein Begleitphänomen der aplastischen Anämie, bei der es zum allgemeinen Rückgang der Stammzellen im Knochenmark kommt. Vermutlich liegt dem eine Autoimmunreaktion gegen die normalen Stammzellen mit GPI zugrunde, wodurch sich die Stammzellen mit GPI-Defekt ausbreiten können. Die Vorgänge im Knochenmark sind Gegenstand der aktuellen Forschung. Der Greifswalder Arzt Paul Strübing beschrieb 1882 den ersten Fall eines Patienten mit paroxysmaler nächtlicher Hämoglobinurie. Die Erforschung der paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie führte zur Entdeckung des alternativen Wegs der Komplementaktivierung und dadurch zu einem besseren Verständnis der humoralen Immunantwort. Gleichzeitig ist die Erkrankung ein Beispiel dafür, wie Forschung sowohl von sorgfältigen Experimenten als auch von glücklichen Zufällen abhängt. Bis 2007 konnte die Erkrankung nur unterstützend behandelt werden, z. B. mit Bluttransfusionen. Für schwere Fälle stand als letztes Mittel die Knochenmarktransplantation zur Verfügung. Seit 2007 ist mit Eculizumab (Handelsname: Soliris; Hersteller: Alexion) eine zielgerichtete Therapie der Erkrankung möglich. Der Wirkstoff hemmt den Angriff des Komplementsystems. Krankheitsbild Epidemiologie Die Erkrankung ist nicht vererbbar. Eine Häufung unter Verwandten oder eine spezielle Geschlechterverteilung wurde bisher nicht beobachtet, allerdings sind in einer großen Beobachtungsstudie mit vornehmlich weißen Patienten aus westlichen Industriestaaten die Frauen mit 54 % leicht in der Mehrheit. Die Prävalenz wird auf ca. 16/1 Million Einwohner geschätzt, und die Rate der Neuerkrankungen wird nach Zahlen für Großbritannien und Frankreich auf ca. 1,3/1 Million pro Jahr beziffert. Gehäuft bricht die Krankheit im Alter von 25 bis 45 Jahren aus. Weltweit liegt die Inzidenz zwischen 1 und 1,5 Neuerkrankungen pro 1 Million Einwohner pro Jahr. In Asien tritt die PNH dabei häufiger auf als in anderen Teilen der Welt. Symptome Die Ausprägung der Symptome ist von Patient zu Patient sehr unterschiedlich. Häufig fällt die Erkrankung zunächst durch die hämolytische Anämie auf, in vielen Fällen ist sie kombiniert mit einer aplastischen Anämie durch das Knochenmarkversagen. Viele Patienten haben bereits eine allgemeine Verringerung aller Blutzellen (Panzytopenie) als Ausdruck des Knochenmarkversagens. Die namensgebende anfallsartig auftretende (paroxysmale), nächtliche Ausscheidung von Hämoglobin in den Urin (Hämoglobinurie) mit dunkel gefärbtem Urin tritt nur bei etwa jedem vierten Patienten auf. Das dritte Kardinalsymptom neben Anämie und Panzytopenie ist eine ausgeprägte Blutgerinnungsneigung (Thrombophilie). Viele Patienten leiden unter schwerer Erschöpfung (Fatigue). Sie hängt nicht mit der Anämie zusammen, sondern vom Ausmaß der Hämolyse-Aktivität. Sie wird häufig durch Infekte, körperliche Anstrengung, Operationen und Schwangerschaften verschlimmert. Manche Patienten klagen über Bauch- und Rückenschmerzen, Speiseröhrenkrämpfe, Schluckbeschwerden und Erektionsstörungen. Bei den meisten Patienten bestehen oder entwickeln sich Einschränkungen der Nierenfunktion sowie ein erhöhter Blutdruck in den Lungenarterien (pulmonale Hypertonie). Zu diesen Symptomen, die auf die Hämolyse zurückgeführt werden können, kommen die Beschwerden durch die Anämie: Schwindel, Kopfschmerzen, Kurzatmigkeit, schneller Herzschlag und Blässe. Je nachdem, wie weit das Knochenmarkversagen fortgeschritten ist, kommen die Folgen durch die Panzytopenie hinzu: Infektanfälligkeit durch den Mangel an Immunzellen und eine Blutungsneigung durch den Mangel an Blutplättchen. Für Patientinnen mit PNH stellt eine Schwangerschaft eine erhebliche Gefahr dar. Das Thromboserisiko erhöht sich durch die Schwangerschaft nochmals, wodurch Schwangere eine erhöhte Sterblichkeit im Vergleich zu anderen PNH-Patienten aufweisen und mehr Fehlgeburten als gesunde Frauen erleiden. Verlauf und Prognose Der natürliche Verlauf der PNH kann sich über Jahre hinziehen. Noch in den 1990er Jahren verstarb die Hälfte der Erkrankten innerhalb von 10 Jahren nach Diagnosestellung. In den frühen 2000er Jahren verlängerte sich diese Zeit auf 20 Jahre. Patienten unter Eculizumab-Langzeittherapie (s. u.) können die gleiche Lebenserwartung wie Gesunde haben. Vor Einführung wirksamer Therapien waren Thrombosen die Haupttodesursache bei PNH-Patienten. Die Thrombosen treten meistens an den Lebervenen (Budd-Chiari-Syndrom) auf, andere häufig betroffene Venen sind die Pfortader, die Mesenterialvenen, die Milzvene und die venösen Sinus des Gehirns (Sinusthrombose). Auch die tiefen Venen der Beine und Arme können betroffen sein, wodurch es zu Lungenembolien kommt. Arterielle Thrombosen sind seltener und können unter anderem Herzinfarkte und Schlaganfälle verursachen. Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie tritt regelhaft mit einem Knochenmarksversagen durch eine Autoimmunreaktion auf. Bei Patienten mit ausgeprägter aplastischer Anämie führt langfristig das Knochenmarksversagen zum Tod. Bei etwa ein bis zwei Prozent der Erkrankten geht die PNH in eine akute myeloische Leukämie über. Krankheitsentstehung Pathogenese Das Komplementsystem besteht aus verschiedenen Proteinen im Blut, deren Aufgabe es ist, eingedrungene Mikroorganismen wie Bakterien zu erkennen, ihre Zellmembran zu eröffnen und dadurch zu zerstören (lysieren). Die Blutzellen des Körpers werden verschont, weil bestimmte Proteine auf der Oberfläche der Zellen, CD55 und CD59, die Attacke des Komplementsystems verhindern. Die Proteine müssen allerdings mit einem Glycolipid an der Zellmembran verankert werden, dieser Anker heißt Glycosylphosphatidylinositol, kurz GPI. Bei PNH fehlt vielen Blutzellen GPI, weswegen sie ohne CD55 und CD59 den Angriffen des Komplementsystems ausgesetzt sind. Die roten Blutkörperchen (Erythrozyten) sind am anfälligsten für die Zerstörung, weil sie keinen Zellkern haben. Die Ursache liegt in den blutbildenden Stammzellen des Knochenmarks. Bei der PNH tritt in einer oder mehreren Stammzellen ein erworbener Defekt (somatische Mutation) in dem Gen PIGA auf. PIGA ist das Gen für das Enzym N-Acetylglukosaminyltransferase. Dieses ist für den ersten Schritt der GPI-Synthese zuständig und verliert durch die Mutation seine Funktion. Theoretisch kann durch den Verlust jedes der über 20 an der GPI-Herstellung (Synthese) beteiligten Gene die PNH entstehen. Praktisch gibt es nur einen einzigen bekannten Fall, in dem nicht eine PIGA-Mutation die Ursache war. Das liegt daran, dass PIGA auf dem X-Chromosom liegt. Männer haben nur ein X-Chromosom, Frauen haben zwar zwei, davon ist jedoch nur eines aktiv, das andere ist „abgeschaltet“. Deswegen reicht eine einzige Mutation in PIGA, um die GPI-Synthese zu verhindern. Alle anderen Gene liegen doppelt vor, es müssten also beide Varianten (Allele) des gleichen Gens durch eine Mutation ausgeschaltet sein, um die GPI-Synthese zu beeinträchtigen. Diese Konstellation ist aber unwahrscheinlich und daher selten. Zum Ausbruch der Krankheit reicht die PIGA-Mutation allein nicht aus, da auch bei den meisten gesunden Menschen ohne PNH PIGA-mutierte Stammzellen nachgewiesen werden können. Es muss also Faktoren geben, durch welche die mutierte Stammzelle zwischen den anderen, nicht mutierten, Stammzellen im Knochenmark die Vorherrschaft erlangt. Hier wird einerseits eine Autoimmunreaktion gegen gesunde, GPI-tragende Stammzellen diskutiert. Dadurch ist das häufig zu beobachtende gleichzeitige Auftreten von PNH und Knochenmarkversagen (aplastische Anämie) zu erklären. Durch den Schwund gesunder Stammzellen erhalten die GPI-losen Stammzellen Platz zur Ausbreitung. Andererseits zeigten Genom-Studien, dass in den PIGA-mutierten Stammzellen bei PNH noch andere Mutationen in Genen auftreten, die für die Regulation des Zellwachstums eine Rolle spielen und häufig auch bei Blutkrebserkrankungen gefunden werden. Pathophysiologie Anämie und Hämolyse Das zentrale Zeichen der PNH ist die ständige Hämolyse durch das Komplementsystem. Sie verstärkt sich durch bestimmte Auslöser wie Infektionen, weil dann über Antikörper das Komplementsystem verstärkt aktiviert wird, und im Schlaf. Das durch die Hämolyse freigesetzte Hämoglobin wird über die Nieren ausgeschieden und bewirkt eine Dunkelfärbung des Urins. Der Zusammenhang zwischen Schlaf und Hämolyse beschäftigte lange die Forschung. Die gängige Vermutung ist, dass es im Schlaf zu einer leichten Hypoventilation kommt. Dadurch wird weniger CO2 abgeatmet, das sich folglich im Blut anreichert. Dadurch sinkt der pH-Wert, das Blut wird also saurer, was die Aktivität des Komplementsystems steigert. Diese Hypothese wurde nie bewiesen, zumal nur eine Minderheit der Patienten die klassische „nächtliche“ Hämoglobinurie zeigt. Nicht alle PNH-Erythrozyten sind gleich empfindlich gegenüber den Angriffen des Komplementsystems. Je nach zugrundeliegendem Defekt in PIGA können die betroffenen Zellen in unterschiedlichem Ausmaß GPI-verankerte Proteine auf ihrer Zellmembran zeigen. Die Stärke der Hämolyse hängt dann davon ab, wie viel (oder wie wenig) CD55 und CD59 auf der Zelloberfläche verbleibt. Knochenmarkversagen Die PNH ist mit anderen Knochenmarkserkrankungen assoziiert. Etwa 20 % der PNH-Patienten haben zum Zeitpunkt der Diagnosestellung auch Zeichen eines allgemeinen Rückgangs der Blutbildung im Knochenmark durch eine aplastische Anämie. Zum besseren Verständnis dieses Zusammenhangs hilft es, sich die Ursache der aplastischen Anämie vor Augen zu führen: Bei der plötzlich auftretenden Form der aplastischen Anämie bei jüngeren Menschen liegt in der Regel ein Angriff zytotoxischer T-Zellen auf das eigene Knochenmark vor. Was diese Autoimmunreaktion auslöst, ist nicht klar, wahrscheinlich gibt es mehrere Auslöser und Zielstrukturen. Bei etwas mehr als jedem zehnten Fall „entkommen“ aber Knochenmarkzellen der Attacke. Es sind mehrere Eigenschaften von Knochenmarkzellen bekannt, die dazu führen, dass sie von den angreifenden T-Zellen verschont werden. Sind also die PNH-Stammzellen ohne GPI vor der Autoimmunreaktion geschützt, liegt der Schluss nahe, dass diese etwas mit dem GPI-Anker zu tun haben muss – bis heute ist aber kein Antigen identifiziert worden. Dystonie glatter Muskelzellen und Thrombosen Einige Symptome wie die Schmerzen, Schluckstörungen, die Nierenfunktionseinschränkungen und die pulmonale Hypertonie können durch Anspannung der glatten Muskelzellen, die in den Wänden von Blutgefäßen und der Verdauungsorganen vorkommen, erklärt werden. Sie sind eine Folge der Hämolyse. Normalerweise wird freies Hämoglobin im Blut über verschiedene Mechanismen eliminiert. Bei den hämolytischen Anfällen fällt jedoch so viel Hämoglobin an, dass die Schutzmechanismen überfordert sind. Dieses freie Hämoglobin bindet dann Stickstoffmonoxid (NO) in den Gefäßen. Stickstoffmonoxid sorgt für eine Entspannung glatter Muskelzellen, fehlt es, kontrahieren die glatten Muskelzellen. Blutgefäße verengen sich dadurch, was die Erektions- und Nierenstörungen sowie den Bluthochdruck in der Lunge erklärt. Auch in den Wänden des Verdauungstraktes kontrahieren Muskelzellen, daher die Bauchkrämpfe und Schluckstörungen. Der Entstehungsmechanismus der Thrombosen ist unklar und ein Problem für die zukünftige Forschung. Eine Möglichkeit ist die erhöhte Thrombozytenaktivität durch den Stickstoffmonoxid-Mangel, der auch mit der Dystonie glatter Muskelzellen in Verbindung gebracht wird. Einteilung Aufgrund der Verknüpfung der PNH mit anderen Knochenmarkerkrankungen gibt es vielfältige Ausprägungen der Krankheit. Es gibt zwei Klassifikationen, die versuchen, dies abzubilden, durchgesetzt hat sich bislang keine. Die ältere von 2005 unterscheidet drei Unterkategorien: 1. die PNH mit Hämolyse und Thrombosen. 2. die PNH im Kontext einer anderen Knochenmarkerkrankung (aplastische Anämie, myelodysplastisches Syndrom). 3. die subklinische PNH. Hier haben Patienten geringe Anteile an PNH-Zellen, aber keine Symptome. Die neuere Klassifikation von 2008 ist mittlerweile verbreiteter. Auch sie unterscheidet drei Unterkategorien: 1. die hämolytische (klassische) PNH. Es liegen Thrombosen oder eine Hämolyse vor. 2. die aplastische-Anämie-PNH (AA-PNH) mit zusätzlichen Hinweisen auf ein Knochenmarkversagen. Diese beiden Gruppen sind über Grenzwerte der Hämoglobin-Konzentration, der Anzahl bestimmter Immunzellen und der Blutplättchen definiert. Patienten, die aufgrund ihrer Blutwerte keiner der beiden Unterkategorien zugeordnet werden, fallen daher in Kategorie 3: Intermediate PNH, deutsch etwa „mittlere PNH“. Diagnose Diagnostik Die Diagnosestellung wird wesentlich von den Symptomen des Patienten geleitet. Häufig ergibt sich der Verdacht auf eine Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie bei Patienten, bei denen eine Blutarmut aufgefallen ist. Bei der Laboruntersuchung des Blutes zeigen sich dann Zeichen einer hämolytischen Anämie: Der Hämoglobinwert und die Zahl der roten Blutkörperchen sind erniedrigt. Gleichzeitig ist die Konzentration der Laktatdehydrogenase (LDH) erhöht, weil sie aus den zerstörten roten Blutkörperchen freigesetzt wird. Unkonjugiertes Bilirubin (ein Abbauprodukt von Hämoglobin) ist ebenfalls erhöht. Das Haptoglobin, das freies Hämoglobin im Blut bindet, ist erniedrigt oder nicht nachweisbar. In der Regel wird auch ein Blutausstrich durchgeführt. Dieser erlaubt es, das Aussehen der Erythrozyten zu beurteilen. Insbesondere finden sich bei der PNH keine Fragmentozyten, wie sie bei anderen hämolytischen Anämien auftreten (s. Differentialdiagnose). Der Ham-Test wird heute nicht mehr angewendet. Bei diesem wird das Patientenblut leicht angesäuert, bei PNH kommt es zur Hämolyse. Ein weiterer nicht mehr verwendeter Test ist der Sucrose-Lyse-Test. Hier wird durch Zugabe von Saccharose das Komplementsystem aktiviert. Beide Tests waren nicht hinreichend aussagekräftig. Stattdessen wird zum sicheren Nachweis der Erkrankung die Durchflusszytometrie einer peripheren Blutprobe angewendet: Mit dieser Untersuchung kann das Fehlen von GPI-verankerten Proteinen entdeckt werden. Gibt es Blutzellen aus mindestens zwei verschiedenen Blutzellreihen (z. B. Erythrozyten und Granulozyten), denen mindestens zwei solcher Proteine fehlen, gilt die PNH als sehr wahrscheinlich. Eine neuere Methode weist GPI direkt nach: Fluorescence-labeled Aerolysin (FLAER). Aerolysin ist ein Toxin des Bakteriums Aeromonas hydrophilius, das unmittelbar an den GPI-Anker bindet. Es ist mit einem Fluoreszenz-Farbstoff versehen, der unter dem Mikroskop erkannt werden kann (Fluoreszenzmikroskopie). Zellen, denen GPI fehlt, färben sich deswegen nicht an. Differentialdiagnosen Die wichtigste Differentialdiagnose zur PNH ist die autoimmunhämolytische Anämie. Bei dieser bildet das Immunsystem Antikörper gegen die roten Blutkörperchen. Diese Antikörper lassen sich im Coombs-Test nachweisen. Bei PNH bleibt der Coombs-Test negativ, da keine Antikörper gegen rote Blutkörperchen vorliegen (Coombs-negative hämolytische Anämie). Andere Differentialdiagnosen sind angeborene hämolytische Anämien, die sich meistens schon im Kindesalter zeigen, sowie andere erworbene hämolytische Anämien: Angeborene hämolytische Anämien: Hämoglobinopathien: z. B. Sichelzellanämie, Thalassämie Erythrozyten-Enzym-Defekte: z. B. Glucose-6-phosphat-Dehydrogenase-Mangel Erythrozyten-Membran-Defekte: z. B. Kugelzellanämie, hereditäre Elliptozytose familiäres hämolytisch-urämisches Syndrom angeborene thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (=Upshaw-Schulman-Syndrom) Erworbene hämolytische Anämien: Autoimmunhämolytische Anämie Mechanische Zerstörung: z. B. durch mechanische Herzklappen, Marschhämoglobinurie Verbrennung Gifte: Schlangengifte, Metalle, bestimmte Medikamente Zieve-Syndrom Therapie Die Therapieempfehlungen für den deutschsprachigen Raum werden in Zusammenarbeit der deutschen, österreichischen und Schweizer Gesellschaften für Hämatologie auf onkopedia.com veröffentlicht (s. Weblinks). Generell erfolgt die Behandlung der zumeist vorliegenden Anaplastischen Anämie nach der Leitlinie zur Anaplastischen Anämie. Die Therapie der Hämolyse-bezogenen Krankheitszeichen richtet sich nach der Ausprägung der Symptome. Bei hämolytischer Anämie kann Eisen und Vitamin B12 zur Unterstützung der Blutneubildung verabreicht werden. Bei schweren Blutverlusten muss gegebenenfalls Blut transfundiert werden. Haben Patienten Thrombosen, benötigen sie eine lebenslange Hemmung der Blutgerinnung, beispielsweise mit Marcumar, Heparin oder DOAKs. Diese Therapie schließt erneute Thrombosen im Fall der PNH allerdings nicht aus. Bakterielle Infektionen sollen früh mit Antibiotika behandelt werden, um hämolytische Anfälle zu vermeiden. Lange war die einzige Aussicht auf Heilung eine Knochenmarktransplantation. Diese Therapie beinhaltet für den Patienten allerdings ein großes Risiko, zu versterben, weswegen sie nur bei schweren Fällen als letztes Mittel in Frage kam. 1996 wurde Eculizumab vorgestellt: Der gentechnisch hergestellte monoklonale Antikörper gegen den Komplementfaktor C5 wurde in den Folgejahren in mehreren klinischen Studien getestet. Seit 2007 ist Eculizumab in den USA und in der EU unter dem Markennamen Soliris zugelassen. Studienergebnisse mit dem Wirkstoff zeigten eine schnelle und anhaltende Kontrolle der chronischen Hämolyse. PNH-Patienten erleiden unter Eculizumab-Therapie fast keine Thrombosen mehr, was sonst die Haupttodesursache darstellte. Fast die Hälfte der Patienten benötigte keine Bluttransfusionen mehr. Auch die für eine PNH typischen Symptome wie z. B. Bauchschmerzen, Schluckbeschwerden (Dysphagie) und Potenzstörungen (erektile Dysfunktion) konnten mit einer Eculizumab-Behandlung verbessert werden. Insgesamt zeigte sich eine erhebliche Steigerung der Lebensqualität der Patienten u. a. durch eine Verbesserung der Fatigue-Symptomatik. Eculizumab wurde gut vertragen und das Nebenwirkungsprofil war vergleichbar mit der der Placebogruppe. Da Eculizumab einen Teil der Komplementkaskade blockiert und damit auch die Abwehr von Bakterien behindert, ist das Risiko einer Meningokokkeninfektion mit der Folge einer Hirnhautentzündung erhöht. Aus diesem Grund müssen alle Patienten mindestens zwei Wochen vor Therapiebeginn gegen Meningokokken geimpft werden. Langzeitüberlebensdaten von Patienten, die seit bis zu 8 Jahren mit Eculizumab behandelt werden, zeigen, dass sich die Lebenserwartung der Patienten an die der normalen Bevölkerung angleicht. Im Dezember 2018 erteilte die amerikanische Zulassungsbehörde FDA eine Zulassung für Ravulizumab (Handelsname: Ultomiris; Hersteller: Alexion), das ebenfalls ein monoklonaler Antikörper gegen Komplementfaktor C5 ist. In der EU wurde Ravulizumab am 2. Juli 2019 zugelassen. Die deutsche Leitlinie empfiehlt Eculizumab und Ravulizumab gleichermaßen zur Therapie symptomatischer Patienten. In einem relativ weit fortgeschrittenen Entwicklungsstadium (Phase III) befindet sich der experimentelle monoklonale Antikörper Crovalimab (Hersteller: Roche). Forschungsgeschichte Der amerikanische Hämatologe Charles J. Parker aus Salt Lake City, Utah, hat sich intensiv mit der Forschungsgeschichte der paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie auseinandergesetzt. In einem umfangreichen Artikel von 2002 teilt er die Forschungsgeschichte in eine „frühe Geschichte“ und eine „moderne Geschichte“ ein. Die erste Phase war durch die Beschreibung und Definition des Krankheitsbildes geprägt. Die Entdeckung des alternativen Aktivierungsweges des Komplementsystems markierte einen Wendepunkt, weil von nun an die molekularbiologischen Grundlagen der Krankheit aufgedeckt wurden. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die Forschung 1993 mit der Aufdeckung der genetischen Ursache. Charles J. Parker fragt, warum eine derartig seltene Erkrankung verhältnismäßig viel Aufmerksamkeit durch die Forschung erhielt. Er glaube, die „elegante Komplexität“ der Natur, die in der Pathophysiologie der PNH zu erkennen sei, übe eine Faszination auf Hämatologen aus. Die PNH-Forschung trieb einerseits den Erkenntnisfortschritt in der Erforschung des Immunsystems voran. Andererseits sei sie ein Beispiel dafür, wie beiläufige Beobachtungen aus benachbarten Forschungsgebieten entscheidende Erkenntnisse füreinander bergen können. Vom ersten Fallbericht zum alternativen Weg Die Beschreibung der Krankheit Die erste Beschreibung eines Patienten mit paroxysmaler nächtlicher Hämoglobinurie wird dem Greifswalder Arzt Paul Strübing zugerechnet, der 1882 noch als Assistenzarzt den Fall des 29-Jährigen Stellmachermeisters Carl G. beschreibt. Dieser bemerkte seit 1876 eine morgendliche dunkle Verfärbung des Urins, während seine Haut zusehends blasser wurde und sich grau-gelblich färbte. Die Symptomatik war anfallsartig verstärkt und ging mit Abgeschlagenheit, Schwindel und Herzklopfen sowie mit Schmerzen in der Milz- und Nierengegend einher. Strübing fand heraus, dass der Urin Hämoglobin beinhaltete, aber keine roten Blutkörperchen. Ebenso beobachtete er, dass sich nach schweren Anfällen auch das Blutplasma rot färbte. Hieraus zog er den (richtigen) Schluss, dass eine Zerstörung roter Blutkörperchen in den Blutgefäßen vorliegen müsse. Er nahm an, dass der Schlaf eine entscheidende Rolle spiele, weil zwar nach dem nächtlichen Wecken des Patienten dunkler Urin ausgeschieden wurde, sonst aber nicht. Strübing war bekannt, dass Erythrozyten in einem sauren Milieu (unter Inkubation mit CO2, denn eine höhere CO2-Konzentration im Blut säuert dieses an) schneller lysieren. Er stellte daher die Hypothese auf, dass die Ursache der Hämolyse darin liege, dass sich im Schlaf durch langsameren Blutfluss die CO2-Konzentration erhöhe. Dadurch werde das Blut saurer, was die Hämolyse verursache. Strübing versuchte, seine Hypothese zu untermauern: Er verabreichte seinem Patienten Säure, um einen Anfall auszulösen, was jedoch nicht gelang. Tatsächlich ist Strübings Beschreibung nicht die älteste Veröffentlichung, die einen Fall von PNH beschreibt. Eine ältere Beschreibung stammt beispielsweise von dem britischen Arzt William Gull (1866), die älteste könnte aus dem Jahr 1793 sein. Strübings Verdienst war es aber, die PNH als eigenständige Krankheit zu erkennen, und sie von Hämoglobinurien durch Kälte (Autoimmunhämolytische Anämie vom Kältetyp) sowie der Marschhämoglobinurie abzugrenzen, weshalb er als Erstbeschreiber anerkannt wird. Strübing schlug später eine Karriere außerhalb der Hämatologie ein, weswegen er die Krankheit nicht weiter verfolgte. Ab 1908 wurde die Krankheit vermehrt beforscht und beschrieben, ein Übersichtsartikel von 1949 nennt 73 Fallbeschreibungen, die zwischen 1908 und 1949 veröffentlicht wurden. Aus diesem Zeitraum sind die Arbeiten der Italiener Ettore Marchiafava und Ferdinando Micheli, die 1928 bzw. 1931 Fälle aufarbeiteten und als Syndrom beschrieben, hervorzuheben. Aufgrund ihrer Leistungen wurde die Erkrankung bis in die 1960er Jahre hinein als Marchiafava-Micheli-Syndrom bezeichnet, ehe der Begriff aus der Mode kam. Der Name „paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie“ wurde 1928 von dem Amsterdamer Arzt J. Enneking erstmals verwendet und setzte sich zusehends durch. Van den Bergs Experimente Eine wichtige Arbeit für das Verständnis der Krankheit wurde von dem Niederländer Hijmans van den Berg geleistet. Dieser zeigte 1911, dass die Erythrozyten von PNH-Patienten im Serum in vitro (also im Reagenzglas) in einer CO2-Atmosphäre lysieren – und zwar im Serum des Patienten, aber auch wenn sie in die Blutseren blutgruppengleicher Gesunder gegeben wurden. Gleichzeitig zeigte er, dass die Erythrozyten gesunder Versuchspersonen die gleiche Behandlung unbeschadet überstehen. Damit war bewiesen, dass die Ursache der Hämolyse in den Erythrozyten lag, und dass es sich nicht um einen krankhaften Faktor im Blutserum handeln konnte. Van den Bergs Experimente bargen noch eine weitere wichtige Erkenntnis, weil sie erstmals das Komplementsystem ins Spiel brachten. Zu dieser Zeit waren drei Komponenten der humoralen Immunantwort bekannt: Antigen, Antikörper und das Komplementsystem, das die Funktion der Antikörper ergänzt (komplementiert). Über das Komplementsystem war bekannt, dass es durch Hitze zerstört und seine Funktion durch Gabe einer geringen Menge Blutserum (das Komplementfaktoren enthält) wiederhergestellt werden kann. Van den Berg beobachtete, dass tatsächlich keine Hämolyse stattfand, wenn das Serum zuvor erhitzt wurde. Das deutete darauf hin, dass Komplement an der Hämolyse beteiligt ist. Aber, anders als es vor dem Wissensstand der Zeit zu erwarten war, konnte die Hämolyseaktivität nicht durch Zugabe von frischem Serum wiederhergestellt werden. Van den Berg verwarf daher die Annahme, dass das Komplementsystem an der Hämolyse beteiligt sein könnte. Heute wissen wir, dass die damals bekannten Eigenschaften des Komplementsystems auf den klassischen Weg der Komplementaktivierung zutreffen. Dieser ist die Komplementaktivierung durch Bindung eines Antikörpers an ein Antigen. Dieser Mechanismus spielt bei der autoimmunhämolytischen Anämie eine Rolle, nicht aber bei der PNH. Bei der PNH binden Komplementfaktoren direkt an Strukturen auf der Zelloberfläche und aktivieren dadurch den Membranangriffskomplex – der alternative Weg der Aktivierung, dessen Existenz erst in den 1960er Jahren bewiesen wurde. Die klassische Aktivierung über die Bildung von Antikörper-Antigen-Komplexen funktioniert auch noch bei hohen Verdünnungen, worauf die Wiederherstellung der Komplementaktivität durch Zugabe geringer Mengen Serum beruht. Die alternative Aktivierung ist dagegen schon bei geringer Verdünnung der Komplementfaktoren nicht mehr möglich. Deswegen konnte van den Berg zwar die Hämolyse durch Erhitzung des Komplements verhindern, bei der Zugabe der frischen Komplementfaktoren waren diese aber zu stark verdünnt, um über den alternativen Weg aktiviert werden zu können. Thomas Hale Ham Ab 1937 begann Thomas Hale Ham, ein Arzt aus Cleveland, Ohio, sich mit der PNH zu beschäftigen. Seine Arbeiten sollten richtungsweisend für die Forschung der nächsten Jahrzehnte werden. Wie Strübing, dessen Publikation Ham nicht kannte, beschäftigte er sich zunächst mit dem Zusammenhang zwischen Schlaf und Hämoglobinurie. Er konnte durch Verschieben des Schlafrhythmus eines Studienpatienten zeigen, dass die Hämoglobinurie vom Schlaf, und nicht von der Tageszeit, abhängt. Ferner konnte er bei Studienpatienten hämolytische Anfälle auslösen, indem er ihnen Säure gab, und umgekehrt Anfälle verhindern, wenn er ihr Blut alkalisierte (durch Gabe von Basen oder indem er sie im Schlaf mit einer eisernen Lunge hyperventilieren ließ). Wie auch Strübing glaubte Ham, die Ursache der Hämolyse liege in einer erhöhten CO2-Konzentration im Blut durch eine Hypoventilation im Schlaf. Als nächstes ergänzte Ham seine Experimente am Menschen durch Laborexperimente. Er wiederholte van den Bergs wesentliche Experimente, wobei er allerdings nicht auf van den Bergs Arbeiten verweist – es ist nicht klar, ob sie ihm zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt waren. Auch Ham schlussfolgerte richtig, dass die Ursache der Krankheit in den Erythrozyten des Erkrankten liegt, während der hämolysierende Faktor ein normaler Bestandteil des Blutes sein muss. Ham begründete, warum am Prozess der Hämolyse keine Antikörper beteiligt sind, kam dadurch aber zu dem Fehlschluss, dass ein bislang unbekanntes, vom Komplementsystem verschiedenes System die Hämolyse vermitteln müsse. Aus der in dieser Experimentenreihe gemachten Beobachtung, dass PNH-Erythrozyten bei Ansäuerung des Blutes lysieren, wurde später ein diagnostischer Test entwickelt, der Ham-Test. Dieser war für 50 Jahre die Standardmethode in der Diagnostik, bis er durch die Durchflusszytometrie ersetzt wurde. 1939 veröffentlichte Ham mit seinem Kollegen John Holmes Dingle eines der einflussreichsten Paper in der Forschungsgeschichte der PNH, in dem sie detailliert darlegen, dass ein bislang unbekannter Mechanismus die Erythrozyten lysiert. Der Befund, dass keine Antikörper daran beteiligt sind, war völlig neu und passte nicht in das bisherige Bild der humoralen Immunantwort. Obwohl sie mehrere deutliche Hinweise auf eine Rolle des Komplementsystems beschreiben, und vermutlich auch selbst daran glaubten, dass dieses für die Hämolyse verantwortlich ist, behaupten sie im Diskussionsteil des Artikels, das Komplementsystem sei nicht der lysierende Faktor. Vermutlich waren sie in ihren Schlussfolgerungen zurückhaltend, weil sie ahnten, dass ihre Ergebnisse in der Fachwelt auf Skepsis und Ablehnung stoßen würden. Ein im Rückblick bedeutsamer Nebenbefund war die Beobachtung, dass bei ihrem Testpatienten nur 15 % der roten Blutkörperchen von der Hämolyse betroffen waren. Entdeckung des alternativen Wegs der Komplementaktivierung Das Jahrzehnt nach Hams und Dingles Publikation sah kaum Fortschritte. Die Forschung sammelte weiter Daten, die für und gegen eine Rolle des Komplementsystems sprachen. Eine – im Rückblick – bedeutsame Entdeckung war, dass der hämolytische Prozess bei der PNH (über die damals unbekannte alternative Komplementaktivierung) von Magnesium-Ionen (Mg2+) abhängt. Darin unterscheidet er sich von der autoimmunhämolytischen Anämie. Eine erste Erklärung, welcher Teil des Immunsystems die Hämolyse bei der PNH vermittelt, lieferte Louis Pillemer. Pillemer isolierte 1954 bei dem Versuch, den damals so bezeichneten dritten Komplementfaktor zu isolieren (der eigentlich aus mehreren Komplementfaktoren besteht), zufällig Properdin – ein Protein, das die Anlagerung des Komplementfaktors C3b an Faktor B unterstützt. Pillemer bemerkte, dass Properdin nur in Anwesenheit von Komplement und Magnesium aktiv war. Dabei wirkte es an der Zerstörung von Bakterien, Viren und „bestimmter roter Blutkörperchen“ mit – PNH-Erythrozyten. Dabei fiel auf, dass Antikörper für die Properdinaktivität nicht benötigt wurden. Zwei Jahre später wies Pillemer mit seinen Kollegen Carl F. Hinz und William S. Jordan nach, dass Properdin zwar für die Hämolyse von PNH-Erythrozyten zwingend notwendig ist, für die Hämolyse bei der autoimmunhämolytischen Anämie jedoch verzichtbar. Pillemers Studien an Properdin und der PNH lieferten starke Hinweise darauf, dass es eine Antikörper-unabhängige Komplementaktivierung gibt. Allerdings konnte sich Pillemers Hypothese vom Properdin-System unter Komplementsystem-Forschern nicht durchsetzen, insbesondere deswegen, weil sich technisch bedingt kleine Mengen Antikörper in seinen Proben fanden. Seine Kollegen nahmen daher an, dass diese die Komplementaktivierung erklärten. Pillemer starb 1957 nach einem Treffen mit anderen auf dem Gebiet tätigen Wissenschaftlern an einer Überdosis Schlafmitteln. Unter Hämatologen hingegen fand das Properdin-System als Erklärung für die Hämolyse der PNH schnell weitgehende Akzeptanz, da es am besten zu den Beobachtungen der vorangegangenen Jahrzehnte passte. Erst nach der Entwicklung besserer Aufbereitungsmethoden und 10 Jahre nach Pillemers Tod konnten seine Vermutungen bestätigt werden. Bis 1980 waren die Bestandteile des alternativen Aktivierungsweges aufgeklärt. Vom alternativen Weg zur genetischen Ursache PNH ist ein Mosaik Nach Ham und Dingle beobachteten Forscher immer wieder, dass niemals alle Erythrozyten von PNH-Patienten von Hämolyse betroffen waren, was nahelegte, dass sich zwei unterschiedliche Populationen von Erythrozyten im Blut der Betroffenen finden (also ein Mosaik bilden). Die britischen Hämatologen Wendell F. Rosse und John V. Dacie untersuchten diese Frage 1966 genauer. Durch genaue Beobachtungen des Verlaufs von Hämolysen in gesundem Blut und dem Blut von PNH-Patienten wiesen sie nach, dass PNH-Kranke einen gewissen Anteil hämolyseanfälliger Erythrozyten haben, während der Rest ihrer roten Blutkörperchen eine normale Empfindlichkeit gegenüber dem Komplementsystem zeigt. Dabei lag der Anteil hämolyseanfälliger Erythrozyten zwischen 4 und 80 %, was die unterschiedliche Ausprägung der Symptome erklärte. Ursprünglich ging man davon aus, dass es nur zwei Populationen von PNH-Zellen gebe: eine, die sehr anfällig gegenüber der Hämolyse durch das Komplementsystem ist, und eine, die nicht anfällig ist. Durch weitere Studien in den 1970ern musste diese Einschätzung jedoch korrigiert werden, denn bei manchen Patienten ließen sich mehrere Erythrozytenpopulationen nachweisen, deren Hämolyse-Anfälligkeit zwischen den beiden ursprünglich postulierten Gruppen lag. Ebenfalls 1969 konnte gezeigt werden, dass auch die Blutplättchen und bestimmte Immunzellen von PNH-Patienten anfälliger für die komplementvermittelte Hämolyse sind, was die These stützte, dass es einen gemeinsamen Vorgänger dieser Zellen gibt, und dass die Ursache der PNH eine somatische Mutation ist. Zu diesem Zeitpunkt war die Existenz blutbildender Stammzellen, aus denen alle Blutzelllienen hervorgehen können, noch nicht bewiesen und hoch umstritten. Die Ergebnisse der PNH-Forschung lieferten hier Argumente für die Befürworter dieser Theorie. Entdeckung der Komplementregulatoren Edward M. Hoffmann, ein Hämatologe aus Florida, berichtete 1969 als erster von einem Faktor in Erythrozyten, der die komplement-vermittelte Hämolyse unterbinden kann. Diesen nannte er decay accelerating factor (DAF), weil er den Abfall der Komplementaktivität beschleunigt. DAF (heute als CD55 bezeichnet) verhindert die Umwandlung des Komplementfaktors C3 zu C3b. Damit blockiert er sowohl die Komplementaktivierung über den klassischen als auch über den alternativen Weg. 1983 berichteten Anne Nicholson-Weller und Kollegen, dass PNH-Erythrozyten DAF fehle. Dass dieser Mangel an DAF eine ursächliche Rolle in der Pathogenese der Erkrankung spielen werde, war schnell allgemein akzeptiert. Er erklärte allerdings nicht alles, denn es gab auch Hinweise auf eine gestörte Regulation des Membranangriffs-Komplexes (MAC). Der Regulator für MAC konnte erst 1989 identifiziert werden. Seine Entdecker gaben ihm den Namen membrane inhibitor of reactive lysis (MIRL, zu Deutsch „Membran-Inhibitor der reaktiven Lyse“), heute läuft er unter dem Kürzel CD59. Mit der Kenntnis dieser beiden Regulatoren konnte erklärt werden, warum PNH-Erythrozyten unterschiedlich anfällig für die Lyse sind. Erythrozyten, denen beide Regulatoren vollständig fehlen, sind am anfälligsten für das Komplementsystem. Es gibt aber Erythrozyten, deren Anfälligkeit geringer ausgeprägt ist, weil sie noch in geringerem Maße CD55 und CD59 auf ihrer Oberfläche haben. Während die Menge von CD59 noch ausreicht, um den MAC zu kontrollieren, kann CD55 die Umwandlung von C3 zu C3b nicht mehr verhindern. Der GPI-Anker Zwischen die Entdeckung von DAF und MIRL fällt die Entdeckung des GPI-Ankers. Hierzu, und zur Erkenntnis der Bedeutung für die PNH, führten einige zufällige Beobachtungen (Serendipität). Die erste stammt von 1951, als Forscher, die sich eigentlich für Leukämien interessierten, zufällig auch Leukozyten eines PNH-Patienten untersuchten und bemerkten, dass auf diesen die alkalische Phosphatase fehlte. Andere Forscher berichteten in den 1950ern, dass auf PNH-Erythrozyten auch keine Acetylcholinesterase und keine 5′-Nukleotidase zu finden sind. Diese Enzyme stehen in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der Erkrankung, warfen aber die Frage auf, warum drei nicht miteinander in Verbindung stehende Enzyme auf PNH-Zellen fehlen. Die Antwort kam 1985, nachdem ein Science-Artikel über Experimente mit einem bakteriellen Enzym berichtet hatte, die in den 1970ern durchgeführt worden waren. Dieses Enzym war eine Phospholipase, die Phosphatidylinsositole spaltet. Der Artikel berichtet, dass der Einsatz der Phospholipase zur Freisetzung von Alkalischer Phosphatase, Acetylcholinesterase und 5’-Nucleotidase, sowie von Thy1 (CD90), von Zellmembranen führt. Wissenschaftler der Universität von New York erkannten die Verbindung zur PNH. Sie besorgten sich die Phospholipase und konnten zeigen, dass auch DAF (CD55) durch diese von der Zellmembran gelöst wird. Für die Forscher war damit klar, dass jedes Protein, dass auf der Oberfläche von PNH-Erythrozyten fehlt, den gleichen Anker hat, und das andersherum jedes Protein, das normalerweise über diesen Anker mit der Zellmembran verbunden ist, auf PNH-Zellen fehlen muss. Entschlüsselung der genetischen Ursache Bis 1987 war die Struktur dieses Ankers, Glycosylphosphatidylinositol, aufgeklärt. Man nahm bereits seit den 1960ern an, dass die Ursache der PNH in einer somatischen Mutation liegen könne. Als der Defekt des GPI-Ankers als zentral in der Entstehung der PNH bekannt wurde, stand die Forschung vor dem Problem, den ursächlichen Gendefekt zu identifizieren. Theoretisch waren Schädigungen in jedem der zahllosen Gene denkbar, die an der GPI-Synthese und der Verankerung der Proteine in der Zellmembran beteiligt sind. Erste Experimente deuteten auch darauf hin, dass die Störung in vielen unterschiedlichen Stellen liegen könne. Zu Hilfe kam – wieder einmal – ein glücklicher Zufall. In den 1970ern wurde eine Linie von Lymphomzellen herangezüchtet, um die genetische Basis der Krebsentstehung zu erforschen. Zufälligerweise fehlte diesen Zellen auch CD90, was im Kontext der Lymphomforschung nebensächlich war. Mit dem Wissen um die Verankerung von CD90 durch GPI nutzten japanische Forscher um Taroh Kinoshita diese gut erforschte Zellreihe, um 1993 die genetische Ursache der PNH zu entschlüsseln. Kinoshita und seine Kollegen wiesen 1993 in einer Reihe anspruchsvoller Experimente nach, dass der genetische Defekt, der in den Lymphomzellen zum Fehlen des GPI-Ankers führt, der gleiche sein muss, der in den von ihnen untersuchten PNH-Zellen vorlag. Dies schlossen sie daraus, dass die Zellen ohne GPI-Anker kein N-Acetylglucosaminphosphatidylinositol herstellen konnten – was der erste Schritt der GPI-Synthese ist. Sie konnten ein Gen identifizieren, das für diesen Schritt verantwortlich erschien. Sie vervielfältigten dieses aus einer gesunden Zelle und übertrugen es auf GPI-lose Lymphomzellen. Nach der Übertragung synthetisierten die Zellen N-Acetylglucosaminphosphatidylinositol. Die Forscher tauften das Gen auf den Namen PIGA (Phosphatidylinosytol Glycan Class A). Sie verglichen den Code des Gens GPI-tragender und GPI-loser Zellen und fanden in den GPI-losen Zellen Unterschiede. Die Wissenschaftler bewiesen, dass es sich um erworbene Mutationen handelt, indem sie gesunde und kranke Zellen des gleichen Patienten verglichen. Die PIGA-Mutation fand sich nur in den PNH-Zellen. Wäre die PIGA-Mutation eine Keimbahnmutation, wäre sie in jeder Zelle nachzuweisen. Einen starken Hinweis darauf, dass diese Mutation in einer blutbildenden Stammzelle auftritt, lieferte die Arbeitsgruppe mit dem Nachweis der gleichen Mutation in B-Lymphozyten und Neutrophilen Granulozyten des gleichen Patienten. Schlussendlich konnte sie PIGA auf dem X-Chromosom lokalisieren. Bislang wurden rund 150 verschiedene Mutationen in PIGA beschrieben, deren Auswirkungen auf die GPI-Synthese von einer Funktionseinschränkung bis zum kompletten Verlust reichen. Diese Vielfalt des Genotyps von PNH-Stammzellen erklärt, warum sich PNH-Zellen in ihrer Anfälligkeit für die Hämolyse unterscheiden. Weblinks und Literatur Nature Videos: PNH: When blood machinery goes wrong – Laienverständliches Video zur Entstehung der PNH. Englische Originalsprache, für deutsche Untertitel zunächst im Videofenster Untertitel einschalten, dann bei Optionen -> Untertitel „Automatisch übersetzen“ wählen. Stiftung lichterzellen – Stiftung zur Förderung der Forschung sowie zur Unterstützung Erkrankter. Aplastische Anämie & PNH e.V. Aktuelle Leitlinie zur Paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie auf onkopedia.com Alexander Röth, Ulrich Dührsen: Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie In: Deutsches Ärzteblatt, 2007, 104. Jahrgang, S. 192–197. Einzelnachweise Vaskulopathie Anämie Krankheitsbild in Hämatologie und Onkologie
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Reformierte Stadtkirche (Wien)
Die Reformierte Stadtkirche ist ein Kirchengebäude der Evangelischen Kirche Helvetischen Bekenntnisses in Österreich im 1. Wiener Gemeindebezirk Innere Stadt, Dorotheergasse 16. Die an der Ecke eines von schmalen Altstadtgassen gebildeten Häuserblocks gelegene Kirche mit zugehörigem Pfarrhaus wurde als Toleranzbethaus der Wiener reformierten Pfarrgemeinde erbaut, die sich 1782 infolge des Toleranzpatents konstituierte. Der Architekt des an der Stelle eines aufgelassenen Klosters von 1783 bis 1784 errichteten klassizistischen Gebäudekomplexes war Gottlieb Nigelli. Bei einem 1887 nach Plänen von Ignaz Sowinski durchgeführten Umbau erhielt die Reformierte Stadtkirche eine neobarocke Einturmfassade. Das Kircheninnere ist entsprechend der reformierten Auslegung des Zweiten Gebots bilderlos. Die Reformierte Stadtkirche ist der Sitz der Evangelischen Pfarrgemeinde H. B. Innere Stadt und der Evangelischen Kirche H. B. in Österreich. Daneben beherbergt die Kirche mehrere fremdsprachige Gottesdienstgemeinden, die rechtlich unterschiedlich organisiert sind, und ist ein Kulturveranstaltungsort. Die Kirche steht unter . Geschichte Vorgeschichte Evangelische Gottesdienste in Wien waren bis zum 1781 erlassenen Toleranzpatent Kaiser Josephs II. verboten. In der Zeit der Gegenreformation hielt sich der Geheimprotestantismus in Österreich eher in entlegeneren Gegenden. Eine trotz Protesten der Wiener Erzbischöfe staatlich geduldete Ausnahme waren die reformierten Gottesdienste in den Räumen der niederländischen Gesandtschaft in Wien. Diese Gottesdienste waren auch für die Wiener Bevölkerung zugänglich. Die Predigten wurden in deutscher Sprache gehalten. Der erste namentlich bekannte Gesandtschaftsprediger war Philipp Otto Vietor, der von 1671 bis 1673 in Wien wirkte. Die Gottesdienstgemeinschaft der niederländischen Gesandtschaft bildete die Keimzelle für die Wiener reformierte Gemeinde (H. B.), die sich nach dem Toleranzpatent am 2. März 1782 konstituierte. Zum ersten Pfarrer bestimmte die Gemeinde den bisherigen Gesandtschaftsprediger Carl Wilhelm Hilchenbach. Am 13. März 1782 kaufte die Gemeinde um 23.900 Gulden die Wirtschaftsgebäude des ehemaligen Königinklosters, um an deren Stelle ein Toleranzbethaus mit Pfarrhaus zu errichten. Das Kloster, das laut einer zeitgenössischen Beschreibung des Reiseschriftstellers Friedrich Nicolai ein „elendes Ansehen“ aufwies, hatte zu den ersten gezählt, die im Zuge der josephinischen Kirchenreform aufgelöst worden waren. Die Wiener lutherische Gemeinde (A. B.) war wie die reformierte infolge des Toleranzpatents gegründet worden. Sie erwarb die an die Wirtschaftsgebäude anschließende ehemalige Klosterkirche, die zur Lutherischen Stadtkirche umgebaut wurde. Die Wirtschaftsgebäude wurden abgerissen. Mit der Planung des reformierten Bethauses wurde Gottlieb Nigelli betraut, ein Unterarchitekt im Hofbauamt und Protegé des Staatskanzlers Wenzel Kaunitz. Nigelli war bei der Auftragsvergabe noch kein anerkannter und erfahrener Architekt. Baugeschichte Errichtung als Toleranzbethaus (1783–1784) und erste Adaptierungen Der Grundstein für das Toleranzbethaus wurde am 26. März 1783 gelegt. Gemäß den Bestimmungen des Toleranzpatents durfte das Gebäude von außen nicht als Kirche erkennbar sein und keinen straßenseitigen Eingang aufweisen. Nigelli gestaltete die Straßenfassade deshalb nach Art eines einfachen Wohnhauses und verbarg die beiden Hauptportale in einem von der Gasse nicht einsehbaren Innenhof. Bei der Gestaltung des Innenraums war der Architekt freier und wählte einen für seine Zeit fortschrittlichen, klassizistischen Stil. Am 25. Dezember 1784 wurde das Bethaus eingeweiht. Der Industrielle und Bankier Johann von Fries, der den größten finanziellen Beitrag für die Errichtung des Bethauses geleistet hatte, ließ zur gleichen Zeit auf einer anderen Parzelle des ehemaligen Königinklosters das Palais Fries-Pallavicini erbauen. Der Architekt des klassizistischen Palais war Johann Ferdinand Hetzendorf von Hohenberg, der Vorgesetzte Nigellis im Hofbauamt. Um die künstlerische Qualität der Neubauten entbrannte zwischen den Anhängern beider Architekten eine in mehreren Zeitschriften und Flugblättern geführte Kontroverse. Am Palais Fries-Pallavicini wurden die ungewöhnlichen Proportionen der Außenseite und die prunkvollen Karyatiden Franz Anton von Zauners beim Hauptportal kritisiert – „so scheint die Absicht des Architekten gieng geflissentlich dahin, das Auge vom Wesentlichen des Gebäudes abzuziehen um die Fehler des Ganzen nicht wahrzunehmen.“ Demgegenüber sei beim reformierten Bethaus die schwere Aufgabe gelungen, „die Linie zwischen ausschweifender Pracht und roher Einfalt zu ziehen; und wehe dem Architekten, der nicht Philosoph genug ist, bevor er das Reißzeug zur Hand nimmt.“ Dem anonymen Autor dieser Zeilen, vermutlich Nigelli selbst, wurde gleichfalls anonym und vermutlich aus Hohenbergs Feder geantwortet, er sei „Wiens Trasyllus“, in Anspielung auf jenen antiken Philosophen, der sich selbst moralisch diskreditierte, indem er mit Kaiser Tiberius eine enge Freundschaft pflegte. Hohenberg ließ Nigelli infolge der Kontroverse aus Wien in die Provinzial-Baudirektion nach Brünn versetzen. Die reformierte und die lutherische Gemeinde in Wien gründeten 1794 eine gemeinsame Schule, deren Schulräume sich ursprünglich in den Pfarrhäusern der beiden Gemeinden befanden, die durch einen später wieder zugemauerten Durchbruch der Feuermauer im ersten Stock miteinander verbunden waren. Seit 1862 ist die Schule in einem Gebäude am Karlsplatz untergebracht. Erzherzogin Henriette von Österreich, eine geborene Prinzessin von Nassau-Weilburg, behielt auch nach ihrer Heirat mit Erzherzog Karl von Österreich im Jahr 1815 und ihrem Umzug nach Wien ihren reformierten Glauben bei. Es galt einer Erzherzogin allerdings als unwürdig, beim Gottesdienstbesuch eine Hintertür in einem Innenhof verwenden zu müssen. Der Hofarchitekt Johann Amann erhielt daher noch 1815 die Genehmigung für eine bauliche Lösung, die den Einschränkungen des Toleranzpatents Rechnung trug. Er ließ ein Tor in der straßenseitigen Seitenfassade des Bethauses durchbrechen, das zunächst in einen Zwischengang führte, der als nicht dem eigentlichen Sakralraum zugehörig deklariert wurde. Auch durfte das sogenannte Henriettentor ausschließlich von der Erzherzogin genutzt werden. Im Sommer des Jahres 1830, ein halbes Jahr nach Henriettes Tod, wurde das Tor wieder vermauert. Umbau von 1887 Das Protestantenpatent von 1861 räumte den Evangelischen in Österreich weitergehende Rechte als das 80 Jahre zuvor erlassene Toleranzpatent ein. So war es nun möglich, dem Bethaus auch von außen das Aussehen einer Kirche zu geben. Den Beschluss zu einer entsprechenden Umgestaltung fasste die Gemeindeleitung schließlich erst im Jahr 1885 nach langjährigen Beratungen. Neben der äußeren Sichtbarmachung der Kirche sollte auch das Pfarrhaus den Wohnansprüchen der Zeit entsprechend adaptiert werden. Aus einer öffentlichen Ausschreibung ging 1887 der Architekt Ignaz Sowinski als Sieger hervor. Sowinski, ein Schüler Heinrich von Ferstels, stand erst am Beginn seiner Karriere. Die Bauarbeiten begannen am 8. August 1887. Das Äußere des Gebäudes wurde dabei völlig verändert und im neobarocken Stil gestaltet. Das reformierte Bethaus wurde zur ersten evangelischen Kirche Wiens mit einem Kirchturm. Sowinski versah die nunmehr neobarocke Hauptfassade zur Dorotheergasse außerdem mit einem neuen Hauptportal. Das Neobarock entwickelte sich, theoretisch untermauert durch den Kunsthistoriker Albert Ilg, in den 1880er Jahren zunehmend zu einem österreichischen „Nationalstil“. Auch die Seitenfassade zur Stallburggasse wurde neu gestaltet. Der neue Haupteingang machte eine Umgestaltung des Innenraums erforderlich. Die Positionen von Kanzel und Orgel wurden getauscht und die Einrichtung des Kircheninneren in der Folge um 180 Grad gedreht. Im Zuge dessen entstand über dem Hauptportal eine neue Orgelempore in der ursprünglichen Apsis. Die bestehende rechtsseitige Empore wurde erweitert und die Gesamtanzahl der Sitzplätze auf 205 erhöht. Das Pfarrhaus behielt weitgehend seine bisherige äußere Erscheinungsform, während in seinen Innenräumen bauliche Adaptierungen vorgenommen wurden. Auf Grund feuchter Wände im Erdgeschoß wurde das Pfarrhaus unterkellert. In den beiden darüber liegenden Stockwerken wurde die Raumaufteilung durch neue Korridore verändert. Alle sanitären Anlagen, Gas-, Wasser- und Stromleitungen, Türen, Fenster und Fußböden sowie die Heizanlage wurden vollständig erneuert. Die beiden Verbindungstrakte zwischen Pfarrhaus und Kirchengebäude erhielten durch ein neuerbautes Stiegenhaus und eine neuerbaute Sakristei eine veränderte Gestalt. Im Zuge des Umbaus traten vorher nicht veranschlagte Kosten auf. Bei der Unterkellerung des Pfarrhauses mussten zuerst die aufgefundenen Fundamentreste des Königinklosters aus Bruchsteinmauerwerk mit Stemmarbeiten entfernt werden, außerdem die Feuermauer des Pfarrhauses nachträglich mit einem Fundament versehen werden. Die Bauarbeiten konnten zwar innerhalb des vorgesehenen Zeitraums am 3. Dezember 1887 abgeschlossen werden, allerdings stiegen die Baukosten von den ursprünglich kalkulierten 6500 Gulden auf 56.239 Gulden an. Bauliche Veränderungen nach 1887 Nach dem Umbau von 1887 blieb die Reformierte Stadtkirche in ihren wesentlichen Grundzügen unverändert. 1895 wurden erstmals drei Glocken im Kirchturm angebracht, die nach ihren Stiftern benannt wurden: Christoph und Berta Cloeter (die Eltern der Autorin Hermine Cloeter), Philipp Ritter von Schoeller und Gemeindeglieder. Der Staat zog die Glocken 1916 im Zuge des Ersten Weltkriegs zur Schmelzung ein. Nach einer Sammlung unter den Gemeindemitgliedern wurden 1932 von der Glockengießerei Pfundner erneut drei Glocken gegossen, von denen während des Zweiten Weltkriegs die beiden größeren eingeschmolzen wurden. Nach einer Spende des Presbyters Karl Matysek goss die Glockengießerei Grassmayr 1979 zwei weitere Glocken und die eine erhaltene Glocke neu. Innen- oder Außenrenovierungen erfolgten zunächst 1901 und 1906, in der Zwischenkriegszeit 1928 und 1934 sowie im besetzten Österreich 1952 und 1953. Eine umfassende Innen-Restaurierung 1962 stand im Zeichen einer Annäherung an die ursprüngliche klassizistische Gestalt der Kirche, wobei unter anderem Teile der originalen Wandmalereien freigelegt wurden. Von 1979 bis 1984 wurde der gesamte Gebäudekomplex restauriert. Die Reformierte Stadtkirche wurde im April 1997 das erste Kirchengebäude in Österreich mit einer Photovoltaikanlage. Die am Kirchendach angebrachte, 30 Quadratmeter große Solaranlage hat einen jährlichen Stromertrag von rund 2800 Kilowattstunden. Die letzte Außen-Restaurierung der Kirche wurde 1999 durchgeführt. Im Sommer 2006 wurden der Kircheninnenraum saniert sowie Gemeindesaal, Küche und Toilettenanlagen renoviert. Nutzungsgeschichte Die Reformierte Stadtkirche ist nicht nur der Sitz der Evangelischen Pfarrgemeinde H. B. Wien Innere Stadt, sondern auch Sitz der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche H. B. in Österreich, des Oberkirchenrats H. B., und dessen Kirchenzeitung, des Reformierten Kirchenblatts. Die regulären Sonntagsgottesdienste beginnen seit Anfang der Gemeindegeschichte immer um zehn Uhr. In den ersten Jahrzehnten des Bestehens feierte die Gemeinde um den 13. Oktober das Toleranzfest, das an das Toleranzpatent Kaiser Josephs II. vom 13. Oktober 1781 erinnerte. Im Revolutionsjahr 1848 wurde diese Tradition aufgegeben und stattdessen ein Gottesdienst anlässlich des Reformationstags am 31. Oktober eingeführt. Weitere allgemein verbreitete christliche Festtagsgottesdienste gibt es in der Reformierten Stadtkirche erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Die Christmette wird seit 1957 und die Osternacht seit 1972 jährlich begangen. Der 1969 erstmals gefeierte Palmdonnerstagsgottesdienst findet immer am Donnerstag vor Palmsonntag statt. Zum Zeitpunkt seiner Einführung war er der einzige Gottesdienst in Wien, bei dem Angehörige anderer Konfessionen offiziell eingeladen wurden, am Abendmahl teilzunehmen. Es gab – und gibt – auch Gottesdienste in anderen Sprachen. Im Jahr 1851 begannen der Theologieprofessor Karol Kuzmány und seine Studenten, regelmäßig tschechischsprachige Gottesdienste in der Reformierten Stadtkirche abzuhalten. Diese Tradition wurde von dem aus Preußisch-Schlesien stammenden und 1867 nach Wien berufenen Oberkirchenrat Heřman z Tardy fortgeführt. Tardy initiierte 1891 einen Verein mit dem Ziel, eine eigene tschechische reformierte Gemeinde zu gründen und ein eigenes Gemeindezentrum zu errichten. Dieses Vorhaben wurde durch den allgemeinen finanziellen Kollaps nach dem Ersten Weltkrieg vereitelt. Tschechischsprachige Gottesdienste fanden noch bis 1945 regelmäßig und bis 1969 fallweise statt. Zwei Gastprediger hielten ferner von 1868 bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg jeden Sonntag nach dem deutschsprachigen Gottesdienst einen französischsprachigen ab. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts gab es zeitweise ungarischsprachige Gottesdienste in der Reformierten Stadtkirche, die in der Regel von der Reformierten Kirche in Ungarn organisiert wurden. Die zahlreichen Flüchtlinge reformierter Konfession, die in Folge des Ungarischen Volksaufstands von 1956 nach Österreich kamen, gaben den Anlass zur Gründung des Ungarischen Seelsorgedienstes (USD), der als Werk der Evangelischen Kirche H. B. in Österreich organisiert ist. Die Gottesdienste des USD in der Reformierten Stadtkirche finden jeden Sonntag um 17 Uhr statt. Ebenfalls in der Reformierten Stadtkirche feiert die Vienna Community Church (VCC), ein 1957 gegründeter interkonfessioneller Verein, englischsprachige Gottesdienste, und zwar an jedem Sonntag um 12 Uhr. Die reformierte Gemeinde veranstaltet alljährlich im Innenhof einen karitativen Adventmarkt, genannt „Henriettenmarkt“. Er ist nach der reformierten Erzherzogin Henriette von Österreich benannt, die 1816 in Wien einen mit Kerzen geschmückten Weihnachtsbaum aufstellen ließ, wie sie ihn aus ihrer Heimat Nassau-Weilburg kannte. Der zuvor in Wien unbekannte Brauch soll von Kaiser Franz I. in der Hofburg und von weiteren Wiener Adelsfamilien übernommen worden sein. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es mit dem Evangelisch-Reformierten Chorverein einen hauseigenen Kirchenchor, der ab 1924 von Fritz Schreiber geleitet wurde. Die Reformierte Stadtkirche hat auch eine Tradition als Veranstaltungsort von Konzerten. Der blinde Hoforganist Josef Labor gab von 1905 bis 1907 mehrere Konzerte in der Kirche, in den 1930er Jahren sangen hier der Chor der Wiener Staatsoper, der Wiener Männergesang-Verein und die Mezzosopranistin Rosette Anday. In den 1980er Jahren traten regelmäßig die Mozart-Sängerknaben auf. Bei der Kirchenrenovierung im Jahr 2006 wurde besonderes Augenmerk auf die „Konzertreife“ der Kirche gelegt. Zu diesem Zweck wurden eine Tonanlage eingerichtet, die Beleuchtung verbessert und der Abendmahlstisch mit Rollen versehen. Von 2004 bis 2011 war die Reformierte Stadtkirche zudem alljährlich ein Veranstaltungsort des Filmfestivals Vienna Independent Shorts. Pfarrer und Gemeindeleitung In der Regel waren seit 1789 zwei Pfarrer zugleich in der Pfarrgemeinde angestellt. Die Pfarrer Carl Wilhelm Hilchenbach, Justus Hausknecht, Gottfried Franz, Friedrich Otto Schack, Gustav Zwernemann, Johann Karl Egli und Peter Karner bekleideten als (Landes-)Superintendenten außerdem das höchste Amt in der Evangelischen Kirche H. B. in Österreich. Der Pfarrer Hermann Rippel war Militärsuperintendent der Evangelischen Kirche A. u. H. B. in Österreich. Gegenwärtig bekleiden Harald Kluge seit 2005 und Pfarrerin Réka Juhász seit 2017 das Amt in der Reformierten Stadtkirche. Die reformierte Gemeinde in Wien wurde seit ihrer Gründung 1782 bis zum Protestantenpatent von 1861 von einem vierköpfigen Vorsteher-Kollegium geleitet. Zu den Vorstehern der ersten Stunde zählten zwei einflussreiche Wiener Bankiers Schweizer Herkunft: Johann Heinrich Geymüller und der schon als Erbauer des Palais Fries-Pallavicini genannte Johann von Fries. Dessen Sohn Moritz von Fries wurde 1807 Mitglied des Vorsteher-Kollegiums, Geymüllers Neffe Johann Heinrich von Geymüller der Jüngere folgte 1819. Mit dem Industriellen Ludwig Brevillier wirkte ab 1841 eine weitere bekannte Persönlichkeit des Wirtschaftslebens des österreichischen Kaisertums als Vorsteher. Zu nennen ist ferner Hermann Bonitz, der sich als Philologe, Philosoph und Schulreformer in Wien und Berlin einen Namen machte und von 1860 bis 1861 Mitglied des Kollegiums war. Ein Presbyterium unter dem Vorsitz eines Kurators trat 1861 an die Stelle des Vorsteher-Kollegiums. In der Reformierten Stadtkirche waren es in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg vor allem zwei Schweizer Naturforscher, die als Kuratoren das Gemeindeleben prägten. Johann Jakob von Tschudi amtierte von 1874 bis 1883. In seine Zeit fällt die Vorbereitung des Umbaus von 1887, der unter Karl Brunner-von Wattenwyl verwirklicht wurde, der von 1884 bis 1914 Kurator war. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörten mehrere Mitglieder der rheinischen Unternehmerfamilie Schoeller der Gemeindeleitung an. Alexander von Schoeller eröffnete den Reigen, zunächst 1851 als einer der Vorsteher und ab 1862 als Presbyter. 1867 wurde an seiner Stelle Gustav Adolph von Schoeller zum Presbyter bestimmt, gefolgt von Philipp von Schoeller, der von 1889 bis 1915 als Presbyter wirkte. Noch 1919 wurde mit Paul Eduard von Schoeller ein Mitglied der Familie Schoeller ins Presbyterium gewählt. Von 2005 bis 2017 war Peter Duschet Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten sowie Fachgruppenobmann der Fachärzte für Haut- und Geschlechtskrankheiten in der Ärztekammer für Wien Kurator der Gemeinde. Seit 2017 ist Gabriele Jandrasits Kuratorin. Architektur Lage und Grundriss Die Reformierte Stadtkirche befindet sich an der Dorotheergasse 16 im Viertel zwischen Graben und Hofburg. Sie besteht aus dem eigentlichen Kirchengebäude und dem südlich davon gelegenen Pfarrhaus, die durch zwei Seitentrakte miteinander verbunden sind und einen trapezförmigen Innenhof einschließen. Im Westen grenzen die Fries’schen Zinshäuser und im Süden die Lutherische Stadtkirche an den Gebäudekomplex. Die Hauptfront des Kirchengebäudes und das Pfarrhaus liegen an der Dorotheergasse, während die nördliche Fassade des Kirchenraums entlang der Stallburggasse verläuft. Die Plankengasse bildet eine Sichtachse zwischen dem Kirchturm und dem Donnerbrunnen am Neuen Markt. Äußeres Der Stil der zweizonigen Hauptfassade der Reformierten Stadtkirche ist neobarock. Die Hauptzone weist ionische Riesenpilaster auf. Das Hauptportal in der Mitte ist ein Metalltor. Die Fenster sind neobarock gerahmt. Am Mittelrisalit ist über der Portalachse ein Segmentgiebel angebracht, dem ein gebrochener Dreiecksgiebel übergeordnet ist. Eine Vasenbalustrade leitet zum mit toskanischen Eckpilastern versehenen Kirchturm über. Der Turm hat eine Höhe von 42 Metern. Er ist bis zu einer Höhe von 30 Metern gemauert. An seiner Spitze befindet sich über einem Knickgiebel ein hoher Laternenhelm, der mit Kupfer gedeckt ist. Die hofseitige Seitenfassade ist original frühklassizistisch, während die Seitenfassade zur Stallburggasse beim Umbau von 1887 in Anlehnung an erstere gestaltet wurde. Beide weisen jeweils zwei großflächige Thermenfenster auf. Die Fassade zur Stallburggasse ist mit Mauerblenden gegliedert. Hier gibt es eine kleine Metalltür, die in ihrer Gestaltung dem Haupttor von 1887 ähnelt und die nicht mit dem 1815 eingebauten Henriettentor identisch ist, das nicht mehr besteht. An der dem Innenhof zugewandten Außenwand befinden sich die beiden frühklassizistischen ehemaligen Haupteingänge, die von toskanischen Halbsäulen und einem geraden Gebälk gerahmt werden. Über den früheren Haupteingängen ist eine Kaiser Joseph II. gewidmete kreisrunde Gedenktafel angebracht. Ihr lateinischer Text geht auf einen Entwurf des Göttinger Professors Christian Gottlob Heyne zurück. Innenraum Die Reformierte Stadtkirche gilt als bedeutendster klassizistischer Sakralraum in Wien. In der baulichen Grundstruktur handelt es sich um eine zweijochige Wandpfeilerkirche mit zwei flachen Pendentifkuppeln, oberhalb derer sich ein Dachstuhl befindet. Die ehemalige, halbkreisförmige Apsis ist seit dem Umbau von 1887 vom inneren Hauptportal durchbrochen, das einen Dreiecksgiebel aufweist. Darüber befindet sich die Orgelempore. An beiden Längsseiten setzt sich die Orgelempore in seitlichen Emporen mit jeweils zwei Tonnengewölben und Thermenfenstern beiderseits der Wandpfeiler fort. Die mit Balustraden ausgestatteten Emporen werden von insgesamt zehn toskanischen Säulen gestützt. Die beiden mit toskanischen Pilastern geschmückten Wandpfeiler sind auf den Ebenen des Erdgeschoßes und der Emporen jeweils von Durchgängen durchbrochen. Die Schmalseite mit der Kanzel ist triumphbogenartig gestaltet. Sie weist einen Korbbogen, innerhalb dessen eine Segmentbogen-Ädikula mit der Kanzel sowie geschichtete toskanische Pilaster auf. Dem Hauptraum ist an der Längsseite zur Stallburggasse ein Gang vorgelagert, an dessen Ende eine Wendeltreppe auf die Emporen führt. Zwischen innerem und äußerem Hauptportal zur Dorotheergasse befindet sich ein Vorraum. Beiderseits des inneren Hauptportals gibt es Seiteneingänge in den Hauptraum. Nach dem Umbau von 1887 war ursprünglich vorgesehen, dass diese beiden Seiteneingänge einen nach Geschlechtern getrennten Zugang zur Kirche ermöglichen und dass das innere Hauptportal nur zu hohen Festtagen, zu Einsegnungen und Leichenbegängnissen geöffnet wird. Zwei weitere Seitentore, die ehemaligen Hauptportale, verbinden den Kirchenraum direkt mit dem Innenhof. Die Gestaltung des Innenraums kommt ohne Bilder und Kreuze aus. Dies entspricht der strengen Auslegung des Zweiten Gebots in der reformierten Tradition. Die Grisaille-Wandmalereien ahmen Stuck in Form von Rosetten und Akanthusstäben nach. In der dem Pariser Pantheón ähnelnden malerischen Gestaltung der Kuppeln à l’antica zeigt sich der Einfluss des französischen Klassizismus auf Nigelli, der in Paris studiert hatte. Drei Wandsprüche mit goldfarbenen Buchstaben, die 1889 von der Familie Wittgenstein gespendet wurden, sind Bibelzitate: Oberhalb der Kanzel steht Dein Reich komme und an den Unterseiten der seitlichen Emporen Alles was Odem hat, lobe den Herrn halleluja! Ps. 150.6 sowie Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren. Luc. 11.28. An den Wänden im Bereich von Kanzel und Abendmahlstisch sind vier Gedenktafeln angebracht. Die älteste, auf 1822 datierte Tafel ist Pfarrer Carl Wilhelm Hilchenbach gewidmet und wird mit den Worten eingeleitet: „Dem thaetigen Befoerdrer dieses Baues, dem frommen Führer unsrer Seelen, dem Lehrer unsrer Jugend, dem Vater unsrer Armen“. Eine weitere Gedenktafel erinnert an den Umbau von 1887 und mehrere daran beteiligte Personen, darunter Architekt Ignaz Sowinski. Eine Marmorplatte aus dem Jahr 1925 gilt den im Ersten Weltkrieg gefallenen Gemeindemitgliedern und einer Ermahnung zum Frieden. Ihr Text wurde vom Theologieprofessor Josef Bohatec verfasst. Die jüngste Gedenktafel stammt aus dem Jahr 2005. Sie nennt Zsigmond Varga sowie Ernst und Gisela Pollack stellvertretend für die in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ermordeten Mitglieder der Kirche. Zsigmond Varga († 1945 im KZ Gusen) war Pfarrer der reformierten Ungarn in Wien. Ernst und Gisela Pollack († 1942 im KZ Theresienstadt) waren Wohltäter der Gemeinde. Pfarrhaus Das dreigeschoßige frühklassizistische Pfarrhaus weist eine Straßenfassade zur Dorotheergasse und Innenhoffassaden auf. Die linke Seite der Straßenfassade tritt als zweiachsiger Seitenrisalit hervor. An den Fenstern sind Voluten-Konsolen und Fensterbrüstungen angebracht. Über beide Obergeschoße ziehen sich vertiefte Wandfelder. Im ersten Obergeschoß befinden sich unterhalb der Fenster Mäander-Friese. Das Straßenportal des Pfarrhauses ist gerade verdacht. Seine originale Holztür ist mit Festons verziert. An der Westseite des Innenhofs gibt es eine zweigeschoßige Loggia mit Rundbogen-Arkaden. Die Einfahrt von der Dorotheergasse in den Innenhof weist auf Wandpfeilern ein kassettiertes Tonnengewölbe auf. Im Erdgeschoß sind der Gemeindesaal, die Wohnung des Küsters und die Sakristei untergebracht. Das erste Stockwerk beherbergt Büroräume der Pfarrgemeinde und der Gesamtkirche. Hier gibt es eine freigelegte Türrahmung, die als Rest des Königinklosters vom Ende des 16. Jahrhunderts stammt. Im zweiten Stockwerk befindet sich eine Pfarrerwohnung. Der Dachboden des Pfarrhauses stammt vom Ende des 18. Jahrhunderts. Das Pfarrhaus ist zwei Geschoße tief unterkellert. Zwei straßenseitige Räume im unteren Kellergeschoß weisen Kreuzgratgewölbe und Stichkappentonnen auf, deren Grate stark herausgeputzt sind. Einrichtung und Ausstattung Kanzel, Abendmahlstisch und Kirchengestühl Die Position der Kanzel im Zentrum der Wand, die vom Kirchengestühl aus in Blickrichtung gelegen ist, weist die Reformierte Stadtkirche als Predigtkirche aus. Die Predigt bildet den Mittelpunkt des Gottesdienstes. Die halbrunde, frühklassizistische Kanzel stammt aus dem Jahr 1774. Sie steht auf toskanischen Säulen und Pilastern, die aus rötlichem Marmor gefertigt sind. An ihr sind vergoldete Akanthusornamente angebracht. Der Schalldeckel weist an der Unterseite einen Strahlenkranz rund um das Tetragramm auf. Der Abendmahlstisch unterhalb der Kanzel ist ein Holztisch mit einer Platte aus rötlichem Marmor. Er ist mit vergoldeten Festons und Voluten-Konsolen verziert. Der Überlieferung nach wurde der Abendmahlstisch aus Teilen eines Altars aus der ehemaligen Kamaldulenserkirche am Kahlenberg zusammengesetzt. Während der Koalitionskriege, im Jahr 1810, beschlagnahmte der Staat das gesamte Kirchensilber der Gemeinde und verwendete es als Kontribution an Frankreich. Das daraufhin neu angeschaffte Abendmahlsgeschirr aus feuervergoldetem Silber ist mit der Jahreszahl 1807 punziert. Es besteht aus einer Weinkanne, zwei Kelchen und einem Brotteller. Die hölzernen Kirchenbänke und Presbyterstühle stammen aus dem Jahr 1784. Entsprechend der reformierten Tradition, die kein Niederknien im Gottesdienst vorsieht, weist das Kirchengestühl keine Kniebänke auf. Unter den Kirchenbänken befinden sich Platten aus Kelheimer Kalkstein. Die für die Mitglieder des Presbyteriums vorgesehenen Presbyterstühle stehen beiderseits des Abendmahlstisches und sind durch frei aufgestellte Balustraden vom übrigen Kirchenraum abgetrennt. Glocken Die drei Kirchturm-Glocken der Glockengießerei Grassmayr aus dem Jahr 1979 sind im Moll-Dreiklang Gis-H-Dis gestimmt. Sie tragen folgende Inschriften: Post tenebras lux Ich schäme mich des Evangeliums von Christo nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben. Si Deus pro nobis, quis contra nos. Orgel Die erste Orgel in der Reformierten Stadtkirche wurde 1695 erbaut, stammte mutmaßlich aus einem aufgelassenen Kloster und wurde wahrscheinlich vom Wiener Orgelbauer Franz Xaver Christoph adaptiert. Sie wurde 1901 durch eine neue Orgel des Dresdner Orgelbauers Johannes Jahn ersetzt und nach Cilli verschenkt. An der Jahn-Orgel, die zuletzt 1929 saniert worden war, konnten nach dem Zweiten Weltkrieg wegen Geldmangels keine grundlegenden Reparaturen durchgeführt werden. Sie war zuletzt in einem desolaten Zustand. Zudem befand sich ihr Spieltisch aus Platzgründen ungünstig an einer Schmalseite. Die nachfolgende Orgel ist ein Werk des Wiener Orgelbauers Herbert Gollini aus dem Jahr 1974. Gollini behielt das neoklassizistische Gehäuse der Jahn-Orgel bei und verwendete auch deren Pfeifen weiter. Die Gollini-Orgel ist eine mechanische Schleifladenorgel und verfügt über 25 Register, die auf zwei Manuale und Pedal verteilt sind. Ihre Disposition lautet: Koppeln: drei Normalkoppeln Spielhilfen: Koppeln, Schwelltritt Zu den als Organisten in der Reformierten Stadtkirche angestellten Persönlichkeiten zählen Wilhelm Karl Rust (tätig 1819–1827), Ignaz Lachner (tätig 1827–1831), Benedict Randhartinger (tätig 1831–1835), Gottfried Preyer (tätig 1835–1841) und Eugen Gmeiner (tätig 1949–1956). Literatur Weblinks Website der Reformierten Stadtkirche Einzelnachweise Reformierte Stadtkirche Kirchengebäude der Evangelischen Kirche H.B. in Österreich Bauwerk des Historismus in Wien Klassizistisches Bauwerk in Wien Neobarockes Bauwerk in Wien Erbaut in den 1780er Jahren Kirchengebäude des Historismus Kirchengebäude in Wien Klassizistische Kirche Wandpfeilerkirche Toleranzbethaus Disposition einer Orgel Baudenkmal (Wien)
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https://de.wikipedia.org/wiki/STS-116
STS-116
STS-116 (englisch Space Transportation System) ist die Missionsbezeichnung für einen Flug des US-amerikanischen Space Shuttle Discovery (OV-103) der NASA. Der Start fand am 10. Dezember 2006 statt. Es war die 117. Space-Shuttle-Mission und der 33. Flug der Raumfähre Discovery. Dieser 20. Flug einer US-Raumfähre zur Internationalen Raumstation (ISS) war dem weiteren ISS-Ausbau gewidmet und lieferte dafür die P5-Gitterstruktur. Der Start erfolgte am 10. Dezember 2006 und war der erste Nachtstart seit November 2002 (STS-113). Es war der letzte planmäßige Shuttle-Start von Pad 39B, bevor die Startrampe deaktiviert wurde und seitdem für das neue Space Launch System umgebaut wird. Mannschaft Shuttle-Besatzung Mark Polansky (2. Raumflug), Kommandant William Oefelein (1. Raumflug), Pilot Robert Curbeam (3. Raumflug), Missionsspezialist Nicholas Patrick (1. Raumflug), Missionsspezialist Joan Higginbotham (1. Raumflug), Missionsspezialistin Christer Fuglesang (1. Raumflug), Missionsspezialist (/) Polansky und Curbeam waren bereits bei STS-98 gemeinsam im All gewesen. ISS-Crew Hinflug ISS-Expedition 14/ISS-Expedition 15 Sunita Williams (1. Raumflug), Bordingenieurin ISS-Crew Rückflug ISS-Expedition 13/ISS-Expedition 14 Thomas Reiter (2. Raumflug), Bordingenieur / Missionsüberblick Hauptnutzlast der Mission war die Gitterstruktur P5 mit einer Masse von 1,9 Tonnen, die während des ersten Weltraumausstiegs an der Internationalen Raumstation montiert wurde. Daneben wurden bei zwei weiteren Außenbordeinsätzen die Energiesysteme der Station neu konfiguriert, um die provisorische Verkabelung in den von den Ingenieuren geplanten Endzustand zu versetzen. Dadurch konnten die im September 2006 montierten Solarzellen des P3/P4-Moduls an die stationseigene Energieversorgung angeschlossen werden. Während eines vierten Ausstiegs, der zusätzlich angeordnet wurde, reparierten zwei Astronauten ein verklemmtes Sonnenpaneel, das sich nicht automatisch einfahren ließ. Die Raumfähre brachte 2,4 Tonnen Ausrüstung (davon 1,9 Tonnen im Spacehab) zur Station und nahm 1,7 Tonnen nicht mehr benötigter Teile (abgeschlossene Experimente, Ausrüstung, Müll) wieder zurück zur Erde. Weiterhin kam es zu einer Wachablösung: Der deutsche Raumfahrer Thomas Reiter wurde von der Amerikanerin Sunita Williams abgelöst und kehrte nach seinem halbjährigen Aufenthalt auf der ISS wieder aus der Umlaufbahn zurück. Mit den fünf Raumflugneulingen von STS-116 stieg die Zahl der Menschen, die in den Weltraum geflogen sind, auf 454. Vorbereitungen Kurz nach Ende der letzten Discovery-Mission, STS-121, wurde der Orbiter auf Schäden untersucht. Dabei wurden 93 Beschädigungen im Hitzeschild ausfindig gemacht, von denen elf größer als 2,5 Zentimeter waren. Nachdem die Frachtraumtüren geöffnet und das Logistikmodul Leonardo entfernt wurde, nahm man weitere Inspektionen an der Raumfähre vor, die von der Spitze bis zu den Haupttriebwerken reichten. Diese wurden zur besseren Untersuchung abmontiert. Außerdem wurden im August 2006 eine Brennstoffzelle, ein Heizelement und die Hilfskraftanlage Nr. 3 ausgetauscht. Zudem führte man einige Nutzlastverladungstests mit dem Spacehab-Frachtmodul durch, das am 3. November 2006 in den Nutzlastcontainer verladen und vier Tage später zur Startrampe gefahren wurde. In der Montagehalle (VAB) wurde nach einigen Tests am 13. Oktober der Außentank, der zuvor am 21. September mit einem Schiff im Kennedy Space Center (KSC) eintraf, zwischen die beiden Feststoffraketen montiert. Am 1. November wurde der Orbiter in das VAB überführt, in dem er mit dem Außentank sowie den zwei Boostern verbunden wurde. Die Discovery wurde schließlich am 9. November zur Startrampe 39B gerollt. Die 6,8 Kilometer lange Strecke wurde in achteinhalb Stunden zurückgelegt. Unter den Augen tausender Schaulustiger wurde am 17. November 2006 eine Shuttle-Feststoffrakete der aktuellen Konfiguration in einem Teststand des Herstellers in Utah erprobt. Der Booster wurde um 01:00 UTC gezündet (18:00 Uhr Ortszeit am 16. November). Die NASA hielt diesen zweiminütigen Probelauf für notwendig, weil der Orbiter erstmals seit dem Absturz der Columbia einen Nachtstart unternehmen sollte. Mit 31 Kameras und 658 Datenkanälen wurde der Abbrand dokumentiert, um Vergleichswerte zu erhalten, die mit den Bildern und Messungen von STS-116 abgeglichen werden konnten. Ende November wurde am KSC die traditionelle zweitägige Flugbereitschaftsabnahme abgehalten. Im Anschluss an dieses sogenannte Flight Readiness Review, an dem die für den Flug Verantwortlichen teilnahmen, wurden am 29. November alle Systeme des Space Shuttles für startbereit erklärt. Gleichzeitig wurde der vorläufige Starttermin, der 8. Dezember, bestätigt. Missionsverlauf Erster Startversuch 31 Stunden nachdem die siebenköpfige Besatzung in Florida eintraf, begann am 5. Dezember 2006 der Countdown für diese Mission. Zunächst gingen die NASA-Meteorologen mit einer 70-prozentigen Wahrscheinlichkeit davon aus, dass die Wetterbedingungen für einen Start am Morgen des 8. Dezember akzeptabel seien. Dann zog eine Kaltfront auf und das Wetter verschlechterte sich. Am 6. Dezember hatten zwei technische Probleme zwischenzeitlich die NASA-Verantwortlichen beschäftigt: Ein Test lieferte ungewöhnliche Ergebnisse und warf die Frage auf, ob bei den beiden Feststoffraketen die richtigen Segmentverbindungskleber verwendet wurden. Außerdem war eine kurzzeitige Spannungsspitze in den die Raumfähre auf der Startrampe mit Energie versorgenden Stromleitungen aufgetreten. Beide Vorkommnisse wurden geprüft und als unbedenklich eingestuft. Obwohl die NASA für den 8. Dezember nur noch eine 40-Prozent-Chance angab, dass der Start nicht durch tiefhängende Wolken und Regenschauer im Startgebiet gefährdet würde, setzte man den Countdown fort. Die Wolkendecke blieb jedoch geschlossen, weshalb der Startversuch in der letzten Minute abgebrochen werden musste, denn bei einem Notfall während des Aufstiegs hätte die schlechte Sicht eine Rückkehr der Raumfähre zum Startplatz verhindert. Im planmäßigen Countdown-Hold bei T-9 Minuten, der für eine letzte Prüfung der Startkriterien genutzt wird, wurde entschieden, bei anhaltend schlechter Wolkenlage einen weiteren Halt bei T-5 Minuten einzulegen. Innerhalb dieser zusätzlichen Haltephase kam es zu keiner Wetterbesserung und das Ende des Startfensters wurde erreicht. Der Start wurde um 2:36 UTC abgebrochen. Weil die Meteorologen der Raumfahrtbehörde für den nächsten Tag eine 90-prozentige Wahrscheinlichkeit für einen erneuten Startabbruch vorhersagten, setzte die NASA eine Verschiebung von 48 Stunden an. Für den 10. Dezember war der Wetterbericht allerdings nur etwas besser. Start Mit zweitägiger Verspätung brach die Discovery beim zweiten Startversuch am 10. Dezember 2006 in Richtung Internationale Raumstation auf. Obwohl die Wetteraussichten zunächst nur zu 30 Prozent von günstigen Bedingungen ausgingen und die Regenwahrscheinlichkeit bei 20 Prozent lag, wurde der Countdown am Vortag um 8:52 UTC bei der T-11-Stunden-Marke wieder aufgenommen. Wegen nicht näher bezeichneter Probleme mit dem RSS-Zugangsgerüst konnte diese sogenannte Rotating Service Structure erst mit zehn Stunden Verspätung vom Orbiter weggeschwenkt werden. Das brachte den Zeitplan durcheinander und führte dazu, dass die Betankung des rostbraunen Außentanks ebenfalls erst mit einer zweistündigen Verzögerung eingeleitet werden konnte. Durch die eingebauten Pufferzeiten, Holds genannt, war genügend Spielraum im Countdown vorhanden, alle Arbeiten bis zum geplanten Startzeitpunkt beenden zu können. Neben dem Wetter am Startplatz in Florida mussten die meteorologischen Faktoren auch auf den Notlandeplätzen in Spanien und Frankreich beachtet werden. Beim ersten Startversuch herrschten an den drei Ausweichorten ähnlich schlechte Witterungsverhältnisse wie am Kennedy Space Center. Diesmal sah die Situation in Europa besser aus. Dafür machten der NASA starke Seitenwinde an der Shuttle Landing Facility Sorgen, die nahe am zulässigen Limit lagen. Da sich das Wetter in den letzten Stunden vor dem Start besserte und die NASA-Meteorologen schließlich sogar 70 Prozent für eine gute Wetterlage prophezeiten, konnte die Discovery pünktlich um 01:47:35 UTC abheben. Es war der erste Nachtstart seit vier Jahren. Inspektion und Kopplung Der erste volle Arbeitstag im All begann für die Besatzung 14 Stunden nach dem Start. Auf dem Programm stand die seit STS-114 obligatorische Überprüfung des empfindlichen Hitzeschildes. Mit Hilfe des OBSS-Inspektionsarms, der mit dem Roboterarm des Shuttles verbunden wird und über Präzisionskameras verfügt, wurden die sensiblen Bereiche des Orbiters untersucht. Nacheinander wurden die rechte Tragfläche, die Nase und der linke Flügel untersucht. Erste Auswertungen der NASA-Ingenieure in Houston ergaben keinen Hinweis auf Beschädigungen der Hitzeschutzkacheln. Am 11. Dezember um 22:12 UTC erfolgte dann das Andocken an die Internationale Raumstation (ISS). Zuvor führte Shuttle-Kommandant Mark Polansky das „Purzelbaum-Rückwärts-Manöver“ durch, um von der ISS-Besatzung die gesamte Unterseite des Orbiters fotografieren zu lassen, um auch mögliche Kleinstschäden am Hitzeschutzschild aufzudecken. Kurz nach der Begrüßung der beiden Besatzungen ordnete die Bodenkontrolle eine Änderung des Flugplans an. Ein Beschleunigungsmesser in der Steuerbordtragfläche hatte gegen 10:30 UTC, zwölf Stunden vor der Kopplung, während die Shuttle-Besatzung schlief, einen möglichen Einschlag angezeigt. Mit dem Roboterarm der ISS nahmen die Astronauten deshalb eine zusätzliche visuelle Inspektion der linken Flügelvorderkante vor. Der Verdacht einer Beschädigung wurde aber nicht bestätigt. Erst danach konnte die Hauptnutzlast der Discovery mit dem Shuttle-Greifarm aus der Frachtluke gehoben und das P5-Verbindungsstück an den ISS-Arm übergeben werden. Arbeiten auf der ISS Der 12. Dezember (vierter Flugtag) stand ganz im Zeichen des ersten Weltraumausstiegs (EVA) dieser Mission. US-Astronaut Bob Curbeam und sein schwedischer Kollege Christer Fuglesang verließen die Raumstation um 20:31 UTC über die amerikanische ISS-Luftschleuse Quest. Zur Vorbereitung dieser EVA gehörte das während des letzten Shuttle-Fluges praktizierte „Kampieren“, wobei die beiden Raumfahrer die Nacht in der Luftschleuse verbrachten (Näheres im STS-115-Artikel). Nachdem die Schutzverkleidung von der P5-Struktur entfernt wurde, manövrierte der ISS-Greifarm das neue Bauteil an seine vorgesehene Position, vorbei an der bereits vorhandenen Struktur der Raumstation, die nur wenig Spielraum ließ. Dabei konnten Suni Williams und Joanie Higginbotham, das „Bedienungspersonal“ des Roboterarms, nur auf Zuruf agieren, denn sie hatten kein Videobild zur Verfügung. Dann schraubten Fuglesang und Curbeam den 1,9-Tonnen-Aluminiumadapter am P4-Solarmodul fest. Anschließend schlossen die beiden „Aussteiger“ die Strom- und Datenverbindungen zwischen P4 und P5 an und wechselten am S1-Element eine defekte Videokamera aus. Der Einsatz endete nach 6 Stunden und 36 Minuten. Während der EVA teilte die Bodenkontrolle den Astronauten mit, dass die Auswertung der vom Hitzeschild angefertigten Aufnahmen abgeschlossen wurde und keinen Hinweis auf Schäden ergab. Deshalb müssten keine zusätzlichen Untersuchungen angesetzt werden. Für den 13. Dezember stand das stufenweise Einfahren eines Solarflügels auf dem Programm. Während sich Fuglesang und Curbeam von ihrem ersten Außenbordeinsatz ausruhten, sollten die anderen Astronauten eine Hälfte des P6-Sonnenkollektors zusammenfalten. Das Modul war mit STS-97 im Dezember 2000 zur ISS gebracht worden und liefert seither allein den gesamten Strom für die Raumstation. Es wurde provisorisch am Z1-Element montiert, wobei die Solarzellenflächen parallel zum „Rückgrat“ der ISS angebracht sind. Damit versperrt das P6-Backbordpaneel den im 90-Grad-Winkel dazu angebrachten Flügeln des P4-Moduls den Weg, wenn diese sich zur Sonne ausrichten müssen. Der 35 Meter lange Sonnenflügel 4B sollte ab 18:30 UTC in drei Schritten zusammengefaltet werden. Obwohl man nicht wusste, wie sich das Material nach sechs Jahren im All verhalten würde, wurde die NASA mit mehr Problemen konfrontiert als erwartet. Der erste Schritt – das Zusammenfalten von 3 der insgesamt 31 Streifen – verlief wie vorgesehen. Danach verkanteten sich die je einen Meter langen „Jalousienlamellen“ immer wieder. Das Kontrollzentrum ließ den Flügel mehrmals aus- und einrollen, konnte jedoch das alte Segel nicht dazu bringen, sich vollständig in den Transportkanister zurückzuziehen. Houston brach nach sechseinhalb Stunden und 44 Versuchen das Vorhaben ab und ließ den Sonnenflügel 4B mit 14 eingezogenen Streifen halb ausgefahren zurück. Nach Angaben der NASA hätte dies aber ausgereicht, dem mit der letzten Shuttle-Mission im September installierten Sonnenflügel genug Platz zum Schwenken zu geben, um sich auf die Sonne auszurichten. Anschließend wurde der mit STS-115 angelieferte Kollektor P4 erstmals bewegt und das Kühlsystem aktiviert. Christer Fuglesang und Robert Curbeam kamen am sechsten Flugtag (14. Dezember) mit den Vorbereitungen für ihren zweiten Außenbordeinsatz so gut voran, dass sie die Luftschleuse eine halbe Stunde früher als geplant verlassen konnten. Um 19:41 UTC schwebten die beiden Raumfahrer aus Quest heraus und begannen mit der komplexen Aufgabe, das Stromleitungsnetz der ISS neu zu verkabeln. Zuvor mussten Teile der Raumstation von der Energieversorgung getrennt werden. Curbeam und Fuglesang begaben sich zuerst zum S0-Segment, das sich über dem Modul Destiny befindet. Sie hatten mit ihren klobigen Handschuhen 19 Stecker zu entfernen und 17 von ihnen mit anderen Buchsen zu verbinden, um die gewünschten Schaltungen an den Stromleitungen 2 und 3 herzustellen. Die Bodenkontrolle zeigte sich erleichtert, als sich nach den „Kabelarbeiten“ zwei der vier MBSU-Verteiler im S0-Element problemlos aktivieren ließen. Es war das erste Mal, seit die Struktur im April 2002 ins All gebracht wurde, dass die MBSUs eingeschaltet wurden. Kurz darauf nahmen die Techniker in Houston den dazugehörigen Kühlkreislauf in Betrieb, um die von den MBSUs produzierte Wärme abzuleiten. Auch dieser Programmpunkt funktionierte einwandfrei. Anschließend setzten die zwei „Elektriker“ die beiden ISS-Transportkarren um, damit an der Steuerbordseite der Raumstation Platz für das mit der nächsten Shuttle-Mission angelieferte S3/S4-Modul geschaffen wird. Die beiden Astronauten absolvierten ihr Arbeitspensum so zügig, dass die zweite EVA der Mission mit genau fünf Stunden um 55 Minuten kürzer war als vorgesehen. Wegen des missglückten Versuchs, das backbordseitige Solarpaneel des P6-Moduls zwei Tage zuvor einzurollen, hatte die Flugleitung der NASA für den 15. Dezember (siebter Flugtag) das widerspenstige Sonnensegel kurzfristig auf das Arbeitsprogramm gesetzt. Mit leichten Rüttelbewegungen wurde den verkanteten Lamellen zu Leibe gerückt. Astronauten hatten bereits früher beobachtet, dass sich beim täglichen Fitnesstraining verursachte Schwingungen in den filigranen Sonnenflügeln fortsetzten. Was bisher als unerwünschter Nebeneffekt angesehen wurde, könnte jetzt zum Vorteil genutzt werden. Durch Aktivieren der Ausrichtmotoren des Solarzellenauslegers wurde dieser je zehn Grad um dessen Längsachse hin- und herbewegt. Dadurch sollten sich die „Knitterfalten“ im Paneel glätten und verklemmte Spanndrähte richten. Diese wurden inzwischen von den NASA-Ingenieuren als Hauptursache ausgemacht, dass der Flügel sich nicht einrollen lässt. Der erste Wackeltest war um 13:49 UTC, gefolgt von weiteren. Als der erhoffte Erfolg ausblieb, wurde Thomas Reiter aktiv und hüpfte gegen 18:00 UTC auf dem IRED-Trainingsgerät (Interim Resistive Exercise Device). Und obwohl sich der Deutsche im Unity-Modul befand, direkt unterhalb des Paneels 4B, konnte auch er keine Wirkung erzielen. Nach weiteren Versuchen, den Flügel über seine Längsachse wackeln zu lassen, aktivierte die Bodenkontrolle den Ausziehmechanismus des Flügels, um zu sehen, ob sich die verkanteten Solarzellen jetzt glätten ließen. Dabei schien es, als sei ein Dutzend Lamellen miteinander verklebt, und der Versuch wurde abgebrochen. Schließlich wurde entschieden, falls während des dritten Ausstiegs Zeit bleibe, würden sich die Astronauten mit dem Solarpaneel befassen. Ursprünglich hatte die NASA vermeiden wollen, zusätzliche Arbeiten in die geplanten EVAs zu integrieren, weil das Verlegen der Stromleitungen anstrengend genug sei. Während des zweiten Ausstiegs waren die Astronauten jedoch so gut vorangekommen, dass man sich umentschied. Der dritte Außenbordeinsatz der Mission vollendete am achten Flugtag (16. Dezember) die zwei Tage zuvor begonnenen Arbeiten am Stromversorgungssystem der Raumstation. Waren dabei die ISS-Stromleitungen 2 und 3 umkonfiguriert worden, nahmen diesmal Robert Curbeam und Sunita Williams die Leitungen 1 und 4 in Betrieb. Dazu hatten die Astronauten zwei Stunden vor Beginn der EVA wieder Teile der Station abgeschaltet. Um 19:25 UTC verließ Curbeam die Luftschleuse Quest, gefolgt von Williams, die mit den Füßen voran hinausschwebte. Wie beim ersten Teil der Energienetzerweiterung hatten die Astronauten in knapp zwei Stunden am S0-Segment die MBSUs mit den Solarflächen verbunden. Gleich danach wurden die abgeschalteten Bereiche der ISS sowie der Kühlkreislauf aktiviert. Nächste Aufgabe war die Montage eines Mikrometeoritenschilds am dritten Kopplungsadapter. Dieser als Service Module Debris Panel (SMDP) bezeichnete Schutz war auf einer Trägerstruktur im Frachtraum der Discovery befestigt. Die ISS-Bewohner sollten das wegen seines Aussehens „Weihnachtsbaum“ genannte SMDP bei einem späteren Weltraumausstieg an seiner endgültigen Stelle am russischen Modul Swesda installieren. Erneut arbeiteten Williams und Curbeam so zügig, dass sie in den letzten drei Stunden des Ausstiegs versuchen konnten das klemmende Solarpaneel 4B zu richten. Rund drei Dutzend Mal stießen sie gegen den Solarzellenbehälter und wackelten am Mast des Segels. Lamellenweise wurde dann ein Zusammenfalten versucht, was aber nur bei sechs Streifen gelang, bevor der Außeneinsatz um 2:56 UTC am nächsten Morgen endete. Mit 7 Stunden und 31 Minuten dauerte der Einsatz fast anderthalb Stunden länger als veranschlagt. Noch während des Ausstiegs entschied die NASA, zwei Tage darauf eine vierte EVA in den Flugplan aufzunehmen. Einzige Aufgabe des Curbeam-Fuglesang-Duos sollte das komplette Einfalten des Paneels sein. Gleichzeitig wurde die Landung der Discovery um 24 Stunden verschoben. Nach einem Tag, der gefüllt war mit Absprachen von Reparaturabläufen, dem Umpacken der letzten Ausrüstungsgegenstände und der Vorbereitung auf den letzten Außenbordeinsatz der Mission, begannen Robert Curbeam und Christer Fuglesang am 18. Dezember (zehnter Flugtag) um 19:00 UTC den Ausstieg. Bis auf zwei Männer der Besatzung von ISS-Expedition 14, die Bordingenieure Michail Tjurin und Thomas Reiter, waren alle Astronauten in den „Rettungseinsatz“ eingebunden: Sunita Williams und Joan Higginbotham bedienten den ISS-Greifarm, Michael López-Alegría und Nicholas Patrick steuerten die Motoren des Flügels, William Oefelein achtete auf den Zeitplan und Mark Polansky dokumentierte das Geschehen. Curbeam arbeitete vom ISS-Roboterarm aus, der zuvor in das „Operationsgebiet“ gebracht wurde. Nach einer eingehenden visuellen Inspektion, bei der er feststellte, dass die Abstandhalter für die Führungsseile Abnutzungserscheinungen zeigten, versuchte er mit einem isolierten Schaber, der eigentlich für die Reparatur von Hitzeschutzkacheln an Bord ist, diese Abstandhalter zu reinigen. Eine Stunde später hatte er die erste Säuberungsaktion beendet. Dann aktivierten Patrick und López-Alegría den Rollmotor, um das Paneel 4B um eine Lamelle einzufahren. Fuglesang rüttelte dabei unterstützend am Segel, um ein Verheddern der Drähte zu verhindern. Anschließend wurde diese Prozedur wiederholt: Curbeam putzte, Fuglesang wackelte, dann wieder bewegten beide das Paneel oder lockerten die Drähte. Um 23:54 UTC, nach viereinhalb Stunden, hatten sie es geschafft – alle 31 Lamellen waren zusammengefaltet im Kasten. Zuletzt ragte noch ein Draht aus dem Behälter, der sich nicht korrekt eingerollt hatte. Curbeam konnte aber auch dieses Problem lösen. Er und Fuglesang beendeten die EVA nach insgesamt 6 Stunden und 38 Minuten. (Beim nächsten Shuttle-Flug sollte der andere Flügel eingezogen werden. Für den Herbst 2007 war die Umsetzung des Solarmoduls an seine endgültige Position an der äußersten ISS-Backbordseite sowie das erneute Entfalten der zwei Flügel geplant.) Rückkehr Am elften Missionstag (19. Dezember) verabschiedeten sich die beiden Besatzungen nach einer Woche schwieriger Arbeiten voneinander und schlossen um 19:42 UTC die Luken. Nach den letzten Überprüfungen dockte die Discovery nach genau acht Tagen um 22:10 UTC von der Raumstation ab. Diese war für das nächste halbe Jahr das Zuhause für die Amerikanerin Suni Williams, die mit der US-Raumfähre eintraf. Dafür kehrte der Deutsche Thomas Reiter, der seit Juli an Bord der ISS geforscht hatte, wieder zur Erde zurück. Reiter flog als „halber NASA-Astronaut“ heim, denn beim Abschied wurde er vom ISS-Kommandanten Mike López-Alegría zum Ehrenmitglied des US-Astronautenkorps ernannt. Für den 20. Dezember (12. Flugtag) stand die letzte Inspektion des Hitzeschilds der Discovery auf dem Programm, obwohl es Überlegungen der NASA gegeben hatte, wegen der Flugverlängerung auf diese zu verzichten. Gegen 17:00 UTC begann die mehrstündige Prozedur der eingehenden Überprüfung der Hitzeschutzkacheln. Wie zu Beginn der Mission tastete der OBSS-Inspektionsarm nacheinander den Steuerbordflügel, die Orbiternase und die linke Tragfläche ab. Hinweise auf Schäden wurden nicht gefunden. Letzter Programmpunkt des Tages war das Aussetzen von zwei Minitrabanten, die auf einer Struktur im Frachtraum der Raumfähre untergebracht waren: MEPSI (MicroElectromechanical system-based PicoSat Inspector) wurde am 21. Dezember um 0:19 UTC ausgesetzt und besteht aus zwei über ein Seil miteinander verbundenen würfelförmigen Kleinsatelliten – MEPSI 2A und 2B, Seitenlänge etwa zehn Zentimeter – von zusammen 3,5 Kilogramm (COSPAR-Bezeichnung 2006-055B). Er sollte unter Beweis stellen, dass mit ihm eine billige Wartung und Überwachung von anderen Satelliten möglich ist. Anderthalb Stunden später, um 1:58 UTC, folgte RAFT (RAdar Fence Transponder). Dabei handelt es sich um einen Amateurfunksatelliten (Navy-OSCAR 60), der von Studenten der US-Marineakademie entwickelt wurde (2006-055C). Gleichzeitig wurde MARScom (Military Affiliate Radio System communications) ausgesetzt (2006-055D). Auch diese beiden Satelliten haben eine Würfelform – Seitenlänge etwa 13 Zentimeter – und eine Gesamtmasse von 7 Kilogramm. Neben den Landevorbereitungen wurde am 21. Dezember ein weiterer Doppelsatellit ausgesetzt. Der Start erfolgte um 18:23 UTC von einer kanonenförmigen Vorrichtung über einen Federmechanismus. ANDE (Atmospheric Neutral Density Experiment) wurde vom US-Marineforschungslabor entwickelt und besteht aus zwei kleinen Trabanten: ANDE-FCal (Fence CALibration, OSCAR 62, 2006-055J) mit einer Masse von 75 Kilogramm und ANDE-MAA (Mock ANDE Active, OSCAR 61, 2006-055F) mit 50 Kilogramm sollen die atmosphärische Dichte und Zusammensetzung in Umlaufbahnen niedriger Höhe ermitteln. Durch die 24-stündige Verschiebung der Landung verfügte die NASA nur noch über einen Reservetag, den 23. Dezember. Da man bereits am Vortag eine Landung versuchen wollte, wurden alle drei CONUS-Landeplätze (CONtinental United States) in Bereitschaft versetzt: das Kennedy Space Center in Florida, die Edwards Air Force Base in Kalifornien und White Sands in New Mexico. Die Witterungsverhältnisse für die West- (Seitenwind) und die Ostküste (Regen) sahen so schlecht aus, dass man sogar White Sands hinzuzog, wo zuletzt vor 24 Jahren ein Shuttle landete. Und obwohl die NASA-Meteorologen nur für New Mexico günstiges Wetter vorhersagten, behielt sich die Flugleitung alle Optionen offen und entschied erst im letzten Moment, welcher Landeplatz genutzt werden sollte. Regen und tiefhängende Wolken führten am 22. Dezember dazu, dass die für 20:56 UTC geplante erste Landemöglichkeit des 14. Missionstages für Florida zwei Stunden zuvor abgesagt werden musste. Nach einer „Ehrenrunde“ der Discovery war die Regenfront südlich des KSC weitergezogen und die NASA gab grünes Licht für eine Landung. Mit dem Zünden der Bremstriebwerke wurde um 21:27 UTC der Wiedereintritt eingeleitet (Deorbit Burn). Die Landung erfolgte planmäßig um 22:32:00 UTC, als die Raumfähre zum Zeitpunkt des Sonnenuntergangs mit dem Hauptfahrwerk auf Landebahn 15 des KSC aufsetzte. Nach den Sicherungsarbeiten wurde die Discovery einige Stunden später in die Orbiter Processing Facility zur Vorbereitung für ihren nächsten Raumflug (STS-120) gefahren. Fazit Diese Mission gehört zu den komplexesten in der Geschichte der bemannten Raumfahrt. Während der Mission wurde der Ausbau der ISS durch den Anschluss der neuen Sonnensegel P3/4 einen wichtigen Schritt vorangeführt. Die beim Einziehen des Solarpaneels P6 aufgetretenen Probleme konnten durch einen zusätzlichen Ausstieg des US-Amerikaners Curbeam und des Schweden Fuglesang in Zusammenarbeit mit der Flugleitung in Houston gelöst werden. Es war das erste Mal, dass ein Raumfahrer während einer Space-Shuttle-Mission vier Mal und ein Europäer drei Mal in den freien Weltraum ausstieg. Mit STS-116 flogen mit Thomas Reiter und Christer Fuglesang zwei ESA-Astronauten zur Erde zurück. Siehe auch Liste der Space-Shuttle-Missionen Liste der bemannten Raumflüge Weblinks NASA: Offizielle Missionsseite (englisch) NASA: Fotogalerie der Mission (englisch) Videozusammenfassung mit Kommentaren der Besatzung (englisch) Space Science Journal: Mission STS-116 Quellen Discovery (Raumfähre) NASA Deutsche Raumfahrt Schwedische Raumfahrt Europäische Weltraumorganisation Raumfahrtmission 2006
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Fürstenenteignung
Im Streit um die Fürstenenteignung in der Weimarer Republik ging es um die Frage, was mit dem bisher nur beschlagnahmten Vermögen der deutschen Fürstenhäuser geschehen solle, die im Zuge der Novemberrevolution von 1918 politisch entmachtet worden waren. Diese Auseinandersetzungen begannen bereits in den Revolutionsmonaten. Sie dauerten in den Folgejahren an und gewannen durch Gerichtsverfahren zwischen einzelnen Fürstenhäusern und den jeweiligen Ländern des Deutschen Reiches an Intensität, da die Gerichte die Schadensersatzforderungen der Fürsten bestätigten. Höhepunkte des Konflikts waren das erfolgreiche Volksbegehren im März 1926 und der gescheiterte Volksentscheid zur entschädigungslosen Enteignung am 20. Juni 1926. Das Volksbegehren war von der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) initiiert worden. Zögerlich schloss sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) an. Nicht nur Wähler der KPD und der SPD befürworteten die entschädigungslose Enteignung. Auch viele Anhänger der Deutschen Zentrumspartei (Zentrum) und der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) bejahten sie. In bestimmten Regionen Deutschlands unterstützten auch Wähler konservativ-nationaler Parteien diese Gesetzesinitiative. Man versprach sich von ihr die Verteilung von Grund und Boden an Bauern, Wohnraum, Unterstützung für Kriegsversehrte und andere soziale Maßnahmen. Adelsverbände, die Kirchen der zwei großen Konfessionen, großagrarische und industrielle Interessenverbände sowie die Parteien und Verbände des politisch rechten Lagers traten für die Fürsten ein. Sie trugen durch Boykottaufrufe schließlich zum Misserfolg des Volksentscheids bei. An die Stelle der entschädigungslosen Enteignung traten individuelle Abfindungsverträge. Sie regelten die Verteilung der Vermögensmassen zwischen den jeweiligen Ländern und den ehemals herrschenden Fürstenhäusern. In Politik- und Geschichtswissenschaft werden die Ereignisse unterschiedlich gedeutet. Während zum Beispiel die parteioffizielle Geschichtswissenschaft der DDR vor allem das Handeln der damaligen KPD positiv bewertete, machen bundesdeutsche Historiker auf die erheblichen Belastungen aufmerksam, die sich aus den plebiszitären Initiativen für die Zusammenarbeit der SPD mit den republikanischen Parteien des Bürgertums ergaben. Daneben wird auch auf die Generationenkonflikte hingewiesen, die sich in dieser politischen Auseinandersetzung zeigten. Gelegentlich gilt die Kampagne für die kompensationslose Enteignung als positives Beispiel direkter Demokratie. Historischer Kontext und Initiative Entwicklung bis Ende 1925 Die Novemberrevolution beendete 1918 die Herrschaft der regierenden Fürstenhäuser in Deutschland. Diese sahen sich gezwungen abzudanken, taten dies angesichts der neuen politischen Gesamtsituation freiwillig oder wurden gegen ihren Willen entmachtet. Ihr Vermögen wurde beschlagnahmt, sie wurden jedoch – im Unterschied zur Situation in Deutschösterreich – nicht sofort enteignet. Auf Reichsebene fanden keine Beschlagnahmungen statt, denn es gab keinen entsprechenden Besitz. Darum verzichtete das Reich auf eine reichsweit einheitliche Regelung und überließ es den Ländern, wie diese die Konfiskationen jeweils regeln wollten. Überdies fürchtete der Rat der Volksbeauftragten, mit solchen Enteignungen Begehrlichkeiten der Siegermächte zu nähren, die auf enteignete, frühere fürstliche Vermögensmassen Reparationsansprüche hätten stellen können. Die Weimarer Verfassung von 1919 garantierte mit Artikel 153 einerseits das Eigentum. Andererseits hatte sie mit diesem Artikel die Möglichkeit eröffnet, Enteignungen vorzunehmen, wenn dies dem Allgemeinwohl diente. Eine solche Enteignung musste auf gesetzlicher Basis erfolgen und die Enteigneten waren „angemessen“ zu entschädigen, soweit nicht ein Reichsgesetz etwas anderes vorsah. Für Streitfragen sah Artikel 153 den Rechtsweg vor. Die Verhandlungen der einzelnen Länderregierungen mit den Fürstenhäusern zogen sich aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen zur Entschädigungshöhe in die Länge. Auch rangen die Verhandlungsparteien oft um die Klärung der Frage, was den vormals regierenden Fürsten als Privateigentum zustand, im Unterschied zu solchen Besitztümern, auf die diese nur in ihrer Eigenschaft als Landesherren Zugriff gehabt hatten (Domänenfrage). Einige Fürstenhäuser forderten mit Blick auf Artikel 153 der Verfassung überdies die vollständige Herausgabe ihres früheren Eigentums sowie Ausgleichszahlungen für entgangene Vermögenserträge. Verkompliziert wurde die Lage durch die fortschreitende Geldentwertung im Zuge der Inflation in Deutschland, die den Wert von Entschädigungszahlungen minderte. Einzelne Fürstenhäuser fochten darum die Verträge an, die sie zuvor mit den Vertragspartnern auf Länderseite abgeschlossen hatten. Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Streitobjekte war erheblich. Insbesondere hing die Existenz der kleinen Länder davon ab, ob es ihnen gelang, die wesentlichen Vermögensteile zu erstreiten. In Mecklenburg-Strelitz beispielsweise machten allein die umstrittenen Ländereien 55 Prozent der Staatsfläche aus. In anderen kleineren Freistaaten lag dieser Anteil bei immerhin 20 bis 30 Prozent. In Großstaaten wie Preußen oder Bayern war der Prozentanteil umstrittener Landflächen dagegen kaum von Bedeutung. Die absoluten Zahlen erreichten dort dennoch Dimensionen, die an die Größe von Herzogtümern anderswo heranreichen konnten. Die Forderungen, welche die Fürstenhäuser insgesamt an die einzelnen Länder stellten, addierten sich auf eine Summe von 2,6 Milliarden Mark. Bei gerichtlichen Auseinandersetzungen entschieden die überwiegend konservativ und monarchistisch eingestellten Richter wiederholt im Sinne der Fürstenhäuser. Für öffentlichen Unmut sorgte vor allem ein Urteil des Reichsgerichts vom 18. Juni 1925. Es hob ein Gesetz auf, das die von der USPD dominierte Landesversammlung von Sachsen-Gotha am 31. Juli 1919 zum Zweck der Einziehung des gesamten Domanialbesitzes der Herzöge von Sachsen-Coburg und Gotha erlassen hatte. Dieses Landesgesetz war in den Augen der Richter nicht verfassungsgemäß. Sie sprachen dem Fürstenhaus den gesamten Land- und Forstbesitz wieder zu. Der Gesamtwert dieses richterlich zurückgeführten Vermögens belief sich auf 37,2 Millionen Goldmark. Oberhaupt des Fürstenhauses war damals Carl Eduard Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha, ein erklärter Gegner der Republik. Auch Preußen verhandelte lange mit dem Haus Hohenzollern. Ein erster Einigungsversuch scheiterte 1920 am Widerstand der sozialdemokratischen Landtagsfraktion, einem zweiten widersprachen 1924 die Hohenzollern. Das preußische Finanzministerium legte am 12. Oktober 1925 einen neuen Vertragsentwurf vor, der in der Öffentlichkeit jedoch heftig kritisiert wurde, weil vorgesehen war, ca. drei Viertel des umstrittenen Grundbesitzes an das Fürstenhaus zurückzugeben. Gegen diesen Vergleich stemmte sich nicht nur die SPD, sondern auch die DDP, die sich damit gegen ihren eigenen Finanzminister Hermann Höpker-Aschoff wandte. In dieser Situation legte die DDP dem Reichstag am 23. November 1925 einen Gesetzentwurf vor. Dieser sollte die Länder ermächtigen, in den Auseinandersetzungen mit den ehemaligen Fürstenhäusern Landesgesetze zur Regelung der Vermögensstreitigkeiten zu verabschieden. Der Rechtsweg gegen die Inhalte dieser Landesgesetze sollte ausdrücklich ausgeschlossen werden. Die SPD hatte gegen diesen Gesetzentwurf der DDP nur wenige Einwände, hatte sie doch selbst 1923 einen ganz ähnlichen Gesetzentwurf entwickelt. Initiative für ein Volksbegehren Zwei Tage später, am 25. November 1925, initiierte die KPD ebenfalls einen Gesetzentwurf. Dieser sah keinen Interessenausgleich zwischen den Ländern und den Fürstenhäusern vor, sondern eine entschädigungslose Enteignung. Die Ländereien sollten an Bauern und Pächter übergehen, Schlösser sollten zu Genesungsheimen umfunktioniert werden oder zur Linderung der Wohnungsnot dienen, das Barvermögen sollte schließlich Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen zukommen. Der Adressat dieses Gesetzentwurfs war weniger der Reichstag, wo ein solcher Antrag kaum die notwendige Mehrheit finden würde, sondern das Volk. Es sollte auf dem Weg eines Volksbegehrens seinen Willen zu einer radikalen Veränderung der Eigentumsverhältnisse zum Ausdruck bringen – zunächst bezogen auf den beschlagnahmten Fürstenbesitz. Den Kommunisten war bewusst, dass eine solche Gesetzesinitiative in einer Zeit attraktiv war, in der die Arbeitslosenzahlen stiegen, bedingt vor allem durch den deutlichen Konjunktureinbruch seit November 1925 und auch durch die so genannte Rationalisierungskrise. Außerdem war die Hyperinflation in frischer Erinnerung. Sie hatte gezeigt, welchen besonderen Wert immobile Vermögenswerte haben konnten, die hier zur Verteilung anstanden. Ganz im Sinne einer Einheitsfrontpolitik zielte die KPD-Initiative darauf ab, verloren gegangene Wähler zurückzugewinnen und möglicherweise auch Angehörige der Mittelschichten anzusprechen, die zu den Inflationsverlierern gehörten. Als Ausdruck einer solchen Strategie lud die KPD am 2. Dezember 1925 die SPD, den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB), den AfA-Bund, den Deutschen Beamten-Bund, das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und den Roten Frontkämpferbund ein, gemeinsam ein Volksbegehren auf den Weg zu bringen. Zunächst reagierte die SPD ablehnend. Das Bestreben der KPD, einen Keil zwischen die sozialdemokratischen „Massen“ und die als „Bonzen“ titulierten SPD-Führungskräfte zu treiben, erschien ihr allzu offensichtlich. Auch vor der parlamentskritischen Färbung eines Volksbegehrens und -entscheids wurde gewarnt. Ferner erblickte die Führung der SPD noch Möglichkeiten, die Streitfragen parlamentarisch zu lösen. Ein weiterer Grund für Reserven gegenüber der plebiszitären Initiative war ihre drohende Erfolglosigkeit. Es mussten mehr als die Hälfte aller Stimmberechtigten in Deutschland, also fast 20 Millionen Wähler, einem entsprechenden Volksentscheid zustimmen, sofern das in Frage stehende Gesetz verfassungsändernd war. KPD und SPD erreichten in der vorangegangenen Reichstagswahl vom 7. Dezember 1924 allerdings nur ca. 10,6 Millionen Stimmen. Nach dem Jahreswechsel 1925/26 drehte sich die Stimmung innerhalb der SPD. Gespräche über die Aufnahme von Sozialdemokraten in die Reichsregierung scheiterten im Januar endgültig, sodass sich die SPD von nun an wieder stärker auf Oppositionspolitik konzentrieren konnte. Auch aus diesem Grund wurde ein weiterer Gesetzentwurf abgelehnt, der im Kabinett Luther erarbeitet worden war. Dieser schließlich am 2. Februar vorgestellte Entwurf sah eine Verschiebung der Auseinandersetzung auf eine neu zu schaffende juristische Ebene vor. Unter dem Vorsitz des Reichsgerichtspräsidenten Walter Simons sollte ein Sondergericht ausschließlich für die Vermögensauseinandersetzungen zuständig werden. Revisionen von bereits geschlossenen Verträgen zwischen Ländern und ehemaligen Fürsten waren nicht vorgesehen. Gegenüber der parlamentarischen Initiative der DDP vom November 1925 war dies eine fürstenfreundliche Entwicklung. Diese Faktoren waren für die SPD-Spitze wichtig, aber nachrangig – der entscheidende Grund für den Stimmungsumschwung in der SPD-Führung war ein anderer: An der Basis der SPD zeigte sich eine deutliche Zustimmung für die Gesetzesinitiative der KPD. Die Parteileitung fürchtete mittlerweile erhebliche Einfluss-, Mitglieder- und Wählerverluste, wenn sie diese Stimmung ignorieren würde. Am 19. Januar 1926 rief der Vorsitzende der KPD, Ernst Thälmann, die SPD zur Mitarbeit im so genannten Kuczynski-Ausschuss auf. Dieser Mitte Dezember 1925 ad hoc gebildete Ausschuss aus dem Umkreis der Deutschen Friedensgesellschaft und der Deutschen Liga für Menschenrechte war nach dem Statistiker Robert René Kuczynski benannt und bereitete ein Volksbegehren zur Fürstenenteignung vor. Etwa 40 unterschiedliche pazifistische, linke und kommunistische Gruppierungen gehörten ihm an. Innerhalb dieses Ausschusses hatten die KPD und ihre Vorfeldorganisationen die größte Bedeutung. Die SPD lehnte noch am 19. Januar den KPD-Vorschlag zum Beitritt in den Kuczynski-Ausschuss ab und bat stattdessen den ADGB um vermittelnde Gespräche. Diese sollten mit dem Ziel geführt werden, dem Volk bei einem Volksbegehren zur Fürstenenteignung einen Gesetzesentwurf vorzulegen, hinter dem eine möglichst große Gruppe von politischen Befürwortern stand. Der ADGB entsprach dieser Bitte. Die von ihm moderierten Gespräche zwischen der KPD, der SPD und dem Kuczynski-Ausschuss begannen am 20. Januar 1926. Drei Tage später einigte man sich auf einen gemeinsamen Gesetzentwurf. Dieser sah „zum Wohl der Allgemeinheit“ die entschädigungslose Enteignung der ehemaligen Fürsten und ihrer Familienangehörigen vor. Am 25. Januar ging der Gesetzentwurf an das Reichsministerium des Innern mit der Bitte, rasch einen Termin für ein Volksbegehren anzusetzen. Das Ministerium legte die Durchführung des Volksbegehrens auf die Zeit vom 4. bis zum 17. März 1926 fest. Die Einheitsfronttaktik der Kommunisten ging bis dahin ausschließlich technisch auf – SPD und KPD hatten ein Abkommen über die Produktion und Verteilung von Einzeichnungslisten und Plakaten erstellt. Eine politische Einheitsfront lehnte die SPD nach wie vor scharf ab. Sie legte Wert darauf, alle Agitationsveranstaltungen zum Volksbegehren allein, also auf keinen Fall mit der KPD gemeinsam, durchzuführen. SPD-Ortsvereine wurden vor entsprechenden Avancen der KPD gewarnt oder gerügt, falls solche Angebote angenommen worden waren. Auch der ADGB hielt öffentlich fest, es gebe keine Einheitsfront mit den Kommunisten. Neben den Arbeiterparteien warben der ADGB, der Rote Frontkämpferbund und einige Persönlichkeiten, wie zum Beispiel Albert Einstein, Käthe Kollwitz, John Heartfield und Kurt Tucholsky für das Volksbegehren. Als Gegner des Vorhabens traten mit unterschiedlichem Engagement vor allem die bürgerlichen Parteien, der Reichslandbund und eine Vielzahl „nationaler“ Verbände sowie die Kirchen auf. Ergebnis des Volksbegehrens Das in der ersten Märzhälfte 1926 durchgeführte Volksbegehren „Enteignung der Fürstenvermögen“ unterstrich die Mobilisierungsfähigkeit der beiden Arbeiterparteien. Von den 39,4 Millionen Stimmberechtigten trugen sich 12,5 Millionen in die ausgelegten amtlichen Listen ein. Das Begehren übertraf damit das Quorum von 10 Prozent der Stimmberechtigten mehr als dreifach. Die Stimmenanzahl, die KPD und SPD bei der Reichstagswahl im Dezember 1924 erreicht hatten, war mit dem Volksbegehren um fast 18 Prozent überboten. Besonders auffällig war die starke Unterstützung in Hochburgen des Zentrums. Die Zahl der Befürworter des Volksbegehrens lag hier deutlich höher als die Gesamtzahl der bei der letzten Reichstagswahl auf KPD und SPD entfallenen Stimmen. Auch in Domänen des Liberalismus, zum Beispiel in Württemberg, zeigten sich ähnliche Tendenzen. Ganz besonders deutlich waren die entsprechenden Zugewinne, die in Großstädten zu verzeichnen waren. Nicht nur Anhänger der Arbeiterparteien, sondern viele Wähler der bürgerlichen und rechts stehenden Parteien befürworteten dort die Enteignung ohne Abfindung. In ländlichen Regionen gab es dagegen häufig starke Widerstände gegen das Plebiszit. Insbesondere in Ostelbien konnten KPD und SPD ihre Ergebnisse der letzten Reichstagswahl nicht erreichen. Administrative Behinderungen des Volksbegehrens und Drohungen der großagrarischen Arbeitgeber gegenüber ihren Beschäftigten taten hier ihre Wirkung. In Bayern, insbesondere in Niederbayern, ließ sich eine ähnlich unterdurchschnittliche Beteiligung beim Volksbegehren beobachten. Nach dem Zwergstaat Waldeck wies Bayern die zweitniedrigste Beteiligung auf. Die Bayerische Volkspartei (BVP) sowie die katholische Kirche rieten energisch und erfolgreich von der Beteiligung am Volksbegehren ab. Zudem war in Bayern 1923 mit dem Wittelsbacher Ausgleichsfonds eine weitgehend unumstrittene Einigung mit dem Haus Wittelsbach gelungen. Entscheidung und Folgen Vorbereitung und Ergebnis des Volksentscheids Am 6. Mai 1926 lag dem Reichstag der Gesetzesentwurf zur entschädigungslosen Enteignung der Fürsten zur Abstimmung vor. Er scheiterte an dessen bürgerlicher Mehrheit. Nur wenn dieser Entwurf ohne Änderungen angenommen worden wäre, wäre ein Volksentscheid entfallen. Jetzt wurde er für den 20. Juni 1926 terminiert. Reichspräsident Paul von Hindenburg hatte schon am 15. März eine neue Hürde aufgestellt, die den Erfolg des Volksentscheids erschweren sollte. An diesem Tag teilte er Reichsjustizminister Wilhelm Marx mit, dass die erstrebten Enteignungen aus seiner Sicht nicht dem Wohl der Allgemeinheit dienen, sondern nichts anderes als eine Vermögenshinterziehung aus politischen Gründen darstellen. Das sei in der Verfassung nicht vorgesehen. Die Regierung Luther II bestätigte am 24. April 1926 ausdrücklich die Rechtsauffassung des Reichspräsidenten. Aus diesem Grund reichte eine einfache Mehrheit für den Erfolg des Volksentscheids nicht aus. Vielmehr mussten nun 50 Prozent der Stimmberechtigten zustimmen, also ca. 20 Millionen Wähler. Weil damit zu rechnen war, dass diese Zahl nicht erreicht werden würde, stellten sich Regierung und Reichstag auf weitere parlamentarische Verhandlungen in dieser Streitfrage ein. Diese Gespräche waren ebenfalls durch den Hinweis auf den verfassungsändernden Charakter entsprechender gesetzlicher Regelungen belastet, denn parlamentarisch waren Enteignungen nun nur noch mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit durchsetzbar. Allein ein Gesetz, dem auf der politischen Linken Teile der SPD und auf der politischen Rechten Teile der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) zustimmen konnten, wäre aussichtsreich gewesen. Es war zu erwarten, dass die Zahl derer, die am 20. Juni 1926 die entschädigungslose Fürstenenteignung befürworten würden, nochmals anwachsen würde. Eine Reihe von Gründen sprach für diese Annahme: Weil die Abstimmung im Juni die entscheidende werden würde, war von einer noch erfolgreicheren Mobilisierung der Linkswähler auszugehen als im März beim Volksbegehren. Das Scheitern aller bisherigen parlamentarischen Kompromissversuche hatte überdies in den bürgerlichen Parteien die Stimmen derer lauter werden lassen, die eine solch radikale Änderung fürstlicher Besitzverhältnisse ebenfalls befürworteten. Beispielsweise forderten Jugendorganisationen des Zentrums und der DDP ein „Ja“ bei der Abstimmung. Die DDP zerfiel insgesamt in Befürworter und Gegner des Volksentscheids. Die Parteiführung stellte den DDP-Anhängern darum frei, auf welche Seite sie sich schlagen würden. Auch Verbände, die Interessen der Inflationsgeschädigten vertraten, riefen mittlerweile dazu auf, dem Volksentscheid zuzustimmen. Zwei weitere Faktoren setzten die Gegner des Volksentscheids, die sich am 15. April 1926 unter dem Dach des „Arbeitsausschusses gegen den Volksentscheid“ zusammengefunden hatten, zusätzlich unter Druck; ähnlich wie beim Volksbegehren gehörten zu diesen Gegnern Verbände und Parteien der Rechten, landwirtschaftliche und industrielle Interessenverbände, die Kirchen sowie die Vereinigung Deutscher Hofkammern – also der Interessenverband der ehemaligen Bundesfürsten. Zum einen war die Wohnung von Heinrich Claß, dem Führer des Alldeutschen Verbands, auf Geheiß des preußischen Innenministeriums durchsucht worden. Dabei wurden umfangreiche Putschpläne aufgedeckt. Auch bei Personen aus seinem Mitarbeiterkreis ergaben solche Durchsuchungen vergleichbares Beweismaterial. Zum anderen wurden am 7. Juni 1926 Auszüge eines Schreibens veröffentlicht, das von Hindenburg am 22. Mai 1926 an den Präsidenten des Reichsbürgerrats, Friedrich Wilhelm von Loebell, geschickt hatte. In diesem Schreiben bezeichnete von Hindenburg das Plebiszit als „großes Unrecht“, das einen „bedauerlichen Mangel an Traditionsgefühl“ und „groben Undank“ zeige. Es verstoße „gegen die Grundlagen von Moral und Recht“. Von Hindenburg duldete die Verwendung seiner ablehnenden Worte auf Plakaten der Enteignungsgegner. Damit setzte er sich dem Verdacht aus, er stehe nicht über den Parteien und Interessenverbänden, sondern wechsle offen ins Lager der Konservativen. Die Enteignungsgegner steigerten vor diesem Hintergrund ihre Anstrengungen. Kernbotschaft ihrer Agitation war die Behauptung, den Befürwortern des Volksentscheids gehe es nicht allein um die Enteignung von Fürstenbesitz. Diese würden vielmehr die Abschaffung des Privateigentums schlechthin beabsichtigen. Die Gegner riefen dementsprechend zum Boykott des Volksentscheids auf. Dies war aus ihrer Sicht sinnvoll, denn jede Stimmenthaltung hatte (wie auch jede ungültige Stimme) das gleiche Gewicht wie eine Nein-Stimme. Durch den Boykottaufruf verwandelte sich die geheime Stimmabgabe praktisch in eine offene. Von den Gegnern des Volksentscheids wurden erhebliche finanzielle Mittel mobilisiert. Die DNVP setzte beispielsweise in der Agitation gegen den Volksentscheid Geldmittel ein, deren Summe deutlich über jener für die Wahlkämpfe von 1924 lag. Auch bei der Reichstagswahl von 1928 wurde weniger Geld ausgegeben. Die Gelder für die Agitation gegen den Volksentscheid stammten aus Umlagen von Fürstenhäusern, von Industriellen und sonstigen Spenden. Erneut wurde insbesondere ostelbischen Landarbeitern bei Beteiligung am Volksentscheid mit wirtschaftlichen und persönlichen Sanktionen gedroht. Kleinbauern versuchte man mit der Behauptung zu verschrecken, es gehe nicht allein um die Enteignung des Fürstenbesitzes, sondern auch um die Enteignung von Vieh, Anlagen und Land jedes bäuerlichen Kleinbetriebs. Zudem veranstalteten die Gegner am 20. Juni 1926 mancherorts Freibierfeste, um Stimmberechtigte gezielt von der Abstimmung fernzuhalten. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) verschärfte die demagogische Dimension auf der politischen Rechten, indem sie statt der Fürstenenteignung die Enteignung der seit dem 1. August 1914 eingewanderten Ostjuden forderte. Anfangs hatte der linke Flügel der NSDAP um Gregor Strasser die Beteiligung der Nationalsozialisten an der Fürstenenteignungskampagne angestrebt. Adolf Hitler wies auf der Bamberger Führertagung Mitte Februar 1926 diese Forderung jedoch ab. In Anspielung auf das Kaiserwort vom August 1914 sagte er: „Für uns gibt es heute keine Fürsten, sondern nur Deutsche.“ Von den ca. 39,7 Millionen Stimmberechtigten gaben am 20. Juni 1926 knapp 15,6 Millionen (39,3 Prozent) ihre Stimme ab. Mit „Ja“ votierten etwa 14,5 Millionen, mit „Nein“ stimmten ca. 0,59 Millionen. Rund 0,56 Millionen Stimmen waren ungültig. Der Volksentscheid war somit gescheitert, denn zwischenzeitlich hatte die Reichsregierung, einem Verlangen des Reichspräsidenten folgend, das Gesetz für verfassungsändernd erklärt. Nicht die relative, sondern die absolute Mehrheit wäre für einen Erfolg des Volksentscheids nötig gewesen. Dieses Quorum der Zustimmung von mindestens 50 % der Wahlberechtigten wurde reichsweit nur in drei der 35 Stimmbezirke erreicht (in Berlin, Hamburg und Leipzig). Erneut war der Volksentscheid für die kompensationslose Enteignung auch in Hochburgen des Zentrums befürwortet worden. Gleiches galt für großstädtische Stimmbezirke. Dort wurden nachweislich verstärkt auch Teile jener Wählerschichten angesprochen, die traditionell bürgerlich, national und konservativ wählten. Obwohl es zum Teil deutlich mehr Ja-Stimmen gab als beim Volksbegehren, blieb die Zustimmung in agrarischen Landesteilen (insbesondere Ostelbien) wiederum unterdurchschnittlich. Die Beteiligungsrate fiel in Bayern im Vergleich zu anderen Regionen diesmal ebenfalls gering aus, trotz der insgesamt auch dort gestiegenen Teilnahme. Weitere Behandlung der Enteignungsfrage Ein dauerhafter Trend nach links war mit diesem Ergebnis nicht verbunden, obschon dies von einigen Gegnern der entschädigungslosen Enteignung befürchtet und von Teilen der SPD und der KPD erhofft worden war. Viele traditionelle Wähler der DNVP stimmten beispielsweise nur für den Volksentscheid, weil sie damit auf das von der DNVP gebrochene Wahlversprechen von 1924 reagierten, einen angemessenen Ausgleich für Inflationsschäden zu erhalten. Die ideologischen Dauerkonflikte zwischen SPD und KPD waren durch die gemeinsame Kampagne für das Volksbegehren und den Volksentscheid gleichfalls nicht überwunden. Bereits am 22. Juni 1926 hatte Die Rote Fahne, das Parteiblatt der KPD, behauptet, die sozialdemokratischen Führer hätten den Erfolg des Entscheids gezielt hintertrieben. Vier Tage später sprach das Zentralkomitee der KPD davon, die Sozialdemokraten würden den „schamlosen Fürstenraub“ nun heimlich fördern. Mit dieser Behauptung war die Bereitschaft der SPD gemeint, im Reichstag weiter nach einer gesetzlichen Lösung der Streitfrage zu suchen. Die SPD rechnete sich aus zwei Gründen beträchtliche Mitgestaltungsmöglichkeiten bei einer reichsgesetzlichen Regelung aus, auch wenn ein solches Gesetz eine Zweidrittelmehrheit brauchte. Zum einen interpretierte sie den Volksentscheid als deutliche Unterstützung sozialdemokratischer Positionen. Zum anderen liebäugelte die Minderheitsregierung unter Wilhelm Marx mit einer Aufnahme der SPD in die Regierung, also mit der Bildung einer großen Koalition, was im Vorfeld das Eingehen auf sozialdemokratische Forderungen notwendig machen würde. Die sozialdemokratischen Änderungswünsche an der Regierungsvorlage zur Fürstenabfindung wurden jedoch nach längeren Verhandlungen abgelehnt: Am vorgesehenen neuen Reichssondergericht sollte es keine Stärkung des Laienelements geben; der SPD-Vorschlag, die Richter dieses Gerichts sollten vom Reichstag gewählt werden, war ebenfalls nicht durchsetzbar; die Wiederaufnahme bereits abgeschlossener Vermögensauseinandersetzungen, die für die Länder ungünstig ausgegangen waren, war gleichfalls nicht vorgesehen. Die Fraktionsführung der SPD versuchte am 1. Juli 1926 die Reichstagsfraktion der SPD dennoch von der Annahme der Gesetzesvorlage zu überzeugen, die am Folgetag im Reichstag zur Abstimmung anstand. Die Fraktion weigerte sich allerdings. Dieser Preis für die Aufnahme in eine neue Reichsregierung war der Fraktionsmehrheit zu hoch. Sie ließ sich auch nicht von den drängenden Argumenten der preußischen Regierung unter Otto Braun und den Stimmen aus der sozialdemokratischen Fraktion des preußischen Landtags überzeugen, die ebenfalls ein Reichsgesetz wünschten, um die Auseinandersetzungen mit den Hohenzollern auf dieser Basis abschließen zu können. Am 2. Juli 1926 begründeten die Fraktionen der SPD einerseits und der DNVP andererseits ihr Nein zur Gesetzesvorlage. Daraufhin wurde über diesen Gesetzentwurf nicht mehr entschieden – die Regierung zog ihn zurück. In den Ländern mussten Einigungen mit den Fürstenhäusern von nun an endgültig auf dem direkten Verhandlungsweg gesucht werden. Die Position der Länder wurde dabei bis Ende Juni 1927 durch ein so genanntes Sperrgesetz gesichert, das Versuche der Fürstenhäuser unterband, gegen die Länder gerichtete Ansprüche auf dem Wege von Zivilklagen durchzusetzen. In Preußen kam die gewünschte Einigung am 6. Oktober 1926 zustande – ein entsprechender Vertragsentwurf wurde vom Land Preußen und vom Generalbevollmächtigten der Hohenzollern, Friedrich von Berg, unterzeichnet. Aus dem beschlagnahmten Gesamtvermögen fielen ca. 250.000 Morgen Land an Preußen, beim Fürstenhaus mitsamt allen Nebenlinien verblieben ca. 383.000 Morgen. Preußen übernahm ebenfalls das Eigentum an einer Vielzahl von Schlössern sowie an einigen weiteren Vermögensgegenständen. Dieser Vergleich war aus Sicht der Landesregierung günstiger als jener, der im Oktober 1925 vorgesehen war. Die Landtagsfraktion der SPD enthielt sich am 15. Oktober 1926 der Stimme, obwohl die Fraktionsmehrheit den Vertrag innerlich ablehnte. Ihr gingen die Vermögensherausgaben an die Hohenzollern zu weit. Im Plenum schien ein offenes „Nein“ der SPD jedoch nicht geboten, denn für diesen Fall hatte Otto Braun seinen Rücktritt angedroht. Mit dem Ausweichen der SPD-Fraktion in die Stimmenthaltung war der Weg frei für die Ratifizierung des Vertrags durch den Preußischen Landtag. Den Weg zu dieser parlamentarischen Absegnung hatte auch die KPD nicht mehr versperren können, obwohl sie im Plenum während der zweiten Lesung am 12. Oktober 1926 tumultartige Szenen herbeigeführt hatte. Bereits vor der gesetzlichen Regelung zwischen Preußen und den Hohenzollern waren die meisten Streitfälle zwischen Ländern und Fürstenhäusern einvernehmlich geregelt worden. Mit den ehemals herrschenden Fürstenhäusern stritten nach Oktober 1926 allerdings noch die Länder Thüringen, Hessen, Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz und vor allem Lippe. Zum Teil dauerten die Verhandlungen noch viele Jahre an. Insgesamt wurden 26 Verträge zur Regelung der Vermögensauseinandersetzungen zwischen den Ländern und den Fürstenhäusern abgeschlossen. In den meisten Bundesländern lief dies auf eine endgültige Trennung und Aufteilung der bislang oft unübersichtlich verschränkten Vermögensmassen zwischen Staat und Fürstenhäusern hinaus. Durch diese Verträge gingen die so genannten Lastobjekte in der Regel an den Staat. Dazu zählten Schlösser, Bauten oder Gärten. Renditeobjekte, wie beispielsweise Wälder oder wertvoller Grund, wurden überwiegend den Fürstenhäusern zugewiesen. In vielen Fällen gingen Sammlungen, Theater, Museen, Bibliotheken und Archive in neu gegründete Stiftungen ein. In Bayern wurde mit dem Wittelsbacher Ausgleichsfonds eine Stiftungslösung auch für die finanzielle Fürstenabfindung gefunden. Der Staat übernahm ferner auf der Basis dieser Verträge oftmals die Hofbeamten und -bediensteten sowie die mit ihnen verbundenen Versorgungslasten. Apanagen und die so genannten Zivillisten, also jener Budgetteil, der einst für das Staatsoberhaupt und seine Hofhaltung deklariert gewesen war, fielen gegen einmalige Ausgleichszahlungen in aller Regel fort. In der Zeit der Präsidialkabinette hat es im Reichstag sowohl von der KPD als auch von der SPD mehrfach Versuche gegeben, die Frage der Fürstenenteignung bzw. Reduzierung der Fürstenabfindungen wiederzubeleben. Sie sollten eine politische Reaktion auf die umfangreichen Lohn- und Gehaltssenkungstendenzen dieser Jahre sein. Größere politische Aufmerksamkeit erzeugte aber keine dieser Initiativen. Die KPD-Anträge wurden von den anderen Parteien rundweg abgelehnt. SPD-Vorschläge wurden bestenfalls in den Rechtsausschuss verwiesen. Dort versandeten sie, unter anderem, weil es wiederholt zu vorzeitigen Reichstagsauflösungen kam. Der NS-Staat schuf sich nach anfänglichem Zögern am 1. Februar 1939 per Gesetz die Möglichkeit, in abgeschlossene Auseinandersetzungsverträge einzugreifen. Im Ganzen war dieses Rechtsinstrument allerdings ein Präventions- und Drohmittel, weniger ein Mittel der Rechtsgestaltung. Ansprüche von Fürstenhäusern gegen den Staat, die es in den ersten Jahren des Dritten Reichs gelegentlich gegeben hatte, sollten mit diesem „Gesetz über die vermögensrechtliche Auseinandersetzung zwischen den Ländern und den vormals regierenden Fürstenhäusern“ abgewehrt werden. Die Drohung, als Gegenmaßnahme gegen fürstliche Klagen die Vermögenslage zugunsten des NS-Staates ganz neu zu gestalten, sollte alle entsprechenden Beschwerden und Klagen von fürstlicher Seite nachhaltig unterdrücken. Eine Gleichschaltung der Vertragslage war nicht beabsichtigt. Durch die die Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone 1945 wurden die in der Besatzungszone gelegenen Besitzungen früherer Herrscherhäuser, darunter auch Güter, die ihnen durch Abfindungsverträge im Rahmen der Fürstenabfindungen zugeordnet worden waren, wiederum entschädigungslos enteignet. Nach der Deutschen Wiedervereinigung 1990 führte dies im Rahmen von Entschädigungsverfahren nach § 5 des Ausgleichsleistungsgesetzes (über die Rückgabe beweglicher Sachen) in einigen Fällen, in denen umfangreiche Kunstsammlungen betroffen waren, erneut zu vertraglichen Regelungen zwischen den Erben der Dynastien und den neuen Bundesländern. Eine bislang ungeregelte Frage sind die Entschädigungsforderungen der Hohenzollern. Urteil der Historiker Geschichtswissenschaft der DDR Die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft der DDR deutete die Fürstenenteignung und das Agieren der Arbeiterparteien im Wesentlichen aus einer Perspektive, die sich mit jener der damaligen KPD deckte. Die Einheitsfrontstrategie der KPD wurde als richtiger Schritt im Klassenkampf interpretiert. Die plebiszitären Aktionen seien „die machtvollste Einheitsaktion der deutschen Arbeiterklasse in der Periode der relativen Stabilisierung des Kapitalismus“ gewesen. Angegriffen wurden die SPD-Führung und auch die Führung der Freien Gewerkschaften insbesondere dann, wenn diese einen Kompromiss mit den bürgerlichen Parteien suchten. Die „Haltung der Führer der SPD und des ADGB erschwerte die Entfaltung der Volksbewegung gegen die Fürsten bedeutend.“ Nichtmarxistische Historiker Otmar Jung hat mit seiner Habilitationsschrift von 1985 die bislang umfangreichste Untersuchung zur Fürstenenteignung vorgelegt. Im ersten Teil analysiert er die historischen, ökonomischen und juristischen Aspekte aller Vermögensauseinandersetzungen für jedes einzelne Land des Deutschen Reiches. Diese Betrachtung umfasst ca. 500 Seiten der insgesamt mehr als 1200-seitigen Schrift. Jung will mit diesem Vorgehen der Gefahr vorbeugen, die preußische Lösung vorschnell als die typische auszuweisen. Im zweiten Teil der Schrift zeichnet Jung den Gang der Ereignisse im Detail nach. Seine Absicht ist es zu zeigen, dass das Fehlen von Elementen direkter Demokratie im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht mit „schlechten Erfahrungen“ aus der Weimarer Republik begründet werden könne, obwohl dies oft geschehen sei. Bei genauer Betrachtung sei die Weimarer Erfahrung eine andere. Die Volksgesetzgebungsinitiative von 1926 war nach Jung der begrüßenswerte Versuch, den Parlamentarismus dort zu ergänzen, wo er offenbar nicht lösungsfähig gewesen sei – in der Frage der klaren und endgültigen Vermögensscheidung zwischen Staat und ehemaligen Fürsten. Hier sei der Volksentscheid ein legitimes Problemlösungsverfahren mit Protestcharakter gewesen. Zu den Ergebnissen der Fürstenenteignungskampagne gehörte nach Jung schließlich, dass sie technische Mängel im Volksgesetzgebungsverfahren selbst aufdeckte, unter anderem, weil Enthaltung und Nein-Stimmen genau gleich wirkten. Mit der Korrektur gängiger Urteile über plebiszitäre Elemente der Weimarer Republik will Jung den Weg ebnen, um in der Gegenwart vorurteilsfreier über Elemente direkter Demokratie diskutieren zu können. Thomas Kluck untersucht die Haltung des deutschen Protestantismus. Dabei macht er deutlich, dass die Mehrheit der Theologen und Publizisten der Evangelischen Kirchen die Fürstenenteignung ablehnte. Begründet wurde dies oft mit Rückgriffen auf christliche Gebote. Vielfach wurde in den ablehnenden Stellungnahmen auch eine rückwärtsgewandte Sehnsucht nach den scheinbar harmonischen Zeiten des Kaiserreichs bzw. der Wunsch nach einem neuen, starken Führertum formuliert. Kluck arbeitet heraus, dass Gegenwartskonflikte, zu denen der Streit um die Vermögensmassen der ehemals regierenden Fürsten gehörte, vom deutschen Protestantismus häufig dämonologisch gedeutet wurden: Hinter diesen Konflikten wurden Machenschaften des Teufels gesehen, der die Menschen zur Sünde verführen wolle. Neben dem Teufel als menschenfeindlichem „Drahtzieher“ wurden vom nationalkonservativen Teil des Protestantismus Juden als Verursacher und Nutznießer politischer Konflikte gebrandmarkt. Eine solche Geisteshaltung sei weit offen gewesen für die Ideologie des Nationalsozialismus und erteilte diesem gleichsam theologische Weihen. Diese „ideologische Zuarbeit“ sei „ein Stück protestantischer Schuldgeschichte“. Ulrich Schüren betont, dass 1918 die Frage der Fürstenenteignung, legitimiert durch revolutionäre Gewalt, ohne größere Probleme hätte gelöst werden können. Insofern liege hier ein Versäumnis der Novemberrevolution vor. Trotz des Scheiterns habe der spätere Volksentscheid eine bedeutende indirekte Wirkung entfaltet. Nach dem 20. Juni 1926 habe die plebiszitäre Initiative die Kompromissbereitschaft im Konflikt zwischen Preußen und dem Haus Hohenzollern erhöht, sodass zwischen diesen Parteien bereits im Oktober eine vertragliche Einigung zustande kam. Schüren macht überdies deutlich, dass sich in der Fürstenenteignungskampagne handfeste Erosionstendenzen in bürgerlichen Parteien zeigten. Dies betraf vor allem die DDP und die DNVP, aber auch das Zentrum. Schüren vermutet, die sich zeigende abnehmende Bindungskraft dieser bürgerlichen Parteien habe mit zum Aufstieg des Nationalsozialismus nach 1930 beigetragen. Ein Schwerpunktthema bei der Bewertung durch nicht-marxistische Historiker bildet die Frage, inwieweit die plebiszitären Auseinandersetzungen den Weimarer Kompromiss zwischen gemäßigter Arbeiterbewegung und gemäßigtem Bürgertum belastet haben. In diesem Zusammenhang rückt die Politik der SPD in den Fokus. Peter Longerich hält fest, dass der relative Erfolg des Volksentscheids sich für die SPD nicht habe umsetzen lassen. Das Plebiszit erschwerte nach seiner Meinung zudem die Zusammenarbeit der SPD mit den bürgerlichen Parteien. Diese Deutungslinie zeichnet Heinrich August Winkler am kräftigsten. Es sei zwar verständlich, dass die SPD-Führung die Plebiszite unterstützt habe, um die Bindung an die sozialdemokratische Basis nicht zu verlieren. Der Preis sei jedoch sehr hoch gewesen. Der SPD sei es nach dem 20. Juni 1926 schwergefallen, „auf den ihr vertrauten Weg des Klassenkompromisses zurückzukehren.“ In konzentrierter Form habe die Auseinandersetzung um die entschädigungslose Fürstenenteignung das Dilemma der SPD in der Weimarer Republik gezeigt. Wenn sie sich den bürgerlichen Parteien gegenüber kompromissbereit zeigte, lief sie Gefahr, Anhänger und Wähler an die KPD zu verlieren. Betonte sie Klassenstandpunkte und fand sie sich zu Teilbündnissen mit der KPD bereit, so verprellte sie die gemäßigten bürgerlichen Parteien und tolerierte, dass diese sich am rechten Rand des Parteienspektrums Bündnispartner suchten, die am Fortbestand der Republik kaum Interesse hatten. Die Plebiszite hätten das Vertrauen in die Kraft des Parlamentarismus nicht gestärkt, sondern geschwächt. Sie hätten ferner Erwartungen geweckt, die praktisch kaum zu erfüllen waren. Die sich daraus ergebenden Frustrationen konnten Winklers Ansicht nach auf die repräsentative Demokratie nur destabilisierend wirken. Diese Einschätzung Winklers hebt sich deutlich von Otmar Jungs Position ab. Hans Mommsen lenkt die Blicke dagegen auf Mentalitäts- und Generationenkonflikte in der Republik. Seiner Meinung nach deckten die Plebiszite von 1926 erhebliche Mentalitätsgegensätze und tiefe Gräben zwischen den Generationen in Deutschland auf. Ein großer Teil, vielleicht sogar die Mehrheit der Deutschen, habe in dieser Frage auf der Seite der Republikbefürworter gestanden, die mit den Plebisziten auch gegen die „rückwärtsgewandte Loyalitätsbindung bürgerlichen Führungsschichten“ protestierten. Mommsen macht außerdem auf die Mobilisierung von antibolschewistischen und antisemitischen Stimmungen durch die Gegner der entschädigungslosen Enteignung aufmerksam. Diese Mobilisierung sei eine Vorwegnahme jener Konstellation gewesen, „in der seit 1931 die Reste des parlamentarischen Systems zerschlagen werden sollten“. Einzelergebnisse Ergebnisse des Volksbegehrens und Volksentscheids nach Wahlkreisen Im Folgenden sind die Eintragungen zum Volksbegehren und die Abstimmungsergebnisse beim Volksentscheid nach Wahlkreisen wiedergegeben. Volksbegehren Das Quorum von 10 % der Wahlberechtigten wurde in allen Wahlkreisen außer Niederbayern überschritten. Volksentscheid Wahlkreiskarten Anhang Literatur Übergreifende Darstellungen Günter Abramowski: Einleitung. In: Akten der Reichskanzlei. Die Kabinette Marx III und IV. 17. Mai 1926 bis 29. Januar 1927, 29. Januar 1927 bis 29. Juni 1928. Bearb. von Günter Abramowski. Band 1: Mai 1926 bis Mai 1927. Dokumente Nr. 1 bis 242, Oldenbourg, München 1988, S. XVII–CII. ISBN 3-7646-1861-2. Richard Freyh: Stärken und Schwächen der Weimarer Republik, in: Walter Tormin (Hrsg.): Die Weimarer Republik. 22. Auflage. unveränd. Nachdr. d. 13. Auflage. Fackelträger, Hannover 1977, S. 137–187. ISBN 3-7716-2092-9. Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band VII: Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik. Kohlhammer / Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1984, ISBN 3-17-008378-3. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Band 4. Von 1924 bis Januar 1933. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Dietz, Berlin (DDR) 1966. Otmar Jung: Direkte Demokratie in der Weimarer Republik. Die Fälle „Aufwertung“, „Fürstenenteignung“, „Panzerkreuzerverbot“ und „Youngplan“. Campus, Frankfurt/Main / New York 1989. ISBN 3-593-33985-4. Eberhard Kolb: Die Weimarer Republik. 2., durchges. u. erg. Auflage. Oldenbourg, München 1988, ISBN 3-486-48912-7. Peter Longerich: Deutschland 1918–1933. Die Weimarer Republik. Handbuch zur Geschichte, Fackelträger, Hannover 1995. ISBN 3-7716-2208-5. Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat. Akademie-Verlag, Berlin 2003, ISBN 3-05-003554-4. Hans Mommsen: Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang. 1918 bis 1933. Propyläen, Berlin 1989, ISBN 3-549-05818-7. Heinrich August Winkler: Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik. Der Schein der Normalität. 1924–1930. Dietz, Berlin/Bonn 1985, ISBN 3-8012-0094-9. Heinrich August Winkler: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. 2., durchges. Auflage. Beck, München 1994. ISBN 3-406-37646-0. Einzelstudien zur Fürstenenteignung Otmar Jung: Volksgesetzgebung. Die „Weimarer Erfahrungen“ aus dem Fall der Vermögensauseinandersetzungen zwischen Freistaaten und ehemaligen Fürsten. Zweibändig. 2. Auflage. Kovač, Hamburg 1996, ISBN 3-925630-36-8 Thomas Kluck: Protestantismus und Protest in der Weimarer Republik. Die Auseinandersetzungen um Fürstenenteignung und Aufwertung im Spiegel des deutschen Protestantismus. Mit einem Vorwort von Günter Brakelmann. Lang, Frankfurt am Main, Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1996, ISBN 3-631-50023-8 Robert Lorenz: Zivilgesellschaft zwischen Freude und Frustration. Der Aufruf von Intellektuellen zur Enteignung der Fürsten 1926. In: Johanna Klatt / ders. (Hrsg.): Manifeste. Geschichte und Gegenwart des politischen Appells. transcript, Bielefeld 2011, S. 135–167, ISBN 978-3-8376-1679-8 Ulrich Schüren: Der Volksentscheid zur Fürstenenteignung 1926. Die Vermögensauseinandersetzung mit den depossedierten Landesherren als Problem der deutschen Innenpolitik unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Preußen. Droste, Düsseldorf 1978. ISBN 3-7700-5097-5. Rainer Stentzel: Zum Verhältnis von Recht und Politik in der Weimarer Republik. Der Streit um die sogenannte Fürstenenteignung. In: Der Staat, Jg. 39 (2000), Heft 2, S. 275–297. Weblinks Deutsches Historisches Museum: Fürstenenteignung Rettet die Fürsten! (PDF; 5,9 MB) Sondernummer der Satirezeitschrift Simplicissimus, 1926. Einzelnachweise Politik (Weimarer Republik) 1920er Deutscher Adel Direkte Demokratie in der Weimarer Republik
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hank%20Williams%20III
Hank Williams III
Shelton Hank Williams III (* 12. Dezember 1972 in Nashville, Tennessee), auch bekannt als Hank III oder Hank3, ist ein US-amerikanischer Country-, Metal-, Punk- und Rock-Musiker. Nach einem ersten traditionellen Country-Album im Jahr 1996 begann er sich von der Szene abzusetzen und verarbeitete Einflüsse aus der Punk- und Metal-Szene. Sein Stil wird auch als Hellbilly bezeichnet und der Alternative-Country-Szene sowie der Outlaw-Bewegung zugeordnet. Mit seiner Band Assjack ist er zudem im Extreme-Metal-Genre unterwegs. Er ist der Enkel von Hank Williams und der Sohn von Hank Williams Jr. Leben Jugendjahre Hank Williams III wurde 1972 in Nashville als Sohn von Hank Williams Jr. und seiner zweiten Frau Gwen Yeargain geboren. Als sich seine Eltern 1977 scheiden ließen, zog Williams mit seiner Mutter nach Atlanta. Sein Verhältnis zu seinem Vater war von Beginn an gespalten; dieser litt zu jener Zeit an Depressionen und war suizidgefährdet. Zudem hatte er einen schweren Unfall beim Bergsteigen, von dem er sich nur langsam erholte. Der Sohn wurde strikt religiös erzogen; Metal- und Rockmusik war im Haushalt seiner Mutter verpönt. Zudem musste er mehrmals in der Woche die Kirche besuchen. Als Williams etwa zehn Jahre alt war, hatte er wieder Kontakt zu seinem Vater. Dieser brachte ihm das Schlagzeugspiel bei. In seinen jungen Jahren war Williams III musikalisch von der Plattensammlung seines Vaters geprägt, unter anderem von den Alben seines Großvaters Hank Williams, aber auch durch Rockabilly, Bluegrass sowie Hard Rock von ZZ Top, Queen und Ted Nugent. Auch Soundtracks und Classic Rock gehörten zu seinen Vorlieben. Als Enkel von Hank Williams und Sohn von Hank Williams Jr. war er in der Country-Szene bekannt. Doch zunächst versuchte er, unabhängig eine Karriere zu verfolgen. Mit 15 spielte er Schlagzeug in einigen Punk-Bands im Südosten der USA und zog von Stadt zu Stadt. Er begann mit dem auch später für ihn charakteristischen Marihuana-Konsum. Als aus einem One-Night-Stand ein Kind hervorging, zwang ein Gerichtsbeschluss ihn dazu, ein sesshafteres und geordneteres Leben zu führen. Er musste 24.000 US-Dollar Unterhalt nachzahlen. Der Richter legte ihm nahe, lukrativere Arbeit aufzunehmen. So begann er doch, als Country-Musiker sein Geld zu verdienen, und trat bei einigen Tributeshows für seinen Großvater auf. Curb Records 1996 erhielt er einen Plattenvertrag bei Curb Records. Labelboss Mike Curb war ein Weggefährte seines Vaters und hatte diesen unter Vertrag. Als Inhaber der Rechte an den Aufnahmen von Hank Williams hatte er somit fast die völlige Kontrolle über alle drei Generationen der Williams-Familie. Kurze Zeit später wurde das Album Three Hanks: Men with Broken Hearts veröffentlicht, auf dem die Stimmen der drei Generationen vereint wurden. Er war von dem Konzept nie besonders überzeugt. Zwar mochte er es, auf einem Album mit seinem Großvater und seinem Vater vertreten zu sein, doch erschien ihm die Machart zu billig und auf den kommerziellen Gewinn ausgelegt zu sein. Zudem wurden auch die Gesangsspuren seines Vaters getrennt von seinen aufgenommen. Sein erstes Soloalbum Risin’ Outlaw wurde im September 1999 veröffentlicht. Musikalisch handelte es sich dabei um traditionellen Country im Stile der Outlaw-Bewegung. Mit dem Album war er nicht zufrieden, insbesondere die Produktion mochte er nicht. 2001 beteiligte er sich an der Vans Warped Tour und trat dort vor Rancid auf. Sein zweites Album Lovesick, Broke & Driftin folgte 2002. Diesmal überließ er nichts dem Zufall und produzierte das Album selbst. Das Album enthielt überwiegend traditionellen Country, der vor allem vom Trinken und Kiffen handelt. Einige Songs sind im Stile seines Großvaters gehalten. Mit Atlantic City befindet sich eine Coverversion von Bruce Springsteen auf dem Album. Seine Abneigung gegen kommerziellen Country stellt er im Stück Trashville dar. Er hatte im Anschluss große Probleme mit Curb Records, da diese sich weigerten, das Album This Ain’t Country zu veröffentlichen, und ihn aufgrund ihres Vertrags auch daran hinderten, es anderweitig anzubieten. Statt an neuen Alben zu arbeiten, veröffentlichte er Musik in extremen Limitierungen über seine Website. Die beiden Parteien prozessierten gegeneinander, was dazu führte, dass er gerichtlich dazu gezwungen wurde, den Verkauf seiner Bootlegs einzustellen. Er ging dazu über, T-Shirts mit der Aufschrift „Fuck Curb“ zu verkaufen und sprach schlecht von seiner Plattenfirma. Im Juni 2004 erlaubte er allen Bootleggern, seine Shows mitzuschneiden und zu veröffentlichen. Einige Liveaufnahmen sind seither Bestandteil des Internet Archives. 2002 begann er als Bassist bei Superjoint Ritual zu spielen, der Band des ehemaligen Pantera-Frontmanns Phil Anselmo. Sein nächstes Soloalbum erschien im März 2006. Das Doppelalbum trug den Namen Straight to Hell und erschien wieder bei Curb Records, die das Label jedoch als „Bruc“ (Curb rückwärts) angaben. Die erste CD enthielt Country-Musik, die zweite nur einen Song. Louisiana Stripes ist mit Ambient und Noise unterlegt. Das Stück enthält keinen Gesang, sondern gesampelte Dialoge und Anrufbeantwortersprüche, Echo- und Dub-Effekte. Im Januar 2003 trat er zusammen mit seinem Vater in der Grand Ole Opry auf, um den fünfzigsten Todestag von Hank Williams zu ehren. Nachdem sich Superjoint Ritual erstmals aufgelöst hatte, gründete Williams 2006 zusammen mit Phil Anselmo, Colin Yeo und EyeHateGod-Sänger Mike Williams die Hardcore-Punk-Band Arson Anthem. Nach einer selbstbetitelten EP 2008 erschien 2010 das Debütalbum Insecurity Notoriety auf Housecore Records. Das Projekt wurde später auf Eis gelegt. Im Oktober 2008 veröffentlichte er das Album Damn Right, Rebel Proud. Wie bereits 2006 weigerte sich die Plattenfirma aufgrund der darauf verwendeten beleidigenden Sprache, ihren Namen auf das Album zu drucken, und veröffentlichte es unter ihrem Sublabel Sidewalk Records. Im August 2009 folgte das selbstbetitelte Debütalbum von Assjack. Obwohl es sich bei Assjack im Prinzip um seine Tourband handelte, spielte er das Album alleine ein und produzierte es auch selbst. Die Musik stellt eine Mischung aus Death Metal, seiner Version von Country, Industrial Metal und Hardcore Punk dar. Verglichen wurde der Stil mit Ministry, Roach Motel und Slipknot. 2010 erschien mit The Rebel Within die letzte Zusammenarbeit mit Curb Records. Danach war sein Vertrag erfüllt. Auf der Platte sind vor allem in den Gesangsparts einige Punk- und Metal-Einflüsse erkennbar, doch der Großteil des Albums besteht aus traditioneller Country-Musik. Curb veröffentlichte nach jahrelangen Streitigkeiten 2011 das oft illegal verkaufte Album This Ain’t Country mit alternativem Material als Hillbilly Joker. Obwohl er das Album nicht bewarb, kam es in die Top 10 der US-Billboard-Country-Charts und erreichte sogar Platz 62 der Billboard 200. 2012 veröffentlichte Curb, wieder gegen den Willen von Hank Williams III, das Album Long Gone Daddy mit Outtakes aus früheren Aufnahmesessions. Im Frühjahr 2014 folgte wieder über Curb Records das Album Ramblin’ Man, das Lieder von ZZ Top, Merle Haggard, Johnny Paycheck und Peter LaFarge enthält sowie einige Aufnahmen für das This-Ain’t-Country-Album, das in anderen Versionen bereits Bestandteil des Hillbilly-Joker-Albums war. Auch 2015 erschien mit Take as Needed for Pain eine Kompilation, die vor allem aus Outtakes und Tracks für Tributalben bestand. Er lehnt diese nicht von ihm gewünschten Releases ab und ermutigt seine Fans, diese zu kopieren und per Filesharing zu verbreiten. Als unabhängiger Künstler Nach den Erfahrungen mit Curb wollte er unabhängig sein. Er gründete sein eigenes Label, Hank3 Records, auf dem er drei Alben gleichzeitig veröffentlichte: das Country-Doppelalbum Ghost to a Ghost/Gutter Town, das Doom-Metal-Album Attention Deficit Domination sowie das Speed-Metal-Album Cattle Calling unter dem Pseudonym 3 Bar Ranch. Ghost to a Ghost/Gutter Town erschien als Doppelalbum. Während Ghost to a Ghost eher seinen früheren Alben folgt, handelt es sich bei dem zweiten Teil Gutter Town um eher experimentelle Musik, die den Stil von Louisiana Stripes aufgriff und diesen mit Cajun-Musik mischte. Als Gäste sind Les Claypool von Primus und Tom Waits vertreten. Den Vertrieb für sämtliche Veröffentlichungen von Hank3 Records übernahm das Hard-Rock- und Metal-Independent-Label Megaforce Records. Ursprünglich plante Williams, in den nächsten Jahren nur noch auf Tournee zu gehen. Doch eine schwere Verletzung seines Schlagzeugers zwang die Band zu einer Tourpause. Williams nutzte diese Auszeit und schrieb 25 neue Songs. 2013 erschien das Country-Doppelalbum Brothers of the 4x4 sowie das Cowpunk-Album A Fiendish Treat. Letzteres stellt eine Hommage an seine Punk-Wurzeln dar, die im Wesentlichen von Black Flag, Minor Threat, The Misfits, Janes Addiction und den Ramones geprägt sind. Musikstil und Texte Country & Hellbilly Während sein Vater eher auf Grund seiner Positionen und seines Äußeren zum Outlaw-Country gezählt wurde, seine Musik jedoch traditioneller Country sowie Honky Tonk beinhaltete, steht Williams III zwischen allen Stilen. Er spielt Alternative Country und experimentiert gerne mit Stilen innerhalb des Metal- und Punk-Genres. Er verwendet aber auch immer wieder Elemente des ursprünglichen Countrys und der Cajun-Musik. Mit Assjack spielt er stark an Death Metal angelehnte Musik und bei Superjoint Ritual einen vom Metalcore beeinflussten Stil. Für seinen Stil wird oft der Begriff Hellbilly verwendet, eine Zusammensetzung aus Hillbilly, einer oft abschätzigen Bezeichnung für Bewohner ländlicher Gegenden, und dem englischen Wort Hell für Hölle. Musikalische Vorbilder sind neben seinem Großvater und weiteren Country-Künstlern vor allem Tom Waits, GG Allin, Henry Rollins und Jello Biafra (Dead Kennedys). Was das Konzept seiner Musik angeht, ist er von Frank Zappa geprägt, der ebenfalls in vielen Musikgenres zu Hause war und Alben diverser Genres veröffentlicht hatte. Sein Gesangsstil erinnerte vor allem bei früheren Aufnahmen an den seines Großvaters. Er hatte die typische nasale Stimmlage, die auch Hank Williams auszeichnete, und kann auch jodeln wie er. Aber seine Affinität zu Rauschmitteln sowie der häufige Wechsel seines Gesangsstils während der Konzerte änderte seine Stimmlage über die Jahre. Mitte der 2000er Jahre verlor er für kurze Zeit seine Stimme und musste mehrere Kuren machen. Seitdem ist seine Stimme heiserer und dunkler als die seines Großvaters. Texte Textlich befasst sich Hank Williams III vor allem mit der Country-Szene im Allgemeinen sowie den typischen rowdyhaften Allüren des Outlaw Country. Seine Texte unterscheiden sich dabei wenig von den allgemeinen Inhalten von Country-Songs. So finden sich dort als Motive Cowboy-Szenarien, Gefängnisse, Truckfahrer, individuelle Freiheit und Liebeskummer. Seine Lieder behandeln unglücklich endende Beziehungen und das harte Leben auf dem Land und die Beschreibung von Alkoholexzessen in Verbindung mit Schlägereien. Was seine Texte von Mainstream-Künstlern unterscheidet, ist der häufige Gebrauch von obszönen Wörtern und eine düstere Melancholie, zudem seine Neigung zu musikalischen und textlichen Experimenten. Ebenfalls klar der Outlaw-Country-Szene zuzuordnen sind seine Texte über Drogen, insbesondere Marihuana. Der Gegensatz zur Mainstream-Country-Szene ist ebenfalls ein wiederkehrendes Motiv in seinem Schaffen. Williams III ist gelangweilt vom vorhersehbaren Nashville-Sound und dem dortigen Umgang. Er begann Songs zu schreiben, die sich gegen das Country-Establishment in Nashville auflehnten. So heißt es in seinem Lied Dick in Dixie beispielsweise: Sowohl optisch als auch textlich und musikalisch gibt es Verbindungen zur Punkszene. Für sein Logo verwendete er mehrfach die charakteristischen schwarzen Streifen des Black-Flag-Logos. Ebenso veröffentlichte er mit No Values eine Black-Flag-Coverversion für das Tributalbum Rise Above: 24 Black Flag Songs to Benefit the West Memphis Three, dessen Erlös den Prozesskosten der West Memphis Three zugutekam. Mit P.F.F. („Punch, Fight, Fuck“) veröffentlichte er ein an GG Allins Drink, Fight & Fuck angelehntes Stück. Auch weitere Titel verbinden Outlaw-Country mit Punk- und Hardcore-Punk. Performance Wegen der verschiedenen Musikstile, die er in seinem Schaffen vereinigt, sind seine Liveauftritte oft zwei- bis dreigeteilt, so dass die erste Stunde vor allem Country und Bluegrass umfasst. Anschließend sind fünf Minuten Pause, um dem Publikum die Gelegenheit zu geben, gegebenenfalls das Konzert zu verlassen. In der zweiten Stunde folgen die eher punkigen oder Metal-Stücke. Die Intensität steigert sich gegen Ende des Sets. In dieser Phase ändert sich Hank Williams’ Gesangsstil vom Klargesang bis zum gutturalen Gesang. Am Ende des Sets werden Stücke von den Assjacks gespielt. Das Publikum wechselt indessen, manchmal verlässt ein Drittel bis die Hälfte des Publikums nach dem Country-Set die Veranstaltung, aber Hank Williams hat auch Fans, die sich das gesamte Konzert ansehen. Erfolg und Bedeutung Williams III versuchte zunächst, aus seinem Erbe Kapital zu schlagen, um seinen unehelichen Sohn zu unterstützen beziehungsweise Schulden zu tilgen. Doch genauso wie sein Vater, der in den 1970ern Country mit Southern Rock verband, verfolgte er später seinen eigenen Weg, der ihn vom traditionellen Country-Publikum entfernte. Sein Publikum sind sowohl Hörer, die traditionelle Country-, Bluegrass- und Cajun-Musik mögen, als auch Punk- und Metalfans, die er unter anderem mit Assjack sowie seinen Arbeiten in Zusammenarbeit mit Phil Anselmo anzieht. Sein Musikstil gilt als einzigartig, wobei gerade die frühen Alben den Kritikern nicht weit genug gingen. Nach vielen Experimenten gelang es ihm letztlich, ein Publikum zu erreichen, das sich aus einer Schnittmenge der drei Szenen Punk, Metal und Country zusammensetzt. Kommerziellen Erfolg hatte er jedoch fast durchgängig nur mit seinen eher traditionell orientierten Alben, die sowohl in den Billboard 200 als auch in den Billboad-Country-Charts hohe Platzierungen erhielten. In der amerikanischen Öffentlichkeit hat er ein Image als Draufgänger, obwohl er sich selbst eher als „netten, aber zutiefst ehrlichen Menschen“ sieht. Curb Records versuchte, ihn zu Seminaren zu bewegen, um sein Image zu verbessern, doch Williams lehnte dies ab. Seine deutlichen Texte führten zudem dazu, dass er von der Supermarktkette Wal-Mart boykottiert wurde. Williams III engagiert sich für die Legalisierung von Hanf, nicht nur aus Sicht des Konsumenten, sondern auch aus landwirtschaftlicher Sicht, um den Bauern eine weitere Existenzgrundlage zu geben. Des Weiteren versucht er seit Jahren, seinem Großvater wieder eine Ehrung in der Grand Ole Opry zukommen zu lassen, und initiierte dafür die Kampagne Reinstate Hank. Diskografie Studioalben Kollaborationsalben Kompilationen Livealben 2001: Live in Scotland (BBC) Halboffizielle Bootlegs Während des Boykotts durch Curb Records veröffentlicht. 2000: Hank III Says Fuck You!!! 2000: Bootleg #1 2001: Bootleg #2 2002: Bootleg #3 Demo 2002: Bootleg #3 Singles 2000: You’re the Reason (von Risin’ Outlaw) 2000: I Don’t Know (von Risin’ Outlaw, Platz #50 in den US Country-Charts) 2001: If the Shoe Fits (von Risin’ Outlaw) 2002: Mississippi Mud (von Lovesick, Broke and Driftin’) 2002: Cecil Brown (von Lovesick, Broke and Driftin’) 2003: Nighttime Ramblin’ Man (von Lovesick, Broke and Driftin’) 2006: Low Down (von Straight to Hell) 2007: Louisiana Stripes (von Straight to Hell) 2008: Six Pack of Beer (von Damn Right, Rebel Proud) 2008: Long Hauls and Close Calls (von Damn Right, Rebel Proud) 2009: P.F.F. (von Damn Right, Rebel Proud) 2009: Redneck Ride (von Assjack) 2010: #5 (von Rebel Within) 2010: Rebel Within (von Rebel Within) 2010: Lost in Oklahoma (von Rebel Within) 2010: Karmageddon (von Rebel Within) 2011: Hellbilly (von Hillbilly Joker) 2011: Tennessee Driver (von Hillbilly Joker) 2011: Hillbilly Joker (von Hillbilly Joker) 2011: Gutter Town (von Ghost on a Ghost/Gutter Town) 2011: Gutter Stomp (von Ghost on a Ghost/Gutter Town) 2011: Outlaw Convention (von Ghost on a Ghost/Gutter Town) 2012: The Wind Blew Cold (von Long Gone Daddy) 2012: Sun Comes Up (von Long Gone Daddy) 2012: Good Hearted Woman (von Long Gone Daddy) 2012: The Bottle Let Me Down (von Long Gone Daddy) 2012: Make a Fall (von Attention Deficit Domination) 2012: Goats N Heathans (von Attention Deficit Domination) 2012: Livin’ Beyond Doom (von Attention Deficit Domination) 2012: In the Camouflage (von Attention Deficit Domination) 2012: Demons Mark (von Attention Deficit Domination) 2012: Black Cow (von 3 Bar Ranch Cattle Callin’) 2012: Mad Cow (von 3 Bar Ranch Cattle Callin’) 2012: square Bailor (von 3 Bar Ranch Cattle Callin’) 2012: Countin Cows (von 3 Bar Ranch Cattle Callin’) 2012: Branded (von 3 Bar Ranch Cattle Callin’) 2012: Moo You (von 3 Bar Ranch Cattle Callin’) 2013: Nearly Gone (von Brothers of the 4x4) 2013: The Outdoor Plan (von Brothers of the 4x4) 2013: Deep Scars (von Brothers of the 4x4) 2013: Farthest Away (von Brothers of the 4x4) 2013: Fight My Way (von A Fiendish Threat) 2013: Broke Jaw (von A Fiendish Threat) 2013: Your Floor (von A Fiendish Threat) 2014: Breakin’ Free (von A Fiendish Threat) 2014: Different from the Rest (von A Fiendish Threat) 2014: Runnin’ and Gunnin’ (von Ramblin’ Man) 2014: Marijuana Blues (von Ramblin’ Man) Musikvideos 2000: You’re the Reason 2008: Long Hauls & Close Calls 2009: Redneck Ride 2014: Different from the Rest 2014: Loners 4 Life Mit Superjoint Ritual Mit Arson Anthem 2008: Arson Anthem (EP, Housecore Records) 2010: Insecurity Notoriety (Album, Housecore Records) Literatur Susan Masino: Family Tradition – Three Generations of Hank Williams. Backbeat Books, 2011, ISBN 978-1-61713-107-3. Weblinks Website Konzertmitschnitte von Hank III auf Archive.org Einzelnachweise Musiker (Vereinigte Staaten) Alternative-Country-Musiker Hank Williams Metal-Bassist Metal-Sänger Punk-Sänger Multiinstrumentalist (Popularmusik) Country-Sänger US-Amerikaner Geboren 1972 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/University%20of%20Virginia
University of Virginia
Die University of Virginia (Universität von Virginia) – kurz UVa oder U.Va. (englisch ausgesprochen als U-V-A: ) – ist eine staatliche Universität in den Vereinigten Staaten von Amerika und liegt in Charlottesville im Bundesstaat Virginia. Sie wurde 1819 auf Betreiben von Thomas Jefferson, des dritten Präsidenten der Vereinigten Staaten, gegründet. Die zentralen Gebäude der Universität – das sogenannte „akademische Dorf“ – wurden von Thomas Jefferson unter Mitwirkung von Benjamin Latrobe im Stil des Klassizismus entworfen und stehen auf der Liste des Weltkulturerbes der UNESCO. Die University of Virginia ist Mitglied der Association of American Universities, eines seit 1900 bestehenden Verbundes der führenden nordamerikanischen Forschungsuniversitäten, und zählt zu den Public-Ivy-Universitäten. Die Universität bietet zahlreiche Bachelor-, Master- und Ph.D.-Studiengänge an, vor allem in den Geistes-, Natur- und Ingenieurwissenschaften. Geschichte Allgemeine Geschichte 1800–1826: Vorbereitungen und Gründung Mindestens seit dem Jahr 1800 hegte der aus Virginia stammende Thomas Jefferson, damals Vizepräsident der Vereinigten Staaten, den Plan, in Virginia neben dem College of William and Mary eine zweite Universität zu gründen. Am College of William and Mary, das er selbst besucht hatte, kritisierte er vor allem die starke religiöse Prägung der Hochschule und das Fehlen von naturwissenschaftlichen Fächern. Außerdem besuchten viele Studenten aus Virginia Universitäten im Norden der Vereinigten Staaten, was Jefferson ablehnte, weil sie dort nördliche Wertvorstellungen lernten, die sie gegen die vermeintlich überlegene, landwirtschaftlich geprägte Lebensweise der Südstaaten – einschließlich der Sklaverei – aufbrächten. Nach dem Ende seiner Amtszeit als Präsident der Vereinigten Staaten im Jahr 1809 zog sich Jefferson auf seinen Wohnsitz Monticello bei Charlottesville zurück und trieb in den folgenden Jahren seinen Plan für eine Universität voran. Ab 1814 nutzte er dafür die Albemarle Academy, eine 1804 gegründete, aber bisher nur auf dem Papier bestehende Akademie, die Jefferson 1816 von der Virginia General Assembly (d. h. Delegiertenhaus und Senat) zum Central College aufwerten ließ – also einer Hochschule, die Bachelorabschlüsse vergibt. 1814 wurde Jefferson zum Trustee des College gewählt. Das Gelände, auf dem die Hochschule gegründet werden sollte, wurde 1817 James Monroe, dem fünften Präsidenten der Vereinigten Staaten, abgekauft. Es lag damals außerhalb des Stadtgebiets von Charlottesville. Schon am 31. August des Jahres wurde der Grundstein für das erste Gebäude der Hochschule gelegt, in Anwesenheit des eigens angereisten residierenden US-Präsidenten Monroe und – mit Jefferson und James Madison – zweier von insgesamt erst vier ehemaligen US-Präsidenten; Washington war bereits verstorben, damit war der in Massachusetts wohnende John Adams der einzige lebende Expräsident des Landes, der der Feierlichkeit nicht beiwohnte. Sogleich nach der Grundsteinlegung arbeiteten Jefferson und seine Unterstützer darauf hin, den Status des college in den einer university – einer Hochschule, die Abschlüsse über den Bachelor hinaus vergeben kann – zu ändern. Auf Betreiben Jeffersons und des ihn unterstützenden Politikers Joseph C. Cabell beschloss das Parlament von Virginia, eine weitere staatliche Universität einzurichten. Mehrere Orte bewarben sich darum (vor allem Staunton und Lexington), zumal in Aussicht stand, dass die Hauptstadt von Virginia aus Richmond fortverlegt würde; der Standort der staatlichen Universität hätte dann große Chancen, zur neuen Hauptstadt Virginias zu werden. Jefferson und Cabell gelang es letztlich, sich mit ihren Universitätsplänen gegen die Mitbewerber durchzusetzen: Am 19. Januar verabschiedete das Delegiertenhaus von Virginia ein Gesetz (University Act), das das Central College zur staatlichen University of Virginia erhob, und am 25. Januar 1819 stimmte auch der Senat von Virginia entsprechend ab. Das Datum gilt als das formelle Gründungsdatum der Universität. Jefferson selbst entwarf – unter Anregungen vor allem von Benjamin Latrobe – die Pläne für die Universitätsgebäude (siehe Campus der Universität) und suchte sowohl in Nordamerika als auch in Europa nach Professoren für die Fächer Philosophie, Kunst (arts), Fremdsprachen, Naturwissenschaft, Rechtswissenschaft und Medizin. Innerhalb ihres fachlichen Schwerpunkts hatten die Professoren auch Spezialisierungen auf von Jefferson ausgesuchte, weniger traditionelle Studienfächer zu unterrichten, so dass die University of Virginia die erste Universität der Vereinigten Staaten wurde, die das Studium von Bereichen wie Astronomie, Architektur, Botanik, Philosophie und Politikwissenschaft anbot. Theologie dagegen stand – und steht bis heute – nicht auf dem Lehrplan, ganz im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Hochschulen, die fast alle stark religiös geprägt waren und zum Teil die Funktion eines Priesterseminars hatten. Die Kapelle der Universität wurde erst 1885–1890 und entgegen den Plänen Jeffersons gebaut. 1826–1850: Unterrichtsaufnahme und Probleme der ersten Jahre Aufgrund von Verzögerungen bei den Bauarbeiten und den transatlantischen Reisen dauerte es noch bis zum 7. März 1825, bevor der Universitätsbetrieb für die ersten 123 Studenten und acht junge Dozenten aufgenommen werden konnte. Sieben der Professoren waren im Ausland geboren und fünf von ihnen – vier Briten und ein Sachse – zogen erst für ihre neue Stelle in die Vereinigten Staaten. Erst nach und nach beschäftigte die Universität mehr US-amerikanische Professoren. (Zum Vergleich: An der damals fast 200 Jahre alten Harvard-Universität unterrichteten 1821 ca. 20 Professoren.) Wie in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts üblich, bot die University of Virginia zunächst vor allem Master-Studiengänge an. Der erste Universitätsabschluss in Medizin (M.D.) wurde 1828 vergeben, der erste Master of Arts 1831 und der erste Abschluss in Rechtswissenschaften 1842. Im Laufe der nächsten Jahre stiegen die Zahlen der Studenten und Professoren und Dozenten an, und das Fächerangebot wuchs insbesondere um die Ingenieurwissenschaften (1836). In den ersten Jahren gab es immer wieder Zwischenfälle und Unruhen der Studenten. Viele Studenten waren Söhne von Plantagenbesitzern und gewohnt, eigene Waffen zu besitzen und von Sklaven bedient zu werden; sie ordneten sich nicht unter und wiegelten auch die übrigen Studenten auf. Sie missbrauchten die ihnen nach Jeffersons Plänen gewährten Freiheiten, es kam zu Konflikten mit den Professoren, vor allem einigen der Europäer. Bereits im ersten Jahr wollten zwei Professoren kündigen, nachdem sie von maskierten Studenten terrorisiert worden waren. Die Beziehungen zwischen Studenten und Professoren besserten sich etwas, aber auch in den nächsten Jahren flackerten immer wieder Unruhen auf. Auch untereinander trugen die Studenten Streitigkeiten aus, sie fochten sogar Duelle. Ihren Höhepunkt fand die Entwicklung, als am 12. November 1840 ein maskierter Student und Unruhestifter den Juraprofessor und Vorsitzenden der Professoren erschoss, nachdem der aus seinem Pavillon getreten war und ihm die Maske vom Gesicht streifen wollte. Der Schock über den Todesfall brachte die Studenten zur Besinnung und änderte schließlich die Beziehung zu den Professoren (siehe auch Ehrenkodex der Universität). 1850–1900: Amerikanischer Bürgerkrieg und Brand der Rotunda Zu Zeiten des Amerikanischen Bürgerkriegs war die University of Virginia nach Harvard die zweitgrößte Universität der Vereinigten Staaten. Während des Krieges wurde der Staat Virginia – als Grenzstaat, als Heimatstaat der Südstaaten-Hauptstadt (Richmond) und aufgrund seiner Lage in unmittelbarer Nähe der Nordstaaten-Hauptstadt (Washington) – Schauplatz von mehr Schlachten als jeder andere Staat der Vereinigten Staaten. Obwohl einige Schlachten weniger als 100 km von Charlottesville entfernt stattfanden, wurde der Universitätsbetrieb, anders als an vielen anderen Hochschulen der Südstaaten, nicht unterbrochen. Nach der ersten Schlacht von Manassas (1861) und im Fortgang des Kriegs dienten der zentrale Universitätsbau der Rotunda und andere Universitätsgebäude als Militärhospital. Im März 1865 marschierte die Nordstaaten-Armee unter Brigadegeneral George A. Custer, bekannt vor allem für seine spätere Niederlage am Little Bighorn gegen die verbündeten Lakota-Sioux, Arapaho und Cheyenne, in Charlottesville ein. Vertreter der Stadt und der Universität kamen mit Custer am Rande des Hochschulgeländes zusammen und überzeugten ihn davon, die Universität zu schonen. Die Truppen der Nordstaaten schlugen ihr Lager im Zentrum der Universität (Lawn) auf und verwüsteten einige der umliegenden Gebäude (Pavillons), aber es kam zu keinem Blutvergießen. Ab 1868 vergab die Universität auch Bachelor-Abschlüsse, doch erst 1899 wurde der Bachelor das primär angebotene Studienziel. Am 27. Oktober 1895 kam es zu einem Brand im zentralen Gebäude und Wahrzeichen der Universität, der Rotunda. Das Feuer war im Anbau des Baus entstanden. Der Mathematikprofessor William H. „Reddy“ Echols, nach dem 1960 ein prestigeträchtiges Förderungsprogramm für begabte Studenten (honor student program) benannt wurde, versuchte, den Brand mit einer Explosion von ca. 45 kg Dynamit einzudämmen, das er vom Dach der Rotunda auf die in Flammen stehende Verbindung zwischen Rotunda und Anbau warf. Stattdessen löste er damit den Einsturz der Gebäudekuppel der Rotunda aus. Nur 17.194 Bücher des über 56.000 Titel umfassenden Bestandes konnten gerettet werden. Mithilfe von Dynamit und Wasser gelang es immerhin, ein Übergreifen des Feuers auf die nächstliegenden Pavillons zu verhindern. Die Rotunda wurde unter Leitung des New Yorker Architekten Stanford White in veränderter Form wiederaufgebaut. 1900–1970: Weiteres Wachstum Jeffersons ursprüngliche Pläne hatten vorgesehen, dass nicht ein einzelner Präsident die Universität leiten solle, sondern ein mehrköpfiger Rat (Board of Visitors). Die ständig wachsende Universität (u. a. 1902 Fachbereich für Wirtschaft, sog. McIntire School of Commerce, 1906 Curry School of Education) brachte den Rat zur Ansicht, dass für die Zukunft ein Präsident notwendig würde. Nachdem der Virginia-Absolvent und spätere US-Präsident Woodrow Wilson das ihm angetragene Stellenangebot abgelehnt hatte, wurde im Jahr 1905 Edwin Anderson Alderman, ein fortschrittlicher Pädagoge und in den gesamten Vereinigten Staaten bekannter Redner, der erste Präsident der Universität. Er setzte bis zu seinem Tod 1931 eine Reihe von Reformen für die Universität und den Bundesstaat Virginia durch, unter anderem führte er an der Universität eines der ersten Programme zur finanziellen Unterstützung von Studenten in den Vereinigten Staaten ein. Die Universität wuchs weiterhin und erreichte im Jahr 1929 eine Größe von 290 Dozenten (1904: 48) und 2450 Studenten (1904: 290). Während des Ersten Weltkriegs richtete die Universität militärische Kurse ein. Acht von zehn Studenten traten außerdem dem neugegründeten Trainingscorps für Reserveoffiziere (Reserve Officers’ Trainings Corps – ROTC) bei. 1940 kam Franklin D. Roosevelt, der 32. US-Präsident, an die University of Virginia, um bei der Abschlussfeier seines Sohnes, Franklin D. Roosevelt Junior, (Jura) anwesend zu sein. Anstelle seiner geplanten Ansprache für die Universitätsabsolventen hielt er am 10. Juni 1940 spontan seine historische Stab-in-the-Back-Rede (engl. für: Dolchstoß in den Rücken), in der er den Eintritt Italiens in den Zweiten Weltkrieg verurteilte. Vier Jahre später führte der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten zu einem drastischen Rückgang der Studentenzahlen auf 1322 (1939: 3000). Die Zahlen erholten sich nach Kriegsende rasch wieder, vor allem aufgrund der GI Bills, der allen Kriegsveteranen ein Hochschulstudium erlaubte. Die 50er Jahre brachten eine Verdopplung der Studentenzahlen und eine Verdreifachung der Professoren- und Dozentenzahlen (im Vergleich zu Vorkriegszahlen) sowie die Gründung mehrerer neuer Fachbereiche und die Auslagerung und Erweiterung bestehender Fächer in autonome Institute (schools: 1951 School of Architecture, 1954 Graduate Business School (ab 1974: Darden Graduate School of Business Administration), 1956 School of Nursing). 1954 beteiligte sich die University of Virginia mit zunächst 5.000 US-Dollar an den Kosten für den Aufbau des Clinch Valley College of the University of Virginia (ab 1999: University of Virginia’s College at Wise) in Wise (Nähe Norton) im Wise County im Südwesten von Virginia. Das College bot anfangs nur zweijährige Studiengänge an, 1970 vergab es die ersten Bachelor-Abschlüsse nach der in den Vereinigten Staaten üblichen Studiendauer von vier Jahren. Heute ist das University of Virginia’s College at Wise das einzige Zweig-College der University of Virginia und genießt einen für ein staatliches Liberal-Arts-College sehr guten Ruf, kann aber – wie die anderen staatlichen Liberal-Arts-Colleges der Vereinigten Staaten – den Vergleich mit den besten privaten nicht aufnehmen. 1970–2000: Studentenproteste 1970 und Pflege des architektonischen Erbes Im Mai 1970 fanden in den Vereinigten Staaten landesweit Studentenproteste gegen den Vietnamkrieg und gegen den Tod von vier Studenten statt, die an der Kent State University bei Antikriegsdemonstrationen von der Polizei erschossen worden waren (Kent-State-Massaker). Auch an der University of Virginia kam es zu Studentendemonstrationen und Konfrontationen mit der Universitätsleitung. Der derzeitige Präsident der University of Virginia, Edgar F. Shannon junior, suchte den Dialog mit Studentenführern und aufgebrachten Demonstranten. Er überzeugte die Professoren, Abwesenheit und verspätet eingereichte Arbeiten zu entschuldigen, damit sich die Studenten „auf konstruktive Aktionen in der Richtungsänderung der Kriegspolitik des Landes konzentrieren“ könnten (concentrate on constructive action in the re-direction of the nation’s war policy). Die Haltung des Präsidenten erntete Kritik von der US-amerikanischen Regierung und vielen ehemaligen Studenten, aber Anerkennung von Studenten und Professoren. Shannon verteidigte seine Haltung später durch den Hinweis, dass die Studentenunruhen an mehreren Hundert der großen US-Universitäten zu drastischen Folgen geführt hätten, woraufhin die meisten ihren Universitätsbetrieb aussetzen oder die Universität vorübergehend schließen (z. B. Princeton von Anfang Mai bis zum nahen Semesterende) mussten. An der University of Virginia seien hingegen keine Veranstaltungen ausgesetzt oder abgesagt worden; nach Aussagen von Shannon blieben die Teilnehmerzahlen an Universitätsveranstaltungen in vielen Fachbereichen und Instituten fast unverändert und kehrten in den übrigen Instituten bis zum 13. Mai auf ein weitgehend normales Niveau zurück. 1973–1976 wurden die nach dem Brand der Rotunda vorgenommenen Änderungen in weiten Teilen rückgängig gemacht, so dass der Bau heute dem Ursprungszustand wieder näherkommt. 1987 nahm die UNESCO die von Jefferson entworfenen Gebäude der Universität, einschließlich der Rotunda, gemeinsam mit Jeffersons nahegelegenem Wohnsitz Monticello als 442. Objekt in ihre Liste des Weltkultur- und Weltnaturerbes der Menschheit auf. Die Auswahl traf sie gemäß den Kriterien für Weltkulturgüter I, IV und VI. Die University of Virginia wurde damit weltweit die erste Universität auf der UNESCO-Liste; seither wurden noch zwei weitere Universitäten ausdrücklich (Alcalá de Henares, 1998; Universitätsstadt von Caracas, 2000) und die Universität von Salamanca 1988 als Teil der Altstadt als Welterbe ausgezeichnet. Seit 2000: Erweiterungen Im Oktober 2001 kündigte das Board of Visitors an, einen Teil des Universitätsgeländes im Süden der altehrwürdigen, von Jefferson entworfenen Universitätsgebäude von dem renommierten modernen Architekturbüro Polshek Partnership neugestalten und erweitern zu lassen. Anlass des sogenannten South Lawn Project waren der schlechte bauliche Zustand des Gebäudes New Cabell Hall, das die meisten Veranstaltungsräumen der Universität beherbergt, und ein gestiegener Raumbedarf. Im Frühjahr 2005 wurde die Zusammenarbeit mit Polshek Partnership beendet, da der Neubau teuer und für manchen Geschmack zu modern zu werden drohte. Stattdessen werden New Cabell Hall renoviert und ein zusätzlicher Neubau in konservativem rotem Backsteinstil mit weißen Bauelementen errichtet, ähnlich den alten Gebäuden der Universität (Stand 2008). Das Projekt löste kontroverse Diskussionen aus: Den einen war der ursprüngliche Entwurf zu modern für die Lawn-nahe Lage, den anderen – unter anderem den Architekturprofessoren der Universität – gilt der nun durchgeführte konservative Entwurf als unkreatives Nachäffen von Jeffersons Architekturstil. Von Beginn des universitären Sommerprogramms (summer session) 2006 – nach anderen Angaben ab Dezember 2005 – bis Ende Mai 2016 übernahm die Universität von Virginia die akademische Leitung (academic sponsorship) des vom Institute for Shipboard Education (ISE) durchgeführten Semester-at-Sea-Programms (engl. für Semester auf See). Das Programm, das 1963 unter dem Namen World Campus Afloat gegründet und zeitweilig in The University of the Seven Seas umbenannt worden war, bietet Studenten vor dem Bachelor die Möglichkeit zu einem „Auslandsstudium“ auf einem Kreuzfahrtschiff. Nach ihrer Übernahme der Leitung von der University of Pittsburgh, die diese Aufgabe nach 24 Jahren u. a. aufgrund nicht ausreichender Informationen bzgl. der Sicherheit des 2004 neu gekauften Schiffes Explorer abgab, stellte nun die University of Virginia für die Fahrten von Sommer 2007 bis Frühjahr 2016 die Nachweise für die im Semester at Sea erbrachten akademischen Leistungen (Leistungspunkte) aus und wählte den jährlich wechselnden akademischen Dekan aus, der den Lehrplan erarbeitet, an der Reiseroute mitwirkt und die über die Jahre ca. 28-32 auf dem Schiff unterrichtenden Dozenten aussucht. Am 28. August 2009 lief das Schiff zur 100. Reise weltweit in der Geschichte des 45-jährigen Programms aus; auch die Fahrt des 50.000-ten Studenten seit Gründung des Programms (1963) fiel in die Zeit der akademischen Leitung durch die University of Virginia. Zunächst unbemerkt für die Öffentlichkeit entstanden beim Institute for Shipboard Education (Sitz nunmehr im Albemarle County) jedoch Schwierigkeiten, den 83,5-Millionen-$-Kredit zur Abzahlung der Explorer zu bedienen. Zu einem Zeitpunkt, als von dem Kredit noch 66,1 Millionen $ abzutragen waren, rettete sich das ISE am 2. Mai 2014 in einen Vertrag mit einer deutschen Bank, um sich vor dem Zugriff der Gläubiger zu schützen; Auflage war u. a. der Verkauf der Explorer über einen internationalen Schiffshändler bis zum 30. April 2015; außerdem musste das ISE vor Antritt jeder Fahrt nachweisen, dass es über die dazu nötigen finanziellen Mittel verfügte, andernfalls seien die Fahrt zu streichen und alle Studiengebühren an die Studenten zurückzuerstatten; die akademische Leitung (sponsor) durfte sich gemäß Vertrag zurückziehen. Diese Hintergründe wurden im Juli 2015 bekannt, nachdem die University of Virginia – zur zunächst allgemeinen Überraschung – einen Monat zuvor mitgeteilt hatte, sich zum 31. Mai 2016 in der Tat als akademische Leitung des Programms zurückzuziehen. Das ISE verfolgte zunächst den Plan, die Explorer zu verkaufen und zurückzuchartern. Letztlich wechselte das Semester at Sea jedoch zu einem anderen Schiff, nämlich zur Deutschland (dem ehemaligen „Traumschiff“), die gerade von der insolventen Eigentümergesellschaft verkauft worden war. Seither (Stand Juli 2020) nutzt Semester at Sea das Schiff, das im Sommer wieder als Kreuzfahrtschiff unter dem Traditionsnamen Deutschland fährt, für das Herbst- und Frühjahrssemester unter dem Namen World Odyssey, d. h. mit offiziellem Namenswechsel von September bis April; nach den ersten zwei Jahren wurde ein entsprechender 10-Jahres-Vertrag bis 2027 abgeschlossen, die früher üblichen Sommerreisen wurden indes seit 2014 nicht mehr durchgeführt. Seit Sommer 2016 übernahm die Colorado State University von der University of Virginia die akademische Leitung des Programms. Im August 2017, anlässlich der rechtsextremen Demonstrationen auf dem Lawn und in der Innenstadt von Charlottesville (siehe Ethnische Minderheiten und Frauen), bekundete das ISE, das mittlerweile nach Fort Collins in Colorado umgezogen war, sich der University of Virginia jedoch weiterhin nahezufühlen: Ein Teil des Erbes von Semester at Sea wurzele in Charlottesville auf dem Campus der Universität von Virginia. 2007 wurde die Frank Batten School of Leadership and Public Policy eingerichtet, deren erste Studenten im Jahr 2009 ihren Abschluss erhielten. Die Batten School trägt ihren Namen nach dem ehemaligen Virginia-Studenten und langjährigen Mäzen Frank Batten, der den neuen Fachbereich mit einer Spende über 100 Millionen US-Dollar förderte. Ethnische Minderheiten und Frauen Bis 1950: Keine reguläre Zulassung bis zum Bachelor Die University of Virginia stand ursprünglich nur männlichen, weißen Studenten offen. Zu Zeiten der Sklaverei gab es auf dem Hochschulgelände, wie an Hochschulen der Südstaaten üblich, schwarze Sklaven, deren genaue Unterbringung heute allerdings nur noch schwer zu rekonstruieren ist. Auf dem Gelände der Universität lebten auch Frauen, unter anderem die Ehefrauen der Professoren. Spekuliert worden ist, ob es in den frühen Jahren in einem 1840 errichteten Gebäude (Crackerbox) ein kleines Bordell an der Universität gab. Seit 1890 besuchten Schwarze und weibliche Studenten Sommerangebote der Universität, blieben vom regulären Unterricht während der Semester jedoch weiterhin ausgeschlossen. Eine Studentin bestand 1893 zwar eine Prüfung und erwarb ein Zertifikat in Mathematik, doch diese Praxis wurde vom Rat der Universität (Board of Visitors) daraufhin explizit untersagt. Erst nach Protesten im frühen 20. Jahrhundert ließ die Universität ab 1920 Studentinnen für Studien jenseits des Bachelors (graduate studies) zu. Studenten ethnischer Minderheiten waren noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vom Universitätsbetrieb ausgeschlossen (Rassentrennung). Wie an Universitäten der Südstaaten üblich, lehnten es die Sportmannschaften der University of Virginia sogar ab, gegen schwarze Spieler anderer (Nordstaaten-)Universitäten anzutreten. Als in den 1940er Jahren einige Nordstaatenuniversitäten danach strebten, bei Spielen gegen Südstaatenuniversitäten auch schwarze Spieler einzusetzen, brachte die American-Football-Mannschaft von Harvard 1947 nach Vorankündigung ihren schwarzen Teamkollegen Chester Pierce (später ein bekannter Psychiatrie-Professor und Namensgeber des antarktischen Pierce Peak) zu einem Spiel an die University of Virginia – ihrem ersten Spiel in den Südstaaten überhaupt. Das Spiel wurde das erste, bei dem ein Schwarzer in den Südstaaten auf dem Feld einer „weißen“ Universität antrat. Trotz rassistischer Zwischenfälle bei der Unterbringung der Mannschaft verlief das Spiel selbst – abgesehen von einem überragenden 47:0-Sieg für Virginia – ohne besondere Vorkommnisse. 1950 – 1970er: Schrittweise Öffnung der Universität Noch bis in die fünfziger Jahre ließ die University of Virginia nur Weiße als reguläre Studenten zu. Erste Ausnahmen waren ein schwarzer Jurastudent, der im Jahr 1950 die Zulassung erkämpfte, und ein schwarzer vorheriger Universitätsdozent, der von 1951 bis 1953 in Pädagogik promovierte. Im akademischen Jahr 1966/67 führte Universitätspräsident Edgar F. Shannon junior für Stellenbewerber die Regelung ein, dass bei ungefähr gleich qualifizierten Bewerbern unterschiedlicher Ethnien schwarze Bewerber vorzuziehen seien, und 1967 wurde der erste schwarze Professor eingestellt. 1968 und 1969 wurden schwarze Studenten zum student council, einer Studentenvertretung an der Universität, und sogar zu dessen Präsident gewählt. Schließlich änderten sich durch wachsenden Einsatz der Universität, schwarze Studenten zu gewinnen, auch die Zahlen: 1969 gab es 102, ein Jahr später bereits 236 eingeschriebene schwarze Studenten (knapp 2,2 % der Studentenschaft). Von 1944 bis 1972 war das Mary Washington College (seit 2004: University of Mary Washington) in Fredericksburg (Virginia), das 1908 als Frauencollege gegründet worden war, mit der University of Virginia verbunden. In den 1960er Jahren nahmen in der Universitätsleitung und unter Dozenten und Studenten die Diskussionen darüber zu, ob auch die University of Virginia Frauen aufnehmen solle. Die Entwicklung wurde schließlich durch Gerichtsprozesse beschleunigt: 1969 erstritt sich eine Studentin über eine gerichtliche Verfügung die Zulassung. Unter dem Druck eines drohenden Urteils des Bundesgerichts wurden an der University of Virginia 1970 offiziell die ersten 450 weiblichen Bachelor-Studenten (undergraduate students) zugelassen, 550 folgten im nächsten Jahr. 1972 öffnete sich die University of Virginia vollständig für weibliche Studenten; 45 % der Studienanfänger in diesem Jahr waren weiblich. In den folgenden Jahren wurden Studenten ethnischer Minderheiten und weibliche Studenten schnell zur Normalität an der Universität; beispielsweise wurde schon 1972/1973 eine schwarze Studentin Präsidentin der School of Law. Seit 2000: Diversität trotz wiederholter Zwischenfälle Inzwischen bietet die University of Virginia schwarzen Studenten laut dem Journal of Blacks in Higher Education gute Studienbedingungen: In einer 2005 veröffentlichten Untersuchung hatte die Universität mit 14 % die niedrigste Studienabbruchsquote von schwarzen Studenten unter allen Public-Ivy-Universitäten, die bereits allgemein deutlich unter dem nationalen Durchschnitt von 60 % lagen. Diese Quote unterschied sich nur relativ wenig von den entsprechenden Zahlen für weiße Studenten (9 %), womit die University of Virginia gemeinsam mit zwei anderen Universitäten unter den Public Ivys ebenfalls führend war. Der Anteil schwarzer Studenten an der Gesamtstudentenzahl lag mit 8,5 % an zweithöchster Stelle der Public Ivys (zahlengleich mit einer anderen Universität). Wie an den meisten Universitäten, bestehen Probleme weiterhin hinsichtlich der Anzahl von Dozenten und Professoren, die einer ethnischen Minderheit angehören und/oder weiblich sind (Stand 2006). Außerdem gab es trotz eines generell positiven Klimas in den letzten Jahren wiederholt rassistische Vorfälle unter Studenten. So kostümierten sich Studenten 2002 für eine Halloween-Party als Blackface; 2003 wurde die schwarz-asiatische Studentin Daisy Lundy, die als Präsident der Studentenvertretung kandidierte, vermutlich mit rassistischem Hintergrund angegriffen; und 2004 wurde der Wagen einer schwarzen Studentin mit einem schwer entfernbaren Material rassistisch beschmiert. Im November 2014 sorgte der Artikel A Rape on Campus in der Zeitschrift Rolling Stone für Aufsehen. Der Artikel beschrieb die angebliche Vergewaltigung einer Studentin durch mehrere Mitglieder der „Phi Kappa Psi fraternity“ während eines Aufnahmerituals auf einer Hausparty an der UVa im Herbst 2012. Die Geschichte stellte sich später als unhaltbar heraus, nachdem sowohl die Polizei als auch weitere Journalisten diesen Bericht kritisch hinterfragt hatten und auf zahlreiche Widersprüche gestoßen waren. Der Artikel berief sich allein auf die Aussagen des angeblichen Opfers mit dem Decknamen „Jackie“. Es wurden keine weiteren Teilnehmer der Party, Beteiligte oder Zeugen befragt. Die Universität und die Verbindung „Phi Kappa Psi“ wurden vom Inhalt des Artikels nicht ausreichend vorinformiert, so dass sie ihre Stellungnahme erst nach Erscheinen des Artikels abgeben konnten. „Phi Kappa Psi“ konnte unter anderem nachweisen, dass zum fraglichen Zeitpunkt keine Party in ihrem Haus stattgefunden hatte. Dennoch suspendierte die Universität die Aktivitäten der Studentenverbindungen für einige Zeit und erließ in der Folge schärfere Regeln für Partys, besonders was den Alkoholkonsum betraf. 2017 wurde die Universität in die Proteste von Rechtsextremisten hineingezogen, die ein internationales Medienecho hervorriefen: Die politisch eher progressive Stadt Charlottesville plante, die in der Stadt stehende Reiterstatue von General Robert E. Lee, der im Amerikanischen Bürgerkrieg für die Südstaaten und die Beibehaltung der Sklaverei gekämpft hatte, zu entfernen. Daraufhin reisten seit dem Frühjahr immer wieder Rechtsextremisten und Südstaaten-Ultrakonservative für Proteste an. Im August zogen schließlich mehrere hunderte Menschen in einem Fackelzug, White-Supremacy- und antisemitische Parolen skandierend, über den Lawn und vorbei an der Rotunda zum Denkmal von Thomas Jefferson, das an der Straßenseite der Rotunda steht. Mit einer Handvoll Gegendemonstranten, die vor der Jefferson-Statue mit einem Plakat protestierten, kam es zu einer Schlägerei; es erfolgte mindestens eine Festnahme durch die Polizei. Stunden später protestierten am 12. August die Rechtsextremisten und Ultrakonservativen in der Innenstadt von Charlottesville mit Flaggen bzw. Kriegsflaggen der Konföderierten und unter anderem auch einer Nazi-Flagge (siehe Photo); ein psychisch kranker 20-jähriger Rechtsextremist aus Ohio fuhr sein Auto in eine Menschenmenge von Gegendemonstranten, tötete eine Frau und verletzte 19 weitere Menschen (siehe: Rechtsextreme Demonstrationen in Charlottesville 2017). Der Heaphy-Untersuchungsbericht kritisierte, die University of Virginia habe Stunden vorher um den geplanten Fackelzug gewusst – inzwischen aufgetauchte E-Mails belegen sogar ein paar Tage – und nichts unternommen; vor allem der Chief der Universitätspolizei – eine an US-Universitäten übliche Institution – habe keinen umfassenden Plan für die Situation gehabt, auch nicht, um die Protestanten und Gegendemonstranten getrennt zu halten. Nachdem James E. Ryan – ein Absolvent der University of Virginia School of Law, langjähriger Dozent dort und zuletzt Dekan der Harvard School of Education – im August 2018 der neunte Präsident der Universität wurde, kündigte er in seiner Antrittsrede Schritte für mehr sozioökonomische Diversität an: Bachelor-Studenten, die aus dem Staat Virginia stammen, sollen zukünftig ein Vollstipendium für die Studiengebühren (tuition) erhalten, wenn ihre Eltern weniger als 80.000 $ im Jahr verdienten, und darüber hinaus auch kostenlose Unterkunft und Essen, wenn die Eltern weniger als 30.000 $ im Jahr verdienten. Es blieb zunächst offen, wie bald diese Ideen umgesetzt werden sollten. Campus Der University of Virginia gehören ca. 13,5 km² (3340 Acres) Land mit über 500 Gebäuden. Der Großteil davon liegt in Charlottesville und bildet den Campus der Universität, der dort üblicherweise grounds oder The Grounds genannt wird. Er besteht aus zwei zusammenhängenden Teilen. Im dichter bebauten, südlichen Teil (South Grounds) liegt das Herz der Universität, das sogenannte akademische Dorf mit den ältesten Gebäuden des Campus. Im Laufe der Jahre ist die Universität weit darüber hinausgewachsen: In den 1970er Jahren wurde zusätzlich ca. zwei Kilometer weiter nördlich ein zweiter Schwerpunkt des Campus (North Grounds) ausgebaut. Das akademische Dorf Die zentralen Gebäude des Campus wurden in dem nach Thomas Jefferson benannten Jeffersonian style (engl.: Jefferson-Stil) errichtet, einer Ausformung des Palladianismus, der seinerseits dem Klassizismus zugerechnet wird. Auf Jefferson selbst geht auch die Bezeichnung für diese ältesten Teile der Universität als akademisches Dorf (academical village) zurück. Zusammen mit seinem ebenfalls von ihm entworfenen Landsitz Monticello nahe Charlottesville wurde das akademische Dorf 1987 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Die Gebäude zeichnen sich farblich durch die Verbindung von rotem Backstein und weißen Elementen (zum Beispiel Giebel, Säulen, Tür- und Fensterrahmen) aus, allerdings ergänzten Jeffersons ursprüngliche Entwürfe die Farbgebung um Kupfer und Sandsteintöne. In Teilen der Literatur und ganz überwiegend in der Populärkultur wird das akademische Dorf der University of Virginia als alleiniges architektonisches Meisterwerk von Jefferson dargestellt. Diese Sicht ist jedoch zu undifferenziert, insbesondere mit Hinblick auf den damals in den Vereinigten Staaten führenden und zudem mit Entwürfen für Universitäten vertrauten Architekten Benjamin Latrobe. Die Bedeutung, die seine Mitwirkung für die Architektur des akademischen Dorfes gespielt hat, lässt sich heute nur noch teilweise beurteilen. Erhalten sind in diesem Zusammenhang allerdings mehrere Briefe zwischen Jefferson und Latrobe, einige Notizen auf Jeffersons Entwürfen und einzelne Zeichnungen von Gebäuden des akademischen Dorfes, die nach heutiger Sicht möglicherweise Latrobe zuzuschreiben sind. Sie deuten darauf hin, dass auf Latrobe nicht nur die Idee des zentralen Rundbaus (Rotunda), sondern auch Entwürfe für weitere Bauten (Pavillons) zurückgehen. Einem weiteren Gebäude liegt ein Entwurf William Thorntons zugrunde. Unbestritten bleibt Jeffersons architektonische Gesamtleistung, namentlich bei der Gesamtanlage, aber auch bei der weiteren Arbeit und Feinausführung der möglicherweise von anderen Architekten angeregten Entwürfe sowie bei der Innenarchitektur der Rotunda. Überblick über die Gesamtanlage Beschreibung der Anlage Das akademische Dorf ist hufeisenförmig um den sogenannten Lawn (engl.: Rasen) angelegt, eine 740 Fuß (225,6 m) lange und 192 Fuß (58,5 m) breite Rasenfläche, die von Norden nach Süden in drei breiten Terrassen abfällt. Jefferson hatte ursprünglich eine quadratische Anlage geplant, an deren drei bebauten Seiten jeweils drei größere Bauten stehen sollten. Aufgrund der schmaleren Form der Hügelkuppe, die schließlich als Baugelände der Universität gekauft wurde, musste Jefferson die Pläne jedoch zu einer rechteckigen Form ändern, an deren nördlichem Kopfende nur ein einziges zentrales Gebäude Platz findet. Die übrigen Bauten liegen in vier Reihen parallel zum Lawn. Am Kopfende des Lawn steht die Rotunda, ein Rundbau nach dem Vorbild des römischen Pantheons, in dem ursprünglich die Universitätsbibliothek untergebracht war. Die Universitätskonzeption Jeffersons unterscheidet sich damit bewusst von der typischen Universitätsanlage seiner Zeit, in der der Mittelpunkt des Campus eine Kirche war; die Räume im Erdgeschoss dienten allerdings allen Versammlungen, die zu groß für andere Räumlichkeiten waren, und damit nach Jeffersons eigener Beschreibung auch „religiöser Anbetung“ (religious worship). An den Langseiten des Lawn stehen jeweils fünf größere Gebäude, die sogenannten Pavillons, die fast ausnahmslos als Häuser für Professoren dienen. Die Pavillons sind mit Kolonnaden verbunden, hinter denen sich ebenerdig Studentenzimmer reihen, deren Zimmertüren direkt auf den Lawn hinausgehen. Entlang den Kolonnaden stehen in zwei losen Reihen große Bäume, deren Anpflanzung ebenfalls bereits auf Pläne Jeffersons zurückgeht. Hinter den Pavillons liegen auf der Lawn-abgewandten Seite öffentlich zugängliche Gärten. Jenseits von ihnen folgen – parallel zu den Reihen der Pavillons, aber mit vom Lawn abgewandten Eingängen – jeweils drei Bauten, die auf Jefferson zurückgehend als Hotels bezeichnet werden. Die Hotels dienten ursprünglich als mensaähnliche Gebäude und Wohnräume für die sie betreibenden Familien; heute sind in ihnen vor allem Räume von Universitätsverwaltung und Studentengruppen untergebracht. Verbunden sind die Hotels durch je eine Reihe arkadengesäumter Studentenzimmer (West Range und East Range), deren Zimmertüren sich direkt auf die Arkadengänge öffnen. Die Zimmer sind heute für Studenten mit abgeschlossenem Bachelor (graduate students) reserviert. Die Südseite des Lawn gab nach Jeffersons Plänen in bewusster Symbolik ursprünglich den Blick auf die Welt jenseits der Universität frei. Auf niedrigerem Terrain wollte Jefferson dort unter anderem einen botanischen Garten anlegen. Im Mai 1826 suchte er noch mit einem Universitätsprofessor einen geeigneten Platz aus, doch nur zwei Monate später starb Jefferson, und der Garten wurde nie verwirklicht. 1896 wurde am Südende des Lawn im Zuge des Wachstums der Universität das Gebäude Old Cabell Hall (Architekt Stanford White) gebaut, dessen Inneres unter anderem ein halbrundes Auditorium im Stil antiker Theater enthält. Das Äußere von Old Cabell Hall ist in Backstein gehalten und passt sich der Ästhetik von Jefferson an. Bezug der Gebäude aufeinander und Wirkungsgeschichte Durch das akademische Dorf zieht sich auf mehrfache Weise eine sichtbare Hierarchie. Sie verläuft einerseits von den Rändern der Anlage – dem Range mit Studentenzimmern und Essgelegenheiten – über die Lawn-Seiten mit den Pavillons zur Rotunda, die als Bibliothek das Wissen und die Wissenschaft repräsentiert: So ist der Range fast durchgehend in schlichtem Backstein gehalten, einschließlich der gemauerten Arkaden und der niedrigen, fast schmucklosen Fassaden der Hotels. Die Seiten des Lawn sind hingegen durch ihre ursprünglich sandsteinfarbenen Kolonnaden und die repräsentativen Pavillonfassaden mit weißen Bauelementen gekennzeichnet. In der Mitte schließlich steht – ursprünglich mit einem Kupferdach – die erhöhte Rotunda, die durch Form und die Anlage ihres Säulenvorhofes (Portikus) einem antiken Tempel gleich die Blicke auf sich zieht. Zugleich verläuft durch die Anlage eine zweite, noch stärker funktionell begründete Rangordnung, die insbesondere durch die in ihrer klassischen Hierarchie eingesetzten Säulenordnungen augenfällig wird: Zuunterst stehen hier die kleinen Einzelzellen der Studentenzimmer, die sich gleichförmig hinter ihren jeweiligen Arkaden bzw. toskanischen Kolonnaden erstrecken und zum Teil im schlichten Läuferverband gemauert sind. Größer, individuell entworfen und zum Teil mit Gärten versehen sind die im flämischen Verband gemauerten sechs Hotels, und zwei ihrer Fassaden zeigen dorische Säulen. Auf der nächsten Stufe stehen die noch größeren, untereinander gleichwertigen Pavillons, deren ebenfalls im flämischen Verband geziegelten Fassaden dorische, ionische und korinthische Säulen vorgestellt sind, die vor allem in der Nähe der Rotunda meist über zwei Stockwerke reichen (Kolossalordnung); weitere Bauelemente sind den Säulenordnungen entsprechendes klassisches Gebälk, Balustraden und andere weißgestrichene Elemente. Die Rotunda schließlich hat als Zeichen des umfassenden in ihr gesammelten Wissens außen korinthische Säulen, in ihren Innenräumen aber zusätzlich dorische und ionische und im als Bibliothek dienenden Kuppelsaal die hierarchisch höchststehenden kompositen Säulen. Doch trotz der durchgeplanten und scheinbar exakt symmetrischen Anlage des akademischen Dorfes lebt dessen Gesamteindruck von der Verbindung von durchkomponierter, klassischer Symmetrie und deren Durchbrechung; letztere geht zum Teil auf absichtliche Komposition, zum Teil auf die kleinen Unregelmäßigkeiten des Terrains zurück, auf dem das akademische Dorf errichtet wurde. Doch neben ästhetischen verfolgte Jefferson stets auch pädagogische Ziele und versuchte bis in Detail der von ihm entworfene Anlage, den Universitätsunterricht zu unterstützen und eine ideale Lernatmosphäre zu schaffen. Die Anlage des Lawn mit der Rotunda hat für mehrere andere Universitäten Modell gestanden, unter anderem für die Entwürfe des Sweet Briar College (1902), der Johns Hopkins University (1902), der University of Minnesota (1910), der Rice University (1910), des Faye and Joe B. Wyatt Center for Education am Peabody College der Vanderbilt University (1915) und dem Killian Court mit dem Kuppelbau des Great Dome am Massachusetts Institute of Technology (MIT) (1916). Mehrere Universitätsarchitekten übernahmen das Element einer zentralen parkähnlichen Fläche, die von den Universitätsgebäuden gesäumt wird, so Ralph Adams Cram für das Wheaton College bei Boston. Bebilderter Überblick über die Gebäude am Lawn Die Rotunda Am Kopfende des Lawn steht zentral die Rotunda (engl. für Rotunde), die als eines der herausragendsten architektonischen Werke der Vereinigten Staaten gilt und das Wahrzeichen der Universität ist. Geplante Nutzung und Entwurf der Rotunda Jeffersons ursprünglicher Entwurf für das akademische Dorf (sog. Albemarle Academy design) sah kein besonders gestaltetes Gebäude für den Scheitelpunkt der Umbauung des – damals noch quadratisch geplanten – Lawn vor. Die beiden Architekten Latrobe und Thornton, die er um Vorschläge für die Universitätskonzeption bat, empfahlen jedoch unabhängig voneinander ein zentrales Gebäude im Scheitelpunkt des hufeisenförmig umbauten Lawn. Thornton sah einfach einen um ein Stockwerk erhöhten Pavillon vor. Latrobe hingegen schlug in seinem Antwortbrief vom 24. Juli 1817, mit einer beigefügten Zeichnung, für das zentrale Gebäude einen Rundbau mit Giebel und sechs vorgestellten Säulen vor; er empfahl drei Stockwerke, dessen oberstes ein runder Kuppelsaal einnehmen sollte. Jefferson nahm die Anregung auf und erhielt auch später noch Ratschläge und vermutlich sogar ganze Skizzen von Latrobe für die Rotunda, so dass er sie in seinen Unterlagen einmal sogar Latrobe’s Rotunda nannte. Als Vorbild für den Rundbau benutzte Jefferson das römische Pantheon. Er hatte den antiken Bau nie gesehen und stützte seine Kenntnisse vor allem auf Palladios Zeichnungen aus dessen Werk Quattro libri dell’architettura (dt.: Vier Bücher der Architektur; Kapitel 20: Del Pantheon hoggi detto la Ritonda) in der Übersetzung von Giacomo Leoni; darin wird das Pantheon gemäß seinem Kirchennamen Santa Maria della Rotonda (ab 607 n. Chr.) auf englisch als Rotunda bezeichnet, woraus sich vermutlich auch der Name von Jeffersons Bau ableitet. Wie beim Pantheon bildete die Grundlage für Jeffersons Rotunda nach dessen eigenen Worten „eine Kugel in einem Zylinder“ (a sphere within a cylinder). An den Zylinder ist ein Säulenvorhof (Portikus) mit korinthischen Säulen angefügt, deren Kapitelle (obere Säulenabschlüsse) aus Carrara-Marmor Jefferson fertig behauen aus Italien bestellte, nachdem sich heimischer Schiefer als unbrauchbar herausgestellt hatte. Das Dach der Rotunda beschreibt einen 120°-Kreisbogen, wobei der untere Teil des Daches – wie auch beim Pantheon – außen in sechs Stufen ansteigt, an die sich die Wölbung anschließt. Anders als der antike Tempel hat Jeffersons Bau allerdings einen Keller, der im breiten Podest des Gebäudes untergebracht ist; die gedachte „Kugel in einem Zylinder“ reicht bei der Rotunda dadurch unter die Erdoberfläche (siehe Jeffersons Entwurf 1817), was – gemeinsam mit dem Verzicht auf den Doppelgiebel des römischen Baus – optisch zu anderen Proportionen als beim Pantheon führt. Dennoch wirkt Jeffersons Entwurf von außen schlanker als das Pantheon: Im Gegensatz zur Rotunda reicht die dem römischen Tempel einbeschriebene, gedachte Kugel nicht bis zu den Außenmauern des Baus. Daneben weicht Jeffersons Bau von seinem Vorbild durch das Baumaterial – in Virginia gebrannter roter Backstein mit weißen Elementen bei der Rotunda, mit Ziegeln ummauerter Beton beim Pantheon – und durch die großen, weiß eingefassten Fenster in der Außenwand ab. Ein weiterer Unterschied betrifft den verkleinerten Maßstab, da die Rotunda eine Höhe und einen Durchmesser von 77 Fuß (23,5 m) hat; Jefferson beschrieb den Durchmesser der Rotunda, oft zitiert, als halb so groß wie den des Pantheons und entsprechend ihre Fläche und ihr Volumen als ein Viertel bzw. Achtel des antiken Baus, was angesichts des Pantheon-Durchmessers von 43,3 m allerdings nur näherungsweise zutrifft. Mit der Größe reduzierte Jefferson auch die Zahl der Säulen im Säulenvorhof – der Vorhof der Rotunda ist sechs Säulen breit und drei Säulen (drei Joche) tief, wohingegen der Säulenvorhof des Pantheons acht Säulen breit und drei tief ist; zudem ist der antike Vorhof durch zwei Säulenpaare hinter der vorderen Säulenfront unterteilt, die die kurze Vorhalle ähnlich wie ein zentrales, zum Eingang führendes Längsschiff mit zwei Seitenschiffen gliedert. Die größten Abweichungen finden sich jedoch im Innern der Gebäude: Während das römische Pantheon einen einzigen Raum beherbergt, teilte Jefferson die Rotunda in drei Stockwerke – Keller, Erdgeschoss und Obergeschoss – und die beiden unteren Stockwerke in jeweils drei ovale Räume und einen ungefähr sanduhrförmigen Korridor. Die Räume des Keller- und Erdgeschosses der Rotunda wurden ursprünglich für alle größeren Versammlungen genutzt, für die die Räumlichkeiten der Pavillons am Lawn zu klein waren – Seminare, religiöse Anbetung, öffentliche Prüfungen und andere Ereignisse fanden in ihr statt. Der große, von 20 Säulenpaaren und zwei Galerien gesäumte Kuppelraum im Obergeschoss diente als Bibliothek. Jefferson plante für ihn außerdem eine blaubemalte Decke mit beweglichen Sternen, die das erste Planetarium der Vereinigten Staaten ergeben hätte, doch die Pläne wurden nie realisiert. Nach Ost und West der Rotunda schließen sich jeweils zwei einstöckige, schmale Gebäudeflügel an. Sie umschließen beidseits der Rotunda je einen kleinen Innenhof, dessen vierte Seite von einem Kolonnadengang gebildet wird (siehe bebilderter Überblick). Die überdachten, aber an den Längsseiten offenen Flügel brachte Jefferson auf einer Ebene mit dem Keller der Rotunda unter, so dass sie nach Süden, zum Lawn, teilweise unter dem Erdboden liegen (4 Fuß 2 Zoll, d. h. ca. 1,3 Meter). Das führt dazu, dass sie bei einem Blick von Süden aus größerer Entfernung fast vollständig von den drei flach ansteigenden Terrassen des Lawn verdeckt werden. Aufgrund des nach Norden abfallenden Geländes sind die beiden Flügel auf dieser Seite hingegen ebenerdig gebaut. Hierfür entwarf Jefferson eine Arkade entlang der Flügel, die den Arkaden des Range ähnelt. Die Räumlichkeiten in den Flügeln plante Jefferson als überdachte Sporträume. Die balustradengesäumten Flachdächer der Flügel und der Kolonnadengänge sind heute über die Säulenhallen der Rotunda öffentlich zugänglich. Der in den Flügeln verlaufende, türlose Gang ergänzt sich mit den Kolonnaden zwischen den Pavillons zu einem überdachten Weg rund um den Lawn, der nur im nicht durchgehend bebauten Süden unterbrochen ist. Baugeschichte und tatsächliche Nutzung der Rotunda Der Bau der Rotunda begann am 7. Oktober 1822 und wurde nach knapp vierjähriger Bauzeit im September 1826 abgeschlossen. 1851–1853 erhielt die Rotunda wegen des gestiegenen Raumbedarfs der Universität einen 150 Fuß (45,7 m) langen und 50 Fuß (15,2 m) breiten Anbau (Annex) nach Norden, in dem vor allem vier große Seminarräume untergebracht waren, deren einer bis zu 1.200 Personen fasste. Im 19. Jahrhundert erhielt außerdem das Dach der Rotunda zunächst für wenige Jahre und endgültig in den 1870er Jahren eine niedrige, breite Laterne, um undichte Stellen des früher an dieser Stelle eingepassten Fensters zu beheben. Aus den gleichen Gründen wurde auch das Dach verändert – die sechs Stufenringe wurden entfernt und die Dachwölbung verstärkt. 1895 zerstörte ein Brand die Rotunda und den Anbau bis auf die Ziegelmauern vollständig (siehe Geschichte). Anschließend wurde das Gebäude nach Plänen von Stanford White, in veränderter Form und ohne den Anbau, in einem monumentalen Beaux-Arts-Stil (einem eklektischen neoklassizistischen Stil) wieder aufgebaut. Neben stilistischen Veränderungen im Innern der Rotunda verzichtete White auf ein Zwischengeschoss und vergrößerte dadurch den Kuppelraum. Außerdem ergänzte er im Norden, in dem zuvor der Anbau gestanden hatte, einen Säulenvorhof nach dem Vorbild des von Jefferson entworfenen südlichen Vorhofs; seither sehen Nord- und Südseite der Rotunda einander sehr ähnlich, allerdings ist der nördliche Vorhof mit nur einem Joch nicht so tief wie der südliche Säulenvorhof. 1898 wurde die Rotunda wiedereröffnet und erneut vor allem als Bibliothek genutzt, bis die angewachsene Sammlung 1938 in die neugebaute Alderman-Bibliothek verlegt wurde. In den Folgejahren wurde die Rotunda nur noch für untergeordnete Verwaltungsbüros und gelegentliche Bälle und Empfänge genutzt und verlor ihre zentrale Bedeutung für die Universität. Ab den 1950er Jahren trieben die damaligen Universitätspräsidenten und vor allem zwei Professoren, die die Geschichte des Baus studierten, eine Restaurierung der Rotunda mit Rückbau in den Ursprungszustand und eine Aufwertung des Gebäudes durch eine veränderte Nutzung voran. Nach langer Planungsphase erfolgte 1973 bis 1976 unter Leitung des Architekten Louis W. Ballou (vom Architektenbüro Ballou und Justice aus Richmond, Virginia) der Umbau in den Stil von Jefferson. Die seither bestehende Baufassung entspricht allerdings nicht völlig dem Ursprungszustand. Insbesondere konnte sich die ursprünglich von Jefferson entworfene Farbgebung mit dem Rotundadach in Kupfer genauso wenig wie eine Rückkehr zu den Farben des toskanischen Sandstein für die Säulen der Kolonnaden am Lawn gegen die seit 1895 übliche Ausführung mit weißem Dach und weißen Säulen durchsetzen. Außerdem blieb das unter Stanford White gebaute Nordportal erhalten, und im Innern der Rotunda wurden verschiedene Anpassungen an moderne Bauwünsche von einer Klimaanlage bis zu einem behindertengerechten Aufzug vorgenommen. Heute beherbergt die Rotunda Büros und Räume für festliche Anlässe. Der Kuppelraum wird vor allem als Veranstaltungssaal genutzt. Die Räume in den Arkadenflügeln dienen ebenfalls als Büros. Die Pavillons und die Studentenzimmer am Lawn Bilder aller Pavillons: siehe Überblick über die Gebäude am Lawn Geplante Nutzung und Entwürfe der Pavillons Die zehn Pavillons des akademischen Dorfes plante Jefferson einerseits als Wohnhäuser der Professoren, andererseits als Fakultätenähnliche Unterrichtsgebäude mit Seminarräumen der jeweiligen Professoren: Jeder Professor lehrte allein ein weites Themenspektrum, beispielsweise umfasste die Professur für physico-mathematics nach Jeffersons Vorstellungen Mechanik, Statik, Dynamik, Pneumatik, Akustik, Optik, Astronomie und Geographie. Die Unabhängigkeit der Professoren wurde auch dadurch unterstrichen, dass jeder Student – wie damals üblich – sich nicht in einem Fachbereich, sondern direkt bei einem oder mehreren Professoren einschrieb, denen er auch persönlich einen Teil der Studiengebühren zu zahlen hatte. Aufgrund ihrer Bestimmung sollten die Pavillons damit neben der Bedeutung der Professoren auch die Wissenschaften repräsentieren, die in ihnen gelehrt wurden. Das erklärt – neben rein ästhetischen Gründen – mit die Bedeutung, die nach Jeffersons Entwürfen den Gebäuden auf dem Lawn zukommt. Architektonisch erfordert diese Symbolik eine Ausgewogenheit der Architektur, die bei allem Variantenreichtum nicht einzelne Pavillons gegenüber anderen überlegen wirken lässt. Zugleich beeinflusste sie die Zahl der zu errichtenden Pavillons: Jeffersons erste Entwürfe sahen neun Pavillons – drei an jeder Seite – um den damals noch quadratisch geplanten Lawn vor. Die Betonung des Gebäudes im Scheitelpunkt und die Anlage in zwei Reihen entlang der rechteckigen Rasenfläche erlaubte es jedoch, die Zahl der Pavillons auf zehn zu erhöhen – die Zahl der Wissenschaften, die Jefferson nach langen Überlegungen als die „in unserer Zeit nützlichen Wissenschaften“ (the sciences useful in our time) und als ein unabdingbares Minimum für eine Universität ansah. Aufgrund von Finanzproblemen wurde die Zahl der Professoren in den ersten Universitätsjahren allerdings auf acht reduziert. Als Jefferson 1817 für die Universitätsanlage den Rat der Architekten Thornton and Latrobe einholte, schickte ihm Thornton Skizzen für zwei Pavillonfassaden, deren eine Jefferson für Pavillon VII benutzte und anpasste. Latrobe sandte Skizzen für wenigstens fünf Fassaden, wahrscheinlich sogar mindestens „sieben oder acht“, wie er in einem Brief ankündigte, eventuell gar einen kompletten Satz von zehn Entwürfen. Jefferson wiederum schrieb an Latrobe, er werde zwei der Entwürfe für die nächsten zu errichtenden Pavillons nutzen, außerdem notierte er Latrobes Namen in seinen Skizzen für die Pavillons VIII und IX. Daneben werden aufgrund stilistischer Überlegungen Einflüsse von Latrobe auf die Pavillons III und V sowie möglicherweise auch auf Pavillon X angenommen. Am weitesten geht wohl der Historiker Garry Wills, der angesichts der nicht erhaltenen Skizzen von Latrobe sogar spekuliert, ob alle Pavillons bis auf den von Thornton beeinflussten Pavillon VII auf – von Jefferson zum Beispiel durch unterschiedliches Gebälk angepasste – Entwürfe von Latrobe zurückgehen könnten; dazu würde auch passen, dass Jefferson 1819 die Entwürfe für die fünf östlichen Pavillons in nur drei Wochen anfertigte. Wer auch immer in welchem Ausmaß für die einzelnen Entwürfe verantwortlich ist, die Pavillons zeigen einen großen Formenreichtum, der aus einer Vielfalt der klassischen Bauelemente zusammengesetzt ist, oft nach den Vorbildern Roland Fréart de Chambray und Andrea Palladio. Die Vielseitigkeit der verwendeten Varianten wird neben der ästhetischen wiederum der pädagogischen Zielsetzung Jeffersons zugeschrieben – Architektur als Anschauungsmaterial für den Universitätsunterricht. Symmetrie und Asymmetrie Getreu dem Gesamtkonzept der Anlage sind die unterschiedlichen Bauformen mitnichten symmetrisch unter den Pavillons verteilt: Gegenüberliegende Fassaden unterscheiden sich zum Teil erheblich, was wohl am deutlichsten an den Pavillons IX und X zu sehen ist (siehe Weitwinkelaufnahme oben). Es fällt ebenso bei den verwendeten Säulenordnungen (Stil des oberen Säulenabschlusses, des sog. Kapitells) auf: Vier der Pavillons (I, IV, VII, X) haben Säulen mit dorischen Kapitellen, drei (II, V, IX) mit ionischen und zwei (III, VIII) – wie auch die Rotunda – in der korinthischen Ordnung; Pavillon VI schließlich benutzt gar keine zusätzlichen Säulen, sondern erhebt sich über der durchlaufenden (toskanischen) Kolonnade. Auch die klassizistische Verwendung von Kolossalordnungen (Säulen oder Pfeiler über zwei oder mehr Stockwerke) an den rotundanahen Pavillons I, II, III, IV und V sowie am südlichen Pavillon X folgt nur teilweise einer symmetrischen Ordnung, und das Gleiche gilt für die Wahl von Giebeln und Dachformen – I bis IV sowie VI und VII haben ein in einem Giebel endendes Satteldach, IX ein flaches Walmdach, X hat einen seinem Flachdach vorgesetzten Giebel, und V und XIII haben schlichte Flachdächer. Auch die Größe der Bauten variiert stark und reichte ursprünglich von ca. 10,7 m × 8,4 m (Pavillon VII) bis zu ca. 11,4 m × 13 m (Pavillon III); im Zusammenhang damit wechselt auch die Zahl der den Fassaden vorgestellten Säulen zwischen vier und sechs. Sogar die Ausrichtung der Pavillons ist zum Teil nicht symmetrisch, so liegen die Eingangstüren der Pavillons I und IX etwas südlicher als die der ihnen gegenüberliegenden Pavillons II bzw. X. Andere Elemente unterstreichen jedoch den Eindruck prinzipieller Symmetrie und Regelmäßigkeit. Dazu gehören vor allem die Kolonnaden, mit denen die Pavillons auf jeder Seite des Lawn verbunden sind. Ihr Effekt wird noch durch die weißen Geländer der über ihnen liegenden begehbaren Verbindungswege unterstrichen, über die die Professoren von einem Pavillon zum anderen gelangen konnten, ohne auf den öffentlichen Lawn hinauszutreten. Dieser Eindruck hat sich allerdings gegenüber den ersten Jahren der Universität stark verändert, als die Bäume an den Seiten des Lawn noch nicht ausgewachsen waren. Daneben setzte Jefferson sogar tatsächliche Unregelmäßigkeiten ein, um einen Eindruck von harmonischer Regelmäßigkeit zu erzielen: Ausgehend von der Rotunda verlängerte er schrittweise die Abstände zwischen Pavillons (siehe Plan des akademischen Dorfes). Während zwischen den ersten Pavillons nur vier Studentenzimmer Platz finden, sind es am anderen Ende des Lawn auf der Ostseite acht und auf der Westseite sogar zehn. Von der Rotunda aus gesehen spielt dieser Kunstgriff dem Phänomen entgegen, dass in der Ferne alles kleiner wahrgenommen wird – dadurch, dass Jefferson die Abmessungen in der Ferne größer gestaltete, wirkt das Südende näher (Größenkonstanz) und scheinen die Abstände zwischen den Pavillons gleichmäßig, eben weil sie es nicht sind. Von der Südseite des Lawn hingegen ergibt sich der Effekt, dass die kleineren Abstände nahe der Rotunda eine größere Entfernung vorspiegeln, so dass der Lawn länger wirkt, als er tatsächlich ist. Allerdings verstellen heute die großen Bäume zu beiden Seiten des Lawn vor allem im Sommer den freien Blick auf die Pavillons über die ganze Länge der Anlage, wodurch der Effekt der unterschiedlichen Abmessungen weniger zum Tragen kommt. Baugeschichte und tatsächliche Nutzung der Pavillons und Studentenzimmer Mit Pavillon VII begann am 6. Oktober 1817 der Bau des ersten Gebäudes der Universität. Der Pavillon diente nach seiner Fertigstellung als Bibliothek, bis 1826 die Rotunda diese Aufgabe übernahm. Die übrigen Pavillons wurden nach und nach bis Oktober 1823 gebaut, allerdings zogen erst kurz vor Eröffnung der Universität 1825 die Professoren ein. Sie sollten nach Jeffersons Plänen, gegebenenfalls mit ihrer Familie, im Obergeschoss wohnen und in mehreren Räumen im Erdgeschoss unterrichten. Doch die meisten Pavillons verloren schon früh ihre Funktion als Unterrichtsgebäude, weil die Professoren und oft vor allem ihre Ehefrauen mehr Privatleben wie auch mehr Platz wünschten, woraufhin die Seminarräume Zug um Zug in die Rotunda und später in ihren Anbau ausgelagert wurden. Nur noch einer der ursprünglichen Seminarräume wird heute für diesen Zweck genutzt (Stand September 2002). In den frühen Jahren nutzten die Professoren eine Zeit lang sogar einige der umliegenden, aufgrund der noch niedrigen Studentenzahlen nicht genutzten Studentenzimmer als Arbeitsräume. Im Laufe der Jahre wurden nach und nach alle bis auf Pavillon III zu den Gärten hin vergrößert, wobei Pavillon III zugleich der einzige ist, der um ein weiteres, heute unabhängig vom Pavillon bewohntes Gebäude im Garten erweitert wurde. Trotz der Erweiterungen blieben jedoch die Fassaden der Pavillons zum Lawn über die Jahrzehnte fast unverändert; eine kleine Ausnahme bildete Pavillon X, dessen Attika im 19. Jahrhundert entfernt wurde, aber selbst er wurde 2009 wieder in seinen früheren Zustand zurückversetzt. Heute dienen die Pavillons noch immer als Wohnhäuser für Professoren, meist für Dekane, da sie nach Senioritätsprinzip zugeteilt werden. Nur Pavillon VII, der sogenannte Colonnade Club, wird seit Anfang des 20. Jahrhunderts von dem gleichnamigen Club genutzt, der die Beziehungen zwischen Professoren und ehemaligen Studenten fördert; aber selbst der Club enthält in einem Anbau Einzelzimmer für Übernachtungsgelegenheiten. Auch die Studentenzimmer zwischen den Pavillons dienen heute noch ihrer ursprünglichen Bestimmung, allerdings leben dort heute ausgesuchte Studenten: Während die Zimmer anfangs an je zwei Studenten vergeben wurden, sofern nicht ein Student die doppelte Miete bezahlen wollte, werden heute die einzeln bewohnten Zimmer in einem von Studenten organisierten Auswahlverfahren an Mitstudenten vergeben, die sich im letzten Studienjahr vor dem Bachelorabschluss befinden und sich unter anderem durch Führungseigenschaften oder soziales Engagement hervorgetan haben. Die Räume haben zwar kein individuelles Bad, Toiletten und Duschen sind in anderen Gebäuden untergebracht, und Kochherde (bis 2002/03 auch Mikrowellenherde) sind wegen des alten elektrischen Systems nicht erlaubt. Dennoch sind die Zimmer aufgrund ihrer Lage und der Ehre, hier wohnen zu dürfen, außerordentlich beliebt. Bei gutem Wetter stehen oft die Eingangstüren offen, die direkt in die Zimmer führen, und häufig sind ein paar der hölzernen Schaukelstühle, von denen je einer zur Zimmereinrichtung gehört, in den Kolonnadengängen oder auf dem Lawn zu sehen. Die Gärten Jefferson entwarf auch die Grundform der sechzehn öffentlich zugänglichen Gärten des akademischen Dorfes: Hinter jedem der zehn Pavillons liegt ein Garten, der dem natürlichen Gelände folgend vom Lawn leicht abfällt; die sechs Pavillons, hinter denen ein Hotel liegt, teilten sich ihre Gärten ursprünglich mit den Hotels, weswegen diese Gärten in der Mitte baulich getrennt wurden. An den Seiten wurden die Gärten durch schmale, in Schlangenlinien verlaufende Ziegelmauern (serpentine walls) umfasst. Die Mauern sind jeweils nur einen Ziegelstein breit, so dass die Windungen neben der Ästhetik auch der Standfestigkeit zugutekommen. Die gewundenen Mauern hatte Jefferson wahrscheinlich 1786 in England kennengelernt; eine Variante von ihnen hatte er vermutlich außerdem bereits auf 1645 begründeten Green-Spring-Plantage (westlich von Jamestown, Virginia) des Gouverneurs von Virginia, Sir William Berkeley, gesehen. Zwischen den seitlichen Ziegelmauern legte Jefferson Zugangswege (Alleen genannt) zu den Rückseiten der Pavillons und dem Lawn an. Jefferson hinterließ keine Pläne für die Bepflanzung der Gärten, was an seinem Todesdatum (1826) oder auch an der Notwendigkeit der Benutzung der Gärten als Gebrauchsflächen gelegen haben kann. Nach Jeffersons Wünschen sollten in den Gärten zwar nur Toiletten untergebracht werden, aber bald wurden Holzschuppen, Waschhäuser, Hühnerställe, Räucher- und Fleischhäuser und Unterkünfte für Diener (erlaubt waren bis zu vier pro Haushalt) und Sklaven gebraucht. Dazu kamen Brunnen und Zisternen, Trockenplätze für Wäsche und vor allem der Anbau von Gemüse, Beeren und Obstbäumen. Nachdem in den folgenden Jahren Verfall und Umbauten bis hin zur Erstellung von je einer Straße quer durch die westlichen und östlichen Gärten der ursprünglichen Anlage zugesetzt hatten, wurden 1948–1952 die West-Lawn-Gärten und 1960–1965 die East-Lawn-Gärten nach den ursprünglichen Entwürfen restauriert. Da Jefferson keine Vorgaben für die Bepflanzung gemacht hatte, legten die Landschaftsarchitekten Alden Hopkins (westliche Gärten) und Donald Parker (östliche Gärten) die Gärten neu an. Strittig ist, ob ihre englisch-französischen Entwürfe auf Jeffersons allgemeine Vorlieben Rücksicht nahmen oder nicht: Während Jefferson zum Teil ein Vorzug der englischen (jardins anglais) über die hochstilisierten französischen Gartenanlagen nachgesagt wird, halten andere Autoren für wahrscheinlicher, dass Jefferson einen eindeutig französischen Stil gewollt hätte. Heute werden die Gärten weiterhin von den Pavillonbewohnern genutzt. Mindestens die Gartenteile, die weiter vom Lawn entfernt sind, stehen aber auch der Öffentlichkeit und damit vor allem den Studenten zur Verfügung. Die Hotels und die Studentenzimmer des Range Geplante Nutzung und Entwurf der Hotels Jenseits der Gärten zieht sich je eine mehrfach durchbrochene einstöckige Gebäudezeile aus arkadengesäumten Studentenzimmern entlang, der sogenannte East und West Range. Als „Hotels“ bezeichnete Jefferson die sechs größeren Gebäude, von denen je eines an den vier Enden der Gebäudezeilen steht und je ein weiteres zwischen die Studentenzimmer von East bzw. West Range eingelassen ist. Jefferson hatte ursprünglich geplant, dass auch die Hotels zum Lawn und damit zu den Gärten und den Rückseiten der Pavillons ausgerichtet sein sollten. Dieser Entwurf brachte allerdings Probleme für die Anlage der Zufahrtsstraßen zum Lawn mit sich. Joseph C. Cabell schlug schließlich vor, die Hotels vom Lawn fort nach außen zeigen zu lassen, was Jefferson in seine Pläne aufnahm. Die Hotels waren als dezentralisierte Essräume (ähnlich Mensen) geplant und wurden an sechs Privatpersonen vermietet, die mit ihren Familien in den Hotels wohnten und dort täglich drei Mahlzeiten für die Studenten anboten. Sie möblierten aber beispielsweise auch die Zimmer der ihnen zugewiesenen Studenten, mussten ihnen „Diener“ (d. h. Sklaven) zur Zimmerreinigung zur Verfügung stellen und waren spätestens ab 1842 verpflichtet, den Studenten ein sauberes Handtuch pro Tag zu geben, so dass ihre Aufgaben deutlich über die eines Kochs hinausgingen. Für die Studenten wurden die Hotels nicht nur Essräume, sondern dienten auch als Orte für Versammlungen und als verbindungsähnliche Clubs. Gemäß ihrer Bestimmung sind die Hotels kleiner – nur Hotels C, E und F haben ein sichtbar ausgebautes Obergeschoss – und vor allem nicht so repräsentativ wie die Pavillons. Mit Säulen sind nur die zwei rotundanahen Hotels versehen: Hotel A hat einen kleinen dorischen Säulenvorhof, und die Eingangstür von Hotel B liegt hinter einem von zwei kleinen dorischen Säulen getragenen Portal; beide Häuserfronten sind zudem nach Norden, auf die Zugangswege zur Rotunda ausgerichtet. Nach Osten und Westen hingegen liegen alle Hotels hinter den durchlaufenden Backsteinarkaden des Range, die vor den Hotels nur etwas vorgezogen sind, um einen größeren überdachten Vorraum zu gewinnen, und im Fall von Hotel D etwas vergrößert sind. Damit fügen sich die Backsteinbauten der Hotels relativ unauffällig in die Reihen des Range. Doch auch sie wurden von Jefferson individuell entworfen, so dass kein Bau dem anderen gleicht. Jefferson, der selbst in jungem Alter Französisch gelernt hatte, hatte zunächst vor, die Hotels an fremdsprachige Familien zu vermieten, die die Studenten während der Mahlzeiten umgangssprachliches Französisch, Italienisch, Deutsch und Spanisch lehren könnten. Im ländlichen Virginia waren geeignete Familien allerdings nicht zu finden, und so wurde das Vorhaben nicht weiter verfolgt. Vor wenigen Jahren wurde die Idee wieder aufgenommen, und heute gibt es an der University of Virginia mehrere kleine Studentenheime (language houses), die jeweils einer bestimmten Fremdsprache gewidmet sind und von ihren Bewohnern unter anderem verlangen, dass sie pro Woche mindestens an drei gemeinsamen Abendessen teilnehmen, während derer nur die entsprechende Sprache gesprochen wird. Baugeschichte und tatsächliche Nutzung der Hotels und Studentenzimmer 1822 wurden die Hotels fertiggestellt, doch wie bei den Pavillons zogen die zukünftigen Bewohner erst kurz vor der Öffnung der Universität am 7. März 1825 ein. Ursprünglich konnte sich jeder Student aussuchen, wo er wohnen und welchem der sechs Hotels er zugeordnet sein wollte. Da die Regelung in der Praxis nicht gut funktionierte, wurde sie bereits am 7. Oktober 1826 vom Board of Visitors geändert und Studenten fortan ihrer Unterkunft und ihrem Hotel zugewiesen. In den folgenden Jahren zeigte sich allerdings, dass die zunächst wenigen Studenten nicht so viele Hotels brauchten und die starke Dezentralisierung nicht praktisch war. Darüber hinaus gab es Personalprobleme: Fünf der sechs ursprünglichen Hotelmieter tranken und spielten um Geld mit ihren Studenten; die einzige Ausnahme bildete bezeichnenderweise ein Mann, den die Studenten – möglicherweise auch aus anderen Gründen – für verschlossen hielten und der so unbeliebt wurde, dass mindestens neun Studenten sich an der Universität nicht einschrieben, weil sie seinem Hotel zugewiesen worden wären. In den folgenden Jahren wurden daraufhin Essgelegenheiten zusammengelegt und die Hotels nach und nach anders genutzt, oft unter Ausbau und Erweiterung der ursprünglichen Gebäude. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in Hotel C (auch Jefferson Hall, nach der dort seit 1826 tagenden Literatur- und Debattengruppe Jefferson Society) und Hotel D Fecht-, Tanz- und Sportstunden abgehalten, von 1828 bis in die 1840er Jahre wurden Hotel C und – ab 1831 – Hotel D unter anderem auch für gelegentliche Bälle genutzt. Als Sporthalle wurde neben Hotel E 1852 ein Anbau, die sogenannte Levering Hall, errichtet, deren Name heute zum Teil auch auf Hotel E übergegangen ist. Der Großteil der Hotels wurde mindestens zeitweilig zu Wohngebäuden (zuletzt noch Hotel D) und zwischendurch zu Büros von Universitätsverwaltung und Studentenorganisationen umgewandelt. Die meisten dienen auch heute noch als Büros, nur in Hotel E ist seit 2004 wieder eine Cafeteria für Studenten und Professoren untergebracht; dabei soll (Stand 2009/2010) auch wieder eine seit langem fehlende überdachte Veranda hinter dem Gebäude wiedererbaut werden. Die Studentenzimmer zwischen den Hotels werden bis heute für ihren ursprünglichen Zweck genutzt und entsprechen in ihrer Ausstattung – vom Schaukelstuhl bis zum getrennt gelegenen Bad – den Räumen am Lawn. Die Studentenzimmer der Range Community sind Graduate Students vorbehalten und werden im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens durch ein Auswahlkomitee vergeben. Nicht vermietet wird nur die ehemalige Bleibe von Edgar Allan Poe (Adresse: 13 West Range), die im Stil aus der Zeit des Dichters eingerichtet ist. Der Raum wird von der Universität und der universitären Raven Society gepflegt, einer nach dem gleichnamigen Gedicht von Poe benannten, 1904 gegründeten Honor Society (engl.: Ehrengesellschaft). Er kann einmal jährlich während der Garden Week besichtigt werden. Jenseits der Hotels Obwohl die üblicherweise als akademisches Dorf bezeichnete Anlage heute in Ost und West mit dem Range endet, gingen Jeffersons Pläne über diesen Kernbereich hinaus. Jefferson hatte vermutlich vor, das akademische Dorf nach und nach auf sechs Reihen von Gebäuden – oder bei Bedarf später auf acht, zehn usw. – auszubauen, wobei der Lawn der Mittelpunkt bliebe: Im Osten legte Jefferson parallel zum East Range Ställe für die Professoren an. Im Westen begann er eine Reihe mit zusätzlichen Unterrichtsgebäuden, die vermutlich unter anderem die von Jefferson geplanten Räumlichkeiten für die schönen Künste enthalten hätten. Doch 1826 starb der 83-jährige Jefferson, ohne dass die möglichen Erweiterungen im Westen auch nur entworfen worden wären. Das einzige dieser Gebäude, für das Jefferson vor seinem Tod tatsächlich noch Pläne anfertigte, war 1825 im Westen von Hotel A das „anatomische Theater“ (Anatomical Theatre), der erste Bau in den Vereinigten Staaten für Obduktionen im Medizinstudium (nach anderen Angaben der erste solche Bau in den US-amerikanischen Südstaaten). Aufgrund seiner Bestimmung wurde er ursprünglich auch Stiff Hall (frei übersetzt: Gebäude für Steifes) genannt. Anlass für den Bau waren wahrscheinlich einerseits Wünsche des Medizinprofessors, der die Obduktionen sonst in seinem eigenen Pavillon hätte durchführen müssen. Andererseits plante das College of William and Mary (Virginia), nach Richmond umzuziehen und ein Krankenhaus für die Medizinausbildung zu bauen, was staatliche Gelder von der University of Virginia abgezogen hätte; Befürworter der Pläne kritisierten, an der University of Virginia würde nur Medizingeschichte, aber keine Praxis gelehrt. Der Bau des anatomischen Theaters stellte den Lehrauftrag in Charlottesville klar und war damit zugleich ein Schritt gegen den College-Umzug und die finanzielle Umschichtung. Im Innern von Jeffersons Bau fielen Sitzreihen oktogonal zum Mittelpunkt der Grundfläche ab, an dem die Obduktionen durchgeführt wurden. Eine ausreichende Beleuchtung stellte Jefferson durch hohe Fenster, die keinen Einblick von außen erlaubten, und ein zentrales Oberlicht sicher. Das Backsteingebäude wurde im Februar 1827 fertiggestellt, 1886 musste es nach einem Brand – vermutlich ab jetzt ohne seine Laterne – neu aufgebaut werden. Ab 1926 wurde es vor allem von den Sozialwissenschaften an der Universität genutzt, nach 1929 erhielt es ein kleines, säulenumstandenes Portal. 1938 wurde das anatomische Theater abgebrochen, als direkt daneben die Alderman-Bibliothek gebaut wurde. Es ist der einzige bedeutende Bau von Jefferson an der University of Virginia, der heute nicht mehr steht. 1997 wurden an der Stelle archäologische Ausgrabungen zur Bauweise im 19. Jahrhundert im Allgemeinen und zum Bau des anatomischen Theaters im Besonderen durchgeführt. Der übrige Campus Die meisten Fakultäten wie auch Studentenwohnheime sind auf dem südlichen Campusteil untergebracht. Hier steht, unmittelbar im Westen der Rotunda, auch die 1885–1890 entgegen Jeffersons Plänen errichtete überkonfessionelle Kapelle. Einen knappen Kilometer weiter südwestlich liegt das Scott-Stadion, das 1931 gebaute und seither mehrfach vergrößerte Stadion für American-Football-Spiele und andere stadienfüllende Veranstaltungen. Außerdem steht hier, im Norden des akademischen Dorfes, das in einem mittelgroßen, 1934–1935 errichteten Backsteinbau untergebrachte Kunstmuseum der Universität (University of Virginia Art Museum), dessen Sammlung gut 10.000 Objekte umfasst. Neben der ständigen Ausstellung von nordamerikanischer und europäischer Kunst des 15. bis 19. Jahrhunderts sowie einigen Exponaten aus Asien, der europäischen Antike und dem 20. Jahrhundert richtet das Museum jedes Jahr 10 bis 20 Wechselausstellungen aus. Die ethnografischen Sammlungen aus Afrika, Amerika und Ozeanien sowie Alte Meister und Photographien werden nur als Teil der Wechselausstellungen gezeigt. Im Westen des Südcampus, auf dem bewaldeten Observatory Hill (Sternwartenhügel) ist neben einem kleinen Atomreaktor für Forschungszwecke auch das Hauptquartier des National Radio Astronomy Observatory (NRAO) untergebracht, einer staatlichen US-amerikanischen Forschungsorganisation für Radioastronomie. Das NRAO betreibt Radioteleskope an mehreren Standorten in den Vereinigten Staaten und Chile, in Charlottesville ist hingegen nur das Hauptquartier untergebracht. Dort befindet sich auch das vom NRAO betriebene nordamerikanische Zentrum für die wissenschaftliche Nutzung des Atacama Large Millimeter Array (ALMA) und ein Technologiezentrum. Das NRAO arbeitet teilweise mit der University of Virginia zusammen, zum Beispiel durch die akademische Betreuung von Studenten. Der Astronomie-Fachbereich der Universität betreibt indes mehrere eigene, kleinere Teleskope auf dem Campus und im Süden von Charlottesville. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden aufgrund des Wachstums der Universität zusätzlich Teile des nördlichen Campus (North Grounds) ausgebaut. Seit 1974/1975 sind dort vor allem die School of Law (rechtswissenschaftliche Fakultät) und die Darden Graduate School of Business (Business als spezielle Form der Betriebswirtschaftslehre) untergebracht. Beide waren zunächst in den heutigen Gebäuden der School of Law untergebracht. In einem weiteren Ausbau, finanziert durch Privatspenden von insgesamt 77 Millionen Dollar, entstand in den 1990er Jahren in der Nähe dieser Gebäude ein neuer Komplex aus neun Gebäuden für die Darden School, deren repräsentativer Stil – roter Backstein mit weißen Elementen, in der Mitte eine Rasenfläche – eng an das akademische Dorf von Jefferson angelehnt ist. Auf dem nördlichen Campus befindet sich außerdem schon seit 1951 das Judge Advocate General’s Legal Center and School, ein Jura-Ausbildungszentrum des Judge Advocate General’s Corps (kurz: JAG Corps) der US-amerikanischen Armee. Das Zentrum liegt nahe der heutigen School of Law der University of Virginia und nutzt zum Teil ihre Einrichtungen, vor allem die umfangreiche Bibliothek, ist aber organisatorisch unabhängig und vergibt einen eigenen Master-of-Laws-Abschluss. Zwischen dem südlichen und nördlichen Campusteil liegen unter anderem Sportanlagen, einige kleinere Gebäude, Grünflächen und Parkplätze, die ebenfalls der Universität gehören. Dazu gehören auch die University Hall (kurz U-Hall), die jahrelang als Basketball-Spielstätte und Veranstaltungshalle diente. Am 1. August 2006 wurde in ihrer Nähe die größere John Paul Jones Arena eingeweiht, die seither die University Hall für Sport und Veranstaltungen abgelöst hat. Studienbedingungen Die University of Virginia gilt als eine der besten öffentlichen Universitäten der Vereinigten Staaten und als eine der 25 besten Universitäten des Landes. Seitdem die Rankings von U.S. News & World Report öffentliche und private Universitäten getrennt aufführen, hat die University of Virginia stets den ersten oder zweiten Platz unter den öffentlichen Universitäten belegt (Stand 2008). Insgesamt wurde die Universität seit 1993 von U.S. News & World Report neunmal als beste staatliche US-Universität ausgezeichnet (davon einmal, im Jahr 2003, punktgleich mit der University of California Berkeley; Stand 2008). Die University of Virginia ist einziges US-Mitglied von Universitas 21, einem internationalen Verbund von Forschungsuniversitäten, und seit 1904 Mitglied der Association of American Universities, einem seit 1900 bestehenden Verbund von mittlerweile 62 führenden nordamerikanischen Forschungsuniversitäten. Auch die Qualität der Studenten ist überdurchschnittlich hoch. Für das Studienjahr 2007–2008 wurden 65,2 % der Bachelor-Studienbewerber abgelehnt, 87 % der Studienanfänger gehörten als Schüler zu den besten 10 % ihrer Schule. Die University ist unter den staatlichen Universitäten führend in der Zahl der Studenten, die eines der prestigeträchtigen Rhodes-Stipendien erhalten haben (45 bis 2004/05), und belegt Platz 6 unter allen US-Universitäten (nach Harvard, Yale, Princeton, West Point und Stanford). Zahlen zu den Studierenden Im Herbst 2020 waren 25.628 Studierende an der University of Virginia eingeschrieben. Davon strebten 17.310 (67,5 %) ihren ersten Studienabschluss an, sie waren also undergraduates. Von diesen waren 56 % weiblich und 44 % männlich. 16 % bezeichneten sich als asiatisch, 7 % als schwarz/afroamerikanisch und 7 % als Hispanic/Latino, womit sich insgesamt 30 % der Studierenden diesen ethnischen Minderheiten zurechnete, während sich 56 % als weiß und 4 % als Ausländer beschreiben. 8.318 (32,5 %) arbeiteten auf einen weiteren Abschluss hin, sie waren graduates. 2010/2011 waren es 21.049 Studierende gewesen. Studienfächer und Fakultäten Die University of Virginia hat ein breites Studienangebot, das sowohl traditionelle Studienfächer (zum Beispiel Englisch, Jura, Medizin usw.) als auch viele Spezialdisziplinen (zum Beispiel Audiologie/ Kommunikationsstörungen, Informations-Sicherheitsmanagement, Strukturelle und solide Mechanik usw.) umfasst. Bereits von Thomas Jefferson wurde die Regelung eingeführt, nach der Abschlüsse von der University of Virginia nur für akademische Leistungen, nicht aber „ehrenhalber“ (z. B. als Ehrendoktortitel) vergeben werden. (Auszeichnungen für Universitätsexterne gibt es nur in Form der Thomas Jefferson Medal in Architektur und des Thomas Jefferson Award in Law, also in zwei Bereichen, die Jefferson besonders wichtig waren.) Angeboten werden insgesamt über 50 Bachelorabschlüsse in knapp 50 Bereichen, über 80 Masterabschlüsse in mehr als 65 Bereichen, sechs Abschlüsse für Spezialisten in Pädagogik, zwei first professional degrees (erste berufsqualifizierende Abschlüsse in den Vereinigten Staaten; Medizin und Jura) sowie über 55 Doktorenabschlüsse in über 50 Bereichen (Stand 2008). Wie in den Vereinigten Staaten üblich, werden die Abschlüsse der University of Virginia von Fakultäten vergeben, die in mehrere universitätsinterne Institute organisiert sind. Den größten von ihnen – College of Arts and Sciences und Graduate School of Arts and Sciences – gehören vor allem die Geistes- und Sozialwissenschaften an. Die übrigen elf Institute umfassen (geordnet nach Studentenzahlen) die School of Engineering and Applied Science (Ingenieurwissenschaften), die School of Law (Jura), die Curry School of Education (Pädagogik, Psychologie-Spezialbereiche), die McIntire School of Commerce (vor allem Volkswirtschaft), die Darden Graduate School of Business Administration („Business“ als spezielle Form der Betriebswirtschaftslehre), die School of Medicine (Medizin), die School of Architecture (Architektur), die School of Nursing (Krankenpflege, medizinische Assistenz) und die School of Continuing and Professional Studies (Erwachsenenbildung, unter anderem als Fernuniversität). (Verweise auf Einzelartikel der englischen Wikipedia für alle Institute: siehe weiterführende Informationen) 2007 wurde die Frank Batten School of Leadership and Public Policy gegründet. Angeschlossene Forschungseinrichtungen Seltene Bücher Rare Book School, Center for Chemistry of the Universe, National Radio Astronomy Observatory, University of Virginia Center for Politics, Weldon Cooper Center for Public Service, Sorensen Institute for Political Leadership, Miller Center of Public Affairs (gegr. 1975) Fralin Museum of Art. Finanzielle Ausstattung und Studiengebühren Die University of Virginia ist eine der finanziell bestausgestatteten Universitäten der Vereinigten Staaten. Im Jahr 2004 gelang es der University of Virginia als erster öffentlicher US-Universität, mehr Gelder aus privaten Quellen zu erhalten als vom sie finanzierenden Bundesstaat (d. h. Virginia). In einem Universitätenvergleich aus dem Jahr 2006 stand die Universität mit den jährlichen Erträgen aus 3,6 Milliarden US-Dollar Stiftungsgeldern (sog. endowment, Gelder der Universität und Stiftungen für die Universität) nach der University of Texas (13,2 Mrd.), der University of California (5,7 Mrd.) und der University of Michigan (5,7 Mrd.) an vierter Stelle unter den staatlichen Universitäten der Vereinigten Staaten bzw. an 20. Stelle unter allen Universitäten. Die finanzstärksten Universitäten haben zudem höhere Studentenzahlen – mit ca. 177.000 US-Dollar pro Student pro Jahr hatte die University of Virginia die höchsten endowment-Gelder pro Student unter allen öffentlichen Universitäten der Vereinigten Staaten. Die Studiengebühren sind trotz der guten Finanzausstattung der Universität vergleichbar mit anderen US-amerikanischen Top-Universitäten oder – für Studenten, die nicht aus Virginia kommen – sogar unter den teureren Universitäten, denn die Kluft zwischen Gebühren für einheimische und andere Studenten ist im Vergleich mit den entsprechenden Unterschieden anderer staatlicher US-Universitäten groß. So liegen die jährlichen Gebühren über 9.000 US-Dollar für Studenten aus Virginia und bei knapp 30.000 US-Dollar für Studenten von außerhalb. Höhere Gebühren fallen – wie an anderen US-Universitäten – in der Regel für Studiengänge an, die in bestimmten, unabhängigen Fachbereichen der Universität (professional schools) angeboten werden. Die Studiengebühren dort reichen für Studenten, die nicht aus Virginia kommen, bis zu über 42.000 US-Dollar für Medizinstudenten oder über 45.000 US-Dollar für MBA-Studenten (Stand 2008). Vor allem für Studenten vor dem Bachelor gibt es an der University of Virginia finanzielle Unterstützung für US-amerikanische Studenten. 2005/06 erfuhren 23,5 % aller Bachelor-Studenten zumindest teilweise Unterstützung, insgesamt brachte die Universität dafür 41,5 Millionen US-Dollar auf. Die Gelder wurden traditionell vor allem als Zuschüsse und Kredite gewährt. Seit 2004 besteht jedoch ein neues Programm („AccessUVa“) zur finanziellen Unterstützung von Studenten, das die nachgewiesenen Bedürfnisse der Studenten zu 100 % finanziert. Das Programm ist in den USA das erste, das bedürftigen Studenten (aus Familien bis zu 200 % über der Armutsgrenze) komplette Ausbildungsförderungen – im Gegensatz zu Krediten – bietet. Studenten nach dem Bachelor haben darüber hinaus, wie auch an anderen US-Forschungsuniversitäten, in vielen Fachbereichen die Möglichkeit, als geringverdienende Lehr- oder Forschungsassistenten (teaching/ research assistents) angestellt zu werden. Daneben gibt es Stipendien für begabte Studenten. Namentlich die Jefferson-Scholars-Stiftung (Jefferson Scholars Foundation) vergibt vierjährige Stipendien an derzeit insgesamt 125 Studenten vor dem Bachelor sowie weitere Stipendien an Studenten jenseits des Bachelor-Abschlusses. Stipendiaten der universitätseigenen honors programs (engl.: „Ehrenprogramme“, Förderprogramme für begabte Studenten) Echols (seit 1960 in Arts and Sciences; ca. 8,5 % der dortigen Studenten) und Rodman (seit 1979 in den Ingenieurwissenschaften, d. h. an der University of Virginia School of Engineering and Applied Science; ca. 35 Neustipendiaten pro Jahr) hingegen erhalten keine finanzielle Unterstützung, sondern werden durch besondere Betreuung, freiere Kurswahl und/oder spezielle Kurse und Unterbringung in bestimmten Studentenheimen gefördert. Lehrkörper Im Durchschnitt werden 11 Studenten der University of Virginia von einem der über 2.614 Professoren oder Dozenten betreut (Stand 2020), wobei in der Praxis – wie an US-Universitäten allgemein üblich – Studenten nach dem Bachelor (graduate students) eine intensivere Betreuung als jene vor dem Bachelor (undergraduate students) erhalten. Der wissenschaftliche Standard der Dozenten und Professoren an der Universität ist allgemein sehr hoch. So wurde die University of Virginia bereits 1985 als eine der ersten acht Universitäten als „Public Ivy“ bezeichnet (der Kreis der Namensträger wurde später um 17 bis 18 Universitäten ausgeweitet) und ist außerdem Mitglied der Association of American Universities, einem seit 1900 bestehenden Verbund der führenden nordamerikanischen Forschungsuniversitäten. Zum Lehrkörper an der Universität haben Preisträger vieler Auszeichnungen gehört, unter anderem vier Nobelpreisträger, ferner Professoren, die durch ein National Endowment for the Humanities oder von der David and Lucile Packard Foundation gefördert wurden, sowie zweistellige Zahlen von Guggenheim- und Fulbright-Stipendiaten. Die Professoren wohnten ursprünglich in den Pavillons des akademischen Dorfes (siehe Pavillons) zwischen den Studenten. Heute lebt jedoch nur noch eine kleine Minderheit auf dem Campus. Zu ihnen gehören die Bewohner der Pavillons am Lawn wie auch Dozenten in manchen Studentenwohnheimen. Bibliothek Die University of Virginia hat eine der größten Bibliotheken der USA. Ursprünglich in Jeffersons Rotunda untergebracht, wuchsen die Bestände der Bibliothek von zunächst 8.000 auf über 56.000 Bände im Jahr 1895. Nach einem Einbruch der Zahlen auf 17.194 Bände durch den Brand der Rotunda setzte sich der starke Anstieg fort (1925: 130.000; 1950: 600.000 Bände). Im Dezember 2006 war die Bibliothek mit über 5 Millionen Bänden die 32.-größte Bibliothek der USA und, als 22.-größte US-Universitätsbibliothek, die 13.-größte Bibliothek einer staatlichen Universität des Landes. Daneben ist die Bibliothek vor allem für ihre 17 Millionen Manuskripte und über 150.000 Karten bekannt. 2005–2006 wurden über eine Million Bücher ausgeliehen und 1,5 Millionen Artikel von Online-Zeitschriften heruntergeladen. Mit sich ändernden Ausleihgewohnheiten ging die Zahl ausgeliehener Bücher 2006–07 auf knapp 680.000 zurück, während auf gut 2,3 Millionen Online-Zeitschriften-Artikel zugegriffen wurde. Die Jahresausgaben lagen bei über 26 Millionen US-Dollar. Aufgrund des Wachstums wurden ab dem 20. Jahrhundert kleinere Zweigbibliotheken gegründet, so dass die Bibliothek heute in 17 Fachbereichsbibliotheken auf dem Campus untergebracht ist; die Rotunda wird nicht mehr für die Bibliothek genutzt. Die Hauptbibliothek ist seit 1938 die unmittelbar im Westen des akademischen Dorfes gelegene, zehnstöckige Alderman Library, die nach dem ersten Universitätspräsidenten benannt ist. Neben den Präsenzbibliotheken hat die Bibliothek einen Teil ihres Bestandes in ein Magazin (Ivy Stacks) im Westen der Universität ausgelagert. Mehrere Sondersammlungen sind in der nach dem Mäzen Albert Small benannten Albert and Shirley Small Special Collections Library in der Harrison Institute/ Small Library untergebracht. Die Bibliothek besitzt unter anderem eine der 25 erhaltenen ersten Kopien der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten (sog. Dunlap Broadside) sowie zahlreiche thematisch verwandte Dokumente. Daneben gehört zu den Sammlungen die weltweit größte William-Faulkner-Sammlung. Der Nobelpreis- und Pulitzerpreisträger Faulkner (* 1897; † 1962) war ab 1957 writer in residence und Dozent an der Universität und vermachte ihr testamentarisch die bedeutenden Manuskripte und tausende Seiten von Unterlagen, die ihm zu seinem Todeszeitpunkt gehörten. Seine Tochter Jill Faulkner Summers übergab der Universitätsbibliothek außerdem im Juli 1998 und Oktober 2000 Teile der Privatbibliothek ihres Vaters. 1992 wurde von der Bibliothek die weltweit erste öffentliche Bibliothek für elektronische Bücher eingerichtet, das Elektronische Textzentrum (Electronic Text Center), das inzwischen 70.000 Texte aus den Geisteswissenschaften und 350.000 zugehörige Bilder elektronisch – und großenteils im Internet – zur Verfügung stellt (Stand 2001/2002). Davon sind 10.000 Texte und 164.000 Bilder öffentlich zugänglich. Heute bedienen zusätzliche elektronische Zentren oder Sammlungen weitere Fachgebiete. Im November 2006 wurde die University of Virginia nach Harvard, Oxford und anderen Universitäten der neunte Partner des Projektes Google Book Search. Google wird hunderttausende Bücher digitalisieren und sie für Internetsuchen verfügbar machen. Ehrenkodex Die Universität hat ein Ehrenkodex-System (engl.: Honor System bzw. honor code), das auf den 12. November 1840 zurückgeht. Damals wurde als Höhepunkt von seit Jahren aufflackernden studentischen Unruhen auf dem Lawn ein Professor erschossen (siehe Geschichte), der sterbend angeblich nicht seinen Mörder verriet, weil ein ehrlicher Mann sich selbst anzeige und ein unehrlicher Mann keinen Platz in der Universität verdiene. In der Folge des Todesfalls endeten die Unruhen, und 1842 wurde im Gedenken an den verstorbenen Professor das Ehrenkodex-System begründet. Es ist eines der ältesten Ehrenkodexsysteme der USA und das älteste, das in studentischer Selbstverwaltung ausgeübt wird. Vor Aufnahme des Studiums geloben die Studenten schriftlich Ehrlichkeit in persönlichen und akademischen Belangen. Die genaue Ausprägung hat sich im Laufe der Jahre gewandelt; heute ist es verboten zu lügen, zu stehlen und (bei Prüfungen) zu täuschen, wozu auch Plagiate gehören. Studenten werden in der Regel bei jeder Prüfung oder akademischen Arbeit gebeten, unter ihre Bearbeitung den folgenden Text zu schreiben: „Auf meine Ehre als Student [gelobe ich], ich habe bei dieser Prüfung / Arbeit weder [anderen] Hilfe gegeben noch Hilfe bekommen.“ (engl.: On my honor as a student, I have neither given nor received aid on this examination / assignment.) Bei einer Anklage wegen Verstoßes gegen den Ehrenkodex (zum Beispiel wegen Diebstahls oder eines Täuschungsversuchs bei einer Hausarbeit) wird ein spezieller „Gerichtsprozess“ anberaumt. Falls der angeklagte Student von wenigstens 80 % der acht bis zwölf studentischen Geschworenen schuldig gesprochen und der Regelverstoß nicht als trivial gewertet wird, muss der Student gemäß der Verfassung des Ehrenkomitees (Honor Committee Constitution) die Universität auf Dauer verlassen oder – falls er sein Studium bereits beendet hat – bekommt rückwirkend seinen Universitätsabschluss aberkannt; der Verweis bzw. die Aberkennung wird allerdings nicht öffentlich bekannt gemacht. Einem Verfahren und seinen Folgen kann ein Student nach einem Regelverstoß dadurch entgehen, dass er sich selbst anzeigt, bevor er von Verdächtigungen oder einer Anklageerhebung gegen ihn erfährt. Der Ehrenkodex wird an der Universität immer wieder kontrovers diskutiert. Kritisiert worden ist aus juristischer Sicht, ob die studentischen Gerichtsprozesse, gegen die es keine Berufung vor den regulären Gerichten der USA gibt, rechtmäßige Gerichtsverfahren (due process) im Sinne des 14. Zusatzartikels zur US-amerikanischen Verfassung darstellen, was jedoch bereits 1983 von einem US-amerikanischen Berufungsgericht anerkannt wurde. Unter Studenten und Professoren steht vor allem die unabgestufte Bestrafung durch Universitätsverweis (single sanction) im Mittelpunkt der Diskussionen, da sie keine Berücksichtigung der Schwere des Verstoßes erlaubt, weshalb einige Studenten vorziehen, kleinere Verstöße – entgegen den Bestimmungen des Ehrenkodexes – nicht anzuzeigen. Die Mehrzahl der Studenten hat sich in Studentenumfragen in der Vergangenheit trotzdem immer für die unveränderte Beibehaltung des Ehrenkodexes ausgesprochen, jüngst mit 60 % der abstimmenden Studenten am 28. Februar 2007 (Wahlbeteiligung 32 %). Als Vorteil wird vor allem angesehen, dass der Ehrenkodex insgesamt eine Atmosphäre von größerem Vertrauen und Ehrlichkeit schaffe. Zeitweilig war es den Studenten sogar möglich, Bücher oder Essen zu kaufen und dem Verkäufer lediglich ihr Wort zu geben, später zu bezahlen, wenn sie gerade kein Geld dabei hatten. Einige Professoren nutzen den Ehrenkodex zudem seit Jahren bei Prüfungen, die die Studenten jenseits von Seminarraum oder Vorlesungssaal schreiben dürfen (take home examinations). Sie setzen für diese Prüfungen etwa maximale Bearbeitungszeiten (z. B. vier Stunden) oder beschränken die erlaubten Materialien (z. B. keine Lehrbücher, kein Internet) und vertrauen darauf, dass die Studenten die Vorgaben eigenverantwortlich einhalten. Zum bisher aufsehenerregendsten Fall unter dem Ehrenkodex kam es im Mai 2001, als ein Professor 1800 Kurzhausarbeiten für seine Physik-Einführungsveranstaltung mit einem selbst geschriebenen Computerprogramm auf übereinstimmende Textpassagen überprüfte und dabei 122 Studenten identifizierte, deren Arbeiten einer anderen in weiten Teilen glichen; die Zahl erhöhte sich später noch auf 158. Da der Professor auch Arbeiten untersucht hatte, die in vergangenen Semestern eingereicht worden waren, hatten einige der betroffenen Studenten die Universität bereits mit einem Abschluss verlassen. Die Vorfälle und mit ihnen die Diskussion über die unabgestufte Bestrafung erregten Aufmerksamkeit in den nationalen Medien. Da die Bestimmungen der Physikveranstaltung Bezugnahmen auf frühere Arbeiten erlaubten, wurden später vor allem die ursprünglichen Autoren der Hausarbeiten, von denen abgeschrieben wurde, vom Vorwurf, unehrlich „Hilfe gegeben“ zu haben, freigesprochen. 59 Studenten wurden schließlich unter dem Ehrenkodex formell angeklagt. Am 25. November 2002 wurden 20 Studenten und Absolventen der Universität schuldig gesprochen. 28 Studenten hatten bereits die Universität verlassen, um dem Verfahren zu entgehen. Freizeitaktivitäten An der University of Virginia gibt es – wie an den meisten großen US-Universitäten – ein umfangreiches Freizeitangebot für Studenten. Die universitätseigenen Schwimmbäder, Fitnesscenter und Sportplätze werden ausgiebig in Anspruch genommen: Im Jahr 2005 nutzten nach Angaben des Vizesportdirektors (associate athletics director) der Universität, Mark Fletcher, 94 % der Studenten einen der vier Gebäudekomplexe für Sportangebote, wofür das US-amerikanische Nachrichtenmagazin Newsweek die University of Virginia zur hottest [university] for fitness (etwa: beste oder „coolste“ Universität für Fitness) kürte. Daneben besteht eine Vielzahl von Studentengruppen oder -organisationen, die von Sport und Musik über Religion und Fremdsprachen bis zu beruflichen Interessengruppen und ehrenamtlichem Engagement (z. B. Blue Ridge Mountain Rescue Group, die in mehreren Bundesstaaten bei der Suche nach Vermissten hilft) reichen. Im November 2008 wurden an der Universität über 650 aktive Studentengruppen gezählt. Wie auch an anderen großen US-Universitäten wird von Studenten eine täglich erscheinende, auflagenstarke Universitätszeitung betrieben. The Cavalier Daily besteht seit 1890 (bis 1948 als College Topics) und ist damit die älteste Zeitung in Charlottesville; mit der endgültigen Aufnahme einer täglichen Ausgabe in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde er außerdem die älteste College-Tageszeitung in Virginia. Die Zeitung hat heute eine tägliche Auflage von 10.000 Exemplaren und ist finanziell und inhaltlich unabhängig von der University of Virginia. The Cavalier Daily hat im Wettbewerb mit professionellen Tageszeitungen mehrfach Preise der Virginia Press Association erhalten. Mehrere bekannte Journalisten haben in ihrer Studienzeit am Cavalier Daily mitgewirkt, unter anderem die NBC- und CBS-Moderatorin Katie Couric, der zweifache Pulitzerpreisgewinner George P. Rodrigue III (Dallas Morning News) und der Pulitzerpreisträger Mike Vitez (The Philadelphia Inquirer). An der Universität bestehen einige der in den USA üblichen Studentenverbindungen, von denen die Pi-Kappa-Alpha-Verbindung und die Kappa-Sigma-Verbindung, die heute jeweils an über 200 Standorten in den USA vertreten sind, an der University of Virginia gegründet wurden (1. März 1868 bzw. 10. Dezember 1869). Außerdem gibt es an der Universität mehrere „Geheimorganisationen“ (secret societies), die sich wohltätigen Zielen widmen, ohne das öffentliche Interesse zu suchen. Die drei bekanntesten und „geheimsten“ dieser Organisationen sind die IMP Society, deren Mitglieder bekannt sind, die Z Society, deren Mitglieder zumindest während ihrer Studienzeit anonym bleiben, und die Seven Society, deren Mitglieder erst nach ihrem Tod bekannt gegeben werden und die – trotz anonymer Mitglieder – unter anderem Gedenkplaketten auf dem Campus anbringt (siehe Bibliothek) sowie finanzielle Auszeichnungen und Stipendien an Nichtmitglieder vergibt. Die Symbole der drei Organisationen sind an viele Stellen auf dem Campus gemalt, so prangt ein Z auf den Stufen vor dem Nordportal der Rotunda (siehe Rotunda). Darüber hinaus besteht ein – für eine große US-Universität übliches – vielseitiges Angebot an Vorträgen, Konzerten, Theateraufführungen, Sportveranstaltungen (siehe Leistungssport an der Universität) usw. Sprachliche Traditionen An der University of Virginia werden mehrere universitätseigene und zum Teil – für US-Universitäten – relativ alte Traditionen gepflegt, von denen einige den Studenten, gemeinsam mit deren Auftreten, gelegentlich den Vorwurf des Elitedenkens eingetragen haben. Zu diesen Traditionen gehören sprachliche Besonderheiten. Viele der Traditionen machen sich an der Person und den Idealen von Universitätsgründer Thomas Jefferson fest. So wird Thomas Jefferson im offiziellen universitären Sprachgebrauch als „Mr. Jefferson“ bezeichnet, und auch Professoren werden in der Regel als „Mr.“ oder „Ms.“ – im Gegensatz zu „Dr.“ oder „Professor“ – angesprochen. Der Brauch soll Jeffersons Streben nach Gleichheit aller Menschen, ohne Voreingenommenheiten durch Titel, Respekt zollen. Die einzige Ausnahme bilden Ärzte, die wie andernorts als „Dr.“ angeredet werden. Daneben unterscheiden sich noch andere vereinzelte Sprachregelungen vom typischen Wortschatz an US-amerikanischen Universitäten (grounds oder sogar großgeschrieben Grounds anstatt campus für den Campus der University of Virginia sowie first years anstatt freshmen, second years anstatt sophomores etc.). Zum Teil wird die University of Virginia zudem als The University (zum Teil mit großgeschriebenem Artikel; deutsch etwa „die Universität“) bezeichnet, ein Ausdruck, der bereits mindestens seit 1903 in Gebrauch ist. Laut Antonin Scalia, einem ehemaligen Juraprofessor der Universität (1967–1971) und ehemaligem Richter am Obersten Bundesgericht der USA, ist die Bezeichnung in Virginia üblich, weil die übrigen Hochschulen des Bundesstaates ursprünglich nur ein vierjähriges Studium zum Bachelor (US-amerikanisch: college) anboten und die University of Virginia damit die einzige weiterführende Hochschule (US-amerikanisch: university) war. Heute wird die Bezeichnung The University zum Teil auch für Auto-Aufkleber benutzt, wie sie an den meisten Universitäten der USA – allerdings normalerweise mit dem offiziellen Universitätsnamen – verbreitet sind. Insbesondere die Benutzung dieses Namens wird von Außenstehenden oft als Snobismus kritisiert. Leistungssport Wie an US-Universitäten verbreitet werden an der University of Virginia neben dem studentischen Breitensport auch hochqualifizierte studentische Hochschulmannschaften gefördert. Mehrere dieser Mannschaften messen sich in der hochwertigen College-Liga Atlantic Coast Conference der National Collegiate Athletic Association (NCAA) mit Studenten anderer Hochschulen. Bekannt ist die University of Virginia vor allem für Erfolge in Lacrosse (sechsfacher NCAA-Meister und vierfacher Vizemeister der Männer, dreifacher NCAA-Meister und fünffacher Vizemeister der Frauen) und Fußball (fünffacher NCAA-Meister der Männer unter dem langjährigen Trainer Bruce Arena). Die größten Zuschauermengen ziehen jedoch die American-Football-Spiele an. Die Mannschaft der University of Virginia spielt in der ersten College-Liga der USA (Division I Football Bowl Subdivision, die frühere Division I-A), hat allerdings mit Ausnahme von 2003–2004 in den letzten Jahren keine überragenden Leistungen gezeigt. Dennoch ist das Stadion der Universität (Scott-Stadion: seit der Erweiterung im Jahr 2000 offiziell 61.500 Plätze; tatsächlicher Rekord: 63.701 Zuschauer im Spiel gegen die University of Miami am 13. November 2004) regelmäßig gut gefüllt, meist mit mehr als 50.000 Besuchern. Ein Teil der Besucher reist aus der Umgebung von Charlottesville an, so dass die Verkehrssituation an Spieltagen seit Jahren prekär ist (zum Vergleich: Charlottesville hat etwa 40.000 Einwohner, die Universität knapp 20.000 Studenten). Beliebte Ereignisse sind außerdem die Basketball-Heimspiele, die mittlerweile in der 2006 eröffneten John Paul Jones Arena (Kapazität 15.219 Zuschauer für Basketball; wird auch für Konzerte u. a. genutzt) stattfinden. Die Mannschaften der University of Virginia tragen den Namen Virginia Cavaliers. Der Name entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bezieht sich auf den Ausdruck Cavalier für die damals auch in Virginia weit verbreiteten Unterstützer der englischen Krone zu Zeiten des Englischen Bürgerkriegs (1642–1649) und Interregnums (1649–1660). Dementsprechend ist auch das Maskottchen der Universität, offiziell seit 1963, ein Cavalier – ein berittener, mit einem Säbel bewaffneter Uniformierter. Am 11. Oktober 1947 ritten zum ersten Mal als Cavaliers gekleidete Studenten vor einem Heimspiel auf das American-Football-Feld. In den folgenden Jahren gab es immer wieder Auftritte solcher Reiter, und inzwischen reitet seit mehreren Jahren vor jedem American-Football-Heimspiel ein als Cavalier gekleideter Mann säbelschwenkend in das Stadion ein, um das Publikum in Stimmung zu bringen. Außer unter dem Namen Cavaliers sind die Mannschaften der University of Virginia – und oft auch die Studenten allgemein – traditionell unter mehreren weiteren Bezeichnungen bekannt. Nach dem spätestens 1890 vom Dartmouth College übernommenen (und dort heute nicht mehr benutzten) Schlachtruf der Universität – „Wah-hoo-wah!“ – werden die Mannschaften informell auch Wahoos oder kurz Hoos genannt. Der Ausdruck Wahoo entstand angeblich in den 1890er Jahren unter Baseball-Wettkampfgegnern der Washington and Lee University und wurde in der Folge von den Studenten der University of Virginia übernommen; er hat also nichts mit dem Fisch Wahoo zu tun. Heute werden die Namen zunehmend auch von den US-amerikanischen Medien benutzt, die die Mannschaften ansonsten als Cavaliers oder einfach als Virginia bezeichnen. Bis 1888 waren die Universitätsfarben Grau und Kardinalrot, nach der Uniformfarbe der Südstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg und dem dort geflossenen Blut, 1888 wechselte die Universität zu den seither gebräuchlichen Farben Orange und Marineblau. Das Logo für den Universitätssport ist ein großes V mit zwei darunter gekreuzten Säbeln. Als Universitätslied, das vor allem bei Sportveranstaltungen (z. B. nach jedem Touchdown bei American-Football-Heimspielen) zu hören ist, dient seit 1893 The Good Old Song (engl.: Das Gute Alte Lied), eine umgetextete Version des Liedes Auld Lang Syne. Persönlichkeiten Untrennbar ist die University of Virginia mit dem Namen ihres Gründers und Architekten Thomas Jefferson verbunden, so dass sie manchmal, zum Beispiel in manchen Buchtiteln, auch als Jefferson’s University bezeichnet wird. Noch heute wird in manchen Diskussionen über Entwicklungen oder Neuerungen wie auch Bauprojekte der Universität die Frage thematisiert, ob die Veränderungen in Jeffersons Sinne wären. Jefferson selbst sah die University of Virginia als eine seiner größten Errungenschaften an. Auf seinem Grabstein steht auf seinen eigenen Wunsch hin kein Wort über seine erfolgreiche US-Präsidentschaft, sondern schlicht Autor der Erklärung der amerikanischen Unabhängigkeit, des Gesetzes von Virginia für Religionsfreiheit und Vater der University of Virginia – „weil ich am meisten durch diese, als Empfehlungsschreiben, dass ich gelebt habe, in Erinnerung bleiben möchte“, wie Jefferson es ausdrückte. Nach Jeffersons Tod wurde 1826 als zweiter Universitätsrektor James Madison gewählt, der vierte US-amerikanische Präsident, der Jefferson außerdem bei allen Schritten der Universitätsgründung zur Seite gestanden haben soll. Madison unterstützte außerdem die Universitätsbibliothek durch Bücher- und Geldspenden, die die ersten Stiftungsgelder (endowment) der Bibliothek darstellten (1.500 US-Dollar, entspräche im Jahr 2001 über 24.000 US-Dollar). Testamentarisch vermachte Madison der Universität seine eigene, umfangreiche Bibliothek, die auf 4.000 Bände geschätzt wird; vermutlich verkaufte jedoch John Payne Todd, Madisons Stiefsohn aus seiner Ehe mit Dolley Madison, einen Großteil der Sammlung, um Spielschulden zu begleichen, so dass die Universität nach rechtlichen Schritten nur noch 587 Schriften erhielt. James Monroe, der fünfte US-amerikanische Präsident, gehörte unter Jefferson wie auch unter Monroe dem Board of Visitors an, jenem mehrköpfigen Rat, der die Universität leitete. William Barton Rogers unterrichtete von 1835 bis 1853 an der University of Virginia Naturphilosophie und leitete den Fachbereich Philosophie der Universität, bevor er in Cambridge (bei Boston in Massachusetts) das renommierte Massachusetts Institute of Technology (MIT) gründete. Der Nobelpreis- und zweifache Pulitzerpreisträger William Faulkner (* 1897; † 1962) war von Februar bis Juni 1957 und im Jahr 1958 writer in residence und Dozent an der Universität. Dank Faulkners Testament und späterer Stiftungen hat die Universitätsbibliothek die weltweit größte Faulkner-Sammlung (siehe Bibliothek). Zu den vielen in ihren jeweiligen Bereichen renommierten Professoren gehören unter anderem die Nobelpreisträger Alfred G. Gilman (University of Virginia: 1971–1981; Nobelpreis in Medizin 1994), Barry J. Marshall (1986–1996; Nobelpreis in Medizin 2005) und Ferid Murad (1970–1981; Nobelpreis in Medizin 1998). Ronald Coase unterrichtete 1958 bis 1964 Wirtschaft und veröffentlichte 1960 seinen berühmten Artikel „The Problem of Social Cost“, bevor er 1991 den „Wirtschaftsnobelpreis“ erhielt. Antonin Scalia lehrte von 1967 bis 1971 Jura, bevor er unter Richard Nixon in den Regierungsdienst und 1986 an den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten wechselte. Mehrere spätere Berühmtheiten studierten an der Universität: Edgar Allan Poe besuchte 1826–1827 ein Jahr die University of Virginia. Er war in dieser Zeit auch mehrfach zu Gast in Monticello, dem nahegelegenen Wohnsitz von Thomas Jefferson, zu dem Jefferson jeden Sonntag Professoren und Studenten einlud. Auf dem Campus ist in der Nähe des zentralen Lawn noch heute Poes Studentenzimmer im Stil seiner Zeit eingerichtet (siehe oben). Woodrow Wilson, der spätere 28. Präsident der Vereinigten Staaten, studierte von 1879 bis 1881 an der University of Virginia Jura (Adresse seines Studentenzimmers: 31 West Range); ihm wurde später, noch vor seiner US-Präsidentschaft, das neu eingerichtete Amt des Universitätspräsidenten angetragen, das Wilson aber ablehnte (siehe Geschichte). Juraabschlüsse von der University of Virginia erlangten auch der US-amerikanische Politiker Robert F. Kennedy, sein Bruder Edward „Ted“ M. Kennedy und sein Sohn Robert F. Kennedy Jr. Weitere berühmte Persönlichkeiten, die Abschlüsse von der Universität haben, sind zum Beispiel der Arzt und Erforscher der Gelbfieber-Übertragung, Walter Reed, oder der spanische Physiker und EU- und NATO-Politiker Javier Solana. Die Malerin Georgia O’Keeffe besuchte zu einer Zeit, als Frauen noch nicht zum regulären Studium zugelassen waren, an der Universität Sommerkurse, in denen sie die Malerei für sich entdeckte. Später arbeitete sie an der University of Virginia mehrere Jahre als teaching assistent (etwa: Lehrassistent). Weiterhin haben mehrere namhafte Sportler ihre Karriere an der University of Virginia begonnen. Neben einigen American-Football- und Basketball-Größen, wie Bill Dudley, Henry Jordan oder die Brüder Ronde und Tiki Barber, besuchten auch sieben spätere Mitglieder der US-amerikanischen Fußball-Nationalmannschaft die Universität, unter ihnen drei Jahre lang auch der langjährige Kapitän der Mannschaft, Claudio Reyna. Die Fußballmannschaft wurde außerdem von 1978 bis 1995 von Bruce Arena trainiert, der drei Jahre nach dem Abschied von Virginia das Training der US-amerikanischen Fußballnationalmannschaft (1998–2006) übernahm. Weitere berühmte Persönlichkeiten, die an der Universität von Virginia studiert haben, – unter anderem vier Astronauten, mehrere Gouverneure und US-Senatoren, Pulitzerpreisträger und die Miss America 2005 – sind einer Liste auf der englischen Wikipedia unter „List of University of Virginia people“ (Liste von Personen der University of Virginia) zu entnehmen. Präsidenten der Universität Edwin Alderman (1904–1931) John Lloyd Newcomb (1931–1947) Colgate Darden (1947–1959) Edgar F. Shannon (1959–1974) Frank L. Hereford (1974–1985) Robert M. O’Neil (1985–1990) John T. Casteen (1990–2010) Teresa A. Sullivan (seit 2010) Literatur Geschichte der Universität: Bruce, Philip Alexander (1920–1922). History of the University of Virginia, 1819–1919. New York: The MacMillan Co. (fünfbändig) Erster Band elektronisch verfügbar vom Elektronischen Textzentrum der University of Virginia Library Dabney, Virginius (1981). Mr. Jefferson’s University: A History. Charlottesville, Virginia: University Press of Virginia. ISBN 0-8139-0904-X. O’Neal, William B. (1968). Pictorial History of the University of Virginia. Charlottesville, Virginia: University Press of Virginia. ISBN 0-8139-0707-1. (in Teilen auch zur Architektur) Architektur und Anlage: Hogan, Pendleton (1987). The Lawn. A Guide to Jefferson’s University. Charlottesville, Virginia: University Press of Virginia. ISBN 0-8139-1109-5. (vergleichbar einem Fremdenführer über das akademische Dorf) O’Neal, William B. (1960). Jefferson’s Buildings at the University of Virginia. The Rotunda. Charlottesville, Virginia: University Press of Virginia. ISBN 0-8139-0888-4. Vaughan, Joseph Lee, & Gianniny, Omer Allan, Jr. (1981). Thomas Jefferson’s Rotunda Restored, 1973–1976. Charlottesville, Virginia: University Press of Virginia. ISBN 0-8139-0888-4. Robert Vickery (1998). The Meaning of the Lawn: Thomas Jefferson’s Design for the University of Virginia. Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften (VDG). (Ausgabe von 2001: ISBN 978-3-932124-21-1) Wills, Garry (2002). Mr. Jefferson’s University. National Geographic. ISBN 978-0-7922-6531-3. Weblinks Internetseite der University of Virginia (englisch) Internetseite der Studentenzeitung The Cavalier Daily (aktuelle Nachrichten, unter anderem über die Universität; englisch) Architektur und Anlage des akademischen Dorfes von Jefferson Documentary History of the Construction of the Buildings at the University of Virginia, 1817–1828 (elektronische Kopie der Dissertation von Frank Edgar Grizzard Junior; englisch) Umfangreiche Informationen zur Architektur der University of Virginia (nach und nach entstehendes elektronisches Archiv des Jefferson Architecture Electronic Archive Center; englisch) Essay über Architektur und Anlage des akademischen Dorfes der University of Virginia (von einem derzeitigen Doktoranden der Universität; englisch) Artikel über die Rotunda, besonders ihre Geometrie (von einer Theaterdesignerin und Geometerin; englisch) Bilder Photogalerie eines Studenten der Universität Weitere Bilder der Universität: Hotel A, Hotel E, das anatomische Theater nach dem Feuer 1886 und ein Modell des anatomischen Theaters mit aufgeschnittenem Dach Einzelnachweise Teile des Artikels stützen sich auf die englischsprachigen Wikipedia-Artikel University of Virginia, NCAA Men’s Lacrosse Championship, NCAA Women’s Lacrosse Championship und NCAA Men’s Soccer Championship in der englischen Wikipedia (jeweils in der Version vom 12. November 2006). Virginia Monticello und Universität von Virginia in Charlottesville Association of American Universities Organisation (Charlottesville) Gegründet 1819 Bildung in Charlottesville
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https://de.wikipedia.org/wiki/Apuleius
Apuleius
Apuleius (auch Apuleius Madaurensis, Apuleius von Madaura oder Apuleius von Madauros; * um 123 in Madauros, der heutigen Ortschaft M’Daourouch im Nordosten Algeriens; † wohl nach 170) war ein antiker Schriftsteller, Redner und Philosoph (Mittelplatoniker). Seinen andauernden Ruhm verdankt Apuleius seinem Hauptwerk, dem lateinischen Roman Metamorphosen, auch bekannt als Der goldene Esel, der zur Weltliteratur gezählt wird. Die Interpretation des Romans, der wegen seiner Vielschichtigkeit zahlreiche Rätsel aufgibt, gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Klassischen Philologie. Die raffinierte Erzähltechnik und die geschickte Verhüllung der Absichten des Autors hat in der Forschung zu einer Fülle von konkurrierenden Deutungsansätzen geführt. Die in den Roman eingefügte Erzählung von Amor und Psyche hat seit der Renaissance das Lesepublikum fasziniert und eine außerordentliche Breitenwirkung entfaltet. Ihr mythologischer Stoff, die Liebesbeziehung zwischen dem Gott Amor und der Königstochter Psyche, hat Hunderten von Dichtern, Schriftstellern, Malern, Bildhauern, Komponisten und Choreografen Motive geliefert. An der wissenschaftlichen Diskussion über die Erzählung haben sich neben den Altertumswissenschaftlern und Literaturtheoretikern auch eine Reihe von Psychoanalytikern und Rechtshistorikern beteiligt. Apuleius schrieb auch Gedichte und veröffentlichte Abhandlungen über unterschiedliche, insbesondere philosophische Themen sowie Reden. Ein Großteil seiner Werke ist jedoch nicht erhalten geblieben. Leben Als Quellen für das Leben des Apuleius stehen abgesehen von einer Inschrift nur seine Werke zur Verfügung. Sein Gentilname war Apuleius (auch Appuleius geschrieben); für den angeblichen Vornamen Lucius fehlt ein stichhaltiger Beleg. Apuleius wurde anscheinend um 123 geboren. Er stammte aus einer angesehenen, wohlhabenden Familie römischer Bürger. Seine Heimatstadt war Madauros (diese Namensform, nicht Madaura, ist wohl die authentische). Sie lag in der Provinz Africa proconsularis. Er bezeichnete sich selbst als „Halbnumider und Halbgaetuler“. Sein Vater war in Madauros Duumvir (Angehöriger der zweiköpfigen Stadtregierung). Beim Tod des Vaters erbte Apuleius zusammen mit seinem Bruder das Vermögen von zwei Millionen Sesterzen. Seinen ersten Schulunterricht erhielt Apuleius wohl in Madauros; dann wurde er in Karthago, dem kulturellen Zentrum des römischen Nordafrika, in Rhetorik ausgebildet. Schon damals entschied er sich für den Platonismus als seine philosophische Schulrichtung. Schließlich begab er sich zum Studium der Philosophie nach Athen. Dort vervollkommnete er seine Allgemeinbildung und seine Kenntnisse insbesondere in der Dichtkunst und Rhetorik sowie der Geometrie und der Musik. Nach seiner Selbsteinschätzung war er zeitlebens sehr bildungsbeflissen. In Athen hatte er mehrere Philosophielehrer, zu denen möglicherweise Lukios Kalbenos Tauros gehörte, der prominenteste Platoniker Athens um die Mitte des 2. Jahrhunderts. Apuleius war auch offen für den Einfluss des Neupythagoreismus, der sich damals oft mit dem Platonismus vermischte. Während seines Griechenlandaufenthalts ließ er sich in eine Reihe von Mysterienkulten einführen; sein lebhaftes Interesse an religiösem Geheimwissen brachte ihm später den Ruf ein, ein Magier zu sein. Nach dem Abschluss seiner Ausbildung unternahm Apuleius ausgedehnte Reisen, die ihn unter anderem nach Samos und Phrygien führten; zeitweilig hielt er sich in Rom auf, wo er möglicherweise als Anwalt tätig war. Der Archäologe Filippo Coarelli glaubt, ein 1886 in Ostia, der Hafenstadt Roms, entdecktes antikes Gebäude könne mit dem Haus identifiziert werden, das Apuleius bewohnte. Zum dortigen archäologischen Fundmaterial gehören zwei Wasserrohre mit der Aufschrift Lucius Apuleius Marcellus – offenbar der Name des Hausbesitzers – und die Basis einer Reiterstatue des Konsulars Quintus Asinius Marcellus. Dazu passt, dass in Apuleius’ „Metamorphosen“ ein Asinius Marcellus auftritt, der den Romanhelden Lucius in den Osiriskult in Rom einweiht. Falls Lucius Apuleius Marcellus mit dem Schriftsteller identisch ist, hat dieser den Beinamen (Cognomen) seines Gönners, des Konsulars, angenommen. Mit seiner rhetorischen Aktivität, zu der auch Vorträge über philosophische und religiöse Themen gehörten, reihte sich Apuleius in die Strömung ein, die man mit dem vagen Begriff „Zweite Sophistik“ zu bezeichnen pflegt. Zu dieser Bewegung gehörten Rhetoriklehrer, die sich zugleich der öffentlichen Deklamation widmeten; sie kultivierten eine effektvolle Redekunst nach klassischen Vorbildern und waren zum Teil auch Schriftsteller. Manche von ihnen hatten auch philosophische Interessen. Die Verbindung von Philosophie und Redekunst entsprach dem Zeitgeist, war aber für einen Platoniker begründungsbedürftig, da Platon die Rhetorik scharf kritisiert und die Sophistik bekämpft hatte. Seine letzte Lebensphase verbrachte Apuleius wiederum in Nordafrika. In Oea, dem heutigen Tripolis, heiratete er die reiche Witwe Aemilia Pudentilla, die einige Jahre älter war als er. Dazu hatte ihn deren Sohn Pontianus, mit dem er seit seiner Studienzeit befreundet war, überredet, da Pontianus um das Vermögen fürchtete, das bei einer anderen Heirat seiner Mutter gefährdet gewesen wäre. Der Bruder von Pudentillas verstorbenem ersten Ehemann missbilligte jedoch diese Eheschließung wegen der erbrechtlichen Konsequenzen. Er erhob im Namen seines Neffen Pudens, des jüngeren der beiden Söhne Pudentillas, Anklage mit der Beschuldigung, Apuleius habe die Heirat durch magische Beeinflussung bewerkstelligt. Wohl 158 oder 159 fand der Prozess in Sabratha statt; der Richter war der Prokonsul der Provinz Africa proconsularis, Claudius Maximus. Apuleius wusste sich wirkungsvoll zu verteidigen und wurde freigesprochen. Später ließ er sich in Karthago nieder, wo er ein Priesteramt übernahm; wahrscheinlich wurde er sacerdos provinciae (leitender Priester im Kaiserkult der Provinz Africa proconsularis). Dort ist er in den sechziger Jahren noch bezeugt, dann verliert sich seine Spur; Ort und Zeitpunkt seines Todes sind unbekannt. Zwei seiner philosophischen Werke widmete Apuleius seinem „Sohn“ Faustinus; ob damit ein leiblicher Sohn oder ein Schüler gemeint ist, ist unklar. Werke Alle erhaltenen Werke des Apuleius sind in lateinischer Sprache verfasst. Sie zerfallen in die beiden Gruppen der philosophischen und der rhetorischen Schriften. Eine Sonderstellung nimmt sein berühmtestes Werk ein, der Roman „Metamorphosen“. Hinzu kommen kleine Gedichte. Metamorphosen Der ursprüngliche Titel dieses Romans lautet „Elf Bücher Metamorphosen“, lateinisch Metamorphoseon libri XI, oder kurz „Metamorphosen“ („Verwandlungen“), lateinisch Metamorphoses. Er erinnert an das gleichnamige Werk des Dichters Ovid, in dessen „Metamorphosen“ ebenso wie bei Apuleius Verwandlungen aus menschlicher in tierische Gestalt thematisiert werden. Der heute geläufige Titel „Der goldene Esel“ (Asinus aureus) ist erst in der Spätantike (bei dem Kirchenvater Augustinus) bezeugt und gilt daher als nicht authentisch, doch hat der Autor möglicherweise einen Doppeltitel gewählt. Inhalt Erstes Buch: Der Erzähler, der sich Lucius nennt, ist der Held des Romans; er berichtet in der Ich-Form von seinem wechselvollen Schicksal. Im Prolog spricht er den Leser direkt an und stellt sich ihm kurz vor, wobei die Gestalt des Autors mit der des Romanhelden verschmilzt. – Auf einer Geschäftsreise nach Thessalien, das als Land der Hexerei bekannt ist, begegnet er dem Händler Aristomenes, der detailliert erzählt, wie sein alter Freund Sokrates in seiner Gegenwart von einer Hexe mittels Magie ermordet wurde. Der skeptische Begleiter des Aristomenes will nichts davon wissen und hält den Bericht für absurde Flunkerei. In der Stadt Hypata wird Lucius von seinem Gastgeber, dem geizigen Wucherer Milo empfangen. Zweites Buch: Wiederholt hört Lucius in den folgenden Tagen Schreckliches über die Gefährlichkeit der Hexen; insbesondere erhält er eine Warnung vor Milos Frau Pamphile, die zu den thessalischen Zauberinnen gehört. Dadurch wird seine Neugier aber nur angestachelt. Als er nachts von einer Einladung betrunken heimkehrt, stößt er vor Milos Haustür auf drei Räuber, die er mit seinem Schwert tötet. Drittes Buch: Am nächsten Tag wird Lucius verhaftet und des Mordes angeklagt. Er ist überrascht, von allen ausgelacht zu werden. Die Gerichtsverhandlung findet öffentlich im Theater vor einer riesigen Menge statt. Die gelungene Verteidigungsrede des Angeklagten bleibt wirkungslos. Man zwingt ihn, die drei aufgebahrten und verhüllten Leichen aufzudecken. Da stellt sich heraus, dass es in Wirklichkeit drei Schläuche sind. Das Publikum bricht in lautes Gelächter aus und zieht ab. Schließlich erfährt Lucius, dass die Anklage nur ein derber Spaß war. Den Anlass dazu bot das „Fest des Lachens“, das an diesem Tag in der Stadt gefeiert wurde. In Milos Haus erfährt Lucius von der Dienstmagd Photis, mit der er ein sexuelles Verhältnis hat, dass Pamphile die Schläuche magisch belebt hatte, so dass sie wie Einbrecher aussahen. Nun möchte er als versteckter Zuschauer Augenzeuge von Pamphiles Zauberei werden. Photis willigt zögernd ein und lässt Lucius zusehen, wie Pamphile die Gestalt eines Uhus annimmt. Eine solche Verwandlung will Lucius nun selbst erleben. Weil aber Photis die Zaubersalbe, mit der er sich einzureiben hat, verwechselt, verwandelt Lucius sich nicht in einen Vogel, sondern in einen Esel. In der tierischen Gestalt bleibt ihm allerdings sein menschlicher Verstand uneingeschränkt erhalten. Die Dienerin verspricht ihm, die Verwandlung am folgenden Morgen rückgängig zu machen, wofür sie Rosen besorgen will, die er zu diesem Zweck zu verzehren hat. Bis dahin soll er als Esel im Stall bleiben. In der Nacht dringen aber Einbrecher in das Haus ein. Beim Abtransport ihres Diebesguts setzen sie Lucius als Transportesel ein. Damit beginnen die langen Irrfahrten des Esels. Er wird schwer beladen und auf dem Weg durch unwegsames Gebirge mit Schlägen übel zugerichtet. Viertes bis sechstes Buch: Nach Lucius’ Einstieg in die Zauberwelt ist seine darauf gerichtete Neugier befriedigt; nun wechselt er zwangsläufig die Perspektive und betrachtet die gewöhnliche Welt der Menschen von außen. Da die Menschen ihn für ein normales Tier halten, gehen sie in seiner Gegenwart ungehemmt ihren intimen Beschäftigungen und Gesprächen nach. Lucius beobachtet, hört und versteht alles; dank seiner langen Ohren kann er auch sehr weit Entferntes aufnehmen. Seine Rolle ermöglicht ihm Einblicke in Abgründe der Alltagswelt, die aus diesem Blickwinkel mindestens so schauderhaft erscheint wie die Welt der Hexerei aus gängiger menschlicher Sicht. Hinzu kommt, dass Lucius, der als Mensch der Oberschicht angehörte, als Lasttier Personen ausgeliefert ist, die in der sozialen Rangordnung tief unten stehen oder gar Ausgestoßene der Gesellschaft sind. Nach schweren Strapazen gelangt der Räubertrupp mit Lucius in die Höhle, die der Bande als Versteck dient. Eine andere Schar trifft ein, man berichtet einander von den Erlebnissen. Es zeigt sich, dass die Verbrecher bei ihren Unternehmungen und Auseinandersetzungen mit der Umwelt töricht vorgehen und daher Verluste erleiden. Von einem nächtlichen Beutezug bringen die Räuber ein vornehmes Mädchen namens Charite mit, das sie entführt haben, um Lösegeld zu erpressen. Ein Fluchtversuch des Esels mit Charite scheitert. Die Räuber diskutieren über eine grausame Bestrafung der Geflohenen, der Esel soll getötet werden. Siebtes Buch: Ein Späher der Räuber berichtet, dass man inzwischen in Hypata nach dem verschwundenen Lucius fahndet, da man ihn für einen Komplizen der Räuber hält; auch in seiner Heimatstadt wird er deswegen schon gesucht. Kurz vor der geplanten Tötung des Esels taucht Charites Verlobter Tlepolemus auf. Er gibt sich als Räuber namens Hämus aus und gewinnt das Vertrauen der Bande; es gelingt ihm, die Räuber zu übertölpeln und Charite zu befreien, wobei er den Esel mitnimmt. Nun gehört der Esel dem jungen Paar und wird zunächst gut behandelt. Bald gerät er aber wieder in größte Schwierigkeiten, wird als Transporttier eingesetzt und hat vom Eseltreiber vielfältige Misshandlungen zu erdulden. Achtes bis zehntes Buch: Ein Sklave Charites trifft ein und berichtet, dass Tlepolemus von einem Nebenbuhler, den Charite abgewiesen hatte, ermordet worden ist. Charite hat sich daraufhin umgebracht, nachdem sie an dem Mörder Rache genommen hatte. Als die Sklaven der beiden davon erfahren, ergreifen sie die Flucht. Der Esel muss ihnen in eine ungewisse Zukunft folgen und erlebt unterwegs wiederum ein gefährliches Abenteuer. Schließlich wird er auf dem Markt verkauft. Sein neuer Besitzer ist ein Anhänger der Syrischen Göttin, ein Scharlatan, der mit seinen Gefährten bettelnd umherzieht; sie leben von den Gaben leichtgläubiger Menschen, denen sie als Wahrsager zukünftigen Erfolg verkünden. Wieder wird der Esel gequält und gerät in Lebensgefahr. Eines Tages werden die Betrüger wegen eines Diebstahls festgenommen, und der Esel wird ein weiteres Mal auf dem Markt verkauft. Der Käufer ist ein Müller, der ihn als Mühlenesel verwendet. In der Mühle wird er zum Zeugen der Grausamkeiten gegenüber den dort eingesetzten Sklaven und Tieren und wird auch selbst geschunden. Nebenbei erhält er Einblick in den Ehebruch der Müllersfrau, dessen Aufdeckung er ermöglicht, indem er den Liebhaber aus dessen Versteck zwingt. Darauf jagt der Müller seine Frau davon. Sie rächt sich, indem sie ihn mittels Hexerei ums Leben bringt. Für den Esel bedeutet das einen neuen Besitzerwechsel, dem weitere folgen. Er leidet unter Hunger und Kälte, erfährt von furchtbaren Schicksalen und muss rohe Gewalt und ihre Folgen miterleben. Auch in sexuelle Perversion wird er verwickelt. Schließlich gelingt ihm in Korinth die Flucht; er flieht in die nahe Hafenstadt Kenchreai. Zu Beginn des elften und letzten Buches tritt die Wende ein. Der Esel wendet sich an die Muttergöttin und bittet sie um Hilfe. Sie, die bei allen Völkern unter verschiedenen Namen verehrt wird, erscheint ihm in der Gestalt der Isis und kündigt ihm seine Rettung bei ihrem bevorstehenden Fest an. Bei der Festprozession in Kenchreai wird er Gelegenheit erhalten, die erlösenden Rosen zu verzehren. Zum Dank dafür soll er ihr nach der Wiedererlangung seiner menschlichen Gestalt für den Rest seines Lebens dienen. Tatsächlich wird er öffentlich vor der staunenden Menge in den Menschen Lucius zurückverwandelt. Nach einiger Zeit lässt Isis ihn in ihre Mysterien einweihen. Auf ihre Anweisung übersiedelt er nach Rom, wo er ihr weiterhin dient. Dort empfängt er zwei Einweihungen in die Mysterien von Isis’ Gatten Osiris. Er wird in das Kollegium der Isis- und Osirispriester berufen. Das Priesteramt, das er kahlgeschoren auszuüben hat, erfüllt ihn mit Befriedigung. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Rechtsanwalt. So kommen seine Abenteuer zu einem glücklichen Abschluss. Herkunft des Stoffs Der Stoff stammt aus einer gleichnamigen griechischen Vorlage, die der byzantinische Gelehrte Photios (9. Jahrhundert) einem Autor namens Lukios von Patrai zuschreibt. Dieser griechische Roman ist heute verloren, jedoch ist eine von Photios angefertigte knappe Zusammenfassung erhalten. Eine ähnliche, auf der gleichen Vorlage fußende griechische Erzählung „Lukios oder Der Esel“, deren Ich-Erzähler sich als Lukios von Patrai vorstellt, also den gleichen Vornamen trägt wie der Held der „Metamorphosen“, ist unter dem Namen Lukians überliefert. Sie stimmt in den Grundzügen der Handlung weitgehend mit Apuleius’ Roman überein, streckenweise wirkt der lateinische Text sogar wie eine Übersetzung des griechischen. Allerdings bestehen auch zahlreiche Unterschiede. In beiden griechischen Versionen fehlt der Inhalt des letzten Buchs, die Geschichte nimmt dort ein anderes Ende. Erzählung von Amor und Psyche Eine Reihe von Geschichten, die in die Romanhandlung eingefügt sind, lassen eine verschachtelte Textstruktur entstehen. Die längste und weitaus berühmteste von ihnen ist die Erzählung von Amor und Psyche, die rund zwei der elf Bücher füllt. Sie stammt nicht aus der griechischen Vorlage, sondern ist eine Schöpfung des Apuleius. Nachdem Charite entführt worden ist, erzählt ihr die alte Haushälterin der Räuber, um sie von ihrem Leid abzulenken, die Geschichte vom Gott Amor und der Königstochter Psyche, deren Name das griechische Wort für „Seele“ ist. Psyche ist die jüngste und schönste der drei Töchter eines Königs. Wegen ihrer außerordentlichen Schönheit wird sie wie die Göttin Venus verehrt und sogar für eine Verkörperung der Göttin gehalten, was den Neid der Venus erregt. Venus beauftragt ihren Sohn Amor, dafür zu sorgen, dass sich die sterbliche Rivalin in den verächtlichsten und unglücklichsten aller Männer verliebt. Wegen Psyches außerordentlicher Schönheit wagt es niemand, um ihre Hand anzuhalten; im Gegensatz zu ihren älteren Schwestern bleibt sie allein. Der König befragt dazu das Orakel des Gottes Apollon. Der Gott gibt Anweisung, das Mädchen als Braut zu schmücken und auf einen Gebirgsfelsen zu stellen; dann werde ein schreckliches Untier herbeifliegen und sie zur Frau nehmen. Traurig folgen ihre Eltern dem Orakelspruch. Das Monster erscheint aber nicht, sondern ein sanfter Wind trägt Psyche hinab ins Tal, wo sie einschläft. Als sie aufwacht, findet sie einen schönen Palast von überirdischer Beschaffenheit vor und betritt ihn. Eine körperlose Stimme begrüßt sie, unsichtbare Dienerinnen erfüllen ihre Wünsche. Jede Nacht wird sie von einem Unbekannten aufgesucht, der mit ihr schläft, ohne dass sie sein Gesicht erblicken darf. Er erscheint nur in der Dunkelheit. So verbringt sie eine lange Zeit im Palast. Eines Tages bittet sie den weiterhin Unbekannten, der nun faktisch ihr Gatte ist und als solcher bezeichnet wird, ihr ein Wiedersehen mit ihren Schwestern zu ermöglichen. Er stimmt zögernd zu, warnt sie aber, sie dürfe keinesfalls dem Wunsch ihrer Schwestern nachgeben, seine Identität aufzudecken. Sie verspricht dies. Die Schwestern besuchen sie und beneiden sie um ihren luxuriösen Lebensstil. Obwohl der Unbekannte Psyche warnt, sie werde ihn verlieren und nicht wiedersehen, wenn sie ihr Versprechen breche und sein Gesicht betrachte, lässt sie sich von den bösartigen Schwestern zum Misstrauen gegenüber ihrem Gatten verführen. Sie verdächtigt ihn nun, das einst prophezeite Ungeheuer zu sein. Auf den Rat der Schwestern besorgt sie eine Öllampe, die sie versteckt und dann, als ihr Gatte eingeschlafen ist, hervorholt. Im Licht der Lampe erblickt sie den Gott Amor. Aus der Lampe ergießt sich ein Tropfen Öl auf Amors Schulter, worauf er aufwacht und sie verlässt. Psyche erkennt, dass sie von den Schwestern ins Unglück gebracht worden ist, und nimmt an ihnen tödliche Rache. Als Venus erfährt, dass ihr Sohn ihre Anweisung missachtet und sich mit Psyche verbunden hat, richtet sich ihr heftiger Zorn gegen beide. Amor erhält Hausarrest. Nun beginnt Psyche die lange Suche nach dem verlorenen Amor. Sie muss sich der Venus ausliefern, denn andere Göttinnen wagen ihr nicht zu helfen. Venus lässt sie foltern und stellt ihr dann, um sie zu strafen und zu demütigen, vier unlösbar scheinende Aufgaben. Psyche meistert drei Aufgaben, da sie die Unterstützung hilfsbereiter Tiere und Pflanzen – der Ameisen, des Schilfrohrs und des Adlers – erhält. Die vierte und schwerste Aufgabe ist, in die Unterwelt, das Totenreich, hinabzusteigen und etwas von der Schönheit der Proserpina, der Gattin des dort herrschenden Gottes Pluto, in einem Gefäß mitzubringen. Psyche löst auch diese Aufgabe, Proserpina gibt ihr die verschlossene Büchse mit. Auf dem Rückweg öffnet Psyche den Deckel aus Neugier. In der Büchse ist aber nichts Sichtbares, keine Schönheit, sondern ein Dauerschlaf steigt aus ihr empor und befällt Psyche. Schließlich kann Amor aber entkommen. Er findet und weckt Psyche; den Schlaf steckt er in die Büchse zurück. Nun kann Psyche Proserpinas Gabe bei Venus abliefern. Amor wendet sich an den Göttervater Jupiter mit der Bitte um Hilfe. Jupiter erbarmt sich und findet die Lösung: Er reicht Psyche einen Becher mit Ambrosia und kündigt ihr an, dass sie durch diese Nahrung Unsterblichkeit erlangen wird. So unter die Unsterblichen versetzt ist Psyche eine standesgemäße, auch für Venus akzeptable Braut für Amor. Unter den Göttern feiern die beiden Hochzeit. Das Paar bekommt eine Tochter, die „Wonne“ (Voluptas) genannt wird. Der Stoff dieser Erzählung und anderer eingeschobener Geschichten ist vor allem unter religionswissenschaftlichem und ethnologischem Aspekt intensiv untersucht worden. Forscher haben Vergleiche mit ähnlichen Geschichten aus unterschiedlichen Kulturen angestellt und die Frage nach der mutmaßlichen Herkunft des Stoffs erörtert. Dabei denkt man insbesondere an ein mündlich überliefertes altes Märchen als Ausgangspunkt einer Entwicklung, an deren Ende die vorliegende literarische Gestaltung steht. Seit Richard Reitzenstein wird die Hypothese eines orientalischen Ursprungs diskutiert, wobei Psyche im ursprünglichen Mythos eine Gottheit war. Reitzenstein dachte an einen iranischen Schöpfungsmythos; außerdem vermutete er für das Kernmotiv, die Vereinigung von Gott und Mensch, Herkunft aus einer indischen Erzählung. Wichtig für das Verständnis ist der Bezug zur Schilderung des Schicksals der Seele in Platons Dialog Phaidros, doch unterscheidet sich Apuleius’ Geschichte durch ihre frivolen, burlesken und amüsanten Züge stark von Platons Umgang mit dem Thema seines Dialogs. In der Erzählung sind auch Motive aus der griechischen Romanliteratur und aus Werken anderer Gattungen (Komödie, Liebeselegie) verarbeitet. Deutung Der religiös-philosophische Hintergrund des Werks ermöglicht dem Leser, in den geschilderten seltsamen, teils grotesken Vorgängen einen tieferen Sinn zu suchen und zu finden. Der Roman kann aber auch ohne Berücksichtigung einer solchen Tiefendimension gelesen werden und als bloße Unterhaltungslektüre dienen; in diesem Sinne wird dem Leser im Prolog angekündigt: „Du wirst dein Vergnügen haben“ (laetaberis). Seit langer Zeit ist in der Forschung die Frage nach dem Verhältnis zwischen den unterhaltsamen, teils distanziert-ironischen Zügen und dem Aspekt eines ernsthaften religiösen Erlösungsstrebens umstritten. Manche Forscher meinen, der Roman sei hauptsächlich oder gar ausschließlich als satirische Unterhaltungsliteratur konzipiert, andere sind der Überzeugung, das Anliegen des Autors sei auch bzw. in erster Linie ein religiöses oder philosophisches Bekenntnis und Werbung für einen Erkenntnis- und Erlösungsweg. Auch unter den Befürwortern der letzteren Sichtweise bestehen Meinungsverschiedenheiten; nach einer Hypothese favorisiert Apuleius den Isiskult als einen Weg der erlösenden religiösen Hingabe, nach einer anderen geht es ihm vor allem um die platonische Metaphysik und Eros-Lehre. Jüngst wurde verstärkt auch ein Mittelweg im Sinn einer unterhaltsamen Verarbeitung ernster Themen in einem "leichten" literarischen Medium befürwortet. Einen anderen, narratologischen Ansatz hat John J. Winkler gewählt; seine Arbeit wurde für die erzähltheoretische Forschungsrichtung bahnbrechend. Nach Winklers Auffassung will der Autor den Leser verunsichern, ihm eine „richtige“ Deutung vorenthalten und ihn damit zu einer eigenen Interpretation motivieren. Das Leitmotiv ist das Thema des Wissensdrangs und seiner Ambivalenz zwischen harmloser Wissbegierde und verhängnisvoller, mit Übermut und Anmaßung verbundener Neugier (curiositas). In den ersten drei Büchern, in denen Lucius noch als Mensch auftritt, führt ihn seine angeborene Neugier zu den Hexen, deren Leben von Grausamkeiten und Schrecken erfüllt ist und dennoch eine starke Faszination auf ihn ausübt. Nach der Verwandlung, in den Büchern 4–10, erhält er als Esel Gelegenheit, das Entsetzliche im Leben normaler Menschen gründlich kennenzulernen. Immer wieder erfährt er von Verbrechen und Perversitäten oder muss sie selbst miterleben, wobei der Ausgang oft für einen Teil der Beteiligten tödlich ist. Im letzten Buch schließlich, nach der Rückverwandlung des Esels in den Menschen Lucius, erfährt er den Sinn der Abenteuer und Leiden seines Tierdaseins. Sie entpuppen sich als Strafe für seine unangebrachte Neugier. Anfangs veranlasst ihn die Neugier, seinem normalen Alltag zu entfliehen. Sie führt ihn in die Zauberwelt, in die er energisch und unbesonnen eindringt. Die Verzauberung erweist sich aber nicht als echte Alternative zu einem gewöhnlichen Leben, sondern enthüllt nur die Abgründigkeit des „normalen“ menschlichen Daseins, dessen finstersten Aspekten er sich gerade durch die Magie ausgeliefert hat. Erst mit der Mysterieneinweihung gelangt seine Wissbegierde und Sehnsucht nach dem Wunderbaren an ihr legitimes Ziel. Damit erreicht er schließlich, was er ursprünglich angestrebt hat: den Zugang zu einer verborgenen Realität hinter der gewöhnlichen, sichtbaren Welt. Diesmal verirrt er sich aber nicht wie beim Betreten der magischen Sphäre in einen Bereich des Elends und der Hilflosigkeit, sondern erlangt die Gewissheit seiner Erlösung. Worin das Mysterienwissen besteht, bleibt dem Leser des Romans freilich verborgen, und auch im Schlussteil finden sich neben religiösem Ernst und der Hochstimmung des Erlösten komödienhafte Züge. Darin zeigt sich Apuleius’ raffinierte doppelbödige Erzählkunst. Breit diskutiert wird in der Forschung die Bedeutung der im elften Buch geschilderten Mysterieneinweihung und das Verhältnis der dort dargestellten ägyptischen Religiosität zum philosophisch geprägten griechischen Religionsverständnis des Platonikers Apuleius. Während das elfte Buch mit seiner Erlösungsthematik früher oft als irritierender Fremdkörper in dem Roman eingeschätzt wurde, nimmt die neuere Forschung eine durchgängig einheitliche Konzeption des Werks an. Ein weiteres oft erörtertes Thema ist die Frage, inwieweit sich der Verfasser mit seinem Erzähler Lucius identifiziert und der Roman somit zumindest punktuell autobiographische Züge trägt. Dabei geht es insbesondere um das elfte Buch, das „Isis-Buch“, wo der Romanheld in die Isis- und Osiris-Mysterien eingeweiht und in das Priesterkollegium aufgenommen wird. Hier dürfte Apuleius’ eigene Teilnahme an Mysterienweihen und vielleicht auch seine Priesterwürde eine Rolle spielen, doch ist unbekannt, ob er auch persönliche Erfahrungen mit dem Isiskult hatte. Der Umstand, dass die Einweihungen des Lucius für ihn mit erheblichen Unkosten verbunden sind, ist als Kritik des Apuleius am Finanzgebaren von Priesterkollegien zu verstehen. Philosophische Werke Vier philosophische Schriften des Apuleius sind erhalten geblieben: „Über den Gott des Sokrates“ (De deo Socratis), „Über Platon und seine Lehre“ (De Platone et eius dogmate), „Über die Welt“ (De mundo) und Peri hermēneías (lateinisch De interpretatione, „Über die Aussage“ oder „Über das Urteil“). Über den Gott des Sokrates Diese Abhandlung hat zugleich den Charakter einer Rede. Sie beschreibt die Dämonenlehre des Apuleius und bettet sie in das System seiner Kosmologie ein. Er definiert die Dämonen, indem er sie als „mittlere Gottheiten“ einerseits von den erhabenen himmlischen Göttern, andererseits von den Menschen abgrenzt, und er klassifiziert sie systematisch. Seine Schrift ist eine wertvolle Quelle für die antike Dämonologie, die gründlichste unter den bekannten Darstellungen des Themas in der antiken Literatur. Auf die Einleitung (Kapitel 1–5), die von den Himmelsgöttern und den Menschen handelt, folgt die Darlegung der allgemeinen Dämonenlehre (Kapitel 6–16). Anschließend erörtert Apuleius das Daimonion des Sokrates (Kapitel 17–20). Den Abschluss bildet ein Aufruf zur Philosophie. Der Autor fordert den Leser auf, dem Vorbild des Sokrates zu folgen; man solle sich um seine Seele kümmern, äußeren Besitz verachten und ein philosophisches Leben führen (Kapitel 21–24). In der handschriftlichen Überlieferung ist dem Werk ein Prolog vorangestellt, der aber nach der Ansicht der meisten Forscher nicht dorthin gehört, sondern aus einem heute verlorenen Teil eines rhetorischen Werks des Apuleius, der „Blütenlese“, stammt. Die gegenteilige Auffassung, wonach es sich um einen authentischen Prolog handelt, ist eine weiterhin vertretene Minderheitsposition. Über Platon und seine Lehre Diese Schrift bietet eine Zusammenfassung der Lehre Platons. Sie ist als Einführung gedacht und soll Unterrichtszwecken dienen. Für die Geschichte des Mittelplatonismus ist sie eine wichtige Quelle, zumal da die meisten Werke der Mittelplatoniker verloren sind. Die Darstellung beginnt mit einer Lebensbeschreibung Platons (Kapitel 1–4), der ältesten, die erhalten geblieben ist; Platon wird verherrlicht. Es folgt die Beschreibung des Platonismus, wobei in den restlichen vierzehn Kapiteln des ersten Buches die Naturphilosophie samt Kosmologie, die Ontologie und die Seelenlehre behandelt wird, im zweiten die Ethik und die mit ihr zusammenhängende Staatstheorie. Es fehlt somit ein dritter, in der Einleitung angekündigter Teil, der die Logik hätte enthalten müssen; nach der gängigen antiken Einteilung bildet die Logik einen der drei Teile der Philosophie. Die Echtheit des Werks ist aus sprachlichen und inhaltlichen Gründen in Zweifel gezogen worden, doch überwiegt in der Forschung die Meinung, dass es authentisch ist. Justin A. Stover hat 2016 die Hypothese vorgetragen, ein von Raymond Klibansky in einer mittelalterlichen Handschrift entdeckter antiker Text – Auszüge aus Werken Platons in freier, zusammenfassender lateinischer Wiedergabe – stamme von Apuleius und sei mit dem fehlenden dritten Buch von Über Platon und seine Lehre zu identifizieren. Stover hat diesen Text kritisch ediert und kommentiert. Über die Welt Die kosmologische Schrift „Über die Welt“ behandelt das Weltall und seine Teile sowie den göttlichen Schöpfer und Erhalter der Welt. Sie ist eine lateinische Version der pseudo-aristotelischen griechischen Abhandlung Peri kósmou. Apuleius begnügt sich aber nicht damit, den Inhalt dieser Vorlage wiederzugeben, sondern er fügt auch eigenes Gedankengut ein, besonders hinsichtlich der Rolle der Dämonen im Kosmos, und deutet die von aristotelischen Vorstellungen ausgehende griechische Vorlage in platonischem Sinne um. Seit dem späten 19. Jahrhundert bestehen Zweifel an der Echtheit dieses Werks. Begründet werden sie unter anderem mit Irrtümern bei der Wiedergabe des griechischen Originals, die so gravierend seien, dass man sie Apuleius nicht zutrauen könne. Befürworter der Echtheit meinen die Einwände entkräften zu können. Peri hermeneias Obwohl dieses Werk in lateinischer Sprache abgefasst ist, wird es gewöhnlich mit dem griechischen Titel Peri hermēneías zitiert, unter dem es in der latinisierten Form Peri hermeniae handschriftlich überliefert ist. Dieser Titel – er bedeutet ungefähr „Über die Aussage“ oder „Über das Urteil“ – knüpft an den der einschlägigen, ebenso betitelten Abhandlung des Aristoteles an (lateinisch De interpretatione). Die kleine Schrift behandelt die Lehre vom Urteil und vom Schluss. Dabei setzt sich der Autor nicht nur mit der Lehre des Aristoteles auseinander, sondern berücksichtigt auch die spätere aristotelische Tradition und stoische Ansichten. Peri hermeneias ist das älteste lateinische Handbuch der Logik, das erhalten geblieben ist, und wurde für die lateinische Terminologie auf diesem Gebiet wegweisend. Besonderes Gewicht wird auf die Lehre vom kategorischen Syllogismus gelegt. Ob es sich bei dem kurzen Traktat tatsächlich um ein authentisches Werk des Apuleius handelt, ist allerdings seit dem 19. Jahrhundert umstritten. Die Zweifel an der Echtheit beruhen sowohl auf stilistischen als auch auf inhaltlichen und überlieferungsgeschichtlichen Beobachtungen. Der Stil ist für Apuleius ungewöhnlich trocken, der Inhalt vorwiegend aristotelisch mit stoischen Elementen; Platonisches ist darin kaum zu finden. Die Trockenheit ist allerdings zumindest teilweise durch den Stoff bedingt, vielleicht auch durch Abhängigkeit von einer griechischen Vorlage, und die Logik war eine traditionelle Domäne der Aristoteliker. Die Verfechter der Unechtheit meinen, es handle sich um das Werk eines Logikers des 3. oder 4. Jahrhunderts, der den fehlenden Logikteil von Apuleius’ Schrift „Über Platon und seine Lehre“ ergänzen wollte. Heute überwiegt allerdings in der Forschung die Meinung, dass Peri hermeneias echt ist und dass Apuleius selbst damit die Lücke in seiner Darstellung des Platonismus zu schließen gedachte. Man geht von einer verlorenen griechischen Vorlage aus, die aber nicht nur übersetzt, sondern überarbeitet wurde. Vermutlich handelt es sich um ein Frühwerk des Apuleius, das er noch während seines Studienaufenthalts in Athen oder bald darauf schrieb. Rhetorische Werke Über die Magie Der gängige Titel Apologia („Verteidigungsrede“) ist wohl nicht authentisch; aus der handschriftlichen Überlieferung geht hervor, dass der ursprüngliche Titel wahrscheinlich „In eigener Sache über die Magie“ (Pro se de magia) bzw. kurz „Über die Magie“ (De magia) lautete. Die Rede ist eine wertvolle Quelle für die Geschichte der antiken Magie. Gehalten wurde sie vor dem Gericht, das über die Anklage gegen Apuleius wegen Zauberei zu befinden hatte. Die zur Veröffentlichung bestimmte Fassung kann sich aber, wie bei publizierten antiken Redetexten üblich, stark von der tatsächlich vorgetragenen unterscheiden. In der Forschung ist sogar die extreme Hypothese erwogen worden, dass die Rede eine reine literarische Fiktion ist. Als Gerichtsredner in eigener Sache zeigt sich Apuleius witzig, schlagfertig und angriffslustig; mit Vorliebe erzielt er Effekte mit Spott und Ironie und nutzt Gelegenheiten, seine umfassende Bildung zur Schau zu stellen. Der schriftlich fixierte Redetext erweckt den Eindruck einer Interaktion zwischen Redner und Publikum; Apuleius scheint aus dem Stegreif zu sprechen und spontan auf die Gefühlsregungen seiner Hörer einzugehen. Unter anderem argumentiert er, die Anklage sei schon deswegen unglaubwürdig, weil seine Gegner, wenn sie ihm wirklich magische Fähigkeiten zutrauten, sich hüten würden, eine so mächtige Person anzugreifen. „Blütenlese“ Die „Blütenlese“ (Florida) ist eine Auswahl von Passagen aus Reden des Apuleius in vier Büchern. Erhalten ist davon nur eine von einem antiken Bearbeiter stammende stark gekürzte Fassung. Sie besteht aus 23 Textstücken von unterschiedlicher Länge. Die Kurzfassung sollte wohl dem Bedürfnis nach Material für den rhetorischen Unterricht dienen. Ihr Urheber war möglicherweise der spätantike Rhetoriklehrer Crispus Salustius, der im späten 4. Jahrhundert tätig war. Gedichte Apuleius verfasste Gedichte, die er auch gelegentlich in seine Prosa einstreute. Erhalten geblieben ist davon nur wenig, darunter ein erotisches Gedicht von 24 jambischen Senaren mit dem griechischen Titel Anechómenos („Der Erdulder“), das wohl eine freie Bearbeitung eines Textes des Komödiendichters Menander ist. Vermutlich stammt von Apuleius auch ein in den Noctes Atticae des Gellius überliefertes Liebesgedicht, das dort als Werk eines ungenannten jungen Freundes des Autors bezeichnet wird. Verlorene Werke Apuleius erwähnt eine Reihe von teils lateinischen, teils griechischen bzw. in beiden Sprachen veröffentlichten Werken, die er verfasste und von denen ansonsten nichts bekannt ist. Einige spätantike Autoren, darunter Johannes Lydos und die Grammatiker Priscian und Charisius, überliefern Zitate aus dem verlorenen Teil seines Œuvres. Dabei ist aber zu beachten, dass einige mutmaßliche Spezialabhandlungen des Apuleius, denen in der Forschungsliteratur die Hinweise der Quellen zugeordnet werden, vielleicht nur Bestandteile von größeren Werken waren. Aus den Angaben der Quellen lassen sich die folgenden verlorenen Werken erschließen: Hermagoras, entweder ein Roman oder ein philosophischer Dialog; erhalten sind nur sechs kurze Fragmente. Die Romanhypothese ist wesentlich plausibler. eine frei übersetzte lateinische Fassung von Platons Dialog Phaidon, aus der Priscian zwei kurze Zitate überliefert. Zu den verlorenen Gedichten gehören ein Hymnus auf Asklepios in griechischer und lateinischer Fassung mit einer Einleitung in Dialogform und ein panegyrisches Gedicht auf den Prokonsul Scipio Orfitus. Apuleius veröffentlichte eine Sammlung unterhaltsamer Gedichte mit dem Titel „Tändeleien“ (Ludicra); davon sind nur einzelne Verse erhalten. Convivales quaestiones („Gastmahlfragen“), mit diesem Titel von Macrobius und Sidonius Apollinaris erwähnt, ist wohl identisch mit einer Schrift, die Apuleius in seiner Verteidigungsrede als Naturales quaestiones bezeichnet. Er veröffentlichte sie in einer griechischen und einer lateinischen Fassung. Behandelt wurden offenbar unterschiedliche naturkundliche Themen. Eine Untersuchung „Über die Fische“ (De piscibus); unklar ist, ob sie eine eigenständige Abhandlung war oder nur ein Teil der Naturales quaestiones oder eines rein zoologischen Werks. Apuleius geht in seiner Verteidigungsrede ausführlich darauf ein, dass er sich seltene Fische zum Zweck der zoologischen Untersuchung beschafft habe; demnach hat er in seiner Untersuchung über die Fische neben älterer Literatur auch eigene Beobachtungen in größerem Umfang verwertet. Die Schrift „Über die Bäume“ (De arboribus) ist bei dem spätantiken Vergil-Kommentator Servius zitiert. Aus ihr stammen wohl auch Zitate, die der Fachschriftsteller Kassianos Bassos (Cassianus Bassus) in seine unter der Bezeichnung Geoponica bekannte Kompilation aufgenommen hat; die Identität des dort genannten Autors Apuleius mit Apuleius von Madauros ist nicht gesichert, aber wahrscheinlich. Unklar ist, ob die Abhandlung über die Bäume eine eigenständige Schrift oder ein Teil eines botanischen oder landwirtschaftlichen Werks – letzteres vielleicht mit dem Titel De re rustica – war. Möglicherweise handelte es sich um einen Teil der Naturales quaestiones oder Convivales quaestiones des Apuleius. Ein von Priscian erwähntes medizinisches Werk, dessen Titel vielleicht Libri medicinales, De medicina oder Medicinalia lautete. Vielleicht war es ein Bestandteil der Naturales quaestiones oder Convivales quaestiones. De proverbiis („Über Sprichwörter“), eine Schrift in mindestens zwei Büchern, die der Grammatiker Charisius zitiert. ein wohl literarisch ausgestaltetes Werk über Themen aus der Frühgeschichte des römischen Staates und der mythischen Vorgeschichte seiner Gründung, das Angaben über römische Münzgeschichte enthielt. Priscian gibt als Titel Epitoma („Auszug“), an anderer Stelle Epitomae historiarum an. De re publica („Über den Staat“), eine nur bei Fulgentius bezeugte Schrift. Fulgentius führt nur ein kurzes Zitat an. eine lateinische Übersetzung der griechischen „Einführung in die Zahlenlehre“ des Nikomachos von Gerasa. ein Werk über Musik, das Cassiodor erwähnt, aber nur vom Hörensagen kennt. ein Werk, für das der spätantike Schriftsteller Johannes Lydos, der es erwähnt, den griechischen Titel Erotikos angibt (lateinisch wohl Amatorius). Vermutlich handelte es sich um einen Dialog über Erotik. ein Werk über astronomische und meteorologische Phänomene und Vorzeichen, dessen Existenz aus vier Apuleius-Zitaten bei Johannes Lydos erschlossen wird. ein Kommentar zu „tagetischem“ Schrifttum über die etruskische Vorzeichenkunde, die auf den mythischen Tages zurückgeführt wurde. Unechte Schriften Der Ruhm des Apuleius und die Breite der von ihm behandelten Themenbereiche haben dazu geführt, dass ihm eine Reihe von Schriften zugeschrieben wurden, deren Verfasser er nicht ist. Die bekanntesten dieser unechten Werke sind: der hermetische Traktat Asclepius. Dieses im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit populäre Werk ist die lateinische Übersetzung oder Paraphrase einer verlorenen griechischen Schrift. Es hat die Form eines Dialogs, in dem der Gott Hermes Trismegistos seinen Schüler Asklepios über die Weltordnung und über die Rolle und die Aufgaben des Menschen belehrt. In keiner der erhaltenen Handschriften erscheint Apuleius als Autor, im Mittelalter scheint die Zuschreibung an ihn noch unbekannt gewesen zu sein; erst in der Renaissance pflegte man ihn als Verfasser der Schrift oder als ihren Übersetzer anzugeben. In der modernen Forschung ist vereinzelt für Echtheit plädiert worden, doch stößt diese Hypothese kaum auf Zustimmung. der Herbarius, ein illustriertes Handbuch der Heilpflanzen, das in Wirklichkeit aus dem 4. Jahrhundert stammt und später erweitert wurde. In einer nachträglich hinzugefügten Vorrede wird „der Platoniker Apuleius“ als Verfasser genannt. Im Mittelalter war dieses Kräuterbuch sehr beliebt und wurde Apuleius von Madauros zugeschrieben. ein anonym überlieferter Traktat über Physiognomik, der erst im 19. Jahrhundert Apuleius zugeschrieben wurde. In Wirklichkeit ist er in der Spätantike entstanden, wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts. Philosophie Apuleius nannte sich einen „platonischen Philosophen“; auf diese Bezeichnung legte er großen Wert. Dabei verstand er unter Philosophie in erster Linie philosophische Praxis, also eine philosophische Lebensweise nach klassischen Vorbildern; aus den schulphilosophischen Kontroversen hielt er sich heraus. In der älteren Forschung wurde die Hypothese vertreten, er habe zusammen mit Albinos, den man damals noch irrtümlich für den Verfasser des Lehrbuchs Didaskalikos hielt, zu den Schülern des Mittelplatonikers Gaios gehört. Tadeusz Sinko trug 1905 die Hypothese vor, dass die Lehren einer „Schule des Gaios“ aus erhaltenen Werken von Platonikern dieser Richtung, darunter Apuleius, rekonstruierbar seien. Die neuere Forschung ist aber von der Annahme, es habe eine solche Schule mit spezifischen Lehraussagen gegeben, abgekommen, da es an überzeugenden Belegen fehlt. Insbesondere geht eine Verbindung zwischen Gaios und Apuleius aus den Quellen nicht hervor. Die Philosophie des Apuleius zeichnet sich durch eine synkretistische Haltung aus. Sie ist im Kern platonisch, nimmt aber reichlich aristotelische und stoische Einflüsse auf. Diese Vermischung der Schulrichtungen stellte für Apuleius ebenso wie für manche andere kaiserzeitliche Denker kein Problem dar, denn sie betrachteten Aristoteles als einen Platoniker und die Stoa als einen Zweig des Platonismus. Apuleius bewundert Pythagoras und betont die enge Verwandtschaft von Platonismus und Pythagoreismus. Auch für den Kynismus zeigt er Hochachtung. Die große Bedeutung der Dämonenlehre im System des Apuleius ergibt sich daraus, dass nach seiner Überzeugung ein direkter Kontakt zwischen Göttern und Menschen unmöglich ist, da ihre Daseinsbereiche streng voneinander getrennt sind. Daher werden Dämonen als Vermittler benötigt; nur durch die Dämonen kann den Menschen von den Göttern ein Nutzen zukommen. Alle höheren Dämonen sind von Natur aus ausschließlich gut und den Göttern ähnlich; sie binden sich niemals an Körper. Die niederen Dämonen hingegen unterscheiden sich nicht von den Seelen, die menschliche Körper bewohnen; zu ihnen zählen auch die umherirrenden Seelen verstorbener Übeltäter. Dämonen sind den Leidenschaften unterworfen und reagieren emotional auf das Verhalten der Menschen. Die Götter, denen in der Dichtung solche Gefühle und Verhaltensweisen zugeschrieben werden, sind in Wirklichkeit Dämonen. Diese Dämonen sind die Ansprechpartner der Menschen, die sich mit Gebeten und kultischen Handlungen an die Instanzen wenden, die sie „Götter“ nennen. Jeder einzelne Mensch ist einem bestimmten Dämon der höheren Art als seinem persönlichen Schutzgeist zugeordnet. Der Schutzgeist wohnt in der Seele des Menschen und macht sich als innere Stimme bemerkbar. Nach dem Vorbild des Sokrates soll sich der Mensch stets der Anwesenheit seines persönlichen Wächterdämons bewusst sein und auf dessen Hinweise achten. Sokrates benötigte wegen der Vollkommenheit seines Charakters keinen mahnenden Dämon, der ihn zum Guten anleitete, sondern nur einen warnenden, der ihn vor Gefahren bewahrte. In der unter den Platonikern umstrittenen Frage der Weltschöpfung zählt Apuleius zu den Anhängern der verbreiteten Auffassung, wonach die Welt ewig ist und ihre Schöpfung nicht als Entstehung zu einem bestimmten Zeitpunkt zu verstehen ist. Nach Apuleius’ Darstellung des Platonismus besagt die platonische Seelenlehre, dass die Weltseele die Quelle (fons) aller Seelen ist. Die Seelen aller Lebewesen sind unkörperlich und unvergänglich. Somit geht Apuleius von einem einheitlichen Wesen des Seelischen aus und weicht insofern von der in Platons Dialog Timaios dargelegten Auffassung ab, wonach der Demiurg die Weltseele auf der Basis einer anderen Mischung schuf als die übrigen Seelen. Das Menschenbild des Apuleius ist pessimistisch. Das Leben der weitaus meisten Menschen hält er für verfehlt. Er kritisiert ihren Mangel an Bemühen um Erkenntnis und meint, die Folge ihrer Unwissenheit seien Freveltaten und Verbrechen. Nur die wenigen Philosophen nimmt er von dieser Kritik aus. Rezeption Antike Von dem hohen Ansehen, das Apuleius bei seinen Mitbürgern genoss, zeugt eine Statue, die ihm seine Heimatstadt errichtete; die bruchstückhaft erhaltene Ehreninschrift auf der Basis des Standbilds bezeichnet ihn als „Schmuck“ (ornamentum) von Madauros. In Karthago und anderen afrikanischen Städten errichtete man ihm schon zu seinen Lebzeiten Statuen. In Oea wehrten sich seine dortigen Feinde gegen die Errichtung einer Apuleius-Statue; daher hielt Apuleius eigens eine Rede, um sich die Ehrung zu erkämpfen. Der Historia Augusta zufolge hat Kaiser Septimius Severus seinem Rivalen Clodius Albinus in einem Brief an den Senat zum Vorwurf gemacht, kein wirklich gebildeter Mann zu sein, sondern nur ein eifriger Leser der „Metamorphosen“. Offenbar zählte der Kaiser den Roman zur Trivialliteratur, deren Lektüre in seinen Augen eines kultivierten Römers unwürdig war. Obwohl sich Apuleius im Gerichtsverfahren erfolgreich gegen den Vorwurf, ein Magier zu sein, zur Wehr gesetzt hatte, blieb er der antiken Nachwelt als Zauberer und Wundertäter in Erinnerung. In der Spätantike wurden ihm zugeschriebene Wundertaten sogar von Gegnern des Christentums als Beispiele dafür angeführt, dass nicht nur Christus über entsprechende Fähigkeiten verfügt habe. In den Zeuxippos-Thermen von Konstantinopel war in der Spätantike eine bronzene Apuleius-Statue aufgestellt, die ihn als Träger von Geheimwissen ehrte. In der Griechischen Anthologie sind Verse des ägyptischen Dichters Christodoros von Koptos überliefert, die darauf Bezug nehmen. Gegen Ende des 4. Jahrhunderts wurde Apuleius auf Kontorniaten (Medaillons) abgebildet; eine solche Ehrung wurde nur wenigen Philosophen und Schriftstellern zuteil. Schon im 3. Jahrhundert wurde „Über die Welt“ in christlichen Kreisen zur Kenntnis genommen; der Theologe Novatian verwendete diese Schrift in seiner Abhandlung De Trinitate als Quelle, ohne sie zu nennen. Der Kirchenvater Augustinus setzte sich in seiner Schrift De civitate dei eingehend mit der Dämonenlehre von „Über den Gott des Sokrates“ auseinander und kritisierte sie aus christlicher Sicht. Auch die Metamorphosen und die Verteidigungsrede kannte und erwähnte er, „Über die Welt“ zitierte er. Augustinus hielt Apuleius für eine bedeutende philosophische Autorität; keinen anderen paganen Autor zitierte er so häufig wie ihn. Der konservative Gelehrte Macrobius äußerte in seinem Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis sein Erstaunen darüber, dass Apuleius sich mit der Abfassung eines Romans abgegeben hatte; er meinte, dass solche Schriftstellerei nicht zu einem Philosophen passe. Martianus Capella nahm die Hochzeit der Psyche in den „Metamorphosen“ zum Muster für seine berühmte Darstellung der Hochzeit der Philologie mit Merkur; er verwertete auch Peri hermeneias, ohne diese Quelle zu nennen. Im späten 5. oder im 6. Jahrhundert legt Fulgentius eine Umdeutung der Erzählung von Amor und Psyche in christlichem Sinn vor, womit die allegorische Interpretation einsetzt. Bei ihm ist Psyche die menschliche Seele, ihr königlicher Vater ist Gott, ihre Schwestern sind das Fleisch (im biblischen Sinne des Begriffs) und der Freie Wille. Fulgentius kritisiert die Darstellungsweise des Apuleius als umständlich und irreführend. Die gezwungene Deutung der Rollen und Vorgänge, die er vornimmt, ist schwer mit dem Handlungsablauf bei Apuleius zu vereinbaren. Sidonius Apollinaris erwähnte die Phaidon-Übersetzung als Beispiel einer hervorragenden Übertragung vom Griechischen ins Lateinische. In der bildenden Kunst der Antike (Malerei, Bildhauerei, Kunstgewerbe) war die Beziehung zwischen Amor und Psyche ein beliebtes Motiv. Sie wurde schon vor der Zeit des Apuleius dargestellt, obwohl von älteren literarischen Bearbeitungen des Stoffs nichts bekannt ist. Manche Kunstwerke lassen einen Bezug zur Erzählung in den „Metamorphosen“ mehr oder weniger deutlich erkennen. Mittelalter Im Mittelalter war Apuleius als Philosoph bekannt; die Verbreitung seines Romans und der rhetorischen Werke war gering. Aus dem Frühmittelalter sind – abgesehen von Berücksichtigung in einem Glossar – keine Spuren einer Lektüre des Romans überliefert. Die älteste erhaltene Handschrift der „Metamorphosen“, der „Blütenlese“ und der Verteidigungsrede wurde im 11. Jahrhundert im Kloster Montecassino angefertigt; außerhalb des Umkreises dieses Klosters wurden die drei Werke auch im Hochmittelalter anscheinend kaum gelesen. Eine spätmittelalterliche Handschrift enthält eine umfangreiche Einführung (accessus) zu den „Metamorphosen“ und zur Verteidigungsrede; der unbekannte Autor betrachtet die Verteidigungsrede als Einführung zum Roman. Seine Interpretation ist allegorisch. Vermutungen, wonach die „Metamorphosen“ die hochmittelalterliche französische Erzählliteratur beeinflussten, werden in der Forschung seit langem kontrovers diskutiert. Analogien zur Erzählung von Amor und Psyche finden sich insbesondere in dem anonym überlieferten Versroman Partonopeu de Blois aus dem späten 12. Jahrhundert. Sie sind aber großenteils mit direktem oder indirektem Einfluss der „Mythologien“ des Fulgentius erklärbar, und ihre Beweiskraft wird aus narratologischer Sicht teils skeptisch beurteilt. Größer war das Interesse an den philosophischen Schriften. Die handschriftliche Überlieferung setzt in der Karolingerzeit ein, ab der Mitte des 11. Jahrhunderts ist eine stärkere Verbreitung erkennbar. Auszüge wurden in Florilegien aufgenommen. Die Dämonenlehre von „Über den Gott des Sokrates“ wurde außerdem indirekt über ihre Wiedergabe bei Augustinus rezipiert, die Geschichte von Amor und Psyche blieb dank Fulgentius präsent. Bernardus Silvestris entnahm der Schrift „Über die Welt“ Anregungen für sein um die Mitte des 12. Jahrhunderts entstandenes berühmtes Gedicht Cosmographia. Sein Zeitgenosse Johannes von Salisbury betrachtete Apuleius als Autorität für den Platonismus. In seinem Policraticus, der im Spätmittelalter sehr geschätzt wurde, übernahm er die vier letzten Kapitel von „Über den Gott des Sokrates“ wörtlich, da sie zu einer philosophischen Lebensführung ermuntern, worauf er besonderen Wert legte. Sein Bild Platons war stark von Apuleius bestimmt. Er bewunderte sowohl die Philosophie des Apuleius als auch die Schönheit seines Stils. Im Spätmittelalter berief sich Albert der Große oft auf Apuleius. Die Schrift Peri hermeneias, von der rund drei Dutzend Handschriften erhalten sind, spielte für die Entwicklung der vorscholastischen und scholastischen Dialektik eine Rolle. Stark war die indirekte Nachwirkung über Cassiodor, der in seinen Institutiones ein langes Stück daraus zitierte und Peri hermeneias als weiterführende Literatur empfahl. Durch die Institutiones wurde Apuleius’ Darstellung des kategorischen Syllogismus ein Bestandteil des mittelalterlichen Lehrguts; schon Isidor von Sevilla übernahm sie von Cassiodor. Mit Nennung von Titel und Autor wurde Peri hermeneias im späten 8. Jahrhundert in den Libri Carolini wörtlich zitiert; dort wurde Apuleius’ Handbuch der Logik zur Lösung theologischer Probleme herangezogen. Im Hochmittelalter gehörte Peri hermeneias zur in der Schule von Chartres behandelten antiken philosophischen Literatur. Im Byzantinischen Reich lebte in Legenden die Gestalt des Magiers Apuleius fort; in phantasievollen Geschichten erschien er als Konkurrent anderer Magier. Solche Erzählungen überliefert Michael Psellos. Frühe Neuzeit Wissenschaftliche und literarische Rezeption Die humanistische Rezeption der „Metamorphosen“ begann nicht erst 1355/1357 mit der Entdeckung der Handschrift von Montecassino; schon zuvor hatte sich der Humanist Giovanni Boccaccio Zugang zu einer Abschrift verschafft. Die verbreitete Behauptung, Boccaccio habe den ältesten Codex aus der Bibliothek des Klosters Montecassino nach Florenz mitgenommen und ihn sich angeeignet, trifft nicht zu; es war vielmehr wahrscheinlich der Humanist Zanobi da Strada, der die Handschrift aus Montecassino entfernte. Boccaccio nahm Ehebruchsgeschichten aus dem Roman in sein Decamerone auf. In seiner Schrift De genealogiis deorum gentilium verarbeitete er Material aus verschiedenen Werken des Apuleius. Auch Petrarca besaß eine „Metamorphosen“-Handschrift, die er mit Hunderten von Randbemerkungen versah. Giannozzo Manetti zog bei der Abfassung seiner Sokrates-Biographie die Schrift „Über den Gott des Sokrates“ heran. 1469 erschien in Rom die erste Inkunabel der Schriften des Apuleius, herausgegeben von Giovanni Andrea Bussi, der zuvor Sekretär des Nikolaus von Kues gewesen war. Peri hermeneias war allerdings in dieser Ausgabe nicht enthalten, sondern wurde erst 1528 in Basel teilweise und 1588 in Leiden vollständig ediert. Bussi lobte die Gelehrsamkeit des antiken Autors sowie den Reichtum und die Anmut seiner Sprache. Völlig anderer Meinung war sein Zeitgenosse Lorenzo Valla; dieser berühmte Humanist schrieb 1442, wer den Stil des Apuleius nachahme, der scheine tierische Laute von sich zu geben (lateinisch rudere, ein Wort, das auch für Lautäußerungen eines Esels verwendet wurde). Spätestens 1479 vollendete Matteo Maria Boiardo seine freie, sehr fehlerhafte italienische „Metamorphosen“-Übersetzung, den Apulegio volgare („volkssprachlicher Apuleius“); sein Auftraggeber war der Herzog von Ferrara Ercole I. d’Este. Gedruckt wurde der Apulegio volgare erst 1518. 1500 publizierte der Gelehrte Filippo Beroaldo der Ältere einen umfangreichen Kommentar zu dem Roman; er behandelte die „Metamorphosen“ in seinem Unterricht an der Universität von Bologna. Sein Kommentar, der in einer für damalige Verhältnisse hohen Auflage – 1200 Exemplare – erschien, wurde schnell populär und erzielte eine nachhaltige Wirkung. Beroaldo vertrat wie schon Bussi eine symbolische, spirituelle Deutung der Romanhandlung; beispielsweise deutete er die zur Erlösung des Esels benötigten Rosen als die (im Sinne der Humanisten aufgefasste) Bildung. Für Beroaldo war Apuleius ein stilistisches Vorbild. Damit widersetzte er sich dem damals verbreiteten Ciceronianismus, einem strengen sprachlichen Klassizismus. Die Ciceronianer lehnten Apuleius ab, sie betrachteten seinen Stil als Symptom des Kulturverfalls. In diesem Sinne äußerte sich Francesco Asolano in der Vorrede zu seiner neuen Apuleius-Edition, die er 1521 in Venedig als Aldine herausgab; abschätzig urteilten auch Philipp Melanchthon und Juan Luis Vives. Das Motiv eines Menschen, der in einen Esel verwandelt wird, wurde in der Belletristik des 16. Jahrhunderts oft aufgegriffen; es tauchte in allegorischer ebenso wie auch in satirischer Literatur auf. Niccolò Machiavelli schrieb das satirische Gedicht L’asino („Der Esel“) in Terzinen, eine Parabel, in der er von seiner eigenen Verwandlung in einen Esel berichtet; dieses Werk blieb unvollendet. Für die zunächst in Spanien, dann auch in anderen Ländern aufblühende Gattung des Schelmenromans (Picaro-Roman) scheinen die „Metamorphosen“ Vorbildcharakter gehabt zu haben, doch ist die Beeinflussung im Detail oft schwer nachzuweisen und stark umstritten. Die erste deutsche „Metamorphosen“-Übersetzung, besorgt von Johann Sieder aus Würzburg, erschien 1538 bei dem Augsburger Verleger Alexander Weißenhorn im Druck. Sie war mit 78 Holzschnitten reich illustriert. Material aus Sieders Übersetzung wurde von Hans Sachs in den Meisterliedern verwertet. Agnolo Firenzuola verfasste eine freie italienische Übersetzung oder eher Bearbeitung der „Metamorphosen“, die erst nach seinem Tod 1550 in Venedig gedruckt wurde. In Spanien veröffentlichte Diego López de Cortegana eine elegante spanische Übersetzung der „Metamorphosen“, die wohl 1513/14 erstmals erschien und oft nachgedruckt wurde. Eine französische Übersetzung von Guillaume Michel erschien 1518 und erneut 1522, eine englische von William Adlington 1566. Besonders starke Beachtung hat seit der Renaissance die Geschichte von Amor und Psyche gefunden. Boccaccio legte in De genealogiis deorum gentilium eine allegorische Deutung der Erzählung vor. Um 1490 verfasste Niccolò da Correggio ein langes italienisches Psyche-Gedicht mit dem lateinischen Titel Fabula Psiches et Cupidinis, das er Isabella d’Este widmete; es wurde 1507 in Venedig gedruckt. Bei Correggio steht nicht Psyche im Mittelpunkt, sondern die Geschichte wird aus Amors Perspektive erzählt. Galeotto del Carretto schrieb um 1500 eine Komödie in Versen Noze de Psiche e Cupidine („Die Hochzeit von Psyche und Cupido“). Viele humanistische Autoren nahmen in ihren Werken auf die Thematik Bezug. Stark ausgeweitet wurde die Handlung in dem spanischen Epos La hermosa Psyche („Die schöne Psyche“) von Juan de Mal Lara, der zahlreiche zusätzliche Prüfungen Psyches einfügte. Ercole Udine wandelte in seinem Stanzenepos La Psiche, das 1599 in Venedig veröffentlicht wurde, die Darstellung des Apuleius leicht ab. Dieses Gedicht erschien 1617 in einer Neuauflage mit dem Titel Avvenimenti amorosi di Psiche („Liebeserlebnisse der Psyche“). Im 16. und 17. Jahrhundert griffen englische Dichter den Psyche-Stoff auf, darunter Edmund Spenser in The Faerie Queene, William Browne im dritten Buch von Britannia’s Pastorals und Shackerley Marmion, der ein Epos The Legend of Cupid and Psyche schrieb. Thomas Heywood schuf ein Theaterstück Loves Maistresse or The Queens Masque, das wiederholt am Hof aufgeführt und 1636 veröffentlicht wurde; in dieser freien Umgestaltung des Psyche-Stoffs lässt Heywood Apuleius selbst auftreten und die Handlung kommentieren. 1662 wurde in Madrid die Komödie Ni Amor se libra de amor („Nicht einmal der Liebesgott entgeht der Liebe“) von Calderón uraufgeführt, welche die Handlung sehr frei abwandelt. 1674 erschien der drei Bücher umfassende lateinische Roman Psyche Cretica von Johann Ludwig Prasch, in dem der Stoff zu einer geistlichen Allegorie verarbeitet ist. Jean de La Fontaine veröffentlichte 1669 seinen einflussreichen Roman Les amours de Psyché et de Cupidon, in dem er den Aspekt der weiblichen Schwäche betont. Er verlegt das mythische Geschehen nach Versailles. Einzelne Episoden aus den „Metamorphosen“ lieferten Motive für Werke der Weltliteratur wie Cervantes’ Don Quixote, wo der Protagonist wie Apuleius’ Lucius gegen Schläuche kämpft, und die Histoire de Gil Blas de Santillane von Alain-René Lesage. In einer Reihe von Stücken Shakespeares, vor allem im „Mittsommernachtstraum“, ist der Einfluss des Apuleius erkennbar. Der Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim schuf einen Zyklus von 68 anakreontischen Gedichten mit dem Titel Amor und Psyche, den er 1744 in seinem Versuch in scherzhaften Liedern veröffentlichte. Herder begeisterte sich für die Erzählung von Amor und Psyche; für ihn war sie „der vielseitigste, zarteste Roman, der je gedacht ward“. Dieses Lob galt aber nicht dem Autor, denn Herder meinte, Apuleius habe nur einen bereits vorhandenen Stoff bearbeitet, und zwar auf eine „sehr afrikanische“, „unanständige“ Weise. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts brachte die Dichterin Mary Tighe die Erzählung des Apuleius in Verse; ihr Gedicht Psyche, or The Legend of Love fand beim englischen Lesepublikum viel Anklang. Bildende Kunst Sehr breit rezipiert wurde der Psyche-Stoff in der bildenden Kunst. In der Malerei setzte die neuzeitliche Rezeption im 15. Jahrhundert ein. Francesco di Giorgio schuf ein Gemälde, das die Bestrafung der Psyche auf Befehl der Venus darstellt, Ercole de’ Roberti einen Freskozyklus über Amor und Psyche, Giorgione einen Gemäldezyklus über die Abenteuer der Psyche (zwölf Bilder, nicht erhalten). Raffael malte 1517–1518 mit seinen Schülern in Rom in der Loggia di Psiche der Villa Farnesina einen Freskozyklus, der unvollendet blieb. Giulio Romano gestaltete mit seinen Schülern im Palazzo Te bei Mantua den „Saal der Psyche“, der die Liebesgeschichte auf 23 Fresken zeigt. Perino del Vaga bemalte mit seinen Schülern 1545–1546 in einem päpstlichen Gemach der Engelsburg, der Sala di Amore e Psiche, einen Fries mit Fresken, die Szenen aus der Erzählung darstellen. Ein 1589 entstandenes Gemälde von Jacopo Zucchi zeigt Psyche, die den schlafenden Amor bewundert. Zahlreiche weitere Maler des 16. Jahrhunderts griffen einzelne Motive aus der Erzählung auf oder schufen ganze Zyklen, darunter Bernardino Luini, Polidoro da Caravaggio, Michiel Coxcie, Luca Cambiaso, Giorgio Vasari und Bartholomäus Spranger. Auch im 17. Jahrhundert inspirierte der Psyche-Stoff viele Maler. Rubens schuf mehrere Bilder, die Szenen aus der Erzählung von Amor und Psyche darstellen. Diego Velázquez, Anthonis van Dyck, Jacob Jordaens, Guido Reni, Charles Le Brun und Claude Lorrain wählten ebenfalls solche Sujets. Im 18. Jahrhundert gestalteten u. a. François Boucher, Jean-Honoré Fragonard und Angelika Kauffmann Szenen aus der Geschichte der Psyche. Der Bildhauer Antonio Canova schuf im späten 18. Jahrhundert Marmorskulpturen von Amor und Psyche. Musik Die musikalische Rezeption der Erzählung von Amor und Psyche setzte zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein. Der Komponist Bartolomeo Tromboncino schuf die Bühnenmusik zu einem Drama Le nozze de Psyche ed Cupidene, das 1502 uraufgeführt wurde. Im 17. und 18. Jahrhundert griffen viele Opernlibrettisten den Stoff auf; es entstanden Libretti mit Titeln wie La Psiche oder Amore e Psiche, die großenteils von heute weitgehend vergessenen Komponisten vertont wurden. Eine Reihe von Aufführungen sind bezeugt; so fand 1642 in Venedig die Uraufführung der Oper Amore innamorato („Der verliebte Amor“) von Francesco Cavalli statt, 1683 in Neapel die Uraufführung der Oper La Psiche ovvero Amore innamorato („Psyche oder Der verliebte Amor“) von Alessandro Scarlatti, 1738 in Neapel die Uraufführung der Oper Le nozze di Psiche con Amore („Die Hochzeit von Psyche und Amor“) von Leonardo Leo. Marco Scacchi komponierte die Oper Le nozze d’Amore e di Psiche. Jean-Baptiste Lully schuf die Musik zu dem 1671 am Hof König Ludwigs XIV. aufgeführten Ballett Psyché nach einem Plan von Molière; die Verse dazu stammten großenteils von Pierre Corneille. Sie wurde 1678 zur Tragédie lyrique Psyché umgearbeitet. Moderne Altertumswissenschaft Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden die „Metamorphosen“ heftig kritisiert und mitunter unter triviale Unterhaltungsliteratur eingereiht. Der Roman wurde nach einem an klassischen Vorbildern orientierten Maßstab wegen Aufgeschwollenheit angeprangert und als chaotisch eingeschätzt. Eduard Norden fällte ein vernichtendes Urteil; er fand in Apuleius’ Sprache „ein wogendes Nebelmeer wüster Phantastik“ und „ungeheurlichsten Schwulst“. Es war von afrikanischem Latein (Africitas) die Rede, man brachte den getadelten Stil mit der afrikanischen Herkunft des Autors in Zusammenhang. Schon 1786 hatte David Ruhnken einen „afrikanischen Schwulst“ bei Apuleius konstatiert; Friedrich August Wolf griff dieses Schlagwort auf. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden das schriftstellerische Niveau, die sprachliche Brillanz und die Stilvielfalt des Apuleius bei vielen Literaturwissenschaftlern Anerkennung, wenn auch weiterhin Kritiker stilistische Übertreibungen und eine Tendenz zur Überladenheit rügen. Die raffinierte Erzähltechnik in den „Metamorphosen“ wird gewürdigt, das Werk gilt als Beitrag zur Weltliteratur. Wesentlich ungünstiger fallen bei den Philosophiehistorikern die Urteile über Apuleius’ Leistung als Philosoph aus. Arthur H. Armstrong schätzt ihn als „very inferior thinker“ ein, Matthias Baltes hält sein philosophisches Format für sehr mittelmäßig und sieht in ihm nur einen „brillanten Sprachkünster“. Psychologie Seit dem 20. Jahrhundert werden die „Metamorphosen“ auch unter dem Gesichtspunkt psychologischer Fragestellungen intensiv erforscht, wobei aber viele Psychologen ihr Augenmerk nur auf die Erzählung von Amor und Psyche richten. Den Anfang machte Franz Riklin, der 1908 in seiner Untersuchung Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen eine freudianische Interpretation der Erzählung vorlegte; es folgten weitere Deutungen freudianisch orientierter Analytiker, darunter Bruno Bettelheim. Bei den Jungianern wurde die 1952 von Erich Neumann publizierte Untersuchung Eros und Psyche. Ein Beitrag zur seelischen Entwicklung des Weiblichen wegweisend. Eine gründliche Analyse der „Metamorphosen“ aus jungianischer Sicht legte Marie-Louise von Franz 1970 vor. Sie analysierte nicht nur das Seelenleben der Romangestalt Lucius, sondern versuchte auch die Persönlichkeit des Apuleius tiefenpsychologisch zu erfassen und sein ambivalentes Verhältnis zum Inhalt seines Romans zu erklären. Weitere Interpretationen von Jungianern folgten. John F. Makowski betonte, dass Amor, Psyche und Venus eine bedeutende seelische Entwicklung durchmachen, bevor die Geschichte zu einem glücklichen Ende kommt. Eine Forschungsbilanz präsentiert James Gollnick, der sich um eine Bestimmung der Chancen und der Grenzen einer psychologischen Apuleius-Interpretation bemüht. Belletristik Elizabeth Barrett Browning verfasste eine Reihe von Gedichten über Szenen aus Apuleius’ Erzählung. William Morris schrieb eine Verserzählung The Story of Cupid and Psyche im Rahmen seines Werks The Earthly Paradise. Robert Hamerling folgte in seinem Epos Amor und Psyche (1882) der Darstellung des Apuleius, wobei er die allegorische Deutung berücksichtigte. 1885 erschien das Gedicht Eros and Psyche von Robert Bridges. Walter Pater hat in seinem 1885 erschienenen Roman Marius the Epicurean Motive aus den „Metamorphosen“ verwertet, darunter die Erzählung von Amor und Psyche; der Titelheld Marius ist ein Verehrer des Apuleius, den Pater auch auftreten lässt. Louis Couperus schrieb 1898 den Roman Psyche (deutsch: 1924). 1956 erschien der Roman Till We Have Faces: A Myth Retold (deutscher Titel: Du selbst bist die Antwort) von C. S. Lewis. Er stellt Psyches Schicksal aus der Sicht ihrer älteren Schwester dar. Bildende Kunst In der Moderne blieb die Geschichte von Amor und Psyche zunächst ein häufiges Sujet der bildenden Kunst, dessen Beliebtheit sich sogar ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert noch steigerte. Es findet sich u. a. auf Bildern von Philipp Otto Runge, Johann Friedrich August Tischbein, Francisco Goya, Edward Burne-Jones und William Adolphe Bouguereau. 1880 illustrierte Max Klinger die Erzählung des Apuleius mit 46 Radierungen. Im Lauf des 20. Jahrhunderts nahm die Popularität des Motivs in der Malerei deutlich ab, doch Oskar Kokoschka verwendete es mehrmals. Der Bildhauer Bertel Thorvaldsen schuf eine Reihe von Statuen und Reliefs, die Szenen aus der Erzählung zeigen. Auch eine Marmorskulptur und ein Marmorrelief von John Gibson stellen Psyche dar. Auguste Rodin verewigte Amor und Psyche in mehreren Marmorskulpturen. Der französische Zeichner Georges Pichard brachte 1985–1986 ein zweibändiges Album Les sorcières de Thessalie („Die Hexen Thessaliens“) heraus, in dem er Episoden aus den „Metamorphosen“ gestaltete. 1999 veröffentlichte der italienische Zeichner Milo Manara eine graphic novel L’asino d’oro. Musik Auch im 19. und 20. Jahrhundert entstanden eine Reihe von Kompositionen (insbesondere Opern und Ballette), deren Thema die Geschichte der Psyche ist. César Franck komponierte 1888 Psyché, ein „sinfonisches Gedicht für Orchester und Chor“, das zu seinen bedeutendsten Werken gezählt wird. Richard Franck betitelte eine 1905 entstandene Tondichtung Liebesidyll – Amor und Psyche (opus 40). Paul Hindemith schuf die Ballettouverture Amor und Psyche, deren Uraufführung 1943 in Philadelphia stattfand. Ausgaben und Übersetzungen Kritische Gesamtausgabe Apulei Platonici Madaurensis opera quae supersunt. Teubner, Leipzig bzw. Stuttgart und Leipzig Band 1: Rudolf Helm (Hrsg.): Metamorphoseon libri XI. Leipzig 1955 (Nachdruck der dritten Auflage von 1931, dazu S. 297–301 Berichtigungen und Ergänzungen) Band 2 Faszikel 1: Rudolf Helm (Hrsg.): Pro se de magia liber (Apologia). Leipzig 1972 Band 2 Faszikel 2: Rudolf Helm (Hrsg.): Florida. Stuttgart und Leipzig 1993, ISBN 3-8154-1057-6 (Nachdruck der Auflage von 1959) Band 3: Claudio Moreschini (Hrsg.): De philosophia libri. Stuttgart und Leipzig 1991, ISBN 3-519-01058-5 (enthält die philosophischen Schriften, das als Prolog zu De deo Socratis überlieferte Florida-Fragment und den pseudo-apuleischen Asclepius. Zusätzlich heranzuziehen ist die Kollation der Handschrift Florenz, Biblioteca Medicea Laurentiana, Plut 51, 9 durch Frank Regen, Der Codex Laurentianus pluteus 51,9. Ein bisher vernachlässigter Textzeuge der Apuleischen Schrift „De deo Socratis“ (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse 1985, 5). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1985, S. S. 15–40.) Metamorphosen Maaike Zimmerman (Hrsg.): Apulei metamorphoseon libri XI. Oxford University Press, Oxford 2012, ISBN 978-0-19-927702-5 (kritische Ausgabe) Donald Struan Robertson, Paul Vallette (Hrsg.): Apulée: Les Métamorphoses. 3 Bände, Les Belles Lettres, Paris 1985–2000 (kritische Ausgabe mit französischer Übersetzung) Band 1 (Bücher 1–3), 1989, ISBN 2-251-01009-2 (Nachdruck der 1. Auflage von 1940) Band 2 (Bücher 4–6), 2000, ISBN 2-251-01010-6 (Nachdruck der 7., überarbeiteten Auflage von 1992) Band 3 (Bücher 7–11), 1985, ISBN 2-251-01011-4 (Nachdruck der 1. Auflage von 1945) Edward Brandt, Wilhelm Ehlers: Apuleius: Der goldene Esel. Metamorphoseon libri XI. 5. Auflage, Artemis & Winkler, Düsseldorf und Zürich 1998, ISBN 3-7608-1508-1 (Übersetzung mit unkritischer Ausgabe des lateinischen Textes) Rudolf Helm (Hrsg.): Apuleius: Metamorphosen oder Der goldene Esel. 7. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1978 (kritische Ausgabe mit Übersetzung) Lucius Apuleius: Der goldene Esel. In Übersetzung von August Rode. Marix-Verlag, Wiesbaden 2009. ISBN 978-3-86539-202-2 Niklas Holzberg: Der Goldene Esel, oder, Metamorphosen: Lateinisch – deutsch. Mit einer griechisch-deutschen Ausgabe von (Ps.?-)Lukian, Lukios oder Der Esel. (Sammlung Tusculum). De Gruyter, Berlin 2023. Philosophische Werke Jean Beaujeu (Hrsg.): Apulée: Opuscules philosophiques: Du dieu de Socrate, Platon et sa doctrine, Du monde. Fragments. 2. Auflage, Les Belles Lettres, Paris 2002, ISBN 2-251-01012-2 (kritische Ausgabe mit französischer Übersetzung und Kommentar) Paolo Siniscalco, Karl Albert: Apuleius: Platon und seine Lehre. Richarz, Sankt Augustin 1981, ISBN 3-921255-92-9 (Übersetzung mit dem lateinischen Text) Matthias Baltes u. a. (Hrsg.): Apuleius: De deo Socratis. Über den Gott des Sokrates (= SAPERE. Band 7). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-15573-4 (Übersetzung mit dem lateinischen Text nach der Ausgabe von Moreschini [leicht verändert] und interpretierenden Essays) Mariano Baldassarri (Hrsg.): Apuleio: L’interpretazione. Liceo „A. Volta“, Como 1986 (kritische Ausgabe von Peri hermeneias mit italienischer Übersetzung und Kommentar) David Londey, Carmen Johanson: The Logic of Apuleius. Brill, Leiden 1987, ISBN 90-04-08421-5 (englische Übersetzung von Peri hermeneias mit dem lateinischen Text und einer ausführlichen Einführung) Justin A. Stover (Hrsg.): A New Work by Apuleius. The Lost Third Book of the De Platone. Oxford University Press, Oxford 2016, ISBN 978-0-19-873574-8 (kritische Edition des von Stover hypothetisch Apuleius zugeschriebenen Textes mit englischer Übersetzung und Kommentar) Rhetorische Werke Paul Vallette (Hrsg.): Apulée: Apologie, Florides. 3. Auflage, Les Belles Lettres, Paris 1971 (kritische Ausgabe mit französischer Übersetzung) Jürgen Hammerstaedt u. a. (Hrsg.): Apuleius: De magia (= SAPERE. Band 5). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, ISBN 3-534-14946-7 (Übersetzung mit dem lateinischen Text nach der Ausgabe von Helm [leicht verändert] und interpretierenden Essays) Rudolf Helm (Hrsg.): Apuleius: Verteidigungsrede, Blütenlese. Akademie-Verlag, Berlin 1977 (kritische Ausgabe mit Übersetzung) Literatur Allgemeine Darstellungen Übersichtsdarstellungen Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boethius und ihr Fortwirken. Band 2. 3., verbesserte und erweiterte Auflage. De Gruyter, Berlin 2012, ISBN 978-3-11-026525-5, S. 1241–1258 Jean-Marie Flamand: Apulée de Madaure. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band 1, CNRS, Paris 1989, ISBN 2-222-04042-6, S. 298–317 Klaus Sallmann, Peter Lebrecht Schmidt: L. Apuleius (Marcellus?). In: Klaus Sallmann (Hrsg.): Die Literatur des Umbruchs. Von der römischen zur christlichen Literatur, 117 bis 284 n. Chr. (= Handbuch der Altertumswissenschaft, 8. Abteilung: Handbuch der lateinischen Literatur der Antike. Band 4). Beck, München 1997, ISBN 3-406-39020-X, S. 292–318 Gesamtdarstellungen und Untersuchungen Stephen J. Harrison: Apuleius. A Latin Sophist. Oxford University Press, Oxford 2000, ISBN 0-19-814053-3 Gerald Sandy: The Greek World of Apuleius. Apuleius and the Second Sophistic. Brill, Leiden 1997, ISBN 90-04-10821-1 Rezeption Handschriftliche Überlieferung Frank Regen: Der Codex Laurentianus pluteus 51,9. Ein bisher vernachlässigter Textzeuge der Apuleischen Schrift „De deo Socratis“ (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse 1985, 5). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1985. Raymond Klibansky, Frank Regen: Die Handschriften der philosophischen Werke des Apuleius. Ein Beitrag zur Überlieferungsgeschichte (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse Folge 3, 204). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1993. ISBN 3-525-82591-9 Apulei Platonici Madaurensis opera quae supersunt, Bd. 2 Faszikel 2: Rudolf Helm (Hrsg.): Florida. Stuttgart und Leipzig 1993, S. XXIX–LIX. (in lateinischer Sprache zur handschriftlichen Überlieferung von Metamorphosen, Apologie und Florida). Apulei Platonici Madaurensis opera quae supersunt, Bd. 3: Claudio Moreschini (Hrsg.): De philosophia libri. Stuttgart und Leipzig 1991, S. III–XIII (in lateinischer Sprache zur handschriftlichen Überlieferung der philosophischen Schriften). Claudio Moreschini: Ricerche sulla tradizione manoscritta del De interpretatione (=Peri Hermeneias) pseudoapuleano. In: Pan 10, 1990, S. 61–73. Kommentare und Untersuchungen zu einzelnen Werken Metamorphosen-Kommentare Apuleius Madaurensis: Metamorphoses. Bouma (ab 1985 Egbert Forsten), Groningen 1977–2007 (ausführliche Kommentare) Wytse H. Keulen: Book I, 2007, ISBN 978-90-6980-154-4 Benjamin Lodewijk Hijmans u. a.: Book IV 1–27, 1977, ISBN 90-6088-059-5 Maaike Zimmerman u. a.: Books IV 28–35, V and VI 1–24: The Tale of Cupid and Psyche, 2004, ISBN 90-6980-146-9 Benjamin Lodewijk Hijmans u. a.: Books VI 25–32 and VII, 1981, ISBN 90-6088-079-X Benjamin Lodewijk Hijmans u. a.: Book VIII, 1985, ISBN 90-6980-005-5 Benjamin Lodewijk Hijmans u. a.: Book IX, 1995, ISBN 90-6980-085-3 Maaike Zimmerman: Book X, 2000, ISBN 90-6980-128-0 Danielle Karin van Mal-Maeder: Apulée: Les Métamorphoses. Livre II, 1–20. Dissertation Groningen 1998, ISBN 90-367-0883-4 (Kommentar) Rudi T. van der Paardt: L. Apuleius Madaurensis: The Metamorphoses. A commentary on book III with text & introduction. Hakkert, Amsterdam 1971, ISBN 90-256-0573-7 John Gwyn Griffiths: Apuleius of Madauros: The Isis-Book (Metamorphoses, Book XI). Brill, Leiden 1975, ISBN 90-04-04270-9 (ausführlicher Kommentar) Untersuchungen zu den Metamorphosen Carl C. Schlam: The Metamorphoses of Apuleius: On Making an Ass of Oneself. Duckworth, London 1992, ISBN 0-7156-2402-4 Luca Graverini: Le Metamorfosi di Apuleio: letteratura e identità. Pacini, Ospedaletto (Pisa) 2007, ISBN 978-88-7781-869-0 Stefan Tilg: Apuleius’ Metamorphoses: A Study in Roman Fiction. Oxford University Press, Oxford 2014, ISBN 978-0-19-870683-0 Rezeption der Metamorphosen Robert H. F. Carver: The Protean Ass. The Metamorphoses of Apuleius from Antiquity to the Renaissance. Oxford University Press, Oxford 2007, ISBN 978-0-19-921786-1 Sonia Cavicchioli: Amore e Psiche. Alberto Maioli, Milano 2002, ISBN 88-87843-07-4 (Bildband mit zahlreichen hervorragenden Abbildungen zur Rezeption in der bildenden Kunst von der Antike bis zur Moderne) Julia Haig Gaisser: The Fortunes of Apuleius and the Golden Ass. A Study in Transmission and Reception. Princeton University Press, Princeton 2008, ISBN 978-0-691-13136-8 Ulrike Stephan: Deutsche Übersetzungen der Metamorphosen des Apuleius seit 1780. In: Josefine Kitzbichler, Ulrike Stephan (Hrsg.): Studien zur Praxis der Übersetzung antiker Literatur. Geschichte – Analysen – Kritik. De Gruyter, Berlin u. a. 2015, ISBN 978-3-11-042649-6, S. 277–360 Philosophische Schriften Stephen Gersh: Middle Platonism and Neoplatonism. The Latin Tradition. Band 1, University of Notre Dame Press, Notre Dame (Indiana) 1986, ISBN 0-268-01363-2, S. 215–328 Adolf Lumpe: Die Logik des Pseudo-Apuleius. Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie. Seitz, Augsburg 1982, ISBN 3-9800641-0-7 Frank Regen: Apuleius philosophus Platonicus. Untersuchungen zur Apologie (De magia) und zu De mundo. De Gruyter, Berlin 1971, ISBN 3-11-003678-9 Rhetorische Schriften Vincent Hunink: Apuleius of Madauros: Florida. Gieben, Amsterdam 2001, ISBN 90-5063-218-1 (ausführlicher Kommentar) Vincent Hunink: Apuleius of Madauros: Pro se de magia (Apologia). Band 2: Commentary. Gieben, Amsterdam 1997, ISBN 90-5063-167-3 Benjamin Todd Lee: Apuleius’ Florida. A Commentary. De Gruyter, Berlin 2005, ISBN 3-11-017771-4 Jürgen Hammerstaedt u. a. (Hrsg.): Apuleius: De magia (= SAPERE. Band 5). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, ISBN 3-534-14946-7 (Text und Übersetzung mit interpretierenden Essays) Hörbücher Amor und Psyche. Gelesen von Helene Grass, Verlag Grosser & Stein, Pforzheim 2007, ISBN 978-3-86735-213-0 Amor und Psyche. Gelesen von Angela Winkler, Verlag der sprachraum, Berlin 2003, ISBN 3-936301-05-0 Weblinks Opera. In: Bibliotheca Augustana (lateinisch) Opera. In: Intratext (lateinisch, teilweise auch englisch) Opera. In: The Latin Library (lateinisch) Metamorphosen. In: Forum Romanum (lateinisch) Florida. In: Forum Romanum (lateinisch) Der goldene Esel (Metamorphosen) (deutsch) Metamorphosen (deutsch) Perihermeneias (Ausgabe von Claudio Moreschini, 1991) Marion Gindhart: Von Erntezauber und Meerestiermagie. Der Prozeß gegen Apuleius von Madauros. In: Augsburger Volkskundliche Nachrichten. Jg. 2, 1996, S. 7–34, Anmerkungen Autor Literatur der Antike Literatur (Latein) Philosoph (Antike) Römischer Jurist Person als Namensgeber für einen Asteroiden Geboren im 2. Jahrhundert Gestorben im 2. Jahrhundert Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Lappland%20%28Finnland%29
Lappland (Finnland)
Lappland (, ) ist eine Landschaft (maakunta) in Finnland. Von 1938 bis 2009 stellte sie zugleich eine der Provinzen (lääni) Finnlands dar. Lappland ist die nördlichste Landschaft des Landes und umfasst den finnischen Teil Lapplands. Mit einer Fläche von fast 100.000 km² ist Lappland die größte finnische Landschaft, bei einer Bevölkerungsdichte von unter zwei Einwohnern pro Quadratkilometer zugleich auch mit Abstand die am dünnsten besiedelte. Der Verwaltungssitz und die größte Stadt der Landschaft ist Rovaniemi. Die Urbevölkerung Lapplands, das Volk der Samen, stellt nur noch eine Minorität dar. In Teilen der Landschaft stehen ihnen besondere Minderheitenrechte zu. Geografie Die Landschaft Lappland liegt im Bereich der Nordkalotte und umfasst den finnischen Teil der zwischen Finnland, Schweden, Norwegen und Russland aufgeteilten Region Lappland. Der Begriff „Lappland“ (finn. Lappi) kann sich je nach Zusammenhang auf die finnische Landschaft oder die gesamte Region beziehen, zum Zweck der Eindeutigkeit kann die Namensform „Finnisch-Lappland“ (Suomen Lappi) verwendet werden. Lage und Ausdehnung Lappland erstreckt sich etwa zwischen dem 66. und 70. Breitengrad. Damit liegt ein Großteil der Landschaft nördlich des Polarkreises. Beim Dorf Nuorgam befindet sich der nördlichste Punkt Finnlands und der Europäischen Union. Innerhalb Finnlands grenzt Lappland im Süden an die Landschaft Nordösterbotten. Im Osten liegt die 373 km lange Staatsgrenze zu Russland. Die Länge der nördlichen Grenze zu Norwegen beträgt 736 km, davon folgen 256 km dem Verlauf des Flusses Tenojoki (norweg. Tanaelva). Die Flüsse Muonionjoki (schwed. Muonio älv) und Tornionjoki (Torne älv) stellen im Westen die 614 km lange Grenze zwischen der Landschaft Lappland und Schweden dar. Im Südwesten hat Lappland Anteil an der Küste des Bottnischen Meerbusens. Lappland ist mit Abstand die größte der zwanzig finnischen Landschaften und umfasst fast ein Drittel der Gesamtfläche des Landes. Die Fläche der Landschaft beträgt 98.983 km² (davon 6.321 km² Binnengewässer). Damit ist Lappland größer als etwa Österreich. Das Gebiet der heutigen Landschaft Lappland besteht aus zwei historischen Landschaften: Lappland und Peräpohjola. Peräpohjola (wörtl. etwa „hoher Norden“) war der Nordteil des historischen Österbotten (finn. Pohjanmaa). Es hatte die Orte Kolari, Rovaniemi, Kemijärvi und Salla als Nordgrenze. Der finnische Teil des Tornedalen gehörte zur schwedischen Landschaft Västerbotten (Länsipohja). Der Nordteil Lapplands war während der Zugehörigkeit Finnlands zu Schweden bis 1809 mit Schwedisch-Lappland verbunden. Die Ausbuchtung im Nordwesten zwischen schwedischer und norwegischer Grenze bei Enontekiö wird Käsivarsi („Arm“) genannt. Der Name rührt daher, dass die Grenzen Finnlands vor dem Zweiten Weltkrieg auf der Landkarte die Form einer Frauengestalt (Suomi-neito) hatten und das Gebiet von Enontekiö als deren erhobener rechter Arm erschien. Geologie Das Grundgebirge Lapplands ist Teil des Baltischen Schilds, eines Festlandskerns mit präkambrischem Alter. Dieser unterlag drei Orogenesen, die das Gestein zu einem durch Brüche und Verwerfungen geprägten Mosaik formten. Die einstigen Gebirge sind im Laufe der Jahrmillionen fast völlig abgetragen worden, sodass nur noch ihre Sockel erhalten sind. Die ältesten Gesteine, Gneise und Migmatite, entstanden im Spätarchäikum vor 2,8–2,7 Milliarden Jahren. Der Großteil des lappischen Gesteins besteht aus Graniten, Schiefern, Granodioriten und Quarzdioriten mit einem Alter von 1,9 bis 1,8 Milliarden Jahren. Der Schiefer im Nordwesten schob sich während der kaledonischen Faltung vor 450–400 Millionen Jahren auf das Gebiet und gehört zu den jüngsten Gesteinsformationen Finnlands. Die Oberflächengestalt Lapplands ist durch die Gletscher der letzten Kaltzeit geprägt. Die Eismassen schliffen das Gestein zu den flachen, runden Fjells (finn. tunturi) und lagerten eine Moräne von einigen Metern Mächtigkeit ab, die das Grundgestein bedeckt und dessen Unregelmäßigkeiten ebnet. Vielerorts hat das Moränenmaterial auch eigene Oberflächenformationen geschaffen, etwa die Oser (harju), dammartige Hügelrücken aus Kies und Sand, die durch das Schmelzwasser der Gletscher entstanden. Der Boden Lapplands birgt Mineralvorkommen, die nur zum Teil erschlossen sind. In Kolari und Kemijärvi wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Eisenerz gefördert. Das Chrombergwerk von Kemi besteht seit 1965. In den 1860er Jahren folgte auf den Fund von Gold im Flusssand des Kemijoki ein regelrechter Goldrausch in Lappland. Das größte gefundene Goldnugget wog 393 g. Bis heute wird an den Flüssen Lapplands teils durch Handwäsche, teils industriell Gold gewaschen, insgesamt sind so schätzungsweise 1000 kg Gold gewonnen worden. Das Edelmetall wird auch in Minen gefördert. Zuletzt wurde 1996 bei Kittilä ein umfangreiches Vorkommen von geschätzten 50 Tonnen Gold entdeckt. Landschaftsformen Lappland hat Anteil an drei finnischen Großlandschaften: Der Bottnischen Küstenebene, dem Finnischen Hügelland und Lappland. Das eigentliche Lappland wird noch nach den Vegetationsformen in das sogenannte „Wald-Lappland“ und „Fjell-Lappland“ eingeteilt, sodass man von vier lappischen Landschaftstypen sprechen kann. Die flache Küstenebene am Nordende des Bottnischen Meerbusens wird auch „Meer-Lappland“ (finn. Meri-Lappi) genannt. Die Region Peräpohjola im Südteil Lapplands gehört noch zum Finnischen Hügelland (Vaara-Suomi), das sich von Nordkarelien über Kainuu bis nach Südostlappland erstreckt. Geografisch gesehen beginnt das eigentliche Lappland erst auf der Höhe von Kolari, Pelkosenniemi und Salla. Charakteristisch für diese Gegend sind die Fjells (tunturi). Dabei handelt es sich um Anhöhen, die die Baumgrenze überschreiten. Die Nordgrenze des Verbreitungsgebiets von Kiefer und Fichte markiert den Übergang von Wald-Lappland (Metsä-Lappi) zu Fjell-Lappland (Tunturi-Lappi). Wald-Lappland besteht aus weitläufigen flachen Wald- und Sumpfflächen, aus denen sich vereinzelte baumlose Fjells erheben. In Fjell-Lappland wachsen in niedrigen Lagen gedrungene Birken, die höheren Lagen werden nur noch von Flechten bedeckt. Von der Ostseeküste steigt das Terrain nach und nach in Richtung Norden und Osten bis zur Wasserscheide von Maanselkä auf eine Höhe von 300 bis 500 Metern an. Im äußersten Nordwesten (Käsivarsi) hat Lappland Anteil am Skandinavischen Gebirge. Hier befinden sich die einzigen Eintausender Finnlands. Der höchste Berg ist der unmittelbar an der norwegischen Grenze gelegene Haltitunturi mit 1324 Metern, gefolgt von den benachbarten Gipfeln Ridnitšohkka (1317 m) und Kovddoskaisi (1210 m). Der bekannteste und landschaftlich markanteste Berg ist aber Saana (1029 m), der sich 500 Meter über den Ort Kilpisjärvi erhebt. Die Fjells im Rest Lapplands sind mit Höhen zwischen 400 und 800 Metern niedriger und welliger. Die wichtigsten Berge sind Pallastunturi (807 m) in Muonio, Ounastunturi (723 m, Enontekiö), Yllästunturi (718 m, Kittilä), Sokosti (718 m, Sodankylä), Paistunturi (648 m, Utsjoki) und Pyhätunturi (540 m, zwischen Sodankylä und Kemijärvi). Der 484 Meter hohe Korvatunturi an der russischen Grenze in der Gemeinde Savukoski gilt in Finnland als Wohnort des Weihnachtsmanns. Zu den finnischen „Nationallandschaften“ wird der Aavasaksa bei Ylitornio gezählt; trotz seiner eher bescheidenen Höhe von 242 Metern eröffnet sich von seiner Spitze eine beeindruckende Aussicht über das Tal des Tornionjoki. Gewässer Die Gesamtfläche der Binnengewässer Lapplands beträgt 5944 km². Demzufolge werden 6 % der Fläche der Landschaft von Wasser bedeckt, was weniger ist als im Rest Finnlands (im Landesschnitt 12 %). Die Anzahl der Seen ist vor allem im Norden hoch, die meisten sind aber sehr klein. Eine nennenswerte Ausnahme ist der Inarijärvi. Mit 1040 km² (fast die doppelte Fläche des Bodensees) ist er je nach Zählweise der zweit- oder drittgrößte See Finnlands und der zehntgrößte Europas. Die Anzahl der Inseln des Inarijärvi wird auf über 3000 geschätzt. Der nächstgrößte natürliche See ist der Kemijärvi bei der gleichnamigen Stadt mit 231 km² Fläche. Die beiden großen Stauseen Lokka (315 km²) und Porttipahta (149 km²) entstanden im Zuge des Baus von Wasserkraftwerken. Durch Lappland verlaufen die größten Ströme Finnlands. Südlich der Wasserscheide von Maanselkä im Norden Lapplands fließen sie in den Bottnischen Meerbusen, nördlich davon ins Eismeer. Einige wenige Flüsse im Osten Lapplands münden auch in das Weiße Meer. Die wichtigsten Flüsse sind der Tornionjoki, der Kemijoki und der Ounasjoki. Die feste Besiedlung Lapplands breitete sich in vergangenen Jahrhunderten entlang der Flussufer aus, daher liegen die größeren Siedlungszentren Lapplands an den Gewässern. Der Kemijoki ist mit 512 km der längste Fluss Finnlands. Über die Hälfte Lapplands gehört zu seinem Einzugsgebiet (51.127 km², davon etwa 1600 km² auf russischer Seite). Der Kemijoki entspringt bei Savukoski nahe der russischen Grenze und fließt in Richtung Südwesten über Kemijärvi und Rovaniemi zu seiner Mündung bei Kemi. Die zahlreichen Stromschnellen des Flusses werden heute für die Wasserkraft eingespannt. Der größte Nebenfluss des Kemijoki ist der Ounasjoki. Er ist ebenso wie der Tornionjoki noch völlig im Naturzustand belassen. Der 565 km lange Tornionjoki ist der zweite große Strom Lapplands. Er entspringt in Schwedisch-Lappland und mündet bei Tornio in die Ostsee. Zusammen mit seinem Zufluss Muonionjoki bildet er die finnisch-schwedische Grenze. Klima Mit Ausnahme des äußersten Nordens ist das Klima in Lappland kaltgemäßigt. Weil Lappland durch das Skandinavische Gebirge vom Atlantik abgeschirmt ist und der Einfluss der Ostsee nur sehr schwach ist, gehört Lappland zur kontinentalen Klimazone. Daher sind die Unterschiede zwischen den Jahreszeiten mit verhältnismäßig milden Sommern und kalten, schneereichen Wintern stark ausgeprägt. Das Klima Lapplands mag im Vergleich zu Mitteleuropa extrem erscheinen, durch den Einfluss des Golfstroms ist es aber deutlich milder als in anderen Orten auf denselben Breitengraden. Die durchschnittliche Jahrestemperatur sinkt von Süden nach Norden. Während sie an der lappischen Ostseeküste noch +1 °C beträgt, sind es in Nordwestlappland −4 °C. Die Sommer in Lappland sind mit einer Dauer von 95 Tagen im Süden und 45 Tagen im Norden sehr kurz. Der wärmste Monat ist der Juli mit einer Durchschnittstemperatur von ca.10 °C im Süden und 7 °C im Norden. Im Sommer können die Temperaturen manchmal die 20°-Marke überschreiten. Der Winter ist kalt und harsch. Er dauert zwischen 170 und 200 Tagen. Im kältesten Monat, dem Januar, ist die Durchschnittstemperatur ca. −20 °C. Die kälteste jemals in Finnland gemessene Temperatur wurde am 28. Januar 1999 in Pokka bei Kittilä mit −51,5 °C erreicht. Den ersten Schnee kann es im August oder September geben, eine bleibende Schneedecke fällt meist von Ende Oktober bis Mitte November und schmilzt von Ende April bis Ende Mai. An geschützten Berghängen bleibt der Schnee teils ganzjährig liegen; so wird in Kilpisjärvi im äußersten Nordwesten traditionell zur Mittsommernacht ein Skilauf veranstaltet. Die jährliche Niederschlagsmenge beträgt in Südlappland etwas über 500 mm, im Norden knapp 400 mm. Damit ist Lappland deutlich trockener als der Rest Finnlands. Die knappen Niederschlagsmengen werden aber dadurch kompensiert, dass die Verdunstung aufgrund der niedrigen Temperaturen sehr niedrig ist. Der wenigste Niederschlag fällt im März, der meiste im August. Im Winter erreicht die Schneedecke eine Dicke von durchschnittlich 60–70 cm. Mancherorts kann sie auch noch dicker sein: Die höchste Schneetiefe Finnlands, 190 cm, wurde am 19. April 1997 in Kilpisjärvi gemessen. In den hohen geografischen Breiten Lapplands spielen die Beleuchtungsjahreszeiten eine große Rolle. In den Gebieten nördlich des Polarkreises scheint im Sommer die Mitternachtssonne, im Winter herrscht die Polarnacht (kaamos). Selbst in Kemi im Süden Lapplands geht die Sonne zwischen dem 18. und 24. Juni nicht unter. Bei zunehmender Polnähe verlängert sich die Dauer des Polartages: An der Nordspitze in Utsjoki scheint die Sonne 73 Tage ununterbrochen. Entsprechend herrscht im Winter für 51 Tage die Polarnacht, in der die Sonne kein einziges Mal aufgeht. In ganz Lappland kommen im Winter Polarlichter vor, im Norden jährlich in rund 200 Nächten, im Süden noch in fast 100 Nächten. Flora und Fauna Ein Großteil Lapplands gehört zur nördlichen borealen Nadelwaldzone. Neben den vorherrschenden Kiefern und Fichten kommen verbreitet auch Birken vor. Wegen der harschen klimatischen Bedingungen ist die Vegetation eher karg und das Wachstum der Pflanzen langsam. Die Bäume Lapplands erreichen ihre Hiebreife erst in einem Alter von etwa 100 Jahren. Im Unterholz wachsen meist Blaubeersträucher oder Flechten. Vor allem in Süd- und Zentrallappland gibt es viele Sümpfe, hauptsächlich offene Moore. Die Auen an den Flussufern liefern Heu für die Landwirtschaft. Im Norden Lapplands und in höheren Lagen wachsen nur noch Birken. Bei steigender Nähe der Baumgrenze überwiegen die gedrungenen und strauchartigen Fjellbirken. Die Baumgrenze des Birkenwalds liegt bei 300 bis 600 Metern, darüber herrscht eine Tundra-artige Vegetation mit Flechten, Moosen, Gräsern und Zwergsträuchern vor. Die Laubfärbung (ruska) im September bis Oktober gilt als einzigartiges Naturschauspiel. Sowohl das Laub der Bäume als die Blätter der Blau-, Moos- und Preiselbeerensträucher, die den Boden bedecken, färben sich in leuchtende Farben. Der wohl bekannteste Vertreter der Fauna Lapplands und eine Art Wahrzeichen der Landschaft ist das Ren. Die rund 160.000 Rentiere in Lappland sind halbdomestizierte Nutztiere. Sie laufen das Jahr über frei herum, im Spätherbst treiben ihre Besitzer die Tiere zusammen und suchen die Schlachttiere heraus. Daneben leben in den Wäldern Lapplands zahlreiche Elche, nach Westlappland haben sich Rehe aus Schweden verbreitet. An Raubtieren kommen in Lappland Bären, Wölfe und Vielfraße vor. Der Biber war zwischenzeitlich ausgerottet, nach gezielten Bemühungen zur Wiederansiedlung ist er aber mittlerweile wieder in ganz Lappland verbreitet. Arktische Tierarten, die nicht im Rest Finnlands vorkommen, sind Polarfuchs, Lemming, Schneehuhn, Schnee-Eule und Schneeammer. Zur Vogelwelt Lapplands gehören verschiedene Watvögel wie Kampfläufer, Bruchwasserläufer und Goldregenpfeifer und Wasservögel wie Saatgans, Pfeifente, Nordischer Prachttaucher, Sterntaucher und Singschwan, daneben im Norden Bergente, Eisente, Samtente und Zwergsäger. Die intensive Befischung und die Eindämmung der Flüsse haben die reichen Fischbestände dezimiert. Dennoch können im Tenojoki und Tornionjoki immer noch Lachse gefangen werden. In den Seen Lapplands leben Hechte, Barsche, Grauforellen und Maränen. Bevölkerung Obwohl es fast ein Drittel der Landesfläche Finnlands einnimmt, wird Lappland von nur 183.775 Menschen (Stand 31. Dezember 2009) bewohnt. Das entspricht weniger als vier Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes. Die Bevölkerungsdichte Lapplands beträgt gerade einmal 2,0 Einwohner pro Quadratkilometer. Die Bevölkerung ist sehr ungleichmäßig verteilt: Über die Hälfte der Einwohner lebt in Südwestlappland im Dreieck zwischen den drei größten Städten Rovaniemi (60.000 Einwohner), Kemi (23.000 Einwohner) und Tornio (22.000 Einwohner). Die Einwohner Lapplands werden zusammenfassend ohne Rücksicht auf ihre Ethnie als „Lappländer“ (finn. lappilainen) bezeichnet, während „Lappe“ (finn. lappalainen) eine veraltete bzw. pejorative Bezeichnung für das Volk der Samen ist. Ethnien und Sprachen Die überwiegende Mehrheit der heutigen Einwohner Lapplands sind Finnen. In großen Teilen Lapplands werden die Peräpohjola-Dialekte des Finnischen gesprochen. Ihr auffälligstes Merkmal ist der Erhalt des h-Lautes anstelle eines Langvokals in der finnischen Schriftsprache. So entspricht dem allgemeinsprachlichen saunaan („in die Sauna“) das lappische saunhan oder, mit Metathese des h, sogar sauhnan. Der finnische Sprachraum setzt sich über die Landesgrenzen fort. Im Tornedalen beidseits des Tornionjoki-Flusses, auf finnischer wie schwedischer Seite, wird eine als Tornedalfinnisch oder Meänkieli (wörtl. „unsere Sprache“) bezeichnete Sprachform gesprochen. Nach der Grenzziehung von 1809 entwickelten sich die Meänkieli-Formen beiderseits des Flusses vor allem im Bereich des Wortschatzes in unterschiedliche Richtungen, da die schwedischen Sprecher den Kontakt zum restlichen finnischen Sprachraum verloren. In Schweden wird Meänkieli offiziell als eigenständige Sprache aufgefasst, während es in Finnland schlicht als Dialekt des Finnischen gilt. Im Süden Lapplands sind ferner der westfinnische Nordösterbotten-Dialekt in Ranua sowie in Posio die zur Gruppe der ostfinnischen Savo-Dialekte gehörige Mundart der Koillismaa-Region verbreitet. Lappland ist Teil des traditionellen Siedlungsgebietes des indigenen Volks der Samen (Eigenbezeichnung Samit). Insgesamt wird ihre Anzahl in Norwegen, Schweden, Finnland und Russland mit 60.000–100.000 angegeben. In Finnland gibt es 6000–7000 Samen, von denen 4000 im samischen Siedlungsgebiet im Nordteil Lapplands leben. Die Gemeinden Enontekiö, Inari, Utsjoki sowie die nördlichen Teile von Sodankylä sind gesetzlich als „Heimatgebiet“ (kotiseutualue) der samischen Titularnation festgelegt. Utsjoki ist die einzige finnische Gemeinde, in der die Samen die Bevölkerungsmehrheit stellen. Nach dem finnischen Gesetz gilt eine Person als Same, wenn er oder sie sich selbst als Same identifiziert und mindestens einen Eltern- oder Großelternteil hat, der Samisch als Muttersprache spricht. Viele Samen haben indes ihre Sprache aufgegeben. Schätzungen über die Anzahl der samischen Muttersprachler variieren stark. Es ist aber davon auszugehen, dass maximal die Hälfte der finnischen Samen noch samischsprachig ist. Die verschiedenen samischen Mundarten unterscheiden sich so stark voneinander, dass eine gegenseitige Verständigung nicht möglich ist. Daher werden sie von der Sprachwissenschaft als eigenständige Sprachen klassifiziert. In Finnland werden drei samische Sprachen gesprochen. Nordsamisch ist mit insgesamt 30.000 Sprechern die größte samische Sprache, in Finnland wird es von 2000 Menschen gesprochen. Inari-Samisch wird ausschließlich in Finnland verwendet und hat 300–400 Sprecher. Die Skoltsamen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Gebiet von Petschenga (Petsamo), das Finnland an die Sowjetunion abtreten musste, nach Inari evakuiert. Ihre Sprache, das Skoltsamische, hat insgesamt 400 Sprecher, die meisten davon in Finnland, daneben auch in Russland. In Lappland ist keine finnlandschwedische Minderheit ansässig. Daher hat das Schwedische, die zweite Landessprache Finnlands, in keiner Gemeinde Lapplands auf kommunaler Ebene einen offiziellen Status. Der Ausländeranteil in Lappland ist gering. Im Jahr 2005 lebten in Lappland 2033 Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft, das entspricht etwas über einem Prozent. Die größten Ausländergruppen waren Schweden und Russen. Religionen Die überwiegende Mehrheit der Einwohner Lapplands gehören der evangelisch-lutherischen Kirche an. Die 22 lappischen Kirchengemeinden unterstehen dem Bistum Oulu. Eine wichtige Rolle im religiösen Leben Lapplands spielt der Laestadianismus, eine konservative lutherische Erweckungsbewegung. Der Laestadianismus entstand Mitte des 19. Jahrhunderts in Schwedisch-Lappland und verbreitete sich schnell in den nördlichen Teilen Schwedens, Finnlands und Norwegens. Heute ist der Laestadianismus in Finnland hauptsächlich in Lappland sowie der Gegend um Oulu und in Österbotten verbreitet. Die Laestadianer sind innerhalb der evangelisch-lutherischen Kirche organisiert. Daneben lebt in Lappland eine kleine orthodoxe Minderheit, zu der unter anderem die 700 Skoltsamen gehören. In der Landschaft gibt es insgesamt sechs orthodoxe Kirchen, davon drei in der Gemeinde Inari. Bis ins 18. Jahrhundert konnte sich der Schamanismus als Religion der Samen halten, heute sind die Samen vollständig christianisiert. Bevölkerungsentwicklung und -struktur Fast alle ländlichen Gegenden Finnlands sind seit Mitte der 1990er Jahre von der Abwanderung in die Zentren im Süden des Landes betroffen. Lappland traf diese Entwicklung besonders schwer. Weil es vor allem jüngere Menschen sind, die auf der Suche nach Arbeit Lappland verlassen, überaltert die Landschaft zusehends. 2015 waren 15,3 % der Einwohner jünger als 15 Jahre, 62 % zwischen 15 und 64 Jahren alt und 22,6 % 65 Jahre oder älter. Während die Einwohnerzahl der Städte der Landschaft halbwegs stabil bleibt, ist die Entwicklung in den abgelegeneren Teilen Lapplands noch dramatischer. Auffällig ist auch, dass vor allem in den strukturschwächeren Gegenden Lapplands die Männer in der Überzahl sind. Entwicklung der Einwohnerzahl seit 1980: Geschichte Frühgeschichte Die Geschichte Lapplands beginnt mit dem Rückzug der Gletscher am Ende der letzten Eiszeit. Zwischen 9000 und 6000 v. Chr. verbreitete sich die steinzeitliche Komsa-Kultur aus Mitteleuropa kommend in Lappland. Um 3000 v. Chr. wanderten die ersten Finno-Ugrier aus dem Osten in Lappland ein. Man geht davon aus, dass sich die finno-ugrische Urbevölkerung Finnlands im Zeitraum zwischen 2500 und 1500 v. Chr. in die sprachlich und kulturell unterschiedlichen Gruppen der Ackerbau und Viehzucht treibenden Finnen im Süden und der jagenden Samen im nördlichen Binnenland aufteilte. Trotz der Sprachverwandtschaft unterscheiden sich die Samen genetisch stark von den Finnen wie von allen anderen europäischen Völkern, was darauf hinweist, dass sie die Nachfahren der steinzeitlichen Urbevölkerung sind, die eine finno-ugrische Sprache übernahmen. Ursprünglich reichte das samische Siedlungsgebiet bis weit in den Süden Finnlands, wie zahlreiche Ortsnamen samischen Ursprungs beweisen. Die früher verbreitete Ansicht, die Samen seien von den später eingewanderten Finnen verdrängt worden, gilt heute als überholt. Vielmehr geht man nun davon aus, dass sich die samische Bevölkerung im Süden mit der Übernahme der Landwirtschaft nach und nach an die finnische Kultur und Sprache assimiliert habe. Spätestens im 9. Jahrhundert hatte sich die finnische Ackerbaukultur in den Flusstälern des Tornionjoki und Kemijoki etabliert. Bis ins 18. Jahrhundert konzentrierte sich die bäuerliche Lebensweise einzig auf die Ufer der großen Flüsse. Sie waren die einzige Möglichkeit, sich in der unwegsamen Wildnis fortzubewegen und boten den Menschen mit ihren reichen Lachsbeständen Nahrung. Die Flussauen lieferten Heu als Futter für das Vieh, in den umgebenden Wäldern rodeten die Bauern Felder und trieben Jagd. Bis ins 11. Jahrhundert hatte sich die finnische Besiedlung bis auf die Höhe von Rovaniemi vorgeschoben. Unter „Lappland“ verstand man damals das Siedlungsgebiet der Samen, das sich nördlich daran anschloss. Die Eismeerküste war dabei ab dem 12. Jahrhundert von Norwegern besiedelt. Die Samen teilten sich im Wesentlichen in drei Kulturkreise: Die „Waldsamen“ von Kemi lebten hauptsächlich von der Jagd, die „Fischersamen“ von Inari vom Fischfang und die „Rentiersamen“ von Tornio betrieben Rentierzucht. Die Lebensweise der Samen war halbnomadisch. Im Sommer zogen sie mit ihren Rentierherden und lebten in Kohten. Den Rest des Jahres verbrachten sie sesshaft in Winterdörfern, wo sie auch ihre religiösen und gerichtlichen Angelegenheiten regelten. Schwedische Zeit Im Hochmittelalter verstärkte sich der Einfluss des Schwedischen Reichs auf Lappland. Ende des 13. Jahrhunderts erhielten die sogenannten Birkarls (finn. pirkkalaiset), privilegierte Vertreter der schwedischen Krone, das Recht zum Handel und zur Besteuerung Lapplands. Das Tornedalen unterstand dem Bistum Uppsala und der schwedischen Zentralregierung. Das Tal des Kemijoki gehörte nach dem Bestimmungen des Vertrags von Nöteborg von 1323 im Prinzip zum Machtbereich von Nowgorod. Trotzdem stand es ab dem 14. Jahrhundert faktisch unter dem Einfluss des Bistums Turku und damit Schwedens. Dieser schwedisch-russische Interessenkonflikt sorgte immer wieder für Spannungen, bis die schwedisch-russische Grenze 1595 im Frieden von Teusina festgelegt und 1617 nochmals im Frieden von Stolbowo bestätigt wurde; sie verlief grob gesagt etwa dort, wo sich heute auch die Ostgrenze Finnlands befindet. Ende des 16. Jahrhunderts wurde das Kirchspiel Tornio, zu dem das Flusstal des Tornionjoki bis auf die Höhe von Pello gehörte, der Provinz Västerbotten zugeschlagen, das Kirchspiel Kemi, welches das Gebiet des Kemijoki bis hinauf nach Rovaniemi umfasste, kam zur Provinz Österbotten. Zu dieser Zeit lebten im Gebiet der heutigen Landschaft Lappland rund 5000 Menschen. Das samisch besiedelte Gebiet war in sogenannte Lappmarken eingeteilt, von denen zwei, Tornio-Lappmark und Kemi-Lappmark im Gebiet der heutigen finnischen Landschaft lagen. In Lappland waren die Grenzen nicht genau festgelegt. Das Gebiet gehörte nominell zu Västerbotten, war praktisch aber mehr oder weniger herrenlos und wurde sowohl von Schweden als Norwegen besteuert. Das Dorf Inari war bis 1751 sogar gegenüber drei Staaten (Schweden, Norwegen und Russland) steuerpflichtig. Ab 1560 begannen sich Wanderfeldbau betreibende Siedler aus Savo auf der Suche nach neuen Schwenden in Lappland niederzulassen. Dadurch stieg die Einwohnerzahl im folgenden Jahrhundert auf 6000–7000. Als erste Stadt Lapplands wurde Tornio 1621 auf der Flussinsel Suensaari an der Mündung des Tornionjoki gegründet. Die „kleine Eiszeit“ ab 1690 sorgte auch im Gebiet des heutigen Lappland für Hungersnöte, traf die Region aber nicht genauso schlimm wie den stärker auf die Landwirtschaft angewiesenen Süden Finnlands. Um die Besiedlung Lapplands zu forcieren, gewährte der schwedische Staat ab 1673 allen Neusiedlern für 15 Jahre Steuerfreiheit. Davon angelockt und aufgrund der Tatsache, dass die Männer Lapplands nicht zum Kriegsdienst herangezogen wurden, weitete sich die bäuerliche Besiedlung nach Norden aus. Nach dem Großen Nordischen Krieg (1700–1721) erlebte Lappland im 18. Jahrhundert eine regelrechte Bevölkerungsexplosion. Die Besiedlung breitete sich von den großen Flusstälern an die kleineren Seitenarme und die Ufer entlegener Seen aus. Die Kultur der Waldsamen in Südlappland starb langsam aus, weil immer mehr Samen die landwirtschaftliche Lebensweise übernahmen und sich an die finnische Bevölkerung assimilierten. Russische Zeit Nach dem verlorenen Russisch-Schwedischen Krieg musste Schweden 1809 im Vertrag von Fredrikshamn das Gebiet des heutigen Finnland an Russland abtreten. Lappland wurde Teil der Provinz Oulu des neu gegründeten autonomen Großfürstentums Finnland. Für die Bewohner Lapplands war dies eine einschneidende Änderung. Der Tornionjoki, zuvor stets ein verbindender Faktor, wurde nun zur Grenze, das russische Ostufer vom schwedischen Westufer abgeschnitten. 1826 wurde die bis dahin offene russisch-norwegische Grenze festgelegt. Dadurch konnten die Bewohner Lapplands nicht mehr wie zuvor mit ihren Rentierherden über die Grenze ziehen oder an der Eismeerküste Fischerei und Handel betreiben. Die Lappländer empfanden dies als Unrecht, weil ihnen zuletzt 1751 im Vertrag von Strömstad das Recht zum Grenzübertritt zugesichert worden war. Die Bedeutung der Rentierzucht nahm im 19. Jahrhundert zu, nachdem das wilde Waldren durch die intensive Bejagung in Lappland ausgerottet worden war. Während zuvor nur die Samen Nordlapplands Rentiere gehalten hatten, weitete sich nun das Rentierzuchtgebiet ins südliche Lappland aus. Das starke Bevölkerungswachstum setzte sich auch im 19. Jahrhundert fort: 1830 lebten im Gebiet des heutigen Lappland rund 21.000 Menschen, 1870 betrug die Einwohnerzahl bereits 33.652. Der samische Bevölkerungsanteil ging dabei immer weiter zurück. Im Nordteil Lapplands sank er zwischen 1830 und 1860 von 22,6 % auf 16,3 %. Nach Missernten kam es in den 1830er, 1850er und 1860er Jahren mehrmals zu Hungersnöten. Weil die Landwirtschaft als wichtigster Erwerbszweig nur eine begrenzte Zahl an Menschen ernähren konnte, entlud sich der Bevölkerungsdruck durch Auswanderung zunächst in die nordnorwegische Region Finnmark, später auch in die USA. Für einen großen gesellschaftlichen Umbruch sollte die Industrialisierung durch das Aufkommen der Forstwirtschaft und Holzindustrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sorgen. In den Wäldern des Binnenlands wurde Holz geschlagen und über die Flüsse an die Küste geflößt. Das erste dampfbetriebene Sägewerk Lapplands entstand 1861 in Laitakari bei Kemi. Anfang des 20. Jahrhunderts waren in Lappland schon 10.000 Männer in der Waldarbeit beschäftigt. Mit der Industrialisierung ging der Ausbau der Infrastruktur einher. Der bisher weglose Norden Lapplands wurde an das Straßennetz angeschlossen, die erste Eisenbahnstrecke nach Kemi entstand 1902. Finnische Unabhängigkeit Mit der finnischen Unabhängigkeitserklärung von 1917 wurde Lappland zu einem Teil des selbstständigen Finnlands. Im folgenden Bürgerkrieg waren die sozialistischen Roten in Lappland anfangs stark vertreten, die bürgerlichen Weißen konnten aber innerhalb kurzer Zeit den gesamten Nordteil Finnlands unter ihre Kontrolle bringen. Nach Ende des Bürgerkriegs erkannte das bolschewistische Russland im Frieden von Dorpat 1920 die finnische Unabhängigkeit an und trat das Gebiet von Petsamo (russ. Petschenga) an Finnland ab. Damit hatte Finnland erstmals einen Zugang zum Europäischen Nordmeer und zum Eismeer. Dank des Golfstroms war Petsamo der einzige ganzjährig eisfreie Hafen des Landes. Erste Bestrebungen nach einer Verbindung zum Eismeer hatte es bereits im 19. Jahrhundert nach der Schließung der norwegischen Grenze gegeben, Zar Alexander II. hatte 1864 dem Großfürstentum Finnland sogar schon Petsamo als Entschädigung für eine kleinere Gebietsabtretung in Siestarjoki (Sestrorezk) zugesichert. Die Lappländer empfanden den Anschluss von Petsamo als Entschädigung für das damals erlittene „Unrecht“, in nationalistischen Kreisen wurde er sogar der erste Schritt in Richtung eines angestrebten Großfinnland gesehen. Das Gebiet von Petsamo mit 1400 Einwohnern und einer Fläche von 10.480 km² bildete kurzfristig eine eigene Provinz, bis es 1921 an die Provinz Oulu angeschlossen wurde. Durch den Hafen, ein 1924 entdecktes großes Nickelvorkommen und den Tourismus prosperierte Petsamo, bis 1939 stieg die Einwohnerzahl auf rund 5000 an. 1938 wurde Lappland als eigenständige Provinz aus der Provinz Oulu losgelöst. Obwohl die neue Provinz neben dem eigentlichen Lappland die Landschaft Peräpohjola umfasste, wählte man als Namen „Lappland“, nicht zuletzt weil sich die Region so besser touristisch vermarkten ließ. Die größte Stadt Kemi hatte sich Hoffnungen gemacht, die Provinzhauptstadt zu werden, letzten Endes erhielt aber der Marktflecken Rovaniemi wegen seiner zentraleren Lage den Zuschlag. Zweiter Weltkrieg Der Zweite Weltkrieg gliederte sich für Finnland in den Winterkrieg und den Fortsetzungskrieg gegen die Sowjetunion und den Lapplandkrieg gegen Deutschland. In allen drei Kriegen fanden in Lappland Kämpfe statt, vor allem der Lapplandkrieg traf die Provinz schwer. Der Winterkrieg zwischen 30. November 1939 und 13. März 1940 sah zwei seiner Kriegsschauplätze in Lappland. Zu Beginn des Krieges starteten zwei Divisionen der Roten Armee bei Salla eine Offensive. Sie hatten Befehle, innerhalb von zwei Wochen über Kemijärvi und Sodankylä bis Rovaniemi vorzustoßen und von da aus an die schwedische Grenze nach Tornio zu rücken, um Finnland in zwei Teile zu trennen. Zugleich griffen zwei sowjetische Divisionen Petsamo an. Zunächst rückten die sowjetischen Truppen in Petsamo vor und nahmen das Kirchdorf von Salla ein. Mitte Dezember konnte aber die zahlenmäßig deutlich unterlegene finnische Heeresgruppe Lappland die Offensive östlich von Kemijärvi aufhalten. Im Frieden von Moskau, der den Winterkrieg beendete, musste Finnland neben großen Teilen Kareliens auch den Ostteil von Salla und die Fischerhalbinsel (Kalastajansaarento) bei Petsamo abtreten. Nach Ende des Winterkriegs stützte sich Finnland auf eine Kooperation mit Deutschland, dessen Truppen 1941 ganz Nordfinnland als Operationsgebiet zugestanden wurde. Mit dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941 begann für Finnland der Fortsetzungskrieg, in dem Finnland in sogenannter Waffenbrüderschaft auf deutscher Seite gegen die Sowjetunion kämpfte, um die verlorenen Gebiete zurückzugewinnen. Im „Unternehmen Silberfuchs“ sicherten die deutschen Truppen die kriegswichtigen Nickelminen von Petsamo und versuchten erfolglos von Lappland aus die Nachschublieferungen der Westalliierten über den Hafen von Murmansk zu unterbinden. Zwei deutsche Divisionen versuchten von Petsamo aus Murmansk zu erobern, aus Salla stießen weitere zwei deutsche und eine finnische Division in Richtung Kandalakscha vor, um die Murmanbahn zu unterbrechen. Der Angriff scheiterte am Widerstand der Roten Armee, und für den Rest des Krieges blieb die Nordfront recht stabil. Am 4. September 1944 unterzeichnete Finnland, nach einer sowjetischen Großoffensive von der vollständigen Besatzung bedroht, ein Waffenstillstandsabkommen, in dem es sich verpflichten musste, die deutschen Truppen aus dem Land zu vertreiben. Dadurch begann am 15. September 1944 der Lapplandkrieg zwischen Finnland und Deutschland. Zu Beginn des Lapplandkrieges waren in Lappland über 200.000 Wehrmachtsoldaten stationiert – mehr als die Bevölkerungszahl der Provinz. Die Zivilbevölkerung Lapplands wurde innerhalb von zwei Wochen in Sicherheit gebracht; insgesamt wurden über 100.000 von 140.000 Lappländern evakuiert, über die Hälfte von ihnen ins neutrale Schweden. Die eigentlichen Kriegshandlungen begannen Ende September. Weil die Deutschen kein strategisches Interesse an Lappland hatten, begannen sie einen kontrollierten Rückzug, in dessen Verlauf sie – in der Auffassung, von Finnland verraten worden zu sein – die Taktik der verbrannten Erde anwandten. Sie sprengten Brücken, verminten Straßen und brannten Dörfer und Städte nieder. Große Teile Lapplands waren komplett verwüstet, in Rovaniemi wurden etwa 90 % der Gebäude zerstört. Nachdem die finnische Armee im Oktober und November den Südteil Lapplands eingenommen hatte, hielten die deutschen Truppen den Winter über im Nordwesten die Stellung. Die letzten Wehrmachtsoldaten verließen am 27. April 1945 bei Kilpisjärvi finnischen Boden. Die Zerstörungen des Lapplandkrieges und das Gefühl, von der eigenen Regierung, die bewusst den Lapplandkrieg in Kauf genommen hatte, um den Rest Finnlands vor der sowjetischen Besatzung zu retten, im Stich gelassen worden zu sein, sorgten für ein nachhaltiges Trauma unter der lappländischen Bevölkerung. Zudem musste Finnland 1944 neben den bereits im Winterkrieg abgetretenen Gebieten ganz Petsamo der Sowjetunion überlassen, was ein schwerer Schlag für die wirtschaftliche Entwicklung Lapplands war. Nachkriegszeit Nach Ende des Krieges kehrten die evakuierten Lappländer in ihre Heimat zurück und begannen mit der Beseitigung der Kriegsschäden. Der Staat unterstützte den Wiederaufbau mit Krediten. Die Stadt Rovaniemi wurde nach Plänen von Alvar Aalto komplett neu aufgebaut. In der Nachkriegszeit zogen viele Menschen aus dem Süden Finnlands nach Lappland, weil der Wiederaufbau ihnen Arbeit bot. Zusammen mit der hohen Geburtenziffer sorgte dies für ein starkes Bevölkerungswachstum in Lappland. Der Wiederaufbau war bis 1950 im Wesentlichen abgeschlossen. In der Folgezeit initiierte der finnische Staat mehrere Großprojekte, um Lappland zu industrialisieren und die natürlichen Ressourcen zu erschließen. Weil Finnland im Krieg mehrere Kraftwerke in Karelien verloren hatte, hatte man schon 1945 begonnen, den Kemijoki-Fluss für die Wasserkraft einzuspannen. Insgesamt entstanden bis 1976 18 große Wasserkraftwerke am Kemijoki. Diese staatlichen Bauprojekte waren auch als Beschäftigungsmaßnahmen gedacht: Anfang der 1960er Jahre arbeitete jeder achte erwerbstätige Lappländer in der Baubranche. Als letztes staatlich gefördertes Großprojekt entstand 1973–1976 eine Edelstahlfabrik in Tornio. Der Erbauer, dass Unternehmen Outokumpu, hatte ursprünglich die südwestfinnische Stadt Pori als Standort vorgesehen. In Lappland entstand aber eine Bürgerbewegung, die den Bau in Tornio forderte, sodass die Regierung schließlich auf Outokumpu Einfluss nahm und den Standort Tornio durchsetzte. Nach dem rasanten Bevölkerungswachstum der Nachkriegszeit erreichte die Einwohnerzahl Lapplands 1963 mit über 210.000 einen historischen Höchststand. Die Rationalisierung der Landwirtschaft, die Mechanisierung der Forstwirtschaft und die abnehmende Zahl der großen Bauprojekte führte aber dazu, dass Ende der 1960er Jahre die ins Arbeitsalter eintretende Nachkriegsgeneration in Lappland keine Beschäftigung fand. In der Folge erlebte Lappland einen massiven Bevölkerungsrückgang: zwischen 1967 und 1974 verließen fast 25.000 Lappländer auf der Suche nach Arbeit die Provinz, davon 9000 ins Ausland (vor allem Schweden). In den 1970er und 1980er Jahren konsolidierte sich Lappland durch die regionale Strukturpolitik des Staates wieder. Die große finnische Wirtschaftskrise Anfang der 1990er Jahre traf das strukturschwache Lappland aber besonders schwer. Sie sorgte für einen starken Anstieg der Arbeitslosenquote und einen erneuten Bevölkerungsrückgang, der bis heute andauert: auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise waren 24 % der Lappländer arbeitslos, zwischen 1993 und 2001 nahm die Einwohnerzahl Lapplands um fast 7 % ab. Von der Verwaltungsreform 1997, als die Zahl der Provinzen von zwölf auf sechs verkleinert wurde, blieb das flächengroße Lappland zunächst noch unberührt. Zum Jahresbeginn 2010 wurden die Provinzen aber gänzlich aufgehoben und somit auch die Provinz Lappland abgeschafft. Politik Verwaltung Lappland ist eine von 20 Landschaften (maakunta) Finnlands. Die noch aus schwedischer Zeit hergebrachte Aufteilung Finnlands in Landschaften wurde 1994 offiziell institutionalisiert. Die Landschaft Lappland hat keine eigenständige Bedeutung als Verwaltungsregion, die Gemeinden der Landschaft kooperieren aber im Rahmen eines Landschaftsverbundes. Von 1938 bis 2009 bildete Lappland eine Provinz (lääni) Finnlands. Die Provinz und die Landschaft Lappland umfassten dasselbe Territorium, waren aber voneinander unabhängige Gebietskörperschaften. Die Provinz diente zum Zweck der staatlichen Verwaltung und unterstand der Zentralregierung. Seit der Abschaffung der Provinzen wird die staatliche Verwaltung Lapplands von der Regionalverwaltungsbehörde (aluehallintovirasto) Lappland ausgeübt. Sie hat ihren Sitz in Rovaniemi und ist für das Gebiet der Landschaft Lappland zuständig. Wappen Das Wappen der Landschaft Lappland stammt von dem Wappen der historischen schwedischen Provinz ab. Die Beschreibung lautet: In Rot ein mit grüner, kurzer Hose bekleideter in Front stehender wilder Mann mit schwarzem Bart und grünem Haarkranz hält eine goldene Keule über der rechten Schulter. Auf dem Schild ruht eine flache Perlenkrone. Die ehemalige Provinz Lappland führte ein abweichendes Wappen, welches das Wappen der Landschaft mit dem der historischen Landschaft Österbotten, zu der die südlichen Teile Lapplands früher gehörten, verband. Die Beschreibung lautet: Der Schild ist gespalten und zeigt rechts in Rot einen mit grüner kurzer Hose bekleideten in Front stehenden wilden Mann mit schwarzem Bart und grünem Haarkranz, eine goldene Keule über der rechten Schulter haltend, und hinten in Blau drei pfahlgestellte weiße flüchtende Hermeline mit schwarzen Schwanzspitzen. Auf dem Schild ruht eine Krone. siehe auch Wappen der finnischen Region Lappland Wahlen Bei den Wahlen zum finnischen Parlament bildet Lappland einen von 13 Wahlkreisen (bis 2015 waren es 15) und entsendet 7 von insgesamt 200 Abgeordneten. Wie in den meisten ländlichen Gegenden Finnlands ist die finnische Zentrumspartei in Lappland die stärkste politische Kraft. Sie stellt seit 2015 vier von sieben lappländischen Abgeordneten im Parlament. Die beiden anderen großen Parteien des Landes, die Sozialdemokraten und die Sammlungspartei, sind in Lappland relativ schwach und stellten in den letzten Jahrzehnten meist nur einen Abgeordneten, 2015 verpasste die Sammlungspartei dies knapp. Dagegen ist das Linksbündnis stärker als im Rest Finnlands und stellte lange zwei Abgeordnete. Seit 2011 sind die Wahren Finnen (seit 2012 Die Finnen) ähnlich stark wie im Rest Finnlands und konnten einen Sitz erobern. 2017 schloss sich die lappländische Abgeordnete der Finnen allerdings der Abspaltung Blaue Zukunft an, das Gleiche gilt für ihren Nachrücker. In der Kommunalpolitik Lapplands zeigt sich ein ähnliches Bild: Die Zentrumspartei hat in 20 von 21 Gemeinden die Mehrheit im Stadt- bzw. Gemeinderat. In Kemi hält das Linksbündnis die Mehrheit in der Stadtverwaltung, und auch in den meisten anderen Gemeinden ist es die zweitstärkste Partei. Sami-Politik Die Samen Finnlands besitzen mit dem Samething (samisch Sámediggi, finn. Saamelaiskäräjät) eine eigene politische Vertretung. Sein Vorgänger war von 1973 bis 1996 das Sami-Parlament (Sámi parlamenta, Saamelaisvaltuuskunta). Das Samething setzt die seit 1995 in der finnischen Verfassung verankerte kulturelle Selbstverwaltung der Samen um und vertritt die Minderheit in nationalen und internationalen Belangen. Die 21 Mitglieder des Samethings werden alle vier Jahre von den finnischen Samen gewählt und treten vier- bis fünfmal pro Jahr zur Plenarversammlung zusammen. Sie wählen die Regierung, die von einem hauptamtlichen Vorsitzenden geleitet wird und der fünf Ausschüsse zu Kultur-, Sprach-, Bildungs-, Sozial- und Rechtsfragen unterstehen. Die Samen Finnlands, Schwedens, Norwegens und Russlands betreiben eine enge politische Zusammenarbeit über die Ländergrenzen hinweg. Schon seit 1956 gibt es den Samenrat (Sámiráđđi, Saamelaisneuvosto). 2000 trat erstmals der Samische Parlamentarische Rat (Sámi Parlamentáralaš Rađđi, Saamelainen parlamentaarinen neuvosto) mit Abgeordneten der Samethings Finnlands, Schwedens und Norwegens und Vertretern der russischen Samen zusammen. Seit 1992 haben die samischen Sprachen im Heimatgebiet der Samen einen offiziellen Status. In Enontekiö, Utsjoki und Sodankylä ist Nordsamisch neben finnisch die Amtssprache. Inari ist mit Finnisch, Nordsamisch, Inari-Samisch und Skoltsamisch die einzige offiziell viersprachige Gemeinde Finnlands. Die Bürger haben das Recht, Samisch als Verkehrssprache in Behörden und Krankenhäusern zu verwenden. Sämtliche offiziellen Dokumente sowie Straßenschilder u. Ä. werden zwei- bzw. mehrsprachig herausgegeben. Daneben gibt es Schulunterricht und Rundfunkprogramme auf Samisch. Verwaltungsgliederung Die Landschaft Lappland umfasst 21 Gemeinden, von denen vier den Status einer Stadt haben. Die Städte und Gemeinden sind im dünn besiedelten Lappland teilweise äußerst ausgedehnt. Inari ist mit einer Fläche über 17.000 km² die flächenmäßig größte Gemeinde Finnlands und größer als etwa das deutsche Bundesland Thüringen. Die meisten Einwohner hat die Provinzhauptstadt Rovaniemi mit . Seit dem Zusammenschluss mit der ehemaligen Landgemeinde Rovaniemi Anfang 2006 ist Rovaniemi mit über 8000 km² die flächenmäßig größte Stadt Europas. Neben Rovaniemi haben Kemi, Tornio und Kemijärvi den Status einer Stadt. Diese 21 Gemeinden sind zu sechs Verwaltungsgemeinschaften (seutukunta) zusammengeschlossen. Dabei handelt es sich um lokale Gebietseinheiten zum Zweck der kommunalen Zusammenarbeit. Infrastruktur Verkehr Aufgrund der extrem geringen Bevölkerungsdichte ist das Verkehrsnetz in Lappland eher dünn. Zumindest die größeren Straßen werden meist in einem guten Zustand gehalten. Das öffentliche Straßennetz hat eine Gesamtlänge von 9162 Kilometern. Das entspricht einer Straßendichte von etwa 0,1 Kilometern pro Quadratkilometer. Davon sind 1265 km Staatsstraßen, 954 km Hauptstraßen, 2212 km Landstraßen und 4704 km Verbindungsstraßen. Zwei Drittel des Straßennetzes sind befestigt. Drei Staatsstraßen, die zugleich Europastraßen sind, durchqueren Lappland in Nord-Süd-Richtung. Die wichtigste Verkehrsader ist die Staatsstraße 4 (E 75), die über Oulu aus Südfinnland kommend von Kemi über Rovaniemi, Sodankylä und Ivalo nach Utsjoki zur norwegischen Grenze führt. Die Staatsstraße 5 (E 63) kommt über Kuusamo aus dem Süden des Landes und endet in Sodankylä. Die Staatsstraße 21 beginnt in Tornio und folgt der schwedischen Grenze bis zum Grenzübergang nach Norwegen bei Kilpisjärvi. Dazu kommt die nur 17 km lange Staatsstraße 29 zwischen Keminmaa und Tornio. Sie wurde 2001 zur einzigen Autobahn Lapplands ausgebaut, seitdem ist sie die nördlichste Autobahn der Welt. Die Europastraße 8 folgt dem Verlauf der Fernstraßen 21 und 29. In Lappland bestehen jeweils sechs Grenzübergangsstellen nach Schweden und Norwegen sowie zwei nach Russland. Den größten Grenzübergang zwischen Tornio und dem schwedischen Haparanda passieren durchschnittlich 11.500 Fahrzeuge pro Tag. An das Eisenbahnnetz ist Lappland nur rudimentär angeschlossen. Es bestehen zwei Linien mit einer Gesamtlänge von rund 500 Kilometern. Insgesamt gibt es elf Bahnhöfe, die von Personenzügen bedient werden. Die einzige Verbindung nach Südfinnland kommt aus Oulu und verzweigt sich in Kemi. Ein Zweig führt in nördlicher Richtung bis Kolari, der andere in Richtung Nordosten über Rovaniemi und Kemijärvi nach Salla. Reisezüge verkehren auf dieser Strecke allerdings nur bis Kemijärvi. In Lappland gibt es sechs Flughäfen: Die Flughäfen Enontekiö, Ivalo, Kemi-Tornio, Kittilä, Rovaniemi und Sodankylä. Alle Flughäfen außer dem von Sodankylä werden von der finnischen Luftfahrtbehörde (Ilmailulaitos) betrieben. Sie beförderten im Jahr 2005 insgesamt 991.000 Passagiere. Der Flughafen Rovaniemi ist mit 385.000 Fluggästen im Jahr der größte Lapplands und der viertgrößte Finnlands. Am lappischen Küstenabschnitt des Bottnischen Meerbusens liegen die Häfen Ajos und Vesiluoto in Kemi sowie Röyttä in Tornio. Seit den 1970er Jahren halten Eisbrecher im Winter eine Fahrrinne frei. Die Häfen werden nur für den Frachtverkehr benutzt, Kemi ist ein Exporthafen für Schnittholz, Zellulose und Papier. In Kemi legen jährlich 630 Schiffe an, in Tornio 352. Bildung Im Schuljahr 2005/2006 gab es in Lappland 163 Grundschulen und 27 Gymnasien mit insgesamt rund 25.200 Schülern. Dazu kommen zehn Berufsfachschulen. Wegen der abnehmenden Bevölkerungszahl müssen immer wieder Schulen in abgelegenen Gegenden geschlossen werden; seit 1983 sind über 130 Schulen eingestellt worden. Wegen der geringen Bevölkerungsdichte sind die Schulwege oft lang. Lebt ein Grundschüler über fünf Kilometer von seiner Schule entfernt, muss ihm die Gemeinde den Transport zur Schule gewährleisten. Insgesamt nehmen 27 % der lappländischen Grundschüler das in Anspruch, in manchen ländlichen Gemeinden sogar die Hälfte. Bei Gymnasiasten sind Schulwege von mehreren zig Kilometern keine Seltenheit. Im samischen Heimatgebiet erhalten die Gemeinden staatliche Zuwendungen, um samischsprachigen Schulunterricht anbieten zu können. Im Jahr 2002 nahmen 477 Schüler dieses Angebot in Anspruch. 1994 schrieben die ersten Schüler ihre Abiturprüfung im Fach Muttersprache auf Samisch. Die einzige Universität Lapplands ist die Universität Lappland in Rovaniemi. Diese wurde 1979 gegründet, um die regionale Entwicklung Lapplands voranzutreiben. Heute hat sie rund 5000 Studenten und 650 Angestellte. Daneben gibt es in Lappland zwei Fachhochschulen, eine ist in Rovaniemi, die andere in Kemi und Tornio angesiedelt. Im Jahr 2001 gab es in Lappland insgesamt 89 Bibliotheken und Bibliothekszweigstellen. 53 % der Bevölkerung Lapplands hat eine Bibliothek im Umkreis von zwei Kilometern vom Wohnort; selbst im extrem dünn besiedelten Utsjoki ist dies für jeden vierten Bürger gewährleistet. Die abgelegeneren Gebiete werden mit insgesamt 16 fahrenden Bibliotheken versorgt. Wirtschaft Die Wirtschaft Lapplands hat in den letzten Jahrzehnten einen starken Strukturwandel durchgemacht. Während im Jahr 1960 noch 44,8 % der Erwerbstätigen im Land- und Forstwirtschaftssektor arbeiteten, waren es 2000 nur noch 6,2 %. Auch der Industriesektor hat, wenn auch nicht genauso rapide, an Bedeutung verloren: Der Anteil der Industriearbeiter sank zwischen 1968 und 2000 von 26,9 % auf 22,2 %. Dagegen stieg die Zahl der Beschäftigten im Dienstleistungssektor stark: 1960 waren es 30,3 %, 2000 bereits 69,0 %. Davon macht der öffentliche Sektor mit 32,0 % einen überdurchschnittlich großen Anteil aus. Die Arbeitslosigkeit ist in Lappland ein großes Problem. Die Arbeitslosenquote betrug im Jahr 2001 19,7 % und war fast doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt (11,7 %). Über die Hälfte der Arbeitslosen war unter 25 Jahre alt. Landwirtschaft und Rentierzucht Im Jahr 2001 gab es in Lappland 2161 aktive landwirtschaftliche Betriebe. Um 1960 hatte deren Zahl noch rund 16.000 betragen. In der gleichen Zeit halbierte sich die Anbaufläche. Die klimatischen Bedingungen erschweren die Landwirtschaft in Lappland. Getreideanbau wird fast überhaupt nicht betrieben, die Kartoffelernte deckt nur die Hälfte des Bedarfs. Die Kartoffelsorte Lapin Puikula gilt wegen der besonderen Anbaubedingungen (niedrige Temperaturen, viel Licht) als besonders aromatisch und wird von der EU als geschützte Herkunftsbezeichnung anerkannt. Die wichtigste Rolle nimmt in der lappländischen Landwirtschaft die Milch- und Fleischproduktion ein. Daher wird auf dem größten Teil der Felder Viehfutter angebaut. In Lappland gibt es rund 4400 Rentierzüchter, die insgesamt 160.000 Tiere besitzen. Das Rentierzuchtgebiet umfasst neben Lappland die nördlichen Teile der Landschaften Nordösterbotten und Kainuu. Die Rentierzucht ist die traditionelle Lebensweise der Samen. Anders als in Schweden und Norwegen ist ihre Ausübung aber nicht deren Privileg; tatsächlich lebt heute nur ein kleiner Teil der Samen von der Rentierzucht, und unter den Rentierzüchtern sind die Finnen in der Mehrzahl. Daneben gibt es an der Ostseeküste und an den größeren Seen Berufsfischer. Auch die Jagd und das Sammeln von Beeren und Pilzen sind in Lappland von großer Bedeutung. Der Anteil Lapplands an der finnischen Beerenernte liegt bei einem Drittel, bei den seltenen Moltebeeren sind es sogar drei Viertel. Forstwirtschaft Noch in den 1970er Jahren beschäftigte die Forstwirtschaft in Lappland bis zu 20.000 Menschen. Die Mechanisierung hat dazu geführt, dass heute nur noch 4000 Lappländer im Forstsektor arbeiten. Im Jahr 2005 wurden in den Wäldern Lapplands 4,2 Millionen Kubikmeter Holz geschlagen. Während früher Kahlschläge an der Tagesordnung waren, ist die Forstwirtschaft heute Einschränkungen unterworfen, die eine nachhaltige Nutzung der Natur zum Ziel haben. Ein Fünftel der Waldflächen Lapplands ist geschützt, in Nordlappland sind es sogar 40 %. Weil aber auch unter den ungeschützten Flächen unberührte Urwälder sind, kommt es immer wieder zu Interessenkonflikten zwischen Naturschutz und ökonomischen Interessen. In Nordlappland gibt es schon seit Jahrzehnten Streitigkeiten zwischen den Rentierzüchtern, deren Tiere die Urwälder als Winterweide nutzen, und der Forstwirtschaft. Im Frühjahr 2005 intervenierte die Umweltschutzorganisation Greenpeace mit dem Vorwurf, die staatliche finnische Forstbehörde Metsähallitus und die großen finnischen Papierkonzerne zerstörten schützenswerte Urwälder in Lappland und bedrohten damit die Lebensgrundlage der Samen, und errichtete ein Camp in Inari. Die Forstindustrie lehnte die Aktionen von Greenpeace entschieden ab. Industrie, Bergbau und Energieproduktion Die Industrie Lapplands beruht weitgehend auf der Nutzung der natürlichen Ressourcen (Holz und Erze); die Forst- und Metallindustrie macht 90 % der lappländischen Industrieproduktion aus. Die Produktionsstätten konzentrieren sich auf die Städte Kemi, Tornio, Rovaniemi und Kemijärvi. Seit Beginn der Industrialisierung Lapplands im 19. Jahrhundert ist die Forstindustrie der dominierende Zweig. Anfangs entstanden in den Küstenstädten Kemi und Tornio Sägewerke, im 20. Jahrhundert kamen Zellulose- und Papierfabriken dazu. Vor allem durch den technologischen Fortschritt ist auf diesem Sektor die Anzahl der Arbeitsplätze zurückgegangen, von 6400 in den 1970er Jahren auf etwa 2700 im Jahr 2000. Weil der Rohstoffbedarf der lappländischen Forstindustrie mit 7 Millionen Kubikmetern Holz im Jahr höher liegt als die Produktion der Forstwirtschaft, wird Holz aus anderen Teilen Finnlands und Russland importiert. Der Bergbau beschäftigt in Lappland heute rund 300 Menschen und fördert Erze, die von der Metallindustrie, vor allem der Edelstahlfabrik in Tornio, weiterverarbeitet werden. Die Metallindustrie ist der einzige Industriesektor Lapplands, in dem in den letzten Jahrzehnten neue Arbeitsplätze entstanden sind, heute beschäftigt er rund 1800 Menschen. Andere Industriezweige spielen nur eine marginale Rolle. Die Stromschnellen des Flusses Kemijoki wurden nach dem Zweiten Weltkrieg für die Energieproduktion eingespannt. Heute produzieren 18 Wasserkraftwerke, von denen die meisten dem Energiekonzern Kemijoki Oy gehören, am Kemijoki und dessen Nebenflüssen Strom. Ihre Jahresproduktion betrug 2003 4,3 Terawattstunden, was über ein Drittel der finnischen Wasserkraftproduktion und rund 5 % der gesamten Stromproduktion des Landes ausmacht. In Lappland besteht aufgrund der natürlichen Begebenheiten ein erhebliches Potential für die Windenergie, das aber nur in geringem Maße ausgeschöpft wird. Schätzungen gehen davon aus, dass man ein Fünftel des finnischen Strombedarfs mit Windenergie aus Lappland decken könnte. Momentan gibt es in der Landschaft aber nur sieben Windkraftwerke, deren Gesamtproduktion mit 4 Gigawattstunden vernachlässigbar ist. Tourismus Der Tourismus ist heute ein wichtiger Erwerbszweig in Lappland. Insgesamt werden in Lappland 3400 Personen direkt durch den Tourismus beschäftigt, die Gesamteinnahmen werden auf 362 Millionen Euro (2002) beziffert. Im Jahr 2003 wurden in Lappland knapp 1,8 Millionen Übernachtungen registriert, davon 0,7 Millionen von ausländischen Gästen. Die größte Gruppe machten dabei die Briten mit rund 130.000 Übernachtungen aus, gefolgt von den Deutschen (123.000), Franzosen (79.000), Niederländern (55.000), Russen (43.000), Norwegern (42.000), Schweizern (32.000) und Japanern (28.000). Im Sommer und Herbst ist Lappland vor allem ein Ziel für Naturtouristen, die dort wandern, fischen, Kajak fahren etc. Die meisten Feriengäste besuchen Lappland aber während der Wintersaison. In der Landschaft befinden sich insgesamt 13 Skisportzentren, die vor allem von der langen Saison profitieren. Nach Ruka in Kuusamo ist das lappländische Levi das zweitgrößte Skisportzentrum Finnlands. Finnische Touristen kommen vor allem zum Skifahren nach Lappland. Den ausländischen Gästen wird daneben „Lappland-Exotik“ mit Aktivitäten wie Skilanglauf, Motorschlittenfahrten oder Ausflügen mit Rentier- und Hundegespannen angeboten. Dazu kommt der Weihnachts-Tourismus. Dem finnischen Volksglauben nach lebt nämlich der Weihnachtsmann auf dem Berg Korvatunturi in Lappland. Auf den Weihnachtstourismus hat sich insbesondere Rovaniemi spezialisiert: Seit 1985 gibt es dort das „Weihnachtsmanndorf“ (Santa Claus’ Village) mit angeschlossenem „Weihnachtsmann-Postamt“, 1998 wurde der Freizeitpark „SantaPark“ eingeweiht. Der Flughafen von Rovaniemi, auf dem eine Zeit lang sogar die Concorde Weihnachtsgäste einflog, trägt sogar das eingetragene Warenzeichen „Official Airport of Santa Claus“. Vor allem britische Touristen kommen nach Lappland, um eine weiße Weihnacht zu erleben: über 60 % der Übernachtungen von Briten in Lappland werden im Dezember registriert. Kultur Obwohl die Samen in der lappländischen Gesellschaft nur eine kleine Minderheit darstellen, sind es vor allem Elemente ihrer Kultur, wie die farbenfrohen Trachten oder der traditionelle Joik-Gesang, die mit Lappland assoziiert werden, weil die Kultur der finnischen Mehrheitsbevölkerung sich kaum von derjenigen im Rest des Landes unterscheidet. Trotz der Schwierigkeiten, die sich durch die geringe Einwohnerdichte Lapplands ergeben, gibt es in den Städten der Landschaft und auch in den entlegenen Gemeinden ein verhältnismäßig lebhaftes Kulturleben mit Museen und Festivals. Literatur Die Werke lappländischer Schriftsteller sind je nach der Sprache, in der sie verfasst sind, entweder der finnischen oder samischen Literatur zuzuordnen. Von einer eigenständigen lappländischen Literatur kann kaum die Rede sein; jedoch ist es den meisten Autoren aus Lappland gemein, dass sie sich mit den Lebensumständen und Identitätsfragen in der Peripherie beschäftigen. Das verbindet sie auch mit anderen Schriftstellern der Nordkalotte wie dem Schweden Mikael Niemi (Populärmusik aus Vittula). Anfangs trat Lappland nur in der Reise- und Forschungsliteratur auf, erstmals 1555 in der Historia de gentibus septentrionalibus des Olaus Magnus. Das erste explizit Lappland gewidmete Werk, die Lapponia des Deutschen Johannes Schefferus, erschien 1673. Darin waren auch erstmals ins Lateinische übersetzte Proben samischer Volksdichtung enthalten. Auf Grundlage zweier von diesen schuf der in Oulu geborene Dichter Frans Michael Franzén 1798 sein Gedicht Spring min snälla ren („Lauf mein liebes Ren“), das später in finnischer Übersetzung (Juokse porosein) zu einem beliebten Volkslied wurde. Als erster Schriftsteller machte Arvi Järventaus, der als Pfarrer in der Landschaft arbeitete, Lappland zum Thema in der Belletristik. Sein Erstlingswerk Risti ja noitarumpu („Das Kreuz und die Hexentrommel“, 1916) behandelte die Begegnung zwischen Christentum und Schamanismus. Die in Lappland geborene finnischsprachige Autorin Anniki Kariniemi griff in ihrem Roman Poro-Kristiina („Rentier-Christina“, 1952) und der Ballade Laulu Lapista ja Lapin papista („Lied über Lappland und den Pfarrer von Lappland“, 1972) dasselbe Thema auf. Der Schriftsteller Timo K. Mukka beschreibt in seinem Roman Maa on syntinen laulu („Die Welt ist ein sündhaftes Lied“, 1964) in schonungsloser Weise das Leben in einem von Patriarchat, Laestadianismus und Sexualität beherrschten Dorf in Lappland. Die Verfilmung des Werkes von 1973 war der erfolgreichste finnische Film der 1970er Jahre. Auch zeitgenössische lappländische Schriftsteller wie Rosa Liksom, Jari Tervo und Janne Huilaja thematisieren in ihren Werken das Leben in Lappland. Die samische Literatur, deren Grundstein der norwegische Same Johan Turi bereits 1910 mit Muittalus sámid birra („Erzählung über das Leben der Samen“) gelegt hatte, konnte in Finnland ab den 1970er Jahren Fuß fassen. Nils-Aslak Valkeapää – wohl die bekannteste und vielseitigste samische Kulturpersönlichkeit – betätigte sich außer als Musiker, Maler und Schauspieler auch als Schriftsteller. Er veröffentlichte insgesamt acht Gedichtsammlungen, als sein Hauptwerk gilt Beaivi áhčážan („Sonne, mein Vater“, 1988). Eine weitere bekannte finnisch-samische Autorin ist Kirste Paltto. Ihr Roman Guhtoset dearvan min bohccot („Ach, mein Rentier“, 1986) behandelt die Auswirkungen der Mehrheitsgesellschaft auf die Kultur der Samen. Museen und Veranstaltungen Das Arktikum-Museum in Rovaniemi verbindet unter seinem Dach das Provinzmuseum von Lappland und das Arktische Zentrum, in dem die Kultur verschiedener Völker der Arktis vorgestellt wird. Seit 1992 ist es in einem futuristischen Bau mit einer 172 m langen Glaskuppel und unterirdischen Ausstellungsräumen untergebracht. In den Kunstmuseen von Rovaniemi und Kemi ist moderne finnische Kunst ausgestellt. Das Museum Siida in Inari widmet sich seit 1962 der Kultur der Samen und der Natur Nordlapplands. Daneben gibt es in Lappland weitere kleinere Museen wie das Goldmuseum Tankavaara in Sodankylä und insgesamt zwölf Naturzentren der staatlichen Forstbehörde. Im Sommer werden in Lappland zahlreiche Festivals veranstaltet. Am bekanntesten ist wohl das Midnight Sun Film Festival in Sodankylä, das alljährlich von 15.000–20.000 Gästen besucht wird. Es wurde 1986 von den Kaurismäki-Brüdern als eine Art Gegenveranstaltung zu glamourösen Filmfestspielen wie in Cannes gegründet. Das internationale Folklore-Festival Jutajaiset findet in Rovaniemi mit Musikern aus aller Welt statt. Beim Pyhä Unplugged -Festival am Pyhätunturi treten vor allem bekannte finnische Rockmusiker auf und spielen mit akustischen Instrumenten (unplugged). Medien In Lappland erscheinen zwei regionale Tageszeitungen. Die größte Zeitung Lapplands die in Rovaniemi erscheinende Lapin Kansa mit 91.000 Lesern. Die zweite Zeitung, Pohjolan Sanomat, erscheint in Kemi und hat 60.000 Leser. Die älteste samischsprachige Zeitschrift war das Kulturblatt Sápmelaš, das von 1934 bis 2001 in Inari erschien. Heute ist die inarisamische Zeitschrift Anaras die einzige in Finnland erscheinende samische Zeitschrift, sie wird aber nur viermal im Jahr herausgegeben. Viele finnische Samen beziehen indes samische Zeitungen aus Norwegen. Die wichtigste Stellung in der samischen Medienlandschaft nimmt das Radio ein. Die öffentlich-rechtliche finnische Rundfunkanstalt Yleisradio sendet seit 1947 regelmäßig samischsprachiges Programm. Seit 1987 gibt es dafür einen eigenen Sender, YLE Radio Sámi. Er ist in Nordlappland empfangbar und sendet Nachrichten und Musik auf Nord-, Inari- und Skoltsamisch. In Zusammenarbeit mit den samischen Radiosendern Norwegens und Schwedens produziert YLE Radio Sámi auch eine samischsprachige Fernsehnachrichtensendung, die in Nordlappland über den Sender YLE TV1 und ansonsten im Digitalfernsehen und im Internet zu sehen ist. Quellenangaben Literatur Ilmo Massa, Hanna Snellman (Hrsg.): Lappi – Maa, kansat, kulttuurit. Suomalaisen Kirjallisuuden Seura, Helsinki 2003, ISBN 951-746-505-X (finnisch). Siehe auch Sápmi Weblinks (englisch) (englisch) LaplandFinland.com – Offizieller Tourismus-Führer für Finnisch-Lappland Maakunta in Finnland Ehemalige Provinz (Finnland) Lappland Samen (Volk)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Encephalitozoonose
Encephalitozoonose
Die Encephalitozoonose („Sternguckerkrankheit“) ist eine durch den Einzeller Encephalitozoon cuniculi, seltener Encephalitozoon intestinalis oder Encephalitozoon hellem, hervorgerufene parasitäre Erkrankung, die in Europa vor allem Kaninchen befällt. Andere Stämme des Erregers verursachen eine Erkrankung bei Altweltmäusen und Hundeartigen. Die Encephalitozoonose kommt vor allem bei immungeschwächten Tieren vor. Sie ist eine potenzielle Zoonose und kann, wenn auch sehr selten, ebenfalls bei immunschwachen Menschen auftreten. Die Erkrankung wurde erstmals 1922 von Wright und Craighead beschrieben. Der Erreger befällt vor allem die Niere und das Gehirn. Letzteres zeigt sich in neurologischen Störungen, wobei eine Kopfschiefhaltung das häufigste Symptom ist. Mit dem Antiparasitikum Fenbendazol lassen sich der Erreger und damit Neuinfektionen bekämpfen. Beim Auftreten klinischer Erscheinungen muss die Therapie durch Gabe von Antibiotika und unterstützende Maßnahmen erweitert werden, die Heilungsaussicht ist dann unsicher. Erreger und Vorkommen Encephalitozoon cuniculi ist ein nur in Zellen höherer Organismen (obligat intrazellulär) lebender Einzeller aus der Gruppe der Mikrosporidien. Wie alle Mikrosporidien handelt es sich um einen eng mit den Pilzen verwandten Organismus mit Zellkern und Zellmembran (Eukaryot), dem aber einige Zellorganellen wie beispielsweise Mitochondrien fehlen. Das Genom ist mit 2,9 Millionen Basenpaaren, die nur knapp 2000 Proteine kodieren, außerordentlich klein. In Säugetieren befällt der Parasit die Zellen der Niere, des Gehirns und anderer Organe. Außerhalb seines Wirts überlebt der Einzeller in Form einer 2 µm großen Spore, die das infektiöse Dauerstadium darstellt. Je nach Hauptwirt werden drei verschiedene Stämme von Encephalitozoon cuniculi unterschieden. Kaninchen sind prinzipiell für alle drei empfänglich, natürliche Infektionen wurden aber bislang nur für den Kaninchenstamm beschrieben. Folgende Stämme kommen vor: In Europa spielt vor allem der Kaninchenstamm (Typ I) eine Rolle, der weltweit vorkommt. Bisherige Studien fanden bei gesunden Tieren Antikörper bei 7 bis 52 % der Hauskaninchen. Diese Seroprävalenz zeigt jedoch nur, dass die Tiere mit dem Erreger Kontakt hatten und ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit noch in sich tragen. Zu einer Erkrankung kommt es aber nur bei einer zeitweiligen Störung des Immunsystems, z. B. nach Virusinfektionen. Bei neurologisch erkrankten Hauskaninchen beträgt die Seroprävalenz bis zu 85 %. Das Erregerreservoir stellen vermutlich Wildkaninchen dar, bei denen die Seroprävalenz zwischen 4 und 25 % liegt, andere Hasenartige sind offenbar nicht Träger des Erregers. Die Encephalitozoonose ist mittlerweile die häufigste Infektionskrankheit bei Hauskaninchen. Encephalitozoon cuniculi Typ II (Mäusestamm) ist vor allem für Altweltmäuse krankheitsauslösend und wurde bislang nur in Europa nachgewiesen. Die Seroprävalenz beträgt bei wildlebenden Ratten und Mäusen zwischen 3 und 4 %, in den Laborhaltungen kommt der Erreger durch die hohen Hygienestandards praktisch nicht mehr vor. In Skandinavien wurden auch tödlich verlaufende Infektionen mit diesem Typ bei Farmfüchsen beobachtet. Encephalitozoon cuniculi Typ III (Hundestamm) ist vor allem in Nordamerika und Südafrika verbreitet, befällt vorwiegend Hunde und ist für diese vermutlich der einzige potenziell krankheitsauslösende (pathogene) Stamm. In Zoos wurden weltweit auch Infektionen bei Halbaffen beobachtet. E. cuniculi kommt weltweit vor, die Erkrankung wurde erstmals 1922 bei Kaninchen beschrieben. Antikörper gegen den E. cuniculi lassen sich bei vielen Säugetieren nachweisen. Berichte über menschliche Erkrankungen beschränken sich auf immunsupprimierte und AIDS-Patienten, wobei vermutlich nur der Kaninchen- und der Hundestamm potenziell gefährlich sind. In der Ostslowakei betrug die Seroprävalenz 5,7 %, bei Menschen mit Immundefekten sogar 37,5 %. Bei Pferden liegt die Seroprävalenz zwischen 14 % und 60 %. Infektionsweg und Krankheitsentstehung Die häufigste Art der Übertragung scheint die orale Aufnahme der vor allem über den Urin ausgeschiedenen Sporen zu sein. Eine Übertragung des Erregers von der Mutter auf die Föten vor der Geburt (intrauterin) ist ebenfalls möglich. Nach der Aufnahme der Sporen wird der Erreger im Darm von Fresszellen (Phagozyten) aufgenommen und mit ihnen über die Blutbahn verteilt. Die Infektion löst normalerweise keine Erkrankung aus. Der Wirt reagiert auf ein Eindringen des Erregers mit einer Immunreaktion, die durch zytotoxische CD8(+) T-Zellen vermittelt wird. Zu einem Krankheitsausbruch kommt es unter Umständen erst Jahre nach der Infektion bei einer Störung des Immunsystems, beispielsweise wenn die Tiere Lärm und Stress ausgesetzt sind. Der Erreger besiedelt bei Kaninchen dann vor allem die Nieren, wo er eine chronische Nierenentzündung mit Proliferation oder Atrophie des Epithels der Nierenkanälchen verursacht. Im Gehirn und den Hirnhäuten kommt es erst bei chronischer Infektion zu einer eitrigen Entzündung (Meningoenzephalitis) mit Vermehrung (Gliose) der Astrozyten und Lymphozyteninfiltrationen um die Blutgefäße. Darüber hinaus können sich Sporen in der Augenlinse ansiedeln und eine phakoklastische Uveitis auslösen, diese Lokalisation scheint aber ausschließlich bei einer Übertragung im Mutterleib stattzufinden. Bei Tamarinen wurden darüber hinaus auch Herzmuskel-, Leber-, Lungen-, Skelettmuskel- und Netzhautentzündungen nachgewiesen. Bei immunsupprimierten Mäusen zeigte sich eine nichteitrige, lymphozytäre Meningoenzephalitis mit Untergang von Nervenzellen und Astrogliose. Pferde können eine nekrotisierende Entzündung des Mutterkuchens (Plazentitis) entwickeln. Symptome Die klassischen Symptome einer Encephalitozoonose bei Kaninchen sind neurologische Störungen wie Schiefhals (Torticollis), meist in Kombination mit Augenzittern (Nystagmus), Störungen der Bewegungskoordination (Ataxie), steifer Gang, Lähmungen und Krämpfe. Tiere mit starker Gehirnaffektion drehen sich im fortgeschrittenen Krankheitsverlauf nicht selten unkontrolliert um ihre eigene Längsachse und können sich dabei schwer verletzen. Die Krankheit kann sich aber auch in Form einer Niereninsuffizienz oder einer Linsentrübung und Entzündung der mittleren Augenhaut nach Ruptur der Linsenkapsel (phakoklastische Uveitis) manifestieren. In einer Studie zeigten 45 % der erkrankten Kaninchen neurologische Ausfallserscheinungen, 31 % eine Nierensymptomatik und 14 % eine Uveitis. Vor allem bei Außenhaltung besteht bei neurologischen Störungen aufgrund der eingeschränkten Bewegungsmöglichkeit und damit der Körperpflege die Gefahr eines Fliegenmadenbefalls. Bei Hunden und Füchsen äußert sich eine Encephalitozoonose in Nierenversagen und zentralnervösen Erscheinungen, die der Staupe ähneln. Derartige Erkrankungen wurden bei Hunden bislang nur in Afrika und den Vereinigten Staaten beobachtet, während Erkrankungen bei Füchsen auch in Skandinavien auftraten. Bei Katzen kommt es vor allem zu Augeninfektionen (phakoklastische Uveitis, fokale Linsentrübung, Uveitis anterior), wobei als Auslöser vor allem der Mäusestamm (Typ II) in Frage kommt. Bei anderen Tieren sind die Krankheitssymptome zumeist unspezifisch und eine Encephalitozoonose wird erst bei der pathologischen Sektion entdeckt. Bei Halbaffen treten Totgeburten und plötzliche Todesfälle bei Jungtieren auf. Bei Pferden ist die Bedeutung des serologischen Nachweises noch nicht geklärt: Encephalitozoon cuniculi kann Aborte auslösen, wird aber auch im Zusammenhang mit Koliken und neurologischen Störungen diskutiert. Die Symptome bei immunsupprimierten oder HIV-infizierten Menschen werden im Abschnitt „Gefahr für den Menschen“ dargestellt. Diagnosestellung Die Diagnose ist am lebenden Tier nicht sicher zu stellen. Bei der klinischen Diagnosestellung handelt es sich immer um eine Verdachtsdiagnose. Da viele Hauskaninchen den Erreger in sich tragen, ohne daran zu erkranken, gibt eine serologische Untersuchung auf Antikörper (India-Ink Immunoreaktion, Titerbestimmung durch indirekte Immunfluoreszenz) gegen den Erreger zwar einen Hinweis auf eine erfolgte Ansteckung, ob die bestehenden Symptome aber dadurch bedingt werden, muss per Ausschluss anderer Erkrankungen abgeklärt werden. Ein Antikörpertiter kann auch bei über 40 % der gesunden Kaninchen nachgewiesen werden. Eine Studie fand bei Kaninchen mit klinischem Verdacht mittlere Titer von 1:1324 und damit etwa 1,7fach höhere Werte als bei Tieren ohne einen solchen. Weitere Studien konnten dagegen keinen Zusammenhang zwischen Titerhöhe und Erkrankung nachweisen. Zudem können die Antikörperspiegel nach einer Infektion über Jahre hoch bleiben. Kaninchen, die sich bereits im Mutterleib infiziert haben, weisen meist keine Antikörper auf, da der Erreger nicht als fremd erkannt wird (→ Selbsttoleranz). Der direkte Nachweis der Erreger-DNA mittels PCR im Urin, Kot oder Hirnwasser ist selten erfolgreich. Darüber hinaus tritt Erreger-DNA im Urin erst drei bis fünf Wochen nach der Infektion auf und auch bei einigen gesunden Tieren. Lediglich bei einer phakoklastischen Uveitis kann durch PCR an entferntem Linsenmaterial die Diagnose meist eindeutig gestellt werden. Das Leitsymptom „Schiefhals“ kann bei Kaninchen auch bei einer Entzündung des Innenohrs (Otitis interna, Haupterreger Pasteurella multocida), Virusinfektionen des Gehirns, Listeriose, Toxoplasmose, wandernden Larven (Larva migrans) des Waschbärspulwurms, Tumoren (vor allem Lymphome) und Abszessen des Gehirns sowie Kopfverletzungen auftreten. Auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Vergiftungen, Stoffwechselstörungen oder ein Rückenmarkstrauma können neurologische Ausfallserscheinungen verursachen. Ein Teil dieser Erkrankungen kann durch bildgebende Verfahren nachgewiesen werden und somit eine Encephalitozoonose indirekt ausschließen. Eine sichere Diagnose ist nur nach dem Tod durch eine pathologische Untersuchung mit Nachweis des Erregers möglich. Er lässt sich durch Immunhistochemie oder PCR nachweisen. Eine kulturelle Anzüchtung ist möglich, aber sehr aufwändig. Gefahr für den Menschen Die Encephalitozoonose ist eine potenzielle Zoonose, allerdings wurden bislang nur Erkrankungen bei Menschen mit einer starken Schwächung des Immunsystems (z. B. AIDS-Patienten, Menschen mit Immunsuppression nach Organtransplantationen, Idiopathische CD4+ T-Lymphocytopenie) beobachtet. Theoretisch könnten auch Menschen mit einem schwach ausgeprägten Immunsystem (Kleinstkinder, sehr alte Menschen) empfänglich sein, allerdings gibt es dafür noch keine Hinweise. Erkrankte Tiere haben in den meisten Fällen bereits über einen langen Zeitraum die Erreger ausgeschieden. Obwohl ein großer Teil der Heimtierkaninchen seropositiv ist, liegen bisher keine Nachweise vor, dass sich ein Mensch bei einem Kaninchen oder einem anderen Tier angesteckt hat, obwohl der Infektionsweg beim Menschen bislang nicht geklärt ist. Es gibt einen Fall einer Mensch-zu-Mensch-Übertragung des Hundestamms bei einer Knochenmarktransplantation bei einem Morbus-Hodgkin-Patienten, der daraufhin an einer Lungenentzündung verstarb. Bei Menschen mit Immunschwäche spielen allerdings Durchfallerkrankungen infolge Infektionen mit Encephalitozoon bieneusi und Encephalitozoon intestinalis die weitaus größere Rolle, während Encephalitozoon cuniculi-Infektionen selbst bei diesem Personenkreis sehr selten sind. Die Symptome einer solchen Erkrankung reichen von Fieber, Brust-, Bauch-, Muskel- und Kopfschmerzen, Husten, Schnupfen, Durchfall, Nasennebenhöhlen- und Lungenentzündung, Binde- und Hornhautentzündung bis zum Nierenversagen. Auch Encephalitozoon hellem kann sowohl eine Keratokonjunktivitis als auch eine disseminierte Infektion beim Menschen auslösen. Seit 1994 wurden weltweit nur 17 E.-cuniculi-Infektionen bei AIDS-Kranken und 6 bei Menschen nach Organtransplantationen nachgewiesen. Ältere Fallbeschreibungen müssen mit Vorsicht interpretiert werden, da Encephalitozoon-Arten lichtmikroskopisch nicht zu unterscheiden sind und die molekularbiologischen Nachweisverfahren erst in den 1990er Jahren etabliert wurden. Behandlung Es gibt derzeit noch keine 100-prozentig wirksame Behandlung der Encephalitozoonose. Eine Eliminierung des Erregers bei Kaninchen ist vermutlich nicht möglich, denn nicht wenige Tiere, die sich klinisch durch eine Behandlung bessern, werden zu einem späteren Zeitpunkt mit wiederholter Symptomatik vorgestellt. Die Antiparasitika Fenbendazol und Albendazol führen nur zu einer Reduktion der Erreger und können Neuinfektionen einschränken, bei klinischem Ausbruch einer Encephalitozoon-cuniculi-Infektion ist die Wirkung dagegen begrenzt. Da die Kaninchen zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Erkrankung immungeschwächt sind, wird die Gabe eines Antibiotikums (Chloramphenicol, Gyrasehemmer, Chloroquinphosphat, Oxytetracyclin oder Sulfonamide) empfohlen. Zur Minderung der Entzündung werden gleichzeitig auch Glucocorticoide eingesetzt, allerdings ist deren Einsatz umstritten, da sie auch zu einer Unterdrückung der körpereigenen T-Zell-Antwort führen können und bei Kaninchen häufig starke Nebenwirkungen auslösen. Zusätzlich sollten die Tiere, insbesondere beim Vorliegen einer Niereninsuffizienz, mit Infusionen versorgt werden. Dazu muss eine regelmäßige Kontrolle der Blutwerte erfolgen. Die Gabe eines Vitamin-B-Komplexes wird ebenfalls von einigen Autoren als unterstützende Maßnahme empfohlen. Kaninchen mit Lähmungserscheinungen sollten zusätzlich physiotherapeutisch behandelt werden, indem die gelähmten Gliedmaßen bewegt werden. Kaninchen, die nicht selbstständig Futter aufnehmen, müssen zwangsernährt werden. Lärm und Stress sind in jedem Fall vom erkrankten Tier fernzuhalten. Dabei ist daran zu denken, dass Tiere eine andere Hörschwelle besitzen als der Mensch und somit Geräusche wahrnehmen, die für den Menschen nicht zu erkennen sind. Bei einer Erkrankung des Auges kann nur eine Entfernung des aus der rupturierten Linsenkapsel ausgetretenen Linsenproteins zu einer Heilung führen. Geschieht dies nicht, werden in der Folge immer wieder Episoden mit schweren Uveitiden auftreten. Bei immunsupprimierten Menschen mit Encephalitozoonose wird gegen Encephalitozoon cuniculi und andere Mikrosporidien Albendazol eingesetzt. Neuere Therapieansätze sind Polyamine, Chitininhibitoren wie Nikkomycin und Fluorchinolone, bei lokalen Augenentzündungen auch Fumagillin. Das potenzielle Risiko einer Tier-zu-Mensch-Übertragung kann durch konsequente Hygienemaßnahmen minimiert werden. Hierzu zählt neben der täglichen Beseitigung von Kot und Urin die Reinigung des Käfigs oder Geheges mit reinigenden und desinfizierenden Mitteln. Zur Desinfektion eignen sich kochendes Wasser, 2-prozentiges Lysol, 1-prozentiges Formaldehyd oder 70-prozentiger Alkohol. Nach einem Tierkontakt sollten, auch zur Reduzierung der Gefahr der Übertragung anderer Zoonosen, die Hände gründlich gewaschen werden. Heilungsaussichten In einigen Fällen kommt es bei Kaninchen zu einer Spontanheilung ohne Therapie. Eine klinische Heilung von Kopfschiefhaltung und Ataxien ist jedoch im Regelfall umso günstiger, je schneller mit der Therapie begonnen wird. Bestehen die neurologischen Symptome bereits länger, muss mit einer deutlich längeren Zeit bis zur vollständigen Heilung (restitutio ad integrum) gerechnet werden. Manchmal, in besonders schwerwiegenden Fällen, kann es nach Abschluss der medikamentösen Behandlung mehrere Monate dauern, bis die Kopfschiefhaltung verschwunden ist. Die Erkrankung kann aber auch zu bleibenden Schäden am Gehirn führen, so dass es zu einer dauerhaften Kopfschiefhaltung kommt. Es ist weiterhin immer mit einem Rückfall zu rechnen, aber von einer vorsorglichen, dauerhaften Gabe von Fenbendazol wird abgeraten, da der Erreger gegen den Wirkstoff Resistenzen bilden kann und die Substanz auch immunsupprimierend wirken kann. Schwere Infektionen können auch tödlich verlaufen oder so starke bleibende Beeinträchtigungen hervorrufen, dass eine Einschläferung angezeigt ist. Literatur Peter Deplazes: Encephalitozoonose. In: Andre Jaggy: Atlas und Lehrbuch der Kleintierneurologie. Schlütersche 2005, ISBN 3-87706-739-5, S. 458. Anja Ewringmann: Leitsymptome beim Kaninchen. Diagnostischer Leitfaden und Therapie. Enke-Verlag, 2004, ISBN 3-8304-1020-4. E.J. Gentz und J.W. Carpenter: Neurologic and musculoskeletal diseases. In: E.V. Hillyer und K.E. Quesenberry (Hrsg.): Ferrets, rabbits, and rodents. Saunders 1999, ISBN 0-7216-4023-0, S. 220–226. Frances Harcourt-Brown: Textbook of rabbit medicine. Butterworth-Heinemann, 2004, ISBN 0-7506-4002-2. Thomas Schnieder (Hrsg.): Veterinärmedizinische Parasitologie. Paul Parey, 2006, ISBN 3-8304-4135-5. Ulrike Flock: Enzephalitozoonose beim Kaninchen – eine retrospektive Auswertung. (PDF; 606 kB), Dissertation, Tierärztliche Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität, München 2010, abgerufen am 17. September 2013. Weblinks B. Drescher: Enzephalitozoonose beim Kaninchen Intervet: Enzephalitozoonose Einzelnachweise Kaninchenkrankheit Parasitose bei Hunden Zoonose Parasitose bei Tieren Parasitose bei Nagetieren
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https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte%20Osttimors
Geschichte Osttimors
Die Geschichte Osttimors umfasst die Entwicklungen auf dem Gebiet der Demokratischen Republik Timor-Leste von der Urgeschichte bis zur Gegenwart. Sie ist geprägt von einer langen Zeit der Fremdherrschaft. 450 Jahre beherrschten die Portugiesen den Osten der Insel, ständig bedrängt von Niederländern und den Topasse. Neun Tage nach der Ausrufung der Unabhängigkeit Osttimors 1975 besetzte Indonesien das Land. Infolge der indonesischen Okkupation, die 24 Jahre dauerte, kamen fast 200.000 Menschen ums Leben. Nach drei Jahren Verwaltung durch die Vereinten Nationen wurde Osttimor 2002 in die Unabhängigkeit entlassen. Damit war Osttimor der erste Staat, der im 21. Jahrhundert unabhängig wurde. Sorgten innere Konflikte in den ersten Jahren noch für neue Krisen, stabilisierte sich das Land seit dem Zusammenbruch der Rebellenbewegung im Jahr 2008. Am 31. Dezember 2012 endete die Mission der Sicherheitskräfte der Vereinten Nationen und der International Stabilization Force ISF. Internationale Truppen und Polizisten wurden abgezogen. Das Land erlebte seitdem einen deutlichen Aufschwung, der durch politische Auseinandersetzungen der Parteien getrübt wird und 2021 eine Naturkatastrophe und die COVID-19-Pandemie verkraften musste. Mythischer Ursprung Timors Der Legende nach half ein kleiner Junge einem Krokodilbaby, den Weg ins Meer zu finden. Zum Dank dafür nahm das Krokodil den Jungen auf lange Reisen über das Meer mit. Als das Krokodil starb, wurde aus seinem Körper die Insel Timor, die von den Nachkommen des Jungen besiedelt wurde. Noch heute hat das Krokodil in Osttimor große symbolische Bedeutung. Traditionell wird es als „Großvater“ bezeichnet und es gibt den Brauch, beim Überqueren von Flüssen „Krokodil, ich bin Dein Enkel – friss mich nicht“ zu rufen. Vor der Kolonialzeit Hintergrund Die Küstenlinie der südostasiatischen Inselwelt veränderte sich im Laufe der Jahrtausende erheblich, was einen Einfluss auf mögliche Besiedlungen durch Einwanderer hatte. Stieg der Meeresspiegel vor etwa 70.000 Jahren stark an, sank er vor ungefähr 30.000 Jahren während des Letzteiszeitlichen Maximums. Vor zirka 18.000 Jahren stieg der Meeresspiegel erneut und Landmassen, wie Sundaland und Sahul wurden wieder durch das Wasser zerteilt. Weitere starke Veränderungen der Küstenlinie fanden vor 14.500, 11.500 und 7.500 Jahren statt und schufen so die heutige Inselwelt und den von Asien getrennten Kontinent Australien. Trotz dieser wechselhaften Veränderung der Geographie blieb Timor die ganze Zeit über eine Insel ohne eine Landverbindung zum Rest der Welt. Nur die zu überwindenden Distanzen schrumpften zeitweise erheblich. Die Bevölkerung Timors kam im Rahmen der allgemeinen Besiedlung der Region auf die Insel. Anthropologen gehen davon aus, dass die Nachkommen von mindestens drei Einwanderungswellen hier leben, wodurch auch die ethnisch-kulturelle Vielfalt Timors zu erklären ist. Interessanterweise bezeichnen sich alle Volksgruppen auf Timor als Einwanderer, die ursprünglich von woanders auf die Insel zogen. Je früher die Einwanderung den Mythen nach erfolgte, desto höher war der Status in den traditionellen Machtstrukturen auf Timor. Die timoresischen Völker kannten ursprünglich keine Schrift. Daher gibt es keine schriftlichen Überlieferungen von der Geschichte vor der europäischen Kolonisation. Dafür existiert eine reiche Tradition an mündlichen Überlieferungen, wie etwa beim Volk der Bunak im Zentrum der Insel. Die Geschichten wurden in wiederkehrenden Reimen und Alliterationen rezitiert. In jedem Dorf brachten die Alten den Jungen die Legenden des Clans bei, aber es gibt auch die Lian Nain (in etwa Herr der Wörter), Barden und zeremonielle Würdenträger, die stundenlang Verse rezitieren können. Meistens werden Verse aus zwei Zeilen verwendet, bei denen jede Zeile aus zwei Sätzen besteht. Der erste Satz der zweiten Zeile wiederholt dabei in anderen Wörtern den Inhalt des letzten Satzes der ersten Zeile. Die Sprachen sind reich an Metaphern und Symbolen aus der animistischen Kultur Timors. Legenden, wie der Schöpfungsmythos um das Krokodil, wurden außerdem bildlich dargestellt und dekorativ verwendet. Es ist teilweise nicht einfach, das einheimische Wissen über die Geschichte zu sammeln. In Oe-Cusse Ambeno gibt es traditionelle Einschränkungen zur Weitergabe geschichtlichen Wissens. Dies ist meist nur zwei oder drei Personen in jedem Dorf gestattet. Dabei dürfen sie aber nur über die Geschichte des eigenen Dorfes berichten, über die Historie anderer Dörfer darf man nichts erzählen, sofern diese überhaupt bekannt ist. Noch heute verlassen viele Einwohner Oe-Cusse Ambenos ihr Dorf fast ihr ganzes Leben nicht und kennen bestenfalls die Nachbardörfer. Folge ist auch, dass die Angaben oftmals von Dorf zu Dorf einander widersprechen. Über zwei bestimmte Dörfer in der Gemeinde darf überhaupt keine Auskunft über die Vergangenheit gegeben werden. Darüber herrscht ein Tabu. Will man Informationen über die Geschichte des hiesigen Reiches erfahren, gibt es nur wenige, die darüber Auskunft geben dürfen. Die ersten Siedler Die ältesten Spuren menschlicher Besiedlung auf Timor sind Stand 2017 zwischen 43.000 und 44.000 Jahre alt. Sie wurden in der Höhle Laili bei Laleia (Gemeinde Manatuto) entdeckt. 2006 wurden bereits in der Kalksteinhöhle Jerimalai nahe Tutuala im äußersten Osten Timors 42.000 Jahre alte Spuren gefunden. Neben Steinwerkzeugen und Muschelschalen, die als Schmuck verwendet wurden, fand man die Überreste von Schildkröten, Thunfischen und Riesenratten, die den Höhlenbewohnern als Nahrung gedient hatten. Diese Funde erhärten die Theorie, dass die Besiedlung Australiens über die Kleinen Sundainseln erfolgte. Von dieser Besiedlungswelle scheinen keine Spuren mehr in der heutigen Bevölkerung Timors zu existieren. Die Überreste der Fische stammen zur Hälfte von Arten, die nur in der Hochsee leben. Dies belegt erstmals, dass Menschen bereits vor 42.000 Jahren weitab der Küste auf Fischfang gehen konnten. Zudem fand man einen etwa vier Zentimeter langen Angelhaken, der aus einer Schale einer Meeresschnecke hergestellt wurde. Er wird auf ein Alter zwischen 16.000 und 23.000 Jahre geschätzt und ist damit der älteste bekannte Angelhaken der Welt. Der Haken diente zum Fang von Fischen in den Küstengewässern, die zu dieser Zeit durch die Bildung der Korallenriffe fischreicher wurden. 38.000 bis 42.000 Jahre alt sind kleine Plättchen mit gebohrten Löchern aus der Schale des Gemeinen Perlboots (Nautilus pompilius), die ältesten bekannten Schmuckstücke Ostasiens und des pazifischen Raums. In Matja Kuru wurde ein 35.000 Jahre altes Knochenstück gefunden, das zur Befestigung von Harpunenspitzen am hölzernen Schaft diente. Es ist der älteste Nachweis dieser komplexen Bindungstechnik, die zwar in ganz Australien und Melanesien bekannt ist, deren älteste Zeugnisse bisher allerdings nur wenige hundert Jahre alt waren. Auch in anderen Höhlen nahe Tutuala wurden Archäologen fündig. Besiedlungsreste fanden sich in der Höhle Lene Hara, die auf 41.000 bis 43.000 Jahre datiert wurden. Die mehrfarbigen Wandmalereien, die Boote, Tiere und geometrische Strukturen zeigen, sind nur 2000 Jahre alt. Auf 5000 Jahre werden die Malereien in den Höhlen O Hi und Ile Kére Kére geschätzt, die Steingravuren, die Gesichter zeigen, sogar auf 10.000 Jahre. Weitere Felsmalereien finden sich an den Steilküsten von Tutuala und Tunu Taraleu, in Lene Kici, Lene Cécé und Vérulu (alle nahe Tutuala), in Uai Bobo (in Venilale, Gemeinde Baucau), Lie Siri, Lie Kere, Lie Kere 2 und Lie Baai (auf dem Hochplateau von Baucau) und in der Region von Baguia (ebenfalls Gemeinde Baucau). Man unterscheidet bei den Felsmalereien grundsätzlich zwei Zonen: Jene vom Plateau von Baucau und jene in der Umgebung von Tutuala. Pigmente in Schwarz, Rot, Gelb und Grün werden für vielfältige Motive verwendet: Linien und geometrische Figuren, strahlenumkränzte Kreise (bezeichnet als Sonnen oder Sterne), naturgetreue und Bilder im Röntgenstil von Tieren, Menschen, Anthropomorphe und Boote. Die meisten Bilder werden aber der neolithischen „austronesischen Maltradition“ (Austronesian Painting Tradition APT) zugerechnet. Auf dem nordöstlich gelegenen Kisar gibt es Wandmalereien, die zum Teil auffällige Ähnlichkeiten zu Malereien an der Ostspitze Timor zeigen. Sie sind mehr als 2500 Jahre alt und lassen auf enge Kontakte zwischen den beiden Inseln bereits zu dieser Zeit schließen. Daneben sind auch einige Handumrisse bekannt, bei denen der Künstler seine Hand als Schablone auf den Felsen drückte und Farbpigmente darüber pustete. Solche Handabdrücke sind hier seltener als in benachbarten Regionen zu finden, was als besonderes Merkmal der Felsmalereien auf Timor gilt, im Vergleich zu den anderen Inseln Südostasien. Die Archäologin Sue O’Connor gruppierte Handschablonen neben einfachen rot-figurativen, ausgefüllten Motiven in einer Reihe von Bildnissen, die sich aufgrund ihrer Lage in tieferen, aber zugänglichen Höhlenteilen von der APT unterscheiden. Bis 2020 fehlten aber Hinweise, dass diese Bilder aus einer anderen Zeitepoche stammten. Dann wurden von der Höhle Lene Hara erstmals Handumrisse beschrieben, die wahrscheinlich aus dem Pleistozän stammen. Sie ähneln Bildnissen in Australien und unterstützen auch vom geschätzten Alter her die Theorie der Besiedlungsroute Australiens über Timor. Auffällig ist das weitgehende Fehlen von Motiven großer Tiere, wie sie sost bei Felskunst aus dem Pleistozän oft vorkommt. Dies lässt sich damit erklären, dass Großtiere in der Fauna Timors weitgehend fehlen. Die hier ansässige Zwergform eines Stegodons starb deutlich vor der Ankunft der ersten Menschen auf der Insel aus. Die australo-melanesische Einwanderung Man vermutet, dass australo-melanesische Völker (auch vedo-austronesisch genannt) etwa 40.000 bis 20.000 v. Chr., während der letzten Eiszeit, vom Norden und Westen her Timor erreichten. Zu diesem Zeitpunkt waren die Großen Sundainseln durch Landbrücken mit dem asiatischen Kontinent verbunden und der Weg über das Meer bis Timor deutlich kürzer. Ihre Nachkommen, die Atoin Meto (Atoni), repräsentieren wahrscheinlich die ursprüngliche Bevölkerung Timors und zeichnen sich durch eine sehr dunkle Hautfarbe und glatte, schwarze Haare aus. Sie stellen die Bevölkerungsmehrheit im Westen der Insel, auch in der osttimoresischen Exklave Oe-Cusse Ambeno. Genetische Untersuchungen, die 2015 veröffentlicht wurden, lassen eine Einwanderungswelle aus dem Osten vermuten. Nach diesen Ergebnissen zogen zunächst vor 40.000 bis 60.000 Jahren die ersten Siedler von Westen her nach Neuguinea und vor 28.000 Jahren nahmen Menschen den Weg von Neuguinea zurück nach Timor (siehe rechts Karte A). Weitere genetische Hinweise lassen die Einwanderung weiterer nachfolgenden Gruppen vermuten, die vor 4000 bis 8000 Jahren aus Taiwan bis nach Timor zogen (Karte B). Eine dritte nachgewiesene Gruppe stammte vermutlich von der heutigen Insel Borneo und erreichte Timor vor 10.000 Jahren (Karte C). Geht man davon aus, dass die Piroge erst 7000 v. Chr. erfunden wurde, kann man annehmen, dass die Strecken über das Meer mit Flößen bewältigt wurden. Die Menschen lebten in kleinen Clans oder Stämmen zusammen, die als Jäger und Sammler ohne feste Siedlungen umherzogen. Bereits vor 9000 Jahren brachten Menschen den Grauen Kuskus von Neuguinea nach Timor, der zu einer Hauptbeute der heimischen Jäger wurde. Die Melanesier Um 3000 v. Chr. kamen aus dem Westen Melanesier mit einer zweiten Einwanderungswelle und brachten die Ovale-Axt-Kultur nach Timor. Erstmals tauchten in dieser Zeit Töpferwaren, Beile und Muschelperlen auf Timor auf und es lassen sich landwirtschaftliche Spuren nachweisen. Eingeführt wurden Kolbenhirse, Flaschenkürbis, Kokosnüsse und andere Früchte. Auch finden sich aus derselben Zeit erstmals Überreste von Haushunden und Schweinen an der Ostspitze Timors. Die Vedo-Austronesier zogen sich nach dem Eintreffen der Melanesier ins bergige Landesinnere zurück, ohne dass größere Vermischungen stattfanden. Die Einwanderungsrichtung aus dem Westen überrascht, da die Nachkommen dieser Einwanderer mit den Ethnien auf Papua-Neuguinea, Vanuatu und den Salomonen im Osten verwandt sind. Diese Regionen wurden bereits vor 30.000 bis 40.000 Jahren von den Melanesiern besiedelt. Zu den Melanesiern auf Timor gehören die Fataluku, Makasae, Makalero und Bunak. Ihre Sprachen gehören zu den Papuasprachen. Neuere linguistische Untersuchungen lassen aber vermuten, dass zumindest die Fataluku sich erst nach der austronesischen Einwanderung von Osten kommend an der Ostspitze Timors ansiedelten. Dort haben sie in den letzten Jahrzehnten die ansässigen malayo-polynesischen Makuva nahezu vollständig assimiliert. Auch bei den Makasae wird über ein solches Szenario spekuliert. Die Austronesier Es gibt unterschiedliche Angaben, in wie vielen Wellen die Austronesier Timor erreichten. Linguistisch kann man zwei Haupteinwanderungsrouten der Austronesier nach Timor vermuten. Die eine kam über Buton (südlich von Sulawesi), die zweite über Ambon (Molukken). Felsmalereien aus der Zeit zeigen 5 bis 15 Meter lange Boote, die neben Rudern auch über rechteckige Segel verfügten. Man nimmt an, dass die Austronesier den Reis als Kulturpflanze nach Timor brachten, auch wenn er noch bis in das 19. Jahrhundert eine untergeordnete Rolle in der lokalen Landwirtschaft einnahm. Austronesische Gruppen aus Südchina und dem nördlichen Indochina erreichten Timor vermutlich um 2500 v. Chr. Sie breiteten sich unter dem Druck der Expansion der heutigen ostasiatischen Ethnien auf dem ganzen Malaiischen Archipel aus. Vor etwa 1000 bis 2000 Jahren begann man mit der Metallverarbeitung auf Timor. Zur selben Zeit starben vermutlich die heimischen Riesenratten, wie die Musser-Timor-Ratte (Coryphomys musseri) aus. Man nimmt an, dass mit den eingeführten Metallwerkzeugen erstmals große Flächen der Insel entwaldet wurden, was zum Aussterben der als Jagdbeute beliebten Riesenratten führte. Australische und portugiesische Forscher konnten die Existenz einer prähistorischen Kupferindustrie auf Timor nachweisen. Man entdeckte Gruben und einfache Tunnel, in denen Kupfererz abgebaut wurde und Artefakte bestätigten die Verhüttung und Herstellung von Kupferwerkzeugen auf der Insel. Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass etwa um 500 n. Chr. weitere Austronesier, bei denen deutlichere ostasiatische Einflüsse sichtbar waren und welche die dominierende Bevölkerungsgruppe auf dem gesamten Archipel wurden, auch Timor erreichten. Auf den Hauptinseln Indonesiens ist diese Volksgruppe unverkennbar, auf Timor ist man sich aber bei der ursprünglichen Bevölkerung noch nicht einig, doch sie hat ein deutlich asiatischeres Erscheinungsbild als die ursprünglichen austronesischen Einwanderer. Erst im 14. Jahrhundert wanderten die malayo-polynesischen Tetum nach Timor ein. Sie bilden heute mit 100.000 Mitgliedern die größte Ethnie in Osttimor. Ihren Erzählungen nach stammen sie aus Malakka, von wo sie nach Timor kamen. Zuerst ließen sich die Tetum im Zentrum der Insel nieder und verdrängten die Atoin Meto in den Westteil Timors. Später stießen sie auch in den Ostteil vor und gründeten insgesamt vier Reiche, von denen Wehale das mächtigste war. Händler und Könige 2015 entdeckte man beim Bau eines Hauses am Fluss Raumoco im Suco Daudere (Gemeinde Lautém) eine Bronzetrommel der Dong-Son-Kultur (etwa 800 v. Chr. bis 200 n. Chr.) aus dem Gebiet des heutigen Vietnams. Das 80 kg schwere und ungefähr 2000 Jahre alte Artefakt ist eine der am besten erhaltenen von nur etwa 20 Bronzetrommeln, die man in Südostasien entlang der alten Schifffahrtswege fand. Bereits in den 1960er-Jahren fand man in Osttimor das obere Ringstück einer solchen Trommel, das auf ein Alter von 2000 bis 2300 Jahre datiert wurde. Nahe der Stadt Baucau wurde ein Tüllenbeil der Dong-Son-Kultur entdeckt. Der Hinduismus kam im 1. Jahrhundert n. Chr. nach Timor und der Buddhismus ab dem 5. Jahrhundert. Beide hinterließen keine großen Spuren. Obwohl einige indonesische Publikationen der 1970er-Jahre angeben, dass Timor zum Srivijaya-Reich (7. Jahrhundert bis 13. Jahrhundert) gehörte, fehlen jegliche Quellen, um dies nachzuweisen. Selbst Bali und der Osten Javas gehörten nicht zu diesem Reich, obwohl diese westlich von Timor lagen und hinduistisch und buddhistisch geprägt waren. Vermutlich hinderten javanische Königreiche das Srivijaya-Reich an seiner Expansion in Richtung Osten. Möglicherweise erreichten aber Händler Srivijayas Timor. Niederländische Historiker berichten, dass timoresisches Sandelholz bereits im 10. Jahrhundert durch die Straße von Malakka weiter nach China und Indien transportiert wurde. In Osttimor finden sich mehrere Hügel mit Überresten von Befestigungen aus Stein, die einst wohl Siedlungen beschützten. Man vermutet, dass diese Wehranlagen zu Zeiten von klimatischen Veränderungen errichtet wurden. Einige entstanden um das Jahr 1000 n. Chr., als Regenfälle seltener wurden und sich die Umwelt stark veränderte. Andere Mauerreste werden auf die Zeit nach 1300 n. Chr. datiert, als der Wechsel zur Kleinen Eiszeit begann. In beiden Zeiträumen kam es aufgrund des Klimawandels wohl zu einer Verknappung der Ressourcen und verstärkt zu Konflikten zwischen verschiedenen Gruppen, wobei aber auch andere Gründe für die neue Notwendigkeit von befestigten Siedlungen existiert haben können, zum Beispiel der aufkommende Handel mit Sandelholz. Timor wurde Ti-wu oder in der kantonesischen Variante Ti-mat (Ti-men) genannt. Verschiedene Berichte über die Insel aus der vorkolonialen Zeit stammen aus chinesischen Quellen. Der chinesische Beamte für Überseehandel Zhao Rukuo nannte Timor im Jahr 1225 einen Ort, der reich an Sandelholz sei. Der Sandelholzbaum (Santalum album) findet sich nicht nur auf Timor, sondern auch auf verschiedenen Pazifikinseln, Madagaskar, Australien und in Indien, doch lieferten nur Timor, Sumba und Solor die höchste Qualität von weißem Sandelholz. Um 1350 schrieben Chinesen im Tao-i chin-lueh: Neben malaiischen und chinesischen Händlern reisten später auch arabische Händler nach Timor, um Sandelholz, Sklaven und Honig zu kaufen, die sie über Java und Sulawesi bis nach China und Indien exportierten. Bienenwachs für die Batikfärberei auf Java und später für die lokale, katholische Kirche als Kerzenwachs war eine weitere wertvolle Handelsware. Mit dem Aufblühen des örtlichen Handels entstanden lokale königliche Familien. Die Händler siedelten nicht auf dem fern den Handelsrouten zwischen China, Indien und den großen Inseln gelegenen Timor, sondern blieben immer nur so lange, wie sie mussten, um ihre Geschäfte abzuwickeln. 1292 scheiterten die Mongolen mit einer Invasion auf Java. Aus dem erfolgreichen Abwehrkampf heraus entstand das hinduistisch geprägte Majapahit-Reich, das in der Mitte des 14. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreichte. Im Nagarakertagama, dem Heldenepos der damaligen Zeit, wird eine lange Liste von tributpflichtigen Vasallenstaaten Majapahits aufgeführt. Darunter findet sich auch Timor. Allerdings vermerkte der portugiesische Schreiber Tomé Pires im 16. Jahrhundert, dass alle Inseln östlich von Java Timor genannt wurden, da die Landessprache mit dem Wort „Timor“ den Osten bezeichnet. Noch heute heißt „Osten“ auf Bahasa Indonesia timur. Arabische Karten um das Jahr 1500 zeigen östlich von Java die Timorinseln, mit der nördlichen Kette Timor Lor und den südlichen Timor Kidul. Die Insel Muta im äußersten Osten könnte Timor darstellen, mit dem Hafen Pulan, das Kupang sein könnte. Wie dem auch sei, bereits nach einem Jahrhundert zerfiel die Macht Majapahits aufgrund von Streitigkeiten zwischen den Hinduprinzen und der Verbreitung des Islams in Malaya, dem Nordosten Sumatras und dem Norden Javas. 1409 konvertierte der König von Malakka zum Islam. Andere Herrscher auf Sumatra, Kalimantan, Java, den Molukken und den Philippinen folgten. Timor erreichte dieser Wandel nicht. Das muslimische Malakka gewann an Macht, sodass auch die javanischen Häfen an Bedeutung verloren. Die chinesischen Händler verschwanden fast zeitgleich zwischen 1368 und 1405. Grund war die selbstgewählte Isolation Chinas von der Außenwelt. Als China von 1550 bis 1567 ein zweites Mal seinen Händlern den Außenhandel verbot, übernahmen zunächst die Portugiesen die Handelswege zwischen dem Reich der Mitte und Timor. Die ersten europäischen Entdecker berichteten von einer Anzahl von kleinen Stammesgebieten und Reichen auf Timor, die durch den Handel entstanden waren und von Liurais, den traditionellen Herrschern, regiert wurden. Die Bevölkerung lebte in erster Linie vom Brandrodungsfeldbau. Die Beziehungen zwischen diesen Herrschaftsgebieten waren durch Rituale, Heirat und Handel äußerst komplex. Der Legende nach stammen alle Völker von einem Urahn ab, der die Insel zwischen seinen drei Nachkommen in einen West-, einen Ost- und einen zentralen Bereich aufteilte. Der Mitte der Insel stand das Reich von Wehale vor mit seinen Verbündeten unter den Stämmen der Ethnien der Tetum, Bunak und Kemak. Die Tetum bildeten den Kern des Reiches. Die Hauptstadt Laran auf dem Gebiet des heutigen Westtimor bildete das spirituelle Zentrum der gesamten Insel. Der Westen wurde von Sonba’i dominiert, der Osten von Likusaen (heute: Liquiçá) oder Luca. Diese rituelle Hierarchie der einzelnen Reiche und Voranstellung von Wehale, Sonba’i und Likusaen bedeutete aber keine wirkliche Macht, aber das Prestige der drei Herrscher konnte die Bildung von Bündnissen unterstützen. Antonio Pigafetta, ein Mitglied der Magellanexpedition, besuchte Timor kurz im Jahre 1522. Er berichtet von vier Hauptkönigen auf Timor, die Brüder waren: Oibich, Lichisana, Suai und Canabaza. Oibich war der Oberste der vier. Oibich konnte man Wewiku zuordnen, das in späteren Quellen als Stützpunkt Wehales bezeichnet wird. Suai ist Hauptstadt der heutigen osttimoresischen Gemeinde von Cova Lima und bildete wahrscheinlich mit Camenaça (Kamenasa, Canabaza, auch Camenaça oder Camenasse) ein Doppelreich. Lichisana wird mit Liquiçá gleichgesetzt. Da Lichisana und Suai-Canabaza Wehale tributpflichtig waren und alle diese Reiche im Zentrum und Osten Timors lagen, wurden sie von den Portugiesen später als Provinz von Belu (auch: Belos oder Behale) zusammengefasst. Eisen war bekannt, aber es war keine Schrift in Gebrauch. Die Bevölkerung betrieb traditionelle, animistische Praktiken. Das westliche Timor erhielt den Namen Servião nach dem dort dominierenden Sonba’i (holländisch: Zerviaen oder Sorbian). 1563 erschien Servião erstmals als Cerviaguo in den Berichten der Portugiesen als wichtiger Umschlagsplatz für Sandelholz an der Nordküste Timors. Da es aber dort keinen Ort gibt, dem man diesen Namen zuordnen kann, geht man davon aus, dass dies ein Außenposten von Sonba’i war, das erstmals 1613 als Königreich Servião auf der portugiesischen Karte von Manuel Godinho de Erédia erschien. Servião bestand aus dem größten Teil des Atoin-Meto-Gebiets in Westtimor. Auch Luca findet sich auf der Karte im äußersten Osten, besonders hervorgehoben. Die Stämme am Westrand des Einflussgebietes von Wehale unterhielten gleichzeitig Bündnisse mit Sonba’i und Oecussi, die Stämme im Osten mit dem östlichen Timor und seinen Zentren Atsabe und Lospalos. Auf diese Weise bildete die Insel aus Sicht vieler Timoresen eine Einheit, die erst durch die koloniale Spaltung durch Niederländer und Portugiesen zerstört wurde (vgl. Mandala (politisches Modell)). Daraus entstand im 20. Jahrhundert das Konzept von „Groß-Timor“, welches die Vereinigung der Insel in einem Staat propagiert. Trotz der vielen ethnischen und sprachlichen Unterschiede zwischen den Bewohnern Timors waren ihre sozialen Strukturen doch sehr ähnlich, was den Kontakt zwischen den Völkern erleichterte. Dies darf aber über die Zersplitterung der Insel nicht hinwegtäuschen. Eine portugiesische Liste von 1811 führt insgesamt 62 Königreiche in Timor auf (16 in Servião und 46 in Belu). Letztlich lässt sich die Anzahl nicht genau festschreiben, da sie sich ständig aufgrund von Kriegen, Zusammenschlüssen und Abspaltungen änderte und manche Reiche anderen untergeordnet waren. Die Bevölkerung Timors war in verschiedene soziale Schichten unterteilt, deren unterste die Sklaven bildeten. Diese wurden teilweise auch gehandelt, sodass im 17. Jahrhundert timoresische Sklaven auch nach Makassar und von dort weiter nach Palembang, Jambi und Aceh sowie in die Pfefferanpflanzungen auf Südborneo gelangten. Zum Hauptabnehmer wurde in dieser Zeit aber Batavia, das heutige Jakarta. Nahezu jedes Schiff, das von Timor aus den Hafen erreichte, hatte Sklaven an Bord. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein betrieben Niederländer und Portugiesen einen Sklavenhandel, von dem auch die Nachbarinseln betroffen waren. So fingen die Topasse auch auf Roti Menschen als Handelsware ein. Die Einführung von Mais als Nahrungspflanze in der Mitte des 17. Jahrhunderts hatte großen Einfluss auf die timoresische Bevölkerung, denn die sonst übliche, arbeitsintensive Bewirtschaftung von Reisfeldterrassen (Sawah) war nur begrenzt möglich. Das Wachstum der Bevölkerung war auch abhängig vom Vorhandensein von wertvollen Ressourcen, wie Sandelholz oder Honig. Der Handel mit ihnen förderte den lokalen Reichtum. Paradoxerweise hatte Sandelholz vor Beginn des Außenhandels keinerlei Nutzen oder Bedeutung für die Timoresen. Insel der Kopfjäger Zwischen 1100 und 1600 n. Chr. verursachte der El Niño verstärkt Dürren auf Timor. Einige Historiker gehen davon aus, dass es in dieser Zeit durch Hungersnöte verstärkt zu Konflikten in der Bevölkerung Timors kam. Tatsächlich entstanden zwischen 1150 und 1650 n. Chr. ein Großteil der heute als Tranqueiras bekannten Befestigungsanlagen, die meisten zwischen 1450 und 1650. Im Siedlungsgebiet der Fataluku gibt es Hunderte von Resten von Tranqueira (fataluku: lata irinu), mit denen die Einwohner ihre Siedlungen schützten. Solche Anlagen finden sich aber auch zum Beispiel zwischen Manatuto und Laclo an der Nordküste oder in Ainaro. Ein Großteil der Befestigungen ist weder wissenschaftlich erfasst, noch näher erforscht. Ähnliche Anlagen gibt es auch auf anderen Inseln östlich der Wallace-Linie. Ähnliche Bauwerke aus der Zeit von 1300 bis 1700 n. Chr. sind auch aus anderen Teilen des Malaiischen Archipels und Ozeanien bekannt. Sue O’Connor hinterfragt die Theorie, da die Datierungen der Festungen nicht präzise ist. Sie untersuchte Tranqueiras, die aus einer späteren Zeit zwischen 1334 und 1373 n. Chr. stammen. Auch der aufkommende Handel mit Sandelholz mit Händlern von außerhalb könnte Einfluss auf die lokalen Kulturen gehabt haben. Mündliche Überlieferungen von den Atsabe Kemak aus der Gemeinde Ermera berichten von Fehden, Kriegen, Eroberungen und Kopfjägern. Solche Ausbrüche von Gewalt entstanden aus unterschiedlichsten Gründen, wie dem Streit um fruchtbares Land, Grenzen, Hochzeitsvereinbarungen oder einfach nur empfundene Missachtungen. Jedes Jahr brachen Kämpfe um Gebiete mit Bienenvorkommen aus, um sich die wertvolle Handelsware Bienenwachs oder auch Sandelholz zu sichern. Selbst zwischen den einzelnen Dorfgemeinschaften (Sucos), die von einem Dato regiert wurden, kam es zu Kämpfen um Ackerland, denn keinem Timoresen war es gestattet, Land im Nachbarterritorium zu bewirtschaften, da dann zum einen die Tributpflicht an den Dato und zum anderen die Gerichtsbarkeit im Streitfalle nicht zugeordnet werden konnten. Dies führte dazu, dass vor allem Sucos mit hohem Bevölkerungsdruck stets bemüht waren, ihre Gebiete zu vergrößern. Durch die ständigen Konflikte entstand eine Kultur des rituellen Krieges, die auf Timor Funu genannt wird. In den Krieg konnte nicht ohne die Einwilligung durch die Geister der Ahnen gezogen werden. Dazu opferte der Priester (Dato-lulik) einen Büffel und befragte die Geister. Nur wenn die Geister den Kriegsgrund als gerechtfertigt ansahen, konnte man in den Krieg ziehen. Akzeptierten die Geister ihn nicht, musste man die Begründung so lange ändern, bis die Geister einverstanden waren. Danach musste jeder Mann vor dem Priester ein Huhn schlachten. Streckte das Huhn dabei das rechte Bein nach oben, musste der Mann in den Kampf ziehen, streckte das Huhn das linke Bein hoch, war er dazu bestimmt, daheim Frauen und Kinder zu beschützen. Letztere konnten, wenn sie wollten, das Orakel noch ein zweites Mal befragen. Erhielt man dann die Erlaubnis zum Kampf, war aber die Wahrscheinlichkeit groß, verwundet oder getötet zu werden, während die Erwählten aus der ersten Runde nach dem Glauben unverwundbar für alle Waffen waren. Vor einer Schlacht stellten sich die prachtvoll geschmückten sogenannten Meos vor die Krieger und begannen, mit Kriegstänzen die Stimmung anzuheizen, den Mut ihres Stammes zu preisen und die Gegner zu beschimpfen. Danach zogen sie sich zurück und die gegnerischen Parteien begannen, sich aus großer Entfernung heraus gegenseitig zu beschießen – ursprünglich mit Pfeil und Bogen, später mit Feuerwaffen. Sobald dabei ein Mann getötet wurde, endete der Kampf. Für damalige europäische Beobachter erschien diese Art der Kriegsführung seltsam, doch war die Feldschlacht nicht das Hauptziel. Der eigentliche Krieg bestand mehr aus Hinterhalten und Überfällen, bei denen versucht wurde, möglichst viele Köpfe gegnerischer Krieger, Frauen und Kinder als Sklaven sowie Vieh zu erbeuten und manchmal auch das Land des Gegners zu verwüsten. Frauen wurden nur dann enthauptet, wenn sie versuchten, aus bereits eroberten Dörfern zu fliehen, da dies gegen die Sitten verstieß. Die heimkehrenden Krieger wurden von den Frauen mit dem traditionellen Likurai-Tanz begrüßt, bei dem die erbeuteten Köpfe zur Schau gestellt wurden. Jene, die einen Kopf erbeutet hatten, wurden geehrt, wobei jene Köpfe, die in der Schlacht erbeutet wurden, mehr Ehre einbrachten, als jene aus einem Hinterhalt. Die erfolgreichen Kopfjäger erhielten den Titel Assuai (der Tapfere). Die Kopftrophäen wurden gereinigt, getrocknet und dann in der Hütte des Assuais aufgehängt. Zu jeder Mahlzeit musste dem Kopf ebenfalls etwas zu essen angeboten werden. Schließlich wurde der Kopf dem Liurai oder Dato übergeben, der im Rahmen einer Siegesfeier gegen ihn trat. Dem Assuai wurde als Siegeszeichen ein Armreif oder eine metallene, runde Brustplatte (Belak) übergeben, die er um den Hals trug. Die erbeuteten Köpfe wurden sorgsam aufbewahrt, damit sie bei einem Friedensschluss unter großem Weinen und Klagen an die Familie des Toten zurückgegeben werden konnten. Fehlte ein Kopf, musste eine hohe Entschädigung gezahlt werden. Nach einem Friedensschluss hegte keine der Seiten mehr Groll gegen die andere. Gefestigt wurde der Frieden meist mit einer Hochzeit oder mit Blutsbrüderschaft. Dies verpflichtete dann im Kriegsfall zur bewaffneten Unterstützung. Kopfjagd und innere Kämpfe endeten erst, als die Portugiesen nach der Niederschlagung der letzten Rebellion 1912 endgültig die uneingeschränkte Herrschaft über das Land hatten und Feindseligkeiten zwischen den Timoresen und gegen sich unterbinden konnten. Wissenschaftler sehen, aufgrund von Forschungen auf Neuguinea, wo ähnliche Traditionen existierten, in den stark ritualisierten Kriegen eine Form der Bevölkerungskontrolle – nicht in erster Linie durch die Opfer des Krieges, sondern durch die Verwüstung der Anbauflächen. Brandrodungszonen mussten von den Unterlegenen aufgegeben werden, bevor der Boden ausgelaugt war, und die Sieger konnten aus Angst vor der Rache der Geister und aufgrund von Tabus sie nicht sofort nutzen. Die nun brachliegenden Flächen hatten die Möglichkeit, sich zu regenerieren. Zudem wurde durch die Kriegsform die Kindersterblichkeitsrate bei Mädchen erhöht, weswegen – auch durch die geringe Anzahl der Opfer unter den Kriegern – das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern regional gehalten wurde. Je mehr Krieger ein Reich hatte, desto besser konnte es seine Bevölkerung beschützen und das Territorium vergrößern. Männliche Nachkommen hatten daher eine wichtige Bedeutung. Portugiesische Kolonialzeit Ankunft der Portugiesen Der Portugiese Afonso de Albuquerque eroberte am 15. August 1511 das Sultanat von Malakka. Damit stand Portugal ein wichtiger Stützpunkt für den Handel mit den Kleinen Sundainseln und vor allem den Molukken zur Verfügung, dem Hauptziel der portugiesischen Expansion in Südostasien. Um die Gewürzinseln genannten Inseln zu finden, wurde bereits im folgenden November eine Expedition aus drei Schiffen unter António de Abreu entsandt, der sich bereits bei der Eroberung von Malacca hervorgetan hatte. Nachdem die Schiffe die Molukken erreicht hatten, wandten sie sich nach Südwesten. Zwar gilt Abreu allgemein als der Europäer, der 1512 als erster sichtete, doch gibt es daran Zweifel. Seine Aufzeichnungen nach, passierte er aber nur die Nordküste der Inseln Sumbawa, Flores, Adonara und Alor (Ombai). Ein Passieren von Timor oder gar eine Landung auf Timor erscheint unwahrscheinlich. Dass die Insel erstmals in westlichen Berichten auf seiner Karte mit dem Vermerk „Die Insel Timor, wo der Sandelholzbaum wächst“ erscheint, ist wahrscheinlich lokalen Angaben oder chinesischen, arabischen oder javanischen Karten zu verdanken. Auf der Insel Solor soll bereits damals eine portugiesische Siedlung gegründet worden sein, die zur Keimzelle der portugiesischen Kolonien auf den Kleinen Sundainseln wurde. Ein weiteres Mal taucht Timor namentlich in einem portugiesischen Dokument vom 2. Januar 1514 auf. In einem Brief an König Manuel I. erwähnte Rui de Brito Patalim die Insel, auf der es viel Sandelholz, Honig und Wachs gäbe. Erst von 1515 gibt es einen gesicherten Bericht der Landung von Portugiesen auf Timor. Eine Gedenktafel an einem nachgebauten Padrão dos Descobrimentos markiert den Ort in Oe-Cusse Ambeno, an dem am 18. August 1515 portugiesische Dominikaner Timor als Missionare betraten. Zum 500. Jubiläum wurde das Lifau-Monument eingeweiht, mit der Nachbildung einer Karavelle und lebensgroßen, bronzenen Figuren, die das Aufeinandertreffen von Portugiesen und Timoresen nachstellen. Ungewöhnlich ist, dass es keinerlei Berichte einer Besitznahme der Insel durch das Aufstellen eines Padrão gibt. Auch genauere Beschreibungen der Insel fehlen. Erst Antonio Pigafetta liefert diese, nachdem er am 26. Januar 1522 an Bord des spanischen Schiffs Victoria nahe Batugade anlandete und für 18 Tage blieb. 1556 setzten sich die Portugiesen im Gebiet der heutigen osttimoresischen Exklave Oe-Cusse Ambeno das erste Mal auf Timor fest. Hier, wie auf der Nachbarinsel Solor, gründeten die Dominikaner zur Sicherung des Sandelholzhandels eine Siedlung. Auf Timor war es der Ort Lifau (Lifao), 6 km westlich des heutigen Pante Macassar. Zur selben Zeit begann der Dominikaner António Taveira die Missionierung Timors. Man konzentrierte sich dabei im späten 16. Jahrhundert auf die Königreiche an der Nord- und Südküste. 1566 wurde auf Solor eine Festung errichtet, die zum Zentrum des umliegenden Handels wurde. Solor hatte den Vorteil, dass es hier, im Gegensatz zu Timor, keine Malaria gab. Abgesehen von den Missionaren siedelten die meisten Portugiesen noch nicht auf Timor, sondern liefen verschiedene Punkte der Insel an, wie Kupang, Lifau oder Mena (östlich des heutigen Oe-Cusse Ambeno). Über Solor wurde jährlich das Sandelholz aus Timor exportiert, hauptsächlich nach Macau. Macau war das Bindeglied zu Portugal, auch wenn offiziell während des Großteils der Kolonialzeit Goa der zuständige Verwaltungssitz für Timor war. Im 16. Jahrhundert waren die Handelswege stark von der Jahreszeit abhängig. Die Karavellen verließen Goa im September mit dem südwärts wehenden Monsun. Von Malakka aus wurden dann indische Waren auf Java gegen chinesische Kupfermünzen getauscht. Dafür erhielt man weiter im Osten auf Sumbawa Reis und einfache Baumwollstoffe, die wiederum auf den Banda-Inseln und Ternate gegen Gewürze getauscht wurden. Einige dieser Handelsreisenden kamen auch nach Solor und Timor, um Sandelholz zu erwerben. Zwischen Mai und September kehrte man mit dem Südwestmonsun nach Malakka zurück. Dass die Schiffe aufgrund der Windverhältnisse längere Zeit bei Solor und Timor warten mussten, begünstigte die Gründung permanenter Siedlungen. Ende des 16. Jahrhunderts existierten portugiesische Stützpunkte in Lifau, Mena und Kupang. In Mena wurde 1590 die erste Kirche der Insel errichtet. Der Profit ließ sich sehen. Für ein Pikul (62,5 kg) Sandelholz zahlte man auf Timor 1613 den Gegenwert von fünf Réis. In China konnte man für ein Pikul 40 Réis bekommen. Anfangs unterhielten die Portugiesen auf Timor weder eine Verwaltung, noch Militärgarnisonen oder Handelsposten. Diese wurden erst schrittweise als Reaktion auf die Bedrohung durch die Niederländer aufgebaut, die ihren Einfluss in der Region immer mehr ausdehnten. In den ersten Jahren wurden einige Soldaten unter einem Capitão für Solor angeheuert. Ab 1575 stationierte man hier ein bewaffnetes Schiff mit 20 Soldaten und ab 1595 vergab Goa offiziell den Posten des Capitão, der die Aufgaben eines Gouverneurs für die Region übernahm – sehr zum Unmut der Dominikaner, die sich in ihren Rechten eingeschränkt sahen. Der erste Capitão Goas war Antonio Viegas. 1586 wurden große Teile Timors zur Kolonie Portugiesisch-Timor erklärt. Portugal nutzte die Kolonie nun auch als Verbannungsort für politische Gefangene und einfache Kriminelle. Diese Praxis behielt man bis ins 20. Jahrhundert bei. Wettlauf um Timor Am 20. April 1613 eroberten die Niederländer unter Apollonius Schotte die Festung auf Solor. Die Portugiesen wichen nach Larantuka im Osten von Flores aus. Solor wechselte im Laufe der nächsten Jahrzehnte mehrfach den Besitzer, während Larantuka zum neuen portugiesischen Zentrum der Region wurde. Von Larantuka aus kontrollierten die Topasse das Handelsnetz in der Region, vor allem den lukrativen Sandelholzhandel. Die Topasse, auch Bidau, Larantuqueiros oder schwarze Portugiesen genannt, waren Nachfahren von portugiesischen Soldaten, Seeleuten und Händlern, die Frauen von Solor und Flores heirateten. Nach niederländischen Berichten beherrschten die Topasse von Larantuka aus bereits 1623 die Häfen an der Nordküste Timors. Am 4. Juni 1613 landete Schotte in Mena. Die Herrscher von Mena und Asson wurden dazu bewegt, ein Bündnis mit den Niederländern zu schließen und Sandelholzlieferungen zu garantieren. Danach fuhr Schotte weiter die Küste entlang und schloss dabei mehrere Verträge mit einheimischen Herrschern, die später die Grundlage aller niederländischen Ansprüche in Westtimor waren. Schließlich eroberte er auch das portugiesische Fort bei Kupang und ließ hier, genauso wie in Mena, eine kleine Besatzungsmacht zurück. Doch 1615 gaben die Niederländer zunächst Solor, 1616 dann auch ihre Stützpunkte auf Timor und Flores auf. Mit der Wiederherstellung der Unabhängigkeit von der spanischen Krone im Jahr 1640 konnte sich Portugal wieder stärker in Südostasien engagieren. Allerdings brach eine Revolte der Makassaren gegen die Portugiesen aus und Karrilikio (auch Camiliquio oder Karaeng Makkio genannt), der muslimische Sultan von Tallo (Tolo) auf Sulawesi, griff die Nord- und Südküste Timors mit insgesamt 150 Schiffen und 7000 Mann an. Nach dreimonatigen Raubzügen zog er sich zurück. Als António de São Jacinto, Dominikaner und Generalvikar von Solor, mit einer Streitmacht Mena erreichte, fand er den Ort zerstört vor. Die muslimische Besatzung floh ins Landesinnere. Der tote König war von seiner Frau abgelöst worden. Durch ihre Unterstützung gewannen die Portugiesen 1641 wieder die Kontrolle über Mena. Die Königin und ihr Volk konvertierten zum Christentum. Der Liurai von Amanuban (Amanubang), ein Schwager der Königin von Mena und Herrscher des Gebietes um Lifau, trat ebenfalls zum Christentum über und ließ mehrere Kirchen bauen. Am 26. Mai 1641 besiegte Francisco Fernandes eine Streitmacht des Liurais von Wehale an der Grenze zu Mena. Die Portugiesen begannen daraufhin unter Fernandes mit einer groß angelegten Militäraktion, um ihre Kontrolle auf das Inselinnere auszuweiten. Begründet wurde dieses Vorgehen mit dem Schutz der christianisierten Herrscher der Küstenregion. Die vorangegangene Christianisierung unterstützte die Portugiesen bei ihrem schnellen und brutalen Sieg, da ihr Einfluss auf die Timoresen den Widerstand bereits geschwächt hatte. Fernandes führte den Feldzug mit nur 90 portugiesischen Musketieren durch. Unterstützt wurde er aber von zahlreichen timoresischen Kriegern. Fernandes zog zunächst durch das Gebiet von Sonba’i und eroberte bis 1642 das Königreich Wehale, das als religiöses und politisches Zentrum der Insel galt. Mitglieder der königlichen Familie Wehales flohen nach Osten und heirateten dort in Herrscherfamilien ein. Viele adlige Familien beanspruchen daher auch heute noch ihre Abstammung von Wehale, selbst wenn dies zum Teil sehr fragwürdig ist. Mehrere Herrscher in Westtimor traten anschließend zum Christentum über und leisteten einen Schwur zur Loyalität gegenüber der portugiesischen Krone, so beispielsweise der Herrscher von Kupang. Timor erhielt daraufhin den Namen Ilha de Santa Cruz (Insel des Heiligen Kreuzes), den die Insel lange Zeit behielt. Um 1640 hatten eine Handvoll Priester bereits zehn Missionen und 22 Kirchen auf Timor gegründet. 1644 waren auch die Liurais von Luca und Açao christianisiert. 1647 wurde António de São Jacinto Generalvikar auch für Timor. 1698 kam der Dominikaner Manuel de Santo António nach Timor. Durch seine erfolgreichen Missionierungsversuche um 1700 kamen auch Luca und seine Nachbarreiche im Südosten der Insel unter portugiesischen Einfluss. 1701 wurde er von Papst Clemens XI. zum Bischof von Malakka ernannt und residierte bis 1722 in Lifau. Manuel de Santo António gilt somit als erster Bischof auf Timor. Missionierung und wirtschaftliche Interessen gingen dabei Hand in Hand. Die Niederländer hatten andererseits keine Probleme, mit Herrschern zusammenzuarbeiten, die auch mit Gewalt gegen die Christianisierung Timors vorgingen. Vormachtstellung der Topasse Nach dem Sieg gegen Wehale nahm die Einwanderung der Topasse weiter zu. Um 1642 lebte bereits eine große Anzahl von Topasse auf Timor, deren Zentrum Lifau wurde, die portugiesische Hauptbasis auf der Insel. Auch ihr Führer, der später den Titel eines Generalkapitäns (Capitão-mor) führte, residierte ab dieser Zeit zumindest zeitweise in Lifau. Ursprünglich gehörte das Gebiet zum Reich von Ambeno, doch entstand hier unter Duldung durch die Timoresen an der nordöstlichen Küste der heutigen Exklave das Reich von Oecussi, das von Topasse regiert wurde. Der gebirgige Westen und Süden vom osttimoresischen Oe-Cusse Ambeno blieb bis in das 20. Jahrhundert hinein als Reich von Ambeno unter Führung einheimischer Herrscher, daher auch der allgemein übliche Doppelname der Exklave. Von Oecussi aus schlossen die Topasse durch Blutschwüre Bündnisse mit den ehemaligen Vasallen Wehales. Dabei wurde das Blut der Schwurpartner vermischt und getrunken. Als Zeichen des Bundes wurden den timoresischen Herrschern eine Flagge Portugals, ein Schwert und Rüstungsteile übergeben, die gemäß der traditionellen Vorstellung heilige Symbole der Stärke Portugals darstellten. Durch die Übergabe an die Liurais sollte ein Teil dieser Stärke auch auf die lokalen Herrscher übergehen. Die Oberhoheit der portugiesischen Krone wurde anerkannt, allerdings ging dies nicht einher mit der Übergabe von politischer oder wirtschaftlichen Macht. Die Liurais blieben die eigentlichen Herrscher ihrer Reiche. Doch auch wenn diese Reiche nun nominell Verbündete der Portugiesen waren, hielten in Wirklichkeit die Topasse alle Fäden der Macht zusammen. Im 17. Jahrhundert gab es im portugiesischen Einflussbereichs Timors nie mehr als 50 Europäer. Die Expansion und Herrschaft ging von den schwarzen Portugiesen aus. 1640 bauten die Niederländer nahe Kupang ihre erste Festung auf Timor und die politische Teilung der Insel begann. Die Bucht von Kupang galt als der beste natürliche Hafen der gesamten Insel. Seit 1642 schützte wieder ein einfaches Fort den portugiesischen Posten. An ihm scheiterten 1644 zwei niederländische Angriffe. Zur besseren Verteidigung bauten die Dominikaner unter António de São Jacinto 1647 eine neue Festung. 1653 zerstörten die Niederländer den portugiesischen Posten, der danach erneut errichtet wurde. 1655 erhob sich überraschend der bis dahin mit Portugal verbündete Herrscher von Sonba’i gegen die Portugiesen. Er tötete alle Portugiesen in seinem Gebiet und zündete ihre Häuser und Kirchen an. Danach verbündete sich Sonba’i mit den Niederländern, ein Verlust für die Portugiesen, denn das Reich war eines der prestigereichsten im Westen der Insel. Hintergrund der Rebellion scheinen die persönlichen Aversionen des als aggressiv beschriebenen Liurais von Sonba’i gegen die Portugiesen zu sein. Zudem wendete sich der Angriff gegen die Missionierung der animistischen Einwohner. Am 27. Januar 1656 eroberten die Niederländer schließlich den portugiesischen Posten in Kupang mit einer starken Streitmacht unter General Arnold de Vlamigh van Outshoorn. Allerdings mussten sie sich gleich wieder aufgrund von schweren Verlusten aus der Festung zurückziehen, nachdem sie den Topasse außerhalb Kupangs gefolgt waren. Eine herbe Niederlage mussten die Niederländer auch 1658 einstecken, als Portugiesen und Topasse das Reich von Sonba’i total vernichteten. Einige Bewohner von Sonba’i siedelten sich daraufhin bei den Niederländern in Kupang an. Wenn Liurais von den Portugiesen abfielen, entsandten diese verbündete, timoresische Krieger, wie zum Beispiel aus Amarasi. Hier nutzte die Kolonialmacht die timoresische Tradition der Kopfjagd, die einen ständigen Kriegszustand zwischen verschiedenen Reichen bedeutete; eine Maßnahme, die man bis in das 20. Jahrhundert anwandte. Wie Sonba’i ging es vor allem 1658, 1683 und 1688 auch anderen Reichen, die sich gegen die Portugiesen und Topasse auflehnten, wie zum Beispiel Taebenu. Ihre Einwohner mussten aus ihrer Heimat fliehen und siedelten um nach Kupang. Aus ihnen rekrutierten sich die Niederländer ohne große Anstrengungen neue Verbündete. Bis 1688 schloss die Niederländische Ostindien-Kompanie (VOC) Verträge mit den fünf kleinen Herrschern in der Umgebung von Kupang, den „fünf loyalen Alliierten“ in Sonbai Kecil, Kupang-Helong, Amabi (1665), Amfo’an (1683) und Taebenu (1688). 1661 schloss die VOC zunächst eine Vereinbarung mit Portugal, in der – im Gegenzug für den Bestand des niederländischen Postens bei Kupang – die Kompanie die portugiesische Oberhoheit über den Großteil Timors anerkannte. Die niederländische Einflusssphäre blieb vorläufig auf diese Region Timors beschränkt, wenn man von Maubara absieht, das sich 1667 mit den Niederländern verbündete. 1688 gelang den Niederländern schließlich die Eroberung Kupangs. Einer weiteren Expansion standen zunächst die durch die Topasse mit Portugal verbündeten Atoni-Reiche von Amanuban und Amarasi entgegen, die im ständigen Kriegszustand mit den fünf loyalen Alliierten standen. 1650 warnten die Portugiesen christliche Timoresen davor, mit anderen als ihnen Handel zu betreiben. Zwischen 1665 und 1669 wurden mehrere Reiche von den Portugiesen angegriffen, die politische oder wirtschaftliche Beziehungen mit den Niederländern oder Händlern aus Makassar hatten. Wehale versuchte 1665 die Händler aus Makassar als Verbündete zu gewinnen und weiter im Osten hatten diese bis 1668/69 einen großen Einfluss in Ade (heute Vemasse) und Manatuto, die auch die niederländische Flagge setzten. Eine Flotte der Topasse beendete dieses Bündnis und eroberte Ade und Manatuto, wodurch sie wieder zum portugiesischen Hoheitsraum gehörten. Durch den Verlust von Malakka 1641 und Makassar 1665 gewann Macau für die Portugiesen auf Timor immer mehr an Bedeutung als Verbindung zur Außenwelt. Etwa 20 Dschunken liefen jährlich die Insel an und brachten Reis und Tauschwaren. Chinesische Händler etablierten in den befriedeten Gebieten Handelsbeziehungen mit den Timoresen und begannen sich auch auf Timor niederzulassen – zuerst in Kupang und Lifau, später auch in Dili. Sie kontrollierten einen Großteil des Handels mit Macau, inklusive eines regen Schmuggels. Ab den 1740er Jahren handelten sie direkt mit den Timoresen und brachen so die Handelsmacht der Topasse. Für Macau wurde der Handel mit Timor zur Haupteinnahmequelle, zumal man den lukrativen Handel mit Japan 1639 verloren hatte. Bis 1695 verteilte der Senat von Macau Handelslizenzen, so genannte pautas do navio. Danach wurde der Laderaum der Schiffe aufgeteilt. Ein Drittel stand dem Schiffseigner zur Verfügung, während zwei Drittel zu Gunsten verschiedener Bürger Macaus beladen wurden, vom Generalkapitän bis hin zu Witwen und Waisen. Dieses System wurde von den Schiffseignern als Vorteil gesehen und hatte fast hundert Jahre Bestand. Im späten 17. Jahrhundert wurden mehrere Versuche der portugiesischen Krone vereitelt, die Kontrolle über das gesamte Timor zu gewinnen. 1665 (1664?) wurde der portugiesische Kommandant Simão Luis zum ersten Capitão-Mor von Solor und Timor ernannt, doch der in Larantuka Geborene starb noch vor der offiziellen Amtseinführung. Ihm folgte António da Hornay, ein Hauptmann der Topasse, womit der Titelinhaber praktisch mit dem Herrscher und Oberbefehlshaber der Topasse gleichgesetzt wurde. Die Topasse-Familienclans der Hornays (auch Ornai, Horney) und der Costas wurden die eigentlichen Machthaber in der Kolonie. Die Rivalität zwischen den beiden Clans nutzten wiederum die Portugiesen. Der portugiesische Vizekönig in Goa hatte 1666 gleichzeitig den gleichen Brief auch an António da Hornay und Mateus da Costa gesandt, mit dem er sie jeweils zum Capitão-Mor und seinem Repräsentanten erklärte, sofern derjenige die Macht innehabe. Diese lag zu jenem Zeitpunkt bei António, Mateus akzeptierte dies aber nicht und berief sich dabei auf eine frühere Ernennung. Zwischen 1668 und 1670 unterwarf Mateus da Costa für Portugal mehrere Königreiche der Tetum im Küstengebiet Belus. Von 1671 an konnte Mateus auch den Titel des Capitão-Mor für sich beanspruchen, doch starb er 1673. Nach einem kurzen Intermezzo durch Manuel da Costa Vieira gewann António da Hornay noch im selben Jahr den Titel zurück und regierte de facto als Fürst über Larantuka, Solor und Teile Timors. Er wird von den Niederländern als so rücksichtslos beschrieben, dass sie hofften, die Timoresen würden sich deswegen gegen ihn und die Portugiesen wenden. Stattdessen sahen sich die Niederländer einer der wenigen Rebellionen in dieser Zeit auf ihrem Gebiet gegenüber. 1678 verbündete sich Raja Ama Besi von Kupang mit den pro-portugiesischen Amarasi, um den Nachfolger auf seinen Thron anzugreifen. Nach dem Tod von António da Hornay 1693 wurde er von Pater António de Madre de Deus und schließlich von seinem Bruder Francisco da Hornay abgelöst. Schließlich kam es zur Vereinigung der Hornays und der Costas durch die Heirat von Francisco da Hornay mit einer Tochter von Domingos da Costa, dem Sohn von Mateus. Die Topasse sahen sich von mehreren Seiten bedroht, einmal durch portugiesische Händler, die durch die Krone eine Erlaubnis erhielten, die Kontrolle über den Sandelholzhandel zu übernehmen, dann durch die Dominikaner, die versuchten, eine eigene unabhängige Machtbasis auf Timor aufzubauen, und schließlich durch einheimische Herrscher, die regelmäßig rebellierten, sowohl gegen die Topasse als auch gegen die Portugiesen. Jedoch einte alle der Kampf gegen die Expansion der Niederländer. Zumeist gelang es den Topasse auch durch immer wieder neue Bündnisse, rebellische Herrscher zu besiegen. In einem Bericht der VOC aus dem Jahre 1689 heißt es: Auch wenn man sich „Untertan des portugiesischen Königs“ nannte, so herrschten die Topasse, nicht Portugal über die Besitzung. Portugiesische Offiziere auf Timor erhielten vom Capitão-Mor nur eine Lizenz zur Gewinnung von Sandelholz und einen kleinen Tribut, den die ansässige Bevölkerung stellen musste. Diese tuthais bestanden aus Reis, Schweinen und anderen Naturalien. Europäische Portugiesen bildeten ohnehin eine verschwindende Minderheit auf Timor. Der englische Reisende William Dampier beobachtete 1699: 1695 versuchte der Vizekönig in Goa erneut die Kontrolle zurückzugewinnen und setzte als ersten Gouverneur von Solor und Timor António de Mesquita Pimentel (1696–1697) ein. Doch er zog schnell den Zorn der Einheimischen auf sich. Pimentel plünderte sie schamlos aus und ermordete zwei Kinder von Francisco da Hornay. 1697 wurde Domingos da Costa neuer Capitão-Mor. Er ließ schließlich Pimentel in Ketten legen und ihn nach Goa zurückschicken. Pimentels Nachfolger André Coelho Vieira wurde 1698 von Domingos da Costa bereits in Larantuka gefangen genommen und musste wieder zurück nach Macau fahren. Erst der 1701 vom Vizekönig in Goa entsandte António Coelho Guerreiro (1702–1705) konnte sich mit Unterstützung von Bischof Manuel de Santo António in Lifau etablieren, auch wenn sich die Mehrheit der Topasse ihm gegenüber feindlich stellte. Zwar sorgte Guerreiro innerhalb Lifaus für Ruhe und Ordnung, doch während seiner dreijährigen Amtszeit wurde er praktisch ständig durch die Costas belagert. Aber auch Domingos da Costa wurde immer wieder durch verschiedene Rivalen bedroht. Am 20. Februar 1702 begann Guerreiro mit seinem Dienst in Lifau. Damit waren die Dominikaner von der Administration der Besitzung offiziell entbunden. Guerreiro baute eine koloniale Verwaltung auf und vergab den Liurais den militärischen Rang eines Coronel (Oberst) – eine Tradition, die bis zum Ende der portugiesischen Kolonialzeit auf Timor 1975 fortgeführt wurde. Bis 1705 hielt Guerreiro durch, bevor er abziehen musste. Nach Manuel de Santo António (1705) übernahm Lourenço Lopes (1705–1706) die Verwaltung der Kolonie. Ihm folgte Manuel Ferreira de Almeida (1706–1708 und 1714–1715), der nicht in der offiziellen Liste der Gouverneure erscheint und wahrscheinlich ein Rivale Domingos da Costas war. Die Portugiesen kehrten nach Lifau zurück, aber ihre Macht blieb eingeschränkt. Manuel de Santo António sorgte bei Domingos da Costa dafür, dass der neue portugiesische Gouverneur Jácome de Morais Sarmento (1708–1710) wieder anerkannt wurde. Doch es kam zum Streit zwischen Morais Sarmento und Manuel de Santo António. Morais Sarmento ließ 1708 gegen jedes Recht Dom Mateus da Costa, den Liurai von Viqueque, festnehmen und erniedrigte ihn. Manuel de Santo António hatte selbst den Herrscher zum Christentum bekehrt, doch Morais Sarmento empfand ihn als „zu unabhängig“ und wollte ihn ersetzen. Domingos da Costa belagerte daraufhin Lifau bis 1709. Manuel de Santo António rettete die Situation, indem er in das Lager von Domingos da Costa ging und den Topasse-Herrscher überredete, sich doch wieder unter die portugiesischen Krone zu stellen. Der nachfolgende Gouverneur Manuel de Souto-Maior (1710–1714) rehabilitierte Dom Mateus, aber das Bündnis zwischen Klerus und Zivilverwaltung war zerstört. Die Topasse beherrschten weiterhin den Sandelholzhandel im Inselinneren. Manchmal arbeiteten Portugiesen und Niederländer zusammen, um Topasse und Timoresen wieder unter Kontrolle zu bringen. Zusammenbruch der Topasse-Herrschaft und Vertreibung der Portugiesen nach Dili Nach einem erneuten Zwischenspiel von Manuel Ferreira de Almeida, das tödlich endete, hatte Domingos da Costa (1715–1718) selbst die Kontrolle über die Kolonie inne, bis sie wiederum vom neuen Gouverneur aus Portugal Francisco de Melo e Castro (1718–1719) übernommen wurde. 1719 trafen sich die Liurais von etwa einem Dutzend Reichen in Camenaça, um einen Blutpakt zu schließen. Ziel des Bundes war die Vertreibung der Portugiesen und des Christentums insgesamt. Der Camenaça-Pakt (Camnace-Pakt) gilt als Beginn der Cailaco-Rebellion (1719–1769). Gouverneur Melo e Castro musste fliehen und Bischof Manuel de Santo António übernahm die Amtsgeschäfte (1719–1722). Doch auch zwischen Manuel de Santo António und den Topasse kam es zum offenen Konflikt. 1722 sandte der Bischof Arraias, wie timoresische Hilfstruppen genannt wurden, aus Amakono (Groß-Sonba’i) gegen die Topasse aus. Die Amakono wurden abgeschlachtet. Gleichzeitig kämpften andere Arrais gegen Rebellen in Belu. Krieger von Luca attackierten einen Trupp von Moradores, die die Fintas einsammelten und sich auf dem Weg von Lifau nach Cailaco befanden. Fintas waren Tributzahlungen der mit Portugal verbündeten Reiche in Form von Naturalien, wie sie auch zwischen den timoresischen Herrschern üblich waren. Auslöser war weniger die Verpflichtung zur Zahlung, die zwischen 1710 und 1714 eingeführt wurde, als die Gewalt, mit der die Abgaben eingesammelt wurden. Erst Gouverneur António Moniz de Macedo (1725–1728 und 1734–1741) sollte am 10. Juli 1737 erstmals schriftlich eine Regelung über die Erhebung von Fintas festsetzen. Bis dahin wurden die Abgaben ziemlich willkürlich erhoben und teilweise deckten die Einnahmen nicht einmal die Kosten der Eintreibung. Die Idee einer Kopfsteuer wurde zunächst aufgegeben und erst Anfang des 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen und umgesetzt. 1722 traf der neue portugiesische Gouverneur António de Albuquerque Coelho (1722–1725) in Lifau ein. Dieser verbannte Bischof Manuel de Santo António, der als schwieriger Charakter galt, von Timor. Er sollte bis zu seinem Tod 1733 nicht wieder auf die Insel zurückkehren. Die Verbannung von Manuel de Santo António führte zu Problemen, denn viele timoresische Verbündete hatten wenig Interesse, für einen Gouverneur zu kämpfen, der ihren verehrten Bischof fortgeschickt hatte. Albuquerque Coelho wurde drei Jahre lang von den Topasse unter Francisco da Hornay II. in Lifau belagert, ebenso wie für längere Zeit sein Nachfolger Macedo. Auch später residierten Bischöfe von Malakka immer wieder in Lifau. 1739 kam Bischof António de Castro nach Timor und gründete hier 1742 das erste Priesterseminar. 1743 verstarb er aber 36-jährig aufgrund des Klimas. Seine sterblichen Überreste wurden in Lifau beigesetzt. 1749 kam Bischof Geraldo de São José nach Lifau. Er soll 1760 unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen sein. Ein großes Problem für die Verwaltung der Kolonie waren die langen Entscheidungswege. 1723 beschwerten sich Händler aus Macau beim Vizekönig in Goa, dass Steuern, die Albuquerque Coelho für den Sandelholzhandel eingeführt hatte, die Fahrt zu den Inseln unrentabel machen würden. Die Beschwerde wurde an den König in Portugal weitergeleitet, der sie erst im August 1725 über seinen Staatssekretär an den Ministerrat im Überseeministerium zur Prüfung überwies. Nachdem dieser die Steuern als übertrieben einschätzte, wurde schließlich am 23. März 1726 der Vizekönig in Goa angewiesen, die Steuern wieder abzuschaffen. 1725 brach die Rebellion mit aller Kraft aus, als der Liurai von Lolotoe ablehnte, seine Fintas zu zahlen, und die portugiesischen Eintreiber nur mit Mühe nach Batugade fliehen konnten. Unter der Führung von Camenaça wurden Kirchen zerstört und Missionare und konvertierte Timoresen ermordet. Der gerade erst neu eingetroffene Macedo versuchte zunächst mit den Rebellen zu verhandeln, entsandte dann aber Truppen nach Cailaco, das als das Hauptquartier der Rebellen angesehen wurde. Die Pedras de Cailaco (Felsen von Cailaco), die Steilklippen des Berges Leolaco (), boten dem Reich eine natürliche Festung und galten als uneinnehmbar. Über 40 Tage belagerten die Portugiesen Cailaco vom 23. Oktober bis 8. Dezember 1726, mussten dann aber, auch aufgrund schwerer Regenfälle, aufgeben. Am 13. Januar 1727 lenkten einige Rebellenführer ein und unterzeichneten ein neues Bündnis mit den Portugiesen. 1730 zog Gouverneur Pedro de Melo (1728–1731) nach Manatuto und musste dort den Angriff von 15.000 Kriegern abwehren. Nach 85 Tagen gelang es ihm, die Belagerung zu durchbrechen. Zwar konnte er die Rebellen aus dieser Region nicht vertreiben, er schloss aber Bündnisse mit dem Liurai von Manatuto und anderen lokalen Herrschern – ein Umstand, der die spätere Verlagerung der kolonialen Hauptstadt von Lifau nach Dili erleichtern sollte. Bei seiner Rückkehr musste Melo feststellen, dass Topasse und Timoresen wieder Lifau belagerten. Nur das rechtzeitige Eintreffen von Melos Nachfolger Pedro de Rego Barreto da Gama e Castro (1731–1734) verhinderte, dass die Portugiesen Lifau aufgeben mussten. Gama e Castro gelang es bis 1732 mit Camenaça und anderen wieder Frieden zu schließen, aber immer wieder brachen neue Rebellionen aus. Als António Moniz de Macedo zu seiner zweiten Amtszeit 1734 antrat, wurde er überraschend freundlich vom Topasse-Führer und Capitão-Mor Gaspar da Costa begrüßt. Nochmals kam es 1737 zum Bündnis zwischen Portugiesen und Topasse. Dreimal versuchten die Topasse, die Niederländer von Timor zu vertreiben: 1735, 1745, 1749. 1748 hatte Amfo’an die Topasse angegriffen, worauf diese Amanuban und Amakono verwüsteten. Beide wechselten daraufhin in das Lager der VOC. Amakonos Herrscher floh mit seinen Männern nach Kupang, was als einer der Auslöser für den gemeinsamen Angriff von Portugiesen und Topasse am 18. Oktober 1749 auf Kupang gilt. Dieser endete, trotz Übermacht, in einem Desaster. Die Niederländer hatten ihre timoresischen Verbündeten und Marjdikers von Solor, Roti und Semau zur Hilfe gerufen. Die Marjdikers waren eine Mischbevölkerung aus verschiedenen „indischen Völkern“, die sich im Gegensatz zu den Topasse nicht zum katholischen Glauben bekannten. Sie etablierten sich im Handel zwischen den Inseln und unterstützten die Niederländer. Bei der Schlacht von Penfui (heute liegt dort der Flughafen Kupangs), am 9. November 1749 scheiterte ein letzter Versuch, die Niederländer aus Kupang zu vertreiben. Einer Streitmacht von 50.000 Mann unter Führung von Gaspar da Costa gelang es nicht, die 23 europäischen Soldaten und einige hundert einheimischen Verteidiger zu besiegen. Gaspar da Costa und viele weitere Führer der Topasse wurden getötet. Insgesamt sollen 40.000 Krieger der Topasse und ihrer Verbündeten umgekommen sein. Andere Literaturquellen sprechen von nur 2.000 Toten. Infolge der Niederlage brach die Herrschaft von Portugiesen und Topasse in Westtimor zusammen. Sogar Amarasi, einer der treusten Verbündeten der Portugiesen, wechselte die Seiten. Im April 1751 erhoben sich erneut Liurais aus Servião; einer Quelle nach soll Gaspar erst hier den Tod gefunden haben. In den folgenden Jahren schwankten die neuen Verbündeten der Niederländer nochmals. Topasse und Portugiesen konnten die Reiche von Amarasi und Amakono mit großen Versprechungen wieder zu einem Bündnis bewegen. Katholische Priester arbeiteten nach niederländischen Quellen mit „den schönsten Versprechungen“ und „den dunkelsten Drohungen“. Im März 1752 griff der niederländische Kommandant von Kupang, der Deutsche Hans Albrecht von Plüskow, das Reich von Amakono und kurz darauf auch Amarasi und das Topasse-Reich von Noimuti an. Der Kaiser von Amakono wurde nach Batavia ins Exil geschickt. Der Liurai von Amarasi ließ, eingekreist von seinen Feinden, sich und alle Frauen und Kinder von den eigenen Leuten töten. Über hundert Menschen starben. In Noimuti nahm Plüskow 400 Gefangene und eroberte 14 Kanonen. Auf Betreiben des VOC-Diplomaten Johannes Andreas Paravicini schlossen 48 Herrscher Solors, Rotis, Sawus, Sumbas und eines Großteils Westtimors 1756 Bündnisse mit der Niederländischen Ostindien-Kompanie. Dies war der Beginn der niederländischen Herrschaft im heute indonesischen Westtimor. Unter den Unterzeichnern war auch ein gewisser Jacinto Correa (Hiacijinto Corea), „König von Wewiku-Wehale“ und „Großfürst von Belu“, der auch im Namen von 27 ihm traditionell unterstehenden Reichen im Zentrum Timors den dubiosen Vertrag von Paravicini unterschrieb. Zum Glück für die Portugiesen war Wehale nicht mehr mächtig genug, alle lokalen Herrscher auf die Seite der Niederländer zu ziehen. So blieben 16 der 27 ehemaligen Vasallen Wehales im Osten unter der Flagge Portugals, während Wehale selbst unter niederländische Herrschaft fiel. Wirkliche Freude war den Niederländern mit ihrem Landgewinn jedoch nicht gegönnt, da sie trotzdem kaum Zugang zum lukrativen Sandelholz hatten. Nie gelang es ihnen, im Sandelholzhandel vergleichbare Gewinne wie die Portugiesen oder Chinesen zu erreichen. Als Francisco da Hornay III. die Führung der Topasse von seinem verstorbenen Vater João da Hornay 1757 übernahm, kam es zum Streit mit den Costas über den Anspruch. Beendet wurde der Zwist mit der Heirat Franciscos mit der Schwester von Domingos da Costa II. und der Ernennung Domingos zum Generalleutnant. António da Costa, der jüngere Bruder von Domingos, wurde Herrscher von Noimuti. Larantuka wurde von Dona Maria, der Schwester von João, kontrolliert. Die Niederländer nutzten die Gelegenheit. Sie bewogen Maria dazu, einen attraktiven niederländischen Beamten zu heiraten, und brachten Larantuka somit in die Einflusssphäre des VOC. 1759 entschied sich Gouverneur Vicento Ferreira de Carvalho (1756–1759) aufgrund der Situation, aufzugeben und Lifau eigenmächtig an die Niederländer zu verkaufen. Als die Niederländer 1760 unter Hans Albrecht von Plüskow aber Besitz von dem Ort nehmen wollten, sahen sie sich einer Streitmacht der Topasse gegenüber. Von Plüskow wurde von Francisco da Hornay III. und António da Costa ermordet. Inwieweit der neue portugiesische Gouverneur Sebastião de Azevedo e Brito (1759–1760) an der Abwehr beteiligt war, ist in den Quellen widersprüchlich angegeben. Das Verhältnis zwischen Gouverneur und Dominikaner hatte sich zu diesem Zeitpunkt deutlich verschlechtert. Schließlich ließ der Dominikaner Jacinto da Conceição den Gouverneur Azevedo e Brito arrestieren und schob ihn nach Goa ab. Bruder Jacinto da Conceição übernahm zusammen mit einem Regierungsrat (Conselho Governativo) mit Vicente Ferreira de Carvalho und Dom José, dem Liurai von Alas, die Verwaltung der Kolonie (1760–1761). Doch Jacinto da Conceição wurde von einem Mitverschwörer ermordet. Ab 1762 wurde der Regierungsrat von Bruder Francisco de Purificação und Francisco da Hornay III. geführt. 1763 traf der neue Gouverneur Dionísio Gonçalves Rebelo Galvão auf Timor ein, doch er starb am 28. November 1765. Er wurde von Francisco da Hornay III. vergiftet. Wieder übernahmen die Dominikaner, diesmal unter António de São Boaventura mit José Rodrigues Pereira, die Verwaltung der Kolonie. Da Francisco da Hornay III. von der Macht ausgeschlossen wurde, belagerte er ab 1766 Lifau. Mit seinem Verwandten António da Hornay II. schloss Francisco ein Bündnis und beendete so die zeitweilige Teilung der Topasse mit dem Ziel, die Portugiesen endgültig von Timor zu vertreiben. 1768 landete in Lifau der neue portugiesische Gouverneur António José Teles de Meneses (1768–1776) mit einem Bataillon, das in Sikka rekrutiert wurde. Doch auch diese Verstärkung brachte keine Wende mehr. Angesichts der andauernden Belagerung gab Teles de Meneses Lifau am 11. August 1769 schließlich auf und verließ auf Schiffen mit 1.200 Menschen Lifau in Richtung Osten. Am 10. Oktober begann der Gouverneur mit dem Ausbau Dilis zum neuen Verwaltungssitz. Kurz darauf schworen hier 42 Liurais Portugal die Treue, darunter der einflussreiche Dom Felipe de Freitas Soares, Herrscher von Vemasse, und Dom Alexandre, Herrscher von Motael, der Portugal vertraglich die gesamte Ebene von Dili bis zu den umgebenden Bergen übertrug. Durch die vorhergehenden Kontakte der Dominikaner mit den timoresischen Herrschern, wobei bereits Missionen in Manatuto und Viqueque gegründet worden waren, konnte sich Portugal zu dieser Zeit auf eine relativ große Unterstützung durch die Liurais stützen. Dies war später nicht mehr der Fall. Francisco da Hornay bot den Niederländern Lifau an, doch diese lehnten nach reiflicher Überlegung ab. Das Ringen um die endgültige Grenze Zur Gründungszeit Dilis herrschte auf Timor ein Gleichgewicht der Kräfte zwischen Portugiesen, Holländern und Topasse. Portugal beherrschte die Nordküste Timors von Batugade bis Lautém, mit Ausnahme von Maubara, wo die Holländer 1756 ein Fort errichtet hatten. Die portugiesische Herrschaft stützte sich auf einheimische Verbündete. Südlich von Dili waren es Motael, Dailor, Atsabe und Maubisse. Westlich unterstützten die Reiche Ermera, Liquiçá und Leamean die Portugiesen. Im Osten fanden sie Verbündete in Hera und Vemasse. Die Grenze zu Westtimor sicherten die Reiche von Servião, Cowa und Balibo und im Südosten, jenseits der Bergkette, zählten zu dieser Zeit die Reiche von Samoro, Lacluta und Viqueque zu den Alliierten Portugals. Lücken im Bündnissystem fanden sich aber an der Südküste und im Osten. Grundsätzlich war Timor nun in einen Machtbereich der Niederländer im Westen, ausgenommen dem Gebiet der Topasse, und eine portugiesische Einflusssphäre im Osten geteilt. Die Sandelholzvorkommen auf der Insel hatten bereits um 1710 aufgrund der übermäßigen Abholzung deutlich abgenommen. Durch die Cailaco-Rebellion und den Einstieg chinesischer Händler aus Kanton in den Handel zwischen China, Timor und Batavia im Jahr 1723 wurde der Handel von Macau aus unprofitabel. Und auch die Niederländische Ostindien-Kompanie entschied sich 1752 angesichts deutlicher Verluste, ihr Monopol auf den Sandelholzhandel aufzugeben und jedem gegen eine Kommission zu erlauben, Sandelholz zu schlagen. Folge war, dass der Sandelholzhandel endgültig unter die Kontrolle chinesischer Händler fiel. Nur noch ein bis zwei Schoner liefen Kupang jährlich von Batavia aus an und brachten verschiedene Stoffe, die sie gegen Wachs, Schildkrötenpanzer, etwas Sandelholz und Bohnen eintauschten. Laut einem französischen Bericht von 1782 reichte der Profit gerade mal aus, um die Kosten zu decken. Gouverneur João Baptista Vieira Godinho (1785 bis 1788) versuchte, das chinesische Monopol zu brechen, indem er einen freien Handel zwischen Timor und Goa befürwortete. 1785 hatte Dili, zumindest nominell, die Hoheit über die Handelszölle in Portugiesisch-Timor. Dies war wichtig, weil die Gehälter des Gouverneurs und der Beamten von diesen bestritten wurden – ein Umstand, der später zu Zahlungsschwierigkeiten führen sollte. An der Nordküste entstanden mehrere Zollstationen, die auch den Besitzanspruch der Portugiesen dokumentierten. Durch die Handelserleichterungen siedelten sich nun vermehrt auch portugiesische und armenische Familien an. 1779 wurde Gouverneur Caetano de Lemos Telo de Meneses (1776 bis 1779) nach Mosambik verbannt. Ihm wurde vorgeworfen, er habe durch geradezu krimineller Nachlässigkeit den Brand des Archivs von Dili verursacht, der einen Großteil der Aufzeichnungen über die Kolonie zerstörte. Dazu kamen massive Beschwerden über die Amtsführung, so durch den Bischof von Macau, der sich bereits 1777 in einem Schreiben über das skandalöse Benehmen des Gouverneurs beklagte. 1777 (nach anderen Quellen 1776, 1779 oder 1781) erhob sich auch das Reich von Luca, aufgrund von Repressionen gegen die animistischen Religion, in einer bis 1785 dauernden Revolte gegen die portugiesischen Kolonialherren, die der „Krieg der Verrückten“ () genannt wurde. Eine „Prophetin“ hatte den Kriegern verkündet, dass die Ahnen sie unterstützen würden, um das Joch der Fremden abzuschütteln. Die Krieger hielten sich für unverwundbar. Viqueque unterstützte die Portugiesen bei der Niederschlagung der Rebellion. Ähnliche Gruppierungen, die im Kampf versuchen, sich mit magischen Ritualen zu schützen, finden sich noch heute in Osttimor. Die Rebellion wurde von Gouverneur Godinho erfolgreich niedergeschlagen. Auch Lifau konnte Godinho 1785 bewegen, sich wieder unter portugiesische Herrschaft zu stellen. Auf Solor garantierte er dem Topasse-Führer Pedro da Hornay seinen Titel und Status als Generalleutnant (tenente general), ebenso dessen Neffen Dom Constantino do Rosario, dem König von Solor. Dom Constantino garantierte daraufhin seine Loyalität für Portugal und bot Unterstützung bei der Verteidigung Dilis. Pedro da Hornay ging aufgrund des Bündnisses mit Godinho militärisch gegen die Niederländer vor, was aber zu diesem Zeitpunkt vom Vizekönig von Goa nicht gutgeheißen wurde. Der allgemein als fähiger Gouverneur angesehene Godinho wurde vorzeitig abberufen. Ein Schritt, den Goa später bedauerte. Sein Nachfolger, Gouverneur Feliciano António Nogueira Lisboa (1788 bis 1790) geriet bald in Streit mit dem Vertreter der katholischen Kirche in Manatuto, dem Mönch Francisco Luis da Cunha. Beide beschuldigten sich gegenseitig unter anderem der Raubüberfälle und des Diebstahls von Zolleinnahmen. Um den Gouverneur loszuwerden, wiegelte der Mönch die Einwohner Manatutos zur Rebellion auf. Christianisierte Timoresen drohten die Revolte auf ganz Belu auszudehnen. Schließlich griff der Vizekönig von Goa durch, ließ beide Männer verhaften und von Timor ausweisen. Der neue Gouverneur Joaquim Xavier de Morais Sarmento (1790 bis 1794) brachte die Lage wieder unter Kontrolle. Inzwischen griff der Topasse-Herrscher Pedro da Hornay 1790 im Auftrag Portugals erfolglos Maubara an, womit er nur erreichte, dass das Reich westlich von Dili sein Bündnis mit den Niederlanden erneuerte und als Symbol die Flagge der Niederlande setzte. Auch die Niederländer hatten mit Rebellionen in den 1750er und 1780er Jahren zu kämpfen. Am schlimmsten war der erneute Verlust von Groß-Sonba’i, das nun als unabhängiges Reich sich zwischen Niederländern und Portugiesen bewegte. Um 1800 verfügte Portugal über etwa 40 Militärposten entlang der Küste und ein Militärlager mit 2000 einheimischen Soldaten, die von portugiesischen Offizieren kommandiert wurden. Teilweise waren diese auch indische Sepoys. Die 50 bis 60 Offiziere lebten zumeist in Dili, einige waren aber auch in den Außenposten stationiert. In erster Linie sollten sie niederländischen Ambitionen im Osten Timors vorbeugen, allerdings war die Befestigung Dilis lange Zeit mangelhaft und die Kanonen befanden sich zumeist in schlechtem Zustand. In Manatuto war eine Kompanie von Moradores stationiert, die Portugals Einfluss im wichtigen Zentrum des Herrschaftsbereichs sicherten. Aufgrund des chronischen Personalmangels wurde für die unteren Ränge in der Verwaltung sogar auf Deportierte aus Goa zurückgegriffen. Aber Timoresen kamen in dieser Zeit auch ungewollt nach Goa. Dom Felipe de Freitas, der uneheliche Sohn des Liurais von Vemasse, wurde 1803 von Gouverneur João Vicente Soares da Veiga (1803 bis 1807) als erster timoresischer Rebell nach Goa verbannt. Bis dahin war diese Strafe nicht üblich gewesen. 1807 brach in Venilale eine Revolte aus, als der Liurai Cristóvão Guterres ungerechterweise verhaftet wurde. Erst in Goa wurde er von einem Gericht freigesprochen. Nach dem Tod von Gouverneur António Botelho Homem Bernardes Pessoa, gleich in seinem ersten Amtsjahr, war von 1810 bis 1812 die Stelle des Gouverneurs vakant und ein Conselho Governativo führte die Geschicke der Kolonie. Die Macht lag in den Händen von Dom Gregório Rodrigues Pereira, dem Liurai von Motael, Oberstleutnant (tenente-coronel) Joaquim António Veloso und José de Anunciação, dem Bischof, der zu dieser Zeit in Manatuto residierte. Gegen diese Parteien musste sich der neue Gouverneur Vitorino Freire da Cunha Gusmão (1812 bis 1815) zuerst durchsetzen. Zwischenzeitlich rebellierten Lacluta, Maubara und Cailaco 1811 gegen die Tributzahlungen. Großbritannien hielt zwischen 1811 und 1816 die niederländischen Besitzungen auf Timor besetzt, um französischen Versuche sich im Rahmen der Napoleonischen Kriege hier festzusetzen, vorzubeugen. Tatsächlich gab es in Frankreich bereits Ende des 18. Jahrhunderts Überlegungen sich in der Region Gebiete anzueignen, letztendlich wurden diese Bestrebungen aber nie über einige Forschungsexpeditionen hinaus vorangetrieben. Nach der Rückkehr der Oranier auf den niederländischen Thron erhielten die Niederländer am 7. Oktober 1816 ihre timoresischen Besitzungen zurück. Das mit den Briten verbündete Portugal nutzte die Gelegenheit seine Ansprüche auf den Flusshafen von Atapupu, zwischen Oe-Cusse Ambeno und Batugade, zu erneuern und übernahm 1812 die Kontrolle. Atapupu wurde zu einer Haupteinnahmequelle an Zolleinnahmen für die portugiesische Kolonie. 1814 wurden noch mehrere Besitzungen der Portugiesen auf den Kleinen Sundainseln von Dili aus verwaltet. Neben Portugiesisch-Timor waren dies die Reiche von Sikka, Larantuka und Noumba auf Flores, Solor, die beiden Reiche auf Alor, Lembata (Lomblen), Pantar, Adonara und ein paar weitere kleinere Besitzungen. Gouverneur José Pinto Alcoforado de Azevedo e Sousa (1815 bis 1820) musste eine Rebellion in Batugade niederschlagen. Dass die Niederländer die Insel Pantar besetzten, konnte er genauso wenig verhindern, wie die Besetzung Atapupus am 20. April 1818 durch 30 niederländische Soldaten, die im Auftrag von Hazaert, ihres Kommandanten in Westtimor, den Flusshafen im Handstreich in Besitz nahmen und die portugiesische Flagge durch die Flagge der Niederlande ersetzten. Hinter der Besetzung standen Ambitionen chinesische Händler aus Kupang, die sich auf diese Weise die von Portugal geforderten Zölle sparen wollten. Atapupu war ein wichtiger Hafen für kleinere Schiffe und eine Hauptquelle an Zolleinnahmen für die Portugiesen. Gouverneur Alcoforado de Azevedo e Sousa beschwerte sich in Batavia über Hazaerts eigenmächtige Besetzung, sein Bestreben Batugade zu erobern und dafür die lokalen Herrscher und die chinesischen Händler gegen die Portugiesen aufzurühren. Alcoforado de Azevedo e Sousa drohte mit Truppen gegen die Niederländer auf Timor vorzugehen und forderte finanzielle Entschädigungen. Die Kommission befand aber, dass die Portugiesen den Sachverhalt falsch angegeben hätten und rehabilitierte Hazaert, der 1820 in sein Amt in Kupang zurückkehrte. Es wird vermutet, dass sich Portugal für den Verlust revanchierte, indem es den rebellischen Herrscher von Amanuban in Westtimor mit Männern und Waffen unterstützte. 1832 verstarb der langjährige Gouverneur Manuel Joaquim de Matos Góis (1821 bis 1832) in Dili. Ein Conselho Governativo übernahm die Verwaltung, zu dem Francisco Inácio de Seabra, Bruder Vicente Ferreira Varela und José Pereira de Azevedo gehörten. Noch im selben Jahr traf der neue Gouverneur Miguel da Silveira Lorena in der Kolonie ein, doch auch er starb kurz nach seiner Ankunft. Wieder übernahm der Conselho Governativo, indem es aber zum Streit kam. Vicente Ferreira Varela ließ die beiden anderen Mitglieder des Rates verhaften und führte nun die Geschäfte alleine weiter, bis der neue Gouverneur José Maria Marques (1834 bis 1839) in Dili ankam. 1838 gründeten die Briten die Siedlung Port Essington im Gebiet des heutigen australischen Northern Territorys. Die Siedler mussten mit vielen Schwierigkeiten kämpfen. Nachdem sie sich schon zuvor von der niederländischen Kolonie auf Kisar mit Nahrungsmitteln versorgt hatten, brachten sie Anfang 1839 Wasserbüffel, Timor-Ponys und einige englische Zeitungen von Dili nach Port Essington. Am 13. Februar besuchte der britische Kommandant Sir James J. Gordon Bremer Dili und versicherte sich vom dortigen Gouverneur Frederico Leão Cabreira (1839 bis 1844) weitere Hilfe für die neue Siedlung aufgrund des alten Bündnis zwischen den beiden Kolonialmächten. Auch wenn Port Essington von den Briten bereits 1849 wieder aufgegeben wurde, bedeutete die Erneuerung der Allianz mit den Briten für Portugal eine zusätzliche Unterstützung gegen den Expansionsdruck durch die Niederländer in dieser Region. Am 20. September 1844 wurde Macau zusammen mit Portugiesisch-Timor und Solor als eigenes Generalgouvernement von Goa abgetrennt. Im selben Jahr erklärte man die portugiesischen Häfen Timors zu Freihäfen, das heißt auch Schiffe anderer Nationen durften nun in den Häfen anlegen, um zu handeln. Dili profitierte dabei von den Ein- und Ausfuhrzöllen. 1846 begannen die Niederlande mit Portugal Gespräche über die Übernahme portugiesischer Territorien, doch Portugal lehnte zunächst jedes Angebot ab. 1847 kam es zum Streit um die Zugehörigkeit der Inseln Pantar und Alor. Der Liurai von Oecussi aus dem Hornay-Clan beanspruchte sie als Teil seines Herrschaftsgebiets, die somit unter portugiesische Oberhoheit fielen. Die Niederländer aus Kupang forderten ihrerseits die beiden Inseln. Gouverneur Julião José da Silva Vieira (1844 bis 1848) wies dies zurück und unterstützte den Liurai in seinem Anspruch. Beide Seiten verstärkten ihre Truppen auf Timor, doch es war klar, dass Portugal hier sowohl finanziell als auch kräftemäßig auf verlorenem Posten stand. 1850 schlugen die Niederlande erneut Verhandlungen über die Grenzziehung auf den Kleinen Sundainseln vor. Aber auch beim Schutz der Kolonie vor äußere Bedrohungen zeigte sich die militärischen Schwäche der Portugiesen. So attackierten 1847 vermutlich buginesische Piraten oder Sklavenjäger einen Ort in der heutigen Gemeinde Lautém, was in dieser Zeit nicht ungewöhnlich war. Gouverneur Silva Vieira entsandte eine Militärexpedition, die aber von den Piraten geschlagen wurde. Drei Soldaten wurden dabei getötet. Noch viereinhalb Monate gelang es dann den 70 Buginesen sich einer Belagerung durch 3000 Krieger zu erwehren, die die lokalen Herrscher zusammengezogen hatten. Der nachfolgende Gouverneur António Olavo Monteiro Tôrres (1848 bis 1851) sah sich mit nur 120 (meist timoresischen) Soldaten einem Aufstand eines Abtrünnigen Moradores in Ermera gegenüber. 6000 Krieger verwüsteten Ermera und töteten den dortigen Liurai und 60 seiner Anhänger. Gouverneur Tôrres war gezwungen, den Liurai von Oecussi um Hilfe zu bitten, der daraufhin das mit den Rebellen verbündete Reich von Balibo angriff. Bei dieser Gelegenheit setzten sie in Janilo (Djenilo) die portugiesische Flagge, was wiederum die Niederländer auf den Plan rief, die befürchteten, dass der Hafen von Atapupu seine Verbindung zum Landesinneren verliert. Verhandlungen zur Beilegung der Grenzstreitigkeiten, die auf portugiesischer Seite José Joaquim Lopes de Lima führte, blieben erfolglos. Zur selben Zeit beklagten sich Herrscher von Pantar und Alor, Oecussis Herrscher würden in innere Konflikte auf den Nachbarinseln eingreifen und diese für Portugal beanspruchen. Tôrres widerrief die Ansprüche. Am 30. Oktober 1850 erhielten die portugiesischen Besitzungen auf den Kleinen Sundainseln den Status einer autonomen Provinz, die Lissabon direkt unterstellt war. Der Grund dafür soll die Ernennung von José Joaquim Lopes de Lima (1851 bis 1852) zum Gouverneur der Kolonie gewesen sein, der am 23. Juni 1851 in Dili ankam. Er war zuvor bereits einstweiliger Generalgouverneur von Goa (Governador Geral Interino), eine Ernennung zum einfachen Distriktsgouverneur (Governador Subalterno) wäre einer Degradierung gleichgekommen. Ein weiterer Grund war die Entfernung nach Macau, was schnelle Entscheidungen unmöglich machte. Man unterstellte die Kolonie der direkten Kontrolle der Zentralregierung, gründete in Dili einen Regierungs- und Finanzrat und nahm zwei Timoresen in die Kolonialregierung auf. Lopes de Lima entsandte eine Strafexpedition gegen das Reich von Sarau, das im Verdacht stand, mit den buginesischen Piraten zusammenzuarbeiten. Die Vergeltungsaktion über acht Monate, bei der auch das Kanonenboot Mondego eingesetzt wurde, brachte schließlich eine Entschädigungssumme von 2000 Rupien ein. Die Köpfe der gefallenen Gegner wurden nach Dili zurückgebracht und beim Likurai-Tanz zur Schau gestellt. Die timoresische Praxis wurde von den Portugiesen auch in den folgenden Jahren immer wieder bei Rebellionen zur Abschreckung genutzt. 1851 wurde von Niederländern und Portugiesen eine Kommission entsendet, die die Besitzstreitigkeiten klären sollte. Im Juli einigte sich Lopes de Lima mit Baron von Lynden, dem niederländischen Gouverneur von Kupang, in Dili über die kolonialen Grenzen in der Region, jedoch ohne Autorisierung durch Lissabon. Darin wurden die portugiesischen Ansprüche auf den größten Teil Westtimors endgültig zu Gunsten der Niederländer aufgegeben, wofür die niederländische Exklave Maubara im Osten an Portugal gehen sollte. Solor, Pantar, Alor und der Portugal verbliebene Ostteil von Flores wurden an die Niederländer verkauft. Grund für die eigenmächtige Entscheidung Lopes de Limas war der Bankrott der portugiesischen Kolonie. Die Beamten hatten seit zwei Jahren keinen Lohn mehr erhalten, das Kriegsschiff Mondego war reparaturbedürftig und Lopes de Lima wollte einige Schoner ankaufen, um den Handel wieder in Schwung zu bringen. Daher verlangte er auch eine sofortige Auszahlung einer ersten Rate von 80.000 Florins der 200.000 Florins Gesamtsumme. Man muss Lopes de Lima auch zugutehalten, dass die Besitzungen auf Flores eher ein Verlustgeschäft waren und die Wirtschaftsbeziehungen zu den anderen Inseln auch nur noch vage bestanden. Wie zu erwarten stand, fiel der portugiesische Gouverneur in Ungnade, als Lissabon von dem Vertrag erfuhr, auch wenn die verkauften Gebiete eher eine Last als einen Gewinn für das portugiesische Kolonialreich darstellten. Am 8. September 1852 traf Lopes de Limas Nachfolger Manuel de Saldanha da Gama (1852 bis 1856) an Bord der Mondego in Dili ein, ließ seinen Vorgänger in Arrest nehmen und schickte ihn nach Lissabon zurück. Lopes de Lima starb allerdings auf der Rückreise in Batavia an einem Fieber. Die Kolonie wurde am 15. September 1851 wieder der Oberhoheit Macaus unterstellt, doch die Vereinbarungen mit den Niederländern konnten nicht mehr rückgängig gemacht werden, auch wenn der Vertrag über die Grenzen ab 1854 neu verhandelt und erst 1859 als Vertrag von Lissabon endgültig unterzeichnet wurde. Die verschiedenen kleinen Königreiche Timors wurden unter der niederländischen und portugiesischen Autorität aufgeteilt. Die Niederländer traten Maubara an die Portugiesen ab (April 1861) und erkannten deren Ansprüche auf Oecussi und Noimuti an. Dafür akzeptierten die Portugiesen die niederländische Oberhoheit über Maucatar und Lamaknen. Damit hatte der Vertrag einige Schwachpunkte. Mit Maucatar und Noimuti verblieb je eine Enklave ohne Meereszugang jeweils im Territorium der anderen Seite. Zudem waren die ungenauen Grenzen der timoresischen Reiche und ihre traditionellen Ansprüche Grundlage für die koloniale Grenzziehung. Zwischen 1889 und 1892 wurde behauptet, dass portugiesische Beamte Timoresen im niederländischen Gebiet misshandelt hätten, was zu weiteren Spannungen zwischen den Kolonialmächten führte. Mit der Lissabon-Konvention, die am 10. Juni 1893 unterzeichnet wurde und einer Deklaration vom 1. Juli wurde eine Expertenkommission „zur Entwicklung von Zivilisation und Handel“ und zur Auflösung der noch existierenden Enklaven eingerichtet. Falls es dabei zu Schwierigkeiten käme, sollte ein Vermittler eingeschaltet werden. Die Vorwürfe gegen die portugiesischen Beamten wurden zurückgenommen. Die Kommission besuchte Timor und kam zwischen 1898 und 1899 zu einer Einigung über den Großteil des Grenzverlaufs. Ungelöst blieb vor allem das Problem mit den vom Meer abgetrennten Enklaven Noimuti und Maucatar. Dafür einigte man sich, Ansprüche dritter Nationen zu Gunsten des Vertragspartners gemeinsam zurückzuweisen. Der Wunsch nach einem Vorkaufsrecht für Osttimor war auch der ursprüngliche Grund, weswegen die Niederlande nun erneut in Verhandlungen mit Portugal traten. Es gab Gerüchte, dass Russland und Deutschland eine Kohlestation in Portugiesisch-Timor einrichten wollten, beziehungsweise, dass die Kolonie gegen die Anerkennung portugiesischer Ansprüche in Afrika mit Deutschland, Frankreich oder Großbritannien getauscht werden könnte. Tatsächlich vereinbarten am 30. August 1898 Deutschland und Großbritannien im Angola-Vertrag eine gemeinsame Anleihe für das hochverschuldete Portugal, für welche die portugiesischen Kolonien als Pfand vorgesehen waren. Im Falle einer Zahlungsunfähigkeit, wäre Portugiesisch-Timor an Deutschland gefallen. Bereits 1899 wurde der Vertrag aber durch die Verlängerung der britischen Schutzgarantie für Portugal und all seine Besitzungen unterlaufen. 1897 kam es Kämpfen um Lamaknen zwischen Lamaquitos, das unter portugiesischer Oberhoheit stand, und dem niederländisch dominierten Lakmaras. In Lakmaras selbst kam es zu Scharmützeln zwischen den beiden Kolonialtruppen, bei denen es Tote gab. Zwischen dem 23. Juni und dem 3. Juli 1902 konferierte man in Den Haag erneut. Es wurde gestritten, ob Oe-Cusse Ambeno Teil der Lissabon-Konvention über den Austausch der Enklaven sei oder nicht. Portugal widersprach, da das Gebiet einen Küstenverlauf hat und daher nicht unter die Definition einer Enklave falle. Der Anspruch der Niederländer auf Maucatar wurde bisher mit der Oberhoheit über Lakmaras begründet, das eine Verbindung zu Maucatar schuf. Zwischenzeitlich war Lakmaras aber Untertan des Reiches von Lamaquitos im portugiesischen Machtbereich geworden und Maucatar müsste nach den bisherigen Vereinbarungen als Enklave an Portugal fallen. Andererseits war das Reich von Tahakay (Tahakai, Tafakay, Takay) zwischenzeitlich an das Reich von Lamaknen gefallen. Tahakay gehörte aber zur portugiesischen Einflusssphäre, Lamaknen zur niederländischen. Portugal wehrte sich in den Verhandlungen gegen diesen Verlust und forderte daher nun die gesamten niederländischen Gebiete im Zentrum Timors. Mit der Den Haag-Konvention vom 1. Oktober 1904 wurde ein Kompromiss geschlossen. Portugal sollte die niederländische Enklave Maucatar erhalten, im Austausch für die portugiesische Enklave Noimuti und die Grenzgebiete Tahakay, Tamira Ailala (Tamiru Ailala) und Lamaknen. Die umstrittenen Gebiete im Osten von Oe-Cusse Ambeno wurden den Niederländern zugesprochen. Portugal ratifizierte den Vertrag bis 1909, doch dann kam es zum Streit um die Grenzziehung an der Ostgrenze von Oe-Cusse Ambeno. 1910 nutzten die Niederlande die unübersichtliche Situation nach dem Sturz der portugiesischen Monarchie, um sich Lakmaras erneut mit europäischen und javanischen Truppen anzueignen. Im Februar 1911 versuchte Portugal der Konvention von 1904 folgend Maucatar zu besetzen. Jedoch sah es sich im Juni einer überlegenen niederländischen Streitmacht aus ambonesischer Infanterie, unterstützt von europäischen Soldaten, gegenüber. Am 11. Juni besetzten Portugiesen Lakmaras, doch am 18. Juli drangen auch hier niederländische und javanische Truppen ein. Drei Mosambikaner starben dabei, Unterleutnant Francisco da Costa und seine Männer wurden gefangen genommen. Nach dem Sieg der Niederländer strebten die Portugiesen nun eine friedliche Einigung an. Sie gerieten bald darauf auch durch die Rebellion von Manufahi in Bedrängnis, was sie verhandlungsbereit machte. Nach einem längeren Briefwechsel zwischen den Kabinetten der Länder kam man in der Konvention von 1913 zur Übereinkunft, die Entscheidung über die Streitigkeiten einem Schlichter zu überlassen. Am 25. Juni 1914 fällte der Schweizer Richter Charles Édouard Lardy vom Ständigen Schiedshof in Den Haag einen Schiedsspruch (Sentenca Arbitral). Zwar waren sowohl koloniale, als auch einheimische Vertreter zur Grenzziehung befragt worden, da man aber die innertimoresischen Streitigkeiten als zu konfliktgeladen ansah, orientierte sich der Schiedshof an den bestehenden kolonialen Gegebenheiten. Folge war, dass ein späterer Militärverwalter berichtete, dass die Grenze für die lokale Bevölkerung ohne großen Belang war, da in den der Niederlande überlassenen Gebieten oft Freunde und Verwandte der Bevölkerung Oe-Cusse Ambenos lebten. Die Landvermessungsarbeiten wurden im April 1915 beendet. Am 17. August 1916 wurde der Vertrag in Den Haag unterzeichnet, der die weitgehend heute noch bestehende Grenze zwischen Ost- und Westtimor festlegte. Am 21. November wurden die Gebiete ausgetauscht. Noimuti, Maubesi, Tahakay und Taffliroe fielen an die Niederlande. Maucatar ging an Portugal, was in dem timoresischen Reich eine Panik auslöste. Vor der Übergabe an die Portugiesen zerstörten dort 5.000 Einheimische ihre Felder und siedelten nach Westtimor über. In Tamira Ailala wäre man lieber bei Portugal geblieben, während die Herrscher von Tahakay den Wechsel zu den Niederländern begrüßten. In Noimuti war die Stimmung gespalten. Die Dili vorgelagerte Insel Atauro war bereits im Vertrag von 1859 den Portugiesen überlassen worden, doch erst 1884 wurde die portugiesische Flagge in einer Zeremonie auf der kleinen Insel gesetzt und erst ab 1905 zahlten die Bewohner Abgaben an Portugal. Es grenzt an Ironie, dass beide Kolonialmächte erst wenige Jahre zuvor einigermaßen Kontrolle über die Gebiete gewonnen hatten, über die sie seit Jahrhunderten stritten. Portugal gelang dies mit dem Sieg über Boaventura 1912, die Niederländer mussten sogar bis 1915 fast jedes Jahr Militärexpeditionen ins Landesinnere entsenden, meist gegen das Reich von Amanuban. Noch 1862 spottete Portugals Gouverneur Afonso de Castro (1859 bis 1863): „Unser Imperium auf dieser Insel ist nichts anderes als Fiktion.“ Das Gerangel um die Grenze zwischen Portugal und den Niederlanden und die Zugehörigkeit der einheimischen Bevölkerung zum Westen oder Osten hat bis in die heutige Zeit reichende Folgen. Verschiedene Ethnien, die Teil des Wehale Königreichs oder dessen enge Verbündete waren, wurden durch die Grenze geteilt. So leben heute Teile der nördlichen Tetum, der Bunak und der Kemak sowohl im indonesischen Westtimor als auch im unabhängigen Osttimor. Traditionell machen sich Teile dieser Völker noch immer Gedanken über ein vereintes Timor. Nutzten die Indonesier früher diese Tendenz, um den Anschluss Osttimors an Indonesien voranzutreiben, so warnte man später in Indonesien vor der Unabhängigkeit Osttimors aus Sorge vor sezessionistischen Tendenzen Westtimors und der Idee eines vereinigten und unabhängigen „Groß-Timors“ (Timor Raya). Diese Tendenzen sind aber in der Bevölkerung Timors nicht sehr ausgeprägt und auch die großen Parteien Osttimors unterstützen diese Idee nicht. Koloniale Verwaltung und Kirche Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verfügten die Kolonialmächte nicht über eine wirkliche Regierungsgewalt, sondern mehr über Einflusssphären, in denen die einheimischen Liurais die absolute Macht über ihre Reiche hatten und diese über innenpolitische, wirtschaftliche und rituelle Allianzen der Königreiche und Stammesgebiete festigten. Solche Allianzen wurden in der Regel durch Hochzeiten geknüpft, wodurch die Kolonialmächte bei der Bündnissuche grundsätzlich benachteiligt waren, ein Umstand, in dem die Portugiesen das größte Hindernis für ihre Kontrolle über Osttimor sahen. Die Niederlande beherrschten 1878 real nur einen schmalen Küstenstreifen an der Bucht von Kupang, in dem hauptsächlich Einwanderer von Roti und Sawu lebten. Ähnlich sah es im portugiesischen Timor aus. Auch nachdem die Portugiesen ihren Einfluss bis in das Inselinnere ausgedehnt hatten, Bestand die Kontrolle über das Gebiet nur indirekt über die Liurais. Portugal nutzte dabei das Prinzip „Teile und herrsche“, wodurch die Kolonialmacht mit einer geringen Streitmacht seine Herrschaft aufrechterhalten konnte. Mit Widerstand und Rebellionen der Liurais war aber ständig zu rechnen, weswegen immer wieder militärische Expeditionen notwendig waren. Zwischen 1847 und 1913 mussten die Portugiesen mehr als 60 bewaffnete Expeditionen entsenden, um die Timoresen im Inselinneren und im Süden endgültig zu unterwerfen. Kriege zwischen den Timoresen, Kopfjagd, Sklavenhandel oder Viehdiebstahl konnten die Portugiesen in dieser Zeit nicht unterbinden. Dafür verstanden auch die Timoresen sich darin, die beiden Kolonialmächte auf der Insel gegeneinander auszuspielen. Drohte eine Strafaktion, wechselten vor allem im Grenzgebiet die Liurais einfach ihren Bündnispartner und stellten sich unter den Schutz der anderen Seite. Allgemein waren die Timoresen nicht sehr angetan von der portugiesischen Präsenz und ihrer militärischen Strenge, weswegen es immer wieder zu Revolten kam. So leisteten die Kemak-Herrscher aus Atsabe (in der heutigen Gemeinde Ermera) wiederholt Widerstand gegen die Europäer, wobei auch lokale Machtkämpfe eine Rolle spielten. Interessanterweise hatten viele der Revolten gegen die Portugiesen ihren Ursprung im Westen von Osttimor, an der Grenze zu den niederländischen Besitzungen. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts gelang es Portugal zunehmend, seine koloniale Kontrolle auszudehnen. Zwischen dem späten 19. Jahrhundert und dem frühen 20. Jahrhundert entwickelten die Portugiesen ein neues politisches System für die Kolonie. 1860 teilte Gouverneur Afonso de Castro erstmals die Kolonie mit ihren etwa 150.000 Einwohnern in zehn Distrikte, zu denen 1863 noch Oecussi als elfter dazu kam. Jeder Distrikt wurde einem Kommandanten mit militärischen und zivilen Vollmachten zugeordnet, dessen Aufgaben und Pflichten in 39 Artikeln von Castro festgelegt wurden. Die Kommandanten waren als verlängerter Arm des Gouverneurs für den Frieden in ihren Distrikten verantwortlich und mussten mindestens alle zwei Monate eine Inspektionsreise durch alle Reiche in ihrem Distrikt unternehmen. Dabei mussten sie sich über alle Vorfälle informieren und konnten auch die Bewohner wegen Vergehen bestrafen. Nur gegen die Liurais durfte allein der Gouverneur Strafen verhängen. Die Kommandanten waren zudem für die Steuereintreibung und den Aufbau der Kaffeeanpflanzungen verantwortlich. Jedes Reich musste dem Distriktskommandanten fünf Mann für die Distriktsgarde abtreten. Diese Soldaten erhielten eine europäische Ausbildung, wurden eingekleidet und bewaffnet. Außerdem stellte jedes Reich einen Mann als Diener für den Kommandanten sowie Pferde und Mannschaften für die Inspektionsreise. Geschenke durften die Kommandanten von den Liurais nicht annehmen. 1894 wurde erstmals eine eigene Währung eingeführt, der Pataca, der gleichwertig mit dem Pataca Macaus war. Eine reguläre, portugiesische Militäreinheit wurde in der Kolonie erst ab 1818 nach einer Reihe von Aufständen stationiert. Das in Goa aufgestellte Bataillon „Defensor de Timor“ („Verteidiger von Timor“, kurz „Batalhão Defensor“) schrumpfte aber infolge von ständigen Verlusten und Schwierigkeiten bei neuen Rekrutierungen bis 1850 auf die Größe einer Kompanie. Gouverneur Luís Augusto de Almeida Macedo (1856 bis 1859) baute die Einheit wieder auf ihre alte Stärke von etwa 300 Mann auf. Dabei quälte ihn der ständige Geldmangel der Kolonie. Als das Reich von Manumera rebellierte, sah sich Macedo gezwungen Geld, das zur Entlohnung der Offiziere und Angestellten vorgesehen war, zum Kauf von Waffen, Munition und Ausrüstung zum Kampf gegen Manumera zu verwenden. Wiederholt bat er die Regierung in Lissabon auch die Rechnung zur Reparatur der Brigg Mondega über 13.060 Rupien zu begleichen und auch die versprochenen Subventionen von jährlich 6.000 Patacas blieben aus. Gouverneur Afonso de Castro vergrößerte nun die Streitkräfte. Neben den von den timoresischen Reichen abgetretenen Kriegern, plante Castro aus Angola und Mosambik 300 bis 400 afrikanische Soldaten nach Timor zu bringen. Sie vertrugen das Klima besser als Europäer und galten als gehorsamer als die Einheimischen, auch wenn Gouverneur Rafael Jácome de Andrade (1888 bis 1889) später festhielt: Bei den europäischen Soldaten handelte es sich zumeist um Deportierte, Strafversetzte und Personen, die politischen und anderen Problemen in der Heimat oder den anderen Kolonien entkommen wollten (die sogenannten Freiwilligen). Die afrikanischen Soldaten waren zumeist Verbrecher, Deserteure und andere Problemfälle aus den afrikanischen Kolonien Portugals. Einmal auf Timor, wurden sie gefolgsamer, weil es hier keine Möglichkeit mehr zu Desertion und Flucht gab. Die Timoresen hatten vor den dunklen Afrikanern Angst und entwickelten einen besonderen Hass gegen sie. 1872 gab es in Portugiesisch-Timor 138 europäische und 33 afrikanische Soldaten (Zählungen geben an, dass in der Kolonie 1927 101, 1936 157 und 1950 noch 54 Afrikaner lebten). Zu diesem Zeitpunkt erhielt ein europäischer Soldat 120 Réis, ein afrikanischer 88 Réis und ein timoresischer 58 Réis. Allerdings gab es immer wieder Verzögerungen bei der Zahlung des Solds. Mit Folgen: Gouverneur José Manuel Pereira de Almeida (1863 bis 1864) wurde von den Truppen vertrieben, weil sie ein Jahr lang kein Geld bekommen hatten. Seinem Nachfolger José Eduardo da Costa Meneses (1864 bis 1865) blieb nichts anderes übrig, als einen Kredit bei den niederländischen Nachbarn aufzunehmen. Als Costa Meneses aufgrund einer Krankheit 1865 nach Lissabon zurückkehrte, wurde er vor Gericht gestellt, da er mit der Kreditaufnahme seine Kompetenzen überschritten hatte. Costa Meneses starb während des Verfahrens. Nun musste Francisco Teixeira da Silva (1865 bis 1869) als Gouverneur die unliebsamen Folgen der Meuterei beseitigen. Beförderungen und Solderhöhungen durch seinen Vorgänger wurden zurückgenommen. Das Klima, die Trennung von den Familien und die fehlende Zerstreuung führte zu einer weiteren Demoralisierung der Kolonialtruppen. Ohne die Arraias hätte Portugal seine Besitzansprüche nie aufrechterhalten können. Bis 1818 gab es in der Kolonie keine anderen portugiesischen Truppen. Ab 1860 wurden Einheimischentruppen zu einer ständigen Einheit ausgebaut. Einen Sold erhielten nur ein Oberstleutnant und die drei Kommandanten der Kompanien. Die restlichen Soldaten behielten ihren irregulären Status. Gouverneur Afonso de Castro sah in der timoresischen Bergwelt darin einen Vorteil, dass die Timoresen nicht durch Uniformen und europäische Ausrüstung behindert wurden. Die timoresischen Truppen der Portugiesen teilten sich in drei Kompanien (Companhias): Die Moradores, die Bidau und die Sica. Bei den Sica handelte es sich um freiwillige Rekruten aus dem Königreich Sikka im Osten der Insel Flores, bei den Bidau um Topasse und bei den Moradores um Timoresen. Alle drei Gruppen lebten in eigenen Vierteln Dilis. 1895 waren aufgrund der Schwierigkeiten bei der Rekrutierung für Timor nur noch 28 europäische Soldaten in der Kolonie, die 12.350 Timoresen gegen die rebellischen Reiche anführten. Unter Gouverneur José Celestino da Silva (1894 bis 1908) erhielten die Moradores erstmals eine Uniform. Die seit 1842 im Mutterland geltenden Verwaltungsgesetze wurden ab 1869 auch in der Kolonie angewendet. Doch gerade die ungeprüfte Übertragung von Gesetzen führte zu Problemen. Gouverneur Afonso de Castro kritisierte, dass „wilden, unwissenden und quasi barbarischen Völkern eine Verwaltung gegeben wurde, deren politische, wirtschaftliche, zivile und strafrechtliche Gesetze von diesen Völkern weder verstanden, noch gewürdigt, noch von ihnen bevorzugt werden würde.“ Zudem prangerte Castro an, dass die Machtfülle im militärischen und zivilen Bereich zur Willkür des Gouverneurs führen könne. 1834 hatte Portugal zwar militärische und administrative Befugnisse zwar getrennt, dies aber bereits ein Jahr später wieder revidiert. Bereits seit 1822 durfte das Amt des Gouverneurs nur noch mit Militärpersonal besetzt werden. Ab 1869 wurde die Auswahl auf aktive Offiziere mit Erfahrung im Verwaltungsdienst beschränkt, um Günstlingswirtschaft zu vermeiden. Die Dienstzeit wurde auf maximal fünf Jahre beschränkt, real waren es in den folgenden Jahren meistens sogar nur ein oder zwei Jahre. Die Instabilität der portugiesischen Regierung färbte auf die Kolonien ab. Bei jedem Regierungswechsel wurden auch die Gouverneure ausgetauscht, was auch immer wieder zu einem Wechsel im Führungsstil führte. Ein weiterer Grund für den häufigen Austausch war, dass immer wieder Gouverneure im Dienst starben (insgesamt sechs zwischen 1751 und 1887) oder aufgrund der angeschlagenen Gesundheit um vorzeitige Abberufung baten. Ursache war meistens das Dili-Fieber, die Malaria. Seltener kam es zu gewaltsamen Tode. So wurde Gouverneur Alfredo de Lacerda Maia (1885 bis 1887) bei der Revolte der Moradores erschlagen. Problematisch war auch, dass es oft auch keinen Arzt in Dili gab. Gouverneur António Olavo Monteiro Tôrres bat am 7. März 1851 in einem Schreiben zum wiederholten Male um eine vorzeitige Entsendung eines Nachfolgers. Er wollte seine verbleibenden fünf Monate im Dienst nicht mehr ausüben, weil er seinen Gesundheitszustand mangels eines Arztes als ernst empfand. Tôrres starb am 24. März. In seiner gesamten Amtszeit hat er keine einzige schriftliche Anweisung aus Macau erhalten. Nicht anders ging es vielen portugiesischen Soldaten. Die häufigste Todesursache war für sie nicht das Gefecht, sondern Krankheiten, die unter ihnen grassierten. Sie hatten lange Zeit noch nicht einmal richtige Unterkünfte. Am 24. August 1866 waren die meisten öffentlichen Gebäude Dilis niedergebrannt, darunter auch die Militärbaracken. Selbst sechs Jahre später gab es nur offene Baracken, die während der Regenzeit nur notdürftig abgedeckt wurden. Gouverneur Clímaco de Carvalho brachte 24 Soldaten mit aus Macau, neun davon starben in den ersten acht Monaten. Einen Mangel gab es noch im 19. Jahrhundert auch an ausgebildeten Handwerkern und fähigen Kolonialbeamten, da angesichts der schlechten Bezahlung kaum jemand die Ämter übernehmen wollte. Folge war, dass Portugiesisch-Timor immer wieder als Ziel für Strafversetzungen unliebsamer Beamter wurde. Ansonsten vergab man die Posten an Offiziere und Unteroffiziere der Streitkräfte oder sogar an lokale, einheimische Liuais. Teilweise hatten einzelne Personen mehrere Ämter inne. Die Eingliederung Portugiesisch-Timors in das portugiesische Kolonialreich war in dieser Zeit einem ständigen Wechsel unterworfen. Die Unterordnung der Kolonie unter Macau und Goa hatte finanzielle Gründe, da man so die koloniale Verwaltung straffen konnte. Der Nachteil lag in der eingeschränkten Entscheidungsbefugnis für die Gouverneure in Dili. Anfragen nach Macau und Goa waren zeitaufwändig. Nach der erneuten Unterordnung unter Macau 1851, wurde ab dem 25. September 1856 wieder Goa für die Kolonie zuständig. Am 17. September 1863 folgte eine erneute Zeit als eigenständige Provinz. Dem Gouverneur wurden ein Sekretär, ein Richter, ein Vertreter der Staatsanwaltschaft und ein Notar zur Seite gestellt und 400 Soldaten dauerhaft in der Kolonie stationiert. Nur in rechtlichen Punkten war Timor weiter Goa unterstellt. 1864 erhielt Dili die Stadtrechte. Am 26. November 1866 kam Portugiesisch-Timor wieder unter die Vorherrschaft Macaus. Immerhin gab man dem timoresischen Gouverneur nun Entscheidungsbefugnisse für den Notfall und ein beratendes Gremium an seine Seite, dem der kommandierende Offizier des Militärs, der Leiter der Mission, ein Richter und ein Kämmerer angehörten. Drei Monate zuvor waren große Teile Dilis durch einen Brand zerstört worden. Der Gouverneur von Macau sammelte bei seiner Bevölkerung für den Aufbau der Stadt. Ab dem 18. März 1869 durften Macau und Timor gemeinsam einen Abgeordneten in das portugiesische Parlament, die Cortes entsenden. De facto bedeutete dies aber nur einen Abgeordneten für Macau, während Timor leer ausging. Nach heftigen Protesten der portugiesischen Verwaltung auf Timor wurde der Kolonie ein eigener Sitz zugestanden. Die Teilnahme an der Wahl des Vertreters war aber stark eingeschränkt. So wurde 1871 Tomás de Carvalho, ein Professor der Medizinischen Schule in Lissabon mit 687 der 695 Stimmen gewählt. Die 29 Stimmen aus dem Distrikt Batugade konnten mangels einer schreibkundigen Person nicht aufgenommen werden. Erst am 15. Oktober 1896 wurde Portugiesisch-Timor endgültig als Autonomer Distrikt zu einer eigenständigen Kolonie. Finanziell und mit Verwaltungspersonal war sie aber weiterhin abhängig von den kolonialen Zentren in Macau und Goa. Macau musste jährlich eine Finanzhilfe von 60.000 Patacas stellen. In Macau empfand man Timor als kostspieliges Anhängsel, ja als „Parasit“. Es fehlte an eigenständig erwirtschafteten, finanziellen Mitteln, da der Großteil der Einnahmen fast nur aus Naturalien bestanden, die aus den Tributzahlungen der Liurais stammten. Daneben nahm man Zölle für Handelswaren ein, doch die Militärposten die man in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Nordküste errichtet hatte, waren heruntergekommen, weswegen in der zweiten Hälfte der Schmuggel blühte. Von den 50 bis 60 Schiffen, die Timors Häfen zur Regierungszeit Gouverneurs Afonso de Castro jährlich anliefen, war kein einziges portugiesisch. Meistens waren es australische oder amerikanische Walfänger, die zwischen den Gewürzinseln und Timor und im Pazifik bis Australien auf Pottwale Jagd machten. Der Handel lief über chinesische Dschunken, niederländische Schoner oder malaiische Schiffe aus Makassar. Es ist nicht verwunderlich, dass 1888 der portugiesische Abgeordnete José Bento Ferreira de Almeida den Verkauf der kostspieligen Kolonie forderte. 1889 wurden schließlich neue Posten westlich von Dili in Aipelo, Liquiçá, Maubara, Batugade und Oe-Cusse Ambeno und östlich von Dili in Manatuto, Baucau und Laga errichtet. An der Südküste fehlten Zollstellen weiterhin. 1868 betrug der Haushalt 9.786 Réis, bis 1881 stieg er auf 43.722 Reis. 53 % des Etats ging 1866 allein an das Militär, weitere 25 % für die Verwaltung. Immerhin finanzierte man auch vier Studienstipendien. Zwei in Goa, zwei in Lissabon. 60 Söhne von Liurais wurden in einer Schule in Dili und 20 in einer Mission in Manatuto unterrichtet. Außerdem unterrichtete der Kommandant der Festung von Batugade 15 Schüler. Verglichen mit anderen Kolonien war Timor damals dadurch bei der Bildung sogar vorbildlich. Gouverneur António Joaquim Garcia (1869 bis 1870) berichtet, dass 1870 nur noch 23 Liurais Steuern in Höhe von unbedeutenden 2000 Florins an Portugal zahlten, während es 1776 noch 44 Herrscher gewesen waren. Gouverneur João Clímaco de Carvalho (1870 bis 1871) teilte in einem Bericht von 1872 die timoresischen Reiche in vier Gruppen: Gebiete, wie Dili, Batugade, Manatuto, Vemasse, Laga und Maubara standen unter direkter portugiesischer Kontrolle. Die Reiche in unmittelbarer Nähe zu Dili, vor allem westlich der Hauptstadt, hatten die portugiesische Oberhoheit praktisch anerkannt. Die Reiche im Inselinneren, wie zum Beispiel Cailaco, erkannten diese nicht an, außerdem gab es kaum Kontakte mit den Herrschern. Und schließlich gab es die Reiche an der Grenze zum niederländischen Westtimor, wie Cowa und Sanirin, die offen gegen Portugal rebellierten oder zu denen es, wie zu Suai, seit Jahren keine Verbindungen mehr gab. Der portugiesische Einfluss war gesunken, da sich die Missionare, seit der Verlagerung der Hauptstadt von Lifau nach Dili, mit ihrer Arbeit in das komfortablere Dili oder ganz von Timor zurückgezogen hatten. Seitdem waren niemals mehr als elf Missionare auf der Insel und 1812 schließlich nur noch zwei, inklusive des Bischofs in Manatuto. 1831 taten nur noch fünf oder sechs Priester ihren Dienst auf der Insel. 1834 wurden auch die letzten Missionare für 20 Jahre aus Timor verbannt. Das Dekret Königs Pedros IV. war eine Folge der Liberalen Revolution in Portugal. Am 26. Dezember 1854 wurde die Maßnahme durch ein königliches Dekret zurückgenommen und Priester wurden von Goa nach Timor und Mosambik entsandt. Doch auch nach der Rückkehr der Geistlichen nach Timor schien die Missionierung des Inselinneren aufgegeben worden zu sein. 1861 gab es nur zwei Missionare in der Kolonie und sie verließen nur selten Dili. 1874 wurde versucht die Missionierung Timors wieder voranzutreiben. Am 12. November 1877 wurde per Dekret die Missionierung des Inselinneren angewiesen und der Kirche auch das Recht gegeben, Schulen in der Kolonie zu gründen. Noch im selben Jahr trafen neun neue Missionare in Timor ein und wurden auf Batugade, Oe-Cusse Ambeno, Manatuto und Lacluta verteilt. Weitere vier Missionare wurden nach Bidau und Hera geschickt, einer übernahm die Leitung der Grundschule in Motael. Ein chinesischstämmiger Missionar wurde mit der Betreuung chinesischer Schulkinder in Dili betraut. Jacob dos Reis e Cunha, der Sohn eines Liurais, war in Macau zum Priester geweiht worden und missionierte an der Südküste zwischen Luca und Alas. Zuvor unterrichtete er seit 1864 in der Missionsschule in Lahane die Söhne von Liurais. Pater António Joaquim de Medeiros wurde als Superior der Kirche – 1877 zum Generalvikar ernannt – nun in Dili stationiert. Medeiros schätzte die Zahl der Christen auf der Insel zu diesem Zeitpunkt auf gerade mal 40.000. Weitere Schulen wurden von den Canossianern in Bidau und Manatuto eröffnet. In Manatuto stieg die Schülerzahl auf 180. Die Missionsschule in Lahane wurde 1879 für 16.000 Rupien modernisiert. Sie verfügte nun über Wohngebäude, ein Missionsarchiv und die erste Bücherei auf Timor. Zudem wurden in Dili je eine Hochschule für Jungen und eine für Mädchen eröffnet, auch wenn die Liurais nur widerstrebend ihre Töchter in die Schule schickten, im Gegensatz zu ihren Söhnen. In Dili (inklusive Bidau, Lahane und Motael) gab es 1881 acht Schulen mit 320 Schülern. 1890 wurden noch zwei weitere Grundschulen in Baucau und Manatuto eröffnet, die auch für Mädchen Unterricht anboten. Medeiros beklagte 1881 aber die Qualität des Unterrichts in den Schulen. Die Lehrer würden die einfachsten Regeln der Pädagogik vernachlässigen und es mangle an einfachsten Dingen, wie Tinte und Papier. Auch beklagte Medeiros eine mangelnde Unterstützung durch die portugiesische Regierung. 1904 wurde in der Mission in Soibada eine Jesuitenschule für Jungen eröffnet. 1910 wurden die Missionare von der neuen republikanischen Regierung aus der Kolonie ausgewiesen, was einen Rückschlag bei der Missionierung bedeutete. 1916 gab es nur ein Dutzend Geistliche in Portugiesisch-Timor. Ab 1920 verstärkte die Kirche wieder ihr Engagement. 1928 betrug die Anzahl der bekehrten Timoresen gerade einmal 19.000. Mit der neuen portugiesischen Verfassung von 1933 und den Gesetzen von 1935 wurde das Dekret von 1910 wieder aufgehoben, und 1938 betrieb man wieder 20 Missionen. Zusammen mit Macau bildete Portugiesisch-Timor eine gemeinsame Diözese. Am 4. September 1940 mit der päpstlichen Bulle Solemnibus Conventionubus wurde die Diözese Dili abgetrennt. Jaime Garcia Goulart wurde am 18. Januar 1941 zum apostolischen Administrator ernannt und 1945 zum Bischof Dilis geweiht. Er war bereits von 1933 bis 1937 als Kommissar für die Diözese von Macau und Timor nach Dili entsandt worden. Clube Chum Fuk Tong Su, die erste chinesische Schule in der Kolonie, bot 1912 neben Unterricht in Chinesisch, auch Englisch, Zoologie und Botanik an. Gouverneur Filomeno da Câmara de Melo Cabral (1911 bis 1913 und 1914 bis 1917) setzte 1916 neue Regeln für die Grundschulen fest. Inzwischen gab es in Portugiesisch-Timor 16 staatliche und neun Missionsschulen. In den ländlichen Gebieten wurde nun der Schwerpunkt der Ausbildung auf die Landwirtschaft gelegt. Ab 1940 verfügte die Katholische Kirche durch ein Konkordat über das Erziehungsmonopol in der Kolonie. Die Kirche war mit der lokalen portugiesischen Administration verbunden und finanzierte ab 1941 das Bildungssystem. Sie vermittelte sowohl katholische als auch portugiesische kulturelle Werte. Entwicklung der kolonialen Wirtschaft Ab 1854 wurde die Sklaverei offiziell verboten, doch es dauerte lange, dies bei den einheimischen Herrschern durchzusetzen. De facto blieb die Sklavenhaltung in ihrer timoresischen Form bei ihnen bis weit ins 20. Jahrhundert bestehen, wenn auch in Form von wirtschaftlichen Bindungen und einer Dienerschaft. Bereits Mitte des 18. Jahrhunderts war Kaffee im damals niederländischen Maubara eingeführt worden, doch erst unter Gouverneur Vitorino Freire da Cunha Gusmão wurde er 1815 erstmals in den Küstenregionen westlich von Dili und in Liquiçá angepflanzt. Cunha Gusmão führte zudem Zuckerrohr ein und begann eine Rumproduktion. 1858 hatte Kaffee schließlich einen beträchtlichen Anteil am Export aus der Kolonie erreicht, neben den alten Handelsgütern Wachs, Honig, Leder, Weizen, Schildkröten und Pferden. In den darauffolgenden Jahren boomte die Kaffeeproduktion, zudem stiegen die Preise auf dem Weltmarkt. Während der Kaffee zwischen 1858 und 1860 noch 7 % des Exports der Kolonie ausmachte, waren es zwischen 1863 und 1865 bereits 54 %. Die anderen Exportgüter verloren schnell an Bedeutung. Wurden zum Beispiel 1859 noch 942 Pferde exportiert, waren es 1865 nur noch drei. Der Sandelholzhandel war schon zuvor unprofitabel geworden. Hier waren Züchter auf Sumba und Roti in Konkurrenz getreten. Dafür wurden vermehrt Wasserbüffel gehandelt. Allein im September 1867 luden fünf niederländische und ein englisches Schiff in Dili 661 Tonnen Kaffee. Die Samen für die Kaffeepflanzen wurden in staatlichen Plantagen gesammelt und in Aufzuchtsstationen in verschiedenen Teilen der Insel herangezüchtet. 1877 berichtete der australische Reisende G. R. McMinn, dass die Kaffeeplantagen an den Nordwesthängen der Hügel angelegt wurden. Die Bewässerung erfolgte von Quellen oberhalb der Pflanzungen mit Bambusleitungen. Zwischen den Kaffeesträuchern wurden Bananenstauden gepflanzt, die die jungen Pflanzen abschirmten und mit dem von ihnen eingefangenen Tau den Kaffee zusätzlich bewässerten. Jährlich würden 1300 Tonnen Kaffee ausgeführt. Allerdings kritisierte McMinn, wenn die Plantagen nicht in Händen von Privatleuten wären, würden sie zehnmal so viel Kaffee produzieren. Portugal folgte zunächst nicht dem Vorbild der großen Plantagen auf Java, konnte aber dafür eine hohe Qualität des timoresischen Kaffees vorweisen. Zwischen 1879 und 1892 erreichte die Kaffeeausfuhr einen Höhepunkt und blieb bis in die 1930er Jahre stabil, als sie zeitweise um die Hälfte sank. Grund waren Pflanzenkrankheiten (Hemilea vastarix) und eine Überflutung des Kaffeemarktes durch Brasilien. Auch heute ist Kaffee das wichtigste Exportgut des Landes. Die Einnahmen reichten aber weiterhin gerade mal für den Sold der regulären Soldaten. Timor blieb weiter von den Subventionen aus Macau abhängig. Gouverneur António Joaquim Garcia empfahl 1870 den nachweislichen Schwund im Zollhaus zu bekämpfen. Auch hoffte Garcia auf die Nutzung von Bodenschätzen: Kupfer in Vemasse, Schwefel in Viqueque und Gold, Salz und Kohle in Laga. Eine Hoffnung, welche die Portugiesen schon früher gehabt hatten. Bereits António de São Jacinto berichtete Ende des 17. Jahrhunderts König João I. in einem Brief von der Entdeckung großer Kupferminen auf Timor – eine Angabe, die sich wiederholt in den Quellen findet. Gouverneur Azevedo e Sousa ließ nach Erdöl suchen, sein Nachfolger Manuel Joaquim de Matos Góis nach Gold, Kupfer, Salpeter und anderen Bodenschätzen. Vom Fund mehrerer Kupfernuggets nahe Dili wird berichtet, doch konnte ein englischer Bergbauingenieur 1861 keine nennenswerten Kupfervorkommen im Osten Timors finden, während sich in der Korrespondenz des niederländischen Kolonialministeriums bereits 1849/50 Verweise auf Kupferminen im Westen der Insel finden. Ab 1884 versorgte man immerhin die Lampen und Straßenbeleuchtung Dilis mit Öl aus Laclubar. 1891 machte sich erneut eine geologische Expedition auf die Suche nach Gold, Kupfer und Erdöl. Nachweisen konnte sie Erdgasvorkommen. Die Idee einer Ölpipeline von Laclubar nach Dili und einer gezielten Ausbeutung des Vorkommens wurde aber nicht weiter verfolgt. Ab 1901 suchten verschiedene britische, australische und andere Firmen auf Timor nach Erdöl. Eine australische Expedition fand 1936 Gold, Silber, Kupfer, Mangan und Chrom, allerdings in solch kleinen Mengen, dass ein Abbauc sich nicht lohnen würde. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs berichtete ein britischer Konsul, dass eine kleine, regierungseigene Raffinerie acht Kanister Kerosin pro Tag herstellte. 1940 sprach eine japanische Quelle von Chrom, Mangan, Kupfer und Erdöl in Portugiesisch-Timor. Gold sollte es demnach reichlich als Nuggets an den Südhängen der zentralen Berge geben. Tatsächlich wurde in dieser Zeit Manganerz nach Japan exportiert. Die kleine Mine befand sich im Osten an der Südküste. Zwischen 1936 und 1941 förderte der Niederländer Hofman Manganerz in Nova Benfica (heute: Uatucarbau) und nahe Baucau. Kurz vor Kriegsbeginn vereinbarte die Kolonialregierung Manganlieferungen an Australien. Erst Gouverneur José Celestino da Silva legte schließlich die Grundlagen für ein funktionierendes Plantagensystem nach niederländischem Vorbild. Gummiplantagen wurden in Hatulia, Uato-Lari und Luca gegründet. Der Kaffeeanbau in die Region von Ermera ausgedehnt (heute das Hauptanbaugebiet in Osttimor). Statt auf kleine private Pflanzungen, setzte Silva auf große, staatliche Plantagen. Dies ging einher mit Kolonialkapitalismus, Landenteignung zu Gunsten europäischer Siedler und militärischen Zwangsmaßnahmen. Mehr als 20 Militäraktionen führte Silva in seiner Amtszeit auf Timor durch. Die Timoresen wurden zur Zwangsarbeit gedrängt (ab den 1890er Jahren beim Straßenbau und in Plantagen, zum Beispiel auf Kaffeeplantagen in Ermera ab 1899 und Kopra zwischen 1911 und 1917). Trotzdem stiegen die Exportzahlen nicht weiter, da die portugiesische Administration weiterhin zu schwach ausgebaut war. 1906 wurde die Kopfsteuer zwischen dem 18. und 60. Lebensjahr eingeführt. Später wurde die Verwaltung ausgebaut. Die lokalen Königreiche wurden 1908 schließlich abgeschafft und die Liurais als Regenten abgesetzt. Die politische und administrative Neustrukturierung veränderte aber die lokale Ideologie und den Alltag nicht. Traditionelle Hierarchien blieben bestehen, unterstützt durch lokale Traditionen und Weltanschauungen. So entstand ein System auf zwei Ebenen – einer kolonialen und einer einheimischen traditionellen. Silvas ungewöhnlich lange Regierungszeit als Gouverneur von 14 Jahren, ist durch seine persönliche Freundschaft zum portugiesischen König Carlos I. zu erklären. Silva lernte in seiner Amtszeit sogar Tetum, die Lingua franca Timors. Zeitgenössische Kritiker nannten ihn aber, wegen seines Regierungsstils und der unverhohlenen Selbstbereicherung, spöttisch den „König von Timor“. Silva wurde erst nach dem Tod von Carlos I. abberufen. Silvas Bilanz wird sehr unterschiedlich bewertet. Die einen kritisieren, dass er die Kolonie wie sein Privateigentum regierte und in seine eigene Tasche wirtschaftete. Dabei soll er den Einheimischen selbst das Nötigste zum Leben genommen haben. Andere Historiker sind der Meinung, dass Portugal ohne Silvas Reformen seine Kolonie schon früher verloren hätte. Silva hatte die Herrschaft Portugals endgültig über den gesamten Osten der Insel ausgebreitet. Ein Netz von Militärposten, die sogar telefonisch miteinander verbunden waren, überzog das Gebiet (1912 hatte das Netz eine Größe von 1148 km). Die ersten Kakaobäume wurden 1901 gepflanzt, und 1908 wurde erstmals Kakao exportiert (6,2 t nach Australien). Zwischen 1911 und 1930 wurden im Durchschnitt 15 t Kakao pro Jahr exportiert, und 1931–1940 durchschnittlich 8 t jährlich. Ab 1910 engagierten sich insgesamt sechs Gesellschaften mit dem Anlegen von Kaffee-, Kakao- und Baumwollplantagen. Bevorzugt wurden in der jungen portugiesischen Republik nun aber vor allem kleine Plantagen in privater Hand. 6000 Hektar wurden an portugiesische Einzelpersonen vergeben. Mit einem Dekret vom 5. Dezember 1910 wurde dem Gouverneur das alleinige Recht gegeben, Flächen bis 2500 Hektar, Distriktadministratoren unter bestimmten Umständen bis 100 Hektar zu vergeben. Seit 1860 sorgte ein Schiff der niederländischen Koninklijke Paketvaart Maatschappij (KPM) für den Postdienst der Kolonie. Portugal zahlte dafür monatlich 500 Rupias und zusätzlich die Frachtkosten. Davor musste die gesamte Post, auch die offizielle, Händlern aus Makassar mitgegeben werden, die sie nach Kupang brachten. Auch Passagiere und selbst die neuen Gouverneure der Kolonie mussten mit niederländischen, britischen und französischen Schifffahrtslinien von Europa aus reisen, um Portugiesisch-Timor zu erreichen. Noch in den 1940er Jahren dauerte dies, inklusive der Wartezeiten auf den nächsten Anschluss, zwischen 45 und 56 Tage. Da die ausländischen Linien für die regelmäßigen Verbindungen zudem Vergünstigungen beim Zoll verlangten, wurde Timor für portugiesische Händler unattraktiv. Quellen schreiben, dass nach dem Verfall der Teepreise 1870 kein portugiesisches Handelsschiff mehr in asiatische Gewässer fuhr, was zu einer Kappung der Verbindung zwischen Lissabon auf der einen und Macau und Timor auf der anderen Seite führte. Zwar kaufte man 1891 den sieben Jahre alten Dampfer Dilly an, doch das Schiff, mit einer Verdrängung von 100 Tonnen, musste bereits 1905 wieder verschrottet werden, da es inzwischen unbrauchbar geworden war. Die Telegraphenverbindung ließ auch auf sich warten. Alle anderen portugiesischen Kolonien waren zwischen 1870 und 1886 durch englische Gesellschaften im Auftrag der portugiesischen Regierung an das Netz angeschlossen worden. Ein Telegramm nach Dili musste aber zum portugiesischen Konsul in Makassar geschickt werden. Dort blieb es dann liegen, bis wieder ein Schiff nach Timor ablegte. Gerade in Krisen war deswegen eine Hilfsanfrage an die niederländischen Nachbarn schneller als in das weit entfernte Macau. 1912 eröffnete die Banco Nacional Ultramarino (BNU) eine Filiale in Dili. Sie übernahm in den Kolonien die Finanzgeschäfte und die Geldausgabe. Auch vergab sie Kredite an Plantagenbesitzer. 1894 war erstmals eine eigene Währung für die Kolonie eingeführt, der Pataca, der gleichwertig mit dem Pataca Macaus war. Mexikanische Pataca-Silbermünzen waren seit den 1880er Jahren auf Timor im Gebrauch. Parallel wurde bis ins 20. Jahrhundert hinein der niederländische Gulden (Florin) verwendet. Ein Pataca entsprach in etwa zwei Gulden. Mit Eröffnung der BNU in Dili wurden auch erstmals Pataca-Geldscheine ausgegeben, allerdings nur macanesische Scheine mit dem zusätzlichen Aufdruck „Pagavel em Timor“. Erst 1915 entschied der Regierungsrat, dass nur noch der Pataca in Portugiesisch-Timor gültig sein sollte. Der Beschluss wurde ab dem 4. Mai 1918 umgesetzt. Eigene Geldscheine der Kolonie wurden ab dem 2. Januar 1920 ausgegeben. 1914 trat ein Syndikat aus Hongkong an die Kolonialregierung heran mit der Bitte zu einer Erlaubnis für die Opiumproduktion in Portugiesisch-Timor. Nach längerem Ablehnen, erhielt das Syndikat Leong Kwong 1916 schließlich doch die Erlaubnis, doch bereits die erste Lieferung von Rohopium aus Indien wurde von den britischen Behörden in Singapur beschlagnahmt, da die Genehmigung zum Export aus Britisch-Indien fehlte. Das Fällen von Sandelholzbäumen wurde aufgrund der Überholzung 1926 verboten. Eine staatlich vorgegebene Kontrolle, die Gouverneur Câmara de Melo Cabral 1911 eingeführt hatte, war schlichtweg ignoriert worden. Das zweitwichtigste Handelsgut nach dem Kaffee wurde Kopra, das bis zum Zweiten Weltkrieg um die 10 % des Exports ausmachte. Um einen ausländischen Einfluss zu verhindern, musste mindestens die Hälfte des Kapitals eines Unternehmens, das sich in den Kolonien engagierte, aus Portugal stammen. Timor spielte hier aber aufgrund der chinesischen Händler eine Sonderrolle. So kamen in den 1930er Jahren nur 15 % der importierten Waren aus Portugal und Mosambik, zumeist Wein und Zucker. Baumwollstoffe kamen aber zum Beispiel meist aus japanischen Produktionen. Neben Schiffsverbindungen mit der KPM nach Surabaya und Makassar und einer kurzzeitigen Linie zwischen Macau und Dili, wurde 1934 eine japanische Linie über Surabaya nach Palau eingerichtet, das damals unter japanischer Verwaltung stand. So wurde Japan nach Niederländisch-Indien (für den Weiterexport) und Portugal zum drittgrößten Abnehmer von osttimoresischen Kaffee. Außerdem wurden nach Japan Mais, Manganerz, Kopra, Gummi, Baumwolle und Wachs. Der Handel mit Japan wurde von der Sociedade Agrícola Pátria e Trabalho (SAPT) organisiert, von der 1940 die japanische Nanyo Kohatsu K. K. 48 % der Anteile kaufte. Die Nanyo Kohatsu K. K. war ein Unternehmen, das die wirtschaftlichen und politischen Interessen Japans in Südostasien und Ozeanien sichern sollte. Die SAPT war ursprünglich von Gouverneur José Celestino da Silva gegründet worden, dessen Familie immer noch zu den Besitzern gehörte. Ab 1941 war sie die einzige große Plantagen- und Handelsgesellschaft in der Kolonie. Sie kontrollierte auch den Handel mit Portugal, womit sie 20 % des gesamten Handels Portugiesisch-Timors beherrschte. Zudem hatte die SAPT ein Monopol auf den Ankauf des Arabica-Kaffees, der wichtigsten und edelsten Sorte Timors. 1934 gab es Berichte, dass Japan den Portugiesen ihre Kolonie für fünf Millionen US-Dollar abkaufen wollten. Fast gleichzeitig gab es Meldungen, die Briten würden den Niederlanden und Portugal 25 bis 50 Millionen US-Dollar für die Insel Timor anbieten, um die Luftverkehrsroute von Europa nach Australien auszubauen. Die portugiesische Regierung dementierte aber diese Angebote kurze Zeit später. 1929 lockerten die Portugiesen das Verbot des Sandelholzhandels für die Exklave Oe-Cusse Ambeno. Es war schlichtweg unmöglich gewesen, dort die Einhaltung zu überwachen. Die Bäume wurden illegal geschlagen und einfach über den Landweg in das niederländische Westtimor geschmuggelt. Daher wurde Einheimischen das Fällen von ausgewachsenen Bäumen erlaubt, unter Schutz blieben nur junge Bäume und die Wurzeln. Die Bestände nahmen trotzdem weiter ab. 1939 nannte man den Sandelholzbaum nur noch ein „botanisches Relikt“. Die letzten Bestände in Oe-Cusse Ambeno verschwanden aber erst in der indonesischen Besatzungszeit. Im Kernland Osttimors steht er unter strengen Schutz. 1860 wurde das Krankenhaus von Lahane (Antigo Hospital Português) im Süden von Dili errichtet. 1906 wurde es erneuert und 1918 kamen Krankenhäuser in Baucau, Same und Bobonaro hinzu. Mobile medizinische Einheiten wurden in der Kolonie gebildet. In den 1930er Jahren folgten weitere Krankenhäuser, so in Liquiçá. Dazu klamen drei private Krankenhäuser, eine Geburtsklinik und etwa 20 medizinische Stationen. In den 1960er Jahren wurde das Gesundheitsnetz nochmals weiter ausgebaut. Sicherung der kolonialen Macht Die Wirkung der Maßnahmen war sehr unterschiedlich. Die Plantagen mit ihrem Anbau von Handelsgütern statt Nahrungsmitteln für den täglichen Bedarf veränderten nicht viel, die erzwungene Arbeit im Straßenbau jedoch war mit ein Grund für mehrere Rebellionen zwischen 1860 und 1912. Die Ermordung von Gouverneur Alfredo de Lacerda Maia bei der sogenannten Revolte der Moradores erschütterte die portugiesische Herrschaft schwer. Zwischen Dezember 1893 und Februar 1894 wütete in der Kolonie nochmals die Cholera mit mindestens 1000 Toten. Nach der Revolte von Maubara, die mit Hilfe des Kanonenboots Diu niedergeschlagen worden war, waren die Leichen der Gefallenen liegen geblieben, was zum Ausbruch der Krankheit vor allem in Maubara führte, aber auch in Tibar, Atapupu auf Alor und selbst in Dili grassierte die Seuche. Um die Jahrhundertwende führte im Laufe von 16 Jahren Boaventura, der Liurai von Manufahi, mehrere timoresische Reiche wiederholt gegen die Kolonialherren. Er wurde erst bei der Rebellion von Manufahi 1911/12 mit portugiesischen Truppen aus Mosambik und teils sogar aus Angola endgültig besiegt. Osttimoresische Quellen schätzen, dass bei der Niederschlagung zwischen 15.000 und 25.000 Menschen getötet und viele Tausend gefangen genommen und eingekerkert wurden. Allein bei der Belagerung am Berg Leolaco (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Berg in Cailaco) sollen mehr als 3000 timoresische Kämpfer und Zivilisten abgeschlachtet worden sein, eines der ersten kolonialen Massaker der jungen portugiesischen Republik. Portugal tolerierte keinen großflächigen Ungehorsam mehr. Boaventura verschwand als Gefangener auf der Insel Atauro. Timoresen, wie der „Verräter-Liurai“ Nai-Cau und sein Neffe Aleixo Corte-Real, hatten auch auf Seiten der Portugiesen gekämpft. Bis zum Zweiten Weltkrieg folgte nun eine Phase ohne größere, gewalttätige Auseinandersetzungen, eine Phase des Friedens, wie es sie zuvor nie in Timor gegeben hatte. Diese war aber mehr der strafferen kolonialen Kontrolle zu verdanken, als einer durchgehenden Sympathie der Timoresen für die Portugiesen. Die Nachricht vom Sturz der portugiesischen Monarchie traf in Dili am 7. Oktober 1910 durch ein Telegramm des portugiesischen Marineministeriums vom Vortag ein. Generalgouverneur Alfredo Cardoso de Soveral Martins (5. Februar bis 30. Oktober 1910) gab am 30. Oktober offiziell die Ausrufung der Republik bekannt, die blau-weiße Flagge des royalen Portugals wurde eingeholt und die neue grün-rote Flagge Portugals wurde unter Abfeuern von 21 Schuss Salut gesetzt. Martins verließ Dili Anfang November. Das Amt wurde von Martins Sekretär, Kapitän Anselmo Augusto Coelho de Carvalho protokollarisch weitergeführt. Ihn ersetzte am 22. Dezember, ebenfalls protokollarisch, Kapitän José Carrazeda de Sousa Caldas Vianna e Andrade. Der Wechsel zur Republik in Portugiesisch-Timor führte zu Verwirrung bei den Timoresen, denen das Konzept einer Republik fremd war. Teilweise gab es eine Sehnsucht nach der Monarchie, was die Niederländer mit Propagandaaktionen im Grenzgebiet auszunutzen versuchten. Sie verteilten Bilder ihrer Königin Wilhelmina. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges war Portugal zunächst neutral. Im August 1914 tauchte vor der Ostspitze Timors der deutsche Kreuzer Emden auf. Gouverneur Filomeno da Câmara de Melo Cabral reagierte ziemlich angriffslustig und ließ den Chef des Postens von Tutuala an Bord der Emden gehen. Dieser wies die Emden an, dass sie sofort die portugiesischen Gewässer verlassen sollte. 1916 trat Portugal in den Krieg auf Seiten der Entente ein. Zu dieser Zeit befürchtete man in Portugal, die Niederlande könnten auf Seiten der Mittelmächte in den Krieg eintreten. Im April 1916 erfuhr man, dass sich deutsche Kriegsschiffe in Niederländisch-Indien befanden. Daraufhin wurde das Kanonenboot Pátria von Macau nach Timor geschickt. Als die Beziehungen zwischen den Niederlanden und Großbritannien auf einen Tiefpunkt sank, zogen die Niederländer 1917 Truppen an der timoresischen Grenze zusammen. Zum niederländischen Kriegseintritt kam es letztendlich nicht. Die Zeit zwischen Ersten und Zweiten Weltkrieg war in Portugiesisch-Timor eine auffällig ruhige Phase ohne Aufstände gegen die portugiesische Kolonialherrschaft. Die in Niederländisch-Indien aufkommenden indonesischen Nationalisten (Perserikatan Nasional Indonesia) zeigten zu diesem Zeitpunkt kein Interesse an der portugiesischen Kolonie. Ohnehin verhinderte in Portugiesisch-Timor die Diktatur des Estado Novo, die 1926 die Macht in der Republik übernahm, jegliche Bildung einheimischer, politischer Vereinigungen, wie sie im niederländischen Westtimor bereits in den 1920er und 1930er Jahren entstanden (Timorsch Verbond, Timor Evolutie und andere). Portugiesisch-Timor war sowieso selbst im Vergleich zu anderen portugiesischen Kolonien politisch desinteressiert. In Goa und Portugiesisch-Guinea (heute: Guinea-Bissau) hatte es Widerstände gegen die Diktatur von Salazar gegeben, in Mosambik bis zu ihrer Unterdrückung Organisationen, die sich für die Rechte der europäisch-gebildeten Afrikaner einsetzten. Seit der Boaventura-Rebellion zeigten sich die assimilierten Timoresen aber wenig politisch. Politische Opposition war nur von den etwa 100 portugiesischen Deportierten in Portugiesisch-Timor zu erwarten. Neben den Deportierten kamen in den Jahren nach 1927 auch europäische Auswanderer nach Portugiesisch-Timor, um hier zu siedeln. Gefördert wurde dies von Teófilo Duarte (1926 bis 1928), dem ersten Gouverneur des Estado Novo. Eine Quelle beschreibt ihn als gefährlichen Größenwahnsinnigen, der überall Komplotte vermutete. Vor allem wird ihm die Zwangsarbeit Einheimischer für den Straßenbau vorgeworfen, bei der Tausende an Tuberkulose erkrankten. Da die bis dahin weit verstreuten und schwer zugänglichen Siedlungen der Timoresen kaum unter militärische Kontrolle noch unter eine koloniale Verwaltung zu bringen waren, ließ Duarte sie in neue, sogenannte „Eingeborenendörfer“ umsiedeln. Álvaro Eugénio Neves da Fontoura (1937 bis 1940) führte diese Maßnahme ebenso fort, wie später die Indonesier 50 Jahre später. Die Timoresen wehrten sich oft gegen die Zwangsumsiedlungen. Sie wollten weder von ihren heiligen Stätten fort, noch in neue Siedlungen, die teilweise im malariaverseuchten Tiefland lagen. Ab dem frühen 20. Jahrhundert wurden erstmals einige Osttimoresen in der Kolonialverwaltung eingestellt. Das Kolonialgesetz von 1930 stellte alle Kolonien unter direkte Kontrolle Lissabons. Legislative Räte wurden aus den kolonialen Eliten aufgestellt: Verwaltung, Kirche, portugiesische Plantagenbesitzer und Armee. Die Familiensippen der Liurais wurden in die koloniale Zivilverwaltung als Verwalter, Lehrer und im Militär eingebunden. Ihre Kinder wurden ab 1939 zur Katholischen Schule geschickt, wodurch eine neue Gesellschaftsschicht in der Kolonie entstand. Die Sekundärschule und weiterführende Bildung sollte erst ab 1952 für Timoresen möglich sein. In dieser Zeit der portugiesischen Diktatur wurde die Bevölkerung in „Eingeborene“ und „Nicht-Eingeborene“ geteilt. Zur letzteren Gruppe wurden auch die Mestiços und „assimilierte Eingeborene“ (Assimilados) gerechnet. Die portugiesische Staatsbürgerschaft stand den Nicht-Eingeborenen offen, sie hatten auch das Wahlrecht für die portugiesische Nationalversammlung und die lokalen legislativen Räte. Sie sprachen Portugiesisch und hatten meistens ein ausreichendes Einkommen. Sie beherrschten den Handel, bildeten die Administration und die lokale politische Elite. 1936 wurde ein neues Steuersystem eingeführt. Jeder erwachsene Mann musste eine jährliche Kopfsteuer zahlen. Europäer, Assimilierte, Plantagenbesitzer und Liurais konnten davon befreit werden. 1937 folgte die Einführung weiterer Steuern, die das gesamte alltägliche Leben betrafen, wie die Hausrenovierungen, Fahrräder, Feiern (außer Hochzeiten), Alkohol, Hahnenkämpfe oder das setzen ausländischer Flaggen. Wer von den Einheimischen seine Steuern nicht zahlen konnte, musste unter der Aufsicht von Moradores Zwangsarbeit leisten. Die Zustände dabei, werden von zeitgenössischen australischen Quellen als brutal beschrieben. Wer floh, wurde als Verbrecher mit 100 bis 200 Schlägen mit dem Bambusstock bestraft. 1940 wurde das Polizeikorps von Dili gegründet. Der Zweite Weltkrieg und die letzten Jahre der Kolonie Obwohl Portugal neutral war, besetzten 1941 während des Zweiten Weltkriegs 400 niederländische und australische Soldaten Osttimor, um einer japanischen Invasion zuvorzukommen. Timor sollte als Puffer für Australien dienen. Portugal protestierte erfolglos gegen die Besatzung. Ab der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 1942 landeten die Japaner in Osttimor mit 20.000 Mann. Das kleine australische Kontingent wurde schnell aus Dili vertrieben. In den Bergen kämpften sie zusammen mit timoresischen Freiwilligen in Guerillaaktionen gegen die Japaner. Zum timoresischen Volkshelden verklärt wurde Aleixo Corte-Real, der auf Seiten der Alliierten kämpfte und von den Japanern hingerichtet wurde. Insgesamt verloren im Zweiten Weltkrieg zwischen 40.000 und 70.000 Timoresen ihr Leben, auch durch Bombardements von beiden Seiten. So wurde zum Beispiel 1944 Lautém von der australischen Luftwaffe (RAAF) bombardiert. Die Brutalität, mit der japanische Soldaten gegen Unterstützer der Australier vorgingen, ist den Osttimoresen noch immer in Erinnerung. Von Folter, Hinrichtungen, systematischen Vergewaltigungen und Prügelstrafen durch die Japaner wird berichtet. Durch Zwangsarbeit wurden erste Straßen und Flugfelder auf Timor gebaut, die teilweise noch heute von Bedeutung sind. Die portugiesische Zivilbevölkerung wurde interniert. Pro-japanische Gruppen von Timoresen, die schwarzen Säulen (), griffen Priester und andere Zivilisten an. Insgesamt starben 75 Portugiesen durch die japanische Besetzung, darunter Artur do Canto Resende, der Administrator des Distriktes Dili. Mit der Kapitulation der Japaner übernahm Portugal 1945 wieder die Kontrolle über seine Kolonie. Während Westtimor Teil des 1949 von den Niederlanden unabhängig gewordenen Indonesiens wurde, erhielt Osttimor 1951 nur den Status einer portugiesischen Überseeprovinz. Die arabischstämmige Bevölkerung (1949 wurden 146 gezählt) fühlte Sympathien für den neuen, mehrheitlich muslimischen Nachbarstaat und der Ruf „merdeka bersama Indonesia“ (Unabhängigkeit mit Indonesien) wurde unter ihnen laut. 1957 beantragten viele Araber beim indonesischen Konsulat in Dili die indonesische Staatsbürgerschaft, worauf Portugal mit dem Angebot der portugiesischen Staatsbürgerschaft für sie reagierte. Australien wurde sich durch die Bombardierungen Darwins im Zweiten Weltkrieg der für sie wichtigen strategischen Lage Timors bewusst. Am 26. Januar 1946 erreichte mit Charles Eaton der neue australische Konsul Dili. Auf sein Betreiben begannen die Australier mit Catalinas der RAAF am 24. April 1946 einen Fluglinienbetrieb zwischen Dili und Darwin. Allerdings war die Route nie rentabel und wurde es noch weniger, als Portugal einen Flugdienst nach Kupang eröffnete, von wo aus eine niederländische Flugverbindung nach Darwin existierte. 1950 wurde der Betrieb der australischen Verbindung eingestellt. 1939 war bereits die Transportes Aéreos de Timor (TAT) gegründet worden. 1960 stürzte eine Maschine der TAT auf dem Flug von Darwin nach Baucau ab. Alle neun Insassen des zweimotorigen Flugzeugs kamen ums Leben. In der Nachkriegszeit wurde die Zwangsarbeit durch die Portugiesen wieder vorangetrieben, um die Kriegsschäden zu beseitigen. Jeder Suco musste Arbeiter für jeweils einen Monat zur Verfügung stellen und die Führer der Sucos erhielten ausgeweitete Rechte, um genügend Zwangsarbeiter auszuheben. Menschenrechtsverletzungen durch Beamte und Landbesitzer waren üblich. Unterstaatssekretär für Überseeangelegenheiten Carlos Abecassis hinterließ 1956 nach seinem Besuch in der Kolonie Gouverneur César Maria de Serpa Rosa (1950–1958) entsetzt Anordnungen zur Verbesserung der Situation auf 17 Seiten. Darunter wurde die Abschaffung körperlicher Strafen gefordert, aber es kam nur zu wenigen Änderungen. Die Missstände führten zu Widerständen und schließlich brach 1959 in Uato-Lari eine Rebellion aus, die sich schnell auf die benachbarten Gebiete im Distrikt Viqueque ausbreitete. Die Portugiesen schlugen die Revolte mit Hilfe timoresischer Milizen aus den Nachbarregionen und mit äußerster Brutalität nieder. Angaben über die Zahl der Todesopfer der Viqueque-Rebellion schwanken zwischen 50 und (unwahrscheinlichen) 40.000. Die Rädelsführer wurden in die Verbannung geschickt. Der Priester und spätere Bischof von Osttimor, Martinho da Costa Lopes, war als Gesandter der portugiesischen Regierung Augenzeuge zahlreicher öffentlicher Hinrichtungen. Die Rebellion war nicht spontan ausgebrochen, sondern von einigen Indonesiern, die in Uato-Lari und Baucau als Asylanten lebten, geplant worden. Pläne für einen Umsturzversuch in Dili und Aileu, an denen die Gruppe ebenfalls beteiligt war, waren schon zuvor aufgedeckt worden. Erste Verhaftungen der Verschwörer drängten die Rebellen in Viqueque loszuschlagen. Es gibt widersprüchliche Ansichten, ob die indonesischen Rebellen Agenten Jakartas waren oder Gegner des Regimes, die Timor als Basis für separatistische Bewegungen im Osten des Archipels nutzen wollten. Jedoch begann Indonesien in der Amtszeit Serpa Rosas Kollaborateure unter der arabischstämmigen Bevölkerung der Kolonie zu suchen, um die anti-portugiesische Stimmung dort zu verstärken. Außerdem wurden militärisch wichtige Anlagen fotografiert und es gab Gerüchte von Landungen indonesischer Soldaten im Osten von Portugiesisch-Timor. In den 1960er-Jahren drängten die Portugiesen die Einheimischen den traditionellen Maisanbau zugunsten vom Anbau von Naßreis aufzugeben. Ökologisch machte dies Sinn, da der langjährige Maisanbau das Land auslaugte. Allerdings sollten dafür wieder Dörfer aus dem Hochland in das Flachland an der Südküste umsiedeln. Es war schwer, die Timoresen von dem Land ihrer Ahnen und den Beerdigungsstätten wegzubringen. Die traditionellen Regeln des Lulik standen dagegen. Als dann viele Umgesiedelte in den Ebenen an Malaria erkrankten, sahen sie das als Zeichen, dass sie den lokalen Geistern nicht willkommen seien. Daher kehrten die Siedler schnell in ihre Heimat im Hochland zurück. Anfang 1961 versuchte das linksgerichtete Kampfbüro zur Befreiung Timors (Bureau de Luta pela Libertação de Timor) unter Maoclao einen Aufstand mit finanzieller Unterstützung aus Indonesien. Am 9. April riefen sie im Grenzort Batugade eine Republik aus und stellten eine timoresische Regierung mit zwölf Ministern auf. Die Portugiesen schlugen den Aufstand schnell nieder und die Kämpfer flohen nach Indonesien. In Jakarta gründete Maoclao 1963 eine Exilregierung, die Regierung der Vereinigten Republik von Timor, doch auf Druck der indonesischen Regierung ging Maoclao schließlich nach London in den Ruhestand und die Exilregierung löste sich auf. Im Dezember 1966 kam es zu Zusammenstößen zwischen indonesischen und portugiesischen Streitkräften. Die Indonesier brannten in Oe-Cusse Ambeno einige Dörfer nieder und beschossen das portugiesische Territorium mit Mörsern. Nur die schnelle Reaktion der portugiesischen Armee scheint die indonesischen Truppen von weiteren Attacken abgehalten zu haben. In dieser Zeit wurden die indonesischen Begehrlichkeiten bezüglich der portugiesischen Kolonie immer deutlicher. 1969 wurden Stimmen im Indonesischen Militär laut, die eine Integration Osttimors in Indonesien als entscheidend für die Landessicherheit ansahen, falls die portugiesische Macht instabil werden sollte. Die Möglichkeit einer Annexion wurde ein wichtiger Punkt in der Arbeit der Geheimdienste Indonesiens, Australiens und der Vereinigten Staaten in den frühen 1970er-Jahren. 1972 erklärte der indonesische Außenminister Adam Malik in einem australischen Interview, Indonesien würde sich eine Befreiungsbewegung gegen die Kolonialherren in Dili wünschen und auch finanziell unterstützen. Zeitgleich verteilte eine Gruppe namens „Unirepublic of Timor Dili“ in Jakarta Flugblätter über die Situation in Osttimor. Das Interesse der Australier an Portugiesisch-Timor war mit Aufnahme einer regelmäßigen Flugverbindung nach Baucau durch die Trans Australia Airlines (TAA) wieder gestiegen. Die Kolonialherrschaft in den 1960er-Jahren wurde von australischen Journalisten als eine Mischung aus Zivilisierung und Brutalität beschrieben. Die Timoresen würden von morgens bis abends unter der Peitsche Zwangsarbeit leisten müssen. Auch die anhaltende Armut der Bevölkerung und die repressive Verwaltung standen in der Kritik. Unter anderem versuchten die Portugiesen vermehrt Timoresen im Südosten der Insel anzusiedeln, der sich jedoch nicht zum intensiven Reisanbau eignete. Verglichen mit dem Kolonialkrieg in Afrika war für portugiesische Wehrpflichtige der Dienst in Portugiesisch-Timor deutlich angenehmer. Während Söhne von einfachen Landbewohnern und Arbeitern in Afrika kämpften, nahmen die Angehörigen der Mittelschicht und einflussreichen Familien teilweise sogar ihre Frauen und Kinder mit in das tropische Paradies. Unter diesen Portugiesen waren auch Intellektuelle, die nicht gut auf die portugiesische Diktatur zu sprechen waren. Sie sorgten für einen Aufschwung der urbanen Zentren, vor allem Dilis. So wurden die Infrastruktur ausgebaut und auch erste Sozialwohnungen errichtet. Zwischen 1953 und 1974 stieg die Zahl der Grundschüler von 8.000 auf 95.000, 77 % der Kinder in der Kolonie. Die Zahl jener, die eine weiterführende Fortbildung erhielten, war natürlich geringer und auch die Grundschulbildung war meist mangelhaft. So waren 1975 noch immer 90 bis 95 % der einheimischen Bevölkerung Analphabeten, doch konnten viele Timoresen zumindest rudimentär Portugiesisch sprechen. Das Nachrichtenmagazin der Streitkräfte, die Revista do Comando Autonómo Provincial, wurde das Medium erster national-timoresischer Ideen, auch für einheimische Autoren. Die Streitkräfte wurden so unbeabsichtigt zu einem Förderer der timoresischen Gesellschaft. Am 22. Dezember 1972 wurde eine legislative Versammlung für Portugiesisch-Timor geschaffen. Sie unterstand dem Gouverneur und hatte 20 Abgeordnete, wovon zehn durch direkte Wahl bestimmt wurden, während die anderen ernannt wurden. Portugiesisch-Timor wurde zur autonomen Region der Republik Portugal, womit die Einwohner eine eingeschränkte portugiesische Staatsbürgerschaft erhielten und nicht mehr als Indígenas galten. Diese Maßnahme Portugals mit dem Ziel, Einfluss auf die timoresische Gesellschaft zu bekommen, war im Gegensatz zu den anderen erfolgreich. Einige Timoresen aus der assimilierten, städtischen Bevölkerung, Mestiços und Söhne der Liurai-Familien erhielten auch die Möglichkeit zu einem Studium an der Universität Lissabon. Die Sprösslinge der lokal herrschenden Familien wurden zu politischen Führern mit festen Werten ausgebildet, die Bildung, Nationalstolz und auch Gleichheit befürworteten. Diese Privilegierten trafen sich im Geheimen, um ihre Ideen zu Themen von Bildung, über Landwirtschaft, bis hin zu traditionellen Hochzeiten zu diskutieren. Im Januar 1970 begann eine Gruppe solch junger Osttimoresen, Pläne zur Unabhängigkeit der Kolonie zu schmieden. Zu ihnen gehörten Marí Alkatiri, Nicolau Lobato, Justino Mota und José Ramos-Horta. Die katholischen Zeitungen, wie etwa die SEARA, waren ebenfalls ein Sprachrohr für solche Ideen. Politisch waren die jungen Aktivisten jedoch unerfahren und daher trotz ihres Ehrgeizes sehr naiv. Einige baten 1973 die indonesische Regierung um Unterstützung gegen die Portugiesen. Aus der gut ausgebildeten, jungen timoresischen Elite kamen später die Gründer der ersten politischen Parteien, als die Unabhängigkeit mit der Nelkenrevolution im April 1974 in Portugal in den Bereich des Möglichen rückte. Die neue Regierung Portugals kehrte zurück zur Demokratie und versprach die Entkolonisierung aller Überseegebiete. Am 23. August 1973 berichtete der australische Journalist Bill Nicol erstmals von einer politischen Untergrundbewegung namens „Timor Liberation Front“. Diese Bewegung sei nach Aussagen eines „jungen Radikalen“ aus Dili zwar „unbedeutend, unorganisiert und unbewaffnet“, jedoch bereit, gegen die Portugiesen vorzugehen. Nicol war sich sicher, dass der „junge Radikale“ José Ramos-Horta war. Wenige Monate später tauchte Ramos-Horta auch erstmals namentlich in der australischen Presse auf, als er in einem Interview den portugiesischen Kolonialismus und die Politik der australischen Labour-Regierung dazu attackierte. Statt Enthaltungen Australiens bei Kolonialfragen in den Vereinten Nationen forderte Ramos-Horta Unterstützung für Timor in Form von Entwicklungshilfe und Ausbildung. In seiner Heimat geriet Ramos-Horta aufgrund des Interviews in Schwierigkeiten, weswegen er versuchte, sich mit Artikeln in der A Voz de Timor von dem Interview etwas zu distanzieren. Vermutlich am 30. April 1973 sank in einem Sturm das Handelsschiff Arbiru in der Floressee, das in den Jahren zuvor Dili mit den anderen Küstenorten der Kolonie und sporadisch auch in die Nachbarländer fuhr und von portugiesischen Marinepersonal geführt wurde. Vor allem der Tod der fünf Passagiere empfand die portugiesische Bevölkerung als große Tragödie. Nur eines der 19 Besatzungsmitglieder überlebte den Untergang. Entkolonisierung Die neuen Parteien Nachdem die Nelkenrevolution die Diktatur in Portugal beendet hatte, bildeten sich in Osttimor bereits im Mai 1974 drei große Parteien. Von den traditionellen Eliten (Liurai und Datos) wurde die erste Partei Osttimors, die União Democrática Timorense (UDT) () unterstützt. Die am 11. Mai 1974 gegründete Partei befürwortete zunächst eine enge Bindung an die frühere Kolonialmacht Portugal oder wie sie in Tetum sagte: „mate bandera hum“ – im Schatten der portugiesischen Flagge. Hinter dieser Politik stand Gründungspräsident Mário Viegas Carrascalão, der sich aber nicht dauerhaft durchsetzen konnte. Unter ihrem neuen Präsidenten Francisco Xavier Lopes da Cruz unterstützte die UDT eine schrittweise Heranführung an die Unabhängigkeit. Innerhalb von zehn bis fünfzehn Jahren sollte Portugal die ehemalige Kolonie so weit entwickeln, dass sie als souveräner Staat überlebensfähig wäre. Allerdings zeigte Portugal wenig Interesse an dieser Idee. Die am 20. Mai 1974 gegründete Associação Social Democrática Timorense ASDT (Timoresische Sozialdemokratische Assoziation, nicht identisch mit der 2001 gegründeten Partei Associação Social-Democrata de Timor) unterstützte eine schnelle Unabhängigkeit. Am 11. September änderte sie ihren Namen in Frente Revolucionária de Timor-Leste Independente FRETILIN (Revolutionäre Front für die Unabhängigkeit Osttimor). Viele der Parteigründer waren die Söhne von Liurai und waren als Lehrer oder in der Verwaltung tätig. Ihre Unterstützer fand die FRETILIN nicht nur unter vielen prominenten Liurai, sondern auch in den Dörfern. Der FRETILIN wurde von Australien und Indonesien vorgeworfen marxistisch, beziehungsweise kommunistisch zu sein, was auch als Begründung für die spätere Invasion durch Indonesien diente. Tatsächlich waren einige Mitglieder der FRETILIN Kommunisten, in ihrer Mehrheit war die Partei aber eher Mitte Links anzusiedeln, mit einem breiten Spektrum von konservativ bis linksextrem. Im späteren bewaffneten Konflikt wurde ihre Rhetorik radikal mit kommunistischen Elementen und die parteiinterne Sprache verwendete sozialistisch-revolutionäre Begriffe, angefangen beim Parteinamen. Viele Parolen hatten Vorbilder in den marxistischen Befreiungsbewegungen der afrikanischen Kolonien, wie FRELIMO oder MPLA. Die FRETILIN wurde aber mehr durch afrikanische Nationalisten wie Amílcar Cabral in Portugiesisch-Guinea und den Kapverdischen Inseln beeinflusst. Ihn, wie auch Samora Machel aus Mosambik und andere, hatten timoresische Studenten im Casa dos Timores in Lissabon kennengelernt. Als sie um die Jahreswende 1974/75 nach Portugiesisch-Timor zurückkehrten, trugen sie mit ihrer marxistischen Ausrichtung viel zur Radikalisierung der FRETILIN bei. Die Associação Popular Democrática Timorense (APODETI, ), eine von Jakarta finanzierte Tarnorganisation, strebte den Anschluss an Indonesien als autonome Provinz an. Ihr Chefstratege war José Fernando Osório Soares. Die am 27. Mai 1974 gegründete APODETI fand nur Unterstützung bei einigen Liurais in der Grenzregion. Einige von ihnen hatten während des Zweiten Weltkrieges mit den Japanern kollaboriert. Auch die kleine muslimische Minderheit unterstützte die APODETI. Nicht so Marí Alkatiri, ein muslimisches Mitglied der FRETILIN-Führung und späterer Premierminister Osttimors. Weitere kleinere Parteien waren die Associacão Popular Monarquia de Timor APMT, die spätere Klibur Oan Timor Asuwain KOTA, die eine Monarchie unter einem lokalen Liurai anstrebte und die Partido Trabalhista (Arbeiterpartei). Sie fanden aber keine nennenswerte Unterstützung. Die Associação Democratica para a Integração de Timor-Leste na Austrália ADITLA schlug einen Anschluss an Australien vor, fiel aber zusammen, als die australische Regierung mit Nachdruck die Idee ablehnte. Unter den jungen (zumeist zwischen 27 und 37 Jahre alt) enthusiastischen Parteigründern dieser frühen Parteien waren viele, die später auch im unabhängigen Staates Osttimor politische Führungspositionen innehatten und haben. Wenig beteiligt an den politischen Umwälzungen war die traditionell lebende Landbevölkerung, die die Entkolonialisierung mehr als eine Aktion der europäisierten Eliten ansah oder, wie die Mambai in Aileu es nannten, von den Timoresen, „die Hosen anzogen“ (tam kalsa). Nicht unbedingt sah man sich in den eigenen Interessen von jenen vertreten, die als Sprecher der osttimoresischen Bevölkerung auftraten. Die neue demokratische Regierung in Lissabon entsandte am 18. November 1974 Mário Lemos Pires (1974 bis offiziell 1976) als neuen Gouverneur nach Osttimor – er sollte der letzte Gouverneur Portugiesisch-Timors sein und das Land auf seine Unabhängigkeit und Demokratie so schnell wie möglich vorbereiten. Eine seiner ersten Anordnungen betraf die Legalisierung der politischen Parteien als Vorbereitung für freie Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung. Pires ermutigte die drei großen Parteien zu einer Koalition. Während die APODETI Kooperationstreffen boykottierte, griffen FRETILIN und UDT diesen Vorschlag auf, zumal die FRETILIN dies schon zuvor der UDT angeboten hatte. Am 21. Januar 1975 wurde die Koalition geschlossen und Mitte März bildeten UDT, FRETILIN und die portugiesische Regierung eine gemeinsame Übergangsregierung für Osttimor. Dabei sollten alle drei vertretenen Parteien zu gleichen Teilen beteiligt sein. Diese Übergangsregierung sollte drei Jahre im Amt bleiben, bis dann durch Wahlen eine verfassunggebende Versammlung bestimmt werden sollte. Die Integration sollte beendet werden und verschiedene Sozialprogramme wurden geplant, hauptsächlich aus FRETILIN-Programmen mit Unterstützung durch die UDT. In ländlichen Gebieten hatte die Koalition große Unterstützung und es sah so aus, als ob der Weg zur Unabhängigkeit geebnet worden sei. Streit entwickelte sich in erster Linie mit der APODETI. Eine Konferenz in Macau, die von der portugiesischen Entkolonisierungskommission im Juni 1974 organisiert wurde, um den Konflikt zu schlichten, wurde von der FRETILIN mit Hinweis auf die Teilnahme der APODETI boykottiert. Ramos-Horta nannte dies später im Rückblick einen der größten taktischen, politischen Fehler. Die Parteien folgten unterschiedlichen Strategien im Kampf um die Wählerstimmen. Die UDT wandte sich an die lokalen Führungspersönlichkeiten. Über Administratoren der Distrikte und Subdistrikte bis hin zu den Liurais. Die FRETILIN sprach die einfache Bevölkerung direkt an und versuchte so auch die Führenden für sich einzunehmen. Francisco Xavier do Amaral (FRETILIN) erklärte später, manchmal hätten sich die Parteien dann in der Mitte getroffen. Auffällig war, dass oft ganze Dorfgemeinschaften sich gemeinsam für eine Partei entschieden. So unterstützte Maubisse die UDT, während ganz Uato-Lari für die FRETILIN war und in Uatucarbau die Bevölkerung hinter der APODETI stand. Im direkten Wettstreit verschärfte sich der Ton zwischen UDT und FRETILIN immer mehr. Auf kommunaler Ebene herrschte eine große Intoleranz gegenüber Anhängern anderer politischer Parteien. Oft kam es vor, dass Parteimitglieder verprügelt wurden, wenn sie im „falschen“ Dorf für sich werben wollten. Die UDT nannte die FRETILIN kommunistisch, wofür diese die UDT als Faschisten bezeichnete. Mit dafür verantwortlich waren sieben timoresische Studenten, die im September 1974 aus Lissabon zurückkehrten und schnell führende Positionen in der FRETILIN erreichten. In Portugal waren sie deutlich radikalisiert worden, was sich an der harten Kritik an der konservativen UDT und Anti-UDT-Graffiti mit „Tod den Faschisten“ bemerkbar machte. Ihnen werden oft die linksradikalen Strömungen in der FRETILIN zugeordnet. Es ist zu vermuten, dass diese geladene Atmosphäre die spätere Gewalt zwischen UDT und FRETILIN beförderte. Zudem wurden einige UDT-Führer zu radikalen Anti-Kommunisten, nach ihren Reisen nach Jakarta und Australien 1975. Die im Manifest „Manual e Programa Politicos da FRETILIN“ vom 11. September festgehaltene Aussage, die FRETILIN sei die einzige „legitime Vertretung des osttimoresischen Volkes“ sorgte für weitere Verstimmungen und Misstrauen. Zudem schürte die FRETILIN den timoresischen Nationalismus, zum Beispiel durch die Schaffung der Bezeichnung „Maubere“ als Sammelbegriff aller Timoresen, in Abgrenzung zu portugiesischen Siedlern und Mestiços. Die UDT lehnte diese Trennung als rassistisch ab. Für Besorgnis sorgte bei der UDT die Information von der portugiesischen Geheimpolizei Polícia de Informações Militares, dass die FRETILIN zwei Militärcamps betreiben würde. Die Ausbilder kämen aus dem kommunistischen Vietnam. Zudem signalisierten in Timor portugiesische Vertreter der Movimento das Forças Armadas (MFA), welche die Hauptbewegung hinter der Nelkenrevolution gewesen war, dass man Portugiesisch-Timor zu einem kommunistischen Staat machen wolle. Die APODETI war die erste Partei, die paramilitärische Kräfte aufstellte. Im August 1974 begann sie mit Ausbildungscamps im indonesischen Westtimor. Ausbilder und Waffen kamen vom indonesischen Militär. Tomás Gonçalves, Sohn des Liurais von Atsabe Guilherme Gonçalves und APODETI-Repräsentant in Westtimor, traf im September in Jakarta den Oberbefehlshaber der Streitkräfte, General Maraden Panggabean. Die APODETI präsentierte sich als geeignetes Mittel zur Integration Osttimors in Indonesien. UDT und FRETILIN warben andererseits um Mitglieder der portugiesischen Kolonialarmee. Gouverneur Pires musste bald feststellen, dass es zu einer Spaltung innerhalb seiner einheimischen Truppen kam. Reaktionen des Auslands Indonesien und Australien beobachteten die Entwicklung in Portugiesisch-Timor 1974/1975 außerordentlich genau. Die Regierung von General Suharto befürchtete, dass die linksgerichtete FRETILIN die Regierung übernehmen könnte und dass ein kleiner Staat inmitten des Malaiischen Archipels ein Vorbild für die nach Unabhängigkeit strebenden Provinzen, wie Aceh, Westneuguinea und die Südlichen Molukken werden könnte. Wollte man anfangs von Portugal nur eine Garantie, dass Osttimor nicht zu einer Bedrohung für die Sicherheit Indonesiens wird, kam man bald zu der Ansicht, dass man dieses Ziel nur erreichen könne, wenn Osttimor kein unabhängiger Staat wird. Die im Mai gegründete linksgerichtete FRETILIN und der Fall des konservativen, portugiesischen Präsidenten António de Spínola im September hatte in Indonesien bereits zu Beunruhigungen geführt. Indonesien entsandte eine Delegation unter Führung von General Ali Murtopo nach Lissabon, die von der portugiesischen Regierung am 14. und 15. Oktober 1974 empfangen wurde. Nach dem Besuch verkündete die indonesische Delegation, in der portugiesischen Führung sei man sich einig, dass die Integration Osttimors in Indonesien die beste Option sei. Portugals Präsident Francisco da Costa Gomes widersprach. Zwar sei man der Meinung gewesen, dass Osttimor entweder weiter eine enge Beziehung zu Portugal haben oder in Indonesien integriert werden müsse, man aber die Priorität dem Willen des timoresischen Volkes geben wolle. Es wird vermutet, dass die indonesische Seite diesen letzten Punkt überging und sich in dem Ergebnis der Lissabonner Gespräche zu weiteren Schritten ermutigt sah. Mitte 1974 begann der indonesische Militärgeheimdienst Bakin mit der Operation Komodo (, nach dem Komodowaran), um Portugiesisch-Timor zu destabilisieren und einen Anschluss an Indonesien zu erwirken. Dabei arbeitete man auch mit Osttimoresen zusammen, die den Anschluss an Indonesien favorisierten. Zumeist mit der APODETI, aber ab Mitte März 1975 auch mit einigen UDT-Mitgliedern, deren Angst vor kommunistischen Elementen in der FRETILIN geschürt wurde. Seit der Verkündung der Koalition von UDT und FRETILIN im Januar 1975 arbeitete Indonesien immer offener an seinen Interessen in Osttimor, weswegen Portugal ein weiteres Treffen mit Indonesien am 9. März in London vereinbarte. Wieder leitete General Murtopo die indonesische Delegation. Diese blieb beim Standpunkt, dass die Integration Osttimors die einzige Lösung sei und forderte eine Beraterrolle in der kolonialen Regierung. Eine weitere Internationalisierung der Frage über die Zukunft Osttimors lehnten sie ab. Portugal beharrte auf dem Selbstbestimmungsrecht der Osttimoresen. Trotzdem machte Portugal Eingeständnisse, indem es Indonesien die Rolle eines „interessierten Beobachters“ und das Recht zugestand, die APODETI aktiv zu unterstützen. Die indonesische Seite interpretierte dies erneut als Zustimmung für ihre Position. Australiens Premierminister Gough Whitlam arbeitete eng mit Suharto zusammen und verfolgte die Ereignisse ebenfalls mit Besorgnis. Während eines Treffens am 6. September 1974 auf dem Dieng-Plateau, nahe Wonosobo, auf Java erklärte Whitlam, Osttimor würde „ein überlebensunfähiger Staat und eine potentielle Bedrohung für die Stabilität in der Region“ sein. Obwohl er den Wunsch nach Selbstbestimmung anerkannte, hielt er im Interesse Osttimors einen Anschluss an Indonesien für das Beste. Whitlam erklärte explizit, dass Australien und Indonesien betreffs Portugiesisch-Timors dieselben strategischen Interessen hätten. Ein unabhängiges Osttimor sei eine leichte Beute für China oder die Sowjetunion und sei daher „ein Dorn im Auge Australiens und ein Dorn im Rücken Indonesiens.“ Es gibt Hinweise darauf, dass Whitlam seinen Standpunkt erst festlegte, nachdem Suhartos klar erklärt hatte, dass er keine andere Lösung für Osttimor sehe. Am 4. April 1975 gab Suharto bei seinem weiteren Treffen mit Whitlam in Townsville die indonesische Auffassung wieder, dass Portugal in der Integration Osttimors in Indonesien die beste Möglichkeit sehe, vorausgesetzt die Bevölkerung stehe hinter der Entscheidung. Auch bei diesem Treffen gab Whitlam Suharto grünes Licht zur Übernahme des osttimoresischen Territoriums. Die Übernahme solle aber unter Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Osttimoresen und auf eine Art und Weise geschehen, die „die australische Bevölkerung nicht aufregen“ solle. Obwohl klar war, dass sich die indonesischen Pläne nicht mit diesen Bedingungen vereinbaren lassen, machte Whitlam nicht deutlich, welcher Punkt für Australien Priorität hatte. Obwohl Suharto gegenüber Whitlam noch Gewalt als Option ausschloss, machte der indonesische Präsident doch deutlich, dass man sich nicht auf die Wünsche des osttimoresischen Volkes verlassen könne. Whitlam stimmte zu, dass die Osttimoresen „keine Ahnung von Politik haben“ und sie Zeit bräuchten „ihre ethnische Verwandtschaft zu ihren indonesischen Nachbarn zu erkennen.“ In einem geheimen Telegramm an seinem Außenminister Don Willesee vom 24. September 1974 hatte Whitlam bereits klar erklärt „Ich bevorzuge die Integration, aber der Selbstbestimmung muss gehuldigt werden.“ 1974 fragte die indonesische Regierung bei US-Außenminister Henry Kissinger an, wie die Vereinigten Staaten zu einer indonesischen Invasion stehen würden. Die Vereinigten Staaten hatten mitten im Kalten Krieg und nach dem verlorenen Krieg in Vietnam Bedenken gegenüber einer Unabhängigkeit Portugiesisch-Timors. Nachdem man Indonesien als Verbündeten gewonnen hatte, wollte man nicht mitten im großen Archipel ein destabilisierendes, linksgerichtetes Regime. Die Vereinigten Staaten befürchteten, dass Osttimor zu einem „zweiten Kuba“ werden könne, da die FRETILIN Kontakte zur Volksrepublik China hatte und als kommunistisch galt. Man wollte nicht einen kommunistischen Dominoeffekt in Südostasien riskieren, weswegen die Vereinigten Staaten, wie Australien, die Aktionen des pro-westlichen Indonesiens tolerierten, obwohl Portugal NATO-Mitglied war und versuchte seine ehemalige Kolonie zu unterstützen. Lissabon hatte aber gegen die Interessen der beteiligten Staaten nur diplomatische Möglichkeiten. Im März 1975 empfahl der US-Botschafter in Indonesien David D. Newsom eine Politik des „Stillschweigens“ und unterstützte dabei Kissingers Auffassung. Beim Gipfeltreffen am 5. Juli in Camp David von US-Präsident Gerald Ford und Suharto wurde das Thema „Osttimor“ ausgegrenzt. Suharto schloss es mit dem Satz ab „die Integration in Indonesien ist der einzige Weg.“ Auch andere westliche Staaten und asiatische Verbündete Suhartos teilten die Ansicht, dass Portugiesisch-Timor von Indonesien absorbiert werden sollte. Großbritanniens Botschafter John Archibald Ford erklärte in einer Empfehlung für London: Innerhalb der jungen ASEAN reichten die Reaktionen auf die Bestrebungen Indonesiens in Richtung Portugiesisch-Timor von Zurückhaltung Singapurs bis Unterstützung durch Malaysia. Auch Japan unterstützte Indonesien, um seine eigenen wirtschaftlichen Interessen zu schützen. Bürgerkrieg und Ausrufung der Unabhängigkeit Im Frühjahr 1975 konnte die FRETILIN sich auf eine Mehrheit der Bevölkerung in ganz Osttimor stützen. Am 13. März 1975 wurden im Rahmen des Dekolonisationsprogramms Wahlen im Distrikt Lautém durchgeführt. Ziel war es, die traditionellen Herrschersysteme zu ersetzen. Bei diesem Pilotprojekt für Lokalwahlen gab es keine Parteilisten oder -kandidaten. Die Wähler warfen einfach Kieselsteine in Körbe der Kandidaten um ihre Stimme abzugeben. FRETILIN-nahe Kandidaten konnten sich hier klar gegen UDT-Kandidaten durchsetzen. Am 11. Juli verabschiedete das portugiesische Parlament ein Gesetz, das für Osttimor die Wahlen für eine Volksversammlung im Oktober vorsah. Ein portugiesischer Hoher Kommissars sollte dann die Kolonie in einer dreijährigen Übergangszeit zur Unabhängigkeit führen. Doch Portugal wurde immer mehr durch zivile Unruhen und politische Krisen von den politischen Entwicklungen in seiner Kolonie abgelenkt. Vor allem beschäftigte es die Entkolonisation von Angola und Mosambik. Viele portugiesische Politiker sahen eine Unabhängigkeit Osttimors immer weniger als realistisch an und diskutierten über einen Anschluss Portugiesisch-Timors an Indonesien. Guinea-Bissau hatte Ende 1974 seine Unabhängigkeit erlangt. Anfang des Sommers 1975 folgten Mosambik, Kap Verde und São Tomé und Príncipe, doch in Osttimor brachen, nach den Intrigen des indonesischen Militärgeheimdienstes Bakin, Kämpfe um die Macht aus. Die vermeintliche „kommunistische Bedrohung“ in der Zeit des Kalten Krieges und kurz nach dem Vietnamkrieg, wurde für jene UDT-Führer zur Begründung, die ohnehin mit dem Bündnis mit der FRETILIN unzufrieden waren, die Koalition am 27. Mai 1975 zu verlassen. Bereits am 6. Juni 1975 besetzten indonesische Truppen, getarnt als UDT-Kämpfer die Enklave Oe-Cusse Ambeno. Da eine Reaktion Portugals ausblieb, sah man sich in Indonesien zu weiteren Schritten ermuntert. Vom 26. bis 28. Juni führte António de Almeida Santos, der portugiesische Minister für Koordination interterritorialer Angelegenheiten, Gespräche mit UDT- und APODETI-Vertreter sowie indonesische Diplomaten in Macau. Die FRETILIN boykottierte das Treffen wegen der Teilnahme von Indonesien und der APODETI. Man sah in der Konferenz einen portugiesischen Versuch, Osttimor an Indonesien zu übergeben. Die UDT zeigte sich über den Boykott erzürnt. Indonesien war mit dieser Konferenz von Portugal endgültig als teilnehmende Partei in der Osttimorfrage anerkannt worden. Ergebnis der Konferenz war das Dekret 7/75. In ihm wurden die Struktur einer provisorischen Regierung, unter Beteiligung aller Parteien, und ein Zeitplan für Wahlen im folgenden Jahr festgelegt. Die portugiesische Herrschaft sollte 1978 endgültig enden. Damit war zwar eine gesetzliche Basis geschaffen, die eine direkte Überführung Portugiesisch-Timors von Portugal zu Indonesien verhinderte, das Dekret legte aber nur ein Recht auf Selbstbestimmung fest, nicht die Unabhängigkeit Osttimors. Die FRETILIN zeigte sich uneinheitlich betreffs des Dekrets, man kündigte aber an, sich an den Wahlen zu beteiligen. Die UDT unterstützte das Dekret, APODETI und Indonesien lehnten es ab. Es würde nur auf eine Unabhängigkeit Osttimors hinauslaufen und der Zeitplan sei zu lang. UDT und FRETILIN kritisierten geheime bilaterale Treffen zwischen der portugiesischen und der indonesischen Delegation. Am 10. Juni kam es beinahe zur Konfrontation zwischen einheimischen Soldaten der Forças Armadas Português em Timor (), die die FRETILIN unterstützten, und ihren Kameraden, die hinter Dilis Bürgermeister César Mousinho unterstützten, einem Gründungsmitglied der UDT. Während ihre Vorgesetzten Karten spielten, verließen die FRETILIN-Anhänger die Garnison in Taibesi und fuhren Richtung Stadtzentrum mit dem Ziel, den Bürgermeister seines Amtes zu entheben. Rui Alberto Maggiolo Gouveia, Oberstleutnant der Forças Armadas Português em Timor und Polizeikommandant, stellte sich den Aufständischen entgegen und sagten ihnen, sie sollten keine Dummheit begehen. Nach dieser sanften Ermahnung kehrten die Soldaten nach Taibesi zurück. Ein Disziplinarverfahren gab es für sie nicht. Am 11. August 1975 versuchte die UDT einen Putsch (Operaçao Sakonar), um der wachsende Popularität der FRETILIN entgegenzutreten. Der indonesische Geheimdienst hatte die UDT zu diesem Schritt bewegt. Am 13. August bildete die UDT mit Sympathisanten aus der portugiesischen Kolonialarmee die Bewegung zur Einheit und Unabhängigkeit von Timor-Dili (). Sie plante die Auflösung aller pro-Unabhängigkeitsparteien und Integration ihrer Mitglieder in die MUITD. In den ersten Tagen nach dem Putsch konnte die UDT Polizeichef Maggiolo Gouveia und verschiedene Einheiten des Militärs, wie die Kompanien in Baucau und Lospalos für sich gewinnen. Am 16. August rief die UDT zur Vertreibung aller Kommunisten aus dem Territorium auf, auch „jener im Büro des portugiesischen Gouverneurs“. Sie forderte die Aufhebung des Dekrets 7/75, mit der der Zeitplan für die Entlassung Portugiesisch-Timors in die Unabhängigkeit bis 1978 festgelegt wurde und die Wiederaufnahme von Verhandlungen über die Unabhängigkeit der Kolonie. Am 17. August wurden Major Mota, Chef des Büros für politische Angelegenheiten, und Major Jónatas nach Lissabon zurückgeschickt. Die beiden Vertreter der Movimento das Forças Armadas (MFA) wurden beschuldigt, der kommunistische Flügel in der Kolonialregierung zu sein. In Dili kam es zu Straßenkämpfen. Osttimoresen, die bisher in der portugiesischen Armee dienten, unterstützten im Kampf die FRETILIN und bildeten den Kern der am 20. August gegründeten Forças Armadas de Libertação Nacional de Timor-Leste FALINTIL (). Im dreiwöchigen Bürgerkrieg kämpften etwa 1500 UDT-Anhänger gegen 2000 Mann der FRETILIN. Gouverneur Pires setzte die verbliebenen portugiesischen Soldaten nicht ein, um die Kontrolle wieder zu erlangen. Bereits am 12. August lief der niederländische Frachter MV MacDili mit 272 Menschen an Bord aus Dili aus. Die meisten von ihnen waren Mitarbeiter der portugiesischen Kolonialadministration oder Angehörige des Militärs, die vor den Kämpfen in Sicherheit gebracht werden sollten. Am 15. August erreichte das Schiff das australische Darwin. Die norwegischen SS Lloyd Bakke befand sich vor der Küste Osttimors, als es einen Notruf von Pires erhielt. Das Schiff brachte 1150 Flüchtlinge nach Darwin. Etwa 500 Personen holte die MacDili in der Nacht zum 27. August aus Dili. Um 3:30 Uhr verließ sie den Hafen; im Schlepp das Landungsboot Loes mit Gouverneur Pires und den letzten Mitgliedern der Kolonialverwaltung an Bord. Andere Mitglieder und 85 Soldaten waren schon am Vortag auf die Dili vorgelagerte Insel Atauro gebracht worden, wo Pires sein neues Hauptquartier aufschlug. Die Flüchtlinge auf an Bord brachte die MacDili auch nach Darwin. Für die australische Stadt eine Belastung, da erst acht Monate zuvor Darwin vom Zyklon Tracy zerstört worden war. Pires versuchte von Atauro aus ein Abkommen zwischen den beiden Parteien auszuhandeln. Von der FRETILIN, die am 27. August Dili einnahm, wurde er gedrängt, zurückzukehren, und die Entkolonialisierung voranzutreiben, aber Pires bestand darauf, auf Anweisungen aus Lissabon zu warten. Er wollte auf diese Weise einen Guerillakrieg gegen die portugiesische Regierung in Osttimor vermeiden. Schließlich konnte sich die besser bewaffnete und von der breiten Bevölkerung unterstützte FRETILIN endgültig durchsetzen und bis September de facto die Kontrolle in der gesamten Kolonie übernehmen, wobei sie offiziell weiterhin die portugiesische Souveränität über die Kolonie anerkannte. Am 13. September verfasste das Zentralkomitee der FRETILIN (CCF) ein Kommuniqué, mit dem es nochmals offiziell die portugiesische Oberhoheit anerkannte und zu weiteren Verhandlungen zur Dekolonisierung aufrief. Die Verhandlungen sollten „im nationalen Territorium und ohne äußeren Druck“ stattfinden. Doch Portugal verweigerte weiterhin die Anerkennung der FRETILIN als alleinige Vertreter der Osttimoresen. Insgesamt starben in den Kämpfen 1500 bis 3000 Menschen. 10.000 bis 20.000 UDT-Kämpfer und Zivilisten flohen in das indonesische Westtimor. Von den 3.000 timoresischen Assimilados und europäischen Portugiesen verließen bis zum Ende des Bürgerkrieges 80 % die Kolonie. Indonesien stellte den Bürgerkrieg als Bedrohung dar, der Portugiesisch-Timor in Anarchie und Chaos stürze, aber nur einen Monat später besuchten Hilfsorganisationen aus Australien und anderen Ländern die Kolonie und bezeichneten die Situation als stabil. Die FRETILIN hatte durch die große Unterstützung in der Bevölkerung schnell wieder für Ruhe und Ordnung gesorgt. Auch die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung war gesichert, dank Hilfen durch das Internationale Rote Kreuz und den Australian Council for Overseas Aid (ACFOA). Ehemalige UDT-Anhänger, die geblieben waren, arbeiteten nun mit der FRETILIN zusammen. Fehlendes Personal in der Verwaltung wurde mit ehemaligen Soldaten aufgefüllt, in den einzelnen Distrikten Regionalkomitees und im Oktober verschiedene Kommissionen eingerichtet. Da die Filiale der Banco Nacional Ultramarino geschlossen war und der FRETILIN das Know-how fehlte ein Banksystem aufzubauen, kam es zum Mangel an Fremdwährungen, was den Bargeldfluss und den internationalen Handel erschwerte. Bis zu einem gewissen Grad wurde die Wirtschaft noch durch die chinesische Gemeinde gestützt, so dass zumindest auf den Märkten in Dili und in den chinesischen Geschäften in Oktober und November wieder Leben einkehrte. Staatliche und kirchliche Schulen blieben mangels Lehrer allerdings geschlossen. Viele Nonnen und Pfarrer hatten das Land verlassen. „Die Schäfer sind gerade zu diesem Zeitpunkt weggegangen, als die Lämmer ihre Führung brauchten“, kommentierte dies Francisco Xavier do Amaral später. Probleme hatte die FRETILIN allerdings, ihre Kader von Amtsmissbrauch abzuhalten und auch die mehr als 2000 Kriegsgefangenen brachten Schwierigkeiten mit sich. Ursprünglich wollte man sie bis zur Rückkehr der portugiesischen Verwaltung gefangen halten. Da es aber dazu nicht kam, wurde von der FRETILIN am 30. September eine Ermittlungskommission (Comissão de Inquêrito) eingesetzt, die unter den Gefangenen Führende von unbeteiligten Parteimitgliedern trennen sollte. Dazu wurden in öffentlichen Verhandlungen Zeugen befragt, was zu willkürlichen Urteilen führte. Führungskräfte und Beschuldigte wurden zu weiteren Untersuchungen nach Dili und Aileu gebracht. Dort waren sie teils massiven Misshandlungen ausgesetzt. Es kam auch zu Morden und Hinrichtungen. Die schlechte Behandlung der Gefangenen war keine offizielle Linie der FRETILIN und Parteiführer gingen teilweise auch dagegen vor, doch das Zentralkomitee tat letztlich zu wenig, um die Missstände zu beseitigen. Indonesien sah sich angesichts der Niederlage der UDT veranlasst, seine Strategie zu ändern. Die Operation Komodo des Bakin wurde zur Militäroperation Flamboyan, die einer extra gegründeten Sondereinheit unterstellt wurde. Ab September begannen indonesische Spezialeinheiten mit Einfällen in Portugiesisch-Timor. Am 16. September wiederholte die FRETILIN daher ihren Aufruf zu Verhandlungen mit Portugal. Außerdem sollte eine Konferenz mit Portugal, Osttimor, Indonesien und Australien „Gerüchte und Missverständnisse beseitigen“. Als UDT-Kämpfer getarnt besetzten indonesische Truppen am 8. Oktober 1975 den osttimoresischen Grenzort Batugade und vertrieben die dortigen FALINTIL-Einheiten. Hier wurde das Hauptquartier der Operation Flamboyan aufgebaut. Am 8. Oktober 1975 teilte Philip Habib, Mitglied der US-Delegation im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, den anderen Teilnehmern mit, dass es so aussehe, als ob Indonesien nun begonnen hätte Osttimor anzugreifen. Kissinger antwortete, er hoffe Habib würde seinen Mund über diese Sache halten. Bis zum 16. Oktober 1975 waren die Distrikte an der Grenze Bobonaro und Cova Lima in großen Teilen in indonesischer Hand. Zwei britische, ein neuseeländischer und zwei australische Fernsehjournalisten (die Balibo Five), die an diesem Tag Zeugen der Besetzung der osttimoresischen Grenzstadt Balibo geworden waren, wurden von indonesischen Soldaten gezielt ermordet. Indonesien dementierte selbst jetzt noch, Truppen in Osttimor zu haben oder das Land gar gewaltsam besetzen zu wollen, obwohl in Balibo bereits Kriegsschiffe die Küste beschossen hatten und am selben Tag Maliana besetzt wurde, indem Truppen mit Flugzeugen dort landeten, was man als großangelegte Offensive bewerten muss. Bei einem Treffen der Außenminister Portugals und Indonesiens Anfang November in Rom, sagte Portugal zu, nochmals mit den timoresischen Parteien nach einer friedlichen Lösung zu suchen. Zwar hatte die FRETILIN Bereitschaft zu Gesprächen signalisiert, diese fanden aber letztlich nicht mehr statt. Während die FRETILIN weiter versuchte den portugiesischen Gouverneur zur Rückkehr zu bewegen und die portugiesische Flagge vereinzelt von Regierungsgebäuden wehte, zeigte sich, dass internationale Unterstützung, unabhängig von Portugal, immer nötiger wurde. Im November entsandte die FRETILIN eine Delegation, um im Ausland Unterstützung für eine unilaterale Unabhängigkeitserklärung zu suchen. 25 Länder sagten eine Anerkennung zu. Am 24. November startete die FRETILIN einen Appell an den Weltsicherheitsrat den Rückzug der indonesischen Truppen zu erzwingen. Sie forderte die Entsendung von UN-Friedenstruppen. Parallel bereitete man sich auf die großangelegte indonesische Invasion vor. Waffen und Vorräte wurden in das Landesinnere gebracht und versucht, die Truppen zu vergrößern. Dazu schuf man eine Miliz, die Milícia Popular de Libertação Nacional (MIPLIN). In Atabae leisteten Kämpfer der FRETILIN unter Aquiles Freitas Soares, einem timoresischen Adligen aus Letemumo und ehemaligen Unteroffizier der portugiesischen Armee mit zwölf Jahren militärischer Erfahrung, noch bis zum 26. November Widerstand. Seit Mitte des Monats hatten die Indonesier daher Atabaes Hauptort Aidabaleten von See aus beschossen und besetzten ihn schließlich am Morgen des 28. Novembers. Für die FRETILIN war dies das endgültige Signal zur Ausrufung der Unabhängigkeit, da man sich als unabhängiger Staat mehr Unterstützung durch die Vereinten Nationen erhoffte. Die Unabhängigkeitserklärung der Demokratischen Republik Osttimor (, ) RDTL am 28. November 1975 wurde von insgesamt zwölf Staaten anerkannt, neben ehemaligen portugiesischen Kolonien wie Angola, Kap Verde, Guinea-Bissau, Mosambik oder São Tomé und Príncipe, auch von der Volksrepublik China (als einzigem ständigen Mitglied des Weltsicherheitsrates), Kuba und Vietnam. Portugal, Indonesien, Australien, die Vereinigten Staaten und die Vereinten Nationen verweigerten aber die Anerkennung. Australien nannte sie „provokativ und unverantwortlich“. Die USA betonten, sich nicht einmischen zu wollen. Francisco Xavier do Amaral wurde der erste Staatspräsident Osttimors, Nicolau Lobato Premierminister. Indonesien reagierte mit der Meldung, die Führer von UDT, APODETI, KOTA und der Arbeiterpartei hätten am 30. November 1975 die sogenannte Balibo-Deklaration unterzeichnet, in der zum Anschluss Osttimors an Indonesien aufgerufen wurde. Die Deklaration, eine Ausarbeitung des indonesischen Geheimdienstes, wurde allerdings auf Bali und nicht in Balibo unterzeichnet, wohl auf Druck der indonesischen Regierung. Die Unterzeichner waren mehr oder weniger Gefangene Indonesiens. Xanana Gusmão nannte das Papier die „Balibohong Declaration“, ein Wortspiel mit dem indonesischen Wort für „Lüge“. Indonesische Besatzungszeit Invasion durch Indonesien Schon einen Tag nach der Unabhängigkeitserklärung zog das indonesische Militär am 29. November 1975 in der osttimoresischen Exklave Oe-Cusse Ambeno offiziell seine rot-weiße Flagge auf. Ab dem 7. Dezember 1975 begann mit der Operation Seroja (Operasi Seroja, ) unter Führung von Oberst Dading Kalbuadi die Besetzung des restlichen Gebietes von Osttimor. Zuerst wurde Dili in den frühen Morgenstunden durch 20 Kriegsschiffe der indonesische Marine beschossen und 13 Flugzeuge bombardierten Ziele in der Stadt, dann landeten Boote an den Stränden und Fallschirmjäger Auf der Werft Dilis kam es zu öffentlichen Exekutionen. Eines der Opfer dort wurde der australische Journalist Roger East. Mit Hilfe der portugiesischen Korvetten João Roby und Afonso Cerqueira verließ Gouverneur Pires mit den letzten Angehörigen der Kolonialverwaltung am 8. Dezember seinen Zufluchtsort auf Atauro. Am 10. Dezember folgte eine weitere indonesische Landung in Baucau, der zweitgrößten Stadt Osttimors. Weitere Orte folgten. Am 30. Dezember landeten die Indonesier auf Atauro, wo kurz darauf in einer offiziellen Zeremonie das letzte Zeichen des Machtanspruchs Portugals über seine Kolonie eingeholt wurde; eine portugiesische Flagge, die Gouverneur Pires zurückgelassen hatte. Am 31. Dezember fiel Manatuto. Politische Unterstützung für die Invasion erhielt Indonesien von der Regierung der Vereinigten Staaten. Dies belegen ehemals geheime Regierungsdokumente, die im Dezember 2001 vom US-amerikanischen National Security Archive veröffentlicht wurden. Nur einen Tag vor der Besetzung Osttimors trafen sich demnach in der indonesischen Hauptstadt Jakarta US-Präsident Gerald Ford und US-Außenminister Henry Kissinger mit Indonesiens Präsident Suharto. Australiens Regierung protestierte zwar öffentlich lautstark, nachdem die Besetzung Osttimors schon nahezu vollzogen war, man hatte aber bereits im Geheimen zugesichert nicht aktiv einzugreifen. Mit der Annexion durch Indonesien hatte Australien die Möglichkeit, nun auch im Osten von Timor eine Seegrenze zu seinem Vorteil festzulegen, mit erheblichen Anteilen der Erdölvorräte im Timorgraben auf australischer Seite. Schon 1972 hatte Australien mit Indonesien den Grenzverlauf in der Timorsee bei Westtimor festgelegt. Mit Portugal kam eine entsprechende Vereinbarung nicht zustande, so dass in der Grenze die so genannte Timor Gap () bestehen blieb. Diese Politik war in der australischen Öffentlichkeit nicht populär, da man sich an den heldenhaften Kampf der Timoresen während des Zweiten Weltkrieges auf Seiten der Australier erinnerte. Es kam zu heftigen Protesten, die jedoch keine Beachtung bei der Regierung fanden. José Ramos-Horta reiste drei Tage nach Beginn der Invasion als Außenminister des unabhängigen Staates Timor-Leste nach New York, um den Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen über das Vorgehen des indonesischen Militärs zu informieren. Zwar hatten die Vereinten Nationen noch einige Jahre zuvor bei der Annexion Westneuguineas noch ein Auge zugedrückt, die Besetzung Osttimors erkannten sie aber nicht an. Hier übten mehrere Staaten Druck aus, allen voran Portugal. Pro-indonesische Staaten, wie Indien, Japan und Malaysia, legten noch in der Generalversammlung der Vereinten Nationen einen Resolutionsentwurf vor, in dem Portugal und den timoresischen Parteien die Verantwortung für die Toten vorgeworfen wurde, dieser wurde aber zugunsten eines Antrags von Algerien, Kuba, dem Senegal, Guyana und anderen abgelehnt. Am 12. Dezember 1975 verabschiedete die UN-Generalversammlung die Resolution 3485, in der bestätigt wurde, dass… International galt Osttimor weiterhin als „abhängiges Territorium unter portugiesischer Verwaltung“. In der Verfassung Portugals von 1976 legte sich Portugal mit Artikel 307 die Verantwortung für Osttimor auf. Noch 2001 war dieser Abschnitt Teil der Verfassung (dann Artikel 293): Am 22. Dezember verabschiedete der Weltsicherheitsrat die UN-Resolution 384, die der Resolution der Generalversammlung folgte. Am 22. April 1976 wurde die Forderung in der UN-Resolution 389 wiederholt. Als einziges Land erkannte Australien 1979 die Annexion Osttimors durch Indonesien an. Während der Invasion kam es zu Massenmorden und -vergewaltigungen. In der ersten Zeit besetzten die Indonesier nur strategisch wichtige Ortschaften und Verbindungsstraßen. In vielen Dörfern lebte man gleichzeitig noch unbehelligt von den Invasoren. In dieser Phase flohen viele Timoresen in das Inselinnere, wo es ihnen möglich war, kleine Siedlungen aufzubauen und Ackerbau zu betreiben. Erst Mitte 1977 begann das indonesische Militär in das Landesinnere vorzudringen, indem es mit der Luftwaffe Felder und Dörfer bombardierte und dabei auch Napalm und Entlaubungsgifte einsetzte. Organisation des Widerstands und interne Kämpfe Mitglieder der Communist Party of Australia übergaben der FRETILIN einen Radiosender, den Alarico Fernandes, der osttimoresische Informations- und Sicherheitsminister, nach der Invasion als Radio Maubere verwendeten, um die Bevölkerung zu informieren, Propaganda zu verbreiten und kodierte Nachrichten an die Kämpfer zu senden. Australische Aktivisten fingen die Sendungen in Darwin auf und verbreiteten sie in Australien weiter. Am 12. Dezember 1978 wurde Radio Maubere durch die Indonesier ausgeschaltet. Es gibt Spekulationen, dass Fernandes zu den Indonesiern übergelaufen sei und bereits vor seiner Gefangennahme verschlüsselte Nachrichten über das Radio an die Invasoren sendete, um Stellungen des Widerstands zu verraten. Auf dem FRETILIN-Kongress vom 15. Mai bis 2. Juni 1976 in Soibada wurde Lobato offiziell zum militärischen Kommandanten erhoben. Auf dem Kongress entwickelte die FRETILIN Strukturen für die Zivilbevölkerung in den von ihr kontrollierten Gebieten und den militärischen Widerstand durch die FALINTIL. Die geflohene Zivilbevölkerung wurde in sogenannten bases de apoio (Deutsch: Unterstützungs- oder Rückhaltbasis) in jeder Verwaltungseinheit, nach ihren Heimatorten aufgeteilt, gesammelt. Diese Basen dienten als politische und logistische Stützpunkt, sowohl für Zivilisten, als auch für die Kämpfer. Innerhalb der FRETILIN kam es 1976/77 zum Streit um die Ausrichtung der Bewegung und die richtige Strategie im Kampf gegen die Invasoren. Der linksradikale Flügel der FRETILIN erklärte andere nationale Kräfte (oft ehemalige portugiesische Soldaten mit katholisch-konservativem Hintergrund) zu Konterrevolutionären, denen Gefangenschaft, Folter und Hinrichtung drohte. Verschiedene Mitglieder kritisierten die Schaffung von befreiten Zonen (zonas libertadas), in denen die Zivilbevölkerung den bewaffneten Widerstand unterstützen konnte. So forderte Aquiles Freitas Soares, der sich bei der Verteidigung von Atabae Verdienste erworben hatte, eine rein militärische Strategie, die ohne die zivilen Basen auskommt, um den Zivilisten die Möglichkeit zu geben aus den Bergen in ihre Wohnorte zurückzukehren und sich zu ergeben. Der Liurai Francisco Ruas Hornay sprach sich in Iliomar gegen die Versammlung von Zivilbevölkerung zur politischen Bildung im Sinne der FRETILIN aus. Auch schlug man vor, mit anderen Parteien, wie der UDT, im Kampf gegen die Indonesiern zusammenzuarbeiten. Unter den Kritikern waren ehemalige Mitglieder der portugiesischen Kolonialarmee, traditionelle Führer und auch Teile der FRETILIN-Führung. Die Meinungsunterschiede eskalierten zum Konflikt. Soares gründete in Quelicai eine eigene Einheit, das Comando da Luta Boru-Quere (Kampfkommando Boru-Quere), auch wegen der Ermordung von mindestens neun Zivilisten in Venilale durch lokale FRETILIN-Führer, die die Opfer der Kollaboration verdächtigt hatten. Hornay musste nach einem Schusswechsel mit seinen Männern fliehen. Die Führung in den Sektoren ging massiv gegen die Dissidenten vor, Ende 1976 wurden sie gefangen genommen. Soares, Hornay und mehrere ihrer Männer wurden hingerichtet. Auch innerhalb des Zentralkomitees stiegen die Spannungen. Amaral boykottierte die Teilnahme an der Konferenz in Laline im Mai/Juni 1977. Vor allem im Sektor Nordzentrum (Centro Norte) gab es Spekulationen, dass es innerhalb des Widerstands Verräter gäbe. Menschen wurden verhaftet und getötet, weil sie Kontakt mit UDT-Anhängern gehabt hatten, so im Umerziehungslager (Campos de Rehabilitação Nacional, Renal) in Remexio, wo 21 Personen im April 1977 hingerichtet wurden. Ende Juli beschloss das Zentralkomitee der FRETILIN in Herluli (Remexio), wegen Meinungsverschiedenheiten über das Vorgehen gegen die indonesische Besatzung, die Absetzung Amarals. Nach der Absetzung Amarals kam es im August zu einer Säuberungsaktion innerhalb der FRETILIN. Mehrere Anhänger Amarals wurden gefangen genommen, verprügelt und erschossen, darunter viele seiner Leibwächter. Amaral selbst wurde am 14. September 1977 in Tutuluro gefangen gesetzt. Das FRETILIN-Zentralkomitee warf ihm Hochverrat vor, weil er die Bevölkerung seiner Heimat Turiscai vor Gräueltaten der indonesischen Armee schützen wollte. Auf lokaler Ebene hatte er daher über Truppenreduzierungen und Waffenstillstand verhandelt. Im September 1977 wurde Lobato auch Vorsitzender der FRETILIN und nominell Präsident der Demokratischen Republik Osttimor. Zum Premierminister und stellvertretenden FRETILIN-Vorsitzenden wurde António Mau Lear Duarte Carvarino und Vicente Sa'he dos Reis wurde zum Nationalen Politkommissar ernannt. Auf einer FRETILIN-Konferenz in Aicurus wurde im selben Jahr das Verteidigungsministerium einschließlich der stellvertretenden Ministerposten abgeschafft, nachdem eine Evaluierung ergeben hatte, dass es nicht effizient war. Die Führung der FALINTIL ging auf den Generalstab der FALINTIL über. Die beiden bisherigen stellvertretenden Verteidigungsminister wurden zu Sektorkommandeuren degradiert. Hermenegildo Alves wurde Kommandeur des Sektors Centro Leste und Guido Soares Kommandeur des Sektors Centro Sul. Zum neuen Stabschef wurde der bisherige Stellvertreter Domingos da Costa Ribeiro ernannt. Im Generalstab von FALINTIL gab es nun acht Stabsstellen mit der Bezeichnung colaborador do estado maior, die für die dem Generalstab unterstellten Bereiche wie Operationen, Codes, Information, Logistik und Ausbildung zuständig waren. Der Generalstab war dem Staatspräsidenten Nicolau Lobato unterstellt. Gleichzeitig hatte Lobato auch das Amt des politischen Kommissars für den Generalstab inne, der die politische Ordnung in der Armee gewährleisten sollte. Nach Forschungen von Loro Horta, dem Sohn von José Ramos-Horta, wurde mit einer Seeblockade der indonesische Marine zwischen 1975 und 1978 mit australischer Unterstützung verhindert, dass Schiffe der Volksrepublik China die FALINTIL mit Waffen versorgte. China versuchte demnach Waffen für 8000 Kämpfer inklusive mittleren Luftabwehrgeschützen, leichter Artillerie und Anti-Panzerwaffen für die Infanterie nach Osttimor zu bringen. Die Waffen wurden schließlich stattdessen nach Mosambik gebracht und von der dortigen Regierung im Kampf gegen die RENAMO benutzt. Nach dem Tod Mao Zedongs 1976 sank das Engagement der Volksrepublik für Osttimor und endete 1978 fast völlig. Inoffizielle Kontakte durch Einzelpersonen blieben bestehen, so hielt zum Beispiel Marí Alkatiri über Hongkong und seine Auslandsvertretungen Kontakt zur Volksrepublik. 1997 war Alkatiri sogar als Gast der chinesischen Regierung bei der Zeremonie zur Übergabe Hongkongs an China anwesend. Finanzielle Hilfen für den timoresischen Widerstand wurden über chinesische Geschäftsleute weitergeleitet. Mit Zunahme der Angriffe der indonesischen Armee baute man die Verteidigung der bases de apoio weiter aus. Im äußeren Ring standen Kämpfer der FALINTIL (Companhias de Intervenção, Interventionseinheiten), dem folgte ein Ring ziviler Verteidigungseinheiten, den Forças de Auto-Defesa (Selbstverteidigungskräfte, kurz FADE oder auch Armas Brancas, Weiße Waffen, genannt). Die Zivilisten befanden sich im Zentrum. Ihnen war es verboten den Verteidigungsring zu verlassen. In der Basis war jeder dazu angehalten neben den eigenen Anbauflächen, auch die Gemeinschaftsgärten der Gemeinde zu bestellen. Die Jugendorganisation OPJT (Organização Popular da Juventude Timorense) und Frauenorganisation OPMT (Organização Popular de Mulheres Timorense) der FRETILIN organisierten Anpflanzungen von Reis, Mais, Maniok und anderen Feldfrüchten. Die Ernte wurde an Bedürftige verteilt und zur Versorgung der FALINTIL-Soldaten verwendet. Außerdem webten die Frauen Stoffe und stellten traditionelle Medizin her. In einfachen Schulen lehrte man Lesen und Schreiben und die politische Ideologie der FRETILIN. Nachts sang man Freiheitslieder. Noch heute romantisieren ehemalige Bewohner diese Zeit, während andere die Arbeit zur Versorgung der Kämpfer als Zwangsarbeit beschreiben. Streitigkeiten und Konflikte, auch private, wurden von politischen Kadern der FRETILIN oder offenen Volkstribunalen (assembleia popular) entschieden. Übeltäter kamen in einfache Gefängnisse, wie Schweineställe, die Renal (Rehabilitação Nasional) genannt wurden. Dabei kam es auch zu Misshandlungen und Folter. Geringere Vergehen wurden mit Arbeiten, wie das Anlegen von Feldern, bestraft. Gingen die Lebensmittelvorräte durch den Angriff der indonesischen Armee verloren, konnte das für die Einwohner den Hungertod bedeuten. Die Versorgung der Bevölkerung wurde mit zunehmender Einengung der unbesetzten Regionen, wie die Gebiete um Matebian, Alas und die Ebene von Natarbora, immer schwerer. Mit dem zunehmenden Bombardement wollten immer mehr Zivilisten sich den Indonesiern ergeben, was die FRETILIN unterband, um die Moral nicht zu untergraben. Teils mit Misshandlungen und Gefängnis. Doch mit der Zeit gaben immer mehr Timoresen auf. Die ersten Zivilisten, die in die Wälder geflohen waren ergaben sich den Invasoren am 3. Februar 1976 in Bobonaro. Jede Woche folgten weitere Gruppen mit bis zu 700 Mitgliedern. Mit als letzte stellten sich 1979 Bunak, die drei Jahre in den Wäldern gelebt hatten. Bis November 1978 wurden auch die letzten bases de apoio zerstört. Lobato wurde bei der indonesischen Operation „Einkreisung und Vernichtung“ verletzt und kurz darauf am 31. Dezember 1978 von den Indonesiern gestellt. Je nach Quelle beging er daraufhin Selbstmord oder wurde von den indonesischen Soldaten erschossen. Die „Operation Einkreisung“ richtete sich nicht nur gegen die Basen der FRETILIN, sondern auch gegen deren Produktion von Nahrungsmitteln. In der Regel wurde das Zielgebiet zunächst massiv bombardiert. Napalm sollte den Wald entlauben. Danach folgte Artilleriebeschuss und der Angriff der Bodentruppen. Das Zieldorf wurde umzingelt und die Einwohner in Transitcamps deportiert. Mitglieder und Sympathisanten der FRETILIN wurden hingerichtet, ihre Häuser niedergebrannt. Am Ende der Operation stand die FRETILIN vor der Niederlage. Über 80 % der FRETILIN-Kämpfer waren gefallen, 85 % der Mitglieder des Oberkommandos waren getötet worden und 90 % ihrer Waffen zerstört. Indonesische Verwaltung Mit dem APODETI-Mitglied Arnaldo dos Reis Araújo als Präsidenten wurde von Indonesien am 17. Dezember 1975 die Provisorische Regierung Osttimor (PGET, Indonesisch: Pemerintah Sementara Timor Timur, PSTT) als Marionettenregierung aufgestellt, bestehend aus APODETI- und UDT-Führern. Araújo lehnte am 22. Dezember 1975 in einem Schreiben an den UN-Generalsekretär die Entsendung eines Beobachterteams der Vereinten Nationen ab. Allerdings klagte er in einem geheimen Schreiben im Juni 1976 auch an den indonesischen Präsident Suharto über Übergriffe durch das indonesische Militär: Am 31. Mai 1976 verabschiedete eine vom indonesischen Geheimdienst ausgewählte Volksversammlung mit allen 37 Stimmen eine Petition für den Anschluss an den Nachbarstaat ohne Referendum. Mário Carrascalão erklärte später, dass dies auch der einzige Zweck dieser Volksversammlung gewesen war. Unterzeichnet wurde die Petition von PGET-Präsident Araújo und dem Vorsitzenden der Volksversammlung Guilherme Gonçalves. Man berief sich dabei auf die Balibo-Deklaration. Danach wurden die osttimoresischen Vertreter mit einem Militärflugzeug nach Jakarta geflogen und am 7. Juni übergaben Araújo, Gonçalves, Francisco Xavier Lopes da Cruz und Carrascalão die Petition an den indonesischen Präsident Suharto. Mit dem indonesischen Gesetz Nr. VII/1976 wurde am 17. Juli Timor Timur (indonesisch für Osttimor) offiziell die 27. Provinz der Republik Indonesien und Araújo am 4. August Gouverneur. Vize-Gouverneur wurde Francisco Lopes da Cruz. Die Gouverneure aller indonesischen Provinzen wurden während der Suharto-Diktatur durch den Präsidenten für jeweils fünf Jahre ernannt und durch den indonesischen Repräsentantenrat des Volkes (DPR) bestätigt. Während in vielen Provinzen aktive oder Militärangehörige im Ruhestand ernannt wurden, waren die Gouverneure Timor Timurs alles Zivilisten, die aus der ehemaligen portugiesischen Kolonie stammten. An zweiter Stelle der Administration stand der Sekretär der Regionalverwaltung (Sekretaris Wilayah Daerah, Sekwilda), der durch den indonesischen Innenminister eingesetzt wurde. Er hatte die Kontrolle über das Provinzbudget. Bis auf einen waren alle Sekretäre in Timor Timur Offiziere des Militärs. Am 4. August 1976 wurde der Repräsentantenrat des Volkes der Provinz (DPRD) installiert, mit Guilherme Gonçalves als Vorsitzenden. Es hatte 25 bis 45 Mitglieder, die aber nicht gewählt wurden. 80 % der Sitze waren den vom indonesischen Staat kontrollierten Parteien vorbehalten, die restlichen 20 % standen den indonesischen Streitkräften (Angkatan Bersenjata Republik Indonesia ABRI) zu. Auch die Vertreter in den Distriktsparlamenten wurden berufen. Ab Ende 1976 gab das indonesische Militär Passierscheine (surat jalan) an die Bevölkerung aus, die es ihnen erlaubte, ihre Siedlungen zu verlassen, um die umliegenden Felder zu bewirtschaften. Noch bis 1978 gab es starke Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit und erst 1983 hatte sich die Situation so weit normalisiert, dass auch Flüchtlinge und Vertriebene in ihre Heimatdörfer zurückkehren konnten. Kritik an den Folgen der Besatzung für die Zivilbevölkerung wurde vom indonesischen System nicht toleriert. So wurden im Juli 1980 drei UDT-Aktivisten verhaftet und verprügelt, nachdem sie in Manu-kokorek, dem tetumsprachigen Programm von Radio Republik Indonesia kritische Beiträge gesendet hatten. Zwei Mitglieder des DPRD wurden im November 1981 verhaftet, nachdem sie in einem Brief an Präsident Suharto von angeblichen schweren Verfehlungen indonesischer Beamter und Militärangehöriger berichtet hatten, darunter die Ermordung von osttimoresischen Zivilisten. Araújo verlor 1978 seinen Posten, nachdem er Indonesien öffentlich die wirtschaftlichen Zustände unter der indonesischen Verwaltung mit der portugiesischen Kolonialzeit verglichen hatte, in der sämtliche Investitionen direkt wieder in das Mutterland zurückflossen. Araújos Nachfolger wurde Guilherme Gonçalves, der ebenfalls vorzeitig abtreten musste, nachdem es mit Oberst Paul Kalangi, dem Sekretär der Regionalverwaltung, zum Disput über den Anteil der Kaffeesteuer für die örtliche Regierung gekommen war. Vom 18. September 1982 bis zum Juni 1992 war Mário Carrascalão Gouverneur. In seiner Amtszeit normalisierte sich die Zivilverwaltung. Carrascalão strebte einen friedlicheren Weg an. Zweimal traf er den FALINTIL-Kommandanten Xanana Gusmão zu Friedensgesprächen, 1983 in Lariguto und 1990 in Ariana. Ergebnis war aber nicht eine Beendigung des Konflikts mit den Indonesiern, sondern der Schulterschluss der verschiedenen Fraktionen des politischen Osttimors. Zudem machte Carrascalão Menschenrechtsverletzungen der indonesischen Besatzungsmacht öffentlich bekannt. José Abílio Osório Soares, Bruder des verstorbenen Chefstrategen der APODETI José Fernando Osório Soares, übernahm 1992 als letzter Gouverneur für zwei Amtszeiten den Posten. Francisco Lopes da Cruz blieb bis 1982 Vize-Gouverneur. Ihm folgten die indonesischen Offiziere Brigadegeneral Antonius Baldinuci Saridjo (1989–1993) und Oberstleutnant Johanes Haribowo (1993–1998). Beide waren zuvor Sekretäre der Regionalverwaltung, die offiziell hinter dem Gouverneur an zweiter Stelle der Administration waren, allerdings die Kontrolle über das Provinzbudget hatten. Eingesetzt wurden sie durch den indonesischen Innenminister. Die weiteren Vize-Gouverneure waren Oberst Johannes Suryo Prabowo (1998), Radjakarina Brahmana (1998) und Musiran Darmosuwito (1998–1999). Bis auf einen waren alle Stellvertreter und Sekretäre in Osttimor Offiziere des Militärs. Kopassus und Kostrad-Einheiten bauten parallel zur Zivilverwaltung eine militärische Kommandostruktur auf. Versuche von Vittorio Winspeare Guicciardi, des Sondergesandten des UN-Generalsekretärs, Gebiete von Darwin aus zu besuchen, die noch von der FRETILIN gehalten wurden, wurden vom indonesischen Militär durch eine Blockade Osttimors verhindert. Der Militärbezirk Korem 164/Wiradharma wurde offiziell am 26. März 1979 unter dem Hardliner Colonel Adolf Sahala Rajagukguk als Kommandanten etabliert. Die Militärführung der Streitkräfte in Jakarta hatte im selben Jahr für Osttimor die Spezialeinheit Kohankam (ab 1989 Kolakops) geschaffen. In den Jahren 1976 und 1978 wurden in Osttimor die Infanteriebataillone 744 und 745 aufgestellt, in der einheimische Osttimoresen unter indonesischen Offizieren rekrutiert wurden. Doch obwohl diese die Einheiten mit den meisten Osttimoresen in der indonesischen Armee waren und als einzige permanent in Osttimor stationiert waren, blieben die lokalen Kräfte in der Minderheit. So waren von 600 Angehörigen des Bataillon 745 nur 150 Osttimoresen. Zudem waren sie in ihrer Loyalität nicht sehr zuverlässig. Gleiches galt für die von Indonesien aufgestellten Milizen, von denen viele zwangsrekrutierten Mitglieder vor allem im Vorfeld des Unabhängigkeitsreferendums 1999 sich absetzten. Das galt selbst für den westlichen Distrikt Bobonaro, der laut Pro-Integration-Sprecher der am stärksten pro-indonesische gewesen sein sollte. Um auch schwere Waffen in entlegenere Gebiete bringen zu können, wurde von den Indonesiern das Straßennetz ausgebaut. Die Portugiesen hatten für den Transport von Handelswaren wegen des notorischen Geldmangels nur Schotterpisten angelegt. Am Ende der Kolonialzeit existierten daher gerade mal sechs Kilometer asphaltierte Straßen in Osttimor. Gerade der Straßenbau wurde von Indonesien als Beispiel der Entwicklung der Region genannt, womit man versuchte die Besetzung zu legitimieren und die portugiesische Kolonialmacht für ihr Versagen zu schmähen. Xanana Gusmão kommentierte diesen Punkt später in seiner Verteidigungsrede vor dem indonesischen Gericht folgendermaßen: Zur besseren Kontrolle wurden Teile der Bevölkerung aus entlegenen Gebieten zwangsumgesiedelt. Für sie richtete Indonesien in Osttimor sogenannte „Transit Camps“ ein, in die auch hunderttausende der Zivilisten gebracht wurden, die zuvor vor den Invasoren in FALINTIL-kontrollierte Gebiete geflohen waren. Die indonesischen Offensiven 1977/78 zwangen die FRETILIN-Führung dazu, den Zivilisten zu erlauben, sich den Indonesiern zu ergeben. Im Dezember 1978 lebten laut Angaben des indonesischen Militärs 372.900 Timoresen, etwa 60 % der Bevölkerung, in diesen Transit Camps. 1979 gab es nach heutigem Wissensstand in mindestens 139 Orten solche Lager, die wirkliche Zahl der Camps lag wahrscheinlich höher. Allein im Ort Ainaro gab es drei verschiedene Lager. Eines der schlimmsten befand sich ab Ende 1979 in Railaco. Überlebende erzählten, dass sie Wurzeln und Blättern sammeln mussten, um nicht zu verhungern. Internierte aus Lacluta berichteten später: Bis zu zehn Menschen, Kinder und alte Menschen, starben demnach pro Tag. Untersuchungen gehen von tausenden Toten in den Lagern aus. Erst im Oktober 1979 erreichte das Internationale Rote Kreuz Dili. In Kooperation mit dem Indonesischen Roten Kreuz wurde die Hilfe für die Internierten organisiert. Erste Hilfsmaßnahmen gingen sofort nach Hatulia und Laclubar. In sechs Monaten sollten 1.800 Tonen Getreide, 360 Tonnen Reis, 1.080 Tonnen Bohnen, 216 Tonnen Pflanzenöl, 270 Tonnen Milchpulver und 180 Tonnen Eiweiß-Biskuits an 60.000 Menschen geliefert werden. 1981 erreichte das Hilfsprogramm des Roten Kreuzes 80.000 Menschen in 15 Siedlungen und hatte in der ersten Phase ein Budget von 6,26 Mio. US-Dollar. Die Hälfte davon wurde alleine für den Transport via Helikopter verwendet. In den 1980ern wurde einigen Insassen erlaubt, wieder in ihre Heimatdörfer zurückzukehren. Andere wurden nach strategischen Gesichtspunkten in neuen Dörfern oder anderen Orten, sogenannten „Siedlungszentren“ (tempat pemukiman) zwangsangesiedelt. In dieser Zeit wurden Zwangsumsiedlungen zu einer der wichtigsten Waffen gegen den timoresischen Widerstand. Opfer waren jene, die unter Verdacht standen, mit der FRETILIN zusammenzuarbeiten oder einfach auch nur die, von denen Familienmitglieder beim Widerstand waren. Tausende, zumeist Frauen und Kinder, wurden Anfang der 1980er nach Atauro deportiert, wo es wieder an Nahrung und anderen Wichtigem fehlte. Erst 1982 wurde dem Internationalen Roten Kreuz erlaubt, auch diesen Zwangsumgesiedelten zu helfen. Andere Hilfslieferungen wurden von Soldaten der indonesischen Streitkräfte abgefangen. Ein Mitglied des amerikanischen Catholic Relief Services (CRS) berichtete, dass sie 1979 gezwungen wurden, die Lebensmittel zum militärischen Distriktshauptquartier zu bringen. Statt 10 kg pro Person, durften die CRS nur 5 kg verteilen. Begründet wurde die Maßnahme vom Militär, dass sonst Nahrungsmittel an die FRETILIN weitergegeben werden würde. Erst bei weiteren Lieferungen durch die CRS würden weitere Hilfen an die Bevölkerungen ausgeteilt. Den CRS-Mitarbeitern wurde erklärt, dass die Soldaten die zweite Hälfte der Hilfslieferungen für sich verwenden oder verkaufen wollten. Auch sollten mit den Lebensmitteln Bauarbeiter bezahlt werden, obwohl die indonesische Regierung dafür bereits finanzielle Mittel freigegeben hatte. Andere Soldaten tauschten gegen die gelieferten Lebensmittel frische Eier und Hühner ein. Solchen Missbrauch von Hilfslieferungen wurde in Maubisse, Ermera, Hatu-Builico, Liquiçá, Manatuto, Baucau, Lospalos, Laga und Suai dokumentiert. Auch aus Kleidungslieferungen wurden von den Soldaten gut erhaltene Stücke für den Eigengebrauch oder Verkauf aussortiert. CRS-Mitarbeiter, die protestierten, wurden mit vorgehaltener Waffe bedroht und beschuldigt ein FRETILIN-Sympathisant zu sein. Anfang 1979 wurden etwa hundert Männer aus Ermera, der bisherigen Hauptstadt des gleichnamigen Distrikts, und dem Suco Ponilala von der indonesischen Besatzungsmacht an den Ort gebracht, wo heute die Stadt Gleno steht. Das indonesische Militär zwang die Männer das bisher unbewohnte Gebiet zu roden und von der Vegetation zu befreien, damit hier die neue Stadt gebaut werden konnte. Erfüllten die Zwangsarbeiter ihr Tagespensum nicht, wurden sie zur Bestrafung gefoltert. Drei Männer, die zu krank zum arbeiten waren, wurden von den Soldaten umgebracht. Da man in der Zeit keine Gärten anlegen konnte, erfolgte die Versorgung mit Nahrungsmitteln durch das Militär. Als die Arbeiten an der neuen Distriktshauptstadt Gleno 1983 beendet waren, stellte das Militär die Versorgung ein. Die Familien der Zwangsarbeiter wurde nun ebenfalls nach Gleno zwangsumgesiedelt. Weil immer noch keine Gärten zur Grundversorgung angelegt worden waren, kam es zu Todesfällen durch Verhungern. Erst ab 1985 durften sich die Bewohner Glenos frei bewegen. Erstmals nahmen die Einwohner Osttimors an den indonesischen Nationalwahlen 1982 teil, 311.375 Osttimoresen gaben ihre Stimme ab. Das Ergebnis war eindeutig gefälscht. Es ergab über 100 % der Stimmen für die Regierungspartei Golkar. Im indonesischen Parlament entsandte Timor Timur acht Abgeordnete. Im Dezember 1988 beendete Präsident Suharto mit dem Präsidialen Dekret 62 formal die Isolation Osttimor. Das besetzte Gebiet erhielt einen gleichwertigen Status zu den 26 anderen Provinzen Indonesiens. Die Reisebeschränkung wurde für indonesische Staatsangehörige aufgehoben und ausländische Touristen und Journalisten durften nach Einholung einer offiziellen Genehmigung in die Provinz einreisen. Die Gründe Suhartos für diesen Schritt sind etwas unklar. Möglicherweise wollte er den Einfluss des Militärs einschränken, das die Wirtschaft Osttimors beherrschte. Tatsächlich nahm die Macht des Militärs in dieser Zeit ab. 1993 wurden die Kolakops-Sondereinheiten des indonesischen Militärs in Osttimor aufgelöst und das Gebiet verlor seinen Status als Sonderzone. Der Militärbezirk Korem 164/Wiradharma stand dann bis zu seiner Auflösung direkt unter der Führung des Bereichskommandos Kodam IX/Udayana auf Bali. Der Kampf um die Unabhängigkeit Im August 1977 verkündete Suharto eine Amnestie für FRETILIN-Kämpfer, die sich ergeben und wiederholte das Angebot am 31. Dezember 1977. Doch in der Realität mussten Osttimoresen, die sich ergaben oder gefangen genommen wurden, mit Folter und Ermordung rechnen. Wer in die Hände der Besatzer fiel, wurde zunächst verhört. Dabei wurden die Opfer zum Teil mit stumpfen Gegenständen, brennenden Zigaretten oder Elektroschocks traktiert. Nach dem Verhör entschieden die leitenden Offiziere über Leben und Tod. Wer zur Führung des Widerstands gehörte oder eine höhere Ausbildung hatte, wurde zumeist ermordet, ebenso deren Ehefrauen. Es folgte eine Zeit geprägt von Terror und der Umsiedlung der Zivilbevölkerung, Verfolgung von Anhängern der Unabhängigkeitsbewegung durch pro-indonesische Milizen und der Armee. Von Indonesien wurden zivile Sicherheitskräfte mit Osttimoresen als Mitglieder aufgestellt. Die Hansip wurden bewaffnet und erhielten einen Sold, während die Ratih (Rakyat Terlatih, „ausgebildete Personen“) weder Bewaffnung noch regelmäßige Zahlungen erhielten. Zivilisten, die sich den Invasoren ergeben hatten, wurden zum Teil als TBOs (Tenaga Bantuan Operasi, Operationsassistenzkräfte) zwangsverpflichtet. TBOs mussten die Truppen an die Frontlinien begleiten und Munition und Ausrüstung tragen. Zeitweise dienten sie auch als Späher und Führer, manchmal auch als Spione in den von der FALINTIL gehaltenen Zonen. Mit der Verwendung von Zivilisten für kriegerische Zwecke verstießen die Indonesier gegen das Kriegsvölkerrecht. Mau Lear wurde im Februar 1979 gefangen und getötet. Zu diesem Zeitpunkt lebten von den ehemals 48 Mitgliedern des Zentralkomitees der FRETILIN nur noch Sera Key, Xanana Gusmão, Txai und Mau'huno. Alle operierten an der Ostspitze Timors. Im März trafen sich in Titilari Gusmão und Ma'huno mit den anderen verbliebenen politischen Führern Mau Hodu, Bere Malay Laka und Txai und den militärischen Kommandanten Mauk Moruk, Reinaldo Freitas Belo (Kilik Wae Ga’e), Olo Gari, Nelo und Freddy, um den Widerstand zu reorganisieren. Sera Key wurde im April von den Indonesiern gefangen genommen, als er im Zentrum Osttimors nach verbliebenen Kämpfern suchte, und wahrscheinlich ermordet. Auch zwei weitere Aufklärungsmissionen blieben zunächst erfolglos. War der Guerillakrieg durch die FRETILIN bis zum Tod Nicolau Lobatos nicht die Regel gewesen, begann Xanana Gusmão gezielt mit dieser Taktik für die Unabhängigkeit zu kämpfen. Verschiedene timoresische Gruppierungen bekämpften die Besatzer mit Unterstützung aus der Bevölkerung vom Gebirge aus. Am 10. Juni 1980 griffen FALINTIL-Einheiten den Fernsehsender in Marabia, das Waffenlager der B-Kompanie des Infanteriebataillon 744 in Becora und militärische Einrichtungen in Dare und Fatu Naba am Rande der Hauptstadt Dili an. Es war der erste größere Angriff, auch „levantamento“ (port.: Erhebung, Aufstand) genannt, seit der fast völligen Zerschlagung der Widerstandsbewegung im Jahre 1978. Das indonesische Militär tötete als Reaktion darauf über 100 Menschen und folterte oder verbannte Angehörige von Widerstandskämpfern auf die als Gefängnisinsel benutzte Insel Atauro. Bei den Auseinandersetzungen verübte das indonesische Militär massive Menschenrechtsverletzungen und Gräueltaten (unter anderem Mord und Vergewaltigungen). Die Zahl der indonesischen Soldaten, die in Osttimor eingesetzt wurden, variierte von 15.000 bis zu 35.000. Vom 1. bis zum 8. März 1981 fand am Berg Aitana (Subdistrikt Lacluta) ein Treffen der FRETILIN statt. Die „Reorganisation der Nationalen Konferenz“ diente der Restrukturierung des Widerstands gegen die indonesischen Invasoren nach dem Verlust aller Widerstandsbasen (bases de apoio) und befreiten Zonen (zonas libertadas). Dabei wurde Xanana Gusmão zum neuen Chef der FALINTIL gewählt. Am 7. April 1981 wurde Tetum vom Vatikan als Sprache für die Liturgie zugelassen. Folge war sowohl eine Verstärkung der nationalen Identitätsbildung der Osttimoresen, als auch ein weiterer Zulauf zum katholischen Glauben. Um 1975 betrug der Anteil der Katholiken an der Bevölkerung nur etwa 30 Prozent. Mit ein Grund für die kaum gelungene Evangelisierung war auch die Rivalität zwischen Dominikanern und Jesuiten. Während des Freiheitskampfes gegen Indonesien wurde die katholische Kirche jedoch zur einigenden Klammer zwischen den Stammesverbänden gegen die überwiegend muslimischen Indonesier. Bis 2002 nahm der Anteil der Katholiken in der Bevölkerung daher auf über 90 Prozent zu. Starken Einfluss hatte die Befreiungstheologie aus Lateinamerika. Ein weiterer Grund für die Zunahme der Katholiken war, dass sich die Einwohner Osttimors bei der Registrierung durch die indonesische Behörden zwischen einer der fünf anerkannten Religionen (Islam, katholisches und protestantisches Christentum, Hinduismus, Buddhismus) entscheiden mussten. Unter dem Druck der Wahl entschieden sich die meisten Osttimoresen für den Katholizismus. Teilweise wird angenommen, dass Gemeinsamkeiten zwischen dem traditionellen Konzept des Lulik und dem katholischen Glauben, wie die Verehrung von Toten und die Ikonenanbetung, hier mit eine Rolle gespielt haben. Von Mai bis September 1981 folgte „Operasi Kikis“ (auch Operation „Pagar Betis“), bei der 60.000 timoresische Zivilisten in einem sogenannten „Zaun aus Beinen“ quer durch die Insel streiften, um Aufständische aufzuspüren. Unter den Zwangsrekrutierten, die an vorderster Front gegen die FALINTIL eingesetzt wurden, waren auch Kinder. Am Ende des Marsches wurden am 7. September am St. Antonius-Schrein am Aitana, je nach Angaben zwischen 70 und 500 Menschen, darunter Frauen und Kinder, durch die indonesische Armee getötet. Amnesty International veröffentlichte Geheimdokumente vom Juli 1982, nach denen Colonel Adolf Sahala Rajagukguk, der Befehlshaber des Wehrbereichs für Osttimor, und sein Geheimdienstchef Chief Major Williem da Costa schriftlich ihre Einwilligung zur Anwendung von Folter gegenüber verdächtigen Personen mit angeblichen Rebellenverbindungen gegeben hatten. In den Dokumenten stand: Am 20. August 1982 kam es zum Cabalaki-Aufstand (Levantamento de Kabalaki) in den Orten Mauchiga, Dare, Mulo (alle Hatu-Builico), Aituto (Maubisse) und Rotuto (Same). FALINTIL-Kämpfer und einige Einwohner aus den Orten griffen dabei mehrere Stützpunkte der Indonesier in der Region an. So die Dare Koramil, Koramil und Polizei in Hatu-Builico und die Hansip in Aituto, Rotuto und Raimerhei. Die Indonesier schickten sofort Truppen in die Region. In Dare wurden Häuser niedergebrannt, Schulen geschlossen und Frauen und Kinder dazu gezwungen Wache in Militärposten zu halten. Außerdem kam es zu Zwangsumsiedlungen, Brandschatzung, Plünderungen und Vergewaltigungen. Die Militärposten wurden in jeder Aldeia der Region errichtet, dazu kamen acht Gemeindeposten um Dare herum. FALINTIL-Kämpfer und ein Großteil der Bevölkerung flohen aus dem Gebiet, manche auch auf den Cabalaki, den markanten Gebirgszug der Region. Der stellvertretende Verantwortliche, Colonel Purwanto, begann geheime Verhandlungen mit dem Rebellenführer Xanana Gusmão, die am 23. März 1983 mit einem Waffenstillstand endeten. Allerdings kam es zu Übergriffe durch die indonesische Armee auf die Bevölkerung, unter anderem auch in Kraras (Subdistrikt Viqueque). Daraufhin verübten die FALINTIL zusammen mit Männern aus der Region am 8. August 1983 einen Überfall auf den indonesischen Militärposten in Kraras. 14 Soldaten kamen dabei ums Leben. Es folgte eine Vergeltungsaktion des Militärs, das sogenannte Kraras-Massaker. Fast 300 Einwohner des Dorfes starben, zahlreiche Personen wurden verhaftet, andere konnten in die Berge fliehen. Das Dorf wurde durch die Besatzer aufgelöst. Die Region wird heute das „Tal der Witwen“ genannt. Zwischen dem 5. und 8. August desertierten Hunderte von Mitgliedern von bewaffneten Milizen (Wanra, Hansip) aus Mehara, Lore, Leuro und Serelau (alle im Distrikt Lautém) und schlossen sich der FALINTIL an. In ihren Heimatorten führten die Indonesier Strafaktionen durch. Hunderte Frauen und andere zurückgebliebene wurden auf Lastwagen zusammengetrieben und für mehrere Monate interniert. Es kam zu Folterungen und Vergewaltigungen. Später wurden mehrere hundert Familien auf die Insel Atauro zwangsumgesiedelt. Noch im August folgte die großangelegte Operation „Operasi Sapu Bersih“ („Reiner Tisch“) des indonesischen Militärs und im September 1983 die Operasi Persatuan und die Operasi Keamanan („Operation Sicherheit“). 1984 versuchten Stabschef Reinaldo Freitas Belo, sein Stellvertreter Mauk Moruk, dessen Untergebener Oligari Asswain und ein weiterer FALINTIL-Kommandant den Aufstand gegen Kommandeur Xanana Gusmão. Während sie seine Politik der Vereinigung aller nationalen Kräfte ablehnten, ihn einen Verräter und sich die wahren Vertreter der Revolution nannten, warf Gusmão der Gruppe fehlendes Pflichtgefühl und militärische Fehler aufgrund von Eigenmächtigkeiten vor. Zu einem von Gusmão einberufenen Reorganisationstreffen der FALINTIL in Liaruca im September 1984, erschienen die rebellierenden Kommandanten nicht. Stattdessen versuchten sie in Same andere Kommandanten für sich zu gewinnen. Am 4. September wurde in Liaruca eine radikale Umstrukturierung der militärischen Kommandostruktur beschlossen. Belo und Mauk Moruk wurden zusammen mit drei anderen wegen Aufruhr aus dem Zentralkomitee geworfen. Gusmão wurde neben Kommandeur nun auch zum Stabschef der FALINTIL. Eine Einheit aus Kämpfern aus allen militärischen Regionen wurde entsandt, um die Rebellen zu entwaffnen. Reinaldo Freitas Belo war verschwunden, doch Mauk Moruk konnte entdeckt werden. Obwohl er keine Unterstützung mehr hatte, gelang ihm bewaffnet die Flucht. Er stellte sich schließlich den Indonesiern und ging ins Exil, dass er vor allem in den Niederlanden verbrachte. Laut Angaben von Gusmão erschoss Reinaldo Freitas Belo sich kurz darauf selbst. Gusmão unterstellte ihm später psychologische Probleme. Andere FALINTIL-Kommandanten geben an, Belo sei in einem Gefecht mit den Indonesiern umgekommen. Oligari Asswain, Stellvertreter von Mauk Moruk, wurde aus der FALINTIL verbannt und gründete später den CPD-RDTL. Mauk Moruks Bruder Cornélio Gama wurde zunächst ebenfalls aus der FALINTIL entfernt, durfte aber später zurückkehren. Parallel gründete er aber eine eigene Organisation, die religiöse Züge hatte, die Sagrada Família. Gusmão nutzte seine neugewonnene Macht, um die marxistische Ideologie der FRETILIN im Widerstand über Bord zu werfen, zugunsten der Nationalen Einheit. Auch Widerständler, die nicht im Partisanenkampf beteiligt waren und anderen politischen Strömungen angehörten wurden nun in eine nationale Widerstandsbewegung eingebunden. Von August 1983 bis Juni 1984 erfolgten schwere Bombardements durch die indonesische Luftwaffe, die auch die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft zog. Weitere indonesische Offensiven folgten im November 1986, März 1987 und Juli 1987. Die Reaktion des timoresischen Widerstands bestand aus Hinterhalten im Dezember 1985 und im März 1988. Im Oktober 1986 besetzte die FALINTIL sogar für drei Tage die Stadt Viqueque. Am 21. November 1986 starben in einem Hinterhalt der FALINTIL bei der Quelle von Ossohira 34 indonesische Soldaten. Im Dezember 1988 verübte die FALINTIL erfolgreich einen Überfall auf indonesische Soldaten in den Außenbezirken der Hauptstadt Dili. Mit Unterstützung der Weltbank und der Ford Foundation wurde im April 1985 mit einem Programm zur Geburtenkontrolle begonnen. Berichte aus dieser Zeit sprechen von Zwangssterilisationen, Zwangsabtreibungen und Zwangsverhütung, auch wenn die spätere Empfangs-, Wahrheits- und Versöhnungskommission von Osttimor (CAVR) keinen organisierten Genozid mit diesen Methoden nachweisen konnte. Von einigen Seiten wurden diese angeblichen Maßnahmen, zusammen mit der Einwanderung von Siedlern aus anderen Teilen Indonesiens, auch als Mittel zur Indoniesierung der Bevölkerung angesehen. Bis 1999 stieg die Anzahl der Indonesier in Osttimor auf 85.000. Das Programm zur Geburtenkontrolle wurde in den Dörfern mit Hilfe des Militärs durchgesetzt, meist durch Hormonimplantate und -spritzen. Wenn es trotzdem zu Schwangerschaften kam, verliefen diese oft mit Komplikationen und tödlich. Einige Kinder wurden mit Missbildungen geboren. Manche Frauen wurden nach der Geburt sterilisiert und Mädchen zusammen mit Impfungen in der Schule ohne Aufklärung empfängnisverhütende Mittel verabreicht. Noch heute misstrauen viele Frauen Kliniken und gynäkologischen Behandlungen. Zudem stieg die Geburtenrate in Osttimor nach Abzug der Indonesier extrem. Zeitweise hatte das Land die höchste Rate weltweit. Ab 1980 wurden 500 Familien von Java und Bali im Transmigrationprogramm angesiedelt. Zwischen 1980 und 1985 zählte man offiziell 14.142 Zuwanderer 1984 hatten sich etwa 5.000 Balinesen in Osttimor niedergelassen. Bis 1988 kamen 15.550 dazu. In der Hochzeit der Transmigrationspolitik Suhartos erreichte der Anteil der Bevölkerung Osttimors, die aus Indonesien stammte, nach indonesischen Angaben bis zu 20 %. Auffällig ist, dass der Anteil an Muslimen trotzdem nur 4 % erreichte. Dies lag mit daran, dass hauptsächlich Katholiken einwanderten. In den 1980er-Jahren wuchs neben der militärischen und der diplomatischen Front immer mehr eine dritte Widerstandsfront gegen die indonesische Besatzung heran: Die zivilen Widerstandsgruppen. Anders als bei den beiden anderen Teilen des Widerstands dominierte hier nicht die Generation von 1975, sondern führten Jugendliche und Studenten diese Untergrund- und Semi-Untergrundbewegungen an, die letztlich das Ziel hatten, Osttimor für die Indonesier unregierbar zu machen. Ideologisch waren sie zum einen geprägt vom Katholizismus geprägt, der eine Abgrenzung zum islamisch dominierten Indonesien und mit Tetum eine nationale Identitätsbasis bot, zum anderen kurioserweise vom indonesischen Schulsystem. Zwischen 1976 und 1993 stieg die Zahl der Grundschulen von 47 auf 654, 34 Sekundarschulen entstanden und die Universitas Timor Timur (UNTIM) wurde 1986 gegründet. 1500 Studenten erhielten Stipendien an indonesischen Universitäten. Hier wurde vom „glorreichen“ Kampf des indonesischen Volkes gegen den niederländischen Kolonialismus berichtet und die osttimoresischen Studenten lernten die indonesische Verfassung kennen, in der das Recht aller Menschen auf Unabhängigkeit betont wird. Die Osttimoresen adaptierten beides auf ihre Situation. Studentenführer Fernando de Araújo berief sich zum Beispiel später auf diesen Passus der Verfassung, als er das indonesische Gericht ablehnte, vor das er gestellt wurde. Weiterhin übernahm die junge Generation aber auch die Symbole der Kämpfer von 1975 und auch den Gebrauch der portugiesischen Sprache. Den größten Antrieb für den jungen Nationalismus dürfte aber die Brutalität des indonesischen Besatzungsregimes gewesen sein. Zu der zivilen Front gehörten unter anderem RENETIL, OJETIL, OPJLATIL, FECLETIL, FITUN und die Sagrada Família. Ihr Motto war „Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn nicht wir, wer dann?“ Manche operierten in Indonesien, wie die RENETIL, die sich aus osttimoresischen Studenten vor allem auf Java und Bali zusammensetzte. Indonesien hatte in den 1980er-Jahren damit begonnen, zahlreiche Stipendien für Studienplätze auf Bali und Java an osttimoresische Jugendliche zu vergeben, um sie politisch für sich einzuvernehmen. OJETIL, FITUN und OPJLATIL agierten in Osttimor selbst, wobei die beiden ersten über die Pfadfinderbewegung auch gute Kontakte zur Kirche unterhielten. Zwar propagierten einige Widerstandsgruppen einen säkularen Nationalismus, um möglichst viele Menschen anzusprechen, aber andere nutzten gerade die katholische Kirche zur Mobilisierung der Bevölkerung. War nach der Zerstörung der bases de apoio deren Hauptaufgabe, die Kämpfer in der Wildnis zu versorgen und Nachrichten zwischen den Gruppen und der diplomatischen Front im Ausland zu transportieren, sollten sie in den 1990er-Jahren zur Kernstrategie des Widerstands werden. Am 31. März 1986 wurde die Nationale Timoresische Konvergenz (Convergencia Nacional Timorense CNT) von UDT, FRETILIN, KOTA und der Partido Trabalhista (Arbeiterpartei) als Dachverband gegründet. Am 12. August 1988 durfte UDT-Vorsitzender Moisés da Costa Amaral vor dem UN-Komitee für Entkolonialisierung, als Mitglied einer CNT-Delegation, für das Selbstbestimmungsrecht Osttimors sprechen. Weitere Mitglieder der Delegation waren Martinho da Costa Lopes, Roque Rodrigues (FRETILIN) und João Carrascalão (UDT). Die UN-Generalversammlung verabschiedete immer wieder Resolutionen (A/RES/37/30, A/RES/36/50, A/RES/35/27, A/RES/33/39, A/RES/32/34, A/RES/31/53), welche die unrechtmäßige Besetzung verurteilten. Doch der Osttimorkonflikt bekam wenig Aufmerksamkeit durch die internationale Gemeinschaft. Es gab weiterhin immer wieder Spaltungen und Machtkämpfe zwischen den einzelnen Gruppierungen des osttimoresischen Widerstands. Daher gründeten Xanana Gusmão und José Ramos-Horta am 31. Dezember 1988 den Nationalrat des Widerstandes der Maubere (Conselho Nacional de Resistência Maubere CNRM) als neue Dachorganisation mit Gusmão an der Spitze. Er sollte den Freiheitskampf besser koordinieren. Der Vorschlag der römisch-katholischen Kirche, einen Volksentscheid über die Unabhängigkeit oder den Verbleib als Provinz Indonesiens durchführen zu lassen, führte zu neuen Diskussionen über die Zukunft der Krisenregion. Carlos Filipe Ximenes Belo, der 1988 zum Bischof geweiht wurde, versuchte mit dem Einfluss der Kirche, das Leid der Bevölkerung zu mindern. Der Besuch von Papst Johannes Paul II. am 12. Oktober 1989 in Osttimor stärkte das Selbstbewusstsein der Bevölkerung und rückte den Konflikt für kurze Zeit wieder in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Nach der Messe entfaltete eine Gruppe junger Leute Transparente. Sie demonstrierten für Selbstbestimmung und gegen Menschenrechtsverletzungen. Diesem für Indonesien peinlichen Moment folgte eine Welle von Verhaftungen und Folter. Der amerikanische Botschafter in Jakarta, John Monjo, reiste am 17. Januar 1990 nach Dili, um die Foltervorwürfe zu untersuchen. Vor seinem Aufenthaltsort, dem Hotel Turismo in Dili, kam es an drei aufeinanderfolgenden Tagen zu kleineren Demonstrationen. Es gibt Berichte, dass sich die Demonstranten vorher mit Gouverneur Mário Viegas Carrascalão abgesprochen hatten, so dass die Demonstration mehrere Stunden andauerte. 80 bis 90 Jugendliche durften im Hotel den Botschafter treffen und übergaben an ihn Geschenke und eine Petition. Monjo unterstützte die Forderungen der Demonstrationen nicht, verlangte aber für sie eine Sicherheitsgarantie. Als der Botschafter abreiste, wurden die Demonstranten verprügelt. Zwei von ihnen starben. Indonesische Truppen versuchten am 14. November 1990 in dem Gebiet um Same und Ainaro mit der „Operasi Senyum“ („Operation Lächeln“) Gusmão zu fangen. Vier Tage zuvor war eine Frau gefangen genommen worden, die beim Verhör ausgesagt hatte, dass sich der Rebellenführer bei einem nahegelegenen Berg aufhielt. Xanana Gusmão konnte aber vermutlich eine Nacht vor dem Angriff entkommen. Nach dem Angriff, bei dem zwölf Bataillone und vier Hubschrauber im Einsatz waren, gab das Militär an, etwa 100 Kämpfer aufgespürt zu haben. Weiterhin wurde ein Behälter mit Gusmãos Dokumenten, einer Videokamera und seiner Schreibmaschine gefunden. Unter den Dokumenten befanden sich unter anderem Briefe des Papstes und Bischof Belos. Das Santa-Cruz-Massaker, internationale Reaktionen und der Fall Suhartos Der Erfolg der Aktionen beim Papstbesuch führte zur stärkeren Ausrichtung des Unabhängigkeitskampfes auf den Widerstand durch die zivile Bevölkerung. Neben kleinen Untergrundaktionen in den Städten verlagerte man sich ab 1990 immer mehr auf zivilen Ungehorsam, Demonstrationen, Propagandaaktionen bei anderen Jugendlichen und der Zivilbevölkerung und später auf andere Aktionen, wie Botschaftsbesetzungen. Im Juni 1990 wurden die Widerstandsbewegungen unter das gemeinsame Kommando des CNRM-Exekutivkomitees unter Sekretär Constâncio Pinto und dem FALINTIL-Oberbefehlshaber Xanana Gusmão, gestellt. Die Untergrundbewegung wurde in verschiedene Abteilungen unterteilt: Jugend und Massenmobilisierung, Agitation und Propaganda, Studium und Analyse, Information und Sicherheit sowie Finanzen. Die FALINTIL entwickelte sich immer mehr zum politischen Symbol und Kommando- und Koordinationszentrum des CNRM. Im Alltag organisierten sich die verschiedenen Gruppen weitgehend selbst und hatten auch jeweils selbst ihre direkten Kontakte zu den FALINTIL-Kämpfern. Nur bei größeren Aktionen, übernahm das Commando da Luta (Kampfkommando) die Organisation und versuchte das Zusammenspiel der drei Fronten zu koordinieren. Die Arbeit des zivilen Widerstands verschaffte der diplomatischen Front die nötige Aufmerksamkeit in der Weltöffentlichkeit. Die Tatsache, dass sich dieser Widerstand aus der Jugend zusammensetzte, zeigte zudem deutlich das Scheitern der militärischen Integrationsversuche Osttimors in den indonesischen Staatsverband. Indonesien versuchte mit einer Doppelstrategie entgegenzuwirken. Zum einen versuchte der Satuan Gabungan Intelijen (SGI, der Geheimdienst der Kopassus) die osttimoresische Jugend in viele Gruppen aufzuteilen und gegeneinander auszuspielen. Zum anderen folgte man der Strategie der „Ehe zwischen Rassen“ (), auch um eine Islamisierung Osttimors zu erreichen. Frauen wurden aus Indonesien nach Osttimor geschickt, um timoresische Männer zu heiraten. Gleichzeitig ermunterte man junge Timoresen den muslimischen Glauben anzunehmen. Die zivilen Widerstandsgruppen reagierten mit Agitation und Propaganda (Agitprop). Man wollte so die Einheit der osttimoresischen Jugend erreichen und gleichzeitig die indonesische Verwaltung stören und Verwirrung stiften. Seit Herbst 1989 war auf Vorschlag des UN-Generalsekretärs de Cuéllar der Besuch einer portugiesischen Parlamentsdelegation im Gespräch, der aber kurz vor dem Stattfinden von den Portugiesen abgesagt wurde, da Indonesien die Einreise der australischen Journalistin Jill Jolliffe verweigerte. Im November 1991 sollte außerdem der Sonderberichterstatter über Folter, Pieter Kooijmans, nach Osttimor reisen, um Berichte von Menschenrechtsverletzungen verschiedener Organisationen zu untersuchen. Während der Anwesenheit des UN-Sonderberichterstatters kam es am 12. November auf dem Friedhof von Santa Cruz in der Hauptstadt Dili zum Santa-Cruz-Massaker (auch Dili-Massaker), bei dem das indonesische Militär über 200 Menschen tötete und in den folgenden Tagen viele verschwinden ließ. Die wegen des geplanten Besuches der Portugiesen angereisten Journalisten konnten das Geschehen beobachten, dem britischen Journalist Max Stahl gelang es, das Massaker zu filmen. Mário Viegas Carrascalão, der zu dieser Zeit der indonesische Gouverneur Timor Timurs war, deckte geheime Exekutionen des indonesischen Militärs auf. Die Veröffentlichung führte weltweit zu großer Empörung. Heute ist der 12. November zum Gedenken der Opfer nationaler Feiertag in Osttimor. Auch wenn die Führung des zivilen Widerstands durch die Verhaftungswelle zunächst zusammenbrach und die Angst der Menschen weitere Aktionen lähmte, war das Santa-Cruz-Massaker ein Wendepunkt in der indonesischen Besatzungszeit. Die öffentliche Meinung in der westlichen Welt kippte zu Gunsten der Timoresen. Zudem war die Sowjetunion im selben Jahr von der Weltbühne verschwunden, so dass Indonesien nicht mehr das marxistische Schreckgespenst an die Wand malen konnte. Eine Menschenrechtsbewegung, die sich mit Osttimor solidarisierte, entstand in Portugal, Australien, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern. Das Massaker hatte große Auswirkungen auf die öffentliche Meinung in Portugal, vor allem, nachdem im Fernsehen Osttimoresen auf Portugiesisch betend gezeigt wurden. In Australien war ebenfalls ein Großteil der Bevölkerung empört und kritisierte Canberras enge Beziehungen zum Suhartoregime und die Anerkennung Jakartas Souveränität über Osttimor. Dies brachte die australische Regierung zwar in Verlegenheit, aber Außenminister Gareth Evans tat die Morde als Fehltritt () ab. Auch in Osttimor gewann der Widerstand nach dem Santa-Cruz-Massaker wieder an Kraft. Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre bestand der militärische Widerstand nur noch aus 143 Kämpfern mit 100 Gewehren. Doch nach dem Massaker stieg ihre Anzahl auf 245 Guerillas mit 130 Gewehren. Die RENETIL organisierte ihre erste Demonstration in Jakarta. Mit der Verhaftung von Xanana Gusmão am 20. November 1992 und der Weigerung der indonesischen Seite, Verwandte und Mitarbeiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zu den Gefangenen zu lassen, verschärfte sich der Konflikt noch weiter. Bereits am 9. Dezember gelang der FALINTIL der erste militärische Schlag nach der Verhaftung Gusmãos. Nahe Maubisse legte sie in Manufahi einer indonesischen Patrouille einen Hinterhalt. Über 30 Soldaten wurden getötet und zwei Lastwagen zerstört. Gusmão erhielt 1993 die höchste Auszeichnung Portugals als Zeichen des Respekts der Portugiesen. Die Führung der FALINTIL übernahm Ma'huno Bulerek Karathayano, der bereits am 5. April 1993 ebenfalls von den Indonesiern gefangen wurde. Ihm folgte Nino Konis Santana, der am 11. März 1998 bei einem Unfall im Distrikt Ermera ums Leben kam. Portugal versuchte erfolglos, die internationale Gemeinschaft dazu zu bewegen, Druck auf Indonesien auszuüben. Regelmäßig wurde die Situation in Osttimor bei der Europäischen Union zur Sprache gebracht. Allerdings sahen andere EU-Mitglieder keine Vorteile darin, sich mehr für das Land einzusetzen. So zum Beispiel Großbritannien, das enge wirtschaftliche Beziehungen mit Indonesien hatte, inklusive Waffenlieferungen. Ab 1994 reorganisierte sich der Widerstand der Generation der Santa-Cruz-Demonstranten, der Lorico Asuwain. Im Juni 1994 fand erstmals wieder eine Demonstration von mehr als zehn Personen statt, als ein katholischer Kardinal Dili besuchte. In Folge fanden Demonstrationen an den historischen Daten 12. November, 28. November und 7. Dezember und beim Besuch ausländischer Gäste statt. Zwischen dem 13. und 24. November 1994 kam es in ganz Osttimor zu gewaltsamen Demonstrationen. Vielerorts verlor die indonesische Armee zeitweise die Kontrolle über die Situation. Zwischenzeitlich begann die RENETIL mit indonesischen Demokratiegruppen zusammenzuarbeiten, da man Suharto als das eigentliche Problem für Osttimor ausgemacht hatte. Beim APEC-Gipfeltreffen im indonesischen Bogor kam es am 15. November zu Protesten. 78 osttimoresische Studenten waren in Taxis zur amerikanischen Botschaft in Jakarta gefahren und 29 von ihnen (unter ihnen Arsénio Bano) gelang es trotz der Sicherheitsvorkehrungen über den 2,6 m hohen Zaun in das Botschaftsgelände zu springen, wo sie Banner mit „Free East Timor“ entrollten. Die anderen 49 wurden verhaftet. Diese von langer Hand vorbereitete Botschaftsbesetzung fand internationale Beachtung in den Medien und verdrängte Suhartos Erfolge auf dem APEC-Gipfel. Erst nach zwölf Tagen waren die Botschaftsbesetzer bereit die Aktion zu beenden. Vom Roten Kreuz wurden sie zum Flughafen gebracht, von wo sie ins Asyl nach Portugal ausfliegen konnten. Dort weigerten sie sich zunächst, mit der Presse zu reden und verwiesen auf eine Pressekonferenz, die dann von José Ramos-Horta geführt wurde. Bereits zuvor hatte es Besetzungen der Botschaften von Schweden und Finnland gegeben, so dass man Erfahrungen im Umgang mit den Medien sammeln konnte. Am 19. November 1995 folgten Besetzungen der britischen, der niederländischen und der japanischen Botschaften zum APEC-Gipfel in Osaka und am 7. Dezember zum Jahrestag der indonesischen Invasion der russischen und niederländischen Botschaften mit 112 indonesischen und osttimoresischen Demonstranten. 1996 waren die australische, die neuseeländische und die französische Botschaften dran und im März 1997 die Botschaft von Österreich. Alle Besetzungen verliefen gewaltlos. Auch wenn man meinte, den katholischen Glauben verteidigen zu müssen, gingen die Osttimoresen auf die Straße. 1994 demonstrierte man gegen die Belästigung einer Nonne. Von Januar bis März 1995 kam es zu Ausschreitungen, wegen der Schändung der Hostie in einer katholischen Kirche durch einen indonesischen Beamten bei seiner Rede und Verunglimpfungen des Katholizismus in Gesprächen mit Einheimischen, während seines Besuchs in Osttimor. Daraufhin griffen osttimoresische Jugendliche die indonesische Polizei und muslimische Einwanderer an und zerstörten deren Eigentum. In ganz Osttimor, vor allem in Bobonaro und Viqueque, brannten Moscheen und protestantische Kirchen. Erstmals wurden Unabhängigkeitsbefürworter von paramilitärischen Gruppen angegriffen. Weitere gewaltsame Ausschreitungen folgten in den nächsten Monaten. In dieser Zeit gab es auch häufig Angriffe auf indonesische Einwanderer. Als Präsident Suharto 1995 die Hannover-Messe und andere Städte in Deutschland besuchte, wurde er von kleineren Protesten, unter anderem von Amnesty International, begleitet. Der Stadtrat von Weimar erklärte Suharto zur unerwünschten Person. In Dresden verwehrte man ihm einen Eintrag in das Goldene Buch der Stadt, bewarf ihn mit Flugblättern und hinderte sein Fahrzeug an der Weiterfahrt. Suharto bevollmächtigte Angehörige des indonesischen Geheimdienstes, in Deutschland zu ermitteln, wer für diese Demonstrationen verantwortlich gemacht werden könnte. Diese Ermittlungen zielten hauptsächlich auf Osttimoresen, die in Deutschland lebten, aber auch auf Sri-Bintang Pamungkas, Mitglied der PPP und des indonesischen Parlamentes, der sich zur selben Zeit in Deutschland aufhielt. Auch wenn die damalige Bundesregierung unter Helmut Kohl die Menschenrechtsverletzungen bei ihren Treffen mit Suharto ansprach, war sie doch ein Befürworter der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Indonesien und Deutschland. Menschenrechtsorganisationen kritisierten vor allem den Export von deutschen U-Booten und Hubschraubern vom Typ Bo 105 nach Indonesien. Auch stellte sich Deutschland zusammen mit der ebenfalls konservativen Regierung des Vereinigten Königreichs unter John Major gegen Bestrebungen der Republik Irland, während ihrer EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte von 1996 den Osttimorkonflikt auf die Agenda der Europäischen Union zu bringen. 1996 rief die indonesische Demokratische Volkspartei (PRD) zum Rückzug aus Osttimor auf. Die Parteiführung wurde daraufhin im Juli verhaftet. Im selben Jahr erhielten die beiden Friedens- und Unabhängigkeitsaktivisten Bischof Carlos Filipe Ximenes Belo und José Ramos-Horta den Friedensnobelpreis, was dem Konflikt das Interesse der Weltöffentlichkeit einbrachte. Etwa 200.000 Menschen säumten die Straßen, als Belo nach der Verleihung nach Dili zurückkehrte. Ein indonesischer Unteroffizier, der versuchte den Bischof zu ermorden, wurde von der Menge tot geprügelt. Das indonesische Militär reagierte mit hartem Durchgreifen. Mit Beginn der Asienkrise 1997 und den damit verbundenen Problemen für die Stabilität Indonesiens änderten sich langsam die Umstände. Die Vereinigten Staaten versagten der Regierung in Jakarta weitere Unterstützung und Australien drängte zu mehr Zugeständnissen. Am 29. Mai 1997 fanden Wahlen statt, bei denen Vertreter Osttimors für das indonesische Parlament gewählt werden sollten. Zwischen dem 27. und 31. Mai kam es im Umfeld der Wahlen zu mehreren Angriffen durch FALINTIL-Kämpfer durch die insgesamt neun Zivilisten und 20 Angehörige von indonesischen Sicherheitskräften starben. Auch Unabhängigkeitskämpfer kamen ums Leben. Im Juli besuchte Südafrikas Präsident Nelson Mandela Indonesien und traf sowohl mit Suharto, als auch mit dem im Gefängnis sitzenden Xanana Gusmão zusammen. Mandela drängte in einer schriftlichen Erklärung auf die Freilassung aller osttimoresischen, politischen Führer. „Wir können die Situation in Osttimor niemals normalisieren, wenn nicht alle politischen Führer, inklusive Herrn Gusmão, freigelassen sind. Sie sind es, die eine Lösung bringen müssen.“ Die indonesische Regierung lehnte die Forderung ab, verkündete aber, dass die Haftstrafe Gusmãos, die insgesamt 20 Jahre betrug, um drei Monate gekürzt werde. Beim Nationalen Timoresischen Kongress vom 23. bis 27. April 1998 in Peniche (Portugal) gelang schließlich die Vereinigung der verschiedenen osttimoresischen Gruppen (FRETILIN, UDT, KOTA, APODETI und Arbeiterpartei) und der CNRM wurde in den Conselho Nacional de Resistência Timorense CNRT umbenannt. Im Mai 1998 brach die indonesische Wirtschaft zusammen. Die indonesischen Studenten gingen gegen die korrupte Diktatur auf die Straße und besetzten schließlich das Parlament. Auch osttimoresische Studenten beteiligten sich an der Besetzung und verwendeten bei den Protesten teilweise die Flagge Osttimors. Am 21. Mai 1998 trat der langjährige Machthaber Suharto ab. Im Juni bot sein Nachfolger Bacharuddin Jusuf Habibie Osttimor Autonomie innerhalb des indonesischen Staates an. Eine völlige Unabhängigkeit schloss er aber aus und erklärte, Portugal und die Vereinten Nationen müssten die indonesische Souveränität über Osttimor anerkennen. Danach übernahmen Studenten des ETSSC den Campus der UNTIM und forderten ein Unabhängigkeitsreferendum. Als am 16. Juni der Timorese Herman dos Reis Soares vom indonesischen Militär in Manatuto erschossen wurde, zogen mehrere Tausend Demonstranten durch die Stadt und besetzten das Regionalparlament. Am 28. Juni besuchten drei EU-Botschafter Osttimor. Bis zu 30.000 Menschen gingen auf die Straße zur größten Demonstration seit dem indonesischen Einmarsch. Die Protestierenden verlangten statt Autonomie ein Referendum zur Unabhängigkeit. Im Juli setzten sich die Proteste fort. Am 12. Juni kam es zur größten osttimoresischen Demonstration in Jakarta. 1824 IMPETTU-Mitglieder forderten vor dem indonesischen Außenministerium ein Referendum. Die Polizei löste die Demonstration gewaltsam auf, was unter dem neuen Präsidenten Habibie zum ersten Mal geschah. Trotzdem blieben viele IMPETTU-Mitglieder weiter in der Stadt und demonstrierten zum Beispiel vor der Haftanstalt Cipinang, dem Justizministerium und der Vertretung der Vereinten Nationen. Der CNRT lehnte den Autonmievorschlag am 11. August 1998 ab und forderte stattdessen ein Referendum über die Unabhängigkeit und die Freilassung Xanana Gusmãos. Damit entsprach man dem Willen der Bevölkerung, wie Diskussionsveranstaltungen zeigten, die der ETSSC im ganzen Land von August bis November veranstaltete. Trotzdem folgten von August bis Oktober weiter Diskussionen zwischen UN-Generalsekretär Kofi Annan und den Außenministern Indonesiens und Portugals über einen Sonderstatus für Osttimor mit einer weitgehenden Autonomie. Infolge eines Überfalls der FALINTIL führte die indonesische Armee im November 1998 in der Region um Alas eine Strafaktion durch. Erstmals wurde mit der ABLAI dabei eine Miliz (Wanra) eingesetzt. Dies sollte nun häufiger geschehen, um die Zivilbevölkerung zu terrorisieren. Etwa 50 Menschen wurden getötet. In Dili reagierten die Studenten mit Protesten und erneuter Besetzung des Parlaments. Eine Untersuchungskommission aus Studenten, ausländischen Journalisten, Kirchen- und Menschenrechtsvertretern wurde auf der Fahrt nach Alas in Same beschossen und vom lokalen Militärkommandanten nach Dili zurückgeschickt. Der ETSSC sammelte Informationen über Vergehen des Militärs in Osttimor und präsentierte diese ausländischen Journalisten und Diplomaten. IMPETTU und RENETIL betrieben in Indonesien Lobbyarbeit in ihren Universitäten und bei Nichtregierungsorganisationen. Indonesische Politiker, wie Wahid und Megawati Sukarnoputri, überredete man, Xanana Gusmão im Gefängnis zu besuchen. Ende 1998 war die Autonomielösung als einzige Möglichkeit praktisch vom Tisch. Das Unabhängigkeitsreferendum von 1999 1999 hatte Portugal einige Verbündete, erst in der EU, später auch in anderen Teilen der Welt gewonnen, die Indonesien zu einer Lösung des Konfliktes drängten. Präsident Habibie erklärte unter dem starken internationalen Druck am 27. Januar, dass seine Regierung nun eine Unabhängigkeit Osttimors in Betracht ziehen könne, falls die Osttimoresen eine Autonomielösung ablehnen würden. Am 11. März einigten sich die UN, Portugal und Indonesien auf Ministerebene auf die Abhaltung eines Referendum über die Zukunft Osttimors. Am 21. April einigten sich die Konfliktparteien in Osttimor auf eine Einstellung der Gewalt. Die 2000 Kämpfer der FALINTIL erklärten sich zum Waffenstillstand bereit. Pro-indonesische Kräfte in Osttimor reagierten auf die Ankündigung des Referendums mit massiver Einschüchterung und Bedrohung der Bevölkerung. Am 6. April 1999 verübten die pro-indonesische Milizen Besi Merah Putih (BMP) und Aitarak, zusammen mit indonesischem Soldaten und Polizisten, das Kirchenmassaker von Liquiçá, bei dem zwischen 61 und über 200 Menschen starben. Menschenrechtskommissarin Mary Robinson äußerte große Besorgnis über die angespannte Lage. Es gab klare Verbindungen zwischen den 20.000 Milizionären und den zu diesem Zeitpunkt 18.000 indonesischen Soldaten, die sich in Kommandostrukturen und Ausrüstung bemerkbar machten. Die Wanra waren vom Militär aufgestellt worden, offiziell als Bürgerwehr zum Schutz der Öffentlichkeit anerkannt und in die lokale Verwaltungsstruktur integriert. Ihre Finanzierung erfolgte aus Regierungsgeldern und Militärangehörige bildeten die Männer aus. Abgesehen von den Führern waren die Mitglieder der Milizen meist keine politischen Überzeugungstäter. Ein Teil der meist ungebildeten, jungen Männern ließ sich von Geld und Macht blenden, andere wurden unter Androhung von Gewalt zum Mitmachen gezwungen. Die Mitgliedschaft wurde mit traditionellen Zeremonien, wie Blutschwüren besiegelt. Alkohol und Drogen spielten eine große Rolle. Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass die Wanra den Auftrag hatten, entweder das Referendum durch einen Bürgerkrieg zu verhindern oder das Ergebnis zu Gunsten Indonesiens zu beeinflussen. Unklar blieb wie weit die Aktionen der Milizen von der Armee oder gar von Jakarta aus angeordnet wurden. Am 5. Mai wurde schließlich die Vereinbarung zwischen Indonesien und Portugal über die Zukunft Osttimors geschlossen und diese am 7. Mai vom Weltsicherheitsrat mit der Resolution 1236 bestätigt. Das Referendum sollte die Einwohner Osttimors vor die Wahl stellen zwischen der Unabhängigkeit und dem Verbleib bei Indonesien als Special Autonomous Region of East Timor SARET. Im Juni traf der UN-Sondergesandte Ian Martin in Dili ein. Er kritisierte die Gewaltakte durch die Milizen, die Zehntausende zur Flucht in den Westteil der Insel zwang. Dort waren sie den indonesischen Einheiten ausgeliefert. Der Weltsicherheitsrat beschloss mit der Resolution 1246 die Aufstellung der UNAMET. 280 UN-Polizisten und 50 UN-Militärberater sollten die indonesischen Sicherheitskräfte während des Referendums beratend zur Seite stehen. Außerdem wurde die indonesische Regierung nochmals auf ihre Pflicht zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in Osttimor hingewiesen. Am 4. Juli 1999 griff die pro-indonesische Miliz Besi Merah Putih (BMP) einen Hilfskonvoi in Liquiçá an, der von Mitarbeitern von UNAMET und des UNHCR begleitet wurde. Von den 77 Personen im Konvoi wurden mehrere einheimische Mitarbeiter schwer verletzt und die Fahrzeuge mit Stangen und Steinen zerstört. 62 Mitglieder des Konvois retteten sich in die Polizeistation. Später konnten sie nach Dili zurückkehren. Indonesische Polizisten und Mitglieder des Geheimdienstes, die anwesend waren, griffen nicht ein. Im Gegenteil. Eine Woche nach dem Vorfall begann die indonesische Polizei mit Ermittlungen gegen einen UN-Mitarbeiter wegen angeblichen Waffenbesitz. Am 6. Juli kam es zu weiteren Angriffen durch Milizen auf UN-Mitarbeiter in Maliana und Liquiçá. Indonesien versuchte mit einer Pro-Autonomie-Kampagne die osttimoresische Bevölkerung für einen Verbleib zu bewegen. Dafür wurden große Summen investiert und politische Vereinigungen gegründet, die Nahrungsmittel, Medikamente, T-Shirts mit Aufdruck „Pro Autonomie“ und Nationalfahnen, verteilten. Der CNRT verzichtete auf öffentliche Großveranstaltungen, um die Gewalt nicht weiter zu schüren. Vom 16. Juli bis zum 5. August lief die Registrierung der Wähler. Sie startete mit drei Tagen Verspätung, weil die indonesischen Sicherheitskräfte Schwierigkeiten hatten für die Sicherheit zu sorgen. 451.792 Einwohner Osttimors wurden als Wähler registriert. Am 20. August wurde in Suai eine Veranstaltung der Unabhängigkeitsbefürworter von Milizen attackiert, in Manatuto wurden UN-Mitarbeiter durch Milizen bedroht. Die Volksabstimmung vom 30. August 1999 brachte schließlich mit 344.580 Stimmen (78,5 %) eine eindeutige Mehrheit für die Unabhängigkeit Osttimors gegen 94.388 Stimmen (21 %) für die Autonomie, bei einer Beteiligung von 98,6 %. Das Ergebnis wurde am 4. September bekannt gegeben. Für den Fall des Sieges der Unabhängigkeitsbefürworter hatte man die Wanra dazu vorbereitet, durch einen Bürgerkrieg die Zustände so weit zu verschlimmern, dass Indonesien weiterhin als Schutzmacht benötigt werden würde. Nur wenige Stunden nach Bekanntgabe des Ergebnisses startete das indonesische Militär zusammen mit den Milizen die Operation Donner () in ganz Osttimor eine Welle der Gewalt und Zerstörung. Ziel dieser bereits im Juli unter dem Namen Operasi Wiradharma geplanten Aktion war es, dass das indonesische Parlament (MPR) angesichts der Situation das Referendum kippen würde. Schon ab dem 2. September hatte die Gewalt unter den Augen der Angehörigen der UNAMET-Wahlkommission im ganzen Land eskaliert. Die enttäuschten Gegner der Unabhängigkeitsbewegung, die pro-indonesischen Milizen und die indonesische Armee massakrierten in vielen Landesteilen Menschen und hinterließen nach ihrem Abzug verbrannte Erde. Noam Chomsky schreibt dazu in Radical Priorities: Etwa 60.000 Häuser wurden von den Milizen niedergebrannt. 80 % der Schulen und praktisch alle medizinischen Einrichtungen wurden zerstört. Etwa 280.000 Osttimoresen, ein Viertel der Bevölkerung, wurden von indonesischen Sicherheitskräften nach Westtimor zwangsevakuiert, ein Teil von ihnen war auch selbst geflohen. Die Anweisung für die Planung dieser Maßnahme war bereits am 5. Mai an das Regionalkommando der Armee in Bali erfolgt. Bis kurz vor der Abstimmung waren selbst die Vereinten Nationen nicht über die Pläne informiert worden. Die Osttimoresen wurden in die Flüchtlingslagern in Noelbaki, Tuapukan, Naibonat in Kupang, Kefamenanu und 200 weitere, kleinere Lager untergebracht. Deportationen gab es vor allem im Großraum Dili, entlang der Grenze zu Westtimor, in der Exklave Oe-Cusse Ambeno und im Distrikt Lautém. Die „Evakuierten“ sollten nach den Plänen der Hintermänner im Militär weiter in ganz Indonesien zerstreut werden. 200.000 Osttimoresen waren innerhalb des Landes auf der Flucht. Doch das Ziel einen Bürgerkrieg auszulösen scheiterte. Die FALINTIL blieb auf Anweisung Xanana Gusmãos ruhig und reagierte nicht auf die Gewalt der pro-indonesischen Milizen. Menschenrechtler in Portugal, Australien, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern der Welt drängten ihre Regierungen, einzugreifen. Die indonesische Regierung solle gezwungen werden, einer multinationalen Eingreiftruppe zuzustimmen, die in Osttimor die Ordnung wiederherstellen könne. Nach der Ermordung von vier lokalen UNAMET-Mitarbeitern ordneten die Vereinten Nationen den Abzug an. Am 9. September wurden Kredite des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank auf Eis gelegt. Drei Tage später willigte Habibie ein, seine Streitkräfte zurückzuziehen, und stimmte einer internationalen Eingreiftruppe zu. Am 15. September wurde mit der UN-Resolution 1264 die Friedenstruppe INTERFET (International Force for East Timor) legitimiert, welche die Ordnung wiederherstellen sollte. Trotz der Sympathien der Volksrepublik China für Osttimor bedurfte es noch kurzfristiger Verhandlungen und Garantien durch den Westen, damit China und Russland der Entsendung im Weltsicherheitsrat zustimmten. Man befürchtete einen Präzedenzfall, der zum Beispiel auch auf Tibet angewendet werden könnte. 22 Länder stellten bis zu 11.500 Soldaten. etwa die Hälfte kamen aus Australien, die anderen zum großen Teil aus Thailand, Malaysia, den Philippinen und Neuseeland. Deutschland entsandte zwei Transportmaschinen mit medizinischem Personal. Weitere Länder schlossen sich im Laufe der folgenden Monate der Mission an. Die Streitkräfte standen unter der Führung des australischen Major-General Peter Cosgrove. Am 20. September landeten die ersten australischen Einheiten auf dem Flughafen Dili. UN-Verwaltung 1999 bis 2002 Am 21. September 1999 wurde der niederländische Reporter Sander Thoenes von indonesischen Soldaten ermordet. Nach kleineren Zusammenstößen mit den pro-indonesischen Milizen kontrollierte die INTERFET schnell die Region. Große Teile der Bevölkerung waren in die Berge oder den Westteil der Insel geflohen. Aber auch Mitglieder der Milizen hatten sich nach Westtimor zurückgezogen und führten von dort sporadisch Überfälle durch, hauptsächlich auf den südlichen Teil der Grenze, der von der neuseeländischen Armee kontrolliert wurde. Als diese Überfälle abgewehrt wurden und die indonesische Unterstützung aufgrund internationalen Drucks beendet wurde, zerstreuten sich die Milizen. Bei ihrem Abzug setzten sie noch viele Häuser in Brand. Die Exklave Oe-Cusse Ambeno wurde im Oktober befreit. Am 19. Oktober akzeptierte das indonesische Parlament offiziell das Ergebnis des Referendums und annullierte das Annexionsgesetz von 1976. Mit der Resolution des Weltsicherheitsrates 1272 wurde die UN-Übergangsverwaltung UNTAET am 25. Oktober bemächtigt, ab dem 14. Februar 2000 den Wiederaufbau des Landes zu organisieren und INTERFET abzulösen. Doch Flüchtlinge wurden in Westtimor noch Monate nach der offiziellen Übergabe an die Friedensmission der UN in Lagern festgehalten und ermordet. Am 1. November 1999 verließ der letzte indonesische Soldat Osttimor im Rahmen einer Verabschiedungszeremonie, bei der neben Vertretern des indonesischen Militärs und der UN auch Xanana Gusmão als Präsident des CNRT teilnahm. Am 17. November trat Sérgio Vieira de Mello als neuer UN-Sondergesandter in Dili seinen Posten als Übergangsverwalter Osttimors an. Auf einer Konferenz am 17. Dezember 1999 in Tokio wurden Finanzhilfen in Höhe von über 417 Millionen Euro zugesagt. Im Dezember wurde der 15-köpfige National Consultative Council (NCC) geschaffen, der die Bevölkerung Osttimors in der Verwaltung als eine Art Übergangsparlament vertreten sollte. Am 23. Februar 2000 ging das militärische Kommando von INTERFET auf UNTAET über. Am 28. April nahm der Postdienst Osttimors den Betrieb auf, am 12. Mai fand die erste öffentliche Verhandlung des Distriktsgerichts von Dili statt. Am 12. Juli stellte der NCC ein Übergangskabinett auf. Die Mitglieder des NCC wurden von Administrator Mello ernannt. Auch wenn die Auswahl der osttimoresischen Mitglieder de jure Mello zustand, überließ er diese Xanana Gusmão, dem CNRT-Präsident. Neben Mello saßen in dem Kabinett vier weitere Vertreter der UN und fünf Osttimoresen, darunter Ramos-Horta, Marí Alkatiri und João Carrascalão. Am 24. Juli 2000 wurde der neuseeländische UN-Soldat Leonard Manning (24) bei einem Schusswechsel mit einer pro-indonesischen Miliz an der Grenze bei Tilomar getötet und der Leichnam verstümmelt. Er war der erste im Kampf getötete Angehörige der UN-Friedenstruppe in Osttimor. Am 10. August starb der nepalesische UN-Soldat Devi Ram Jaishi im Kampf mit einer Miliz in Suai nahe der Grenze. Drei weitere nepalesische Soldaten und ein osttimoresischer Zivilist wurden verletzt. Am 6. September wurden drei UNHCR-Mitarbeiter in einem Flüchtlingslager in Atambua (Westtimor) ermordet. Der Weltsicherheitsrat forderte daraufhin Indonesien mit der UN-Resolution 1319 auf, gegen die Milizen, die ihre Basen in Westtimor hatten vorzugehen, sie zu entwaffnen und die Flüchtlingslager und die Grenze zu sichern. Insgesamt starben 17 UNTAET-Angehörige während der Mission. Im Oktober 2000 wurde nach einer Vereinbarung von UNTAET und CNRT der NCC neu geordnet. Der National Council (NC) hatte nun 33 Mitglieder, die alle Osttimoresen waren. CNRT-Präsident Xanana Gusmão wurde am 23. Oktober zum Sprecher des NC gewählt. Die Nationaluniversität Osttimors wurde am 15. November wieder eröffnet. Am 12. September 2000 beschloss das Übergangskabinett die Gründung der Verteidigungskräfte Osttimors F-FDTL. Die Umwandlung der FALINTIL in die F-FDTL wurde offiziell am 1. Februar 2001 in einer Zeremonie in Aileu vollzogen. FALINTIL-Kommandant Taur Matan Ruak wurde als Brigadegeneral zum Kommandeur der Streitkräfte ernannt. Am 9. Juni 2001 löste sich der CNRT auf, um den Weg für den Wahlkampf der verschiedenen Parteien zur bevorstehenden ersten Wahl frei zu machen. Die Wahlen für die verfassunggebende Versammlung wurden am 30. August 2001 abgehalten. Aus der Versammlung wurde mit der Unabhängigkeit das erste Parlament Osttimors. Die FRETILIN gewann bei der Wahl 55 der 88 Sitze (57,3 % der Stimmen), die UDT nur zwei. Zweitstärkste Kraft wurde die Partido Democrático. Am 20. September wurde das zweite Übergangskabinett vereidigt. Mello verblieb als einziger Vertreter der UN als Administrator im Kabinett. Ihm zur Seite gestellt war nun Alkatiri, als Vertreter der Mehrheitspartei FRETILIN. Die weiteren Regierungsmitglieder waren Osttimoresen, die entweder der FRETILIN oder der PD angehörten oder parteilos waren. Am 22. März 2002 wurde die erste Verfassung von der verfassunggebenden Versammlung verabschiedet. Am 14. April wurde Xanana Gusmão bei den ersten Präsidentschaftswahlen zum neuen Staatsoberhaupt Osttimors gewählt. Er erhielt 82,7 % der Stimmen. Die ersten Jahre der Unabhängigkeit Mit der UN-Resolution 1410 vom 17. Mai 2002 wurde, drei Tage vor der formalen Unabhängigkeit, ein dreijähriges Mandat für die Nachfolge der UNTAET-Mission vereinbart. Die UNMISET überwachte den Demokratisierungsprozess in Osttimor von 2002 bis 2006. Am 20. Mai 2002 wurde die Demokratische Republik Timor-Leste offiziell in die Unabhängigkeit entlassen. Der Beitritt zu den Vereinten Nationen als 191. Mitglied erfolgte am 27. September. Am 4. Dezember 2002 kam es zu Unruhen in Dili und anderen Orten Osttimors, nachdem am Vortag ein Student unter Mordverdacht verhaftet worden war. Zunächst demonstrierten Studenten und Lehrer vor dem Parlament gegen die Verhaftung, da sie diese für unbegründet hielten. Zwar vereinbarte Präsident Gusmão mit den Protestlern, dass diese sich für die Nacht zurückziehen würden, um am nächsten Tag über den Fall mit ihm zu diskutieren, doch zwischenzeitlich trafen weitere Männer ein, die den Protest an sich rissen. Sie marschierten zum Hauptquartier der Polizei, um dort zu demonstrieren. Viele der Protestierenden hatten zu diesem Zeitpunkt keinen Bezug mehr zu dem Verhafteten oder kannten überhaupt seine Geschichte. Die Situation eskalierte und die Polizei eröffnete das Feuer. Zwei Studenten wurden getötet. Ihre Körper trugen andere Studenten zum Parlamentsgebäude, wo es dann zu Kämpfen mit der Polizei und zu Plünderungen von Geschäften kam, die zumeist chinesischen Händlern gehörten. Der Supermarkt Hello Mister wurde angezündet, ebenso das Haus von Premierminister Marí Alkatiri, Regierungsfahrzeuge und die Annur-Moschee im arabischen Viertel Dilis. Wieder schoss die Polizei auf die Randalierer und vier weitere Studenten wurden getötet. Alkatiri leitete eine Untersuchung ein und machte ausländischen Einfluss für die Vorfälle verantwortlich. Im Mai 2005 wurde der Religionsunterricht in öffentlichen Schulen nach wochenlangen Protestmärschen wieder als Pflichtfach in den Lehrplan aufgenommen. Premierminister Alkatiri hatte im Februar einen Gesetzentwurf eingebracht, nachdem das Fach nur freiwillig besucht werden sollte. Am 20. Mai verließen die letzten UN-Blauhelmsoldaten der UNMISET Osttimor. Zurück blieb das Büro der Vereinten Nationen in Osttimor (UNOTIL) mit 45 Mitarbeitern. Am 23. Januar 2006 forderte Präsident Gusmão eine weitere Präsenz der UN in Osttimor. So würden noch UN-Kräfte zur Ausbildung von Polizisten und als Unterstützung für die kommenden Wahlen 2007 benötigt. Für diese Aufgaben sollten, laut Gusmão, 15–20 militärische Verbindungsleute in einem Special Political Office weiter arbeiten. Am 6. Januar 2006 wurden drei Indonesier an der Grenze bei Turiskain auf dem Malibacafluss von osttimoresischen Polizisten erschossen. Laut indonesischen Militärquellen waren die drei Opfer beim Fischen, als ohne Vorwarnung auf sie das Feuer eröffnet wurde. Jakarta protestierte heftig. Nach dem Vorfall kam es zu Vergewaltigungen von osttimoresischen Frauen. Festlegung der Landesgrenzen Bereits 2001 warnten Angehörige des indonesischen Militärs, dass die Unabhängigkeit Osttimors Sezessionsbewegungen in Westtimor hervorrufen könne. Osttimoresische Separatisten hätten in Westtimor lokale Unterstützung, auch von der dortigen katholischen Diözese Atambua erhalten. Ziel sei die Vereinigung der beiden Inselteile zu einem unabhängigen „Groß-Timor“. 2005 warnte eine lokale Kommission erneut vor einer „Groß-Timor-Gruppierung“ in Westtimor. In der breiten Öffentlichkeit trat eine solche Gruppierung allerdings nicht in Erscheinung und weder die Regierung, noch die großen Parteien Osttimors verfolgen eine solche Politik. Seit 2005 ist der Grenzverlauf zu Lande mit Indonesien zu 97 % geregelt. Er orientiert sich weitgehend an der kolonialen Grenzziehung zwischen Portugal und den Niederlanden, die aber aufgrund technischer Probleme nur begrenzt nachzuvollziehen war. War in den kolonialen Verträgen zum Beispiel der Talweg als Grundlage der Grenzziehung bei Flüssen festgelegt worden, stellte sich nun heraus, dass dies aufgrund des ständig ändernden Verlaufs der meisten Flüsse nicht möglich war. Man einigte sich dann auf den Median als neue Orientierungslinie. Strittige Punkte waren noch bis 2019 Gebiete um die Exklave Oe-Cusse Ambeno (Área Cruz im Subdistrikt Passabe, Citrana-Dreieck im Subdistrikt Nitibe), sowie die genauen Modalitäten eines Korridors von Oe-Cusse Ambeno zum Hauptstaatsgebiet. Die Ansprüche an die unbewohnte kleine Insel Fatu Sinai (Pulau Batek) gab Osttimor nach einigen Jahren auf. Am 21. April kam es bei Maliana zu einem Schusswechsel zwischen indonesischen Soldaten und osttimoresischer Grenzpolizei. Ein indonesischer Soldat wurde verletzt. Zu dem Geschehen gab es unterschiedliche Angaben von beiden Seiten. Im September 2009 fuhr eine Gruppe von indonesischen Soldaten in das osttimoresische Dorf Naktuka und begann Fotos von neu errichteten Gebäuden zu machen. Sie wurden von den Einwohnern kurzerhand rausgeworfen und über die Grenze zurückgeschickt. Am 26. Mai 2010 drangen 28 bewaffnete Soldaten der Streitkräfte Indonesiens in den Suco Beneufe ein und setzten in Naktuka ihre Flagge, einen Kilometer von der Grenze entfernt. Am 29. Mai 2010 zerstörten sie zwei Häuser sozialer Einrichtungen im Suco. Am 24. Juni drang erneut eine bewaffnete Einheit der indonesischen Armee einen Kilometer in das Gebiet von Naktuka ein, zog sich aber zurück, als sie auf eine Einheit der osttimoresischen Grenzpolizei traf. Einwohner Naktukas sehen einen Zusammenhang mit der unklaren Grenzziehung zwischen den Ländern. Dies waren die schwersten Vorfälle zwischen den beiden Ländern seit der Unabhängigkeit Osttimors 2002. Das Verhältnis zu Australien war durch die Debatten über die Seegrenze zwischen den beiden Ländern gespannt. Canberra beanspruchte Erdöl- und Erdgasfelder südlich des Timorgrabens, die aber nach dem Seerechtsübereinkommen innerhalb der ausschließlichen Wirtschaftszonen Osttimors liegen würden. Australien trat im März 2002, kurz vor der Unabhängigkeit Osttimors, aus dem Übereinkommen aus und berief sich auf den Verlauf des Randes der australischen Kontinentalplatte. In der indonesischen Besatzungszeit wurde das Ölfeld in der Timorsee zwischen Timor und Australien entdeckt und am 11. Dezember 1989 der Timor Gap Treaty zwischen Jakarta und Canberra geschlossen. Noch im Mai 2004 bekräftigte die australische Regierung erneut die Gültigkeit des Vertrages in dieser Form, der die Seegrenze, und damit auch die Rohstoffe, zu Gunsten Australiens verschob. Osttimor warf Australien daraufhin vor, durch seine Grenzziehung Osttimor täglich eine Million US-Dollar an Lizenzeinnahmen vorzuenthalten. Am 12. Januar 2006 einigten sich die beiden Länder im Timor Sea Treaty und im Treaty on Certain Maritime Arrangements in the Timor Sea über die Aufteilung der Gewinne aus den Erdöl- und Erdgasvorkommen. Mit den 2007 ratifizierten Abkommen geht ein 50-Jahre-Moratorium bezüglich der Seegrenze einher, ohne dass Osttimor auf seine Gebietsansprüche verzichtet. Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen Die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen während der Besatzungszeit und speziell um das Unabhängigkeitsreferendum 1999 fand auf verschiedenen Ebenen statt. Zum einen durch ein Ad-hoc-Menschenrechtsgericht in Jakarta und den Special Panels for Serious Crimes (SPSC) in Osttimor. Dazu kamen die von Osttimor und Indonesien gemeinsam eingerichtete Wahrheits- und Freundschaftskommission (Commission for Truth and Friendship CTF) und die Empfangs-, Wahrheits- und Versöhnungskommission (Comissão de Acolhimento, Verdade e Reconciliacão de Timor-Leste CAVR) von den Vereinten Nationen. Die rechtliche Aufbereitung sparte aufgrund der Masse an Verbrechen von vornherein kleinere Vergehen wie Einschüchterung, Beleidigung, Brandstiftung, Diebstahl, Zerstörung von Eigentum und Ernten sowie leichte Körperverletzung aus. Ermittelt wurde nur wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie Mord, Vergewaltigung und Vertreibung. Problematisch bei der Versöhnungsarbeit war auch, dass in Osttimor meistens Täter und Opfer aus demselben Dorf kamen und mitunter sogar miteinander verwandt waren. Viele Täter von geringeren Straftaten waren aufgestachelt oder unter Gewaltandrohung zum Mitmachen gezwungen worden. Immer wieder sind die Täter von 1999 auch zuvor selbst Opfer im Bürgerkrieg zwischen UDT und FRETILIN geworden. Diese inneren Spannungen verhinderten die Rückkehr vieler Flüchtlinge aus Westtimor. Diese Probleme wollte man durch die Arbeit der Wahrheitskommissionen ausgleichen. Etwa 4000 Kinder wurden in den 24 Jahren Besatzung aus Osttimor durch indonesische Soldaten, Beamte und religiöse Organisationen gebracht, meist um ihnen zu helfen. Oft wurde den Eltern Versprechungen für eine gute Ausbildung der Kinder gemacht. Andere Kinder wurden von den Soldaten, die ihre Eltern getötet oder sie ihnen entrissen hatten, wie Sklaven gehalten. Nach einem geheimen Militärdokument sollten indonesische Soldaten die Überführung von Kindern nach Indonesien unterstützen, um den Islam in Osttimor zu verbreiten. Viele Kinder kamen in strenge muslimische Schulen und wurden zwangskonvertiert. Die Verschleppung war zwar nie offizielle Staatspolitik, aber bereits ein Jahr nach der Invasion hatte zum Beispiel Präsident Suharto 23 osttimoresische Kinder in seiner Residenz in Jakarta aufgenommen. Sie wurden zu einem osttimoresischen Zweig der Suhartofamilie. Da ein Großteil nur zwei oder drei Jahre alt waren, kann man heute nur schwer ihre Familien in Osttimor wiederfinden. Zahlreiche Kinder sind auch einfach verschwunden. Anfang 2015 rief die Regierung die Politik des „Ent-trauern der Nation“ () oder „Ablegen des Schwarzen“ aus. Die Erinnerung an die Vergangenheit solle nun mehr in Gedenken vollzogen werden, als wie bisher in Trauer. Kritiker merken an, dass viele Familien mit der Trauer noch nicht abschließen können, da die sterblichen Überreste ihrer Verwandten noch nicht gefunden wurden. Von vielen Opfern der Besatzung fehlt jede Spur, auch vom Volksheld Nicolau Lobato, dessen Todestag am 31. Dezember 2015 den Abschluss des Dez-lutu Nasional darstellen soll. Menschenrechtsgericht in Jakarta Mit der Einrichtung des Menschenrechtsgerichtshofs in Jakarta verhinderte Indonesien ein internationales Tribunal. Allerdings beschränkte man die Zuständigkeit des Gerichts auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im April und September 1999 in den Distrikten Dili, Liquiçá und Suai verübt wurden. Am 14. März 2002 begann der Menschenrechtsgerichtshof mit seiner Arbeit. 16 Angehörige des indonesischen Militärs und Polizei, der letzte Gouverneur Timor Timurs José Abílio Osório Soares und der Führer der Aitarak-Miliz Eurico Guterres wurden in zwölf Verfahren angeklagt. Olivio Moruk, ein weiterer Milizenführer, wurde kurz nach Bekanntwerden der Anklage unter bis heute nicht geklärten Umständen in Atambua umgebracht. Es wird darüber spekuliert, dass er über die Hintermänner der Gewaltwelle von 1999 im indonesischen Militär habe aussagen wollen. Entgegen der Forderung der indonesischen Untersuchungskommission KPP-HAM fanden sich der ehemalige Oberkommandierende des Heeres und Verteidigungsminister General Wiranto, der frühere Geheimdienstchef Generalmajor Zacky Anwar und João da Costa Tavares, der Oberkommandierende der Milizen, nicht auf der Anklagebank wieder. Menschenrechtler kritisierten auch bereits die Anklageschriften der Staatsanwaltschaft. Obwohl die Gewaltwelle 1999 eindeutig vom indonesischen Militär initiiert und die Milizen durch das Militär ausgerüstet und finanziert wurden, stellte man die Vorfälle als bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen innerhalb der Bevölkerung dar, die nicht ihren Ursprung in der Armee hatten. Entsprechend bewertete das Gericht die Vorfälle und ließ die de facto Kontrolle der Milizen durch die indonesische Zivilverwaltung und dem Militär bei den Urteilen unbewertet. Sechs der 18 Angeklagten wurden schließlich verurteilt. Am 27. November 2002 erhielt Eurico Guterres zehn Jahre Haft. Seiner Miliz wird die Beteiligung an mehreren Massakern angelastet, so unter anderem die Kirchenmassaker von Suai und von Liquiçá. Ein Berufungsgericht verringerte 2004 die Strafe auf fünf Jahre. Guterres war dann aber bis zu einer weiteren Verhandlung am Obersten Gerichtshof Indonesiens auf freiem Fuß. Am 13. März 2006 bestätigte das Oberste Gericht in Jakarta die zehnjährige Haftstrafe wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Guterres. Vier der fünf Richter sahen als erwiesen an, dass er im April 1999 seine Anhänger nicht abgehalten hat das mit Flüchtlingen gefüllte Haus von Manuel Carrascalão anzugreifen. Guterres, der jetzt die indonesische Staatsangehörigkeit besitzt, bezeichnete sich als unschuldig. Im Mai 2006 wurde er in Kupang verhaftet und in Jakartas Hochsicherheitsgefängnis Cipinang gebracht. Ironischerweise wurde hier zuvor der ehemalige Freiheitskämpfer und jetzige Präsident Osttimors Xanana Gusmão gefangen gehalten. Im April 2008 sprach das Oberste Gericht Guterres erneut frei, da er nicht für alle Taten seiner Miliz verantwortlich gemacht werden könne. Am 12. März 2003 wurde Brigadegeneral Noer Moeis zu fünf Jahren Haft verurteilt. Er war der Befehlshaber der Truppen in Osttimor im Sommer 1999 und wurde für schuldig befunden, die Gräueltaten der pro-indonesischen Milizen geduldet zu haben. Ähnlich begründet wurden die drei Jahre Haft, zu denen Generalmajor Adam Damiri, der ranghöchste Angeklagte, am 5. August verurteilt wurde. Überraschend, denn die Staatsanwaltschaft hatte aufgrund angeblich mangelnder Beweise bei Damiri auf Freispruch plädiert. José Abílio Osório Soares wurde zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt. Der Vertreter der Anklage hatte zehneinhalb Jahre gefordert. Das Oberste Gericht in Jakarta bestätigte den Schuldspruch des Menschenrechtsgerichtshofs am 12. April 2004. Nach nur vier Monaten Haft war aber eine Anfechtung des Urteils in letzter Instanz erfolgreich und Soares wurde freigelassen. Begründet wurde die Aufhebung des Urteils damit, dass Osttimor damals unter Militärverwaltung stand und daher der zivile Gouverneur nicht für die Verbrechen verantwortlich gemacht werden könne. Letztlich wurden vom Menschenrechtsgerichtshof sechs der achtzehn Angeklagte verurteilt, die Urteile aber alle nach und nach durch die oberste Instanz wieder aufgehoben. Auffällig war, dass nur bei den beiden Osttimoresen das Mindeststrafmaß von zehn Jahren Haft angewandt wurde. Bereits für die relativ milden Urteile und die zwölf Freisprüche des Menschenrechtsgerichtshofs gab es Kritik durch die internationale Staatengemeinschaft und Menschenrechtsorganisationen. Special Panels for Serious Crimes in Dili Gleichzeitig mit dem Abzug der letzten UN-Blauhelmsoldaten, stellten am 20. Mai 2005 die von den Vereinten Nationen eingerichtete Anklagebehörde (Serious Crimes Unit) und die Sonderkammer (Special Panels for Serious Crimes SPSC) beim Distriktsgericht Dili ihre Arbeit ein. Hunderte ungelöste Fälle von schweren Menschenrechtsverletzungen wurden der vollkommen überforderten nationalen Justiz überlassen. Mehr als die Hälfte der Mordfälle und ein noch größerer Anteil der Vergewaltigungen blieben damit nicht geahndet. Im November 2004 endeten bereits die Ermittlungen durch die SCU. Das Tribunal bestand jeweils aus zwei internationalen und einem einheimischen Richtern. Die Ankläger der SCU waren ebenfalls internationale Juristen. Bis zur Unabhängigkeit Osttimors 2002 unterstand die Behörde der UN-Mission, danach direkt der obersten Staatsanwaltschaft des Landes. Nebenbei wurde mit Hilfe des SPSC auch einheimisches Personal ausgebildet, was den Aufbau der nationalen Justiz unterstützte. Die SCU verfolgte Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im Zeitraum zwischen dem 1. Januar und dem 25. Oktober 1999 begangen wurden. Grund für die Einschränkung war die geringe finanzielle und personelle Ausstattung der Behörde. Ziel war es, nicht nur die ausübenden Straftäter zur Verantwortung zu ziehen, sondern auch die Befehlshaber und die für ihre Untergebenen Verantwortliche zu verurteilen, was auch die indonesische Streitkräfte betraf. Der ehemalige Mitarbeiter der SCU Marco Kalbusch erklärte: Bis zur Einstellung ihrer Arbeit hatte die UN-gestützte Justiz 391 Personen angeklagt, von denen sich jedoch 316 in Indonesien aufhielten. 87 Angeklagte, meist Mitläufer in pro-indonesischen Milizen kamen ins Gefängnis. So wurde zum Beispiel am 9. Dezember 2003 das ehemalige Milizenmitglied Salvador Soares wegen der Ermordung zweier UNTAET-Mitarbeiter 1999 zu zehneinhalb Jahren Haft verurteilt. Am 24. Februar 2003 wurden Ex-Gouverneur José Abílio Osório Soares und der frühere indonesische Armeechef General Wiranto durch das SPSC in Abwesenheit verurteilt. Am 10. Mai 2004 wurde durch das SPSC ein internationaler Haftbefehl gegen Wiranto erlassen, doch er wurde vom osttimoresischen Generalstaatsanwalt Longuinhos Monteiro nicht an Interpol weitergeleitet. Die Regierungen in Jakarta und Dili arbeiteten mit dem Gericht bei der Verfolgung indonesischer Angeklagter nicht zusammen. Sie wollten beiderseitige Verhältnis nicht belasten, weswegen indonesische verurteilte Verantwortliche aus Verwaltung und Militär nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Präsident Xanana Gusmão bedauerte gegenüber Indonesien sogar die Anklagen, während die Vereinten Nationen für die Verantwortung für die Anklagen auf die osttimoresische Justiz verwiesen. CAVR und CTF Um eine Versöhnung parallel zur Strafverfolgung zu erreichen gründeten die Vereinten Nationen und Osttimor 2000 die Empfangs-, Wahrheits- und Versöhnungskommission (CAVR). Im Juli 2001 unterzeichnete Sérgio Vieira de Mello die Regulation zur Einrichtung der CAVR. Sie sollte alle Menschenrechtsverletzungen in der Zeit zwischen dem 25. April 1974 und dem 25. Oktober 1999, inklusive der Vorkommnisse des Bürgerkrieges zwischen UDT und FRETILIN, dokumentieren und bei der Versöhnung innerhalb des Landes unterstützen. Dafür wurden Aussagen von Zeugen, Opfern und Tätern gesammelt und öffentliche Anhörungen durchgeführt. Sieben nationale Kommissare, 30 regionale und 250 Mitarbeiter arbeiteten, unterstützt von internationalen Experten, in 13 Distriktsteams. Der Hauptsitz der CAVR war in Dili, dazu gab es sechs weitere regionale Büros. Außerdem gab es ein beratendes Gremium, zu dem beispielsweise der am 7. September 2004 ermordete indonesische Menschenrechtsanwalt Munir Said Thalib gehörte. Der Hauptsitz der CAVR befand sich in Dilis Stadtteil Balide im ehemaligen Gefängnis Comarca. Die öffentliche Arbeit der CAVR endete im April 2004. Im Oktober 2005 übergab die CAVR den über 2000 Seiten starken Bericht Chega! (port.: „Genug!“, „Schluss!“) über die Auswirkungen der Indonesischen Besatzung an Präsident Xanana Gusmão. Im November wurde eine Kopie dem Parlament und im Januar 2006 der UN ausgehändigt. Die australische Zeitung The Australian, die singapurer The Straits Times und andere Zeitungen veröffentlichten Inhalte aus dem Bericht schon zuvor, nachdem er ihnen zugespielt wurde. Die Veröffentlichung des Berichts führte zu Verstimmungen in der osttimoresischen Regierung, die dadurch die Beziehungen zu Indonesien weiter belastet sah, zumal die indonesische Regierung vorher nicht die Gelegenheit hatte den Bericht genauer zu studieren. Die CAVR sprach mit 8.000 Zeugen und kam zu dem Schluss, dass zwischen 1975 und 1999 bis zu 183.000 osttimoresische Zivilisten umkamen – von insgesamt 800.000 Einwohnern. 18.600 seien illegal ermordet worden oder verschwanden, weitere 84.200 verhungerten oder starben an Krankheiten. 8500 Folterfälle habe es gegeben. 70 % aller Morde hätten indonesische Sicherheitskräfte begangen. Auf dem Monument zum Gedenken der indonesischen Gefallenen der Operation Seroja stehen die Namen von über 3600 indonesischen Soldaten. Die meisten Verluste gab es in den ersten Jahren der Besatzung. In Osttimor gibt es zwölf indonesische Militärfriedhöfe mit 1124 Gräbern, den größten Friedhof in Dili. Der Rest geht aufs Konto osttimoresischer Kollaborateure, aber auch Freiheitskämpfer haben getötet. The Australian zitierte weiter, die Besatzer hätten „beschlossen, Verhungernlassen als Kriegswaffe einzusetzen“. Außerdem wurde im Bericht vom Verbrennen oder Vergraben von lebenden Menschen, Abschneiden von Ohren und Genitalien und vom Einsatz von Napalm berichtet. Indonesien bestritt in einer Stellungnahme überhaupt die Möglichkeit gehabt zu haben, Napalm einzusetzen, allerdings belegen Unterlagen des australischen Geheimdienstes sowohl die Kapazitäten als auch die Pläne zum Napalmeinsatz durch Indonesien. Weiter heißt es im CAVR-Bericht: „Systematische Exekutionen, Folter, Vergewaltigungen und sexuelle Sklaverei waren offiziell von Indonesien akzeptiert“, so die CAVR. Die CAVR warf Regierungsbeamten und indonesischen Ministern vor von den geplanten Einschüchterungen und die Strategie der verbrannten Erde gewusst zu haben. Anstatt sie aufzuhalten, unterstützten sie diese direkt, hieß es im Bericht. Die CAVR empfahl, die Täter vor Gericht zu stellen und Entschädigungen von Indonesien zu fordern. Ebenso von Staaten, die das Suhartoregime militärisch unterstützten, wie die Vereinigten Staaten und Großbritannien. Auch der FRETILIN wurden für die Zeit von 1974 bis 1999 Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Im Bericht wurden 1297 illegale Tötungen (Mord), 71 Fälle von Verschwinden von Personen, über 3000 Verhaftungen, fast 1000 Fälle von Misshandlungen, sexuelle Übergriffe, über 400 Fälle von Zwangsumsiedlung, erzwungene Rekrutierung und Zerstörung von Privateigentum aufgeführt. Diese Vorfälle fanden mehrheitlich in den 1980er Jahren statt. Der ehemalige Oberbefehlshaber des indonesischen Militärs General Endriartono Sutarto erklärte, er könne sich nicht vorstellen, dass Militär und Polizei so viele Tote zu verantworten haben. Auch eine absichtlich verursachte Hungersnot bestritt er. Indonesiens Verteidigungsminister Juwono Sudarsono nannte den Bericht „einen Statistikkrieg über Sachen, die nie geschehen sind.“ Als Alternative zum Strafverfolgungsprozess in Osttimor und Indonesien sollte sich die Wahrheits- und Freundschaftskommission (CTF), nach südafrikanischem Vorbild, mit der Aufarbeitung der Verbrechen von 1999 beschäftigen. Am 9. März 2005 unterzeichneten die Präsidenten Gusmão und Yudhoyono in Jakarta ein entsprechendes Abkommen. Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen kritisierten in einer Erklärung das Abkommen als Versuch, einen Schlussstrich unter der Vergangenheit zu ziehen, ohne die Täter zu bestrafen. Präsident Xanana Gusmão sagte 2005 über die CAVR, sie hätten „grandiosen Idealismus, der weit über konventionelle politische Grenzen geht“. Er warb für ein gutes Verhältnis mit dem inzwischen demokratischen Indonesien. Er hielt an der CTF und ihrem Ziel „Aufarbeitung ohne Strafverfolgung“ fest. Dem gegenüber kritisierte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon 2007 die CTF, da sie Amnestie auch für schwere Verbrechen gewährt. Ban erklärte: Ban untersagte UN-Angehörige, wie den UN-Sondergesandten in Osttimor 1999 Ian Martin, als Zeugen vor der Kommission auszusagen. Generalleutnant a. D. Kiki Syahnakri, der letzte Militärkommandeur der Provinz Timor Timur, bestätigte in seiner Aussage vor der CTF im Oktober 2007, dass die Wanra (Volkswiderstandsgruppen) vom indonesischen Militär als paramilitärische Gruppen legal ausgebildet und bewaffnet worden seien. Menschenrechtsverletzungen durch den indonesischen Staat bestritt er aber. Stattdessen beschuldigte er die Vereinten Nationen für die Gewalt von 1999 mitverantwortlich gewesen zu sein. Im Juli 2008 legte die CTF schließlich ihren 300 Seiten starken Bericht vor. In ihm wird festgestellt, dass Regierung, Militär und Polizei Indonesiens eine schwere Mitschuld an den Menschenrechtsverletzungen bei den Unruhen von 1999 haben. Die alte Besatzungsmacht habe die Milizen finanziert und ausgerüstet. Indonesische Soldaten werden im Bericht bezichtigt führende Rollen bei den Massakern innegehabt zu haben. Die Polizei wird beschuldigt bei der Gewalt mitgewirkt zu haben, anstatt sie zu verhindern. Diese Gewalt sei nicht zufällig, willkürlich oder spontan, sondern organisiert gewesen. Hier widerspricht der Bericht der bisherigen indonesischen Darstellung. In kleinerem Rahmen werden auch Unabhängigkeitsgruppen für Menschenrechtsverletzungen, wie Freiheitsberaubung verantwortlich gemacht. Der Abschlussbericht wurde einstimmig von der CTF verabschiedet und von den Regierungen beider Länder akzeptiert. Im Bericht werden die Verantwortlichen aufgefordert, sich bei den Opfern zu entschuldigen. Namen einzelner Täter werden im Bericht nicht aufgeführt, was von Außenstehenden kritisiert wird. Indonesiens Staatspräsident Susilo Bambang Yudhoyono erklärte seine „Reue für die Fehler“, die 1999 gemacht wurden. Osttimors Premierminister Xanana Gusmão sagte, er sei zufrieden mit der Entschuldigung. Nahe biti – eine Matte für den Frieden ausrollen Gerade die mitten durch Gemeinden und Dorfgemeinschaften verlaufenden Konfliktlinien, aber auch Fehden, die schon seit Jahrhunderten bestanden, erschwerten den Versöhnungsprozess im Land, den die CAVR begleitete. Hilfreiches Mittel dafür war das Streitschlichtungs- und Versöhnungsverfahren „nahe biti“ (, in etwa: „Meinungsverschiedenheiten lösen“), das aus der traditionellen Kultur Osttimors stammt und in nahezu allen ethnischen Gruppen des Landes zu finden ist. Dabei vermitteln traditionelle Autoritäten, wie der Lian Nain, nach Anhörung beider Seiten, woraufhin eine Entschädigungszahlung erfolgt. Mit dem Niederlassen auf einer Bastmatte besiegeln die Konfliktparteien mit dem Vermittler die Versöhnung. Das nahe biti wird mit den Worten „Saida mak ladiak haluha tiha ka monu hela iha ne’e, labele louri ba liur. Maibe buat nebe mak diak lori ba hodi fo hatene ba, no hanourin, oan sira.“ (tetum: „Was schlecht ist, soll vergessen sein und soll nicht nach Hause mitgenommen werden. Ihr könnt jedoch die guten Dinge mitnehmen, um davon zu erzählen und um sie Euren Kindern beizubringen.“) beendet. Die Osttimoresen unterschieden dabei traditionell zwischen biti boot („großen Matten“, Dinge die den Stamm, Clan oder Sippe betrafen) und biti kiik („kleinen Matten“, Familienangelegenheiten). Aus der Tradition entwickelte man einen formalen Prozess zur Versöhnung in den Gemeinden (Community Reconciliation Process) für minderschwere Verbrechen, der sowohl rechtlich als auch gesellschaftlich anerkannt wurde. Durchgeführt wurden die Zeremonien in Heiligen Häusern (Uma Lulik), in denen auch die für sie notwendigen rituellen Gegenstände (Sasan Lulik) aufbewahrt wurden. Entschied sich ein Täter freiwillig für die Versöhnung, konnte er sich an die CAVR wenden, sofern er vollständig geständig war, sich der Verantwortung für seine Taten stellte und in Zukunft auf Gewalt verzichtete. Diese Vereinbarungen wurden schriftlich protokolliert. Straftäter ohne politischen Hintergrund blieb dieser Weg verwehrt. Die Anklagebehörde prüfte nun, ob es sich bei der Tat nun um ein minderschweres Verbrechen gehandelt hatte und ob es keine weiteren Anschuldigungen gegen den Täter gab. War beides der Fall setzte sich das Distriktsteam der CAVR mit dem betroffenen Suco und den Opfern in Verbindung, um ihre Bereitschaft zur Versöhnung zu prüfen. Mit fünf Vertretern des Sucos wurden dann, wenn möglich, an ein oder zwei Tagen, mehrere den Suco betreffende Fälle behandelt. Meistens waren die Vertreter von der Kirche, traditionelle Führer (Liurai oder Dato-lulik) und Chefe de Sucos, beziehungsweise Chefe de Aldeias. Besonders achtete man entgegen der bisherigen Tradition darauf, dass im Gremium auch mindestens ein oder zwei Frauen saßen. Trotzdem war es schwer Frauen, sei es nun als Opfer oder als Täter, im Prozess teilhaben zu lassen. Zum einen waren sie sehr zurückhaltend, zum anderen verließen sie oft die bis spät nachts dauernden Versöhnungsveranstaltungen, um sich zum Beispiel um die Kinder zu kümmern. Teilweise vergaß man auch einfach Frauen als Opfer. Der Distriktkommissar der CAVR leitete den Prozess. Nach Anhörung der Täter, die die Umstände der Geschehnisse beschrieben und um Verzeihung baten und der Opfer, konnte die gesamte Gemeinde Fragen zu dem Vorfall stellen. Dann vermittelte das Gremium eine angemessene Entschädigung und eine symbolische Wiedergutmachung. Neben der Zahlung von kleinen Geldsummen und traditionellen Gegenständen konnte dies auch in Form von Gemeindearbeit oder der Hilfe beim Wiederaufbau eines Hauses geleistet werden. Die Vereinbarung wurde, wie ein Urteil beim Distriktsgericht registriert. Nach Ableistung der Sühne konnte der Täter nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden. Bei Verstoß drohten ihm aber ein Jahr Gefängnis oder bis zu 3.000 US-Dollar Geldstrafe. Am Ende gab es bei der CAVR 1542 Anfragen auf ein Versöhnungsverfahren. Bei 86 Personen wurde es verweigert, da man den Tätern schwerere Verbrechen anlastete. Über 90 % der Verfahren betrafen Straftaten während der Krise von 1999. Die meisten Täter waren Mitglieder oder Mitläufer der pro-indonesischen Milizen oder hatten für das indonesische Militär, Polizei oder Geheimdienst gearbeitet. In einigen Fällen wurde den Tätern durch das Gremium die Vergebung verweigert, weil man die Entschuldigung nicht für glaubwürdig empfand. Die große Resonanz für das Versöhnungsverfahren lässt sich mit dem Wunsch der Täter erklären, wieder in die Gesellschaft aufgenommen zu werden, zumal auch deren Kinder und andere Familienmitglieder ausgegrenzt wurden. Zudem wurde ein nationales nahe biti mit Vertretern aus allen 13 Distrikten des Landes in der Hauptstadt Dili durchgeführt. Dabei entstandene Sasan Luliks wurden dann an zwölf Uma Luliks in den anderen Distrikten Osttimors weitergegeben. Die meisten geständigen Täter, die sich dem nahe biti unterzogen hatten, waren zufrieden mit der Aussöhnung, doch gab es Kritik, dass nur die kleinen Täter zur Rechenschaft gezogen wurden, während Befehlshaber und Hintermänner sicher vor Strafverfolgung in Indonesien waren. Ohne eine Verurteilung der Haupttäter bliebe nach Ansicht vieler Osttimoresen die Versöhnung und Aufarbeitung nur unvollständig. Noch heute leben mehrere Tausend Osttimoresen im indonesischen Westtimor und anderen Teilen Indonesiens. Am 25. April 2023 erklärte Präsident José Ramos-Horta, dass die Versöhnung in Osttimor noch nicht abgeschlossen sei. Die Unruhen von 2006 In der Bevölkerung machte sich schon länger immer mehr der Unmut über die fehlenden Verbesserungen der Situation breit. Osttimor ist das ärmste Land Asiens und vollständig abhängig von ausländischer Hilfe. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, das Wirtschaftswachstum niedrig und die regierenden Politiker standen in der Kritik. Die Reichtümer aus den Gas- und Erdölvorräten konnten bisher noch nicht ausgebeutet werden, um die leeren Staatskassen zu füllen. Die Regionen im Westen des Landes fühlten sich bei der Verteilung von Ämtern gegenüber den östlichen Landesteilen benachteiligt. Hier spielten anscheinend die traditionellen Netzwerke und innere Spannungen eine Rolle. Ab Ende April 2006 erlebte Osttimor die schlimmsten Unruhen seit dem Abzug des indonesischen Militärs 1999. Die Proteste entzündeten sich an der Entlassung von knapp 600 der 1600 Soldaten der Verteidigungskräfte Osttimors, die Anfang 2006 im Laufe weniger Wochen aus Protest über die schlechten Arbeitsbedingungen und Beförderungsregelungen desertierten. Sie beschuldigten Premierminister Marí Alkatiri, er würde bestimmte Volksgruppen bei den Beförderungen bevorzugen. Im Mai eskalierte der Konflikt. Es kam in Dili zu Straßenschlachten und Brandschatzungen. Kriminelle Jugendbanden zogen plündernd durch die Hauptstadt und die FDTL lieferte sich mit den Rebellen Gefechte. Am 25. Mai landete eine internationale Eingreiftruppe (International Stabilization Force ISF) auf Bitten der Regierung Osttimors. Unter Führung Australiens sollten die Soldaten aus dem Nachbarland, aus Neuseeland, Malaysia und Portugal wieder für Ruhe und Ordnung sorgen. Der Konflikt entwickelte sich mit der Zeit immer mehr zum Machtkampf zwischen Premierminister Marí Alkatiri und Präsident Gusmão. Alkatiri wurde beschuldigt Milizen mit Waffen ausgerüstet zu haben um politische Gegner ermorden zu lassen. Innenminister Rogério Lobato und Verteidigungsminister Roque Rodrigues wurden in diesem Zusammenhang entlassen, Lobato verhaftet. Am 25. Juni traten Außenminister und Friedensnobelpreisträger José Ramos-Horta und der Minister für Verkehr, Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit Ovídio Amaral von allen ihren politischen Ämtern zurück. Damit protestierten sie gegen die Entscheidung der FRETILIN an Premierminister Alkatiri festzuhalten. Einen Tag später gab Alkatiri auf, nahm die Verantwortung für die Unruhen auf sich und erklärte seinen Rücktritt. Am 8. Juli wurde José Ramos-Horta offiziell zu Alkatiris Nachfolger ernannt und am 10. Juli vereidigt. In Dili herrschte zunächst gespannte Ruhe, da Ramos-Horta von allen Seiten akzeptiert wird. Langsam kehrten ein Teil der Flüchtlinge in ihre Heimat zurück oder zogen, wenn ihre Häuser zerstört waren, in die von der Regierung bereitgestellten Massenzeltlager. Die Zahl der niedergebrannten Häuser soll in die Tausende gehen. Bei den Unruhen sind mindestens 37 Menschen getötet worden, 155.000 waren auf der Flucht. Ab Ende August kam es immer wieder zu Kämpfen zwischen den Banden aus den verschiedenen Landesteilen. Bis Anfang 2007 fanden weitere 30 Menschen dadurch den Tod. UNMIT Der Weltsicherheitsrat einigte sich am 25. August 2006 auf eine neue Mission, die gemäß der Resolution 1704 die Sicherheit in Osttimor wiederherstellen, beim wirtschaftlichen Aufbau helfen und die anstehenden Präsidenten- und Parlamentswahlen 2007 unterstützen sollte. Die UNMIT (United Nations Integrated Mission in Timor-Leste), die Folgemission der UNOTIL, bestand aus etwa 1600 Polizisten, Militärberatern und zivilen Angestellten. Nach der Zeremonie kündigte Premierminister Ramos-Horta seinen Rücktritt für den Fall an, dass Milizen und oppositionellen Gruppen weiter gewaltsam Widerstand gegen die Regierung leisten. Wenige Stunden nach dem Beginn der UN-Mission beschossen sich am Abend rivalisierende Banden mit Pfeilen in der Nähe des Präsidentenpalastes. Am 17. Oktober veröffentlichen die UN einen Bericht zu den Unruhen, in dem ein Ermittlungsverfahren gegen Ex-Premierminister Alkatiri, die ehemaligen Minister Rogerio Lobato und Roque Rodrigues und dem Chef der Streitkräfte Brigadegeneral Taur Matan Ruak empfohlen wird. Alkatiri habe es nicht geschafft zu verhindern, dass Waffen an Zivilisten verteilt wurden, obwohl er davon gewusst haben soll. Ruak und die Minister sollen für die Waffenverteilung verantwortlich gewesen sein. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass Ruak versagt habe die Unruhen zu verhindern. Die Erschießung unbewaffneter Polizisten durch Soldaten könne ihm aber nicht zur Last gelegt werden. Auch Präsident Gusmão werden im Bericht Fehler bei den Verhandlungen mit den Rebellen vorgeworfen. Er habe die institutionellen Kanäle nicht respektiert. Vom Vorwurf, Gusmão habe Rebellenchef Alfredo Alves Reinado und seine Männer zu Straftaten angestiftet, wurde er entlastet. Im Zusammenhang mit einer Schießerei am 23. Mai wurden Reinado und seinen Männern „crimes against life and the person“ vorgeworfen. Reinado rechtfertigte sich, er sei damals angegriffen worden und habe sich nur verteidigt. Präsident Gusmão begrüßte den Bericht als unabhängig und unparteiisch und forderte die Regierung auf, die Empfehlungen des Berichts zu überprüfen. Am 7. März 2007 wurde Ex-Minister Lobato nach einem Gerichtsverfahren zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Die Haftstrafe wurde zum Unabhängigkeitstag 2008 auf die Hälfte der Zeit verkürzt. Die Regierung Xanana Gusmão Machtverlust der FRETILIN bei den Wahlen 2007 Die Wahlen 2007 verliefen relativ gewaltlos. Bei der Präsidentschaftswahl trat Xanana Gusmão nicht wieder an. Stattdessen stellte er sich später bei den Parlamentswahlen als neuer Premierminister zur Wahl. Dafür bewarb sich sein enger politischer Freund, der seit 2006 amtierende parteilose Premierminister José Ramos-Horta für das Amt des Präsidenten. Während der erste Wahlgang von verschiedenen Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet war, verlief der zweite ohne größere Zwischenfälle. Ramos-Horta konnte sich gegen den Kandidaten der Regierungspartei FRETILIN Francisco Lu-Olo Guterres durchsetzen und trat das Amt des Staatspräsidenten am 20. Mai an. Tags zuvor war er vom Amt des Premierministers zurückgetreten, welches Vize-Premierminister Estanislau da Silva von der FRETILIN übernahm. Internationale Wahlbeobachter kritisierten zwar mehrere Vorkommnisse bei der Wahl, nannten sie aber im Großen und Ganzen frei und fair. Zu den Parlamentswahlen am 30. Juni 2007 traten insgesamt 14 Parteien an. Die Stimmauszählung war ohne größere Auffälligkeiten. Die FRETILIN verlor ihre absolute Mehrheit und konnte nur noch 29,02 % der Wähler hinter sich vereinigen. Der CNRT von Xanana Gusmão erreichte auf Anhieb 24,10 % und ging mit Coligação ASDT/PSD und Partido Democrático PD eine Allianz (Aliança da Maioria Parlamentar) ein. Diese Allianz stellt im neuen Parlament 37 der 65 Abgeordneten. Außerdem zogen noch zwei weitere kleine Parteien und ein Wahlbündnis (PUN und UNDERTIM und Aliança Democratica KOTA/PPT) in das Parlament ein. Die anderen Parteien scheiterten an der Drei-Prozent-Hürde. Xanana Gusmão wurde am 8. August 2007 zum Premierminister vereidigt. Bereits kurz nach der Beauftragung Gusmãos mit der Regierungsbildung kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen. Allein in den östlichen Hochburgen der FRETILIN, den Distrikten Viqueque und Baucau wurden zwischen dem 8. und 14. Dezember 323 Häuser angezündet und 4000 Menschen vertrieben. Insgesamt betrug die Zahl neuer Vertriebener 6000. Die schlimmsten Vorfälle waren der Überfall auf ein Konvent und Waisenhaus der Salesianer Don Boscos in Baguia, bei der minderjährige Mädchen vergewaltigt wurden und ein Überfall auf einen UN-Konvoi in Viqueque. Neuen Zündstoff brachten drei Vorfälle, bei denen australische Truppen die Flagge der FRETILIN verunglimpft und gestohlen haben sollen. Der australische Kommandeur, Brigadier John Hutcheson gab persönlich eine der Flaggen zurück und bedauerte den Vorfall. Die zwei anderen Flaggen wurden über andere Behörden zurückgegeben. FRETILIN-Generalsekretär Alkatiri forderte daraufhin den Abzug der Australier, da sie nicht mehr neutral seien. Erste Amtszeit von Gusmão Rebellenchef Reinado hatte am 16. Juni 2006 seine Waffen abgegeben unter der Voraussetzung, dass die internationalen Truppen für seine Sicherheit garantieren. Doch am 25. Juli wurde Reinado von den Australiern aufgrund illegalen Waffenbesitzes verhaftet. Später sollte er auch wegen Mordes angeklagt werden, da bei Gefechten zwischen seinen Leuten und regierungstreuen Truppen am 23. Mai 2006 ein Soldat ums Leben gekommen war. Reinado und 56 Anhänger gelang jedoch am 30. August die Flucht aus dem Gefängnis. Im Distrikt Ermera erklärten sie sich bereit sich unter Aufsicht der Sicherheitskräfte zu stellen. Ende Februar 2007 floh Reinado erneut mit seinen Leuten. Man schreibt ihnen die Überfälle auf zwei Posten der Grenzpolizei zu, bei denen Waffen gestohlen wurden. Präsident Gusmão ermächtigte die internationale Friedenstruppe zur Verhaftung von Reinado und bat auch Indonesien um Unterstützung. Am 1. März 2007 wurde Reinado in Same zusammen mit 150 Mann von der australischen Armee eingeschlossen. Zu ihm gesellten sich Gastão Salsinha, ein weiterer Anführer der rebellierenden Soldaten und der unabhängige Parlamentsabgeordneter der Leandro Isaac, um ihn zu unterstützen. Teile der Zivilbevölkerung flohen aus dem Ort. Reinado drohte der Regierung erneut mit Bürgerkrieg, Australien warf er eine illegale Invasion in Osttimor vor. Am Morgen des 4. März stürmten australische Einheiten, unterstützt von zwei Hubschraubern und gepanzerten Fahrzeugen den Ort. Vier Rebellen wurden getötet, doch Reinado und Salsinha konnten mit ihren Männern fliehen. Nur einige Rebellen konnten gefangen genommen werden. Isaac blieb unverletzt. In der Nacht darauf kam es zu Protesten und Ausschreitungen in Dili, Gleno und Ermera. Isaac distanzierte sich später von Reinado, mit der Begründung, dieser strebe einen bewaffneten Kampf gegen die Regierung an. Im Laufe des Jahres 2007 versuchte die Staatsführung Reinado zu bewegen, sich den Behörden zu stellen. Obwohl Staatspräsident José Ramos-Horta sich auch persönlich mit dem Rebellen traf, konnte er keinen Erfolg erzielen. Reinado drohte sogar mit Bürgerkrieg. Am 11. Februar 2008 kam es in Dili im Wohnhaus von Ramos-Horta zu einem Schusswechsel zwischen den Rebellen und dem Sicherheitspersonal. Reinado und ein weiterer Rebell kamen dabei ums Leben, Ramos-Horta und einer seiner Leibwächter wurden schwer verletzt. Kurz darauf wurde auch Premierminister Xanana Gusmão von Reinados Männern angegriffen, konnte aber unverletzt entkommen. Die Rebellenbewegung brach in den folgenden Wochen zusammen. Die Rebellen wurden entweder gefangen genommen oder begaben sich freiwillig in Regierungsgewahrsam. Am 3. März 2010 wurden 24 Rebellen für die Überfälle zu Haftstrafen zwischen 9 und 16 Jahren verurteilt. Unklar blieb auch nach der Gerichtsverhandlung wer auf den Präsidenten schoss und wer Reinado und seinen Kameraden tötete. Am 24. August begnadigte Präsident Ramos-Horta alle Verurteilten. Am 12. Oktober 2009 konnte die Regierung ein Misstrauensvotum mit den Stimmen der Koalition (38 gegen 25) abwehren. Auslöser war die Freilassung des mutmaßlichen Kriegsverbrechers Maternus Bere auf Veranlassung von Premierminister Gusmão und Präsident Ramos-Horta. Indonesien hatte gegen die Verhaftung seines Staatsbürgers Anfang August protestiert, woraufhin Bere am 30. August zum 10. Jahrestag des Unabhängigkeitsreferendums an die indonesische Botschaft in Dili übergeben wurde. Die eigenmächtige Freilassung führte zu schweren Vorwürfen aus der Bevölkerung, von den Vereinten Nationen, der Katholischen Kirche und Menschenrechtsorganisationen. Das Oberste Gericht des Landes ermittelt wegen eines möglichen Verfassungsbruchs. Gusmão erklärte, er habe Bere im Interesse der gutnachbarschaftlichen Beziehungen freigelassen. Bere wird die Beteiligung am Kirchenmassaker von Suai vorgeworfen, bei dem 1999 vermutlich bis zu 200 Menschen ermordet wurden. Korruptionsvorwürfe durch die oppositionelle FRETILIN gegen Regierungsmitglieder konnten zunächst nicht bestätigt werden, führten aber Ende 2008 zu ausführlichen Diskussionen zu dem Thema. 35 % der Osttimoresen glaubten, die Korruption wäre schlimmer geworden. Die Regierung gründete daraufhin eine Anti-Korruptionskommission CAC, die die verschiedenen Vorwürfe untersuchen sollte. Im September 2010 wurden der stellvertretende Premierminister José Luís Guterres und Außenminister Zacarias da Costa vorläufig suspendiert. Hintergrund ist die Vergabe eines hochdotierten Diplomatenposten an die Ehefrau von Guterres. Am 25. November wies das Distriktsgericht von Dili alle Vorwürfe gegen Costa zurück. Am 9. Mai wurde auch Guterres freigesprochen. Dafür kamen wenige Monate später neue Vorwürfe gegen die Ministerinnen Emília Pires (Finanzen) und Lúcia Lobato (Justiz) auf. Lobato wurde schließlich wegen Missmanagement zu fünf Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt. Anlässlich des 15. Jahrestages des Unabhängigkeitsreferendum am 30. August 2014 begnadigte Staatspräsident Taur Matan Ruak Lúcia Lobato nach insgesamt nur 18 Monaten Haft. Die Bindungen zu Australien schwächten sich weiter ab, da Osttimor versuchte mit möglichst vielen Partnern zusammenzuarbeiten. Der Wunsch der australischen Premierministerin Julia Gillard, in Osttimor ein Zentrum für Asylanten einzurichten, lehnte die Regierung Gusmão, wie die Opposition ab. Von der Volksrepublik China kaufte Osttimor, sehr zum Missfallen Australiens, zwei neue Patrouillenboote. Auch mit den Vereinigten Staaten und der Gemeinschaft der Portugiesischsprachigen Länder (CPLP) begann eine militärische Zusammenarbeit. Mit der ehemaligen Besatzungsmacht Indonesien verbesserten sich die Beziehungen weiter. Es unterstützte, wie die meisten Mitglieder, den Vorschlag Osttimor in die ASEAN aufzunehmen. Allerdings gab es immer wieder Zwischenfälle um das umstrittene Gebiet bei Naktuka. Mehrfach drangen indonesische Soldaten in das von Osttimor beanspruchte Gebiet ein, vertrieben Osttimoresen und zerstörten deren Eigentum. Als Sprecher sogenannter „gefallener Staaten“ etablierte sich Osttimor durch eine Konferenz der g7+-Staaten in Dili im April 2010. Die Konferenz sollte zum Austausch von Erfahrungen bei Stabilisierungsmaßnahmen und zur Stärkung gemeinsamer Interessen gegenüber Geberstaaten dienen, wobei sich Osttimor selbst als Erfolgsbeispiel für eine gelungene Stabilisierung sieht. Osttimors Finanzministerin Emília Pires wurde zur neuen Vorsitzenden der g7+-Staaten gewählt. Am 13. September 2011 wurde die Behörde für Bank- und Zahlungswesen () in die Zentralbank von Osttimor () umgewandelt. Wahlen 2012 Bei den Präsidentschaftswahlen in Osttimor 2012 verlor José Ramos-Horta bereits in der ersten Runde. Nachdem er mehrfach die Regierung kritisiert hatte, entzog ihm Xanana Gusmão die Unterstützung. Stattdessen sprach sich der Premierminister für Taur Matan Ruak, den ehemaligen Oberbefehlshaber der Streitkräfte aus. Dieser gewann die Stichwahl gegen Francisco Guterres, der zum zweiten Mal erfolglos für die FRETILIN antrat. Taur Matan Ruak übernahm das Präsidentenamt am 20. Mai 2012. Abgesehen von einigen Brandstiftungen und Steinwürfe verliefen die Wahlen verhältnismäßig friedlich. Auch bei den Parlamentswahlen am 7. Juli kam es zu keinen größeren Zwischenfällen. Als stärkste Kraft ging Gusmãos CNRT aus ihnen hervor, der aber knapp die absolute Mehrheit verfehlte. Auch die FRETILIN hat rechnerisch die Möglichkeit eine Regierungskoalition mit den beiden kleinen Parteien Partido Democrático und Frenti-Mudança FM aufzustellen. Die anderen Parteien scheiterten an der Drei-Prozent-Hürde. Zweite Amtszeit CPD-RDTL und KRM Ende 2012 besetzten über 1.000 Anhänger der Veteranenbewegung CPD-RDTL unter der Führung von Generalkoordinator Aitahan Matak eine größere Fläche in Welaluhu (Suco Clacuc, Subdistrikt Fatuberlio, Distrikt Manufahi), die der dortigen Dorfgemeinschaft gehört. Der Administrator des Subdistrikts Fatuberlio Tobias Hornay sprach sogar von 7.000 Mitgliedern der CPD-RDTL, die Organisation selbst von 11.000. Als Anlass wurde das hundertjährige Jubiläum der Rebellion von Manufahi unter dem Liurai Boaventura genannt. Da die Mitglieder der CPD-RDTL Macheten und Uniformen trugen, fühlte sich die lokale Bevölkerung von ihnen bedroht und verlangten ihren Abzug. Aitahan Matak verneinte eine kriminelle Handlung. Man wolle hier in einer Kooperative Landwirtschaft betreiben, um Osttimor unabhängig von Importen zu machen. Auch gäbe es keine illegalen Geldsammlungen. Man nehme nur Spenden an, um das Projekt zu finanzieren. Den Viehdiebstahl bestritt die CPD-RDTL ebenfalls. Die Einheimischen beklagten, dass deren Felder von der CPD-RDTL besetzt worden seien, während die Organisation von ungenutzten Flächen sprach, die zuvor von den Indonesiern für ihr Umsiedlungsprogramm genutzt wurden und daher nun dem Staat gehörten. Mitte März 2013 wurden die verbliebenen 800 CPD-RDTL-Mitglieder von der Polizei von Welaluhu wieder in ihre Heimatdistrikte gebracht. Die Felder wurden lokalen Autoritäten übergeben. Der CPD-RDTL wurde von der Regierung angeboten, Grundstücke in anderen Distrikten als Kooperative zu bewirtschaften. Im November 2013 erregte der Konseilu Revolusionariu Maubere (KRM, ) Aufsehen, als Mitglieder in Laga in Militäruniformen aufmarschierten und damit gegen das Uniformverbot für Zivilpersonen verstießen. Gegründet wurde der KRM von Mauk Moruk, der erst im Oktober aus seinem Exil in den Niederlanden zurückgekehrt war. Noch im selben Monat hielt Mauk Moruk eine Rede an der Nationaluniversität, in der er die Intellektuellen des Landes aufrief sich seiner Anti-Armut-Revolution anzuschließen und die Regierung Gusmão zu stürzen. Eine weitere Forderung war die Rückkehr zur Verfassung von 1975. Auch sollten sich die Intellektuellen der Sagrada Família von Mauk Moruks Bruder Cornélio da Conceição Gama (L7) anschließen. Eine angekündigte Demonstration für vorgezogene Neuwahlen in der Dili am 28. November, dem Unabhängigkeitstag, fand ebenso wenig statt, wie die geforderten Gespräche mit Premierminister Gusmão. Demonstrationen gegen Australien und den umstrittenen CMATS-Vertrag erhielten keine polizeiliche Genehmigung. Der KRM wuchs zu einer Bedrohung der Stabilität des Landes an. Im Februar 2014 kam es in Lalulai (Subdistrikt Laga) bei einer Polizeiaktion zu einem Schusswechsel mit KRM-Mitgliedern. Ein Polizist wurde durch einen Molotowcocktail verletzt. Am 3. März wies das Nationalparlament die Polizei an, gegen Aktivitäten des KRM und des CPD-RDTL vorzugehen. Am 10. März errichteten KRM-Mitglieder im Subdistrikt Laga eine Blockade an der Straße nach Baucau. Eine Person wurde durch einen geworfenen Sprengsatz verletzt. Nach Beratungen der Führungsspitze erklärte L7 am 14. März, der KRM sei dazu bereit mit den Behörden zu kooperieren, auch wenn „ganz Dili brennen würde“, wenn er das wünscht. Mauk Moruk und Co-Chef José Santos Lemos (Labarik Maia) wurden festgenommen, L7 kam unter Hausarrest. António da Costa (Aitahan Matak), Chef des CPD-RDTL, stellte sich selbst den Behörden und kam ebenfalls unter Hausarrest. Mangels Beweise kamen Mauk Moruk und Labarik Maia am 13. Dezember 2014 wieder frei. Im Januar 2015 nahm der KRM in Laga zwei Polizisten als Geiseln und verwundete zwei weitere. Premierminister Gusmão fuhr persönlich in einem Konvoi nach Laga und erreichte in Verhandlungen die Freilassung der Geiseln. Mauk Moruk floh mit seinen Leuten in den Dschungel. Grenzstreit mit Australien 2006 waren die Uneinigkeiten über den Grenzverlauf in der Timorsee und die Ausbeutung der Bodenschätze mit Australien durch den CMATS-Vertrag beigelegt worden. Allerdings kam es zum Streit, da die mit der Ausbeutung des Gasfeldes Greater Sunrise beauftragte australische Firma Woodside Petroleum das Erdgas auf See verflüssigen wollte, statt an Land, wo Arbeitskräfte in Osttimor profitieren würden. 2013 wurde dann auch noch bekannt, dass der australische Auslandsgeheimdienst ASIS 2004 Wanzen im osttimoresischen Kabinettssaal installiert und Gespräche abgehört hatte, die die Verhandlungen über den Grenzverlauf mit Australien betrafen. Angebracht hatten die Abhörgeräte Geheimdienstmitarbeiter, die als Entwicklungshelfer in Osttimor arbeiteten. Osttimor stellte deswegen die Gültigkeit des Moratoriums über den Grenzverlauf in Frage und zog vor den Ständigen Schiedshof in Den Haag. Am 3. Dezember 2013, wenige Tage bevor die Gerichtsverhandlung begann, durchsuchte der australische Inlandsgeheimdienst ASIO die Räume des für Osttimor arbeitenden Anwalts Bernard Collaery und eines ehemaligen ASIS-Agenten, der als Whistleblower in diesem Fall gilt. Dokumente und Datenträger wurden beschlagnahmt. Von ASIS-Agenten wurde sein Reisepass eingezogen. Er wollte eigentlich als wichtiger Zeuge (Codename Witness K) bei der Verhandlung in Den Haag auftreten, nachdem er erfahren hatte, dass der für die Spionage verantwortliche ehemalige australische Außenminister Alexander Downer, nachdem er aus dem Parlament ausgeschieden war, eine bezahlte Beratertätigkeit bei Woodside Petroleum annahm. Osttimors Regierung protestierte heftig gegen das Vorgehen, der australische Justizminister Michael Keenan und Premierminister Tony Abbott erklärten jedoch, die Aktion sei im legitimen Interesse der nationalen Sicherheit erfolgt. Am 3. März 2014 ordnete der Internationale Gerichtshof (ICJ) Australien an, die Spionage gegen Osttimor einzustellen. Die Kommunikation zwischen Osttimor und seinen Rechtsberatern darf nicht gestört werden. Die beschlagnahmten Dokumente darf Australien zwar bis zum Abschluss der Verhandlung am Schiedshof behalten, darf sie aber weder auswerten, noch gegen Osttimor verwenden. Wenige Tage später warnte Australien Osttimor, dass der Streit über die Seegrenzen die Beziehungen zwischen den Ländern gefährden könnte. Im Oktober einigten sich die beiden Streitparteien auf eine Aussetzung des Verfahrens und neuen Verhandlungen über die Seegrenzen. Im Januar 2017 erklärten beide Regierungen, dass der CMATS aufgelöst werden soll. Am 6. März 2018 unterzeichneten beide Staaten einen neuen Grenzvertrag, der die Vereinbarungen zugunsten Osttimors verschob. Weitere Ereignisse Am 31. Dezember 2012 beendeten die Vereinten Nationen offiziell die UNMIT-Mission. Am 25. März 2013 wurden die letzten Einrichtungen der ISF an Osttimor übergeben. Auch die zweite Regierung Gusmãos sah sich Korruptionsvorwürfen durch die CAC gegen führende Politiker konfrontiert. Am 24. Januar 2013 erhob die Staatsanwaltschaft formal Anklage gegen Staatssekretär Francisco da Costa Soares, wegen des Verdachts des Amtsmissbrauchs und des Steuerbetrugs. Die Vorwürfe beziehen sich auf seine Zeit als Generaldirektor beim Finanzministerium. Da aber die Regierung Druck auf das Parlament ausübte, wurde die Immunität von Soares nicht aufgehoben und die Ermittlungen blieben liegen. Am 21. Juli 2015 wurde der ehemaligen Bildungsminister João Câncio Freitas zu einer Haftstrafe von sieben Jahren und der Zahlung einer Entschädigung an den Staat von 500.000 US-Dollar verurteilt. Ihm wurden Machtmissbrauch und die wirtschaftliche Beteiligung an einen Fernsehbildungsprogramm vorgeworfen. Im Juli 2013 verbot die Regierung drei Martial-Art-Gruppen (MAG): Persaudaraan Setia Hati Terate (PSHT), Korka und Kera Sakti. Allein die PSHT hatte 35.000 Mitglieder. Die Verfassungsmäßigkeit des Verbots war umstritten, da die Gewalt zwischen den Banden immer einzelnen Mitgliedern zuzuschreiben sei und nicht der gesamten Gruppe. Da das Training und das Tragen der Gruppenuniformen und Symbole nun verboten ist, arbeiten diese Gruppen nun verdeckt im Geheimen. Zeremonien werden teilweise in das indonesische Westtimor verlagert. Problematisch bleibt die weitverbreitete Mitgliedschaft von Angehörigen von Polizei und Armee. Wem die Loyalität im Konfliktsfall gilt, ist fragwürdig. Immerhin legten 993 Polizisten und Soldaten in einer offiziellen Zeremonie ihre MAG-Uniformen ab. Im Januar 2015 schworen 288 Angehörige der Sicherheitskräfte am Regierungspalast ihren MAGs ab und bekannten sich öffentlich mit ihrer Loyalität zum Staat. Jedoch gelten die Schwüre gegenüber den MAGs als lebenslange Mitgliedschaft, aus der man nicht austreten kann. Bis 2014 arbeiteten viele Ausländer, vor allem aus Portugal und anderen portugiesischsprachigen Ländern, in der Justiz Osttimors, sowohl als Berater des Generalstaatsanwalts und der Antikorruptionsbehörde als auch als Richter. Es war dem Mangel an qualifizierten Personal nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit geschuldet. Nach und nach wurden in den Jahren seit 2002 die Posten mit Osttimoresen besetzt. Zuletzt kamen etwa 50 % der Justizbeamten, unter ihnen 12 % der Richter, aus anderen Ländern. Nachdem Osttimor aber mehrere Gerichtsverfahren um Steuerforderungen gegen Rohstoffkonzerne verloren hatte, wurden alle Ausländer im Justizwesen durch Parlamentsbeschluss am 24. Oktober entlassen. Nachdem das Oberste Gericht Osttimors erklärte, dass es für den Beschluss keine Rechtsgrundlage gäbe, wurde den Ausländern das Visum entzogen und ihnen die Ausreise innerhalb von 48 Stunden angeordnet. Man warf den Beratern Inkompetenz und möglicherweise Korruption vor, obwohl diese mit den Fällen keine Verbindung hatten. Ausländische Beobachter spekulierten aber, Osttimor wolle ihm unliebsame Urteile rückgängig machen. Andere vermuten, dass auf diese Weise Kritiker entfernt werden sollten. Die Steuerverfahren wurden neu aufgerollt. Vorzeitiger Rücktritt Gusmão Bereits im November 2013 kündigte Gusmão an, er wolle sich noch vor Ablauf der Legislaturperiode von der aktiven Politik zurückziehen. Spätestens im September 2014 würde er als Premierminister zurücktreten. Später verschob er den Termin auf April 2015, da er noch die neuen Verhandlungen zum Grenzstreit mit Australien zu Ende bringen wolle. Anfang 2015 kündigte Premierminister Xanana Gusmão erneut an, die Regierung umzubilden und auch selbst vorzeitig zurücktreten zu wollen. Am 5. Februar informierte er seine Koalitionspartner, er wolle den ehemaligen Gesundheitsminister Rui Maria de Araújo als seinen Nachfolger vorschlagen und trat mit einem Schreiben an Staatspräsident Taur Matan Ruak zurück. Araújo war Mitglied des Zentralkomitees der Oppositionspartei FRETILIN, weswegen es in den drei Koalitionsparteien Verärgerung über Gusmãos Schritt gab. Unterstützung erhielt Araújo von der Führung der FRETILIN und vom ehemaligen Premierminister und Präsidenten José Ramos-Horta. Präsident Taur Matan Ruak nahm den Rücktritt Gusmãos offiziell am 9. Februar an und beauftragte am 10. Februar Araújo mit der Bildung einer neuen Regierung, nachdem ihn auch der CNRT offiziell vorgeschlagen hatte. Die Liste der neuen Kabinettsmitglieder wurde am 11. Februar veröffentlicht. Bis zur Vereidigung des neuen Premierministers führte Xanana Gusmão das Amt als Premierminister weiter. Die Regierung Rui Maria de Araújo Amtsantritt und Konflikt mit dem KRM Rui Maria de Araújo ist der erste Premierminister Osttimors, der nicht mehr der Generation der Unabhängigkeitskämpfer von 1975 angehört. Noch vor der Vereidigung der neuen Regierung am 16. Februar 2015 verlor Araújo ein Kabinettsmitglied. Staatssekretär Francisco da Costa Soares erschien zwar zur Zeremonie, nahm aber nicht teil, womit sein Amt vakant blieb. Soares zog damit die Konsequenzen aus den seit 2013 laufenden Ermittlungen gegen ihn wegen Vorteilsnahme. Laut seinen Aussagen soll sein Posten unbesetzt bleiben, bis die Ermittlungen gegen ihn abgeschlossen sind. Am 8. März 2015 überfiel eine Gruppe um 2 Uhr morgens die lokale Polizeistation von Baguia mit Schusswaffen und selbstgemachten Sprengsätzen. Drei Polizisten, die als Leibwächter von Parlamentspräsident Vicente da Silva Guterres in dem Gebäude übernachteten, wurden verletzt. Der Parlamentspräsident war für die Beerdigung eines Verwandten im Ort und befand sich in einem nahegelegenen Gebäude, war aber wohl nicht das Ziel des Angriffs und blieb auch unverletzt. Neben der Polizeiwache brannten auch das Haus des örtlichen Liurais und mindestens zwei weitere Häuser. Auch Fahrzeuge wurden beschädigt. Laut Polizeiquellen gehörten die Angreifer dem KRM von Mauk Moruk an. Dieser bestritt jedoch eine Beteiligung. Einige Tage später nahmen Spezialkräfte elf Personen gefangen, die in Verbindung mit dem Überfall stehen sollen. Am 28. Juni wurde ein Soldat in Atelari von KRM-Mitgliedern angeschossen. Seit Beginn der Operation Hanita, am 11. März, nach dem Überfall auf Baguia, waren bis zu diesem Zeitpunkt bereits 468 Personen von den Sicherheitskräften verhaftet worden. Menschenrechtsorganisationen kritisierten den rüden Umgang der Sicherheitskräfte mit der Zivilbevölkerung und deren Eigentum. Am 6. August kam es in Osso-Uaque (Verwaltungsamt Venilale) zu einem Feuergefecht. Ein KRM-Mitglied kam ums Leben, ein Polizist und ein Soldat wurden schwer verletzt. Schließlich wurden Mauk Moruk und zwei weitere KRM-Kommandanten am 8. August von Polizei und Armee gestellt und im Gefecht getötet. Außerdem gab es mehrere Verletzte, darunter einen Polizeibeamten. In einer ersten Stellungnahme bedauerte die Regierung den Tod von Mauk Moruk. Am 19. August erklärte die Regierung offiziell das Ende der Operation Hanita. Streit um den Oberbefehl der Streitkräfte 2016 kam es zum Zerwürfnis zwischen Präsident Taur Matan Ruak einerseits und Parlament und Regierung andererseits. Es begann damit, dass Taur Matan Ruak am 9. Februar Filomeno Paixão zum neuen militärischen Oberbefehlshaber der Streitkräfte ernannte. Der Präsident folgte damit nicht der Empfehlung des Kabinetts vom 12. Oktober 2015, das eine Verlängerung der Amtszeit von Generalmajor Lere Anan Timur vorgeschlagen hatte. Von Seiten der Regierung und des Parlaments wurde diese Entscheidung als Verfassungsbruch angesehen. Aus den Reihen der Abgeordneten wurden Rufe nach einem Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten laut. Taur Matan Ruak begründete am 25. Februar in einer Rede vor dem Parlament seine Entscheidung damit, dass es sonst zu einem Beförderungsstau in der F-FDTL gekommen wäre. In derselben Rede warf er den Ex-Premierministern und Parteiführern von CNRT und FRETILIN Xanana Gusmão und Marí Alkatiri vor, dass Verwandte von ihnen bei staatlichen Aufträgen bevorzugt würden. Das gleiche Verhalten hätte zum Sturz des indonesischen Diktators Suharto geführt. Auch gegen den FRETILIN-Vorsitzenden Francisco Lú-Olo Guterres erhob Taur Matan Ruak Korruptionsvorwürfe. Außerdem kritisierte der Präsident die geplanten Großprojekte in Oe-Cusse Ambeno und an der Südküste. Stattdessen sollte mehr Geld zur Steigerung der Lebensqualität der Bevölkerung investiert werden. Mit derselben Kritik hatte Taur Matan Ruak im Dezember bereits zuvor sein Veto gegen den geplanten Staatshaushalt 2016 eingelegt. Gusmão, amtierender Minister für Planung und strategische Investitionen, gab aufgrund des Suharto-Vergleichs aus Protest den Orden zurück, den er am Unabhängigkeitstag 2015 von Taur Matan Ruak erhalten hatte. Der Präsident hatte Gusmão für seine „eloquente Führung im Kampf zur nationalen Befreiung“ ausgezeichnet und ihn den Gründungsvater des Landes genannt. Alkatiri nannte die Rede des Präsidenten einen „Akt der Verzweiflung“. Taur Matan Ruak verstecke sich hinter seiner Immunität. Das Tribunal de Recurso de Timor-Leste entschied nach einer Beschwerde der Regierung, dass die Entscheidung über den militärischen Oberbefehlshaber „charakteristisch für die politische Funktion der Ausübung der Macht“ des Präsidenten sei und wies damit die Forderung nach einstweiliger Verfügung gegen die Ernennung Paixãos zurück. Das Gericht könne nicht gegen einen politischen Akt vorgehen, auch wenn er womöglich illegal sei. Daher erklärte sich das Gericht für nicht zuständig. Am 15. April wurde ein neuer Vorschlag der Regierung veröffentlicht, nachdem neuer Generalstabschef Pedro Klamar Fuik, der bisherige Kommandeur der Marine und des Instituto de Defesa Nacional (IDN) werden sollte. Als dessen Stellvertreter wurde Calisto dos Santos (Coliati) vorgeschlagen, bisher Militärattaché in der Botschaft Osttimors in Canberra. Noch am selben Tag akzeptierte Taur Matan Ruak den Vorschlag. Lere Anan Timur, Paixão und vier weitere Offiziere sollten in die Reserve versetzt werden, doch wurde das genaue Prozedere der Amtsübergabe nicht beschlossen. Letztendlich fand sie innerhalb der Amtszeit von Präsident Taur Matan Ruak dann doch nicht mehr statt. Die Regierung hatte im Oktober 2015 die Verlängerung der Amtszeit von Lere Anan Timur und Filomeno Paixão empfohlen. Da der CNRT der Meinung war, die PD würde in dem Streit den Präsidenten unterstützen, kündigte die Partei Gusmãos der kleineren Partei die Koalition schriftlich auf. Im Parlament verlangte der CNRT am 11. März entsprechend der neuen Machtverhältnisse die PD-Mitglieder im Parlamentspräsidium zu entlassen. Auch Parlamentspräsident Vicente da Silva Guterres (CNRT) wurde zum Rücktritt aufgefordert, als er sich der Umbesetzung entgegenstellte. Am 5. Mai kam Guterres einer Abwahl zuvor und trat als Parlamentspräsident zurück. Zu seinem Nachfolger wurde am selben Tag sein Stellvertreter Adérito Hugo da Costa (CNRT) gewählt. Die Vizepräsident Adriano do Nascimento und Angelina Machado de Jesus von der PD wurden vom Parlament abgewählt. Zu den neuen Vizepräsidenten wurden Eduardo de Deus Barreto und Duarte Nunes (beide vom CNRT). Maria Fernanda Lay blieb Sekretärin des Präsidiums, Ângela Corvelo ihre Stellvertreterin. Neue Stellvertreterin wurde nun Domingas Álves da Silva (CNRT). Damit waren alle Präsidiumsmitglieder Mitglieder des CNRT. Weitere Ereignisse 2016 verschärfte sich wieder der Streit mit Australien um die Grenzziehung in der Timorsee. Die Movimento Kontra Okupasaun Tasi Timor (MKOTT, ) bezeichnet die Situation eine „Besetzung durch Australien“ und den Protest dagegen den „zweiten Kampf um die Unabhängigkeit“. Vom 21. bis zum 24. März demonstrierten über 10.000 Timoresen vor der Botschaft Australiens in Dili. Ebenso in anderen Orten des Landes. In Adelaide und vor den australischen Botschaften in Manila, Jakarta und Kuala Lumpur demonstrierten Exil-Timoresen zusammen mit dortigen Aktivisten. Die größte Demonstration außerhalb Osttimors zog am 24. März in Melbourne mehrere hundert Protestierende an. In Facebook wurde in der Woche zur öffentlichen Forderung nach der Grenzziehung entlang der Mittellinie zwischen den Ländern (#MedianLineNow und #HandsOffTimorOil) aufgerufen. Am 11. April rief Osttimor die Vereinten Nationen um eine Schlichtung im Grenzstreit an. Innerhalb eines Jahres wird es von den Vereinten Nationen einen Bericht geben, der aber nicht bindend ist. Am 20. Mai 2017 wurde der am 20. März gewählte Francisco Lú-Olo Guterres neuer Präsident Osttimors. Die zweite Regierung Alkatiri Am 15. September 2017 wurde Marí Alkatiri von der FRETILIN erneut zum Premierminister Osttimors vereidigt. Seine FRETILIN war bei den Parlamentswahlen 2017 mit 23 Sitzen knapp stärkste Kraft geworden. Sie koalierte mit der PD, die aber nur sieben Sitze einbringt, womit das Bündnis nur über 30 der 65 Parlamentssitze verfügt. Die Partei KHUNTO hatte am Tag der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags, wegen parteiinterner Streitigkeiten, ihre Zusage zur Beteiligung zurückgezogen, sagte der Minderheitsregierung aber Unterstützung im Parlament zu. Allerdings fehlten FRETILIN, PD und KHUNTO bereits bei der Wahl des Parlamentspräsidenten Aniceto Guterres Lopes (FRETILIN) am 4. September zwei Stimmen, so dass Lopes nur mit einer Stimme Mehrheit seinen Amtsvorgänger Adérito Hugo da Costa (CNRT) schlug. Die drei ehemaligen Premierminister Ramos-Horta, Silva und Araújo und der PD-Parteichef Mariano Sabino Lopes fungieren als Staatsminister. Ramos-Horta hat zudem das neu geschaffene Amt des „Beraters für Fragen der nationalen Sicherheit“, ein neues Amt, das dem Nationalen Sicherheitsberater der Vereinigten Staaten angelehnt ist. Am 5. Oktober verlängerte Präsident Guterres die Amtszeit der drei höchsten Offiziere der F-FDTL nochmals um ein Jahr. Am 6. Oktober schickten die 35 Abgeordneten von CNRT, PLP und KHUNTO einen Brief an Staatspräsident Francisco Guterres, in dem sie ihre Bereitschaft bekundeten, eine „alternative Lösung für eine Regierung anzubieten“, um „Frieden, Stabilität und Entwicklung“ sicherzustellen zu können. Guterres wird dafür kritisiert, eine Minderheitsregierung anzuerkennen, statt „nach einer Lösung zu suchen, die eine Mehrheitsregierung ermöglicht hätte“. Am 8. Oktober erklärten die drei Oppositionsparteien die Gründung des Blocks „Oppositionelle Allianz der parlamentarischen Mehrheit“ (), mit der sie die Arbeit der Regierung kontrollieren wollen. Am 12. Oktober unterschrieben CNRT, PLP und KHUNTO offiziell eine Vereinbarung zur Bildung der neuen Aliança da Maioria Parlamentar (AMP). Am 19. Oktober lehnte die Opposition mit ihrer Mehrheit das von Alkatiri vorgestellte Regierungsprogramm ab. Am 18. Dezember 2017 setzte Parlamentspräsident Aniceto Guterres Lopes der Regierung eine Frist von 30 Tagen zur Vorlegung des zweiten Programmvorschlages. Nachdem er am 18. Januar 2018 nicht eingereicht wurde und Guterres Lopes auch nicht entgegen den Regeln zu einer Plenarsitzung geladen hat, folgte der Beschluss, dass ab dem 31. Januar über den Misstrauensantrag der Opposition bis zu drei Tage diskutiert werden soll. Beobachter rechnen daher mit dem Fall der Regierung am 2. Februar. Staatspräsident Guterres kann laut Verfassung dann das Parlament auflösen und Neuwahlen anordnen oder einen neuen Regierungschef mit der Bildung einer Regierung beauftragen. Bei einer Parlamentsauflösung muss innerhalb von zwei Monaten neu gewählt werden, womit mit Neuwahlen im April zu rechnen sind. Am 1. Februar 2018 beschlossen die drei Parteien der AMP auch im Wahlkampf zusammenzuarbeiten. Dafür wurde das Bündnis in Aliança para Mudança e Progresso () umbenannt. Die Regierung Taur Matan Ruak Konflikt zwischen Regierung und Staatspräsidenten Bei den Parlamentswahlen am 12. Mai konnte die FRETILIN zwar die Anzahl ihrer Sitze im Parlament bewahren, die AMP erhielt aber die absolute Mehrheit mit 34 Sitzen. Die PD kam nur noch auf fünf Sitze. Neu in das Parlament zog die Frenti Dezenvolvimentu Demokratiku (FDD) mit drei Sitzen ein, ein Bündnis aus Partidu Unidade Dezenvolvimentu Demokratiku (PUDD), UDT, Frenti-Mudança und Partido do Desenvolvimento Nacional (PDN). Eine Beschwerde gegen das Wahlergebnis durch die FRETILIN wegen angeblicher Wahlfälschungen wurde vom Tribunal de Recurso als „unbegründet“ zurückgewiesen. Am 12. Juni trat das neue Parlament erstmals zusammen. Bei der Wahl des erweiterten Parlamentspräsidiums kam es zum Eklat, weil bei den Posten FRETILIN und PD nicht berücksichtigt werden. Da sich beim Boykott der Sitzung auch der PUDD-Abgeordnete beteiligte, die FM-Abgeordnete aber, unterstützt vom UDT-Vertreter, einen Posten erhielt, zerfiel das FDD-Bündnis am 17. Juni. Der PUDD-Abgeordnete sitzt nun alleine im Parlament, während FM und UDT eine gemeinsame Fraktion bilden. Die Parteien der AMP-Koalition bilden im Parlament drei einzelne Fraktionen. Am 22. Juni 2018 wurden Taur Matan Ruak zum Premierminister und 27 weiteren Mitgliedern seiner Regierung vereidigt. Elf von Taur Matan Ruak vorgeschlagene Kabinettsmitglieder wurden von Präsident Guterres abgelehnt. Zwei Kandidaten hingen laufende Verfahren wegen Korruption an (sie wurden später von der AMP zurückgezogen), bei sieben Kandidaten gab es Korruptionsvorwürfe und zwei Kandidaten waren aus Sicht von Guterres aus ethnischen Gründen nicht amtswürdig. Guterres beauftragte die Comissão Anti-Corrupção alle nominierten Kandidaten einer Prüfung zu unterziehen. Die Regierungsmitglieder der PLP waren bereits vor der Nominierung von Taur Matan Ruak zur Prüfung der CAC vorgelegt worden und legten ihre Vermögenswerte dem Tribunal de Recurso de Timor-Leste offen. Am 9. Juli verweigerte das AMP-dominierte Parlament Guterres im Gegenzug, wegen der Blockade, die Erlaubnis zu einer Dienstreise nach Portugal. Am Tag darauf wurde ein Schreiben von CNRT-Chef Xanana Gusmão an den Staatspräsidenten bekannt, in dem er ihm mit einem Amtsenthebungsverfahren drohte. Da Guterres weiter die Ernennung der umstrittenen Kandidaten verweigerte, begann das Parlament mit Sanktionen Druck aufzubauen. Das osttimoresische Staatsoberhaupt benötigt für offizielle Reisen ins Ausland die Genehmigung des Parlaments und die wurde ihm nun verweigert. Im Juli 2018 für den CPLP-Gipfel in Lissabon, im September für die UN-Generalversammlung in New York, im Oktober für einen Staatsbesuch in Indonesien und im November für eine Visite bei Papst Franziskus im Vatikan. Koalitionsbruch und -neubildung Ende 2019 machten Abgeordnete des CNRT immer mehr Premierminister Taur Matan Ruak mitverantwortlich dafür, dass der Großteil der CNRT-Minister nach 18 Monaten immer noch nicht im Amt waren, da Präsident Guterres deren Vereidigung blockierte. Auch das langsame Vorankommen beim Tasi Mane project sorgte für Streit zwischen PLP und CNRT. Am 17. Januar 2020 scheiterte der Regierungsvorschlag für den Haushalt 2020 zum erneuten Male. Für den Entwurf stimmten nur die 13 Abgeordneten von PLP und KHUNTO. 15 Abgeordnete der Opposition stimmten dagegen, die Koalitionsabgeordneten des CNRT und die restlichen Oppositionsangehörige enthielten sich der Stimme. Sowohl die Abgeordneten der FRETILIN, als auch die der PD stimmten nicht geschlossen. Taur Matan Ruak erklärte daraufhin das Ende der AMP. Präsident Guterres verzichtete aber auf sein Recht, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszurufen. Stattdessen beauftragte er Taur Matan Ruak mit der Weiterführung der Regierung. Präsident Guterres führte daraufhin über mehrere Tage Gespräche mit allen im Parlament vertretenden Parteien, zahlreichen Interessenverbänden und führenden Politikern. Gusmão blieb der Einladung fern, erklärte aber, sein CNRT strebe Neuwahlen an, während ansonsten die Neubildung einer Regierung mit dem bestehenden Parlament bevorzugt wurde. Die verschiedenen Parteien begannen Gespräche zur Bildung einer neuen Regierungskoalition. Noch am 21. Februar verkündete die FRETILIN, dass eine Koalition mit der PLP möglich wäre. Sie hätte mit ihren 31 von 65 Abgeordneten aber noch Unterstützung von UDT, FM und PUDD benötigt, die jeweils einen Sitz im Parlament hatten, um eine Mehrheit bilden zu können. Diese waren aber bereits im Gespräch mit dem CNRT. Am 22. Februar unterzeichneten CNRT, KHUNTO, PD, UDT, FM und PUDD öffentlich eine Koalitionsvereinbarung zur Bildung einer neuen Regierung. Das Bündnis verfügt über 34 Sitze und damit über die parlamentarische Mehrheit. Am 24. Februar reichte Taur Matan Ruak sein Rücktrittsgesuch als Premierminister bei Guterres ein. Die PLP gründete mit der FRETILIN eine gemeinsame Plattform, als Gegengewicht zum Sechs-Parteienbündnis. Aufgrund der Krisensituation um die COVID-19-Pandemie (siehe unten) nahm Taur Matan Ruak am 8. April, nach Rücksprache mit Guterres, sein Rücktrittsgesuch zurück. Der Staatspräsident hatte solange die Entlassung verzögert. Auch den Vorschlag der Sechs-Parteien-Allianz, Gusmão zum Premierminister zu ernennen, beantwortete der Präsident nicht. Die Instabilität der neuen Sechs-Parteien-Koalition zeigte sich auch am 27. April bei der Verlängerung des Ausnahmezustandes, wegen der COVID-19-Pandemie. Im Parlament stimmten PLP, FRETILIN und KHUNTO geschlossen für die Verlängerung. Bei der PD stimmte Parteichef Mariano Sabino Lopes für die Verlängerung, ein Abgeordneter fehlte und die übrigen drei enthielten sich der Stimme, ebenso der Vertreter der PUDD. CNRT, FM und UDT stimmten gegen die Verlängerung. CNRT-Fraktionschef Duarte Nunes erklärte die neue Allianz nach der Abstimmung für bereits wieder gestorben. Am 29. April erklärte die KHUNTO ihren Austritt aus der Allianz, während Taur Matan Ruak und Alkatiri verkündeten offene Stellen in der Regierung mit fünf FRETILIN- und eine mit einem PD-Mitglied besetzen zu wollen. Nach der Ankündigung der PD, dass sie auch die Regierung stützen wolle, erklärte Gusmão am 11. Mai das Ausscheiden des CNRT aus der Regierung und forderte die CNRT-Mitglieder mit Regierungsämtern auf, diese niederzulegen. Die meisten folgten der Aufforderung und blieben nur noch bis zur Ernennung ihrer Nachfolger im Amt. Während Klagen des CNRT gegen den Staatspräsidenten vor dem Obersten Gericht scheiterten, setzten die Abgeordneten von FRETILIN, PLP und KHUNTO den Parlamentspräsidenten Arão Noé da Costa Amaral (CNRT) ab. Weil Amaral sich weigerte, zu einer Sitzung für seine Abwahl einzuladen, übernahm dies seine Vize Maria Angelina Lopes Sarmento (PLP), was vom CNRT als Bruch der Geschäftsordnung kritisierte. Die Sitzungen am 18. und 19. Mai verliefen chaotisch. Abgeordnete des CNRT versperrten am Montag unter Schubsen und Schreien den beiden Vizepräsidenten Sarmento und Luís Roberto da Silva (KHUNTO) den Zugang zu den Plätzen des Präsidiums. Sie warfen den Tisch mit der Verkleidung um und Stühle darüber. Polizisten griffen schließlich ein und hielten alle Abgeordnete vom Bereich des Präsidiums fern. Sarmento nahm stattdessen auf der Regierungsbank Platz und eröffnete unter dem Schutz von Sicherheitspersonal die Sitzung. Mit den Stimmen der Dreier-Koalition wurde Amaral für abgesetzt erklärt und Aniceto Guterres Lopes (FRETILIN) zum neuen Parlamentspräsidenten gewählt. Mehrmals musste die Polizei für Ordnung sorgen und Handgreiflichkeiten verhindern. Das Oberste Gericht wies Klagen gegen die Neubesetzung des Parlamentspräsidiums als politische Entscheidung ab. Bis Ende Juni wurde das Regierungskabinett neu aufgestellt. Ihm gehören nun auch Politiker der FRETILIN und ein PD-Mitglied an. Weitere Ereignisse Am 18. November 2018 erschoss ein betrunkener Polizeibeamter, der außer Dienst war, bei der Tragödie von Culuhun drei junge Männer. Der Vorfall löste allgemeine Empörung und Proteste aus, da Polizeibeamte nur im Dienst Waffen tragen dürfen. Der Todesschütze und drei weitere involvierte Beamten wurden verhaftet. Am 21. März 2020 wurde erstmals ein Fall einer COVID-19-Infektion gemeldet. Vom 27. März bis 28. November 2021 galt deswegen mit kurzer Unterbrechung der Ausnahmezustand mit weitreichenden Einschränkungen im öffentlichen Lebens. Seit März 2021 breitete sich die Krankheit im Land aus, bis die Welle im November abebbte. Seitdem gibt es nur noch vereinzelt Meldungen von Infektionen. Die 2020 gegründete Resistensia Nasional Defende Justisa e Konstituisaun RDTL (RNDJK) forderte aufgrund des Konflikts zwischen Regierung und Präsidenten den Rücktritt von Francisco Guterres. Zu den führenden Mitgliedern gehören Angela Freitas, Vorsitzende der Partido Trabalhista (PT) und der ehemalige CPD-RDTL-Chef António Tomás Amaral da Costa. Als die RNDJK ankündigte, mit einer mehrtägigen Demonstration den Rücktritt von Guterres erzwingen zu wollen und auch mit gewalttätigen Gruppierungen drohte, ordnete Armeechef Lere Anan Timur am 1. September an, sieben Soldaten in die Umgebung des RNDJK-Hauptquartiers zu postieren und drohte mit der Verhaftung von Freitas und Costas. Freitas nannte das einen Einschüchterungsversuch. Allgemein wurde die Aktion der Armee als verfassungswidrig kritisiert, da die innere Sicherheit der Polizei obliegt. So auch von Vertretern der Regierungsparteien. Gleichzeitig warf man der RNDJK vor, das Land destabilisieren zu wollen. In der Nacht zum 4. April 2021 führten starke Regenfälle zu Überschwemmungen in weiten Teilen Osttimors. Nahezu ganz Dili wurde überflutet. Am 2. Februar 2022 trat Lere Anan Timur als Oberbefehlshaber der Streitkräfte ab. Sein Nachfolger wurde Falur Rate Laek. Bei den Präsidentschaftswahlen 2022 stellte der CNRT José Ramos-Horta als Kandidaten auf. In der zweiten Runde unterstützten zwar alle drei Parteien des Bündnis Guterres, doch hatte er auch innerhalb seiner FRETILIN Unterstützung verloren. In der ersten Runde hatte Lere Anan Timur ihm aus seiner Wählerschaft große Teile abgenommen. In Lautém wurde Lere Anan Timur sogar stärkster Kandidat. Ramos-Horta gewann schließlich die Stichwahl mit 62,1 % und wurde zu seiner zweiten Amtszeit am 20. Mai 2022 vereidigt. Anhang Siehe auch Geschichte der Araber in Osttimor Geschichte der Chinesen auf Timor Geschichte Dilis Zeittafel Osttimor Liste von Ortsbezeichnungen der Kolonialzeit in Osttimor Liste der Bauwerke der Kolonialzeit in Osttimor Literatur Noam Chomsky, Edward S. Herman: Political Economy of Human Rights. Band 1: The Washington Connection and Third World Fascism. Kap. 3.4.4. „East Timor: Genocide on the Sly“. South End Press, Boston 1979, ISBN 0-89608-090-0. Sue O’Connor: Nine New Painted Rock Art Sites from East Timor in the context of the Western Pacific Region. In: Asian Perspectives. Vol. 42, No. 1, 2003, Hawaiʻi, S. 96–128. Sue O’Connor, Matthew Spriggs, Peter Veth: Excavation at Lene Hara Cave establishes occupation in East Timor at least 30,000–35,000 years ago. In: Antiquity. 76, No. 291, 2002, , S. 45–50. Fernando Augusto de Figueiredo: Timor. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Erzgebirgsp%C3%A4sse
Erzgebirgspässe
Erzgebirgspässe sind Übergänge und Durchlässe im Kamm des Erzgebirges, über die Wege, Straßen, Eisenbahnverbindungen und Produktenleitungen vom Freistaat Sachsen der Bundesrepublik Deutschland nach Böhmen in der Tschechischen Republik und umgekehrt führen. Der Naturraum des oberen Erzgebirges aus Sicht des Transportwesens Unter den physikalisch-geografischen Bedingungen üben vor allem die Oberflächengestalt und das Klima bis in die heutige Zeit einen bestimmenden Einfluss auf die Verkehrsführung und -gestaltung der Wege über das Erzgebirge aus. Morphologisch stellt das Gebirge eine im Süden angehobene Pultscholle mit einer allmählichen Abdachung nach Norden dar. Der Gebirgseindruck wird im sächsischen Teil weniger durch die absoluten Höhen als vielmehr durch bis zu 200 Meter tief eingekerbte und teils windungsreiche Täler hervorgerufen. Die zwischen den Tälern gelegenen sanft ansteigenden Hochflächen ermöglichten frühzeitig verkehrsgünstige, d. h. vor allem steigungsarme Trassenführungen. Problematisch gestaltete sich die Verkehrsführung nur dort, wo eines der tief eingeschnittenen Täler gequert werden musste. Eine deutliche Verkehrsungunst weist hingegen der markante Steilabfall nach Süden zum Böhmischen Becken hin auf, da hier das Erzgebirge auf weniger als 10 Kilometer um bis zu 700 Meter abfällt. Noch heute weisen selbst ausgebaute Transitstraßen in diesem Abschnitt Steigungen von zum Teil über 10 Prozent auf. Der Erzgebirgskamm selbst bildet eine Abfolge von Hochflächen und Einzelbergen, die von Sätteln unterbrochen wird. Vom Vogtland an steigt der Kamm auf etwa an und fällt bei Johanngeorgenstadt (Plattener Pass) auf rund ab. Ein weiterer Anstieg erfolgt bis zum Fichtelberg/Keilberg (Klínovec) auf über . Zwischen beiden Bergen senkt sich der Kamm im Wiesenthaler Pass auf . Bis zum Deutscheinsiedler Sattel, dem tiefsten Durchgang des Gebirges, erfolgt über den Reitzenhainer Pass () eine Absenkung bis auf . In nordöstlicher Richtung erreicht der Kamm im Kahleberg noch einmal über , bevor er auf etwa zum Elbsandsteingebirge hin abfällt. Aufgrund des Fehlens eines Durchbruchstales liegen die Gebirgspässe vergleichsweise hoch. So beträgt die mittlere Kammhöhe des Erzgebirges etwa , die mittlere Sattelhöhe liegt nur knapp 10 Meter darunter. Wegen der einseitigen Hebung der Pultscholle längs des Egergrabens und des abweichenden Verlaufes der Grenze von der Kammlinie erreicht das Erzgebirge seine größten Höhen auf der böhmischen Seite. Dadurch liegt ein Großteil der Pässe bereits in Böhmen. Sie erreichen im Schnitt Höhen von 700 bis . Der höchstgelegene Pass ist der Wiesenthaler Pass auf , der niedrigstgelegene der Nollendorfer Pass auf . In den oberen Lagen des Erzgebirges ist das Klima deutlich als rau zu charakterisieren. Daher wurde die Gegend des oberen Erzgebirges in der Vergangenheit auch als Sächsisches Sibirien bezeichnet. Die jährlichen Niederschlagsmengen steigen bis in die Kammlagen auf über 1.100 Millimeter an, wobei ein Großteil als Schnee fällt. Die Jahresmitteltemperaturen erreichen nur Werte von 3 bis 5 °C. Im auf gelegenen Oberwiesenthal treten im Schnitt nur etwa 140 frostfreie Tage im Jahr auf. Im Transportwesen führen diese winterlichen Temperaturen und die Schneefälle vor allem auf den Passhöhen selbst in den Wintermonaten bis in die heutige Zeit hinein zu Verkehrsbehinderungen, -stockungen und -ausfällen. Dabei müssen, den Berichten älterer Chronisten nach, die Winter in den vergangenen Jahrhunderten in den oberen Erzgebirgslagen noch härter als heute gewesen sein. Lang anhaltende Frostperioden und durchgehende Schneedecken, meterhohe Verwehungen und wiederholte Schneestürme haben einzelne Wege und Pässe über Wochen unpassierbar gemacht. Berichte der Posthalterei der an der Straße zum Deutscheinsiedler Sattel gelegenen Bergstadt Sayda vom Februar 1855 besagen, dass „…wegen der ungeheuren Schneemassen das Fortkommen fast noch nicht möglich [ist], ebenso unmöglich auch das Zustandekommen des Schneeauswerfens“. Die Post musste mit kleinen Schlitten und durch Boten befördert werden, weil „zwei Pferde nebeneinander die Schneemassen durchwaten nicht im Stande sind“. Erwähnt werden muss auch die Hochwassergefahr während der Schneeschmelzen bzw. bei sommerlichen Gewittern. Hochwasser haben in der Vergangenheit wiederholt, zuletzt im August 2002, beträchtliche Zerstörungen an den in Tallagen befindlichen Zufahrtsstraßen zu den Erzgebirgspässen verursacht. Geschichte der Erzgebirgspässe Vorgeschichte und Frühmittelalter Der dichte Grenzwald des Erzgebirges wurde trotz seiner scheinbaren Undurchdringlichkeit schon vor dem Mittelalter teilweise genutzt und an seinen Rändern als Verbindung zwischen den fruchtbaren Altsiedellandschaften des heutigen Nord- und Mitteldeutschlands und Böhmens gequert. Gleichwohl kann davon ausgegangen werden, dass beim Passieren des Erzgebirges der östliche Teil zwischen Altenberg und dem Elbtal sowie das westliche Übergangsgebiet zum Elstergebirge im Vogtland bevorzugt wurde, da hier das Erzgebirge am niedrigsten und der Waldsaum am schmalsten war. Die wichtigste Verbindung stellte in der Ur- und Frühgeschichte und bis in das 12. Jahrhundert der etwa parallel zum Elbdurchbruch verlaufende Kulmer Steig dar. Im Osterzgebirge weisen zahlreiche bis in die Kammlagen aufgetretene archäologische Funde (Beile, Äxte, Gräber) aus der Stein-, Bronze- und Eisenzeit auf einen seit alters her vorhandenen Gebirgsübergang hin. Es ist erwiesen, dass sich bereits vor der Einrichtung der Markgrafschaft Meißen, deren Mittelpunkt die an der Elbe gelegene Burg Meißen war, im Bereich zwischen Pirna und Litoměřice ein Netz von Pfaden, Wegen und Steigen über das Gebirge zog. Der exakte Verlauf dieser vorgeschichtlichen Wege ist heute allerdings nicht mehr genau rekonstruierbar. Mit Sicherheit bereits in prähistorischer Zeit, vermutlich auch noch im frühen und hohen Mittelalter, wurde auch das wesentlich flachere Vogtland über den Ullitzer Pass gequert. So wurde das relativ hohe Mittel- und Westerzgebirge nicht nur östlich, sondern auch westlich umgangen. Hoch- und Spätmittelalter und Frühe Neuzeit Die in der ersten Hälfte und der Mitte des 12. Jahrhunderts einsetzende dichte Besiedlung des Erzgebirges bis auf die meißnischen und böhmischen Kammlagen führte zwangsläufig zur deutlichen Erweiterung des Wege- und Straßennetzes. Nicht zufällig sind gerade aus der Zeit um 1100 die ersten Steige und Pässe urkundlich erwähnt. Gleichzeitig beschleunigte die Besiedlung des Gebirges den Ausbau der vorhandenen Straßen. So besagt eine Urkunde aus dem Jahr 1449, dass die von Chemnitz über Zschopau nach Böhmen führende Verbindung bei ihrer Führung über freies Feld derartig befestigt werden sollte, dass drei beladene Rüstwagen nebeneinander fahren konnten. In einer etwa zur gleichen Zeit erschienenen Landkarte der meißnisch-thüringischen Länder sind Straßenverbindungen von Lübeck über Halle, Leipzig, Borna, Chemnitz, Heinzebank, Marienberg, Komotau (Chomutov) nach Prag (Praha) sowie von Heinzebank über Annaberg, St. Joachimsthal (Jáchymov) nach Karlsbad (Karlovy Vary) und Eger (Cheb) eingezeichnet. Eine der frühesten Beschreibungen der Gegend stammt von etwa 1490. Dort heißt es, übersetzt aus dem Lateinischen, u. a.: Vor allem Händler und Kaufleute nutzen die Wege über das Erzgebirge. Eines der ersten Handelsgüter dürfte das Salz gewesen sein. Böhmen und die weiter südlich gelegenen Donauländer waren zum Kochen und vor allem zum Haltbarmachen von Nahrungsmitteln auf die Einfuhr von Salz angewiesen, das in den heimischen Landen als Rohstoff völlig fehlte und deshalb insbesondere aus den Salinen in Halle (Saale) und Umgebung bezogen werden musste. Die sogenannten Salzstraßen zogen sich einem Wegbündel gleich in mehreren Routen über den Erzgebirgskamm. Eine nutzte nachweislich von Zwickau kommend den Preßnitzer Pass, eine weitere den zwischen Sayda und Brüx (Most) gelegenen Sattel nahe dem heutigen Ort Deutscheinsiedel. Weitere Handelsgüter waren Bergbauprodukte und Fernhandelsgüter wie Wein, Lederwaren, Felle, Stoffe, Tücher und Fisch, die an überregional bedeutsamen Markt- und Messeplätzen wie Leipzig gehandelt wurden. Neben Händlern und Pilgern (zum Beispiel zum Kloster Mariaschein nahe Graupen) wurden die Wege zudem von Heeren und kleineren Militäreinheiten genutzt. In Zeiten militärischer Auseinandersetzungen wurden die Pässe verhauen, d. h. gesperrt. Dies tat man u. a. mit Spanischen Reitern und dem Einsatz von Wachmannschaften. Am einfachsten war das Fällen von Bäumen, wie es z. B. von Christian Lehmann für das Jahr 1632 beschrieben wird: Der nach 1990 einsetzende Autoschmuggel hat das neuzeitliche Verhauen zahlreicher Waldwege mittels Baum- und Steinsperren forciert. Die Pässe selbst sind davon aber nicht betroffen. Entwicklung des Botenwesens und der Poststraßen Ab dem 15. Jahrhundert gewannen die Straßen und Pässe auch für das Botenwesen an Bedeutung. Im Zuge dieser Entwicklung wurden die wichtigsten Verbindungen zu Beginn des 18. Jahrhunderts durch den kursächsischen Land- und Grenzkommissar Adam Friedrich Zürner (1679–1742) exakt vermessen und mit Postmeilensäulen versehen und zum Teil weiter ausgebaut. Zu dieser Zeit war die Dresden-Teplitzer Poststraße eine der wichtigsten Verbindungen über das Osterzgebirge, die in zunehmendem Maße auch von Kurgästen von Teplitz (Teplice) benutzt wurde. Regen Zuspruch fand bei Besuchern des sich zu Weltruf entwickelnden Karlsbad (Karlovy Vary) der Pass über die Bergstadt Platten, im ausgehenden 18. Jahrhundert dann der niedriger gelegene Pass über Wildenthal und Hirschenstand (Jelení). Insgesamt gesehen blieben aber die von Sachsen nach Böhmen führenden Straßen genau wie das ganze sächsische Straßennetz bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert in einem schlechten Zustand, da Kriege und damit verbundene wirtschaftliche Flauten oft einen kontinuierlichen Ausbau verhinderten. Trotz zahlreicher Straßenbaumandate, so zum Beispiel auf sächsischer Seite von 1781, blieben viele Straßen nur spärlich befestigte Wege, deren festgefahrenes Erdreich bei schlechtem Wetter oder an steilen Passagen oft nur mühsam oder manchmal auch gar nicht mehr passierbar war. So wird aus der am Handelsweg Oederan–Brüx (Most) gelegenen Bergstadt Sayda berichtet, dass sich die Straße bereits bis 1550 etwa drei Meter tief ausgefahren hatte. Der Grundherr Caspar von Schönberg auf Purschenstein ließ sie deshalb im Stadtbereich bereits 1555 pflastern, was allerdings eine Ausnahme dargestellt haben dürfte. In der Regel bildeten die Zufahrtswege zu den Pässen bis ins 18. Jahrhundert hinein ein Bündel mehrerer nebeneinander führender Pfade oder Hohlwege, sogenannte Gleise, die in Abhängigkeit vom Wetter und den zu transportierenden Gütern benutzt wurden. Im Unterschied zu den Hochgebirgspässen verliefen diese Wege im Mittelalter und der Frühen Neuzeit fast ausschließlich auf den Höhenzügen, da die engen und sumpfigen Flusstäler als Verkehrswege meist ungeeignet waren. Sie konnten zudem im Kriegsfall leicht gesperrt werden. Für die Nutzung der Hochflächen sprachen außerdem das Fehlen von extremen Steigungen bzw. Gefällen und die Möglichkeit, sich wegen fehlender Karten und Wegmarkierungen quasi durch den Blick von oben an markanten Bergen und Landschaftspunkten orientieren zu können. Erst nach Erlass der kurfürstlich-sächsischen Befehle von 1795 und 1800 kann von einem beginnenden plan- und chausseemäßigen, d. h. befestigten Ausbau auch der Passstraßen auf kursächsischer Gebirgsseite gesprochen werden. Im Königreich Böhmen wurden ähnliche Straßenbaumandate nur wenige Jahre später erlassen. Als eine der ersten Verbindungen wurden ab 1803 die Straße Leipzig–Reitzenhain und ab 1810 die zum Nollendorfer Pass führende Neue Dresden-Teplitzer Poststraße grundlegend ausgebaut. Industrialisierung Mit der Industrialisierung setzte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein deutlicher Bedeutungswandel der Passstraßen ein. Der Verkehr verlagerte sich einerseits von den Höhenstraßen zu den neuerbauten Talstraßen. So wurde beispielsweise der bis dahin recht bedeutungslose Gebirgsübergang bei Zinnwald durch den Bau der Müglitztalstraße ab 1846 und den Ausbau der Verbindung Dresden–Dippoldiswalde–Schmiedeberg–Altenberg ab 1842 aufgewertet, während die benachbarte Alte Dresden-Teplitzer Poststraße über den Pass an der Geiersburg (Kyšperk) verödete und der Grenzübergang nahe Fürstenwalde 1860 geschlossen wurde. Auch der Pass über die Bergstadt Graupen (Krupka) nach Zinnwald verlor durch den chausseemäßigen Ausbau der Strecke über Eichwald (Dubí) seine frühere Bedeutung. 1858 kam es auf sächsischer Seite des Gebirges zu einer grundlegenden Neuerung, da alle damals vorhandenen Postkurse neu vermessen und mit königlich-sächsischen Meilensteinen gekennzeichnet wurden. Unmittelbar an den Grenzübergängen der als Postroute befahrenden Postkurse wurden sogenannte Grenzübergangssteine aufgestellt, von denen heute noch einige Exemplare vorhanden sind. In Böhmen hingegen wurde die beispielhafte Errichtung von Postsäulen und Meilensteinen nicht übernommen, hier blieb man bei den hölzernen Wegtafeln. Im 19. Jahrhundert veränderte letztendlich der Bau der Erzgebirgsquerbahnen Rolle und Bedeutung der Erzgebirgspässe. Bereits 1843 wurde eine Planung zum Bau einer Eisenbahn von Pirna aus entlang der Alten Dresden-Teplitzer nach Aussig erarbeitet. Doch erst 1872 verkehrte der erste Zug auf der durchgängigen Verbindung von Komotau (Chomutov) nach Weipert (Vejprty) und von dort weiter nach Annaberg über das Gebirge. Im Juli 1875 folgte die Verbindung von Flöha nach Reitzenhain, die einen Monat später über den Reitzenhainer Pass über Krima (Křimov) bis zur Bahnstrecke Komotau (Chomutov) – Weipert (Vejprty) verlängert wurde. 1884 wurde die Bahnstrecke von Nossen nach Moldau (Moldava) und von dort weiter nach Most (Brüx) über den Pass von Klostergrab (Hrob) in Betrieb genommen. Zwei Jahre später nahm 1886 die Strecke Klingenthal – Falkenau (Sokolov) über den Graslitzer Pass den Betrieb auf. Als letzte Strecke über das Erzgebirge wurde 1899 die Verbindung von Johanngeorgenstadt nach Karlsbad (Karlovy Vary) über den Plattener Pass eröffnet. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren die dichten Kammwälder des Erzgebirges oftmals beliebter Aufenthaltsort von Räuberbanden, Schmugglern und Wilddieben. Nicht ohne Grund wurden zahlreiche Verordnungen zur Bekämpfung der Räuberunwesens auf beiden Seiten des Gebirges erlassen. Legendär wurde im Erzgebirge insbesondere der Wilddieb Karl Stülpner, aber auch von den beiden Räuberhauptmännern Nikol List und Lips Tullian erzählt man sich noch heute unzählige Geschichten. Insbesondere dort, wo die Passstraßen in die dichten Erzgebirgswälder hinein führten, wurden mit besonderer Vorliebe von Straßenlagerern Postkutschen und Passanten überfallen, ausgeraubt und oft sogar getötet. Mehrere Stein- und Sühnekreuze erinnern noch heute an grausam verübte Morde. 20. Jahrhundert In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden, nicht zuletzt auch durch den im Oktober 1938 erfolgten Anschluss des Sudetenlandes, die Pässe über den Erzgebirgskamm am intensivsten genutzt. Schmidt (1935) nennt allein 16 große Heerstraßen, welche die sächsisch-böhmische Grenze überschritten. Hinzu kamen eine Vielzahl kleinerer Wege und die bereits erwähnten fünf Eisenbahnverbindungen. Diese Durchlässigkeit wurde nach 1945 für etwa 25 Jahre durch die Schließung der Eisenbahnübergänge und fast aller Straßenübergänge drastisch reduziert. Eine erhöhte Durchlässigkeit trat erst nach Einführung des visafreien Grenzverkehrs zwischen der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und der Tschechoslowakei (ČSSR) ab 1972 wieder ein. Dem sich entwickelnden beiderseitigen Urlaubs- und Einkaufstourismus trug vor allem die (Wieder-)Eröffnung der jahrhundertealten Straßengrenzübergänge im Zuge der Pässe Wiesenthal (1972) und Reitzenhain (1978) Rechnung. Mit der Eröffnung des Grenzübergangs Bahratal wurde (1976) auch die nördliche Zufahrt zum Nollendorfer Pass wieder für den Verkehr freigegeben. Die über den Erzgebirgskamm führenden fünf Eisenbahnstrecken blieben aber während des Bestehens der DDR geschlossen. Eine Zugfahrt von Sachsen nach Böhmen und umgekehrt war vor 1990 nur über die außerhalb des Erzgebirges gelegenen Grenzübergänge Bad Brambach/Vojtanov im Vogtland und Bad Schandau/Děčín im Elbtal möglich. Mit der Erdgasleitung Nordlicht der RWE Transgas (1972) und der Chemieproduktenleitung Böhlen–Oberleutensdorf (Litvínov) (beide über den Sattel von Deutscheinsiedel) sowie einer 380-kV-Hochspannungsleitung von Röhrsdorf nach Hradec und einer 220-kV-Hochspannungsleitung von Zwönitz nach Hradec wurden zu DDR-Zeiten auch neue Infrastrukturleitungen über das Erzgebirge geführt. Nach der wirtschaftlichen Öffnung der osteuropäischen Staaten erlangte das Erzgebirge 1990 seine frühere Bedeutung als Transitland im Nord-Süd-Verkehr wieder. Dies führte zur Wiedereröffnung zahlreicher Straßen- und Fußgängerübergänge und zur Wiederaufnahme des Bahnverkehrs zwischen Klingenthal und Falkenau (Sokolov), Johanngeorgenstadt und Karlsbad (Karlovy Vary) sowie zwischen Chemnitz und Komotau (Chomutov) über Weipert (Vejprty). Durch den Beitritt Tschechiens zum Schengen-Raum am 21. Dezember 2007 und den Wegfall der Grenzkontrollen haben sich neue Entwicklungsmöglichkeiten ergeben. Gegenwart Im Zuge der Anpassung der Verkehrswege an neue Anforderungen wurden seit 1990 einige der Zufahrtsstraßen zu den Erzgebirgspässen vor allem durch den Bau von Ortsumgehungen neu trassiert. Dies betrifft u. a. Abschnitte der B 170 Dresden–Zinnwald, der B 174 Chemnitz–Reitzenhain und der Straße I/7 Komotau (Chomutov)–Reitzenhain. Den derzeit einzigen Straßenneubau über das Erzgebirge stellt die im Dezember 2006 fertiggestellte Bundesautobahn 17/Dálnice 8 Dresden–Prag (Praha) dar. Ihr Verlauf folgt weitgehend der jahrhundertealten westlichen Trasse des Kulmer Steiges. Dies spricht vor allem unter ökonomischen Gesichtspunkten für die Rationalität, nach der unsere Vorfahren ihre Wege über das Gebirge suchten. Die Bundesautobahn 17 schneidet Dresden zuerst in West-Ost-Richtung im Süden des Stadtgebiets und wendet sich hinter Pirna Richtung Südosten. Zum einen dient die von Dresden nach Prag führende Europastraße damit dem regionalen Straßenverkehr, zum anderen nutzt sie den flachen Nollendorfer Pass. Durch die modernen Spannbetonbauwerke über die Kerbtäler, so zum Beispiel die Lockwitztalbrücke oder die Seidewitztalbrücke wurde dieser Pass wieder aus den Tallagen in die ebenen Höhenlagen der erzgebirgischen Pultscholle verlagert. Damit folgt die einzige Autobahn, die das Gebirge quert, dem wohl ältesten Pass. Sie nähert sich der Alten Dresden-Teplitzer Poststraße, die teilweise auch als Staats- und Kreisstraße noch genutzt wird, häufig auf wenige Meter und schneidet diese. Im ehemaligen Landkreis Aue-Schwarzenberg bestand lange kein Straßengrenzübergang zwischen Sachsen und Böhmen, da sich die tschechische Gemeinde Breitenbach (Potůčky) erfolgreich gegen die Wiedereröffnung des Johanngeorgenstädter Überganges wehrte, um von den Einnahmen für den auf tschechischer Seite entstandenen, überdimensional großen Einkaufsmarkt zu profitieren. Der Übergang wurde am 16. Januar 2008 auch für Kraftfahrzeuge geöffnet. Planungen des Landes Sachsen sahen in den 2000er Jahren die Neutrassierung der B 93 zwischen Schneeberg und Johanngeorgenstadt zur Weiterführung nach Karlsbad (Karlovy Vary) über einen neuen, zwischen Plattener und Hirschenstander Pass gelegenen Grenzübergang, vor. Die Straße sollte vor allem die im Raum Aue-Schneeberg zufließenden Hauptströme des grenzüberschreitenden Fernverkehrs bündeln. Eine Querverbindung bis zur B 101 bei Lauter war Bestandteil der Planung. Gegen die Trassenführung regte sich Widerstand in der Bevölkerung. Da auf tschechischer Seite kein Interesse an der Fortführung der Schnellstraße in Richtung Karlsbad bestand wurde das Projekt nicht mehr weiterverfolgt und aus dem Bundesverkehrswegeplan 2030 gestrichen. Aktuell (Stand 12/2022) sind zwischen Klingenthal und Bahratal drei Eisenbahnübergänge und 17 Straßenübergänge geöffnet. Sie nutzen dabei weitgehend teils jahrhundertealte Pässe und Steiganlagen. Im Eisenbahnnetz gibt es Überlegungen, die Lücke zwischen der Teplitzer Semmeringbahn und der Strecke Nossen–Holzhau wieder zu schließen. Darüber hinaus erfolgt die Planung der Schnellfahrstrecke Dresden–Prag, welche das Osterzgebirge in einem Basistunnel unterqueren soll. Die Elbtalbahn zwischen Dresden und Děčín umgeht das Erzgebirge östlich und ist die leistungsfähigste Hauptstrecke zwischen Deutschland und Tschechien. Aufgrund der verhältnismäßig geringen Radien im engen Elbtal ist dort kein Hochgeschwindigkeitsverkehr möglich. Ersterwähnungen von Wegen über das Erzgebirge Die ältesten schriftlichen Quellen belegen lediglich eine direkte Verbindung zwischen Sachsen und Böhmen, ohne das Aussagen zu einer genauen Streckenführung getroffen werden. Sofern aus der Beschreibung der näheren Umstände überhaupt Anhaltspunkte für eine Lokalisierung gewonnen werden können, so deuten sie jedoch bis in die Zeit um 1100 ausschließlich auf eine Nutzung des Kulmer Steigs hin. 805: In diesem Jahr ließ Karl der Große den in Böhmen agierenden Herrscher Semela mit drei Heeren angreifen, von denen eins gemeinsam mit den Sachsen über das Warnenfeld und Daleminzien nach Böhmen zog („tertium vero transmisit cum Saxonibus super Hwerenofelda et Demelchion“, Chronicon Moissiacense). Die drei Heere trafen sich an der Eger („ad fluvium qui vocatur Agara“) und anschließend kam es zu Kämpfen an der Burg Canburg. 892: Der Würzburger Bischof Arn wurde auf dem Rückweg von einem Heereszug nach Böhmen zusammen mit seinen Gefährten von Slawen überfallen und getötet. Thietmar von Merseburg beschrieb in seiner Chronik etwa hundert Jahre später, dass dies „in pago Chutizi“ geschehen sei. Die genutzte Route und der genaue Ort sind nicht überliefert. Spätere Lokalisierungsvorschläge entbehren einer glaubhaften Begründung. Allerdings verfestigte sich im 19. und 20. Jahrhundert die Anschauung, der Todesort von Arn hätte im Bereich der Chemnitz oder Zschopau gelegen, weshalb das Martyrium Arns häufig als angeblicher Beleg für eine frühe Nutzung der Steige entlang der beiden Flüsse genannt wird. Wesentlich wahrscheinlicher ist jedoch auch hier ein Zug Arns über den Kulmer Steig und sein gewaltsamer Tod im Bereich des Altsiedellandes entlang von Elbe, Mulde oder Pleiße. 929/30: König Heinrich I. eroberte die Brandenburg an der Havel und Gana, die Hauptburg der Daleminzier. Anschließend gründete er die Burg Meißen an der Elbe und zog mit sehr hohen Wahrscheinlichkeit über den Kulmer Steig nach Böhmen. um 960/970: Der arabische Kaufmann Ibrahim Ibn Jakub reiste im Anschluss an seine Teilnahme an einem Hoftag Kaiser Ottos des Großen in Quedlinburg über Halle, Nienburg (Saale) und das Muldegebiet (Wurzen oder Püchau) nach Prag. Dabei wird unter anderem eine hölzerne Brücke erwähnt, die irgendwo auf der langen Strecke lag. Diese Brücke wurde und wird noch heute häufig mit der Stadt Most in Nordböhmen in Verbindung gebracht und daraufhin angenommen, dass Ibrahim ibn Jaqub über einen der böhmischen Steige ins Böhmische Becken gelangte. Tschechische Historiker und Archäologen konnten jedoch nachweisen, dass diese Gleichsetzung der im Text erwähnten Brücke mit Most keinerlei Grundlage hat und alle archäologischen und historischen Indizien dagegen sprechen. Man kann aufgrund des Textes als einzige Quelle für die Reise nichts Konkretes über die Verbindungen zwischen Mitteldeutschland und dem Böhmischen Becken aussagen. Es ist aber anzunehmen, dass auch Ibrahim ibn Jaqub über den Kulmer Steig reiste. 1040: Der meißnische Markgraf Ekkehard II. zog 1040 mit einem Heer über den Kulmer Steig nach Böhmen. 1118: Bei der Stiftung einer Kirche in Zwickau durch die mit den Schwarzburgern verwandte Gräfin Bertha wurde unter anderem eine Zollstelle erwähnt. Diese kann als ein indirekter Beleg für die Existenz eines Weges von Leipzig über Zwickau, Grünhain, Weipert (Vejprty) und über den Preßnitzer Pass nach und Kaaden (Kadan) gewertet werden. Urkundlich belegt ist dieser Weg seit 1325. 1143: Eine Urkunde belegt die Existenz eines von Altenburg über Waldenburg und Zschopau nach Böhmen führenden Steiges (semita Bohemica) 1185: Der Pass über Deutscheinsiedel wird erstmals in einer Urkunde des Markgrafen Otto von Meißen urkundlich erwähnt. Historische Pässe, gelistet von Ost nach West Nollendorfer Pass Koordinaten: Eine Wegvariante des Kulmer Steiges führte über den Nollendorfer Pass im östlichen Osterzgebirge. Der Fahrweg querte zwischen Fürstenwalde im Westen und Oelsen im Osten die sächsisch-böhmische Grenze und führte über den Steilabfall des Erzgebirges in das böhmische Kulm (Chlumec u Chabařovic) und weiter in das Innere des Königreichs Böhmen. Der Kulmer Steig wurde nachweislich bereits im 13. Jahrhundert benutzt. Bekannt wurde der Pass durch die Befreiungskriege und die Schlacht bei Kulm und Nollendorf am 29. und 30. August 1813. In Berlin-Schöneberg sind der Nollendorfplatz und die Nollendorfstraße nach dem kleinen Erzgebirgsdorf Nollendorf (Nakléřov) benannt, von dessen heute nicht mehr existierendem Kirchturm der Legende nach Napoleon das Schlachtgeschehen beobachtet haben soll. Im Jahr 1794 wird von einem Reisenden berichtet, auf der letzten Höhe vor Peterswalde halte ein Schmied nach Reisewagen Ausschau und halte Handwerkszeug bereit, da nach seiner Erfahrung kein Gefährt die schlechte Strecke ohne Schaden zu erleiden nutzen könne. Von 1913 bis 29. Januar 1944 stand auf der Nollendorfer Höhe ein 21 Meter hoher Aussichtsturm, der die Namen Kaiserwarte und nach 1919 Carl-Weis-Warte trug. Ein Schneesturm brachte ihn zum Einsturz, die Reste wurden um 1950 beräumt. Der Nollendorfer Pass hat in der jüngeren Geschichte immer wieder für positive wie negative Schlagzeilen gesorgt. 1936 passierte das olympische Feuer auf seinem Weg von Athen nach Berlin die Passstraße. Ein am Grenzübergang Bahratal aufgestellter Gedenkstein erinnert daran. 1968 nutzte die Rote Armee den Gebirgsübergang, um zur Niederschlagung des Prager Frühlings in die damalige CSSR einzumarschieren. Pass am Geiersberg Koordinaten: Der Geiersberger Pass, über den bis 1860 die bekannte Alte Dresden-Teplitzer Poststraße verlief, begann im heutigen Graupener (Krupka) Stadtteil Hohenstein (Unčín). Hier erreichte der Weg von Teplitz (Teplice) kommend hinter dem Kloster Mariaschein (Bohosudov) den Waldsaum. Er führte von dort aus steil ansteigend an der Geiersburg (Kyšperk) und dem vor 1785 errichteten Goldammerkreuz vorbei auf den Osterzgebirgskamm. Dieser wurde etwa 1,5 Kilometer östlich vom Mückenberg (Komáří hůrka) in einer Höhe von etwa überschritten. Danach verzweigte sich die Wegeführung. Ein Zweig folgte der ins Elbtal führenden Alten Dresden-Teplitzer Poststraße über das kleine böhmische Dorf Ebersdorf, von dem heute nur noch wenige Reste übrig geblieben sind. Der Grenzübertritt wurde vom Schwarzen Kreuz (ebenfalls bereits vor 1785 errichtet) markiert. Ein anderer Zweig führte westwärts zum Mückenberg und erreichte die von hier nach Freiberg führende Straße. Ein nahe Bobritzsch befindlicher Abschnitt dieser Zinnstraße trägt noch heute den Beinamen Geiersweg. Die ursprünglich von Hohenstein (Unčín) auf den Kamm führende Geiersbergstraße ist wahrscheinlich in weiten Teilen von Graupener Bergleuten als schmaler Weg in den Fels des böhmischen Erzgebirgssteilabfalls gehauen wurden. Darauf weisen noch heute Felsengassen hin, die abseits der jetzigen Trassenführung abschnittsweise erkennbar sind. Der Abstieg über den Geiersberger Pass nach Hohenstein (Unčín) gehörte in der Vergangenheit zu den steilsten und damit risikoreichsten Wegeabschnitten der Erzgebirgspässe. Ein Reisebericht von 1698 vermerkt: Diese topografischen Gegebenheiten dürften für das rasche Veröden der Straße nach dem Ausbau der benachbarten Chausseen zwischen Eichwald (Dubí) und Zinnwald sowie Peterswald (Petrovice u Chabařovic) und Kulm (Chlumec u Chabařovic) zu Beginn des 19. Jahrhunderts verantwortlich sein. Heute wird die Geiersbergstraße nur noch als Forstwirtschafts- und Wanderweg genutzt. Graupener Pass Koordinaten: Der Graupener Pass führt von der Bergstadt Graupen (Krupka) an der Rosenburg (Rosenberg) vorbei nach Obergraupen (Horni Krupka) und erreicht die Hochfläche auf dem Kamm des Osterzgebirges unmittelbar am hohen Mückenberg (Komáří hůrka). Die Entstehung dieser Verbindung ist im Zusammenhang mit dem Zinnbergbau zu sehen. Böhmische Bergleute drangen auf der Suche nach neuen Vorkommen wahrscheinlich schon seit Ende des 14. Jahrhunderts über den Gebirgskamm vor und entdeckten um 1440 die bedeutende Altenberger Zinnlagerstätte. Dabei legten sie bei ihrem Vordringen diesen Weg an oder bauten einen bereits bestehenden Pfad aus. Der Graupener Pass wurde z. B. im Juni 1426 in Zusammenhang mit der verlustreichen Schlacht bei Aussig von teilnehmenden Söldnerheeren benutzt. Auf der Nordseite des Gebirges weist der Übergang drei Zugänge auf, was einerseits auf seine hohe Frequentierung und andererseits auf die höhere Bedeutung gegenüber dem eng benachbarten Geiersberger Pass hinweist. Ein Zugang erfolgte vom erzgebirgischen Bergbauzentrum Freiberg kommend über Zinnwald auf der sogenannten Zinnstraße. Der zweite Zugang bestand von Dippoldiswalde und Altenberg kommend auf dem Fürstenweg. Ein dritter Zugang führte von Lauenstein kommend auf den Pass. Dieser Weg war Teil eines mittelalterlichen Pilgerweges, der bis zum 16. Jahrhundert vom Elbtal kommend über Dohna und Liebstadt zum Kloster Mariaschein (Bohosudov) nahe Graupen (Krupka) führte. Nach dem Ausbau der Chaussee zwischen Eichwald (Dubí) und Zinnwald zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die heutige Bundesstraße 170 genutzte Verbindung zwischen Dresden und Prag (Praha), verlor der Graupener Pass seine Bedeutung und wurde nur noch als Nebenstrecke benutzt. Pass von Klostergrab Koordinaten: Über diesen Pass führte die Alte Freiberg-Teplitzer Poststraße. Zwischen den Quellen des Hirschbaches und denen des Holperbaches überschritt sie beim heutigen Altenberger Ortsteil Neurehefeld die Grenze zwischen dem Kurfürstentum Sachsen und dem Königreich Böhmen, wo sich unmittelbar nach der Grenze mehrere Häuser, darunter das einst weitbekannte Gasthaus Fischerhaus, um den 1884 errichteten Grenzbahnhof Moldau (Moldava) gruppieren. Den Grenzübergang und den jetzigen Ort Neustadt (Nove Mesto) verbindet heute eine asphaltierte Straße über den früheren Glaserberg. Beiderseits davon sind lange Gräben erkennbar, die Reste des alten Straßenverlaufes sind. Neustadt (Nove Mesto) befindet sich fast auf der höchsten Stelle der im Süden herausgehobenen Pultscholle des Erzgebirges. Von hier aus gelangt man heute auf sehr abschüssiger Straße nach Niklasberg (Mikulov). Diese Straße wurde erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts neu angelegt, da sich deren alter Verlauf als zu steil und besonders bei der Schneeschmelze als kaum passierbar erwiesen hatte. Von Niklasberg (Mikulov) gelangt man im Bourlivec-Tal nach Klostergrab (Hrob). In den früheren Jahrhunderten scheint jedoch die kürzere Verbindung über den 869 m hohen Stürmer (Bouřňák) bevorzugt worden zu sein. Westlich der heutigen Verbindungsstraße zwischen Neustadt (Nove Mesto) und dem Bergplateau befindet sich auf längeren Strecken ein unübersehbarer, etwa 2 bis 3 m breiter, ausgefahrener Graben. Nach dem Geländebefund wurde der Steilabbruch des Erzgebirges rund 300 m westlich des Gipfelplateaus und als Fortsetzung dieses Grabens überwunden. Dort befinden sich mehrere, bis zu etwa 6 m tiefe, gestaffelte und nach Süden gerichtete Hohlwege. Dabei handelt es sich um Überreste der jahrhundertealten Passstraße nach Klostergrab (Hrob) und weiter nach Teplitz (Teplice). 1884 wurde die über den Pass von Klostergrab führende Bahnverbindung Nossen–Moldau (Moldava) und weiter nach Brüx (Most) erstmals befahren. Der grenzüberschreitende Verkehr wurde aber 1945 eingestellt, wohl auch, weil der Bahnkörper durch die Befahrung sowjetischer Panzer beim Vormarsch Richtung Prag (Praha) unbrauchbar geworden war. 1972 wurden der Abschnitt zwischen Holzhau und Hermsdorf-Rehefeld stillgelegt und die Gleisanlagen später rückgebaut. Ein Wiederaufbau der grenzüberschreitenden Verbindung war seit 1990 immer wieder in der Diskussion. Wegen hoher Kosten und fehlendem politischen Willen scheiterte das insbesondere dem Tourismus dienende Vorhaben bislang. Pass von Sayda über den Deutscheinsiedler Sattel Koordinaten: Über die bereits 1250 als oppidum urkundlich erwähnte, hoch gelegene ehemalige Rast- und Zollstelle Sayda und den mit nur wenig höher gelegenen und damit vergleichsweise flachen Gebirgssattel bei Deutscheinsiedel führte im Mittelalter die alte Handelsstraße Leipzig – Prag (Praha). Dabei passierte sie Wurzen, Leisnig und Oederan, bevor sie über Sayda die Grenze bei Böhmisch-Einsiedel (Mníšek) erreichte. Die hier befindliche Zollstätte von Brüx (Most) erreichte auch eine Querverbindung von Marienberg aus. In Böhmen führte der weitere Verlauf über Ossegg (Osek) nach Brüx (Most) und weiter ins Landesinnere. Geschützt wurde dieser Alte Böhmische Steig, wie der Pass von Sayda auch genannt wurde, u. a. durch die Zoll- und Geleitsburg Purschenstein am rechten Ufer der Flöha, welche später Sitz eines Amtmannes war. Die Stadt Sayda gehörte ab 1300 zur Markgrafschaft Meißen und gelangte nach der Leipziger Teilung von 1485 als böhmisches Lehen in den Besitz der Wettiner. Zu dieser Zeit hatte der Gebirgsübergang seine Bedeutung als Handelsweg aber bereits zugunsten der benachbarten Pässe verloren. Zwar ist überliefert, dass der Weg 1555 in Sayda selbst sechs Ellen tief ausgefahren war, was auf die frühere Bedeutung hinweist. Gleichzeitig förderten landesherrliche Anweisungen im östlichen Erzgebirge seit 1318 eine Wegführung über das benachbarte Freiberg, sie besagten …daß nirgends Wagen nach Böhmen fahren sollten außer über die Stadt Freiberg. In späteren Jahren, insbesondere im Siebenjährigen Krieg und in den Befreiungskriegen wurde der Pass von Sayda mehrfach von Heeresverbänden benutzt, die wiederholt die Stadt ausplünderten. Nach Inbetriebnahme einer Bahnverbindung von Pockau nach Olbernhau in Sachsen forderten die Gemeinden im Schweinitztal zwei Jahre darauf einen Eisenbahnanschluss. Vorerst wurde dieser aus wirtschaftlichen Gründen abgelehnt, jedoch ab 1908 erneut diskutiert, mit der Idee seitens Österreich-Ungarns, eine Strecke über Deutschneudorf hinaus über den Deutscheinsiedler Sattel bis in das böhmische Braunkohlerevier um Oberleutensdorf (Litvínov) zu errichten. Von sächsischer Seite wurde auch dies abgelehnt, 1913 jedoch eine Konzession für eine Strecke Olbernhau–Deutschneudorf erteilt. Durch verschiedenste Hindernisse konnte diese erst 1927 in Betrieb genommen werden. Das ursprüngliche Projekt einer Verbindung bis nach Litvínov wurde 1931 vorläufig zurückgestellt und später mangels Bedarfs nicht wieder aufgegriffen. Zu DDR-Zeiten wurden mit der Erdgasleitung Nordlicht der RWE Transgas (1972) und der Chemieproduktenleitung Böhlen – Oberleutensdorf (Litvínov) zwei weitere ökonomisch bedeutsame Infrastrukturleitungen über diesen Sattel geführt. Die Straßenübergänge Deutschneudorf und Deutscheinsiedel blieben jedoch nach 1945 geschlossen. Seit 2002 ist der Übergang von Deutscheinsiedel nach Böhmisch-Einsiedel (Mníšek) wieder für Kraftfahrzeuge benutzbar, seit 2007 auch der von Deutschneudorf. Reitzenhainer Pass Koordinaten: Über den Reitzenhainer Pass führt eine der alten, von Halle (Saale) über Leipzig und Chemnitz kommenden Salzstraßen weiter nach Komotau (Chomutov) und Prag (Praha). Sie diente vorrangig dem Salzhandel und -transport nach Böhmen und in die südlich liegenden Donauländer und wurde auch als Hohe, Reitzenhainer oder Böhmische Straße bezeichnet. Ursprünglich führte der Pass von Zschopau über Zöblitz, Kriegwald, Platten nach Komotau. Nach der 1521 erfolgten Gründung von Marienberg wurde der Straßenverlauf über diese neue Bergstadt und Kühnhaide verlegt, bis sich letztendlich der Straßenverlauf über das neugegründete Grenzdorf Reitzenhain dauerhaft durchsetzte. Etwa zwei Kilometer nordwestlich des Ortes weist ein Gedenkstein mit der Inschrift An der einstigen Umspanne 1400–1823 auf die ehemals vorhandene Pferdewechselstation hin. Die Passhöhe der heutigen Straßenführung befindet sich zwischen Reitzenhain und Sebastiansberg (Hora Svatého Šebestiána) auf etwa Der Pass ist damit einer der niedrigsten im zentralen Erzgebirge. Seine nördliche Zufahrt stellt heute die Bundesstraße 174 dar. Der Grenzübergang Reitzenhain selbst war nach Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Oktober 1978 gesperrt. Mitte der 2000er Jahre wurde der Grenzübergang für den gesamten Verkehr geöffnet. Damit einher ging ein starker Anstieg des Schwerlastverkehrs. So ergab eine Verkehrszählung im Jahr 2015, dass einzelne Abschnitte der Strecke von mehr als 1.800 LKW täglich befahren werden. Seit 1872 existiert eine von Komotau (Chomutov) ausgehende Eisenbahnverbindung über Krima (Křimov) nach Weipert (Vejprty) mit Anschluss ins sächsische Annaberg-Buchholz. Ausgehend vom Bahnhof Krima wurde drei Jahre später eine Schienenverbindung nach Reitzenhain über den gleichnamigen Pass mit Weiterführung nach Flöha in Betrieb genommen. Aufgrund völlig veränderter politischer Verhältnisse fand nach 1945 kein grenzüberschreitender Verkehr mehr statt. 1972 wurde der tschechoslowakische Streckenteil dieser Verbindung über den Reitzenhainer Pass stillgelegt und an Stelle der Eisenbahngrenzbrücke und des dortigen Bahnkörpers folgend der Straßengrenzübergang errichtet. Zwischen 1985 und 1987 wurden dann auch sämtliche Gleisanlagen rückgebaut. Die Gleisanlagen des Streckenteils Reitzenhain–Marienberg auf deutscher Seite wurden 2013 rückgebaut, um später einen Bahntrassenradweg anzulegen. Dieser soll 2020 fertiggestellt sein. Preßnitzer Pass Koordinaten: Der Preßnitzer Pass (792 m über NN) stellt eine der ältesten Pfadanlagen dar, die aus dem Zentrum Mitteldeutschlands über den dichten Grenzwald nach Böhmen führte. Er befindet sich an der alten Straße von Preßnitz nach Pleil/Pleyl (Černý Potok). Rechts von der höchsten Stelle der Passstraße befindet sich das „Husarengrab“ (Hrob Chorvatu), ein wohl zum Gedenken an gefallene Soldaten aufgerichteter Stein, auf dem nur noch schlecht die Jahreszahl 1635 zu lesen ist. Der Weg wird zusammen mit der Stadt Preßnitz im Jahr 1335 erstmals urkundlich erwähnt: Sein ursprünglicher Verlauf ging von Halle (Saale) kommend über Altenburg, Zwickau, Hartenstein, Grünhain und Zwönitz nach Schlettau. Hier wurde die obere Zschopau gequert. Anschließend führte der Weg über Kühberg am Blechhammer vorbei nach Weipert (Vejprty) und erreichte dann östlich schwenkend über Pleil (Černý Potok) mit Preßnitz (Přísečnice) die älteste Bergstadt des Erzgebirges. Der Weg passierte folgend Reischdorf (Rusová), in deren Ortslage er sich verzweigte. Der westliche führte nach Kaaden (Kadaň), der östliche nach Kralupp (Kralupy u Chomutova). Hier wurden auch die Passhöhen auf jeweils rund erreicht. Damit war der Preßnitzer Pass deutlich niedriger als die sich nach Westen hin anschließenden Pässe über Wiesenthal, Rittersgrün, Platten, Hirschenstand und Frühbuß. Dies war einer der Gründe für seine häufige Benutzung während des Dreißigjährigen Krieges. In einer Urkunde von Johann von Böhmen und dessen Sohn Karl an Friedrich und Hermann von Schönburg vom 30. April 1339, die u. a. die Silbergruben bei Preßnitz betrifft, sind ausführliche Bestimmungen zur Passstraße enthalten. Um die Versorgung der Bergleute sicherzustellen, wurde angeordnet, dass Händler, die ihre Waren aus Böhmen befördern, von sämtlichen Zöllen und Gebühren befreit werden sollen. Dies betraf aber nicht die umgekehrter Richtung, für solche galt weiterhin die den Schönburgern verliehene Zollpflicht. Dies ist gleichzeitig die erste Erwähnung über das Vorhandensein des Preßnitzer Zollamts. Dieses befand sich im frühen Mittelalter in Kralupp am Fuße der Südabdachung des Gebirges. Zusammen mit der fortschreitenden Besiedelung des Gebirgskammes wurde es in die Kammlage nahe der Landesgrenze verlegt. Auch wenn über den Preßnitzer Pass eine der alten Salzstraßen führte, war die Verkehrsdichte relativ gering. Die an der Passstraße liegende Klosterstadt Grünhain wurde um 1700 nur von fünf bis sechs Salzhandelszügen (a 20–30 Fuhrleute) pro Jahr passiert. Zwischen September 1830 und März 1831 wurden am Preßnitzer Pass selbst 81 Salzwagen mit etwa 4.700 Zentnern Koch-, Vieh- und Düngesalz gezählt. Der durch die namensgebende Stadt Preßnitz (Přísečnice) führende Abschnitt des Passweges wurde mit Bau und Füllung der Talsperre Preßnitz (vodní nádrž Přísečnice) zu Beginn der 1970er Jahre überstaut. Die Stadt wurde nach Baubeschluss ausgesiedelt, aufgegeben und abgerissen, das ehemalige Stadtgebiet mit Resten und Ruinen liegt versunken unter der Wasseroberfläche. Wiesenthaler Pass Koordinaten: Über den Wiesenthaler Pass führte die aus Leipzig über die beiden einst selbständigen Bergstädte Annaberg und Buchholz kommende Passstraße weiter in den bekannten Kur- und Badeort Karlsbad (Karlovy Vary). Sie folgte hinter der im 16. Jahrhundert entstandenen höchstgelegenen deutschen Stadt Oberwiesenthal dem Zechengrund allmählich aufwärts zum Erzgebirgskamm und zum Grenzübergang nach Gottesgab (Boží Dar) beim zwischen Keil- und Fichtelberg gelegenen Neuen Haus. Die Passhöhe liegt auf und ist damit der höchstgelegene Pass des Erzgebirges. Im Winter war die über ihn führende Straße oft mehrere Wochen fast völlig unpassierbar, was heute kaum mehr vorstellbare Folgen hatte. So kamen in einem kalten Winter zu Beginn der 1730er Jahre mehrere Salzburger Exulanten bei ihrer Vertreibung aus Österreich-Ungarn am unpassierbaren Wiesenthaler Pass ums Leben und wurden außerhalb der Gottesgaber Friedhofsmauer verscharrt. Im Dreißigjährigen Krieg wurden der Wiesenthaler und der nur wenige Kilometer weiter westlich verlaufende Rittersgrüner Pass wiederholt von zahlreichen Truppen passiert, die in Oberwiesenthal und anderen Städten im oberen Erzgebirge große Verwüstungen hinterließen. Deshalb wurde der Pass mehrfach gesperrt. Dies tat man u. a. mit sogenannten Spanischen Reitern und der Errichtung von Wachhäusern. Zur Abschreckung wurde an der Grenze zeitweilig auch ein Galgen aufgestellt. Mit dem Aufblühen des Bade- und Kurwesens in Karlsbad (Karlovy Vary) wurde der Pass beim Beginn und dem Ende der Badesaison von zahlreichen Kurgästen frequentiert und die am Pass liegenden Orte erlebten die Durchreise zahlreicher berühmter Persönlichkeiten. Dies steht natürlich auch im Zusammenhang mit der ab 1708 regelmäßig über diesen Erzgebirgspass verkehrenden Leipziger Post. 1945 wurde auch der Grenzübergang am Neuen Haus für lange Jahre gesperrt. Eine Wiedereröffnung erfolgte erst 1972. Seit 1976 entlastet eine zum Pass führende Ortsumgehungsstraße der Bundesstraße 95 den Stadtkern von Oberwiesenthal und eine Anfang der 2000er Jahre errichtete Ortsumgehung um Boží Dar vom Durchgangsverkehr. Dieser hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. 2004 passierten im Schnitt 3.950 Fahrzeuge den Grenzübergang am Wiesenthaler Pass, 2000 waren es noch 2.500. Rittersgrüner Pass Koordinaten: Der Weg über den Rittersgrüner Pass verbindet Schwarzenberg/Erzgeb. über Rittersgrün, vorbei an der Böhmischen Mühle und den kleinen Streusiedlungen Goldenhöhe (Zlatý Kopec) und Försterhäuser (Myslivny) mit der Bergstadt Sankt Joachimsthal (Jáchymov). Dabei ist zwischen Försterhäuser und Sankt Joachimsthal eine Höhe von zu überwinden. Westlich des Rittersgrüner Passes führte über einen Höhenrücken ein Nebenarm der Passstraße, die sogenannte Halbmeiler oder Joachimsthaler Straße. Von Breitenbrunn aus verlief dieser Weg über die in eine sächsische und böhmische Hälfte geteilte Bergbausiedlung Halbemeile/Halbmeil (Rozhraní) und die Himmelswiese nach Försterhäuser (Myslivny) im oberen Schwarzwassertal. Hier vereinigte sie sich wieder mit der Rittersgrüner Straße. Von Halbmeile aus bestand aber auch ein Weg über Zwittermühl (Háje) und Irrgang (Bludná) nach Neudek (Nejdek) und Karlsbad (Karlovy Vary). Im Gegensatz zu den benachbarten Pässen erlangte der Rittersgrüner Pass erst nach der 1516 erfolgten Gründung von Sankt Joachimsthal (Jáchymov) eine gewisse Bedeutung. Er diente wohl vor allem dem Transport von Erzen und Bergbauprodukten zwischen Sankt Joachimsthal (Jáchymov) und der bedeutenden westerzgebirgischen Hammerwerksgegend um Aue und Schwarzenberg. Im Dreißigjährigen Krieg gehörte der Rittersgrüner Pass zu den am meisten von Kriegstruppen genutzten Erzgebirgsübergängen. Insbesondere der kaiserliche Feldmarschall Heinrich Graf von Holk fiel mit seinen Truppen wiederholt über den Pass nach Sachsen ein und hinterließ große Verwüstungen in den am Straßenverlauf gelegenen Siedlungen. Mit der Aufnahme regelmäßiger Postkutschen- und Botenkurse verlor der Rittersgrüner Pass im 18. Jahrhundert zugunsten der benachbarten Pässe an Bedeutung. Als lokale Verbindungsstraße zwischen Sachsen und Böhmen behielt er jedoch bis 1945 überregionale Bekanntheit. Plattener Pass Koordinaten: Der Plattener Pass führte von Schwarzenberg/Erzgeb. bzw. Schneeberg über das 1651 gegründete Hammerwerk Wittigsthal an der Mündung des Breitenbachs in das Schwarzwasser. Oberhalb von Wittigsthal entstand am Fastenberg 1654 die Exulantensiedlung Johanngeorgenstadt, die schon bald als letzte Bergstadt des Erzgebirges aufblühte und zu einer Belebung des Handels im oberen Erzgebirge führte. Die Passstraße überquerte in Wittigsthal die Grenze zwischen Sachsen und Böhmen und führte nun, vorbei an mehreren, im 17. Jahrhundert entstandenen Blaufarbenwerken im Tal des Breitenbaches aufwärts bis zur Bergstadt Platten (Horní Blatná). Bis zum Ende des Schmalkaldischen Krieges 1547 befand sich die Grenze südlich von Platten (Horní Blatná). Nach dem Abtreten des Gebietes um Platten (Horní Blatná) und Gottesgab (Boží Dar) an den König von Böhmen verschob sich der Grenzverlauf etwa 8 km nach Norden. Für die Wegführung nach Karlsbad (Karlovy Vary) existierten Abstiege über Bärringen (Pernink), Lichtenstadt (Hroznětín) oder Hohenstollen bei Neudek (Nejdek). Der Plattener Pass wurde bereits im ausgehenden 17. Jahrhundert als Poststraße benutzt. Selbst Goethe reiste 1785 und 1786 über Johanngeorgenstadt nach Karlsbad (Karlovy Vary). Im 19. Jahrhundert verlor der Plattener Pass zugunsten des über Oberwildenthal nach Hirschenstand (Jeleni) führenden neuen Passes an Bedeutung. 1899 verkehrte über ihn die letzte Postkutsche zwischen Johanngeorgenstadt und Karlsbad (Karlovy Vary), da in jenem Jahr die durchgängige Eisenbahnlinie Johanngeorgenstadt–Neudek (Nejdek)–Karlsbad den Betrieb aufnahm. Nach 1945 fand kein grenzüberschreitender Verkehr mehr statt, infolge der politischen Veränderung nach 1990 passierte 1992 erstmals wieder ein Reisezug die Staatsgrenze und im gleichen Jahr wurde dann der planmäßige grenzüberschreitende Verkehr wieder aufgenommen. Mit weist diese Bahnstrecke den höchsten Scheitelpunkt der Erzgebirgsquerbahnen auf. Bemerkenswert ist, dass der Scheitelpunkt dieser im heutigen Tschechien als Krušnohorský Semmering (Erzgebirgischer Semmering) bekannten Bahn den der Semmeringbahn um 16 m übersteigt. Der Straßengrenzübergang wurde nach Ende des Zweiten Weltkrieges geschlossen. Seit 1991 kann er von Fußgängern und Radfahrern, seit 2008 auch von KFZ wieder benutzt werden. Allerdings lassen die topographischen Verhältnisse einen Ausbau bestehender Straßen nicht zu, so dass die B 93 zwischen Schneeberg und Johanngeorgenstadt zur wahrscheinlichen Weiterführung über einen noch zu schaffenden Grenzübergang nach Karlsbad (Karlovy Vary) völlig neu trassiert werden soll. Die derzeit bevorzugte Variante 3 der Planungsunterlagen sieht im südlichen Bereich folgenden Verlauf vor: Neubau Jägerhäuser Flügel – Umfahrung Schwarzwassertal – Ortsumfahrung Johanngeorgenstadt zwischen den Ortsteilen Steinbach und Neustadt. Eine auf sächsischer Seit ebenfalls untersuchte Trassenführung in Richtung Hirschenstander Pass wurde aus finanziellen und ökologischen Gründen verworfen. Bei der jetzt favorisierten Trassenführung wird allein für das 24 km lange sächsische Teilstück von Kosten in Höhe von etwa 96,6 Mill. € ausgegangen. Mit der Inbetriebnahme dieser neuen Gebirgsquerung ist allerdings nicht vor 2015 zu rechnen. Hingegen wurde der seit 1991 bestehende Fußgängergrenzübergang in Johanngeorgenstadt am 16. Januar 2008 für den Verkehr mit Kraftfahrzeugen bis 3,5 t geöffnet, wodurch dieser alte Erzgebirgspass auf seiner alten Streckenführung eine wesentliche Belebung erfuhr. Frühbußer und späterer Hirschenstander Pass Koordinaten Frühbußer Pass: Der Pass über die Bergstadt Frühbuß (Přebuz) ist einer der ältesten des Westerzgebirges und einer der höchstgelegenen im Erzgebirge überhaupt. Sein nördlicher Hauptzugang querte von Schneeberg kommend das Tal der Zwickauer Mulde nördlich von Eibenstock und führte über die Eibenstocker Hochfläche, am früheren Gasthaus Waldschänke vorbei, in den dichten Hochwald. Hier setzte sich der Verlauf in südlicher Richtung auf der noch heute so genannten Früßbußer Straße (früher auch Frühbußer Steig genannt), am Brückenberg und dem spätmittelalterlichen Bergwerk Fletschmaul vorbei bis zum Zollamt bei Weitersglashütte fort. Die sächsisch-böhmische Grenze wurde unweit des Großen Kranichsees auf überschritten. Auf böhmischer Seite führte die Passstraße über Sauersack, Frühbuß (Prebuz), Schönlind nach Heinrichsgrün (Jindřichovice v Krušných horách), wo sie auf die vom Graslitzer Pass kommende Straße traf. Beide Straßen stiegen von hier aus gemeinsam ins Egertal nach Falkenau (Sokolov) hinab. Koordinaten Hirschenstander Pass: Nach dem Aufblühen des neuangelegten Hammerwerkes Wildenthal in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zogen immer mehr Fuhrwerke über den genannten Hammer im Tal der Großen Bockau, um den langen und unsicheren Straßenabschnitt im Erzgebirgswald zwischen der Waldschänke und Sauersack (Rolava) zu vermeiden. Auch der offizielle Postkurs von Zwickau über Schneeberg nach Karlsbad (Karlovy Vary) wurde über Wildenthal gelegt. Dabei führte die Straße ursprünglich von Wildenthal über Sauschwemme und Steinbach nach Johanngeorgenstadt, um weiter über den Plattener Pass Karlsbad (Karlovy Vary) zu erreichen. Diese Führung änderte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts. In dieser Zeit wurde der Fahrweg im oberen Tal der Großen Bockau südlich von Oberwildenthal immer mehr für Fahrten und Gänge nach Böhmen genutzt, denn dieser Weg wies weniger Steigungen auf als die Poststraße über die Sauschwemme nach Johanngeorgenstadt. 1819 wurde diese Route über Hirschenstand (Jelení), die ihren höchsten Punkt beim Grenzübertritt auf erreichte, in einem Vertrag zwischen Sachsen und Österreich als Extrapostroute festgelegt. 1827 begann der chausseemäßige Ausbau der Straße von Schneeberg über Eibenstock und Wildenthal zur Grenze unweit des Buchkammes südlich von Oberwildenthal. Die Arbeiten zum Ausbau der Chaussee auf böhmischer Seite von Karlsbad (Karlovy Vary) über Neudek (Nejdek), Neuhammer (Nové Hamry) nach Hirschenstand (Jeleni) wurden erst 1829 in Angriff genommen. Als letztes Teilstück wurde das zwischen Hirschenstand (Jeleni) und der Grenze 1832 fertiggestellt. Seit 1837 nutzte die stark frequentierte Eilpost-Sommerlinie Zwickau-Karlsbad (Karlovy Vary) die neue Chaussee. Im Gegenzug verlor die Verbindung über Johanngeorgenstadt und Platten nach Karlsbad (Karlovy Vary) an Bedeutung. Eine weitere Aufwertung des Hirschenstander Passes erfolgte mit der Einstufung seiner nördlichen Zufahrt als Reichsstraße 93 im 20. Jahrhundert. 1945 erfolgte die Schließung des Grenzübergangs, der nach der 1997 erfolgten Wiedereröffnung von Wanderern, Rad- und Skifahrern benutzt wird. Eine Überquerung der Grenze mit Kraftfahrzeugen ist an dieser Stelle nicht möglich. Für die wechselvolle Geschichte der alten Erzgebirgspässe ist dieser Grenzübergang von exemplarischer Bedeutung: Während noch im Mai 1968 die Teilnehmer der Internationalen Friedensfahrt, wie schon am 20. Mai 1964, auf ihrer 5. Etappe das Grenztor passierten, rollten wenige Wochen später, in der Nacht zum 21. August 1968, sowjetische Panzer zur Niederschlagung des Prager Frühlings hier durch. Graslitzer Pass Koordinaten: Der nördliche Zugang zum Graslitzer Pass nahm in der Vergangenheit seinen Anfang in der vogtländischen Hauptstadt Plauen und verlief von dort über die Hochflächen nach dem bereits um 1200 angelegten Burgflecken Schöneck. Von hier aus durchquerte die Passstraße den waldreichen Schönecker Forst und zog sich bis zur Landesgrenze im späteren Musikwinkel, wo um 1600 der Marktflecken Klingenthal entstand. Nach dem Passieren der Grenze führte die Passstraße zuerst im Tal der Zwota durch die böhmischen Stadt Graslitz (Kraslice), bevor sie über Heinrichsgrün (Jindrichovice) Falkenau (Sokolov) an der Eger erreichte. Von hier war in westlicher Richtung die Kaiserstadt Eger (Cheb) schnell zu erreichen, während es nach Osten bis nach Karlsbad (Karlovy Vary) von dort nur noch etwa 15 Kilometer Entfernung waren. Geologisch gesehen, befindet sich der Graslitzer Pass noch im westlichen Erzgebirge, politisch gehörte die Gegend um Klingenthal jedoch bereits zum Territorium des Vogtlandes und wird deshalb in einigen Veröffentlichungen als Erzgebirgspass nicht immer anerkannt. Als Besonderheit ist hervorzuheben, dass der Graslitzer Pass einer der wenigen historischen Erzgebirgspässe ist, der in weiten Teilen einem Talverlauf folgt. Über den Pass führt die 1886 eröffnete Bahnverbindung Sokolov (Falkenau)–Klingenthal. Nach 1945 fand kein grenzüberschreitender Verkehr mehr statt, zudem wurde 1975 die Brücke üb die Zwota in Klingenthal abgerissen. Infolge der politischen Wende 1990 wurde der Wiederaufbau der Verbindung von Seiten der Politik gefordert. Im Jahre 2000 wurde die Gleislücke geschlossen und der grenzüberschreitende Betrieb wieder aufgenommen. In ihrer nördlichen Fortsetzung über Zwotental und Muldenberg nach Falkenstein/Vogtl. hat die Verbindung gleichsam zum historischen Wegverlauf zum Burgflecken Schöneck eine topografische Besonderheit: Im Gegensatz zu den anderen Erzgebirgsquerbahnen wird der höchste Punkt mit im sächsischen Schöneck erreicht. Literatur (Auswahl) Renate Arnold: Die böhmischen Steige im Mittleren Erzgebirge von der Mitte des 10. Jahrhunderts bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts. Diplomarbeit an der Pädagogischen Hochschule Dresden, 1979 Adolf Böhm: Die ehemaligen Erzgebirgsquerbahnen. In: Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz, Heft 1/1995. Dresden 1995. S. 18–25. Ingolf Gräßler: Pässe über das Erzgebirge. Paßwege und Paßstraßen zwischen Freiberger und Zwickauer Mulde im Mittelalter. In: Rainer Aurig/Steffen Herzog/Simone Lässig (Hrsg.): Landesgeschichte in Sachsen. Tradition und Innovation. Dresden 1997, S. 97–108. ISBN 3-89534-210-6. Johannes Hemleben: Die Pässe des Erzgebirges. Diss. Berlin 1911. Albrecht Kirsche: Generationen der Fernwege über das Erzgebirge. in: Sächsische Heimatblätter Heft 4/2007, S. 311–321 Manfred Ruttkowski: Altstraßen im Erzgebirge. Archäologische Denkmalinventarisation Böhmische Steige. In: Arbeits- und Forschungsberichte zur sächsischen Bodendenkmalpflege 44, 2002, , S. 264–297. Heinrich Schurtz: Die Pässe des Erzgebirges. Leipzig 1891 Digitalisat und Digitalisat Hans Siegert: Die Pässe des Erzgebirges. In: Kalender für das Erzgebirge und das übrige Sachsen, 1920. S. 21–26. H. Wiechel: Die ältesten Wege Sachsens. Sitzungsberichte der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft Isis. Dresden 1901. (Digitalisat) R. Wißuwa: Die Entwicklung der Altstraßen im Gebiet des heutigen Bezirkes Karl-Marx-Stadt von der Mitte des 10. Jahrhunderts bis Mitte des 14. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Rekonstruktion des Altstraßennetzes auf archäologischer Grundlage. Dissertation (A)1987 Christian Lehmann: Von Haupt-Pässen und andern Wegen übers Ober-Ertz-Gebirge. In: Historischer Schauplatz derer natürlichen Merkwürdigkeiten in dem Meißnischen Ober-Ertzgebirge. Leipzig 1699, S. 151–155 (Digitalisat) Weblinks Die alten Erzgebirgsübergänge, in: Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt, 126. Jahrgang, Nr. 1/1933 ff, abgerufen am 1. März 2015, auf alterzgebirge.de Einzelnachweise Verkehr (Erzgebirge) ! !Deutschland Verkehrsgeschichte (Sachsen) Geographie (Böhmen) Verkehr (Tschechien) Historischer Verkehrsweg Deutsch-tschechische Beziehungen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Canine%20Demodikose
Canine Demodikose
Die canine Demodikose ist eine häufige, durch die übermäßige Vermehrung der Haarbalgmilbe Demodex canis hervorgerufene, parasitäre Hauterkrankung der Hunde (Canidae). Sie kann örtlich begrenzt oder am ganzen Körper auftreten. Die Demodikose entsteht bei älteren Tieren nur im Zusammenhang mit Störungen des Immunsystems, bei Jungtieren ist die Entstehung der Krankheit nicht vollständig aufgeklärt. Die Demodikose beginnt zumeist mit Haarausfall und ohne Juckreiz. Im weiteren Verlauf können sich durch eine bakterielle Sekundärinfektion stärkere Hautveränderungen bis zu einer eitrigen Hautentzündung (Pyodermie) entwickeln. Die Krankheit wird durch den mikroskopischen Nachweis der Milben festgestellt. Die Behandlung erfolgt mit milbenwirksamen Medikamenten. Krankheitsursache Auslöser einer Demodikose ist vor allem Demodex canis. Demodex canis ist eine schlanke, etwa 250 bis 300 µm lange und 40 µm dicke Milbe, die in den Haarbälgen (Haarfollikeln) und Talgdrüsen parasitiert. Dort ernährt sie sich von Talg, Gewebsflüssigkeit und den natürlich abgestoßenen Zellen. In geringer Zahl kommen diese Milben als Kommensale auch bei vielen klinisch gesunden Tieren vor (die für Menschen spezifischen Schwesterarten d. brevis und d. folliculorum sind sehr häufig und fast immer Kommensalen). Die weiblichen Milben legen Eier, die sich über ein Larven- und Nymphenstadium zu den erwachsenen Milben entwickeln. Der gesamte Entwicklungszyklus findet in den Haarbälgen statt und dauert 20 bis 35 Tage. Außerhalb des Wirtes sind Haarbalgmilben nicht überlebensfähig und sterben infolge Austrocknung schnell ab. Haarbalgmilben produzieren keinen Kot, sondern lagern Stoffwechselabbauprodukte in Zellen des Darmtrakts ein, so dass sie kaum eine Immunantwort provozieren. In jüngerer Zeit wurden weitere Demodex-canis-ähnliche Milben beschrieben, die größer bzw. kleiner sind. Die kürzere Milbe wurde Demodex cornei, die längere Demodex injai genannt. Demodex cornei lebt vor allem auf der Hautoberfläche und kann in Kombination mit Demodex canis auftreten. Demodex injai scheint sich vor allem in den Talgdrüsen aufzuhalten. Eventuell sind D. injay und D. cornei aber nur morphologische Varianten von Demodex canis und keine eigenständigen Arten. Krankheitsentstehung und Verbreitung Die Übertragung der Demodex-Milben erfolgt zumeist schon im Alter von wenigen Lebenstagen von der Hündin auf die Welpen beim Säugen. Diese Infektion bleibt aber in der Regel symptomlos. Eine Übertragung von Hund zu Hund nach dem dritten Lebenstag gilt als unwahrscheinlich. Zum Ausbruch einer Demodikose kommt es erst viel später, wenn sich diese Milben stark vermehren. Betroffene Jungtiere scheinen keine Störungen des Immunsystems zu haben, da sie nicht vermehrt anderen Erkrankungen gegenüber empfindlich sind, man geht daher von einer verminderten milbenspezifischen Immunkompetenz aus. Lediglich eine vorübergehende Verminderung der T-Zell-Immunität wird beobachtet, die unter Umständen aber nur Folge der Erkrankung ist. Bei älteren Tieren kommt es meist durch Störungen des Immunsystems (Tumoren, Nebennierenüberfunktion, Schilddrüsenunterfunktion, Leishmaniose, Mangelernährung sowie Behandlung mit Glukokortikoiden, anderen Immunsuppressiva, Progesteron oder Chemotherapeutika) zu einer Demodikose. Der Erreger verursacht bei Krankheitsausbruch eine Schädigung der beim Hund zusammengesetzten Haarfollikel (bis zu 20 Haare pro Follikel) und eine Störung der Haarbildung. Die Demodikose tritt weltweit auf. Eine erhöhte Krankheitsneigung bestimmter Hunderassen (Rasseprädisposition) wird in Europa, im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, nicht beobachtet. In Amerika sind vor allem Englische Bulldogge, Französische Bulldogge, Mops, Dobermann, Deutscher Schäferhund, Zwergschnauzer und einige Terrier (Pit Bull, West Highland White, Jack Russel, Staffordshire Bullterrier) betroffen. Dies wird dadurch erklärt, dass in Europa immungeschwächte Tiere („Kümmerer“) nicht zur Zucht verwendet werden. Darüber hinaus scheint es eine individuelle genetische Prädisposition zu geben. Eine Übertragung auf andere Spezies findet normalerweise nicht statt, da Haarbalgmilben streng wirtsspezifisch sind. Es gibt zwar sehr wenige Fallberichte, dass eng mit erkrankten Hunden zusammenlebende Menschen ebenfalls Krankheitserscheinungen zeigten, von einer Zoonose wird aber dennoch nicht gesprochen. Klinisches Bild Demodex-canis-Infektionen Das erste Zeichen einer Demodikose durch Demodex canis ist zumeist Haarausfall (Alopezie), der nur an umschriebenen Stellen oder auch am ganzen Körper (generalisiert) auftreten kann. Häufig tritt an den haarlosen Stellen eine vermehrte Talg- (Seborrhö) oder Schuppenbildung auf. In einigen Fällen können letztere Symptome auch ohne Haarverlust auftreten. Später kann es zu einer grauen Verfärbung der geschädigten Areale kommen. Bis zu diesem Stadium ist zumeist kein Juckreiz vorhanden. Bei Jungtieren (jünger als 18 Monate) beginnen die Veränderungen zumeist im Gesichtsbereich („Brillenbildung“, Lefzen, Kinn) und/oder an den Gliedmaßen. Zumeist heilt diese Erkrankung auch ohne Behandlung nach wenigen Wochen ab, sie kann sich aber auch weiter ausdehnen und in eine generalisierte Demodikose übergehen. Im weiteren Verlauf ist das klinische Bild durch eine bakterielle Sekundärinfektion, vor allem mit Staphylokokken, seltener auch mit Proteus, Klebsiellen oder Escherichia coli gekennzeichnet. Es kommt zu einer Follikulitis, Furunkulose und übermäßigen Verhornung (Hyperkeratose). Gelegentlich kann sich dieses Stadium der Erkrankung auch durch Pusteln manifestieren. Bei tiefem Eindringen der Bakterien in die Haut entwickelt sich eine eitrige Hautentzündung (Pyodermie) mit Bildung von Krusten und Schwellungen der Lymphknoten. Hier ist bei jungen Hunden differentialdiagnostisch eine Canine juvenile Zellulitis auszuschließen. Sonderformen sind der Befall der Haut der Füße und des Ohrs. Der Befall der Füße (Pododemodikose) äußert sich in Rötung und Schwellung (Ödem) im Zwischenzehenbereich; in ausgeprägten Fällen entwickeln sich Granulome und Fisteln, so dass das Bild einer chronischen Pododermatitis entsteht. Der Befall des äußeren Gehörgangs (Otodemodikose) wird vor allem bei generalisierter Demodikose beobachtet und ist durch ein bräunliches Sekret gekennzeichnet. Infektionen mit anderen Demodex-Milben Demodex-injai-Infektionen äußern sich zumeist mit erhöhter Talgproduktion („fettige Haut“), schlechter Haarqualität mit schütterem Haar und vor allem am Rücken auftretendem Juckreiz. Auch Papeln, Pusteln oder „Mitesser“ können auftreten. Diese Form der Demodikose wird vor allem bei Terriern beobachtet. Demodex-cornei-Infektionen zeigen sich in Rötungen der Haut, Schuppenbildung und ausgeprägtem Juckreiz. Untersuchungsmethoden Die Diagnose erfolgt durch Nachweis lebender Milben in den Haarfollikeln. Dazu muss in der Regel ein tiefes Hautgeschabsel entnommen werden. Auch mit Herausziehen eines Haarbüschels („hair pluck“), dem Ausquetschen der Haarfollikel bzw. Talgdrüsen mit einer Klemme oder einer Hautbiopsie kann Probenmaterial für die anschließende mikroskopische Untersuchung gewonnen werden. Hautbiopsien sind vor allem bei Pododemodikose mit Granulombildung sowie Rassen mit sehr dicker Haut (Englische Bulldogge, Shar-Pei) sinnvoll, da ein Hautgeschabsel von ausreichender Tiefe hier selten gelingt. Insgesamt ist die Zahl nachgewiesener Milben im Hautgeschabsel größer als mit den anderen Methoden. Vor allem bei Therapiekontrollen (siehe unten) dürfen keine Aufhellungspräparate mit Kaliumhydroxid angefertigt werden, da dann die Einschätzung der Vitalität der Milben nicht möglich ist. Die Proben sollten daher nur in einen auf einen Objektträger aufgebrachten Tropfen Paraffinöl eingebettet werden. Empfehlenswert ist es, das Präparat vor der Untersuchung etwa 10 Minuten liegen zu lassen, weil die Haarbalgmilben dann aus den Wurzelscheiden der Haare auswandern und somit besser sichtbar sind. Zu beachten ist, dass einzelne Haarbalgmilben einen physiologischen Befund darstellen können, also nur eine deutliche Ansammlung mit Vorhandensein von Eiern, Larven und Nymphen in Zusammenhang mit dem klinischen Bild als eindeutige Diagnose gilt. Bei stärkerem Befall können Milben auch über die Lymphgefäße in regionäre Lymphknoten gelangen oder durch orale Aufnahme beim Belecken auch im Kot nachgewiesen werden. Bei bakterieller Sekundärinfektion wird der Erregernachweis durch bakteriologische Untersuchung und die Anfertigung eines Antibiogramms empfohlen. Behandlung Eine lokale Demodikose bei Jungtieren bildet sich in 90 % der Fälle wieder spontan zurück. Ob eine Behandlung sinnvoll ist oder nicht, ist in der Literatur umstritten. Zum einen wird sie empfohlen, um eine Generalisierung zu vermeiden, zum anderen wird empfohlen, gerade die mögliche Generalisierung abzuwarten, um sie als Zuchtausschlusskriterium (siehe unten) nutzen zu können. Eine lokale äußerliche (topische) Behandlung zum Beispiel durch Auftragen eines Gels mit Benzoylperoxid, Chlorhexidin oder Rotenon ist dabei zumeist ausreichend. Benzoylperoxid dringt zwar gut in die Haarfollikel ein, wirkt allerdings stark austrocknend und zum Teil hautreizend. Eine ausgeprägte Demodikose ist generell mit einer Ganzkörperbehandlung zu therapieren. Sowohl bei lokaler als auch systemischer Demodikose hatte sich in der Vergangenheit die regelmäßige Waschbehandlung mit Amitraz bewährt. Einige Zwerghunderassen (Chihuahua, Malteser) reagieren allerdings sehr empfindlich auf diesen Wirkstoff, so dass der Einsatz bei diesen nicht empfohlen wird. Bei starkem Befall wird bei langhaarigen Hunden eine vollständige Schur empfohlen, da der Wirkstoff die Haut gut benetzen muss, um tief genug in die Haarbälge eindringen zu können. Bei starker bakterieller Sekundärinfektion ist zunächst diese zu behandeln, z. B. durch Scheren der betroffenen Partien, Reinigen mit desinfizierend wirkenden Waschlösungen und systemischer Verabreichung von Antibiotika, da Amitraz nicht auf größere Wunden aufgebracht werden sollte. Von Juni 2009 war auch ein Spot-on-Präparat mit Amitraz zur Behandlung der Demodikose zugelassen, das nur 14-täglich aufgetragen werden muss. Insbesondere bei lokaler Demodikose ist eine 14-tägliche Therapiekontrolle sinnvoll, um einem zu frühen Abbruch der Behandlung und damit der Gefahr der Entstehung einer generalisierten Demodikose vorzubeugen. Ein sich abzeichnender Behandlungserfolg ist anhand der Abnahme der Zahl lebender Milben, der Zunahme verkrüppelter Milben und der Abnahme der Larven sichtbar. Eine vollständige Ausheilung wird durch nachgewachsene Haare und fehlenden Nachweis lebender Milben angezeigt und gelingt mit Amitraz etwa in 80 % der Fälle. In etwa 40 % der Fälle treten Nebenwirkungen wie Abgeschlagenheit und Juckreiz auf, die durch stärkere Verdünnung oder Verminderung der Behandlungsfrequenz reduziert werden können. Gelegentlich können auch schwerere Nebenwirkungen wie Fressunlust, Ataxie sowie vermehrter Durst und Harnabsatz auftreten. Da Amitraz auch zu einem Anstieg des Blutzuckerspiegels führt, ist der Einsatz bei zuckerkranken Hunden kontraindiziert. Mittlerweile (Stand August 2020) sind für Hunde aber keine Präparate mit Amitraz mehr zugelassen. Die systemische Behandlung mit Ivermectin, Moxidectin oder Milbemycinoxim ist ebenfalls gut wirksam. Diese Wirkstoffe werden täglich peroral bis zur erfolgreichen Therapiekontrolle (s. u.) verabreicht. Zu beachten ist, dass einige Hunderassen und Welpen unter 12 Wochen aufgrund der insuffizienten Blut-Hirn-Schranke sehr empfindlich auf einige Avermectine reagieren (→ MDR1-Defekt) und es in Deutschland mit Moxidectin nur ein einziges für Hunde zugelassenes Avermectin-Präparat gibt. Die Behandlung mit Milbemycinoxim ist auch bei Avermectin-empfindlichen Hunden möglich. Sie muss aber im Regelfall über etwa 70 Tage durchgeführt werden und ist daher sehr kostenintensiv. Aktuelle Studien zeigen bei generalisierter Demodikose eine gute Wirksamkeit von Isoxazolinen wie Fluralaner, Sarolaner oder Afoxolaner. Seit 2018 bzw. 2019 sind Präparate dieser drei Isoxazoline zur Behandlung der Demodikose zugelassen. Aufgrund deutlicher Nebenwirkungen und der Gefahr von Vergiftungen werden Akarizide auf der Basis organischer Phosphorsäureester heute kaum noch angewendet. Unterstützend kann Vitamin E verabreicht werden. Tritt eine Demodikose bei Hündinnen im Zusammenhang mit der Läufigkeit zyklisch auf, ist eine Kastration zu erwägen. Eine Behandlung mit Glukokortikoiden oder Progesteron ist bei Demodikose kontraindiziert. Bei bakterieller Sekundärinfektion ist zusätzlich zur Milbenbekämpfung eine lokale Behandlung mit desinfizierenden Lösungen (Benzoylperoxid, Chlorhexidin, Povidon-Iod) oder Antibiotika, bei schweren Pyodermien auch die systemische Verabreichung von Antibiotika vor der eigentlichen Milbenbekämpfung angezeigt. Behandlungsaussicht Die Behandlung ist bei lokalisierter Demodikose zumeist erfolgreich. Von einer erfolgreichen Therapie wird ausgegangen, wenn sich in zwei, im Abstand von zwei Wochen aufeinanderfolgenden Hautuntersuchungen von vier bis fünf verschiedenen Stellen keine lebenden Milben mehr nachweisen lassen. Schwere, generalisierte Formen und die Pododemodikose können sich als therapieresistent erweisen, insbesondere wenn nicht behebbare Störungen des Immunsystems oder fördernde Primärleiden vorliegen. Die Gefahr von Rezidiven sinkt deutlich, wenn das betroffene Tier ein Jahr symptomfrei bleibt. Bei einigen Tieren kann eine Symptomfreiheit nur durch lebenslange Gabe von Amitraz oder Ivermectin erreicht werden. Die American Academy of Veterinary Dermatology empfiehlt bei einer generalisierten Demodikose eines Jungtieres oder rezidivierenden Demodikosen den Ausschluss des betroffenen Tieres sowie seiner Eltern und Geschwister von der Zucht. Literatur und Quellen Beat Bigler: Demodikose. In: Peter F. Suter, Hans G. Niemand (Hrsg.): Praktikum der Hundeklinik. 10. Auflage. Paul-Parey-Verlag, 2006, ISBN 3-8304-4141-X, S. 368–369. Ch. Noli, F. Scarampella: Demodikose des Hundes. In: Praktische Dermatologie bei Hund und Katze. 2. Auflage. Schlütersche Verlagsanstalt, 2005, ISBN 3-87706-713-1, S. 238–244. St. Peters: Demodikose. Zwei neue Milben-Varianten. In: Kleintier konkret. 2/2002, S. 4–9. D. Meyer, R. S. Mueller: Die Demodikose des Hundes. In: Tierärztl Praxis. 2008;36 (K), S. 91–98. Siehe auch Demodikose der Katze Weblinks Informationen der Tierklinik Birkenfeld Einzelnachweise Hautkrankheit des Hundes Parasitose bei Hunden
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https://de.wikipedia.org/wiki/Alte%20Synagoge%20%28Heilbronn%29
Alte Synagoge (Heilbronn)
Die Heilbronner Synagoge war die Synagoge der jüdischen Gemeinde in Heilbronn. Das an der Allee aus Heilbronner Sandstein errichtete Gebäude des Stuttgarter Architekten Adolf Wolff wird als Höhepunkt der neo-orientalischen Stilphase im Synagogenbau angesehen. Es wurde 1873 bis 1877 erbaut, während der Novemberpogrome in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 („Reichskristallnacht“) durch Brandstiftung zerstört und Anfang 1940 abgerissen. Heute erinnern ein Gedenkstein und eine Skulptur an die Synagoge. Lage und Umgebung Die Synagoge wurde 1873 bis 1877 an der seinerzeit noch spärlich bebauten Ostseite der südlichen Allee errichtet, jenseits der ursprünglichen Stadtgrenzen Heilbronns. Das nördlich angrenzende Grundstück an der Titotstraße war noch unbebaut, auf dem Nachbargrundstück im Süden hatte 1867 ein Arzt die nach ihm benannte Villa Gfrörer im italienischen Landhausstil errichten lassen. Zur Zeit der Zerstörung der Synagoge 1938 beherbergte diese Villa die Frauenklinik Kahleyss. Zur selben Zeit wie die Synagoge, die das dominierende Gebäude an der südlichen Allee war, entstand an der mittleren Allee die (alte) Festhalle Harmonie. Zwischen Synagoge und Harmonie befand sich nur ein weiteres Gebäude an der Ostseite der Allee, der Rest der Grundstücke war noch unbebaut. Der östliche Teil des Synagogengrundstücks zur Friedensstraße (heute Gymnasiumstraße) hin blieb unbebaut. Die Adresse der Synagoge lautete Obere Allee 14. Erst 1899 entstand aus den vier Straßen Obere Allee, Untere Allee, Obere Alleestraße und Untere Alleestraße unter Neunummerierung der Häuser eine einzige Straße, die Allee. Die Synagoge erhielt die Adresse Allee 4. Die Ostseite der Allee wurde nach und nach bebaut. Für das nördliche Nachbargrundstück der Synagoge an der Ecke Allee/Titotstraße (Allee 6) stellte die Oberpostdirektion am 15. März 1928, über 50 Jahre nach Errichtung der Synagoge, Pläne für einen Neubau der Heilbronner Hauptpost vor, der das alte Hauptpostgebäude am Neckar ersetzen sollte. Der fünf Stockwerke hohe moderne Neubau hätte die Sicht auf die Synagoge verstellt. In Gesprächen zwischen Post, Israelitischer Kirchengemeinde und Stadtverwaltung konnte erreicht werden, dass die Post den Neubau um zwei Meter nach hinten versetzte, auf einen Vorbau verzichtete und die Dächer flach hielt, so dass die Synagoge auch nach Einweihung des neuen Postgebäudes am 20. Februar 1931 weiterhin zur Geltung kam. Die neuen Machthaber benannten die Allee 1933 in Adolf-Hitler-Allee um, so dass die Adresse der Synagoge bis zu ihrer Zerstörung 1938 und dem Abbruch 1940 nun Adolf-Hitler-Allee 4 lautete. Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes bekam die Allee 1945 wieder ihren ursprünglichen Namen. Am 19. Juli 1928 beschloss der Heilbronner Gemeinderat, den privaten Verbindungsweg zwischen Allee und Friedensstraße, der südlich der Synagoge verlief, ins Eigentum der Stadt Heilbronn zu übernehmen und zu verbreitern. Da er bei der Einwohnerschaft schon seit langem als Synagogengässchen bekannt war, nannte man ihn Synagogenweg. Im Gegensatz zur Allee ist über eine Umbenennung des Synagogenwegs (der keine Hausnummern hat) zur NS-Zeit nichts bekannt. 1929 erschien er im Heilbronner Adressbuch, auch im Adressbuch 1934 war er noch enthalten. Im letzten Adressbuch der NS-Ära 1938/39 fehlte er. Auch in den Adressbüchern und Stadtplänen der Nachkriegszeit fehlte der Synagogenweg lange Zeit. Erst nach 1982 wurde er wieder in den Stadtplan von Heilbronn und in das Heilbronner Adressbuch eingetragen. Architektur und Einrichtung Die zweistöckige, aus Heilbronner Sandstein erbaute Synagoge griff in ihrer Erscheinungsform vor allem orientalische, im Inneren aber auch europäische Stilelemente auf und wird als Höhepunkt der neo-orientalischen Stilphase im Synagogenbau angesehen. Sie war grundsätzlich wie eine Kirche erbaut, aber durch Verwendung orientalischer Bauformen zu einer Synagoge umgestaltet. Wie manche mittelalterlichen Kirchen verfügte die Synagoge über eine Doppelturmfassade mit großer Fensterrose. Die Kuppeln waren der indischen oder persischen Baukunst entlehnt, auch maurische Stilelemente wurden verwendet, wogegen das Maßwerk der Fenster eher an Bauformen der Gotik gemahnte. Die Synagoge war etwa 35 m lang, 21,5 m breit und einschließlich Hauptkuppel etwa 38 m hoch. Sie war entlang einer Nordwest-Südost-Achse ausgerichtet; die der Allee zugewandte Vorderfassade befand sich im Nordwesten. Ihr Grundriss nahm eine Zwischenstellung zwischen einem Zentralbau und einem Langhaus ein. Der Bau wurde daher sowohl als Zentralbau mit Seiten-Chören als auch als dreischiffiger Langbau mit Mittel- und Seitenschiffen beschrieben oder auch dem Typus der Langhaussynagoge mit Kuppel und Zweiturmfassade zugeordnet. Der grundlegende Bautypus war ein Zentralbau in Form eines griechischen Kreuzes, der in ein annähernd quadratisches Rechteck gesetzt wurde. Die so entstehenden Zwickel zwischen Kreuzarmen und Rechteck waren als Teil von „Seitenschiffen“ offen. Vier große Pfeiler bildeten in der Mitte des Bauwerks ein Quadrat und trugen eine große Tambourkuppel. Weitere Säulen trennten die „Seitenschiffe“ vom Mittelbau ab und trugen dazu bei, dass im Inneren der Eindruck eines dreischiffigen Baues entstand, obwohl er nicht durch eine regelmäßige Stützenstellung in Schiffe unterteilt war. An dieses zentrale Rechteck schloss im Osten und Westen jeweils über die gesamte Baubreite ein Anbau an. Im Osten war dieser zum „Hauptschiff“ hin offen und beherbergte die Kanzel. Weiter im Osten schloss sich ein Chor in Form einer vorspringenden, polygonalen Apsis an, in dem der Toraschrein (Aron haKodesch) stand. An den Seiten des Kanzelraumes, im Anschluss an die „Seitenschiffe“, befand sich je ein Zimmer für Vorsänger und Rabbiner. Der entsprechende Anbau im Westen war in der Mitte als niedere, von mehreren hintereinander stehenden Säulen getragene Eingangshalle für die Männer ausgestaltet, von der drei Türen in den Innenraum führten. An den Seiten befanden sich Treppenhäuser, die zu den Seitenschiff-Emporen für die Frauen führten. Der Mittelteil des westlichen Anbaus mit der der Allee zugewandten Vorderfassade sprang vor. Die Fassade war folglich schmäler als der eigentliche Baukörper, die äußeren Westenden der „Seitenschiffe“ mit Kuppeln und gotisierenden Fenstern waren in den Eindruck, der die Fassade auf Betrachter machte, mit einbezogen. Die Fassade war ähnlich wie bei der zuvor ebenfalls nach Plänen Wolffs errichteten Nürnberger Synagoge am Hans-Sachs-Platz gestaltet: Ein großes Rosettenfenster mit maurischer Sternornamentik über einem fünfteiligen Arkaden-Fries dominierte die Fassade. Ein Bogen auf schlanken Säulen umrahmte die Fensterrose und war seinerseits in ein ornamentgeschmücktes Wandfeld eingefügt. Die Eingangshalle erreichte man durch ein dreiteiliges Portal mit Bögen im maurischen Stil. Über dem Portal befand sich eine vergoldete hebräische Inschrift mit Worten aus Jesaja 56,7 (Mein Haus soll ein Bethaus für alle Völker genannt werden). Schlanke Türmchen mit tempiettoartig überkuppelten Aufsätzen schlossen die beiden Seiten der Fassade ab. Die Synagoge trug flache Walmdächer. Das Dach des Rechtecks trug an seinen vier Ecken, über den Zwickelstellen, jeweils eine kleinere Kuppel ohne Tambour (Sockel), die aber ansonsten der Form der großen Zentralkuppel entsprach. Der Tambour der großen Zentralkuppel hatte zwölf Rundbogenfenster; die Kuppel selbst war mit patiniertem, grün schimmerndem Kupfer eingedeckt. Die Seitenansicht der Synagoge ließ die klare Geschossgliederung erkennen. Zwei Fensterreihen befanden sich übereinander, wobei die oberen Fenster größer waren als die unteren. Fünf Fragmente der Synagogenfenster, die ein Bürger nach dem Synagogenbrand geborgen und aufbewahrt hatte, wurden der Heilbronner Stadtverwaltung 1988 für die städtischen Museen übergeben. Sie wurden nach der Technik mittelalterlicher Glasfensterkunst geschaffen, sind mit Bleiruten eingefasst, leicht lila und gelb getönt und zeigen pflanzliche Motive im Jugendstil. Jeweils in der Mitte der beiden Längsseiten ermöglichten Seitenportale den Zugang ins Synagogeninnere, die auch mit Rosettenfenstern versehen, aber kleiner und einfacher als das Hauptportal waren. Pilasterartige Mauerstreifen bewirkten eine vertikale Gliederung des Baues. Das Sandsteinmauerwerk war mit reicher Ornamentik geschmückt, ohne jeden Anklang an menschliche, tierische oder andere Vorbilder aus der Natur. Im Inneren übernahmen Säulen, Bögen und Stuckaturen Formen des maurischen Baustils der Alhambra. Diese dekorativen Formen waren aber dem europäischen Stil des Baues, der an eine mittelalterliche Kirche erinnert, untergeordnet. Die Kanzel war Kirchenkanzeln nachempfunden. Breite Simse in klassizistischer Manier, die Unter- und Obergeschoss voneinander trennten, und gotisierende Fenster verminderten ebenfalls den orientalischen Eindruck. Die Synagoge verfügte über drei Emporen. Eine Empore im Nordwesten, über der Eingangshalle, trug die Walcker-Orgel. Die Emporen über den Seitenschiffen, die über die neben der Eingangshalle angeordneten Treppenhäuser erreicht werden konnten, waren (da in jüdischen Gotteshäusern Geschlechtertrennung herrscht) für die Frauen vorgesehen; 33 Bänke standen hier. Im Hauptraum, unter der zentralen Kuppel, standen 34 Bänke für die Männer. In der Zentralkuppel war ein großer Messingleuchter mit 80 Brennstellen für Gas und elektrisches Licht vorhanden. Die Kuppel selbst stützte sich im Inneren auf starke Pilaster, die auf Höhe der Emporen mit gebündelten Halbsäulen geschmückt und in Form von Diensten dem Pfeiler vorgelagert waren. Den südöstlichen Abschluss des Gebäudes bildete hinter einem hohen Hufeisenbogen ein gewölbter, polygonaler (fünfteiliger) Chor, der gotisch anmutete. Drei große Chorfenster zeigten in ihren Oberteilen als schmückendes Maßwerk den Davidstern (hebr.: מגן דוד, Magen David, dt.: „Schild Davids“) in vielfachen Variationen. In diesem Chor stand der mit einer Parochet verhängte Toraschrein (hebr.: ארון הקודש, Aron ha-Qodesch, dt.: „Heilige Lade“). Er vereinigte die maurischen Formen des Innenraumes mit der Form der Kuppeln und war mit reicher Stuckarbeit verziert. Das Almemor (dt.: Gebetspult) war ein wenig erhöht vor dem Toraschrein aufgestellt. Über dem Schrein hing ein Licht, Ner Tamid oder Ewiges Licht genannt. Die Kanzel aus Eichenholz war schräg rechts neben dem Toraschrein angebracht worden. Orgel Die Heilbronner Synagoge war bereits Ende der 1870er Jahre mit einer Orgel ausgestattet. Das Instrument stammte aus der Werkstatt des Heilbronner Orgelbauers Johann Heinrich Schäfer; es hatte 28 Register, verteilt auf 2 Manuale und Pedal. Der Organist Johannes Graf, später langjähriger Münsterorganist in Ulm, war in jenen Jahren als Organist und Chorleiter bei der jüdischen Gemeinde Heilbronn angestellt. Im Jahr 1925 wurde eine neue Synagogenorgel wurde 1925 als Opus 2095 durch die Firma Walcker aus Ludwigsburg erbaut und besaß 22 Register auf zwei Manualen und Pedal. Die Disposition des Instrumentes lautete wie folgt: Koppeln: Normalkoppeln: II/I, I/P, II/P Suboktavkoppel: II/I Superoktavkoppel: II/I Spielhilfen: Piano, Forte, Tutti, 2 freie Kombinationen, Crescendo, Crescendo Ab, Handregister Ab, Pianopedal Geschichte Planung, Bau und Einweihung Ab 1830 siedelten sich nach 354 Jahren erstmals wieder Juden in Heilbronn an. Durch weiteren Zuzug, vor allem aus ländlichen Gemeinden, wuchs die Heilbronner jüdische Gemeinde ab der Mitte des 19. Jahrhunderts stark an. Am 21. Oktober 1861 löste sie sich von ihrer Muttergemeinde in Sontheim und bildete eine eigenständige Israelitische Kirchengemeinde. Das den israelitischen Kirchengemeinden übergeordnete Bezirksrabbinat Lehrensteinsfeld wurde am 1. Juli 1867 nach Heilbronn verlegt. 1862 zählte man 137 Juden in Heilbronn, bei der Volkszählung von 1864 waren es 369, 1871 bereits 610. Die damals einzige Synagoge der Stadt befand sich seit 1857 im Mittelbau des Deutschhofes, wo jedoch beengte Raumverhältnisse herrschten. Das Kirchenvorsteheramt der Gemeinde beschloss am 1. Februar 1865, ein Grundstück an der Allee für 10.000 Gulden zu erwerben. Da der Beschluss nicht einstimmig gefasst wurde, konnte der Kauf nach heftigen Kontroversen erst im Jahre 1871 erfolgen, wobei der Grundstückspreis bereits auf 16.000 Gulden gestiegen war. Der Baubeschluss erfolgte am 21. Juni 1871. 1873 wurde der Entwurf des Stuttgarter Architekten Adolf Wolff genehmigt, der nach der Stuttgarter (1859 bis 1861) und der Ulmer Synagoge (1870 bis 1873) in Heilbronn bereits die dritte Synagoge baute. Mit 60 zu vier Stimmen entschied sich die Gemeindeversammlung für die Einrichtung einer Synagogenorgel, obwohl Instrumentalmusik in der orthodox gehaltenen Liturgie nicht vorgesehen ist und es deshalb zu einem Konflikt mit den orthodoxen Gemeindemitgliedern kam. Die Kosten für die neue Synagoge beliefen sich auf die Gesamtsumme von 372.778 Mark, wovon die Stadtgemeinde Heilbronn im Jahr 1876 durch ein Darlehen aus Mitteln der Stiftungspflege 30.000 Gulden (51.428 Reichsmark) zur Verfügung stellte. Mitte August 1873 erfolgte die Grundsteinlegung, am 23. November 1874 konnte das Richtfest gefeiert werden, und Ende Mai 1877 war der Bau vollendet. Am 7. Juni 1877 wurden die Torarollen aus dem Betsaal im Deutschhof in ein Nebenzimmer der neuen Synagoge gebracht, am 8. Juni wurde die Synagoge feierlich eingeweiht. Nach einem Abschiedsgottesdienst im Betsaal im Deutschhof (der „alten Synagoge“) fand um 11 Uhr der feierliche Einzug der sieben Torarollen in die neue Synagoge statt, dem eine Festpredigt und ein Weihegebet des Rabbiners Moses Engelbert folgten. Ein mittägliches Festessen in der Gaststätte Rose mit vielen Vertretern offizieller Stellen und ein abendlicher Festball in der Festhalle Harmonie beschlossen den Festtag. Zerstörung durch Brandstiftung 1938 Das religiöse Leben der jüdischen Gemeinde Heilbronns spielte sich fortan in der Synagoge ab. Im Mai 1927 konnte das 50-jährige Bestehen der Synagoge mit einem Festakt und einer Festschrift zur Geschichte der Juden in Heilbronn gefeiert werden. Elf Jahre später kam das Ende der Heilbronner Synagoge. Wie viele andere Synagogen im Deutschen Reich wurde sie in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, der sogenannten „Reichskristallnacht“ oder Reichspogromnacht, durch Brandstiftung zerstört. Am 9. November 1938 hatte sich die NSDAP-Spitze zur Feier des 15. Jahrestages des „Marsches auf die Feldherrnhalle“ in München versammelt. Der von dort ausgehende Befehl zu antijüdischen Ausschreitungen nach dem Attentat auf einen deutschen Botschaftsangehörigen in Paris scheint um 23:30 Uhr per Telefon bei der Heilbronner NSDAP angekommen zu sein, wahrscheinlich über mehrere Zwischenstufen. Der Heilbronner NSDAP-Kreisleiter, Richard Drauz, trug sich nach Gerichtserkenntnissen von 1950/51 mit dem Gedanken, statt Inszenierung eines „Volkszornes“, der dem „Ansehen der NSDAP im In- und Ausland“ schade, lieber den Heilbronner Juden eine hohe Geldstrafe aufzuerlegen. Im Schreiben eines Rechtsanwaltes, das sich bei den Prozessakten befindet, ist von „Beschlagnahmungen oder Erhebung einer Kontribution von 100 000,– Mark“ die Rede. Dass der Kreisleiter mit diesem Vorhaben „nach oben“ nicht durchgedrungen sei, sei der Grund dafür, dass Heilbronn „hinterdrein“ gekommen sei. Ob Drauz in dieser Nacht in Heilbronn anwesend war oder von auswärts mit höheren NSDAP-Stellen verhandelte, ist unklar. Die Heilbronner Synagoge brannte erst am Morgen des 10. November, einige Stunden nach den anderen Brandstiftungen, und die sonstigen Ausschreitungen der Novemberpogrome fanden in Heilbronn erst am Abend des 10. November statt, nicht wie andernorts zumeist in der Nacht vom 9. auf den 10. November. Die Verhandlungen Drauz’ hatten vermutlich einige Zeit in Anspruch genommen, so dass in dieser Nacht nur Zeit für eine Einzelaktion – die Synagogenbrandstiftung – blieb und die sonstigen Verwüstungsaktionen bei jüdischen Privat- und Geschäftsleuten erst im Schutze der Dunkelheit der nächsten Nacht stattfanden. Es gibt verschiedene, zum Teil widersprüchliche Aussagen zum Brandverlauf, die zum Teil auch erst nach Jahrzehnten mündlich erfolgten, so dass sie mit Vorsicht zu behandeln sind. Passanten und ein in unmittelbarer Nähe der Synagoge wohnhafter Frauenarzt wollen schon gegen ein Uhr nachts am 10. November 1938 Geräusche „wie das Klappern von Benzinkanistern“ in der Synagoge gehört haben; Letzterer gibt an, aus Sorge um seine (neben der Synagoge stehende) Klinik schon zu diesem Zeitpunkt die Feuerwehr alarmiert zu haben. Andere Angaben, wann die Feuerwehr alarmiert wurde, schwanken zwischen drei und fünf Uhr früh. Es erscheint wahrscheinlich, dass die Täter bereits um ein Uhr nachts in der Synagoge brennbares Material zusammentrugen und mit Benzin übergossen. Gegen fünf Uhr hörten Anwohner zwei heftige Detonationen. Dies entspricht den Angaben in einem ohne Verfasserangabe am 11. November 1938 veröffentlichten Zeitungsartikel im nationalsozialistisch beherrschten Heilbronner Tagblatt, nach dem es um fünf Uhr in der Synagoge brannte. In einem Gedicht, mit dem sich ein an den Löscharbeiten beteiligter Heilbronner Feuerwehrmann über den Synagogenbrand lustig machte, ist als Zeitpunkt für das Bekanntwerden des Brandes „Des Morgens um die 6. Stund“ genannt. Anwohner berichteten, sie seien gegen 6 oder 6:30 Uhr durch lebhafte Geräusche auf den Synagogenbrand aufmerksam geworden. Kurz nach sieben Uhr brannte nach Angaben des Heilbronner Tagblatts die Kuppel der Synagoge auch außen, was von einem Foto bestätigt wird, das nach Aussage des Fotografen kurz vor sieben Uhr morgens entstand. Eine weitere Fotografie zeigt die Synagoge mit ausgebrannter Kuppel und zahlreichen Schaulustigen und ist dank der im Bild abgebildeten Uhr am Postamt auf 8:42 Uhr zu datieren. Die Rolle der Heilbronner Feuerwehr beim Synagogenbrand ist nicht abschließend geklärt. Klar ist, dass sie den Brand in der Synagoge nicht löschte, sondern sich auf den Schutz der umliegenden Gebäude beschränkte; dies berichten sowohl der Zeitungsartikel im Heilbronner Tagblatt als auch das Brandgedicht des Heilbronner Feuerwehrmanns. Der Zeitungsartikel schreibt, „ein Eindringen der Feuerwehrleute in die mit Rauch und Qualm angefüllte Synagoge“ habe sich „auch mit Gasmasken als unmöglich“ erwiesen. Auch in späteren Gerichtsverfahren betonten die Feuerwehrleute, ein Eindringen sei nicht mehr möglich gewesen. Demgegenüber kann dem Brandgedicht des Feuerwehrmanns entnommen werden, dass ein Löschen des Brandes – unabhängig davon, ob dies noch möglich war oder nicht – gar nicht beabsichtigt war, sondern im Gegenteil die Feuerwehr durch gewaltsame Öffnung der Tür für den nötigen Durchzug gesorgt habe, der das Feuer sich ausbreiten ließ: Die nach dem Zweiten Weltkrieg in Feuerwehrkreisen geäußerte Behauptung, der am Brandort anwesende Oberbürgermeister (Heinrich Gültig) habe die Feuerwehr seinem Befehl unterstellt und das Löschen untersagt, wird als unwahrscheinlich angesehen und ist ebenso wenig beweisbar wie der 1961 gegenüber Hans Franke anonym geäußerte Verdacht, die Feuerwehr habe mit Benzin „gelöscht“. Auch das 200-Liter-Fass Benzin, das einer der Fotografen der brennenden Synagoge laut einem Zeitungsartikel von 1958 unter der Kuppel der Synagoge gesehen haben will, lässt sich weder belegen noch auf einer seiner Fotografien erkennen. Der Kommandant der Heilbronner Feuerwehr wurde noch 1939 in Sachen Synagogenbrandstiftung vor Gericht gestellt, aber am 2. Oktober 1939 mangels Beweises freigesprochen. Abriss der Ruine und weiteres Schicksal Am 30. November 1938 kaufte die Stadtgemeinde Heilbronn von der Israelitischen Kultusgemeinde das Synagogengrundstück. Für die Beseitigung der Trümmer verlangte sie von der Kultusgemeinde 10.000 Reichsmark, die mit dem Kaufpreis von ebenfalls 10.000 Reichsmark verrechnet wurden. Die völlig ausgebrannte Ruine der Synagoge blieb noch bis Mitte Januar 1940 stehen, dann begann die Firma Koch & Mayer im Auftrag der Stadtverwaltung mit dem Abbruch. Bei einer nichtöffentlichen Gemeinderatssitzung am 23. Februar 1940 kam das Schicksal der Synagogenruine zur Sprache. Oberbürgermeister Gültig berichtete, dass die mit Abbruch und Abfuhr der Ruine beauftragte Firma dafür 34.000 Reichsmark veranschlagt und als Wert des in Händen der Stadt verbleibenden Abbruchmaterials 10.000 Reichsmark angesetzt habe. Der Verbleib der Steine der Synagoge ist unklar, verschiedenen Berichten zufolge wurden sie für den Bau von Straßen oder Mauern in Heilbronn verwendet. Nach dem Ende des NS-Regimes gelangte das Synagogengrundstück an den Kinobetreiber Ludwig Stern, einen jüdischen Heilbronner, der 1948/49 ein Kino darauf errichten ließ. „Aus Rücksicht auf die einstige Stätte der Synagoge“ errichtete Stern die am 27. November 1949 eröffneten Scala-Lichtspiele bewusst auf dem hinteren Teil des Grundstücks an der Gymnasiumstraße. Im Kinogebäude war auch das Konzert-Café Hillebrecht untergebracht. Zwei Jahre später, am 22. November 1951, übernahm der Gaildorfer Fabrikant Wilhelm Bott bei einer Zwangsversteigerung die Scala-Lichtspiele (am 1. Mai 1952 umbenannt in Metropol-Lichtspieltheater) und das Synagogengrundstück. Am 21. Juni 1952 eröffnete daraufhin das Hillebrecht eine Schnellgaststätte und einen Restaurant-Konzertgarten mit Tanz auf dem vorderen Teil des Synagogengeländes an der Allee. 1956 wurde dieser Teil des Grundstücks mit einem weiteren Kino, dem am 13. September eröffneten Universum, überbaut. 1989/1990 verkauften die Bott-Filmtheaterbetriebe das Grundstück an den benachbarten Verlag der Heilbronner Stimme, der die Kinos verpachtete. Nach Schließung der darin befindlichen Kinos im Juli 2000 wurde das 1948/49 errichtete Metropol-Gebäude auf dem hinteren Teil des Grundstückes, für das sich kein Nachmieter fand, zu Beginn des Jahres 2001 abgerissen; dieser Teil des Grundstücks dient seitdem als Parkplatz. 2003 interessierte sich Avital Toren als Gemeindevorsteherin der in Entstehung begriffenen neuen jüdischen Gemeinde Heilbronns für die Anmietung von Räumen im Kinozentrum am Platz der ehemaligen Synagoge. Dies scheiterte an den hohen Umbaukosten, die durch Sicherheitsvorschriften für jüdische Einrichtungen in Deutschland verursacht worden wären, so dass andere Räumlichkeiten angemietet wurden. Juristische Aufarbeitung der Brandstiftung Wer die Heilbronner Synagoge in Brand steckte und wer vor Ort den Befehl dazu gab, konnte amtlich nicht geklärt werden. Bereits 1939 wurde der Kommandant der Heilbronner Feuerwehr in Sachen Synagogenbrandstiftung angeklagt, aber am 2. Oktober 1939 mangels Beweises freigesprochen. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte sich die Staatsanwaltschaft Heilbronn in drei Verfahren von 1946/50, 1953 und 1955 mit dem Synagogenbrand. Alle drei Verhandlungen wurden aus Mangel an Beweisen eingestellt, die Akten wurden zwischenzeitlich vernichtet. Insgesamt sieben Personen wurden in diesen drei Prozessen angeklagt. Mehrere Spruchkammerverfahren befassten sich ebenfalls mit dem Synagogenbrand, ohne dass dabei verwertbare Informationen für den Prozess angefallen wären. Noch Jahrzehnte später stießen „alle Nachforschungen auf hartnäckiges Schweigen“ oder führten „höchstens zu kryptischen Andeutungen“, sodass der Name des eigentlichen Brandstifters nicht ermittelt werden konnte. Ein Einzeltäter ist wegen der umfangreichen Vorbereitungen auszuschließen. Es ist davon auszugehen, dass die Täter der NSDAP angehörten und möglicherweise im Kreise der sieben Angeklagten der Nachkriegszeit zu suchen sind. Für die Beteiligung auswärtiger SA-Leute, die andernorts nachzuweisen ist, gibt es im Heilbronner Fall keine Hinweise, sie ist aber auch nicht auszuschließen. Verbleib der Kultgegenstände Über den Verbleib der Kultgegenstände (Torarollen, Gebetsriemen u. a.) gibt es keine gesicherte Informationen. Diesbezügliche Aussagen von Zeugen widersprechen sich und reichen von frühzeitigem Abtransport über teilweise Rettung bis zur vollständigen Zerstörung. So will man beobachtet haben, wie die Kultgegenstände „frühzeitig“ in das Oberamt getragen worden seien (gemeint ist das schräg gegenüber liegende Oberamtsgebäude). Einem anderen Zeugen zufolge wurden am Abend des 10. November „in gewissen Abständen“ jüdische Kultgegenstände in das Turnerzimmer der alten Heilbronner Festhalle Harmonie gebracht, darunter auch Torarollen, Gebetsriemen, Spruchbänder in hebräischer Schrift und jüdische Geschäftsbücher. Die teilweise mit Edelsteinen besetzten Torarollen und anderen Kultgegenstände wurden lt. Hans Franke (1963) mit 8000 DM bewertet. Eine der Heilbronner Torarollen soll gerettet worden sein und sich heute in einer Synagoge in Baltimore befinden. Der Heilbronner Polizeidirektor W. teilt in einem Brief vom 9. Mai 1962 mit, er glaube sich zu erinnern, dass die Kultgegenstände im Aktengeschoss (Dachgeschoss) der Heilbronner Gestapo (Haus Wilhelmstraße 4) aufbewahrt wurden oder jedenfalls einige Zeit dort lagerten. Für Schrenk ist nichts Gesichertes über den Verbleib der Kultgegenstände bekannt; da bislang fast keine Überreste wieder aufgetaucht seien, müsse man davon ausgehen, dass die Zerstörung der Synagoge auch auf die Vernichtung der Kultgegenstände ausgerichtet gewesen sei. Es wurde versucht, über die nach dem Zweiten Weltkrieg gemäß dem Bundesentschädigungsgesetz gestellten Wiedergutmachungsanträge der Heilbronner jüdischen Institutionen genauere Informationen über den Verbleib der Kultgegenstände zu erhalten. Obwohl es Quellenhinweise dafür gibt, dass solche Anträge gestellt wurden, lassen sie sich in den Karteien der zuständigen Behörden nicht mehr nachweisen. In der Rückerstattungsstatistik finden sich lediglich Hinweise auf Anmeldungen von Wertpapieren und Bankguthaben, nicht jedoch von Einrichtungs- oder Kultgegenständen. Mahnmale und Erinnerung 1960 regte Oberbürgermeister Paul Meyle an, anlässlich des 25. Jahrestags des Synagogenbrandes 1963 ein Mahnmal zu schaffen. Erste Überlegungen der Stadtverwaltung sahen eine Platte an der Nordwand des Universum-Kinos vor, die die brennende Synagoge darstellen sollte. Später dachte man an einen drei Meter hohen Obelisken aus Granit mit Davidstern, der bei der Post an der südlichen Seite des Fußgängerüberweges über die Allee aufgestellt werden sollte. Auch zwei Jahre später war noch kein Gedenkstein aufgestellt. Man erwog verschiedene Alternativen, die im Frühjahr 1965 in Form von Attrappen auf dem Mittelstreifen der südlichen Allee vor dem Universum-Kino besichtigt werden konnten, aber alle keinen Anklang fanden. Am 9. November 1966 wurde dann auf dem Mittelstreifen der Allee ein Gedenkstein mit einer Inschriftenplatte aus Bronze enthüllt. Der 1,45 Meter hohe, 90 Zentimeter breite und 30 Zentimeter tiefe Gedenkstein wurde von dem Bildhauer Rückert behauen; er besteht aus Heilbronner Sandstein, dem Baumaterial der Synagoge. Die Buchstaben für die Inschrift auf der 60 mal 60 Zentimeter großen Bronzeplatte wurden nach einem Entwurf des Heilbronner Graphikers und Stadtrats Gerhard Binder gestaltet. Die Inschrift weist auf die einst hier befindliche Synagoge und die Brandstiftung 1938 hin. Bei Beginn des Baus der Fußgängerunterführung an der südlichen Allee im Jahre 1978 wurde der Gedenkstein vorübergehend entfernt. Nach Ende der Bauarbeiten 1980 versetzte man ihn an die Einmündung des Synagogenwegs, also in die unmittelbare Nähe des früheren Synagogenstandorts, und arbeitete ihn in die Betonbrüstung zur Post-Unterführung ein. 1982 berichtete die Lokalzeitung über den Leserbrief des in die USA emigrierten Heilbronner Juden James May (Julius Mai), der den „Abbruch des jetzigen Porno-Kinos und des blöden Judendenkmals am Eingang dieser Lustpaläste“ und die Pflanzung eines Arboretums am ehemaligen Synagogenstandort forderte. Die Eigentümer der Kinos verwahrten sich gegen Mays Wortwahl „Porno-Kinos“ und gegen den von ihm vorgeschlagenen Abriss. Die Stadtverwaltung verwies darauf, dass sie nicht anderer Leute Häuser abreißen könne. Zum 50. Jahrestag der November-Pogrome erschien in Israel am 9. November 1988 eine Sonderbriefmarke, die ein Bild der Heilbronner Synagoge in einem brennenden Buch zeigt. Die zugehörige Ersttags-Karte zeigt eine Fotografie der ehemaligen Heilbronner Synagoge. Zusätzlich zur Gedenktafel von 1966 soll das am 5. Mai 1993 eingeweihte Mahnmal Kuppel der Künstlerin Bettina Bürkle an die zerstörte Synagoge in Heilbronn erinnern. Das Mahnmal besteht aus einem Metallgerippe, das die Form der umgestürzten Kuppel der Heilbronner Synagoge hat, und befindet sich ebenfalls in der Nähe des früheren Synagogenstandorts vor dem Kinogebäude an der Allee. Nach der Schließung der Postpassage wurde im Oktober/November 2009 aus Gedenkstein und Kuppel ein neues Mahnmal gestaltet. Der Gedenkstein befindet sich nun in einem anthrazitfarbenen Betonblock. Vor dem Betonblock wurde in den Boden – umgeben von Pflastersteinen – eine Öffnung für die Chanukkia eingerichtet, die ansonsten mit einem goldenen Verschluss verdeckt ist. Neben dem Block wurde die Kuppelskulptur von Bürkle an der Einmündung zum Synagogenweg aufgestellt. Das Ensemble entstand in Zusammenarbeit zwischen Hochbauamt, Museum und jüdischer Gemeinde Heilbronn. Ein Privatmann erstellte auf Grundlage der Synagogen-Baupläne eine virtuelle Rekonstruktion der Außenansicht des Gebäudes, die seit 2010 im Internet gezeigt wird. Siehe auch Liste der im Deutschen Reich von 1933 bis 1945 zerstörten Synagogen Literatur Hans Franke: Geschichte und Schicksal der Juden in Heilbronn. Vom Mittelalter bis zur Zeit der nationalsozialistischen Verfolgungen (1050–1945). Stadtarchiv Heilbronn, Heilbronn 1963, ISBN 3-928990-04-7 (PDF, 1,2 MB). Joachim Hahn und Jürgen Krüger: Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Jürgen Krüger: Geschichte und Architektur, Band 2: Joachim Hahn: Orte und Einrichtungen. Theiss, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-8062-1843-5 (Gedenkbuch der Synagogen in Deutschland, 4).Zur Heilbronner Synagoge S. 151 bis 152 im ersten und S. 190 bis 195 im zweiten Band. Harold Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. u. 20.Jahrhundert, Hans Christians Verlag, Hamburg 1981, Teil 1, S. 321 und Teil 2, Abb. 233. Gabriele Holthuis: Die Synagoge in Heilbronn "Eine wirklich neue und erhebliche Sehenswürdigkeit". In: Christhard Schrenk (Hrsg.): Jüdisches Leben in Heilbronn. Skizzen einer tausendjährigen Geschichte. Stadtarchiv Heilbronn, Heilbronn 2022 (Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Heilbronn; 53), ISBN 978-3-940646-34-7, S. 99–150. Hannelore Künzl: Islamische Stilelemente im Synagogenbau des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 1984, ISBN 3-8204-8034-X (Judentum und Umwelt, 9).Zur Heilbronner Synagoge S. 334 bis 337. Christhard Schrenk: Die Chronologie der sogenannten „Reichskristallnacht“ in Heilbronn. In: Jahrbuch für schwäbisch-fränkische Geschichte 32. Historischer Verein Heilbronn, Heilbronn 1992. S. 293–314. Einzelnachweise und Anmerkungen Weblinks Synagoge Heilbronn bei alemannia-judaica.de Virtuelle Rekonstruktion der Synagoge Heilbronn, Alte Synagoge Heilbronn Bauwerk des Historismus in Heilbronn Heilbronn AlteSynagoge Abgegangenes Bauwerk in Heilbronn Synagoge in Heilbronn Synagogenbau in Heilbronn Heilbronn AlteSynagoge Heilbronn AlteSynagoge Heilbronn AlteSynagoge Disposition einer Orgel
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https://de.wikipedia.org/wiki/Politisches%20Testament%20Adolf%20Hitlers
Politisches Testament Adolf Hitlers
Als „Mein politisches Testament“ betitelte Adolf Hitler ein Schriftstück, das er am 29. April 1945, dem Vortag seines Suizids, unmittelbar vor seinem Privattestament verfasste. Es wurde im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher als politisches Testament Adolf Hitlers bekannt. Darin gab er einem angeblichen Weltjudentum die Schuld am Zweiten Weltkrieg, um die von ihm betriebene Vernichtung der europäischen Juden zu rechtfertigen. Seinen beabsichtigten Suizid erklärte er zum Selbstopfer, das von den Wehrmachtssoldaten Kampf bis zum Tod fordere. Er setzte eine Nachfolgeregierung ein und verpflichtete sie, den Krieg mit allen Mitteln fortzusetzen. Er forderte von ihr und den Deutschen, die Ziele des Nationalsozialismus langfristig zu verwirklichen, vor allem die Nürnberger Gesetze einzuhalten und dem „Weltvergifter aller Völker“ weiter „unbarmherzigen Widerstand“ zu leisten. Damit umschrieb er, dass die Deutschen die Juden über seinen Tod hinaus vollständig vernichten sollten. Ein gleichlautender Buchtitel bezieht sich auf die Bormann-Diktate vom 4. bis 26. Februar und 2. April 1945. Diese hat Hitler nicht als „politisches Testament“ bezeichnet. Historischer Kontext Am 16. April 1945 begann die Schlacht um Berlin als letzte Phase des von Deutschland längst verlorenen Krieges. Trotz klarer Einsicht in die Niederlage war das NS-Regime nicht zur Kapitulation bereit. Seine Spitzen Hitler, Wilhelm Keitel, Alfred Jodl und andere erteilten weiterhin verbrecherische und großenteils unausführbare Befehle und entließen Untergebene, die diese verweigerten. So forderte die Schlacht bis zu ihrem Ende am 2. Mai 1945 nochmals an die 200.000 Kriegstote, darunter zehntausende Zivilisten. Hitler versuchte am 16. April, mit seinem letzten Aufruf an die Wehrmachtssoldaten mit gezielter Angstpropaganda Durchhaltewillen zu mobilisieren: Er behauptete, der „jüdisch-bolschewistische Todfeind“ werde die Deutschen ausrotten, ihre Alten und Kinder ermorden, die Frauen zu „Kasernenhuren erniedrigen“ und die Männer nach Sibirien marschieren lassen. Deshalb erhoffe die Bevölkerung von den Soldaten nun, dass „durch eure Standhaftigkeit, euren Fanatismus, durch eure Waffen und unter eurer Führung der bolschewistische Ansturm in einem Blutbad erstickt“ werde. So würden sie nach dem Tod von US-Präsident Franklin D. Roosevelt im letzten Moment eine Kriegswende herbeiführen. Am 22. April erklärte Hitler bei einer Lagebesprechung im Führerbunker, er werde in Berlin bleiben und sich erschießen, falls die Stadt nicht nochmals freigekämpft werde. In der Nacht des 24. April wurde die Reichskanzlei über dem Führerbunker von Bomben schwer getroffen. Am nächsten Tag schrieb Joseph Goebbels nach seiner Besprechung mit Hitler in sein Tagebuch: Hitler erfuhr am 25. April, dass die sowjetischen Truppen den Ring um Berlin geschlossen und dass sowjetische und US-amerikanische Soldaten sich bei Torgau getroffen hatten. Bis dahin hatten die anwesenden Vertreter des NS-Regimes noch auf einen Zerfall der Anti-Hitler-Koalition gehofft, wie ihre von Martin Bormann und Goebbels aufgezeichneten Lagegespräche zeigen. Bis zum 28. April hofften sie auf Entsatztruppen wie die im April 1945 neu aufgestellte Armee Wenck, welche die Rote Armee zurückdrängen, die Stadt teilweise freikämpfen und Hitler einen Fluchtweg offenhalten sollten. Am 28. April hörte Hitler durch den schwedischen Sender Stockholm Radio von den Geheimgesprächen Heinrich Himmlers mit den Westalliierten und von dessen Angebot, für eine Teilkapitulation auf die weitere Ermordung der ungarischen Juden zu verzichten. Außerdem wurden ihm ein befehlswidriger Waffenstillstand des Waffen-SS-Generals Karl Wolff mit den US-Truppen in Italien und eine Befehlsverweigerung des Waffen-SS-Generals Felix Steiner bekannt. Daraufhin ließ er Hermann Fegelein, den SS-Kontaktmann zu Himmler und zudem Schwager Eva Brauns, in dessen Berliner Privatwohnung festnehmen. Ein SS-Standgericht verurteilte Fegelein wegen Fahnenflucht sowie als Mitwisser und Beteiligten von Himmlers Feindkontakten ohne Verhandlung zum Tod. Hitler unterzeichnete das Todesurteil, das dann im Garten der Reichskanzlei vollstreckt wurde. Dieser letzte Mordauftrag Hitlers wird als persönliche Rache an Himmler, den er nicht mehr fassen konnte, und als Angst vor einer Absetzung oder Ermordung durch SS-Angehörige in seiner Umgebung interpretiert. Hitler wurde im Tagesverlauf benachrichtigt, dass die erhofften Entsatztruppen eingeschlossen und voneinander abgeschnitten waren. Gegen Mitternacht am 28. April heiratete er Eva Braun, die mit ihm in den Tod gehen wollte. Gegen 2:00 Uhr nachts am 29. April verfasste er ein privates und ein politisches Testament. Am Morgen griff die Rote Armee das Zentrum von Berlin an. Außenposten informierten Hitler telefonisch über deren weiteres Vorrücken. Gegen Mittag waren die sowjetischen Panzer nur noch wenige hundert Meter von der Reichskanzlei entfernt. Gegen 22:00 Uhr wurde Hitler die Erschießung seines Verbündeten Benito Mussolini (und dessen Geliebter Clara Petacci) gemeldet, die von Partisanen beim Fluchtversuch in die Schweiz abgefangen worden waren. Dies bestärkte endgültig seinen Suizidentschluss. Im Verlauf des 30. April verabschiedete sich Hitler von seinen Untergebenen, erlaubte ihnen Ausbruchsversuche, verteilte Giftkapseln und erprobte deren Wirkung an seinem Schäferhund Blondi. Er stellte Wilhelm Keitel, dem Chef des OKW, über Funk noch einige Fragen zum Verbleib der letzten kämpfenden deutschen Armeen und gab Befehle, die Leichen und die Habseligkeiten von ihm und Eva Braun zu verbrennen. Zwischen 15:30 und 15:50 Uhr begingen er und Eva Braun den Suizid. Seinem Adjutanten Nicolaus von Below zufolge war Hitler seit dem 27. April zum Suizid entschlossen. Sebastian Haffner zufolge reifte sein Entschluss vom 22. bis zum 29. April. Faktoren dafür waren der Zusammenbruch der Front an der Oder am 22. April, die Einkreisung Berlins durch sowjetische Truppen am 25. April, die Nachricht vom Verhalten Himmlers am 28. April und ab dem 29. April die akute Gefahr einer Gefangennahme durch sowjetische Soldaten. Laut seinem Privattestament wollte Hitler mit dem Suizid „der Schande des Absetzens oder der Kapitulation entgehen“. Inhalt Erster Teil Zu Beginn behauptete Hitler, ihn habe seit 1914 stets „die Liebe und Treue zu meinem Volk bewegt“. Sie habe ihm die Kraft gegeben, „schwerste Entschlüsse zu fassen, wie sie noch keinem Sterblichen gestellt worden sind“. Dabei habe er Zeit, Kraft und Gesundheit verbraucht. Dann bestritt er jede Schuld am Zweiten Weltkrieg: „Es ist unwahr, daß ich oder irgendjemand anderer in Deutschland den Krieg im Jahre 1939 gewollt haben.“ Stattdessen wies er dem fiktiven „Weltjudentum“ die Kriegsschuld zu: Damit bezog er sich auf seine Reichstagsrede vom 30. Januar 1939, in der er erstmals als deutscher Reichskanzler die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ angedroht hatte, „wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen“. Diese Rede war damals in allen NS-Medien verbreitet, als Buch veröffentlicht und im November 1940 auch in den Propagandafilm Der ewige Jude aufgenommen worden, der den Holocaust ideologisch vorbereiten sollte. Auf diese Drohung war Hitler im Kriegsverlauf öffentlich, etwa in Rundfunkreden, immer wieder zurückgekommen. In den folgenden Passagen nannte Hitler den von ihm selbst begonnenen sechsjährigen Weltkrieg die „ruhmvollste und tapferste Bekundung des Lebenswillens eines Volkes“ und erklärte dann seine Suizidabsicht: Er könne sich nicht von Berlin trennen, aber dem „feindlichen Ansturm“ vom Führerbunker aus nicht länger „standhalten“. Der „eigene Widerstand“ werde „durch ebenso verblendete wie charakterlose Subjekte allmählich entwertet“. Deshalb wolle er sein „Schicksal mit jenem teilen, das Millionen anderer auch auf sich genommen haben“. Zudem wolle er „nicht Feinden in die Hände fallen, die zur Erlustigung ihrer verhetzten Massen ein neues, von Juden arrangiertes Schauspiel benötigen“, sondern seinen Todeszeitpunkt „aus freien Stücken“ dann wählen, wenn der Feind ihn erreicht habe. Dann behauptete er: Seinem „aus tiefstem Herzen kommenden Dank“ an die Genannten folgte der Appell, sie alle sollten „den Kampf unter keinen Umständen aufgeben“, denn: Besonders die Oberkommandos von Heer, Luftwaffe und Marine bat er, Diese „treueste Pflichterfüllung bis in den Tod“ solle künftig „zum Ehrbegriff des deutschen Offiziers gehören“. Zweiter Teil Im zweiten Teil setzte Hitler Hermann Göring und Heinrich Himmler von ihren Staats- und Regierungsämtern ab und schloss sie aus der NSDAP aus. Als Grund gab er an, dass sie ohne sein Wissen und seine Einwilligung mit den Alliierten geheim über einen Separatfrieden zu verhandeln versucht hatten. Zudem behauptete er, dass sie versucht hätten, „die Macht im Staate an sich zu reißen“. Dies habe „dem Lande und dem Volk unabsehbaren Schaden zugefügt, gänzlich abgesehen von der Treulosigkeit gegenüber meiner Person.“ Er bestimmte dann folgende Personen für die seinem Tod folgende geschäftsführende Reichsregierung: In den Folgepassagen forderte Hitler auch die im Führerbunker verbliebenen Personen auf, nicht mit ihm zu sterben, sondern anderswo weiterzukämpfen. Sie sollten die „Ehre der Nation“ als ewiges höchstes Gut über alle Eigeninteressen und Furcht stellen und sich bewusst bleiben, dass die „Aufgabe des Ausbaus eines nationalsozialistischen Staates die Arbeit kommender Jahrhunderte darstellt“. Zuletzt verlangte er von allen Deutschen, Nationalsozialisten und Soldaten der Wehrmacht, der von ihm eingesetzten Nachfolgeregierung „treu … bis in den Tod“ zu gehorchen, und schloss: Außer Hitler selbst unterzeichneten Joseph Goebbels, Martin Bormann, Wilhelm Burgdorf und Hans Krebs das Dokument als Zeugen. Als Datum der Unterschriften ist der 29. April 1945 um 4:00 Uhr angegeben; ein Zusatz von Joseph Goebbels trägt den Zeitvermerk 5:30 Uhr. Zusatz von Goebbels Goebbels erklärte in seinem schriftlichen Zusatz, er müsse seinem Führer erstmals den Befehl verweigern: „In dem Delirium von Verrat, das den Führer in diesen kritischsten Tagen des Krieges umgibt, muß es wenigstens einige geben, die bedingungslos und bis zum Tode zu ihm halten“. Dieses „Opfer“ solle andere durch „klare und verständliche Beispiele“ „inspirieren“: Folgen Nachfolgeregierung Als Testamentsvollstrecker hatte Hitler Martin Bormann bestimmt. Dieser verlas nach Hitlers Suizid dessen privates und politisches Testament am 30. April 1945 gegen 17:00 Uhr für die im Führerbunker verbliebenen Personen. Abends sandte er an Karl Dönitz in Plön folgenden Funkspruch: Hitlers Tod, seine Forderung nach unbedingtem Weiterkämpfen und die weiteren von ihm eingesetzten Personen verschwieg er. Gegen 7:40 Uhr am Morgen des 1. Mai 1945 setzte er einen zweiten Funkspruch an Dönitz ab, der diesen gegen 11:00 Uhr erreichte: Kurz darauf sandte Goebbels an Dönitz einen letzten Funkspruch aus dem Führerbunker, in dem er Hitlers Tod und Todeszeitpunkt, allerdings nicht seinen Suizid bekannt gab. Er nannte seine, Bormanns und Seyß-Inquarts von Hitler vorgesehene Posten, teilte mit, an wen Hitler sein Testament geschickt habe, und ergänzte: Bormann verließ den Führerbunker am 1. Mai wie befohlen. Beim Lehrter Bahnhof wurde er von sowjetischen Soldaten gestoppt und tötete sich durch Einnahme einer Giftkapsel. Goebbels versuchte am 1. Mai gegen Hitlers testamentarische Anordnung noch vergeblich, mit den Sowjets eine Teilkapitulation auszuhandeln. Am Abend vergifteten er und seine Frau zunächst ihre sechs Kinder und töteten sich gegen 20:30 Uhr dann selbst. Auch die Testamentszeugen Wilhelm Burgdorf und Hans Krebs töteten sich am Nachmittag des 1. Mai 1945. Nach Bormanns erstem Funkspruch, der Hitlers Tod verschwiegen hatte, bedankte sich Dönitz telegrafisch bei Hitler und versprach, alles für seine Entsetzung zu tun. Er wolle den Krieg so zu Ende führen, „wie es der einmalige Heldenkampf des deutschen Volkes verlangt.“ Er setzte ein Nachfolgekabinett nach eigenem Ermessen ein. Seit dem Nürnberger Prozess 1946 behauptete Dönitz, er habe angenommen, dass auch Hitler kapitulieren wollte, und erst nachträglich aus seinem Testament das Gegenteil erfahren. Das halten Historiker jedoch für eine Legendenbildung, da Dönitz Hitlers Willen zur Fortsetzung des Kampfes auch ohne Kenntnis des Testamentwortlauts kannte und befolgte, solange er nicht von Hitlers Tod überzeugt war. In einer Rundfunkansprache am Abend des 1. Mai gab Dönitz den Deutschen Hitlers Tod und seine Ernennung zum Staatspräsidenten bekannt. Da Hitler das Amt des „Führers“ auf Lebenszeit an seine Person gebunden und die darin vereinigten Ämter des Reichspräsidenten und Reichskanzlers testamentarisch wieder voneinander getrennt hatte, musste Dönitz in den noch kämpfenden Teilen der Wehrmacht mit Illoyalität rechnen. Zudem hatte Hitler Artikel 51 (Notstand) der Weimarer Verfassung nicht herangezogen und das Staatspräsidentenamt nicht persönlich übergeben. Hermann Göring beanspruchte trotz Hitlers testamentarischem Parteiausschluss weiter eine Führungsrolle. Deshalb betonte Dönitz in seiner Rundfunkansprache, der gegenüber Hitler geleistete soldatische Treueid sei nunmehr ihm gegenüber gültig. Ferner behauptete er, Göring habe selbst um seine Entlassung gebeten. Zudem beabsichtigte er ab dem 2. Mai, Goebbels und Bormann verhaften zu lassen, falls sie Plön erreicht hätten. Dönitz betrachtete das politische Testament Hitlers also nach nationalsozialistischer Rechtsauffassung formal als gültigen, nicht hinterfragbaren „Führererlass“. Tatsächlich missachtete er jedoch Hitlers letzten Willen, indem er das neue Kabinett eigenmächtig besetzte, eine Teilkapitulation anstrebte und seine Amtszeit bis zu dem Zeitpunkt begrenzte, an dem das deutsche Volk seinen Willen zur Bestellung eines Staatsoberhaupts zum Ausdruck bringen könne. Damit bezog er sich implizit auf Artikel 41 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung, der eine Wahl des Staatsoberhaupts „vom ganzen deutschen Volke“ verlangte. Die Alliierten erkannten Dönitz bis zum 8. Mai 1945 pragmatisch als Oberbefehlshaber der Wehrmacht und somit Verhandlungspartner für die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht an, bestritten danach jedoch seine Autorität als Reichspräsident, weil er diese nur auf Kopien von Funksprüchen stützen konnte. Daraufhin bescheinigte ein von nationalsozialistischen Juristen erstelltes Gutachten Dönitz am 16. Mai 1945 mit Bezug auf Hitlers letzten Willen „einwandfreie Legitimität als Staatsoberhaupt“. Folgerichtig protestierte der am 23. Mai festgenommene Dönitz am 7. Juli 1945 schriftlich gegen seine Amtsenthebung und bestand darauf, dass seine Regierung völkerrechtlich fortbestehe. Der Internationale Militärgerichtshof behandelte Dönitz im ersten Nürnberger Prozess gemäß seiner faktischen Machtausübung bis zum 8. Mai 1945 als Rechtsnachfolger Hitlers und machte ihn somit auch für das Verbrechen eines Angriffskrieges verantwortlich. Für die meisten Deutschen war Hitlers testamentarische Nachfolgeregelung aber ohne Belang, da der größte Teil des Reichsgebiets bereits von den Truppen der Alliierten besetzt war. Weg der Originale Hitlers Sekretärin Traudl Junge hatte das politische Testament dreifach ausfertigen müssen. Als Kuriere hatte Hitler seinen Adjutanten Nicolaus von Below sowie den Vertreter des deutschen Nachrichtenbüros Heinz Lorenz und den SS-Standartenführer Wilhelm Zander bestimmt. Sie sollten je ein Exemplar persönlich an Karl Dönitz nach Plön, an Ferdinand Schörner nach Prag und an die NSDAP-Parteizentrale nach München überbringen. Below, Lorenz, der Empfänger Schörner und ein Vertrauter Zanders, dem er das ihm anvertraute Exemplar übergeben hatte, wurden – nach Angaben des Instituts für Zeitgeschichte im Jahr 2003 – bis zum Frühjahr 1946 von den Alliierten gefangen genommen; dabei wurden mindestens zwei der drei Exemplare sichergestellt. Nach neueren Angaben wurden alle drei Exemplare von den Alliierten kurz nach Kriegsende entdeckt und beschlagnahmt. Herman Rothman, der 1939 als verfolgter Jude aus Deutschland nach Großbritannien geflohen war und als britischer Soldat gegen das NS-Regime gekämpft hatte, fand bei Verhören deutscher Kriegsgefangener die in die Jacke von Lorenz eingenähten Originale beider Hitlertestamente. Er erhielt den Auftrag, sie unter höchster Geheimhaltung ins Englische zu übersetzen. Später befragte er den Polizeiwachmann Hermann Karnau als Augenzeugen der Vorgänge im Führerbunker nach den Umständen des Todes Hitlers. Rothman beschrieb seine Entdeckung und Karnaus Aussagen 2009 in einem Buch. Drei Seiten eines der Originale sind im Imperial War Museum in London ausgestellt, darunter die erste mit den Absetzungen und die letzte Seite mit den Unterschriften der Zeugen. Das von Zander transportierte Exemplar befindet sich im Nationalarchiv der USA in Washington, D.C. Rezeption Rhetorische Selbststilisierung Hitlers „politisches Testament“ enthält Ausdrücke und Wendungen, die in vielen seiner Reden vorkamen und somit für seine Rhetorik typisch waren: eine historisch erstmalige, übermenschliche Last, die ihm auferlegt worden sei, das heldenhafte Selbstopfer im Dienst der Nation, der eigene (freiwillige) Tod als Teilnahme am Schicksal des (unfreiwilligen) Todes gefallener Krieger, der Tod des Führers als Anreiz zum letzten Widerstand, als Same der Wiedergeburt und künftigen, dann endgültigen Vollendung der eigenen Vision, als zeitlich unbegrenzte Verpflichtung zu deren Verwirklichung, besonders zur Vernichtung des ewigen Feindes (der Juden). Diese Rhetorik gilt ebenso wie Hitlers letzter Durchhalteappell an die deutschen Wehrmachtssoldaten vom 16. April 1945 als Teil einer absichtsvollen „heroischen Inszenierung“ und „Legendenbildung“. Marcel Atze betont, „daß für das Fortleben des Helden ein gut inszenierter und nach außen dargestellter Tod von eminenter Bedeutung war“: Hitler habe das im Neuen Testament überlieferte Selbstopfer Jesu Christi zur Stilisierung seines Todes verwendet, um so seinem Sterben ebenso wie zuvor seinem Leben messianische Züge zu verleihen. Auch seine Anhänger hätten seinen Tod als „krönenden Abschluss“ seines als Gottmensch stilisierten Lebens dargestellt, um so den Führerkult auch posthum zu stabilisieren: Marcel Atze verweist auf die Wehrmachtberichte vom 1. und 2. Mai 1945, die Hitlers im politischen Testament formuliertes Selbstbild und Forderung übernahmen: Hitler-Biograf Alan Bullock betont, dass Hitler seine Worte sorgfältig gewählt habe, um seinen Suizid als Vereinigung mit den für ihn sterbenden Soldaten und Pflichterfüllung bis zum Tod auszugeben. Jedoch hatte Hitler den Suizid von Soldaten und NSDAP-Amtsträgern oft als Feigheit und „Flucht aus der Verantwortung“ verdammt, so noch am 21. April 1945, nachdem er vom Suizid des Oberbürgermeisters von Leipzig erfuhr. Für Helmuth Weidling, den Kampfkommandanten der Truppen zur Verteidigung Berlins, war die Lüge des angeblichen Heldentods daher offenkundig. Er entband seine Soldaten sofort nach der Nachricht von Hitlers Suizid von ihrem Treueid: Hitlers häufige rhetorische Bezüge und Anspielungen auf Ausdrücke, Themen und Episoden der Bibel sind oft beobachtet und analysiert worden. Die religiöse Selbstverklärung in eine Messiasrolle diente dazu, den seit 1920 propagandistisch erzeugten Führerkult zu etablieren. Damit versuchte Hitler, die Deutschen über seinen Tod hinaus an sich und seine politisch-ideologischen Ziele zu binden. Der österreichische Historiker Werner Telesko erklärt diesen Versuch aus einer Schon Hitlers Sekretärin Traudl Junge bemerkte in ihren Erinnerungen, Hitler habe mit dieser Rhetorik die Erwartung seiner Bediensteten, als letztes Wort ein Schuldbekenntnis oder zumindest eine wahrheitsgemäße Erklärung seiner Geschichte zu geben, enttäuscht: Aussagen zur Judenvernichtung Hitlers „politisches Testament“ wird in der Holocaustforschung aufgrund seiner Aussagen über Juden als Dokument des Holocaust eingeordnet. Es gilt als Beleg für die Konsistenz des Judenhasses Hitlers von 1919 bis zu seinem Tod 1945. So betonte etwa Ernst Nolte, dass Hitlers letzter Satz „dem Sinne nach ganz so in jenem ersten Dokument seiner politischen Tätigkeit, dem Brief an Gemlich, stehen könnte. Ein Vierteljahrhundert war vergangen, voll der ungeheuersten Ereignisse, von denen eines der jüngsten den Namen Auschwitz trug: Adolf Hitler war unverändert geblieben.“ Gerald Fleming sah in dem Testament Hitlers letzten Versuch, die Deutschen an einen ewigen Judenhass zu binden. Klaus Hildebrand betonte: David Bankier deutet Hitlers Rückbezug auf seine Rede im Reichstag am 30. Januar 1939 als Teil einer rhetorischen Strategie: Hitler und Goebbels hätten die Judenvernichtung einerseits offen angekündigt, andererseits aber durch Vermeiden aller Detailangaben absichtlich verschleiert. Damit hätten sie getestet, wie weit die Deutschen dabei mitmachen würden, sie spekulieren lassen, was wirklich geschah und so als Mitwisser in Mithaftung genommen. Hitler habe den Holocaust als Folge des Weltkriegs bewusst in Form einer Prophezeiung angekündigt, um ihn als objektives, gleichsam determiniertes Geschehen darzustellen und so jede moralische Verantwortung dafür zu neutralisieren. Im Vollzug des Holocaust habe diese Rhetorik dann als rückblickendes Alibi gedient: Was geschehen sei, sei ja ohne kriminelle Absicht vorhergesagt gewesen. Das Dokument wurde im Streit der NS-Forschung zwischen Intentionalisten und Funktionalisten diskutiert. Martin Broszat und Hans Mommsen zufolge hat Hitler den Holocaust nicht ausdrücklich befohlen. Er spielte, so Mommsen, dabei Fraglich sei, In einem früheren Aufsatz meinte Mommsen, Hitler habe die realen Konsequenzen der Judenvernichtung „nicht wahrzunehmen oder zu verdrängen“ versucht. Dagegen ziehen Historiker, die Hitlers Antisemitismus als entscheidende Ursache seines Handelns bewerten und Hitlers zentrale Rolle für die Entscheidung zum Holocaust, dessen Planung und Durchführung betonen, dafür auch sein politisches Testament heran. Für Shlomo Aronson widerlegen Hitlers letzte Aussagen zu Juden Erklärungsmodelle, die den Holocaust nur als Mittel für weitergehende imperial-rassistische Ziele der Nationalsozialisten und ersten Schritt ihrer Realisierung einordnen. Ian Kershaw betonte, Hitlers Aussage, er habe die Judenvernichtung wie 1939 angekündigt durchgeführt, sei „eine Schlüsselstelle, ein indirekter Hinweis auf die Endlösung“. Saul Friedländer verwies auf Exekutionsbefehle Hitlers und von ihm angeforderte und erhaltene Berichte von SS-Massenmorden an sowjetischen Juden: Das Dokument fasse trotz seiner chaotischen Entstehungsumstände nur „die für Hitler allerwichtigsten Dogmen seines Glaubens“ zusammen. Deshalb habe er die jüdischen Opfer für ihre Vernichtung verantwortlich gemacht, Dönitz nur zum Reichspräsidenten ernannt, nicht zum „Führer“, und die Soldaten der Wehrmacht, nicht aber seine Parteigenossen angeredet. Das Reich habe er wegen dessen Zerstörung, die NSDAP wegen der vielen „Verräter“ in der Schlusspassage nicht mehr erwähnt. Von der „Vorsehung“ habe er wegen der Kriegsniederlage und seiner Suizidabsicht nicht mehr geredet. Überraschend sei nur, dass er auch den „Bolschewismus“ hier nicht mehr genannt habe. Wahrscheinlich habe er sich zuletzt nur noch darauf konzentriert, seine Verantwortung für die Kriegsniederlage und den Holocaust auf die Juden abzuwälzen, um so eine „Wiedergeburt“ des Nationalsozialismus nach seinem Tod anzubahnen. Der Hinweis auf angeblich „humanere“ Vernichtungsmittel gilt als zynische Umschreibung der Vergasung der Juden in den Vernichtungslagern. Der israelische Historiker Robert S. Wistrich sah in Hitlers Rechtfertigung der Judenvernichtung als angebliche Reaktion auf den Weltkrieg und „humanere“ Bekämpfung von Kriegsgegnern den Beginn der Holocaustleugnung, setzte also ebenfalls Hitlers Wissen vom Holocaust voraus. Christian Goeschel stellt Hitlers politisches Testament in den Rahmen einer am Kriegsende verbreiteten beispiellosen Suizidwelle von zahlreichen hohen und tausenden mittleren NS-Funktionären, die sich so auch ihrer Verantwortung entzogen. Es sei das beste Beispiel für ihre vier wichtigsten Suizidmotive: den zerstörerischen gewaltsamen Kern der NS-Ideologie, die Ablehnung der alliierten Gerichtsbarkeit, den Versuch, über das eigene Sterben selbst zu entscheiden sowie den Versuch, das Geschichtsbild der Nachwelt durch einen besonders dramatischen Abgang zu bestimmen. Hitlers Testament dokumentiere in äußerst stilisierter Form letztmals seinen fanatischen Antisemitismus und seine Schuldverschiebung, indem er „das Judentum“ für Krieg und Leid verantwortlich mache und gleichzeitig Freude über die selbstverursachte Vernichtung ausdrücke. Hermann Lübbe sieht Hitlers politisches Testament als unüberbietbares Beispiel der NS-Ideologie. Diese habe aus dem Dogma des Rassenkampfes als Gesetzmäßigkeit der Weltgeschichte eine absolute Pflicht zum Völkermord abgeleitet. Dieses Werturteil habe alle individuellen, pragmatischen und zweckrationalen Überlegungen dominiert. Die „Selbstverschaffung eines guten Gewissens durch Orientierung an den ideologisch gewiesenen höheren Zwecken“ sei nicht die einzige, aber eine notwendige Bedingung für die nationalsozialistische Völkermordpolitik gewesen. Deshalb habe Hitler nach dem Scheitern all seiner politischen Ziele (Großdeutschland, Vernichtung der Sowjetunion und „Endsieg“) umso stärker das „Bewusstsein des höheren Rechts der eigenen Sache“ festgehalten. Nur so lasse sich der wegen seiner Irrealität „gespenstische“ Schlusssatz des politischen Testaments begreifen. Mark Weitzman, Antisemitismusforscher und Vertreter des Simon Wiesenthal Centers, sieht in den Schlussaussagen des Testaments einen befehlsartigen Auftrag, „sich für die hier als jüdischen Sieg beschriebene historische Schmach zu rächen“. Dieser Befehl sei im globalen Rechtsextremismus historisch wirksam geworden. Dessen ideologische Konstante, der radikale Antisemitismus, sei seit der Globalisierung und gerade wegen der Niederlage des Nationalsozialismus und der Gründung des Staates Israel 1948 heute womöglich stärker als je zuvor. Aussagen zur Nachfolgeregierung Während Historiker Hitlers testamentarischen Aussagen zu Juden erhebliche Aussagekraft zumessen, bezweifeln sie, ob er seinen Nachfolgebefehlen im zweiten Teil „mehr als nur deklamatorische Bedeutung beigemessen hat“. Denn die von ihm ernannte Nachfolgeregierung konnte in der damaligen Kriegslage kaum zusammentreten: Bormann und der in Breslau eingeschlossene Hanke hatten kaum Chancen, Dönitz in Schleswig-Holstein zu erreichen, und Goebbels hatte Hitler seine Suizidabsicht deutlich gemacht. Hitlers Anweisung zum unbedingten Weiterkämpfen war weder mit seinem Wissen vom Standort und Vorrücken der Alliierten noch mit seiner Übergabe der Befehlsgewalt an Dönitz vereinbar und somit nicht mehr durchsetzbar. Im Anschluss an seine Eigensicht wird Dönitz im deutschen Rechtsextremismus traditionell als „einziger rechtmäßiger Nachfolger Hitlers“ bezeichnet, dessen Regierung anders als die Wehrmacht nie kapituliert habe. Damit wird die Bundesrepublik Deutschland als illegaler, von außen aufgezwungener Staat dargestellt, gegen dessen Institutionen man ein Widerstandsrecht besitze. Dönitz selbst förderte diese Haltung 1972 durch Briefwechsel mit dem Rechtsextremisten Manfred Roeder, der sich auf ihn berief und zeitweise als sein und Hitlers legitimer Nachfolger ausgab. Dirk Nolte behauptete 1989 eine verfassungsrechtliche Bedeutung des politischen Testaments Hitlers: „Nach damaligem Rechtsverständnis“ sei Hitlers Ernennung von Dönitz legal gewesen, da der vom Volk gewählte Reichstag Hitler die allumfassende Staatsgewalt gesetzlich übertragen habe und andere führende Nationalsozialisten wie Heinrich Himmler Dönitz anerkannt hätten. Thomas Moritz und Reinhard Neubauer kritisierten, dass Noltes Argumentation einen nationalsozialistischen Rechtspositivismus fortsetze, und erinnerten daran, dass schon das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 die Weimarer Verfassung durchbrochen hatte: Deren Artikel 76 verlangte für legale Verfassungsänderungen eine Zweidrittelmehrheit der gesetzlich gewählten und anwesenden Abgeordneten des Reichstags. Diese Mehrheit erreichten die Nationalsozialisten aber nur durch massiven, rechtswidrigen Terror gegen solche Abgeordnete. Ferner setzte das Ermächtigungsgesetz die Verfassungsprinzipien der Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit außer Kraft. Somit sei Hitlers Regentschaft fortan auch nach den Maßstäben der Weimarer Verfassung illegal gewesen und könne keinerlei juristische Kontinuitäten begründen. Literarische Verarbeitungen Deutsche Autoren haben den im politischen Testament ausgedrückten Willen zur Verewigung des Führerkultes und Wiedergeburt des Nationalsozialismus seit 1945 entschieden bekämpft. Mittel dazu war etwa der literarische Realismus, „den Tod des Helden als das darzustellen, was er war: ein erbärmliches Verrecken im Versteck.“ Bruno Brehm, der Hitler früher verehrt hatte, hob 1961 den Widerspruch zwischen Hitlers angeblichem Heldentod und seinem Suizid hervor: Er verwies auf Hitlers von Carl Hilpert überlieferte Aussage, das deutsche Volk sei „meiner nicht würdig“, und verband damit die Hoffnung, dass diese Aussage und Hitlers Suizid den Deutschen die Augen öffnen werde. Diese Form der Distanzierung von Hitlers politischem Testament war bei früheren Hitlerverehrern verbreitet. Eine weitere literarische Form, den Führerkult zu zerstören, war eine naturalistische, detailliert-überzeichnete Beschreibung von Hitlers Leichenverbrennung. Damit traten Autoren wie Josef Einwanger oder Marcel Beyer Legenden entgegen, Hitlers Leiche sei nie gefunden worden und er habe heimlich irgendwo überlebt. Viele Autoren stellen Hitler als fiktive Figur dar, die als seine eigene Karikatur weiterlebt: etwa Herbert Rosendorfer, Deutsche Suite (1972), Günter Kunert, Hitler lebt (1987), Christoph Brumme, Hitler (1996) oder Bernhard Setzwein, Buch der sieben Gerechten (1999). Andere benutzen das Mittel der Konjekturalhistorie (was wäre geschehen, wenn Hitler weitergelebt hätte) analysierend und warnend, indem sie eine Welt nach vollendeter „Endlösung der Judenfrage“ und verwirklichtem Generalplan Ost beschreiben: so Otto Basil, Wenn das der Führer wüßte (1966); Helmut Heißenbüttel, Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen hätte (1979); in Reaktion darauf Ralph Giordano: Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte (1992). Der Dramatiker Heiner Müller verarbeitete die Rhetorik des „politischen Testaments“ in seinem Werk Germania 3 Gespenster am toten Mann (1995) als groteske Parodie. Quellen Max Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. Band II: Untergang. 2. Halbband: 1941–1945 (= Band 4). R. Löwit, Wiesbaden 1973, S. 2235–2249. Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.): Der Zweite Weltkrieg in Bildern und Dokumenten. Band 3: Sieg ohne Frieden 1944–1945. Desch, München [u. a.] 1962, S. 372 f. Percy Ernst Schramm (Hrsg.): Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehrmachtführungsstab). 1940–1945. Band 8: 1. Januar 1944 bis 22. Mai 1945. Zusammengestellt und erläutert von Hans-Adolf Jacobsen, Andreas Hillgruber, Walther Hubatsch, Percy Ernst Schramm und Donald S. Detwiler. Manfred Pawlak, Herrsching 1982, ISBN 3-88199-073-9, S. 1666–1669. Michael Angelo Musmanno: Ten days to die. Doubleday, Garden City 1950. (Interviews mit fast 100 Zeitzeugen zu den Todesumständen Hitlers; Rezension) Literatur Thomas Großbölting, Rüdiger Schmidt (Hrsg.): Der Tod des Diktators. Ereignis und Erinnerung im 20. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011, ISBN 978-3-525-30009-1. Ulrich Völklein: Hitlers Tod. die letzten Tage im Führerbunker. Unveränderte Neuauflage, Steidl, Göttingen 2004, ISBN 3-88243-659-X. Marcel Atze: „Unser Hitler“. Der Hitler-Mythos im Spiegel der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Wallstein, 2003, ISBN 3-89244-644-X. Wolfdieter Bihl: Der Tod Adolf Hitlers. Fakten und Überlebenslegenden. Böhlau, Wien 2000, ISBN 3-205-99140-0 (Textauszug online). Ian Kershaw: Hitler. 1936–1945. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000, ISBN 3-421-05132-1, S. 1056–1059. Olaf Groehler: 1945, die Neue Reichskanzlei: das Ende. Brandenburgisches Verlags-Haus, Berlin 1995, ISBN 3-89488-087-2. Weblinks Quellen NS-Archiv: Adolf Hitler: Politisches Testament 1945 Kontext DCTP special/Spiegel TV: Ein Tag schreibt Geschichte – 30. April 1945 Ein Tag schreibt Geschichte – 30. April 1945 Einzelnachweise Adolf Hitler Antisemitisches Werk Deutschland im Zweiten Weltkrieg Holocaustdokument Historisches Dokument (Zweiter Weltkrieg) Endphase des Zweiten Weltkriegs Politik 1945
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https://de.wikipedia.org/wiki/Suanhild%20%28Essen%29
Suanhild (Essen)
Suanhild († 30. Juli 1085 in Essen), in moderneren Schreibweisen oft auch Swanhild, Svanhild oder Schwanhild, war von wahrscheinlich 1058 bis zu ihrem Tode Äbtissin im Stift Essen. Wie ihre Vorgängerinnen ließ sie einen Kirchenbau errichten und erweiterte den Essener Domschatz um Kunstwerke. Suanhild stiftete 1073 die Stiftskirche Essen-Stoppenberg als Pfarrkapelle. Dem Essener Domschatz fügte sie ein Armreliquiar des Hl. Basilius hinzu. Leben Es gibt nur wenige schriftliche Quellen zu Suanhild. Wahrscheinlich war sie die direkte Nachfolgerin der letzten mit einem Kaiser verwandten Essener Äbtissin Theophanu (1039–1058), in deren undatiertem Testament sie als Zeugin genannt ist. Dieses ist zugleich die erste urkundliche Erwähnung Suanhilds. Ihr Geburtsdatum ist unbekannt. Das kanonische Mindestalter, um Äbtissin zu werden, betrug 30 Jahre, sollte sie tatsächlich Theophanus direkte Nachfolgerin sein, müsste sie vor 1028 geboren sein. Suanhilds Eintrittsdatum in das Stift Essen ist ebenso unbekannt wie ihre familiäre Abstammung. Zwar sind ihre Erbgüter bekannt, jedoch nicht, wer diese vor Suanhild besessen hat, so dass auch hierüber keine Zuordnung zu einem Adelsgeschlecht möglich ist. Die in der Literatur zum Stift Essen häufiger zu findende Zuordnung zum Geschlecht der Grafen von Hückeswagen, die auf einem auch in anderen Punkten unzuverlässigen frühneuzeitlichen Äbtissinnenkatalog des Stifts Essen beruht, leidet darunter, dass das Geschlecht der Grafen von Hückeswagen erstmals 1133 urkundlich erwähnt ist. Im Theophanu-Testament erscheint Suanhild unter den als Zeugen zugezogenen Stiftsdamen, verfügte aber über kein erwähntes Amt wie Pröpstin oder Dechantin. Ein solches Amt war jedoch keine Voraussetzung für das Äbtissinnenamt. Gesichert ist das Abbatiat Suanhilds erst für das Jahr 1073 durch eine Urkunde des Erzbistums Köln, in der die Kirche in Stoppenberg, die sie gestiftet und der Kölner Erzbischof Anno II. geweiht hatte, von Anno Privilegien erhielt. Mai/Juni 1085 versuchte Suanhild, auf einer Synode in Mainz von Kaiser Heinrich IV. eine Bestätigung und Schutzerklärung für die von ihr vorgenommene Schenkung ihrer Erbgüter Gesseron, Vuedereke und Hukengesuuage (Geißern bei Wachtendonk und Hückeswagen, der dritte Ort ist unbekannt) an das Stift Essen zu erhalten. Die Urkunde wurde jedoch nicht vollzogen, obschon sich auf ihr ein Vollziehungsstrich befindet. Es fehlt aber das im Urkundstext genannte Siegel und die Datumszeile, so dass davon ausgegangen wird, dass der Vollziehungsstrich von unbekannter Hand auf einen Entwurf gesetzt wurde. Möglicherweise geschah dies, um Ansprüche von Verwandten Suanhilds abzuwehren, denn die Schenkung wurde vollzogen: Die Besitzung bei Wachtendonk gehörte noch bei Auflösung des Stiftes 1803 zu dessen Besitztümern. Möglich ist auch, dass diese Urkunde eine nach Suanhilds Tod aus gleichen Gründen entstandene Totalfälschung ist, gegen diese These spricht jedoch die Unvollständigkeit der Urkunde. Suanhild verstarb nach dem Essener Nekrolog an einem 30. Juli, vermutlich 1085, da kein weiterer Versuch unternommen wurde, die Bestätigung für die Schenkung vom Kaiser zu erhalten. Beigesetzt wurde Suanhild vor dem Hauptaltar der Krypta des Essener Münsters, wahrscheinlich in einem Hochgrab über dem Grab der bedeutenden Essener Äbtissin Mathilde Werke Die Stiftskirche Stoppenberg Der heutige Essener Stadtteil Stoppenberg ist zu Fuß mehr als eine Stunde von dem Essener Münster entfernt, im 11. Jahrhundert war der Weg zum Gottesdienst von dort für die stiftshörigen Bauern noch länger und beschwerlicher, so dass diese besonders im Winter dem Gottesdienst fernblieben. Aus diesem Grund veranlasste Suanhild dort den Bau einer Pfarrkapelle aus ihren eigenen Mitteln, also ihrem persönlichen Vermögen. Diese Kapelle wurde am 29. Januar 1073 geweiht. Es handelt sich um eine dreischiffige Pfeilerbasilika mit quadratischem Chorhaus, geweiht dem Heiligen Nikolaus. Der Kölner Erzbischof Anno II., der die Weihe vornahm, stattete die Kapelle auf Intervention Suanhilds mit dem Privileg aus, dass die Umwohnenden dort in Notfällen das Sakrament empfangen und das Begräbnisamt halten konnten. Die Pfarrkapelle wurde im 12. Jahrhundert Klosterkirche eines Prämonstratenserklosters, aufgrund dessen wird sie heute als Stiftskirche bezeichnet. Das Basilius-Armreliquiar Ein Armreliquiar des Essener Domschatzes wird ebenfalls als Stiftung Suanhilds betrachtet. Es handelt sich um ein 46 cm hohes Reliquiar, das in Form eines rechten Unterarms aus Eichenholz geschnitzt ist, das anschließend mit Silber- und vergoldetem Kupferblech überzogen wurde. Da der Heilige Basilius zu den Patronen der Kirche in Stoppenberg gehörte und das Reliquiar im Mittelalter alljährlich von der Münsterkirche nach Stoppenberg überführt wurde, ist die Zuschreibung an Suanhild unumstritten. Das Reliquiar selbst lässt erkennen, dass nicht die besten Künstler daran tätig waren. Der mittlere Teil der Hand ist zu kurz im Verhältnis zu den Fingern. Die Metallplatten, die die Finger umkleiden, sind zusammengestückelt. Der Arm ist besser gelungen. Dort zeigt das Reliquiar die Ärmel eines Ober- und eines Untergewandes, wobei der Faltenwurf unterschiedlich schwerer Stoffe nachgeahmt ist. Bei beiden Ärmeln ist die Gewandborte durch aufgenietete Metallstreifen angedeutet. Einer von diesen zeigt ein Rautenmuster, das kleine Blattornamente einschließt, die andere trägt ein Rankenmuster und die Inschrift † Serve Dei Vivi Benedic Nos Sancte Basili † (dt.: Diener des lebendigen Gottes segne uns Heiliger Basilius). Die beiden Borten, der Ärmel des Obergewandes und der mit zwei Scharnieren befestigte Boden des Reliquiars sind aus vergoldetem Kupferblech, die übrigen Beschläge aus Silberblech gefertigt. Die Hand weist noch zwei besondere Merkmale auf: Zum einen ist auf ihrer Außenseite eine runde Platte aus Goldblech aufgenietet, auf der ein Kreuz mit einer nach oben gerichteten Hand eingraviert ist. Auf dem Rand dieser Platte befindet sich die Inschrift † Dextera Di, was als „die rechte Hand Gottes“ zu lesen ist. Vergleichbare Medaillons befanden sich an Handschuhen, die ab dem 10. Jahrhundert zur liturgischen Bekleidung von Bischöfen gehörten, und wurden unter Innozenz III. vorgeschrieben. Ein vergleichbarer Handschuh ist in der Schatzkammer der Abtei Werden erhalten. Die andere Besonderheit ist ein 1,2 cm mal 0,6 cm messendes, 6 cm tiefes Loch im Holzkern zwischen Daumen und Zeigefinger, dessen Zweck unklar ist. Möglicherweise diente es zur Befestigung eines kleineren Reliquienbehälters, eines Kreuzes oder eines ikonographischen Attributs des Heiligen Basilius. Bei dem Basilius-Armreliquiar handelt es sich um eines der ältesten erhaltenen Armreliquiare, bei dem sich zudem durch den Essener Liber ordinarius nachweisen lässt, dass das Reliquiar benutzt wurde, um mit ihm den Segen zu erteilen. Das Suanhild-Evangeliar Suanhild stiftete auch ein prächtiges Evangeliar, dessen Deckel mit Goldplatten und Edelsteinen besetzt war. Sie knüpfte dabei an ihre Vorgängerin Theophanu an, die ebenfalls ein Prachtevangeliar gestiftet hatte, das noch heute im Essener Domschatz erhalten ist. Das Evangeliar der Suanhild galt hingegen lange als verloren, noch Küppers und Paul Mikat schrieben in ihrem 1966 erschienenen Buch über den Essener Domschatz, es sei verloren gegangen. Tatsächlich ist die Handschrift, allerdings ohne die wertvollen Buchdeckel, erhalten; sie befindet sich unter der Signatur Ms Latin 110 in der John Rylands Library in Manchester. Wie die Handschrift von Essen nach Manchester gelangte, ist nicht im Einzelnen bekannt. Nachweislich befand sich die Handschrift noch im 18. Jahrhundert im Besitz des Stiftes Essen. 1895 tauchte sie dann in einer Kunsthandlung in London auf, wo sie ein Lord Lindsay für 300 Pfund erwarb. 1901 erwarb Ms. Rylands die Sammlung Lindsays für die von ihr zum Gedächtnis an ihren verstorbenen Ehemann gestiftete John Rylands Library. Die wahrscheinlichste Annahme ist, dass die Handschrift nach Mediatisierung des Stiftes infolge des Reichsdeputationshauptschlusses 1803 von einem der Kanoniker an sich genommen wurde und nach dessen Tod in den Kunsthandel gelangte. Bei dem Evangeliar handelt es sich um ein pleonarius, welches an hohen Feiertagen benutzt wurde. Es ist 22 × 15,5 cm groß, der Schriftspiegel misst 15,5 × 8 cm, die Buchmalereien 15,5 × 10 cm. Das Buch enthält die vier vollständigen Evangelien sowie vier Vorreden, die in karolingischen Minuskeln einspaltig mit 28 Zeilen pro Seite geschrieben sind, insgesamt 176 Seiten aus 24 Lagen Pergament. Den Schmuck des Buches bilden sechs ganzseitige Bilder, vier Zierseiten, fünf Rankeninitialen und 13 Kanontafeln. Ein Handschriftenwechsel hinter dem Ende des Evangeliums nach Markus lässt erkennen, dass zwei Schreiber oder Schreiberinnen an dem Werk geschrieben haben. Wo die Handschrift entstand ist unbekannt. Die Buchmalerei ist keiner bekannten klösterlichen Malschule zuzuordnen. Insbesondere das Stifterbild, das neben Suanhild die Pröpstin Brigida, ihre Stellvertreterin im Stift Essen, als Mitstifterin ausweist, ist ungewöhnlich, da es als Empfängerin der Stiftung die Gottesmutter Maria in einer für den westlichen Raum untypischen Rolle als „Maria orans“ zeigt. Kahsnitz hält daher sogar für möglich, dass die Handschrift in Essen selbst geschrieben wurde. Nachwirken Suanhild stiftete aus den Erträgen der von ihr dem Stift übertragenen Güter ein Klosteramt, das stets von einem Kanoniker des Essener Stifts ausgeübt wurde. Die Pflichten des Inhabers des Schwanhildis-Amtes war die Verwaltung der von ihr gestifteten Güter und die Ausrichtung des Memorialdienstes. Zu diesem gehörte alljährlich vier Messen und eine Vigil, die an ihrem Sterbetag gelesen werden mussten, die Verteilung einer bestimmten Anzahl Brote an Stiftspersonen sowie Geldspenden. Das Amt bestand nach Auflösung des Stiftes noch fünf Jahre weiter bis 1808, als der ehemalige Essener Kanoniker Nikolaus Poger als letzter Inhaber starb. Die Stiftung wurde dann vom preußischen Staat in ein „Beneficium“ zugunsten der Pfarrstelle in Borbeck und der Landschule in Frintrop umgewandelt, das mit der Verpflichtung für den Inhaber der Pfarrstelle verbunden war, eine Seelenmesse für Suanhild an ihrem Sterbetag zu lesen. Diese Verpflichtung wurde erst 1913 durch das Erzbistum Köln auf Anregung des Borbecker Pfarrers aufgehoben, da das jährliche Stipendium durch die Stiftung nur noch 8,05 Mark betrug. Suanhild wird im Essener Stadtteil Stoppenberg, der sich um ihre Stiftskirche entwickelt hat, besonders verehrt. Dort befindet sich auch der 1915 nach Entwurf des Kölner Architekten Carl Moritz in Werkstein und Bronze ausgeführte Schwanhildenbrunnen, auf dem sie, Erzbischof Anno von Köln und der Kanoniker Henricus von Essen, der die Bauausführung für Suanhild überwachte, abgebildet sind. In seiner Nähe führt die kleine Straße Schwanhildenhöhe auf jene Anhöhe, auf der sie ihre Kapelle erbauen ließ. Im selben Stadtteil befindet sich auch die Schwanhildenstraße, die ebenfalls nach der Äbtissin benannt ist. Beurteilung Die Einstufung Küppers und Mikats in ihrem Buch zum Domschatz, dass die eigentliche Glanzzeit des Essener Stifts mit dem Tod Theophanus, der letzten Äbtissin aus einem Kaiserhaus, beendet war, ist fragwürdig. Suanhild handelte in jeder Hinsicht in der Tradition ihrer Vorgängerinnen: Sie mehrte die Güter ihres Stifts durch die Stiftung ihrer Erbgüter. Da das Essener Münster unter ihrer Vorgängerin fertiggestellt worden war (Suanhild, vielleicht aber auch erst ihre Nachfolgerin, erneuerte dort das Atrium), baute sie mit der Pfarrkirche in Stoppenberg an anderer Stelle. Auch mit der Stiftung eines wertvollen Reliquiars und der eines Prunkevangeliars knüpfte sie an die Traditionen ihrer Vorgängerinnen an. Erst von Suanhilds Nachfolgerin Lutgardis ist trotz einer langen Amtszeit keine Kunst- oder Kirchenstiftung bekannt. Es erscheint daher möglich, dass Suanhild aufgrund ihrer unbekannten Abstammung und der dürftigen Quellenlage unterbewertet wird. Literatur Sonja Hermann: Armreliquiar mit Reliquien des hl. Basilius. In: Birgitta Falk (Hrsg.): Gold vor Schwarz – Der Essener Domschatz auf Zollverein. Katalog zur Ausstellung 2008. Klartext Verlag, Essen 2008, ISBN 978-3-8375-0050-9. Lutger Horstkötter: Äbtissin Schwanhild (ca. 1058 – ca. 1085), ihr Jahresgedächtnis und das Schwanhildisamt an der Essener Münsterkirche (bis 1808). In: Münster am Hellweg. Mitteilungsblatt des Vereins für die Erhaltung des Essener Münsters. Essen 2003, S. 11 ff. Martina Junghans: Die Armreliquiare in Deutschland vom 11. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. Dissertation. Bonn 2002, Kat.-Nr. 4. Georg Humann: Die Kunstwerke der Münsterkirche zu Essen. Schwann, Düsseldorf 1904. Rainer Kahsnitz: Die Essener Äbtissin Svanhild und ihr Evangeliar in Manchester. In: Essener Beiträge. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen 85. Essen 1970, S. 13–80. Leonhard Küppers, Paul Mikat: Der Essener Münsterschatz. Fredebeul & Koenen, Essen 1966. Äbtissin (Essen) Geboren im 10. oder 11. Jahrhundert Gestorben 1085 Frau
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https://de.wikipedia.org/wiki/Dynamit%20Nobel
Dynamit Nobel
Die Dynamit Nobel AG war ein deutsches Chemie- und Rüstungsunternehmen, dessen Sitz sich zuletzt in Troisdorf befand. Das Unternehmen wurde 2004 vom ehemaligen Mutterkonzern MG technologies (heute GEA Group AG) in verschiedenen Teilen an verschiedene Unternehmen verkauft. Im letzten Jahresabschluss 2003 wies Dynamit Nobel einen Umsatz von 2,5 Milliarden Euro aus und beschäftigte rund 13.000 Mitarbeiter. Vom 1. Januar 2003 bis zum Verkauf am 31. Juli 2004 wurde das Unternehmen von Jürg Oleas als Vorstandsvorsitzendem geleitet, der diese Funktion zugleich auch beim Mutterkonzern innehatte. Unter dem Namen Dynamit Nobel gibt es heute zwei voneinander unabhängige Unternehmen, Dynamit Nobel GmbH Explosivstoff- und Systemtechnik (DNES) in Leverkusen und die Dynamit Nobel Defence GmbH in Burbach. Geschichte 1865 bis 1918 Die Dynamit Nobel AG geht auf das am 21. Juni 1865 von dem schwedischen Chemiker und Industriellen Alfred Nobel in Hamburg gegründete Unternehmen Alfred Nobel u. Co zurück. Anfangs wurde Sprengstoff auf Basis von Nitroglycerin in der Dynamitfabrik Krümmel in Geesthacht bei Hamburg hergestellt. Bei dieser Fabrik handelte es sich um die erste Nitroglycerinfabrik außerhalb Schwedens. Nobel verfolgte den Plan, Nitroglycerin an vielen Standorten in Europa zu produzieren, da der Transport des Sprengstoffs wegen dessen Stoßempfindlichkeit ein überaus riskantes Unterfangen war. Da sich die Handhabung von Nitroglycerin als sehr gefährlich erwies, begann Nobel damit, einen Sicherheitssprengstoff, das Dynamit, zu entwickeln. Noch während der Erprobungsphase kam es 1866 zu einem schweren Explosionsunglück, bei dem das Werk in Krümmel fast vollständig zerstört wurde. Kurz darauf erzielte er dennoch den Durchbruch, indem er Nitroglycerin mit Kieselgur mischte und es so gegen Stoßeinwirkungen unempfindlicher machte. Im Oktober 1867 ließ er sich den neuen Sprengstoff, der auch unter dem Namen Nobel's Sicherheits-Sprengpulver vertrieben wurde, patentieren. Um die Hauptabnehmer, die Bergwerke des Ruhrgebiets, besser beliefern zu können, übernahm das Unternehmen 1874 die Sprengstoff-Fabrik Kaiser & Edelmann in Manfort (seit 1930 ein Stadtteil von Leverkusen), die 1870 von einer Explosion zerstört wurde. Nobel war 1872 an deren Wiederaufbau beteiligt und hatte dort auch zeitweilig die Produktion geleitet. Wegen der benachbarten Bahnstation wurde sie Werk Schlebusch genannt. Im Jahr 1876 wurde Nobels Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und nannte sich von da an Dynamit AG, vormals Alfred Nobel & Co (auch abgekürzt als DAG). Nun wurde auch die Produktion von Rüstungsgütern aufgenommen und schon bald stieg die DAG zum größten Pulver- und Munitionsproduzenten im Deutschen Reich auf. Unter Führung der DAG schlossen sich, wie auch in anderen europäischen Ländern, die größten deutschen Pulverproduzenten 1884 zu einem Kartell zusammen, das Pulvergruppe I genannt wurde. Bis 1889 folgten alle größeren Pulverproduzenten des Deutschen Reichs in diesen Zusammenschluss, der durch Preisabsprachen und Kooperationen Wettbewerb untereinander unterbinden sollte. In der Folgezeit kam es zu einer engen Zusammenarbeit mit dem britischen Pulverkartell Nobel Dynamite Trust Coy und anschließend zur gemeinsamen Bildung des sogenannten „Generalkartells“ deutscher und britischer Pulverfabriken. Durch den Rüstungswettlauf vor dem Ersten Weltkrieg konnten die Pulverproduzenten enorme Gewinne erzielen, die durch die Kartellstruktur noch erhöht wurden. Zudem unterstützten die Staaten in dieser Zeit massiv die Rüstungsentwicklung und -produktion. Das DAG-Werk in Saarwellingen eröffnete 1910. Da Unternehmensgründer Nobel kinderlos blieb, verfügte er, dass mit seinem Vermögen die nach ihm benannte Nobel-Stiftung gegründet werden sollte, was im Jahre 1900 geschah. Die wichtigste Aufgabe der Stiftung ist die jährliche Verleihung der Nobelpreise. Die Stiftung finanziert sich bis in die Gegenwart aus den Zinsen und den Erlösen aus den anfangs gehaltenen Unternehmensbeteiligungen, die kurz nach Nobels Tod abgestoßen wurden, so dass sich die an der Berliner Börse notierte DAG danach vollständig im Streubesitz befand. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs wuchs die DAG durch Übernahme kleinerer Konkurrenten zum größten europäischen Sprengstoffhersteller heran. Während des Krieges setzte die DAG in ihren Werken auch Kriegsgefangene ein – vorwiegend russische Kriegsgefangene in dem 1912 von der Sprengstoffwerke Dr. R. Nahnsen & Co. AG übernommenen Werk Dömitz. 1918 bis 1945 Nach Kriegsende wurden Teile der Produktionsanlagen demontiert und mit Inkrafttreten des Versailler Vertrags dem Unternehmen zunächst die Produktion von Rüstungsgütern untersagt. Fortan stellte es vorwiegend Bergwerkssprengstoffe, Sprengkapseln, Zündhütchen sowie Jagd- und Sportmunition (Flintenmunition/Schrot) her. Der Verzicht auf die Produktion lukrativer Rüstungsgüter bedeutete für die DAG große finanzielle Einbußen, so dass einige Werke geschlossen und die Produktionskapazität verringert werden musste. Das Unternehmen war bestrebt, durch die Produktion von chemischen Grund- und Zwischenprodukten seine Abhängigkeit von Rüstungsgütern zu verringern. Von der zur BASF gehörenden Chemische Werke Lothringen GmbH wurde 1925 die ehemalige Egestorffsche Zündhütchenfabrik in Empelde bei Hannover übernommen, die Produktion dort allerdings 1928 eingestellt und erst 1938 im Rahmen der Aufrüstung der Wehrmacht wieder begonnen. In den 1920er Jahren arbeitete die DAG eng mit der Siegener Dynamitfabrik AG sowie der Rheinisch-Westfälischen Sprengstoff-AG Köln – Troisdorf (RWS) zusammen. Letztere produzierte in ihrem Troisdorfer Werk bereits ab 1905 Zelluloid, einen auf Basis des Sprengstoffs Cellulosenitrat („Schießbaumwolle“) entwickelten Kunststoff, und begann 1923 mit der Herstellung von Kunststoff-Formteilen aus Zelluloid. Später gründete die RWS dafür 1930 in Köln die Rheinische Spritzguß-Werk GmbH (späterDynamit Nobel Kunststoff GmbH). Anfang 1931 fusionierten DAG, RWS, Deutsche Sprengstoff-AG Hamburg, Rheinische Dynamitfabrik Opladen, Westdeutsche Sprengstoffwerke, Siegener Dynamit-Fabrik (beide mit Sitz Köln) und die Dresdner Dynamitfabrik zur neuen Dynamit AG mit Firmensitz Troisdorf. Zusammen mit der bereits 1925 gegründeten I.G. Farben, in der die Köln-Rottweil AG mit Sitz in Köln (bis 1919 Vereinigte Köln-Rottweiler Pulverfabriken AG) aufgegangen war, entstand so ein Kartell, welches im Deutschen Reich der Weimarer Republik annähernd eine Monopolstellung für die Sprengstoffherstellung innehatte. Nach der Machtergreifung der NSDAP und durch deren Bestreben nach einer starken deutschen Rüstungsindustrie wurde von der Reichswehr (ab 1935: Wehrmacht) größere Produktionskapazität für Munition gefordert. Dazu gründete die DAG 1934 zusammen mit der Westfälisch-Anhaltischen Sprengstoff-AG (WASAG, Teil des I.G.-Farben-Konzerns) die Deutsche Sprengchemie GmbH, welche mit Unterstützung der staatseigenen Verwertungsgesellschaft für Montan-Industrie mbH (kurz: Montan G.m.b.H.) neue Sprengstoff- und Munitionswerke auf staatlichem Grund und Boden errichtete (→ Montan-Schema). Später wurde die Deutsche Sprengchemie GmbH ein alleiniges Tochterunternehmen der WASAG. Die DAG führte dieselben Tätigkeiten in der Gesellschaft zur Verwertung chemischer Erzeugnisse m.b.H. (kurz: Verwertchemie) weiter. Diese betrieb mehr als 30 Fabriken, unter anderem in Hessisch Lichtenau, Empelde und Allendorf (heute Stadtallendorf) sowie auch in Bromberg (heute Bydgoszcz, Polen). Das Werk Allendorf war damals größter Hersteller von TNT in Europa. Dort mussten während des Zweiten Weltkriegs über 15.000 Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge arbeiten. 1938 wurde in Aschau am Inn ein weiteres Werk zur Herstellung von Nitrocellulose errichtet, welches nach dem Krieg im Rahmen der Entflechtung der I.G. Farben AG in den Besitz der WASAG überging. 1939 erwarb die Verwertungsgesellschaft für Montanindustrie in München ein Grundstück an der Ecke Rosenheimer Straße / Anzinger Straße und baute dort eine Fabrikanlage. Ab 1941 wurden die Fabrik München von der Dynamit AG gemietet und dort monatlich 100.000 Sprengstoffzünder hergestellt, unter anderem von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern. Ein Lager mit rund 1300 Zwangsarbeitern war im Gebäudekomplex untergebracht. Es waren die Arbeitslager 16 (Anzinger Straße / Glonner Straße) und 17 (Rosenheimer Straße 145). Die Fabrikanlage blieb im Krieg unbeschädigt. Auch im Werk Stadeln wurde Zwangsarbeit geleistet. 1945 bis 1992 Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die DAG in Westdeutschland wieder mit der Produktion von Kunststoffen, Wehrtechnik und Munition. Die in der sowjetischen Besatzungszone gelegenen Werke wurden enteignet und teilweise demontiert. Ab 1953 versuchte sich die DAG in der Entwicklung organischer Zwischensubstanzen, um neben den Kunststoffen ein weiteres ziviles Standbein aufzubauen. Nach der Entscheidung zur Wiederbewaffnung der Bundesrepublik wurde 1957 durch die Gesellschaft zur Verwertung chemischer Erzeugnisse mbH, welche den Krieg überstanden hatte und jetzt wie zuvor Grund und Boden von der nun bundeseigenen Industrieverwaltungsgesellschaft (IVG) bereitgestellt bekam, beginnend im Werk Liebenau die Produktion von Rüstungsgütern wieder aufgenommen. Zu Beginn der 1960er Jahre erreichte das Unternehmen in der Pulverherstellung wieder die Marktführerschaft in Deutschland. Dazu trug auch die 1963 erfolgte Übernahme des Munitionsherstellers Gustav Genschow & Co. AG aus Karlsruhe bei. Mit ihr war Dynamit Nobel nun der größte Munitionsproduzent sowohl für militärische als auch für zivile Zwecke in Deutschland. Daneben trieb man vorwiegend die Produktion von Minen voran. So wurden ab 1958 in Liebenau mit Lizenz des schwedischen Unternehmens LIAB etwa 2 Millionen Stück Panzerabwehrminen vom Typ DM-11 produziert. Daneben beteiligte sich die DAG zusammen mit Bölkow und Dornier auch an Forschungsprojekten des damaligen Ministeriums für Atomkernenergie (heute Bundesministerium für Bildung und Forschung) zu einer möglichen deutschen Raketenrüstung. Ende der 1950er Jahre begann der bereits in Vorkriegszeiten im Aufsichtsrat sitzende Friedrich Flick mit teils rüden Methoden gegenüber Kleinaktionären die DAG aufzukaufen. Mit Unterstützung des Bremer Aktienspekulanten Hermann Krages erwarb er, zum Teil durch komplizierte Aktientausche mit der Feldmühle AG, an der Flick ebenfalls beteiligt war, bis 1958 die Aktienmehrheit des Unternehmens und wurde Aufsichtsratsvorsitzender. Nun bediente sich Flick, der nun 82 Prozent der Anteile besaß, einer umstrittenen Regelung des Umwandlungssteuergesetzes, die zum 31. Dezember 1959 auslief, um Kleinaktionäre gegen eine Abfindung aus dem Unternehmen zu drängen (ähnlich dem heutigen Ausschluss von Minderheitsaktionären). Nach Protesten von Aktionärsgruppen gegen die im Dritten Reich eingeführte Regelung entschied schließlich das Bundesverfassungsgericht zu Gunsten Flicks. Bezugnehmend auf den positiv wahrgenommenen Unternehmensgründer wurde 1959 die Firma Dynamit-Actien-Gesellschaft, vormals Alfred Nobel & Co. in Dynamit Nobel AG geändert. Ab 1962 verhandelte das nun zum Flick-Konzern gehörende Unternehmen auf Druck der Jewish Claims Conference über eine Entschädigung für die 1.300 (jüdischen) Zwangsarbeiter, die in den Jahren 1944 und 1945 im Troisdorfer Werk zur Arbeit gezwungen wurden. Die Einigung auf eine Zahlung über fünf Millionen DM (5000 DM je Opfer) wurde von Friedrich Flick persönlich blockiert, so dass bis zu seinem Tod 1972 keine Zahlungen erfolgten. Im Januar 1970 ließ er zu diesem Thema eine abschließende Erklärung veröffentlichen, in der er „… nicht zu erkennen (vermag), dass humanitäre oder moralische Gründe eine Auszahlung rechtfertigen könnten.“ Flick verwies stets darauf, dass eine Zahlung seinen Unschuldsbeteuerungen im Flick-Prozess widersprechen und als spätes Schuldeingeständnis gewertet werden könnten und außer ihm auch noch der Schweizer Dieter Bührle (Oerlikon-Bührle) mit 18 Prozent an der DAG beteiligt sei. Nachdem die Ausrüstung der Bundeswehr mit der Panzermine DM-11 Ende der 1960er Jahre abgeschlossen war, wurde das Werk in Liebenau 1977 an den holländischen Munitionshersteller Eurometaal abgetreten, an dem Dynamit Nobel zu einem Drittel beteiligt war. Die späteren großen Minenprojekte wurden in Troisdorf und in Burbach-Würgendorf realisiert. 1986 wurde der Flick-Konzern von der Deutschen Bank für rund fünf Milliarden DM aufgekauft, umstrukturiert und in Teilen wieder veräußert oder an die Börse gebracht. Die Deutsche Bank stimmte schließlich einer Entschädigung der Zwangsarbeiter der Dynamit Nobel AG im Rahmen der in den 1960er Jahren ausgearbeiteten Bedingungen zu. Im Zuge einer Umstrukturierung wurde schon 1985 die Dynamit Nobel AG mit der ebenfalls zum Flick-Konzern gehörenden Feldmühle AG sowie der Buderus AG zur Feldmühle Nobel AG zusammengeschlossen. Nachdem die Enkel Friedrich Flicks (Friedrich Christian Flick und dessen Bruder Gert-Rudolf Flick) 1988 mit dem Versuch gescheitert waren, die Feldmühle Nobel AG zurückzuerwerben, übernahm 1990 das schwedische Unternehmen Stora Kopparbergs bergslag (seit 1998 Stora Enso) das Unternehmen. Im darauffolgenden Jahr wurde der geplante Verkauf von Teilen des Unternehmens an die Metallgesellschaft (heute GEA) bekannt. Nach Abschluss eines positiven Fusionskontrollverfahrens durch die Europäische Kommission erfolgte zum 1. Januar 1992 die Übernahme der Unternehmensteile Dynamit Nobel AG und Buderus durch die Metallgesellschaft Industriebeteiligungen AG, einer Tochtergesellschaft der Metallgesellschaft, während der Bereich Forstwirtschaft (die ehemalige Feldmühle AG) unter dem Namen Feldmühle Nobel AG bei Stora verblieb. Bereits 1988 schlossen die Gesellschaft zur Verwertung chemischer Erzeugnisse mbH, die zuvor nur als Beteiligung geführt wurde, und Dynamit Nobel einen Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag. Das Tochterunternehmen wurde schließlich 1990 mit einem anderen Tochterunternehmen, der Dynamit Nobel Explosivstoff- und Systemtechnik GmbH, verschmolzen. 1992 bis zur Zerschlagung 2004 Zu Beginn der 1990er Jahre war das Unternehmen in den Bereichen chemische Grundstoffe, chemische Zwischenprodukte, Kunststoff- und Faserrohstoffe, Spezialchemieprodukte (Siliziumwafer) und in der Kunststoffverarbeitung (insbesondere von PVC) aktiv. Etwa ein Viertel des Umsatzes entfiel weiterhin auf die traditionelle Sprengmittel-Sparte sowie den Wehrtechnik-Bereich, der sich allerdings als stark von Rüstungsprojekten der Bundeswehr abhängig erwies. Im Jahr 1992 wurden die Cerasiv GmbH und die Chemetall GmbH übernommen. 1994 kamen die Sachtleben Chemie GmbH und die Chemson GmbH hinzu. Im Jahr 1996 wurde die zur Hoechst gehörende CeramTec AG akquiriert und mit der Cerasiv GmbH zur CeramTec Innovative Ceramic Engineering AG verschmolzen. 1997 übernahm Dynamit Nobel zur Stärkung des Kunststoff-Bereichs die Phoenix Kunststoff GmbH. 1999 wurden die Dynamit Nobel und das Chemieunternehmen Solvadis zum Geschäftsbereich MG chemical group zusammengefasst. Das Aktivitätsportfolio der Chemetall GmbH (Bereich Chemiespezialitäten) wurde kontinuierlich optimiert, wie die Zukäufe von Cyprus Foote (1998) und Brent (1999) sowie die Trennungen von Chemson GmbH (1999) und dem Galvanikgeschäft (2000) (heute: Coventya GmbH) belegen. 2001 wurde aus der „Dynamit Nobel Explosivstoff und Systemtechnik GmbH“ (DNES) der Bereich der gewerblichen Sprengmittel von der Orica übernommen. 2002 übernahm die Schweizer RUAG die zuvor aus der Dynamit Nobel Explosivstoff und Systemtechnik ausgegliederte Dynamit Nobel Ammotec GmbH. In dieser Gesellschaft wurde das Geschäft mit kleinkalibriger Munition gebündelt. Mit dem Verkauf des einstigen Stammgeschäfts begann die Zerschlagung des Konzerns. 2004 verkaufte die MG technologies AG im Zuge ihrer Konzentration auf den Anlagenbau ihre Chemiesparte. Dabei wurde die Dynamit Nobel AG zerschlagen und in Teilen von verschiedenen Unternehmen übernommen. Der zuletzt bestellte Vorstand bestand aus folgenden Organmitgliedern: Jürg Oleas, Klaus Edelmann, Alexander Loh, Jürgen Fäsel, Wolf-D. Griebler, Alfred Schulte, Ulf-Dieter Zimmermann und Gerd Weyer. Die amerikanische Rockwood Specialties Group übernahm (zum Stichtag 31. Juli 2004) über ihr Luxemburger Tochterunternehmen Knight Lux 1 S.A.R.L. für 2,25 Milliarden € den größten Teil in Form der Dynamit Nobel-Spezialchemikalientöchter Sachtleben Chemie GmbH, Chemetall GmbH, CeramTec Innovative Ceramic Engineering AG und DNSC GmbH. Rockwood selbst ist eine Holding für Chemieunternehmen, die der Finanzinvestor Kohlberg Kravis Roberts & Co. erworben hat. Die Dynamit Nobel Kunststoff GmbH wurde 2004 für 915 Mio. € von der schwedischen Plastal Holding AB übernommen; die DNES ist heute Teil des französischen Novasep-Gruppe, die aus Rockwood herausgelöst wurde. Der Wehrtechnikbereich wurde in die Dynamit Nobel Defence GmbH mit Sitz in Würgendorf (Burbach) ausgegliedert. Diese Firma ist heute eine Tochtergesellschaft des staatlichen israelischen Wehrtechnikkonzerns Rafael. Das Geschäft mit kleinkalibriger Munition für Militär, Behörden, Jäger und Sportschützen sowie den Industriekomponenten wurde von der Schweizer RUAG 2002 übernommen und mit den Munitionsbereichen zusammengefasst. Als RUAG Ammotec GmbH (Fürth) werden die ehemaligen Dynamit Nobel Marken RWS, Rottweil und Geco weitergeführt. Die Zerschlagung des Konzerns geschah größtenteils im Einklang mit den Arbeitnehmervertretern, die stets auch an den Verkaufsverhandlungen beteiligt waren. Zwar präferierte der Gesamtbetriebsrat der damaligen mg technologies AG den Erhalt der Chemiesparte im Konzern, jedoch fand die letztlich umgesetzte Lösung seine Zustimmung, da die Rockwood Inc. langfristige Interessen verfolgte und die deutschen Arbeitsplätze gesichert schienen. Rüstungsprojekte nach dem Zweiten Weltkrieg Ab 1958 wurde bei der Dynamit Nobel-Tochter Gesellschaft zur Verwertung chemischer Erzeugnisse mbH/Verwertchemie in Liebenau in Lizenz die schwedische Panzerabwehrmine DM-11 des Unternehmens LIAB produziert. Die Bundeswehr beschaffte mehr als 3 Millionen Exemplare. Die Panzerabwehrmine AT-2 wurde von Dynamit Nobel entwickelt. Insgesamt sind mehr als 1,3 Millionen Exemplare dieses Typs produziert worden. Die Bundeswehr orderte für das Leichte Artillerie-Raketen-System, das bis in das Jahr 2000 in Betrieb war, 300.000 Stück, für das Minenwurfsystem Skorpion etwa 640.000 Minen und für das Mittlere Artillerieraketensystem (MARS) 226.000 Exemplare. Zwischen 1981 und 1986 wurden von der Bundeswehr 564,7 Millionen DM in das Minenprojekt investiert. Neben der Anti-Panzermine AT-2 wurde die baugleiche, nur gering modifizierte Anti-Personenmine AP-2, eine Antimaterialmine, eine Signalmine und eine Flachwassermine entwickelt. Dynamit Nobel vermarktete außerdem die schwedische Panzerabwehrmine FFV 028 SN des Unternehmens Försvarets Fabriksverk (heute: Bofors). Das neuartige, mit hülsenloser Munition ausgestattete Sturmgewehr G11 wurde zusammen mit dem Waffenhersteller Heckler & Koch von 1968 bis 1990 entwickelt, wobei Dynamit Nobel die Entwicklung der hülsenlosen Munition übernahm. Das Projekt, welches bis zur Einsatzreife vorangetrieben wurde, scheiterte letztlich am Zusammenbruch des Warschauer Paktes und dem daraus entstehenden Wegfall des Bedrohungspotentials. Dynamit Nobel ist Hauptauftragnehmer der Panzerfaust 3, die im Rahmen eines Vertrages aus dem Jahre 1989 bei Dynamit Nobel in Würgendorf samt Munition und Übungspatronen gefertigt wird und schrittweise bei der Bundeswehr und anderen Armeen als primäre Panzerabwehrwaffe der Infanterie eingeführt wurde. Derzeit werden neue Varianten für die Bundeswehr produziert. Kritik an Rüstungsprojekten Wiederholt wurde Dynamit Nobel, wie jetzt auch ihr Nachfolgeunternehmen im Bereich Wehrtechnik, die Dynamit Nobel Defence GmbH, aufgrund der von ihnen produzierten Minensysteme scharf kritisiert. Seit Bestehen der Bundeswehr hat Dynamit Nobel geschätzte 3,2 Millionen Landminen geliefert. Noch 1992 warb das Unternehmen mit dem Spruch „Dynamit Nobel – Bei Minen die erste Adresse“ in einer Fachzeitschrift. Nach wie vor befinden sich in den Beständen der Bundeswehr umstrittene Anti-Panzerminen aus der Produktion von Dynamit Nobel, welche im Verdacht stehen, auch gegen Personen eingesetzt werden zu können. Dies wäre nach der Ottawa-Konvention verboten. 2003 belief sich ihre Zahl auf 1,2 Mio. Stück. Vinylchlorid-Vergiftungen in Troisdorf Bis in die 1970er Jahre wurde am Standort Troisdorf von Dynamit Nobel, dem Industriestadtpark auf der ehemaligen Troisdorfer Heide, das Monomer Vinylchlorid (VC) zum Kunststoff Polyvinylchlorid (PVC) polymerisiert. Zu dieser Zeit kamen regelmäßig etwa 130 bis 140 Mitarbeiter mit diesem Stoff in Kontakt, wobei über die Jahre seit Aufnahme der Produktion in Troisdorf in den 1940ern geschätzte 3600 Personen in diesem Bereich tätig waren. Entgegen geltenden gewerbehygienischen Auflagen wurden die Mitarbeiter bei Dynamit Nobel über Jahre hinweg dem gesundheitsschädlichen und, wie sich später herausstellte, auch krebserregenden Stoff teilweise ungeschützt ausgesetzt. So wurden sie durch ausströmendes VC-Gas oder beim Reinigen von Druckkesseln erheblich kontaminiert. Die meisten anderen PVC-Produzenten hatten zu jener Zeit ihre Produktion bereits auf weniger gesundheitsgefährdende Systeme umgestellt, was bei Dynamit Nobel aus Kostengründen unterblieb. Zudem wurden regelmäßig Kontrollen umgangen, teilweise manipuliert oder deren Ergebnisse verschwiegen, wodurch das für die Region bedeutende Unternehmen regelmäßig Aufschübe für die Umsetzung von Richtlinien erhielt. Die VC-Kontamination war bei Dynamit Nobel über Jahre so hoch, dass die betroffenen Mitarbeiter über Leberschäden, Verminderung der Blutkörperchen (Anämie) und Durchblutungsstörungen der Finger, die zu Akroosteolyse (Absterben der vorderen Fingerglieder) führten, sowie Migräne und Schwindel klagten; als Spätfolgen kamen noch Krebserkrankungen hinzu. Nach den ersten 13 Meldungen von schweren Erkrankungen im Frühjahr 1972 ordnete das Gewerbeaufsichtsamt in Bonn für Dynamit Nobel Maßnahmen zur Verbesserung der gewerbehygienischen Bedingungen an, welche vom Unternehmen allerdings verschleppt wurden. In der Folge gründete sich die Interessengemeinschaft der VC-Geschädigten, die im Namen von 40 betroffenen Chemiearbeitern eine Klage wegen Amtspflichtverletzung gegen das Land Nordrhein-Westfalen initiierte und Entschädigungen, ähnlich dem Contergan-Prozess, einforderte. Die Troisdorfer DKP-Ortsgruppe stellte eine Strafanzeige wegen Verdachts auf fahrlässige Körperverletzung und Tötung gegen den Vorstand der Dynamit Nobel AG. Beide Initiativen blieben erfolglos. Nachdem immer mehr Details des Skandals an die Öffentlichkeit gelangt waren, kam es zu Protesten von Mitarbeitern und Bürgern von Troisdorf. 1975 beschloss die Unternehmensleitung, den dortigen PVC-Polymerisationsbetrieb zu schließen, um aufwändigen Modernisierungs- und Sicherungsmaßnahmen zu entgehen. Seit den ersten Meldungen über Gesundheitsgefährdungen versuchte das Unternehmen stets, den Skandal zu vertuschen. Hierzu setzte das Unternehmen Journalisten und Verleger massiv unter Druck. In den folgenden Jahren verstarben einige der kontaminierten Mitarbeiter an den Folgen ihrer Erkrankungen, ohne dass der Konzern Entschädigungen leistete. Literatur Éva Fahidi. Die Seele der Dinge. Aus dem Ungarischen übersetzt von Doris Fischer. Hrsg. im Auftrag des Internationalen Auschwitz-Komitees, Berlin, und der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin, Lukas-Verlag 2011, Seite 185. ISBN 978-3-86732-098-6. Rezension von Günther B. Ginzel, 9. November 2011 Bernd Klewitz: Die Arbeitssklaven der Dynamit Nobel. Ausgebeutet und Vergessen. Sklavenarbeiter und KZ-Häftlinge in Europas größten Rüstungswerken im 2. Weltkrieg. Engelbrecht, Schalkmühle 1986, ISBN 3-925211-02-0 Thomas Ramge: Die Flicks. Eine deutsche Familiengeschichte über Geld, Macht und Politik. Campus-Verlag, Frankfurt 2004, ISBN 3-404-61593-X, S. 157–162, 167–172 Siehe auch Deutsche Wildermannwerke Chemische Fabriken in Lülsdorf Weblinks Website der Dynamit Nobel GmbH ES Website der Dynamit Nobel Defence GmbH Bilder der ehemaligen Dynamit AG Frauenwald in Landsberg/Lech Bilder der ehemaligen Dynamit AG Bromberg Einzelnachweise Ehemaliges Unternehmen (Rhein-Sieg-Kreis) Produzierendes Unternehmen (Rhein-Sieg-Kreis) Unternehmen (Troisdorf) Rüstungshersteller (Deutschland) Chemieunternehmen (Deutschland) I.G. Farben Sprengstoffhersteller Munitionshersteller Gegründet 1865 Aufgelöst 2004 Alfred Nobel als Namensgeber Geschichte (Troisdorf) Ehemalige Aktiengesellschaft in Deutschland
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https://de.wikipedia.org/wiki/Call%20Off%20the%20Search
Call Off the Search
Call Off the Search ist das Debütalbum der georgisch-britischen Sängerin Katie Melua. Musikalisch ordnet sich das von Mike Batt produzierte Album zwischen leichtem „Bar-Jazz“ und Blues gemischt mit Folkeinflüssen ein. Auffällig sind besonders die klassischen Elemente, die Batt durch den Einsatz des Irish Film Orchestra erreicht. Melua erreichte mit ihrem Debütalbum Platz 1 der britischen Charts und wenig später den Durchbruch auf den größten Musikmärkten im restlichen Europa, vor allem in Deutschland und Frankreich. In den Vereinigten Staaten erhielt sie Lob von der Kritik, jedoch blieb ebenda der große kommerzielle Erfolg aus. Allein in Großbritannien verkaufte sich das Album hingegen mehr als 1,8 Millionen Mal. In Deutschland erhielt Melua bei der Echo-Verleihung 2005 als bester Newcomer international einen der wichtigsten Nachwuchspreise. Geschichte Meluas Debütalbum erschien im Vereinigten Königreich am 3. November 2003, kurz nachdem sie die Brit School for Performing Arts mit Auszeichnung abgeschlossen hatte. Produziert wurde es von Mike Batt, der Melua beim Vorsingen für eine Jazzband für sein Label Dramatico entdeckte. Sie sang dabei ihre Eigenkomposition Faraway Voice. Bereits im Sommer 2003 veröffentlichte Melua die Single The Closest Thing to Crazy, die bis auf Platz 10 der britischen Charts stieg. Melua und Batt verfolgten dabei eine schon bei der Eva-Cassidy-Interpretation des Evergreens Over the Rainbow erfolgreiche Strategie. BBC-Radiomoderator Terry Wogan erklärte sich – angetan von Meluas Stimme – dazu bereit, den Titel den Sommer über in sein Programm aufzunehmen. Weitere Moderatoren folgten daraufhin seinem Beispiel. Das im Herbst folgende Album Call Off the Search stieg kurz nach der Veröffentlichung in die britischen Charts ein und erreichte nach einem Wiedereintritt im Januar 2004 zum ersten Mal Platz 1, insgesamt erhielt das Album sechs Mal Platin. Im April 2004 wurde es auch in Deutschland veröffentlicht und erreichte dort Platz 8 der Charts, in der Schweiz kam es auf Platz 29. Bei der Veröffentlichung des außerhalb Großbritanniens nicht weniger erfolgreichen Nachfolgealbums Piece by Piece Ende 2005 wurde das Album in einigen Ländern (beispielsweise Deutschland) noch immer in den Charts geführt. Aus der Sicht einiger Kritiker hat das Album – gewollt oder ungewollt –  besonders von der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vorherrschenden Popularität von Künstlern wie Jamie Cullum und Norah Jones profitiert, wobei letztere bereits im Februar 2002 ihr Debütalbum Come Away with Me veröffentlicht hatte. Melua erklärte ihren Erfolg damit, dass die Leute etwas anderes wollten als die damals aktuelle Musik, „etwas mit Melodien und interessanten Texten von Künstlern, die Musiker sind.“ In einem Interview mit dem Musikmagazin Rolling Stone äußerte sie sich über den Vorwurf, die Veröffentlichung ihres Albums sei nur eine Folge von Jones’ Erfolg, wie folgt: Des Weiteren kam der Verdacht auf, Meluas Erfolg sei nur ihrem Produzenten und Manager zu verdanken; so behauptete ihre Kollegin Amy Winehouse in einem Interview: De facto stammen die beiden Songs Belfast (Penguins and Cats) und Faraway Voice von Melua selbst, wohingegen es sich bei vier Stücken um Coverversionen von Liedern aus den 1950er und 60er Jahren handelt. In den Rezensionen zu Call Off the Search wurde Melua häufig mit Norah Jones verglichen, schon wegen ihrer äußerlichen und musikalischen Ähnlichkeiten. Beide Künstlerinnen bedienen ein ähnliches mädchenhaft unschuldiges Klischee innerhalb eines von Jazz und Blues dominierten Stils. Sie sprechen somit eine ähnliche  – vorwiegend männliche –  Käuferschicht jenseits der 30 an, die eher dem Format des Adult Contemporary zuspricht als der gängigen Popmusik. Musik Die meisten Albumtitel sind stark von Jazz und Blues beeinflusste langsame Balladen. Instrumentierung Die Songs sind hauptsächlich, zumindest im Anfangsteil, mit akustischen Instrumenten (Klavier, Kontrabass und Gitarre) instrumentiert. Im weiteren Verlauf der Lieder wird häufig ein „Klangteppich“ aus Streichern und Holzblasinstrumenten darüber gelegt. Im Refrain von The Closest Thing to Crazy gesellt sich zur anfänglichen Besetzung mit akustischer Gitarre, Klavier und Bass im Refrain eine ganze Streichergruppe. Noch ausgeprägter ist dies im mit Streichern, Hörnern und Holzbläsern fast schon „klassisch“ instrumentierten James-Alan-Shelton-Titel Lilac Wine. Jazz Titel wie der von Delores J. Silver stammende und von Weltstars wie Frank Sinatra, Ella Fitzgerald und Cab Calloway eingespielte Learnin’ the Blues oder Call Off the Search verwenden dezente Pianobegleitung und ruhiges Schlagzeugspiel mittels Besen, wie sie für „Barmusik“ üblich sind. Bei Learnin’ the Blues ( Hörbeispiel: , Informationen) macht nicht allein der Stil der Begleitung, sondern auch die Harmonik (Am9 – D7 – Gmaj7 – Fdim – Am7 – D7 – G – Eb) mit der Bevorzugung von großen Septakkorden, Nonenakkorden, dem verminderten Akkord und der Rückung von G-Dur zu Es-Dur (mit einem H als ausgehaltenem Melodieton) den Jazzbezug klar. Improvisierte Soli beschränken sich auf den Jazzstil der 1940er und 50er Jahre und sind nicht länger als 20 Sekunden. Blues Auf dem von dem britischen Bluesmusiker John Mayall stammenden, etwas schnelleren Titel Crawling up a Hill unterlegt die Rhythmusgruppe die folgende swingende – an Titel von Ray Charles erinnernde – Basis mit einer 32stel-Figur auf dem zweiten Achtel: Titel wie My Aphrodisiac Is You oder Mocking Bird lassen ihre Vorbilder aus dem Blues deutlich hörbar werden. My Aphrodisiac Is You verwendet als Einleitung folgende im Blueskontext oft verwendete Klavierfloskel. Die Einleitung des auf dem traditionellen US-amerikanischen Schlaflied Hush Little Baby basierenden Titels Mocking Bird ( Hörbeispiel: , Informationen) erinnert an Aufnahmen von John Lee Hooker oder Blind Willie Walker. Dabei klingt Meluas einen großen Tonumfang in der Höhe abdeckende Sopranstimme selbst im Jazz- und Blueskontext relativ „sauber“ und wirkt in Titeln wie Lilac Wine oder Faraway Voice aus Sicht der Intonation eher klassisch. Noch deutlicher wird der Blueseinfluss bei der Liveaufnahme des Lieds im Film On Stage & Backstage, nicht zuletzt wegen des deutlich verzerrteren Gitarrenspiels von Jim Cregan und des härteren Schlagzeugspiels von Henry Spinetti. Rockmusik Der von Randy Newman geschriebene und vorher von Nina Simone, Joe Cocker, UB40 und Bette Midler aufgenommene Titel I Think It’s Going to Rain Today bewegt sich stilistisch im Bereich von Rockballaden eines Billy Joel oder Elton John. Das folgende Beispiel mit seinen vollgriffigen Akkorden in der Klavierbegleitung zeigt dies deutlich. Folkmusik Der Song Belfast bezieht seinen Reiz nicht aus einem „überproduzierten“ Arrangement, sondern aus einem einfachen, von jedem Anfänger nachspielbaren Gitarrenpicking-Muster und Meluas Stimme. Sehr viel deutlicher wird der Folkeinfluss noch in der Dokumentation On Stage & Backstage, in der Melua den Titel nur von sich selbst an der Gitarre begleitet im näselnden Gesangsstil von Bob Dylan zum Besten gibt. Stilistisch ähnlich konstruiert, dabei aber gesanglich virtuoser gestaltet ist Faraway Voice ( Hörbeispiel: , Informationen). Besetzung Bei der Besetzung für Call Off the Search griff Produzent Batt großteils auf ältere, sehr erfahrene Musiker zurück. Zu erwähnen sind dabei neben Batt (* 1950) am Piano die Gitarristen Jim Cregan (* 1946) und Chris Spedding (* 1944), Schlagzeuger Henry Spinetti (* 1951) sowie Bassist Tim Harris. Alle haben neben ihrer Arbeit als Studiomusiker für diverse Rock- und Popgrößen auch – teils als Mitglieder bekannter Bands – eigene Alben veröffentlicht. Spedding war Mitglied von Family Dogg und arbeitete unter anderem bereits für Elton John, Tom Waits und Roxy Music. Cregan war Mitglied von Family und Cockney Rebel und spielte als Begleitmusiker für Rod Stewart und Cat Stevens. Spinetti spielte in der Band The Herd neben Andy Bown (heute Mitglied von Status Quo) und war Mitglied der Studiobesetzungen für Eric Clapton, Roger Daltrey und Procol Harum. In einem Interview in On Stage & Backstage äußert sich Melua mehrfach mit Hochachtung vor diesen Musikern. Die Verbundenheit mit ihnen zeigt sich zudem darin, dass sie auch für die Produktion des zweiten Albums Piece by Piece verpflichtet wurden. Des Weiteren waren sie bis auf Spedding auch Mitglieder der Liveband bei der Tour zu Call Off the Search, Batt bezeichnet dieses Trio auch gerne als die „three old farts“. Die Band wurde bei einigen Titeln von den Musikern des Irish Film Orchestra unter der Leitung von Alan Smale unterstützt. Dabei sind insbesondere Holz- und Blechbläser zu nennen, die manchen Titeln einen Big-Band-Sound verleihen. Zudem wird die melancholische Stimmung einiger Balladen durch die Untermalung mit Streichinstrumenten verstärkt. Texte Die Texte bewegen sich inhaltlich und von der lyrischen Gestaltung her im einfachen, bei populärer Musik üblichen Rahmen. Dabei werden verbreitet Reimformen wie der Paarreim („word – mockingbird – sing – ring“ im Titel Mockingbird, „night – light – delight“ in Lilac Wine), der Kreuzreim („halt – moon – fault – soon“ beim Song Blame It on the Moon), der Umarmende Reim („Hong Kong – hubble-bubble – double – long“ in My Aphrodisiac Is You) neben freien Formen (Belfast) angewandt. Liebeslieder Die meisten Lieder handeln von der Euphorie, den „Irrungen und Wirrungen“ und Enttäuschungen der Liebe, wie in The Closest Thing to Crazy: In Lilac Wine wird die Liebe mit der Verlockung und berauschenden Wirkung von Wein verglichen: Der Titel Call Off the Search feiert Liebe und Zweierbeziehung als Erlösung und neue Sicht auf das Leben, während Blame It on the Moon einen Verlust von Kraft und Wohlbefinden als Folge der Verliebtheit feststellt: In sexuell deutlicherer Sprache, gepaart mit einem guten Stück Ironie, wird dies zum Beispiel beim Lied Mockingbird Song … … sowie auf My Aphrodisiac Is You thematisiert. Der Titel steht dabei mit seinem eindeutig erotisch, sexuell orientierten Text im Widerspruch zu Meluas eher unschuldigem Auftreten: Der Blues Stereotypen des Blues werden in I Think It’s Going to Rain Today beschworen: Learnin’ the Blues definiert Einsamkeit und Verlusterfahrung in adäquatem musikalischem Gewand als Grundlage des Blues: Das Klischee des hart arbeitenden Menschen, der seine berufliche Sicherheit für die Musik riskiert, verwendet Crawling up a Hill: Persönliches Die beiden von Folkmusik beeinflussten Titel Belfast (Penguins and Cats) und Faraway Voice wenden sich anderen Themen zu. Die von Melua selbst geschriebenen Titel haben einen starken Bezug zu ihrer Kindheit und Jugend. Belfast (Penguins and Cats) bezieht sich inhaltlich auf Meluas Kindheit in Nordirlands Hauptstadt Belfast, die sie als angenehm empfand. Der Zusatz bezieht sich auf den Kampf Nordirlands um die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich, der sich im Kampf zwischen Katholiken (Cats von engl. Catholics, bedeutet wörtlich übersetzt aber auch Katzen) und Protestanten, die wegen ihrer Kleidung an Pinguine (engl. Penguins) erinnern, widerspiegelt: Faraway Voice ist Meluas großem Vorbild, der 1996 verstorbenen Kollegin Eva Cassidy gewidmet, deren Musik erst fünf Jahre nach ihrem Tod erfolgreich war. Special Bonus Edition Die am 25. Oktober 2004 erschienene Special Bonus Edition zum Album, die bis Weihnachten 2004 vertrieben wurde, enthält neben der zur ursprünglichen Veröffentlichung identischen CD eine etwa 70-minütige DVD. Darauf befindet sich neben den Videos zu The Closest Thing to Crazy, Call Off the Search (mit dem entsprechenden Making-of-Film) und Crawling up a Hill der Film On Stage & Backstage. Er zeigt Melua während des letzten Konzerts ihrer UK-Tour in den Fairfield Halls in Croydon. Diese Aufnahmen sind neben anderen auch auf der 2005 erschienenen Live-DVD On the Road Again zu sehen. Daneben gibt es Aufnahmen von Melua während ihrer Tournee abseits der Bühne und bei den Aufnahmen zu ihren Musikvideos sowie Interviews mit ihren Begleitmusikern Jim Cregan, Henry Spinetti und anderen. On the Road Again Neben der Special Bonus Edition veröffentlichte Melua zu Call Off the Search die Box On the Road Again mit zwei DVDs, die Melua bei verschiedenen Konzerten zeigen. Die erste DVD beinhaltet das gesamte Konzert in den Fairfield Halls, das schon in Ausschnitten in On Stage & Backstage zu sehen war. Als Zugabe gab Melua bei diesem Konzert den 1956 von Screamin’ Jay Hawkins komponierten und z. B. von Nina Simone und Creedence Clearwater Revival interpretierten Titel I Put a Spell on You und das Lied Anniversary Song. Während dieses Konzert mit professionellem Equipment aufgezeichnet wurde, ist das Konzert in der Royal Albert Hall auf der zweiten DVD von Studenten mit 100 Camcordern aufgenommen worden. Neben diesen Aufnahmen enthält die zweite DVD noch Ausschnitte von Meluas Auftritt beim 46664-Konzert am 19. März 2005 im südafrikanischen George, bei dem auch Nelson Mandela, der Initiator dieser Konzertreihe zugunsten seiner AIDS-Stiftung, zugegen war. Dort sang Melua  – begleitet von Brian May und Roger Taylor von der Gruppe Queen –  den Titel Too Much Love Will Kill You. Titelverzeichnis Im Folgenden sind die Titelverzeichnisse der ursprünglichen Version von Call Off the Search und der DVD der Special Bonus Edition angegeben. [a] ↑ In den nichtkursiven Klammern sind die Namen der jeweiligen Komponisten angegeben. Die CD zur Special Bonus Edition enthält neben den angegebenen Titeln noch den Kurzfilm Starting Out 2003. In Japan ist zudem eine Version von Call Off the Search erschienen, die einen weiteren Track mit dem Titel Deep Purple (Mitchell Parish, Peter DeRose) beinhaltet. Bei der Schallplattenversion befinden sich die Titel 1 bis 6 auf der A-Seite, die Titel 7 bis 12 auf der B-Seite. Chartplatzierungen Auszeichnungen Preise: Echo 2005 als bester Newcomer international Singleauskopplungen Auszeichnungen für Musikverkäufe Quellen Einzelnachweise Allgemeine Quellen 1. CD Call Off the Search und Booklet dazu 2. Dokumentation On Stage & Backstage auf der Bonus-DVD zum Album 3. DVDs und Coverinformationen von On the Road Again 4. Informationen zu den Coverversionen von allmusic.com Siehe auch Liste der Nummer-eins-Hits in den britischen Charts (2004) Literatur Katie Melua: Call Off The Search PVG. Songbuch für Klavier, Gesang und Gitarre (Musiknoten). Wise Publications, März 2004, ISBN 0-7119-2717-0 Weblinks tunefinder.com: Hörbeispiele chordie.com: Akkorde und Tabulaturen für Gitarre musicroom.com: Klaviertranskriptionen (Sibelius-Scorch-Plug-in wird benötigt) laut.de: CD-Besprechung CDSTARTS.de: CD-Besprechung allmusic.com: [ CD-Besprechung] (englisch) Album (Jazz) Album 2003 Album 2004 Mehrfach-Platin-Album (Deutschland) Mehrfach-Platin-Album (Vereinigtes Königreich) Mehrfach-Platin-Album (Europa) Nummer-eins-Album Katie Melua
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https://de.wikipedia.org/wiki/Luftangriffe%20auf%20Dresden
Luftangriffe auf Dresden
Die Luftangriffe auf Dresden und den Großraum der Stadt im Zweiten Weltkrieg fanden erstmals im Herbst 1944 statt, gefolgt von vier Angriffswellen der Royal Air Force (RAF) und United States Army Air Forces (USAAF) vom 13. bis 15. Februar 1945. Diese forderten zwischen 22.700 und 25.000 Todesopfer, zerstörten große Teile der Innenstadt und der industriellen und militärischen Infrastruktur Dresdens. Sechsstellige Opferzahlen, die die nationalsozialistische Propaganda in Umlauf brachte, wurden durch eine umfassende historisch-empirische Untersuchung widerlegt. Die Angriffe vom Februar 1945 verstärkten die Kritik an der Luftkriegsführung der Westalliierten seit 1942 erheblich, besonders an der britischen Area Bombing Directive. Historiker diskutieren bis heute, ob diese Flächenbombardements als militärisch notwendig und zweckmäßig oder als Kriegsverbrechen zu werten sind. Das jährliche friedliche Gedenken an den 13. Februar 1945 in Dresden wird seit Ende der 1990er-Jahre regelmäßig von Rechtsextremisten für geschichtsrevisionistische Zwecke benutzt. Hintergründe und Ziele Im Herbst und Winter 1944 rückten die Alliierten langsamer als geplant vor. Die deutsche Wehrmacht verhinderte trotz verstreuter eigener Truppen die alliierte Operation Market Garden, den Rhein zu überschreiten. Zum Jahresende folgte die deutsche Ardennenoffensive an der Westfront. Auch der Vormarsch der Roten Armee stockte seit deren Operation Bagration (Sommer 1944) bis zur Weichsel-Oder-Operation (ab Januar 1945). Auch danach hielten die Deutschen weitere zu „Festungen“ ausgebaute Städte östlich der Oder, unter anderen Breslau und Königsberg. Damals bereiteten die Alliierten den Einmarsch ihrer Bodentruppen in die „Festung Deutschland“ zur Entscheidungsschlacht gegen das NS-Regime vor. Die Westalliierten begannen ab Februar 1945 mit verstärkten Luftangriffen zur Eroberung des Ruhrgebiets und nutzten ihre seit März 1944 bestehende Luftüberlegenheit, um zahlreiche deutsche Militär-, Verkehrs-, Verwaltungs- und Regierungseinrichtungen, Produktionsstätten sowie große und kleine deutsche Städte zu bombardieren. Die Rote Armee drang bis Ende Januar 1945 auf der geografischen Breite von Berlin zur Oder vor und stand kurz davor, Schlesien zu erobern. Sie sollte erst bis März auf die für die Schlacht um Berlin notwendige Stärke anwachsen. Von Schlesien flohen Millionen Deutsche vor allem nach Mitteldeutschland. Versprengte Wehrmachteinheiten versuchten, Wiederaufstellungsräume hinter der noch ungefestigten sowjetischen Frontlinie zu erreichen. Seit Sommer 1944 plante das britische RAF Bomber Command einen besonders schweren Vernichtungsschlag (Operation Thunderclap), um den Durchhaltewillen der Deutschen endgültig zu brechen. Doch im Januar 1945 errechnete der britische Geheimdienst, dass die Wehrmacht nochmals bis zu 42 Divisionen an die Ostfront verlegen könnte. Nun wurden die Angriffspläne für die RAF und USAAF modifiziert. Dresden war bereits am 2. Februar 1945 als Ausweichziel für einen schweren Bombenangriff auf Berlin bei dortigem Schlechtwetter vorgesehen. Auf der Konferenz von Jalta vom 4. bis 11. Februar 1945 drängte der sowjetische Generaloberst Alexei Innokentjewitsch Antonow die westlichen Alliierten dazu, wichtige ostdeutsche Verkehrsknotenpunkte zu bombardieren, um weitere deutsche Truppentransporte an die Ostfront zu verhindern und so die Rote Armee von Gegenangriffen zu entlasten und ihr Vorrücken zu erleichtern. Am 7. Februar 1945 legten die alliierten Luftwaffenstäbe einvernehmlich eine östliche Ziellinie für diese Bombardierungen fest. Am 8. Februar sandte US-General Carl A. Spaatz eine neue Zielliste kommender Bombenangriffe der USAAF nach Moskau, auf der die Verkehrszentren Berlin, Leipzig, Dresden und Chemnitz in die zweithöchste Dringlichkeitsstufe nach 21 mitteldeutschen Hydrierwerken eingestuft wurden. Am 12. Februar kündigte Spaatz den USAAF-Angriff auf den Verschiebebahnhof Dresden für den Folgetag, bei Schlechtwetter für den 14. Februar, an. Der nächtliche RAF-Angriff am 13. Februar wurde den Sowjets nicht eigens angekündigt. Dresden im Krieg Dresden hatte vor Kriegsbeginn laut Volkszählung vom 17. Mai 1939 genau 629.713 Einwohner und war damit die siebentgrößte deutsche Stadt. Das Stadtgebiet blieb bis zum August 1944 von Luftangriffen verschont, weil es bis dahin außerhalb der Reichweite und damit der Zielplanungen alliierter Bomber lag. Im Herbst 1944 war Dresden neben Breslau der letzte größere unbeschädigte Verkehrsknotenpunkt, Wirtschafts- und Verwaltungsstandort des Deutschen Reiches. Verkehr Der Eisenbahnknoten Dresden war drittgrößter Bahnumschlagplatz des Deutschen Reichs. Hier kreuzten sich Bahnstrecken nach Berlin, Prag, Breslau, Warschau, Leipzig und Nürnberg. Da Bahnanlagen anderer Städte bereits schwer beschädigt waren, wurde der Bahnverkehr des Raums Leipzig–Berlin–Dresden ab 1944 großenteils über den Güter- und Rangierbahnhof Dresden-Friedrichstadt, den Hauptbahnhof und den Bahnhof Dresden-Neustadt abgewickelt. Zudem versorgten die Anlagen die Industriebetriebe Freitals und Bergbaubetriebe im Erzgebirge sowie die Industriegebiete von Heidenau, Pirna, Radebeul, Coswig, Bautzen und Görlitz. Die großen Industriebetriebe Dresdens waren über den Kohlebahnhof mit dem Alberthafen und dem Güterbahnhof in der Leipziger Vorstadt (Neustadt) verbunden. Dresden war Sitz der Reichsbahndirektion Dresden, die den Eisenbahnbetrieb im größten Teil Sachsens und im nordwestlichen Sudetenland organisierte. Weiterhin betrieb die Deutsche Reichsbahn in Dresden ein Ausbesserungswerk und ein Bahnbetriebswerk. Auf verkehrsarmen Strecken im Umland und in Tunneln wurden Lokomotiven und Waggons aus gefährdeteren Regionen Deutschlands abgestellt. Transporte von Truppen und Material an die Front und von Gefangenen in die Vernichtungslager wurden über Dresden abgewickelt. Aus dem Osten strömten Millionen Flüchtlinge vor allem nach Mitteldeutschland. Als Ende 1944 immer mehr Menschen aus dem Osten flohen, war Dresden, für das ein Zuzugsverbot galt, für sie Durchgangsstation. Industrie Dresdens dicht bebaute Innenstadt bestand hauptsächlich aus Bauten der Renaissance, des Barock und Mischgebieten der Gründerzeit auf mittelalterlichem Grundriss. Damals wurden Industriebetriebe in Hinterhöfen der Wohnbebauung oder als größere Komplexe direkt neben Siedlungen errichtet. Nach den Angaben der Dresdner Industrie- und Handelskammer von 1941 war die Stadt „einer der ersten Industriestandorte des Reiches“. Bis 1944 war die Mehrzahl der Betriebe fast vollständig auf Rüstung umgestellt. Nach Angaben der USAAF waren im Februar 1945 „mindestens 110“ Fabriken und Unternehmen in Dresden ansässig, die „legitime militärische Ziele“ darstellten. 50.000 Arbeiter habe allein die Rüstungsindustrie beschäftigt. Das Hauptstaatsarchiv Dresden zeigt die wirtschaftliche Bedeutung und Produktivität des intakten Großraums: Es nennt 44 Betriebe des Geld-, Bank- und Versicherungswesens, 29 Maschinenbauwerke, 13 auf Elektrotechnik und Gerätebau spezialisierte Industriebetriebe, 12 Betriebe der Lebens- und Genussmittelindustrie, vorwiegend der Zigarettenindustrie, 6 feinmechanische und optische Industriebetriebe sowie weitere Werke, die bis dahin weitgehend auf die Kriegswirtschaft umgestellt und unzerstört waren. Als militärisch bedeutsam werden außerdem besonders nach lokalen Quellen folgende Betriebe genannt: Chemische Industrie in Niedersedlitz Optische Werke, vor allem Zeiss Ikon im Stadtzentrum und in Reick Stahlbau Kelle & Hildebrandt in Großluga Fabrik für Transformatoren und Röntgengeräte Koch & Sterzel in Mickten Schaltanlagen- und Apparatebau Gebrüder Bäßler Funktechnik von Radio-Mende Das Sachsenwerk, Avus und MIAG produzierten Maschinenteile in Niedersedlitz; das Panzerwerk MIAG-Mühlenbau (ehemals Mühlenbau Gebr. Seck) befand sich im damaligen Zschachwitzer Ortsteil Sporbitz. Betriebe in Dresden-Löbtau und im südlichen Umland (Erzgebirge) stellten Handgranaten her. Die Rüstungsfabrik Universelle-Werke J. C. Müller & Co. produzierte in der Südvorstadt (Zwickauer Straße, Florastraße) mit Kriegsgefangenen, die auf dem Gelände des MIAG-Mühlenbaus in Leuben und in mehreren weiteren Lagern interniert waren. Die Industrie Dresdens war mit Zwangsarbeitern aus über die gesamte Stadt verteilten Lagern versorgt. Bisher weiß man von zehn Außenstellen der Konzentrationslager Flossenbürg, Auschwitz-Birkenau und anderer in der Stadt. Seit Ende 1944 wurden nochmals weitere 5000 KZ-Häftlinge nach Dresden transportiert, darunter etwa 2000 Juden. Sie wurden bis zu den Angriffen zusammen mit Dresdner Juden in überfüllten „Judenhäusern“ untergebracht und etwa in den Rüstungsbetrieben Goehle-Werke, bei der Osram GmbH, Bernsdorf und Co. und beim Reichsbahnausbesserungswerk zur Arbeit gezwungen (siehe Vernichtung durch Arbeit). Militär Dresden war im Februar 1945 die letzte intakte Garnisonsstadt im Rücken der Ostfront. Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Albertstadt als Militärbezirk am nördlichen Stadtrand errichtet. Sie umfasste weitläufige Kasernenkomplexe und Versorgungseinrichtungen mit Gleisanschluss und eigenem Bahnhof, Speichern, Verladerampen, Heeresbäckerei, Metallverarbeitungs- und Handwerksbetrieben wie Sattlerei und Schneiderei. Zudem war sie mit Exerzierplätzen, Kanonenschussbahnen, einer Kirche und der Offizierschule des Heeres versorgt. Auch in Mickten sowie in Johannstadt wurden Kasernen errichtet bzw. ausgebaut. In Dresden waren ab 1921 Einheiten der Reichswehr stationiert. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde auch die Stadt bis 1939 nochmals militärisch ausgebaut und erhielt das Wehrbereichskommando. 1935 wurde der Fliegerhorst 38/III Dresden-Klotzsche gebaut, zwischen den damals noch nicht nach Dresden eingemeindeten Gemarkungen Klotzsche und Weixdorf (heute: Flughafen Dresden). Als erste im Deutschen Reich nahm 1936 die Luftkriegsschule Klotzsche (LKS 1) an der Hermann-Göring-Straße (heute Zur Wetterwarte) ihren Betrieb in 60 Gebäuden auf. Ab 1940 wurde der Flugplatz ausschließlich militärisch genutzt. Das Luftgaukommando IV wurde in Dresden-Strehlen am Rand der Innenstadt errichtet. Bei Nickern im Süden der Stadt entstand 1939/40 ein weiterer ausgedehnter Kasernenkomplex der Luftwaffe. Zudem standen 1939 etwa 20.000 Mann des IV. Wehrbereichs (Armeekorps) der 6. Armee in Dresden. Im Kriegsverlauf wurden die meisten regulären Truppenteile an die Front verlegt. So wurde im Dezember 1944 und Januar 1945 auch die leichte und schwere Flak aus Dresden in das Ruhrgebiet und nach Schlesien abgezogen. Zum Schutz der beiden Hydrierwerke Maltheuern (Sudetenländische Treibstoffwerke) und Ruhland verblieben jedoch insgesamt 252 Flakgeschütze. Alliierte Piloten berichteten von Flakbeschuss beim Anflug auf Dresden. Die Kasernen wurden meist mit auszubildenden Ersatztruppen wieder aufgefüllt. Die Garnisonsstadt wurde zu einer Lazarett- und Versorgungsstadt. Auch die bekannten Ballhäuser, Gaststätten und Elbdampfer wurden zu Lazaretten und Lagern umfunktioniert. Verteidigungs- und Festungsbereich Im November 1944 wurden daher auch in Dresden zehn Bataillone des Volkssturms für den erwarteten Kampf gegen die Rote Armee rekrutiert und vereidigt, darunter Einheiten zum Schanzenbau, Panzerjagdkommandos, Nachrichteneinheiten, Transportbataillone aus sämtlichen Dresdner LKWs samt Fahrern. Einige davon wurden im Januar an die Ostfront abkommandiert. Der Großteil von etwa 20.000 Mann, darunter auch Hitlerjugend, blieb jedoch in Dresden kaserniert. Diese hastig zusammengewürfelten Einheiten wurden auch in Schulen wie Heereseinheiten ausgebildet, konnten aber aufgrund der vorrangigen Versorgung von Wehrmacht, SS und Polizei nicht mehr ausreichend bewaffnet und ausgerüstet werden und wurden daher zum Stellungsbau eingesetzt. Die militärische Führung und verantwortliche Gauleitungen wollten die Elbe von Hamburg bis Prag zur letzten deutschen Verteidigungslinie gegen den Vormarsch der Roten Armee machen. Die flussnahen Städte sollten zu Festungen ausgebaut und vom Volkssturm verteidigt werden. Den vorerst geheimen Befehl zur Errichtung des Verteidigungsbereichs Dresden-Riesa gab Generaloberst Heinz Guderian bereits am 1. Dezember 1944. Rund um die Stadt sollten Panzersperren, Panzergräben, Schützengräben, Artilleriestellungen und Minenfelder angelegt werden. Die Behörden in der Stadt wurden dazu dem Befehl des Korpsstabes unterstellt. Martin Mutschmann, Gauleiter und Reichsstatthalter von Sachsen, freute sich Weihnachten 1944, sein „Volk wieder im Angriff zu sehen“. Ab Januar 1945 begann der Ausbau Dresdens zum Festungsbereich. Von internen Zweifeln am militärischen Sinn dieser Maßnahmen erfuhr die Bevölkerung nichts. Der Zeitzeuge Victor Klemperer notierte damals, die „immer neue Erfindungskraft“ des NS-Regimes zum Fortsetzen des Krieges mache ihm dessen „Niederlage nicht mehr so gewiss“. Nach den ersten Luftangriffen häuften sich seit Januar 1945 die Ersatzanfragen von den Fronten. Mehrere wurden abgelehnt, unter anderem die Anfrage des Kommandeurs der vor der Stadt kämpfenden 4. Panzerarmee, Fritz-Hubert Gräser. Daher behielt die Garnison Dresden bis zum Mai eine beachtliche Truppenstärke, die vor allem aus Truppen der Division 404, der Waffen-SS, der Luftwaffe, der schlecht ausgerüsteten Flakersatzabteilung und der Kriegsmarine (in Tharandt und Ottendorf-Okrilla) bestand. Die militärischen Polizeitruppen rückten jedoch im März zur Ostfront. Luftschutz Seit 1935 war der Luftschutz im ganzen Deutschen Reich vorbereitet worden. Die Gauhauptstadt Dresden galt als „überaus gefährdet“. 1940 wurde auch in Dresden der Propagandafilm Feuertaufe gezeigt, der aber nach SS-Berichten angesichts der durch deutsche Luftangriffe zerstörten Stadt Warschau bei den Zuschauern „keine heroisch stolze, sondern eine bedrückende, verängstigte Stimmung über die ‚Schrecken des Krieges‘“ auslöste. Seit Oktober 1940 wurden Luftschutzräume im ganzen Deutschen Reich für „Arier“ reserviert; Juden mussten davon getrennte und weniger geschützte Räume aufsuchen. Spätestens seit 1943/44 war die Bedrohung Dresdens abzusehen, als nur 100 km entfernt mehrere Luftangriffe auf Leipzig erfolgten. Damalige Briefe und Tagebucheinträge zeigen, dass die Dresdner nun täglich Bombenangriffe erwarteten und sich mit der Angst im Alltag einrichteten. Ab Ende 1943 ließ das neu gegründete Dresdner Bauamt für Luftschutz in den Kellern von Reihenhäusern Mauerdurchbrüche zu Nachbarhäusern und Straßentunnel mit Aufgängen als Fluchtwege einrichten, Dachbalken imprägnieren, Löschwasserzisternen anlegen und Auffangräume bereitstellen und kennzeichnen. Luftschutzbunker wurden in Dresden jedoch kaum gebaut, da die Behörden unter Gauleiter Martin Mutschmann der Kriegswirtschaft Vorrang vor dem Schutz der Bevölkerung gaben. Jedoch ließ sich Mutschmann einen besonders aufwändigen Bunker unter seine Villa bauen. Ihm Untergebene berichteten das an Heinrich Himmler und es floss in kritische Berichte des SD ein. Zuzug wurde verboten, Durchreisende und Flüchtlinge durften höchstens eine Nacht in der Stadt bleiben. Beides wurde streng durchgesetzt. Ab 1944 wurden Kinder aus Dresden mit der Kinderlandverschickung in Sicherheit gebracht. Die Innenstadtbewohner wurden aufgerufen, in Quartieren am Stadtrand zu übernachten. Auch Industrie und Verwaltung bereiteten sich auf Luftangriffe vor, deren Zerstörungsausmaß durch die Erfahrungen in anderen Städten abschätzbar war. Am 13. Oktober 1944 ließ Mutschmann anlässlich der Trauerfeier für die Toten nach dem Angriff vom 7. Oktober in einer Dresdner Zeitung verlauten: Dies war die einzige Pressemitteilung über den ersten Luftangriff auf Dresden. Die einzelnen Luftangriffe Seit 1944 gab es in zunehmender Häufigkeit Voralarm und Luftalarm in Dresden. 24. August 1944 Es erfolgte ein erster Bombenangriff der 8th Air Force der USAAF mit 65 B-17 „Flying Fortress“ auf die Industrie in Freital (Mineralölwerk der Rhenania-Ossag in Birkigt), das Industriegelände Gittersee und Wohnanlagen. Eine Bombe fiel auf Coschütz. Bei dem Angriff starben 241 Menschen. 7. Oktober 1944 Insgesamt 29 B-17 der 303rd Bombardment Group (Beiname „Hell’s Angels“) der 41st Bombardment Wing der USAAF griffen als Ersatz für das wolkenbedeckte Primärziel Brüx das für das ganze Geschwader vorgesehene Ausweichziel Dresden an. Mit 72,5 Tonnen Bomben, etwa 290 Sprengbomben zu je 500 Pfund, trafen sie hauptsächlich den Innenstadtbereich um den Bahnhof Dresden-Friedrichstadt und das Industriegebiet nördlich davon, darunter die damals zur Rüstungsgüterproduktion verwendete Fabrik Seidel & Naumann sowie den Alberthafen. Insgesamt wurden 270 Todesopfer registriert. 16. Januar 1945 Die 8th Air Force bombardierte aus 133 viermotorigen B-24 „Liberator“ mit 279,8 Tonnen Sprengbomben und 41,6 Tonnen Brandbomben tagsüber als Sekundärziel erneut den Bahnhof Friedrichstadt. Auch Cotta, Löbtau und Leutewitz wurden getroffen. Der Angriff forderte 334 Tote. Die Angriffe schwächten auch die Luftabwehr. Auf dem Militärflugplatz Klotzsche standen danach nur noch 30 einsatzfähige Jagdflugzeuge und Nachtjäger bereit, allerdings fast ohne Treibstoffreserven. Trotzdem wurde die Flak noch im selben Monat an die Ostfront verlegt. Seitdem Air Marshal Arthur Harris 1942 Oberbefehlshaber des britischen „Bomber Command“ geworden war, wechselten Nachtangriffe der RAF und Tagesangriffe der USAAF einander ab. Harris gab den Angriffsbefehl zu den folgenden schweren Bombardierungen Dresdens mit dem Codewort „Chevin“. Nachtangriff am 13. Februar 1945 Sechs britische Bomberstaffeln flogen am 13. Februar 1945 gegen 17.30 Uhr von ihren Basen in Ostengland über zwei Routen in das Reichsgebiet ein. Hinter der Westfront flogen Begleitjäger zur Irreführung der deutschen Luftabwehr andere Routen. Am Faschingsdienstag, 13. Februar 1945, um 21:45 Uhr wurde in Dresden der 175. Fliegeralarm ausgelöst. Die Menschen begaben sich in die Keller ihrer Häuser oder Wohnblocks und die wenigen vorhandenen Luftschutzbunker. Die Angriffe begannen in einer ersten Welle bei aufgeklartem wolkenlosem Nachthimmel. Um 22:03 Uhr wurde die Innenstadt von Lancaster-Bombern des No. 83 Squadron, einer „Pfadfinder“-Einheit, mit Magnesium-Lichtkaskaden („Christbäumen“) ausgeleuchtet, zwei Minuten darauf warfen neun britische Mosquitos rote Zielmarkierungen auf das gut sichtbare Stadion am Ostragehege nordwestlich des Stadtkerns. Von 22:13 bis 22:28 Uhr fielen die ersten Bomben. 244 britische Lancaster-Bomber der No. 5 Bomber Group zerstörten die Gebäude mit 529 Luftminen und 1800 Spreng- und Brandbomben mit insgesamt 900 Tonnen Gewicht. Sie gingen südwestlich des Zielpunktes in einem 45-Grad-Fächer zwischen der großen Elbschleife im Westen der Stadt, dem industriell bebauten Ostragehege (heute Messegelände) und dem etwa 2,5 km Luftlinie entfernten Hauptbahnhof nieder. In diesen 15 Minuten wurden drei Viertel der Dresdner Altstadt in Brand gesetzt. Gezielte Treffer einzelner Gebäude waren bei diesen Nachtangriffen der RAF weder beabsichtigt noch möglich. Vielmehr sollte ein Bombenteppich die gesamte Innenstadt großflächig zerstören. Die Flammen der brennenden Innenstadt nach der ersten Angriffswelle waren im weiten Umkreis am Himmel zu sehen. Manche Brände loderten noch vier Tage lang. Nachtangriff vom 13. zum 14. Februar 1945 Um 1:23 Uhr begann die zweite Angriffswelle mit 529 britischen Lancaster-Bombern der Gruppen No. 1, No. 3 und No. 8 der Royal Air Force sowie der Gruppe No. 6 der kanadischen Luftwaffe. Sie warfen bis 1:54 Uhr insgesamt 458 Minenbomben, 977 hochbrisante Sprengbomben und 443.000 (650.000) Stabbrandbomben ab, das entsprach 965 Tonnen Spreng- und 891 Tonnen Brandbomben. Betroffen war die Region von Löbtau bis Blasewitz und von der Neustadt bis Zschertnitz: erneut das Gebiet des ersten Angriffs, dazu die westliche Johannstadt, die Südvorstadt, der Hauptbahnhof, die Friedrichstadt, Löbtau, Blasewitz, Striesen, Strehlen, Gruna, Plauen, Räcknitz, Zschertnitz, Reick, Loschwitz und die Antonstadt. Die von der ersten Angriffswelle verursachten Brände dienten nach Augenzeugenberichten britischer Fliegerbesatzungen zur Orientierung für die nachfolgenden Bomber. Ihre Bomben trafen auch die Elbwiesen und den Großen Garten, wohin viele Dresdner nach der ersten Welle geflüchtet waren. Die Frauenklinik Pfotenhauerstraße des Stadtkrankenhauses Dresden-Johannstadt und die Diakonissenanstalt in der Neustadt wurden schwer beschädigt. Beide Bombardements betrafen ein Stadtgebiet von etwa 15 Quadratkilometern. Die zweite Angriffswelle zerstörte die Technik der ausgerückten Feuerschutzpolizei und verhinderte weitere Löschaktionen, sodass sich die zahlreichen Einzelfeuer rasch zu einem orkanartigen Feuersturm vereinten. Dieser zerstörte ganze Straßenzüge. In der extremen Hitze schmolzen Glas und Metall. Der starke Luftsog wirbelte größere Gegenstände und Menschen umher oder zog sie ins Feuer hinein. Sie verbrannten, starben durch Hitzeschock und Luftdruck oder erstickten in den Luftschutzkellern an Brandgasen. Wer sich ins Freie retten konnte, war auch dort dem Feuersturm und detonierenden Bomben ausgesetzt. Tagesangriff am 14. Februar 1945 Von 12:17 bis 12:31 Uhr flogen 311 B-17 und 200 Begleitjäger des Typs P-51 „Mustang“ der 8th Air Force einen Angriff auf die noch brennende Stadt. Die Bevölkerung konnte wegen ausgefallener Großalarmanlage und sonstiger Nachrichtenmittel nicht gewarnt werden. Die B-17 warfen bei wolken- und rußbedecktem Himmel über Dresden nach Zielradar 1.800 Spreng- und Minenbomben (474,5 t) und 136.800 Stabbrandbomben (296,5 t) ab. Ihre Angriffsziele waren einige Rüstungsbetriebe und erneut der Bahnhof und das Reichsbahnausbesserungswerk Dresden in Friedrichstadt. Getroffen wurden auch das dortige Krankenhaus und umliegende Stadtteile. Wegen einer Wetterfront wichen zwei Bombergruppen etwa 100 km südwestlich vom Kurs ab und bombardierten nach Ausfall des Anflugradars einen Ortsteil von Prag im Glauben, es sei Dresden. Im etwa 35 km entfernten Neustadt in Sachsen ging am 14. Februar ein von den Nachtangriffen verursachter Ascheregen nieder. Am 15. Februar stürzte die ausgebrannte Frauenkirche etwa um 10:15 Uhr ein. 15. Februar 1945 Es folgte von 11:51 bis 12:01 Uhr ein weiterer amerikanischer Tagesangriff von 211 B-17 und 141 P-51. Deren Primärziel war eigentlich das Hydrierwerk Böhlen, dort war der Himmel bedeckt. Dresden war das vorgegebene Ausweichziel, das damit den vierten Bombenangriff innerhalb von 40 Stunden erlebte. Bei schlechter Sicht wurden von 11.51 bis 12.00 Uhr 460 Tonnen Bomben (3.700 Sprengbomben) verstreut abgeworfen. Trefferschwerpunkte waren der Münchener Platz, Loschwitz, Plauen und Waldschlösschenviertel. Weiträumig betroffen war das Gebiet zwischen Meißen und Pirna. 2. März 1945 Insgesamt 406 B-17 und Hunderte Begleitjäger vom Typ P-51 der 8th Air Force flogen zunächst das Hydrierwerk Schwarzheide an, wichen dann aber wegen der Witterungsbedingungen auf das geplante Ersatzziel Dresden aus. Ab 10:27 Uhr fielen 853 Tonnen hochbrisante Sprengbomben und 127 Tonnen Brandbomben, nebst Flugblättern, unkonzentriert auf das wolkenverhangene Stadtgebiet Dresden. Trefferschwerpunkte waren: Mickten/Übigau, Altstadt/Neustadt Umgebung Marienbrücke, Waldschlößchen, Tolkewitz,/Laubegast, Hosterwitz, Loschwitz, Lazarettschiff „Leipzig“. Die vorgesehenen Verschiebebahnhöfe wurden nicht getroffen, die Wohngebiete mittelschwer, Brücken und Industrieanlagen leicht. Ein Teil der Bombenlast fiel auch in unbebaute Gebiete, so in die Elbe. Die „Verzettelung“ des geplanten Angriffs wurde teilweise durch die deutsche Jagdabwehr hervorgerufen, besonders durch die schnellen Düsenjäger Me 262. Acht B-17 gingen verloren. Dieser vierte Angriff auf Dresden war der bisher schwerste, den die USAAF auf die Stadt geflogen hatten. „Dokumente über die Personenverluste liegen nicht vor“. 17. April 1945 Die 8th Air Force der USAAF flog mit 572 (590) B-17 und Hunderten P-51 einen letzten Großangriff auf Dresden – dieses Mal als Primärziel. Von 13:48 bis 15:12 Uhr warfen sie als „Teppiche“ 1.385 Tonnen Sprengbomben und 150 Tonnen Brandbomben ab. Laut Kriegstagebuch der 8th Air Force wurden insgesamt 1.731 Tonnen Bomben abgeworfen. Es entstanden schwerste Schäden, auch in Stadtvierteln und an Gebäuden (Hauptbahnhof), die von früheren Angriffen her schon überwiegend Ruinen waren. Erst mit diesem Angriff wurde der militärisch und zivil wichtige Bahnverkehr durch Dresden wirksam unterbrochen. Trefferschwerpunkte waren: der Rangierbahnhof Friedrichstadt, der Elbhafenbahnhof Pieschen, der Güterbahnhof Altstadt, der Hauptbahnhof, der Neustädter Bahnhof, Löbtau, Plauen und Übigau. In den Wohngebieten wurden auch die Stadtkrankenhäuser Löbtau und Friedrichstadt getroffen. „Auch diesmal erleidet die Bevölkerung schmerzliche Verluste“. Mindestens 450 Tote werden angegeben Alleine auf dem Neuen Annenfriedhof ruhen Hunderte von ihnen, besonders aus dem Ortszentrum von Löbtau. Flak und Me 262 gelang es, acht schwere Bomber abzuschießen. Die eigenen Verluste der Luftwaffe waren massiv, besonders am Boden – wo die Jagdflugzeuge aus Treibstoffmangel standen. Folgen Für die Bevölkerung Nach Zeugenaussagen konnten einige Menschen durch Mauerdurchbrüche in den Kellern geschlossener Häuserzeilen in unversehrte Häuser und Stadtteile fliehen, andere fanden durch die Gewölbe unterhalb der Altstadt ins Freie auf die Elbwiesen. Etwa 1000 Menschen überlebten den Angriff in der Annenkirche. Viele erstickten auf der Flucht an Brandgasen. Die häufige Angabe „erstickt“ in damaligen Totenscheinen wies auch auf mangelnde Luftschutzräume und fehlende Belüftung hin. Familien wurden im Chaos auseinandergerissen. Überlebende, die in Bunkern und Kellern ausgeharrt oder den Weg ins Freie gefunden hatten, wurden traumatisiert. Tausende Menschen flohen noch während der ersten Angriffswelle in weniger betroffene Stadtteile wie beispielsweise Mockritz, Leuben, Blasewitz, Pieschen, Löbtau oder in das Umland. Da die Bomben auch das Zentralgebäude der Gestapo zerstörten, konnte diese die vom 14. bis 16. Februar angesetzte Deportation der letzten 198 Juden aus dem Regierungsbezirk Dresden nicht planmäßig durchführen. Etwa 40 Juden starben im Dresdner „Judenhaus“ durch Bomben, während andere trotz Nutzungsverbots in Luftschutzräumen überlebten. Sie mussten jedoch in den Folgetagen aus der Stadt fliehen, da die Gestapo weiter nach ihnen suchte. Etwa 70 Dresdner Juden entkamen so dem Holocaust. Darunter waren Henny Brenner, der später berühmte Puppenspieler Josef Skupa und der Literaturwissenschaftler Victor Klemperer, der damals in sein Tagebuch schrieb: Ab dem 15. Februar organisierte Theodor Ellgering, Leiter des Interministeriellen Ausschusses für Luftkriegsschäden, nach Eigenbericht Auffangstellen für obdachlose Flüchtlinge, ihre Versorgung mit Nahrungstransporten und die Bergung der Toten. Er ließ zerstörte Stadtteile teilweise mit Straßensperren aus Trümmersteinen abriegeln. In den folgenden Tagen wurden die Leichen in der Stadt mit Lastwagen oder Handkarren eingesammelt, zu öffentlichen Plätzen zur Identifizierung gebracht und dort zu Tausenden gestapelt. Es handelte sich überwiegend um Frauen und Kinder. Aus Furcht vor Seuchen wurden am 25. Februar 6865 Leichen auf dem Altmarkt, weitere im Krematorium Tolkewitz verbrannt. Bis zum 30. April wurden auf dem Heidefriedhof rund 10.430 Tote und die Asche der auf dem Altmarkt verbrannten Leichen bestattet, weitere Tote auf dem Johannisfriedhof und dem damaligen Standortfriedhof. Öffentliche Gebäude, etwa NSDAP-Stellen, Gasthöfe und Schulen, dienten als provisorische Notaufnahmen für Obdachlose. Allein in den fünf Auffangstellen des Dresdner Ortsteils Plauen wurden bis Mitte März 16.000 Flüchtlinge registriert. Die Behörden schickten viele der Ausgebombten in das Umland. Im Stadtzentrum, Bezirk IV, wurden im März noch 4000 Einwohner festgestellt. Der nördliche Teil Striesens musste tausende Flüchtlinge aufnehmen. Trotz der Öffnung der Nahrungsmitteldepots wurden die Nahrungsmittel bald knapp, und selbst Lebensmittelkarten konnten nicht mehr gedruckt werden. Mitte April wurde die Verpflegung der Ausgebombten durch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt schließlich eingestellt. „Volksgenossen ohne eigene Kochgelegenheit“ wurden laut Bezirksverwaltung am 10. April 1945 auf die gemeinsame Benutzung vorhandener „Kochstellen“ verwiesen. Die NS-Behörden waren arbeitsunfähig, als Auffangstellen umfunktioniert oder ausgebrannt. Viele Beamte waren geflüchtet oder umgekommen. Die Stadt war laut Mutschmann nicht mehr in der Lage, „ihre laufenden Verwaltungsarbeiten durchzuführen“. Wegen Personalmangels wurden Beamte aus ganz Sachsen verpflichtet. Für das Stadtgebiet Die Altstadt brannte zu einem großen Teil aus. Außer Ruinen blieben nur einige wenige Gebäude schwer beschädigt erhalten. Die Seevorstadt, Johannstadt und die östliche Südvorstadt waren weitgehend abgebrannt oder zertrümmert. Auch die alten Ortskerne und historischen Bauten von Striesen und Gruna waren weitgehend zerstört. Hinzu kamen schwere Schäden in Reick, Friedrichstadt, Plauen, Zschertnitz, der Inneren Neustadt sowie Brände in Prohlis. Zwischen Schandauer Straße und Bodenbacher Straße wurden fast 800 Häuser mit rund 7000 Wohnungen, Fabriken und Werkstätten vollständig zerstört. Schäden an einzelnen Häuserzeilen gab es im Hechtviertel, in Pieschen, Niedersedlitz und der Albertstadt. Die dicht besiedelte Äußere Neustadt blieb weitgehend verschont. Die Bombenangriffe zerstörten viele Kulturdenkmäler des spätbarocken „Florenz an der Elbe“, darunter Semperoper, Frauenkirche, Residenzschloss, Sophienkirche und Zwinger. Die Baubehörden der DDR ließen viele ausgebrannte Gebäude abreißen (darunter: Sophienkirche, Albert-Theater, Palais der Sekundogenitur), andere Ruinen oder Trümmerhaufen als „Mahnmal“ erhalten (Frauenkirche, Kurländer Palais) und verstärkten so noch den Eindruck einer fast völligen Zerstörung des Stadtkerns. Obwohl die Nachtangriffe der RAF nicht direkt auf die Dresdner Rüstungsindustrie zielten, zerstörten sie 23 Prozent der Dresdner Industriebetriebe und beschädigten viele Versorgungseinrichtungen wie Gas-, Wasser- und Kraftwerke. Auch die folgenden Tagesangriffe der USAAF waren wegen der schlechten Sicht sehr ungenau. In den Wohngebieten wurden bis Mai 1945 60.000 bis 75.000 von insgesamt 222.000 Wohnungen mitsamt Hausrat und Kleidung völlig zerstört, weitere 18.000 Wohnungen schwer und 81.000 leicht beschädigt. 30 Prozent der Einzelhandelsbetriebe waren funktionsuntüchtig, darunter drei Kaufhäuser der Altstadt und die Markthallen Weißeritzstraße, Antonsplatz und die Neustädter Markthalle, in denen sich der Handel mit Obst und Gemüse damals konzentrierte. Der Straßenverkehr war nach dem 13. Februar zunächst vollständig blockiert. Die Oberleitungen der Straßenbahn waren zu 75 Prozent zerstört, Straßen verschüttet oder mit Bombentrichtern übersät; das Bauamt zählte 1100 davon. Alle Elbbrücken im Stadtgebiet waren beschädigt. Das Zentrum war als Verkehrsknotenpunkt unpassierbar geworden. Arbeitsstellen und Behörden mussten zu Fuß meist durch die Trümmerwüste der Altstadt erreicht werden. Der Eisenbahnverkehr wurde jedoch nach zwei Wochen behelfsmäßig wieder in Betrieb genommen. Truppentransporte fuhren sogar schon nach wenigen Tagen wieder, da die Fernstrecken durch Dresden bis zur Bombardierung am 2. März 1945 nahezu unversehrt blieben. Die meisten Betriebe mussten ihre Produktion einstellen. Sie waren beschädigt oder zerstört, ihre Arbeiter waren umgekommen, ausgebombt oder konnten die Betriebe nicht erreichen. Nach einer „Schlussmeldung“ des SS- und Polizeiführers Elbe vom 15. März 1945 konnten nur noch sechs Betriebe ihre Produktion mit unbestimmter Menge fortsetzen. Der „Städtische Vieh- und Schlachthof“ im Ostragehege nahm den Betrieb am 19. Februar, die Brotfabrik und Großfleischerei Rosenstraße Ende März behelfsmäßig wieder auf. Für die Alliierten Unter den Westalliierten war das area bombing der RAF in den letzten Kriegsmonaten 1945 umstritten. Besonders nach den Februarangriffen auf Dresden drängte die US-Militärführung die Briten dazu, diese Taktik aufzugeben. Doch die RAF war überwiegend für Flächenbombardements ausgerüstet und ausgebildet. Am 28. März 1945 erwog Winston Churchill, den Luftkrieg gegen deutsche Städte einzustellen, und distanzierte sich in einem Telegrammentwurf an General Ismay und die britischen Chiefs of Staff und Chief of the Air Staff von dessen Ausrichtung: Gesendet wurde am 1. April 1945 jedoch eine Fassung, die vor allem betonte, dass weitere Zerstörungen von Wohnräumen und ähnlichem alliierten Interessen nach dem Krieg entgegen stünden. Am Folgetag schätzte Arthur Harris die Wirkung in einem Schreiben an das Air Ministry so ein: Dass Harris – anders als andere führende Militärs – nach dem Krieg in Großbritannien keine staatliche Ehrung erhielt und erst spät in den Adelsstand erhoben wurde, gilt manchen als Hinweis auf eine Distanzierung Winston Churchills von seinem „Bomber“, obgleich Churchill ursprünglich selbst die Entscheidung zum area bombing getroffen hatte. Seit August 1944 hatten die Westalliierten ca. 10 Millionen Kriegsflugblätter über Dresden abgeworfen, mit denen sie die Bevölkerung zum Aufgeben aufriefen. Am 23. April warf die RAF nochmals 40.000 Flugblätter über dem von der Front umgangenen Dresden ab. Für die Kriegführung der Nationalsozialisten Werner von Gilsa übernahm nach den Februarangriffen als Nachfolger von Friedrich-Wilhelm Liegmann das Kommando über den Festungsbereich Dresden. Sein Stab befand sich vorerst noch im Taschenbergpalais (Altstadt), anschließend in der Albertstadt. Er ließ die Lebensmittellager öffnen und stellte den Bombenflüchtlingen die Luftwaffensanitätseinheit in Nickern zur Verfügung. Andere Truppenteile und Durchreisende ließ er abfangen und abkommandieren. Beurlaubte und sogar Leichtverletzte wurden zu neuen Truppen zusammengestellt. Das NS-Regime hoffte, die Anti-Hitler-Koalition könnte im letzten Moment zerfallen, und erteilte deshalb für die Elblinie den Befehl: Halten bis zum Letzten! Am 10. April befahl Gauleiter Martin Mutschmann auch Schülern, Stellungen zu bauen. Auf der Brühlschen Terrasse wurden Geschütze aufgestellt. Luftbilder der USAAF bestätigen den Fortschritt beim Bau der Verteidigungsanlagen. Am 14. April erklärte Mutschmann Dresden offiziell zur „Festung“, gab die Devise aus „Die Stadt wird mit allen Mitteln und bis zum letzten verteidigt“ und startete einen Aufruf an die Bevölkerung „Der Feind bedroht unsere Heimat – Kampf bis zum Letzten“. Erst nach Kapitulation der Berliner Wehrmachteinheiten am 2. Mai löste Gilsa den „Verteidigungsbereich Dresden“ auf und befahl seine Räumung. Dennoch „verteidigten“ versprengte Gruppen die zerstörte Stadt bis zum Inkrafttreten der bedingungslosen Gesamtkapitulation am 8. Mai 1945. Erst an diesem letzten Kriegstag nahm die Rote Armee das Stadtgebiet vollständig ein. Begräbnisstätten und Denkmale (Auswahl) Neben den 31 Friedhöfen, die im Dresdner Stadtgebiet von 1945 lagen, wurden auch auf den 17 Friedhöfen, die damals nicht zu Dresden gehörten, jedoch heute nach Eingemeindungen auf Dresdner Stadtgebiet liegen, Bestattungen der Toten der Luftangriffe des Februar 1945 vorgenommen. Anfragen der eingesetzten Historikerkommission ab 2005 zu Beisetzungen auf Friedhöfen im Dresdner Umland (u. a. Pirna, Meißen, Heidenau, Radeberg als die bekanntesten Städte) folgten: In Verfolg ihres Auftrages recherchierte die Kommission deutschlandweit insgesamt 130 Begräbnisstätten, auf denen Luftkriegsopfer der Angriffe des 13.–15. Februar 1945 auf Dresden beigesetzt wurden. Auf Dresdner Friedhöfen wurden natürlich auch die Toten der Bombenangriffe im Oktober 1944, sowie im Januar, März und April 1945 bestattet. Die folgende Galerie zeigt eine Auswahl des Gedenkens auf den jeweiligen Friedhöfen. Rezeption NS-Propaganda Das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unter Joseph Goebbels benutzte die Angriffe für nationalsozialistische Propaganda: In der Inlandspropaganda ging es dabei vor allem darum, die negativen Auswirkungen der Zerstörungen auf die Bevölkerung aufzufangen. In der Auslandspropaganda sollte generell der alliierte Bombenkrieg als lange vorbereiteter und planmäßiger Vernichtungsfeldzug dargestellt werden, wofür auch vorgeprägte und verbindliche Sprachregelungen (z. B. Bomber Harris) zum Einsatz kommen sollten. Im Verlauf des 15. Februar 1945 erarbeitete das NS-Propagandaministerium einen ausführlichen Kommentar zur Zerstörung Dresdens, der noch am Nachmittag des gleichen Tages über das Deutsche Nachrichtenbüro (DNB) in alle Welt verbreitet und in den Sendungen der fremdsprachigen Rundfunkpropaganda gesendet wurde. Im Mittelpunkt der Schilderungen stand „die Zerstörung der Kunststadt Dresden“, „einem Wallfahrtsort für alle Kunstliebhaber“, in der „hunderte Engländer der gebildeten Schicht“ ausgebildet worden waren oder „in den ausgezeichneten Sanatorien“ Heilung gefunden hätten. Trotzdem sei, so die NS-Propagandisten, die Stadt, „die nicht nur zu den Juwelen Deutschlands, sondern Europas gezählt wird“, gerade von den Engländern und Amerikanern zerstört worden. Der DNB-Kommentar behauptete weiter, Dresdens Industrie sei unbedeutend für den Krieg, die militärisch wichtigen Bahnanlagen befänden sich nicht im Zentrum, auch habe der Brandbombeneinsatz – anders als in britischen Medien behauptet (und so auch am 14. Februar 1945 verbreitet) – nicht Eisenbahnanlagen gegolten, die man damit nicht zerstören könne, sondern dass Baudenkmale und Wohngebiete getroffen werden sollten. Solche Terrorangriffe seien schon lange als militärisch sinnlos erwiesen und die Rote Armee wende sie auch nicht an. Der Text aus dem NS-Propagandaministerium schloss, dass das deutsche Volk durch eine Kapitulation nichts gewinnen könne und was es verlieren würde, wenn es jemals in die Hände der feindlichen Gegner geriete. Hier fanden sich die beiden Anknüpfungspunkte der NS-Propaganda: Für die NS-Inlandspresse, die Bombardierung als lange geplanten Massenmord und Vernichtung einer abendländischen Kulturhauptstadt, also als Verbrechen von „Barbaren“ gegen die Zivilisation, darzustellen, und vor allem den Durchhaltewillen und die Furcht vor der Unmenschlichkeit der Gegner zu schüren. Für die Auslandspresse genügte es, Dresden als für die Kriegführung unbedeutende Kunststadt darzustellen und die Luftangriffe als ohne militärischen Sinn (also sinnlos), um das Meinungsbild in der gegnerischen und neutralen Ländern zu beeinflussen, um die deutsche Kriegsschuld zu relativieren und eine Opferrolle der Deutschen zu behaupten. Die NS-Inlandspresse folgte diesen Vorgaben sofort, wobei die überregionalen Medien sich zunächst strikt auf die Zerstörung der kulturellen Werte konzentrierten und beschrieben, durchweg in der Vergangenheitsform („Dresden war…“), zum Teil in entrückt-lyrischem Duktus das „Gesamtkunstwerk“, das „berühmte Panorama“, die „herrlichen Bauten“ – lediglich die Dresdner NS-Tageszeitung Freiheitskampf ging auf den „Durchhaltewillen“ ein. Die britische und amerikanische Auslandspresse hingegen wurde in diesen Tagen von Schlagzeilen dominiert, die die „bis dahin stärksten Luftschläge … gegen Deutschland“ thematisierten und in denen Dresden ein wichtiges Thema war: Seitdem ist jedoch und noch bevor Nachrichten über die tatsächlichen Auswirkungen bekannt wurden, der Name Dresden – fälschlicherweise – mit Superlativen einer gewaltigen Bomberoffensive verknüpft. Noch am 15. Februar 1945 (und in den Folgetagen) gelang es jedoch dem NS-Propagandaministerium, die letzten in Berlin verbliebenen Auslandskorrespondenten der neutralen schwedischen Presse für die Thematik zu interessieren, was die einzige verbliebene Möglichkeit war, auf die Öffentlichkeit anderer Länder Einfluss zu nehmen. So erschien am 16. Februar ein erster Bericht in Stockholms Dagens Nyheter als Inferno in Dresden – Unerhörte Anzahl Tote, in dem Dresden geschildert wird als „einziges brennendes Inferno … in dem die Menschen zu mehreren Zehntausenden den Tod fanden und … alle weltbekannten kulturhistorischen Bauwerke ganz oder teilweise zerstört wurden.“ In diesem Bericht wird erstmals die hohe Zahl von Ostflüchtlingen in Dresden erwähnt, die sich in der Stadt befanden hätten. Diese Angabe stammte ebenfalls aus dem NS-Propagandaministerium, da es allen Auslandskorrespondenten verwehrt war, Berlin zu verlassen. Diese Angaben werden dann am 17. Februar 1945 durch das Svenska Morgonbladet vertieft und es benennt 100.000 Tote, begründet sei das, dass sich in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 insgesamt 2,5 Millionen Menschen in der Stadt befunden hätten. Den Berichten folgte nun wiederum die alliierte Presse, die in Zitaten der neutralen und für glaubwürdig angesehenen schwedischen Presse folgte, so sei Dresden vollständig zerstört: „atomized“ und „pulverized“ (New York Times aus Stockholms Tidningen), oder „Noch nie während des Krieges ist eine Stadt so zerstört worden“ (Toronto Daily Star aus Expressen). Am 20. und 25. Februar 1945 folgen im Svenska Dagbladet weitere Beschreibungen als „Crescendo der Bombenverwüstungen“ und nunmehr als Zahl „fast 200.000 Tote“. Diese beiden Berichte, die auf subtile Weise durch das NS-Propagandaministerium gesteuert waren, weisen damit nahezu alle Elemente auf, die in den Folgejahren und in Teilen bis heute das rezipierte Bild der Zerstörung ausmachten bzw. ausmachen: Dresden als überaus wertvoller Ort von Kunst und Kultur, kein Wort (mehr) über die militärische Bedeutung der Stadt, keine Einbeziehung in den Kontext des Kriegsverlaufes, eine angeblich hohe Zahl von Flüchtlingen, die zur Begründung der Opferzahlen herangezogen wurde, eine nahezu vollständige Zerstörung, die Katastrophe als einzigartig: Das Auswärtige Amt und das NS-Propagandaministerium unternahmen keinen Versuch der Korrektur, obwohl andere Informationen bereits vorlagen, im Gegenteil. Das Auswärtige Amt wies seine Diplomaten am 19. Februar an, in der Auslandspresse den angelsächsischen Bombenkrieg und dessen deutsche Opfer zu betonen und später, Anfang März, sich auch auf den Satz in Svenska Dagbladet vom 25. Februar 1945 zu beziehen: „Eher 200.000 als 100.000 Todesopfer“. In dieser Situation passierte der alliierten Presse zudem noch der folgenschwere Fehler, dass in einer eher routinemäßigen Pressekonferenz in Paris am 16. Februar 1945 auf eine Frage von Howard Cohen für Associated Press nach den Gründen für die Flächenbombardements der anwesende britische Presseoffizier antwortete („hauptsächlich Verkehrsanlagen“ zur Verhinderung des Nachschubs und eher beiläufig, „die Reste der deutschen Moral zu zerstören“), was einerseits den Journalisten zur Formulierung veranlasste: „… Entscheidung getroffen, absichtliche Terrorbombardements deutscher Bevölkerungszentren durchzuführen, als rücksichtsloses Mittel zur Beschleunigung von Hitlers Untergangs“, andererseits ließ der Militärzensor diese Meldung passieren. Während sie in Großbritannien noch in der Nacht gestoppt wurde, erschien sie in den USA, und auch Radio Paris hatte sie bereits gebracht, auch mit dem von der NS-Propaganda gebrauchten Begriff. Mit einer Richtigstellung sollte diese Aussage am 17. Februar endgültig zurückgeholt werden, nunmehr bezog sie sich gänzlich auf Dresden: Ziel sei gewesen, „den Verkehr zu lähmen und die Bewegung von Truppen … zu verhindern. Die Tatsache, dass die Stadt mit Flüchtlingen überfüllt war, ist reiner Zufall.“ Auch wenn der Punkt „mit Flüchtlingen überfüllt“ nicht zutraf, konnte seitens des NS-Propagandaministeriums die Dresden-Debatte auf einen neuen Punkt gelenkt und insbesondere die Inlandspropaganda neu entfacht werden, was zunächst am 21. Februar 1945 im Dresdner Freiheitskampf mit der Schlagzeile Zynischer Ablenkungsversuch der Luftgangster begann. Anfang März schien es geboten, den Stand weiter auszubauen und zu festigen. Rudolf Sparings Artikel „Der Tod von Dresden: Ein Leuchtzeichen des Widerstands“ in der NS-Zeitschrift Das Reich vom 4. März 1945 stellte die Angriffe als „vier Akte eines kühl berechneten Mord- und Vernichtungsplanes“ dar und leitete eine weitere Phase der NS-Propagandakampagne ein. Ein in Länge, Inhalt und Diktion überaus ungewöhnlicher Aufsatz, den der Schriftleiter verfasst hatte, bezeichnet Neutzner als ein Meisterwerk seiner Gattung. Sparing vermied jede Schilderung, die als Übertreibung gewertet werden konnte, vermied jede schroffe Wertung, die Sprache im Vergleich zu Tageszeitungen zurückhaltend, ungewöhnlich die Offenheit (die jedoch sorgfältig dosiert wurde). Selbst die Zahl der Toten wurde von Sparing nicht maßlos übertrieben, allerdings dramaturgisch gesteigert durch den Verzicht auf jede Identifizierung, was nicht der Wahrheit entsprach. Auch die ausführliche Beschreibung der Angriffe selbst verbanden bis dahin nie öffentlich geäußerte Details mit einer subtilen Schilderung einer unschuldigen Stadt, wobei er Zahlenangaben und Abläufe schilderte, die bis heute die Erinnerung an das Geschehen beeinflussen. So ist hier erstmals öffentlich der Tieffliegerbeschuss eingeführt worden: Widerstand gegen die angeblich mordbereiten Alliierten sei daher der einzige „Ausweg“ für die Überlebenden. Inhalt und Vertrieb erwiesen sich als erfolgreich: Im Inland druckte die NS-Presse ganz oder in großen Passagen den Text nach und er wurde überall positiv aufgenommen. Sprache und Duktus machten die Mitteilungen vertrauenswürdig, die Schilderungen deckten sich mit umlaufenden Erzählungen von Augenzeugen. Im Ausland griffen die Nachrichtenagenturen den Text auf und verbreiteten große Teile als Zitat, die von praktisch allen großen Zeitungen der USA, Großbritanniens und vieler weiterer Länder nachgedruckt wurden. So titelte die Irish Times mit einem Bild der Elbsilhouette vor der Zerstörung: Dresden ausgelöscht, die New York Times schrieb: „Dresden, eine der ältesten und am meisten geliebten deutschen Städte, hat aufgehört zu existieren.“ Die Washington Post brachte Sparings Einschätzung: „Die Dresdner Katastrophe ist ohne Beispiel.“ Er steckte aber auch einen Rahmen für individuelle Erinnerungen ab und ging auch ungeprüft in die deutsche Nachkriegsliteratur und den Geschichtsrevisionismus ein. Dieser Sparing-Text war praktisch den gesamten März 1945, in Portugal bis Anfang April, Grundlage für Presseberichte unterschiedlichster Art, soweit auf diese die jeweiligen Gesandtschaften Einfluss nehmen konnten. Das Symbol Dresden (Neutzner nennt es auch Chiffre Dresden) war damit binnen Wochen als vermeintlich größtes Verbrechen des Krieges positioniert. Der letzte Schritt der NS-Propaganda – weitere waren nicht mehr möglich –, war, den greisen Dichter Gerhart Hauptmann, der am 13. Februar 1945 mit seiner Ehefrau Margarete in Weidners Sanatorium im Stadtteil Wachwitz weilte, zu einem Text über das Inferno zu bewegen. Hauptmanns Worte, die er, zurückgekehrt an seinen schlesischen Wohnsitz verfasste, beginnen: „Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens. …“ Er wurde am 29. März 1945 im deutschen Rundfunk verlesen und der deutschen Auslandspropaganda zur Verfügung gestellt, die ihn am 9. April 1945 in Stockholm veröffentlichen konnte. Sowjetische und DDR-Propaganda Im Kalten Krieg behinderten erneut ideologische Vorgaben die historische Erforschung des Kriegsverlaufs und die Trauerarbeit der Beteiligten. Die Nachkriegspropaganda in der Sowjetischen Besatzungszone vermied, Schuldfragen zu stellen, die folgende DDR würdigte den Einsatz für den Wieder- bzw. Neuaufbau, um sich so von den Nationalsozialisten distanzieren und in den offiziellen Antifaschismus zu integrieren. Das sowjetische Militärregime verbot zunächst öffentliche Schuldzuweisungen an die Westalliierten. Dresdens erster Nachkriegsbürgermeister Walter Weidauer erwähnte sie beim Gedenktag am 13. Februar 1946 nicht, betonte aber, die Rote Armee habe keine Bombenangriffe auf Zivilisten durchgeführt und die Zerstörung Dresdens sei „militärisch vollkommen sinnlos“ gewesen. Bereits kurz nach Ende des Krieges wurde an die Zerstörung, so der Historiker Matthias Neutzner, in vorgefügten Formen erinnert, die sich in einigen zentralen Aussagen vom tatsächlichen Geschehen und von objektiven Wertungen unterschieden. Darauf aufbauend, gelang es nach Ansicht Neutzner schließlich mit der Gedenkveranstaltung im Februar 1950 alle Konstanten der Erzählung von der Zerstörung Dresdens auszuformen (die zu weiten Teilen auf die NS-Propaganda zurückgingen bzw. direkt von dort übernommen wurden), die bis zum Ende der DDR als Geschichtspolitik tauglich blieben: Das war das symbolhafte Beispiel für den Schrecken des Bombenkrieges auf eine der schönsten Städte Europas (Einzigartigkeit in Schönheit, Kulturwert und Zerstörung), das Verdrängen oder Verschweigen der NS-Zeit Dresdens und deren Einbindung in die Abläufe des Zweiten Weltkrieges (Die unschuldige Stadt und die Sinnlosigkeit der Zerstörung) sowie als neues Motiv (unter Ausblendung der tatsächlichen Abläufe) die Luftangriffe auf Dresden dem Ende des Krieges zugerechnet, wobei dieses allein der Roten Armee zu verdanken gewesen sei. Legenden Ein fester, in stereotypen Motiven überlieferter Bestandteil der Nachkriegsliteratur zu Dresden sind Augenzeugenberichte von angeblichem Phosphor-Regen und Tiefflug-Angriffen auf Flüchtlinge. Historiker haben diese Berichte seit 1977 mehrfach überprüft und festgestellt, dass es Legenden sind, die zum Teil von der NS-Propaganda geschaffen wurden und zum Teil auf Fehldeutungen von Sinneseindrücken beruhen. Goetz Bergander, der die Luftangriffe auf Dresden miterlebt hatte, wies 1977 nach, dass die RAF im Zweiten Weltkrieg nie flüssigen Phosphor eingesetzt, diesen zeitweise nur als Anzünder in Brandbomben verwendet und keine solchen Brandbomben bei den Luftangriffen auf Dresden benutzt hatte. Joseph Goebbels hatte nach der Operation Gomorrha 1943 gegen die Panik in der Bevölkerung zutreffend betont, in Deutschland sei „noch niemals Phosphor abgeregnet“ worden, das sei eine optische Täuschung beim Aufschlag anderer Bombentypen. Bergander nahm an, dass Dresdner Augenzeugen weiße Leuchtgranaten und Stabbrandbomben mit leuchtendem Phosphor verwechselt hatten. Auch Helmut Schnatz schloss das „Abregnen“ von weißem Phosphor in Dresden aus, da Phosphorkautschuk dazu ungeeignet war und damals allenfalls als Brandbeschleuniger in Bombenkanistern verwendet wurde. Die NS-Propaganda behauptete seit Mai 1944 systematische alliierte Tieffliegerangriffe auf Zivilisten, um Lynchmorde an notgelandeten alliierten Piloten („Fliegermorde“) zu rechtfertigen. Die Behauptung von Rudolf Sparing am 4. März 1945, eine zweite britische Luftflotte habe Flüchtlinge auf den Elbwiesen gezielt bombardiert und beschossen, gilt als Ursprung der Tieffliegerlegende. Diese wurde dann immer weiter kolportiert, etwa von Axel Rodenberger (Der Tod von Dresden, 1951), Max Seydewitz (Zerstörung und Wiederaufbau von Dresden, 1955) und dem späteren Holocaustleugner David Irving (Der Untergang Dresdens, 1963). Irving behauptete mit der Umdeutung von USAAF-Akten Tiefflugangriffe nur bei den Tagesangriffen ab dem 14. Februar. Augenzeugen, die am 14. und 15. Februar als Flüchtlinge im Raum Dresden unterwegs waren, schilderten später Angriffe einzelner Tiefflieger. Details ihrer Erinnerungen wie die Außenmarkierungen der US-Flugzeuge sind nachweislich falsch. Keiner dieser Berichte gilt daher als historisch zuverlässig. Bergander fand heraus, dass die wenigen glaubhaften Berichte sich nur auf den Tagesangriff vom 14. Februar 1945 bezogen und weder die Polizeiberichte jenes Tages noch die Wehrmachtberichte, die sonst jeden Tieffliegerangriff vermerkten, dergleichen erwähnten. Sie belegten nur Tiefflüge einer Bomberstaffel auf dem Weg nach Prag, weitab von Dresden, und einen Luftkampf zwischen US-Begleitjägern und deutschen Jägern bei Dresden am Mittag des 14. Februar. Bergander folgerte: Auch Sven Felix Kellerhoff nahm 2007 an, dass Dresdner Zeugen ihre Erinnerung mit Fremdberichten von Tieffliegerangriffen verschmolzen haben. Auch Schnatz schloss nächtliche Tiefangriffe am 13. Februar 1945 aus, da sich tieffliegende Jagdflugzeuge und höher fliegende Bomber während der Bombardierung gegenseitig gefährdet hätten und der Feuersturm nach dem ersten Nachtangriff Tiefflug über der brennenden Innenstadt unmöglich gemacht habe. Bei den folgenden Tagesangriffen hätten die Begleitjäger, wie bei US-Operationen typisch, eigene Angriffe allenfalls nach dem Abflug der Bomber starten können. Auch das hält Schnatz wegen der dichten Bewölkung und begrenzten Treibstoffmenge für unwahrscheinlich. Er überprüfte die damaligen Befehlsketten der RAF und USAAF und stellte fest: Die alliierten Begleitjäger sollten beim Ausbleiben eines Luftkampfs sonst nahe Bodenziele angreifen. Doch weder Militärbefehle noch Pilotenaussagen noch Angaben der Nationalsozialisten in Meldungen oder Totenscheine erwähnen Tieffliegerangriffe in Dresden. Der 8th Air Force wurde explizit verboten, im Luftraum Dresden einzugreifen. Ein RAF-Befehl an die amerikanischen Mustangs, den Straßenverkehr in Dresdens Umgebung zu beschießen, um das Chaos zu vergrößern, habe sich auf Gelegenheitsziele entlang des Rückwegs nach England bezogen. Gegen diese Forschungsergebnisse protestierten im Jahr 2000 viele Dresdner Zeitzeugen. So wurde Schnatz bei der Vorstellung seines Buchs gestört. Die Dresdner Historikerkommission befragte bis 2005 164 Zeitzeugen zu Tieffliegern am 13. und 14. Februar 1945, von denen 103 genauere Zeit- und Ortsangaben dazu machten. Sechs der in Frage kommenden Gebiete waren als Freiflächen zugänglich. Der beauftragte Kampfmittelräumdienst fand dort bei einer systematischen Suche mit Metalldetektoren keine Geschosse, die sich auf Tieffliegerangriffe zurückführen ließen. Nach diesem Forschungsergebnis wird direkter Beschuss von Flüchtenden in Dresden weitgehend ausgeschlossen. Erzählerische Dramatisierung Bis heute werden die Luftangriffe auf Dresden in Erlebnisberichten, Dokumentationen, Romanen und Spielfilmen verarbeitet. Kurt Vonnegut, der als US-Kriegsgefangener die Bombardierung Dresdens miterlebte, schrieb dazu den Roman Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug, der nach dem Städtischen Vieh- und Schlachthof im Ostragehege benannt ist. Alexander McKee, britischer Kriegsberichterstatter, veröffentlichte einen Erlebnisbericht mit dem deutschen Untertitel „Das deutsche Hiroshima“. Axel Rodenberger gab seine Sammlung von Augenzeugenberichten von 1951 mitsamt seinen Kommentaren 1995 neu heraus. Matthias Neutzner zufolge stellten solche Erzählungen die Angriffe häufig als plötzliche, unerwartete, sinnlose Zerstörung einer einzigartigen und unschuldigen Stadt kurz vor dem absehbaren Ende des Krieges dar. Dies habe dazu beigetragen, dass sich in der kollektiven Erinnerung der Ereignisse ein emotionaler Kern verfestigte. Die Bombardierung Dresdens wurde im Englischen zu einer festen sprichwörtlichen Wendung: Like Dresden bezeichnet ein verheerendes Feuer oder die Zerstörung von Kulturgütern. Die als prächtige Residenz weithin bekannte, nahezu unbeschädigte Stadt sei aber auch im Februar 1945 noch ein kriegswichtiges Ziel gewesen und nicht allein „die unschuldige Kulturschöne“. Forschung zu Opferzahlen Die NS-Behörden hielten die Berichte über geborgene Tote geheim und lancierten zugleich übertriebene Zahlen an die Auslandspresse, die sie dann wiederum zitierten. So brachten sie sechsstellige Opferzahlen in Umlauf, auf die sich Rechtsextremisten und Geschichtsrevisionisten bis heute berufen. Die schwedische Zeitung Svenska Morgonbladet vermutete am 17. Februar 1945 „gegenwärtig … 100.000“, am 27. Februar 1945 „näher bei 200.000“ Tote. 1948 erwähnte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz über 275.000 „gemeldete“ Tote im Raum Dresden. Die Zahl beruhte auf ungeprüften Angaben von NS-Behörden; der Rote-Kreuz-Gesandte hatte nur Kriegsgefangenenlager außerhalb der Stadt besucht und keine schriftlichen Dokumente über Todesopfer erhalten. Axel Rodenberger schrieb 1951 von 350.000 bis 400.000 Toten, die ein ungenannter „Leiter des Propagandaamts“ nach Berlin gemeldet habe. F. J. P. Veale schrieb 1954 in Der Barbarei entgegen von 300.000 bis 500.000 Toten. David Irving schätzte 1963 in seinem Buch Der Untergang von Dresden bis zu 250.000 Tote und blieb in späteren Auflagen bei einer unbelegten Schätzung von 135.000 Toten. Diese habe ihm 1961 ein Hanns Voigt mitgeteilt, der 1945 Leiter der Dresdner Vermisstennachweis-Zentrale gewesen sei. Ob dieser Zeuge überhaupt an der Opferbergung beteiligt war, ist unbelegt. Hans Dollinger schrieb 1973 von 250.000, Rolf Hochhuth 1974 mit Berufung auf Irving von 202.000, die Süddeutsche Zeitung 1975 von 135.000, Die Welt von „250.000 oder gar 400.000“ Toten. Der ehemalige Dresdner Generalstabsoffizier Eberhard Matthes behauptete in einem 1989 bis 1992 verfassten Bericht: Auf einen „Führerbefehl“ vom 30. April 1945 habe man nach Rücksprache mit allen Dresdner Dienststellen dem Führerbunker in seinem Beisein telefonisch 35.000 (nach Bergander: 3.500) identifizierte, 50.000 identifizierbare und 168.000 unkenntliche Leichen, also insgesamt 253.000 Tote gemeldet. Damalige Dresdner Vertreter der Wehrmacht mit Direktkontakt zum Führerbunker gaben jedoch an, nie solche Zahlen gehört zu haben, und bestritten, dass Adolf Hitler am Tag seines Suizides noch eine solche Meldung angefordert hätte. Wolfgang Schaarschmidt folgte 2005 erneut der unbelegten Schätzung jenes Hanns Voigt. Interne NS-Dokumente hatten diese spekulativen Zahlen nicht zum Inhalt. Die Zeitung Das Reich sprach am 4. März 1945, als Bergungsergebnisse schon vorlagen, von „zehntausenden“ gefundenen Toten. Goebbels sprach bei einer Konferenz in Görlitz am 6. März 1945 nach Berichten von Teilnehmern von „40.000“ Todesopfern, für die Hitler ebenso viele alliierte Piloten ermorden wolle. Eine „Schlussmeldung“ des „Befehlshabers der Ordnungspolizei Berlin“ (BdO. Berlin) stellte am 22. März 1945 für das Datum 10. März 1945 fest: „18.375 Gefallene, 2212 Schwerverwundete, 13.718 Leichtverwundete.“ Von den Toten seien 50 % identifizierbar; die „Gesamtzahl der Gefallenen einschl. Ausländer“ wurde „auf etwa 25.000 geschätzt“. Ein am selben Tag erlassener Tagesbefehl 47 berichtet von 20.204 geborgenen Toten und schätzt, dass sich diese Zahl wahrscheinlich auf 25.000 erhöhen werde. Der Entwurf der Schlussmeldung, geschrieben am 15. März 1945, wurde von Walter Weidauer 1965 publiziert; das endgültige Dokument vom 22. März 1945 des BdO. Berlin wurde durch den Archivdirektor Heinz Boberach 1966 im Bundesarchiv Koblenz entdeckt. Auf diese Weise wurde eine bislang bekannte andere Version davon als Fälschung entlarvt, bei der an alle Zahlen eine Null angehängt worden war. David Irving, der sich darauf gestützt hatte, räumte seinen Irrtum in einem Leserbrief an die Times am 7. Juli 1966 ein. Eine weitere Lagemeldung vom 3. April 1945 schrieb von 22.096 bis zum 31. März 1945 geborgenen Gefallenen. Bis 1966 fand man bei Bauarbeiten in der Stadt noch weitere 1858 Leichen. Historiker konnten allerdings die Zahlen der bei den Luftangriffen Getöteten lange Zeit nicht genauer eingrenzen, weil auch andere Zahlen nicht oder nicht genau bekannt waren: wie viele Einwohner und welche Siedlungsdichte die Dresdner Innenstadt im Februar 1945 hatte, wie viele Dresdner sich damals als Soldaten, KZ-Häftlinge oder Flüchtlinge außerhalb des Stadtgebiets befanden, etwa aus Furcht vor Fliegerangriffen, Raumnot oder Nahrungsknappheit, wie viele Flüchtlinge aus dem Osten sich im Februar 1945 in der Innenstadt aufhielten, wie viele Menschen bei den Angriffen getötet, aber wegen der Kriegssituation von keinem Angehörigen gemeldet wurden, wie viele Getötete nicht aufgefunden oder verschüttet wurden oder vollständig verbrannt sind. Forschungen der 1970er Jahre dazu begrenzten die Einwohnerzahl auf etwa 700.000, die der damaligen Flüchtlinge im Großraum Dresden auf 200.000, von denen maximal 85.000 in Notunterkünften der Innenstadt Platz finden konnten. Berücksichtigt wurden auch die Kinderlandverschickung seit 1944, ein Zuzugsverbot und die Anweisung, nicht in der Innenstadt zu übernachten. Auf dieser Basis schätzten die meisten Historiker bis 1993 35.000, höchstens 40.000 Dresdner Todesopfer. 1993 wurden im Stadtarchiv Dresden die Akten des Bestattungs- und Marstallamtes, deren Existenz bereits zu DDR-Zeiten bekannt, jedoch nie gesichtet wurden, durch den Stadtarchivar Friedrich Reichert aufgearbeitet. Darin wurden die etwa 22.000 bis zum 17. April 1945 beigesetzten Toten aufgeführt, darin waren schon viele Opfer der Tagesangriffe am 14. und 15. Februar 1945 enthalten. Daher widersprach er bereits 1994 der verbreiteten Annahme, die meisten Toten seien nicht mehr identifizierbar gewesen, und schätzte ein, „die städtischen Archivakten belegen mehrfach schlüssig, daß die Luftangriffe auf Dresden vom 13.–15. Februar 1945 nachweisbar ca. 25.000 Todesopfer forderten.“ Im November 2004 berief Oberbürgermeister Ingolf Roßberg nach Kenntnis dieser Forschungen in eigener Initiative eine Historikerkommission unter der Leitung von Rolf-Dieter Müller. Sie sollte – möglichst – bis zum 800. Stadtjubiläum 2006 eine verlässliche Gesamtzahl der Getöteten ermitteln, um Geschichtsfälschungen zu begegnen. Diese Kommission arbeitete ebenso unabhängig wie ergebnisoffen und zog außer den bekannten Dokumenten auch bis dahin unberücksichtigte Akten städtischer Ämter, neue archäologische Befunde und Zeitzeugenberichte heran, zu denen sie die Bevölkerung aufrief. Nach vorübergehender Arbeitseinstellung wegen Mittelkürzungen veröffentlichte die Kommission am 17. März 2010 ihren Abschlussbericht. Neu ausgewertet wurden von ihr Aktenbestände von Stadtbauamt, Marstall- und Bestattungsamt, Ernährungs-, Fürsorge- und Kriegsschädenamt sowie der Oberbauleitung Enttrümmerung. Über Akten der Ausgabestellen für Nahrungsbezugsscheine nach Kriegsende ließ sich die Einwohnerzahl Dresdens nach den Angriffen erstmals genauer bestimmen. Grabungen im Stadtzentrum ergaben seit 1993, dass fast alle kriegszerstörten Keller nach den Angriffen begehbar waren und geräumt wurden. Nur etwa ein Fünftel davon wies feuergerötete Sandsteine auf, die auf Brandtemperaturen wie beim Feuersturm an der Oberfläche hinwiesen. Man fand Überreste von 14 Toten, die wahrscheinlich durch solche Feuer umkamen. Unbezeugte Tote können statistisch nur einen Bruchteil der bis 1945 insgesamt von Standesämtern und Suchdiensten registrierten für tot erklärten und vermissten deutschen Zivilisten ausmachen. Durch elektronische Datensammlung wurden erstmals alle verfügbaren Bergungsnachweise, Unterlagen der Friedhöfe und Standesämter, Akten der Amtsgerichte zu Toterklärungen und weitere erfasst. So konnten sie miteinander und mit den Wohn- und Bergungsorten der Luftkriegstoten verglichen und überprüft werden. Auf diese Weise ermittelte die Kommission bis November 2009 eine Mindestzahl von 18.000 und eine Höchstzahl von 25.000 durch die Luftangriffe getöteten Menschen. Höhere Totenzahlen seien weder vom historischen Verlauf der Luftangriffe her noch durch Dokumente, Erinnerungen oder Statistiken belegbar. Nach dem Fund von Dokumenten, die 20.100 Tote namentlich und 2600 unbekannte Tote als bestattet nachweisen, korrigierte die Kommission im April 2010 die Mindest-, nicht jedoch die Höchstzahl der Todesopfer, d. h. auf mindestens 22.700 und höchstens 25.000 durch die Luftangriffe auf Dresden im Jahr 1945 getöteten Menschen. Die Stadt Dresden hat die genannten Zahlen offiziell übernommen. Die (Höchst-)Zahl, häufig allerdings mit der Angabe „etwa“ und meist auch unter Ausblendung, dass diese Zahl auch die Toten der Angriffe im März und im April 1945 mit umfasst, findet sich seit den Veröffentlichungen der Historikerkommission in allen seriösen Berichten bzw. Beiträgen und Artikeln wieder. Militärische, ethische und rechtliche Bewertungen Die Luftangriffe auf Dresden gelten in Veröffentlichungen häufig als Beispiel für eine verfehlte Luftkriegsführung der Alliierten, die primär der Zivilbevölkerung gegolten und keine kriegsentscheidende Bedeutung gehabt habe. Bezweifelt wird, dass die Angriffe primär Dresdens militärische Infrastruktur treffen sollten. Dagegen sprächen die Abwurfstellen der Zielmarkierungen, der nächtliche Abwurf von Stabbrandbomben auf die Altstadt und der Umstand, dass Flughafen, Fabriken und Kasernen im Norden der Stadt weniger stark beschädigt wurden. Zudem wird behauptet, Dresden sei etwa wegen des Abzugs der Flak militärisch schutz- und bedeutungslos gewesen. Dem wird entgegengehalten, dass punktgenaue Bombenabwürfe damals wegen fehlender Zielradartechnik und Wetterabhängigkeit noch erschwert waren. Gerade die schlechte Trefferquote bei Punktzielen war 1943 Anlass zur Verstärkung der Flächenbombardements. Andererseits soll die RAF an der Westfront mit neuer Radarausrüstung zu zielgenaueren Treffern gekommen sein, die den Vormarsch der alliierten Bodentruppen entscheidend begünstigt hätten. Mit dem H2S-Radar stand der RAF und der USAAF seit Januar 1943 ein Zielradar zur Verfügung. Die alliierte Luftkriegsstrategie war in Großbritannien ethisch und rechtlich von Beginn an umstritten, wurde aber seit der Luftschlacht um England nur selten öffentlich kritisiert. Dass die britischen Städtebombardierungen Völkerrecht brechen, die ethischen Grundlagen der westlichen Zivilisation bedrohen und die Chancen zur künftigen Versöhnung mit den Deutschen zerstören, vertrat im House of Lords ab Februar 1943 vehement und wiederholt der anglikanische Bischof George Bell. Neben ihm opponierten nur noch zwei Abgeordnete der Labour Party im House of Commons gegen das area bombing. Die Haager Landkriegsordnung von 1907 hatte den Unterzeichnerstaaten, darunter Großbritannien und Deutschland, den Angriff auf zivile Ziele, damit auch auf Innenstädte, verboten. Der Artikel 25 bestimmte: „Es ist untersagt, unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, mit welchen Mitteln es auch sei, anzugreifen oder zu beschießen.“ Über weitere Ausführungen des für den Landkrieg konzipierten Völkerrechts wurde 1922/23 beraten und explizite Regeln für den Luftkrieg entworfen. Der neue Artikel 22 lautete: „Das Luftbombardement zur Terrorisierung der Zivilbevölkerung und Zerstörung oder Beschädigung von Privateigentum nichtmilitärischen Charakters ist verboten.“ Dieser Entwurf wurde nicht als völkerrechtlicher Vertrag ratifiziert. Die Diskussion um die „Haager Luftkriegsregeln“ nach 1923 hatte aber eine gewisse gewohnheitsrechtliche Bindung bewirkt: International anerkannt war der Ausschluss von Terrorangriffen. Diese Bindung war den USA und Großbritannien im Blick auf Dresden bewusst, da sie stets hervorhoben, sie hätten keine Terrorangriffe beabsichtigt und ausgeführt. Die USAAF und die RAF bezeichneten Dresden 1945 anhand von umfangreichem Material als „legitimes militärisches Ziel“. Heutige Historiker fragen zum einen, ob das morale bombing zusammen mit dem Abwurf von Millionen von Flugblättern Risse zwischen Volk und Führung erzeugen und die Kampfmoral der Deutschen brechen konnte oder aber eher das Gegenteil erreichte, zum anderen, ob der Luftkrieg in den letzten Kriegsmonaten überhaupt noch primär militärische Zwecke verfolgte. Gerd R. Ueberschär beschrieb 2001 die Bombardierung Dresdens als Bruch des damaligen Kriegsvölkerrechts. Sie habe keine Schlacht um die Stadt entschieden und auch das Kriegsende nicht beschleunigt. Dabei grenzte er sich von geschichtsrevisionistischen Propagandalügen ab. Jörg Friedrich beschrieb die Bombardierungen vieler deutscher Städte 2002 aus der Sicht der Betroffenen und als schon vor den letzten Kriegsmonaten militärisch sinnlose, beabsichtigte Massenvernichtung. Sein Buch fand Zustimmung auch bei Vertretern der Neuen Rechten und Kritik bei anderen Historikern. Frederick Taylor belegte 2004 erneut die kriegswirtschaftliche Bedeutung der Industrie Dresdens, die Pläne der Deutschen an der Ostfront und Absprachen der Alliierten mit den Sowjets. Er stellte fest, dass die Deutschen den Luftkrieg eröffnet und rücksichtslos geführt hatten, so dass den Briten damals nur noch die Bomber als Offensivwaffe blieben. Er sprach den Angriffen damit eine militärische Rationalität zu, schloss aber nicht aus, dass sie auch Kriegsverbrechen gewesen sein könnten. Der Ethiker Thomas A. Cavanaugh nannte die Angriffe 2006 mit Bezug auf das Prinzip der Doppelwirkung als Beispiel für ein illegitimes „Terrorbombardement“, bei dem das Töten von Zivilisten unmittelbares Ziel und kein unbeabsichtigter Nebeneffekt gewesen sei. Der britische Philosoph A. C. Grayling beurteilte das area bombing der Royal Air Force 2006 als militärstrategisch sinnlos und rechtlich wie ethisch als Kriegsverbrechen. Geschichtsrevisionistischen Missbrauch dieser Beurteilung schloss er aus: „Selbst wenn die alliierte Bomberoffensive teilweise oder völlig moralisch verwerflich gewesen sein sollte, reicht dieses Unrecht auch nicht annähernd an die moralische Ungeheuerlichkeit des Holocaust heran.“ Ob 1945 eine Strafverfolgung der Verantwortlichen für den Luftkrieg möglich gewesen wäre, wird wegen der damals fehlenden übernationalen Rechtsinstanz bezweifelt. Nach dem seit 1977 auch von Großbritannien und Deutschland ratifizierten Zusatzprotokoll zur Genfer Konvention ist eine flächendeckende Städtebombardierung verboten. Jedoch ist dieses Verbot juristisch nicht rückwirkend anwendbar. Begehen der Jahrestage 1945 bis 1949 Beginnend ab Juni 1945 stand vor allem die (zutreffende) Argumentation, dass die Zerstörung Dresdens eine direkte Folge des von den „deutschen Faschisten“ entfesselten Krieges sei, im Mittelpunkt. Im Herbst und Winter sind Aktivitäten nachweisbar, die diese Argumentationslinie, die aus Sicht der KPD logisch war, untermauerten. Folgerichtig wurde von der Stadtverwaltung bei der sowjetischen Militäradministration um Genehmigung nachgesucht, am ersten Jahrestag der Zerstörung Dresdens „Großkundgebungen“ abhalten zu dürfen. Die Propagandaabteilung genehmigte diese unter der Auflage, dass keine „Tendenzen gegen die Alliierten“ geäußert werden dürfen und auch alles vermieden wird, was den 13. Februar als Trauertag erscheinen lasse. Nach Absprachen im Januar 1946 warb ab dem 9. Februar 1946 die Sächsische Volkszeitung für insgesamt 29 Großversammlungen, die jeweils zwei Redner und kulturelle Umrahmungen vorsahen und an deren Ende jeweils die Verabschiedung einer Resolution stand, in denen die härteste Bestrafung der „Naziverbrecher“ in Nürnberg gefordert wurde. In den Mittelpunkt wurde allerdings der „Neuaufbau Dresdens“ gestellt, und trotz der Auflagen kam es auch zum Gedenken als „Wiederkehr des Todestages“. Am ersten Jahrestag wurden in den Gottesdiensten der evangelischen Kirchen an die Zerstörung Dresdens gedacht, in den katholischen stand das Gedenken an die Menschen im Mittelpunkt, die im Jahr vorher umgekommen waren, sie wählten dafür die Form der Missa pro defunctis. Für die Dresdner katholischen Christen begann erstmals das seit dem 18. Jahrhundert und ursprünglich nur in der Hauskapelle des Josephinenstiftes abgehaltene 40-stündige Bußgebet, das sonst traditionell am Nachmittag des Faschingsdienstags endete, an diesem Tag und erstreckte sich bis zum Faschingsdienstag 1946, dem 5. März. Um 21:45 Uhr läuteten am 13. Februar 1946 erstmals die Glocken aller Dresdner Kirchen und der des Umlandes für eine Viertelstunde lang. Das soll in etwa den Zeitpunkt markieren, zu dem im Vorjahr die ersten Bomben auf Dresden fielen, und ist als Klage, Warnung und Hoffnung bis heute der Fixpunkt in den Jahrestagen des Gedenkens an die Zerstörung. Während in den Kirchen das Gedenken nach 1946 relativ konstant blieb (Gedenkgottesdienste, Requiem und Bußgebet) und neben Trauer zumindest liturgisch und theologisch Schuld und Sühne beinhalteten, wandelte sich das „offizielle“ Gedenken bereits im Februar 1947: Öffentliche Veranstaltungen fanden nicht statt, die Sächsische Volkszeitung brachte nur ein Foto mit einer knappen Schlagzeile. Neutzner wertet dies, dass schon 1947 der 13. Februar in der Rangfolge der propagandistisch nutzbaren Gedenktage verdrängt worden sei: Die deutschen Verursacher wurden nicht mehr erwähnt. 1948 deutete die SED-Propaganda erstmals eine Verschiebung der Akzente an: In einem Beitrag vom 13. Februar 1948 in der Sächsischen Volkszeitung werden erstmals die Metaphern sowohl der „unschuldigen Stadt“, wie auch die des „nahenden Kriegsendes“ bedient, wobei der Mythos der „unschuldigen Stadt“ ebenso der NS-Propaganda entstammt, wie der hier erstmals nach 1945 in einer Dresdner Veröffentlichung nachweisbare Begriff des „anglo-amerikanischen Bombenangriffs“, den ebenfalls die NS-Propaganda erfunden hatte. Diese Propagandarichtung fand ihren ersten Höhepunkt 1949, nicht zuletzt auf dem Hintergrund des Bruchs zwischen den Alliierten einerseits und der Währungsreform 1948 andererseits, als wieder Großveranstaltungen organisiert wurden, die nunmehr ausschließlich an die „Zerstörung der Stadt durch die anglo-amerikanische Luftwaffe“ erinnerten. 1950 bis 1970 Bereits 1949 hatte Kurt Liebermann als damaliger Kreisvorsitzender der SED in seiner Hauptrede zwar das deutsche Volk selbst als Schuldiger benannt, jedoch gleichzeitig in seiner Argumentationskette ausgeführt, dass mit einem Bekenntnis zur Politik der SED die Dresdner selbst zu denen gehören würden, „die den Krieg verabscheuen“, wobei es letztlich den westlichen Alliierten lediglich um Zerstörungen in der künftigen sowjetischen Besatzungszone und um die Verhinderung des demokratischen Neuaufbaus gegangen sei. Der damalige Dresdner Oberbürgermeister Walter Weidauer wiederum machte „neue Kriegshetzer“ aus, die möglichst bald einen neuen Krieg entfachen wollten. Mit diesem Hintergrund und dem Druck, der neu gegründeten DDR eine möglichst breite Legitimation und Akzeptanz zu verschaffen, bot sich das Thema „Frieden“ an. Vor diesem Hintergrund wurde im Januar 1950 beschlossen, den fünften Jahrestag der Zerstörung Dresdens landesweit für eine Propagandakampagne zu nutzen. Dazu wurden in Städten, Dörfern und Betrieben „Friedenskundgebungen“ durchgeführt. Die für die Dresdner zentrale Kundgebung, die auf dem Karl-Marx-Platz stattfand und an der mehr als 100.000 Menschen teilnahmen, die zu ihr von vorbereiteten Standplätzen marschierten, stellten vorbereitete Losungen die „amerikanischen Kriegshetzer“ heraus und ein zentraler Leitartikel im Neuen Deutschland schließt: „… und die bestialische Ermordung eines großen Teils seiner Einwohner, das sind die Visitenkarten der profithungrigen, blutrünstigen anglo-amerikanischen Imperialisten.“ Das private und kirchliche Gedenken sollte damit in den Hintergrund gedrängt werden. Die Luftangriffe auf Dresden wurden nun als militärstrategisch wirkungs- und bedeutungslose, barbarische und kulturfeindliche Bombardements den Westalliierten angelastet. DDR-Politiker werteten nunmehr sogar, dass „anglo-amerikanischen Luftgangster“ Dresden bewusst zerstört hätten, um die Stadt nicht in sowjetische Hände fallen zu lassen. Der Vorsitzende der NDPD, Lothar Bolz, bewertete 1953 die Zerstörung Dresdens als Beleg „für die enge Verwandtschaft der amerikanischen Rüstungsmilliardäre mit dem Nationalsozialismus, ihre Verwandtschaft im barbarischen Denken wie im barbarischen Handeln. Die Ruinen unserer Städte und die Leichen, die unter ihnen begraben sind, verdanken wir Amerika und England…“ Zudem behauptete der vormalige sächsische Ministerpräsident Max Seydewitz seit 1955 in seinem Dresdenbuch Die unbesiegte Stadt, die deutschamerikanischen Besitzer der Villa San Remo in Dresden, Charles und John H. Noble, hätten die alliierten Luftflotten mit einem Sender nach Dresden gelotst. Die Großkundgebung vom 13. Februar 1970 sollte auf über ein Jahrzehnt die letzte bleiben. 1970 bis 1982 Parallel zur Abwendung der SED-Strategie wurde auch ein zunehmendes Desinteresse an einem gemeinsamen Erinnern offenbar. 1982 bis 1990 Ein unabhängiges Gedenken begannen kirchliche Friedensgruppen in der DDR. Zum 13. Februar 1982 riefen Dresdner Christen angesichts zunehmender Militarisierung des DDR-Alltags erstmals mit illegalen Flugblättern zum stillen Gedenken gegen den Krieg an den Trümmern der Frauenkirche auf. 5000 junge Menschen versammelten sich in Dresdens Kreuzkirche zu einem Friedensforum. Dieser Aufruf führte zu schweigenden Zusammenkünften von DDR-Bürgerrechtlern an jedem 13. Februar in den 1980er Jahren an der Ruine. Staatliche Versuche, diese Treffen zu verhindern, hatten kaum Erfolg. Zum 40. Jahrestag der Luftangriffe 1985 gab es erstmals wieder zentrale Staatsfeierlichkeiten in der Innenstadt. Die Ruine der Frauenkirche blieb dagegen Ort gesellschaftskritischer Proteste. Beide Seiten berücksichtigten die deutsche Kriegsschuld, deutsche Terrorangriffe und den Holocaust als Angriffsursachen sowie deren eventuelle militärische Notwendigkeit nur unzureichend. Erst seit der politischen Wende in der DDR 1989 setzten sich die Stadtvertreter vor allem während der Jahrestage der Luftangriffe intensiver mit deren Vorgeschichte auseinander. Seit 1991 Partnerschaften Unmittelbar nach dem Kriegsende nahm die anglikanische Gemeinde der britischen Stadt Coventry, deren St Michael’s Cathedral im November 1940 deutsche Luftangriffe vollständig zerstört hatten, Kontakt mit Dresdner Kirchengemeinden auf. 1956 begann die Partnerschaft zwischen beiden Städten. 2002 trafen Gäste aus Coventry mit Dresdner Partnern zusammen, um unter dem Motto „Brücken bauen – Versöhnung leben“ ein Zeichen gegen Krieg und Hass zu setzen. Die Begegnung fand an der Baustelle der Dresdner Frauenkirche statt, deren Wiederaufbau 1990 begonnen hatte. Sie ist inzwischen mit Hilfe von intensiven Spendensammlungen vor allem britischer und deutscher Fördervereine vollständig wiedererbaut und zum Mittelpunkt der Versöhnungsarbeit geworden. Das „Cross of Nails“ (Nagelkreuz von Coventry), bestehend aus drei mittelalterlichen Zimmermannsnägeln der am 14. November 1940 zerstörten alten Kathedrale von Coventry, wurde seither zum berühmten Symbol einer internationalen Gemeinschaft, die heute in weltweit 160 von Bombardierungen betroffenen Gemeinden existiert, davon 52 in Deutschland. Seit dem 13. Februar 2005 gehört die Frauenkirche Dresden dazu. Rechtsextremisten seit 1991 Am 13. Februar 1990 stellte der britische Holocaustleugner David Irving die Luftangriffe vor etwa 500 zustimmenden Zuhörern in Dresden als Völkermord der Alliierten und den Holocaust als ihre Erfindung dar. Damit gab er Neonazis in der DDR Auftrieb. Ab 1998 benutzten immer mehr Rechtsextremisten das jährliche Gedenken für ihre Propaganda. 1998 versuchten 30 bis 40 junge Neonazis zur Frauenkirche zu gelangen, wurden dabei von der Polizei eingekesselt und sangen Protestlieder. Im Jahr darauf waren es etwa 200 Rechtsextremisten, die sich unter die trauernden Dresdner Bürger mischten und ihrerseits zahlreiche mit deutschnationalen Farben und Symbolen geschmückte Kränze an den Bauzäunen der im Wiederaufbau befindlichen Frauenkirche niederlegten. Im Jahr 2000 organisierte erstmals die Junge Landsmannschaft Ostpreußen (JLO) einen eigenen nächtlichen „Trauermarsch“ unter dem Motto „Ehre den Opfern des Bombenterrors“, an dem etwa 500 Personen teilnahmen, darunter bekannte Rechtsextremisten wie Franz Schönhuber, Horst Mahler und Gert Sudholt. Von 2001 bis 2004 stieg die Teilnehmerzahl dieser Veranstaltung von 750 auf etwa 2100 an. Im Jahr 2005 lagen Organisation und Anmeldung dieses Gedenkmarsches in den Händen der NPD, die dabei eine „rechte Volksfront“ zur Schau stellte. Nachdem Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) die ihm für 2005 angetragene Schirmherrschaft abgelehnt hatte, übernahm Holger Apfel (NPD) diese. Am 13. Februar 2005 demonstrierten etwa 6500 Rechtsextremisten in einem mehrstündigen Marsch durch die Dresdner Innenstadt. Das war der bis dahin größte Neonazi-Aufmarsch in Europa. Diese jährlichen Märsche gehörten seither zu den größten regelmäßigen bundesweiten Veranstaltungen von Rechtsextremisten. Sie dienten der Machtdemonstration und Vernetzung von Angehörigen und Anhängern aller deutschen rechtsextremen Parteien, neonazistischer Freier Kameradschaften, einiger Vertriebenenverbände sowie ausländischen rechten Personen und Organisationen. Das dabei benutzte Propagandaschlagwort „Bombenholocaust“ löst die Angriffe aus ihrem historischen Kontext, setzt sie mit dem Holocaust gleich, klagt die Westalliierten als Kriegsverbrecher an, behauptet ihre besondere Grausamkeit und lastet ihnen die eigentliche Kriegsschuld an. Damit bestreiten Rechtsextremisten die ursächlichen Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands und betreiben eine Täter-Opfer-Umkehr. Am 13. Februar 2007 nahmen etwa 1.500 Personen am „Trauermarsch“ teil, zu dem JLO, NPD und regionale rechtsextreme Gruppen aufgerufen hatten. Eine zudem geplante „Aktionswoche“ sollte deutsche Kriegsverbrechen vergessen machen. 2010 konnten etwa 5000 Neonazis, 3000 weniger als erwartet, ihren Marsch nicht durchführen und mussten sich auf eine Standkundgebung vor dem Bahnhof Dresden-Neustadt beschränken: Zum Teil geduldete, zum Teil gewaltsam geräumte Blockaden tausender Gegendemonstranten bewirkten, dass die Polizei den Marsch auf keiner möglichen Route absichern konnte und ihn darum untersagte und unterband. Auch 2011 wurde der geplante Aufmarsch von Neonazis durch diverse Blockaden in der Stadt verhindert. Im Stadtteil Löbtau griff eine Gruppe von etwa 200 Rechtsextremen ein alternatives Wohnprojekt unter den Augen der Polizei an. Die Speicherung von Handydaten tausender Gegendemonstranten stieß auf starke Kritik in Politik und Medien. 2012 zog die JLO sich aus der Organisation des Marsches zurück; die NPD mobilisierte kaum dafür. Etwa 13.000 Gegendemonstranten erreichten, dass die etwa 1000 angereisten Rechtsextremisten nur auf einer verkürzten Route demonstrieren konnten. In seiner „Dresdner Rede“ im Ballhaus Watzke am 17. Januar 2017 bezeichnete der AfD-Politiker Björn Höcke die Luftangriffe als „Kriegsverbrechen […] vergleichbar mit den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki“. Mit der Bombardierung deutscher Städte habe man „nichts Anderes als uns unsere kollektive Identität rauben“ wollen. Weiter behauptete er, man habe „uns mit Stumpf und Stiel vernichten“ und „unsere Wurzeln roden“ wollen. Laut Höcke habe man das „zusammen mit der dann nach 1945 begonnenen systematischen Umerziehung […] auch fast geschafft“. Der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering schrieb dazu, Höckes Rede ersetze „die Erinnerung an den Vernichtungskrieg der Wehrmacht gegen Russen und Polen durch die Behauptung eines Vernichtungskriegs der Alliierten und das Gedenken des Holocaust durch die Unterstellung eines geplanten Völkermords an den Deutschen“, zu dessen „politischer Fortsetzung […] in der Argumentation der Rede auch die Etablierung des Berliner Denkmals“ für die ermordeten Juden Europas gehöre. Der AfD-Parteivorsitzende Tino Chrupalla behauptete im Februar 2020, die von Historikern ermittelte Zahl von 22.700 bis 25.000 Toten der Bombenangriffe sei zu niedrig; er gehe „von etwa 100.000 Opfern aus“. Dabei berief er sich auf Verwandte und Zeitzeugen. Der Historiker Sven Felix Kellerhoff kritisierte, Chrupalla orientiere sich „an rechtsextremen Geschichtsfälschern wie David Irving oder der NPD“. Im Februar 2020 stellten bei einer rechtsextremen Kundgebung in Dresden, die ein Dresdner NPD-Funktionär angemeldet hatte, Redner aus Ungarn, Bulgarien und Großbritannien die deutsche Kriegsschuld in Frage und zweifelten die von der Historikerkommission ermittelte Opferzahl der Bombenangriffe an. Unter den Teilnehmern war auch die frühere Pegida-Pressesprecherin Kathrin Oertel. Sowohl sie als auch ihre männliche Begleitung trugen abwechselnd ein Schild mit der Aufschrift Alliierte Befreiung = Holocaust am deutschen Volk. Die Polizei bestätigte den Anfangsverdacht einer Straftat. Tausende Gegendemonstranten machten gegen den Aufmarsch mobil. Die neonazistische Partei Der III. Weg inszeniert unter dem Motto „Ein Licht für Dresden“ jährlich am ersten Samstag nach dem 13. Februar in Städten, die im Krieg stark zerstört wurden, Aktionen zum Gedenken an die Opfer der Luftangriffe auf Dresden. Im Rahmen eines „Fackellaufs“ wurde 2021 von Parteiangehörigen eine Petroleumlaterne an den Austragungsort des „Gedenktages“ in Dresden getragen. 2021 nahmen an dieser Veranstaltung, die von verschiedenen Akteuren des rechtsextremistischen Spektrums organisiert worden war, in der Nähe des Dresdner Hauptbahnhofs rund 700 Personen teil. Bei der Kundgebung im Februar 2022 waren auch Mitglieder der im November 2021 gegründeten neonazistischen Neue Stärke Partei anwesend. 2023 fungierte eine Einzelperson und nicht wie früher die „Junge Landsmannschaft Ostpreußen“ als Anmelder. Bei dem „Gedenkmarsch“ wurden etwa 400 Rechtsextreme gezählt. Stadtreaktionen seit 1991 Der Dresdner Stadtrat, Vereine, Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Verbände und Partnergemeinden riefen zu den letzten Jahrestagen zum gemeinsamen Gedenken an die Angriffe und an alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft auf. Die deutsche Kriegsschuld könne nicht mit Kriegsverbrechen anderer aufgewogen, in keiner Weise angezweifelt oder relativiert werden. Versöhnung sei die einzige Option für eine friedliche Zukunft. Alle Dresdner seien eingeladen, sich zu beteiligen. So reihen städtische Plakate seit dem 60. Jahrestag der Angriffe am 13. Februar 2005 Dresden in eine Liste anderer durch Bombenangriffe (auch von Deutschen) zerstörter Städte wie Guernica, Warschau, Coventry und Leningrad ein. Die Stadtverwaltung erließ in manchen Jahren ein Versammlungsverbot für den 13. Februar in der Innenstadt, um Zusammenstöße von Rechtsextremisten und Gegendemonstranten zu verhindern. Antifa-Gruppen warfen ihr wiederholt vor, dem jährlichen Neonaziaufmarsch einen reibungslosen Ablauf zu ermöglichen und aktiven Gegenprotest anders als andere Städte auch mit rechtsstaatlich umstrittenen Mitteln zu unterbinden. 2010 hob ein Verwaltungsgericht ein städtisches Durchzugsverbot für Rechtsextreme durch die Innenstadt auf. 2011 hob der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen ein 2010 beschlossenes sächsisches Versammlungsgesetz, das Demonstrationsverbote an bestimmten Brennpunkten in Dresden erleichtern sollte, als verfassungswidrig auf. 2007 nahmen etwa 4000 Personen an einer Gegendemonstration unter dem Motto „Geh Denken“ teil. 2009 protestierten über 10.000 Menschen gegen den jährlichen Neonazi-Aufmarsch. 2010 bildeten etwa 10.000 Dresdner eine Menschenkette um die Altstadt, um diese symbolisch von Neonazis abzuschirmen. Die damalige Oberbürgermeisterin Helma Orosz (CDU) erinnerte daran, „wer diesen verdammten Krieg losgetreten hatte“, und rief dazu auf, Dresden „zu einer Festung gegen Intoleranz und Dummheit“ zu machen, um sich rechtsextremem Missbrauch des Gedenkens entgegenzustellen. Seit 2009 organisiert die Arbeitsgruppe 13. Februar die jährliche Menschenkette. Die AG untersteht direkt Dresdens Oberbürgermeister und repräsentiert ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis von Kirchen, der Jüdischen Gemeinde, Kommunalpolitik, Wirtschaft, Wissenschaft, Forschung, Sport, Kultur und Stadtverwaltung. Zudem wurde 2010 der Dresden-Preis gestiftet, der jährlich am 13. Februar vergeben wird. Im gleichen Jahr wurde auf dem Heidefriedhof die Skulptur Trauerndes Mädchen am Tränenmeer von Małgorzata Chodakowska zur Erinnerung an die Opfer des 13. Februar 1945 enthüllt. Am 13. Februar 2011 beteiligten sich etwa 17.000 Bürger weitgehend störungsfrei an den städtischen Gedenkveranstaltungen. Die Polizei speicherte am 18. und 19. Februar 2011 rechtswidrig eine Million Handy-Verbindungsdaten zur Erfassung von Teilnehmern der Anti-Nazi-Demonstration und fragte die Datensätze von insgesamt 54.782 Personen ab. Seit 2016 verzichtet die Stadt Dresden auf eine Gedenkveranstaltung auf dem Heidefriedhof oder einer anderen Begräbnisstätte für die Dresdner Bombenopfer. Siehe auch Liste von Todesopfern der Luftangriffe auf Dresden im Februar 1945 Trümmerbahnen in Dresden Literatur Gesamtdarstellungen Matthias Gretzschel: Als Dresden im Feuersturm versank. 2. Auflage. Ellert & Richter, 2006, ISBN 3-8319-0175-9. Michael Schmidt: Der Untergang des alten Dresden in der Bombennacht vom 13./14. Februar 1945. 2. Auflage. Sonnenblumen-Verlag, 2006, ISBN 3-9804637-3-7. Paul Addison, Jeremy A. Crang (Hrsg.): Firestorm: the bombing of Dresden 1945. Pimlico, 2006, ISBN 1-84413-928-X. Lothar Fritze, Thomas Widera (Hrsg.): Alliierter Bombenkrieg. Das Beispiel Dresden. 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Dokumentarfilm, Deutschland 2015, Produktion: ZDF, Reihe: ZDF-History, Länge: 45 Minuten Mythos Dresden – Der lange Schatten einer Bombennacht. Dokumentarfilm, Deutschland 2015, Autor/Regisseur: André Meier, Produktion: Doc.station Medienproduktion im Auftrag des MDR, Länge: 45 Minuten Weblinks Dresden: Abschlussbericht der Historikerkommission (PDF; 2,9 MB) Hans Michael Kloth (Spiegel, Oktober 2008): Das Ende der Legenden Deutsche Fotothek: Schadenspläne der Stadt Dresden Dort auffindbar: Blatt 1, 4, 5, 6. Bearbeitet 1945/1946 vom Stadtbauamt Dresden. Grundlagenkarte Dresden 1: 5000, Stadtvermessungsamt Dresden, mit Legende zum Zerstörungsgrad. Stadtarchiv Dresden „Der neue Plan von Dresden mit besonderer Kennzeichnung der total zerstörten Gebiete“. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Politikos
Politikos
Der Politikos (griechisch Politikós, lateinisch Politicus, deutsch Der Staatsmann) ist ein in Dialogform verfasstes Spätwerk des griechischen Philosophen Platon. Wiedergegeben wird ein fiktives, literarisch gestaltetes Gespräch zwischen einem nicht namentlich genannten „Fremden“ aus Elea und einem jungen Philosophen namens Sokrates, den man heute „Sokrates den Jüngeren“ nennt, um ihn von „Sokrates dem Älteren“, dem berühmten Lehrer Platons, zu unterscheiden. Anwesend sind außerdem Sokrates der Ältere und die Mathematiker Theodoros von Kyrene und Theaitetos. Die beiden Diskutanten stellen sich die Aufgabe zu bestimmen, was den Staatsmann ausmacht und worin die Aufgabe wahrer Staatskunst besteht. Der an Sachkenntnis weit überlegene Fremde lenkt das Gespräch. Er erklärt Sokrates dem Jüngeren das Wesen der Staatskunst. Zugleich ist der Dialog eine Übung im methodisch sauberen Vorgehen bei einer philosophischen Analyse. Zur Beantwortung der Frage, was Staatskunst ist, wird die Methode der Dihairesis verwendet. Dabei wird ein allgemeiner Begriff – in diesem Fall „Wissen“ – so lange in Unterbegriffe unterteilt, bis die genaue Definition des untersuchten Begriffs gefunden ist. Auf diesem Weg erarbeiten die Gesprächspartner einen Definitionsvorschlag: Staatskunst ist das Wissen darüber, wie die Menschenherde zu hüten ist. Diese Begriffsbestimmung erweist sich aber als ungenau und muss daher zurückgewiesen werden. Darauf wählt der Fremde einen neuen Ansatz. Zuerst erzählt er einen Mythos, der illustrieren soll, dass die Bestimmung der staatsmännischen Tätigkeit als Fürsorge eines Hirten für die Menschenherde unzulänglich ist, denn der Zuständigkeitsbereich eines Hirten und Herdenzüchters ist umfassender als der eines Politikers. Dann nimmt der Fremde etwas Vertrautes, die Wollweberei, als Muster, um die Vorgehensweise bei der Begriffsbestimmung des Unbekannten, der Staatskunst, zu demonstrieren. Im „Weber-Gleichnis“ grenzt er die Webekunst von allen anderen Künsten ab, mit denen sie Gemeinsamkeiten aufweist. Zu definieren ist die Kunst des wahren Staatsmanns, der optimal regiert, da er sich nach wissenschaftlichen Grundsätzen und Erkenntnissen richtet. Ein solcher Herrscher versteht sich als Erzieher der Bürger. Sein philosophisches Wissen befähigt ihn, gegensätzliche Elemente der Menschennatur wie Mut und Besonnenheit richtig „zusammenzuweben“. Dadurch entsteht eine ausgewogene, harmonische Mischung, schädliche Einseitigkeiten werden vermieden. Unter der Lenkung des weisen Staatsmannes orientiert sich die Staatsordnung am richtigen Maß, am Angemessenen, das er dank seiner Messkunst kennt. Das ist der Idealzustand; schriftlich fixierte Verfassungsbestimmungen sind dann überflüssig. Wenn aber ein solcher Staatsmann fehlt, soll die höchste Autorität den Gesetzen zukommen, die umsichtige Gesetzgeber eingeführt haben. Das ist allerdings nur die zweitbeste Lösung, denn ein Regelwerk kann die souveräne Kompetenz eines vorzüglichen Entscheidungsträgers nicht ersetzen. In der modernen Forschung wird insbesondere das Verhältnis des Politikos zu Platons anderen staatstheoretischen Schriften, der Politeia und den Nomoi, kontrovers diskutiert. Dabei geht es um die Frage, ob der Philosoph seine Meinung in wesentlichen Punkten geändert hat. Viel Beachtung findet auch die Problematik des Gegensatzes zwischen den flexiblen, situationsgerechten Ermessensentscheidungen eines weisen Staatslenkers und den starren, in manchen Fällen kontraproduktiven gesetzlichen Vorschriften. Gesetzliche Normen verhindern zwar schädliche Willkür der Herrschenden, können aber der Lebenswirklichkeit nicht immer gerecht werden. Umstände, Ort und Zeit Im Gegensatz zu manchen anderen platonischen Dialogen ist der Politikos nicht als Erzählung eines Berichterstatters gestaltet. Das Geschehen ist nicht in eine Rahmenhandlung eingebettet, sondern setzt unvermittelt ein und wird durchgängig in direkter Rede wiedergegeben („dramatische Form“). Der Politikos ist der dritte Teil einer Trilogie, einer Gruppe von drei inhaltlich und szenisch verknüpften Dialogen, die sich innerhalb von zwei Tagen abspielen. Der erste von ihnen ist der Theaitetos, in dem Sokrates der Ältere mit Theaitetos und Theodoros über Erkenntnistheorie diskutiert; der jüngere Sokrates hört schweigend zu. Am folgenden Tag treffen sich diese Männer zu einer neuen Diskussion, die im Dialog Sophistes dargestellt ist. Hinzu kommt nun ein weiterer Gesprächsteilnehmer, der sachkundige Fremde aus Elea, der eine zentrale Rolle übernimmt. In englischsprachiger Fachliteratur wird er gewöhnlich ES („Eleatic Stranger“) genannt. Wiederum beteiligt sich Sokrates der Jüngere nicht an der Debatte. Auch sein Namensvetter hält sich ganz zurück. Das Ausgangsthema ist diesmal die Definition des Begriffs „Sophist“. Dabei wird Platons sehr negatives Verständnis der Sophistik, einer umstrittenen Bildungsbewegung, zugrunde gelegt; sie wird als eine bestimmte Täuschungskunst definiert. Am gleichen Tag folgt der dritte Dialog, der Politikos, der im selben Kreis stattfindet wie der Sophistes. Nachdem es gelungen ist, die Natur des Sophisten zu bestimmen, stehen noch die Definitionen des Staatsmanns und des Philosophen aus. Die Philosophie und Staatskunst, zwei aus der Sicht des Autors seriöse Wissenschaften, sollen in ihrer Eigenart ergründet, korrekt beschrieben und von der Sophistik, die Platon als Schwindel betrachtet, abgegrenzt werden. Zuerst wird die Definition des Staatsmanns in Angriff genommen; sie bildet das Thema des Politikos. Ob Platon noch einen weiteren, der Besonderheit des Philosophen gewidmeten Dialog mit dem Titel Philosophos geplant hat, ist unklar; jedenfalls hat er ihn nicht geschrieben. Die drei fiktiven Dialoge der Trilogie spielen sich im Frühjahr 399 v. Chr. ab, kurze Zeit bevor Sokrates der Ältere zum Tode verurteilt und hingerichtet wird. Im Theaitetos wird erwähnt, dass die Anklage gegen ihn bereits erhoben ist. Der Schauplatz der Dialoge ist die Palaistra – ein für Ringkämpfe bestimmter Übungsplatz – in einem Gymnasion. Die Gymnasien dienten damals in erster Linie der körperlichen Ertüchtigung; außerdem war eine Palaistra auch ein sozialer Treffpunkt der Jugend. Nach Platons Darstellung hielt sich der ältere Sokrates gern an solchen Orten auf, wo sich Gelegenheit zu fruchtbaren Gesprächen mit jungen Männern und Jugendlichen bot. Teilnehmer Theodoros und der ältere Sokrates beteiligen sich im Politikos nur anfangs kurz an der Unterredung und beschränken sich dann aufs Zuhören. Unklar ist, ob der ältere oder der jüngere Sokrates das kurze Schlusswort spricht. Theaitetos greift diesmal überhaupt nicht ein, denn jetzt soll der jüngere Sokrates seine Fähigkeiten erproben und sich im Zwiegespräch mit dem Fremden bewähren. Der eigentliche Dialog spielt sich somit nur zwischen diesen beiden ab. Der Fremde legt seine Auffassungen dar, während sich sein junger Gesprächspartner über weite Strecken darauf beschränkt, Zustimmung zu äußern und Fragen zu stellen. Ob sich hinter dem mysteriösen Fremden aus Elea, dessen Name verschwiegen wird, eine bestimmte historische Person verbirgt, ist unklar und in der Forschung umstritten. Der Eleate tritt mit großer Autorität auf, seine Ausführungen in den Dialogen bestimmen den Gesprächsverlauf und werden zustimmend aufgenommen. Daher ist die Annahme verbreitet, dass er Platons eigene Auffassung ausdrückt. Dafür scheint insbesondere zu sprechen, dass der ältere Sokrates, der in Platons Dialogen gewöhnlich die Position des Autors vertritt, im Sophistes und im Politikos nur zuhört und keine Einwände erhebt, also anscheinend die Ergebnisse gutheißt. Allerdings teilen nicht alle Philosophiehistoriker dieses Verständnis. Abweichenden Hypothesen zufolge hält Platon kritische Distanz zur Untersuchungsmethode des Fremden und will dem Leser deren Unzulänglichkeit vor Augen führen. In diesem Sinne ist das Schweigen des älteren Sokrates sogar als stillschweigende Missbilligung gedeutet worden. Giuseppe Agostino Roggerone meint, der Standpunkt des Fremden sei nicht der platonische, sondern der des jungen Aristoteles, der zur Zeit der Abfassung des Dialogs noch zu Platons Schülern zählte. Die gegenteilige, in der Forschung vorherrschende Auffassung, wonach der Fremde als Platons Sprecher fungiert, vertreten beispielsweise Maurizio Migliori und Thomas Alexander Szlezák. Szlezák sieht in dem Fremden einen didaktisch versierten, intellektuell überlegenen Dialektiker. Im Sophistes führt Theodoros den Fremden als „Gefährten“ der Philosophen um Parmenides und dessen Schüler Zenon von Elea ein. Parmenides und Zenon lebten im damals griechisch besiedelten Süditalien, wo Parmenides der namhafteste Vertreter der nach seiner Heimatstadt Elea benannten eleatischen Schule war. Somit zählt nach Platons Darstellung auch der Fremde zu dieser Richtung. Allerdings tritt der Fremde keineswegs als konsequenter Vertreter der reinen Lehre der eleatischen Schule auf. Vielmehr kennt und kritisiert er die Schwächen des starren eleatischen Weltbilds. Darin stimmt seine Auffassung mit derjenigen Platons überein, dessen Ontologie (Lehre vom Sein) eine Überwindung des eleatischen Konzepts vom Sein und Nichtsein voraussetzt. Für die Existenz des jüngeren Sokrates gibt es keinen zuverlässigen Beleg. Daher wird in der Forschung mitunter bezweifelt, dass er eine geschichtliche Person ist. Tuija Jatakari hält ihn für fiktiv und meint, dass sich hinter diesem Namen Platon selbst verberge. Zwar ist nicht auszuschließen, dass es sich um eine von Platon erfundene Figur handelt, doch nach der vorherrschenden Forschungsmeinung ist es wahrscheinlich, dass er tatsächlich gelebt hat. Falls dies zutrifft, war er ein Altersgenosse Platons und des Theaitetos. Im Sophistes nennt ihn Theaitetos seinen „Mitübenden“, mit dem er Strapazen durchzuhalten pflege. Mit dem gemeinsamen strapaziösen Üben – Platon verwendet einen Begriff aus der Gymnastik – sind wohl wissenschaftliche Aktivitäten gemeint. Offenbar gehörte der jüngere Sokrates zu den profilierten Mitgliedern der Platonischen Akademie, der von Platon gegründeten Stätte philosophischer Forschung und Lehre. Aristoteles kritisierte in seiner Metaphysik einen nach seiner Ansicht irreführenden Vergleich eines Sokrates. Schon antike Aristoteles-Kommentatoren identifizierten diesen Denker mit Platons jüngerem Sokrates. Diese Gleichsetzung ist zwar hypothetisch, gilt aber in der Forschung als plausibel. Aristoteles beanstandete, Sokrates’ Betrachtungsweise habe zur Folge, dass Lebewesen wie mathematische Gegenstände behandelt würden. Sie würden unabhängig von ihren materiellen Bestandteilen definiert, so wie man einen Kreis ohne Bezug auf die Materie, in der er dargestellt ist, definiert. Offenbar hatte Sokrates die Auffassung vertreten, der organisch in Teile gegliederte Körper sei für den Menschen so unwesentlich wie für eine geometrische Figur das Material, aus dem eine Abbildung von ihr geformt wird, und gehöre daher nicht zur Definition des Menschen. Im Politikos wirkt der jüngere Sokrates konstruktiv mit, doch trägt er zur Erkenntnisgewinnung relativ wenig bei. Mitunter reagiert er unüberlegt und lässt es an Umsicht fehlen. Er übersieht die Problematik von Behauptungen, die er vertritt oder denen er voreilig zustimmt. Öfters ist er nicht oder nur teilweise in der Lage, den Ausführungen des Fremden zu folgen. Offensichtlich hat er noch keine gründliche philosophische Schulung erhalten. Bei den Mathematikern Theodoros und Theaitetos, die im Politikos Randfiguren sind, handelt es sich sicher um historische Personen. Theodoros lehrte sowohl in seiner nordafrikanischen Heimatstadt Kyrene als auch in Athen; Theaitetos war sein Schüler. Platon hat beide geschätzt. Von Theaitetos, den er für einen brillanten Wissenschaftler hielt, hat er ein sehr vorteilhaftes Bild gezeichnet. Inhalt Das Einleitungsgespräch Nachdem im vorherigen Dialog, dem Sophistes, die Rolle des Sophisten geklärt worden ist, wenden sich nun Sokrates, Theodoros, der Fremde aus Elea, Sokrates der Jüngere und Theaitetos einem neuen Thema zu. Sie haben sich bereits darüber verständigt, dass die Sophistik als Schwindel zu betrachten ist. Die Sophisten treten aber mit dem Anspruch auf, wertvolles Wissen zu besitzen, das sie als Weisheit und als Grundlage des politischen Erfolgs ausgeben und angeblich ihren Schülern vermitteln. Daher verwechseln manche Leute Philosophen mit Sophisten; andere sehen die Philosophen als Staatsmänner an, wiederum andere halten sie für völlig verrückt. Um der Verwirrung entgegenzutreten, haben sich die fünf Philosophen die Aufgabe gestellt, die Begriffe zu klären. Sie wollen bestimmen, worin die Aufgaben des Staatsmannes und des Philosophen bestehen, um diese beiden Tätigkeitsfelder klar von der Sophistik abzugrenzen. Echtes Bemühen um Wahrheit und um das Gemeinwohl soll in seiner Eigenart erfasst und von unseriösen Bestrebungen unterschieden werden. Dabei übernimmt der Fremde wiederum bereitwillig die Führung. Auf seinen Vorschlag soll zuerst die Staatskunst untersucht werden. Theaitetos, der in den beiden vorherigen Diskussionen sehr aktiv war, erhält diesmal eine Ruhepause. An seiner Stelle soll nun der jüngere Sokrates, der bisher geschwiegen hat, zusammen mit dem Fremden die Diskussion bestreiten, während die anderen zuhören. Die Staatskunst als besondere Form von Betreuungswissen Im Folgenden bestimmt der Fremde die Richtung des Gesprächs. Er trägt seine Auffassung vor und demonstriert die Untersuchungsmethode. Der jüngere Sokrates stimmt gewöhnlich nur zu oder stellt Verständnisfragen; mitunter äußert er aber auch Zweifel oder Unverständnis, wenn ihm eine Feststellung des Fremden seltsam oder problematisch erscheint. Die Diskutanten sind sich einig, dass zur Begriffsbestimmung wie schon im Sophistes die Methode der Dihairesis anzuwenden ist. Zunächst benennt der Fremde den Oberbegriff, die umfassende Gattung, um von da aus zu immer spezielleren Untergattungen fortzuschreiten und so schließlich die genaue Definition des Gesuchten zu gewinnen. Der Oberbegriff ist in diesem Fall epistḗmē (Wissen, Erkenntnis), denn der Staatsmann muss wie jeder, der eine Kunst oder Wissenschaft oder ein Handwerk ausübt, über ein bestimmtes einschlägiges Fachwissen verfügen. Zu fragen ist nun, von welcher Art diese besondere Sachkompetenz ist. Zunächst wird alles Wissen in zwei Klassen eingeteilt: das „erkennende“, das heißt theoretische Wissen (beispielsweise in der Arithmetik) und das „tätige“ Wissen, das heißt unmittelbar praxisbezogene Kenntnisse (beispielsweise die Kompetenz eines Handwerkers im Umgang mit seinem Material). Offensichtlich gehört die Staatskunst zur Gattung der „erkennenden Wissenschaften“. Diese wiederum werden unterteilt in „urteilende“ und „anordnende“. Mathematik ist urteilend, da sich die Aufgabe des Mathematikers darauf beschränkt, einen Sachverhalt aufzuzeigen. Ein Beispiel für anordnende Wissenschaft ist die Baukunst, denn der Baumeister muss nicht nur theoretisch erkennen, was richtig und sinnvoll ist, sondern seine Planung auch mit Anweisungen an die Arbeiter umsetzen und die Ausführung überwachen. Nach dieser Einteilung ist die Staatskunst anordnend. Die anordnenden Tätigkeitsfelder wiederum zerfallen in zwei Teile: die Aufgaben von Untergebenen oder Übermittlern, die Anweisungen anderer weitergeben, und die Funktion der „Selbstanordnenden“, die nach ihrem Ermessen Befehle erteilen. Letzteres ist beim Staatsmann der Fall. Auf diese Weise fährt der Fremde mit der Einteilung fort. Dabei gelangt er zur Betreuung bestimmter Gruppen von Lebewesen, der Hirtenarbeit, als einer Untergattung, zu der die Staatskunst gehört. Die Hirten wiederum werden nach der Art der von ihnen betreuten Lebewesen unterteilt. Nun möchte Sokrates rasch vorankommen, indem er die beweglichen Lebewesen oder „Sinnenwesen“ in zwei Klassen einteilt, Tiere und Menschen, sodass der Staatsmann als Hirt der Menschenherde definiert werden kann. Hier macht ihn aber der Fremde auf einen methodischen Fehler aufmerksam. Die Gesamtheit der beweglichen Lebewesen zerfällt nicht in die zwei Hauptteile „Tiere“ und „Menschen“, ebenso wie auch die Menschheit nicht in die zwei Hauptteile „Griechen“ und „Nichtgriechen“ („Barbaren“) zerfällt. Man darf nicht einen Teil X aus einer Menge herausgreifen und den Rest als „Nicht-X“ definieren, wenn die Elemente von Nicht-X heterogen sind und außer der Tatsache, dass sie nicht zu X gehören, nichts gemeinsam haben. Da die nichtgriechischen Völker untereinander sehr verschiedenartig sind, ist „Nichtgrieche“ keine Definition einer bestimmten Menschenart. Ebenso ist „Tier“ im Sinne von „Nichtmensch“ keine Bezeichnung einer bestimmten Gattung von Lebewesen. Sonst könnte beispielsweise ein Kranich die Kraniche abtrennen und alle übrigen Lebewesen zur Gattung der Nichtkraniche zusammenfassen. Man muss also erst die Lebewesen sachgerecht unterteilen, bis man zu einer korrekten Definition des Menschen gelangt. Bei der Dihairesis dürfen keine Schritte übersprungen werden. Sokrates sieht das ein. Darauf nimmt der Fremde eine zoologische Klassifikation vor. Er bestimmt den Menschen als Teil der Gattung der zahmen, in Herden lebenden Lebewesen und definiert ihn schließlich präzis innerhalb dieser Gattung als nackten (federlosen) Zweifüßler. Demnach ist der Staatsmann der Hirt, der die Herde dieser Zweifüßler zu betreuen hat. Die Unzulänglichkeit der Bestimmung der Staatskunst als Hirtentätigkeit Mit dem erreichten Ergebnis ist der Fremde jedoch unzufrieden. Die Definition des Staatsmanns als Hirt der Menschenherde ist unbefriedigend, da sich seine Tätigkeit fundamental von derjenigen aller anderen Hirten unterscheidet. Die anderen Hirten, beispielsweise Rinderhirten, sind Generalisten; sie sorgen nicht nur für Ordnung, sondern züchten ihre Tiere planmäßig, kümmern sich um ausreichende Ernährung und fungieren nötigenfalls als Geburtshelfer und als Ärzte. Bei der Menschenherde hingegen sind diese Funktionen getrennt: Nicht nur Politiker, sondern auch Kaufleute, Bauern, Bäcker, Sportlehrer und Ärzte übernehmen Zuständigkeiten in der Herdenbetreuung. Alle diese Spezialisten können daher auf die Bezeichnung Hirt Anspruch erheben. Es muss aber die Besonderheit des Staatsmanns herausgearbeitet werden. Das kann die ungenaue Definition nicht leisten. Sokrates räumt die Berechtigung des Einwands ein. Der kosmologische Mythos Der Fremde wählt nun einen neuen Ansatz, um Sokrates das Spezifische der staatsmännischen Tätigkeit vor Augen zu stellen. Zu diesem Zweck erzählt er einen kosmologischen Mythos, in dem von völlig anderen Lebensverhältnissen in einer fernen mythischen Vergangenheit die Rede ist. Damit will er zeigen, dass man sich eine Lenkung der Menschenherde nicht nur so vorstellen kann, wie sie den gegenwärtig Lebenden aus eigener Anschauung vertraut ist. Die gegenwärtigen Aufgaben eines Staatsmanns stellen im Rahmen einer Menschheitsentwicklung, die sich über riesige Zeiträume erstreckt, nur einen Spezialfall von Leitung der Herde dar. Vorab macht der Fremde darauf aufmerksam, dass dem Mythos „Scherz“ (paidiá) eingemischt ist. Damit deutet er an, dass es sich eher um ein Gedankenexperiment als um eine Schilderung mit historischem Wahrheitsanspruch handelt. Der Mythos illustriert ein zyklisches Bild der Naturgeschichte und der Menschheitsgeschichte. Vorausgesetzt wird das damals vorherrschende Modell des Kosmos, dem zufolge die Erde der ruhende Mittelpunkt ist, um den sich das Weltall dreht. Nur das Göttliche verhält sich immer gleich, alles andere tendiert von Natur aus zu ständiger Veränderung. Da der Kosmos göttlicher Lenkung untersteht, ist die Bewegung des Himmels regelmäßig. Der Himmel ist aber ein materielles Objekt und muss als solches zwangsläufig auch Änderungen unterliegen, da die Körperlichkeit keine absolute Konstanz zulässt. Das Weltall kann sich also nicht über einen endlosen Zeitraum immer gleich drehen. Daher muss sich die Drehrichtung von Zeit zu Zeit umkehren, sodass die Sonne von Westen nach Osten wandert. Das kann aber nicht von der göttlichen Lenkung direkt bewirkt werden, denn diese bleibt sich immer gleich und kann daher nicht Gegensätzliches aktiv verursachen. Die Umkehr geschieht vielmehr dadurch, dass die göttliche Lenkung in regelmäßigen Zeitabständen – jeweils nach vielen Zehntausenden von Umläufen – das Weltall loslässt, worauf es von sich aus anfängt sich in der Gegenrichtung zu drehen. Damit beginnt eine neue kosmische Periode, nach deren Ende die Gottheit wieder die Lenkung ergreift und die Drehrichtung umkehrt. Jeder Wechsel der Drehrichtung stellt für die irdischen Lebewesen eine Katastrophe dar; nur wenige Menschen überleben diese Umwälzung. In der Periode, in der die Drehrichtung der göttlichen Lenkung folgt, übt der Gott Kronos die Weltherrschaft aus; in der Periode der gegenläufigen Bewegung, in der sich der Kosmos gegenwärtig befindet, untersteht die Welt dem Göttervater Zeus, einem Sohn des Kronos. Die beiden Perioden sind durch völlig gegensätzliche Daseinsbedingungen gekennzeichnet. Unter Zeus pflanzen sich die Menschen fort, unter Kronos entstehen sie aus der Erde. Während sie in der Zeit des Zeus während einer Lebensspanne altern, werden sie in der Zeit des Kronos immer jünger und schließlich als Kinder kleiner, bis sie mit dem Tod verschwinden. Wenn Kronos herrscht, ist er selbst der Hirt der Menschenherde. Wie bei einer Tierherde erfüllt er alle ihre Bedürfnisse mit seiner göttlichen Macht. Politiker werden daher nicht benötigt. Unter Zeus tritt die göttliche Lenkung in den Hintergrund, die Menschheit muss sich selbst um ihren Fortbestand und ihr Wohlergehen kümmern und benötigt menschliche Führung. Daher trifft die Bezeichnung „Hirt“ für den Menschenbetreuer nur in der Kronos-Periode voll zu. Kronos ist wirklich Hirt, da er sich als Gott von seiner menschlichen Herde fundamental unterscheidet und sie mit allem versorgt. Die gegenwärtigen Politiker hingegen sind nicht im vollen Sinne des Wortes Hirten, denn sie sorgen nicht für alles und sind ebenso wie die von ihnen Betreuten nur Sterbliche. Hinzu kommt, dass sich in der Zeit der Herrschaft des Zeus der göttliche Einfluss weit weniger bemerkbar macht als unter Kronos. Da die Welt unter Zeus weitgehend sich selbst und ihrer Neigung zum Chaos überlassen bleibt, kommt es zu Auflösungs- und Verfallserscheinungen. Ein neuer Ansatz Der Mythos hat verdeutlicht, dass die Definition der Präzisierung bedarf. Die Staatskunst muss genauer bestimmt werden: Sie ist menschliche Lenkung der Menschenherde im Gegensatz zur göttlichen. Grundlegend ist außerdem die Unterscheidung zwischen einer auf Konsens beruhenden, freiwilligen Leitung und einer Gewaltherrschaft. Nur die Herrschaft über Menschen, die sich freiwillig unterordnen, zählt der Fremde zur Staatskunst. Die Tyrannis, gewaltsame Herrschaft eines Unterdrückers, trennt er davon ab, da sie von gänzlich anderer Natur sei. Demnach ist die Staatskunst als freiwillig ausgeübte Betreuung einer freiwillig folgsamen Menschenherde zu bestimmen. Doch fehlt noch immer ihre Abgrenzung von anderen Betreuungsfunktionen. Da der Fremde weiterhin mit dem erreichten Erkenntnisstand unzufrieden ist, bittet ihn Sokrates, die Mangelhaftigkeit der bisherigen Überlegungen einsichtig zu machen. Der Fremde antwortet, es sei schwer, so etwas begreiflich zu machen, wenn man nicht ein „Muster“ (parádeigma, oft ungenau mit „Beispiel“ übersetzt) zur Hand nehme. Er hält angesichts der Schwierigkeit der Aufgabe ein methodisch umsichtiges Vorgehen für wichtig. Zur Erläuterung stellt er einen Vergleich mit dem Lesenlernen in der Schule an. Ein Lernender schreitet vom bereits Bekannten zum Unbekannten voran, indem er sich Analogien zunutze macht. Er überträgt korrekte Vorstellungen, die er sich anhand des Bekannten gebildet hat, sinngemäß auf das Unbekannte. So erfasst er Gemeinsamkeiten zwischen dem bereits Verstandenen und dem noch Unverstandenen und erarbeitet sich die Erkenntnis des Neuen. Ein passendes Muster aus dem Bereich des Vertrauten kann die analoge Beschaffenheit des gesuchten Unbekannten begreiflich machen. Das Weber-Gleichnis Das Muster, das der Fremde wählt, ist die Webekunst, genauer: die Wollweberei. Anhand ihrer Definition soll demonstriert und eingeübt werden, wie man vorzugehen hat, wenn man herausfinden will, worin eine Wissenschaft oder Kunst besteht. Damit wird die Lösung der anfänglichen Aufgabe vorbereitet, die Bestimmung dessen, was den Staatsmann und die Staatskunst ausmacht. Dieser Teil des Dialogs ist unter der Bezeichnung „Weber-Gleichnis“ bekannt. Darüber hinaus dient die Beschäftigung mit dem Muster der Einübung in die Dialektik, die philosophische Methode der Erkenntnisgewinnung. Der Oberbegriff, der in diesem Fall den Ausgangspunkt für die Dihairesis bildet, ist „Produkt“ („alles was wir herstellen und erwerben“). Die Produkte des Menschen zerfallen in zwei Hauptgruppen: die Dinge, die ihm ermöglichen, etwas zu tun, und diejenigen, die ihn davor schützen, etwas zu erleiden. Die Schutzmittel werden unterteilt in Gegenmittel (Heilmittel) und Abwehrmittel, die Abwehrmittel in Waffenrüstungen und Einhegungen, die Einhegungen in diejenigen, die vor fremden Blicken abschirmen sollen, und diejenigen, die vor Kälte und Hitze schützen sollen. Die Schutzmittel gegen Kälte und Hitze sind entweder Obdach oder Bedeckungen, die Bedeckungen entweder Unterlagen (auf denen man schläft) oder Umhüllungen. Von den Umhüllungen schreitet man weiter unterteilend voran bis zu den Kleidungsstücken. Schließlich gelangt man so zur Webekunst, die den wichtigsten Teil der Kleiderproduktion ausmacht. Durch dieses Verfahren ist die Webekunst zwar von vielen verwandten Künsten – etwa der Herstellung von Filz oder Leder – abgegrenzt, doch weist der Fremde darauf hin, dass damit der Begriff „Webekunst“ nicht hinlänglich definiert ist. Die Besonderheit dieser Kunst liegt nicht nur im Material, sondern auch in der Art des Umgangs mit diesem. Das Weben ist ein Zusammenflechten, dem ein anderer, seiner Art nach entgegengesetzter Arbeitsgang vorausgeht: das Kardieren (Krempeln), das eine Trennung von Zusammenhängendem und Zusammengefilztem ist. Das Kardieren gehört zur Wollbearbeitung zwecks Kleiderproduktion, aber nicht zum Weben. Weitere Arbeitsgänge, die mit dem Weben nichts zu tun haben, sind das Walken und das Spinnen. Somit kann nicht alles, was zur Produktion von Wollkleidung gehört, zur Webekunst gezählt werden. Hinzu kommt die Herstellung der Werkzeuge, die der Weber benötigt; sie ist kein Weben und doch ein Teil der Arbeit, die verrichtet werden muss, damit Wollkleidung entstehen kann. Aufgrund dieser Überlegungen stellt der Fremde fest, dass eine Kunst nicht nur von anderen Künsten abzugrenzen ist, die andersartige Produkte hervorbringen, sondern auch von ihren eigenen Hilfskünsten, die zwar der Erzeugung ihres Produktes dienen, aber nicht an dessen Herstellungsprozess beteiligt sind. Daraus ergibt sich die Unterscheidung zwischen herstellenden Künsten, durch die ein bestimmtes Produkt verfertigt wird und die somit dessen Hauptursachen sind, und Hilfskünsten, die der Herstellung der benötigten Werkzeuge dienen und somit Mitursachen sind. Bei den Hauptursachen der Entstehung von Wollkleidung trennt der Fremde zunächst das Walken als eigene Kunst ab. Alles Übrige nennt er Wollverarbeitungskunst. Diese zerfällt in einen trennenden und einen verbindenden Teil. Zum trennenden Teil zählt das Kardieren, aber auch ein Teil der Behandlung auf dem Webstuhl. Der verbindende Teil setzt sich aus einer drehenden und einer verflechtenden Tätigkeit zusammen. Drehend ist die Verfertigung der Schussfäden („Einschlag“) und Kettfäden („Zettel“, „Kette“), verflechtend die Erzeugung des Gewebes. So gelangt der Fremde schließlich zu einer präzisen Bestimmung der Weberei: Sie ist diejenige Kunst, die „durch geradlinige Verflechtung von Einschlag und Kette ein Geflecht hervorbringt“. Die Bedeutung der Messkunst Nachträglich stellt sich die Frage, ob die umständlich wirkende Ausführlichkeit bei dieser Begriffsbestimmung angemessen war oder ob man auf kürzerem Weg zum selben Ergebnis hätte kommen können. Diese Frage führt auf ein neues allgemeines Thema: die Bestimmung des jeweils Angemessenen, das heißt: die philosophische Messkunst. Beim Messen wird Größeres mit Kleinerem verglichen. Es geht aber nicht nur um eine Bestimmung relativer Größenverhältnisse, sondern auch – wie bei der Ausführlichkeit einer Begriffsbestimmung – um etwas anderes: um den Gegensatz von Übermaß und Mangel, um das, was zu viel oder zu wenig ist. Hier kommt neben dem jeweiligen Gegensatzpaar (wie etwa größer/kleiner oder mehr/weniger) ein weiterer Faktor ins Spiel: das richtige Maß. Dieses ist eine absolute, objektive Größe, von der alle Bewertungen abhängen. Die Kenntnis des richtigen Maßes ist aus der Sicht des Fremden das Kernstück jeder Wissenschaft, Technik oder Kunst. Das Angemessene liegt zwischen den Extremen. Somit zerfällt die Messkunst in zwei Teile. Der eine Teil umfasst alle Techniken, die Größen durch Vergleich mit anderen Größen bestimmen, wie etwa beim Messen und Vergleichen von Längen oder Geschwindigkeiten. Der andere Teil misst das, was ist, an dem, was sein soll, an der Norm des Angemessenen, denn das Angemessene ist das, was alles Gute und Schöne bewirkt. Bei zeitlichen Entscheidungen ist das Angemessene der jeweils richtige Zeitpunkt (kairós). Wenn beispielsweise bei einer Untersuchung die Frage gestellt wird, ob die Ausführlichkeit angemessen ist, geht es nicht in erster Linie darum, dass man das Gesuchte möglichst leicht und schnell findet. Dies ist ein zweitrangiger Aspekt. Weitaus wichtiger ist, ob ein Lehrender die Methode auf solche Art anwendet, dass der Schüler dadurch allgemein fähiger wird, ein Ziel zu erreichen. Das Kriterium der Angemessenheit ist im Unterricht nicht der Aufwand an Zeit und Mühe, sondern nur der didaktische Ertrag. Das Vorgehen bei der Abgrenzung der Staatskunst Nun wendet sich der Fremde wieder der Bestimmung der staatsmännischen Kunst zu. Dabei stellt sich methodisch die gleiche Aufgabe wie bei der Definition der Weberei. Die Weberei ist von allen anderen Künsten, mit denen sie Gemeinsamkeiten aufweist, abgegrenzt worden. Ebenso ist die Staatskunst dadurch zu bestimmen, dass sie von allen anderen Künsten unterschieden wird, die ebenfalls dem Gemeinwohl dienen und ihr daher den Anspruch auf die Fürsorge für den Staat streitig machen könnten. Damit stellt sich die Aufgabe, die Staatskunst als Hauptursache von den Mitursachen sowie von anderen hauptursächlichen Künsten im Staat abzugrenzen und so ihre Besonderheit herauszuarbeiten. Hierbei sind alle Künste oder Techniken ins Auge zu fassen, die zum Fortbestand des Staates beitragen. Während bei der Webekunst nur die Herstellung von deren Werkzeugen zu den Mitursachen zählt, gehören im Fall des Staates alle produzierenden Gewerbe zu dieser Klasse. Im Staat als arbeitsteiliger Gemeinschaft ist jede Herstellung von Besitztümern – auch solchen, die nur dem Vergnügen dienen – eine Mitursache seines Fortbestands. Hier wird eine Änderung des Verfahrens erforderlich: Wegen der Verschiedenartigkeit und Vielzahl der in Betracht kommenden Tätigkeiten und ihrer Zwecke stößt die Unterteilung eines Begriffs in jeweils zwei Unterbegriffe, wie sie für die Weberei mit Erfolg eingesetzt wurde, auf Schwierigkeiten. Daher muss die Vorgehensweise der Besonderheit dieses Falls angepasst werden. Es können auf einer Untergliederungsebene mehr als nur zwei Elemente vorhanden sein. Zu den Hauptursachen zählt der Fremde die Tätigkeiten von Dienstleistern. Zu den mit Dienstleistungen Beschäftigten gehören Sklaven, Tagelöhner und Lohnarbeiter ebenso wie Kaufleute und Schiffsherren, Krämer und Geldwechsler, Herolde und Sekretäre, Wahrsager und Priester. Bei ihnen ist die Abgrenzung vom Staatsmann einfach. Einen Sonderfall bilden allerdings gewisse durch das Los bestimmte hohe Beamte – in Athen der Archon basileus –, die zugleich Oberpriester sind, und ihre Diener; sie genießen so großes Ansehen, dass ihre Autorität in die Nähe der herrscherlichen rückt. Schwieriger ist die Abgrenzung bei einer besonderen Gruppe von Dienstleistern, die sich mit den Staatsgeschäften befassen und daher als Konkurrenten des Staatsmanns in Betracht kommen. Der Fremde beschreibt sie als Männer, die teils „Löwen und Kentauren und anderen Wesen dieser Art gleichen“, teils „Satyrn und den schwachen, aber wendigen Tieren“; schnell vertauschen sie Aussehen und Fähigkeit untereinander. Diese „sonderbare“ Art von Dienstleistern wollen der Fremde und der jüngere Sokrates nun genau ins Auge fassen und vom Staatsmann unterscheiden. Der Fremde nennt den hier gemeinten Typus des mit Staatsangelegenheiten Beschäftigten „den größten Zauberer unter allen Sophisten und den in dieser Kunst erfahrensten“. Die Charakterisierung als „Zauberer“ (góēs) – diese abwertende Bezeichnung wird oft für Scharlatane, Schwindler und Betrüger verwendet – lässt erkennen, dass der Fremde dem Personenkreis, von dem die Rede ist, äußerst kritisch gegenübersteht. Es handelt sich aus seiner Sicht um unseriöse Politiker, die sich zu Unrecht als Staatsmänner ausgeben und in Wirklichkeit die raffiniertesten Scharlatane sind. Sie sind diejenigen, denen die verschiedenen bestehenden Staatsverfassungen Gelegenheit bieten, an die Macht zu gelangen. Von solchen angeblichen Staatsmännern unterscheidet der Fremde den wirklichen Staatsmann, der äußerst selten ist. Dieser verdankt seine Macht weder seinem Reichtum noch der Menge seiner Anhänger. Seine Herrschaft beruht nicht auf Willkür, aber sie legitimiert sich auch nicht dadurch, dass Bestimmungen einer bestehenden Verfassung eingehalten werden oder dass die Regierten einverstanden sind. Was ihn zur Staatsführung befähigt und berechtigt, ist vielmehr ausschließlich seine Kompetenz: seine Kenntnis der Wissenschaft von der Herrschaft über Menschen. Der Fremde vergleicht diese Kompetenz mit der eines Arztes. Ein Arzt ist als solcher nicht qualifiziert, weil er über ein Vermögen verfügt oder weil unwissende Patienten ihn für kompetent halten und sich daher von ihm behandeln lassen oder weil er bestimmte geschriebene Vorschriften einhält. Vielmehr besteht seine Qualifikation in nichts anderem als seiner Sachkenntnis, die ihn befähigt, tatsächlich zu heilen. Da nur die Sachkompetenz zählt, sind die verschiedenen Verfassungstypen ausschließlich unter diesem Gesichtspunkt zu beurteilen. Je ähnlicher eine Staatsform den Verhältnissen unter einem solcherart qualifizierten Staatsmann ist, desto besser ist sie. Ermessensfreiheit des Staatsmanns und gesetzliche Normen Von diesem Konzept ausgehend zieht der Fremde eine radikale, nach damaligen Vorstellungen anstößige Konsequenz: Er behauptet, der echte Staatsmann stehe sogar über dem Gesetz. Gesetze seien zu starr, keine gesetzliche Bestimmung könne jeder eintretenden Situation und allen davon Betroffenen gerecht werden. Der Staatsmann hingegen sei in der Lage, stets situationsbezogen optimal zu entscheiden. Daher könne er auch ohne Gesetze regieren oder dürfe bestehende Normen missachten. Sachverstand sei jedem Regelwerk überlegen. Da der junge Sokrates hier Bedenken äußert, begründet der Fremde seine Auffassung ausführlich. Allerdings weist er auch darauf hin, dass dies nur für einen weisen, überlegenen Staatsmann im Sinne seines Ideals gelte, nicht für andere Herrscher. Überall dort, wo ein solcher Staatsmann nicht zur Verfügung stehe, müsse die höchste Autorität bewährten Gesetzen zukommen. Die Bewertung der Staatsformen Aus den dargelegten Erkenntnissen ergibt sich das Kriterium für die Bewertung der verschiedenen Staatsformen. Der Fremde unterscheidet – abgesehen vom Sonderfall der Herrschaft des idealen Staatsmanns – drei normale Arten der Regierung: Die Macht liegt entweder bei einer Person oder bei wenigen oder bei der Menge. In jedem der drei Fälle kann entweder nach Gesetzen oder willkürlich regiert werden. Somit ergeben sich sechs Möglichkeiten. Unter ihnen ist die Alleinherrschaft die beste, wenn sie von einem König ausgeübt wird, der den idealen Staatsmann nachahmt und sich an die Rechtsnormen hält. Wenn der Herrscher aber ein Tyrann ist, ist sie die schlechteste von allen. Die zweitbeste Regierungsform ist die Aristokratie, die Herrschaft einer kleinen Elite, welche die Gesetze respektiert. Wenn aber eine herrschende Gruppe ungesetzlich agiert, handelt es sich um Oligarchie, die zweitschlechteste der sechs Möglichkeiten. Die Demokratie liegt in der Mitte: Bei Wahrung der Gesetze ist sie die drittbeste der sechs Regierungsformen, bei Missachtung der Gesetze die drittschlechteste. Die Alleinherrschaft bedeutet stärkste Machtkonzentration und hat daher im Positiven wie im Negativen die größten Auswirkungen. Die Demokratie ist wegen der Zersplitterung der Macht am schwächsten, daher bewirkt sie am wenigsten. Sie kann weder sehr gute noch sehr schlechte Verhältnisse herbeiführen. Die Abgrenzung der Staatskunst von verwandten Tätigkeiten Drei Tätigkeiten – die des Richters, des Feldherrn und des Redners – weisen eine gewisse Verwandtschaft mit dem Handeln des Staatsmanns auf, da sie ebenfalls mit bedeutender Macht verbunden sind. Von ihnen unterscheidet sich die Staatskunst dadurch, dass sie keine derart begrenzten Aufgaben hat. Ihr Zuständigkeitsbereich umfasst alles, worauf sich staatliche Aufsicht erstreckt. Der Staatsmann verfügt über ein dem bloßen Fachwissen übergeordnetes Integrationswissen. Seine Aufgabe ist nicht eine besondere Verrichtung, sondern die Koordination, die umfassende Planung und die Lenkung des Ganzen. Er führt nichts selbst aus, sondern erteilt nur Anweisungen. Die Richter, Feldherrn und Redner sind ihm untergeordnet, ihre Funktionen sind dienend und ausführend. Die Staatskunst als königliche Webekunst Nach der Abgrenzung bleibt noch der positive Inhalt der Staatskunst zu bestimmen. In der letzten Phase des Dialogs wird herausgearbeitet, dass zwischen Weberei und Staatskunst nicht nur eine formale Analogie hinsichtlich der Vorgehensweise beim Definieren besteht, sondern auch eine inhaltliche: Die Staatskunst ist gleichsam ein „königliches Zusammenflechten“, das ein „Gewebe“ liefert. Zum Erstaunen des Sokrates beschreibt der Fremde das Verhältnis der Tugenden zueinander nicht als rein harmonisch. Er teilt nicht die geläufige Meinung, dass sie alle miteinander „befreundet“ seien. Nach seiner Ansicht gibt es Tugenden, die miteinander auf gewisse Weise im Streit liegen: die Tapferkeit, zu deren Kennzeichen Schnelligkeit, Heftigkeit und Schärfe gehören, und die Besonnenheit (sōphrosýnē), die Merkmale wie Langsamkeit und Sanftheit aufweist. Jede dieser Tugenden hat einen Bereich, in dem sie benötigt wird. Wo aber das zur Tapferkeit Gehörige unangebracht ist, erscheint es als Übermut und Tollkühnheit, und wo das, was die Besonnenheit auszeichnet, fehl am Platz ist, da spricht man von Feigheit und Trägheit. Menschen, die von einer der beiden gegensätzlichen Tugenden geprägt sind, pflegen für gegenteilig Veranlagte kaum Verständnis aufzubringen. Im Privatleben sind solche Einseitigkeiten und Konflikte relativ harmlos. Wenn sie sich aber in der Politik bemerkbar machen, sind die Auswirkungen verheerend. Übertriebene Friedlichkeit lässt die Wehrkraft schwinden; Angreifern wird kein wirksamer Widerstand mehr entgegengesetzt, was zum Verlust der Freiheit führt. Man wird dann von Feinden versklavt. Aber auch ein Übermaß an Tapferkeit hat furchtbare Folgen. Die so Veranlagten suchen Auseinandersetzungen, sie sind streitlustig und verwickeln den Staat in Konflikte mit übermächtigen Gegnern. Wenn sie dann in den leichtsinnig vom Zaun gebrochenen Kriegen unterliegen, geht der Staat zugrunde. Auch in diesem Fall steht am Ende die Unfreiheit. Tapferkeit und Besonnenheit sind wertvolle Qualitäten, aber wenn es an Ausgewogenheit fehlt, führt jede von ihnen zum Untergang des Staates. Hier tritt wiederum die zentrale Bedeutung des richtigen Maßes, der Angemessenheit und ausgewogenen Mischung zutage. Nicht nur für die Regierenden, sondern für die gesamte Bürgerschaft ist es unbedingt erforderlich, die Gesinnung zu erzeugen, die sich aus der richtigen Mischung der Charaktereigenschaften ergibt. Das geschieht durch entsprechende Erziehung und Lenkung nicht nur der Heranwachsenden, sondern aller Bürger. Die Anordnung der erforderlichen Maßnahmen ist Sache des Staatsmanns. Ihm fällt die Aufgabe zu, die Charaktere der Menschen durch Prüfung zu erkennen, jeden gemäß seiner Veranlagung zu behandeln und die Aufsicht über alle zu führen. Darin gleicht der Staatsmann dem Weber, der die Walker, Kardierer und Spinner anleitet und beaufsichtigt. Der Festigkeit der Tapferen entspricht in der Weberei die Beschaffenheit der festen Kette, der Sanftheit der Besonnenen diejenige des weichen Einschlags. Mit der richtigen Verflechtung, für die der Staatsmann zu sorgen hat, ist sowohl das konstruktive Zusammenwirken der unterschiedlichen Naturelle im Staat gemeint als auch die richtige Ausformung und Harmonisierung der Qualitäten in den Seelen der einzelnen Staatsbürger. Außer dem Verbinden gehört aber auch wie in der Wollbearbeitung ein Trennen dazu: die Trennung des Guten vom Schlechten, die in jeder „zusammensetzenden Wissenschaft“ selbstverständlich ist. Kein Produzent mischt wissentlich Gutes (Taugliches) mit Schlechtem (Untauglichem), sondern jeder scheidet das Schlechte aus. So darf auch der Staatsmann im Staat keinen Einfluss schlechter Menschen dulden. Nach der Lehre des Fremden weist die Seele zwei Teile auf: einen ewigen, dem Göttlichen zugeordneten und einen tierischen. Die königliche Webekunst erfüllt ihre Aufgabe, indem sie den ewigen Teil durch ein göttliches Band vereinigt und den tierischen durch ein menschliches. Das göttliche Band harmonisiert die verschiedenartigen Teile der Gesamttugend, indem die Seelen der gut Erzogenen dazu bewogen werden, die Wahrheit zu erfassen und sich beharrlich am Ideal des Schönen, Gerechten und Guten zu orientieren. Das menschliche Band ist die Eheschließung. Die Partnerwahl erfolgt oft auf falsche Weise, sei es unter dem Gesichtspunkt der Mehrung von Reichtum und Macht, sei es indem sich nur Gleichgeartete miteinander verbinden und so ihre Einseitigkeit noch verstärken. Der weise Staatsmann weiß diese Fehler zu verhindern. Er macht seinen Einfluss geltend, um zu bewirken, dass die wagemutigen und die zurückhaltenden Bürger nicht jeweils unter sich bleiben, sondern miteinander Umgang pflegen und sich auch durch Heiraten vermischen. Mit seiner Kunst des Zusammenwebens sorgt er bei der Ämterbesetzung durch kluge Personalpolitik dafür, dass die beiden Charaktertypen einander sinnvoll ergänzen. Indem er allen Bürgern die richtige Vorstellung vom Schönen und Guten vermittelt, schafft er Eintracht und Freundschaft zwischen den gegensätzlich Veranlagten. Durch die rechte Verflechtung der unterschiedlichen Gemütsarten webt er das Geflecht der staatlichen Gemeinschaft, das die gesamte Bevölkerung umfasst und zusammenhält. So bringt seine Kunst „das herrlichste und beste aller Gewebe“ hervor. Politischer und philosophischer Gehalt Das staatstheoretische Denken und seine ethische Grundlage Für die Geschichte der politischen Philosophie bedeutsam sind insbesondere die Einteilung und Bewertung der Staatsformen sowie die Erörterungen über das Spannungsverhältnis von Stabilität und Innovation, staatsmännischen Ermessensentscheidungen und Legalismus. Ebenso wie in Platons anderen politischen und ethischen Werken basieren die Überlegungen des Philosophen im Politikos auf der Überzeugung, ethische Werte und Normen seien objektive, wissenschaftlich erforschbare Gegebenheiten. Aus dieser Grundannahme folgert Platon, es gebe eine den Fachwissenschaften entsprechende Wissenschaft von den ethischen Normen. Die Kenntnis dieser Normen mache den idealen Staatsmann aus und ihre politische Umsetzung gewährleiste ein ideales Staatswesen. Allerdings betont der eleatische Fremde die extreme Seltenheit von wahren Staatsmännern. Darin kommt Platons ausgeprägt elitäres Denken zum Ausdruck. Drastisch beschreibt er den Gegensatz zwischen dem echten Wissen des Staatsmanns und den fragwürdigen Meinungen normaler Politiker und der Menge. Der Staatsmann, dessen Merkmale der Fremde im Dialog herausarbeitet, erscheint als fernes Ideal; seiner Kompetenz wird die Unwissenheit, die den gewohnten Politikbetrieb prägt, gegenübergestellt. Ein Kernanliegen Platons ist hier ebenso wie in den Dialogen Politeia und Nomoi die Einheitlichkeit der Gesinnung der Staatsbürger. Sie herbeizuführen ist das Ziel der Bemühungen des Staatsmanns. Es soll eine umfassende innere Harmonie hergestellt werden, die den Charakter der Individuen ebenso wie den der gesamten staatlichen Gemeinschaft prägt. Wenn dies erreicht wird, macht die staatsmännische „Webekunst“ den Staat gleichsam zu einem Kunstwerk. Die Methodik Die lange Begriffsunterteilung wird im Dialog als Erfordernis einer methodisch sauberen Untersuchung dargestellt. Umstritten ist in der Forschung, ob dies Platons eigener Auffassung entspricht und ob ein didaktischer Grund ist, der den Fremden veranlasst, auf diese umständlich wirkende Art der Unterteilung so großes Gewicht zu legen. Einer Sondermeinung zufolge handelt es sich um eine parodistische Darstellung einer aus Platons Sicht falschen Methode. Die Frage nach der Rolle der Metaphysik Kontrovers diskutiert wird in der Forschung die metaphysische Dimension der Ausführungen des Fremden. Dabei geht es um die Rolle der Ideenlehre, die ein zentrales Element der platonischen Philosophie bildet, und um die Frage, ob der Dialog Hinweise auf die umstrittene „ungeschriebene Lehre“ oder Prinzipienlehre enthält. Platon hat in seiner mittleren Schaffensperiode, also vor der Entstehung des Politikos, im Dialog Politeia seine Ideenlehre dargelegt. Ihr zufolge existieren „platonische Ideen“ als reale, rein geistige Urbilder des sinnlich Wahrnehmbaren. Unter den Ideen nimmt die Idee des Guten den höchsten Rang ein. Sie ist offenbar das absolute Maß, das gemeint ist, wenn der Fremde von Messung nach der staatsmännischen Messkunst redet. Die Problematik der Gesetzestreue Die Forderung des Fremden, den Gesetzen sei unbedingt Folge zu leisten, wenn ein überlegener Staatsmann mit übergesetzlicher Autorität fehle, wirft eine Reihe von Fragen auf. Angesichts der Möglichkeit schwerer Justizirrtümer und gesetzlich legitimierten Unrechts ergeben sich ethische Probleme, die in der philosophischen und philosophiehistorischen Literatur kontrovers diskutiert werden. Die Problematik des unbedingten Gesetzesgehorsams erweist ihre Brisanz vor dem Hintergrund des Todesurteils gegen Sokrates, dessen Prozess und Hinrichtung bald nach dem Zeitpunkt der fiktiven Dialoghandlung stattfanden. Das Urteil wurde formal korrekt gefällt und vom Angeklagten akzeptiert. Es stellte aber aus der Sicht von Sokrates’ Freunden und Schülern, insbesondere Platons, inhaltlich schwerstes Unrecht dar. Im Politikos geht der Fremde auf die Möglichkeit ein, dass in einer streng legalistisch orientierten Gesellschaft freie Forschung verboten wird mit der Begründung, niemand dürfe weiser sein als die Gesetze. Dann gilt es als schweres Verbrechen, beispielsweise medizinische oder technische Neuerungen einzuführen, die den Rahmen des Herkömmlichen und gesetzlich Geregelten sprengen. Dies wird im Politikos auf groteske Weise geschildert und als Vernichtung der Wissenschaft beurteilt. Die Anspielung auf die Anklage gegen Sokrates, der wegen religiöser Neuerungen verurteilt wurde, ist offensichtlich. Das Prinzip des Gesetzesgehorsams, das Platon auch im Dialog Kriton erörtert, erweist sich somit als problematisch. Es wird im Politikos grundsätzlich bejaht, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass es sich um Gesetze handelt, die gute Nachahmungen eines idealen Gesetzeswerks sind. Der Fremde betont dabei das Gewicht der Tradition. Als Kriterium für die Qualität nennt er das Erfahrungswissen: Er billigt Gesetzen dann Autorität zu, wenn sie sich bereits bewährt haben, wenn sie Niederschlag einer reichen und langen Erfahrung sind. Zugleich arbeitet er aber auch das mit starren Vorschriften verbundene Dilemma heraus: Der Legalismus soll Willkürherrschaft verhindern, aber sein formalistischer Charakter hemmt Innovation. Stures Festhalten an bestehenden Einrichtungen kann groteske Folgen haben. Es kann dazu führen, dass herrschende falsche Meinungen die Erlangung echten Wissens verunmöglichen. Dieses Dilemma bleibt ungelöst. Der Fremde nimmt angesichts der Problematik eine konservative Haltung ein. Er fordert konsequentes Festhalten am Herkömmlichen und Bewährten, da er weder Einzelnen noch Gruppen die Fähigkeit zutraut, eine bewährte Gesetzgebung zu verbessern. Bei Änderungen befürchtet er gravierende Verschlechterung, denn er meint, dass kaum jemand über staatsmännische Kompetenz verfüge. Willkür und Gesetzlosigkeit hält er für ein weit schlimmeres Übel als alle Nachteile des Legalismus. Die Frage der Lehrentwicklung Zu den umstrittensten Themen der Platonforschung gehört die Entwicklung der Lehre des Philosophen. Strittig ist, ob er seine Haltung zu Hauptfragen der Metaphysik und der Staatsphilosophie grundlegend geändert hat. Die Auffassung der „Unitarier“, die meinen, er habe durchgängig eine kohärente Sichtweise vertreten, steht der „Entwicklungshypothese“ der „Revisionisten“ entgegen, die einen gravierenden Sinneswandel annehmen. Hinsichtlich der Staatsphilosophie geht es um die Unterschiede zwischen dem Staatsmodell der Politeia und dem des Spätwerks Nomoi. Hier wird gefragt, ob die Nomoi eher einen Verzicht auf das Konzept der Politeia markieren oder dessen Weiterentwicklung darstellen. Der Politikos steht in der Reihenfolge der Entstehung zwischen diesen beiden Dialogen. Aus revisionistischer Sicht markiert er damit ein Übergangsstadium zwischen ihnen. Dieses sei durch wachsende Skepsis gegenüber der Realisierbarkeit idealer Vorstellungen und durch Hinwendung zu realistischeren Forderungen gekennzeichnet. Angesichts der extremen Seltenheit „wahrer Staatsmänner“ messe Platon im Politikos der „zweitbesten Lösung“, dem Festhalten an bewährten Gesetzeswerken, große Bedeutung zu. In den Nomoi ziehe er dann weitere Konsequenzen aus seiner Meinungsänderung. Mit dieser Entwicklung verbinde sich eine weniger ungünstige Einschätzung der demokratischen Verfassung von Platons Heimatstadt Athen. Dem wird aus unitarischer Sicht entgegengehalten, dass die scharfe Kritik an den zeitgenössischen Verfassungen und Politikern im Politikos den Urteilen in der Politeia ähnlich sei, was für Kontinuität spreche. Der Staatsmann des Politikos entspreche als Fachwissenschaftler für Normen dem „Philosophenherrscher“ der Politeia. Auch hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen den einzelnen Tugenden gehen die Meinungen darüber auseinander, ob oder inwieweit Platon seine Position geändert hat. Nach einer revisionistischen Deutung stellt der im Politikos dargelegte Gedanke einer Gegensätzlichkeit zweier Tugenden einen Bruch mit der Tugendlehre der Politeia dar, der zufolge die vier Grundtugenden Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit eine Einheit bilden. Der Mythos und seine Deutungen Das Geschichtsbild, das der Fremde mit dem Mythos präsentiert, ist zyklisch und hinsichtlich der aktuellen Phase des kosmischen Zyklus kulturpessimistisch. Der Schilderung im Mythos zufolge ist der Verlauf der Menschheitsgeschichte ein unaufhaltsamer Verfallsprozess, der eine kosmische Ursache hat. Darin stimmt die Geschichtsdeutung des Fremden mit der des Vorsokratikers Empedokles überein. Empedokles nahm ebenfalls einen Weltkreislauf an, dessen gegenwärtige Phase durch Schwinden der Eintracht und zunehmenden Streit charakterisiert sei und unausweichlich auf ein katastrophales Ende zusteuere. Im Mythos des Politikos hat Platon eine Fülle von Material aus der überlieferten Mythologie und Naturphilosophie aufgegriffen und für seinen Zweck umgestaltet. Nicht alle Forscher fassen den Mythos im wörtlichen Sinn als Abfolge von zwei Epochen auf. Nach alternativen Interpretationen geht es nur um die Gegenüberstellung zweier Weltzustände oder zweier Aspekte des gegenwärtigen Zustands der Welt. Außerdem ist strittig, ob der kosmische Zyklus – wie meist angenommen wird – nur zwei Phasen umfasst (die Herrschaftszeit des Kronos und die des Zeus) oder noch eine weitere, die chaotische Zeit des Übergangs zwischen den beiden Epochen göttlicher Herrschaft. Verschiedene Versionen des Dreiphasenmodells sind von Luc Brisson, Christopher J. Rowe und Gabriela Roxana Carone vorgetragen worden. Ihrer Interpretation zufolge bleibt die Welt nur in der zweiten Phase, der Übergangszeit, sich selbst überlassen. Daher ist diese Zeit durch zunehmende kosmische Unordnung charakterisiert. Demnach ist die gegenwärtige Herrschaftszeit des Zeus die dritte Phase. Sie unterscheidet sich erheblich von der ersten Phase, dem Zeitalter des Kronos, da die göttliche Fürsorge für den Kosmos bei weitem nicht mehr so umfassend ist wie damals. Sie ist aber keine Verfallszeit, sondern ebenso wie die erste Phase und im Gegensatz zur Übergangszeit durch ein Vorherrschen göttlicher Ordnung gekennzeichnet. Nur in der Übergangszeit dreht sich das Weltall von Westen nach Osten. Ein wesentlicher Aspekt des Mythos ist das Fehlen wichtiger Merkmale des menschlichen Daseins im Zeitalter des Kronos. Unter der wohlwollenden Lenkung des Gottes sind die Menschen gut versorgt. Ihre Bedürfnisse werden ohne ihr Zutun befriedigt, sie leben sorglos wie friedliche Tiere ohne Technik, Wirtschaft, Zivilisation und Kultur. Ihre Rolle ist rein passiv, denn sie brauchen keine Initiative zu ergreifen. Daher gibt es keinen Staat, keine Politik und wohl auch keine Philosophie. Zwar lässt der Fremde theoretisch die Möglichkeit offen, dass die Menschen unter der Herrschaft des Kronos philosophieren, doch deutet er an, dass dies praktisch nicht der Fall sein kann. Entstehung Einhelligkeit besteht in der Forschung darüber, dass der Politikos zwar zu Platons späten Werken zählt, aber nicht erst in der Endphase der literarischen Aktivität des Philosophen entstanden ist, sondern schon bald nach dem Ende der mittleren Schaffensperiode. Zu diesem Ergebnis führen in erster Linie stilistische Überlegungen; inhaltlich steht dem nichts entgegen. Der Politikos dürfte zeitlich in die Nähe des Theaitetos gehören, der stilistisch noch zur mittleren Gruppe, inhaltlich eher schon zum Spätwerk gerechnet wird. Da eindeutige Anhaltspunkte für die Bestimmung der Abfassungszeit fehlen, sind die Datierungsansätze spekulativ. Sie schwanken zwischen der Zeit um die Mitte der 360er Jahre und der Zeit um 353/352. Textüberlieferung Die antike Textüberlieferung besteht aus einigen Papyrus-Fragmenten aus der römischen Kaiserzeit. Ferner enthält der Rest einer Papyrus-Rolle des 2. Jahrhunderts zwei kleine Textstücke aus einem Kommentar zu dem Dialog. Die älteste erhaltene mittelalterliche Politikos-Handschrift wurde im Jahr 895 im Byzantinischen Reich für Arethas von Caesarea angefertigt. Rezeption Antike Die Nachwirkung des Politikos in der Antike war insgesamt gering; erst in der Spätantike nahm das Interesse an dem Dialog zu. Platons Schüler Aristoteles setzte sich in seiner Politik kritisch mit Behauptungen im Politikos auseinander, ohne diesen Dialog je namentlich zu zitieren. Platon erscheint in diesem Zusammenhang bei Aristoteles als „einer der Früheren“. Insbesondere missbilligte Aristoteles die Behauptung des eleatischen Fremden, hinsichtlich der Herrschaftsausübung bestehe kein Unterschied zwischen einem kleinen Staat und einem großen Haushalt, vielmehr gebe es für beide Bereiche nur eine einzige Form von Wissen; die Tätigkeiten des Königs, des Staatsmanns, des Sklavenmeisters und des Hausverwalters seien unter diesem Gesichtspunkt im Prinzip gleich. Aristoteles unterschied grundsätzlich zwischen verschiedenen Formen von Befehlsgewalt je nach der Art des Unterordnungsverhältnisses und je nach dem Zweck des Zusammenwirkens des Befehlenden mit den Gehorchenden. Außerdem wandte sich Aristoteles gegen Platons These, der wahre Staatsmann stehe dank seiner Kompetenz über dem Gesetz, so wie ein Arzt dank seiner Fachkenntnis nach seinem Ermessen und nicht nach bestehenden Vorschriften Entscheidungen fälle. Dagegen brachte Aristoteles vor, dem Arzt sei zuzutrauen, dass es ihm um die Heilung des Patienten gehe, denn dafür werde er bezahlt. Bei politischen Entscheidungsträgern hingegen bestehe gewöhnlich eine Versuchung zum Machtmissbrauch. Daher dürfe man einem Staatsmann keine übergesetzliche Autorität zubilligen. Bei seiner Kritik an der wertenden Klassifizierung der Verfassungen im Politikos gab Aristoteles die Position des eleatischen Fremden zum Teil falsch wieder. Der Kyniker Diogenes von Sinope, ein jüngerer Zeitgenosse und Kritiker Platons, soll die im Politikos gegebene Definition des Menschen als federloser Zweifüßler aufs Korn genommen haben. Einer Anekdote zufolge rupfte er einem Hahn die Federn aus, brachte ihn in die Akademie und rief: „Das ist Platons Mensch“. Darauf sei die Definition um den Zusatz „mit breiten Nägeln“ erweitert worden. Mit diesem Zusatz ist sie in den pseudoplatonischen (zu Unrecht Platon zugeschriebenen) Horoi („Definitionen“) verzeichnet. Die Anekdote stammt wohl aus dem Milieu der Kyniker. In der Tetralogienordnung der Werke Platons, die anscheinend im 1. Jahrhundert v. Chr. eingeführt wurde, gehört der Politikos zur zweiten Tetralogie. Der Philosophiegeschichtsschreiber Diogenes Laertios zählte ihn zu den „logischen“ Schriften und gab als Alternativtitel „Über die Königsherrschaft“ an. Dabei berief er sich auf eine heute verlorene Schrift des Mittelplatonikers Thrasyllos. In der Epoche des Mittelplatonismus scheint der Dialog relativ wenig Beachtung gefunden zu haben. Soweit sich die Mittelplatoniker damit befassten, konzentrierte sich ihr Interesse auf den Mythos. Plutarch stützte sich in seiner Auseinandersetzung mit der Kosmologie der Stoiker unter anderem auf die Darstellung der kosmischen Perioden im Mythos, wobei er die Angaben des eleatischen Fremden eigenwillig interpretierte. Auch der Mittelplatoniker Numenios griff den im Mythos dargelegten Gedanken des kosmischen Umschwungs auf, doch deutete er ihn anthropologisch. Die Periode der göttlichen Lenkung fasste er als eine Zeit auf, in der die menschlichen Körper beseelt sind und leben; die Periode der Abwendung der Gottheit sei die Zeit eines körperfreien Daseins des menschlichen Geistes. Ein weiterer Mittelplatoniker, Severos, zog den Mythos des Politikos zur Klärung der stark umstrittenen Frage heran, ob die Welt ewig besteht oder ob sie im Sinne eines zeitlichen Anfangs erschaffen ist. Dabei nahm er eine vermittelnde Position ein. Er versuchte die beiden gegensätzlichen Konzepte Ewigkeit und Entstehung miteinander zu vereinen, indem er lehrte, der Kosmos sei an sich ewig, aber die jetzt bestehende Weltordnung sei entstanden. Den Ewigkeitsaspekt ordnete er Kronos, den zeitlichen Zeus zu. Bei den spätantiken Neuplatonikern wurde der Dialog geschätzt. Ihr Interesse galt vor allem den kosmologischen Ausführungen im Mythos. Der einflussreiche Neuplatoniker Iamblichos († um 320/325), der in seiner syrischen Heimat eine bedeutende Schule gründete und leitete, nahm den Politikos in den Kanon der zwölf Dialoge auf, die im Philosophieunterricht zu behandeln waren. Auch in der neuplatonischen Schule von Athen, die an die Tradition der platonischen Akademie anknüpfte, legte man auf die Lektüre des Politikos Wert: Der Scholarch (Schulleiter) Syrianos schrieb einen Kommentar dazu, der nicht erhalten geblieben ist, und sein Nachfolger Proklos († 485), der namhafteste Repräsentant der Athener Schule, ging in seiner Schrift Platonische Theologie und in seinem Kommentar zu Platons Dialog Timaios auf den Mythos des Politikos ein. Dabei nahm Proklos eine grundlegende Umdeutung vor. Die Vorstellung einer Aufeinanderfolge zweier gegensätzlicher kosmischer Perioden lehnte er ab, da eine Unterbrechung der göttlichen Aktivität für ihn nicht akzeptabel war. Seiner Lehre zufolge gibt es in Wirklichkeit keine Zeit der Abwendung des Kronos vom Kosmos, vielmehr ist das nur ein Gedankenexperiment des eleatischen Fremden. Den Gegensatz zwischen der Herrschaft des Kronos und der des Zeus fasste Proklos nicht im wörtlichen, zeitlichen Sinn auf, sondern deutete den Mythos allegorisch. Nach seinem Verständnis bezieht sich die Schilderung der mythischen Herrschaft des Kronos auf die Verhältnisse in der intelligiblen (rein geistigen) Welt und die Darstellung der Herrschaft des Zeus auf die von der göttlichen Weltvernunft, dem Nous, erzeugte Ordnung in der materiellen Welt. Den Gegensatz zwischen Kronos und Zeus, der nicht in sein Weltbild passte, schwächte Proklos ab, indem er ein Zusammenwirken der Einflüsse der beiden Götter annahm. Mittelalter und Frühe Neuzeit Im Mittelalter war der Dialog bei den lateinischsprachigen Gelehrten des Westens unbekannt. Im arabischsprachigen Raum gab es eine arabische Übersetzung von Galens Zusammenfassung des Politikos, die Ḥunain ibn Isḥāq, ein Gelehrter des 9. Jahrhunderts, angefertigt hatte. Im Westen wurde der Politikos im Zeitalter des Renaissance-Humanismus wiederentdeckt. Die erste lateinische Übersetzung erstellte der Humanist Marsilio Ficino. Er veröffentlichte sie 1484 in Florenz in der Gesamtausgabe seiner Platon-Übersetzungen. Die Erstausgabe des griechischen Textes erschien im September 1513 in Venedig bei Aldo Manuzio im Rahmen der von Markos Musuros herausgegebenen Gesamtausgabe der Werke Platons. Moderne Unter Platons Werken zählt der Politikos zu denen, die in der Moderne vergleichsweise wenig Beachtung gefunden haben. In den 1990er Jahren hat sich seine Erforschung jedoch intensiviert. Philosophische Aspekte Der philosophische Gehalt des Werks ist in der Moderne sehr unterschiedlich beurteilt worden. Im 19. und 20. Jahrhundert überwogen kritische Stimmen. Zahlreiche Gelehrte fanden die Komposition uneinheitlich und insgesamt missglückt, die Argumentation nicht überzeugend, die Gedankenführung sprunghaft und die Begriffsbestimmungen haarspalterisch und unergiebig. Seit dem späten 20. Jahrhundert macht sich jedoch eine Tendenz zu günstigerer Einschätzung geltend. Olof Gigon konstatierte „eine unverkennbare Nähe zum Denken des Aristoteles“; in den Ausführungen über den wissenden Staatsmann und das Gesetz, die mit dem Überblick über die Staatsformen beginnen, finde sich kein Satz, der nicht von Aristoteles stammen könnte. Peter Sloterdijk ging in seiner umstrittenen, 1999 als Essay veröffentlichten Rede Regeln für den Menschenpark ausführlich auf den Politikos ein. Er bezeichnete ihn als „Diskurs über Menschenhütung und Menschenzucht“ und als die Magna Charta einer europäischen „Pastoralpolitologie“ oder „Stadt-Hirtenkunst“, die der Fremde unter durchsichtige rationale Regeln zu stellen versuche. Solches Nachdenken sei eine Grundlagenreflexion über „Regeln für den Betrieb von Menschenparks“. Der Fremde trage „das Programm einer humanistischen Gesellschaft“ vor, deren Lenkung einem „Expertenkönigtum“ anvertraut sei. Platons Staatsmann sei in dieser Gesellschaft der „Voll-Humanist“; seine Aufgabe sei „die Eigenschaftsplanung bei einer Elite, die eigens um des Ganzen willen gezüchtet werden muß“. Er sortiere und verbinde die Menschen, allerdings mit deren freiwilliger Zustimmung. Die „Explosivität dieser Überlegungen“ sei für den modernen Leser „unmöglich zu verkennen“. Damit meinte Sloterdijk Möglichkeiten, die sich in einem künftigen biotechnologischen Zeitalter eröffnen können. Der Philosoph Cornelius Castoriadis hielt 1986 an der École des hautes études en sciences sociales in Paris ein Seminar über den Politikos. Seine dortigen Ausführungen wurden 1999 in Buchform veröffentlicht. Castoriadis nannte den Dialog eine barocke Konstruktion, die als solche gewollt sei. Platon habe zeigen wollen, wie philosophisches Denken ablaufe, wenn es authentisch sei, das heißt, wenn es nur seinen eigenen Geboten folge. Literarische Aspekte Verbreitet ist die Ansicht, der Politikos sei ebenso wie andere späte Dialoge Platons durch ein Zurücktreten des „dramatischen Elements“ gekennzeichnet; der Dialogcharakter sei weniger ausgeprägt als in früheren Schriften, sodass das Werk trotz der formalen Beibehaltung der Dialogform eher wie eine philosophische Abhandlung wirke. Diese Beurteilung ist allerdings auf Widerspruch gestoßen. Es wird dagegen eingewendet, das Fehlen von Meinungsverschiedenheiten unter den Gesprächspartnern bedeute nicht, dass die Darbietung der philosophischen Untersuchung in Gestalt eines Zwiegesprächs ein unwesentlicher Aspekt sei. Wenn man den Dialogcharakter vernachlässige, werde das didaktische Vorgehen des Fremden nicht gewürdigt. Unter literarischem Gesichtspunkt wird oft die Länge und Umständlichkeit der dihairetischen Begriffsbestimmungen bemängelt; Kritiker bezeichnen diese Passagen als langweilig und ermüdend. In diesem Sinne äußerte sich schon 1919 der renommierte Gräzist Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff; er nannte die Dihairese „umständlich und wunderlich“. Zu einem ähnlichen Urteil gelangte 1923 Constantin Ritter in seiner umfangreichen Platon-Monographie. Er schrieb, der Dialog enthalte eine Menge von „dürrem schwer verdaulichem Stoff“ und kontrastiere durch den „Verzicht auf Schmuck der Darstellung“ mit älteren Werken des Philosophen. Die Einübung logischer Regeln geschehe „so aufdringlich, dass man sich stellenweise nicht bloß gelangweilt, sondern geradezu angeödet“ fühle. Diesen Effekt habe Platon bewusst in Kauf genommen. Er habe sich mit dem trockenen Stil von seiner früheren unterhaltsamen Darstellungsweise distanzieren wollen, vermutlich weil seine dichterischen Bilder missverstanden worden seien. 1974 befand Olof Gigon, Platons Sprache im Politikos sei „von einer höchst eigentümlichen Lebendigkeit erfüllt“. Sie sei nicht mehr die urbane Konversationssprache der Frühdialoge, sondern geprägt vom gewählten, umständlichen Altersstil des Autors, der hier nicht vor kühnen Wortstellungen und poetischen Wendungen zurückschrecke und das Gemeinte öfters in eine „spielerische Rätselhaftigkeit“ hülle. Christoph Horn stellte 2002 fest, der Politikos wirke „spröde und literarisch unattraktiv“. Nach dem Urteil anderer Gelehrter ist der ungünstige Eindruck vordergründig; erst bei näherer Betrachtung erweist sich die Struktur als durchdacht und kunstvoll. So konstatierte Paul Friedländer, der Gang des Dialogs sei nach Art der späten Werke des Philosophen sehr verschlungen, wodurch zunächst ein verwirrender Eindruck entstehe. Es sei aber ein Merkmal von Platons Spätstil, dass „durch die von außen gesehen sprunghafte Komposition der Teile ein strenger Gedankenbau hindurchscheint“. Das Werk „mit seinen scheinbar ganz freien Verschlingungen“ sei „voll von geheimer Architektonik“. Ähnlich äußerte sich Egil A. Wyller: Der Politikos gehöre dem äußeren Anschein nach zu den am lockersten komponierten Werken Platons, seine Verschlungenheit lasse ihn unübersichtlich erscheinen. Bei näherer Betrachtung zeige sich aber eine Gestalt, die so überzeugend klar und eindeutig sei, dass man sich nur darüber wundern könne, sie nicht früher entdeckt zu haben. William K. C. Guthrie sah im Politikos ein Produkt von Platons meisterhafter Fähigkeit, verschiedene Themen „zusammenzuweben“ und damit dem Leser Genuss zu bereiten. Es sei dem Philosophen gelungen, den Wert der Dihairesis zu zeigen, die weit mehr sei als ein bloß mechanischer Prozess. Michael Erler befand, der Verlauf des Dialogs sei trotz des unübersichtlich scheinenden Aufbaus zielgerichtet, er steuere auf die Schlussdefinition des Staatsmanns zu. Dabei wähle Platon zwar auch manche Umwege, doch ein eigentlicher Bruch in der Gedankenführung liege nicht vor. Ausgaben und Übersetzungen Ausgaben (teilweise mit Übersetzung) Donald B. Robinson (Hrsg.): Politikos. In: Elizabeth A. Duke u. a. (Hrsg.): Platonis opera, Bd. 1, Oxford University Press, Oxford 1995, ISBN 0-19-814569-1, S. 473–559 (maßgebliche kritische Edition) Gunther Eigler (Hrsg.): Platon: Werke in acht Bänden. Bd. 6, 4. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-19095-5, S. 403–579 (Abdruck der kritischen Ausgabe von Auguste Diès, 3. Auflage, Paris 1960, mit der deutschen Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, 2. Auflage, Berlin 1824) Übersetzungen Otto Apelt: Platons Dialog Politikos oder Vom Staatsmann. In: Otto Apelt (Hrsg.): Platon: Sämtliche Dialoge, Bd. 6, Meiner, Hamburg 2004, ISBN 3-7873-1156-4 (mit Einleitung und Erläuterungen; Nachdruck der 2., durchgesehenen Auflage, Leipzig 1922) Friedo Ricken: Platon: Politikos. Übersetzung und Kommentar (= Platon: Werke, hrsg. von Ernst Heitsch und Carl Werner Müller, Bd. II 4). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, ISBN 978-3-525-30407-5 Rudolf Rufener: Platon: Spätdialoge I (= Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke, Bd. 5). Artemis, Zürich/München 1974, ISBN 3-7608-3640-2, S. 223–319 (mit Einleitung von Olof Gigon S. XXXIV–XLVII) Friedrich Schleiermacher: Der Staatsmann. In: Erich Loewenthal (Hrsg.): Platon: Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. 2, unveränderter Nachdruck der 8., durchgesehenen Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-17918-8, S. 741–817 Literatur Übersichtsdarstellung Michael Erler: Platon (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, hrsg. von Hellmut Flashar, Bd. 2/2). Schwabe, Basel 2007, ISBN 978-3-7965-2237-6, S. 245–252, 645–648 Kommentare Seth Benardete: The Being of the Beautiful. Plato’s Theaetetus, Sophist, and Statesman. The University of Chicago Press, Chicago/London 1984, ISBN 0-226-67037-6 Maurizio Migliori: Arte politica e metretica assiologica. Commentario storico-filosofico al „Politico“ di Platone. Vita e Pensiero, Milano 1996, ISBN 88-343-0829-8 Mitchell Miller: The Philosopher in Plato’s Statesman. 2., erweiterte Auflage, Parmenides Publishing, Las Vegas 2004, ISBN 1-930972-16-4 Friedo Ricken: Platon: Politikos. Übersetzung und Kommentar (= Platon: Werke, hrsg. von Ernst Heitsch und Carl Werner Müller, Bd. II 4). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, ISBN 978-3-525-30407-5 Christopher J. Rowe (Hrsg.): Plato: Statesman. 2., verbesserte Auflage, Oxbow, Oxford 2005, ISBN 0-85668-613-1 (griechischer Text, englische Übersetzung und Kommentar) David A. White: Myth, Metaphysics and Dialectic in Plato’s Statesman. Ashgate, Aldershot 2007, ISBN 978-0-7546-5779-8 Untersuchungen Marcel van Ackeren: Das Wissen vom Guten. Bedeutung und Kontinuität des Tugendwissens in den Dialogen Platons. Grüner, Amsterdam 2003, ISBN 90-6032-368-8, S. 274–301 Sylvain Delcomminette: L’Inventivité Dialectique dans le Politique de Platon. Ousia, Bruxelles 2000, ISBN 2-87060-082-8 Charles Philippe Dijon de Monteton: Das Wissen um die Staatskunst im Kontext der politischen Philosophie Platons und ihrer Rezeptionsgeschichte. Duncker & Humblot, Berlin 2018, ISBN 978-3-428-14997-1 Melissa S. 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Society for the Study of Greek Political Thought, Heslington 1993, (enthält einen Teil der nicht im Sammelband Reading the Statesman veröffentlichten Kongressbeiträge) Christopher J. Rowe (Hrsg.): Reading the Statesman. Proceedings of the III Symposium Platonicum. Academia, Sankt Augustin 1995, ISBN 3-88345-634-9 Weblinks Politikos, griechischer Text nach der Ausgabe von John Burnet, 1900 Politikos, deutsche Übersetzung nach Friedrich Schleiermacher, bearbeitet Anmerkungen Corpus Platonicum Werk der Politischen Philosophie Antike Verfassungstheorie
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https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCdkoreanischer%20Film
Südkoreanischer Film
Der südkoreanische Film durchlebte nach einer ersten Blütezeit in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren schwierige Zeiten unter der Militärdiktatur. Erst mit der Demokratisierung ab Ende der 1980er Jahre konnte sich die südkoreanische Filmindustrie erneuern und gewann weltweit an Bedeutung. Die Kinoschaffenden prägten einen neuen Stil, der international unter dem Begriff Korean New Wave in die Filmwelt Einzug hielt. Das Land entwickelte sich zu einer Filmgröße: Südkorea stellt den fünftgrößten Kinomarkt der Welt nach Zuschauern bei etwa 50 Millionen Einwohnern und hat mit dem Kinobetreiber CJ CGV einen Technologieführer der Kinowelt. Für die südkoreanische Filmindustrie haben sich zwei Begriffe etabliert: Chungmuro und Hallyuwood. Ähnlich wie der Ort Hollywood für den US-amerikanischen Film steht, steht Chungmuro für den südkoreanischen Film. Der Seouler Bezirk war einst das Zentrum der südkoreanischen Filmindustrie. Mittlerweile kommt diese Stellung allerdings der südlichen Hafenstadt Busan zu, der 2014 vom UNESCO Creative Cities Network der Titel „Stadt des Films“ zuerkannt wurde. Dennoch spricht man weiterhin von den Chungmuro-Stars, analog zu Hollywoodstars. Eine weitere Bezeichnung für Südkoreas Filmindustrie basiert auf der Koreanischen Welle. Diese beschreibt den weltweiten Erfolg südkoreanischer Popkultur und ist nicht zu verwechseln mit der Korean New Wave. Der Begriff „Koreanische Welle“ etablierte sich ab Ende der 1990er Jahre in China und Japan, als Journalisten über den Erfolg des K-Pops und koreanischer Fernsehdramen in ihren Ländern berichteten. Im Koreanischen heißt „Welle“ Hallyu, woraus sich international die Bezeichnung Hallyuwood für das südkoreanische Kino verbreitete. Geschichte Die Geburt des koreanischen Films Kurz nachdem Ende des 19. Jahrhunderts der Cinématographe der französischen Brüder Lumière populär wurde, kam der Film auch nach Korea. Zunächst wurden diverse ausländische Filme importiert, der erste etwa 1897/98. Der Film wurde gerade populär, als sich Korea weltpolitisch dem wachsenden Einfluss des Japanischen Kaiserreichs gegenübersah, der 1910 in die Kolonialisierung Koreas mündete. Am 27. Oktober 1919 wurde im Kino Dansungsa mit Kampf für Gerechtigkeit (Originaltitel: ) die erste koreanische Filmproduktion aufgeführt. 1966 einigten sich Filmemacher und die Regierung, den 27. Oktober zum „Tag des Films“ auszurufen, um die Geburt des koreanischen Kinos zu feiern. Dieser Film war allerdings zur Hälfte ein Theaterstück. In der Literatur ist es umstritten, welcher Film als Koreas erster Spielfilm anzusehen ist. 1926 erschien der Stummfilm Arirang von Na Woon-gyu, der als einer der wichtigsten Filme des frühen koreanischen Kinos gilt. Es war der erste Film, der Nationalstolz und Widerstand gegen Japans Kolonialherrschaft thematisierte. Die japanische Besatzungsmacht hat den Film anfangs nicht verboten, weil sie die anti-japanische Botschaft des Films nicht erkannte. Für Koreaner war sie allerdings klar ersichtlich. Der Film handelte von einem mental instabilen Mann, der einen wohlhabenden Landbesitzer mit Verbindung zur japanischen Polizei ermordet. Lee Gyu-hwan knüpfte in seinem Debütwerk A Ferry Boat That Has No Owner (, 1932) thematisch daran an und zählt zu einem der bedeutendsten Regisseure der Stummfilmzeit. Der 1934 veröffentlichte Stummfilm Crossroads of Youth () wurde 2007 entdeckt und ist dadurch heute der älteste erhaltene koreanische Film. 1935 erschien mit einer neuen Verfilmung der Volkssage Chunhyang-Jeon Koreas erster Tonfilm. 1937 hatte Lee Gyu-hwan mit Wanderer () einen großen Erfolg, wodurch Tonfilme zur neuen Norm wurden. Allerdings war dies auch das Jahr, in dem Japan in China einfiel und der Druck wuchs, pro-japanische Filme zu drehen. 1942 nahm das Aufblühen der Filmindustrie ein jähes Ende, als die Regierung Japans koreanischsprachige Produktionen verbot und Filme nur noch der Kriegspropaganda dienten. Nach dem Krieg: Das geteilte Korea und die Blütezeit Am 15. August 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Asien und Korea wurde von der japanischen Kolonialherrschaft befreit. In der Bevölkerung sorgte dies für Euphorie und Aufbruchsstimmung, die allerdings nicht lange währte. 1948 wurde mit der Gründung der Republik Korea im Süden und der Demokratischen Volksrepublik Korea im Norden die Teilung zementiert. Die Zeit dazwischen (1945 bis 1948) war geprägt von Filmen über die Unabhängigkeitsbewegung und die neu gewonnene Freiheit, wie etwa The Chronicle of An Jung-geun (, 1946), Yun Bong-gil, the Martyr (, 1947) oder Viva Freedom! (, 1946). Doch mit der Teilung folgten ideologische Filme, darunter anti-kommunistische Filme oder Werke über die Tragödie der Teilung. Dennoch begann das Kino sich zu entfalten und neue Methoden und Techniken zu verwenden. In dieser Zeit wurde mit A Diary of Woman (, 1949) von Hong Seong-gi der erste südkoreanische Farbfilm produziert. Amerikanische Filme machten mehr als 50 Prozent des südkoreanischen Kinomarktes aus. In Anbetracht, dass von 1946 bis 1950 lediglich 61 Filme in Südkorea produziert wurden – gegenüber mehr als 100 gespielten amerikanischen Filmen pro Jahr – gilt dies allerdings als Erfolg. 1950 brach der Koreakrieg aus und Regisseure drehten Aufnahmen von der Front. Nachdem der Krieg 1953 endete, blühte die südkoreanische Filmindustrie erstmals kurz auf. Da der Krieg das Land verwüstete, mussten neue, moderne Gerätschaften für die Dreharbeiten angeschafft werden und man war somit auf dem aktuellen Stand der Technik. Wurden 1954 15 Filme gedreht waren es 1959 schon 111. Regisseure konnten relativ frei arbeiten und boten vermehrt unterhaltsame Filme anstatt ideologische Filme an. 1955 hatte Lee Gyu-hwan eine sehr erfolgreiche Neuverfilmung von Chunhyang-jeon. Die Nachkriegsjahre sahen eine Flut an Historienfilmen und Verfilmungen koreanischer Legenden. Allerdings feierte Han Hyung-mo 1956 einen großen Erfolg mit seiner Satire des zeitgenössischen Südkorea mit dem Titel Madame Freedom (), so dass immer mehr zeitgenössische Filme produziert wurden. Des Weiteren wurde mit zahlreichen Genres experimentiert, z. B. dem Melodrama, der Komödie, dem Thriller, Gangster- und Horrorfilmen. In dieser Zeit bis in die 1980er Jahre verband man das südkoreanische Kino sofort mit dem Seouler Bezirk Chungmuro, wo zeitweise über 70 Filmunternehmen beheimatet waren. Es wurde zur Straße der Kultur, Künstler und des Films. In der Gesellschaft war ein Wandel und Aufbruch spürbar und eine zunehmende Modernisierung und Amerikanisierung war zu erkennen während westliche Demokratie die Politik prägte. Es war auch die Zeit, in der Schauspieler erstmals wie Stars gefeiert wurden. 1960 erschienen mit Hanyo – Das Hausmädchen von Kim Ki-young und Obaltan von Yu Hyun-mok zwei Meilensteine der südkoreanischen Filmgeschichte. Hanyo handelt von einer manipulativen Hausfrau, die den Mann des Hauses verführt und damit die konfuzianische Ordnung des Haushalts zerstört. Das Motiv der Femme fatale wird in vielen Filmen Kims genutzt. Der Film kombiniert die zeitgenössischen Schwierigkeiten der Bürgern mit Motiven des Neorealismusses in expressionistischem Ton und Bild. Er thematisiert die Zerstörung durch den Koreakrieg und das industrielle Wachstum. 1961 wurde Kang Dae-jins Der Kutscher () der erste südkoreanische Film, der einen großen internationalen Preis gewinnen konnte: den Großen Preis der Jury auf der 11. Berlinale. Im selben Jahr erschien auch einer von Shin Sang-oks bekanntesten Filmen: The Houseguest and My Mother. Shin war einer der prägenden Regisseure dieser Zeit. Die südkoreanische Filmindustrie wuchs sowohl in der Anzahl der Produktionen als auch im Angebot der Genres, gewann international an Prestige und die Zuschauerzahlen stiegen weiter an. 1961 kam es weiterhin zu einem Militärputsch, durch den Park Chung-hee Präsident des Landes wurde. Park Chung-hee wollte die wirtschaftliche Entwicklung Südkoreas vorantreiben und nahm dafür jeden Teil der Gesellschaft ein. Dazu gehörte auch die Förderung und Kontrolle der Filmindustrie. Unter ihm wurde die staatliche Filmzensur systematisch ausgeweitet. Drei Hauptbestandteile des Filmgesetzes von 1962 waren die Einrichtung eines Produzenten-Registrierungssystems, Einfuhrquoten für ausländische Filme und Zensurrichtlinien. Jeglicher Anflug von vermeintlichem Pro-Kommunismus und Kritik am Staat wurde unterbunden. Beispielsweise wurde der produktive Regisseur Lee Man-hee verhaftet, da er Nordkoreaner als zu menschlich in dem Film Seven Women Prisoners (1965) darstellte. Es sollten auch keine Filme produziert werden, die dafür sorgen könnten, dass die Bevölkerung „nachlässiger“ würde. Weiterhin wurden viele kleinere Filmstudios zwangsfusioniert, so dass 1963 nur noch fünf große Studios übrig blieben: Shin Films, Kuk Dong, Hapdong, Taechang und Hanyang. Ende 1966 wurde den Kinos eine Quote auferlegt, durch die sie alle zwei mindestens einen koreanischen Film zeigen mussten. Die Filme mussten dann für mindestens 90 Tage gespielt werden. Ein wesentlicher Teil von Parks Politik war die Unterstützung der sogenannten Chaebols, familiengeführte Großunternehmen. Die Konsolidierung der Produzenten führte zu wenigen, aber großen Filmstudios. Parks Politik hinsichtlich des Films fokussierte sich jedoch vor allem auf die Produktion, während der Vertrieb in den Kinos und Verwertung vernachlässigt wurde. Filme machen konnten nur registrierte Produzenten. Allerdings war es gang und gäbe, dass unabhängige Produzenten für eine Gebühr die Produktionslizenz von registrierten Produzenten erwarben (daemyeong jejak). Dies war illegal, doch der Staat ging nicht dagegen vor. Ab 1963 gab es die Vorgabe der Regierung, jeder Produzent müsse jährlich 15 Filme veröffentlichen. Dies förderte die Zunahme der zuvor genannten Praktik. Viele Produzenten konnten die Quote nur durch die Weitergabe der Rechte erfüllen. Dies führte zu einem rapiden Anstieg der Filmproduktionen. Als 1966 ein Niveau von etwa 120 Filmen im Jahr erzielt wurde, ging die Regierung gegen die Daemyeong-Produktionen vor, da die offiziell registrierten Produzenten ihre Unternehmen soweit ausgereift haben, dass sie dieses Niveau alleine halten sollten. Dies führte allerdings zu Protesten, in deren Folge die Regierung nachgab und das Daemyeong-System legalisierte. Die Anzahl der Produktionen nahm weiter rasant zu. 1968 wurden mindestens 200 Filme verschiedener Genres veröffentlicht. 1969 verzeichneten südkoreanische Kinos über 173 Millionen Zuschauer, damals ein Höchstwert. Das erste Kinofilmgesetz und Park Chung-hee hatte nicht nur Zensur zur Folge, sondern auch Anreize durch Preise für hochqualitative Filme. In dieser Zeit gab es viele Literaturverfilmungen, darunter von Obaltan (1961), Kim’s Daughters (1963) und Descendants of Cain (1968) von Yu Hyun-mok, Mother and a Guest (1961), Kinship (1963), Affection (1966) und Potato (1968) von Shin Sang-ok sowie Seashore Village (1965), Sound of Magpies und Mist (1967) von Kim Soo-yong. Zudem setzte sich auch der Farbfilm durch. Die 1960er Jahre wurden zu Südkoreas Blütezeit des Films und das Kino entwickelte sich zur wichtigsten Unterhaltungsform in der Gesellschaft. In der Literatur werden die 1960er Jahre häufig als das Goldene Zeitalter des koreanischen Films beschrieben. Der Begriff beschreibe eine Phase, in der das Kino gesellschaftliche Akzeptanz findet und als Kunstform sowie als wirtschaftliches und technologisches Produkt anerkannt wird. Zensur und Propaganda Die zunehmende Verbreitung des Fernsehens seit dem Ende der 1960er Jahre trug zum Abschwung des Kinos bei. Hatte es zuvor im Unterhaltungsbereich nur wenig Konkurrenz, stellte das Fernsehen eine ernstzunehmende Gefahr für die Kinos dar. Die Anzahl der Kinos in Südkorea nahm ab von 659 im Jahr 1969 auf 541 im Jahr 1976. Weiterhin sorgte das Daemyeong-System für eine Schwemme minderwertiger Filme. 1971 entstanden 80 % aller veröffentlichten Filme durch die Weitergabe der Lizenz an unabhängige Produzenten. Nach Yecies und Shim (2012) ist es ironisch, dass das Entgegenkommen der Regierung bezüglich der Forderungen der Industrie hinsichtlich der Kontrolle letztlich das Produktionsumfeld schwächte und ins „dunkle Zeitalter“ führte. Des Weiteren nahm in den 1970er Jahren die Kontrolle der Filmindustrie durch die Regierung zu. 1972 wurde unter Park Chung-hees Regime die autoritäre Yushin-Verfassung erlassen. 1973 wurde die Motion Picture Promotion Corporation (MPPC) gegründet, die offiziell südkoreanische Filme unterstützen sollte, allerdings hauptsächlich die Filmindustrie kontrollierte und Zensurmaßnahmen entlang der Ideale der Regierung vornahm. Als einer der besten Filme dieser Zeit gilt der Gesellschaftskommentar March of the Fools (1975) von Ha Kil-jong. Aufgrund der Darstellung der Gesellschaft unter dem Park-Regime wurden Teile des Films für das Kino rausgeschnitten. Auch die Darstellung von Armut wurde nicht gutgeheißen. Durch die soziale, politische und ideologische Zensur wurden vor allem Liebesfilme oder Filme mit Erotik als Thema gedreht. Trotz der Restriktionen durch die Regierung gelangen den Regisseuren einige künstlerisch gehaltvolle Filme. 2012 kuratierte Darcy Paquet auf dem Udine Far East Film Festival eine Retrospektive des südkoreanischen Kinos der 1970er Jahre. Der deutsche Filmjournalist Michael Kienzl zog als Fazit: „[…] so düster, experimentierfreudig und freizügig wie die Filme teilweise sind, wirken sie keineswegs so, als seien sie unter strengen Restriktionen entstanden, geschweige denn, dass sie etwas mit jenen Propagandafilmen gemeinsam haben, die man aus diktatorischen Regimes kennt. Stattdessen weiß man jetzt, dass im Südkorea der 1970er Jahre auch spannende und stilistisch breit gefächerte Filme gedreht wurden. Von künstlerischem Bankrott aber keine Spur.“ Im Kwon-taek veröffentlichte 1973 den Film Japcho (), der einen Wechsel seines Regiestils markiert. Literaturverfilmungen waren noch immer beliebt unter den gestandenen Regisseuren Kim Ki-young, Yu Hyun-mok und Shin Sang-ok. Allerdings waren diese kaum erfolgreich. Stattdessen traten neue Regisseure zu Tage. 1975 erschien Youngja’s Heyday () von Kim Ho-sun, der einer der erfolgreichsten Filme der 1970er Jahre wurde und eine Welle von Hostessfilmen nach sich zog. Die Hostessfilme stellten die Situation im Südkorea der 1970er Jahre dar. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung wurde in Unternehmen mehr Personal benötigt. Also traten nun auch Frauen als Arbeiterinnen hervor, während die Arbeit zuvor Männersache war und Frauen sich um den Haushalt kümmerten. Allerdings arbeiteten Frauen unter schlechten Bedingungen. Sie erhielten weniger Lohn als Männer und mussten häufig Tätigkeiten annehmen, die sehr lange Arbeitszeiten verlangen, als Arbeitskraft in den Textilfabriken, Busschaffnerinnen oder Dienstmädchen. Dabei kamen Frauen vom Land extra für die Arbeit in die Stadt. Wer schließlich nicht unter solchen Bedingungen weiter arbeiten wollte, landete häufig in der Prostitution. Die Hostessfilme befassten sich mit dieser gesellschaftlichen Konstellation. Die Zensur unter Park Chung-hees Regime gilt zuweilen als irrational und inkonsistent. Sie fokussierte sich auf regimekritische Filme sowie politisch und gesellschaftlich realistische Filme. Über Filme mit sexuellem Inhalt wurde jedoch hinweg gesehen, obwohl im Filmgesetz geschrieben stand, die Darstellung von Prostituierten, Prostitution, Vergewaltigung und von sittenwidrigem Sex sei verboten. Der Filmforscher Park Jae-yoon argumentiert, dass die gesamte staatliche Filmpolitik dieser Zeit lediglich dazu dienen sollte, von politischen Themen abzulenken. Im Fernsehen wurden erotische Szenen weiterhin streng zensiert, wodurch Erotikfilme Teil der Überlebensstrategie der schwächelnden Kinoindustrie wurden. Die zuvor angesprochenen Hostessfilme dominierten das Kino. In den Filmen gab es häufig eine Protagonistin, die vom Land in die Großstadt zieht und dort ein sexuelles Trauma erlebt. Heavenly Homecoming to Stars (1974) von Lee Jang-ho wurde zu dieser Zeit der meistbesuchte Film des südkoreanischen Kinos. Mit Winter Woman konnte Kim Ho-sun 1977 einen weiteren großen Erfolg feiern. Während einige Autoren die Filme als positiv sehen, da sie soziale Probleme ansprachen, sehen andere die Filme als unmoralisch für das Ausnutzen weiblicher Sexualität. Die Forscherin Hyo Kim von der Ewha Womans University argumentiert, dass die Filme deshalb nicht zensiert wurden, da sie sich zusätzlich dem Regime wohlgesinnter Szenen bedienten, bspw. in The Rose that Swallowed Thorn (1979) durch Symbole des Park-Regimes und die Darstellung des wirtschaftlichen Aufschwungs durch Panoramaaufnahmen moderner Gebäude und Bahnstrecken. Dadurch würde die Zensur quasi verhandelt. In den 1970er Jahren fiel Shin Sang-ok, der zu den bedeutendsten Regisseuren der 1950er und 1960er Jahre zählt und Park Chung-hee gut kannte, der Zensur zum Opfer. Shin ärgerte sich über Präsident Parks Maßnahmen. 1975 nahm Shin zwei zensierte Szenen in seinen Trailer zu Rose and Wild Dog () auf. Dies missfiel Park und als Shin weiterhin ankündigte, er würde einen politisch links motivierten Film drehen wollen, wurde Shins Filmstudio die Lizenz entzogen. 1978 sorgte das Verschwinden von Shin Sang-ok und seiner Ex-Frau, der Schauspielerin Choi Eun-hee, für Aufsehen. 1953 gingen beide die Ehe ein, bis sie sich 1970 scheiden ließen. Sie wurden 1978 getrennt voneinander von nordkoreanischen Agenten entführt. 1983 wurden Shin und Choi von Kim Jong-il zu einem gemeinsamen Essen eingeladen, wo sie sich erstmals wiedersahen. Auf Anordnung von Kim Jong-il wurden sie erneut verheiratet und drehten Filme für Nordkorea. Der nordkoreanische Diktator Kim war Cineast und wollte mit den beiden Stars Nordkorea mit Filmkunst bereichern. Bevor der Verbleib von Shin und Choi 1984 durch ihr Erscheinen auf Filmfestivals aufgeklärt wurde, gab es zahlreiche Gerüchte über ihr Verschwinden, bspw. dass sie vom südkoreanischen Geheimdienst getötet wurden, dass sie aufgrund von Zensur nach Nordkorea gingen oder, wie sich letztlich als richtig herausstellte, dass sie entführt wurden. 1986 konnten Shin und Choi über die amerikanische Botschaft in Wien fliehen. Bis 1999 lebten beide unter dem Schutz der CIA in den USA, bevor sie nach Südkorea zurückkehrten. Shin Sang-ok erzählte, Kim Jong-il verfüge über ein großes Filmarchiv. Darin befinden sich auch seine Lieblingsfilme aus Südkorea von vor den 1970ern. Unter den etwa 200 Filmen sei auch Late Autumn (1966) von Lee Man-hee. Der Film gilt als Meisterwerk und ist in Südkorea verschollen. Tatsächlich sind nur noch 22 % der südkoreanischen Filme aus den 1950er Jahren und 44 % der Filme aus den 1960er Jahren erhalten. Demokratisierung und kommerzieller Aufschwung 1979 kam der Präsident Südkoreas, Park Chung-hee, bei einem Putschversuch ums Leben. Erneut übernahm das Militär die Führung und Chun Doo-hwan bildete ein neues Regime, dass von 1980 bis 1988 bestand hatte. In dieser Zeit formierte sich die Demokratiebewegung. Im Mai 1980 rief das Regime nach studentischen Demonstrationen das Kriegsrecht aus, riegelte die Stadt Gwangju ab und verübte dort ein Massaker gegen die Demokratiebewegung. In der Folge wurde die Zensur des Films verschärft und die Bedeutung heimischer Produktionen nahm weiter ab. Heimische Filme dienten vor allem zur Erfüllung der Quote, um ausländische Produktionen zu importieren. Mitte der 1980er Jahre sah sich Südkorea mit dem Druck der USA auf den Handel konfrontiert. Südkorea verfolgte eine protektionistische Politik. Die Motion Picture Export Association of America lobbyierte schon seit Jahrzehnten für die Öffnung des südkoreanischen Marktes. 1985 berichteten die Organisation dem Handelsbeauftragten der Vereinigten Staaten von unfairen Importbedingungen ausländischer Filme. Die US-Regierung setzte sich darauf für eine Befreiung des Marktes ein. Um beim Export von Industrieprodukten in die USA, beispielsweise Autos, nicht benachteiligt zu werden, ging Südkorea auf die USA ein und befreite den Filmmarkt. Auch die Uruguay-Runde von 1986 bis 1994 im Rahmen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens sah die Marktöffnung für Medien und Kultur vor. Die signifikanteste Änderung gab beim zweiten Filmabkommen zwischen Südkorea und den USA im Jahr 1988, dass es ausländischen Unternehmen erlaubte, Niederlassungen in Südkorea zu gründen, um ihre Filme direkt zu vertreiben. Zuvor war der Markt monopolisiert und nur wenige südkoreanische Unternehmen durften ausländische Filme importieren, während ausländische Unternehmen ihre Filme nicht direkt vertreiben durften. Die südkoreanische Filmindustrie wurde von strengen Auflagen und der Einfuhrquote befreit. Allerdings stand der nach jahrzehntelanger Zensur kaum wettbewerbsfähige südkoreanische Film nun einem freien Markt gegenüber, was eine neue Situation für die Filmemacher darstellte. Eine neue Generation von Regisseuren wuchs heran und brachte neuen Schwung in die Filmindustrie. Im Kwon-taek und Lee Doo-young wagten sich an einem neuen Stil heran und konnten sich behaupten. Chung Ji-young, Shin Seung-soo, Jang Gil-soo, Hah Myung-joong und Park Chul-soo bildeten den neuen Mainstream ab. Vollendet wurde der Generationenwechsel durch die neuen Regisseure Jang Sun-woo, Park Kwang-su, Lee Myung-se und Park Chong-won. Ihre Independentproduktionen zeugten vom Aktivismus der Zeit, der soziale Probleme adressierte. Die Kulturbewegung übertrumpfte bald durch ihre Ästhetik das herkömmliche Kino und richtete sich eher an den kritischen Zuschauer und weniger an den reinen Konsumenten. Auf internationalen Filmfestspielen gewannen südkoreanische Autorenfilme zunehmend Aufmerksamkeit und ihr Stil wurde als Korean New Wave tituliert. 1987 konnte Im Kwon-taek mit Die Leihmutter dem südkoreanischen Kino zum Erfolg verhelfen. Die Hauptdarstellerin Kang Soo-yeon wurde für ihre Leistung auf den 44. Filmfestspielen von Venedig als beste Darstellerin ausgezeichnet. Nach Sangjoon Lee erreichte das südkoreanische Kino zu dieser Zeit internationale Anerkennung. Zuvor seien nach seinen Nachforschungen südkoreanische Filme in der westlichen Welt kaum bekannt gewesen und es gab auch keine akademische Auseinandersetzung mit dem südkoreanischen Kino. Einen wesentlichen Anteil am Bekanntwerden des südkoreanischen Films habe das 1981 begründete Hawaii International Film Festival und das East-West Film Journal, die sich beide darauf fokussiert haben, asiatische Filme im Westen zu verstehen. Für das Journal schrieb die Filmwissenschaftlerin Isolde Standish eine der ersten akademischen Betrachtungen des südkoreanischen Kinos und beschrieb dabei eine Korean New Wave als Revolte gegen traditionelle Konventionen und politische Zensur. Als Beginn der internationalen Beachtung können das Jahr 1984 gesehen werden, als Im Kwon-taeks Mandala (1981) und Lee Doo-yongs Mulleya Mulleya (1984) auf die Internationalen Filmfestspielen von Cannes eingeladen und in der Sektion Un Certain Regard gespielt wurden. 1988 und 1989 zementierte das südkoreanische Kino die Anerkennung als das Werk Warum Bodhi-Dharma in den Orient aufbrach? des junge Regisseurs Bae Yong-kyun mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet wurde. Überschattet von dem Erfolg wurde der ebenfalls von Kritikern gefeierte Film Chilsu and Mansu. Einen Monat zuvor wurde Kang Soo-yeon mit dem Schauspielpreis von Moskau bedacht für ihre Leistung in Der Pfad der Erleuchtung von Im Kwon-taek. Ein Jahr zuvor bezeichnete Amos Vogel den Film Der Mann mit den drei Särgen von Lee Jang-ho als „originellsten Film“ der Berlinale 1988. 1994 schrieb der britische Filmkritiker Tony Rayns, es gäbe kaum eine andere Filmnation, die in den vergangenen fünf Jahren innovativer war und stärker überraschte als Südkorea. Westliche Film des gleichen Zeitraums erscheinen dagegen zaghaft. Gesellschaftlich befand sich Südkorea im Umbruch. Nach landesweiten Protesten gegen das Regime im Juni 1987 kam es im gleichen Jahr erstmals zu direkten, demokratischen Präsidentschaftswahlen. Nach und nach wurde das Land demokratischer. Diese Grundstimmung fand auch Einzug in die Filmindustrie. Trotz der neu gewonnenen Freiheiten, dem neuen Filmstil und dem Anstieg der heimischen Filmproduktionen tat sich der südkoreanische Film an den Kinokassen anfangs schwer. Der Marktanteil südkoreanischer Werke im Kino fiel im Jahr 1987 erstmals auf unter 40 %. Es war das erste Jahr, in dem ausländische Filmunternehmen ihre Filme direkt in Südkorea vertreiben konnten. 1993 erschien mit Im Kwon-taeks Sopyonje – Die blinde Sängerin der erste Film, der in Südkorea über eine Million Zuschauer erreichte. Der Film ist eine Adaption von Lee Cheong-juns gleichnamigen Roman über den volkstümlich koreanischen Gesangsstil Pansori. Trotz des Erfolgs betrug der Marktanteil südkoreanischer Produktionen im Jahr 1993 an den Kinokassen nur noch 15,9 %. Der Einstieg südkoreanischer Konglomerate (Chaebol) in die Filmindustrie sollte diese fundamental verändern. Ende der 1980er Jahre wurden Videorekorder zu Alltagsgegenständen in südkoreanischen Wohnzimmern. Diese wurden von großen Unternehmen wie Samsung und Daewoo gefertigt. Deshalb investierten diese in Filme, die essenziell für Videospieler waren. Sie wollten expandieren und führten eine Routine ein, Filme erst im Kino zu zeigen, dann auf Videokassetten zu veröffentlichen und schließlich im Kabelfernsehen zu zeigen. Durch die Investitionen revitalisierte sich die südkoreanische Filmindustrie und die Qualität der Filme wurde verbessert. 1992 wurde Kim Ui-seoks Marriage Story veröffentlicht, der durch Samsung finanziert wurde. Es ist der erste südkoreanische Film, der von einem privatwirtschaftlichen Unternehmen gesponsert wurde. Durch die neue Geldquelle entstanden aufwändigere Produktionen. Es wurde viel Aufmerksamkeit auf die Drehbücher verwendet und potentielle Zielgruppen wurden befragt. Die Chaebols heuerten junge Regisseure an und veranstalteten Wettbewerbe für Independentproduktionen. Die Produktionsweise änderte sich und südkoreanische Filme wurden immer beliebter. Es wurde begonnen, auch Fantasy-, Science-Fiction- und Blockbuster-Filme zu drehen. Insbesondere der Unterhaltungssparte von Samsung wird zugesprochen, die Art und Weise südkoreanischer Filmproduktion grundlegend erneuert und gestaltet zu haben mit einem Ausbildungszentrum für Planung und Management, während sich Universitäten noch auf Regieführung und Filmtheorie fokussierten. Dem Einstieg der Chaebols wird in der Literatur deshalb große Bedeutung für die weitere Entwicklung des südkoreanischen Kinos beigemessen. Sie machten die Industrie transparent und planten systematisch. Samsung und Daewoo zogen sich 1999 bzw. 1998 in Folge der Asienkrise aus der Filmindustrie zurück. Doch die CJ Group (Cheil Jedang), die 1995 in den Markt eingestiegen ist, verblieb in der Industrie und sollte sie über die nächsten Jahrzehnte prägen. Showbox und Lotte stiegen 1999 in den Markt ein. Renaissance: Die Korean New Wave Von dem Schock der Marktöffnung 1986 erholte sich das südkoreanische Kino ein Jahrzehnt später und der Marktanteil stieg von 23,1 % im Jahr 1996 auf über 50 % im Jahr 2001. Nachdem seit 1996 mit Filmen wie The Contact (1997) und Christmas in August (1998) ein klarer Aufwärtstrend zu erkennen war, löste Kang Je-gyus Actionfilm Shiri 1999 einen Boom aus. Der Film war auch in den USA relativ erfolgreich. In Südkorea erreichte der Film einen neuen Rekord an den Kinokassen. Der Film leitete die Renaissance des südkoreanischen Kinos ein. Außerdem wurde 1996 die erste Auflage des Busan International Film Festivals eröffnet, das sich über die Jahre zum größten Filmfestival Asiens entwickelte. 1998 wurde Kim Dae-jung zum Präsidenten gewählt. Zu seiner Kulturpolitik gehörte die Etablierung einer Filmförderung und die Abschaffung staatlicher Filmzensur. Im Jahr 2000 nahm mit Das Lied der treuen Chunhyang von Im Kwon-taek erstmals ein südkoreanischer Film am Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele von Cannes teil. Außerdem wurde Joint Security Area von Park Chan-wook veröffentlicht, der den Besucherrekord von Shiri brach. Der Film handelte von süd- und nordkoreanischen Soldaten am Grenzstreifen und verbindet Komödie und Tragik. Im selben Jahr wurde das Jeonju International Film Festival erstmals eröffnet durch den Film Waikiki Brothers von Im Soon-rye. Außerdem erschien die romantische Komödie My Sassy Girl von Kwak Jae-yong, die auch international erfolgreich war. Im nächsten Jahr folgte mit Friend von Kwak Kyung-taek ein weiterer Action-Blockbuster, der einen neuen Zuschauerrekord aufstellte, obwohl der Film keine Jugendfreigabe hatte. Lee Chang-dongs Film Oasis erhielt 2002 den Silbernen Löwen von Venedig, während Im Kwon-taek in Cannes für die beste Regie für Im Rausch der Farben und der Liebe ausgezeichnet wurde. Zu dieser Zeit wurden südkoreanische Filme auch an den Kinokassen in Japan, Singapur, Hongkong und weiteren Staaten sehr erfolgreich. Unter Cineasten gilt das Jahr 2003 als eines der besten für den südkoreanischen Film. Bong Joon-ho sorgte für Aufmerksamkeit durch seinen Thriller Memories of Murder. Park Chan-wook veröffentlichte ein paar Monate später Oldboy, der auf den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2004 mit dem Großen Preis der Jury bedacht wurde. Kim Ki-duk veröffentlichte Frühling, Sommer, Herbst, Winter… und Frühling, der in der 2016 von der BBC veröffentlichten Liste der 100 bedeutendsten Filme des 21. Jahrhunderts auf Platz 66 landete. Jang Joon-hwan brachte mit Save the Green Planet! einen Kultfilm heraus und Kim Jee-woon gelang mit A Tale of Two Sisters ein Meilenstein des koreanischen Horrorfilms. Zum Jahresende erschien Kang Woo-suks Kriegsfilm Silmido, der über 11 Millionen Zuschauer in Südkoreas Kinos erreichte. Dieser Rekord wurde nur kurze Zeit später durch den Film Brotherhood – Wenn Brüder aufeinander schießen müssen (2004) geknackt. Es gelang, mit relativ geringem Budget hochwertige Filme zu produzieren, die an den Kinokassen und auf Filmfestspielen große Erfolge verzeichneten. Mit frischen Ideen und einem Gespür für die Gegenwart gelangen anspruchsvolle und kontroverse Filme, die Millionen von Menschen in die Kinos führten. Im Februar 2004 gewann Kim Ki-duk den Preis für die beste Regie auf der 54. Berlinale für seinen Film Samaria. Kim Ki-duk und Hong Sang-soo gelten als ausgezeichnete Autorenfilmer, die auf den Filmfestivals der Welt für Furore sorgen, aber nur geringe Umsätze an den Kinokassen erzielen. 2004 erhielt Kims Film Bin-Jip den FIPRESCI-Preis von Venedig und schließlich auch die Auszeichnung als bester Film des Jahres. Zu dieser Zeit war die Korean New Wave international in aller Munde. Ein neuer Filmstil und eine Filmbewegung, die frischen Wind auf die Filmfestivals der Welt brachte und an die Nouvelle Vague, das New American Cinema und die Hong Kong New Wave anknüpfte. Während sich das südkoreanische Kino rasant entwickelte, gewann Ende der 1990er das japanische Horrorkino in westlichen Ländern an Beliebtheit, angeführt durch psychologische Horrorfilme wie Ring (1998). US-amerikanische Remakes folgten. Als nun 2003, ein Jahr nach dem Remake The Ring, die südkoreanischen Horrorfilme Into the Mirror und A Tale of Two Sisters erschienen, sah man sie als den nächsten großen Trend. Beide Filme erhielten 2008 bzw. 2009 amerikanische Remakes. Während der Westen aus Südkorea überwiegend Horrorfilme importierte, blieb das südkoreanische Kino an sich vielfältig. Ende der 2000er Jahre wurden nach mehreren Misserfolgen allerdings weniger Horrorfilme gedreht, da national sowie international das Interesse erschöpft war. Allerdings erstarkte das Genre des K-Horror später erneut durch Train to Busan und The Wailing (2016) sowie Gonjiam: Haunted Asylum (2018). 2006 stellte Bong Joon-ho durch seinen Genremix The Host einen neuen Kinorekord auf, indem für den Film über 13 Millionen Kinokarten verkauft wurden. Die 10-Millionen-Marke entwickelte sich von einem einstigen Meilenstein zu einer einfachen Messlatte des kommerziellen Erfolgs. Die südkoreanische Filmindustrie hat sich in diesen Jahren thematisch ausgeweitet und Filme zahlreicher verschiedener Genre produziert, von Horror, über Arthouse, Action und Liebesfilmen wurde eine große Bandbreite abgedeckt. Von 1996 bis 2005 stieg die Anzahl der Kinosäle in Südkorea von 511 auf 1648 an. Im gleichen Zeitraum stieg der Export südkoreanischer Filmproduktionen von 400.000 US-Dollar auf 76 Millionen US-Dollar. Mit der Fernsehserie A Star in My Heart () begann 1997 das Phänomen der Koreanischen Welle in China sichtbar zu werden, dem sich weltweit ausdehnenden Erfolg südkoreanischer Kulturexporte. Während koreanische Dramaserien der Ursprung des Phänomens sind, begann man nun aufgrund der wachsenden Umsätze auch den südkoreanischen Film miteinzubeziehen. Entwicklung nach der Verringerung der Kinoquote Während die Einfuhrquote in den 1980er Jahren wegfiel, blieb die Spielquote südkoreanischer Filme erhalten, mit 146 Tagen pro Jahr ab 1985. 2006 wurde die Anzahl der Tage, die Kinos einheimische Filmproduktionen zeigen müssen, auf 73 Tage halbiert. Diese Quote verhält sich anders als noch 1966. Auf jeder Leinwand dürfen zu 1/5 (bis 2006 2/5) der Jahrestage nur südkoreanische Filme gezeigt werden. Nach Jimmyn Parc ist die Screen Quota sowieso nur ein Papiertiger, da zwar südkoreanischen Produktionen eine bestimmte Laufzeit im Kino garantiert sei, nicht aber sichergestellt ist, dass die Bevölkerung die Filme schließlich auch guckt. Seinen Ausführungen folgend hatte diese Quote kaum Einfluss auf die Entwicklung des südkoreanischen Films. Die Regelung wurde auch nicht streng durchgesetzt und einige Kinos sollen dagegen verstoßen haben. Auch Independentproduktionen konnten Erfolge feiern, sowohl auf internationalen Filmfestspielen als auch im Kino. 2008 erreichte die Independentdokumentation Old Partner knapp 3 Millionen Kinobesucher. Im gleichen Jahr erschien der erfolgreiche Actionfilm The Chaser, der auf einem realen Serienkiller basiert und Regisseur Na Hong-jin sowie den beiden Hauptdarstellern Kim Yoon-seok und Ha Jung-woo zum großen Durchbruch verhalf. In einigen, international erfolgreichen Filmen aus den Anfängen der Koreanischen Neuen Welle werden Polizisten als korrupt, ungerecht, inkompetent und gewalttätig dargestellt. Die Gründe liegen in der jahrzehntelangen Diktatur und Zensur. Nach der Demokratisierung konnten die Filmemacher ihre Sicht schildern und ihrer Wut Ausdruck verleihen. In The Chaser ist es die Inkompetenz der Polizisten, durch die der Serienmörder immer weiter töten kann. In den 2010er Jahren wurden allerdings vermehrt Actionfilme und Thriller gedreht, in denen Polizisten als heldenhaft, wie etwa in Hollywoodfilmen, dargestellt werden. Nach Fritz Göttler von der Süddeutschen Zeitung habe das südkoreanische Kino der Welt als neue „Kreativkraft“ und „Innovationsschleuder“ in der vorangehende Dekade „jede Menge Aufregung, Begeisterung [und] Enthusiasmus gebracht“. Der Journalist Jan Küveler von der Welt bezeichnete 2014 das südkoreanische Kino als das „beste Kino der Welt“. Die Filme haben „Zielstrebigkeit, Zweifel, Härte, Liebe, keine Spur von Eitelkeit, der Stil schnörkellos, Ausdruck ohne Umschweife, die flinke Eleganz der Nouvelle Vague und die brutale Direktheit amerikanischer Thriller der Siebziger“. Der amerikanische Regisseur Martin Scorsese schrieb, das koreanische Kino erreichte ihn langsam ohne jegliche Vorwarnung. Er sei geradezu vom koreanischen Film aufgesogen worden und verfolge seine Entwicklung. Regisseure wie Hong Sang-soo, Lee Chang-dong, Bong Joon-ho und Park Chan-wook sowie deren Regiekollegen seien wahre Kulturbotschafter. Darcy Paquet schrieb: „Man könne argumentieren, dass der aktuelle Aufschwung des koreanischen Kinos weniger ein außergewöhnlicher Umstand ist als vielmehr ihr natürlicher Zustand. Seit den Anfängen des koreanischen Kinos wurde es behindert durch Japans Kolonialisierung, die nationale Teilung, den Koreakrieg, autoritäre Militärregime, Zensur und wettbewerbsverzerrende Verordnungen. Erst in den 1990er Jahren konnte sich das koreanische Kino an einer unterstützenden Regierung erfreuen, einer stabilen Wirtschaft und einer vernünftigen Filmpolitik.“ Man könne nur hoffen, dass das koreanische nie wieder solche extremen Störungen erlebe. 2010 führte CJ CGV die neue Technologie 4DX ein und mit Haunters wurde der erste 4DX-Film veröffentlicht. Dabei ist das Bild in 3D, zusätzlich bewegen sich die Sitze, Düfte werden eingesprüht und Wind und Wasser wird für passende Szenen eingesetzt. 2012 erhielt Kim Ki-duk als erster koreanischer Filmemacher den Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig für Pieta. Im Jahr 2013 veröffentlichten die international sehr bekannt gewordenen Regisseure Park Chan-wook, Kim Jee-woon und Bong Joon-ho ihre ersten englischsprachigen Filme durch Stoker, The Last Stand und Snowpiercer. 2014 erschien das Historienepos Der Admiral – Roaring Currents, in dem Choi Min-sik den Seefahrer Yi Sun-shin verkörpert. Der Film handelt von der Seeschlacht von Myongnyang, in der Yi Sun-shin mit zwölf Schiffen die aus 330 Schiffen bestehende japanische Flotte besiegt und so die Invasion durch Japan abwendet. Der Film erreichte über 17,6 Millionen Kinobesucher und steht damit an der Spitze der Kinobesucherzahlen in Südkorea. Im selben Jahr erreichte der Film Ode to My Father mehr als 14 Millionen Zuschauer. Der Film erzählt die Geschichte Südkoreas vom Koreakrieg bis ins Jahr 2014 am Leben eines Mannes. 2016 kam es zu einem Korruptionsskandal um Präsidentin Park Geun-hye und ihrer Amtsenthebung, in dessen Zuge auch die Existenz einer kulturbezogenen schwarzen Liste bekannt wurde. Auf dieser befanden sich linke Künstler, oder welche, die sich über die Präsidentin lustig machten. Personen auf der schwarzen Liste sollten für ihre Produktionen keine finanzielle Unterstützung bekommen. Der Schauspieler Song Kang-ho landete auf der Liste für seine Rolle als Menschenrechtsanwalt in dem Film The Attorney (2013). Einige Filmemacher hatten Schwierigkeiten bei ihren Produktionen und deren Finanzierung. Es befanden sich 9473 Personen auf der Liste. Mitte der 2010er Jahre gewannen südkoreanische Webtoons weltweit an Beliebtheit. Bereits zuvor wurden zahlreiche Manhwa und Webtoons für das Kino adaptiert, doch zu dieser Zeit etablierten sich Webtoons als Vorlagen für das südkoreanische Kinos, ähnlich wie sich Marvel und DC Comics als Stofflieferant für das amerikanische Kino etablierten. 2015 erschien die Webtoon-Verfilmung Inside Men – Die Rache der Gerechtigkeit, der mit über 9,1 Millionen verkauften Karten der erfolgreichste Film ohne Jugendfreigabe in der südkoreanischen Kinogeschichte wurde. Die erfolgreichste Webtoon-Verfilmung ist das Fantasy-Abenteuer Along with the Gods: The Two Worlds (2017) von Kim Yong-hwa mit über 14 Millionen Kinobesuchern. Des Weiteren hielt die #MeToo-Bewegung Einzug ins südkoreanische Kino. Dabei wurden Anschuldigungen laut gegen Regisseur Kim Ki-duk sowie gegen die Schauspieler Cho Jae-hyun, Oh Dal-soo und Jo Min-ki. Letzterer beging nach den Anschuldigungen Suizid. Oh Dal-soo wurde in der Fortsetzung Along with the Gods: The Last 49 Days (2018) ersetzt und einige, bereits abgedrehte Filme mit ihm wurden auf unbestimmte Zeit verschoben. Von staatlicher Seite wurde ein Zentrum für Gleichberechtigung im koreanischen Film eingerichtet, an das sich Schauspielerinnen wenden können. Auf viel Medieninteresse stieß der Film Kim Ji-young: Born 1982 mit Jung Yu-mi in der Hauptrolle. Es ist die Verfilmung eines erfolgreichen, 2016 veröffentlichten feministischen Romans. 2018 erhielt Lee Chang-dongs Burning viel Aufmerksamkeit bei den Filmfestspielen von Cannes und erreichte einen neuen Rekordwert in der Kritikerumfrage der Zeitschrift Screen International mit 3,8 von 4 möglichen Punkten. Katja Nicodemus von der Zeit sprach von einem „der besten Filme aller Zeiten“. Der Film erhielt den FIPRESCI-Preis. Ein Jahr später wurde der Film Parasite von Bong Joon-ho als erster koreanischer Film mit der Goldenen Palme sowie mit dem Golden Globe als bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet. Des Weiteren erhielt Parasite als erstes nicht-englischsprachiges Werk den Oscar für den besten Film. Pascal Blum vom Tages-Anzeiger bezeichnete Südkorea im Zuge der Veröffentlichung von Parasite als „Originalitätskatapult“. Südkorea gelang ein Filmwunder und produziere die besten Thriller. Die zwei vorher genannten Filme gehören – gemeinsam mit Die Taschendiebin von Park Chan-wook und Train to Busan von Yeon Sang-ho, die beide ihre Premiere auf den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2016 feierten – zu den erfolgreichsten südkoreanischen Filmen der vergangenen Jahre (seit 2016). Beispielsweise gehören alle vier Filme zu den fünf erfolgreichsten koreanischen Filmen aller Zeiten in Frankreich. Dort wurde Parasite auch zum ersten südkoreanischen Film mit über einer Million Kinobesuchern. Nachdem 2019 eines der erfolgreichsten Jahre für den südkoreanischen Film war, mit über 226 Millionen Kinobesuchern, die Auszeichnungen für Parasite und dem hundertjährigen Jubiläum des koreanischen Kinos, war die Entwicklung in den Anfängen des Jahres 2020 ab März verhalten aufgrund der weltweiten COVID-19-Pandemie. Dabei wurden die Kinos für einige Zeit geschlossen und in der Folge zahlreiche Filmveröffentlichungen verschoben. Als sich die Situation ab Ende April deutlich verbesserte, öffneten nach und nach wieder die Kinos. Produktion, Vertrieb und Kinos Der südkoreanische Filmmarkt wird als Oligopol beschrieben, da es wenige, vertikal integrierte Unternehmen gibt, die diesen dominieren. Die vier Unternehmen CJ ENM, Lotte Cultureworks, Showbox und Next Entertainment World teilen die Filmdistribution unter sich auf, während die Multiplex-Betreiber CJ CGV, Lotte Cinema und Megabox den Kinomarkt beherrschen. CJ und Lotte gehören zu den größten südkoreanischen Konglomeraten (jaebol). CJ ENM und CJ CGV sind Tochterunternehmen dieses Konzerns. CJ ENM ist Südkoreas größtes Unterhaltungsmedienunternehmen aktiv in Film, Fernsehen, Musik und Gaming. Lotte Cultureworks betreibt das Distributionslabel Lotte Entertainment und die Kinokette Lotte Cinema. Diese Unternehmen decken von Produktion über Distribution bis zur Zurschaustellung der Werke in den Kinos die gesamte Wertschöpfungskette der Filmindustrie ab. Die Produktionsgesellschaft Showbox und die Kinokette Megabox gehen beide auf den Konzern Orion zurück. Megabox gründete ein eigenes Produktionsstudio namens Megabox PlusM. Des Weiteren startete der Verwerter Next Entertainment World 2017 die Kinokette Cine Q. 2012 stieg das amerikanische Filmunternehmen 20th Century Fox in die Produktion südkoreanischer Filme ein, beginnend mit Running Man (2013). 2016 stieg auch Warner Bros. in den südkoreanischen Markt ein und feierte mit The Age of Shadows (2016) von Kim Jee-woon einen großen Erfolg, denn der Film generierte 7,5 Millionen Kinobesucher. Jay Choi von Warner Bros. äußerte sich zu den Gründen des Einstiegs, dass Südkorea einen der größten Kinomärkte darstelle und dazu noch einen, in dem heimische Produktionen einen größeren Umsatz erzielen als Hollywoodfilme. Außerdem genießen südkoreanische Filme ein hohes Ansehen und bieten originelle und kreative Geschichten. Auch für den amerikanischen Streaminganbieter Netflix stellt Südkorea einen wichtigen Markt dar. Das Unternehmen sichert sich immer wieder die weltweiten Streamingrechte an einigen südkoreanischen Filmen, begann aber auch mit der Finanzierung von Filmen im Vorfeld. 2017 finanzierte Netflix den Film Okja von Bong Joon-ho. Genauso werden für südkoreanische Webplattformen Filme produziert. In China sind südkoreanische Filme sehr beliebt und erfolgreich. So wurden in den 2010er Jahren vermehrt südkoreanische Schauspieler für chinesische Produktionen engagiert. Teilweise wurden die Filme in Südkorea gedreht, wie Bad Guys Always Die. Außerdem beteiligten sich südkoreanische Unternehmen für visuelle Effekte und DI an der Postproduktion verschiedener chinesischer Filme. So kümmerte sich das in Busan ansässige Unternehmen AZ Works um die Effekte von Tsui Harks Detective Dee und das Geheimnis der Phantomflammen (2010), wofür es den Hong Kong Film Award erhielt. Zudem gingen einige Studios Partnerschaften ein. Allerdings verschlechterten sich die Beziehung zwischen Südkorea und China als die südkoreanische Regierung den Bau des Raketenabwehrsystems THAAD des US-Militärs genehmigte. Die führte de facto zu einem Verbot der Einfuhr südkoreanischer Filme. Für etwa zwei Jahre erschienen keine südkoreanischen Produktionen in chinesischen Kinos. Mit Huayi Brothers stieg aber auch ein großes chinesisches Filmstudio in den südkoreanischen Produktionsmarkt ein. Zu dem Unternehmen gehört das 2018 gegründete Filmunternehmen Merry Christmas. Die von Regisseur Kim Yong-hwa gegründeten Dexter Studios fokussierten sich zu Beginn auf visuelle Effekte und CGI. Das Unternehmen expandierte allerdings in die Bereiche Filmfinanzierung und Distribution. Des Weiteren entstand 2013 durch die Kooperation von zehn kleineren Filmstudios – wie Myung Films, Chungeorahm Film, JupiterFilm und Filmmaker R & K – das Produktionsunternehmen Little Big Pictures. Nach Dal Yong Jin (2020) profitieren amerikanische Filme stark vom Oligopol des südkoreanischen Filmmarktes. Dieses Oligopol führe dazu, dass nur wenige Filme auf den meisten Kinoleinwänden gespielt werden. Die Zunahme an Kinosälen führte nicht zu einer Vielfalt an Filmen, stattdessen werden Blockbuster fast überall gezeigt. Und gerade amerikanische Produktionen vereinten dabei die meisten Leinwände auf sich. Captain America: Civil War (2016) wurde auf 1991 von 2575 Leinwänden gezeigt. Dies sei eine Gefahr für kulturelle Filme wie Arthouse und Autorenfilme, da hauptsächliche kommerzielle Filme im Kino gezeigt werden. Dies wird auch von einigen Filmschaffenden, wie Kim Ki-duk, kritisiert. Independentfilme Während die Filmlandschaft durch die staatliche Einflussnahme und Zensur von einigen wenigen Unternehmen dominiert wurde, konnten nach der Liberalisierung und dem Wegfall der Produzenten-Registrierung Mitte der 1980er Jahre Independentfilme gedreht werden. Einer der ersten Independentfilme war Oh, Dream Nation (1988) über das Gwangju-Massaker, das sich im Jahr 1980 ereignete. Nach Kim Young-jin habe der Film erheblichen Einfluss auf die Produktion von weiteren Independentfilmen genommen. Aufbauend auf den Erfolg drehte die Gruppe Jangsangotmae, die auch Oh, Dream Nation produzierte, 1990 den Film Night before the Strike über die Anstrengungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus. In Südkorea bieten das Jeongdongjin Independent Film Festival, das Seoul Independent Film Festival und das Busan International Film Festival jungen, aufstrebenden Regisseuren die Gelegenheit, ihre Filme zu präsentieren. Mit dem von Filmkritiker und -übersetzer Darcy Paquet ins Leben gerufenen Wildflower Film Awards () werden seit 2014 jährlich die besten Independent-Leistungen prämiert. Unterstützt wird der Independentfilm unter anderem durch die Association of Korean Independent Film & Video (). Im 21. Jahrhundert konnte das südkoreanische Independentkino internationale Erfolge verzeichnen. Breathless (, 2008) von Yang Ik-june handelt von Kindesmissbrauch und Wucherei und erhielt den Silver Screen Awards der Internationalen Filmfestspiele von Singapur und den Tiger von Rotterdam. Der 2012 erschienene Schwarzweißfilm Jiseul wurde teilweise durch Crowdfunding finanziert und gewann bspw. als erster südkoreanischer Film den Grand Jury Prize auf dem Sundance Film Festival 2013. Han Gong-ju (2014) wurde mit den Hauptpreisen der Filmfestspiele von Marrakesch und Rotterdam ausgezeichnet. Der Film verhalf der Schauspielerin Chun Woo-hee zu ihrem großen Durchbruch im koreanischen Kino. House of Hummingbird (2018) konnte während seiner Festivalrunde von Oktober 2018 bis August 2019 gleich 25 Preise einsammeln, darunter den NETPAC-Preis auf den Filmfestspielen von Busan, den Großen Preis der Internationalen Jury der Kategorie Generation 14plus auf der Berlinale und die Goldene Tulpe von Istanbul. Der Regisseur Park Suk-young feierte Erfolge für seine Blumen-Trilogie, bei der es sich um unabhängige Filme handelt und um Teenager in einer Krise geht. In allen drei Filmen wird die Hauptrolle von Jeong Ha-dam ausgefüllt. Independentfilme decken verschiedene Themen ab. The Journals of Musan (2014) von Park Jung-bum schildert das Leben eines nordkoreanischen Flüchtlings in Südkorea und dessen Schwierigkeiten, einen Job zu finden, Diskriminierung, Armut. Dohee – Weglaufen kann jeder (2014) von July Jung und Miss Baek (2018) von Lee Ji-won setzen sich mit Kindesmisshandlung auseinander und werden von weiblichen Rollen dominiert. K-Horror Der Begriff K-Horror bezeichnet südkoreanische Horrorfilme und etablierte sich, als Ende der 1990er Jahre der koreanische Horrorfilm weltweit populär wurde. Erfolgreiche Horrorfilme entwickelten sich gemeinsam mit der Koreanischen Neuen Welle. Der 1998 veröffentlichte Film Whispering Corridors ist der erste Horrorfilm des neuen südkoreanischen Kinos. Regisseur Park Ki-hyeong orientierte sich für sein Werk an italienischen Horrorfilmen der 1970er und 1980er Jahre. Der Film handelt von Schülerinnen, die von ihren Lehrern schikaniert und missbraucht werden, und enthält so eine direkte soziokulturelle Komponente. Der Erfolg führte zur Produktion weiterer Filme ähnlicher Machart. Anders als Japan, das sich nach dem Erfolg von Ring sehr stark auf das Horrorgenre fokussierte, begann das südkoreanische Kino im Zuge der Neuen Welle eine breite Palette an Genres und Themen abzudecken. Doch im Ausland genossen zu Beginn der 2000er Jahre unter südkoreanischen Filmen vor allem Horrorproduktionen große Beliebtheit. Die Horrorfilme thematisieren meist gesellschaftliche Probleme. Pechmann (2015) argumentiert, die Filme bedienen sich der Angst „vor dem Fremden, dem Anderen und dem Ungewohnten“. In südkoreanischen Produktionen sei das „Andere nicht das, was wir direkt wahrnehmen, also kein Serienmörder, kein Geist, kein Monster, sondern das, was mit diesen jeweiligen Figuren verbunden ist“. Das Andere sei nach Pechmann „auf einer höheren und abstrakteren Ebene angesiedelt“. Dies mache koreanische Horrorfilme nicht leicht verständlich. In Whispering Corridors zum Beispiel befindet sich im Klassenraum ein Gemälde der historischen Persönlichkeit Shin Saimdang, die als Mutter Koreas gilt und an Mädchenschulen als Ideal der Weiblichkeit vermittelt wird. Am Filmende ist das Porträt blutüberströmt mit den blutigen Tränen des Gespenstes Jinju, als sie die Schule verlässt – nach Jinhee Choi (2011) ein Symbol, dass die überaltete Ikone keine Bedeutung mehr hat für die jungen Heranwachsenden im modernen Südkorea. Die Horrorfilme sollen den Zuschauer wachrütteln, dass die Gesellschaft noch vom Idealzustand entfernt sei. Außerdem bedienen sich die Gruselfilme urbaner Legenden und traditioneller Folklore. Weiterhin ist die gängigste Erzählweise des koreanischen Kinos das Melodrama, was zum Großteil auf das Erbe von shinpa zurückzuführen ist. Shinpa ist eine japanische Theaterform, die während der Kolonialzeit nach Korea kam. Dabei handelte es sich um tragische Geschichten voller Pessimismus und einem unausweichlichen traurigen Ende. Koreanische Horrorfilme haben in der Regel kein Happy End. Das Ende des Films sei aber meist auch nicht gruselig, sondern traurig. Der Zuschauer wird mit der Wahrheit konfrontiert und verspürt Traurigkeit und Verzweiflung. Einen Meilenstein im koreanischen Horrorkino stellt A Tale of Two Sisters (2003) von Kim Jee-woon dar. Südkoreanische Horrorfilme kennzeichnet zudem eine häufige Vermischung mit anderen Genres. So stellt Kims The Quiet Family (1998) eine Tragikomödie mit Horrorelementen dar, während I Saw the Devil (2010) ein Horrorthriller ist. Als Horrorthriller sind auch die Filme Bedevilled (2008) und Oldboy einzuordnen. Der Film Ghosts of War (2004) verknüpft die Schrecken des Krieges mit Horrorelementen. Der vielschichtige Monsterfilm The Host verbindet diverse Genres und Themen. Der 2011 veröffentlichte Film Spellbound vermischt die Genres Romantik, Komödie und Horror. Dieser Genremix sorgt für einen Kontrast, dass man sich in einem Moment vorkommt, als sehe man eine romantische Komödie, und im nächsten Moment in den Horror zurückgeholt wird. Südkoreanische Horrorfilme seien dabei sehr frech und harsch und fördern verstörende Szenen. Die komödiantischen Szenen sollen den Zuschauer ablenken, um ihn später unvorbereitet mit dem Horror zu konfrontieren. Kommen in Horrorfilmen übernatürliche Wesen vor, sind es in der Regel traditionell koreanische wie Gumiho und Gwisin (Geist). Allerdings veröffentlichte Park Chan-wook 2009 mit Durst einen Vampirfilm. Zudem entwickelte sich der 2016 veröffentlichte Zombiefilm Train to Busan zum erfolgreichsten südkoreanischen Horrorfilm. Im gleichen Jahr wurde auch der Film The Wailing von Na Hong-jin, der für seine gefeierten Thriller bekannt ist, veröffentlicht. In dem Film nimmt Na übernatürliche Elemente verschiedener Glaubensrichtungen auf. Auch übernatürliche Kräfte wie Geister dienen häufig als Ablenkung. Der Zuschauer soll sein Augenmerk auf diese offensichtliche Gefahr richten und erkennt dabei nicht, was eigentlich los ist. Während das südkoreanische Horrorkino unter dem Begriff „K-Horror“ erst seit Ende der 1990er international bekannt wurde, ist die Geschichte deutlich länger. 1924 veröffentlichte Park Jung-hyun die Geisterfabel Janghwa Hongryeon jeon, basierend auf der gleichnamigen, alten Volkssage. Allerdings konnte sich das südkoreanische Kino unter japanischer Herrschaft (1910–1945) kaum entwickeln. Erst dem 1960 erschienenen Film Hanyo – Das Hausmädchen von Kim Ki-young werden die Anfänge des modernen koreanischen Horrorfilms zugesprochen. Es ist einer der einflussreichsten Filme in Südkorea und weist einige Horrorelemente auf. Shin Sang-ok veröffentlichte 1969 The Thousand Year Old Fox, in dem er die Gestalt des Gumiho aufnimmt: ein neunschwänziger Fuchs, in der Regel weiblich, der Menschengestalt annehmen kann. Zuschauerzuspruch Südkorea ist eines der wenigen Länder, in denen einheimische Filmproduktionen regelmäßig einen Marktanteil von über 50 % erreichen. 1986 wurde auf Druck der Vereinigten Staaten die Einfuhrquote für ausländische Filme aufgehoben. Im Vergleich zu anderen Ländern, die ihre Quoten beseitigten, wuchs der Marktanteil einheimischer Filme in Südkorea, nach einem kurzzeitigen Einbruch, während er in Mexiko und Taiwan schrumpfte. Nach Chuck Stephens von der Filmfachzeitschrift Film Comment war Südkorea im Jahr 2001 das erste Land, das seinen Filmmarkt von Hollywood zurückeroberte und eine großartige Erneuerung erlebte. Im Jahr 2013 gab es in Südkorea erstmals über 200 Millionen Kinobesucher. Der Anteil einheimischer Filmproduktionen war in dem Jahr mit 59,1 Prozent der zweithöchste Anteil nach 63 Prozent, die im Jahr 2006 erreicht worden waren. Südkorea gehört zu den Ländern, in denen die Menschen am häufigsten ins Kino gehen: Mit 216,4 Millionen Kinobesuchen bei etwa 50 Millionen Einwohnern beträgt die durchschnittliche Rate mehr als vier Kinobesuche pro Kopf jährlich. 2013 wies Südkorea 4,25 Kinobesuche pro Einwohner auf, so hoch wie in keinem anderen Land in jenem Jahr. Liste der erfolgreichsten Filme (Stand: Oktober 2019, nach Besucheranzahl geordnet) Der Admiral – Roaring Currents () – 17.614.590 (2014) Extreme Job () – 16.265.094 (2019) Along with the Gods: The Two Worlds () – 14.411.708 (2017) Ode to My Father () – 14.254.955 (2014) Veteran – Above the Law () – 13.414.200 (2015) The Host () – 13.019.000 (2006) The Thieves () – 12.983.005 (2012) Miracle in Cell No. 7 () – 12.803.485 (2013) Assassination () – 12.706.819 (2015) Masquerade () – 12.321.459 (2012) The King and the Clown () – 12.302.831 (2005) Along with the Gods: The Last 49 Days () – 12.273.696 (2018) A Taxi Driver () – 12.189.436 (2017) Brotherhood – Wenn Brüder aufeinander schießen müssen () – 11.746.135 (2004) Train to Busan () – 11.566.874 (2016) The Attorney () – 11.374.861 (2013) Tsunami – Die Todeswelle () – 11.324.791 (2009) Silmido () – 11.108.000 (2003) Parasite () – 10.083.179 (2019) A Violent Prosecutor () – 9.707.581 (2016) Filmfestivals Das Busan International Film Festival (BIFF) ist das besucherstärkste Filmfestival Asiens und eines der bedeutendsten. Durch seine Gründung im Jahr 1996 entwickelte es sich gemeinsam mit der Korean New Wave. Das Festival ist von der FIAPF akkreditiert und spezialisiert auf das asiatische Kino. 2018 hatten die Filmfestspiele etwa 195.000 Besucher. Das jährlich im Mai stattfindende Jeonju International Film Festival genießt innerhalb Südkoreas einen exzellenten Ruf, ist eine Stütze für Südkoreas Arthouse-Kino und die Vorstellungen sind meist ausverkauft. 1997 startete die erste Auflage des Bucheon International Fantastic Film Festivals, Südkoreas größtem Genrefilmfestival. Die drei Festivals werden weitläufig als die drei wichtigsten Filmfestspiele in Südkorea betrachtet. Filmpreise Als die wichtigsten Auszeichnungen werden der Blue Dragon Award und der Daejong-Filmpreis betrachtet. Der Daejong-Filmpreis wurde 1962 vom Ministerium für Kultur und Information ins Leben gerufen. Als staatlich geförderter Preis gehörte die Verleihung zur Zeit der Militärdiktatur auch zur Propaganda der Regierung. So wurde für einige Zeit der Preis für den besten Film in der Kategorie Antikommunismus vergeben. Als ältester, noch existierender Filmpreis gilt die Daejong-Auszeichnung dennoch weiterhin als prestigeträchtig. Die Blue Dragon Awards wurden 1963 von der konservativen Zeitung Chosun Ilbo begründet, in den 1970er Jahren allerdings wieder beendet. Die Tochterzeitung Sports Chosun belebte die Verleihung in den 1990er Jahren wieder. Bekannt ist auch der Baeksang Arts Award, ein Preis für Film und Fernsehen, ähnlich der amerikanischen Golden Globes. Im Zuge des Busan International Film Festival werden auch einige, von den Filmfestspielen selbst unabhängige Preise vergeben, wie der Busan Film Critics Awards. Filmpreise Literatur Weblinks Korean Movie Database betrieben vom Korean Film Archive (englisch) Korean Film Biz Zone betrieben vom Korean Film Council (englisch) Einzelnachweise Filmgeschichte
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https://de.wikipedia.org/wiki/Pegel%20W%C3%BCrzburg
Pegel Würzburg
Der Pegel Würzburg ist einer von 16 Messpegeln und von acht Richtpegeln am Main und misst den aktuellen Wasserstand, der von großer Bedeutung für die Schifffahrt und die Anwohner ist. Für flussabwärts gelegene ufernahe Regionen dient er im Hochwasserfall als wichtiger Anhaltspunkt, um entsprechende Warnungen auszugeben. Der Pegel Würzburg liegt ungefähr in der Mitte zwischen Quelle und Mündung des 524 Kilometer langen Mains am Alten Kranen bei Würzburg. Er wird seit Oktober 1823 regelmäßig beobachtet und ist der älteste in Betrieb befindliche Pegel am Main. Der Betreiber ist das Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Schweinfurt (WSA Schweinfurt), das die Daten auch auswertet. Der höchste registrierte Pegelstand stammt vom 30. März 1845 mit 834 Zentimetern, der niedrigste stammt von 1934 mit 116 Zentimetern bei einem Mittelwasserstand von 176 Zentimetern. Beschreibung Der Pegel Würzburg besteht aus drei Pegelstaffeln, wobei sich die erste Staffel direkt am Alten Kranen befindet. Die zweite Staffel, die Hochwasserstaffel, liegt an der Kranenbastion, die unmittelbar an den Alten Kranen grenzt. Eine dritte Hochwasserstaffel besteht seit 1823 an der Alten Mainbrücke. Der Pegel umfasst zusätzlich einen Schreibpegel und ein Messwertansagegerät. Mit den Aufzeichnungen wurde 1823 begonnen, damit ist er der älteste in Betrieb befindliche Pegel am Main. Im Zuge der Stauregelung wurde in den 1930er-Jahren der noch ältere Pegel Lohr bei Main-Kilometer 197,97 aufgegeben. Die zuverlässige Erfassung und Auswertung von Wasserständen bilden die Grundlage für alle gewässerkundlichen Arbeiten am Fluss. Dazu gehören gewissenhafte Abflussmessungen bei unterschiedlicher Wasserführung. Durch das Verhältnis zwischen Wasserstand und Abfluss können die Wasserstände nach den Abflussmengen berechnet und in der Abflusskurve wiedergegeben werden. Die genaue Kenntnis des Abflussgeschehens ist die Voraussetzung für den Betrieb, die Unterhaltung und den Aus- und Neubau der Wasserstraße, für die Steuerung der einzelnen Anlagen am Fluss, insbesondere der Staustufen mit Wehr und Wasserkraftwerk, für die Schifffahrt zur Ermittlung der Fahrwasserverhältnisse und der Disposition der Abladetiefe sowie für den Hochwassernachrichtendienst für die Schifffahrt und die Anlieger, die in bedrohten Gebieten leben. Die Messwerte werden an den Schreibpegel bei der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Süd (WSD Süd) und an die Bundesanstalt für Gewässerkunde (BfG) in Koblenz übertragen sowie über einen automatischen Anrufbeantworter, der die Messwerte in Sprache umwandelt, bereitgestellt, über den Mainschiffer oder Interessierte sich über Pegelstand und Tendenz informieren können. Der Pegel wird im Netz der bundesweiten Messstellen mit der Nummer 24042000 geführt. Lage Der Pegel liegt bei Main-Kilometer 251,97, das Einzugsgebiet oberhalb des Pegels beträgt 13.995,76 km². Der Pegelnullpunkt liegt 164,553 Meter über Normalnull. Das Stauziel der flussabwärts gelegenen Staustufe Erlabrunn ist 165,78 Meter über Normalnull hoch, was einem Pegelstand von 123 Zentimetern entspricht. Der Pegel Würzburg ist für die Schifffahrt ein wichtiger Richtpegel und umfasst den Flussabschnitt von der Schleuse Harrbach bis zur Schleuse Marktbreit, Main-Kilometer 219,47 bis 275,68. Dieser Abschnitt wird jährlich von etwa 9000 Frachtschiffen, die neun Millionen Tonnen Fracht transportieren, genutzt. Der Pegel wird flussabwärts vom Pegel Steinbach bei Main-Kilometer 200,52 und flussaufwärts vom Pegel Schweinfurt – Neuer Hafen, Main-Kilometer 330,78 abgelöst. Flussaufwärts liegt als Nächstes der Pegel Astheim bei Main-Kilometer 311,20. Hauptwerte Die gemessenen Werte am Pegel Würzburg werden im hydrologischen Jahr zusammengefasst, das vom 1. November des vorherigen Jahres bis zum 31. Oktober dauert. Die Monate November bis April umfassen das Winterhalbjahr und die Monate Mai bis Oktober das Sommerhalbjahr. Im Gegensatz zur kalendarischen wählte man diese Einteilung, um in der Jahresbilanz die Niederschläge erfassen zu können, die bereits im November oder Dezember als Schnee oder Eis gespeichert wurden und erst bei wärmerer Witterung im folgenden Jahr abfließen können. Die Wasserstände und Abflüsse von mehreren Jahren fasst man zusammen, um sie mit anderen Pegeln zu vergleichen und sie für die Schifffahrtsstraße, die Betreiber und Anwohner zu nutzen. Wegen der Zusammenlegung mehrerer Werte fallen Extremwerte nicht so auf und die Mittelwerte sind ausgeglichener. Der Main hatte am Pegel Würzburg im Zeitraum von 1994 bis 2003 einen durchschnittlichen Wasserstand von 176 Zentimetern. Der Wasserstand schwankt im Jahresverlauf und beträgt im Winter durchschnittlich 197, im Sommer 155 Zentimeter. Der höchste Wasserstand am Pegel Würzburg wurde am 30. März 1845 mit 834 Zentimeter Pegelhöhe und einem Abfluss von 2170 m³/s gemessen. Ein noch extremeres Hochwasser, von dem es eine Markierung in Würzburg gibt, ereignete sich am 29. Februar 1784 mit einer Höhe von 863 Zentimetern bei einem Abfluss von 2600 m³/s. Den niedrigsten Wasserstand hatte der Main 1934 mit 116 Zentimetern. Der absolut niedrigste Wasserstand, bedingt durch eine Stausenkung der Staustufe Erlabrunn, herrschte mit 87 Zentimetern am 3. September 1953. Der geringste Abfluss war im Jahr 1964, als nur noch 12,2 m³/s abflossen. Der durchschnittliche jährliche Abfluss für den Zeitraum von 1989 bis 2003 betrug 122, im Winter 160 und im Sommer 84,6 m³/s. Der durchschnittliche Wasserstand im Zeitraum von 1824 bis 1998 lag bei 223 Zentimetern bei einem Abfluss von 107 m³/s. Pegeländerungen Der Pegelnullpunkt musste seit 1823 mehrmals tiefer gelegt werden, damit er immer unter dem niedrigsten Wasserstand lag. Dies war erforderlich, da der Wasserspiegel durch die natürliche Eintiefung der Flusssohle und die verschiedenen Ausbaumaßnahmen zur besseren Schiffbarkeit absank. Der Pegel wurde dreimal um insgesamt 221,3 Zentimeter tiefer gelegt. Ohne diese Tieferlegung würde die Pegellatte heute bei Mittelwasser nicht mehr in das Wasser reichen. Die Wasserstandslinien wurden von 1. Oktober 1823 bis zum 31. März 1872 noch mit den damals gebräuchlichen Messeinheiten Fuß, Zoll und Linien gemessen. Zur Auswertung der alten Pegelmaße wurden diese auf das metrische System und auf die für heute gültigen Pegelwerte umgerechnet. Abflussmessungen Die ältesten bekannten Abflussmessungen am Main stammen aus dem Jahre 1849 im Bereich Wertheim und Aschaffenburg. Diese Messungen können aber nicht für Untersuchungen in Würzburg herangezogen werden, weil dort der Main ein viel größeres Einzugsgebiet umfasst. Im näheren Bereich fanden am 3. Oktober 1850 in Schonungen die ersten Messungen statt. In Staffelbach, Laudenbach, Wernfeld, Obertheres und Gemünden am Main folgten Messungen in den Jahren 1867 und 1868 mit einem Woltmann-Flügel, einem Tourenzähler, der drei Minuten lang in das Wasser gehalten wurde. Anhand der Fließgeschwindigkeit des Wassers und dem Flussquerschnitt der Messstelle wurde der Abfluss ermittelt. Diese alten Messungen sind für Würzburg besonders wertvoll, weil sie noch den ursprünglichen Zustand des Mains in Würzburg vor der Entfestigung aufzeigen. Unterhalb von Viereth, bei dem Durchstich von Staffelstein, folgten 1877 die nächsten Messungen. In den Jahren 1880 bis 1886 wurden erstmals neun Messungen in Würzburg durchgeführt, eine davon beim Hochwasser 1880 mit einem Abfluss von 939 m³/s. Diese Messungen gestalteten sich allerdings schwierig. Zum Spannen des Seiles für den Woltmann-Flügel von einem zum anderen Ufer mussten schriftliche Genehmigungen der Stadt und der bayerischen Militärverwaltung eingeholt werden. Die Stadt war der Eigentümer der Mauer am städtischen Holzhof am rechten Flussufer und das Militär besaß die Festungsmauer am linken Ufer. In den Jahren 1884 bis 1886 erfolgten auch in Schweinfurt insgesamt acht Abflussmessungen, die mit einer beachtlichen Präzision und großer Sorgfalt durchgeführt wurden. In Würzburg liegen für den Zeitraum von 1900 bis 1934 18 Abflussmessungen vor, darunter eine Serie von acht Abflussmessungen vom Hochwasser Anfang November 1924. Aus der Zeit nach Fertigstellung der Staustufe in Erlabrunn, des darauffolgenden Einstaus des Pegels Würzburg und der Teilausbaggerung der Schifffahrtsrinne 1938 und 1939 sind drei Messungen vorhanden. Vom Zwischenzustand des Mains in den Jahren 1939 bis 1952 liegen 21 Messungen vor. Nach den Bauarbeiten, die in Würzburg 1954 abgeschlossen wurden und zu starken Veränderungen der Wasserstandsverhältnisse führten, wurden bis Ende 1974 insgesamt 57 Abflussmessungen durchgeführt. Abflusstafel Die bekannten Abflussmessungen und die dazugehörenden Wasserstände am Pegel wurden in eine Abflusskurve eingezeichnet. Die Bereiche im Niedrig- und Hochwasserbereich, für die keine Abflusswerte vorliegen, wurden durch Extrapolation ermittelt. Bei dieser Abflusskurve steht jeder Messpunkt auf der Linie für den Abfluss beim entsprechenden Wasserstand. Zusätzlich werden die Werte der Abflusskurve in der Abflusstafel wiedergegeben. Bei dieser sind links die Wasserstände in Hunderter-Schritten und oben die Zwischenwerte in Zehn-Zentimeter-Schritten angegeben. Auf diese Weise können für die Wasserstände in Zehn-Zentimeter-Schritten die zugehörigen Abflussmengen abgelesen werden. Beispielsweise entspricht ein Wasserstand von 440 Zentimetern einem Abfluss von 675 m³/s. Gefällverhältnisse Der Main hat ein natürliches Gefälle ab Kulmbach, dem Vereinigungspunkt des Weißen und des Roten Mains, von weniger als einem Promille. Unterhalb von Kulmbach beträgt das Gefälle durchschnittlich 1,08 Promille, im Raum Würzburg weniger als 0,5 Promille und im Unterlauf bei Frankfurt am Main nur noch 0,29 Promille. Durch die Staustufen verringerte sich das Fließgefälle. Am Main bestehen 34 theoretisch waagrechte Stauhaltungen. Diese sind jedoch, bedingt durch das ständig nachströmende Wasser in Wirklichkeit nicht waagrecht. Das Stauziel der Schleuse Erlabrunn liegt bei 165,78 Meter über Normalnull. Am Pegel Würzburg entspricht dies einem Pegelstand von 123 Zentimetern. Der tatsächliche Mittelwasserstand am Pegel beträgt 176 Zentimeter. Die Stauhaltung Erlabrunn, an deren oberen Ende der Pegel Würzburg liegt, weist dementsprechend auf einer Länge von elf Kilometern ein Gefälle von 53 Zentimetern auf. In Relation über die Verhältnisse der Mainflußstrecke des Baubehördenbezirks Würzburg aus dem Jahre 1864 sind die ältesten Angaben über das Wasserspiegelgefälle enthalten. Dort heißt es, dass der Main unterhalb der Alten Mainbrücke auf einer Länge von 2000 Fuß (584 Meter) fast horizontal sei. Das Gefälle habe von der Pleichachmündung an auf einer Länge von 21.000 Fuß (6129 Meter) 10,9 Fuß (3,18 Meter) betragen. Dies entspricht 0,52 Promille. Wasserspiegelfixierungen Aus dem Jahre 1869 stammt die früheste Wasserspiegelfixierung bei Niedrigwasser. Das Gefälle von der Pleichachmündung bis zur Alten Mainbrücke wird mit höchstens zwei bis drei Zentimetern als sehr gering angegeben. Beim Ablauf verschiedener Hochwasserwellen im Jahre 1882 wurden erstmals mehrere Scheitelfixierungen an beiden Ufern durchgeführt. Hierbei zeigte sich der ungünstige Einfluss des wenige Jahre vorher erbauten Alten Hafens. Die Messung zeigte ein vergrößertes Wasserspiegelgefälle gegenüber dem früheren Zustand. Für den Durchgang der Hochwasserwellen in den Jahren 1909, 1947 und 1970 sind noch weitere Wasserspiegelfixierungen vorhanden. Auch bei geringeren Wasserführungen liegen solche vor. Sie stammen sowohl aus der Zeit vor als auch nach dem Ausbau des Mains zur Großschifffahrtsstraße. Geschichte In Bayern werden seit Beginn des 19. Jahrhunderts regelmäßige Beobachtungen des Wasserstandes durchgeführt. Das damalige Finanzministerium erließ am 19. Mai 1821 eine allgemeine Anordnung zum Aufbau eines Pegelnetzes an allen schiff- und flößbaren Flüssen. Dieses erste Messnetz umfasste bis 1826 65 Messpegel, wobei der Wasserstand an den Stationen einmal täglich abgelesen wurde. Vereinzelt erfolgten bei Hochwasser Zwischenbeobachtungen. Das bayerische Netz ist bis heute auf über 700 Messstellen angewachsen, wovon mehr als 300 in den Hochwassernachrichtendienst eingebunden sind. Wann der Pegel Würzburg errichtet wurde, ist nicht genau bekannt. Die ersten Aufzeichnungen stammen vom Oktober 1823. Im Jahre 1823 bestand der Pegel Würzburg aus zwei senkrechten Pegellatten, bis 1872 mit der damals gebräuchlichen Fuß- und Zolleinteilung. Die erste Staffel befand sich in einer Treppennische am rechten Ufer des Mains, 70 Meter unterhalb des Alten Kranens. Die zweite Staffel, gleichzeitig die Hochwasserstaffel, befand sich 400 Meter stromaufwärts, an der unterstromigen Seite des linken Widerlagers der Alten Mainbrücke. Die beiden Pegellatten waren so angebracht, dass zum Zeitpunkt der Überflutung der ersten Staffel sich die gleichen Werte auch an der Hochwasserstaffel ergaben. Der Lattenpegel wurde in der Regel täglich nur einmal, meist zwischen sechs und acht Uhr morgens abgelesen. Auf den Wasserstandslinien sind zeitweise auch zwei Tagesablesungen vermerkt. Man begnügte sich bei Hochwasser im Allgemeinen mit der Angabe des Höchststandes und der ungefähren Zeit des Eintritts der Scheitelwelle. Deshalb sind manche Werte vor 1887 etwas zu niedrig ausgefallen. Stündliche Beobachtungen oder Zwischenablesungen erscheinen erst viel später. Die erste Staffel wurde am 21. Juli 1961 direkt am Alten Kranen verlegt. Außerdem wurde eine neue Hochwasserstaffel an der Kranenbastion angebracht. Zum ersten Mal befanden sich damit alle Pegellatten im selben Profil und am selben Ufer des Mains. Um als wichtiges Bindeglied zu den Pegelangaben vor 1961 und den Höhenangaben der großen historischen Hochwasser zu dienen, wurde die alte Hochwasserstaffel zusätzlich an der Alten Mainbrücke belassen. Diese Pegellatte befindet sich seit 1823 an derselben Stelle. Vergleichsmessungen beim Ablauf des Hochwassers vom Februar 1970 ergaben an dieser Pegellatte die gleichen Werte wie an der neuen Hochwasserstaffel an der Kranenbastion, obwohl sich inzwischen umfangreiche Veränderungen in und am Fluss vollzogen hatten. Am rechten Mainufer wurde am 1. November 1883 der erste Schreibpegel in Bayern in einem Holzhäuschen auf der Kranenkaimauer hochwasserfrei errichtet. Der Zugang erfolgte über einen Laufsteg vom städtischen Holzhof aus. Der automatische Pegel hatte allerdings in der Anfangszeit häufig Störungen. Die verwertbaren Diagramme, die heute noch vorhanden sind, datieren ab 1887. Aus städtebaulichen Gründen musste 1913 dieses Pegelhäuschen entfernt werden. Der Schreibpegel wurde daraufhin in die Kranenbastion verlegt, ein Pegelschacht mit Zulauf zum Main in der vorderen Ecke der Bastion Alter Kranen errichtet und mit einem aufgesetzten Blechhäuschen geschützt. Am 24. April 1914 wurde ein elektrischer Fernpegel beim Schreibpegel in Betrieb genommen. Die gemessenen Daten gingen von dort in das damalige Straßen- und Flussbauamt und zur Pegeluhr beim städtischen Lagerhaus am Alten Hafen. Beim Bombenangriff auf Würzburg am 16. März 1945 wurde der Fernpegel gänzlich zerstört und der Schreibpegel in den turbulenten Tagen nach den Luftangriffen gestohlen. Nach dem verheerenden Luftangriff flohen die meisten Bewohner aus der Stadt und der Pegel wurde nicht mehr abgelesen. In Würzburg wurden am 2. April 1945, am Vorabend des amerikanischen Einmarsches, von sich zurückziehenden deutschen Truppen sämtliche Mainbrücken gesprengt. Darunter befand sich auch die Luitpoldbrücke (die heutige Friedensbrücke) unterhalb des Pegels. Es entstand durch die in den Fluss gestürzten Brückentrümmer ein meterhoher Aufstau. Am 14. Mai 1945 begannen wieder regelmäßige Pegelablesungen. Die Wasserstände waren aber immer noch durch den Rückstau des Flusses beeinflusst. Im Juli 1945 begann man mit der Räumung der Brückentrümmer. Diese Arbeiten dauerten bis zum 15. Oktober 1945. Die Wasserstandsverhältnisse waren von da an auch im Bereich des Pegels wieder normal. Die Beobachtungslücken, die durch die Kriegsereignisse entstanden waren, konnten durch die Beobachtungen am Ochsenfurter Pegel geschlossen werden. Ein elektrischer Fernpegel wurde wieder im Januar 1948 in Betrieb genommen. Die Übertragung der Daten erfolgte in das Wasser- und Schifffahrtsamt Würzburg (WSA Würzburg) in der Friedrichstraße 2. Der elektrische Fernpegel befindet sich seit Frühjahr 1987 im Foyer der Wasserschifffahrtsdirektion Süd (WSD Süd) in der Wörthstraße 19. Das blecherne Pegelhäuschen wurde 1970 abgebaut und durch ein massives Pegelhaus ersetzt. Die Pegelanlage ist seit dem 25. Juni 1970 mit einem Messwertansagegerät ausgestattet. Eine Datenspeicher- und Datenfernübertragungseinrichtung Allgomatic-Außenstation-DFÜ-T ging am 23. September 1985 in Betrieb. Aus Anlass des Wiederaufbaues des Zollhauses auf der Kranenbastion und der Umwidmung als Haus des Frankenweins sowie des gleichzeitig durchgeführten Hochwasserschutzes im Bereich der Kranenbastion wurde am 28. Juni 1990 die Pegelanlage in den neuen Messraum des neu gestalteten Biedermeierhäuschens verlegt. Der Pegelschacht wurde dabei beibehalten. Während der Bauzeit von Oktober 1988 bis Juni 1990 war die Pegelanlage in einem Hilfspegelhaus untergebracht. Baumaßnahmen im Bereich des Pegels Seit dem Beginn der Messungen am Pegel Würzburg im Jahre 1823 wurden viele bauliche Änderungen am angrenzenden Ufer des Maines, aber auch an der Flusssohle durchgeführt. Die ursprünglich unregelmäßig ausgebildete Flusssohle wurde mit der Zeit als Profil ausgeführt, was Einfluss auf die Fließgeschwindigkeit hatte. Nachdem die Festungseigenschaft der Stadt aufgehoben worden war – rechtsmainisch erfolgte die königliche Genehmigung am 28. September 1856, linksmainisch (Mainviertel) am 7. Mai 1867 –, wurde sie teilweise entfestigt. Die Entfestigung im Mainbereich zog sich bis 1898 hin und wurde mit dem Bau der linksmainischen Kaimauer abgeschlossen. Der Main wurde in mehreren Etappen für die immer größer werdenden Schiffe ausgebaut. Die Baumaßnahmen umfassten, um größere Fahrwassertiefen für die Schifffahrt zu erreichen, Baggerungen im Flussbett. Bedingt dadurch sank der Mainspiegel erheblich ab. Hinzu kamen auch die ständigen Änderungen der Uferbebauung, die das Fluss- und Talquerschnittsprofil beeinflussen. Die Breite des Flusses wurde dabei verringert. Durch die Uferbebauung wurde auch ein gerader Uferverlauf erreicht. Durch die Flussbaggerungen verringerte sich die Rauigkeit der Flusssohle, wodurch sich die Fließgeschwindigkeit des Maines erhöhte. Dadurch kann heute im gleichen Zeitraum viel mehr Wasser durchgeführt werden als früher, wodurch heute eine Hochwasserwelle schneller als früher abfließt. Diese Baumaßnahmen wirkten sich unterschiedlich auf die Pegelmessungen aus. Flusstopografie um 1823 Zu Beginn der Pegelmessung in Würzburg war die Stadt noch von einem mächtigen barocken Befestigungsgürtel aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts umschlossen, auf der rechten Mainseite die Stadtbefestigung und linksmainisch das Mainviertel, das der Festung Marienberg angegliedert war. An beiden Mainufern zogen sich die sogenannten Wasserglacis hin, die auch zu den Festungsanlagen zählten. Die Festungswerke unterlagen aus militärischen Gründen strengen baupolizeilichen Vorschriften, die besonders für die Glacis noch erheblich verschärft waren. Das Flussufer in Würzburg blieb deswegen über lange Zeit unberührt. Im weiten Umkreis bestand mit der Alten Mainbrücke der einzige Flussübergang. Alle weiteren Brücken im Stadtbereich wurden erst viel später erbaut. Der Fluss war im Stadtbereich wesentlich breiter, die Flusssohle lag höher. Eine bis zu einem Meter mächtige Sand- und Kiesschicht lagerte über der Wellenkalksohle. In der Flusssohle zog sich an beiden Ufern, entsprechend der Strömung je eine Rinne hin. Am rechten Mainufer war diese Rinne durch den Betrieb der Unteren Mainmühle und infolge des Wasserdurchflusses am Nadelwehr entstanden und wurde von der Schifffahrt als Fahrweg benutzt. Durch den Betrieb der beiden anderen Mühlen, der Oberen Mainmühle und der Kanalmühle und durch das Überlaufwasser des Streichwehres bildete sich am linken Ufer ebenfalls eine Rinne. Rechtes Mainufer Das rechte Mainufer unterhalb der Alten Mainbrücke war damals schon, wie heute, mit einer senkrechten Kaimauer eingefasst. Am Holztor wurde lediglich das tiefer liegende Mainufer in der neueren Zeit etwas erhöht, was aber keinen Einfluss auf den Wasserstand hatte. In diesem Bereich wurden, wie es der Name des Tores andeutet, überwiegend Holz und Brennmaterial ausgeladen. Der gesamte Uferstreifen wurde von Güterschiffen genutzt, die auf ihre Abfertigung am Alten Kranen warteten. Etwas unterhalb des Alten Kranen stand zu dessen Unterstützung noch ein vom Würzburger Handelsverein aufgestellter eiserner Kran. Auf der gleichen Uferseite befand sich auch der Ziehweg für die Treidelschifffahrt, der aber durch den Verladebetrieb an der Kaimauer behindert wurde. Kleine Marktschiffe, die täglich den Grünen Markt in der Stadt mit frischer Ware versorgten, befanden sich auch an diesem Kai. Das Gelände fiel nach dem Kranenkai ab und war tiefer als heute. Die Kürnach, ein Bach der aus der gleichnamigen Ortschaft 14 Kilometer nordöstlich von Würzburg kommt, floss damals bei der heutigen Häuserzeile am Kranenkai frei dahin und diente zur Bewässerung der mittelalterlichen Stadtbefestigung aus dem 14. bis 16. Jahrhundert, des sogenannten Inneren Grabens. Kleingärten befanden sich dahinter. Später wurde das Gelände auf das heutige Niveau aufgefüllt. Da das Gelände vollständig im Strömungsschatten der Kranenbastion liegt, wirkte sich diese Auffüllung nicht auf den Hochwasserabfluss aus. Zur damaligen Zeit schloss sich unterhalb der Kaimauer eine unbefestigte Erdböschung an. Diese war durch unregelmäßige Auffüllungen des früher viel tiefer gelegenen Vorlandes entstanden. Etwas oberhalb der Eckbastion der Stadtbefestigung mündete die parallel zum Main verlaufende Kürnachableitung, die zuvor den Pleichacher Mühlgraben aufgenommen hatte. Der ziemlich breite, mit Wasser gefüllte Wallgraben, endete hier. Dieser verlief bis zur Pleichacher Torbrücke. Er diente als Überwinterungsplatz der Schiffe und war zum Fluss hin bis auf eine schmale Öffnung mit einem Steindamm abgeschlossen. Bei der Entfestigung wurde dieser Wallgraben 1877 eingefüllt und der städtische Schlachthof an dieser Stelle erbaut. Linkes Mainufer Der rechte Uferstreifen diente hauptsächlich dem Schiffsverkehr, das linke Ufer wurde überwiegend von Gewerbetreibenden genutzt. Die Fischer spannten hier ihre Netze auf und lagerten ihre Nachen. Die Schiffbauer nutzten es als Werftgelände. Zwischen der Festungsmauer und dem Fluss war der Uferstreifen damals nur etwa halb so breit wie heute und lag auch wesentlich tiefer. Er wurde häufig überflutet und lag nur etwa einen Meter über Niedrigwasser. Seine Böschung fiel steil zum Main ab. Es handelte sich nicht um ein natürliches Ufer. Vermutlich war es in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit Aushubmaterial vom Bau der Festungsmauer aufgefüllt worden. Der Wasserspiegel reichte damals bis zur Mitte der Landöffnung an der Alten Mainbrücke. Das Ufer zog sich in einem unregelmäßigen Verlauf bis zu der Sternenbastion hin. Nur durch das Dreikronentor und das Fischerpförtchen war das Ufergelände zugänglich. 1890 wurde das Dreikronentor, nachdem wegen der erheblichen Aufhöhung des Ufers keine ausreichende Durchfahrtshöhe mehr vorhanden war, abgebrochen. Die Hochwasserstaffel an der Alten Mainbrücke befindet sich etwas oberhalb davon. Das Ufer wurde unterhalb der Sternbastion wesentlich schmaler. Das unbefestigte Vorland war offensichtlich durch die zahlreichen Hochwasser weggespült worden. Dieser schmale genutzte Uferstreifen hatte seinen Zugang durch eine kleine Pforte. Zur damaligen Zeit standen etwas weiter unterhalb die Festungsmauer und der Dicke Turm noch vollständig im Wasser. Im Strömungsschatten des Dicken Turmes, der in den Fluss hineinragte, befand sich ein schmaler Uferstreifen. Angeblich störte dieser runde Artillerieturm den Hochwasserabfluss, weshalb er 1889 abgebrochen wurde. 1954 wurden bei der Neugestaltung des linken Mainufers die Fundamente freigelegt und der Turm wieder auf halbe Höhe aufgemauert. Mit Wasser umspült war auch die Eckbastion, die heutige Jahnterrasse am Viehmarktplatz. Diese Wasserfläche dehnte sich bis in den Wallgraben aus. Zum Schutz vor dem Hochwasser wurde an die Futtermauer des Wallgrabens gegenüber der Eckbastion eine mehrere Meter hohe Stützmauer angebaut. Diese übte allerdings einen recht ungünstigen Einfluss auf den Hochwasserablauf aus. Die Krone der Mauer war im Deutschen Krieg 1866 auf der zum Main hin abfallenden Glacisböschung mit Holzpalisaden bestückt. Mainkorrektion von 1823 bis 1913 Die unzureichende Fahrwassertiefe und der schlechte Zustand des Mains für die Schifffahrt veranlasste viele Betroffene, Anfang des 19. Jahrhunderts bei der Regierung des Untermainkreises Abhilfe und Verbesserung zu beantragen. In den 1820er-Jahren ging man daran, mit Durchstichen die zahlreichen Flusswindungen zu beseitigen und damit einzelne Flussabschnitte zu verkürzen. Die Korrektionsarbeiten erfuhren 1830 einen lebhaften Aufschwung. Dieser kam auch durch den zur gleichen Zeit im Bau befindlichen Ludwig-Donau-Main-Kanal zustande. Mit der Einführung der Dampfschifffahrt im Jahre 1841 ergab sich eine weitere Steigerung des Schiffsverkehrs. Um eine größere Fahrwassertiefe für die Schifffahrt zu erzielen, versuchte man zunächst, an den besonders kritischen Stellen die Breite des Flusses durch Buhnen einzuschränken. Im späteren Ausbau versah man diese Buhnen aufgrund der inzwischen gesammelten Erfahrungen mit sogenannten Flügelbuhnen. Um die starken Ablagerungen zu verringern, wurde mittels durchgehender Leitwerke ab den 1850er-Jahren das Fahrwasser weiter verbessert. Diese Buhnenfelder sind teilweise heute noch sichtbar. 40 Zentimeter über Niedrigwasser wurde ursprünglich die Krone der Buhnen gelegt. Diese wurde später jedoch auf 75 bis 100 Zentimeter erhöht. Ebenfalls erhöht werden musste wegen häufiger Überflutung der Ziehweg für die Treidelschifffahrt. Über fast ein Jahrhundert zogen sich diese Arbeiten hin, die mit der Niedrigwasserregulierung der Strecke Schwarzenau–Schweinfurt abgeschlossen wurden. Das Pegelnetz am Main wurde während der Regulierungsarbeiten weiter ausgebaut. Man errichtete sogenannte Bau- und Niedrigwasserpegel neben den Hauptpegeln. Die Beobachtungen an diesen Pegeln begannen in der Regel erst, nachdem die Bauarbeiten in unmittelbarer Nähe der Pegel gerückt waren. An den Pegeln führten die Regulierungsarbeiten zu starken Veränderungen der Wasserstandsverhältnisse. Aufgrund der vergrößerten Räumkraft des Wassers in und oberhalb der Durchstiche kam es zu erheblichen Sohleeintiefungen. Der Wasserspiegel des Mains sank dementsprechend ab. Diese anhaltende Eintiefung hielt oftmals lange Zeit an und kam erst, wie in Viereth bei Bamberg, mit dem Bau der Staustufe zum Stillstand. In den Bereichen ohne Durchstiche, den Regulierungsabschnitten, erhöhte sich der Mainspiegel durch den Einbau der Leitwerke und der Buhnen. Durch die mit der Einengung des Flusses hervorgerufenen Sohleneintiefung sank der Wasserspiegel im Niedrigwasserbereich wieder ab. Bei höheren Wasserständen überwog dann wieder der Aufstau. Im größten Teil des Flusses kam es wegen der mehrmaligen Änderung der Höhenlage der Regulierungswerke, der fortwährenden Sohleneintiefung und auch der Baggerungen in den Verlandungsabschnitten in diesem Zeitraum zu keinen stabilen Verhältnissen. Der innere Stadtbereich von Würzburg blieb von der Mittelwasserregulierung ausgespart. Ein Grund dafür war der Umstand, dass bis zur Aufhebung der Festungseigenschaft die Flussufer zur militärischen Sperrzone gehörten. 1872 gab es ein Projekt, das Wehr in Würzburg zu beseitigen und den Main durch Leitwerke einzuengen. Dies scheiterte nicht zuletzt an den hohen Kosten. Dampfschifffahrtshafenbau 1845/1846 Eine Gruppe unternehmungslustiger Kaufleute gründete 1841 aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Zunahme des Verkehrs auf den Wasserwegen eine Dampfschifffahrtsgesellschaft. 1842 nahm die Gesellschaft zunächst zwei Schiffe in Betrieb. Für die beiden großen Schiffe benötigte man einen geschützten Liegeplatz. Der zur Schiffswinterung genutzte Teil des Wallgrabens war zu klein und auch zu stark belegt. Es wurde deshalb ein eigener Hafen am vorgelagerten Uferstreifen zwischen dem Schneidturm und der Eckbastion gebaut. Die Kürnachableitung mündete dort in den Main. Mit den Bauarbeiten wurde nach dem Ablauf des großen Hochwassers im März 1845 begonnen. Ein weiteres Hochwasser im Juni 1845 unterbrach zunächst die Bauarbeiten. 1846 konnte der Hafen nach einigen Schwierigkeiten in Betrieb genommen werden. Der Hafen befand sich etwa 100 Meter unterhalb des Pegels. Begrenzt wurde er landseitig durch die Stadtmauer und flussseitig durch einen gepflasterten Damm, an dem sich eine Berme für die Treidelschifffahrt hinzog. Durch eine schräg zum Fluss verlaufende Mauer war das Hafenbecken gegen Oberstrom abgeschlossen. Das Ufer wurde durch die Dammschüttung einige Meter in den Fluss vorgeschoben. Eine gepflasterte Uferböschung stellte den Anschluss zur Kranenkaimauer her. Die Kürnachableitung musste im unteren Teil durch den Bau des Hafens verlegt werden. Sie wurde entlang der Hafenmauer in einem festen Gerinne in den Main geführt. Für die Treidelschifffahrt diente eine kleine Ziehwegbrücke als Übergang. Zunächst erlebte die Dampfschifffahrt einen bemerkenswerten Aufschwung. Während dieser Blütezeit, die aber nur kurz anhielt, wuchs die Zahl der Dampfboote auf neun an. Aufgrund der 1854 in Betrieb genommenen Eisenbahnlinie Bamberg–Würzburg–Frankfurt und der Schwierigkeiten durch die meist nicht ausreichende Fahrwassertiefe in trockenen Sommern kam es oft zu tagelangen, manchmal sogar monatelangen Stilllegungszeiten. Der Schiffsverkehr ging stark zurück und wurde damit unrentabel, 1858 wurde er schließlich ganz aufgegeben. Das Hafenbecken, das zu einer erheblichen Einengung des Flussprofils geführt hatte und nach der Stilllegung der Schifffahrt nicht mehr benötigt wurde, verfüllte man 1861. Zwischen dem Hafendamm und der gegenüberliegenden Stützmauer der Glacisböschung bestand nur noch eine Durchflussbreite von knapp 100 Metern. Beim Abfluss eines größeren Hochwassers kam es deswegen zu einem beträchtlichen Aufstau. Eine geringe Erhöhung des Wasserstandes ergab sich bei Niedrigwasser durch die Vorverlegung des Ufers. Die Hochwasserabflussverhältnisse waren nach der Beseitigung des Hafens annähernd die gleichen wie vor dem Hafenbau. Entfestigung der Stadt 1871 Die Bevölkerung in Würzburg erwartete sehnlichst die Entfestigung ihrer Stadt. Diese ging in sehr großem Umfang vonstatten, was auch erhebliche Veränderungen an den Mainufern mit sich brachte. Am rechten Ufer wurde eine Kaimauer oberhalb des aus dem Jahr 1584 stammenden, auch Spiegeltor genannten, Schwanentores gebaut. Am linken Ufer wurde 1871 vorerst mit Schuttablagerungen zur Erhöhung der Tivolibastion bis kurz oberhalb des Dicken Turmes begonnen. Vor der Sternbastion schüttete man einen schmalen Damm auf. Dadurch verband man die bislang getrennten Uferstreifen miteinander. Unbefestigt blieb die steil abfallende Uferböschung. Die Auffüllungen endeten etwa 100 Meter oberhalb des Pegelprofils und waren stellenweise bis zu 2,5 Meter hoch. Diese Umbauarbeiten wirkten sich auf die Wasserstände am Pegel aus. In erster Linie wurden die höheren Wasserstände beeinflusst. Hafenbau von 1874 bis 1877 Während der Entfestigungsarbeiten wurde der rechtsmainische Wallgraben, der bisher als Winterhafen genutzt worden war, auf seiner ganzen Länge aufgefüllt. Als Ersatz wurde am rechten Ufer ein leistungsfähiger Hafen etwas unterhalb der Pleichachmündung, der heutige Alte Hafen, gebaut. Der Main musste, um genügend Platz für die Hafeneinrichtungen zu schaffen, auf einer Länge von etwa 700 Metern vollständig in das linke Vorland verlegt werden. Dort wurde eine neue Flussrinne ausgehoben und zum Teil aus dem Fels gesprengt. Für den Ausbau des Hafenbeckens mussten eine Anzahl alter Wehrbauten, die den Wasserstand ungünstig beeinflusst hatten, aus dem Flusslauf herausgenommen werden. Der Hafendamm wurde mit dem Aushubmaterial aufgeschüttet. Anschließend wurde die Böschung gepflastert und auch wieder eine Berme für die Treidelschifffahrt errichtet. 1877 erfolgte der Durchstich an der neuen Flussrinne. Der Hafendamm wurde noch im selben Jahr zum Land hin verlängert. Der frühere Flusslauf war damit abgeriegelt. Ein Ziehweg war inzwischen am linken Ufer angelegt worden. Dieser wurde nach Oberstrom verlängert, um den Dicken Turm herumgeführt und an die 1871 begonnenen Auffüllungen angeschlossen. Für die Treidelschifffahrt war damit ein bequemer Weg zur Schleuse im Umlaufkanal geschaffen. Entsprechend den früheren Ausbauvorschriften lag die Höhe des Ziehweges zwei Meter über Niedrigwasser. Am rechten Ufer errichtete man gleichzeitig mit der Auffüllung der alten Schiffswinterung eine neue Uferanlage. Die Neugestaltung der Mainufer im Bereich des Pegels war damit vorerst abgeschlossen. Die Bauarbeiten am Alten Hafen führten zu einer starken Beunruhigung der Wasserstände. Für den Zeitraum vom 1. Januar 1875 bis zum 31. März 1876 wich man deswegen auf den sieben Kilometer unterhalb vom Würzburger Pegel gelegenen Margetshöchheimer Pegel aus. Dieser zeigte allerdings aufgrund der Arbeiten zur Mittelwasserregulierung Unregelmäßigkeiten auf. Für diesen Zeitraum gibt es für den Würzburger Pegel keine Wasserstandslinien. Nachdem man den Main in sein neues Flussgerinne umgeleitet hatte, sank der Niedrigwasserspiegel um etwa 40 Zentimeter ab. Durch die Einengung des Profils überwog allerdings bei höheren Wasserständen der Aufstau. Der Hochwasserabfluss wurde durch den Hafenbau sehr nachteilig beeinflusst, da der Hochwasserstrom, bedingt durch die Festungsmauer am linken Ufer und die Stützmauer, in der gleichen Flucht wie die Glacisböschung direkt auf den Hafendamm gelenkt wurde. Diese hydrologisch außerordentlich ungünstigen Verhältnisse sind beim Wasserspiegelverlauf des Hochwassers 1882 deutlich zu erkennen. Der Hafendamm bewirkte eine enorme Stauwirkung. Am rechten Mainufer wurde bei den damals durchgeführten Wasserspiegelfixierungen ein jeweils um 30 Zentimeter höherer Wasserstand gemessen als am linken Mainufer. Bau der Luitpoldbrücke von 1886 bis 1888 Um die neue Ringstraße (Röntgenring) zur links des Mains gelegenen Zellerau fortzusetzen, war der Bau einer Brücke über den Fluss notwendig geworden. Von 1886 bis 1888 wurde die Luitpoldbrücke, die heutige Friedensbrücke, erbaut. Vermutlich im Sommer 1883 wurden bereits die den Hochwasserabfluss störenden Befestigungswerke am linken Mainufer abgebrochen, der Wallgraben wurde eingefüllt und das Gelände eingeebnet. Die Brücke quert den Main schräg und auch die Pfeiler stehen schräg zur Fließrichtung. Dennoch ergab sich insgesamt eine deutliche Verbesserung des Hochwasserabflusses gegenüber dem Zustand vor 1883. Die Brückenpfeiler verursachten bei Hochwasser zwar einen Aufstau, dies wirkte sich aber an der 550 Meter oberhalb der Brücke liegenden Hochwasserstaffel des Pegels kaum mehr aus. Bau der Kaimauer von 1896 bis 1898 In den Jahren 1896 bis 1898 wurde durch eine Kaimauer am linken Ufer von der Eckbastion bis zur Tivolibastion die unschöne und durch Hochwasserangriffe gefährdete Erdböschung geschützt. Die Mauer wurde dabei sehr weit in den Fluss vorgeschoben, um einen Aufstau durch die Einschränkung der Wasserspiegelbreite zu erzielen. Man wollte in diesem Bereich eine Verbesserung der unzureichenden Fahrwasserverhältnisse erreichen. An dem neu angelegten Ufer, das frei von Bewuchs war, wurde eine Straße errichtet. Der Bau der Kaimauer verursachte einen Aufstau des Maines, was sich hauptsächlich im höheren Abflussbereich bemerkbar machte. Bei einer Wasserführung von etwa 600 m³/s (Mittelwasser etwa 122 m³/s) zeigte die Abflusskurve eine deutliche Aufwölbung. Der Aufstau des Wassers betrug ungefähr 15 Zentimeter. Fahrwasserbaggerung 1900 Trotz der Verbesserung der Fahrwasserverhältnisse durch die neue Kaimauer reichten die Fahrwassertiefen noch nicht aus. Im Jahre 1900 wurden deshalb umfangreiche Baggerungen durchgeführt, um für die Schifffahrt bessere Fahrverhältnisse zu schaffen. Dabei wurde die gesamte bis zu einem Meter starke Kiesauflage entfernt. Im Niedrigwasserbereich sank daraufhin in den folgenden Jahren der Wasserspiegel um etwa 30 Zentimeter ab. Bau eines Abwasserdükers 1901/1902 Unterhalb der Luitpoldbrücke brachte der Bau eines Abwasserdükers eine starke Beunruhigung der Wasserstände am Pegel Würzburg mit sich. Die Arbeiten mussten dem damaligen Stand der Technik entsprechend mit Hilfe von Fangdämmen im Trockenen ausgeführt werden, die mit Rücksicht auf die Schifffahrt abschnittsweise eingebaut wurden. Für die Jahre 1900 bis 1902 wurden wegen der starken Beeinträchtigung der Wasserstände während der Baumaßnahmen die Abflussermittlungen am Pegel Margetshöchheim vorgenommen. Bau der Staustufe Erlabrunn von 1932 bis 1935 Mit dem Bau der Staustufe Erlabrunn bei Main-Kilometer 241,20 wurde 1932 begonnen. Davon blieben zunächst die Wasserstandsverhältnisse am zehn Kilometer oberhalb liegenden Pegel Würzburg unberührt. Nachdem 1934 der Stau in Erlabrunn errichtet worden war, erfolgte eine Anhebung des Niedrigwasserstandes am Pegel Würzburg um etwa 40 Zentimeter. Dieser Staueinfluss war allerdings gering und erstreckte sich nur bis etwa zum Mittelwasser. Teilbaggerung der Großschifffahrtsrinne 1937/1938 In den Jahren 1937/1938 wurde zunächst die Unterwasserbaggerung nur bis zum Alten Hafen durchgeführt. Dadurch wurde dieser an die von Unterstrom kommende Schifffahrtsrinne angeschlossen. Die Flusssohle keilte man oberhalb des Hafens aus. Man schaffte über die Strecke vom Alten Hafen bis zur Luitpoldbrücke einen Übergang, um von der tiefliegenden Sohle der Schifffahrtsrinne zur natürlichen Flusssohle zu gelangen. Die Wasserspiegelabsenkung, die daraufhin erfolgte, wirkte sich wegen des Staueinflusses der Stufe Erlabrunn nur bei höheren Wasserständen aus. Im Ablesebereich zwischen 200 und 300 Zentimeter betrug die Wasserspiegelabsenkung am Pegel etwa 15 Zentimeter. Bauarbeiten der Flusssohle 1948 bis 1954 Die durch den Krieg unterbrochenen Arbeiten wurden 1948 wieder aufgenommen. Die Bauarbeiten am Wehr und an der Schleuse hatten zunächst keinen Einfluss auf den Wasserstand am Pegel. Davor mussten aber noch die Abwasserdüker von 1901/1902 tiefer gelegt werden. 1952/1953 wurde die 450 Meter lange Kaimauer am linken Ufer um 5 bis 14 Meter zurückverlegt und damit eine Schiffsliegestelle im Unterwasser geschaffen. Während der Bauarbeiten blieb die alte Mauer als Schutz für die Baugrube bestehen. Die Baggerung der Großschifffahrtsrinne im Unterwasser einschließlich der Felsmeißelarbeiten dauerte von 1952 bis 1954. Stellenweise wurde dabei die Felssohle bis zu zwei Meter ausgemeißelt. Durch verbliebene Querrippen in der gebaggerten Schifffahrtsrinne verhinderte man ein zu starkes Absinken des Wassers und sicherte vor allem an der Kleinschleuse eine ausreichende Fahrwassertiefe. Erst nachdem die neue Schleuse für die Schifffahrt freigegeben war, wurden diese Rippen herausgenommen. Nach dem Entfernen der letzten Querrippe und nach dem Abbruch der alten Kaimauer sank der Wasserspiegel beträchtlich ab. Die Absenkung wirkte sich bei Niedrigwasser wegen des Staueinflusses von Erlabrunn nur geringfügig aus. Die Maximalabsenkung bei einem Pegelstand von etwa 300 Zentimetern betrug zirka 60 Zentimeter. Der Wert verringerte sich bei zunehmender Wasserführung und betrug beim Hochwasser 1970 nur noch 30 Zentimeter. Der Niedrigwasserspiegel ist am Pegel Würzburg bei gelegtem Stau in Erlabrunn infolge der Baumaßnahmen seit 1823 um etwa 200 Zentimeter abgesunken. Im gestauten Zustand beträgt die Absenkung immerhin noch etwa 100 Zentimeter. Die Baggerarbeiten für die Schifffahrt in der Nähe der Pegelanlage hatten keinen Einfluss auf den Wasserstand. Fahrrinnenausbau 1988/1989 Im Rahmen des Mainausbaus wurden 1988/1989 in der Stauhaltung Erlabrunn umfangreiche Baggerungen durchgeführt. Der Main wurde auf eine Fahrrinnenbreite von 40 Metern und eine Fahrrinnentiefe von 2,9 Metern ausgebaut. Dabei wurde im Unterwasser der Staustufe Würzburg im Bereich des Pegels die Fahrrinne verbreitert und vertieft. Die Pfeiler der nach dem Zweiten Weltkrieg in Friedensbrücke umbenannten Luitpoldbrücke wurden als Anfahrschutz vor Schiffen ummantelt. Die den Main kreuzenden und als Grundschwelle wirkenden Düker wurden beseitigt. Die dabei entstandene Wasserspiegelabsenkung machte eine Herabsetzung des höchsten Schifffahrtswasserstandes am Pegel Würzburg von 380 auf 330 Zentimeter erforderlich. Bauwerke im Bereich des Pegels Schleusenanlagen Streichwehr Auf bischöfliche Anordnung besichtigte eine Kommission des Rates noch während des Dreißigjährigen Krieges am 3. März 1643 mit dem fürstbischöflichen Baumeister Kaut und einem Frankfurter Mühlmeister die Gegebenheiten bei der Alten Mainbrücke, um dort eine Strömungsmühle zu errichten. Für die Mühle wurde ein Wehr im Main zum Antrieb des Mühlrades benötigt. Auf Anraten des Mühlmeisters wurde 1644 ein etwa 300 Meter langes und 1,2 Meter hohes Wehr, diagonal verlaufend und am dritten rechtsuferigen Pfeiler der Brücke endend, errichtet. Das obere Ende des Wehres liegt an den 260 Meter oberhalb der Brücke weit in den Main vorspringenden Mühlbastionen. Die Oberkante des Streichwehrs hatte eine Höhe von 168,03 bis 168,10 Meter über Normalnull. Rechts neben dem Pfeiler der Brücke, in der Brückenöffnung, befand sich das Nadelwehr. Die Floßgasse schloss sich nach Unterstrom an. Im Gegensatz zu den meisten herkömmlichen Wehren steht das Würzburger Wehr schräg zur Fließrichtung und hat eine nicht veränderliche Krone. Diese Art Wehr wird Streichwehr genannt. In erster Linie erfolgte aber der Bau des Wehres aus festungstechnischen Gründen. Die Sperrung des Fahrwassers und die einzige Umgehungsmöglichkeit des Wehres, der Umgehungskanal, der durch die Außenwerke der Festung Marienberg führte, waren vom Besitz der Festung abhängig. Durch diesen Aufstau änderten sich die Strömungsverhältnisse, da fast die gesamte normale Zuflussmenge zur Mühle abgeleitet wurde. Das Streichwehr wurde 1724 und 1729 unter der Leitung von Balthasar Neumann repariert. Kote erhöhte 1890/91 den Wehrrücken des Streichwehrs durch einen hölzernen Aufsatz um etwa 25 Zentimeter auf 168,28 bis 168,35 Meter über Normalnull. Bei diesen Bauarbeiten wurde der untere Teil des Streichwehres zum vierten Brückenpfeiler verlegt, um eine weitere Brückenöffnung für eine neue Floßgasse mit Trommelwehr zu ermöglichen. Dadurch entstand 95 Meter oberhalb der Brücke ein Knick in der Wehranlage. Beim Bau der Großschifffahrtsschleuse wurde 1953 das Wehr durch eine gleichmäßige Kappe aus Stein und Beton nochmals auf 168,5 Meter über Normalnull erhöht. Nadelwehr Um das 1644 errichtete Streichwehr, das die Durchfahrt der Schiffe und Flöße sperrte, zu umgehen, wurde im dritten Brückenbogen, Wehrloch genannt, ein Nadelwehr errichtet. Durch Ziehen der Nadeln senkte sich der Main oberhalb des Wehres ab und ermöglichte so, dass Flöße und Schiffe passieren konnten. Nach dem Einbringen der Nadeln stieg der Pegel wieder langsam an. Dieses praktizierte Verfahren war sehr mühselig und langwierig. Schiffe nutzten etwa 40 Jahre lang diese Methode, um dann den Umlaufkanal zu verwenden. Die mehreren Hundert Flöße im Jahr mussten aber weiterhin das Nadelwehr befahren, weil sie wegen ihrer Länge die Schleuse im Umlaufkanal nicht benutzen konnten. Um den Schiffen und Flößen unterhalb in der starken Strömung der Brücke eine Führung zu gewährleisten, wurden an beiden Pfeilern der Brücke breite Steindämme angesetzt. Flussabwärts wurde das Nadelwehr mittels der Strömung passiert, flussaufwärts fahrende Schiffe mussten, gegen die starke Strömung mit Seilen und Pferden in das Oberwasser gezogen werden. Etwa dreimal in der Woche, ab 13 Uhr, wurden Weiß- und Bretterflöße durchgelassen. Sogenannte Holländerflöße, die, wie es schon der Name andeutet, eine lange Reise vor sich hatten und wertvolleres Hartholz beförderten, durften das Wehr jederzeit passieren. Das Passieren des Wehres nahm etwa vier bis fünf Stunden in Anspruch. Bei dem Passiervorgang lief die Stauhaltung leer und das Unterwasser schwoll erheblich an. Bei geschlossenem Wehr und dem Wiederbefüllen der Stauhaltung fiel das Wasser im Unterwasser stark ab, so dass es oftmals stundenlang für die Schifffahrt fehlte. Erst nach Erreichen des Vollstaus und der Inbetriebnahme der Mühlen normalisierte sich der Wasserspiegel wieder. Das Nadelwehr wurde 1724 und 1729 durch Balthasar Neumann repariert und bis 1892 genutzt. 1894/95 wurde es renoviert und 1934 bei einer weiteren Sanierung umgebaut. Es diente daraufhin nur noch der Hochwasserabführung und war bis zum Jahre 1948 in Betrieb. Es wurde durch ein Klappenwehr, auch Fischbauchklappe genannt, mit elektrischem Antrieb ersetzt. Bei dieser Art von Wehr wird die Stauhöhe durch eine bewegliche Klappe hergestellt. Für den Pegel von Interesse war die in diesem Zusammenhang stehende Beunruhigung des Niedrigwasserabflusses. In der langen Zeit der Pegelbeobachtung und der Nutzung des Nadelwehres kam es, wenn auch nicht allzu häufig, in den Beobachtungslisten zu auffälligen Wasserstandsänderungen. Diese Abflusswerte konnten jedoch durch den Vergleich mit Nachbarpegeln berichtigt werden. Umgehungskanal Von 1675 bis 1680 wurde ein Umgehungskanal oder Umlaufkanal gebaut, um das Passieren der Schiffe zu erleichtern. Dieser Schifffahrtskanal umging auf einer Länge von etwa 500 Metern das Wehr und die Mühle. Er begann oberhalb des Burkharder Tores, ging hinter der Burkharder Kirche vorbei, die deswegen um zwei Joche gekürzt werden musste, und mündete unterhalb des Wehrs wieder in den Main. Im Umlaufkanal, in dem sich auch ein Anlegeplatz befand, wurde eine Schleusenanlage mit beiderseitigen Torverschluss aus Holz mit 47 Meter Länge und 6,5 Meter Breite errichtet, um eine Höhe von 1,2 Meter zu überbrücken. Für den damals bedeutenden Schiffsverkehr stellte die Durchfahrt durch den engen Kanal wegen der unzureichenden Wassertiefen und wegen der geringen Durchfahrtshöhe einen sehr beschwerlichen Weg dar. Vom Umlaufkanal aus ging auch ein Gerinne ab, an dem die Kanalmühle lag. 1892 wurde die alte Schleuse im Umlaufkanal aufgegeben und wegen Baufälligkeit in den 1920er-Jahren abgebrochen. Beim Bau der Großschifffahrtsschleuse wurde der Umlaufkanal 1953 bis auf einen kleinen Teil an der oberen Eckbastion eingefüllt. Kleinschleuse Um den beschwerlichen Weg durch den Umlaufkanal zu vermeiden und die Durchfahrt der Flöße durch das Wehr zu beschleunigen, beschloss die Königliche Baubehörde für die Schifffahrt den Bau einer Kleinschleuse am Streichwehr und eine weitere Öffnung für den Floßverkehr an der Alten Mainbrücke. In den Jahren 1891 und 1893 wurde oberhalb der Alten Mainbrücke die heute verfallene Kleinschleuse errichtet. Sie war 55 Meter lang, 10,5 Meter breit, hatte eine Tiefe von etwa einem Meter und konnte von Schiffen bis 600 Tonnen Tragkraft benutzt werden. Zum Bau der Kleinen Schleuse mussten das südliche Ende des Streichwehrs und auch die dort in den Main hineinragende Mühlenbastion abgeschnitten werden, um Platz für die Anlage zu gewinnen. Großschleuse Von 1950 bis 1954 wurde die heute noch genutzte Großschifffahrtsschleuse neben der Kleinen Schleuse erbaut. Diese Arbeiten gestalteten sich schwierig, weil die Alte Mainbrücke unter Denkmalschutz steht und mit ihren nicht allzu weiten Bögen mit 18 Metern Breite, die zudem auch recht niedrig waren, ein großes Hindernis für die großen Schiffe darstellte. Man entschied sich dafür, die Große Schleuse oberhalb der Brücke zu errichten und den unteren Einlass unmittelbar an die Brückenöffnung anzuschließen. Die Fahrrinne musste deswegen unterhalb der Brücke erheblich tiefer gelegt und mit Leitwerken versehen werden. Im oberen Bereich der Schleuse musste die Mühlenbastion teilweise abgebrochen und um 15 Meter landeinwärts gekürzt werden, um eine gefahrlose Einfahrt zu gewährleisten. Die Schleuse hat eine Länge von 300 und eine Breite von 12 Metern. Trommelwehr Für den gestiegenen Floßverkehr wurde 1891/92 im vierten Brückenbogen ein Trommelwehr errichtet. Bei diesem Trommelwehr handelt es sich um eine für die damalige Zeit gänzlich neuen Wehrverschluss. Das Trommelwehr besteht aus einer zweiflügeligen eisernen Klappe von 10,8 Meter Breite und einer ursprünglichen Gesamthöhe von 4,1 Metern. Die Klappe drehte sich um eine waagrechte Achse. Beim Aufrichten der Klappe sperrt die obere Hälfte den Wehrdurchlass und die untere Hälfte ist in einen unter der Wehrsohle befindlichen Hohlraum eingeschlossen, die Trommel genannt wird. Außerdem wurde eine neue, durch zwei je 125 Meter lange Dämme seitlich geführte Floßgasse gebaut. Durch das neue Trommelwehr konnten die Wasserschwankungen im Unterwasser und die Beeinträchtigungen der Schifffahrt stark herabgesetzt werden. Das Trommelwehr erlaubte ein rasches Öffnen und Schließen des Verschlusses. 1934/35 wurde es auf einen höheren Stau umgebaut und 1970 ebenfalls durch ein Klappenwehr (Fischbauchklappe) ersetzt. Mühlen Der Betrieb der Mühlen übt einen Einfluss auf die Strömungsverhältnisse des Maines und eine Beunruhigung des Wassers im Bereich des Pegels, in erster Linie während des Niedrigwasserabflusses aus. Bei Niedrig- bis Mittelwasser läuft zu Zeiten des Mühlenbetriebes beinahe das gesamte Wasser über die Mühlen statt über das Streichwehr ab. Der Betriebszustand und die dementsprechende Steuerung des Zu- und Ablaufs des Wassers beeinflusst dies auch. Untere Mainmühle Während des Baus des Streichwehres 1644 wurde am rechten Mainufer auch die Untere Mainmühle unterhalb der Alten Mainbrücke errichtet. Der Einlass der Mühle, der sich unter dem zweiten Brückenbogen befand, hatte ein Gerinne von 5,5 Metern Breite, das vier Räder mit je 2,2 Meter Breite und einem Durchmesser von fünf Metern antrieb. Im 19. Jahrhundert wurde eines der Mühlräder entfernt. Unterhalb der Mühle lag noch eine durch Wasserkraft betriebene Hammerschmiede mit drei Schwanzhämmern, die etwa um 1680 entstanden war. Bei der Mühle befand sich auch eine Badeanstalt mit Wellenbad. Kraftwerk Untere Mainmühle Als 1921 die Rhein-Main-Donau-AG die Wasserrechte der Mühlen erworben hatte, wurde die Untere Mainmühle abgebrochen. An dieser Stelle wurde anschließend mit dem Bau eines neuen Kraftwerkes begonnen. Der Bau des Krafthauses war im August 1922 vollendet. Die Gebäudeflügel, die sich an die Brücke anschließen, wurden zwischen Herbst 1922 und Juli 1923 errichtet. Das Kraftwerk wurde mit zwei Francis-Turbinen ausgestattet, die Strom nach Würzburg lieferten. Bei diesen Bauarbeiten mussten die Hammerschmiede und das Wellenbad weichen. Die Mühle unterhalb des Streichwehrs benötigte bei Mittelwasser fast das gesamte Mainwasser, das durch den Aufstau durch die Brückenöffnung zur Mühle abgeleitet wurde. Beim Betrieb des Nadelwehres mussten die Mühlenbetreiber den Betrieb einstellen, was damals zu Beschwerden und Reibereien zwischen den Beteiligten führte. Das Kraftwerk Untere Mainmühle wurde in den Jahren 1950 bis 1952 modernisiert und erhielt neue Maschinen. In den Jahren 1987/1988 fanden umfassende Sanierungsarbeiten statt. Das Kraftwerk wurde automatisiert und mit drei leistungsstarken Kaplan-Rohrturbinen ausgestattet. Obere Mainmühle Das Streichwehr erzeugte eine ansehnliche Wasserkraft, so dass auf der linken Mainseite auch noch die Obere Mainmühle, oder Hoffmannsmühle bei der Mühlbastion betrieben werden konnte. Diese wurde unter Fürstbischof Johann Philipp von Schönborn, der auch schon die Untere Mainmühle erbaut hatte, in den Jahren 1656/1657 errichtet. Die Mühle war mit einem Druckwerk zur Wasserversorgung der Festung Marienberg und des Hofbräuhauses (damals im fürstbischöflichen Besitz) ausgestattet. Beim Luftangriff auf Würzburg am 16. März 1945 wurde sie zerstört. Kanalmühle Die Errichtung des Umgehungskanals nutzte man aus, um 1676 eine dritte Mühle, die Kanalmühle an der Burkarderstraße, zu errichten. Ermöglicht wurde dies, indem man in den Umgehungskanal oberhalb der Kanalschleuse ein Gerinne ableitete, das bis an die Burkarderstraße und dann wieder zum Unterwasser des Kanals führte. Die Mühle besaß drei große unterschlächtige Wasserräder, wobei das Wasser unterhalb der Radmitte durchfloss und die Schaufeln des Rades antrieb. Sie war ebenfalls an die Wasserversorgung der Festung und des Hofbräuhauses angeschlossen. Genutzt wurde die Mühle bis 1927. Beim Luftangriff auf Würzburg wurde sie zerstört. Die Ruinen wurden beim Bau der Großschifffahrtsschleuse beseitigt. Brücken Die Pfeiler der Brücken verursachen einen gewissen Stau des Mains und beeinflussen die Strömungsverhältnisse. Nach längeren Frostperioden und anschließendem Eisabgang kommt es dort zu Aufstauungen. Bei Hochwasser kann es durch Treibholz, das sich an den Pfeilern verkeilt, ebenfalls zu einem Aufstau und Änderung der Strömungsverhältnisse kommen. Alte Mainbrücke Die Alte Mainbrücke ist eine der ältesten Brücken am gesamten Main. Der erste Bau geht auf das 12. Jahrhundert (1133 erstmals urkundlich erwähnt) zurück. Bei Hochwassern, beispielsweise in den Jahren 1306, 1342 und 1442, wurde die Brücke mehrmals vollständig oder teilweise zerstört. Auch das Hochwasser von 1784 führte zu Schäden an der Brücke. Der vierte und der fünfte Brückenbogen wurden am 2. April 1945 von den sich zurückziehenden deutschen Truppen gesprengt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von amerikanischen Pionieren mit Stahlträgern eine Behelfsbrücke über den zerstörten Abschnitt errichtet, um der Bevölkerung in eingeschränktem Maß wieder die Überquerung des Mains zu ermöglichen. Von April bis Juli 1950 erfolgte der Wiederaufbau der Brücke. An ihr befindet sich seit 1823 eine Hochwasserstaffel. Luitpoldbrücke Infolge des stark steigenden Verkehrs wurden im Zuge des Fortschreitens der Entfestigung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts leistungsfähigere Brücken angelegt. Die Luitpoldbrücke, die heutige Friedensbrücke, wurde 1886 flussabwärts vom Pegel errichtet und 1888 für den Verkehr freigegeben. Sie besteht aus sieben Bögen, die von sechs Pfeilern getragen werden. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Brücke zerstört und nach dem Krieg wieder aufgebaut. Durch die Trümmerteile kam es zu einem starken Aufstau des Mains, der den Pegel beeinflusste. Die Brücke wurde zur Anpassung an den Verkehr bis 1999 verbreitert und die zwei im Wasser stehenden Pfeiler mit einem Anfahrschutz vor Schiffen ummantelt. Diese Pfeiler bilden ein nicht ungefährliches Hindernis für die Schifffahrt, verursachen aber auch einen geringen Aufstau. Ludwigsbrücke Nach der Entfestigung auf der Südseite, die zögerlicher voranschritt als im Norden, wurde 1896 eine weitere Brücke gebaut. Mit der Projektierung der Ludwigsbrücke, im Volksmund wegen der vier großen Löwenstatuen an den beiden Auffahrten auch Löwenbrücke genannt, wurde im April 1885 begonnen. Die Planungen gehen auf das Jahr 1882 zurück, bedingt durch die Bauarbeiten der Ringstraße, die bis zum Main verlängert worden war. Die Brücke hat fünf Bögen mit je 36 Metern Spannweite, zwei der insgesamt vier Brückenpfeiler stehen im Main. Die Steinbrücke wurde ebenfalls gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zerstört und später wieder völlig im früheren Zustand errichtet. Hochwasser Hochwasserjährlichkeiten Die Häufigkeit, mit der eine Wasserstandshöhe oder Abflussmenge am Pegel erreicht oder überschritten wird, wird als Jährlichkeit bezeichnet. Anhand dieser Werte und durch Anpassung einer Verteilfunktion können so die Höchstabflüsse (HQ) bis zu einem tausendjährlichen Hochwasser bestimmt werden. Am Pegel Würzburg wurden diese Werte aus dem Beobachtungszeitraum 1901 bis 1997 ermittelt. Die so ermittelten Jährlichkeiten lassen sich nur beim Abfluss mit den älteren Hochwasserereignissen vergleichen. Da heute durch die baulichen Änderungen im Bereich des Pegels bei gleichem Abfluss deutlich niedrigere Wasserstände erreicht werden, ist darauf zu schließen, dass bei gleicher Jährlichkeit die früheren Hochwasserereignisse höhere Wasserstände erreichten. Meldestufen Der Hochwassermeldebeginn startet bei einem Pegel von 290 Zentimetern. Bei 340 Zentimetern am Pegel wird die Hochwassermarke I erreicht, bei der der Schiffsverkehr eingestellt wird. Bei einem Pegel von 400 Zentimetern wird die Hochwassermarke II erreicht. Bei einem Pegel von 510 Zentimetern wird die Hochwassermarke III und ab 600 Zentimeter die Hochwassermarke IV erreicht. Ab einem Pegel von 300 Zentimetern tritt der Main über die Ufer. Ab einem Wasserstand von 340 Zentimetern am Pegel wird der Parkplatz an der Löwenbrücke überflutet. Bei 360 Zentimetern wird die Bahnunterführung zum Neuen Hafen überflutet. Ab einem Wasserstand von 380 Zentimetern ist der provisorische Hochwasserschutz am Mainkai notwendig. Ab 410 Zentimeter am Pegel wird der untere Ludwigkai überflutet und von einem Pegel von 475 Zentimetern an ist der Hochwasserschutz am Kranenkai erforderlich. Bei 480 Zentimetern wird der provisorische Hochwasserschutz am Mainkai bei der Durchfahrt Alte Mainbrücke überflutet und der Hochwasserschutz an der Karmelitenstraße ist erforderlich. Bei 500 Zentimetern wird die Unterführung bei der Löwenbrücke überflutet und bei 520 Zentimetern der Obere Mainkai. Ab 530 Zentimetern werden Pleichtor-, Karmeliten- und Gerberstraße geflutet. Bei einem Pegelstand von 570 Zentimetern werden die Seilerstraße, die Maingasse und die Mühlengasse und ab 590 Zentimetern die Mergentheimer Straße bei der Alten Mainbrücke überschwemmt. Ab 650 bis 670 Zentimetern wird der provisorische Hochwasserschutz, der den zentraleren Stadtbereich schützt, überflutet. Die Untere Domstraße und die Einmündung von der Augustinerstraße wird ab einem Pegelstand von 710 Zentimetern überflutet. Hochwasserlaufzeiten Eine unverformte Hochwasserwelle am Main benötigt etwa eineinhalb bis zwei Tage, um von Trunstadt und dem dortigen Pegel unterhalb der Regnitz-Einmündung bis nach Würzburg zu gelangen. Von Schweinfurt bis Würzburg beträgt die Laufzeit der Welle für die 78,8 Kilometer lange Flussstrecke im Durchschnitt 21 Stunden. Diese Zeitspanne bietet der Stadt Würzburg die Möglichkeit, die Höhe des Hochwassers abzuschätzen und dementsprechend darauf zu reagieren. Am nächsten Pegel bei Steinbach, der 51,4 Kilometer flussabwärts liegt, dauert es sieben bis acht Stunden, bis dort die Hochwasserwelle von Würzburg eintrifft. Der Pegel Würzburg umfasst die Zwischeneinzugsgebiete 969,20 km² flussabwärts bis Steinbach und 1051,70 km² flussaufwärts bis Pegel Astheim, die, je nachdem wie stark die Hochwasserwellen der mainaufwärts gelegenen Nebenflüsse ausgeprägt sind und zeitlich mit dem Mainscheitel zusammentreffen, die Hochwasserwelle beeinflussen. Hochwasserschutz Die Stadt Würzburg wurde in den letzten Jahrhunderten öfters von verheerenden Hochwassern heimgesucht. Diese reichten mehrmals bis zum Rathaus, aber auch vereinzelt bis zum Dom hinauf. Das 20-jährliche Hochwasser 1970 verursachte große Schäden. Aufgrund dieses Ereignisses beantragte die Stadt Würzburg, vertreten durch das Wasserwirtschaftsamt Würzburg, beim Freistaat Bayern den Bau eines Hochwasserschutzes, um den rechtsmainischen Altstadtbereich zwischen der Friedensbrücke und der Löwenbrücke zu schützen. Die linksmainischen und die anderen Gebiete auf der rechten Mainseite liegen größtenteils höher. Der erste provisorische Hochwasserschutz stammt aus dem Jahre 1983 und war bis zu einem Pegel von etwa 650 bis 670 Zentimetern ausgelegt. Dies entspricht etwa einem 20-jährlichen Hochwasser. Seitdem ist die Stadt bestrebt, das gefährdete Stadtgebiet mit einer Fläche von etwa 25 Hektar, in dem rund 3000 Menschen leben, gegen ein 100-jährliches Hochwasser zu schützen, was einem Pegelstand von 835 entspricht, etwa dem Hochwasser von 1845. Die Kosten für den vollständigen Hochwasserschutz belaufen sich auf etwa 18 Millionen Euro, wobei der Freistaat Bayern 67 Prozent übernimmt. Bis zum Jahre 2008 wurde der Hochwasserschutz in Würzburg fertiggestellt. Eisverhältnisse Der Main neigte wegen seiner geringen Wassertiefe in früherer Zeit stark zur Vereisung. Wegen der geringen Tiefe unterkühlte das Wasser rasch. Es kam, beginnend in strömungsschwachen Flussbereichen, zu umfangreichen Treibeis- und Grundeisbildungen bei anhaltendem Frost. Die abtreibenden Eismassen füllten oft die ganze Flussbreite aus, bis sie an einer Engstelle zum Stehen kamen. Der Eisstand wanderte bei weiter anhaltender Treibeiszufuhr schnell stromaufwärts. Die Vereisung führte meist auch zu einer Anhebung des Wasserstandes, dem sogenannten Eisstau. Durch geringes Anschwellen wurden in der Regel der Aufbruch und der Abgang des Eises ausgelöst. Wenn durch einen plötzlichen Frosteinbruch der Eisgang unterbrochen wurde, kam es manchmal zu Eisversetzungen mit beträchtlichem Aufstau. Die Eisstauungen in Würzburg häuften sich durch erhebliche Eismassen nach der Errichtung der Staustufe in Erlabrunn im November 1934. Das Eis trieb aus der oberhalb der Staustufe freiliegenden Mainstrecke ab und kam im gestauten Wasser unterhalb von Würzburg zum Stehen. Die Eisschollen schoben sich dabei über- und untereinander und füllten häufig die gesamte Flussbreite aus. In den besonders strengen Wintern 1939/1940, 1940/1941 und 1946/1947 wurden auch die Wasserstände am Pegel Würzburg durch den Eisstau stark beeinflusst. Als die Staustufen oberhalb von Würzburg fertiggestellt waren und damit die Treibeiszufuhr unterbunden war, besserten sich die Verhältnisse. Die Mainstrecke Würzburg–Ochsenfurt mit drei Staustufen wurde 1954 eröffnet. Am Main bilden sich heute während einer Frostperiode in den einzelnen Stauhaltungen oberhalb der Wehre sofort geschlossene Eisdecken. Diese Eisdecke kann schnell über die gesamte Stauhaltungslänge anwachsen. Durch die Eisdecke werden die angestauten Wassermassen in den einzelnen Haltungen vor allzu großer Unterkühlung geschützt und wirken als Wärmespeicher, so dass sich kein nennenswertes Treib- und Grundeis mehr bildet. Im gestauten Main entsteht deshalb bei gleicher Frostlage wesentlich weniger Eis als früher im ungestauten Zustand. Diese Wirkung wird noch durch die Aufheizung des Mainwassers infolge der zunehmenden Abwasser- und Warmwassereinleitungen unterstützt. Hochwasserereignisse Die Abflussverhältnisse und die daraus resultierenden Wasserstände änderten sich im Laufe der Zeit. Durch den stetigen Ausbau des Mains steigt der Abfluss bei gleichem Wasserstand. Bei gleichem Hochwasserscheitel heute und zu Beginn der Messreihe kann heute mehr Wasser abfließen. Das Hochwasser vom 20. Januar 1841 erreichte bei einem Abfluss von 1318 m³/s einen Wasserstand am Pegel von 709 Zentimetern. Etwa 160 Jahre später und nach vielen baulichen Änderungen im und am Fluss, erreichte das Hochwasser vom 6. Januar 2003, bei einem geringfügig höheren Abfluss von 1350 m³/s, einen Pegelstand von 648 Zentimeter. Dementsprechend hat die Anzahl der hohen Wasserstände abgenommen. Am Pegel Würzburg erreichten sechs Hochwasser (drei im 19. und drei im 20. Jahrhundert) einen Abfluss von mehr als 1500 m³/s; der Wert im 20. Jahrhundert lag aber deutlich niedriger als im Jahrhundert davor. Insgesamt 24 Fluten erreichten einen Abfluss von 1000 m³/s, wobei sich 14 im 19. und nur 9 im 20. Jahrhundert ereigneten. Insgesamt wurde seit 1823 die Siebenmetermarke zehnmal überschritten, siebenmal im 19. und dreimal im 20. Jahrhundert. Ausführliche Angaben über historische Hochwasser in Würzburg siehe Hochwasser in Würzburg. Historische Hochwasser Anhand der Aufzeichnungen von Historikern aus den früheren Jahrhunderten, die den Hochwasserablauf, die Eisverhältnisse und die verursachten Schäden schildern, und der an Gebäuden am Main angebrachten Hochwassermarkierungen konnten einige der höchsten Wasserstände der letzten etwa 700 Jahre festgestellt werden. Das höchste Hochwasser am Main und in Würzburg war das von 1342, auch Magdalenenhochwasser genannt. Auf den Pegel bezogen, hatte dieses Hochwasser einen Stand von 950 bis 1030 Zentimetern bei einem Abfluss von 3050 bis 3600 m³/s. Dieses Ereignis wird als ein mehr als tausendjährliches Hochwasser bezeichnet. In der jüngeren Zeit ereignete sich am 29. Februar 1784 ein extremes Hochwasser, mit einem Pegelstand von 928 cm, bei einem Abfluss von 2600 m³/s. Dieses Ereignis wird als etwa 500-jährliches Hochwasser eingestuft. Bedingt durch die baulichen Änderungen im Bereich des Pegels basieren die historischen Jährlichkeitsangaben nur auf dem Abfluss, da die damaligen Pegelstände deutlich höher waren als heute und so zu verfälschten Jährlichkeiten führen würden. Literatur Wasser- und Schifffahrtsdirektion Süd (Hrsg.): 175 Jahre Pegel Würzburg – Daten und Fakten. Böhler Verlag, Würzburg 1999. Franz Seberich: Die alte Mainbrücke zu Würzburg. Mainfränkische Hefte, Heft 31, Buchdruckerei Karl Hart, Volkach vor Würzburg, Würzburg 1958. Martin Schmidt: Hochwasser und Hochwasserschutz in Deutschland vor 1850. Kommissionsverlag Oldenbourg Industrieverlag München, München 2000, ISBN 3-486-26494-X. Wasser- und Schifffahrtsdirektion Süd (Hrsg.): Information – Main – Main-Donau-Kanal – Donau. Druckerei und Verlag Pius Halbig GmbH, Würzburg 1997. Heinz Schiller: Ermittlungen von Hochwasserwahrscheinlichkeiten am schiffbaren Main und überregionaler Vergleich der Ergebnisse. in Informationsberichte des Bayerischen Landesamtes für Wasserwirtschaft, München 1989. Rüdiger Glaser: Historische Hochwässer im Maingebiet – Möglichkeiten und Perspektiven auf der Basis der Historischen Klimadatenbank Deutschland (HISKLID). in Erfurter Geographische Studien, Band 7, 1998. Bayerisches Landesamt für Wasserwirtschaft (Hrsg.): Spektrum Wasser 1 – Hochwasser – Naturereignis und Gefahr. Universitätsdruckerei und Verlag Dr. C. Wolf & Sohn GmbH & Co. KG, München 2004, ISBN 3-930253-93-3. Franz Seberich: Die Stadtbefestigung Würzburgs II. Mainfränkische Hefte, Heft 40, Hartdruck Volkach vor Würzburg, Würzburg 1963. Weblinks Pegel Würzburg beim Hochwassernachrichtendienst – Bayern (HND) Pegel Würzburg beim Elektronischen Wasserstraßen-Informationssystem (ELWIS) Pegel Würzburg bei der Bundesanstalt für Gewässerkunde (BFG) Hochwasserschutz Würzburg beim Wasserwirtschaftsamt Aschaffenburg Entwässerungsbetrieb Würzburg (EBW) HochwasserAktionsplan Main Einzelnachweise Bewirtschaftung von Gewässern Bauwerk (Main) Wurzburg Verkehr (Würzburg)
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Thutmosis III.
Thutmosis III. (* um 1486 v. Chr.; † 4. März 1425 v. Chr.) war der sechste altägyptische König (Pharao) der 18. Dynastie (Neues Reich). Er bestieg am 4. Schemu I 1479 v. Chr. den Thron und regierte bis zum 30. Peret III 1425 v. Chr. Thutmosis III. stammte aus der Ehe des Königs Thutmosis II. mit einer Nebenfrau namens Isis. Hauptgemahlin des Thutmosis II. war Hatschepsut. Da Thutmosis III. bei der Thronbesteigung offensichtlich noch ein Kind war, führte seine Stiefmutter Hatschepsut, die gleichzeitig seine Tante war, die Regierungsgeschäfte. Vermutlich übernahm Hatschepsut zwischen dem 2. und 7. Jahr der gemeinsamen Regierung den Thron, indem sie sich zur Alleinherrscherin machte. Zeitpunkt und Ausmaß der Zurückdrängung Thutmosis III. sind in der Forschung umstritten. Verschieden datierte Texte weisen darauf hin, dass die Herrschaft der Hatschepsut spätestens im 22. Regierungsjahr endete und Thutmosis III. danach die Alleinherrschaft übernahm. Das 22. Regierungsjahr Thutmosis III. leitete auch den Auftakt für fast jährlich stattfindende Feldzüge nach Vorderasien ein. Der erste Feldzug war die sogenannte Schlacht bei Megiddo gegen eine Koalition syrischer Fürsten unter der Führung des Fürsten von Kadesch. Das Ziel der Ägypter war einerseits die Zerstörung der vorderasiatischen Machtbasen aus Angst vor einer weiteren Fremdherrschaft über Ägypten (in Anlehnung an die Herrschaft der Hyksos) und andererseits bestand ein wirtschaftliches Interesse an der Region. Ägypten profitierte von reichen Handelsgütern und Tributen wie Arbeitskräften, Naturalien und Rohstoffen, die dem Land einen noch nicht da gewesenen Wohlstand sicherten. Zu weiteren größeren Feldschlachten kam es beim 8., 10. und 16. Feldzug. Der Gegner war nun das Reich der Mitanni. Dieses konnte jeweils enorm geschwächt werden. Außer nach Vorderasien expandierte Ägypten in der frühen 18. Dynastie auch nach Nubien, südlich des 1. Nilkatarakts bei Assuan. Thutmosis III. konnte die südliche Grenze Ägyptens dauerhaft über den 4. Katarakt hinaus verschieben und das südliche Ende beim Gebel Barkal („Reiner Berg“) mit Napata als Grenzort und Handelsstützpunkt festlegen. Besonders verbunden fühlten sich die Könige der 18. Dynastie mit dem Reichsgott Amun in Karnak. Dementsprechend wurde der Tempelbezirk des Amun unter Thutmosis III. maßgeblich erweitert und restauriert. Ein zentrales Bauwerk in Karnak ist das Ach-menu, auch einfach als „Festtempel“ bezeichnet, das er im 24. Regierungsjahr errichten ließ. Seinen ersten Totentempel baute Thutmosis III. in Theben-West beim heutigen Ort Qurna und in den letzten zehn Regierungsjahren einen weiteren in Deir el-Bahari. Bestattet wurde der König in Grab KV34 – ‚KV‘ steht für ‚Kings' Valley‘ –, das in einer engen Felsschlucht im südlichsten Wadi im Tal der Könige liegt. Die Mumie Thutmosis’ III. wurde später in die „Cachette von Deir el-Bahari“ umgebettet, wo sie in den 1870er-Jahren entdeckt wurde. Möglicherweise setzte Thutmosis III. seinen Sohn und Nachfolger Amenophis II. bereits in seinen letzten Regierungsjahren als Mitregenten ein. Herkunft und Familie Nur wenige Generationen vor Thutmosis III. herrschten die sogenannten Hyksos (Heka-chasut – „Herrscher der Fremdländer“), die wahrscheinlich Einwanderer aus Vorderasien waren, über ein großes Gebiet Unterägyptens. Schließlich gelang es einem alteingesessenen thebanischen Fürstengeschlecht am Ende der 17. Dynastie, das auch als „Ahmosiden“ bezeichnet wird, die Hyksos aus Ägypten zu vertreiben: Nachdem bereits die Könige Seqenenre und Kamose mehrere Feldzüge gegen die Hyksos unternommen hatten, war es Ahmose, der deren Hauptstadt Auaris einnahm und die Hyksos zum Abzug zwang. Damit begründete er das Neue Reich. Es wird vermutet, dass wichtige treibende Kräfte der Reichseinigung auch Ahmoses Großmutter Tetischeri und nach deren Tod Ahmoses Mutter Ahhotep I. waren. Amenophis I., der Sohn von Ahmose und seiner Großen königlichen Gemahlin Ahmose Nefertari, übernahm nach Ahmoses Tod die Regierung. Amenophis und seine Mutter wurden in späterer Zeit vergöttlicht und insbesondere in der Ramessidenzeit als Schutzpatrone der Nekropolenarbeiter in Set-maat, heute Deir el-Medina, verehrt. Amenophis I. hinterließ offenbar keinen männlichen Thronerben. Nach ihm kam Thutmosis I. an die Macht, dessen Herkunft unklar ist. Das Thronrecht erlangte dieser durch eine Heirat mit der Prinzessin Ahmose, einer Tochter von Amenophis I. Mit Thutmosis I. begann die sogenannte Thutmosiden-Dynastie und damit die eigentliche Abstammungslinie der 18. Dynastie. Der Geschichtsschreiber Manetho ließ die 18. Dynastie mit dem Reichseiniger Ahmose beginnen, genealogisch gesehen gehören Ahmose und Amenophis I. jedoch noch zur 17. Dynastie. Aus der Ehe von Thutmosis I. und Ahmose stammte Hatschepsut, der Thronfolger Thutmosis II. jedoch aus der Ehe mit der Nebenfrau Mutnofret. Die Halbschwester Hatschepsut wurde Hauptgemahlin von Thutmosis II., vermutlich um die „Reinblütigkeit“ zu erhalten und den Thronanspruch zu legitimieren. Aus dieser Ehe ging unter anderem die älteste Königstochter Neferure hervor. Thutmosis III. stammte allerdings aus der Ehe mit der Nebenfrau Isis, über deren Herkunft fast nichts bekannt ist. Isis kam vermutlich aus einer adeligen Familie, die sich guter Beziehungen zum Königshaus erfreute und Angelika Tulhoff nimmt an, dass sie als Gunstbeweis des Königs in den königlichen Frauenpalast aufgenommen wurde. Die Hauptgemahlin Thutmosis' III. mit dem Titel Große königliche Gemahlin war Satiah, die Tochter der königlichen Amme Ipu. Aus dieser Ehe entsprang vielleicht der erste Thronfolger namens Amenemhat. Im 24. Regierungsjahr wird dieser Amenemhat ältester Königssohn genannt und wurde einer Inschrift im Festtempel in Karnak zufolge zum „Vorsteher der Rinder für die Herde des Amun“ ernannt. Zu dieser Zeit war Satiah immer noch Hauptgemahlin. Weitere Kinder aus dieser Ehe waren eine Tochter namens Nefertari und ein weiterer Sohn namens Sa-Amun. Prinz Amenemhat starb zwischen den Regierungsjahren 24 und 35. Satiah starb wahrscheinlich ebenfalls frühzeitig, denn nach dem 33. Regierungsjahr wird sie nicht mehr erwähnt, ebenso vermutlich Sa-Amun. Thutmosis III. heiratete schließlich die „bürgerliche“ Meritre Hatschepsut und ernannte diese zur Großen königlichen Gemahlin. Diese gebar den Nachfolger Amenophis II. sowie die beiden Töchter Merit-Amun und Tija. Die Inschrift auf einem Skarabäus erwähnt eine weitere Tochter namens Baket von einer Nebenfrau. Über die weiblichen Familienangehörigen des Königs gibt auch eine Darstellung auf einem Pfeiler in der zentralen Kammer seiner Grabanlage (KV34) Aufschluss: Neben der noch lebenden Königsmutter Isis erscheint dahinter die noch lebende zweite Hauptgemahlin Meritre Hatschepsut. Dahinter erscheint Satiah, die als „gerechtfertigt“, also verstorben, ausgewiesen ist. Hinter dieser folgt eine weitere, unbedeutendere Königsgemahlin namens Nebtu. Diese muss eine wohlhabende und einflussreiche Frau gewesen sein, denn sie verfügte über einen eigenen Vermögensverwalter. Ebenfalls auf diesem Pfeiler ist die Tochter Nefertari dargestellt, doch diese war zu diesem Zeitpunkt ebenfalls schon verstorben, wie der Inschrift („gerechtfertigt“) zu entnehmen ist. Drei weitere Nebengemahlinnen namens Manhat, Mahnta und Manawa sind aus ihrem gemeinsamen Grab im kleinen Wadi Quabbabat el-Qurud in Theben-West bekannt. Aufgrund ihrer lautlich geschriebenen, fremdartigen Namen konnten diese als Syrerinnen identifiziert werden. Bekannt ist die Grabanlage besonders wegen des Fundes zahlreicher Schmuckstücke, Kosmetikgefäße und kostbaren Geschirrs. Eine genaue Datierung der Bestattung ist nicht möglich, wenn auch manches darauf hinweist, dass sie bereits in den Jugendjahren Thutmosis' III. bestattet wurden. Angelika Tulhoff vermutet, dass die drei Syrerinnen bereits unter Thutmosis II. an den Hof gelangten und entsprechend der sittlichen Gepflogenheiten vom Nachfolger Thutmosis' III. übernommen wurden. Herrschaft Gemeinsame Regierung mit Hatschepsut Thronbesteigung Als Prinz erhielt Thutmosis III. zunächst eine Ausbildung zum Inmutef-Priester. Dieses Priester-Amt wurde häufig von Prinzen ausgeübt und stand im Zusammenhang mit dem Bestattungskult. Nach dem Tod seines Vaters Thutmosis II. trat er formell die Herrschaft an. Über seine Erwählung zum König berichtet Thutmosis III. in einer Inschrift im Karnak-Tempel aus seinem 42. Regierungsjahr. Darin führte er seine Erwählung auf einen Beschluss des Gottes Amun-Re zurück und untermauerte dadurch seine Legitimität als König auf religiöser Ebene, wie es vor ihm bereits Hatschepsut im sogenannten Geburtsmythos getan hatte. In der altägyptischen Ideologie verkörperte der Staat ein Ordnungsprinzip, das der König durch Anwendung göttlicher Machtmittel herstellte. Mit der Herrschaftsübernahme gründete er den Staat neu und stellte damit die „göttliche Weltordnung“ (Maat) wieder her, die mit dem Tode des Amtsvorgängers erloschen war. Die göttlichen Machtmittel bezog der König vom Sonnengott, der als „Herkunftsperson“ der Maat-Weltordnung verstanden wird. Ihre Übertragung erfolgte in den Ritualen der Thronbesteigung und der Krönung. Die ersten Regierungsjahre Da Thutmosis III. bei der Thronbesteigung offensichtlich noch ein Kind war, übernahm seine Stiefmutter Hatschepsut, die gleichzeitig seine Tante war, die Regierungsgeschäfte. Es war im alten Ägypten durchaus die übliche Vorgehensweise, dass die Große königliche Gemahlin des verstorbenen Königs so lange den Staat führte, bis der offizielle Thronfolger alt genug war, um selbst zu regieren. Über diese Situation gibt die autobiografische Inschrift im thebanischen Grab des Baumeisters Ineni Auskunft: Einige Zeugnisse sprechen dafür, dass Thutmosis III. in den ersten Regierungsjahren offiziell die politischen Entscheidungen traf. Der früheste Beleg für Thutmosis’ Herrschaft ist eine Besucherinschrift bei der Djoser-Pyramide in Sakkara, die von einem Ptahhotep aus dem siebten Monat der neuen Regierung stammt. Er hebt Thutmosis’ Wohltätigkeit in Theben hervor, ohne eine Erwähnung von Hatschepsut. Im zweiten Regierungsjahr erließ Thutmosis III. einen Befehl an den Vizekönig von Kusch, den Tempel von Semna zu Ehren des Gottes Dedwen und des vergöttlichten Sesostris III. neu zu bauen. Dieser Erlass wurde an der Ostwand des neuen Tempels dargestellt. Es ist natürlich fraglich, ob Thutmosis selber den Plan für diesen Tempel ausdachte, oder ob der Befehl wohl eher in seinem Namen erlassen wurde. Es ist auch schwierig festzustellen, wie groß die zeitliche Distanz zwischen dem Erlass im Jahr 2 und der tatsächlichen Anbringung des Textes im neu gebauten Tempel war. Eine Darstellung der Hatschepsut im Tempel, die später ausgemeißelt wurde, benennt sie als Große königliche Gemahlin, aber ihre Rolle und Haltung gegenüber den Göttern ist die des Tempelstifters, welche normalerweise dem König zufällt. Ein weiteres datiertes Dokument ist eine Stiftungsinschrift des Senenmut in Karnak. Senenmut, der unter anderem das Amt des Vermögensverwalters bekleidete, berichtet darin, dass ihm der König befahl, eine Stiftung für den Amun-Tempel durchzuführen. Das Datum der Inschrift wurde oft als Jahr 4, 1. Schemu, Tag 16 gelesen, aber da die ersten Zeilen beschädigt sind, wurden auch schon andere Regierungsjahre vorgeschlagen. Die eindeutige Erwähnung von Thutmosis III. würde vermuten lassen, dass drei Jahre nach Thronbesteigung die offiziellen Handlungen in seinem Namen durchgeführt wurden. Neben der Unsicherheit bei der Datierung kommt hinzu, dass die ersten Zeilen während der Restauration von Monumenten, die in der Amarna-Zeit zerstört worden waren, komplett neu eingemeißelt wurden. Es handelt sich dabei also um eine Kopie des originalen Texts aus der Ramessidenzeit. Damit ist nicht mehr feststellbar, ob im Text nicht doch ursprünglich Hatschepsut genannt und der Name von Thutmosis III. neu darüber geschrieben wurde. Eine weitere offizielle Handlung von Thutmosis III. ist aus seinem fünften Regierungsjahr belegt, als er Useramun zum Wesir ernannte. Dieser ersetzte seinen gealterten Vater Ahmose Aametju in diesem Amt. Der Papyrus Turin 1878 überliefert den Beginn einer literarischen Darstellung, wie Thutmosis III. persönlich kam und Usaramun aufgrund seiner vorzüglichen Eigenschaften für das Amt auswählte. Eine andere, undatierte Version dieses Ereignisses beschreiben die Inschriften in Useramuns Grab in Theben. Keine dieser beiden Darstellungen ist aber zeitgenössisch mit dem Ereignis. Die Grabinschrift wurde angebracht, als Useramun seine Grabvorkehrungen fertigstellte, also in der Mitte oder gegen Ende von Thutmosis Regierungszeit, nach dem Tod von Hatschepsut. Der Papyrus datiert noch später, sicherlich nach der 18. Dynastie. Machtergreifung Hatschepsuts Vermutlich übernahm Hatschepsut zwischen dem 2. und 7. Jahr der gemeinsamen Regierung den Thron, indem sie sich zur Alleinherrscherin machte. Zeitpunkt und Ausmaß der Zurückdrängung Thutmosis III. sind in der Forschung jedoch umstritten. Suzanne Ratié und Wolfgang Helck sprechen sich für das Jahr 7 aus, Donald B. Redford und Christian Cannuyer für das Jahr 2 und Claire Lalouette für das Jahr 5–6. Auf jeden Fall nahm Hatschepsut spätestens im Jahr 7 die königliche Titulatur an. Diese Erhebung zum männlich geprägten Königtum Hatschepsuts ist in der ägyptischen Geschichte beispiellos. Sie erfolgte zunächst durch die Annahme von königlichen Titeln und Insignien, wobei die Gestalt und Kleidung einer Frau in den Darstellungen beibehalten wurde. Verschiedene Dokumente weisen zu dieser Zeit eine Mischung von Kennzeichen eines Königs und einer Königin in der Darstellung auf. Es ist schwierig festzustellen, wie lange dieses Zwischenstadium andauerte, jedoch verblieb genug Zeit, um drei Monumente zu errichten: eine Kalkstein-Kapelle in Karnak, die später in den Fundamenten des Tempels Amenophis III. in Karnak-Nord wiederverbaut wurde ein Bau, zu dem ein Türsturz aus Kalkstein gehörte der südliche Tempel von Buhen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch eine Inschrift aus der Roten Kapelle (Chapelle Rouge) in Karnak aus dem 2. Jahr, in welcher Hatschepsut die Herrschaft durch ein Orakel des Amun angekündigt oder zugesprochen wird. Bedeutsam ist ebenfalls, dass im Allerheiligsten im Buhen-Tempel Thutmosis II. immer noch verehrt wurde. Zu einem späteren Zeitpunkt löste sich Hatschepsut von allen Verbindungen mit ihrem Ehemann und betonte ihre Herkunft von ihrem Vater, Thutmosis I. Dieser ideologische Wandel auf den späteren Monumenten spielte eine wichtige Rolle, um ihre königliche Legitimation zu proklamieren. So lautet etwa eine Inschrift vom 8. Pylon in Karnak, ihre Thronbesteigung sei von Amun gewährt worden, wegen der für ihn von Hatschepsuts Vater, Thutmosis I., vollbrachten Taten. Insbesondere ein großer Zyklus im Totentempel von Deir el-Bahari schildert die göttliche Abstammung und Einsetzung Hatschepsuts. Die Krönung Hatschepsuts ist auf Blöcken der Roten Kapelle dargestellt. Die Zurückdrängung von Thutmosis III. durch Hatschepsut wurde in der Ägyptologie ganz unterschiedlich interpretiert. So wird Hatschepsut etwa als eine „eitle, ehrgeizige und skrupellose Frau“ bewertet, die „begierig (war) zu herrschen, die Macht liebte und den jungen Thutmosis III. in den Schatten drängte“ stilisiert als „böse Schwiegermutter“ gegenüber dem „rachsüchtigen Neffen“ Thutmosis III. Ratié sah sogar mögliche Parallelen zu Echnaton, aufgrund eines gewissen Traditionalismus, religiöser Rigorosität, großer Entschlusskraft und einem hartnäckigen Willen. Im 5. Regierungsjahr begann Hatschepsut mit dem Bau ihres Totentempels in Deir el-Bahari. Obwohl dies ausschließlich ihr Totentempel war, finden sich an vielen Stellen Darstellungen des jugendlichen Thutmosis III. im Königsornat, mit verschiedenen Kronen und bei der Durchführung von Opferhandlungen. Diese Darstellungen zeigen nach Gabriele Höber-Kamel, „dass keine Rede davon sein kann, dass Thutmosis III. von seiner Tante ausgegrenzt oder nicht als legitimer König betrachtet wurde“. Demnach nutzte Thutmosis seine Jugendjahre, um ins Königsamt hineinzuwachsen. So konnte er in Ruhe Erfahrungen auf dem Gebiet der Staatsführung sammeln. Beginn der Alleinherrschaft und mögliche Verfolgung von Hatschepsuts Andenken Verschieden datierte Texte weisen darauf hin, dass Hatschepsuts Herrschaft im 22. Regierungsjahr endete, wenn es auch keinen Hinweis auf einen bestimmten Zeitpunkt dafür gibt. Manetho erwähnt in seinem Geschichtswerk, dass es sich beim vierten König der 18. Dynastie um eine weibliche Person namens Amessis handelte, die 21 Jahre und 9 Monate regierte. Diese Regierungszeit scheint sehr gut mit dem Beginn der jährlich stattfindenden Feldzüge im 22. Regierungsjahr von Thutmosis III. übereinzustimmen, weshalb viele Historiker Amessis mit Hatschepsut gleichsetzen und der genannten Regierungszeit zustimmen. Es wurde auch vorgeschlagen, dass Hatschepsut nicht im 22. Regierungsjahr gestorben sei, sondern lediglich die Macht ihrem nun volljährigen Neffen und Stiefsohn Thutmosis übergeben und noch einige Jahre im Ruhestand gelebt habe. Der letzte datierte Beleg der Hatschepsut ist die Stele des Schreibers Nacht vom Sinai aus dem 20. Regierungsjahr. Darauf werden Hatschepsut und Thutmosis III. in eindeutig paralleler Gleichstellung beim Opfer gezeigt. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde Hatschepsuts Andenken verfolgt: Ihre Darstellungen und Kartuschen wurden ausgehackt, ihre Obelisken in Karnak eingemauert und ihre Statuen zerschlagen. Zeitpunkt und Gründe dieser Verfolgung sind in der Forschung umstritten. Wichtigster Beleg für eine mögliche Datierung dieser Damnatio memoriae ist die Rote Kapelle in Karnak. Da der Bau bei Hatschepsuts Tod noch unvollendet war, führte ihn Thutmosis während seiner Alleinherrschaft zunächst in seinem Namen zu Ende. Da eine fragmentarische Inschrift im Karnak-Tempel, die möglicherweise aus dem 42. Regierungsjahr stammt, die Rote Kapelle erwähnt, kann dies als frühestmöglicher Zeitpunkt angesehen werden. Thutmosis III. ersetzte etwa zu diesem Zeitpunkt die Rote Kapelle durch eine neue Kapelle aus Granit. Die Abtragung der Kapelle wurde jedoch mit äußerster Sorgfalt ausgeführt, wie der hervorragende Zustand der gefundenen Blöcke zeigt. Bis zur Wiederverwendung dürften die Blöcke aus Quarzit und Diorit in einem der zahlreichen umliegenden Depots des Tempels aufgestapelt worden sein. Wie Dormann nachgewiesen hat, wurden bei diesen aufgestapelten Blöcken Namen und Darstellungen der Hatschepsut ausgemeißelt, jedoch sicherlich erst nach dem Abbau der Kapelle, wie die Tilgungen des Namens an Blöcken, die zuvor in Fugen verborgen waren, zeigen. Besonders Amenophis III. verwendete später viele der Blöcke als Fundament für den 3. Pylon in Karnak. Außenpolitik Feldzüge nach Vorderasien Unter Thutmosis II. hatte Ägypten noch die Vormachtstellung in Vorderasien inne. In der Zeit Hatschepsuts findet man nur wenige Erwähnungen über Asien. Vermutlich fielen in ihrer Regierungszeit wichtige Gebiete von Ägypten ab und Ägyptens Einflussgebiet erstreckte sich, wenn überhaupt, auf den südlichen Teil Palästinas. Das 22. Regierungsjahr von Thutmosis III. leitete den Auftakt für fast jährlich stattfindende Feldzüge ein. Diese Ereignisse wurden in den Annalentexten Thutmosis III. in Karnak geschildert, die er in seinem 42. Regierungsjahr aufzeichnete. Daneben werden sie auf Stelen aus Napata (Gebel Barkal) und Armant und in Biografien beteiligter Offiziere überliefert, aber auch Toponymlisten als Nebenüberlieferung. Bei dieser Vorgehensweise orientierte sich Thutmosis III. an „glorreichen Vorbildern“, wie den Feldzügen von Sesostris III. nach Nubien: „Durch die jährliche Anwesenheit in der Region wird jede aufkeimende Rebellion unterbunden, und mittels Depots und Garnisonen kann die Basis für weitergehende Präsenz geschaffen werden.“ Beim ersten, achten und zehnten Feldzug kam es zu richtigen Feldschlachten, bei den anderen handelte es sich vermutlich um kleinere Unternehmungen. Bei der ersten kriegerischen Auseinandersetzung war der Feind noch der Fürst von Kadesch, bei den anderen waren es hauptsächlich die Mitanni. Der erste Feldzug führte zur Schlacht bei Megiddo. In Vorderasien schloss sich eine Koalition syrischer Fürsten unter der Führung des Fürsten von Kadesch zusammen. Insgesamt nennt Thutmosis III. die wohl eher symbolisch gemeinte Zahl von 330 Fürsten und Königen. Nach der Ansicht von Wolfgang Helck handelte es sich beim ersten Feldzug Thutmosis’ um eine „offensive Verteidigung“. Der Aufmarsch der Truppen um den Fürsten von Kadesch konnte demnach nur das Ziel gehabt haben, Ägypten zu erobern. Thomas Schneider bezweifelt allerdings, dass es sich dabei um eine drohende Rückeroberung Ägyptens durch die Großmacht Mitanni handelte, in Anknüpfung an die Herrschaft der Hyksos. Francis Breyer hält immerhin fest, dass „nach der Fremdherrschaft der Hyksos das Sicherheitsbedürfnis gegenüber Vorderasien in Ägypten offenbar sehr groß war“. Die Gegner um den Fürsten von Kadesch versammelten sich bei der Festung von Megiddo. Thutmosis III. entschied sich für eine riskante Route durch das Karmelgebirge und griff seine Gegner unter Ausnutzung des Überraschungseffektes an. Diese konnten sich jedoch in die Festung zurückziehen, da die Ägypter siegesgewiss offenbar zu plündern begannen, anstatt die feindlichen Truppen zu zerschlagen. Erst nach mehrmonatiger Belagerung konnte die Festung zur Aufgabe gezwungen werden. Der Ausgang der Schlacht bei Megiddo kann verschieden interpretiert werden. Einerseits kann man davon ausgehen, dass sie nur unter großen Anstrengungen gewonnen wurde und der ägyptische König deshalb von einem Zug weiter nordwärts nach Syrien absah, wenn auch südsyrische Orte auf den Ortsnamenlisten auftauchen. Unter der Annahme eines Präventivschlags war die Unternehmung dagegen sehr erfolgreich: „So erfolgreich, dass von nun an der Gegner nicht mehr Qadeš, sondern Mitanni heißt.“ Es entwickelte sich ein ägyptischer Imperialismus in Vorderasien. Das Ziel der Ägypter war einerseits die Zerstörung der vorderasiatischen Machtbasen aus Angst vor einer weiteren Fremdherrschaft über Ägypten (in Anlehnung an die Hyksos) und andererseits bestand ein wirtschaftliches Interesse an der Region. Ägypten profitierte von reichen Handelsgütern und Tributen wie Sklaven, Naturalien und Rohstoffen, die dem Land einen noch nicht da gewesenen Wohlstand sicherten. Um die Fürsten stärker an sich zu binden, wurden deren Kinder als politische Geiseln an den ägyptischen Königshof gebracht, dort ausgebildet, und wenn einer der Fürsten starb, wurde dann sein Sohn an dessen Stelle als loyaler Nachfolger eingesetzt. Einen Höhepunkt in der militärischen Laufbahn des Königs stellte der achte Feldzug im 33. Regierungsjahr dar. Thutmosis stieß bis an den Euphrat im Reich der Mitanni vor. Um schnell und flexibel die Armee und den Nachschub über den Euphrat setzen zu können, ließ er von erfahrenen phönizischen Handwerkern kleinere Schiffe bauen, die sich problemlos auseinandernehmen ließen. Mit Hilfe von Ochsenkarren konnten die hölzernen Boote über den Landweg von Byblos an den Euphrat gekarrt werden. Dort wurden sie zusammengesetzt, um den Fluss zu befahren. Am Euphrat errichtete Thutmosis III. eine Stele neben der seines Großvaters Thutmosis I. Am westlichen Ufer des Euphrats traf die ägyptische Armee bei der Festung Karkemiš auf das feindliche Heer der Mitanni. Über den Schlachtverlauf ist nichts bekannt. Auf jeden Fall gewannen die Ägypter die Oberhand und die Mitanni flohen ins Hinterland. Die Ägypter begnügten sich damit, das Grenzland rechts und links des Euphrats zu durchschreiten und zu plündern. Es ist überliefert, dass Thutmosis nach dem Sieg bei Karkemisch an einer Elefantenjagd teilnahm. Bei der Jagd kam es zu einem Zwischenfall, bei dem er durch einen Elefanten ernsthaft bedroht wurde. Der Offizier Amenemheb rühmt sich in der Biographie seines Grabes (TT85), dass er den König aus der lebensbedrohlichen Situation rettete, indem er dem Tier den Rüssel abschnitt. Im 35. Regierungsjahr bedrohte die Armee der Mitanni erneut das ägyptische Reich. Umgehend trat Thutmosis dieser mit seiner Armee persönlich entgegen. Die Annalentexte dazu sind teilweise leider stark zerstört. Auf jeden Fall traf in der Nähe der syrischen Stadtfestung Aleppo das ägyptische Heer auf die feindlichen Truppen, die unter dem Oberbefehl des Mitanni-Königs standen. Es kam wahrscheinlich zu zwei Schlachten, bei denen laut den Schilderungen die Ägypter ohne größere Probleme die Oberhand gewannen. Das gegnerische Heer flüchtete wieder ins Hinterland, und auch hier verfolgte Thutmosis III. die gegnerischen Truppen nicht weiter. Es wird nichts über einen Vorstoß bis zum Euphrat berichtet. Vielleicht war das Heer durch die große Schlacht bereits zu stark geschwächt oder die kalte Jahreszeit hatte bereits begonnen. Einen letzten Versuch unternahmen die Mitanni im 42. Regierungsjahr des Thutmosis, als sie sich mit dem Fürsten von Tunip verbündeten. Thutmosis III. begab sich auf dem Seeweg zur verbündeten Küstenstadt Simyra. Von hier aus marschierte die Armee nach Irqata, um dort die mitannischen Truppen zu bekämpfen. Die Stadt Irqata konnte eingenommen werden und mit Truppennachschub stieß er nach Tunip vor. Dort muss es zu einer erbitterten Schlacht gekommen sein, bei der die gegnerische Armee vernichtend geschlagen werden konnte. In Kadesch wurden die letzten Anführer vernichtet. Nubienpolitik Neben Vorderasien expandierte Ägypten in der frühen 18. Dynastie auch in eine ganz andere Richtung: nach Nubien, das Gebiet südlich des 1. Nilkatarakts bei Assuan. Ahmose brachte die Region durch Feldzüge wieder in seine Gewalt und führte das neue Amt des Vizekönigs von Kusch (auch „Königssohn von Kusch“) ein, dem die Aufsicht über das wiedergewonnene Gebiet oblag, das für die Ägypter besonders wegen seiner Goldminen und Steinbrüche von Bedeutung war. Daneben wurde zur dauerhaften Beherrschung ein Befestigungssystem restauriert und ausgebaut, das schon in der 12. Dynastie angelegt worden war. Thutmosis I. stieß schließlich weit über die festgelegte Südgrenze hinaus und setzte dem Königreich von Kerma, dem ersten bedeutenden eigenständigen nubischen Königreich, ein Ende. Auch unter seinen Nachfolgern waren die kriegerischen Auseinandersetzungen noch nicht beendet. Thutmosis II. und Hatschepsut intervenierten ebenfalls militärisch, um Aufständische niederzuschlagen. Thutmosis III. konnte dauerhaft über den 4. Katarakt hinaus expandieren und das südliche Ende beim Gebel Barkal („Reiner Berg“) mit Napata als Grenzort und Handelsstützpunkt festlegen. Donald B. Redford identifiziert mindestens vier militärische Interventionen in Nubien in der Zeit der Koregentschaft von Hatschepsut und Thutmosis. Eine der wenigen datierten Inschriften legt einen Nubienfeldzug im 12. Regierungsjahr von Hatschepsut / Thutmosis III. fest, bezeichnenderweise zu einer Zeit, als Thutmosis III. alt genug war, die ägyptische Armee anzuführen. Dieses Graffito in Tangur-West (zwischen der Insel Sai und dem 2. Katarakt) nennt Kusch als Haupt-Feind. Es ist schwierig festzustellen, wie viel Kontrolle Thutmosis III. über das Gebiet stromaufwärts des 4. Katarakts ausüben konnte. Zumindest ist die Gebel-Barkal-Stele, die ins 47. Regierungsjahr datiert, ein Hinweis darauf, dass er die Stadt Napata am Gebel Barkal begründete. Bei der Inschrift könnte es sich um eine später ausgearbeitete Rede handeln, die der König vor hohen Beamten und Personen des Südlands hielt. Von einem weiteren Nubienfeldzug zeugt eine Inschrift aus dem 50. Jahr auf der Insel Sehel, die zur Erinnerung an die Wiedereröffnung des Kanals, der durch den 1. Katarakt führt, errichtet wurde, als der König von einem siegreichen Feldzug aus Nubien zurückkehrte. Außenwirtschaft und Diplomatie Die aggressive Außenpolitik in der frühen 18. Dynastie schuf neue Handelsräume. Bezeichnenderweise war nach Hatschepsuts Machtübernahme eine der größten Unternehmungen die Expedition nach Punt. Die Darstellung dieser Expedition nimmt bei der Dekoration ihres Totentempels sehr viel Platz ein. Beachtung findet immer wieder die Frau des „Herrschers“ von Punt, die sich durch einen außerordentlichen Körperumfang auszeichnete. Die wichtigsten aus Punt eingeführten Güter waren Weihrauch und Ebenholz, aber auch weitere Gegenstände und Tiere wurden mitgebracht. Die Annalen des Thutmosis III. geben nicht nur Auskunft über die Feldzüge nach Vorderasien, sondern auch über den direkten und indirekten Austausch von Gütern nach Ägypten. Ein Großteil der Inschrift listet Menschen, Tiere, landwirtschaftliche Produkte, Rohstoffe und Artefakte, die als Geschenk, Tribut, Kriegsbeute oder Handelsgut nach Ägypten gebracht wurden. Die diplomatischen Geschenke beinhalteten kostbare Rohstoffe wie Silber, Lapislazuli und andere Schmucksteine, aber auch Kupfer, Holz, Pferde, exotische Tiere und Metallgefäße. Die zuliefernden Regionen können nicht immer mit Sicherheit identifiziert werden. Als Geschenklieferanten werden unter anderem die Könige von Hatti, Babylonien, Assyrien, Alašija, Alalach und Tanaja (das mykenische griechische Festland oder Teile davon) genannt. Das Beutegut der Feldzüge besteht nicht nur aus militärischen Gütern wie Kriegsgefangenen, Streitwagen, Pferden und Waffen, sondern auch aus einer großen Bandbreite an Wertgegenständen, Frauen, Kindern und Viehbeständen, die von rebellischen Städten als Strafmaßnahme geplündert wurden. Der größte Teil der Aufzeichnungen listet jedoch Tribute aus den eroberten Gebieten auf. Für die Jahre 33 und 38 wurden Handelsexpeditionen nach Punt verzeichnet. Diese stellen eine andere Form der Erschließung von fremden Gebieten dar. Es handelt sich um seltene explizite Zeugnisse von eigentlichem Handel als Austausch von Gütern in den offiziellen Aufzeichnungen. Wie bei Hatschepsuts Expedition kehrten die Schiffe mit Weihrauch und anderen exotischen Gütern zurück. Bildhaftes Gegenstück zu den Annalen sind Darstellungen von Ausländer-Prozessionen in mindestens 15 thebanischen Privatgräbern aus dieser Zeit. Diese veranschaulichen aus einer authentischen, privaten Sicht die gleiche Art der Außenpolitik. Die Prozessionen tauchen fast ausschließlich in den Gräbern von hohen Beamten der ägyptischen Verwaltung auf. Nach Diamantis Panagiotopoulos ist die übliche (moderne) Bezeichnung „Tributszenen“ unzureichend. Wie die bildlichen und textlichen Quellen zeigen, legt sie den wirklichen Inhalt falsch aus und spielt die Vielfalt ihres Gegenstandes herunter. Erstens beziehen sich die Szenen nicht auf die Lieferung von Tributen im eigentlichen Sinne, da Tribute als Strafmaßnahme nie in den ägyptischen Außenbeziehungen auftraten. Die eroberten Gebiete wurden in die ägyptische Administration einbezogen und zahlten Steuern wie die ägyptische Bevölkerung. Zweitens erzählen sie unterschiedliche zeremonielle und administrative Ereignisse, die in Verbindung mit der Karriere des Grabbesitzers stehen. Das am besten erhaltene Beispiel stammt aus dem Grab des Wesirs Rechmire (TT100) in Scheich Abd el-Qurna. Die fünf Register zeigen unterschiedliche Ebenen der politischen Beziehungen mit Ägypten, von freien Menschen (die obersten beiden), politisch Kontrollierten (drittes und viertes Register) und Sklaven (unterstes): 1. Register: Menschen von Punt bringen Weihrauch, Edelsteine, Ebenholz, Elfenbein, Tierfelle und andere exotische Produkte. 2. Register: Mykener tragen kunstvolle Metallvasen, Schmuck und Minerale. 3. Register: Nubier sind mit ihren typischen Produkten ausgestattet: Gold, Ebenholz, Straußenfedern und -eier, Vieh, Tierfelle und wilde Tiere. 4. Register: Bewohner der Region Syrien-Palästina bringen Metallvasen, Waffen, einen Streitwagen, Pferde, Mineralien und Elfenbein. 5. Register: Frauen und Kinder aus Nubien und Syrien-Palästina. Die Beischrift erwähnt, dass diese als Beute von den Feldzügen nach Ägypten kamen und als Sklaven dem Amun-Tempel zugeteilt sind. Aus dem 15. Jahrhundert v. Chr. ist der sogenannte Kuruštama-Vertrag überliefert, eine zwischenstaatliche Vereinbarung zwischen den Ägyptern und den Hethitern. Teile des Vertrages sind auf keilschriftlichen Tafeln aus Ḫattuša erhalten geblieben, einerseits als Sekundärquellen in späterer Überlieferung, andererseits existiert auch ein Fragment des Originalvertrages. Es ist somit der älteste erhaltene paritätische Staatsvertrag. Als Vertragspartner kommen auf hethitischer Seite Tudhalija I. und auf ägyptischer Seite Thutmosis III. oder nach älterer Auffassung Amenophis II. in Frage. In dem Vertrag regelten Ägypter und Hethiter die Folgen der Auswanderung von Bewohnern aus Kurustama ins Herrschaftsgebiet der Ägypter. Der Vertrag scheint auch Grenzregelungen beinhaltet zu haben. Er besaß bis zum Überfall der Hethiter auf das ägyptische Amka am Ende der ägyptischen 18. Dynastie Gültigkeit (ca. 1330 v. Chr.; siehe dazu auch Daḫamunzu-Affäre). Die Stadt Kurustama lag vermutlich im nördlichen oder nordöstlichen Anatolien, eine genaue Lokalisation ist jedoch nicht möglich. Nach Breyers Auffassung hatten sich die beiden Großmächte in dieser Zeit so weit angenähert, dass eine direkte Konfrontation drohte, weshalb sie diplomatische Kontakte aufnahmen. Die Ägypter lernten die Keilschrift, um sich international verständigen zu können. Bereits vor der Amarna-Zeit entstand somit eine Art Verhaltenskodex zwischenstaatlicher Beziehungen. Die beginnenden und intensiver werdenden Kontakte zwischen den beiden Kulturen wurden in der Thutmosidenzeit erstmals fassbar: „Nicht nur bei den diplomatischen Beziehungen muss man sich also von dem lieb gewonnenen Bild einer Internationalisierung erst in der Amarnazeit verabschieden – bereits die frühen Thutmosiden waren ‚global player‘.“ Verwaltung Der König war theoretisch im Besitz der Gesamtheit des Landes und die Bürokratie wuchs als Mittel zum Eintreiben und Umverteilen der ägyptischen Produkte im Namen des Herrschers. Viel Quellenmaterial liefern die Biografien in den Beamtengräbern, insbesondere in Theben-West (siehe auch Liste der thebanischen Gräber). Dabei nahm der Königsdienst eine Vorrangstellung ein: „Für den König zu handeln, sich vor ihm zu bewähren, von ihm belohnt zu werden, erfüllt in dieser Zeit so sehr den Mittelpunkt des offiziellen Daseins, dass daneben alle weiteren Bezugspunkte des Lebens eines Beamten sekundär werden.“ Andererseits konnte der Übergang von der Herrschaft von Thutmosis III. zur Koregenz mit Hatschepsut und schließlich zur Alleinherrschaft des Thutmosis’ III. nicht ohne Unterstützung der wichtigsten Beamten vonstattengehen. Das Andenken der wichtigsten Beamten wurde nach diesen Übergängen nicht verfolgt. Eine neue Beamten-Klasse waren unter Thutmosis III. die Veteranen der Asien-Feldzüge. Diese Männer erwarben sich ihre Positionen in der Verwaltung durch ihre Treue als Krieger und Freunde des Königs. Wesire Der oberste Beamte im Staat war der sogenannte Wesir (altägyptisch Tjati). Spätestens zur Zeit Thutmosis’ III. wurde das Wesirat zweigeteilt. Es gab jeweils einen Wesir für die Reichsteile Oberägypten und Unterägypten. Bis zum Jahr 5 unter Thutmosis III. und Hatschepsut amtierte Ahmose Aametju als Wesir. Ihm folgte sein Sohn Useramun in dieses Amt. Nach dessen langjähriger Amtszeit übernahm dessen Neffe Rechmire das Wesiramt. Die Gräber des Useramun (TT61 und TT131) und des Rechmire (TT100), geben einen guten Einblick in die Organisation des Wesiramtes. TT61 und TT100 überliefern eines der bedeutendsten Dokumente zur ägyptischen Verwaltung in seiner ältesten Textform: die Dienstanweisung für den Wesir. Diese beschreibt die wichtigsten Aufgaben und Pflichten eines Wesirs in 27 Paragraphen. Nach van den Boorn lassen sich die Aufgaben des Wesirs auf drei Hauptaspekte zusammenfassen: die Verwaltung des pr-nswt (Palast), die Leitung der Zivilverwaltung und die Stellvertretung des Königs. Neferweben ist bisher der früheste belegte Wesir Unterägyptens. Er ist von zwei Kanopenkrügen bekannt, die aus Sakkara, der Nekropole von Memphis stammen. Dies belegt, dass Neferweben dort bestattet wurde und wahrscheinlich dort residiert hatte. Auf einer Statue von ihm erscheinen die Namen von Thutmosis III., womit er mit Sicherheit unter diesem Herrscher zu datieren ist. Vielleicht war Neferweben der Vater des Wesirs Rechmire, da dessen Vater ebenfalls Neferweben hieß, aber dieser trägt im Kontext mit Rechmire nie den Wesirstitel. Weitere hohe Verwaltungsbeamte Im frühen Neuen Reich war das Amt des Schatzmeisters (Jmj-r3-ḫtmt – Imi-ra chetemet, wörtlich: „Vorsteher des Siegels“) noch sehr einflussreich. Es beinhaltete die Verwaltung der königlichen Einkünfte aus ausländischen Abgaben und aus den Handelsunternehmungen, die Organisation von Expeditionen und die gesamte Palastverwaltung. Insbesondere der Schatzmeister Sennefer ist aufgrund seiner Grabanlage in Theben-West (TT99) bekannt. Die Eintreibung und Verteilung von Getreide war eine der grundlegenden organisatorischen Tätigkeiten des Staates. Der „Vorsteher der beiden Scheunen von Ober- und Unterägypten“ war verantwortlich für die Überwachung dieser Tätigkeit, die Aufzeichnung darüber und die Berichterstattung der Erträge beim König. Bis mindestens ins Jahr 36 hatte Minnacht dieses Amt inne, dessen Laufbahn als niedriger Beamter im Amun-Tempel im Norden des Landes zur Zeit der Hatschepsut begann. Sein Sohn Mencheperre-seneb folgte ihm in seinen Ämtern nach. Die Herolde waren bevollmächtigt, im Namen des Königs zu sprechen, so wie die Schreiber in seinem Namen Aufzeichnungen führen durften. Sie waren Berichterstatter des Königs und waren in einem großen geografischen Bereich tätig. Iamunedjeh war königlicher Schreiber, erster königlicher Herold, Vorsteher der Wache und Vorsteher der beiden Scheunen von Ober- und Unterägypten unter Thutmosis III. In seinem Felsengrab in Qurna (TT84) berichtet er über die besondere Erwählung durch den König. Als Erster königlicher Herold war er der, „der zu jeder Zeit gerufen wurde, um die Pläne der beiden Länder auszuführen“. Eine Statue aus Theben berichtet von der Teilnahme am Zug Thutmosis’ III. über den Euphrat. Als Hohepriester des Amun in Karnak war Mencheperreseneb einer der höchsten Beamten im religiösen Bereich unter Thutmosis III. Er überwachte auch die Arbeiten des Königs im Amun-Tempel und besaß die beiden Grabanlagen TT86 und TT112 in Scheich Abd el-Qurna. Aus der väterlichen Linie stammte er vermutlich nicht aus einer einflussreichen Familie, seine Mutter Tajunet war jedoch königliche Amme und laut seinen Angaben kannte er den König seit seiner Kindheit. Puiemre führte den Titel eines Zweiten Amunpriesters und begann seine Karriere bereits unter Hatschepsut. In seinen Aufgabenbereich fiel die Inspektion der Werkstätten im Amun-Tempel, die Kontrolle und Organisation verschiedener Tempel-Zeremonien und die Entgegennahme der Tribute an den Amun-Tempel. Von außergewöhnlicher Architektur ist sein Grab TT39 in El-Chocha. Erzieher der Königskinder Großen Einfluss hatten in der 18. Dynastie Beamte, unter deren Obhut Königskinder standen. Die Erzieher waren sowohl männlich als auch weiblich und waren manchmal einer Gruppe von Königskindern zugeordnet und wurden manchmal als Tutor für einen Prinzen oder eine Prinzessin ausgesucht. Hatschepsuts oberster Architekt, Baumeister und Obervermögensverwalter Senenmut war auch für die Erziehung ihrer Tochter Neferu-Re verantwortlich. Unter Thutmosis’ III. war einer dieser Prinzenerzieher Bener-merut. Ähnlich wie bekannte Erzieherstatuen des Senenmut zeigt der Würfelhocker CG 42171 den Beamten mit Merit-Amun, der Tochter des Thutmosis III. Der Kopf des Mädchens schaut dabei aus dem Schoß ihres Erziehers auf. Seinen Titeln zufolge war Bener-merut auch als Bauleiter und in der königlichen Verwaltung tätig. Beamte des Militärs und der Polizei Bis zur Amarna-Zeit wurden hohe Militärs nicht in diesem Bereich ausgebildet, sondern aus Positionen befördert, die mit Registrieren und Berechnen zu tun haben. Ausschlaggebende Qualifikationen waren also Organisationstalent und Rechenkünste, denn der Erfolg einer militärischen Aktion hing stark von Organisation, Einteilung der Soldaten und Verteilung der Waffen ab. Der berühmteste General dieser Zeit ist Djehuti, dessen militärische Erfolge in späterer Zeit Eingang in die literarische Erzählung von der Eroberung von Joppe fanden. Insbesondere seine List wird gewürdigt. So enthält die Erzählung eine Episode, die an Ali Baba und das Trojanische Pferd erinnert: Die Eroberung der Stadt wurde dadurch erreicht, dass sich Djehuti und zweihundert Mitstreiter in Säcke einnähen ließen. Diese wurden ohne Schwierigkeiten in die Stadt geschmuggelt, da der dortige Fürst glaubte, es handele sich um Geschenke. In der Nacht krochen die Soldaten aus ihren Säcken und konnten die Stadttore öffnen, was zur Eroberung der Stadt führte. Wahrscheinlich befand sich Djehutis Grab in Saqqara, von wo einige Objekte mit seinem Namen stammen. Gut bekannt ist das Leben des „Oberst und Stellvertreter des Heeres“ Amenemheb durch seine Autobiografie im Grab TT85. Amenemheb hatte sich vom Frontsoldaten zum höchsten als Nicht-Beamten erreichbaren Amt, zum Oberst, hochgedient. Bei der Krönung des Amenophis’ II. wurde er zum Stellvertreter des Heeres befördert. Dies erfolgte jedoch nicht aufgrund seiner Verdienste, sondern der Stellung seiner Frau Baki als Amme eines Königskindes am Hofe. Als militärischer Höhepunkt wird die Überquerung des Euphrats während des achten Feldzugs Thutmosis’ genannt. Für die Rettung des Königs bei der Elefantenjagd bei Nija wurde er mit dem Ehrengold ausgezeichnet. Neferchau bekleidete das Amt des „Oberst der Medjau und Vorsteher der Wüste“. Die Wüstenpolizei (Medjau oder auch Medjai) bewachte polizeilich und militärisch die Wüste. Sie verfolgte flüchtige Personen in die Wüste und bot Expeditionen Schutz gegen Beduinen. Der Polizeioberst Dedi ist aus seinem Felsengrab TT200 in El-Chocha bekannt. Er diente sich vom einfachen Soldaten zunächst zum Standartenträger der königlichen Schutzwache hoch und wurde schließlich zum Oberst der Polizei in Theben-West befördert, eine Truppe, die größtenteils aus Nubiern bestand. Diese Sicherheitstruppe schützte die massenweise in den königlichen Gräbern und Tempeln angehäuften Wertgegenstände und die Nekropolenarbeiter. Kultische Aktivitäten Im Rahmen der traditionellen Rolle eines ägyptischen Herrschers trat Thutmosis III. als Mittler zwischen Mensch und Gottheit auf. In seiner Funktion als Priester trug er die Verantwortung für den voneinander abhängigen Austausch zwischen der sterblichen und der göttlichen Welt. Seine Teilnahme am Götterkult garantierte somit die Harmonie des Lebens unter den Lebenden. Thutmosis III. gehört jedoch zu jenen Königen, die ihre göttliche Natur besonders betonten. Schon zu Lebzeiten wurde er auch als Parallelgott zu Amun in der Opferformel aufgerufen. Er rühmte sich, „Sohn“ beziehungsweise „Abbild“ des Amun zu sein. In Nubien wurde Thutmosis III. nach dem Vorbild der dortigen Vergöttlichung von Sesostris III. wahrscheinlich bereits zu Lebzeiten zu einer echten Ortsgottheit erhoben, und zwar als Ebenbild von Thot. Sedfeste Einer der wichtigsten Auftritte für den König war das Sedfest. Es diente der Herrschafts- und Krafterneuerung des regierenden Königs. Normalerweise wurde es nach 30 Regierungsjahren zum ersten Mal gefeiert. In komplexen Ritualen sollte der König einen Verjüngungsprozess durchmachen. Bereits in der Roten Kapelle finden sich Darstellungen der Hatschepsut beim Durchführen eines solchen Festes. Ob unter ihr jedoch bereits ein solches stattfand, lässt sich nicht eindeutig klären. Es fehlen unabhängige Bestätigungen für ein solches Ereignis, wie beispielsweise Aufschriften auf Gefäßen, deren Inhalt für ein Sedfest bestimmt war, oder Berichte in den Gräbern von Beamten über ihre Beteiligung an den Vorbereitungen für ein solches. Ein „erstes Mal des Jubiläums“ im 30. Regierungsjahr Thutmosis’ wird auf Pfeilern seines Tempels in Medinet Habu erwähnt. Auch Darstellungen im „Festtempel“ (Ach-menu) in Karnak verweisen auf die Durchführung eines ersten Sedfestes. Dazu gehören Kultläufe, die ein wichtiger Bestandteil des Festes waren und in denen der alternde König seine Kraft unter Beweis stellte. Ein drittes Sedfest erwähnt der Obelisk aus Heliopolis, der sich heute in London befindet. Tempelfeste Die Durchführung verschiedener Tempelfeste wurde durch einen Kalender geregelt, der unter der Autorität des Königs erstellt wurde. Bei solchen Festen verließ der Gott seinen Tempel in Form einer Kultstatue und kam so in Kontakt mit seinen Anbetern. In einer Prozession trugen dabei die Priester den Gott auf einer Prozessionsbarke. Das wohl bedeutendste und längste der jährlichen Feste in Theben war das Opetfest. Bei diesem Fest besuchte Amun von Karnak das Heiligtum des „Südlichen Opet“ (Jp.t-rsj.t) im heutigen Luxor-Tempel, der als die Stätte seiner Geburt galt. Das Opetfest diente auch der Erneuerung der göttlichen Ka-Kraft des Königs. Sein Ka vereinigte sich mit dem seiner königlichen Vorfahren. Auf dem Höhepunkt der mysterienartigen Rituale kam es zu einer Begegnung des Königs mit Amun-Re in dessen Barkensanktuar. Der Gott übertrug die göttlichen Ka-Kräfte auf den König. Darstellungen in der Roten Kapelle zeigen Thutmosis III. zusammen mit Hatschepsut zum ersten Mal bei der Durchführung eines solchen Festes. In seiner Alleinherrschaft wird es zum ersten Mal nach der Rückkehr des ersten Siegreichen Feldzugs nach Vorderasien erwähnt. Beim „Fest vom Schönen Wüstental“ zog Amun von Karnak nach Theben-West zu den Millionenjahrhäusern. Diese Anlagen dienten nicht nur dem Kult des verstorbenen, sondern auch dem des lebenden Königs. Im Zentrum des zeremoniellen Geschehens stand die Regeneration von Göttern und von Königen, die regelmäßige Erneuerung ihrer körperlichen und geistigen Kräfte „für Millionen von Jahren“. Das letzte Ziel der Prozession war unter Hatschepsut ihr Millionenjahrhaus Djeser Djeseru in Deir el-Bahari. Nach der Errichtung des eigenen Totentempels in Deir-el Bahari dürfte dieser als letzte Station beim Talfest gedient haben. Tod und Nachfolge Mögliche Koregenz des Amenophis II. Auf einer Gedenkstele vor dem Amun-Tempel beim Gebel Barkal aus dem 47. Regierungsjahr reflektiert Thutmosis III. verschiedenste Aspekte und Errungenschaften aus seiner Regierungszeit. Sie ist von siegreicher Erinnerung, eindrucksvollen Reden und der kompletten Schirmherrschaft seitens der Götter geprägt. Viel Raum nehmen dabei die siegreichen Kampagnen nach Vorderasien ein. Weitere Zukunftspläne werden nicht erwähnt und Amenophis II. erscheint weder als Prinz noch als Koregent, was bei solch einem propagandistischen Text aber auch nicht weiter verwundert. In der berühmten Biografie im Grab des Amenemheb in Scheich Abd el-Qurna (TT85) wird über den Tod des Thutmosis III. und die Thronbesteigung des Amenophis II. berichtet: Zwar kann man sich nicht ganz sicher sein, ob die Thronbesteigung Amenophis’ II. am Tag nach dem Tod des Thutmosis III. eine symbolische Anspielung ist, daneben existiert von Amenophis II. jedoch noch ein weiteres Thronbesteigungsdatum, was darauf hindeutet, dass er bereits vor dem Tod Thutmosis’ als Mitregent eingesetzt wurde. Neben dem Datum IV Peret 1 in der Biografie des Amenemheb nennen die Semna-Stele des Usersatet und Papyrus British Museum 10056 als Thronbesteigungsdatum IV Achet 1. Somit stellt sich die Frage, ob Amenophis’ Antritt vor oder nach Thutmosis’ Tod (III Peret 30) erfolgte. Ersteres ist anzunehmen, da man sonst von einer „pharaonenlosen“ Zeit von zwei Drittel eines Jahres ausgehen muss. Alan Gardiner interpretierte die vier Monate zwischen der Thronbesteigung Amenophis' II. und dem Tod Thutmosis' III. als Länge der Koregenz, obwohl nicht bekannt ist, ob die beiden Ereignisse in demselben Jahr stattfanden. Einen weiteren Anhaltspunkt könnte die Frage nach der „ersten siegreichen Kampagne“ Amenophis’ II. liefern. Die Amada-Stele Amenophis’ beschreibt eine erste Kampagne in seinem Jahr 3. und die Memphis-Stele Amenophis’ II. eine erste Kampagne im Jahr 7. Ausgehend von der Annahme der Existenz von zwei ersten Kampagnen schlägt Peter Der Manuelian folgende Hypothese vor: Die beiden Kampagnen können nicht beide während der Koregenz oder während der Alleinherrschaft von Amenophis II. datiert werden, sonst würden nicht beide als „erste“ bezeichnet werden. Somit dürfte Amenophis II. für ein paar Jahre an der Seite seines Vaters als Koregent regiert haben. Bestattung Mit dem Tod verband sich der König mit seinen Vorgängern als einer der göttlichen Väter. Der Kult in seinem Totentempel, der bereits zu seiner Lebzeit aktiv war, gewährleistete sein unsterbliches Dasein auf der Erde. Das Grab bot die Umgebung, in welcher seine Autorität unter den Göttern bestätigt wurde. Diese beiden Komponenten beschreiben die Rolle des toten Königs als eine Kraft unter den Lebenden und als einer transzendenten kosmischen Kraft. Thutmosis III. wurde im Grab KV34 im Tal der Könige bestattet. Er besaß einen Totentempel in Qurna und einen weiteren in Deir el-Bahari. In der 22. Dynastie wurde die Mumie Thutmosis’ III. jedoch mit zahlreichen weiteren Königsmumien ins Grab DB 320 (sogenannte Cachette von Deir el-Bahari) umgebettet, da diese besseren Schutz vor Grabräubern bot. Dort wurde die Mumie in den 1870er-Jahren entdeckt. Heute befindet sie sich im Ägyptischen Museum Kairo mit der Inventarnummer CG 61068. Die 1,60 m lange Mumie war in einem schlechten Zustand und an drei Stellen gebrochen. Sie war mit einem Bukett von Binsen beschmückt. Das Leichentuch ist mit hieroglyphischen Texten beschriftet, darunter das 27. Kapitel des ägyptischen Totenbuchs und die Sonnenlitanei für König Thutmosis III., Sohn der Königin Isis, deren Name hier zum ersten Mal auftauchte. Postume Verehrung Die erste eindeutige Erhebung Thutmosis’ III. zum Gott im privaten Totenkult geschah im Grab TT89 des Amenmose zur Zeit des Amenophis III. Hier thront Thutmosis III. in einem Kiosk und wird vom Grabinhaber verehrt. Auch im Grab TT161 des Nacht erscheint er als vergöttlichter König auf der linken Seite des hinteren Eingangs, während Amenophis I. und der heilig gewordene Ahmose Sapair auf der rechten Seite dargestellt sind. Eine Reihe von Privatstelen aus der Voramarnazeit und ramessidische Privatstelen aus Gurob zeigen ebenfalls den gottgleichen Stand des Thutmosis III. auf. Seit der Regierungszeit Amenophis III. bis in die Ramessidenzeit wurden Amenophis I. und Thutmosis III. in thebanischen Privatgräbern mehrfach zusammen verehrt. Auch auf Wandreliefs in Karnak werden die beiden Könige mehrfach zusammen dargestellt. Es stellt sich somit die Frage, ob Thutmosis III. eventuell zusammen mit seinem Urgroßvater zu den Schutzheiligen der thebanischen Nekropole gehörte. Auf drei Stelen mit demotischen Inschriften aus der Ptolemäerzeit enthalten Priestertitel den Königsnamen Menech-pa-Ra (Mnḫ-p3-Rˁ) bei dem es sich vermutlich um eine späte Schreibung des Thronnamens Mn-ḫpr(w)-Rˁ(w) von Thutmosis III. handelt. Trifft dies zu, so liefern sie die einzigen Belege für einen Kult für diesen König zu dieser Zeit. Bautätigkeit Bauprojekte in Karnak Besonders verbunden fühlten sich die Könige der 18. Dynastie mit dem Reichsgott Amun in Karnak. Dementsprechend wurde der Tempelbezirk des Amun unter Thutmosis III. maßgeblich erweitert und restauriert. Neubau des zentralen Barkensanktuars Das erst wenige Jahre zuvor von Hatschepsut erbaute Barkensanktuar um den 5. Pylon wurde durch ein neues Gebäude aus schwarzem Granit ersetzt, durch einen weiteren kleinen Torbau unterteilt und einem kleinen Vorbau erweitert. In dem kleinen Hof vor diesem Anbau müssen auch die beiden kleinen „golden glänzenden“ Obelisken Thutmosis III. gestanden haben, die bei der Eroberung Thebens durch die Assyrer im 7. Jahrhundert v. Chr. erbeutet wurden. An der westlichen Außenwand des südlichen Teils des Zentralgebäudes errichtete Thutmosis eine Scheintür, von deren einstiger Ausstattung mit Gold und kostbarem Lapislazuli eine Widmungsinschrift berichtet. Inschriftlich besonders interessant ist der sogenannte Annalensaal, der sich an den Wänden des Hofes vor dem Barkensanktuar und an der nördlichen Umfassungsmauer erstreckt. Die hier im 40. Regierungsjahr eingravierten Texte geben einen anschaulichen Bericht über die militärischen Aktionen des Königs. Umbau und Erweiterung des Zentralheiligtums und des Säulensaals Den heiligen Bezirk zwischen dem heutigen 4. Pylon und dem Festtempel Thutmosis’ III. (Ach-menu) bezeichneten die Ägypter als Ipet-Sut (jpt-swt – „Ort der Erwählung“). Der älteste Gebäudeabschnitt aus dem Mittleren Reich wurde wegen seiner heiligen Natur in seinem ursprünglichen Zustand belassen und die späteren Bauten wurden um dieses Areal herum angelegt. Thutmosis III. ließ den von Thutmosis I. um das Zentralheiligtum des Mittleren Reiches angelegten Portikus (Säulengang) entfernen und durch viele kleine, eng aneinander liegende Kapellen ersetzen. Darin wurden Statuen verstorbener Herrscher verehrt. Der zweiteilige Säulensaal, das sogenannte Wadjit, wurde unter Thutmosis I. errichtet und unter Hatschepsut umgestaltet. Von ihr stammten unter anderem zwei Obelisken aus Rosengranit, von denen noch einer in situ erhalten ist. Thutmosis III. ließ alle Säulen der Halle durch eine Doppelreihe wuchtiger Papyrussäulen aus Sandstein ersetzen. Die Osiris-Pfeiler Thutmosis I. wurden mit einer „Zungenmauer“ umgeben, um den Eindruck von Statuen-Nischen zu erwecken. Die Obelisken Hatschepsuts wurden so ummauert, dass sie innerhalb des Gebäudes nicht mehr sichtbar waren, aber von außen noch immer das Tempelhaus sichtbar überragten. Zwei weitere Obelisken ließ Thutmosis III. anlässlich eines Sed-Festes unmittelbar vor den Obelisken Thutmosis’ I. am Eingang des Zentralheiligtums (4. Pylon) aufstellen. Diese wurden für den Bau des 3. Pylonen von Amenophis III. entfernt. Errichtung des Ach-menu (Festtempel) Im 24. Regierungsjahr ließ Thutmosis III. östlich hinter dem Areal des Mittleren Reiches das Ach-menu, auch einfach als „Festtempel“ bezeichnet, errichten. Sein ausführlicher Name lautet Men-cheper-Ra-ach-menu, was so viel wie „Herrlich an Denkmälern ist Men-cheper-Ra (Thutmosis III.)“ oder auch „Erhaben ist das Andenken des Men-cheper-Ra“ heißt. Das Zentrum des Gebäudes bildet eine große Festhalle, daneben gibt es Räume für den Kult des Amun und des Sokar, ein Doppelsanktuar, in dem geheime Mysterien abgehalten wurden, und einen höher gelegenen, über einen Treppenaufgang erreichbaren Raum für den Sonnenkult. Das Heiligtum ist Nord-Süd orientiert, es berücksichtigt aber auch die Ost-West-Achse des Haupttempels. Der Haupteingang befindet sich entgegen der üblichen Anordnung für einen ägyptischen Tempel des Neuen Reiches am Ende eines langen Korridors und in das eigentliche Heiligtum gelangt man erst nach einer 90°-Wendung über einen Vorraum. Die rund 40 Meter lange Festhalle ist das älteste bekannte Beispiel eines basilikalen Gebäudes: Das Dach des Mittelschiffes wird von einer zweireihigen Säulenreihe von je 10 Säulen und die umgebenden Seitenschiffe von insgesamt 32 Pfeilern getragen. Die Form der Säulen ahmt in monumentaler Weise das hölzerne Gestänge eines Zeltes nach. Es handelt sich somit um ein in Stein umgesetztes Festzelt, das bei den rituellen Handlungen des Sed-Festes eine zentrale Rolle spielte. An den Wänden einer kleinen Kapelle in der Süd-West-Ecke der Halle befand sich die sogenannte Königsliste von Karnak. Auf ihr steht der Pharao opfernd vor insgesamt 61 sitzend abgebildeten Königen. Diese königliche Ahnentafel ist von Bedeutung für die historisch-relative Chronologie. Das Ach-menu wird auch als Millionenjahrhaus bezeichnet. Es ist ähnlich konzipiert wie die Millionenjahrhäuser des thebanischen Westufers, mit einer Sonnenkultstätte auf dem Dach, einem Sokar-Heiligtum und einer Kapelle für den Kult der Vorfahrenkönige. So gesehen wird vermutet, „dass der Bau vor allem dem Kult des Königs als einer Erscheinungsform des Amun-Re geweiht war“. Noch weiter geht Piotr Laskowski in seiner Interpretation: Die Stele CG 34012 erzählt von Wundern, die sich während der Gründungszeremonie ereigneten. Unerwartet nahm Amun an der Zeremonie teil und führte die Gründungsriten durch. Das kann als Zeichen einer perfekten Vereinigung zwischen dem Gott und dem König verstanden werden. Thutmosis III. gründete den Tempel für Amun und war gleichzeitig eine Form des Amun. Somit gründete er einen Tempel, welcher der Bestimmung seines eigenen Kultes diente. Der „botanische Garten“ Außergewöhnlich ist der „botanische Garten“ im nordöstlichen Teil des Ach-menu. Während des dritten Feldzugs im 25. Regierungsjahr in die Region Retjenu sammelte Thutmosis III. laut Inschrift „alle seltenen Pflanzen und schönen Blumen“ und auch Tiere, um sie dem Amun-Tempel von Karnak zu stiften. Ebenso außergewöhnlich ist, dass diese Vielfalt an nicht-ägyptischen Pflanzen und Tieren mit botanischer und zoologischer Akribie auf den Reliefs dargestellt wurde. Im Gegensatz zu den üblichen Konventionen in der ägyptischen Kunst werden die Tiere, Pflanzen und Pflanzenteile oft nicht auf einer Standlinie, sondern frei auf der Fläche verteilt, repräsentiert. Sie sind für sich allein dargestellt, mehr im Sinne eines beschreibenden Katalogs als einer ökologischen oder funktionalen Einbindung in eine Szene. Insgesamt konnte Nathalie Beaux 86 % der dargestellten Pflanzenarten und 30 der 36 Vogeldarstellungen identifizieren. Es bleibt allerdings fraglich, ob alle Pflanzen und Tiere während eines Feldzuges gesammelt wurden oder ob sie nicht auch durch Handel oder als Geschenke in ägyptische Hände gelangten. Es lässt sich auch nicht sagen, ob diese nur vor Ort dokumentiert wurden, oder ob sie tatsächlich nach Ägypten gebracht und vielleicht sogar akklimatisiert wurden. So zeigen bereits die Darstellungen in der Punt-Halle der Hatschepsut in Deir el-Bahari, dass exotische Pflanzen und Tiere als Handelsgüter importiert wurden. Der Bericht der Erkundung von Punt zeigt eine Welt, deren Neuheiten spürbar überwunden werden. Dieses Interesse am Exotischen entsprang jedoch nicht einer rein wissenschaftlichen Neugier. Kai Widmaier denkt bei der Überführung dieser Landschaftsbeobachtungen in den monumentalen Kontext eines Tempels an Formen von Aneignung und Vereinnahmung der exotischen Fremde in eigenkulturelle Kontexte. Nathalie Beaux versteht dies als Form der symbolischen Grenzerweiterung, indem entweder die tatsächliche erreichte Fremde oder aber außergewöhnliche Elemente des Unbekannten in das Dekorationsprogramm der Tempel übernommen wurden. Errichtung des Osttempels Der sogenannte Osttempel liegt hinter dem Ach-menu an der Ostmauer der Tempelmauer. Wahrscheinlich ließ Thutmosis III. hier ein älteres Heiligtum der Hatschepsut entfernen oder verändern. Die kleine Anlage besteht hauptsächlich aus einem Götterschrein für Amun. Ursprünglich flankierten zwei Obelisken aus der Zeit Hatschepsuts das Heiligtum. Thutmosis III. ließ einen weiteren Obelisken in Auftrag geben, der aber erst unter Thutmosis IV. fertiggestellt wurde. Er wurde bereits in der Antike nach Rom gebracht, wo er seitdem auf der Piazza San Giovanni in Laterano steht und Obelisco Lateranense genannt wird. Erweiterung der Nord-Süd-Achse Eine zweite Tempelachse des Amuntempels beginnt vor dem 4. Pylonen und ist südwärts auf den Mut-Bezirk und den drei Kilometer weiter entfernten Luxor-Tempel ausgerichtet. Bereits Hatschepsut ließ diese Prachtstraße durch Festhöfe, Stationskapellen und den 8. Pylonen erweitern, jedoch erst Thutmosis III. konnte den Pylon vollenden. Bereits vorhandene Inschriften wurden dementsprechend seiner Regierung angepasst. Einen weiteren Torbereich, den 7. Pylon, ließ er zwischen dem 8. und 4. Pylon errichten. Eine gut erhaltene Reliefszene zeigt Thutmosis III. als Feldherrn beim Erschlagen der Feinde. Vor dem Eingangsbereich des Pylonen standen einst zwei kolossale Statuen, von denen die rechte Thutmosis III. und die linke den späteren König Ramses III. darstellten, die aber bis auf den Sockel und Reste des Fuß- und Beinbereichs zerstört sind. Unmittelbar davor standen zwei Obelisken Thutmosis'. Der obere Teil des Westlichen wurde bereits in der Antike nach Konstantinopel gebracht und befindet sich heute auf dem Istanbuler Hippodromplatz. Die Reste des unteren Teils des östlichen Obelisken liegen noch vor Ort. Zwischen dem 7. und 8. Pylon bauten die Architekten Thutmosis' III. im 30. bzw. 34. Regierungsjahr eine Stationskapelle, die als Ruhestation für das Kultbild des Amun während feierlicher Prozessionen diente. Die schlecht erhaltene Anlage war auf den Heiligen See hin ausgerichtet. Ein wichtiger Bestandteil des Tempelareals war der rechteckige, 200 × 177 Meter große Heilige See. In diesem führten die Priester Reinigungszeremonien vor dem Betreten des Tempels durch. Wahrscheinlich wurde das Wasserbecken unter Thutmosis umgebaut und neu gestaltet. Dieses symbolisiert den Urozean Nun, der zu Beginn der Zeit die gesamte Erdoberfläche bedeckte und aus dem bei der Schöpfung der Sonnengott auftauchte. Neubau des Ptah-Tempels Neben dem Reichsgott Amun besaß unter anderen auch Ptah, der Hauptgott der alten Reichsstadt Memphis, eine Kultstätte in Karnak. Zumindest seit Beginn der 18. Dynastie gab es ein kleines Heiligtum aus Lehmziegeln und mit Holzsäulen. Bereits nach dem ersten Feldzug im 23. Regierungsjahr veranlasste Thutmosis den Neubau dieses Gebäudes. Das neue Heiligtum aus Stein bestand aus drei verbundenen Räumen und einer kleinen Halle davor, deren Dach von zwei Säulen getragen wurde. Es wurde unter König Schabaka und in ptolemäischer Zeit erweitert. Bauprojekte in Theben-West Der Totentempel in Qurna Den ersten Totentempel baute Thutmosis III. 400 Meter südwestlich vom Beginn des Aufwegs des Totentempel des Mentuhotep II. und 300 Meter nordöstlich des Ramesseums in Theben-West beim heutigen Ort el-Qurna. Damit führte er bei der Wahl des Bauplatzes die von Amenophis I. begonnene Abfolge der Totentempel nach Südwesten fort, die sich in der Folge bis nach Medinet Habu fortsetzte. Wann genau Thutmosis mit dem Bau des Totentempels begann, ist nicht bekannt. Die früheste überlieferte Erwähnung befindet sich in der Roten Kapelle, auf einem schwarzen Sockelblock (Nr. 290). Damit ist belegt, dass der Bau schon in der Zeit der Mitregentschaft mit Hatschepsut errichtet wurde, denn die Rote Kapelle, ein Barkenraum der Hatschepsut, wurde im 16. Jahr der gemeinsamen Regierung errichtet. Darin wird der Totentempel des Thutmosis unter den Opfer liefernden Tempeln erwähnt. Demnach war er im 16. Regierungsjahr in einer ersten Fassung schon fertig und in Betrieb. Das Fehlen von Beinamen im Namensring der meisten Ziegelstempel in der Umfassungsmauer des ersten Bauabschnitts und die bescheidene Größe des Tempels sprechen ebenfalls für den Baubeginn in den ersten Regierungsjahren. Eine weitere datierte Erwähnung stammt aus dem 23. Regierungsjahr. In den Annalen des Annalensaals im Karnak-Tempel erwähnt Thutmosis III., dass das Siegesfest des dritten Asienfeldzuges im Totentempel gefeiert wurde. Die Beinamen des Königs auf den Ziegelstempeln deuten darauf hin, dass auch in der Zeit der Alleinregierung weiter am Tempel gebaut wurde. Das Hathorheiligtum wurde anscheinend unter dem Nachfolger Amenophis II. vollendet. Insbesondere in der Alleinregierung scheint der Tempel aus- und umgebaut worden sein. Nach Ricke, weil Thutmosis III. den Tempel neben seiner Riesenanlage in Deir el-Bahari nicht zu bescheiden erscheinen lassen wollte und da er aus den Mitteln der Asienfeldzüge den Kult erweitern konnte und für diese Entwicklung mehr Platz benötigte. Der Totentempel in Deir el-Bahari In den letzten zehn Regierungsjahren baute Thutmosis in Deir el-Bahari einen weiteren Totentempel, den Djeser-achet („Heilig (vom) Horizont“). Der Baubeginn fällt vielleicht mit der damnatio memoriae von Königin Hatschepsut und der damit verbundenen Zerstörung ihres Tempels zusammen. Bauleiter war der Tjati Rechmire. Erst 1961/62 entdeckte ein Team polnischer Archäologen unter der Leitung von Kazimierz Michałowski und später von Jadwiga Lipińska den Tempel und legte ihn in fünfjähriger Grabungsarbeit frei. Da Thutmosis bereits einen Totentempel besaß und auch das Ach-menu in Karnak als solches bezeichnet wird, ist die Funktionsbestimmung des Tempels erschwert. Nach Dieter Arnold handelt es sich nicht um einen königlichen Totentempel, „sondern eher um einen Ersatz für die kurz vorher durch die Hatschepsut-Verfolgung in Mitleidenschaft gezogenen Götterkapellen des Hatschepsut-Tempels, also vor allem für dessen Amun-Sanktuar und das Hathor-Heiligtum“. Demnach übernahm der Tempel die Funktion des Totentempels der Hatschepsut als letzte Station beim Talfest, bei dem in einer Götterprozession das Kultbild des Amun nach Deir el-Bahari getragen wurde, wodurch der Tempel Hatschepsuts an Bedeutung verlor. Nach Sergio Donadoni gebührte allerdings dem amtierenden König, was seit langem Thutmosis III. war, die Ehre, den Gott über Nacht in seinem Totentempel zu beherbergen. Nach Donadonis Interpretation wurde lediglich die letzte Etappe des Talfestes vom ersten Totentempel Hut-henket-anch in el-Qurna nach Djeser-achet in Deir el-Bahari verlegt. Das Grab im Tal der Könige Das Grab des Thutmosis liegt in einer engen Felsschlucht im südlichsten Wadi im Tal der Könige in Theben-West. Es trägt die Nummerierung KV34. Arbeiter Victor Lorets, des damaligen Generaldirektors der ägyptischen Antikenverwaltung, entdeckten es am 12. Februar 1898. Die geknickte Form des Grundrisses und die ovale Sargkammer spiegeln, wie alle frühen Gräber im Tal der Könige, die gekrümmten Räume des unterirdischen Jenseits wider. Über einen Zugang im Norden gelangt man in den ersten Korridor und weiter in einen „rhythmischen Wechsel von Treppen und Korridoren“ in eine erste Kammer mit einer zentralen Rampe, einen zweiten Korridor und über einen Schacht zur trapezförmigen oberen Pfeilerhalle, die in der Achse in einem Winkel von 72,64 Grad einen Knick macht und über eine Treppe zur Grabkammer hinabführt, die wiederum vier Nebenräume aufweist. Wie in allen Gräbern der 18. Dynastie blieben Korridore und Treppenräume ohne Dekoration. Die Wände der trapezförmigen Vorkammer zeigen einen Katalog mit 741 Gottheiten (ohne die feindlichen Wesen) aus dem Amduat, was ohne Vergleich ist. Die Figuren sind nur im Umriss gezeichnet und jeweils mit einem Stern und einem Weihrauchnapf sowie einem Zeichen für die Ba-Seele, ergänzt. Die 14,6 m × 8,5 m große Grabkammer ist rechteckig mit gerundeten Ecken und ähnelt einer Kartusche. Die Wände sind mit den zwölf Nachtstunden des Amduat geschmückt, deren Anordnung sich an den realen Himmelsrichtungen und den Vermerken im Text orientiert: Die Stunden 1–4 sind an der Westwand, 5 und 6 an der Südwand, 7 und 8 an der Nordwand und 9–12 an der Ostwand angebracht. Allerdings konnte dieses Ideal nicht immer eingehalten werden und aus Platzmangel mussten gewisse Umstellungen und Auslassungen vorgenommen werden. Die Figuren sind in schwarzen und roten Strichzeichnungen aufgemalt, die Texte in kursiven Hieroglyphen, der Hintergrund ist in einem hellen gelbroten Ton gehalten. Dadurch entsteht der Eindruck eines monumentalen Papyrus. Zwei Seiten der beiden Pfeiler beinhalten eine Kurzfassung des Amduat-Buches („Die Schrift der verborgenen Kammer“) als eine Art Inhaltsverzeichnis. Auf vier Seiten werden 76 Figuren der Sonnenlitanei dargestellt. Eine weitere Szene auf einem Pfeiler ist die Darstellung des Königs mit seiner Mutter Isis in einem Boot und von Familienangehörigen begleitet. Dazu findet sich flüchtig skizziert eine ungewöhnliche und bekannte Szene: Ein stilisierter Baum reicht dem König die Brust. Sie trägt die Beischrift: „er saugt an (der Brust) seiner Mutter Isis“. Da Thutmosis' Mutter tatsächlich Isis hieß, könnte man die Szene vordergründig als Rückkehr des Königs zu seiner Mutter und Verjüngung deuten, aber der Baum deutet auf eine Göttin, die sonst in den Beamtengräbern als Nut oder Hathor aus dem Baum herauswächst und dem Toten mit seinem vogelgestaltigen Ba kühles Wasser und Opferspeisen darbringt. Dass hier stattdessen Isis genannt wird, liegt sicher am Namen der irdischen Mutter, aber auch am Mythos, nach welchem der König die Rolle des Horus auf Erden repräsentiert und in den Schutz seiner göttlichen Mutter Isis zurückkehrt, die ihn umsorgt und beschützt. Der königliche Sarkophag bildet die Form einer Kartusche und ist noch im Grab zu besichtigen. Die Mumie wurde 1881 in der Cachette von Deir el-Bahari (TT320) entdeckt, eingehüllt in ein Leichentuch mit dem Text der Sonnenlitanei. Der kleine Tempel in Medinet Habu In Medinet Habu, dem südlichsten Bereich der thebanischen Nekropole, liegt ein religiös bedeutendes Heiligtum des Ur-Amun. Es galt als Grab des Ur-Amun Kematef, an dem sich Amun von Karnak alle zehn Tage regenerierte. Über einem kleinen Bau der 11. Dynastie wurde in der Zeit der Koregenz mit Hatschepsut ein Heiligtum mit dem Namen Djeser-Set (ḏsr-st) errichtet. Dieses setzte sich zusammen aus dem eigentlichen Sanktuar mit sechs Räumen und einer davorgestellten Barkenkapelle mit Pfeilerumgang. Zwei Räume wurden erst während der Alleinherrschaft des Thutmosis dekoriert: Raum L, ein Vorraum, der zu zwei Kulträumen führte und in dem eine Doppelstatue aus schwarzem Granit stand, die Thutmosis III. und Amun zeigte und Raum M, der von Uvo Hölscher als Sanktuar des Königs bezeichnet wird. Letzterer hatte keine Verbindung zu den anderen Räumen des Tempels. Die Dekoration zeigt Thutmosis III. vor dem Opfertisch sitzend und von Inmutef-Priestern verehrt. Bedeutendstes Vorhaben Thutmosis' war die Vergrößerung des Barkenheiligtums, der der von Hatschepsut geplante Säulensaal zum Opfer fiel. Der neue Schrein war genau gleich breit wie ihr Vorgängerbau, aber doppelt so lang. Bei der Errichtung des Totentempels Ramses III. wurde der kleine Tempel aus der 18. Dynastie in dessen Umwallung miteinbezogen. Gedenktempel des Thutmosis II. In der Nähe von Medinet Habu, nördlich des kleinen Tempels, errichtete Thutmosis III. einen weiteren Tempel. Dieser war dem Totenkult für Thutmosis II. gewidmet. Ob es sich um ein Millionenjahrhaus handelt, ist unsicher, da keine Inschrift mit einer solchen Bezeichnung gefunden wurde. Wie Luc Gabolde allerdings aufzeigte, ist das Millionenjahrhaus des Tutanchamun fast eine exakte Kopie dieses Tempels, womit man annehmen könnte, dass es sich hierbei tatsächlich um ein Millionenjahrhaus des Thutmosis II. handeln könnte. Der Tempel wurde mit zwei verschiedenen Arten von Kalkstein in zwei Phasen gebaut. Ein Kalksteinblock der Hatschepsut könnte darauf hindeuten, dass der Tempel in einer ersten Phase während der Herrschaft Hatschepsuts errichtet wurde. Möglicherweise wurde er kurz danach verlassen. Wann sich Thutmosis III. dafür entschied, den Tempel zum Andenken an seinen Vater neu zu errichten, ist schwer zu sagen. Sicherlich wurde Thutmosis II. ein wichtiges Element der Königsideologie im Zuge der Entehrung Hatschepsuts. Bautätigkeit in Heliopolis Der Sonnenkultort in Heliopolis (Iunu) war das Zentrum des ägyptischen Re-Kultes und des Pfeilerkultes, vor allem der Obelisken. Wegen der modernen Feldnutzung und Überbauung gehört es allerdings zu den am wenigsten erforschten großen Stätten in Ägypten. Thutmosis III. ordnete in Heliopolis den Neubau eines Pylonen an, vor dem am dritten Sed-Fest zwei etwa 21 Meter hohe Obelisken aufgestellt wurden. Diese wurden im Jahr 13/12 v. Chr. nach Alexandria gebracht und im Caesareum aufgestellt, wo sie als die „Nadeln der Kleopatra“ galten. Der eine stürzte im Jahr 1301 um und wurde 1877 nach London gebracht, der andere blieb aufrecht und wurde 1880 nach New York transportiert. Im 47. Regierungsjahr erhielt der Sonnentempel eine neue Umfassungsmauer. Weitere Bautätigkeit außerhalb des thebanischen Raumes Die Bautätigkeit Thutmosis' außerhalb Thebens ist eine wichtige Quelle seines königlichen Bauprogramms und der Geschichte seiner Regentschaft. Theben war nicht Hauptstadt des Landes im modernen Sinne. Heliopolis kam Theben in seiner religiösen Bedeutung gleich. Die königliche Residenz war vermutlich nicht fest an einen Ort gebunden und der König reiste durch das Land. Sicherlich residierte er in Armant, wie die Inschrift des Iamu-nedjeh bezeugt. Es ist belegt, dass ein Harim-Palast in Gurob existierte. Der Sohn des Königs wurde in Memphis großgezogen. Eine Art kriegerischer Widerstand erfolgte wahrscheinlich von Peru-nefer aus. Die wichtigsten Bautätigkeiten Thutmosis III. (von Süden nach Norden) sind: Gebel Barkal: Siegesstele; Beginn der Errichtung eines festen Außenpostens Gebel Doscha: Felskapelle Semna: Tempel zu Ehren des nubischen Gottes Dedwen und des als göttlich verehrten Sesostris III Sai: Festung; Kapelle und Statue durch Nehi errichtet Kumma: Tempel für Chnum, Sesostris III. und Dedwen Uronarti: Ziegeltempel für Dedwen und Month in der Festung des Mittleren Reiches Buhen: Fertigstellung des Südtempels für Horus von Buhen; Siegesstele Ellesija: Felskapelle (1966 abgetragen und im Museo Egizio in Turin wieder aufgebaut) Qasr Ibrim: Schrein des Nehi, Vizekönigs von Kusch Aniba: Türpfosten von Residenz des Nehi Amada: Tempel für Amun-Re und Re-Harachte aus der Zeit der Mitregentschaft von Amenophis’ II. Quban: Tempel ad-Dakka: Vorgängerbau des ptolemäisch-römischen Tempels von Hatschepsut und Thutmosis III. Elephantine: Tempel mit Umgang der Hatschepsut und des Thutmosis III. Kom Ombo: Tor Elkab: Tempel; Barkenstation mit Pfeilerumgang Esna at-Tud: Schrein; Erweiterung des Tempels Armant: Pylon des Monthtempels mit afrikanischem Beutezug und Erlegung des Nashorns Medamud: Neubau des Monthtempels Koptos: Harendotes-Tempel Dendera Abydos Heliopolis: Torbau und Umfassungsmauer; zwei Obelisken (siehe Abschnitt Heliopolis) Buto: Stele Auaris: Nach Ansicht von Manfred Bietak entstand hier in der frühen Thutmosidenzeit, vermutlich in der frühen Regierungszeit Thutmosis' III., ein Palastbezirk. Zusätzlich nennt die Inschrift des Minmose in Medamut Tempelbautätigkeiten in Assiut, Atfih, Sakkara, Letopolis, Gizeh, Sachebu bei Memphis, Kom el-Hisn, Busiris, Bubastis, Tell el-Balamun und Byblos. Entwicklung der Königsplastik Schon lange wurde erkannt, dass die Statuen Thutmosis’ III. den König nicht immer mit demselben Gesicht zeigen. Diese Besonderheit wurde oft mit der Theorie erklärt, dass zwei unterschiedliche Trends die königliche Kunst dieser Zeit charakterisieren: ein offizieller, idealisierender Stil, der auf älteren königlichen Porträts basiert und ein zweiter Stil, der auf der Tradition naturalistischer Porträts basiert, sogar auf den sehr realistischen Reserveköpfen und Holzskulpturen des Alten Reiches. Der in den 1960er-Jahren entdeckte Totentempel in Deir el-Bahari brachte neue Funde zutage, die zeigen, dass in den späten Regierungsjahren eine ikonografische Verschiebung beim königlichen Porträt eintrat. Somit muss die Vielfalt der königlichen Plastik zumindest teilweise aus chronologischer Sicht erklärt werden – als Entwicklungsprozess. Jadwiga Lipińska legte die Basis für die Untersuchung der Entwicklung von der Skulptur Thutmosis’ III. und Dimitri Laboury setzte die Studien fort. Die Mehrheit der pharaonischen Skulpturen war dazu bestimmt, in einem Tempel zu stehen. Als einziges Kriterium zur Datierung eignet sich somit der architektonische Kontext. Als königliches Porträt sind die Statuen der Könige zur gleichen Zeit das Bild eines Mannes und das Bild einer Institution, das Bild des Staates und des Königtums. So darf man die politische und ideologische Dimension des altägyptischen Königsporträts nicht vernachlässigen. Nach Dimitri Laboury zeigen die Phasen der königlichen Ikonografie eine vollkommene Übereinstimmung mit den politischen Phasen der Herrschaft des Thutmosis, sodass die Entwicklung der Plastik im Wesentlichen von politischen Faktoren abhängt. Regierungsjahr 1 bis 7 Zu Beginn seiner Regierung wurde der junge König als Erwachsener bei der Erfüllung seiner rituellen Pflichten dargestellt und stand nicht im Schatten seiner Tante. Während dieser Zeit wurden sicherlich Statuen von ihm angefertigt, aber keine kann nach architektonischen oder epigrafischen Kriterien in diese datiert werden. Dennoch hilft die Analyse von zweidimensionalen Darstellungen zur Spezifizierung der Ikonografie weiter. Die Figuren zeigen genau die gleiche Physiognomie wie bei Thutmosis I. und Thutmosis II., mit gerader Nase und einem gut geöffneten Augen unter fast horizontalen Augenbrauen. Seit Tefnin gezeigt hat, dass auch die ersten Porträts von Hatschepsut als Pharao dieses Gesicht darstellen, ist klar, dass es eine ikonografische Kontinuität von Thutmosis I. bis zum Beginn der Mitregierung zwischen seinem Enkel und seiner Tochter gab. Die Darstellungen der ersten sieben Jahre sind somit auch gleich wie jene der letzten Zwölf. Auf dieser stilistischen Grundlage könnten einige Skulpturen in diese Zeit datieren, insbesondere die Statue RT 14/6/24/11 im Ägyptischen Museum Kairo, die aus Karnak stammt. Regierungsjahr 7 bis 21 Hatschepsut ließ bei der zweidimensionalen Dekoration der Monumente ihrer Regierungszeit immer auch Platz für Darstellungen ihres Neffen. Dass auch in dieser Zeit Statuen des jungen Königs hergestellt wurden, ist in Qasr Ibrim durch eine Gruppe belegt, die im Hochrelief aus der Rückwand des dritten Schreins gemeißelt wurde und den König neben seiner regierenden Tante zeigt. Leider ist diese Gruppe total entstellt und unbrauchbar, um die Physiognomie des Königs während dieser Zeit zu definieren. Darüber hinaus gibt es keine architektonischen oder epigrafischen Zeugnisse, die es uns ermöglichen, eine Statue des jungen Thutmosis während Hatschepsuts Herrschaft zu identifizieren. Anhand von stilistischen Vergleichen mit den Porträts der Königin Hatschepsut wurden allerdings solche Statuen identifiziert, da sie mindestens während der Koregenz eine gemeinsame Ikonografie teilten. Einige beschriftete Statuen Thutmosis’ III. gleichen Porträts der Hatschepsut. Dazu gehören: eine Sphinx aus Quarzit heute im Metropolitan Museum of Art in New York (MMA 08.202.6) eine Kalkstein-Statue im Metropolitan Museum of Art (MMA 29.3.2) eine Statue aus Karnak heute im Ägyptischen Museum Kairo (CG 578) ein unbeschrifteter Kopf in Berlin (Berlin 3441) Diese Porträts und zweidimensionale Darstellungen zeigen, dass das offizielle Bildnis des Königs stark von seiner Tante beeinflusst war, nicht aber ohne leicht abweichende Details. Regierungsjahr 22 bis 42 Zu Beginn der Alleinherrschaft errichtete Thutmosis III. das Ach-menu in Karnak. Auch wenn dieses wichtige Monument heute stark beschädigt ist, sind viele seiner ursprünglichen Statuen noch erhalten. Einige wurden in der Cachette von Karnak gefunden (CG 42053, CG 4270-1, Luxor J 2 und möglicherweise stammen auch CG 42060 und CG 42066 aus dem Ach-menu), andere entdeckte Auguste Mariette während der Freilegung des Areals Mitte des 19. Jahrhunderts (CG 576, CG 577, CG 594, eine Statue am Eingang zum Open-Air-Museum in Karnak und möglicherweise auch CG 633). Diese Skulpturen zeigen eine sehr homogene Ikonografie, die im Kontrast mit den königlichen Porträts nach dem Jahr 42 steht. Das Gesicht hat eine abgerundete Form mit einer sehr feinen Modellierung. Diese Rundung ist insbesondere durch die geringere Bedeutung des Kinns bestimmt, das mehr in die Plastizität der Wangen integriert ist. Die Augen erscheinen lang gestreckt, mit gekrümmten Linien gezeichnet, ohne Winkel auf dem Oberlid, unter hohen und gekrümmten Augenbrauen. Die Nase stellt ein markantes Adlerprofil mit einer abgerundeten Spitze dar. Einige Forscher stellten Ähnlichkeiten der Ach-menu-Statuen von Thutmosis III. mit den späten Porträts von Hatschepsut fest. Selbst wenn die physiognomischen Details fast identisch sind, gibt es geringfügige Unterschiede: Der hervorstehende und niedrige Wangenknochen vom Gesicht Thutmosis’ III. bestimmt eine horizontale Eintiefung unter dem Auge, die bei Hatschepsut nie auftritt. Das Kinn des Königs hat im Profil eine S-Form, im Gegensatz zum geraden Gesicht seiner Tante und die Nasenspitze ist fleischig und abgerundet, anstatt dünn und spitz. Die Ach-menu-Statuen wurden häufig als reale Darstellung des Gesichts des Königs angesehen, vor allem CG 42053. Der Vergleich mit der Mumie stützt diese Idee. Selbst wenn sich der König am Anfang der unabhängigen Herrschaft am ikonografischen Modell seiner Vorgängerin orientierte, dürften die beschriebenen Änderungen von der tatsächlichen Physiognomie Thutmosis’ III. inspiriert worden sein, da diese nicht in der Plastik früherer Könige belegt sind. Nach Dimitri Laboury zeigt sich auch hier eine Übersetzung der Politik in die Plastik: Nach einer langen Zeit der Koregenz beschloss Thutmosis III. einerseits seine eigene Herrscherpersönlichkeit durchzusetzen, andererseits wahrte er sich in der Kontinuität seiner Vorgängerin, eine Garantie für seine Legitimität. So folgte er dem Vorbild der Hatschepsut, aber nicht ohne Einführung eigener Innovationen. Regierungsjahr 42 bis 54 Wie Jadwiga Lipińska gezeigt hat, unterscheiden sich die Darstellungen des Königs (sowohl in der Skulptur als auch im Relief), die im Totentempel in Deir el Bahari gefunden wurden, in einigen Merkmalen von den zahlreichen bereits bekannten Porträts des Königs und scheinen einen eigenen Typ zu bilden. Die auffälligsten Merkmale dieses neu ausgegrabenen Typs sind: die Form der Nase, deren Profil fast vollkommen gerade ist; anstelle von hervorstehend und gekrümmt die Augen und Augenbrauen, die im Wesentlichen horizontal sind, in fast geraden Linien gezogen, mit fast einem Winkel auf dem Oberlid die Grundstruktur des Gesichts ist mehr abgewinkelt, vor allem wegen der Wichtigkeit des Kinns Die gesamte Zusammensetzung des Gesichts basiert nicht mehr auf der gebogenen, sondern auf der geraden Linie; die ebene Fläche ersetzt die abgerundete und das sphärische Volumen ist geändert in ein kubisches. Die Statuen machen den Eindruck von einer Art Archaismus und sind weniger subtil als beispielsweise jene aus dem Ach-menu. Diese Veränderung zeigt sich auch in den Reliefs von Monumenten, die nach dem Jahr 42 errichtet wurden. Diese Ikonografie war inspiriert, wenn nicht sogar kopiert, von den modellierten Gesichtern von Thutmosis I. und Thutmosis II. Sie scheint chronologisch mit dem Beginn der Verfolgung von Hatschepsuts Andenken im Jahr 42 zusammenzufallen. Durch die Verehrung der direkten königlichen Vorfahren und der Ablehnung von Hatschepsuts Königtum hat Thutmosis III. vermutlich den Versuch unternommen, eine ununterbrochene dynastische Kontinuität von Vater zu Sohn zu etablieren, die bei seinem Großvater beginnt. Dies setzt sich in den Darstellungen seines Sohnes Amenophis II. fort. Mögliches Aussehen Da Königsdarstellungen sowohl realistische als auch idealistische Tendenzen aufweisen, ist eine Rekonstruktion des Aussehens schwierig. So lassen sich im Porträt Thutmosis’ III. Veränderungen in physiognomischen Details wie der Nasenform und die Wiederbelebung der Ikonographie seiner Vorgänger ausmachen. Dennoch bleiben einige physiognomische Merkmale absolut konstant: Das S-förmig abgewinkelte Kinn, die hervorgehobene Kinnbacke und die Position seiner Wangenknochen. Der Vergleich mit der Mumie, die diese Details ebenso aufweist, legt eine Inspiration aus der realen Erscheinung des Modells nahe. Auch bei der physischen Erscheinung ist es schwierig, zwischen Realität und athletischem Ideal eines Königs zu unterscheiden. Dennoch weisen die Statuen und die Mumie darauf hin, dass er zumindest für antike Verhältnisse ziemlich groß und eine recht imposante Erscheinung gewesen war. Typische Merkmale der Statuen sind breite Brust und Schultern, kurzer Oberkörper, flache und schmale Taille, muskulöse Arme und Beine sowie breite Füße und Hände. Seine Körpergröße wird auf 1,71 m geschätzt, was größer ist als alle anderen Könige der 18. Dynastie mit Ausnahme von Amenophis I. Historische Bedeutung Die historische Bedeutung oder geschichtliche „Größe“ von altägyptischen Königen zu messen, gestaltet sich schwierig. Dies ergibt sich schon aus dem beschränkten Zugang zur ägyptischen Königsgeschichte, etwa im Gegensatz zur Geschichte römischer oder mittelalterlicher Kaiser. Nach altägyptischer Vorstellung war der König Träger und Bewahrer der Geschichte, des Immer-schon-Dagewesenen. Er agierte in einer festen Rolle, „die er zur Bewahrung und Erweiterung der geschaffenen Welt bekleiden muß und an die er kultisch und religiös gebunden ist“. Texte und Darstellungen geben nicht die konkrete historische Umsetzung wieder, sondern entsprechen dem Typus des idealen Königs. Eine erste historiographische Darstellung unternahm der Priester Manetho mit der Aegyptiaca etwa zur Zeit des Ptolemaios II. Er stützte sich auf offizielle Königslisten oder Annalen. Seine Eckdaten bilden das Grundgerüst der ägyptischen Chronologie. Allerdings ist die Aegyptiaca nur aus sekundären Schriften erhalten, die zwischen dem 1. und 4. Jahrhundert n. Chr. geschrieben wurden und diese zitieren. Nach dem Untergang der altägyptischen Kultur und dem Verlust der Kenntnis der Hieroglyphenschrift seit der Spätantike waren lange Zeit die Ägyptenbeschreibungen Herodots, Diodors und Strabons maßgebend. Gerade diese Darstellungen sind aber oft verzerrt oder falsch. Demnach folgten auf die Begründer des ägyptischen Staates Hunderte unbedeutende Herrscher. Erst seit der Entzifferung der Hieroglyphen 1822 konnten die ägyptischen Denkmäler als Primärquellen erschlossen und so die ägyptische Geschichte rekonstruiert werden. Besonders im 20. Jahrhundert hat sich das Wissen über die ägyptischen Könige deutlich vermehrt. Die wichtigsten Quellen zur 18. Dynastie wurden seit 1906 in den „Urkunden der 18. Dynastie“ gesammelt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden vor allem die militärischen Leistungen des Thutmosis III. hervorgehoben. So urteilte James H. Breasted in seiner „Geschichte Ägyptens“ 1905: Auch nach der Ansicht von Madeleine Dalle Monica 1991 kann Thutmosis III. „zu Recht als größter Pharao der gesamten ägyptischen Geschichte betrachtet werden, so zahlreich und glänzend waren seine Eroberungen“. Gegen dieses Bild argumentierte Wolfgang Helck, dass Hatschepsut und der junge Thutmosis III. nicht viel mehr als Marionetten von hohen Beamten gewesen seien. Gegenüber der ideologisch manipulierten „Wahrheit“ der Texte, in der nur die Könige die Handelnden sind, agierten die tatsächlichen Kräfte, die die Entscheidungen trafen, im Hintergrund. Für Thomas Schneider ist der individuelle Anteil eines Königs an historischen Entscheidungen nur schwer in Rechnung zu stellen. Petra Andrássy hält Helcks Ansicht im Allgemeinen für übertrieben. Das Bild eines Königs war demnach je nach Begabung mal mehr und mal weniger von der Realität entfernt. Absolut-chronologische Datierung Der Bericht über die Schlacht bei Megiddo in den Annalen enthält ein Monddatum, das von großer Bedeutung für die absolute Chronologie des ägyptischen Neuen Reiches ist. Es ist eines der seltenen astronomischen Daten, die sich mit einem genauen Regierungsdatum eines ägyptischen Königs in Verbindung bringen lassen: Ein weiteres Monddatum aus der Regierungszeit Thutmosis’ III. datiert eineinhalb Jahre später. Auf einem Denkstein wird an die feierliche Grundsteinlegung des Festtempels in Karnak erinnert: Infolgedessen fand im Regierungsjahr 24, am 30. VI., die Gründung des Festtempels in Karnak statt, und zwar am Tag vor dem Beginn des neuen Mondmonats. Die infrage kommenden Daten für den Neumond lassen sich astronomisch berechnen. Daraus ergeben sich die möglichen Datenpaare 16. Mai 1482/24. Februar 1480, 9. Mai 1457/18. Februar 1455 und 3. Mai 1432/12. Februar 1430 (nach julianischem Kalender). Durch ein weiteres Monddatum aus der Regierungszeit Ramses’ II. und der Synchronismen mit Vorderasien lassen sich diese Daten weiter eingrenzen, weshalb nach Ansicht der meisten Ägyptologen nur das mittlere Datenpaar möglich ist. Somit fand die Schlacht bei Megiddo also 1457 v. Chr. statt, wenn man sie auf den 21. Tag festlegt, am 26. April nach unserem gregorianischen Kalender, beziehungsweise am 9. Mai nach julianischem Kalender. Lediglich Casperson geht vom Jahr 1504 v. Chr. aus. Name und Titulatur Titulatur bis zum Jahr 21 Aufgrund des Alters von Thutmosis III. bei der Thronbesteigung ist anzunehmen, dass ihm Vorlesepriester oder vielleicht Hatschepsut bei der Wahl der Titulatur halfen, auch wenn er selbst später darauf besteht, dass der Gott Amun-Re diese auswählte. Eine Inschrift in Semna überliefert die frühe Titulatur: Horusname: K3-nḫt-ḫˁj-m-W3st (Starker Stier, der in Theben erscheint) Nebtiname: W3ḥ-nsjt (Mit beständigem Königtum) Goldname: Dsr-ḫˁw (Mit heiligen Erscheinungen) Thronname: Mn-ḫpr-Rˁ (Der von dauernder Gestalt ist der Re (auf Erden)) Eigenname: Ḏḥwtj msj(w) (Thot ist geboren) Wie in der 18. Dynastie üblich, übernahm Thutmosis III. Elemente aus der Titulatur seiner unmittelbaren Vorgänger und herausragender Könige früherer Zeiten, um die Kontinuität der Herrscherabfolge zu wahren. Beispielsweise könnte der Thronname Men-cheper Re (Mn-ḫpr-Rˁ – „Der von dauernder Gestalt ist der Re (auf Erden)“) auf Kamoses Thronnamen Wadj-cheper-Re (W3ḏ-ḫpr-Rˁ – „Mit gedeihender Gestalt, ein Re“) und den seines Vaters, Thutmosis II., Aa-cheper-en-Re (ˁ3-ḫpr-n-Rˁ – „Mit großer Gestalt, der zu Re gehört“) zurückgehen. Eine weitere Version des Thronnamens, Men-cheper-Ka-Re (Mn-ḫpr-k3-Rˁ – „Der von dauernder Gestalt ist ein Ka des Re“), wurde meistens in der Zeit der Koregenz verwendet. Er könnte den Thronnamen von Sesostris I. Cheper-Ka-Re (Ḫpr-k3-Rˁ – „Erscheinungsform der Ka-Kraft des Re“) oder seines Großvaters Thutmosis I. (ˁ3-ḫpr-k3-Rˁ) in Erinnerung rufen. Vielleicht erfolgte die Hinzufügung des Nomens k3 (Ka) auch einfach aus Rücksicht auf jenen der Hatschepsut, Maat-Ka-Re (M3ˁ.t-k3-Rˁ – „Gerechtigkeit und Lebenskraft des Re“). Titulatur ab dem Jahr 22 Als Thutmosis im 22. Regierungsjahr Alleinherrscher wurde, fügte er seiner früheren Titulatur einige neue Phrasen hinzu, vielleicht um den neuen Zustand zu betonen. Die Hinzufügung der Phrase sḫm-pḥtj (Sechem-pehti) zum Goldnamen, der sich nun Dsr-ḫˁw sḫm-pḥtj (Djeser-chau sechem-pehti – „Der mit heiligen Erscheinungen und mächtiger Kraft“) liest, erinnert an Ahmoses Thronnamen (Nb-pḥtj-Rˁ – Neb-pehti-Ra), Teile des ersten Nebtinamens Thutmosis I. (Ḫˁ-m-nsrt-ˁ3-pḥtj – Cha-em-neseret-aa-pehti) und den Horusnamen seines Vaters (K3-nḫt-wsr-pḥtj – Ka-nechet-user-pehti). Thutmosis III. verfasste auch neue Epitheta für bestimmte Anlässe, beispielsweise für Jubiläumsfeste. Der Horusname mrj-Rˁ-q3-ḥḏt (meri-Ra qa hedjet – „Geliebter des Re, mit hoher Weißer Krone“) erscheint auf verschiedenen Obelisken aus Karnak und Heliopolis. Natürlich ist das Element mrj-Rˁ („Geliebter des (Sonnengottes) Re“) auf einem Monument mit solarer Bedeutung selbsterklärend. Zur Übersetzung des Thronnamens Insbesondere die Thronnamen haben in der Ägyptologie ganz unterschiedliche Interpretationen hervorgerufen. Gerade aus der 18. und 19. Dynastie sind einige aus keilschriftlichen Quellen bekannt, die dazu herangezogen werden. Hannes Buchberger hat in seiner Dissertation über das Lexem ḫpr (cheper) die Königsnamen einer einschlägigen Untersuchung unterzogen, die grundlegende Neuerungen zum Verständnis der Königsnamen gebracht hat. Diesem folgte auch Thomas Schneider in seinen Übersetzungen. ḫpr (cheper) beziehungsweise im Plural ḫpr(.w) (cheperu) wird keilschriftlich auf zwei verschiedene Weisen geschrieben: als ḫpir und als ḫuˀu/ḫurri. Umstritten ist, wie viele Lexeme sich hinter diesen Graphien verbergen beziehungsweise ob unterschiedliche Numeri desselben Lexems vorliegen. Buchberger geht davon aus, dass nur ein Lexem, nämlich ḫpr.w vorliegt und dessen Numeri durch unterschiedliche Graphien dargestellt werden können. Die Bedeutung von ḫpr.w ist (etwa) „Gestalt“. Der letzte Konsonant des Gottesnamens Rˁ(.w) (Re) wurde teilweise aus keilschriftlichen, koptischen und griechischen Belegen erschlossen. Lange Zeit wurde das Element Rˁ(.w) mit einem Genitiv übersetzt, also Mn-ḫpr(.w)-Rˁ(.w) als „Dauernd ist die Gestalt des Re / Dauernd an Gestalt des Re“. Buchberger kommt in den Untersuchungen hinsichtlich des Akzentes und den vergleichbaren Konstruktionen, deren syntagmatischer Akzent überliefert ist, zu dem Schluss: „Die vokalisiert überlieferten Thronnamen verweisen den Genitivanschluss von Rˁ ins Reich der Fabel.“ Hannes Buchberger macht den folgenden Gegenvorschlag: Es handelt sich um einen Adjektivalsatz vom Typ nfr Ḥr (Nefer-Her) „Schön ist das Gesicht“, dessen adjektivisches Prädikat genusvariabel gemacht wird und so zu einem „adjektivierten Adjektivalsatz“ wird: nfr(.t)-Ḥr „schöngesichtig(e)“. Dieses adjektivische Syntagma kann nun auch als Ganzes substantiviert werden: Nfr-Ḥr „Der Schöngesichtige“. In diesem Sinne ist der vordere Teil von Mn-ḫpr(.w)-Rˁ(.w) als „Der von dauernder Gestalt“ zu deuten und Rˁ(.w) als Apposition: „ein Re“ (d. h. eine Verkörperung des Sonnengottes). Buchberger geht davon aus, dass die Thronnamen Aussagen über den König treffen und nicht über den Gott, so hat er Nominalsätze wie „Der von dauernder Gestalt ist Re“ ausgeschlossen. Francis Breyer plädiert jedoch trotzdem für die Möglichkeit eines Nominalsatzes: „Der von dauernder Gestalt ist der Re (auf Erden)“. Diesen Ansatz verwendet auch Ronald J. Leprohon: „The established one is the manifestation of Re“. Dieser Auffassung folgen die Übersetzungen in diesem Artikel. Literatur Allgemeiner Überblick Eric H. Cline, David O’Connor (Hrsg.): Thutmose III. A new Biography. University of Michigan Press, Ann Arbor (MI) 2006, ISBN 0-472-11467-0(online). Gabriele Höber-Kamel: Thutmosis III. Leben und Werk eines bedeutenden Königs. In: Kemet. Band 10, Nr. 3, Berlin 2001, , S. 5–15. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Parc%20del%20Laberint%20d%E2%80%99Horta
Parc del Laberint d’Horta
Der [] (katalanisch für Park des Labyrinths von Horta, spanisch ) im Stadtbezirk Horta-Guinardó ist der älteste erhaltene Park in Barcelona. Das Gelände, das am Hang des Bergrückens der liegt, umfasst einen klassizistischen Garten des 18. Jahrhunderts, der um Elemente eines romantischen Gartens aus dem 19. Jahrhundert erweitert wurde. Seinen Namen verdankt der Park einem zentralen Hecken-Irrgarten, der zu den kunstvollsten der wenigen noch erhaltenen alten Gartenlabyrinthe in Europa gezählt werden kann. Die Parklandschaft und ihre Umgebung Der Park liegt auf einem Ausläufer des am Südosthang des Bergrückens der , die Barcelona von der Ebene des im Hinterland trennt. Das Areal wird nordwestlich von der Befestigungsruine des , nordöstlich vom Tal des , südöstlich vom und südwestlich vom Tal des begrenzt. Der Park gehört heute zum Stadtviertel , das bis 1904 eine selbstständige Gemeinde war. Die zahlreichen Quellen ermöglichten jahrhundertelang eine landwirtschaftliche Nutzung. Obst- und Gemüsegärten sowie der Weinanbau prägten die Hänge des . Im 18. Jahrhundert entwickelten sich der Ort und seine Umgebung nach und nach zu einem Sommersitz adeliger und wohlhabender Bürger der nahen Stadt. Das Grundstück, auf dem sich der Park befindet, umfasst eine Gesamtfläche von 54,07 Hektar, die sich folgendermaßen aufteilen: 1,92 Hektar nimmt der Bereich zwischen der und dem Palais ein; hier befinden sich heute das (das olympische Radrennstadion) und eine kleine öffentliche Grünfläche mit Spielplatz und Café, 7,36 Hektar beansprucht der , 44,79 Hektar sind nicht überformt; diese weitaus größte Fläche, deren Bewuchs aus Macchie besteht, schließt sich oberhalb des Parkareals an und bedeckt den Hang des Collserola bis zur Straße nach (BV-1415). Der Hang überwindet im Bereich des Gartens einen Höhenunterschied von etwas mehr als vierzig Metern, das Palais am Südrand liegt am tiefsten, das Bassin mit dem Wasservorrat am höchsten Punkt des . Die mittlere Höhe beträgt etwa 180 Meter. Geschichte Gründung Das Land, auf dem sich der Park befindet, gehörte im 14. Jahrhundert dem Stift von . 1377 wurde es von Jaume de Vallseca erworben und gelangte über die Familien und 1776 in den Besitz von , der Mutter des späteren Parkgründers (1740–1820). Dieser begann im Jahre 1791 am Hang oberhalb des Sommersitzes der Familie mit dem Bau des heute ältesten Parkteils. Es entstand ein klassizistischer Garten, entworfen von unter Mitwirkung des aus Rovio im Tessin stammenden Architekten und Stuckateurs (1760–1837). Die Ausführung der Arbeiten oblag den einheimischen Baumeistern und sowie dem französischen Gartenbaumeister . Der Bau dieses Hauptteils des Parks soll 150.000 katalanische Pfund gekostet haben. Die Arbeiten wurden 1799 abgeschlossen. verließ Barcelona 1808. Erweiterungen Neben punktuellen Ergänzungen zu verschiedenen Zeiten lassen sich drei Phasen der Parkerweiterung unterscheiden. Zwischen 1814 und 1825 führten Joan Antoni Desvalls selbst und dessen Sohn einen größeren Ausbau durch. Diese Phase endete mit dem unerwarteten Tod von , der nur fünf Jahre nach seinem Vater starb. Über Art und Umfang dieser ersten Erweiterung gibt es kaum Erkenntnisse, möglicherweise umfasste sie die Anlage des romantischen Gartens. Die zweite Phase von 1853 bis 1855 wurde vom Enkel des Parkgründers, , initiiert und unter Leitung des Architekten durchgeführt. Sie ist durch Rechnungen und Verträge gut dokumentiert. Neben Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur des Parks – Wege, Mauern, Brunnen und Wasserleitungen – entstand in diesem Zeitraum der oberhalb des Labyrinths gelegene romantische Kanal. Im Jahr 1880 ließ der siebte Marquis dann noch einen Hausgarten in Nachbarschaft zum Palais anlegen. Der Park hatte damit seine endgültige Ausdehnung erreicht. Empfänge und Veranstaltungen Im Laufe seiner Geschichte war der Park Schauplatz mehrerer königlicher Besuche und Soireen. So besichtigten am 10. Oktober 1802 der spanische König Karl IV. und seine Familie den Park. An der großen Treppe, die zum Pavillon am oberen Ende des Parks emporführt, erinnert eine Marmortafel an diesen Besuch. Am 20. März 1828 war Ferdinand VII., Sohn Karls IV. und ab 1813 König von Spanien, Gast der Desvalls. Zum Gedenken an diesen Empfang wurden zwei Löwen-Skulpturen am Eingangstor des Parks unmittelbar hinter dem Palais aufgestellt. Ein besonderes Ereignis in der Geschichte des Parks war die Aufführung von Goethes Iphigenie auf Tauris, der ersten dieses Stückes in katalanischer Sprache in der Übersetzung von und der Inszenierung von , dessen Ensemble das Schauspiel aufführte. Die vom Symbolismus und der literarischen Variante des katalanischen beeinflusste Inszenierung fügte sich aufgrund des klassischen Hintergrunds gut in die Szenerie des Parks ein; das Werk war zur gleichen Zeit wie der Garten entstanden. Als Bühne diente der Ariadne-Tempel auf der Aussichtsterrasse; die sich wandelnde natürliche Beleuchtung ersetzte den Kulissenwechsel. Eine weitere Theateraufführung unter freiem Himmel fand am 23. Oktober 1908 anlässlich des Besuchs von Alfons XIII. statt. Gezeigt wurden Szenen aus Sommernachtstraum in der Übersetzung von , wiederum inszeniert von . Als Bühne diente dieses Mal der Platz mit der Homer-Büste im Wäldchen östlich des Labyrinths; die königlichen Gäste saßen auf einer eigens für diesen Zweck errichteten Tribüne. Eine Säule gegenüber dem Eingang zum Labyrinth trägt eine Tafel zur Erinnerung an diesen Besuch. 1929, zwei Jahre vor der Gründung der Zweiten Spanischen Republik, besuchte Alfons XIII. noch einmal den Park anlässlich der Feiern zum (‚Jahrhundertfeier der Romantik‘), bei denen das Orchester des ein Konzert gab. In den Jahren 1914/1915 drehte die Produktionsfirma drei Kurzfilme im Park, bei denen Gual Regie führte: Fridolín, basierend auf der Ballade Der Gang nach dem Eisenhammer von Schiller, (‚Der Leidensweg eines Helden‘) nach dem Stück (‚Die beiden französischen Feldwebel‘) und (‚Die weißen Haare‘) nach einem Text von . Übergang in Stadtbesitz Bis 1968 befand sich der Park im Besitz der Familie . Am 17. Januar 1968 erwarb die Stadtverwaltung Barcelona das Gelände von im Tausch gegen Grundstücke im Stadtteil Pedralbes. Der geschätzte Wert betrug siebzig Millionen Peseten. Im Jahre 1970 begann unter Leitung von eine umfangreiche Restaurierung des Parks, um die in den zurückliegenden zwei Jahren der Übergangszeit durch Vernachlässigung und Vandalismus entstandenen erheblichen Schäden zu beseitigen. Der Pflanzenbestand wurde ergänzt, Skulpturen, Balustraden, Treppen, Brücken und andere Parkbauten wurden instand gesetzt. Der Schwerpunkt der Arbeiten lag auf der Sanierung der Wasserspiele und Bassins, des Kanals und des Bewässerungssystems. Ferner wurden eine elektrische Beleuchtung im Park installiert, ein Eingangstor errichtet und die öffentliche Grünfläche vor dem Garteneingang angelegt. Am 19. März 1971 wurde der Park für das allgemeine Publikum geöffnet, bereits an diesem Tag kamen etwa 50.000 Gäste. Die vielen Besucher verursachten neue Schäden im empfindlichen Ensemble des ursprünglich als Privatgarten konzipierten Parks. Das gesamte Areal wurde daher 1994 unter der Leitung der Architektin Patrizia Falcone mit Mitteln der Europäischen Union für annähernd achtzig Millionen Peseten einer erneuten gründlichen Restaurierung unterzogen. Der Schwerpunkt der Arbeiten lag dieses Mal auf dem romantischen Garten, der sich in einem desolaten Zustand befand. Es wurden 41.000 Kletterpflanzen, 22.000 Stauden, 9.000 Büsche, 6.000 Wasserpflanzen und 410 Bäume gepflanzt. Die Wiedereröffnung der Gesamtanlage erfolgte am 25. September 1994 in Gegenwart des damaligen Bürgermeisters . Heute ist der ein Garten-Museum. Seit 1971 steht er als (‚Städtisches Erbe‘) unter Denkmalschutz. Die Zahl der Besucher, die sich gleichzeitig im Park aufhalten dürfen, wurde auf 750 beschränkt, um neuen Zerstörungen vorzubeugen. Etwa 150.000 Personen besuchen den Park jährlich. Der Park und seine Bestandteile Das Palais Am Parkeingang steht der , das ehemalige Palais der Familie Desvalls. Er wurde in verschiedenen Abschnitten im 18. und 19. Jahrhundert um einen mittelalterlichen Turm herum errichtet und ausgebaut, der das Dach des Hauptgebäudes um acht Meter überragt. Der heutige Zustand des Gebäudes geht vermutlich größtenteils auf das Jahr 1850 zurück. Das Palais weist einen unregelmäßigen Grundriss auf. Das Hauptgebäude besteht aus drei Stockwerken, zwei doppelgeschossige Anbauten bilden zusammen einen Halbkreis. Stilistisch handelt es sich um einen eklektizistischen Bau mit neoarabischen und neogotischen Elementen. Die Schauseite wird von einem großen Eingangsportal mit Hufeisenbogen dominiert, das zu beiden Seiten von zwei, einen Balkon tragenden Säulen flankiert wird. Darüber befindet sich ein Fries mit dem Wappen der Familie . Die Fresken in orientalischer Anmutung, die die Fassade schmückten, sind nicht erhalten. Ursprünglich diente das Palais nicht als Wohnhaus, sondern als Sommersitz – die Familie bewohnte das in Hafennähe. Erst später wurde es zum Hauptwohnsitz bis Anfang der 1970er Jahre. Das Palais kann aufgrund seines Zustands derzeit nicht besichtigt werden. Ein sanierter Seitenflügel beherbergt seit 1993 ein Lehrinstitut des Gartenbauamtes, das , sowie eine dazugehörende öffentliche Fachbibliothek. Das älteste Bauwerk auf dem Grundstück ist der mittelalterliche Wach- und Verteidigungsturm, der (‚Souveräner Turm‘) genannt wird und früher auch als (‚Oberer Turm‘), (‚Turm von Vallseca‘) oder (‚Turm von Llupià‘) bezeichnet wurde. Der runde Turm ist etwa 19 Meter hoch und hat einen Durchmesser von 4,50 Metern, die Außenmauern sind 1,30 Meter stark. Der ursprüngliche Zugang in das Turminnere befindet sich auf einer Höhe von acht Metern über dem Bodenniveau und war nur über eine Leiter erreichbar. Die Plattform ist von einem Zinnenkranz umgeben. Das genaue Alter dieser Befestigungsanlage ist unbekannt, gesichert ist ihre Existenz im 14. Jahrhundert – zu der Zeit, als das Grundstück erwarb. Möglicherweise ließ selbst, der einer einflussreichen Familie entstammte, den Turm als Zuflucht errichten. Der klassizistische Garten Der (‚klassizistischer Garten‘) bildet den Kernbereich des Parks und ist zugleich sein ältester Teil (dem entspricht als kunstgeschichtliche Epoche des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts der deutsche Klassizismus). In Struktur und Ausstattung ist dieser Bereich weitgehend originalgetreu erhalten. 1791 wurde mit den Erdarbeiten zur Anlage der verschiedenen Ebenen begonnen, die 1799 fertiggestellt waren. Die Gestaltung dieses Gartenbereichs stand, bedingt durch das Wirken Domenico Baguttis, unter dem Einfluss italienischer Gartenkunst. Im Skulpturenprogramm, das auf die altgriechische und altrömische Sagenwelt anspielt, dürften sich die Ideen Desvalls’ widerspiegeln. Es lassen sich sechs Ebenen unterscheiden (vom Niveau des Palais in aufsteigender Reihenfolge): der Buchsbaumgarten der Blumengarten das Labyrinth die Aussichtsterrasse der romantische Kanal der Pavillon mit dem rückwärtigen Bassin Der Buchsbaumgarten Der (‚Buchsbaumgarten‘), unmittelbar an der Ostseite des Palais gelegen, ist der kleinste der Teilgärten. Er hat die Form eines langgezogenen Rechtecks, das von drei Seiten durch hohe Mauern eingefasst ist, was ihm einen privaten Charakter in der Art eines verleiht. Die gesamte Fläche dieses Gartens ist mit halbhohen Buchsbaumhecken in Formschnitt bepflanzt, die an den Ecken als aufgesetzte Halbkugeln gestaltet sind. Zwei kleine runde Springbrunnen schmücken die Mittelachse. Am südlichen Ende des Gartens verbindet eine doppelläufige Treppe das Gartenparterre mit einer durch Balustraden gesicherten Terrasse. Am nördlichen Ende führt ein großes schmiedeeisernes Tor zum Hauptbereich des Parks. Dahinter öffnet sich ein halbkreisförmiger Platz, (‚Platz der Löwen‘) oder auch (‚Platz der acht Säulen‘) genannt – von hier aus führen fünf Wege fächerartig in den Park, deren Einmündungen durch insgesamt acht Säulen markiert werden. Zu beiden Seiten des Tores sind die Löwenstatuen postiert, die an den Besuch von König Ferdinand VII. im Jahr 1828 erinnern. An der hohen Mauer sind an dieser Stelle vier Reliefs aus weißem Marmor angebracht, je zwei innen und außen zu beiden Seiten des Tores. Die Reliefs auf der Innenseite stellen Uranos und die Geburt von Eros dar, sowie die Verteilung der menschlichen Rassen über die Welt durch Demeter. Die Reliefs der Außenseite zeigen zwei Entführungsszenen: die von Amphitrite durch Poseidon und von Europa durch Zeus. Ursprünglich war dieser heute abgeschlossene Bereich der Hauptzugang zum Park. Vom Palais kommend, konnte der Buchsbaumgarten hin zum großen Tor durchquert werden, um in den zu gelangen. Der seitlich am Palais vorbeiführende Zugang wurde 1971 geschaffen, dem Jahr der Öffnung des Parks für die Allgemeinheit. Der Blumengarten Der (‚Blumengarten‘) schließt sich oberhalb an den Platz der Löwen an und steigt zum Labyrinth hin deutlich an. Er hat die Form eines unregelmäßigen Rechtecks und wird diagonal von einem Hauptweg durchzogen, der auf den (‚Platz der Sonnenuhr‘) führt. Von der Sonnenuhr ist noch eine drei Meter hohe Säule erhalten, der Schattenzeiger und die Ziffernmarkierungen auf dem Boden fehlen. Ebenfalls an diesem Weg, der von Trauerzypressen gesäumt wird, liegt ein Wasserbecken mit Goldfischen, dessen Überlauf die Form des Kopfes des Meeresgotts Triton hat, ergänzt durch zwei mit Muscheln besetzte Schmuckvasen. Hier befinden sich auch einige bemerkenswerte Exemplare des Blauen Eukalyptus, des Westlichen Erdbeerbaums, des Echten Lorbeerbaums und ein (kleiner) Küstenmammutbaum. Das Labyrinth Das 1792 angelegte (‚Labyrinth‘) bildet den Mittelpunkt des Areals. Der Irrgarten hat eine annähernd quadratische, leicht trapezförmig verzogene Grundfläche mit einer Größe von etwa 45 × 48 Metern. Die Heckenwände umfassen eine Länge von 750 Metern; sie bestehen aus Italienischer Zypresse in Formschnitt und erreichen eine Höhe von zweieinhalb Metern. Der Eingang an der südwestlichen Ecke wird durch ein Heckentor aus Zypressen gebildet und von einem Relief geschmückt, das Ariadne bei der Übergabe des Garnknäuels an Theseus zeigt. Am Sockel des Reliefs ist zu lesen: Im Zentrum des Labyrinths befindet sich der kleine kreisförmige Zielplatz, von dem acht Wege durch ebenso viele Heckenbögen sternförmig ausgehen. In seiner Mitte steht eine Skulptur des einen Pfeil aus dem Köcher ziehenden Eros, der der linke Arm und die rechte Hand fehlen. Steinbänke laden zum Verweilen ein. Früher war dieser Platz laubenartig gestaltet, Spaliere stützten die wesentlich höheren Heckenwände. Einige der abzweigenden Wege bilden verwinkelte Sackgassen, die sich zum Versteckspiel eignen oder als heimliche Treffpunkte verstanden werden können. Der Ausgang des Irrgartens führt durch ein Heckentor auf einen annähernd kreisförmigen Platz, der fast vollständig von einem runden Bassin eingenommen wird, aus dessen Mitte eine kleine Fontäne aufsteigt. Ein weiterer Heckenbogen überspannt einen Schein-Eingang und ergänzt die Symmetrie der Platzgestaltung. Unter der benachbarten doppelläufigen Treppe, die zum nächsthöheren Gartenniveau führt, befindet sich eine Grotte mit einer Figur der Nymphe Echo, zu deren Füßen die stark verwitterte Inschrift zu lesen ist: Die Aussichtsterrasse und die Tempel Die dritte Ebene besteht aus einer sechzig Meter langen Terrasse, der (‚Aussichtsterrasse‘), deren Symmetrie sich auf das Zentrum des Heckenlabyrinths bezieht. Von ihrer Mitte führt eine Treppe zum Kanal und weiter zum Pavillon empor. Zu beiden Seiten des Aufgangs liegen zwei kleine achteckige Wasserbecken, jedes von zwei klassizistischen Büsten flankiert. An der Mauer hinter den Wasserbecken befinden sich zwei Reliefs, das eine zeigt Deukalion und Pyrrha, das andere zwei schwebende weibliche Figuren, deren Bedeutung unklar ist. Auf den zu kreisförmigen Plätzen erweiterten Enden der Terrasse stehen zwei Rundtempel gleicher Gestalt. Bei den markanten, durch ein dreistufiges Fundament leicht erhöhten Bauwerken tragen acht Säulen toskanischer Ordnung eine Kuppel. Der westliche Tempel enthält ein Standbild der Danaë, der östliche eines der Ariadne. Die Skulpturen aus weißem Carrara-Marmor stehen auf runden Sockeln von etwa einem Meter Höhe, überwölbt vom künstlichen Himmel des Kuppelinneren. Die Figur der Ariadne hält in der rechten Hand einen Becher, die linke umfasst einen Krug – beide Attribute spielen auf das Unglück Ariadnes an, die, nachdem Theseus sie auf der Insel Naxos zurückgelassen hatte, in Erfüllung einer Weissagung zu einer Verbindung mit Dionysos, dem Gott des Weines, gezwungen war. Die Figur der Danaë hielt in ihrer rechten Hand eine Münze (fehlt heute), neben ihr steht ein praller Geldsack, beides Sinnbilder für den Goldregen, in den sich Zeus verwandelte, um sich mit der eingekerkerten Danaë zu vereinigen. Die Figuren der Danaë (mit dem Geldbeutel) und der Ariadne (mit dem Weinkrug) können auch als Allegorien auf Handel und Weinanbau verstanden werden, die lange Zeit sowohl zum Reichtum der Region als auch zum Wohlstand der Familie Desvalls beigetragen hatten. Der romantische Kanal Der (‚romantischer Kanal‘) wurde 1853 nach Entwürfen von angelegt und ist, obwohl zwischen Labyrinth und Pavillon gelegen, kein Bestandteil des klassizistischen Gartens der ersten Bauphase, sondern zeitlich und stilistisch dem romantischen Garten zuzurechnen. Er verläuft in west-östlicher Richtung in einer langgestreckten Schlangenlinie. Seine Länge beträgt etwa 120, seine Breite 3,50 Meter; der Geländeeinschnitt erreicht eine Tiefe von bis zu drei Metern. Der vom Labyrinth über die Aussichtsterrasse zum Pavillon hinaufführende Hauptweg überquert den Kanal auf zwei parallel verlaufenden Brücken. Ursprünglich war das Gewässer mit Booten befahrbar, heute wird es von Schwänen und Enten bevölkert. Die üppige Vegetation zu beiden Seiten sowie die kleinen Springbrunnen mit ihren sich kreuzenden Wasserstrahlen verleihen dieser Gartenpartie eine malerische Atmosphäre. Nahe dem westlichen Ende des Kanals erhebt sich ein kleiner Aussichtshügel. An seinem östlichen Ende befindet sich eine kleine künstliche Insel, die (‚Insel der Liebe‘) genannt wird. Sie konnte entweder mit dem Boot oder über eine drehbare Eisenbrücke erreicht werden, die noch funktionstüchtig ist. Auf der Insel stand ursprünglich ein kleines, strohgedecktes Holzhaus in rustikaler Ausführung. Über eine Außentreppe des zweistöckigen Gebäudes gelangte der Besucher in eine mit bunten Glasfenstern verzierte Kammer. Der Pavillon und das Bassin Eine breite, von Schmuckvasen und Büsten gesäumte Treppe führt zur obersten Ebene des Gartens. Hier befindet sich ein elegantes kleines Gebäude, der (‚klassizistischer Pavillon‘). An seine Rückseite grenzt ein großes Bassin, das (‚großes Wasserbecken‘). Der symmetrische Bau wurde im klassizistischen Stil von entworfen, er verfügt über zwei seitliche Türen mit Portiken. Die zwei einander gegenüberliegenden Fenster des zentralen Raumes lassen sich öffnen, eines zum Garten, das andere zum Wasserbassin hin, was das Gebäude in eine überdachte Terrasse verwandelt. Von hier reicht der Blick über den Park hinweg bis zur Stadt und zum Meer. Das Dach wird von einer Figurengruppe gekrönt, die Kunst und die Natur darstellend, begleitet von zwei für das Konzept des Gartens programmatischen Inschriften am Giebel in lateinischer Sprache: Das Gebäude wird von vier Reliefs geschmückt, deren Bildinhalte sich auf den Erbauer des klassizistischen Parks, , beziehen. Zwei Reliefs an der Außenseite sind den Künsten und Wissenschaften gewidmet, denen der Marquis zeitlebens verpflichtet war, zwei im Gebäudeinneren zeigen Szenen mit biographischem Bezug zu seinem Leben: den Beginn seiner politischen Tätigkeit im Rat der Stadt und die Übernahme eines militärischen Amtes in Kriegszeiten. An der achteckigen Decke des Innenraums befindet sich ein mehrteiliger Fries, der die neun Musen sowie Mnemosyne (Mutter der neun Musen) und Apoll (Beschützer der Musen) darstellt, ergänzt um die vier Tugenden (‚Beständigkeit‘), (‚Klugheit‘), (‚Umsicht‘) und (‚Mäßigung‘). Zwei weitere Inschriften an den Türen des Pavillons sind nicht mehr erhalten. Das rückwärtige Speicherbecken hat eine Größe von etwa 15×15 bei einer Tiefe von bis zu sieben Metern. Es sammelt das Regenwasser und das Wasser einer natürlichen Quelle. Der Wasservorrat dient der Bewässerung der Gärten, er wird von Goldfischen bevölkert. An der dem Pavillon gegenüberliegenden Seite befindet sich ein kleiner Brunnen mit wasserspeienden Delfinen. Hier war folgende heute nicht mehr erhaltene Inschrift angebracht: Den bergseitigen Abschluss des klassizistischen Gartens bildet ein Springbrunnen und ein mit Efeu überwachsener Steinbogen, unter dem sich eine Skulptur der Quellnymphe Egeria befindet. Die aufgestützt liegende Figur stammt aus dem Jahr 1804 und ist ebenfalls ein Werk Baguttis. Rückseitig schließt sich ein Halbrund mit einer Pergola an, dahinter stehen hohe Steineichen, Aleppo-Kiefern und Pinien, die den Übergang des Parks in den Waldbereich des Berghangs und damit die Grenze des gestalteten Gartenraums markieren. Das Wäldchen Östlich grenzt an das Labyrinth ein vom Hauptbereich des klassizistischen Gartens abgesondertes Areal an. Dieses Gebiet wird (‚Das Wäldchen‘), (‚Moosgarten‘) oder (‚Kleines Labyrinth‘) genannt. Es bildet ein Dreieck, das von einem unregelmäßigen Wegenetz durchzogen wird und dem Besucher den Eindruck gewachsener Natur vermitteln soll. Die Vegetation dominiert mit Steineichen und den Boden bedeckendem Efeu. In der nordwestlichen Ecke befindet sich eine Grotte mit einem kleinen Teich. Aus einer Vertiefung der überwachsenen Rückwand blickt der steinerne Kopf eines Ungeheuers hervor, eine Skulptur, die den Minotaurus darstellt. Die Szenerie liegt zwar in unmittelbarer Nachbarschaft zum Zypressenlabyrinth, ist von dort jedoch nicht einsehbar. Alle Wege des Wäldchens treffen auf einen kleinen Platz, der von einer Büste des Dichters Homer geschmückt wird. Der romantische Garten Über die Entstehung des (‚romantischer Garten‘) gibt es kaum Dokumente. Er kann wohl als das Werk des Parkgründers und seines Sohnes angesehen und seine Entstehungszeit somit auf den Zeitraum zwischen 1814 und 1825 datiert werden. Möglicherweise entstand der romantische Garten aber auch erst zwischen 1853 und 1855, veranlasst durch , dem Enkel des Marquis, der schon den romantischen Kanal anlegen ließ und von dem bekannt ist, dass er das Interesse seines Großvaters für Kunst und Natur teilte. Der Gartenentwurf folgte dem Vorbild romantisch-pittoresker Gärten, die sich Anfang des 19. Jahrhunderts in Frankreich großer Beliebtheit erfreuten. Die zeitweise Nutzung von Teilen des Areals im 20. Jahrhundert als Baumschule und als Tennisplatz hatte die Gartenausstattung allerdings fast vollständig zerstört. Die Sanierungen des Parks 1970 und 1994 orientierten sich weitgehend am historischen Erscheinungsbild und versuchten den ursprünglichen Zustand nachzubilden. Der romantische Garten bildet einen langgezogenen Streifen, der die Talsenke des einnimmt, die sich westlich an den klassizistischen Garten anschließt. Dieser Gartenbereich, der aus einer Abfolge von Parterres besteht, ist durchsetzt von Lorbeerbäumen, Aleppo-Kiefern und Steineichen. Sie geben dem Areal einen schattigen und kühlen Charakter, der durch blaublühende Blumen, vorwiegend Schmucklilien, verstärkt wird. Sommer-Linden, Eiben, Flaumeichen, Platanen und einige Götterbäume runden das Bild ab. Am nördlichen Ende des Bereichs, an der am weitesten vom Palais entfernten Stelle, befindet sich die Kaskade, ein künstlicher Felsen, über dessen moosbewachsene Steine mehrere kleine Wasserfälle fließen. Von hier führt ein Bach talwärts, der zunächst in der Mitte zwischen den Wegen und weiter unten am Rande des Gartens in einer kanalartigen Einfassung verläuft. Zwei Teiche, die auf vorhandene Gewässer zurückgehen, sind üppig mit Wasserpflanzen bewachsen. In der Mitte des romantischen Gartens befinden sich Reste der (‚Hütte des Bauern‘), in der früher eine lebensgroße Figur eines Bauern oder Gärtners –  genannt – stand; er war in katalanische Landestracht gekleidet und hielt einen Schlüsselbund in seiner Hand. Am südlichen Ende des romantischen Gartens, an der tiefsten Stelle des Parks, befindet sich der (‚falscher Friedhof‘), ein kleiner Scheinfriedhof, von dem nur noch wenige Überbleibsel erkennbar sind. An der hohen Mauer, die die Senke auf der Talseite begrenzt, befanden sich Grabplatten, auf dem davorliegenden Platz sollen zwischen den Zypressen mehrere Sarkophage gestanden haben. Ein weiteres Memento Mori ist die in die Mauer eingefügte (‚Einsiedelei des Mönchs‘), mit der das Motiv des Eremiten aufgenommen wird. Durch ein Fenster war es früher möglich, den Blick in das Innere zu richten, wo er auf eine lebensgroße Gestalt in Mönchskutte traf – (‚Pater Felix‘) genannt. Die Mönchspuppe befand sich in sitzender Haltung hinter einem Tisch mit Buch und menschlichem Schädel. Über einen einfachen Mechanismus, der vermutlich verborgen von außen ausgelöst wurde, war dieser Automat in der Lage, den Besucher zu begrüßen und – nach anderen Schilderungen – durch Kopfbewegungen sogar ihre Fragen zu beantworten. Nicht mehr erhalten sind eine Rieseneiche, in deren teilweise hohlem Stamm ein Tisch und eine Sitzbank Platz fanden, sowie ein unterirdischer Gang. Ebenfalls verschwunden ist ein kleiner orientalischer Garten, der sich oberhalb der Talsenke in der Nähe des Palais befand. Während der Wiederherstellungsarbeiten des Parks 1970 wurde dieses Areal in einen kleinen Platz mit geometrischen Parterres, einem runden Springbrunnen und Sitzbänken verwandelt. Einziges Zeugnis der ehemaligen Gestaltung ist ein chinesisches Tor. Der Hausgarten Als (‚Hausgarten‘) wird das östlich an den Buchsbaumgarten angrenzende Areal bezeichnet, das – wie der Buchsbaumgarten – durch eine Mauer vom restlichen Park getrennt ist. Der Bereich wird auch als (‚Magnoliengarten‘), beziehungsweise als (‚Kameliengarten‘) bezeichnet. Er ist um 1880 anstelle der dort ursprünglich stehenden Gewächshäuser entstanden. Ihn prägen sowohl Elemente der französischen Gartenbaukunst des späten 19. Jahrhunderts als auch solche des englischen Landschaftsgartens unter mediterranem Einfluss. Geschwungene Wege gliedern das Areal in verschieden große Bereiche. Das Erscheinungsbild des Hausgartens wird durch Magnolien und Kamelien sowie durch einige eindrucksvolle Großbäume geprägt, darunter eine Himalaya-Zeder, eine Tamariske und eine Kanarische Dattelpalme. Figürlicher Schmuck oder Staffagebauten fehlen, lediglich drei in Eibe ausgeführte Formbüsche stellen eine Hand, einen Vogel und einen Stern dar – sie sind neuere Ergänzungen des Gartens. Symbolik des Parks Hauptstück des ist der klassizistische Garten – in ihm spiegeln sich die Ideen des Gartengründers und seines Architekten. Die langjährige Arbeit hat die Gartenanlage zu einem italienischen Garten in Spanien werden lassen. Insbesondere die Treppenanlagen und der reichhaltige skulpturale Schmuck lassen den italienischen Einfluss erkennen, ebenso der kleine Buchsbaumgarten, der durch seine unmittelbare Nachbarschaft zum Palais den Charakter eines erhält. Dem Besucher, der der ursprünglich intendierten Hauptwegelinie folgt – vom Palais durch den Buchsbaumgarten, über den Platz der Löwen zum Labyrinth gelangend, von dort die Aussichtsterrasse querend hinauf zum Pavillon –, stellen sich die verschiedenen Ebenen des Parks als eine Abfolge von Variationen des Liebesthemas dar: Am Anfang (dem Ursprung) stehen die beiden Reliefs im Buchsbaumgarten: die Geburt von Eros, dem Gott der Liebe, und die Verteilung der Menschen auf der Welt durch Demeter, der Göttin der Fruchtbarkeit. Die zweite Ebene bildet der unmittelbar benachbarte Platz der Löwen mit den Reliefs, die die Entführungsszenen der Amphitrite durch Poseidon und der Europa durch Zeus zeigen. Der Hecken-Irrgarten als dritte, zentrale Ebene umfasst das Relief des Liebespaars Ariadne und Theseus und die Statue des Eros. Am Ausgang des Labyrinths, in der Grotte unter der Treppe, mahnt die Figur der Nymphe Echo an die Tragik der Liebe; ebenso die Figuren der Danaë und der Ariadne – beide Gefangene, die eine im Kerker, die andere auf der Insel zurückgelassen. Vom Pavillon als fünfter und letzter Ebene lassen sich klassizistischer Garten und Labyrinth von einem erhöhten Standpunkt überblicken und ermöglichen die Reflexion über die Liebe – eine Haltung, die durch die Figur der weisen Nymphe Egeria verstärkt wird. Die labyrinthische Thematik wird im Figurenprogramm des klassizistischen Gartens immer wieder aufgenommen. Sie durchzieht das ursprüngliche Konzept und findet im eindrucksvollen Hecken-Irrgarten ihren Höhepunkt. und interpretieren das Labyrinth dabei auf ihre Weise neu. Nicht der Minotaurus befindet sich im Zentrum dieses Irrgartens – er verbleibt außerhalb in einer eigenen Grotte –, vielmehr ist es Eros, der gefangen ist und nur Sichtbeziehungen zu den Figuren der Ariadne und Danaë unterhält, durch die Heckenwände aber immer von ihnen getrennt bleiben muss. Der zentrale Hecken-Irrgarten ist ohne Vorbild – eine gartengeschichtlich vergleichbar bedeutsame Anlage findet sich im Park der (1720/21). Dieses ursprünglich runde Heckenlabyrinth weist ein Aussichtstürmchen im Ziel auf. Ob davon Kenntnis hatte, ist nicht bekannt. Anregungen mögen und auch erhalten haben vom Wirbellabyrinth in (1725), das acht vom Mittelpunkt ausstrahlende Wegearme aufweist. Die Zahl Acht findet sich vielfältig im wieder. Auch ein Gartenlabyrinth in den Gärten des , das hufeisenförmig um ein zentrales Wasserbecken angeordnet war (Mitte des 17. Jahrhunderts, zerstört) könnte Ideengeber gewesen sein – in den Gärten des existiert mit dem (1644/45) ein Pavillon mit benachbartem Wasserbecken, ähnlich dem . Die Hervorhebung des labyrinthischen Themas hinderten und nicht, den in zeitgenössischen Gärten üblichen Bildprogrammen zu folgen. So schmückt eine Figur der Egeria (1780) auch den Schönen Brunnen in den Gärten des Schlosses Schönbrunn. Dem umfangreichen Bildprogramm des klassizistischen Gartens steht eine auf typische Elemente der Romantik beschränkte Ausstattung des später angefügten romantischen Gartens gegenüber. Während das Bildprogramm des klassizistischen Gartens Vorbilder im Neuplatonismus hat, wurde im Bereich des romantischen Kanals mit der Liebesinsel eine „Insel der Glückseligen“ geschaffen – das ehemalige strohgedeckte Haus könnte durch Parkstaffagen in Ermenonville inspiriert worden sein. Im Gegensatz dazu findet sich in der romantischen Gartenerweiterung im südlichen Parkteil ausschließlich das christliche Motiv wieder, besonders verdeutlicht durch die Einsiedelei. Dieser programmatische Wechsel beschreibt eine Wende von einer die Hoffnung auf die menschliche Vernunft setzenden Weltsicht hin zu einer sentimentalen, die Vergänglichkeit betonenden Stimmung: Während der klassizistische Garten die formende Kraft des Menschen über die Natur feiert, erinnert der romantische Garten in seiner düsteren Urwüchsigkeit an die dem Menschen überlegene Macht der Natur. Wissenswertes Der Hausgarten und der Buchsbaumgarten können nur im Rahmen von Führungen besichtigt werden, gleiches gilt für den klassizistischen Pavillon. Eine Besichtigung des Palais ist bis zum Abschluss der Sanierung nicht möglich. Die Springbrunnen und die Kaskade können aufgrund von Wassersparmaßnahmen abgestellt sein. Im Jahr 2006 war der Schauplatz von Aufnahmen zur Literaturverfilmung Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders von Tom Tykwer. Einzelnachweise Literatur Carmen Añón Feliú: Respecter la force du temps. Deux labyrinthes espagnols, du XVIIIe siècle à nos jours. In: Hervé Brunon (Hrsg.): Le jardin comme labyrinthe du monde. Musée du Louvre, Paris 2008, ISBN 978-2-84050-602-7, S. 171–195. Weblinks Informationen zum Park vom Ajuntament de Barcelona (katalanisch) Informationen zum Park vom Ajuntament de Barcelona (spanisch) Informationen zum Park vom Ajuntament de Barcelona (englisch) Website des Centre de Formació del Laberint d’Horta (katalanisch, spanisch) Horta-Guinardó Parkanlage in Spanien Urbaner Freiraum in Barcelona Klassizistisches Bauwerk in Spanien Barcelona Erbaut in den 1790er Jahren Garten in Spanien Parkanlage in Europa Garten in Europa
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https://de.wikipedia.org/wiki/St.%20Martin%20%28Memmingen%29
St. Martin (Memmingen)
Die denkmalgeschützte Stadtpfarrkirche Sankt Martin in Memmingen ist eine der ältesten Kirchen Oberschwabens. Die Kirche ist ein Wahrzeichen der Stadt. Sie befindet sich am Rande der nordwestlichen Altstadt, im alten evangelischen Kirchenbezirk vor dem alten aufgelassenen Friedhof an einer Anhebung des Memminger Achtals. Ihr Turm ist weithin sichtbar und mit etwa 65 Metern das höchste Gebäude der Stadt. Ihre Geschichte lässt sich bis ins 9. Jahrhundert zurückverfolgen. Sie war ein Schauplatz der Memminger Reformation im 16. Jahrhundert, die nach Oberschwaben und ins Allgäu ausstrahlte. Reformator war der Prediger Christoph Schappeler. Die in ihrer heutigen Form um 1325 begonnene und um 1500 vollendete dreischiffige Basilika ist Hauptkirche des evangelisch-lutherischen Kirchenbezirkes Memmingen, regelmäßiger Predigtort des Memminger Dekans und das Zentrum einer der vier evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden der Stadt. Die von den Bürgern finanzierte Basilika war nach ihrer Vollendung die größte gotische Stadtkirche zwischen Bodensee und Lech. Sie beherbergt viele Kunstwerke, darunter das über 500 Jahre alte Chorgestühl, das zu den besten spätgotischen Schnitzwerken in Süddeutschland zählt und als größter Kunstschatz der Stadt gilt. Geschichte Bereits aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. sind am Standort der Kirche Siedlungsspuren nachgewiesen. Bei Grabungen im Jahr 1912 wurden unter dem Gebäude Reste eines römischen Burgus entdeckt. Der erste Kirchenbau an dieser Stelle kann nicht genau datiert werden. Forscher gehen davon aus, dass er um das Jahr 800 errichtet wurde. Ob St. Martin oder die Frauenkirche in der Südstadt Königshofkirche war, ist ungeklärt. Die bis dahin welfische Kirche wurde 1178/1179 staufisch. Im Jahre 1214 übergab Friedrich II. das Patronat an die Antoniter, die in Memmingen ihre erste Niederlassung auf deutschem Boden gründeten. Die Kirche wurde in den nächsten Jahren, beschleunigt durch das Wachstum und den Reichtum der Stadt, zur Stadtpfarrkirche. Ende des 14. Jahrhunderts entstanden der Chor und der Turm. Danach folgten weitere Innenumbauten bis in das 20. Jahrhundert. 1562 endete das Patronat der Antoniter und die Kirche wurde endgültig der Stadt übergeben. Die Finanzierung aller Erweiterungen und Umbauten wurde von den Bürgern der Stadt übernommen. Die Antoniter (auch Antonier genannt) bauten gegenüber dem östlichen Vorzeichen die Kinderlehrkirche als Klosterkirche und beschränkten sich auf diese und ihre Präzeptorei. Welfenbasilika Im 10. Jahrhundert kam der Ort Memmingen an die Welfen. Dadurch muss St. Martin welfische Eigenkirche geworden sein. Es ist davon auszugehen, dass eine starke Bautätigkeit eingesetzt hat. Anhand von Chroniken kann die Baugeschichte dieser Zeit nachvollzogen werden. Demnach wurde St. Martin 926 erbaut, 1077 erweitert und 1176 umgestaltet. Diese Daten sind allerdings nicht durch Funde belegbar. Die Umgestaltung von 1176 passt gut in die Stadtentwicklungsgeschichte, so dass man davon ausgehen kann, dass dieser Zeitpunkt richtig ist. Aufgrund verschiedener Unregelmäßigkeiten innerhalb des heutigen Baukörpers ist anzunehmen, dass auf eine frühere Bebauung Rücksicht genommen wurde. So ist das östliche Bogenjoch um 1,20 Meter breiter als die anderen Joche, das sechste differiert um 80 Zentimeter von der üblichen Bogenspannweite. Das Südostportal steht nicht mit dem gotischen Arkadenrhythmus in Einklang, so dass man beim Eintreten auf einen Pfeiler blickt. Vermutlich wurde eine gotische Vorhalle an den romanischen Baukörper angefügt. Forscher gehen davon aus, dass der Vorgängerbau eine Basilika mit westlichem Turmpaar war. Das Querschiff hatte demnach im ersten Joch seinen Standort, während sich die Türme im sechsten Joch befanden. Zwischen den Türmen und dem Querschiff hätten nach den damaligen Größenverhältnissen sechs romanische Joche Platz gefunden. Eine Rekonstruktion der Basilika auf dieser Basis würde mit anderen welfischen Bauten zusammenpassen. 1216 wurde St. Martin Wallfahrtskirche. Vom nahen Benningen wurde eine Blutreliquie in die Kirche überführt. Bereits 1446 wurde der Status als Altarsakrament durch den Augsburger Bischof und Kardinal Peter von Schaumberg entzogen, nachdem die Hostie allmählich zerfallen war. Er gestattete lediglich die Verehrung als Reliquie. In der Reformation soll die Bluthostie an unbekannter Stelle vermauert worden sein. Ausbau zur gotischen Basilika Um 1325 war die Kirche für die stark angewachsene Zahl von Bürgern der Stadt zu klein geworden, so dass erste Erweiterungen durchgeführt wurden. Der Turm sowie ein Chor wurden angebaut. Von diesem hochgotischen Bauwerk sind ein Strebepfeiler und ein Fenstermaßwerk im nördlichen Chor erhalten. Die Datierung stützt sich auf ein erhaltenes Freskofragment an der Mauer des untersten Turmstockwerkes. Im Anschluss an diese Baumaßnahme müssen die ersten Pfeilerpaare des Langhauses und der nördlichen Arkadenreihe mit dem darüber aufragenden, stärker dimensionierten Mauerfeld erbaut worden sein. Um 1345 kamen die Baumaßnahmen ins Stocken, obwohl im selben Jahr Kaiser Ludwig der Bayer „die beiden Brottische“ (wohl der erste Markt Memmingens) für die Erweiterung des Friedhofs überließ. Ob dies mit der politischen Unruhe um Kaiser Ludwig IV. oder mit der Pestepidemie des Jahres 1349 zusammenhing, konnte nicht geklärt werden. Erst in der Mitte der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ist ein erneutes Einsetzen der Bautätigkeit nachweisbar. Der unbekannte Baumeister muss eine gute Ausbildung in der gotischen Architektur seiner Zeit genossen haben, da die schwerfällige Bauweise der ersten Strebepfeiler ab dem zweiten Joch in einen schlankeren, hochgotischen Baustil verändert wurde. Mit Baubeginn des vierten Joches mit einer schlichten Konsolenbauweise muss der Baumeister wiederum gewechselt haben. Nachdem das fünfte Joch vollendet war, trat eine längere Pause in der Bautätigkeit ein. Forscher gehen davon aus, dass dort das Westwerk der Welfenbasilika stand und sie damit vorläufig fertiggestellt war. Ab 1404/1405 wurde mit dem Ausbau des sechsten Joches begonnen. Allerdings kamen die städtischen Werkleute damit nicht zurecht, worauf sich der Rat der Stadt nach München wandte. 1405 konnte Conrad von Amberg für den Ausbau verpflichtet werden. Vermutlich machte das alte Westwerk den Ausbau äußerst schwierig, da es teilweise als Tragwerk für die Arkaden diente und teils abgebrochen, teils integriert werden musste. Das sechste Joch musste um 80 Zentimeter breiter werden als die bestehenden Joche. Conrad führte die Mittelschiffswände zur endgültigen Höhe empor. 1407 wurde bereits das Dachwerk aufgeschlagen. Es ist eines der frühesten Beispiele des liegenden Stuhles im deutschen Sprachraum. Damit war es möglich, das erste Dachgeschoss ins Mittelschiff einzubeziehen. Man geht davon aus, dass erst Meister Conrad das vierte Turmgeschoss mit dem hohen Spitzhelm vollendet hat. Ähnliche Beispiele für diese gotische Kirchturmbedeckung befinden sich in Woringen und in Westerheim. Bis 1409/1410 vollendete Conrad vom Amberg die Kirche als sechsjochige Basilika. In den folgenden Jahren konzentrierten sich die Aktivitäten vor allem auf den Innenausbau. Die östlichen Vorhallen entstanden 1438. Die im Jahr 1458 begonnene Einwölbung der Seitenschiffe war nur durch massive Spenden der Familien Besserer und Wespach möglich geworden. Die Funk-Kapelle machte den Anfang einer Reihe von Kapellenstiftungen in der Basilika. So kam 1476 die Vöhlin-Kapelle und 1482 die Zwicker-Kapelle hinzu. 1489–1491 konnte durch den Abbruch zweier Häuser in der Zangmeisterstraße das Langhaus um zwei Joche erweitert werden. Da die Memminger Baumeister mit dieser heiklen Aufgabe überfordert waren, konnte der Rat der Stadt den Ulmer Baumeister Matthäus Böblinger gewinnen. Von 1496 bis 1500 wurde der Chor neu errichtet und damit die größte Stadtpfarrkirche zwischen Bodensee und Lech vollendet. Pfarrkirche und Reformation Unter dem Schweizer Prediger Christoph Schappeler verbreitete sich in Memmingen ab 1524 die Reformation. Schappeler hatte eine gut dotierte Predigerstelle der Vöhlin-Kapelle in St. Martin inne und vollzog in diesem Jahr erstmals in deutscher Sprache die Taufe. Zusammen mit Lindau, Konstanz und Straßburg legte die zunächst zwinglianisch orientierte Stadt auf dem Augsburger Reichstag 1530 ein Sonderbekenntnis vor, die Confessio Tetrapolitana (Vierstädtebekenntnis). Ein Stadtratsbeschluss aus dem Jahr 1531, der besagte, dass sämtliche kirchlichen Kultgegenstände aus den Kirchen der Stadt verschwinden mussten, führte zum größten Verlust an Ausstattungselementen von St. Martin. Die Kirche verlor 21 Seitenaltäre und den spätgotischen Hochaltar im Chorraum. Von der Einrichtung des Hochchores verblieb nur das Chorgestühl. Zur lutherischen Lehre bekannte sich die Stadt im Jahr 1532 durch die Übernahme der Augsburger Konfession. Endgültig wurde Memmingen und damit auch St. Martin 1536 durch die Annahme der Wittenberger Konkordie der lutherischen Lehre verpflichtet. Nach der Reformation Im Dreißigjährigen Krieg erließ Kaiser Ferdinand II. das Restitutionsedikt, wonach alle bei der Reformation enteigneten Güter den katholischen Besitzern zurückgegeben werden sollten. Dies betraf auch St. Martin, jedoch setzte sich die Stadt dagegen erfolgreich zur Wehr. Bei der Beschießung durch die Kaiserlichen und die Bayern wurde im Jahr 1647 auch die Kirche getroffen, wobei die Holzdecke beschädigt wurde. Hans Knoll ersetzte sie durch ein Brettergewölbe aus Rippen und Schlusssteinen mit Bemalung, ähnlich dem Chorgewölbe. Knoll schuf 1656 im ersten Mittelschiffsjoch auch eine Musikanten- und Sängerempore. Die mittelalterliche Kirchhofmauer wurde 1810 abgebrochen. Gleichzeitig wurde der ehemalige Gottesacker in eine parkähnliche Landschaft mit Baumpflanzungen umgestaltet. Die Decke des Mittelschiffs wurde ab 1845 neu gestaltet und ein Scheingewölbe eingezogen. Das Langhaus und der Turm wurden 1867 und 1872 mit Schiefer neu gedeckt. Von 1926 bis 1927 wurde die Kirche renoviert und die Eindeckung wieder zurückgenommen. 1962 bis 1965 und 1984 bis 1988 wurde die Kirche erneut renoviert. Turm Von den Vorgängertürmen der Welfenbasilika auf der Westseite ist nichts mehr erhalten. Der erste Turmbau an der heutigen Stelle wird um 1300 datiert. Das unterste Geschoss des heutigen Turms wurde um 1325 erbaut. Ein Weiterbau des fünften Obergeschosses muss in die Zeit um 1370 datiert werden. Das dort verwendete Ziegelformat von 34×16,5×7,5 Zentimetern wurde auch bei dem um 1370 entstandenen Frauenkirchturm vermauert. Die weiteren Stockwerke kamen um 1405 bis 1410 durch Baumeister Conrad von Amberg hinzu. Der Turm wurde damals mit einem hohen Spitzhelm mit grüner Plattendeckung abgeschlossen. Die Wendeltreppe, die vom Nordschiff in das erste Obergeschoss führte, brannte 1420 ab. Im Jahre 1428 wurde der heutige Glockenstuhl als Gerüstbauwerk in den Turm eingebaut. Bis dahin hingen die Glocken in einer mit dem Mauerwerk verbundenen Balkenanlage. Zwei Jahre später wurde der über vier Steingiebel aufsteigende Spitzhelm vollendet. Aufgrund der Überwölbung der Seitenschiffe innerhalb der Kirche wurde der Turmeingang an die heutige Stelle in der nordöstlichen Ecke versetzt. Nach einem Blitzeinschlag 1470 erhielt der Turm einen Turmknopf und er wurde mit grünglasigen Ziegeln neu eingedeckt. Durch schnelle Löschmaßnamen der Bevölkerung konnte der Turm 1482 gerettet werden, nachdem vier Blitze in den Turm eingeschlagen waren und ihn in Brand gesetzt hatten. In den Chroniken sind für das Jahr 1494 zwei nächtliche Blitzeinschläge vermerkt, als der spätere Kaiser Maximilian I. in die Stadt einzog. Der durch einen weiteren Blitzschlag im Jahr 1535 zerstörte Turmhelm wurde 1537 durch den heutigen Achteckbau auf dem Turmstumpf ersetzt. Ein hölzerner Erker wurde 1573 über dem Zifferblatt der Turmuhr angebaut. Der Zimmermeister Jacob Britzel und der Kupferschmied Bartholomäus Seybrand errichteten über dem Helm eine welsche Haube aus Kupfer. Seitdem hat der Turm eine Höhe von etwa 65 Metern. 1872 wurde die Haube mit Schiefer gedeckt, was bei der Renovierung 1927 wieder rückgängig gemacht wurde. Der Turm wurde 1966 und 2012 letztmals renoviert. Seit dem Bau gehörte der untere Teil der Kirchengemeinde, der obere Teil der Stadt. 1927 übergab die Stadt ihren Teil ebenfalls der Kirchengemeinde. Baubeschreibung Die Kirche ist eine dreischiffige, achtjochige Basilika mit erhöhtem Chorraum, der in einem 5/8-Schluss endet. Der nördliche Teil des Gebäudes wird durch den Turm und den Chor geprägt. Auf der Südseite befindet sich der alte, seit 1530 aufgelassene Friedhof der Stadt. Auf diesem stehen über 300 Jahre alte Buchen und jüngere Kastanien. Gegenüber der östlichen Vorhalle steht die Kinderlehrkirche. Außenbau Die Außenwände der Seitenschiffe ragen hinter dem Chor hervor. An den Chor schließen sich vor dem Langhaus die neue Sakristei auf der Südseite sowie die alte Sakristei und der Turm auf der Nordseite an. Das Mittelschiff besitzt ein Satteldach, die beiden Seitenschiffe haben ein Pultdach. Die Wände bestehen aus verputztem Ziegelmauerwerk. Über den Seitenschiffen ist pro Joch ein mit einfachem Maßwerk verziertes Oberlicht sichtbar. Direkt unterhalb der Fenster schließt sich die Eindachung der Seitenschiffe an. Das Maßwerk der Fenster in den Seitenschiffen wurde während des Barocks entfernt, die einstigen Spitzbögen wurden zu Rundbögen umgearbeitet. Aufgrund der Bauweise mit verputzten Ziegeln sind die einzelnen Bauabschnitte äußerlich nicht sichtbar. Die Westseite ist komplett verputzt. Begrenzt wird sie durch die enge Durchfahrt des Martin-Luther-Platzes, welcher sich an dieser Stelle zu einer Straße verengt. Oberhalb des Brauttor genannten Westportals der Kirche befanden sich früher zwei Fenster, die heute zugemauert sind. Darüber befindet sich ein kleines Rundfenster, dem in Höhe des Scheitelpunktes des Satteldaches ein weiteres, etwas größeres rundes Fenster folgt. Der Chor ist aus Tuffstein gemauert. Die Fenster sind mit Maßwerk verziert. Die Strebepfeiler haben wenig Verzierung. Innenraum Mittelschiff Das 11,40 Meter breite Mittelschiff hat eine Länge von 50 Metern und ist 18,80 Meter hoch. Es kann direkt durch das sogenannte Brauttor an der Westseite betreten werden. Die Wände über den acht Jochen sind schlicht gehalten. Der Baustil entspricht der Gotik. Nach oben abgeschlossen wurde es früher von einer flachen Holzdecke. Im Zuge des Historismus im 19. Jahrhundert wurde 1845 die Deckenhöhe um 3,80 Meter reduziert, ein Scheingewölbe im gotischen Stil eingezogen und an den Hängebalken des Dachstuhls mit Eisenstäben befestigt. Für Licht im Mittelschiff sorgen Oberlichter. Die Jochbögen ruhen auf Achtkantpfeilern, von denen die östlichsten offensichtlich wiederverwendet wurden. Forscher gehen davon aus, dass diese Spolien aus einer anderen, abgebrochenen Kirche stammen. Zeitlich könnte dazu der Vorgängerbau des Ulmer Münsters passen. Aufgrund der Natursteinarmut in Oberschwaben konnten nur Ziegel verwendet werden, was einer hochgotischen Bauweise im Wege stand. Nordschiff Das Nordschiff ist 50 Meter lang, 5,7 Meter breit und 9,45 Meter hoch. Man betritt es durch zwei Eingänge an der Zangmeisterstraße, die dem größeren Ausbau der Nordschiffkapellen im Wege stand. Die Kapellen sind als kleine Spitzbogennischen zwischen den Strebepfeilern erkennbar. Lediglich die Bruderschafts-Kapelle von 1501 weicht mit ihrem Rundbogen davon ab. Abgeschlossen wird das Nordschiff von einem unbemalten, weiß getünchten gotischen Kreuzrippengewölbe. Südschiff Das Südschiff ist bei sonst gleichen Dimensionen mit zehn Metern etwas höher als das Nordschiff. Es hat zwei Eingänge über die östliche und die westliche Vorhalle. Es befinden sich mehrere größere Kapellen darin. Abgeschlossen wird es von einem gotischen Kreuzrippengewölbe. Chor Der Chor ist 24,6 Meter lang und 10,67 Meter breit. Er ist weiß getüncht. Die spätgotischen hohen Fenster sind im vorderen Teil bunt, an den Längsseiten klar verglast. Unter den Fenstern sind im leicht erhöhten Hochaltarbereich Grabtafeln eingelassen, die sich früher am Boden des Kirchenraums befanden. Abgeschlossen wird der Chor auf 17,62 Meter Höhe von einem gotischen Sternnetzgewölbe, an dem sich auch die einzigen Fresken des Chors befinden. Ausstattung Die Kirche ist reich an Kunstwerken der Malerei und Holzschnitzerei, die aus dem 13. bis 19. Jahrhundert stammen. Schnitzereien Schnitzereien befinden sich am Chorgestühl, am Hochaltar, an den Kirchenbänken und an der Kanzel. Als großes Einzelwerk kann auch die Ausstattung der neuen Sakristei angesehen werden. Alle anderen sakralen Schnitzwerke wurden beim Bildersturm, der am 19. Juli 1531 vom Rat der Stadt angeordnet wurde, zerstört oder in andere Kirchenbauten gerettet. Chorgestühl In St. Martin entstand zwischen 1501 und 1507 eines der großartigsten und ausdrucksstärksten Chorgestühle im süddeutschen Raum. Es ist neben dem Chorgestühl im Ulmer Münster von Jörg Syrlin dem Älteren und dem Gestühl im Konstanzer Münster die bedeutendste spätgotische Arbeit in Deutschland. Das Chorgestühl ist noch in gottesdienstlichem Gebrauch. Die Reichsstadt Memmingen befand sich damals auf dem Höhepunkt ihrer Geschichte – ein wirtschaftliches, politisches und kulturelles Erfolgsmodell. Dieser Erfolg zeigte sich gerade auch in einer regen Bautätigkeit. In der Hauptpfarrkirche St. Martin waren die letzten Jahre des 15. Jahrhunderts geprägt von der Erweiterung des Kirchenraumes, seiner Ausstattung mit Kapellen und Altären und ab 1496 der Errichtung eines neuen Hochchores, dessen Äußeres aus Tuffstein gefertigt ist. Im Inneren des Chorraumes bietet das Sternnetzgewölbe ein filigranes Dach und einen würdigen Rahmen für das Chorgestühl. Den Auftrag dazu erteilten im September 1501 die beiden Kirchenpfleger von St. Martin. Bis 1507 schufen die Meister Hans Stark (Schreiner) und Hans Herlin (Bildhauer) ein aus Eichenholz geschnitztes Gestühl mit insgesamt 63 Sitzen. An einigen Skulpturen dieses Chorgestühls lassen sich auch zwei von Herlins Gesellen erkennen: Hans Thoman und Christoph Scheller. Beide brachten es später als Meister zu eigener künstlerischer Größe. Unterbrochen von zwei Portalen, stellen im Memminger Chorgestühl 66 Plastiken zwei Zyklen dar: Der theologische Zyklus zeigt unter den Baldachinen Sibyllen und Propheten des Alten Testaments. Sie zeugen vom Kommen des Messias in Christus. An den vorderen Stuhlwangen sind ausdrucksstarke Porträts von Personen aus der Memminger Geschichte zu sehen. Eine genaue Zuordnung bestimmter Personen ist allerdings nicht immer möglich. Nur die Gegenstände, welche die großen Plastiken in den Händen halten, ergeben eine halbwegs sichere Zuordnung. So sind zum Beispiel der Bürgermeister und seine Frau oder aber der Amman und dessen Frau näher bestimmbar. Eine bislang als Abt des Antoniterklosters gedeutete Figur kann mit großer Wahrscheinlichkeit nicht als solcher identifiziert werden. Allerdings müssen die abgebildeten Personen in Memmingen so bekannt gewesen sein, dass eine nähere Erläuterung nicht notwendig war. Auch kann bei einer der Plastiken relativ sicher davon ausgegangen werden, dass sie den römisch-deutschen König und späteren Kaiser Maximilian I. darstellt, der sich gerade zur Entstehungszeit des Chorgestühls oft in Memmingen aufgehalten und die Stadt seine „Ruh- und Schlafzell“ genannt hat. Auch weil der Antonierklosterpräzeptor sein Hauskaplan war, scheint diese Annahme der Wahrheit nahezukommen. Aber auch die zahlreichen Intarsien an den Rückwänden und die kalligraphische Vielfalt der Schriftfelder, die in keinem zweiten Chorgestühl dieser Zeit vorkommen, verdienen Beachtung. Sie stammen aus der Werkstatt Bernhard Strigels. Früher wurde angenommen, die Intarsien seien erst nachträglich am Chorgestühl angebracht worden. Aufgrund verschiedener Details kann heute jedoch mit Bestimmtheit gesagt werden, dass die Intarsienfelder – zwei an jedem Stuhl – bereits zur Entstehungszeit eingefügt wurden. Eine umfassende Restaurierung und Ergänzung fehlender Teile erfuhr das Chorgestühl in den Jahren 1892 bis 1901 durch den Memminger Kunstschreiner Leonhard Vogt. Hierbei wurde dem Chorgestühl der im Jahre 1813/1814 entfernte Baldachin wieder aufgesetzt. Forschungen haben ergeben, dass früher Teile der Figuren bemalt waren. Dadurch war eine noch lebensechtere Darstellung möglich. Das Chorgestühl zählt zu den berühmtesten und kunstvollsten Deutschlands. Kanzel Die Kanzel im Langhaus der Basilika wurde von Johann Friedrich Sichelbein entworfen und nach dessen Plänen von 1699 bis 1700 gefertigt. Sie stellt eine Gemeinschaftsarbeit zweier Künstler dar. Die Schreinerarbeiten führte Georg Rabus aus, die bildhauerischen Elemente Christoph Heinrich Dittmar aus Arnstadt. Die Kanzel wurde überwiegend aus Nussbaum mit wenigen goldenen Verzierungen hergestellt. Der Schalldeckel hat die Form einer Zwiebelhaube und wird von einem Posaune spielenden Engel bekrönt. Außen zieren ihn Akanthusblätter. In den Kanzelkorb sind fünf Statuen von Jesus und den vier Evangelisten in dafür vorgesehene Aussparungen eingelassen. Am unteren Ende des Korbes gruppieren sich Engelsköpfe um eine goldene Traube. Der Kanzelaufgang ist mit Felderungen und Fruchtgehängen geschmückt. Über der Tür ist eine Figur Johannes des Täufers angebracht. Insgesamt ist es ein hohes Kunstwerk des oberschwäbischen Barocks. Neue Sakristei Die Ausstattung der neuen Sakristei wurde vermutlich zur gleichen Zeit wie das Chorgestühl angefertigt. Dementsprechend ist es reich mit Schnitzereien und Intarsien geschmückt. Die dreigeschossige Schrankwand setzt sich unter den Fenstern in brusthohen Kredenzen fort. Reiche Laubwerkschnitzereien, Intarsien, Zinnbeschläge und der grün hinterlegte Flachschnitt sorgen insgesamt für ein großartiges Nadelholzwerk der Spätgotik. Als Meister kommt Heinrich Stark in Betracht. Der in der neuen Sakristei aufgestellte barocke Tisch stammt vermutlich von Johann Christoph Dittmar. Kirchenstühle Im Langhaus selbst sind keine erwähnenswerten Kirchenstühle aufgestellt. Lediglich in den Seitenkapellen des Südschiffes gibt es einzelne spätgotische oder aus der Zeit der Renaissance stammende Stücke. Auf einem Stuhl in der Vöhlin-Kapelle befindet sich eine der frühesten Abbildungen des Stadtwappens, die um 1480 geschnitzt wurde. Malereien In der Kirche gibt es zahlreiche Wandmalereien und Ölbilder. Die ältesten stammen aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die jüngsten aus dem 18. Jahrhundert. Viele der Wandmalereien entstammen der Memminger Schule. Strigelfresken Von der Künstlerfamilie Strigel stammen einige Fresken in dem Gebäude. Im östlichen Vorzeichen des Südschiffes malte Hans Strigel der Ältere 1445 ein Bildnis des Jüngsten Gerichts. Aus seiner Hand stammt auch die Darstellung der Kreuzigung Jesu in der Nische in der Westwand. Darunter befinden sich die Stifter mit Wappen und einem Schriftband, auf dem zu lesen ist, dass das Bild von Erhard Hantteller aus Graz gestiftet wurde. Eine Verkündigung an Maria ist am östlichen Bogenfeld zu sehen. Die Decke ist mit den Symbolen der vier Evangelisten versehen, die sich um das Lamm Gottes gruppieren. Die Propheten Jesaja und Ezechiel sind im östlichen Stichkappenfeld, Kain, der mit dem Teufel um eine Garbe kämpft, und Abels Opfergabe an Gott sind im Gegenstück zu sehen. Um 1480 schuf vermutlich Hans Strigel der Jüngere ein Madonnen-Pfeilerfresko im Südschiff. Das größte erhaltene Freskenwerk der Künstlerfamilie ist die Zangmeister-Kapelle. Hier wurde um 1510 ein beeindruckendes Freskenwerk von Bernhard Strigel geschaffen. An der gotischen Decke behandelt es die selten gemalten Themen der Verklärung Christi und der Opferung Isaaks durch Abraham. An den Wänden sind die heilige Elisabet bei einem Besuch Marias sowie die Teufelsaustreibung einer Besessenen, die der heilige Eberhard durchführt, abgebildet. Darüber hinaus befinden sich in der ganzen Kapelle kleinere Fresken mit Ornamenten, Putten und Ähnlichem. Diese Fresken wurden bereits 1531 beim Bildersturm verdeckt und konnten 1963 wieder freigelegt werden. Um 1500 sind im Chorbogen Fresken der tugendhaften und törichten Jungfrauen entstanden. Sie werden Bernhard Strigel stilistisch zugeschrieben, dem führenden Meister der Memminger Schule. Sichelbeinfresken Vermutlich Caspar Sichelbein der Ältere schmückte die Kirche 1587 mit ornamentalen Malereien aus, denen ein Jahr später ein Passionszyklus folgte. Die Vorlage war vermutlich Albrecht Dürers Kleine Passion. Sichelbein musste die Bilder teilweise stilistisch verändern, da der Platz an den Wänden der Ostseite des Hauptschiffes nicht groß genug war. Sie wurden 1656 überdeckt, 1926 und 1965 wieder aufgedeckt und ergänzt. Ebenfalls 1588 entstand an dem äußeren Chorbogen ein Fresko des Jüngsten Gerichts. Dieses ergänzte thematisch den Passionszyklus. Es reichte 3,80 Meter über den heutigen Gewölbescheitel hinaus. Auch hier lag vermutlich Dürers Kleine Passion zugrunde. Von dem Fresko ist heute nur noch ein Rest über dem Scheingewölbe erhalten. Der sogenannte grüne Teufel, eines der sieben Memminger Wahrzeichen, verschwand ebenso über dem Scheingewölbe. Feuerschutzfarbe, mit welcher der Dachstuhl im Zweiten Weltkrieg vor Feuer geschützt wurde, zerstörte auch den Rest des grünen Teufels. Ölgemälde In der Basilika gibt es aufgrund der theologischen Auffassung der Reformation, dass jeglicher Kirchenschmuck vom gesprochenen Wort ablenkt, wenige Ölgemälde. Johann Friedrich Sichelbein malte acht Bilder, die das Leben Jesu darstellen. Sie hingen früher an den Pfeilern im Hauptschiff. Im Zuge der Innenrenovierungen wurden sie in den Kapellen des Südschiffes untergebracht. Sie zählen zum Hauptwerk des bedeutendsten Mitgliedes der Künstlerfamilie Sichelbein, die seit 1581 in Memmingen sesshaft war. Ein weiteres Ölgemälde befindet sich im Nordwestportal. Es wurde von dem gebürtigen Antwerpener Abraham del Hel gemalt, der sich später in Augsburg niederließ, und zeigt Christus vor Pilatus. Glasmalereien Die ehemals gotischen Glasmalereien des Chors sowie der neuen Sakristei sind verschollen. Die heute zu sehenden Malereien stammen aus dem Jahr 1894 und gelten als herausragende Kunstwerke des Historismus. Geschaffen wurden sie von der Hofglasmalerei Franz Xaver Zettler aus München. Lediglich einige wenige gotische und Renaissanceglasmalereien haben sich in den Kapellen erhalten. Kreuzaltar Der Kreuzaltar in der St.-Martins-Kirche gehört zu den kunstvollsten und frühesten derartigen Arbeiten in Deutschland. Die neue theologische Ausrichtung nach zwinglischem Vorbild machte einen solchen Altar notwendig. Er musste das bisherige Zentrum des Gottesdienstes, den Hochaltar, ersetzen. Zusammen mit diesem wurden insgesamt 21 weitere Altäre aus der Kirche entfernt. Der Kreuzaltar wurde 1531 geschaffen und aufgestellt und besitzt Stilelemente der Gotik und der Renaissance. Die Säulen sind kräftig gearbeitet und besitzen oben leere Wappenschilde. Die massive Tischplatte wird von aus Fischblasen gebildeten und mit Eierstabornamenten verzierten Querverbindungen getragen. Er gehört zu den größten historischen Schätzen der ehemaligen Reichsstadt. Chorgitter Das Stabgitter mit den Türen zum Hochchor ist einfach gehalten, das Chorgitter, welches den Kreuzaltar umgibt, ist dagegen sehenswert. Es stammt aus dem Jahr 1603 und besitzt Spiralen, Blumen und Blätter. Rechts daneben soll sich die Grabstätte der Mönche des Antoniterklosters befunden haben. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts befand sich dort ein Solnhofer Stein mit dem Antoniter-T. Orgel Die Orgel hat in St. Martin lange Tradition. So wurde die erste Orgel bereits 1453 erwähnt. Sie hatte ihren Platz auf einer Schwalbennestempore an der südlichen Hochschiffwand. 1528 wurde sie aus reformatorischen Gründen entfernt. 1597/1598 wurde eine neue Orgel von Kaspar Sturm und Aaron Ruck erbaut. Am 21. November 1599 erklärte der fuggersche Hoforganist Hans Leo Haßler die Orgel für gelungen. Das berühmte Werk wurde 1758 von Joseph Gabler umfassend instand gesetzt. Die Disposition wurde modernisiert, Gablers typische Klangelemente wurden eingefügt. Im Stadtarchiv ist dazu zu lesen: „Er hat die Orgel wohl repariert und in vollkommenen Stand gestellt, daß man darob ein seltsames Vergnügen gefunden.“ Johann Nepomuk Holzhey überholte die Orgel zuletzt 1778. 1827 wurde das baufällig gewordene Schwalbennest zugunsten einer Westempore ersetzt. Die Orgel zog mit dorthin um, allerdings erreichte sie nie mehr den Klang wie im Schwalbennest. Die Verkleidung wurde auf Schloss Illerfeld (Volkratshofen) gebracht, in dem die Flügel der Orgel in der Kassettendecke verbaut sind. 1853, als eine neue Orgel mit spätgotischem Gehäuse der Orgelbauwerkstatt Walcker und Spaich aus Ludwigsburg angeschafft wurde, kam die Orgelmusik in der Kirche wieder in das Blickfeld der breiten Öffentlichkeit. Dieses Instrument wurde 1900 von Steinmeyer repariert und 1938 von Paul Ott nach damaligen Gesichtspunkten erweitert. Diese Orgel musste 1962 aufgegeben werden. Es wurde eine Orgel der Firma Walcker eingebaut. Schlechte Verarbeitung und Materialien ließen dieses Instrument allerdings nur 36 Jahre lang bestehen. 1991 überlegte sich die Kirchengemeinde ein neues Konzept für die Orgel, da die alte nicht mehr zu reparieren war. Es sah vor, eine moderne, große Orgel am bisherigen Standort an der Westwand zu installieren. Am 8. November 1998 wurde die neue Orgel aus dem Hause Goll eingeweiht. Sie hat 62 Register (4.285 Pfeifen) auf vier Manualwerken und Pedal. Die baßschwache Akustik des 72 Meter langen und 20 Meter hohen Kirchenraumes machten es erforderlich, den Bass- und Mitteltonbereich kraftvoll und doch variabel zu gestalten. Man entschloss sich, eine symphonische Orgel nach französischem Vorbild einzubauen. Sie nimmt die gesamte Westfassade ab der ersten Empore ein. Lediglich das Brauttor darunter ist nicht verbaut. Dadurch kann sich der Klang der Orgel frei in das Kirchenschiff entfalten. Das Orgelgehäuse sowie die Empore sind aus unbehandeltem Eichenholz mit gotischen Stilelementen gebaut und verbinden die alte Gotik mit dem modernen Baustil des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Die Empore selbst ist für etwa 70 Chormitglieder oder ein vergleichbares Instrumentalensemble ausreichend. Über das Jahr verteilt finden oft Orgelkonzerte statt. Zahlreiche Aufnahmen wurden auf der Orgel eingespielt. Samstags um 11 Uhr vormittags kann bei einer OrgelKultour durch die Kirche der Klang der Orgel erlebt werden. Turmuhr Im Jahre 1524, ein Jahr vor den Bauernkriegen, wurde die erste Räderuhr in Betrieb genommen. Das erste Zifferblatt gestaltete Bernhard Strigel, einer der herausragendsten Künstler der Stadt Memmingen. 1537, bei der Umgestaltung des Turms, wurde diese Malerei durch Ursus Werlin überarbeitet. Es folgte 1688 eine weitere Überarbeitung, wobei die barocken Formen der Wappen und das Band mit der Beischrift hinzugefügt wurden. Im Jahre 1829 erfolgte eine Anbringung eines Ziffernblattes aus Eisenblech. Auch wurden die schadhaften Stellen der Umrahmung verputzt. Michael Geiger der Ältere legte 1906 die Umrahmung wieder frei. Während der großen Turmrestaurierung von 1927 unter dem Ulmer Münsterbaumeister Karl Wachter wurde das eiserne Zifferblatt entfernt und dabei der komplette Putz abgeschlagen. Zuvor erfolgte eine Abnahme des Originals und die Neufassung durch die Gebrüder Haugg aus Ottobeuren. Seit diesem Zeitpunkt kann auch nicht mehr von einer Malerei von Bernhard Strigel gesprochen werden. Diese musste 1966 abermals erneuert werden. Der heutige Zustand gibt die Darstellung aus dem Jahr 1697 wieder. Das Zifferblatt wird von zwei Memminger Stadtwappen oben links flankiert. Zwei Löwen halten eine Kartusche mit dem kaiserlichen Doppeladler sowie den Kopf eines Königs als obersten Herrn der freien Reichsstadt. Der abgebildete Königskopf wurde allerdings durch die Bevölkerung nicht als solcher erkannt, sondern wurde als Haupt der „Heiligen“ Hildegard angesehen und verehrt. Dies ist verwunderlich, da Memmingen bereits 1530 zum reformierten Bekenntnis übertrat und danach die Heiligenverehrung praktisch nicht mehr vollzogen wurde. Die Malerei wurde eines der sieben Memminger Wahrzeichen. Auf einem Spruchband über den Löwenköpfen steht der reichsstädtische Wahlspruch: „DOMINE HUMILIA RESPICE“ (Herr, siehe das Niedrige an, Psalm 138,6). Das heutige Uhrwerk ist ein Aufziehuhrwerk. 1927 wollte die Kirchengemeinde bei der Übergabe des Turmes von der Stadt ein neues Uhrwerk ohne Pendel zum Aufziehen haben. Die Stadt schlug diese Bitte ab, worauf die Kirchengemeinde auf die Überlassung der Turmuhr verzichtete und das Uhrwerk im Besitz der Stadt verblieb. Es muss daher noch heute eine städtische Bediensteter alle paar Tage die Pendel der Uhr aufziehen. Glocken Die Kirche besitzt insgesamt acht Glocken. Vier große Glocken hängen im Martinsturm in einem über 600 Jahre alten hölzernen Glockenstuhl und sind läutbar. Weitere vier Glocken hängen außerhalb der Glockenstube und sind nicht läutbar. Zu früheren Zeiten gab es in der Glockenstube eine weitere kleine Glocke, die als Messnerglocke diente und dem Glockenschwinger signalisierte, wann die großen Glocken geschlagen werden mussten. Die ursprünglich älteste Läuteglocke, die Zwölfuhrglocke, wurde im Jahre 1415 gegossen; im Jahre 1942 musste sie zum Einschmelzen nach Hamburg gegeben werden und ist seitdem verschollen; im Jahre 1954 wurde sie durch einen Neuguss ersetzt. Die heute älteste Glocke, die große Osannaglocke, wurde 1460 von dem in Memmingen ansässigen St. Galler Glockengießer Ulrich Snabelburg II. gegossen; sie war dem heiligen Martin, Maria und Georg geweiht, was jedoch mit der Reformation in Vergessenheit geriet. Die beiden weiteren Läuteglocken, die Elfuhrglocke und die Marienglocke und weitere der Läuteglocken wurden im Jahre 1514 gegossen. Außerhalb des Martinsturmes hängen vier weitere Glocken, die nicht zum Geläute gehören. Die Stundenschlagglocke befindet sich in einem kleinen Erker oberhalb des Turmuhrzifferblattes. Sie wurde 1573 gegossen und ging bei der Beschießung der Stadt durch die Kaiserlichen im Dreißigjährigen Krieg 1632 zu Bruch. Leonhard Ernst II. goss sie 1644 neu. Sie schlägt außer der elften und zwölften jede Stunde des Tages. Die Stadtfeuerglocke hängt über der Türmerstube im Freien und wurde 1728 von Johann Melchior Ernst gegossen. Sie wurde bei Bränden innerhalb der Stadt angeschlagen, wiegt 2,5 Zentner, hat einen Durchmesser von 48 und eine Höhe von 35,5 Zentimetern. Die Inschrift lautet „DEO GLORIA ANNO 1728“. Die Viertelstundenglocke wurde 1990 als Ersatz für die 1986 vom Baugerüst gestohlene Armsünderglocke gegossen. Sie hängt über einem Fenster der Türmerstube. In früherer Zeit begleitete die Armsünderglocke mit ihrem schrillen Klang die zum Tode Verurteilten bis zum Richtplatz. In jüngerer Zeit schlug sie die Viertelstunden. In ihr war „Hilf Maria“ eingraviert. Sie war die älteste noch erhaltene Glocke der Stadt. Seit dem Diebstahl ist sie verschollen. Die Landfeuerglocke ist in dem kleinen Dachreiter über dem Südostbalkon angebracht. Sie wurde 1966 gegossen. Früher wurde sie bei Bränden im evangelischen Umland geschlagen. Brannte es hingegen im katholischen Umland, wurde die Stadtfeuerwehr nicht zur Hilfe gerufen. Nutzung Gegründet wurde die Kirche vermutlich als Königshofkirche der Welfen. Erst 1214 wurde das Patronat an die Antoniter übergeben, die schräg gegenüber an der Stadtmauer ihre Präzeptorei einrichteten. Seitdem war die Kirche eigentlich die Klosterkirche der Antoniter. Da die Bevölkerung Memmingens sie immer schon mitbenutzte und die Umbauten bezahlte, wurde die Kirche nach und nach zur Stadtpfarrkirche. In der Reformation wurden die Antoniter 1531 vertrieben, die endgültige Ablösung des Klosters erfolgte erst 1562. Seit diesem Zeitpunkt ist die Kirche eine reine Stadtpfarrkirche. Heute ist die Kirche Dekanatskirche des Dekanates Memmingen. Der Dekan ist gleichzeitig Inhaber der ersten Pfarrstelle in St. Martin. Gottesdienste finden in der Regel jeden Sonntag statt. Kirchenführungen werden jeden Samstag um zwölf Uhr mit Orgelbegleitung durchgeführt. Der Kirchenraum dient auch als Konzertsaal für Orgelkonzerte, Oratorien, Vokalkonzerte und kleinere Ensembles. Turmführungen finden von Mai bis Oktober täglich um 15 Uhr statt. Literatur Weblinks offizielle Website der Kirchengemeinde Beschreibung der Goll-Orgel St. Martin in Memmingen offizielle Website der Kirchenmusik an St. Martin, Memmingen Einzelnachweise Kirchengebäude des Kirchenkreises Augsburg Gotisches Bauwerk in Bayern Gotische Kirche Martin Martin Basilika (Bautyp) Martin-von-Tours-Kirche (Patrozinium) Barocke Kanzel Disposition einer Orgel Geläut Kirchengebäude in Europa Aussichtspunkt
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https://de.wikipedia.org/wiki/Lorentzsche%20%C3%84thertheorie
Lorentzsche Äthertheorie
Die lorentzsche Äthertheorie (auch Neue Mechanik, lorentzsche Elektrodynamik, lorentzsche Elektronentheorie, nach dem englischen „Lorentz ether theory“ auch häufig LET abgekürzt) war der Endpunkt in der Entwicklung der Vorstellung vom klassischen Lichtäther, in dem sich Lichtwellen analog zu Wasserwellen und Schallwellen in einem Medium ausbreiten. Diese Elektronentheorie wurde vor allem von Hendrik Antoon Lorentz und Henri Poincaré entwickelt und danach durch die zwar mathematisch äquivalente, aber in der Interpretation der Raumzeit wesentlich tiefer gehende spezielle Relativitätstheorie von Albert Einstein und Hermann Minkowski abgelöst. Problemstellung Die Annahme eines ruhenden Äthers scheint dem Ergebnis des Michelson-Morley-Experiments zu widersprechen, bei dem der Nachweis einer Bewegung der Erde relativ zu diesem Äther scheiterte. In der lorentzschen Äthertheorie wird dieser Widerspruch über die Einführung von Lorentz-Transformationen aufgelöst. Dabei werden jedoch die Längenkontraktion und Zeitdilatation als Prozesse verstanden, denen relativ zu einem Äther bewegte Maßstäbe und Uhren unterworfen sind, während Raum und Zeit unverändert bleiben. Damit werden diese Effekte als asymmetrisch betrachtet, das heißt, bewegte Maßstäbe sind tatsächlich kürzer und Uhren gehen tatsächlich langsamer. Ein bewegter Beobachter schätzt ruhende Maßstäbe zwar in identischer Weise als kürzer und ruhende Uhren als langsamer ein, diese Einschätzung wird jedoch als Täuschung interpretiert, da sie der bewegte Beobachter unter Verwendung verfälschter Maßstäbe und Uhren gewinnt. Die Symmetrie der Beobachtungen und damit die offensichtliche Gültigkeit eines scheinbaren Relativitätsprinzips wird als Folge einer eher zufälligen Symmetrie der zugrunde liegenden dynamischen Prozesse interpretiert. Sie verhindert jedoch die Möglichkeit, die eigene Geschwindigkeit relativ zum Äther zu bestimmen, und macht ihn damit zu einer prinzipiell unzugänglichen Größe in der Theorie. Solche Größen sollten laut einem von Ockham ausgesprochenen Sparsamkeitsprinzip („Occam’s razor“) möglichst vermieden werden, was ein Grund ist, warum diese Theorie als überholt gilt und kaum noch vertreten wird. In der speziellen Relativitätstheorie sind Längenkontraktion und Zeitdilatation dagegen eine Folge der Eigenschaften von Raum und Zeit und nicht von materiellen Maßstäben und Uhren. Die Symmetrie dieser Effekte ist eine Folge der Gleichwertigkeit der Beobachter, die als Relativitätsprinzip der Theorie zugrunde liegt. Alle Größen der Theorie sind experimentell zugänglich. Historische Entwicklung Grundkonzept Äther und Elektronen Die lorentzsche Äthertheorie, die hauptsächlich zwischen 1892 und 1906 von Lorentz und Poincaré entwickelt wurde, beruhte auf der Weiterentwicklung von Augustin Jean Fresnels Äthertheorie, den Maxwell-Gleichungen und der Elektronentheorie von Rudolf Clausius. Lorentz führte eine strikte Trennung zwischen Materie (Elektronen) und Äther ein, wobei in seinem Modell der Äther völlig unbewegt ist und von bewegten Körpern nicht mitgeführt wird. Max Born identifizierte den Lorentz-Äther dann überhaupt mit dem absoluten Raum Isaac Newtons. Der Zustand dieses Äthers kann im Sinne der Maxwell-Lorentz’schen Elektrodynamik durch das elektrische Feld E und das magnetische Feld H beschrieben werden, wobei diese Felder als von den Ladungen der Elektronen verursachte Anregungszustände bzw. Vibrationen im Äther aufgefasst wurden. Hier tritt also ein abstrakter elektromagnetischer Äther an die Stelle der älteren mechanischen Äthermodelle. Im Gegensatz zu Clausius, der annahm, dass die Elektronen durch Fernwirkung aufeinander wirken, nahm Lorentz als Vermittler zwischen den Elektronen ebendieses elektromagnetische Feld des Äthers an, in dem sich Wirkungen maximal mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten können. Lorentz konnte aus seiner Theorie beispielsweise den Zeeman-Effekt theoretisch erklären, wofür er 1902 den Nobelpreis erhielt. Joseph Larmor entwarf ungefähr gleichzeitig mit Lorentz (1897, 1900) eine ähnliche Elektronen- oder Äthertheorie, welche jedoch auf einem mechanischen Äther beruhte. Korrespondierende Zustände Ein fundamentales Konzept der Theorie war das 1895 von Lorentz eingeführte „Theorem der korrespondierenden Zustände“ für Größen zu (d. h. für Geschwindigkeiten, die gering sind im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit), aus dem folgt, dass ein im Äther bewegter Beobachter annähernd dieselben Beobachtungen in seinem „fiktiven“ Feld macht wie ein im Äther ruhender Beobachter in seinem „realen“ Feld. Dieses Theorem wurde von Lorentz (1904) für alle Größenordnungen erweitert und in Übereinstimmung mit dem Relativitätsprinzip von Poincaré (1905, 1906) und Lorentz (1906, 1916) komplettiert. Längenkontraktion Eine große Herausforderung für diese Theorie war das 1887 durchgeführte Michelson-Morley-Experiment. Nach den Theorien von Fresnel und Lorentz hätte mit diesem Experiment eine Relativbewegung zum Äther festgestellt werden müssen, die Ergebnisse waren jedoch negativ. Albert A. Michelson selbst vermutete, dass das Ergebnis für eine vollständige Mitführung des Äthers spreche, doch andere Versuche, die Aberration und die Maxwell-Lorentz’sche Elektrodynamik waren mit einer vollständigen Mitführung kaum vereinbar. Eine Lösung deutete sich an, als Oliver Heaviside 1889 die maxwellsche Elektrodynamik weiterentwickelte und bemerkte, dass das elektrostatische Feld um einen bewegten, kugelförmigen Körper in Bewegungsrichtung um den Faktor verkürzt sei (der sogenannte Heaviside-Ellipsoid). Dem folgend schlugen George Francis FitzGerald (1889) (allerdings nur qualitativ) und unabhängig von ihm Lorentz 1892 (bereits quantitativ ausgearbeitet) vor, dass nicht nur die elektrostatischen, sondern auch die molekularen Kräfte während der Bewegung durch den Äther auf allerdings unbekannte Weise derart beeinflusst werden, dass die in Bewegungsrichtung liegende Interferometeranordnung um den angenäherten Faktor kürzer ist als der senkrecht dazu stehende Teil. Lorentz selbst schlug 1895 verschiedene Möglichkeiten vor, um die relative Verkürzung herbeizuführen: Das Interferometer kontrahiert in Bewegungsrichtung und verändert seine Länge senkrecht dazu nicht. Die Länge des Interferometers bleibt in Bewegungsrichtung gleich, dilatiert jedoch senkrecht dazu. Das Interferometer kontrahiert in Bewegungsrichtung und dilatiert gleichzeitig in etwas größerem Ausmaß senkrecht dazu. Die Lorentzkontraktion der im Äther gemessenen Länge l0 in Bewegungsrichtung (ohne Expansion senkrecht dazu) mit dem präzisen Faktor gemäß wurde erst später von Larmor (1897) und Lorentz (1904) angegeben: Ein mit der Erde mitbewegter Beobachter würde von dieser Kontraktion, die im Falle der Bewegung der Erde um die Sonne nur 1/200.000.000 beträgt, nichts bemerken, da alle Maßstäbe ebenso von diesem Effekt betroffen sind. Obwohl der Zusammenhang zwischen elektrostatischen und intermolekularen Kräften keineswegs notwendig war und die Theorie ziemlich bald als „ad hoc“ und von Lorentz selbst als „seltsam“ bezeichnet wurde, konnte Lorentz zumindest den Zusammenhang mit der Verkürzung elektrostatischer Felder als Plausibilitätsargument zugunsten der Hypothese anführen. Wichtig dabei ist, dass diese Kontraktion nur den Abstand zwischen den Elektronen, nicht jedoch die Elektronen selbst betraf, deswegen wurde die ursprüngliche Kontraktionshypothese auch als „Intermolekularhypothese“ bezeichnet. Die Elektronen selbst wurden von Lorentz erst 1904 in die Kontraktion mit einbezogen. Für die Weiterentwicklung der Kontraktionshypothese siehe den Abschnitt Lorentz-Transformation. Ortszeit Ein wichtiger Teil des Theorems der korrespondierenden Zustände war die von Lorentz 1892 und 1895 eingeführte Ortszeit , wo t die Zeitkoordinate ist, welche ein im Äther ruhender Beobachter benutzt, und t' der Wert ist, den ein zum Äther bewegter Beobachter benutzt. (Wobei Woldemar Voigt bereits 1887 im Zusammenhang mit dem Dopplereffekt und einem inkompressiblen Medium ebenfalls dieselbe Ortszeit verwendete). Aber während für Lorentz die Längenkontraktion ein realer, physikalischer Effekt war, bedeutete für ihn die Ortszeit vorerst nur eine Vereinbarung oder nützliche Berechnungsmethode. Mit Hilfe der Ortszeit und dem mathematischen Formalismus seiner korrespondierenden Zustände konnte Lorentz die Aberration des Lichts, den Dopplereffekt und die bei dem Fizeau-Experiment gemessene Abhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit in bewegten Flüssigkeiten erklären, ohne eine „teilweise Mitführung“ des Äthers (im Sinne der Äthertheorie Fresnels) annehmen zu müssen. Jedoch wurde vorerst nicht erkannt, dass aus der Ortszeit die Existenz der Zeitdilatation folgt. Dies wurde von Larmor 1897 definiert, als er durch Kombination der Ortszeit mit dem Faktor feststellte, dass periodische Vorgänge von bewegten Objekten im Äther langsamer als bei ruhenden Objekten abliefen. Das ergab sich dann auch aus der Arbeit von Lorentz 1899, der erkannte, dass wenn man die Vibrationen eines bewegten, oszillierenden Elektrons auf die mathematische Ortszeit bezog, diese scheinbar langsamer verlaufen. Anders als Lorentz sah Poincaré in der Ortszeit mehr als einen mathematischen Kunstgriff. So schrieb er 1898 in einem philosophischen Aufsatz: 1900 interpretierte er dann die Ortszeit als Ergebnis einer mit Lichtsignalen durchgeführten Synchronisation. Er nahm an, dass zwei im Äther bewegte Beobachter A und B ihre Uhren mit optischen Signalen synchronisieren. Da sie glauben, sich in Ruhe zu befinden, gehen sie von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit aus. Deshalb müssen sie nur noch die Lichtlaufzeiten berücksichtigen und ihre Signale kreuzen, um zu überprüfen, ob ihre Uhren synchron sind. Hingegen aus Sicht eines im Äther ruhenden Beobachters läuft eine Uhr dem Signal entgegen, und die andere läuft ihm davon. Die Uhren sind also nicht synchron, sondern zeigen nur die Ortszeit an. Da die Beobachter aber kein Mittel haben zu entscheiden, ob sie in Bewegung sind oder nicht, werden sie von dem Fehler nichts bemerken. 1904 illustrierte er dieselbe Methode auf folgende Weise: A sendet zum Zeitpunkt 0 ein Signal nach B, welche bei der Ankunft t anzeigt. Und B sendet zum Zeitpunkt 0 ein Signal nach A, welche bei der Ankunft t anzeigt. Wenn in beiden Fällen t denselben Wert ergibt, sind die Uhren synchron. Daher verstand Poincaré im Gegensatz zu Lorentz die Ortszeit genauso wie die Längenkontraktion als realen physikalischen Effekt. Im Gegensatz zu Einstein, der 1905 eine ähnliche Prozedur benutzte, welche heute als Einstein-Synchronisation bekannt ist, blieb Poincaré aber bei der seiner Ansicht nach „bequemeren“ Vorstellung, dass die „wahre“ Zeit trotzdem nur von im Äther ruhenden Uhren angezeigt werde. Lorentz-Transformation Während die Ortszeit nur die negativen Ätherdriftexperimente für Geschwindigkeiten erster Ordnung erklären konnte, wurde es bald (beispielsweise wegen des Trouton-Noble-Experiments) notwendig, die Unentdeckbarkeit des Äthers für alle Größenordnungen zu erklären. Das mathematische Instrumentarium dafür war die Lorentz-Transformation. Diese wurde zum Teil bereits 1887 von Voigt abgeleitet, allerdings benutzte diese sogenannte Voigt-Transformation einen falschen Skalenfaktor. Lorentz war 1895 mit der Ortszeit für Größen zu v/c im Besitz ähnlicher Gleichungen. Joseph Larmor (1897) und Lorentz (1899, allerdings mit einem unbestimmten Faktor) schließlich erweiterten diese Gleichungen für Größen der Ordnung v²/c² und gaben ihnen eine Form, welche äquivalent mit den bis heute benutzten ist. 1904 kam Lorentz sehr nahe einer Theorie, in welcher alle Kräfte zwischen den Molekülen, welcher Natur sie auch seien, in derselben Weise der Lorentztransformation unterworfen sind wie elektrostatische Kräfte – d. h., er konnte die weitgehende Unabhängigkeit der physikalischen Effekte von der Bewegung der Erde demonstrieren. Dabei erweiterte er seine Kontraktionshypothese und erklärte, dass nicht nur der Raum zwischen den Elektronen, sondern auch die Elektronen selbst der Kontraktion unterworfen sind. Ein Problem der Längenkontraktion, wenn man sie auf die Elektronen selbst anwendet, wurde jedoch von Max Abraham (1904) aufgezeigt: Gemäß der elektromagnetischen Theorie konnte ein System aus kontrahierten Elektronen nicht stabil bleiben, und es wird eine zusätzlich nicht-elektrische Energie benötigt, deren Existenz von Abraham bezweifelt wurde. Um diesen Einwand zu entkräften, führte Poincaré (1905) die sogenannten „Poincaŕe-Spannungen“ ein. Dabei handelt es sich um einen externen Druck, welcher nicht nur die Stabilität der Materie, sondern auch die Existenz der Längenkontraktion selbst erklären sollte. (Zu Abrahams Kritik und den Poincaré-Spannungen siehe auch den Abschnitt EM-Ruhemasse und EM-Energie.) Nach Paul Langevin (1905) führt diese Erweiterung der Theorie von Lorentz und Larmor tatsächlich zur physikalischen Unmöglichkeit der Entdeckung einer Bewegung zum Äther. Wie Poincaré jedoch am 5. Juni 1905 zeigte, war es Lorentz nicht gelungen, die vollständige Lorentz-Kovarianz der elektromagnetischen Gleichungen zu zeigen. Er korrigierte den Makel in Lorentz’ Anwendung der Gleichungen (z. B. im Zusammenhang mit der Ladungsdichte und Geschwindigkeit) und zeigte die Gruppeneigenschaft dieser Transformation auf, sprach vom „Postulat der vollständigen Unmöglichkeit der Bestimmung einer absoluten Bewegung“ und sprach die Möglichkeit einer Gravitationstheorie (inkl. Gravitationswellen) an, welche diesen Transformationen entsprach. (Wobei wesentliche Teile dieser Arbeit bereits in zwei Briefen enthalten waren, welche von Poincaré ca. Mai 1905 an Lorentz geschrieben wurden. Im ersten Brief korrigierte Poincaré die elektrodynamischen Gleichungen von Lorentz, und im zweiten begründete er die Gruppeneigenschaft der Lorentz-Transformation und formulierte das relativistische Additionstheorem für Geschwindigkeiten.) wo Wobei eine Funktion von ist, welche gleich 1 gesetzt werden muss, um die Gruppeneigenschaft zu erhalten. Die Lichtgeschwindigkeit setzte er ebenfalls auf 1. Eine deutlich erweiterte Fassung dieser Schrift (auch als Palermo-Arbeit bekannt) wurde am 23. Juli 1905 übermittelt, aber erst im Januar 1906 veröffentlicht, was auch daran lag, dass das betreffende Journal nur zweimal im Jahr erschien. (Einstein veröffentlichte seine Arbeit über die Elektrodynamik genau zwischen den beiden von Poincaré.) Im Zusammenhang mit seiner Gravitationsauffassung zeigte Poincaré, dass die Kombination invariant ist, und führte dabei den Ausdruck als vierte Koordinate eines vierdimensionalen Raums ein – er benutzte dabei Vierervektoren bereits vor Minkowski. Er sprach von dem „Postulat der Relativität“; er zeigte, dass die Transformationen eine Konsequenz des Prinzip der kleinsten Wirkung sind und er demonstrierte ausführlicher als vorher deren Gruppeneigenschaft, wobei er den Namen Lorentz-Gruppe („Le groupe de Lorentz“) prägte. Allerdings merkte Poincaré später an, dass eine Neuformulierung der Physik in eine vierdimensionale Sprache zwar möglich, aber zu umständlich sei und deshalb geringen Nutzen habe, weshalb er seine diesbezüglichen Ansätze nicht weiterverfolgte. Dies wurde später erst durch Minkowski getan. Masse, Energie und Geschwindigkeit J. J. Thomson (1881) und andere bemerkten, dass elektromagnetische Energie zur Masse von geladenen Teilchen beiträgt, und zwar um den Betrag , welche als elektromagnetische oder auch „scheinbare“ Masse bezeichnet wurde. Eine andere Herleitung stammt von Poincaré (1900), wobei dieser den Impuls elektromagnetischer Strahlung benutzte, um das Prinzip von der Erhaltung der Schwerpunktsbewegung aufrechterhalten zu können, und dabei die Beziehung fand. Es wurde ebenfalls bemerkt, dass die Masse mit der Geschwindigkeit anwächst. Verschiedene Autoren wie Thomson, Searle, Abraham, Bucherer gaben nun unterschiedliche Werte an, wobei zwischen der longitudinalen Masse in Bewegungsrichtung und der transversalen Masse senkrecht dazu unterschieden wurde. Lorentz fand dafür 1899 (mit einem unbestimmten Faktor) und 1904 folgende Beziehungen: , wo Diese Beziehungen wurden mit den Kaufmann-Bucherer-Neumann-Experimenten an Kathodenstrahlen überprüft, die jedoch lange Zeit umstritten waren. Viele Forscher glaubten nun, dass die gesamte Masse und alle Kräfte elektromagnetischen Ursprungs sind. Doch diese Idee musste aufgegeben werden, denn Abraham zeigte, dass nicht-elektromagnetische Bindungskräfte erforderlich sind, um Lorentz’ Elektron zu stabilisieren. Er errechnete auch, dass unterschiedliche Ergebnisse erzielt werden, wenn die longitudinale Masse auf Basis der Energie oder ihres Impulses berechnet wird. Um dieses Problem zu lösen, führte Poincaré 1905 und 1906 ein Potential nicht-elektromagnetischer Natur ein (Poincaré-Spannungen), die zur Energie der Körper beiträgt und somit den -Faktor erklären. Er ging allerdings immer noch davon aus, dass nur die elektromagnetische Energie zur Masse beiträgt. Diese Annahme wurde durch Einsteins Äquivalenz von Masse und Energie abgelöst, wonach die gesamte Energie, nicht nur die elektromagnetische, zur Masse der Körper beiträgt. Gravitation Die Theorien von Lorentz Lorentz versuchte 1900 auf Basis der Maxwell-Lorentz’schen Elektrodynamik auch das Phänomen der Gravitation zu erklären. Zuerst schlug er einen auf der Le-Sage-Gravitation beruhenden Mechanismus vor. Er nahm dabei an, dass der Äther von einer extrem hochfrequenten EM-Strahlung erfüllt sei, welche einen enormen Druck auf die Körper ausübt. Wird nun diese Strahlung vollständig absorbiert, entsteht durch Abschirmung zwischen den Körpern tatsächlich eine dem Abstandsgesetz folgende „Anziehungskraft“. Das war jedoch dasselbe Problem wie bei den anderen Le-Sage-Modellen: Bei Absorption muss die Energie irgendwohin verschwinden, oder es müsste zu einer enormen Wärmeproduktion kommen, was jedoch nicht beobachtet wird. Lorentz verwarf dieses Modell deshalb. In derselben Arbeit versuchte er dann, die Gravitation als eine Art elektrische Differenzkraft zu erklären. Dabei ging er wie vor ihm Ottaviano Fabrizio Mossotti und Karl Friedrich Zöllner von der Vorstellung aus, dass die Anziehung zweier ungleichnamiger elektrischer Ladungen um einen Bruchteil stärker sei als die Abstoßung zweier gleichnamiger Ladungen. Das Ergebnis wäre nichts anderes als die universelle Gravitation, wobei sich nach dieser Theorie Änderungen im Gravitationsfeld mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Das führt jedoch zum Konflikt mit dem Gravitationsgesetz Isaac Newtons, in dem wie Pierre-Simon Laplace anhand der Aberration der Gravitation gezeigt hat, dass die Ausbreitungsgeschwindigkeit ein Vielfaches der Lichtgeschwindigkeit betragen müsste. Lorentz konnte zeigen, dass in dieser Theorie aufgrund der Struktur der Maxwell-Gleichungen nur vernachlässigbare Abweichungen vom Gravitationsgesetz in der Größenordnung auftreten. Er erhielt jedoch für die Periheldrehung einen viel zu geringen Wert. 1908 untersuchte Poincaré ebenfalls die von Lorentz aufgestellte Gravitationstheorie und klassifizierte sie als mit dem Relativitätsprinzip vereinbar, bemängelte jedoch wie Lorentz die ungenaue Angabe zur Perihel-Drehung des Merkur. Lorentz selbst jedoch verwarf 1914 sein eigenes Modell, weil er es nicht als mit dem Relativitätsprinzip vereinbar ansah. Stattdessen sah er Einsteins Arbeiten über Gravitation und Äquivalenzprinzip als die vielversprechendste Erklärungsart an. Poincarés Lorentz-invariantes Gravitationsgesetz Poincaré stellte 1904 fest, dass zur Aufrechterhaltung des Relativitätsprinzips kein Signal schneller als die Lichtgeschwindigkeit sein darf, ansonsten würde obige Synchronisationsvorschrift und somit die Ortszeit nicht mehr gelten. Dies wurde von ihm zu diesem Zeitpunkt als möglicher Einwand gegen die Verträglichkeit des Relativitätsprinzips mit der neuen Theorie aufgefasst. Er errechnete jedoch im Jahre 1905 und 1906, dass Veränderungen im Gravitationsfeld sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten können und trotzdem ein gültiges Gravitationsgesetz möglich ist, vorausgesetzt einer solchen Theorie wird die Lorentztransformation zugrunde gelegt. Später versuchten auch Minkowski (1908) und Arnold Sommerfeld (1910), auf Poincarés Ansatz aufbauend ein Lorentz-invariantes Gravitationsgesetz zu entwerfen, was jedoch durch die Arbeiten von Einstein überflüssig gemacht wurde. Prinzipien und Konventionen Konstanz der Lichtgeschwindigkeit Bereits in seiner philosophischen Schrift über die Zeitmessungen (1898) schrieb Poincaré, dass Astronomen wie Ole Rømer bei der Interpretation der Messung der Lichtgeschwindigkeit anhand der Monde des Jupiter von dem Postulat ausgehen müssen, dass das Licht konstant und in alle Richtungen gleich schnell ist. Ansonsten würden andere Gesetze wie das Gravitationsgesetz sehr viel komplizierter ausfallen. (Allerdings ist hier nicht vollkommen klar, ob nach Poincaré dieses Postulat Gültigkeit für alle Bezugssysteme hat.) Ebenso muss die Ausbreitungsgeschwindigkeit bei der Bestimmung der Gleichzeitigkeit von Ereignissen berücksichtigt werden. Dieses Verfahren führte Poincaré 1900 schließlich bei seiner Interpretation der lorentzschen Ortszeit durch, wobei die Ortszeit (neben der Kontraktionshypothese) für die beobachtete Gültigkeit des Relativitätsprinzips notwendig ist, wie Poincaré mehrmals betonte. Und 1904 fasste er den Zusammenhang zwischen der lorentzschen Theorie und der Lichtgeschwindigkeit auf diese Weise zusammen: Relativitätsprinzip Bereits 1895 nahm Poincaré an, dass das Michelson-Morley-Experiment zu zeigen scheint, dass es unmöglich ist, eine absolute Bewegung oder die Bewegung der Materie relativ zum Äther zu messen. Und obwohl die meisten Physiker dies sehr wohl für möglich hielten, blieb Poincaré auch 1900 bei seiner Meinung und verwendete abwechselnd die Begriffe „Prinzip der relativen Bewegung“ bzw. „Relativität des Raumes“. Er kritisierte aber gleichzeitig die Künstlichkeit der jeweils nach Bedarf entworfenen Annahmen, um dieses Prinzip zu retten. Schließlich gebrauchte er 1902 dafür den Ausdruck „Prinzip der Relativität“. 1904 würdigte er einerseits die Arbeit der Mathematiker, welche dieses Prinzip mit Hypothesen wie der Ortszeit gerettet haben, kritisierte aber wiederum die „Anhäufung von Hypothesen“. Dabei definierte er dieses Prinzip (nach Miller in Abwandlung von Lorentz’ Theorem der korrespondierenden Zustände) folgendermaßen: Bezug nehmend auf diese Einwände Poincarés, versuchte Lorentz eine zusammenhängendere Theorie zu gestalten und schrieb 1904: Obwohl Poincaré 1905 zeigte, dass Lorentz seine Arbeit nicht vollendet hatte, schrieb er ihm dieses Postulat zu: 1906 bezeichnete Poincaré dies als das „Postulat der Relativität“ („Postulat de Relativité“). Und obwohl er angab, dass dieses Postulat vielleicht widerlegt werden könnte (und tatsächlich erwähnte er, dass die Entdeckung der magnetischen Kathodenstrahlen durch Paul Villard (1904) die Theorie gefährdet), sei es trotzdem interessant, die Konsequenzen zu betrachten, wenn das Postulat ohne Einschränkung gültig sei. Das impliziere auch, dass alle Kräfte der Natur (nicht nur elektromagnetische) invariant unter der Lorentztransformation sind. 1921 würdigte auch Lorentz die Leistungen von Poincaré im Zusammenhang mit der Etablierung des Relativitätsprinzips: Die Rolle des Äthers Poincaré schrieb 1889 im Sinne seiner Philosophie des Konventionalismus: 1901 stritt er auch die Existenz eines absoluten Raums oder einer absoluten Zeit ab: Poincaré verwendete den Ätherbegriff jedoch weiter und begründete den Nutzen des Äthers 1900 damit, dass erklärt werden müsse, wo sich der Lichtstrahl eigentlich befinde, nachdem er die Quelle verlassen hat und bevor er den Empfänger erreicht. Denn in der Mechanik müsse ein Zustand exakt durch den vorhergehenden Zustand bestimmt sein. Um also die Einfachheit oder Bequemlichkeit der mechanischen Naturgesetze nicht aufgeben zu müssen, werde ein materieller Träger benötigt. Und obwohl er den relativen und konventionellen Charakter von Raum und Zeit betonte, glaubte er, dass die klassische Konvention „bequemer“ ist und fuhr fort, zwischen der „wahren“ und der „scheinbaren“ Zeit zu unterscheiden. Z. B. schrieb er 1912 zu der Frage, ob die gewohnten Konventionen zu Raum und Zeit tatsächlich geändert werden müssen: Und auch Lorentz schrieb 1913: Der Übergang zur Relativitätstheorie Spezielle Relativitätstheorie Während einige mit der Elektronentheorie von Lorentz zusammenhängenden Erklärungen (z. B. dass die Materie ausschließlich aus Elektronen bestehe, oder dass es in der Natur ausschließlich elektrische Wechselwirkungen gebe, oder die angeführten Gravitationserklärungen) eindeutig widerlegt sind, sind viele Aussagen und Ergebnisse der Theorie äquivalent mit Aussagen der speziellen Relativitätstheorie (SRT, 1905) von Albert Einstein. Hier gelang es Einstein, die Lorentztransformation und die anderen Teile der Theorie alleine aus der Annahme von zwei Prinzipien, nämlich dem Relativitätsprinzip und der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, abzuleiten. Diese Prinzipien wurden zum Teil auch von Poincaré und Lorentz verwendet, jedoch erkannten sie nicht, dass sie auch ausreichend sind, um ohne Benutzung eines Äthers oder irgendwelcher angenommener Eigenschaften der Materie eine geschlossene Theorie zu begründen. Zuerst Poincaré und dann Lorentz lehrten zwar die vollständige mathematische Gleichberechtigung der Bezugssysteme und erkannten an, dass tatsächlich unterschiedliche Raum- und Zeitkoordinaten gemessen werden. Sie blieben aber dabei, die Effekte der Lorentztransformation auf dynamische Wechselwirkungen mit dem Äther zurückzuführen, unterschieden zwischen der „wahren“ Zeit im ruhenden Äthersystem und der „scheinbaren“ Zeit in relativ dazu bewegten Systemen, und erwähnten den Äther bis zuletzt in ihren Schriften. Die grundlegende Neubewertung von Raum und Zeit im Rahmen einer wissenschaftlichen Theorie blieb Einstein vorbehalten. Einsteins Präsentation der SRT wurde 1907 durch Hermann Minkowski erweitert, dessen vierdimensionale Raumzeit eine sehr natürliche Interpretation der Zusammenhänge der Theorie ermöglichten (wobei die grundlegenden Aspekte der vierdimensionalen Raumzeit wie oben geschildert bereits von Poincaré vorweggenommen wurden). Die Natürlichkeit und Nützlichkeit der Darstellung durch Einstein und Minkowski trugen zur Akzeptanz der SRT und zur Abnahme des Interesses an Lorentz’ Äthertheorie bei. Lorentz selbst argumentierte zwar 1913, dass zwischen seiner Äthertheorie und der Ablehnung eines bevorzugten Bezugssystems kein großer Unterschied bestehe und es deswegen eine Frage des Geschmacks sei, zu welcher Theorie man sich bekenne. Jedoch kritisierte Einstein 1907 den ad-hoc-Charakter der Kontraktionshypothese, weil sie einzig zur Rettung des Äthers eingeführt wurde, wobei ein unauffindbarer Äther als Fundament der Elektrodynamik unbefriedigend sei. Auch Minkowski bezeichnete 1908 die Kontraktionshypothese im Rahmen von Lorentz’ Theorie als „Geschenk von oben“; aber obwohl Lorentz’ Theorie vollständig äquivalent mit der neuen Konzeption von Raum und Zeit ist, war Minkowski der Meinung, dass die Zusammenhänge im Rahmen der neuen Raumzeit-Physik sehr viel verständlicher werden. Äquivalenz von Masse und Energie Wie Einstein (1905) aus dem Relativitätsprinzip abgeleitet hat, ergibt sich tatsächlich eine Trägheit der Energie gemäß , oder genauer gesagt, dass elektromagnetische Strahlung Trägheit von einem Körper zum anderen übertragen kann. Doch im Gegensatz zu Poincaré erkannte Einstein, dass die Materie bei der Emission einen Massenverlust von erfährt – das heißt, die in den Materie aufgespeicherte und einer bestimmten Masse entsprechende Energie und die elektromagnetische Energie können gemäß ineinander überführt werden, woraus sich erst die eigentliche Äquivalenz von Masse und Energie ergibt. Poincarés Strahlungsparadoxon kann mit dieser Äquivalenz vergleichsweise einfach gelöst werden. Wird angenommen, dass die Lichtquelle bei der Emission gemäß an Masse verliert, löst sich der Widerspruch auf, ohne irgendwelche ausgleichenden Kräfte im Äther annehmen zu müssen. Ähnlich wie Poincaré konnte Einstein 1906 zeigen, dass das Theorem von der Erhaltung und Bewegung des Schwerpunkts auch bei elektrodynamischer Betrachtung gültig ist, wenn die Trägheit der (elektromagnetischen) Energie vorausgesetzt wird. Auch hier musste er nicht wie Poincaré fiktive Massen einführen, sondern brauchte nur aufzuzeigen, wie die Emission und Absorption von Energie zur Übertragung der Trägheit führt, so dass kein Perpetuum mobile entstehen kann. Dabei verwies er auf die Arbeit von Poincaré und bewertete deren Inhalt als formal weitgehend übereinstimmend mit seinem eigenen Text. Einstein schrieb in der Einleitung: Ebenso kann mit Einsteins Ansatz der von Poincaré angesprochene Widerspruch zwischen der Aufgabe des Massenerhaltungssatzes und dem Reaktionsprinzip gelöst werden, da der Massenerhaltungssatz jetzt ein Spezialfall des Energieerhaltungssatzes ist. Allgemeine Relativitätstheorie Nach der von Einstein entwickelten allgemeinen Relativitätstheorie (ART), welche die Gravitationserklärungen von Lorentz und Poincaré überflüssig machte, führt eine Einbeziehung der Gravitation in das Relativitätsprinzip dazu, dass Lorentz-Transformationen und die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit nur noch lokal definierbar und gültig sind. Einstein selbst sagte in einer Rede (1920), dass im Rahmen der ART der Raum nicht ohne Gravitationspotential gedacht werden kann und damit dem Raum selbst physikalische Qualitäten anhaften. Deswegen könne man von einem „Gravitationsäther“ im Sinne eines „Äthers der Allgemeinen Relativitätstheorie“ sprechen. Er schrieb: Priorität Es gibt einige Spekulationen, wonach die spezielle Relativitätstheorie das Werk von Poincaré und Lorentz, und nicht von Einstein war. Siehe dazu den Artikel: Geschichte der speziellen Relativitätstheorie Neuere Entwicklungen Neu-Lorentzianismus Obwohl die Idee eines bevorzugten Bezugssystems von der Fachwelt größtenteils abgelehnt wird, wurden nach Lorentz und Poincaré einige „lorentzianische“ oder „neu-lorentzianische“ Modelle (engl.: neo-Lorentzian relativity) entwickelt. Diese Theorien wurden vor allem in den 1950er Jahren unter anderem von Herbert E. Ives und Geoffrey Builder vertreten und in den nachfolgenden Jahrzehnten von Simon Jacques Prokhovnik. Übereinstimmend mit der ursprünglichen lorentzschen Äthertheorie wurde ein ruhender Äther angenommen, wobei die Lichtgeschwindigkeit ausschließlich relativ zu diesem konstant ist, und folglich in bewegten Inertialsystemen richtungsabhängig sein müsste. Wird nun neben der Richtungsabhängigkeit der Effekt der Längenkontraktion postuliert, folgt daraus auch die Existenz der Zeitdilatation. Deswegen ist es (sofern nicht zusätzliche Parameter der Theorie geändert werden) nicht möglich, die Anisotropie der Lichtgeschwindigkeit experimentell festzustellen. Experimente, wie die des exzentrischen bulgarischen Physikers Stefan Marinow, welche angeblich eine Bestätigung für deren Richtungsabhängigkeit lieferten, wurden von der Fachwelt als unbrauchbar zurückgewiesen. Auch Helmut Günther hat 1996 ein lorentzianisches Modell eines universellen Äthers entwickelt. Dies basiert auf der Tatsache, dass quasi-relativistische Effekte wie Längenkontraktion bei plastischen Deformationen und Versetzungen in Kristallstrukturen oder auch bei Pendelketten im Zusammenhang mit Solitonen festgestellt wurden. Dies liegt daran, dass die diesen Phänomenen zugrunde liegende Sine-Gordon-Gleichung Lorentz-invariant ist. Andere lorentzianische Modelle werden in Brandes et al. diskutiert. Jedoch werden alle diese Modelle in der Fachwelt kaum weiter diskutiert, da einer Theorie, in der der Äther durch eine Art Verschwörung verschiedener Effekte praktisch nicht entdeckbar ist, ein recht geringer Grad von Wahrscheinlichkeit beigemessen wird. Siehe auch Kritik an der Relativitätstheorie#Äther und absoluter Raum. Testtheorien der speziellen Relativitätstheorie Einige Testtheorien der speziellen Relativitätstheorie, mit welchen mögliche Abweichungen von der Lorentzinvarianz bewertet werden sollen, enthalten die lorentzsche Äthertheorie als Grenzfall. Präzisionsmessungen haben bis jetzt die Gültigkeit der Lorentzinvarianz vollumfänglich bestätigt. Literatur Für eine genaue Liste mit den Quellen zu allen anderen Autoren, siehe Geschichte der speziellen Relativitätstheorie#Literatur Arbeiten von Lorentz, Poincaré, Einstein Lorentz, Hendrik Antoon: De door Hall ontdekte werking van een magneet op een electrischen stroom en de electromagnetische draaiing van het polarisatievlak van het licht (= Versl. Kon. Ak. Wet. Band 19, Nr. 2). Müller, Amsterdam 1883, S. 217–248. Siehe auch deutsche Übersetzung. Nachdruck in „Wissenschaft und Hypothese“ (1902), Kap. 6–7. Siehe auch deutsche Übersetzung. Siehe auch deutsche Übersetzung. Deutsche Übersetzung in „Wissenschaft und Methode“ (1908), Drittes Buch. Sekundärquellen : Title/TOC (PDF; 74 kB), (PDF; 71 kB), (PDF; 63 kB), Chapter 1 (PDF; 271 kB), Chapter 2 (PDF; 462 kB), (PDF; 90 kB), Chapter 3 (PDF; 664 kB), Chapter 4 (PDF; 132 kB), References (PDF; 111 kB) Quellen für neuere Arbeiten Sendker, Werner Bernhard: Die so unterschiedlichen Theorien von Raum und Zeit. Der transzendentale Idealismus Kants im Verhältnis zur Relativitätstheorie Einsteins, Osnabrück, 2000 ISBN 3-934366-33-3 Wolf et al.: Recent Experimental Tests of Special Relativity (2005):; und Relativity tests by complementary rotating Michelson-Morley experiments (2007): Einzelnachweise Primärquellen Sekundärquellen Neuere Arbeiten Weblinks Kassner, Klaus: Die lorentzsche Äthertheorie Mathpages: Who Invented Relativity?, Poincaré Contemplates Copernicus, Whittaker and the Aether, Another Derivation of Mass-Energy Equivalence Relativitätstheorie Überholte Theorie (Physik) Hendrik Antoon Lorentz
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https://de.wikipedia.org/wiki/Vanadium
Vanadium
Vanadium, veraltet auch Vanadin, ist ein chemisches Element mit dem Symbol V und der Ordnungszahl 23. Es ist ein stahlgraues, bläulich schimmerndes, in reinem Zustand sehr weiches Übergangsmetall. Im Periodensystem bildet das Metall zusammen mit den schwereren Niob, Tantal und Dubnium die 5. IUPAC-Gruppe oder Vanadiumgruppe. Der Großteil des Vanadiums wird als sogenanntes Ferrovanadium in der Stahlherstellung eingesetzt. Der Zusatz von Vanadium in Chrom-Vanadium-Stählen führt zu einer Erhöhung der Zähigkeit und damit zu einer erhöhten Widerstandsfähigkeit des Stahls. Das Element besitzt verschiedene biologische Bedeutungen und ist für viele Lebewesen essentiell. So spielt es eine Rolle bei der Steuerung von Enzymen der Phosphorylierung und wird von Bakterien zur Stickstofffixierung genutzt. Andererseits steht es oder seine Verbindungen in Verdacht, als mutagenes Klastogen Chromosomenaberrationen hervorzurufen und somit als Gift und Karzinogen zu wirken. Die bekannteste Verbindung des Vanadiums ist Vanadium(V)-oxid, das als Katalysator für die Produktion von Schwefelsäure eingesetzt wird. Geschichte Zum ersten Mal wurde das spätere Vanadium 1801 vom spanischen Mineralogen Andrés Manuel del Río in einem mexikanischen Bleierz, dem späteren Vanadinit, entdeckt. Er nannte das neue Element zunächst wegen der Vielfarbigkeit der Verbindungen Panchromium, später Erythronium, da sich die Salze beim Ansäuern rot färbten. Die Entdeckung widerrief del Rio jedoch kurze Zeit später, als zunächst Alexander von Humboldt und später der französische Chemiker H.V. Collett-Desotils auf Grund der Ähnlichkeit zu Chromverbindungen behaupteten, bei dem neuen Element würde es sich um verunreinigtes Chrom handeln. Die Wiederentdeckung des Elementes gelang 1830 dem schwedischen Chemiker Nils Gabriel Sefström. Er untersuchte Eisen aus der schwedischen Eisenerzgrube Taberg, indem er dieses in Salzsäure löste. Dabei entdeckte er neben anderen bekannten Stoffen ein unbekanntes Element, das in manchen Eigenschaften dem Chrom, in anderen dem Uran ähnelte, aber nach weiteren Untersuchungen keines dieser Elemente war. Das neue Element benannte er nach Vanadis, einem Beinamen der nordischen Gottheit Freyja. Kurze Zeit später erbrachte Friedrich Wöhler, der sich bei Berzelius bereits mit der Aufgabe beschäftigt hatte, den Identitätsnachweis von Vanadium mit Erythronium. Metallisches Vanadium wurde erstmals 1867 von Henry Enfield Roscoe durch Reduktion von Vanadium(II)-chlorid mit Wasserstoff hergestellt. 99,7 % reines Vanadium konnten erstmals 1925 John Wesley Marden und Malcolm Rich durch Reduktion von Vanadium(V)-oxid mit Calcium gewinnen. Vanadium wurde erstmals 1903 verwendet, als in England der erste vanadiumhaltige Stahl produziert wurde. Die stärkere Verwendung des Elements in der Stahlindustrie begann ab 1905, als Henry Ford Vanadiumstähle für den Bau von Automobilen einsetzte. Vorkommen Vanadium ist auf der Erde ein häufiges Element, sein Anteil an der kontinentalen Erdkruste beträgt etwa 120 ppm. Eine ähnliche Elementhäufigkeit besitzen Zirconium, Chlor und Chrom. Das Element kommt überwiegend gebunden in verschiedenen Mineralen vor. Trotz der Häufigkeit des Vanadiums sind Lagerstätten mit hohen Konzentrationen des Elements selten, viele Vanadiumminerale kommen nicht häufig vor. Im Vergleich zur Erdkruste ist der Gehalt im Meerwasser deutlich geringer, er liegt bei etwa 1,3 μg/l. Zu den wichtigsten Vanadiummineralen zählen vor allem Vanadate wie Vanadinit [Pb5(VO4)3Cl], Descloizit Pb(Zn,Cu) [OH|VO4] und Carnotit [K2(UO2)2(VO4)2·3H2O], sowie das Vanadiumsulfid Patrónit VS4. Der größte Teil des Vanadiums findet sich in Spuren in anderen Mineralen, vor allem Eisenerzen wie Magnetit. Der Vanadiumgehalt von Titan-Magnetit-Erzen beträgt meist zwischen 0,3 und 0,8 %, kann aber in manchen südafrikanischen Erzen bis zu 1,7 % erreichen. Tiere und Pflanzen enthalten Vanadium, so enthält der Mensch etwa 0,3 mg/kg. Dieses befindet sich zumeist in Zellkernen oder Mitochondrien. Einige Lebewesen, vor allem einige Seescheidenarten und der Fliegenpilz, sind in der Lage, Vanadium anzureichern. In Seescheiden ist der Vanadiumgehalt bis zu 107-mal so groß wie im umgebenden Meerwasser. Auf Grund des Vanadiumgehaltes von Lebewesen sind auch Kohle und Erdöl, die aus diesen entstehen, vanadiumhaltig. Der Gehalt beträgt bis zu 0,1 %. Besonders hohe Vanadiumgehalte findet man in Erdöl aus Venezuela und Kanada. Im Jahr 2020 wurden insgesamt 105.800 Tonnen Vanadiumerz gefördert (gerechnet als Vanadiummetall). Vanadium wird derzeit (2022) nur in 6 Ländern weltweit abgebaut, wobei 99 % des abgebauten Vanadiums in nur 4 Ländern gewonnen wird Südafrika, China, Russland und Brasilien. Wegen dieser hohen Abhängigkeit von wenigen Ländern, wird Vanadium sowohl von der EU, als auch den USA in der Liste kritischer Rohstoffe geführt. Bei bekannten Reserven von insgesamt 24 Millionen Tonnen (Stand 2022) ist ein Lieferengpass bei Vanadium auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. → :Kategorie:Vanadiummineral Vanadium als Mineral Seit 2012 ist Vanadium von der International Mineralogical Association (IMA) als Mineral anerkannt. Es konnte erstmals durch Mikhail Ostrooumov als Resublimationsprodukt in Hochtemperatur-Fumarolen des mexikanischen Vulkans Colima entdeckt werden. Als Begleitminerale traten das ebenfalls erstmals dort entdeckte Kalium-Vanadium-Sulfid Colimait (K3VS4) und das Vanadiumoxid Shcherbinait (V5+2O5) auf. Die Publikation der Erstbeschreibung erfolgte durch Ostrooumov und Yuri Taran 2015 zunächst in der Macla. Revista de la Sociedad Española de Mineralogía und 2016 im Mineralogical Magazine. Neben seiner Typlokalität am Vulkan Colima konnte Vanadium gediegen bisher nur noch an einer nicht näher benannten Hibonit-Fundstätte in der argentinischen Sierra de los Comechingones entdeckt werden. Ein weiterer Fund im Vanadiumerz-Tagebau Rhovan bei Rustenburg in der südafrikanischen Provinz Nordwest wurde bisher nicht bestätigt. Gemäß der Systematik der Minerale nach Strunz (9. Auflage) wird Vanadium unter der System-Nr. 1.AF.05 (Elemente – Metalle und intermetallische Verbindungen – Eisen-Chrom-Familie – Eisengruppe) eingeordnet. Gewinnung und Darstellung Die Darstellung von Vanadium läuft in mehreren Schritten ab. Zunächst muss aus verschiedenen Ausgangsstoffen Vanadium(V)-oxid gewonnen werden. Dieses lässt sich dann zum elementaren Metall reduzieren und gegebenenfalls reinigen. Mögliche Ausgangsstoffe, aus denen Vanadium gewonnen werden kann, sind Vanadiumerze wie Carnotit oder Patronit, vanadiumhaltige Titan-Magnetit-Erze und Erdöl. Vanadiumerze waren in früherer Zeit für die Produktion wichtig, spielen jedoch keine wichtige Rolle mehr und sind vor allem von den Titan-Magnetit-Erzen abgelöst worden. Werden vanadiumhaltige Eisenerze im Hochofenprozess zu Eisen reduziert, bleibt das Vanadium zunächst im Roheisen. Um das Roheisen weiter zu Stahl zu verarbeiten, wird während des Frischens Sauerstoff eingeblasen. Dabei geht das Vanadium in die Schlacke über. Diese enthält bis zu 25 % Vanadium(V)-oxid und ist die wichtigste Quelle für die Gewinnung des Metalls. Um das reine Vanadium(V)-oxid zu gewinnen, wird die feingemahlene Schlacke mit Natriumsalzen wie Natriumchlorid oder Natriumcarbonat oxidierend geröstet. Dabei bildet sich wasserlösliches Natriummetavanadat, das von der restlichen Schlacke durch Auslaugen abgetrennt wird. Durch Zugabe von Säure und Ammoniumsalzen fällt das entstandene unlösliche Ammoniumpolyvanadat aus der Lösung aus. Dieses kann durch Rösten zu Vanadium(V)-oxid umgewandelt werden. Auch aus anderen vanadiumhaltigen Erzen kann auf identischem Weg das Oxid gewonnen werden. Aus Erdöl kann das Vanadium durch Bildung einer Emulsion unter Zugabe von Wasser und Magnesiumnitrat extrahiert werden. Die weitere Aufarbeitung geschieht wie bei der Gewinnung aus Eisenerzen. Die eigentliche Vanadiumgewinnung findet durch Reduktion des Vanadium(V)-oxids mit anderen Metallen statt. Als Reduktionsmittel können Aluminium, Calcium, Ferrosilicium oder Kohlenstoff verwendet werden; mit letzterem bilden sich jedoch bei der Reaktion Carbide, die schwer vom Metall abgetrennt werden können. Reduktion mit Calcium Um reines Vanadium zu erhalten, wird teures Calcium oder Aluminium als Reduktionsmittel verwendet, da mit dem billigeren Ferrosilicium keine hohe Reinheit zu erreichen ist. Während mit Calcium direkt reines Vanadium gewonnen wird, bildet sich mit Aluminium zunächst eine Vanadium-Aluminium-Legierung, aus der durch Sublimation im Vakuum reines Vanadium gewonnen wird. Ein Großteil des Vanadiums wird jedoch nicht als reines Metall, sondern in Form der Eisen-Vanadium-Legierung Ferrovanadium, die mindestens 50 % Vanadium enthält, verwendet. Um diese herzustellen, ist es nicht nötig, vorher das reine Vanadium zu gewinnen. Stattdessen wird die vanadium- und eisenhaltige Schlacke mit Ferrosilicium und Kalk zu Ferrovanadium reduziert. Diese Legierung reicht für die meisten technischen Anwendungen aus. Reinstes Vanadium kann entweder elektrochemisch oder nach dem Van-Arkel-de-Boer-Verfahren dargestellt werden. Dazu wird das reine Vanadium zusammen mit Iod in eine luftleere Glasampulle eingeschmolzen. Das in der geheizten Ampulle gebildete Vanadium(III)-iodid zersetzt sich an einem heißen Wolframdraht zu hochreinem Vanadium und Iod. Reaktion im Van-Arkel-de-Boer-Verfahren Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Vanadium ist ein nichtmagnetisches, zähes, schmiedbares und deutlich stahlblaues Schwermetall mit einer Dichte von 6,11 g/cm3. Reines Vanadium ist relativ weich, wird aber durch Beimengungen anderer Elemente härter und besitzt dann eine hohe mechanische Festigkeit. In den meisten Eigenschaften ähnelt es seinem Nachbarn im Periodensystem, dem Titan. Der Schmelzpunkt von reinem Vanadium liegt bei 1910 °C, dieser wird jedoch durch Verunreinigungen wie Kohlenstoff deutlich erhöht. Bei einem Gehalt von 10 % Kohlenstoff liegt er bei etwa 2700 °C. Vanadium kristallisiert wie Chrom oder Niob in einer kubisch-raumzentrierten Kristallstruktur (Wolfram-Typ) mit der und dem Gitterparameter a = 302,4 pm sowie zwei Formeleinheiten pro Elementarzelle. Unterhalb einer Sprungtemperatur von 5,13 K wird Vanadium zum Supraleiter. Ebenso wie reines Vanadium sind auch Legierungen des Vanadiums mit Gallium, Niob und Zirconium supraleitend. Bei Temperaturen unter 5,13 K zeigt Vanadium, ebenso wie die Vanadiumgruppenmetalle Niob und Tantal, in kleinsten Klümpchen bis 200 Atomen eine bisher nicht erklärte, spontane elektrische Polarisation, wie sie sonst nur nichtmetallische Stoffe aufweisen. Chemische Eigenschaften Vanadium ist ein unedles Metall und in der Lage, mit vielen Nichtmetallen zu reagieren. An der Luft bleibt es wochenlang metallisch glänzend. Bei der Betrachtung über längere Zeiträume wird deutlich sichtbarer grüner Rost wahrgenommen. Soll Vanadium konserviert bleiben, so muss es unter Argon aufbewahrt werden. In der Hitze wird es von Sauerstoff angegriffen und zu Vanadium(V)-oxid oxidiert. Während Kohlenstoff und Stickstoff mit Vanadium erst bei Weißglut reagieren, findet die Reaktion mit Fluor und Chlor schon in der Kälte statt. Gegenüber Säuren und Basen ist Vanadium bei Raumtemperatur meist stabil auf Grund einer dünnen passivierenden Oxidschicht; angegriffen wird es in diesem Zustand nur von Flusssäure sowie stark oxidierend wirkenden Säuren wie heißer Salpetersäure, konzentrierter Schwefelsäure und Königswasser. Bis zu einer Temperatur von 500 °C ist Vanadium in der Lage, Wasserstoff zu absorbieren. Dabei wird das Metall spröde und lässt sich leicht pulvern. Entfernen lässt sich der Wasserstoff bei 700 °C im Vakuum. Isotope Von Vanadium sind insgesamt 27 Isotope und weitere 6 Kernisomere bekannt. Von diesen kommen zwei natürlich vor. Dies sind die Isotope 50V mit einer natürlichen Häufigkeit von 0,25 % und 51V mit einer Häufigkeit von 99,75 %. 50V ist schwach radioaktiv, es zerfällt mit einer Halbwertszeit von 1,5 · 1017 Jahren zu 83 % unter Elektroneneinfang zu 50Ti, zu 17 % unter β−-Zerfall zu 50Cr. Beide Kerne können für Untersuchungen mit der NMR-Spektroskopie genutzt werden. Die stabilsten künstlichen Isotope sind 48V mit einer Halbwertszeit von 16 Tagen und 49V mit einer Halbwertszeit von 330 Tagen. Diese finden als Tracer Verwendung. Alle anderen Isotope und Kernisomere sind sehr instabil und zerfallen in Minuten oder Sekunden. → Liste der Vanadium-Isotope Verwendung Reines Vanadium wird nur zu einem geringen Prozentsatz aufgrund seines geringen Neutroneneinfangquerschnitts als Hüllwerkstoff für Kernbrennstoffe verwendet. Es können aber auch beständigere Vanadiumlegierungen genutzt werden. Über 90 % der Produktion werden in einer Vielzahl von Legierungen, meist mit den Metallen Eisen, Titan, Nickel, Chrom, Aluminium oder Mangan eingesetzt. Nur ein kleiner Teil wird in Verbindungen, meist als Vanadium(V)-oxid genutzt. Mit 85 % des produzierten Vanadiums wird der weitaus größte Teil in der Stahlindustrie verbraucht. Da hierfür keine hohen Reinheiten nötig sind, wird Ferrovanadium als Rohstoff genutzt. Vanadium steigert schon in kleinen Mengen die Festigkeit und Zähigkeit von Stählen und dadurch deren Verschleißfestigkeit deutlich. Dies wird durch die Bildung von hartem Vanadiumcarbid bewirkt. Je nach Anwendung werden unterschiedliche Mengen Vanadium beigegeben; so enthalten Baustähle und Werkzeugstähle nur geringe Mengen (0,2 bis 0,5 %) Vanadium, Schnellarbeitsstahl bis zu 5 %. Vanadiumhaltige Stähle werden vor allem für mechanisch beanspruchte Werkzeuge und Federn genutzt. Titanlegierungen, die Vanadium und meist auch Aluminium enthalten, sind besonders stabil und hitzebeständig und werden im Flugzeugbau für tragende Teile und Turbinenblätter von Flugzeugtriebwerken eingesetzt. Vanadiumverbindungen können zur elektrochemischen Energiespeicherung in Redox-Flow-Zellen dienen, siehe Vanadium-Redox-Akkumulator. Dabei werden Vanadiumsalze in sauren wässrigen Lösungen eingesetzt, die in Tanks gespeichert werden. Nachweis Eine Vorprobe liefert die Phosphorsalzperle, bei der Vanadium in der Reduktionsflamme charakteristisch grün erscheint. Die Oxidationsflamme ist schwach gelb und damit zu unspezifisch. Ein qualitativer Nachweis für Vanadium beruht auf der Bildung von Peroxovanadiumionen. Dazu wird eine saure Lösung, die Vanadium in der Oxidationsstufe +5 enthält, mit wenig Wasserstoffperoxid versetzt. Es bildet sich das rötlich-braune [V(O2)]3+-kation. Dieses reagiert mit größeren Mengen Wasserstoffperoxid zur schwach gelben Peroxovanadiumsäure H3[VO2(O2)2]. Quantitativ kann Vanadium durch Titration bestimmt werden. Dazu wird eine vanadiumhaltige schwefelsaure Lösung mit Kaliumpermanganat zu fünfwertigem Vanadium oxidiert und anschließend mit einer Eisen(II)-sulfatlösung und Diphenylamin als Indikator rücktitriert. Auch eine Reduktion von vorliegenden fünfwertigem Vanadium mit Eisen(II)-sulfat zum vierwertigen Oxidationszustand und anschließender potentiometrischer Titration mit Kaliumpermanganatlösung ist möglich. In der modernen Analytik kann Vanadium mit mehreren Methoden nachgewiesen werden. Dies sind beispielsweise die Atomabsorptionsspektrometrie bei 318,5 nm und die Spektralphotometrie mit N-Benzoyl-N-phenylhydroxylamin als Farbreagenz bei 546 nm. Biologische Bedeutung Vanadiumverbindungen besitzen verschiedene biologische Bedeutungen. Charakteristisch für Vanadium ist, dass es sowohl anionisch als Vanadat, als auch kationisch als VO2+, VO2+ oder V3+ vorkommt. Vanadate besitzen große Ähnlichkeit zu Phosphaten und haben dementsprechend ähnliche Wirkungen. Da Vanadat stärker an geeignete Enzyme bindet als Phosphat, ist es in der Lage, Enzyme der Phosphorylierung zu blockieren und so zu steuern. Dies betrifft beispielsweise die Natrium-Kalium-ATPase, die den Transport von Natrium und Kalium in Zellen steuert. Diese Blockierung kann mit Desferrioxamin B, das einen stabilen Komplex mit Vanadat bildet, schnell wieder aufgehoben werden. Weiterhin beeinflusst Vanadium die Glucoseaufnahme. Es ist in der Lage, in der Leber die Glykolyse zu stimulieren und den Konkurrenzprozess der Gluconeogenese zu hemmen. Dadurch kommt es zu einer Senkung des Glucose-Spiegels im Blut. Daher wird untersucht, ob Vanadiumverbindungen für die Behandlung von Diabetes mellitus Typ 2 geeignet sind. Es sind jedoch noch keine eindeutigen Ergebnisse gefunden worden. Daneben stimuliert Vanadium auch die Oxidation von Phospholipiden und unterdrückt die Synthese von Cholesterin durch Hemmung der Squalensynthase, einem mikrosomalen Enzymsystem der Leber. Folgerichtig verursacht ein Mangel erhöhte Konzentrationen von Cholesterin und Triglyceriden im Blutplasma. In Pflanzen spielt Vanadium eine Rolle in der Photosynthese. Es ist in der Lage, die Reaktion zur Bildung von 5-Aminolävulinsäure ohne Enzym zu katalysieren. Diese ist eine wichtige Vorstufe zur Bildung von Chlorophyll. In einigen Organismen kommen vanadiumhaltige Enzyme vor, so besitzen einige Bakterienarten zur Stickstofffixierung vanadiumhaltige Nitrogenasen. Dies sind beispielsweise Arten der Gattung Azotobacter sowie das Cyanobakterium Anabaena variabilis. Diese Nitrogenasen sind jedoch nicht so leistungsfähig wie die häufigeren Molybdän-Nitrogenasen und werden daher nur bei Molybdänmangel aktiviert. Weitere vanadiumhaltige Enzyme finden sich in Braunalgen und Flechten. Diese besitzen vanadiumhaltige Haloperoxidasen, mit denen sie Chlor-, Brom- oder Iod-organische Verbindungen aufbauen. Die Funktion des in großen Mengen in Seescheiden als Metalloproteine Vanabine vorhandenen Vanadiums ist noch nicht bekannt. Ursprünglich wurde vermutet, dass das Vanadium ähnlich dem Hämoglobin als Sauerstofftransporter dient; dies hat sich jedoch als falsch herausgestellt. Gefährdungen Wie andere Metallstäube ist auch Vanadiumstaub entzündlich. Vanadium und seine anorganischen Verbindungen haben sich im Tierversuch als karzinogen erwiesen. Sie werden von der MAK-Kommission als karzinogen, Kategorie 2 und keimzellenmutagen, Kategorie 2 eingestuft. Wird Vanadiumstaub etwa von Arbeitern in der Metallverhüttung über längere Zeit eingeatmet, kann es zum sogenannten Vanadismus kommen. Diese anerkannte Berufskrankheit kann sich in Schleimhautreizung, grünschwarzer Verfärbung der Zunge sowie chronischen Bronchial-, Lungen- und Darmerkrankungen äußern. Verbindungen In Verbindungen kann Vanadium in verschiedenen Oxidationsstufen vorliegen. Häufig sind die Stufen +5, +4, +3 und +2, seltener sind +1, 0, −1 und −3. Die wichtigsten und stabilsten Oxidationsstufen sind +5 und +4. → :Kategorie:Vanadiumverbindung Wässrige Lösung In wässriger Lösung lässt sich Vanadium leicht in verschiedene Oxidationsstufen überführen. Da die verschiedenen Vanadiumionen charakteristische Farben besitzen, kommt es dabei zu Farbänderungen. In saurer Lösung bildet fünfwertiges Vanadium farblose VO2+-Ionen, die bei der Reduktion zunächst zu blauen vierwertigen VO2+-Ionen werden. Die dreiwertige Stufe mit V3+-Ionen ist von grüner Farbe, die tiefste, in wässriger Lösung erreichbare Stufe, das zweiwertige V2+-Ion ist grauviolett. Sauerstoffverbindungen Die wichtigste und stabilste Vanadium-Sauerstoff-Verbindung ist Vanadium(V)-oxid V2O5. Diese orangefarbene Verbindung wird in größeren Mengen als Katalysator für die Schwefelsäureherstellung verwendet. Sie wirkt dort als Sauerstoffüberträger und wird während der Reaktion zu einem weiteren Vanadiumoxid, dem Vanadium(IV)-oxid VO2 reduziert. Weitere bekannte Vanadiumoxide sind Vanadium(III)-oxid V2O3 und Vanadium(II)-oxid VO. In alkalischer Lösung bildet Vanadium(V)-oxid Vanadate, Salze mit dem Anion VO43−. Im Gegensatz zu den analogen Phosphaten ist jedoch das Vanadat-Ion die stabilste Form; Hydrogen- und Dihydrogenvanadate sowie die freie Vanadiumsäure sind instabil und nur in verdünnten wässrigen Lösungen bekannt. Werden basische Vanadatlösungen angesäuert, bilden sich anstatt der Hydrogenvanadate die Polyvanadate, in denen sich bis zu zehn Vanadateinheiten zusammenlagern. Vanadate finden sich in verschiedenen Mineralen, Beispiele sind Vanadinit, Descloizit und Carnotit. Halogenverbindungen Mit den Halogenen Fluor, Chlor, Brom und Iod bildet Vanadium eine Vielzahl von Verbindungen. In den Oxidationsstufen +4, +3 und +2 existieren Verbindungen mit allen Halogenen, lediglich mit Iod sind nur Verbindungen in den Stufen +2 und +3 bekannt. Von diesen Halogeniden sind jedoch nur die Chloride Vanadium(IV)-chlorid und Vanadium(III)-chlorid technisch relevant. Sie dienen unter anderem als Katalysator für die Herstellung von Ethylen-Propylen-Dien-Kautschuk. Vanadiumoxidchloride Vanadium bildet auch Mischsalze mit Sauerstoff und Chlor, die sogenannten Vanadiumoxidchloride. Vanadium(III)-oxidchlorid, VOCl, ist ein gelbbraunes, wasserlösliches Pulver. Das in der Photographie und als Textilbeize eingesetzte Vanadium(IV)-oxidchlorid, VOCl2 besteht aus grünen, hygroskopischen Kristalltafeln, die sich in Wasser mit blauer Farbe lösen. Vanadium(V)-oxidchlorid, VOCl3 schließlich ist eine gelbe Flüssigkeit, die durch Wasser sehr leicht hydrolysiert wird. VOCl3 dient als Katalysatorkomponente bei der Niederdruckethenpolymerisation. Weitere Vanadiumverbindungen In organischen Vanadiumverbindungen erreicht Vanadium seine niedrigsten Oxidationsstufen 0, −I und −III. Hier sind vor allem die Metallocene, die sogenannten Vanadocene, wichtig. Diese werden als Katalysator für die Polymerisation von Alkinen verwendet. Vanadiumcarbid VC wird in Pulverform unter anderem zum Plasmaspritzen bzw. Plasma-Pulver-Auftragschweißen eingesetzt. Weiterhin wird Vanadiumcarbid Hartmetallen zugesetzt, um das Kornwachstum zu verringern. Literatur Günter Bauer u. a.: Vanadium and Vanadium Compounds. In: Ullmann’s Encyclopedia of Industrial Chemistry. Wiley-VCH, Weinheim 2000, . Norman N. Greenwood, Alan Earnshaw: Chemie der Elemente. 1. Auflage. VCH, Weinheim 1988, ISBN 3-527-26169-9. Weblinks Einzelnachweise Coenzym
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https://de.wikipedia.org/wiki/Melanerpes
Melanerpes
Melanerpes ist eine Gattung der Vögel aus der Unterfamilie Echte Spechte innerhalb der Familie der Spechte (Picidae). Die meist auffällig gefärbten, baumbewohnenden Spechte sind klein bis mittelgroß. Ihr Verbreitungsgebiet erstreckt sich vom nördlichen Nordamerika bis ins zentrale Südamerika, wo sie in unterschiedlichen, meist aber eher offenen, baumbestandenen Landschaften vorkommen. Einige Arten sind Endemiten der größeren Karibikinseln. Nur die an den nördlichen Arealgrenzen beheimateten Populationen sind obligate Zugvögel, einige Arten weisen jedoch ein unstetes, wenig ortsgebundenes Verhalten auf und neigen zu irruptiven Wanderungen. Die meisten Arten ernähren sich von verschiedenen baum- oder bodenbewohnenden Insekten sowie von Samen, Früchten und Beeren, nur wenige ernähren sich überwiegend von Früchten und anderen pflanzlichen Nahrungsbestandteilen. Alle sind Höhlenbrüter, die ihre Nachkommen in selbst gebauten Höhlen großziehen, die in toten oder stark geschädigten Bäumen, in Palmen oder Kakteen gebaut werden. Zumindest acht Arten leben in zum Teil stark differenzierten sozialen Verbänden, außerhalb der Brutzeit werden fast alle Arten in Familienverbänden oder kleinen, gelegentlich auch artlich gemischten Gruppen angetroffen. Einige, wie zum Beispiel der Eichelspecht, betreiben eine intensive Vorratshaltung. Zurzeit werden 24 Arten unterschieden, von denen der Rotkopfspecht und der Guadeloupespecht auf der Vorwarnliste der IUCN stehen. Aussehen Sowohl im Aussehen als auch in der Größe sind die Vertreter dieser Spechtgattung sehr variabel. Die kleinsten Arten, wie etwa der Yucatánspecht erreichen mit 16 Zentimetern gerade Kleinspechtgröße, bei vielen Arten liegt die Körpergröße um die 23 Zentimeter, sie sind also gut buntspechtgroß, und die größte Art, der Bahamaspecht, ist mit 32 Zentimetern etwa so groß wie der heimische Grünspecht. Alle Melanerpes-Arten sind vierzehig mit zygodactyler Zehenanordnung. In Bezug auf die Gefiederfärbung lassen sich zwei etwa gleich große Gruppen unterscheiden: Die Vertreter der einen sind auf der Oberseite auffällig schwarz-weiß, oder, wie beim Haitispecht schwarz-gelb, meist leiterartig gebändert, zuweilen aber auch gefleckt oder punktiert. Je nach Gewichtung der Farbelemente erscheint die Oberseite insgesamt eher hell oder dunkel. Gelbtöne können vor allem in den Schulterpartien vorhanden sein. Die Unterseite ist cremefarben, in den Hals- und Brustbereichen oft auch gelblich oder ockerfarben, sie kann weitgehend ungezeichnet oder auffällig dunkel gefleckt oder speerspitzenartig gebändert sein. Braun- und Rosatöne sind in unterschiedlicher Ausprägung vorhanden. Die Gesichtspartie dieser Spechte ist meist weitgehend hell, die Männchen tragen einen deutlichen, leuchtend hellroten Stirn- und Nackenfleck und meist auch einen rötlichen Bartstreif. Diese Merkmale sind bei den Weibchen auf den Nackenbereich reduziert oder fehlen völlig. Bei dem auf der Oberseite meist schwarz-weiß gezeichneten Stützschwanz sind die beiden Zentralfedern verlängert und laufen spitz zu. Der sehr spitze, mittellange bis lange Stocherschnabel ist dunkel hornfarben, gerade oder am First leicht abwärts gebogen. Arten dieses Typs sind vom südlichen Nordamerika, in Mittelamerika, auf vielen Karibikinseln sowie in Südamerika bis zur südlichen Verbreitungsgrenze vertreten. Die Spechte der zweiten Gruppe sind bedeutend uneinheitlicher gefärbt. Gemeinsam ist ihnen eine weitgehend zeichnungslose Schwarzfärbung der Oberseite, die auch für die gesamte Gattung namensgebend wurde. Einige Arten, wie der Rotkopfspecht mit leuchtend rotem Kopf, Nacken, Brust und Schultern oder der Weißspecht sind sehr auffällig und für Spechte ungewöhnlich gefärbt. Letzterer ist überhaupt die einzige Spechtart, bei der die Kopffärbung beider Geschlechter weitgehend weiß ist und die einzige Melanerpes-Art, der jegliches Rot fehlt. Einige Arten, wie der Guadeloupespecht oder der Blutgesichtspecht, weisen dagegen eine düstere, kontrastarme Färbung auf. Insgesamt überwiegen schwarz-weiße Kontraste. Die schwarzen Körperpartien, vor allem das Rückengefieder, können einen leicht grünlichen, bläulichen oder violetten Glanz aufweisen. Gefiederzeichnungen sind nicht oder nur sehr undeutlich vorhanden. Daneben kommen vor allem im Stirn- und Scheitelbereich reine Rottöne vor, an Brust und Flanken dunkle, matte Purpurfärbungen. Der Färbungsdimorphismus ist bei einigen dieser Spechte eher schwach ausgeprägt, beim Rotkopfspecht und beim Blutgesichtspecht sind die Geschlechter im Aussehen gleich. Die meisten Arten innerhalb dieser Gruppe haben einen meißelartigen, an der Basis recht breiten, geraden oder nur geringfügig abwärts gebogenen Schnabel. Zwei Arten, der Gelbbrauenspecht und der Kaktusspecht, sind in je zwei Farbmorphen vertreten. Lautäußerungen Aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit lassen sich die Lautäußerungen der Melanerpes-Spechte nicht gemeinsam beschreiben. Informationen dazu finden sich in den meisten der betreffenden Artbeiträge. Bei sozial lebenden Arten stehen die Gruppenmitglieder in ständigem Rufkontakt und sind deshalb akustisch sehr auffällig. Dies gilt zum Beispiel für Gruppen des Eichelspechts, dessen Mitglieder sich mit lauten Wäka-Rufen verständigen. Andere, wie etwa der Blutgesichtspecht verhalten sich sehr ruhig. Die Spechte dieser Gattung trommeln nur selten und eher leise, einige offenbar überhaupt nicht. Verbreitung und Lebensraum Die Verbreitung von Melanerpes beschränkt sich auf die Nearktis und die Neotropis. Außer dem kontinentalen Festland Nord-, Mittel- und Südamerikas haben einige Arten verschiedene Karibikinseln besiedelt. Am weitesten nach Norden dringen der Blutgesichtspecht im westlichen Nordamerika und der Rotkopfspecht im zentralen und östlichen Nordamerika vor, am weitesten nach Süden erstreckt sich das Verbreitungsgebiet von Weißspecht und Kaktusspecht, die bis ins nördliche Patagonien vorkommen. Die größte Artenvielfalt auf vergleichsweise engem Raum besteht mit vierzehn Arten in Mittelamerika und auf verschiedenen Karibik-Inseln, auf denen Guadeloupespecht, Scharlachbrustspecht, Haitispecht, Jamaikaspecht und Bahamaspecht Inselendemiten sind. Auch einige mexikanische, beziehungsweise mittelamerikanische Arten, wie der Yucatánspecht, der Graukehlspecht, der Goldwangenspecht oder der Hoffmannspecht kommen nur in kleinen, zudem auch zunehmend fragmentierten Gebieten vor. Im nordwestlichen Südamerika sind die bisher bekannten Verbreitungsgebiete des Buntkopfspechts und des erst kürzlich als eigenständige Art klassifizierten Schmuckspechts sehr klein. Flächenmäßig ausgedehnte Gebiete besiedeln dagegen die meisten nordamerikanischen und, mit Ausnahme der beiden oben genannten, die südamerikanischen Arten. Die Lebensräume der einzelnen Arten sind äußerst vielfältig, immer aber müssen baum-, zumindest aber kakteenbestandene Landschaften zur Verfügung stehen. Insgesamt zeigen die meisten Arten eine Präferenz für offene Landschaften, Waldränder, Rodungsflächen oder für Gebiete mit offenen Strukturen, die von Bränden oder Stürmen geschaffen wurden. Die Baumartenzusammensetzung der Lebensräume ist sehr variabel und spielt offenbar nur für die wenigen Nahrungsspezialisten unter den Melanerpes-Arten, wie den Eichelspecht, eine wichtige Rolle. Dieser ist eng an das Vorkommen seiner Nahrungsbäume, verschiedene Eichenarten, gebunden. Für viele Arten ist ein ausreichender Totholzanteil innerhalb des Lebensraumes ein wichtiges Requisit. Zwar dringen einige Arten in dichte Waldgebiete vor, den primären Lebensraum bilden diese jedoch nur für wenige. Melanerpes-Spechte kommen in ausgesprochen feuchten Habitaten, wie Mangrovensümpfen und Schwemmlandgebieten ebenso vor wie in mit Saguaro bestandenen Halbwüsten oder in den Dornbuschsavannen des Chaco. Die meisten Arten sind relativ anpassungsfähig und können innerhalb eines räumlich begrenzten Verbreitungsgebietes sehr unterschiedliche Lebensräume besiedeln; dies gilt besonders für die Inselendemiten. Viele Arten haben sich an die Anwesenheit des Menschen gewöhnt und brüten auch in Stadtgebieten, in großen Parks, Plantagen oder in Obstgärten, auch Futterstellen werden von einigen Melanerpes-Arten regelmäßig aufgesucht. Arten dieser Gattung kommen vom Meeresniveau bis zu den regionalen Baumgrenzen vor. Futtersuchende Eichelspechte wurden in Kolumbien noch in Höhen von 3500 Metern festgestellt. Nahrung und Nahrungserwerb Alle Melanerpes-Arten sind sowohl herbivor als auch carnivor. Die Zusammensetzung und die Anteile pflanzlicher und tierischer Nahrung variieren sowohl von Art zu Art als auch innerhalb derselben Art. Generell wird in der Vorbrutzeit und während der Jungenaufzucht mehr tierische Nahrung aufgenommen, im Herbst und Winter verstärkt pflanzliche. Auch die Jungen werden mehrheitlich, aber nicht ausschließlich mit tierischer Nahrung versorgt. Diese Unterschiede gelten vor allem für die Arten der höheren nördlichen und südlichen Breiten, bei den tropischen Arten sind die jahreszeitlichen Unterschiede in der Nahrungszusammensetzung geringer. Die meisten können als Nahrungsgeneralisten bezeichnet werden, das breiteste Nahrungsspektrum unter den Melanerpes weisen wahrscheinlich der Rotkopfspecht und der Gilaspecht auf. Vergleichsweise spezialisiert sind dagegen der Eichelspecht und der Weißspecht, die sich von Eicheln beziehungsweise verschiedenen Früchten ernähren. Soweit bekannt, ist nur der Goldmaskenspecht weitgehend herbivor. Die tierische Nahrung besteht vor allem aus Insekten. Hier überwiegen Ameisen, Termiten, Käfer und ihre holzbewohnenden Larven, Schmetterlingsraupen, Heuschrecken, Grillen und bei den kleinen Arten Blattläuse. Auch Fluginsekten spielen eine Rolle, Rotkopfspecht und Blutgesichtspecht ernähren sich während der Sommermonate vornehmlich von solchen. In geringerem Maße werden auch Spinnen, Tausendfüßer, Schnecken, gelegentlich auch kleine Eidechsen und kleine Säugetiere erbeutet. Vogeleier und Nestlinge zählen ebenfalls eher zur Gelegenheitsbeute. Ebenso vielfältig sind die aufgenommenen Vegetabilien. Spechte dieser Gattung verzehren verschiedenste Früchte, Beeren und Nüsse, Samen, Baumsäfte und Nektar. Auch Baumrinde kann als Notnahrung dienen. Da einige Arten auch Obstplantagen und Maisfelder besuchen, gelten sie regional wie der Rotkopfspecht, der Weißspecht oder der Haitispecht, der vor allem in Kakao-Pflanzungen Schaden anrichten kann, als Schädlinge. Im Winter besuchen einige Arten Futterstellen, an denen sie Samen und Nüsse, aber auch Zuckerwasser aufnehmen. Die Nahrung wird in allen Stamm- und Astabschnitten bis in den Kronenbereich hoher Bäume gesucht. Einige Arten, wie Gilaspecht oder Blutgesichtspecht, werden nahrungssuchend auch häufig am Boden gesehen, wo sie Ameisenhaufen, Termitenhügel oder Totholzstümpfe ausbeuten. Als reiner Erdspecht kann jedoch keine Art bezeichnet werden; einige wenige Arten, wie der Jamaikaspecht suchen und finden ihre Nahrung ausschließlich auf Bäumen. Stochern, Ablesen und Sondieren sind die häufigsten Nahrungserwerbstechniken. Tiefgreifendes Aufhämmern von Fraßgängen holzbewohnender Larven spielt nur bei den größeren Arten eine gewisse Rolle. Alle Arten scheinen gelegentlich Fluginsekten zu erbeuten, beim Rotkopfspecht und beim Graukehlspecht spielt die Jagd nach schwärmenden Insektenarten eine wesentliche Rolle. Früchte, Samen und Beeren werden direkt von den Ästen gepflückt, wobei die Spechte oft kopfunter an den Zweigen hängen. Einige Arten bearbeiten Nüsse oder harte Früchte in Schmieden. Vor allem, aber nicht ausschließlich, die in nördlicheren Breiten lebenden Arten legen meist in grobborkigen Bäumen, aber auch in Telegraphenmasten oder anderen Holzkonstruktionen Vorratsspeicher an, die vor allem mit Eicheln oder Maiskörnern bestückt werden. Besonders ausgeprägt ist dieses Verhalten beim Eichelspecht. Verhalten Wie alle Spechte sind auch Melanerpes-Arten tagaktiv. Sie leben paarweise oder in kleinen Familiengruppen, die meist aus einem Brutpaar und vorjährigen, nichtbrütenden Helfern bestehen. Besonders differenziert ist die soziale Ordnung beim Eichelspecht, bei dem die Gruppengröße 15 Individuen erreichen kann. Einige Arten, wie zum Beispiel der Gelbbrauenspecht, können sowohl in Einzelpaaren, als auch in komplexen Familiengruppen leben. Außerhalb der Brutzeit sind auch die paarweise lebenden Arten häufig mit Artgenossen vergesellschaftet. Bei ihnen scheint eine weitgehend monogame Saison- oder mehrjährige Bindung die häufigste Form der Partnerschaft zu sein. Insgesamt ist die soziale Organisation mit Ausnahme der des Eichelspechtes nur ungenügend erforscht. Alle Arten sind zumindest während der Brutzeit territorial; jene, die Nahrungsdepots anlegen, während des gesamten Jahres. Gegen Artgenossen und Höhlenkonkurrenten werden aber meist nur der Höhlenbaum und die Speicherbäume verteidigt, oft auch nur der unmittelbare Höhlenbereich. Insgesamt ist die innerartliche Verträglichkeit und die Neigung zur Bildung von Ansammlungen bis hin zu unterschiedlich komplexen sozialen Systemen bei dieser Gattung stark ausgeprägt. Der Haitispecht brütet oft in kolonieartiger Nähe zu Artgenossen und auch mehrere Paare von Rotkopfspechten können in einem Baum Bruthöhlen besetzen. Schlafgesellschaften von bis zu 26 Individuen wurden beim Graukehlspecht beobachtet, bei dem gelegentlich bis zu vier adulte Individuen in einer Höhle schlafen. Dennoch wurden auch bei sozial lebenden Arten, insbesondere beim Eichelspecht, heftige Gruppenkämpfe beobachtet, vor allem dann, wenn während der Brutzeit ein Partner des dominanten Brutpaares stirbt und eine andere Gruppe versucht, diese zu übernehmen. Wenn diese Übernahme gelingt, tötet der neue dominante Specht oft die eventuell vorhandenen Nestlinge und zerstört die Gelege. Brutbiologie Alle Arten sind Höhlenbrüter, die ihre Höhlen vor allem in der Stamm- und Astregion toter oder absterbender Bäume, gelegentlich aber auch in vitalen Weichhölzern anlegen. Die Arten der ariden und semiariden Gebiete nisten in großen Kakteen, vor allem in Saguaros, einige Inselarten in Palmen. In weitgehend baumlosen Gebieten werden auch verschiedene Holzstrukturen, wie Telegraphenmasten oder Gebäudepfosten als Höhlenträger benutzt. Die Hauptarbeit des Höhlenbaus verrichtet das Männchen, der Arbeitsanteil des Weibchens ist von Art zu Art unterschiedlich und kann auch gänzlich unterbleiben. Wie alle anderen Spechte tragen auch die der Gattung Melanerpes kein Nistmaterial ein, sondern legen ihre Eier auf den Höhlenuntergrund, gegebenenfalls auf vorhandene Hackspäne. Die Balzrituale sind spechttypisch und bestehen vor allem aus Rufreihen und Trommelfolgen, Verfolgungsflügen, spiraligem Stammklettern und Höhlenzeigen. Die Gelege bestehen aus 2–5 reinweißen Eiern, bei den in Familienverbänden lebenden Arten sind sie durchschnittlich größer. Außergewöhnlich große Gelege bis zu 11 Eiern wurden auch beim in Paaren lebenden Blutgesichtspecht festgestellt. Spechte der nördlichen und äußerst südlichen Regionen brüten einmal im Jahr, zeitigen aber bei frühem Gelegeverlust eine Ersatzbrut. Jene der gemäßigten Breiten und der Tropen ziehen regelmäßig zwei, gelegentlich auch drei Bruten groß. Beide Partner brüten, nachts immer das Männchen. Die Brutdauer schwankt je nach Breitengrad, Höhenlage und Gelegegröße zwischen 11 und 17 Tagen, die Nestlingszeit differiert von Art zu Art und liegt, abhängig vom Nahrungsangebot und den Temperaturverhältnissen zwischen drei und fünf Wochen. Die Verweildauer der Jungvögel im Elternverband ist sehr unterschiedlich. Bei einigen Arten dismigrieren sie nach der Führungszeit weiträumig, bei den in Familienverbänden lebenden bleiben sie meist bis zur nächsten Brutsaison oder länger mit den Eltern verbunden, bis sie selbst als Brutvögel eigene Familiengruppen etablieren. Bei sympatrischem Vorkommen verschiedener nahe verwandter Arten wurden Hybridisierungen beobachtet. Besonders häufig scheinen sie beim Hoffmannspecht zu sein, bei dem im Norden seines Verbreitungsgebietes Mischbruten mit dem Rotkappenspecht, im Süden mit dem Goldstirnspecht festgestellt wurden. Systematik Die Gattung Sphyrapicus (Saftlecker), eine ebenfalls auf Amerika beschränkte Gattung, bildet das Schwestertaxon. In die nähere Verwandtschaft sind weiters die Gattungen Dendropicos, Picoides und Veniliornis zu stellen. Der Gattung Melanerpes werden zurzeit 24 Arten zugerechnet. M. pulcher (Schmuckspecht) wurde erst kürzlich von M. chrysauchen (Buntkopfspecht) als eigene Art abgetrennt. Vorgeschlagen wird auf Grund kürzlich erfolgter DNA-Untersuchungen eine Trennung von M. aurifrons in M. aurifrons (Goldstirnspecht) und M. santacruzi (Karibikspecht). Bestand und Bedrohung Laut IUCN sind 21 der 24 Arten ungefährdet. Nur der Guadeloupespecht und der Rotkopfspecht werden auf der Vorwarnliste geführt. Für viele Arten liegt jedoch kein ausreichendes Zahlenmaterial vor, sodass belastbare Aussagen zur Bestandsentwicklung der meisten Arten kaum zu treffen sind. Regionale Untersuchungen deuten jedoch bei vielen Arten auf zum Teil erhebliche Bestandsrückgänge hin. Neben natürlichen Feinden wie verschiedenen Marderarten, Waschbären, Greifvögeln, Eulen und baumkletternden Schlangen spielen als Nestprädatoren vor allem für die Inselendemiten eingeschleppte Ratten eine bestandsmindernde Rolle. Diese, meist kleinen Populationen, reagieren auch auf Eingriffe in den Lebensraum und Hurrikanereignisse besonders empfindlich. Der eingeführte und sich rasant ausbreitende europäische Star ist für einige – vor allem nordamerikanische – Arten ein ernstzunehmender Höhlenkonkurrent, auch der ebenfalls eingeführte Haussperling kann für kleine Arten zum Höhlenkonkurrenten werden. Modernes Forstmanagement und großflächiger Pestizideinsatz verringern sowohl das Angebot an potentiellen Höhlenbäumen als auch das Nahrungsangebot. In Südamerika geht die größte Gefahr von der Umwandlung aufgelockerter Waldgebiete in annähernd baumloses Weideland aus. Direkte Verfolgung durch den Menschen scheint heute für keine Art eine wesentliche Gefährdung darzustellen. Positiv beeinflusst wird die Bestandsentwicklung einiger Arten durch das Ausbringen von Nisthilfen und vor allem in den USA durch die intensive Winterfütterung. Literatur Hans Winkler, David A. Christie, David Nurney: . Robertsbridge 1995, ISBN 0-395-72043-5. Einzelnachweise Weblinks Spechte Picidae
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bisamratte
Bisamratte
Die Bisamratte (Ondatra zibethicus) ist eine ursprünglich ausschließlich in Nordamerika beheimatete Nagetierart, die sich ausgehend von Böhmen und später Frankreich über fast ganz Europa und Asien ausgebreitet und als neue Art (Neozoon) etabliert hat. Zoologisch ist die Bisamratte keine Rattenart, sondern gehört zu den Wühlmäusen (Arvicolinae), deren größter lebender Vertreter sie ist. Die Bisamratte verdankt ihren Namen einem stark nach Moschus duftenden Sekret, das die Präputialdrüsen der Männchen absondern. Bisam ist eine andere Bezeichnung für Moschus, einen vom Sibirischen Moschustier (Moschus moschiferus) erzeugten Duftstoff. Das als Bisam bezeichnete Fell der Bisamratte ist ein bedeutender Handelsartikel der Pelzbranche, je nach Mode in unterschiedlichem Umfang. Zu den volkstümlichen Bezeichnungen der Bisamratte gehören auch die Bezeichnungen Moschusratte, Zwergbiber, Bisambiber, Zibetratte, Sumpfkaninchen, Sumpfhase und Wasserkaninchen. Die Bisamratte wird gelegentlich mit der Nutria verwechselt. Morphologie und Merkmale Die Bisamratte ist mit einer Kopf-Rumpf-Länge von rund 35 cm und einer Schwanzlänge von etwa 22 cm kleiner als eine Nutria (Myocastor coypus) oder ein Biber (Castor fiber) und größer als eine Wanderratte (Rattus norvegicus). Das Gewicht liegt in der Regel zwischen 0,8 und 1,6 Kilogramm (maximal: 2,3 Kilogramm). Die Bisamratte ist von gedrungener, rattenartiger Gestalt. Der kurze und dicke Kopf geht äußerlich ohne Hals in den Rumpf über. Der Schwanz ist fast nackt und nicht rund, sondern abgeplattet. Die Bisamratte ist hervorragend an das Leben im Wasser angepasst. Sie hat wasserdicht verschließbare Ohren, deren Ohrmuscheln tief im Fell versteckt liegen. Obwohl ihre hinteren Pfoten im Gegensatz zu Bibern und Nutrias keine Schwimmhäute aufweisen, ist die Bisamratte ein geschickter Schwimmer und Taucher. Statt der Schwimmhäute besitzen Bisamratten sogenannte Schwimmborsten: steife Haare, die als Saum an den Rändern der Zehen wachsen und so die Zehen paddelartig vergrößern. Für den Hauptantrieb bei der Fortbewegung im Wasser sorgen die langen kräftigen Beine und die weit gespreizten Hinterfüße. Zur Steuerung und Unterstützung der Schwimmbewegung nutzt die Bisamratte ihren Schwanz, den sie in horizontaler Ebene nach rechts und links bewegt. Ihr Fell ist sehr dicht und wasserabweisend, so dass sie sich häufig für längere Zeit im Wasser aufhalten kann. Das Fleisch der Bisamratten ist essbar. Ihr Fell ist für die Pelzindustrie sehr wertvoll. Es variiert von schwarz über dunkelbraun bis cremefarben, vereinzelt gibt es auch Albinos, daher gilt sie in einigen Ländern wie z. B. den USA als wertvolles Nutz-, Jagd- und Zuchttier. Ihr Lebensraum liegt am Wasser. Verhalten Lebensweise Bisamratten halten sich überwiegend im Wasser auf. Sie sind ausgezeichnete Schwimmer und können bis zu zehn Minuten tauchen. An Land wirkt die Bisamratte dagegen eher unbeholfen. Das scheue Tier nimmt fast jedes einigermaßen geeignete Fließ- und Stillgewässer als Lebensraum an. Bisamratten sind in der Regel nacht- und dämmerungsaktiv. Wie bei vielen anderen Tierarten wie beispielsweise beim Rotfuchs und beim Wildschwein ist der Tag- und Nachtrhythmus jedoch abhängig von Störungen durch Menschen. In Gebieten, in denen sie relativ ungestört sind, sind sie häufig auch tagsüber zu beobachten. Innerhalb der Art spielen optische und olfaktorische Signale eine Rolle. Das Männchen setzt während der Fortpflanzungszeit Kot an den Reviergrenzen ab. Während dieser Zeit vergrößern sich auch die paarigen Präputialdrüsen stark, in denen das Moschussekret erzeugt wird. Laute äußert die Bisamratte selten. Während der Paarung geben beide Tiere mitunter quäkende Töne von sich und die Nestjungen piepsen ähnlich wie Mäuse. Bei Konfrontationen mit Artgenossen oder bei Bedrohung schlagen Bisamratten in rascher Folge die Schneidezähne aufeinander und erzeugen damit ein weit hörbares Geräusch. Bisambaue Bisamratten errichten zwei unterschiedliche Formen von Bauen. Der Typus ist abhängig vom Lebensraum. Überall da, wo eine Uferpartie die Möglichkeit bietet, graben Bisamratten als Unterschlupf Erdbaue, deren Eingänge unter Wasser liegen. Bei steigendem oder fallendem Wasserstand wird der Eingang entsprechend höher oder tiefer angelegt. Hierbei unterminieren sie häufig Deiche, Dämme und Befestigungsanlagen, wodurch sie den wasserbaulichen Anlagen große Probleme bereiten können. Zum Graben nutzen sie sowohl die Vorderpfoten als auch die Nagezähne. Vom Eingang zum Bau führt eine Röhre schräg aufwärts und endet in einem Kessel. Dort wo das Biotop keine Möglichkeit bietet, einen solchen Erdbau zu errichten, bauen Bisamratten 0,5 bis 2 Meter hohe Behausungen aus Röhricht und anderen Wasserpflanzen wie Binsen und Schilf, die sogenannten „Bisamburgen“. Das darin verborgene Nest befindet sich nur knapp über dem Wasserspiegel. Die Form der Burgen ist meist stumpf kegelförmig, die Grundfläche ist kreisförmig bis elliptisch; die Röhre, die zum Kessel führt, liegt wie bei den Erdbauen unter Wasser. Größere Burgen werden gelegentlich über mehrere Jahre bewohnt. Nahrung Bisamratten ernähren sich hauptsächlich von Wasser- und Uferpflanzen. Zu den häufig gefressenen Pflanzenarten zählen Schilf, Rohrkolben-, Binsen-, See- und Teichrosenarten sowie Baumrinde, Schachtelhalm- und Laichkrautarten. Sie gehen jedoch auch an Getreide, Gemüse, Obst und Gräser und graben nach den Knollen des Topinamburs. In den vegetationsarmen Monaten ergänzen sie ihre Nahrung durch Muscheln, Larven von Wasserinsekten, Krebse, Wasserschnecken und seltener auch Frösche und Fische. Die bevorzugte Nahrung ist jedoch auch in dieser Zeit pflanzlich. Sie graben in dieser Zeit bevorzugt nach Pflanzenwurzeln. Die Behauptung, dass Bisamratten auch Vögel oder deren Gelege verzehren, konnte nicht bestätigt werden. Auch der Anteil, den Muscheln und Krebse an ihrer Beute haben, ist umstritten. Lebenserwartung und Fressfeinde In der freien Natur vollenden nur wenige Bisamratten das dritte Lebensjahr. Bei Tieren im Alter zwischen 30 und 36 Monaten sind die Kronen der Molaren (Mahlzähne) in der Regel bis zum Wurzelhals abgekaut, so dass die Tiere aufgrund mangelhafter Ernährung eingehen. 85 Prozent einer Population zu Beginn der Fortpflanzungsperiode bestehen dagegen aus Tieren, die im Vorjahr zur Welt kamen. Hohe Verlustraten treten vor allem während der Wanderung der Tiere auf. Sie sind in dieser Zeit einem höheren Feinddruck ausgesetzt als wenn sie sich in einem etablierten Revier aufhalten. Auch während der Zeit der Reviergründung vor einer Fortpflanzungsperiode ist die Sterblichkeit der Tiere sehr hoch. Fischotter (Lutra lutra), Uhu sowie der Rotfuchs machen Jagd auf den Nager. In Schweden hat man festgestellt, dass in Jahren nach einer Wühlmausgradation auch die Bisamrattenbestände zurückgehen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass nach dem Zusammenbruch einer sehr großen Wühlmauspopulation der Feinddruck auf die Bisamrattenbestände sehr hoch ist. Räuber-Beute-Beziehung zwischen Mink und Bisamratte Als wichtigster Fressfeind der Bisamratte gilt der ebenfalls aus Nordamerika eingeführte amerikanische Nerz, der Mink (Neovison vison). Über die komplexe Räuber-Beute-Beziehung zwischen Bisamratte und Mink liegen umfangreiche Untersuchungen des Zoologen Paul Errington vor, der sich mehr als 30 Jahre mit der Ökologie der Bisamratte in den Feuchtgebieten Iowas beschäftigte. Minke und Bisamratten ähneln sich in ihrer Körpergröße, haben eine ähnliche semiaquatische Lebensweise und die gleichen Habitatpräferenzen. Minke haben zwar eine etwas größere Körperlänge, dafür sind ausgewachsene Bisamratten etwas massiger gebaut. Minke erbeuten Bisamratten, indem sie sie mit ihren Vorderbeinen packen und sie mehrfach in Kopf und Genick beißen. Obwohl die bevorzugte Nahrung von Minken die Bisamratte ist, konnte Errington nachweisen, dass die Dezimierung durch Minke kein die Bisamrattenpopulationen begrenzender Faktor ist. Der Territorialinstinkt von Bisamratten bestimmt, wie viele Individuen in einem Lebensraum ausreichend Nahrung und genügend Raum zur Anlage von Bauen finden. Sobald der Lebensraum voll ist und eine sehr hohe Populationsdichte erreicht ist, nimmt die Sterblichkeit aller weiteren Bisamratten zu. Die Sterblichkeit ist vor allem unter den Bisamratten hoch, die aus dem Umland einwandern oder durch Krankheiten und Alter geschwächt sind oder als Jungtier ein Territorium erst noch suchen müssen. Überwiegend diese Tiere werden von Minken erbeutet. In dem untersuchten Gebiet in Iowa waren 70 Prozent der von Minken erjagten Bisamratten durch Krankheiten oder extreme Klimabedingungen geschwächt. Ein beträchtlicher Prozentsatz der Beute waren männliche Bisamratten, die im Frühling ihre Baue verließen und in unbekannte Gebiete abwanderten, um neue Territorien für die Fortpflanzungsperiode im Sommer zu suchen. Ebenso häufig fielen Jungtiere, für die im Lebensraum nicht ausreichend Nahrung vorhanden war, den Minken zum Opfer, gesunde, erwachsene Bisamratten, die nahrungsreiche Territorien besetzt halten, dagegen kaum. Die Populationsdynamik von Bisamratten wird daher als dichteabhängig beschrieben – zwischen der Gesamtzahl der Bisamratten in einem Gebiet und der als potenzielle Beute verfügbaren Individuen besteht für den Mink ein grundlegender Unterschied. In vorteilhaften ökologischen Positionen lebende Bisamratten bleiben weitgehend unbehelligt. Fortpflanzung Während der Fortpflanzungszeit besetzen Bisamratten ein Revier, das sie gegen ihre Artgenossen auch verteidigen. Die Größe des Reviers ist abhängig von den jeweiligen Nahrungsbedingungen. Durchschnittlich ist ein Revier zwischen 3000 und 5000 Quadratmetern groß. In klimatisch begünstigten Lebensräumen kann sich die Bisamratte das gesamte Jahr über fortpflanzen. Das lässt sich beispielsweise in den südlichen Regionen der USA beobachten. Fortpflanzungszeit ist in Mitteleuropa in der Regel von März bis September. Allerdings hat man auch in Mitteleuropa schon während des Winterhalbjahres trächtige Weibchen oder Jungtiere beobachtet. In der Regel kommt es in Mitteleuropa zu zwei Würfen während eines Jahres. Bei sehr guten Umweltbedingungen ist auch ein dritter Wurf möglich. Die Tragezeit beträgt 30 Tage. Würfe bestehen aus vier bis neun Jungen. Der normale Wurf besteht aus fünf bis sechs Jungtieren. Im folgenden Jahr sind die Jungtiere wiederum geschlechtsreif. Ihre – sehr rasche – Ausbreitung erfolgt entlang ihres natürlichen Lebensraums, also stromauf und stromab entlang von Bächen und Flüssen. Die bei Geburt etwa zwanzig Gramm schweren Jungen werden blind und nackt geboren. Ihr dichtes und seidiges Nestlingsfell entwickeln die Jungtiere innerhalb der ersten 14 bis 18 Tage; ihre Augen öffnen sich zwischen dem 10. und 14. Lebenstag. Nach etwa vier Wochen beginnen die Deckhaare zu wachsen; dieser Haarwechsel in das sogenannte Alterskleid ist nach vier Monaten abgeschlossen. Die Tiere haben dann etwa ein Gewicht von 600 Gramm erreicht. Großgezogen werden die Jungtiere in den Wohnburgen. Verbreitung Ursprüngliches Verbreitungsgebiet Das ursprüngliche Verbreitungsgebiet der Bisamratte sind die Feuchtgebiete Nordamerikas. In den USA bewohnt die Bisamratte sogar die durch die Gezeiten beeinflussten Salzsümpfe an der Atlantikküste. Ideale Lebensbedingungen findet die Bisamratte jedoch an den größeren Teichen oder Seen mit starker Wasserpflanzenproduktion. Den Rückgang der natürlichen Lebensräume in Nordamerika konnte die Bisamratte dadurch kompensieren, dass sie heute auch entlang künstlich angelegter Kanäle lebt. Von wenigen Gebieten abgesehen, sind sowohl die USA als auch Kanada vollständig von dieser Art besiedelt. Ausbreitung außerhalb Nordamerikas Nach allgemein akzeptierter Meinung ging die Erstbesiedelung Europas und Asiens von Böhmen im heutigen Tschechien aus. Fürst Joseph Colloredo-Mansfeld brachte 1905 drei Weibchen und zwei Männchen der Bisamratte von einer Jagdreise aus Alaska mit. Morphologischen Untersuchungen zufolge handelt es sich bei den ausgesetzten Tieren allerdings um die im östlichen Kanada vertretene Nominatform Ondatra zibethicus zibethicus. Die Tiere ließ er im Huťský rybník (deutsch Hüttenteich) beim böhmischen Stará Huť (Althütten) auf seinem Gut Dobříš (Doberschisch), rund 35 Kilometer südwestlich von Prag, aussetzen. Von dort breiteten sie sich mit großer Geschwindigkeit in alle Richtungen aus: 1912 hatten sie fast ganz Böhmen besiedelt, 1915 erschienen die ersten am Regen in Bayern, 1927 hatten sie auf breiter Front die Nachbarländer erreicht und sich auf eine Fläche von etwa 200.000 Quadratkilometern ausgebreitet. 1935 sichtete man sie in Stendal, 1936 in Magdeburg. Die Ausbreitung erfolgte entlang von Bächen und Flüssen wie der Elbe und der Weser. Ganz Tschechien, Slowakei, Ungarn, Polen, Rumänien, der nördliche Teil von Jugoslawien und weitere Länder wurden ausgehend von der „Colloredo-Mansfeldschen“ Population besiedelt. Der größte Überseetransport von Bisamratten erfolgte 1929 durch eine Leipziger Gesellschaft aus Kanada für die Sowjetunion. In Leningrad wurden etwa 900 Tiere von Professor Pëtr Alexandrowitsch Zoege von Manteuffel, Direktor des Moskauer Zoos, übernommen. Ein kleiner Teil kam in die Versuchsfarm Puschkino. Der größte Teil wurde in Trupps von 20 bis 50 Tieren in geeigneten Flussgebieten der Taiga-Zone des europäischen und asiatischen Russlands – bis zum Fernen Osten – ausgesetzt. Eine andere, für die Besiedlung des eurasischen Lebensraumes wichtige Invasion ging 1930 von einer Zuchtanlage im Teichgebiet von Leval bei Belfort in Frankreich aus. Dort entliefen etwa 500 Bisamratten. Diese Gefangenschaftsflüchtlinge erreichten unter Nutzung des Rhein-Rhône-Kanals und der Ill sehr rasch Nordostfrankreich. Über die Pfalz und Baden wurden anschließend weite Teile des Westens von Deutschland besiedelt. Diese Population war in den 1950er Jahren bereits so groß, dass vom Land Rheinland-Pfalz ein Bekämpfungsdienst eingerichtet wurde. Diese und weitere Auswilderungen in Belgien, Schweden, Finnland, Polen und Russland beschleunigten die Ausbreitung der Bisamratte. Viele der Auswilderungen geschahen bewusst. So wurden in Finnland ab 1919 mehrfach Bisamratten aus Deutschland, der Tschechoslowakei, den USA und Kanada eingeführt und mit behördlicher Genehmigung an etwa 300 verschiedenen Orten ausgesetzt. Wiederum waren bis zum Jahr 1932 aus Finnland 1636 Tiere weiter nach Russland exportiert worden. Von Sibirien aus erreichten die Bisam die Mongolei, die Republik China und die Mandschurei. Nach Japan wurde die Bisamratte 1945 eingeführt. So eroberte diese überaus erfolgreiche Art in wenigen Jahrzehnten weite Teile des eurasischen Kontinents und hat dort heute ein größeres Verbreitungsgebiet als in ihrer angestammten Heimat Nordamerika. Außer in Eurasien wurden Bisamratten auch in Argentinien und Chile eingeführt und sind dort ebenso heimisch geworden. Begünstigt wurde der Ausbreitungserfolg der Bisamratte durch die Herkunft aus einem ähnlichen Klimabereich, ihre hohe Fortpflanzungsquote und die ausgeprägte Wanderlust. Im neuen Lebensraum fehlt es außerdem an Fressfeinden, die auf sie spezialisiert sind. Die Bisamratte als Neobiont Trotz ihres zeitweilig wirtschaftlich wertvollen Pelzes mit den langen, glänzenden Deckhaaren wird die Bisamratte in Deutschland vor allem in Fluss- und Küstenregionen in der Regel als zu bekämpfender Schädling eingeordnet. Macht sich der mitteleuropäische Bisamfänger die Mühe, die gefangenen Tiere zu pelzen, kann er die Felle noch zu einem meist geringen Preis an den Fellhandel abgeben; ein größeres wirtschaftliches Interesse am Pelz der Tiere besteht derzeit nicht mehr. Der Invasionsbiologe Ingo Kowarik ist der Meinung, dass die Bisamratte als Neobiont in stark genutzten Landschaften eine Nische besetzt, und kommt zu einem differenzierten Bild der Schadwirkung. Bevölkerungskreise, die keine Lasten des Deichschutzes zu tragen haben, folgen teilweise der Einschätzung in anderen Ländern, die die Bisamratte tolerieren oder sogar schützen. Der Bisam ist 2017 in die Liste invasiver gebietsfremder Arten von unionsweiter Bedeutung für die Europäische Union aufgenommen worden. Argumente zur Bisamratte in europäischen Ökosystemen Invasionsbiologen vertreten die Ansicht, dass Ökosysteme hinsichtlich ihrer Artenvielfalt ungesättigt sein können. Neophyten und Neozoen können in diesen Ökosystemen entweder Nischen besetzen, die niemals von heimischen Tier- und Pflanzenarten besetzt waren, oder solche von Arten, die durch anthropogene Ursachen mittlerweile zurückgedrängt sind. Der große Ausbreitungserfolg der Bisamratte ist nach Ansicht des Professors für Ökosystemkunde der TU Berlin Ingo Kowarik auf eine solche unbesetzte beziehungsweise nicht mehr besetzte Nische zurückzuführen. Ein anderer mittelgroßer, semiaquatischer Pflanzenfresser kommt in Deutschland nicht mehr vor. Vor diesem Hintergrund entsteht ein nach Interessen differenziertes Bild der Auswirkung der Bisamratte auf mitteleuropäische Ökosysteme. Die Wühltätigkeit der Bisamratten stellt im Binnenland die ursprüngliche Vielfalt und Dynamik der Ufer wieder her. An naturbelassenen Ufern sind Schäden durch Bisamratten unbedeutend, zumal diese in Überschwemmungsbereichen nicht siedeln. Bisamratten können in kleinen Biotopen erhebliche Veränderungen verursachen, naturschutzrelevante Veränderungen durch Bisamratten konnten nach Kowariks Untersuchungen bis jetzt nicht vorteilhaft festgestellt werden. Auch die Reduzierung von Röhrichtbeständen, zu der es häufig kommt, wenn Bisamratten einen Lebensraum besetzen, führt nach dieser Ansicht eher zu einer Erhöhung der Biodiversität. Die Reduzierung der Röhrichtbestände hat zwar zur Folge, dass schilfbrütende Vogelarten wie beispielsweise Teichrohrsänger und Rohrdommel ihres Brutraumes beraubt werden und abwandern. Die entstehenden offenen Wasserflächen werden jedoch rasch durch Schwimmblattpflanzen und andere Wasservogelarten besiedelt. Die Auswirkungen der Bisamratten als Prädator von Großmuschelarten ist aus Sicht von Kowarik nicht ausreichend untersucht. Für ein objektives Urteil fehlen hier Vergleiche zwischen ungestörten Muschelpopulationen und von Bisamratten genutzten Beständen. Auch hier gilt, dass der Fischotter, der früher diese Arten als Nahrungsgrundlage nutzte, heute weitgehend verdrängt ist und die Bisamratte diese Nische neu besetzt hat. Ein weiteres ökologisches Problem ist, dass der Nager ein Zwischenwirt des Fuchsbandwurmes (Echinococcus multilocularis) ist: Wird eine befallene Bisamratte von einem Fuchs erbeutet, dann wird dieser ebenso mit dem Parasiten infiziert. Aus ökologischer Sicht werden auch die von der Bisamratte verursachten Fraßschäden betrachtet. Gelegentlich macht sie sich auch über Feld- und Gartenanlagen her oder zerstört Korbweidenkulturen. Durch das Fressen an Röhrichtpflanzen kann der Nager die Struktur der Flora eines gesamten Ufer-Ökosystems entscheidend verändern. Die entsprechende Rechtsverordnung wurde inzwischen aufgehoben, durch das Erste Gesetz zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes vom 14. Mai 1998 ist die Bekämpfung der Bisamratte nicht mehr Gegenstand des Pflanzenschutzrechts. Insbesondere wenn im Winter das pflanzliche Nahrungsangebot nicht ausreicht, frisst die Bisamratte auch Muscheln und Krebstiere, deren Bestand in Deutschland durch Gewässerverschmutzung und Flussbegradigungen ohnehin schon stark bedroht ist. Sie gilt als der Haupt-Fraßfeind der großen Süßwassermuscheln (Überfamilie Unionacea), zu denen z. B. die mittlerweile sehr seltene Flussperlmuschel (Margaritifera margaritifera) zählt. Der Zusammenbruch von Beständen der Gemeinen Flussmuschel (Unio crassus) in einzelnen Bereichen von Baden-Württemberg wird ebenfalls der Bisamratte zugeschrieben. Argumente zur Ökonomie der Bisamratte Die Bisamratte siedelt oberhalb der Wasserlinie. Sie ist gefürchtet wegen der massiven ökonomischen Schäden, die ihre unterminierende Wühltätigkeit an Ufern, Dämmen und Deichbauten anrichtet. Hierdurch entstehen dem Tief- und Wasserbau im Küstenschutz hohe zusätzliche Kosten für Reparatur- und Instandhaltung der Deiche. Für Niedersachsen werden diese zusätzlichen Kosten vom Landesamt für Wasserbau und Küstenschutz auf 1,6 Millionen Euro pro Jahr (2006) geschätzt. Aufgrund der festgestellten ökonomischen Schäden, die die Bisamratten in manchen Ländern verursachen, wurde eigens die „Organisation Européenne pour la Lutte contre le Rat Musqué“ mit Sitz in Paris ins Leben gerufen. Bekämpfungsmaßnahmen Schon wenige Jahre nach der Aussetzung der Bisamratte in Böhmen wurde sie als Schädling eingeordnet. Bayern leitete nach der ersten Sichtung von Bisamratten Bekämpfungsmaßnahmen ein. Die 1917 dafür geschaffene gesetzliche Grundlage wurde von anderen deutschen Ländern übernommen. 1935 wurde ein „Reichsbeauftragter für die Bisamrattenbekämpfung“ ernannt, der gemeinsam mit 36 Mitarbeitern allerdings relativ erfolglos blieb. Trotz massiver Bekämpfung widersteht die Bisamratte sowohl auf dem europäischen Kontinent als auch im asiatischen Verbreitungsgebiet fast überall ihrer Ausrottung. Sowohl die Bejagung als auch der Einsatz von bakteriellen Krankheitserregern konnten die Bisamratte lange Zeit nicht nachhaltig dezimieren. Bekämpft wird die Bisamratte hauptsächlich in den Benelux-Ländern, in Deutschland und Frankreich. Nur in Großbritannien gelang es aufgrund der Insellage in kurzer Zeit, die ursprünglich aus Farmen stammende Bisampopulation anscheinend vollständig auszurotten. 1927 waren dort Bisamratten zur Fellgewinnung eingeführt worden. Noch im selben Jahr konnten einige Tiere entweichen. Bereits 1932 wurden weitreichende Bekämpfungsmaßnahmen eingeleitet, zu denen auch ein vollständiges Importverbot sowie eine Untersagung der Haltung gehörten. Nach rund sechs Jahren war diese intensive Bekämpfung erfolgreich. 1939 gab es in Großbritannien keine Bisamratten mehr. In den Niederlanden traten 1941 die ersten Bisamratten auf. Hier zielt die Bekämpfung darauf ab, die festgelegten Schutzniveaus des Hochwasserschutzes zu erhalten. Daher wurden die Bisamratten besonders intensiv bekämpft, nachdem 1985 die Provinzen gesetzlich dazu verpflichtet wurden. Dennoch konnte die Populationszunahme zunächst nicht gestoppt werden. Dies gelang erst, als die von einem hauptamtlichen Bekämpfer zu betreuende Gewässerlänge auf höchstens 650 Kilometer verringert wurde (entsprechend insgesamt 439 Bekämpfern zuzüglich Führungspersonal). Die Fänge je Feldstunde des Bekämpfers gelten als Maß für die Population. 2003 war mit 0,85 ihr Maximum erreicht, 2004 wurde die größte absolute Zahl von knapp über 400.000 Tieren gefangen. 2009 waren die Fänge je Feldstunde bereits auf 0,3 gefallen. Die absolute Zahl gefangener Tiere ging (bei wieder leicht verringertem Personaleinsatz) auf 155.000 zurück. Verwendet werden Drahtreusenfallen, neuerdings, um ein Ertränken zu umgehen, auch zunehmend in schwimmender Ausführung mit Köder, sowie käfiggesicherte Schlagbügelfallen. Bei Hochwasser werden die auf höherem Gelände oder in Bäumen Schutz suchenden Bisamratten mit Schusswaffen bejagt. Zum Fang der Tiere werden zumeist spezielle Fallen eingesetzt, die den Mitfang anderer Tiere verhindern. In Deutschland wird die Bisamratte spätestens seit den 1950er Jahren intensiv bekämpft. Rheinland-Pfalz richtete schon damals einen Bekämpfungsdienst ein, der die Tiere in größeren Stückzahlen erlegte. Auch heute wird in Deutschland die Bisamratte weiter ganzjährig bekämpft. Die Maßnahmen sind weitgehend auf Hochwasserschutzanlagen beschränkt, die vor der Wühltätigkeit der Bisamratten gesichert werden müssen. Die Zahl der Tiere, für deren Fang Prämien mit Förderung des Landes Schleswig-Holstein gezahlt worden sind, belief sich 1996 auf 22.602, 1997 auf 26.638 und 1998 auf 41.029 Exemplare. Unterarten Je nach Autor werden in Nordamerika vierzehn bis sechzehn Unterarten unterschieden. Zu den Unterarten zählen Ondatra zibethicus zibethicus, der im östlichen Kanada beheimatet ist Ondatra zibethicus macrodon, der „Blaue Bisam“ mit einem blauschwärzlichen Fell, der in einzelnen Gebieten von Virginia beheimatet ist. Die Fellfarbe wird rezessiv vererbt; bei der Vermischung mit anderen Unterarten dominiert daher der braune Phänotyp Für Europa werden keine Unterarten beschrieben. Freigesetzt wurden Tiere unterschiedlicher Unterarten, die sich vermischt haben, sodass keine Differenzierungen mehr möglich sind. Literatur Carsten Bothe: Bisamfang. Alles über den Bisam: Fang, Bekämpfung, Fallen, Verwertung. Neumann-Neudamm, Melsungen 1996, ISBN 3-7888-0685-0. Max Hoffmann: Die Bisamratte (= Die neue Brehm-Bücherei. H. 78, ). Geest & Portig, Leipzig 1952 (2., unveränderte Auflage, Nachdruck der 1. Auflage. Westarp-Wissenschaftliche-Verlags-Gesellschaft, Hohenwarsleben 2003, ISBN 3-89432-159-8). Ingo Kowarik: Biologische Invasionen. Neophyten und Neozoen in Mitteleuropa. 76 Tabellen. Mit einem Beitrag von Peter Boye. Ulmer, Stuttgart 2003, ISBN 3-8001-3924-3. Mario Ludwig, Harald Gebhard, Herbert W. Ludwig, Susanne Schmidt-Fischer: Neue Tiere & Pflanzen in der heimischen Natur. Einwandernde Arten erkennen und bestimmen. BLV, München u. a. 2000, ISBN 3-405-15776-5. Jochen Niethammer, Franz Krapp (Hrsg.): Handbuch der Säugetiere Europas. Band 2, Teilband 2: Heikki Henttonen: Rodentia. II (Cricetidae, Arvicolidae, Zapodidae, Spalacidae, Hystricidae, Capromyidae). Aula-Verlag, Wiebelsheim 1982, ISBN 3-400-00459-6. Weblinks spurenjagd.de: Bisamratte – Spurendatensammlung Anmerkungen Quellen Wühlmäuse Neozoon (Wirbeltier) in Europa
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https://de.wikipedia.org/wiki/Lucca-Madonna
Lucca-Madonna
Als Lucca-Madonna wird ein Gemälde des flämischen Malers Jan van Eyck bezeichnet, das vermutlich zwischen 1432 und 1441 entstand. Den Namen trägt es nach Karl II. (Parma), dem Herzog von Lucca, in dessen Sammlung sich dieses Gemälde zeitweise befand. Das 65,7 mal 49,6 Zentimeter große Gemälde zeigt eine auf einem hölzernen Thron sitzende und von einem Baldachin überkrönte Madonna, die den Christusknaben stillt. Diese Form der Mariendarstellung wird häufig auch als „Maria Lactans“ bezeichnet. Sie löste im 14. Jahrhundert die bis dahin idealtypische Darstellung Mariens als Himmelskönigin ab, wie sie für die Hochgotik charakteristisch war. Bildträger des Gemäldes sind drei vertikal angeordnete Eichenholzbretter. Die kleine Bildgröße lässt darauf schließen, dass es als privates Andachtsbild gedacht war. Der Auftraggeber des Gemäldes ist unbekannt. Heute befindet sich das Gemälde im Städel Museum in Frankfurt am Main und gilt als eines der bedeutendsten Werke dieser Sammlung. Bildbeschreibung Raum und Inneneinrichtung Der dargestellte Raum ist eng und vom Thron dominiert. In den Raumecken befinden sich Dreiviertelsäulen, die an ihrem oberen Ende für den Betrachter kaum erkennbar in ein Kreuzrippengewölbe übergehen. Die vom Betrachter aus linke Seitenwand ist durch ein hohes Fenster mit klaren Butzenscheiben durchbrochen. Auf dem Fenstersims liegen zwei Früchte, die nicht eindeutig identifizierbar sind. In den meisten Bildbeschreibungen werden die Früchte als Äpfel bezeichnet, sie können jedoch gleichermaßen als Orangen gedeutet werden. Für die Bildaussage ist nach heutigem kunsthistorischen Verständnis von nachrangiger Bedeutung, um welche Frucht es sich handelt, da beide gleichermaßen auf das Paradies anspielen und in diesem Kontext eine ähnliche Symbolik besitzen. Auf der rechten Seitenwand befindet sich spiegelbildlich zum Fenster eine Wandnische. Auf dem dort eingelassenen Regalbrett stehen ein leerer Kerzenhalter sowie eine halb gefüllte Glaskaraffe. Auf dem Sims darunter steht eine mit Wasser gefüllte große Schüssel oder ein Waschbecken. Schräg oberhalb vom Fenster beziehungsweise der Wandnische ist jeweils ein Okulus angedeutet. Für den Betrachter sind jeweils nur die Wandeinlässe sichtbar; der Rest ist vom Bildrand beschnitten. Der Boden des Raumes besteht aus blauweißen, geometrisch gemusterten Fliesen. Ein Teppich bedeckt den Sockel des Thrones und verdeckt den größten Teil der Fliesen. Ähnlich wie die Fliesen weist auch der in Rot, Grün, Blau und Gelb gehaltene Teppich ein geometrisches Muster auf. Der Anfang des Teppichs ist für den Betrachter nicht sichtbar. Es wird vom Bildrand abgeschnitten. Vom hölzernen Thron sind nur Teile des Sockels, die Armlehnen und Teile der Rückenlehne sichtbar. Arm- und Rückenlehnen sind jeweils von Löwenfiguren gekrönt. Jan van Eyck hat sie so gemalt, dass sie an gegossene Bronze erinnern. Der Baldachin des Thrones besteht aus einem Stoff, durch dessen blauen Grund sich ein stilisiertes und in Grün und Gold ausgeführtes gleichmäßiges Rankenmuster zieht. Der Baldachin endet in einer feinen Fransenborte. Der gleiche Stoff, aus dem auch der Baldachin besteht, bedeckt die Rückseite des Thrones, hier sind allerdings gleichmäßig weiße und rote stilisierte Blüten eingestreut. Das Blaugrün der Stoffbespannung wiederholt sich außerdem in der Robe Mariens sowie in den Ornamenten des Teppichs. In ähnlicher Form findet sich das Blütenmotiv der Stoffbespannung in dem perlengefassten roten Edelstein des Haarreifs und im Ornament des Teppichs. Marienfigur und Christusknabe Das weiße, fast durchsichtige Hemd, das Maria unter ihrer Robe trägt, ist nur durch einen dünnen Rand zu erkennen, der am Halsausschnitt sichtbar ist. Die Grundfarbe der Robe ist blau und greift den Farbton des Stoffes auf, aus dem Baldachin und Thronrückseite bestehen. Am Halsausschnitt weist die Robe einen gelben Saum auf. Der linke Ärmel dieser Robe endet in einem schmalen Pelzstreifen und gibt den Blick frei auf einen eng anliegenden roten Ärmel eines zweiten Hemdes oder Rocks, den Maria unter der Robe trägt. Der rechte Ärmelende der Robe ist von dem stoffreichen Umhang verdeckt, der die Marienfigur fast vollständig umgibt. Die Farbe dieses Umhangs – auch Heuke genannt – mit seinem reichen Faltenwurf ist rot. Die Säume des Umhangs sind mit Perlen, Edelsteinen und Goldstickereien reich gefasst. Perlen finden sich auch auf dem schmalen Diadem, das die hellbraunen Haare Marias über der Stirn zusammenhält. In der Mitte dieses Diadems befindet sich ein einzelner, roter Edelstein, der blütenförmig von sechs Perlen umgeben ist. Über die Schultern fällt das Haar Marias offen und wellig herab. Am Ringfinger der linken Hand trägt sie einen breiten, goldenen Ring, in dessen Mitte ein blauer Stein gefasst ist. Darüber befindet sich ein schmaler, zweiter goldener Ring. Hemd und Robe sind geöffnet. Mit der linken Hand reicht Maria dem Jesuskind die Brust; der Blick ihrer niedergeschlagenen Augen ist auf das Gesicht des Kindes gerichtet. Der Christusknabe sitzt in aufrechter Haltung auf einer Windel, die über einen Teil des roten Umhangs ausgebreitet ist. Der aschblond behaarte Kopf des Christusknaben ist für den Betrachter nur im Profil zu sehen und etwas nach hinten geneigt. Den Blick hat das nackte Kind auf das Gesicht seiner Mutter gerichtet. Die Füße stemmt das Kind gegen den Leib seiner Mutter, und mit seiner rechten Hand greift es nach dem Arm der Mutter. In seiner linken Hand hält es einen Apfel. Dort, wo Maria mit ihrer rechten Hand ihren Sohn im Rücken stützt, schiebt sie seine Haut in kleinen Fältchen nach oben. Veränderungen am Gemälde im künstlerischen Gestaltungsprozess Sowohl durch röntgentechnische Analysen des Gemäldes als auch der Untersuchungen durch Infrarot-Reflektografie ist heute bekannt, welche Veränderungen Jan van Eyck an der ersten Farbfassung des Gemäldes vornahm. Jan van Eyck hat in geringem Umfang Korrekturen an der Handhaltung Mariens, an der Windel sowie an der Figur des Christusknaben vorgenommen. In weit größerem Umfang veränderte er die Darstellung des Innenraums, des Baldachins sowie den Podest des Throns. Der Thronpodest wies ursprünglich zwei Stufen auf. Der Teppich fehlte. Der Innenraum schloss nicht mit einem Kreuzrippengewölbe, sondern mit einer Flachdecke ab; es gab keine Occuli. Der Baldachin war ursprünglich weniger breit, und die Fransendecke war an den Seiten weniger stark herabgezogen. Nach den Rekonstruktionen des Städel Museums fehlten ursprünglich auch die Dreiviertelsäulen in den Raumecken. Jan van Eyck rückte außerdem den Löwen, der die vom Betrachter aus gesehenen rechte Armlehne des Thrones krönte, etwas weiter nach vorne. Alle diese Veränderungen trugen dazu bei, die Tiefe des dargestellten Raumes zu betonen. Einordnung der Lucca-Madonna im Werk Jan van Eycks Die Lucca-Madonna ist eines von sechs heute bekannten Madonnengemälde Jan van Eycks, die auf einen Zeitraum zwischen der Beendigung der Arbeit am Genter Altar im Jahre 1432 und seinem Tod im Juni 1441 datiert werden. Dazu zählen im Einzelnen das Marien-Triptychon aus dem Jahre 1437, das sich heute in der Staatlichen Kunstsammlung Dresden befindet und auf dem die Madonna ebenso wie bei der Lucca-Madonna gleichfalls zwei Ringe am Ringfinger der linken Hand trägt; die Madonna in der Kirche, die in der Gemäldegalerie in Berlin zu sehen ist; die im Louvre befindliche Rolin-Madonna, die Madonna am Springbrunnen in Antwerpen sowie die Madonna des Kanonikus Joris van der Paele oder Paele-Madonna von 1436, die im Groeningemuseum in Brügge hängt. Dieses Gemälde gleicht in einer Reihe von Details der Lucca-Madonna: So ähneln sich die gestickten Säume und der Faltenwurf der roten Umhänge; beide Madonnenfiguren haben einen ähnlichen Kopfschmuck, und das Blumenmuster sowohl des Teppichs als auch der Stoffbespannung des Thrones gleichen sich. Unvollendet blieb die Madonna des Propstes van Maelbeke, die sich heute in Privatbesitz befindet und die im Bildaufbau der Paele-Madonna ähnelt. Nur wenige der Madonnengemälde Jan van Eycks sind großformatige Tafeln wie etwa die unvollendet gebliebene Maelbeke-Madonna. Charakteristisch sind dagegen kleinformatige Gemälde wie das Dresdner Marien-Triptychon, ein kleines Reisealtärchen, das inklusive des erhalten gebliebenen Originalrahmens 33 mal 53,5 Zentimeter misst. Noch kleiner ist die Madonna am Springbrunnen, die mit einer Bildfläche von neunzehn Zentimetern mal zwölf Zentimetern nur wenig größer ist als eine Ansichtskarte. Zu diesen eher kleinformatigen Gemälden zählt auch die Lucca-Madonna. Die Springbrunnen-Madonna und die Lucca-Madonna haben innerhalb dieser Madonnengemälden darüber hinaus eine Sonderstellung, weil auf beiden Gemälden die Bezugnahme auf eine Stifterfigur fehlt. Nach Ansicht der Kunsthistorikerin Carol Purtel stehen diese beiden Gemälde damit in der Tradition von Andachtsbildern, wie sie bereits Maler der Schulen von Siena und Florenz gegen Ende des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts schufen. Die meisten dieser Gemälde zeigen ausschließlich die Gottesmutter mit dem Christusknaben und zeigen beide Figuren während einer intimen, aufeinander bezogenen Handlung. Eine Reihe von Kunsthistorikern gehen heute davon aus, dass sich Jan van Eyck um 1426 in Italien aufhielt und dabei die Gelegenheit hatte, Gemälde dieser Schulen zu studieren. Urkunden weisen den Maler als engen Vertrauten des Herzogs Philipp von Burgund aus und Jan van Eyck wurde mehrfach von ihm mit diplomatischen Missionen beauftragt. So war Jan van Eyck 1427 Mitglied einer Gesandtschaft, die in Aragonien eine Ehe zwischen dem Herzog und einer spanischen Adligen anbahnen sollte. Von 1428 bis 1429 bereiste er mit einem ähnlichen Auftrag Portugal sowie die benachbarten spanischen Provinzen Galicien, Kastilien und Andalusien. Während die Reiseziele dieser diplomatischen Missionen bekannt sind, geht das Reiseziel der ersten diplomatischen Mission, die Jan van Eyck im Auftrag des Herzogs unternahm, nicht aus den Rechnungsbüchern des herzoglichen Hofes hervor. Erwähnt ist nur, dass Jan van Eyck 1426 eine „weite geheime Reise“ unternahm. Das Ziel ist mit hoher Wahrscheinlichkeit Italien gewesen. Als Beleg für einen Aufenthalt in Italien wird auch gewertet, dass Jan van Eyck mehrere seiner Gemälde mit Namen und mitunter sogar einer Jahreszahl versah, was zu diesem Zeitpunkt zwar in Italien, aber nicht in den Niederlanden gebräuchlich war. Einige Details der Raumdarstellung der Lucca-Madonna finden sich auf zwei älteren Gemälden Jan van Eycks, nämlich sowohl auf dem Arnolfini-Hochzeit als auch auf dem Genter Altar wieder. Beim Arnolfini-Doppelporträt ist wie bei der Lucca-Madonna links ein hohes Fenster dargestellt, liegt eine Frucht auf dem Fenstersims und eine geschnitzte Löwenfigur verziert den Stuhl hinter der Braut. Auf der Verkündigungstafel des Genter Altars finden sich gleichfalls eine Glaskaraffe, ein Kerzenleuchter und eine große Schüssel oder Waschbecken. Bildsprache Bildaufbau Die mit 63,8 mal 47,3 Zentimeter verhältnismäßig kleine Bildfläche lässt den Schluss zu, dass das Bild nicht für den Altarraum einer Kirche bestimmt war, sondern für einen Auftraggeber gemalt wurde, der ein privates Andachtsbild wünschte. Auch die Ausführung des Bildes lässt darauf schließen. Der durch den unteren Bildrand beschnittene Teppich, die oberhalb der Bildmitte befindlichen Figurendarstellungen sowie die scheinbar willkürliche Beschneidung von Deckengewölbe und Seitenwänden geben dem Betrachter das Gefühl, sich im selben Raum wie die erhöht sitzende Marienfigur mit dem Christusknaben zu befinden. Einige Details wie der auf der Kante der Thronstufen aufbrechende Teppichflor sind ein Beleg dafür, dass das Gemälde für einen Betrachter geschaffen wurde, der sich in extremer Nahsicht mit dem Bildinhalt auseinandersetzen kann. Oswald Goetz schrieb dazu in einer Bildbetrachtung aus dem Jahre 1932: Der Beschauer hat sich dem Thron genähert. Er teilt die Kühle des Raumes mit dem Paar, übermächtig groß thront Maria vor ihm. Man hat das Gefühl, als nähme man ungerufen teil an dieser intimen Stunde. Wie zu einem Zeremoniell in aller Pracht gekleidet, sitzt Maria auf dem Thron, in feierlicher Größe und Unnahbarkeit, und wie durch ein Wunder enthüllt sich uns die heiter-ernste Beschäftigung von Mutter und Kind, die niemandes achtend anmutig einander hingegeben sind. Das weiche, gedämpfte Licht überspielt sie, wir sind so nah, daß wir die Stäubchen in der Luft fallen und steigen sehen. Trotz dieser monumentalisierenden Überhöhung der Marienfigur und des Christusknabens beschreibt János Végh es als intimes, bürgerliches Bild. Die beiden Figuren thronen nicht in einem prächtig ausgestatteten Kirchenraum wie etwa bei dem Dresdner Marien-Triptychon. Es fehlen auch Schutzheilige, die die Besonderheit des Augenblicks betonen. Nur der Teppich und der Baldachin heben die beiden Figuren aus der schlichten Umgebung hervor. Die räumliche Tiefe wird durch die perspektivische Darstellung der Fliesen sowie des Thronsockels und der Löwenskulpturen auf Arm- und Rückenlehne betont. Die Verwendung von Fliesen zur Betonung der Tiefenausdehnung weisen auch auf den Einfluss italienischer Bilder hin, die Jan van Eyck während seiner vermuteten Italienreise studieren konnte. Auch die große, pyramidenförmig fallende Heuke, die die Marienfigur umhüllt, betont die Raumtiefe. Der Faltenwurf des Umhangs an seinem Ende deutet an, dass sich unter dem Umhang Thronstufen verbergen. Eine scharfe Linie betont die Kniehöhe der Marienfigur. Die Oberschenkelpartie sowie die Sitzfläche des Thrones sind nicht dargestellt, was dem Betrachter den Eindruck verleiht, zu einer erhöht sitzenden Figur aufzublicken. Sein Augenpunkt ist so gewählt, dass er auf der Knielinie ruht. Die Darstellung des Christusknaben in einer Seitensicht ist eines der Bildmerkmale, die die Lucca-Madonna von norditalienischen Andachtsbildern unterscheidet, bei denen die zentrale Figur grundsätzlich in Frontalsicht gezeigt wird. Diese Darstellungsform taucht das erste Mal bei Pariser Buchmalern zu Beginn des 15. Jahrhunderts auf, findet sich bei Mariendarstellungen der Très Riches Heures der Brüder von Limburg sowie in einem in Utrecht entstandenen Andachtsbuch der Maria von Guelders aus dem Jahre 1415. Die Kunsthistorikerin Carol Purtle konnte anhand der Ähnlichkeit der Bildlösungen nachweisen, dass Jan van Eyck mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einigen dieser Buchmalereien vertraut war. Der rote Umhang Das Gemälde ist dominiert vom Rot der Heuke. Dieser rote Farbton wird auch bei einigen der Blüten auf der Stoffbespannung der Thronrückseite sowie am Ärmel des Rocks aufgegriffen. Jan van Eyck hat mehrfach seine dargestellten Personen in solche stoffreichen, roten Umhänge gehüllt. Die Gottvaterfigur auf der zentralen Tafel des geöffneten Genter Altars weist einen mit der Darstellung der Lucca-Madonna ähnlich üppigen roten Umhang auf. Auch hier ist der Saum mit Gold und Perlen bestickt. In ähnlicher Weise hat Jan van Eyck die Heuke der Madonnenfigur auf dem Dresdner Marien-Triptychon sowie der Rolin-Madonna gemalt. Die Verwendung der Farbe Rot für die Bekleidung von Madonnen- oder Gottvaterfiguren ist ein Charakteristikum der niederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts. Italienische Maler verwendeten als Farbe bevorzugt das kostbare Ultramarin, das in bester Qualität mehr wert war als sein Gewicht in Gold und das man wegen dieses hohen Materialwerts als angemessene Wahl ansah. In den Niederlanden schätzte man dagegen zu dieser Zeit besonders scharlachfarbene Gewänder, die mit dem teuersten Textilfarbstoff Karmin gefärbt waren. Dieser Farbstoff wurde aufwändig aus den Eiern der Schildlausarten Kermes ilicis und Kermes vermilio gewonnen. Entsprechend dem Modegeschmack seiner niederländischen Zeitgenossen hat Jan van Eyck auf mehreren Gemälden seine zentralen Figuren in rote Gewänder gehüllt. Er verwendete dabei auf seinen Gemälden als untere Farbschicht Zinnoberrot. Dieses kann sich allerdings unter Lichteinwirkung zu einem braunen oder fast schwarzen Farbton verändern. Um dies zu verhindern, legte Jan van Eyck eine zweite Farbschicht aus transparentem, dunklem Krapprot darüber, was einerseits eine Farbveränderung des Zinnobers verhinderte und gleichzeitig den roten Gewändern einen Glanz verleiht, der sich bis heute erhalten hat. Die stillende Mutter Die stillende Maria, die sich wie in der Lucca-Madonna mütterlich dem Kind hingibt, ist ein uralter Bildtypus schon aus der Spätantike. Sie wurde griechisch als Galaktotrophousa, lateinisch als Maria Lactans bezeichnet. Im Jeremiaskloster Saqqara in Ägypten findet sich ein Fresko, datiert „nach 500“, das Mutter und Kind in sehr ähnlicher Position darstellt. Später wurde das Motiv vor allem nördlich der Alpen beliebt. Es weist auf ein Umfeld hin, das es als idealtypisch ansah, wenn eine Mutter auf die Amme verzichtete und ihr Kind selbst säugte. Dabei wurde Maria als Vorbild herangezogen. Bereits in Wolfram von Eschenbachs Parzival rechtfertigt Herzeloyde mit dem Hinweis auf die Gottesmutter, dass sie ihren Sohn selbst nährt. Die 1431 gestorbene Christine de Pizan betonte in ihren Les XV Joyes Notre Dame (Die fünfzehn Freuden Mariens) die Wonnegefühle, die Maria beim Stillen ihres Sohnes empfand. Mapheus Vegius bezog sich in seiner 1444 verfassten Erziehungslehre nicht direkt auf Maria. Er rühmte vielmehr an der Mutter des heiligen Bernhard, dass sie es als ihre Pflicht ansah, ihre Kinder selbst zu stillen. Bei privaten Andachtsbildern, die in Norditalien in dieser Zeit in Auftrag gegeben wurden, ist der Bildtypus der stillenden Madonna dagegen selten. Es fehlen hier auch Darstellungen, die Maria bei der Verrichtung anderer hausfraulicher Aufgaben zeigt. Nach Ansicht des Historikers Klaus Schreiner reflektiert sich darin die Lebensrealität der Schichten, die in Norditalien finanziell in der Lage waren, ein privates Andachtsbild zu erwerben. In norditalienischen Patrizierfamilien war es mehr als nördlich der Alpen selbstverständlich, dass eine Amme das Kind säugte und Bedienstete das Kleinkind großzogen. Entsprechend ist die Mutter-Kind-Beziehung in der norditalienischen Tafelmalerei nur angedeutet – das Kleinkind saugt nicht an der Brust der Mutter, es nestelt bestenfalls an der Kleidung der Mutter. Das Neue Testament deutet nur an einer Stelle an, dass Maria ihren Sohn säugte: Im Lukas-Evangelium findet sich die Überlieferung, dass eine Frau aus dem Volk den Leib, der Jesus getragen habe, und die Brüste, die ihn gesäugt haben, als selig preist (Luk. 11, 27–28). Das Bild der mit der Milch ihrer Brüste nährenden Gottesmutter hat trotzdem in der christlichen Theologie und Symbolsprache eine vielschichtige Bedeutung erlangt. Bereits die frühen Kirchenväter Irenäus von Lyon, Augustinus, Clemens von Alexandria oder Ambrosius von Mailand sprechen bildhaft von einer Kirche, die wie eine Mutter die zu ihr gehörenden Gläubigen mit der Milch des Glaubens nähre. Theologen wie Tertullian oder Athanasius der Große betonen, dass der körperliche Vorgang des Stillens belege, dass Jesus einen menschlichen Körper habe und gleichzeitig Gottessohn wie wahrer Mensch sei. Die entblößte Brust deutet gleichzeitig symbolhaft das Versprechen Marias an, dass der Gläubige am Tag des jüngsten Gerichtes auf die Fürsprache der Mutter Gottes vertrauen könne. Ein Fresko, das fast 50 Jahre nach der Lucca-Madonna entstand und das sich an der Südwand des Doms von Graz befindet, macht dies wegen der darauf befindlichen Fürbitte besonders deutlich: Oh Herrgott und ainiger sun Erbarm dich über den Sünder nun Sieh an die prusst dy saugtn dich Vergib dem sunder durch mich Symbolik Im Mittelpunkt des Gemäldes befindet sich ein kleiner Apfel, den der Christusknabe in seiner linken Hand hält. Der Apfel läge eigentlich im Körperschatten des Kindes. Jan van Eyck hat ihn aber so gemalt, als fiele Licht auf ihn. Die zentrale Position auf dem Gemälde und die malerische Hervorhebung betonen die Bedeutung des Apfels in der Bildaussage. Die Symbolsprache des Apfels ist in der Bildenden Kunst vielfältig: Bereits die Kirchenväter setzten den Baum der Erkenntnis dem Apfelbaum gleich und bis heute wird der Apfel als Symbol des Sündenfalls verstanden, auch wenn im 1. Buch Mose nicht erwähnt ist, von welchem Baum Eva die verbotene Frucht pflückte. Der Apfel kann jedoch gleichermaßen als ein Hinweis auf den umfriedeten Garten verstanden werden, der im alttestamentlichen Hohem Lied beschrieben ist. Anders als im Bericht vom Sündenfall ist der Apfel im Hohenlied zweimal namentlich genannt: Wie ein Apfelbaum unter den wilden Bäumen, so ist mein Freund unter den Jünglingen. Unter seinem Schatten zu sitzen, begehre ich; und seine Frucht ist meinem Gaumen süß. (Hld 2,3) Ich sprach: Ich will auf den Palmbaum steigen und seine Zweige ergreifen. Lass deine Brüste sein wie Trauben am Weinstock und den Duft deines Atems wie Äpfel; (Hld 7,9) Bezieht sich der Apfel auf den Sündenfall, dann sind der Christusknabe und Maria als neuer Adam und neue Eva dargestellt, die statt zur Verdammnis die Menschheit zu ihrer Erlösung führen. Dass auf der Lucca-Madonna Christus als säugendes Kind dargestellt ist, schränkt diese Interpretation nicht ein. Die zu Zeiten von Jan von Eyck weit verbreitete „Maria Thronus“-Predigt bezeichnet Marias schwangeren Leib als das Paradies des neuen Adams. Und während der alte Adam, der die von Eva angebotene verbotene Frucht aß, dadurch das Paradies verlor und sterblich wurde, verheißt der neue Adam, der von der neuen Eva genährt wird, erneut die Unsterblichkeit. Carol Purtle hat in ihrer Bildanalyse gezeigt, dass diese Interpretation zwar nahe liegt, dass es aber auch eine Reihe von Hinweise gibt, dass Jan van Eyck eine andere Bildaussage beabsichtigte. Es sind vier Gemälde von Jan van Eyck überliefert, auf denen Adam und Eva abgebildet sind. Sie stehen nie im Bildmittelpunkt, sondern sind immer schmückendes und ergänzendes Beiwerk – auf der Paele-Madonna zieren sie beispielsweise als Schnitzwerk den Thron Mariens. Bezieht sich Jan van Eyck auf den Sündenfall, dann ist es Eva, die den Apfel in der Hand hält. Das alttestamentliche Hohe Lied, auf das der dargestellte Apfel gleichfalls hinweist, ist eine Sammlung von Liebesliedern, die schon von den jüdischen Schriftgelehrten allegorisch-theologisch verstanden wurde, denn bereits beim Propheten Jesaja heißt es …wie sich ein Bräutigam freut über die Braut, so wird sich dein Gott über dich freuen. Das Christentum hat sich dieser theologischen Auslegung der Liebeslieder angeschlossen und stets in Christus den Bräutigam gesehen. Im Laufe der Jahrhunderte wurde jedoch die Frage, wer als Braut zu sehen ist, unterschiedlich beantwortet. In den ältesten Interpretationen hat zunächst die Kirche, die „ecclesia“, die Rolle der Braut inne. In der mittelalterlichen Mystik, wie sie unter anderem der im 12. Jahrhundert lebende Bernhard von Clairvaux vertrat, ist es dann die Seele des Einzelnen, die sich in einer „unio mystica“ mit Christus vermählt. Im gleichen Jahrhundert wird Maria zunehmend der Kirche gleichgesetzt und gleichzeitig als Mutter und Braut interpretiert. Entscheidend für diese Auslegung waren insbesondere die Schriften des Rupert von Deutz, der in nicht weniger als sieben Kommentaren die Jungfrau Maria als die Braut des Hohenliedes sah. Auf diese Interpretationen weisen nicht nur das mädchenhaft offen herabfallende Haar und der juwelengeschmückte Haarreif, sondern – nach Ansicht von Carol Purtle – auch die zwei Ringe hin, die Maria am Ringfinger ihrer linken Hand trägt. Sie stellen Maria als eine zweifache Braut dar, die sich gleichzeitig als Stellvertreterin der „ecclesia“ und als Jungfrau Maria mit dem göttlichen Bräutigam vermählt. Ähnlich wie der Apfel ist auch die ringgeschmückte Hand im Zentrum des Gemäldes. Der von Löwen geschmückte Thron unterstreicht die Bezugnahme auf die Braut des Hohenliedes. Diese Sammlung von Liebesliedern wurde König Solomon zugeschrieben, von dem das Alte Testament berichtet, dass er auf einem Löwenthron saß. Auch die Wasserkaraffe und die Schüssel weisen auf die Deutung der Madonnenfigur als Braut. Beide tauchen bereits auf der Verkündigungstafel des Genter Altars auf und können als Anspielung auf die rituelle Reinigung der Braut vor der Hochzeit interpretiert werden. Hinter der Karaffe, inmitten des von ihr geworfenen Schattens, fällt ein Lichtfleck auf die Nischenwand, der offenbar durch die Flüssigkeit hindurch gedrungen ist; das wird verstanden als Hinweis auf Marias Jungfräulichkeit oder auch auf ihre Geburt ohne Sünde, die Unbefleckte Empfängnis. Datierung der Lucca-Madonna Jan van Eyck war der erste niederländische Maler, der Gemälde signierte und gelegentlich sogar mit einer Jahreszahl versah. Im Falle der Lucca-Madonna fehlt allerdings sowohl die Signatur als auch eine Datierung. Jan van Eyck brachte beides häufig auf dem Rahmen an. Der Originalrahmen der Lucca-Madonna ist jedoch nicht erhalten geblieben; die Tafel befindet sich heute in einem modernen Rahmen. Kunsthistorischer Konsens ist, dass die Lucca-Madonna jüngeren Datums ist als der Genter Altar, an dem Jan van Eyck seine Arbeit 1432 abschloss. Eine genauere Datierung ist anhand des Vergleichs mit anderen Madonnendarstellungen Jan van Eycks versucht worden. Für Datierungsversuche der Lucca-Madonna dienten lange Zeit Vergleiche mit der sogenannten Ince-Hall-Madonna, die als ein datiertes und signiertes Original von Jan van Eyck galt. Anders als eine Reihe von van Eyck’schen Tafelgemälden trägt dieses die Signatur und die Datierung auf das Jahr 1433 allerdings auf der Bildfläche und nicht auf dem Rahmen. Bis zu einer genaueren Analyse des Bildes galt als kunstgeschichtlich weit akzeptierter Erklärungsversuch, dass nach dem Verlust des Originalrahmens die ursprünglich vorhandene Signatur nachträglich durch einen unbekannten Maler auf die Bildfläche übertragen wurde. Genauere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass dieser Erklärungsversuch nicht greift. Signatur und Inschrift liegen in der Malfläche selbst und sind nicht nachträglich angebracht. Heute gilt die Ince-Hall-Madonna auch nicht mehr als eine getreue Kopie eines verlorengegangenen Jan-van-Eyck-Originals, da die gewählte Darstellung eine Reihe von Widersprüchen aufweist: Obwohl die Marienfigur von einem prunkvollen Thronbaldachin überkrönt ist, sitzt sie nicht auf einem Thron, sondern hockt am Boden, wie es für die Darstellungsform einer Madonna humilitatis charakteristisch ist. Die räumliche Beziehung zwischen der Marienfigur und dem Christusknaben mit dem sie umgebenden Mobiliar ist nur vage angedeutet, und dem Bildaufbau fehlt die Tiefenausdehnung, die Jan van Eyck seiner Lucca-Madonna verleihen konnte. Die Ince-Hall-Madonna wird deswegen mittlerweile als ein Gemälde eines Jan-van-Eyck-Nachfolgers eingeordnet, der sich in starkem Maße entweder an der Bildkomposition der Lucca-Madonna oder einem anderen, nicht erhalten gebliebenen Madonnengemälde Jan van Eycks anlehnte. Die Datierung des Bildes gilt als apokryph und damit als wertlos für die zeitliche Einordnung der Lucca-Madonna. Zwei andere Madonnendarstellungen Jan van Eycks lassen sich zeitlich einordnen, so dass sie über Stilvergleiche zu einer Feindatierung der Lucca-Madonna herangezogen worden sind: Die Madonna des Kanonikus Joris van der Paele, die sich heute im Groeningemuseum in Brügge befindet, ist auf dem Originalrahmen mit dem Jahr 1436 datiert. Bei dem Marien-Triptychon, das sich heute in der Staatlichen Kunstsammlung Dresden befindet, wurde bei einer neuzeitlichen Restaurierung die bislang übermalte Datierung auf das Jahr 1437 freigelegt. Der Kunsthistoriker Otto Pächt ordnet die Lucca-Madonna stilistisch früher als diese zwei datierten Madonnengemälde ein. Wie bei der Lucca-Madonna schließt sich auch bei der Figurenpyramide der Paele-Madonna die Brustpartie ohne Überleitung an die Horizontale des Schoßes der Madonna an. Während aber der Christusknabe bei der Lucca-Madonna bildparallel dargestellt ist, ist der Christusknabe der Paele-Madonna mit der Dreiviertel-Wendung des Oberkörpers und des Kopfes sowie der verkürzten Beinpartie eine sehr viel komplexere Lösung als die Darstellungsform der Lucca-Madonna. Noch weiter geführt ist die Tiefenstaffelung der dargestellten Madonnenfigur mit Christusknaben im Dresdner Marien-Triptychon. Die Methode des Stilvergleichs zur Datierung unterstellt eine lineare stilistische Entwicklung Jan van Eycks, die von Kunsthistorikern auch bestritten wurde. Sie berücksichtigt nicht, dass Jan van Eyck den Darstellungsmodus in Abhängigkeit von der Bildfunktion gewählt haben könnte. Die Lucca-Madonna kann als Andachts- oder Meditationsbild verstanden werden, das sich mit der frontalen Ausrichtung der Figuren bewusst an den direkt davor betenden Auftraggeber wenden wollte. Eine Stifterfigur in einem reich ausgestatteten Kirchenraum schafft eine Distanz zwischen dem Beschauer und der dargestellten Figurengruppe. Die Bildsprache der Lucca-Madonna kann deshalb auch als radikaler und weiter fortgeschritten als die der Paele-Madonna oder des Dresdner Marien-Triptychons begriffen werden. Neben der stilistischen Analyse gibt der Bildträger einen wichtigen Anhaltspunkt für die Datierung des Gemäldes. Jan van Eyck hat als Bildträger Eichenholzbretter verwendet, deren dendrochronologische Untersuchung nahelegt, dass sie von einem Baum stammen, der frühestens 1422, wahrscheinlich aber erst um 1428 gefällt wurde. Frisch gefälltes Holz ist als Bildträger ungeeignet; es muss zuvor einen langwierigen Trocknungsprozess durchlaufen, damit die Bretter nach der Bemalung nicht reißen. Auf Basis statistischer Untersuchungen der Zeitdauer zwischen Fällung und Verwendung als Bildträger liegt eine Bemalung ab 1438 nahe. Das Städel Museum, zu dessen Bestand das Gemälde heute zählt, geht von einem Entstehungszeitpunkt um 1437/1438 aus. Provenienz Der Auftraggeber des Gemäldes ist unbekannt. Die Lucca-Madonna wurde erst im 19. Jahrhundert „wiederentdeckt“ und in den 1840er Jahren durch Johann David Passavant Jan van Eyck zugeordnet. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts befand sich das Bild noch im Besitz des Marquis Cittadella in Lucca. Von dort gelangte es in die Sammlung von Karl Ludwig von Bourbon-Parma, der von 1824 bis 1847 Herzog von Lucca war. Der Brüsseler Kunsthändler C. J. Niewenhuysen erwarb das Gemälde 1841 und verkaufte es 1843 an den niederländischen König Willem II. weiter. Nach dem Tode von Willem II. wurde die Kunstsammlung versteigert. Dabei konnte das Frankfurter Städel Museum das Bild nach einem Bieterwettstreit mit anderen europäischen Museen ersteigern. Literatur Klaus Gallwitz (Hrsg.): Besuch im Städel. Betrachtungen zu Bildern (= Insel-Taschenbuch. 939). Insel Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 1986, ISBN 3-458-32639-1. Otto Pächt: Van Eyck. Die Begründer der niederländischen Malerei. Herausgegeben von Maria Schmidt-Dengler. Prestel, München 1989, ISBN 3-7913-1033-X. Carol J. Purtle: The Marian Paintings of Jan van Eyck. Princeton University Press, Princeton NJ 1982, ISBN 0-691-03989-5. Jochen Sander: Niederländische Gemälde im Städel. 1400–1500 (= Kataloge der Gemälde im Städelschen Kunstinstitut Frankfurt am Main. 2). von Zabern, Mainz 1993, ISBN 3-8053-1444-2, S. 244–263. Jochen Sander (Hrsg.): Fokus auf Jan van Eyck: Lucca-Madonna, um 1437/38 (Inv. Nr. 944). Städel Museum, Frankfurt am Main 2006. János Végh: Jan van Eyck. Henschelverlag u. a., Berlin u. a. 1984. Einzelnachweise Gemälde (15. Jahrhundert) Bildende Kunst (Frankfurt am Main) Jan van Eyck Marienbildnis Gemälde des Städelschen Kunstinstituts
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https://de.wikipedia.org/wiki/Triple-Osteotomie
Triple-Osteotomie
Die Triple-Osteotomie (Syn. Dreifache Beckenosteotomie – DBO, Tönnis-Osteotomie, modifizierte Tönnis-Osteotomie oder Triple-pelvic-osteotomy – TPO) des Beckens ist eine der jüngsten Operationstechniken zur Behandlung der Hüftdysplasie (Abk. HD). Der Begriff erklärt sich aus der knöchernen Durchtrennung (Osteotomie) aller drei (Triple) die Hüftpfanne bildenden Beckenknochen (Sitzbein, Schambein und Darmbein). Das Ziel der Operation ist es, die bei Hüftdysplasie bestehenden ungünstigen biomechanischen Verhältnisse im Hüftgelenk zu verbessern. Der Eingriff verspricht auch bei beginnendem und bereits fortschreitendem Hüftgelenksverschleiß (Coxarthrose) Erfolg, sodass die Notwendigkeit eines Gelenkersatzes (Endoprothese) hinausgezögert oder sogar ganz vermieden werden kann. Bei der Triple-Osteotomie wird die knöcherne Hüftpfanne (Acetabulum) vollständig vom Rest des Hüftbeines gelöst. So wird es möglich, die Überdachung des Hüftkopfes dreidimensional und nahezu anatomisch zu rekonstruieren. Das Operationsverfahren – so wie es heute Anwendung findet – wurde Mitte der 1970er Jahre erstmals von Dietrich Tönnis unter Mitwirkung von Klaus Kalchschmidt an der Städtischen Klinik Dortmund durchgeführt und auch dort entwickelt. Ein technisch vergleichbarer Eingriff, der in der Veterinärmedizin bei jungen Hunden mit Hüftdysplasie durchgeführt wird, wird ebenfalls häufig Triple-Pelvic-Osteotomy (TPO) genannt. Anatomische Besonderheiten Das Becken ist der Mittelpunkt des menschlichen Körpers und vereinigt die Wirbelsäule mit der unteren Extremität (Bein). Gleichzeitig liegen wichtige Organe, wie z. B. die Harnblase, der Enddarm, die Geschlechtsorgane und deren Anhänge, direkt im Beckengewölbe. Große Gefäße und Nerven (Ischiasnerv, Beckenarterie und -vene) gabeln sich hier. Schließlich setzen zahlreiche Muskeln, Sehnen und Bänder am Becken an, die für die Körperstatik und besonders für die komplexen Hüftbewegungen wichtig sind. Die gewölbeartige Struktur des Beckens und die empfindlichen Weichteilverhältnisse (Nerven, Gefäße, Muskel-Sehnenansätze) machen die Zugangswege kompliziert. Die dysplastische Pfanne Eine Hüftdysplasie führt zum Minderwachstum des Gelenks und somit zu einer minderwertigen Ausbildung der knöchernen Überdachung des Hüftkopfes. Der laterale und ventrale Pfannenerker sind nur teilweise oder gar nicht angelegt, was zu einer Dezentrierung des Hüftkopfes führt. Biomechanisch führen die unzureichende Überdachung und die Dezentrierung des Kopfes zu einer Verschiebung der Belastungszonen. Je kleiner die tragende Fläche (hier die dysplastische Pfanne), desto höher der entstehende Belastungsdruck (übertragen durch den Hüftkopf). Ziel der Triple-Osteotomie Ziel dieser Operation ist es, das Acetabulum (also die Hüftpfanne) in allen Ebenen so zu drehen und zu schwenken, dass der Femurkopf wieder nahezu vollständig, wie von einer gesunden Pfanne, überdacht wird („Containment“). Deshalb spricht man auch von einer dreidimensionalen Rekonstruktion. Da sich die Fehlbildung bei einer Hüftdysplasie nicht auf den seitlichen Pfannenerker beschränkt, sondern die gesamte Pfannenhemisphäre betrifft, reicht es nicht aus, die Überdachung nur in eine Richtung zu verbessern. Ziel ist es, die dysplastische Pfanne anatomisch (soweit möglich) zu rekonstruieren. Dies beinhaltet auch die Einbeziehung der hinteren und besonders der vorderen Überdachung. Je nach Schweregrad der Erkrankung und der resultierenden Verformung von Femurkopf und Acetabulum, muss sich die Rekonstruktion auch an die gegebenen Umstände anpassen. Ist der Femurkopf z. B. stark abgeflacht oder so verformt, dass der laterale Schenkelhals-Kopf-Übergang wegfällt, kann eine zu weite Korrekturschwenkung der Pfanne zu Einschränkungen in der Bewegung führen. Es entsteht ein sogenanntes Femoro-acetabuläres Impingement (kurz FAI). In diesen Fällen wird die Rekonstruktion – also die Pfannenschwenkung – nur „so weit wie möglich“ vorgenommen. Manchmal sind auch remodellierende Maßnahmen am Schenkelhals oder an den Randkanten des Kopfes nötig. Bei Hüftdysplasie oder Perthes-bedingter Schenkelhalsanomalie (siehe CCD-Winkel), die eine anatomische Rekonstruktion verhindern oder einschränken, kann zusätzlich eine Intertrochantere Osteotomie durchgeführt werden. Die meisten Hüftdysplasien führen durch den Hochstand des Femurkopfes bedingt zu einer Coxa valga und häufig auch zu einer Coxa antetorta. Dementsprechend wird, wenn nötig, eine Derotations-Varisationsosteotomie (DVO, siehe Osteotomie) durchgeführt. Indikationen und Kontraindikationen Indikationen für eine Triple-Osteotomie sind eine angeborene Hüftdysplasie des erwachsenen Beckens sowie sekundäre Hüftdysplasien, beispielsweise im Rahmen neurologischer Erkrankungen wie einer infantilen Zerebralparese oder einer Poliomyelitis. Eine Dysplasiecoxarthrose (beginnender Gelenkverschleiß der Hüfte bei vorhandener Hüftdysplasie) gilt – besonders im Anfangsstadium – ebenfalls als Indikation, ebenso wie ein Morbus Perthes (frühkindliche Hüftkopfnekrose) mit starker Hüftkopfabflachung. Seltene Formen des Femoro-acetabulären Impingements, beispielsweise bei einer Protrusio acetabuli (angeborene Fehlbildung mit zu tiefem Pfannengewölbe), stellen ebenfalls eine Indikation zur Triple-Osteotomie dar. Faktor Alter Die Triple-Osteotomie ist nicht das Universalverfahren für jeden Patienten mit Hüftdysplasie oder Patienten jedes Alters. Erstrebenswert, aber nicht zwingend ist es, diesen Eingriff erst bei komplettem Verschluss aller Wachstumszonen durchzuführen. Bei Kindern im Wachstum haben Triple-Osteotomien jedoch auch gute Ergebnisse erzielt und nicht zu Wachstumsbehinderungen geführt. Es gibt verschiedene Ansichten darüber, ab welchem Alter eine solche Operation durchgeführt werden kann. Zeitweise wurden auch Kinder ab sieben Jahren mit diesem Verfahren behandelt. In diesem Alter werden jedoch mit einfacheren und schonenderen Operationstechniken, z. B. der Acetabuloplastik gleiche Ergebnisse erzielt. Zumeist wird der vollständige Verschluss der Wachstumsfugen am Becken in einem Alter zwischen zwölf und 14 Jahren erreicht, welches laut Experten auch als Untergrenze des Therapiealters gelten sollte. Nach oben sind die Altersgrenzen weitaus schwieriger zu setzen. Sofern keine Kontraindikationen bestehen, können Patienten auch noch im Alter von 50 Jahren mit dieser Operation versorgt werden. Entscheidend ist hierfür der Grad des Gelenkverschleißes und der allgemeine körperliche Zustand des Menschen. Bei der Indikationsstellung ist darüber hinaus darauf zu achten, dass es sich um einen schweren und körperlich belastenden Eingriff handelt, der eine anstrengende und lange Rehabilitation nach sich zieht, aber bei gegebenen Umständen dem Patienten eine Hüftprothese ersparen kann. Absolute Kontraindikationen Als absolute Gegenanzeigen werden eine fortgeschrittene Dysplasiecoxarthrose mit entsprechender Bewegungseinschränkung, Erkrankungen oder Folgezustände des Muskel-Sehnen-Apparates der Hüfte, die das dreidimensionale Schwenken des Pfannengewölbes unmöglich machen würden, Narkose- oder Operationsunfähigkeit aus anderen medizinischen Gründen, Schwangerschaft, bakteriell-entzündliche Veränderungen im Bereich der Beckenknochen (z. B. Osteomyelitis oder bakterielle Arthritis des Hüftgelenks), Wundheilungsstörungen, entzündliche Veränderungen im Bereich des Operationsfeldes und Tumoren oder Metastasen im Bereich des Beckens angesehen. Diagnostik Sowohl zur genauen Beurteilung der Hüftdysplasie und ihres Schweregrades, als auch zur Planung der Operation werden konventionelle Röntgenbilder des Beckens, sogenannte Beckenübersichtsaufnahmen, angefertigt. Computertomographien (CT) oder Magnetresonanztomographien (MRT) sind nur in Ausnahmefällen notwendig, um z. B. den Grad der Gelenkschädigung besser beurteilen zu können. Computerverfahren zur dreidimensionalen Darstellung von Organen haben sich im Bereich des Beckens nicht etabliert. Jedoch kommt das 3D-CT des Beckens bei CT-gestützten Navigationsverfahren (siehe unten) zum Einsatz. Operationsablauf Anästhesie und Schmerztherapie Da dieser Eingriff postoperativ zu starken Schmerzen führt, wird meistens ein Periduralkatheter angelegt, der nach der Operation für mehrere Tage zur Schmerzbehandlung dient. Typischerweise wird dies in der Operationsabteilung oder in einem Anästhesie-Vorbereitungsbereich kurz vor der eigentlichen Narkose vorgenommen. Die Operation wird in Vollnarkose mit Intubation und Beatmung durchgeführt. Lagerung Die drei verschiedenen Zugänge machen es notwendig, dass der Patient für den ersten Schritt – die Durchtrennung (Osteotomie) des Sitzbeins – auf der Seite oder auf dem Bauch gelagert wird. Das Lagern auf der entgegengesetzten Seite hat sich mittlerweile etabliert, da man so den Patienten steril, also ohne neue Desinfektion und Abdeckung, auf den Rücken drehen kann. Für den zweiten und dritten Zugang (Scham- und Darmbein) bleibt der Patient in Rückenlage. Operationstechnik Im ersten Schritt wird die Durchtrennung des Sitzbeines vorgenommen. Das Sitzbein wird schräg zu seinem Verlauf durchtrennt und verbleibt ohne Osteosynthese (operative Wiederzusammenfügung). Nachdem der Patient wieder auf den Rücken gedreht wurde, erfolgt die Osteotomie des Schambeins. Bevor die Osteotomie des Darmbeins angegangen wird, schraubt der Operateur eine Führungsschraube oberhalb der Pfanne ein. An dieser stabilen Schraube kann er das Pfannenfragment unter Röntgenkontrolle so weit drehen und schwenken, bis die Pfanne die gewünschte Position erlangt hat (Joystick-Technik). Anschließend erfolgt die Befestigung des Darmbeins an das Pfannenfragment durch Osteosynthese mit Schrauben oder Drähten. Eine Osteosynthese des Schambeins ist nicht obligat, trägt aber stark zur Gesamtstabilität bei. Komplikationen Als Komplikationen werden auch unerwartete Operationsergebnisse gesehen. Bei einer Triple-Osteotomie kann es zu Veränderungen der Beinlänge, Fehlkorrekturen und fehlerhafter Osteosynthese kommen. Auch wird ein postoperatives Anhalten der Beschwerden als Komplikation angesehen. Wie bei jeder anderen Operation kann auch hier nicht für den Erfolg der Behandlung garantiert werden. Allgemeine intraoperative Komplikationen Wie bei jeder Operation kann es auch hier zu Blutungen oder Organverletzungen kommen, daher wird in aller Regel mit einem Autotransfusionssystem gearbeitet. Bei komplikationsfreiem Verlauf ist mit einem Blutverlust unter einem Liter zu rechnen. Spezielle intraoperative Komplikationen Verletzungen des Hüftgelenks selbst sind äußerst selten und auch nicht als Komplikation anzusehen. Frakturen im Bereich des Beckens durch die Osteotomien oder Verschraubungen können vorkommen und werden während der Operation direkt versorgt. Gelegentlich kommt es bei der Präparation des Schambeins zu Reizungen oder Verletzungen des Nervus cutaneus femoris lateralis. Als Folge davon treten andauernde oder reversible Sensibilitätsstörungen im Bereich des Außenschenkels und der Leiste auf. Bei Männern besteht die Gefahr der Verletzung des Samenstranges oder der parallel laufenden Gefäße und Nerven. Die Präparation zum Sitzbein verläuft sehr nah am Nervus ischiadicus, welcher dabei verletzt werden kann. Bei der Schambeinpräparation kann es zu Verletzungen der Vena femoralis kommen, Verletzungen der Arteria femoralis sind nicht beschrieben. Postoperative Komplikationen Typische Frühkomplikationen nach Knocheneingriffen, wie das Versagen der Osteosynthesematerialien (Schrauben oder Drähte) und Ausbrüche von Schrauben aus dem Knochen, sind selten. Wie nach jedem Knocheneingriff kann es auch hier zu Knochennekrosen oder Knochenheilungsstörungen kommen. Allgemeine Operations-Frühkomplikationen sind z. B. Wundheilungsstörungen, Thrombosen/Embolien, andere Gerinnungsstörungen und Wundinfektionen. Spätinfektionen, hervorgerufen durch einen streuenden Entzündungsherd im Körper, sind als extrem selten beschrieben. Bei gelenknahen Operationen kann es u. U. zu postoperativen Bewegungseinschränkungen kommen. Als wirkliche Spätkomplikation ist die Schambein-Pseudarthrose zu nennen. Hierbei wachsen die beiden Schambeinfragmente nicht knöchern, sondern bindegewebig zusammen. Diese Pseudarthrose muss in jedem Fall revidiert, also noch einmal operiert werden, da sonst nicht genügend Stabilität im Becken erreicht wird. Nachbehandlung und Rehabilitation In den ersten vier bis sechs Wochen liegen die Schwerpunkte der Nachbehandlung in der Mobilisierung des Patienten und ggf. einer Schmerztherapie. Das Bein der betroffenen Seite darf während dieser Zeit nicht oder nur sehr wenig belastet werden. Die Patienten müssen dabei lernen an Unterarmgehstützen oder mittels anderer Gehhilfen zu gehen. Weiterhin übt der Patient unter physiotherapeutischer Anleitung ein, wie er sitzen und aufstehen muss. In den folgenden Wochen wird in einer stationären oder ambulanten Anschlussheilbehandlung die Belastung des betroffenen Beines langsam und stetig aufgebaut, nicht zuletzt um die Muskulatur zu kräftigen. Auch das Treppensteigen und andere alltägliche Bewegungsabläufe müssen in der Zeit bis zum Erreichen der vollen Belastungsfähigkeit neu einstudiert werden. Zur Kontrolle des Heilungsprozesses der Knochen werden in regelmäßigen Abständen weitere Röntgenaufnahmen des Beckens angefertigt. Die Dauer und der detaillierte Ablauf der Nachbehandlung variieren je nach Operateur sowie individuellen Faktoren. Nach der Entlassung aus der Anschlussheilbehandlung werden die Patienten grundsätzlich noch einige Zeit weiter physiotherapeutisch begleitet. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, über Reha Nachsorgeprogramme der Rentenversicherungen, wie z. B. IRENA (Intensivierte Rehabilitationsnachsorge) oder ASP weiter versorgt zu werden. Die Entfernung der Osteosynthesematerialien erfolgt etwa nach einem Jahr. Erfolgsquoten Wie sich in den letzten Jahren gezeigt hat, bieten dreidimensionale Hüftpfannen-Rekonstruktionsverfahren – wie die Triple-Osteotomie nach Tönnis – viele Möglichkeiten. Die wichtigste davon ist sicherlich die, ein Hüftgelenk vor dysplasiebedingtem Verschleiß zu retten. Trotzdem steht und fällt der Erfolg dieser Operation mit vielen Einflussfaktoren und nicht zuletzt mit dem Patienten selbst. Einflussfaktoren, die den postoperativen Verlauf negativ beeinflussen oder erschweren können, sind z. B. Übergewicht, Rauchen und eine schlecht trainierte („schlaffe“) Muskulatur. Starke Adipositas (Übergewicht) belastet die Osteotomien und Osteosynthese ebenso, wie sie auch die Gelenke der unteren Extremitäten belastet. Das kommt besonders in den ersten Wochen zum Tragen, in denen das operierte Becken nur teilbelastet werden darf. Raucher haben nachweislich eine „weichere“, osteogen weniger potente Knochensubstanz als Nichtraucher. Die Ossifikation, also die (Neu-)Bildung von Knochen, wird wesentlich vom Zug der Muskulatur am Knochen beeinflusst. Je kräftiger die Muskulatur, desto größer ist der Zug an den Knochen während der Anspannung. Je früher eine Hüftdysplasie erkannt wird, desto einfacher und wirkungsvoller ist die Therapie. Solange das Gelenk noch keine arthrotischen Veränderungen zeigt, sind die Chancen auf ein prothesenfreies Leben sehr hoch. Bei beginnendem Verschleiß ist es durchaus möglich, die Notwendigkeit einer Endoprothese zehn bis 15 Jahre oder sogar länger hinauszuzögern. Es gibt bereits einzelne Studien zu mittelfristigen Ergebnissen in Bezug auf die Triple-Osteotomie. Die Studien befassen sich durchgehend mit Patienten, die an Hüftdysplasie leiden. Das Altersspektrum der Studien liegt durchschnittlich zwischen 13 und 46 Jahren. Alle wurden in der Technik nach Tönnis operiert und in identischer Weise nachuntersucht. Die Nachuntersuchungs-Dauer der Studie aus dem Jahr 2002 liegt bei 11,5 Jahren, sie ist damit die langfristigste Studie. Hier wurden 46 Frauen und acht Männer mit – bis dahin unbehandelter – Hüftdysplasie untersucht, die alle in der Technik nach Tönnis operiert worden sind. Die Coxarthrose-Entstehung konnte bei über 90 % der Patienten während der Studien-Dauer verhindert werden. Eine Patientin musste 11 Jahre nach der Tönnis-Osteotomie mit einer Hüft-Endoprothese versorgt werden. Innerhalb der Nachuntersuchungszeit gaben fast 90 % der Patienten eine deutliche Beschwerdebesserung mit Schmerzminderung und gesteigerter Beweglichkeit gegenüber der Zeit vor der Triple-Osteotomie an. Ca. 85 % der untersuchten Patienten beurteilten das Operationsergebnis subjektiv als „sehr gut“. Geschichte Seit den 1950er Jahren war die Verschiebeosteotomie nach Chiari zumeist in Verbindung mit einer intertrochanteren Varisierungsosteotomie die gebräuchlichste Operation zur Behandlung der Hüftdysplasie beim geschlossenen Becken. Bald wurde immer häufiger auf die Intertrochantere OT verzichtet, da man herausfand, dass die optimale Therapie in der möglichst anatomischen Pfannenrekonstruktion zu finden war. Da bei der Methode nach Chiari die Rekonstruktion nur in einer Ebene stattfindet, war dies in den meisten Fällen – für eine anatomische Rekonstruktion – nicht ausreichend. In den 1960er Jahren wurden zahlreiche Operationstechniken entwickelt, bei denen das Acetabulum – auf verschiedenen Wegen – aus der Beckenkontinuität gelöst und geschwenkt werden konnte. Die Gebrüder Blavier erprobten 1962 erstmals eine solche Technik, bei der die Pfanne sphärisch herausgelöst und in korrigierter Position wieder befestigt wurde. 1965 führte Wagner eine ähnliche Operation durch. Es folgten zahlreiche Modifikationen dieser Sphärischen Beckenosteotomie (Eppwright, Tagawa, Ganz etc.), die bis heute (vorwiegend in den Vereinigten Staaten und der Schweiz) angewendet wird. Die erste Dreifachosteotomie wurde 1965 von LeCoeur beschrieben. Etliche Chirurgen eiferten ihm nach und entwickelten Variationen der Dreifachosteotomie. Steel entwickelte 1972 eine weitere Form, die sich bis heute gehalten hat. Hier wird auf den posterioren (hinteren) Zugang zum Sitzbein verzichtet, was einen kosmetischen Vorteil darstellt. Der Nachteil dieser Methode ist, dass der Nervus ischiadicus bei der Steel-Osteotomie nicht dargestellt werden kann. Tönnis und Kalchschmidt kamen 1976 mit der hier beschriebenen Triple-Osteotomie dazu. Sie legten die Osteotomieebenen und somit den Drehpunkt noch etwas näher an die Pfanne und osteotomierten das Sitzbein über den beschriebenen hinteren Zugang. Beide Verfahren sind diejenigen, die heute typischerweise angewendet werden. Die ersten Operationen – nach der Technik nach Tönnis – dauerten in den 1970er Jahren noch zwischen sechs und zehn Stunden und bargen etliche Probleme und Komplikationen. Heute liegt die übliche Operationsdauer bei zwei bis vier Stunden. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben dazu geführt, dass die Zugangswege, die Technik des Pfannenschwenkens und die Osteosynthese einfacher und sicherer wurden. Heute ist die Triple-Osteotomie ein Standardverfahren zur Therapie der Hüftdysplasie und wird an zahlreichen Kliniken durchgeführt. Computergestützte Triple-Osteotomie Seit Mitte der 1980er Jahre wurden Computersysteme entwickelt, die dem Operateur bei bestimmten Eingriffen als „Richtungsweiser“ dienen sollen. Der Begriff „Computer-assisted-surgery“ (CAS) ist heute in vielen Bereichen der Chirurgie, vor allem aber in der Knochenchirurgie, kaum noch wegzudenken. Zahlreiche technisch immer genauere Systeme kommen stetig neu auf den Markt. Die ersten sogenannten OP-Navigationssysteme wurden in der Neurochirurgie bei Mikroeingriffen am Gehirn eingesetzt. Seit 1996 wird akribisch an der „Navigierten Triple-Osteotomie“ gearbeitet. Verfahren, die schon regelmäßig benutzt werden, benötigen eine vorherige Computertomographie für die Berechnung eines 3D-Abbildes des Beckens. So kann das Navigationssystem den Operateur unter Verwendung spezieller – für die Navigation sichtbarer – Instrumente sowohl bei den Sägeschnitten als auch bei der Pfannenschwenkung einweisen. Dies ist nur ein Beispiel aus den verschiedenen technischen Möglichkeiten. Die Techniken und auch die Instrumente und Geräte werden zunehmend einfacher und schneller. Studien über die Erfolge der Navigation bei Beckenosteotomien liegen bereits vor. Triple-Osteotomie bei Hunden Triple-Osteotomien werden in der Tiermedizin bislang nur bei Hunden mit Hüftdysplasie durchgeführt. Da die Operation aufwändig ist, ist eine genaue Kosten-Nutzen-Analyse notwendig. Eine Triple-Osteotomie ist nur bei jungen Hunden angezeigt, für die eine Nutzung als Arbeitshund geplant ist. Voraussetzung ist, dass noch keine oder nur geringe arthrotische Veränderungen im Hüftgelenk röntgenologisch nachweisbar sind, der Reduktionswinkel im Hüftgelenk kleiner als 30° ist und der Subluxationswinkel weniger als 10° beträgt. Unter dem Reduktionswinkel wird dabei der Winkel verstanden, bei dem der Kopf des Oberschenkelknochens beim Abspreizen (Abduktion) der Gliedmaße wieder in die Hüftpfanne zurückspringt. Der Subluxationswinkel ist als der Winkel definiert, bei dem der Oberschenkelkopf bei der Einwärtsbewegung (Adduktion) aus der Pfanne springt. Die Triple-Pelvic-Osteotomie wird vor allem nach der Methode von Slocum & Slocum durchgeführt, wobei nach der Durchtrennung der drei Beckenknochen die Hüftpfanne rotiert und nach außen verlagert wird. Die anschließende Fixierung der Beckenknochen erfolgt mit speziell dafür hergestellten Platten. Siehe auch Salter-Osteotomie Literatur und Quellen Breusch, Mau, Sabo: Klinikleitfaden Orthopädie. Elsevier 2006, ISBN 9783437224713. Klaus Buckup, L.C. Linke, W. Cordier: Kinderorthopädie. Thieme 2001, ISBN 3136976029. V. Bühren, O. Trentz, U. Heim: Checkliste Traumatologie. Thieme 2005, ISBN 978-3135981062. J. Duparc: Chirurgische Techniken in Orthopädie und Traumatologie. Beckenring und Hüfte. Elsevier 2005, ISBN 3437225561. A.B. Imhoff, R. Baumgartner: Checkliste Orthopädie. Thieme 2006, ISBN 3131422815 Ann L. Johnson und Donald A. Hulse: Diseases of the joints. In: Theresa Welch Fossum (Hrsg.): Small Animal Surgery. 2. Auflage. Mosby, 2002, S. 1023–1157. W. Konermann: Navigation und Robotic in der Gelenk- und Wirbelsäulenchirurgie. Springer, 2003, ISBN 3540433058. R.-P. Meyer, A. Gächter: Hüftchirurgie in der Praxis. Springer, 2005, ISBN 978-3540227182. Einzelnachweise Weblinks Präsentation zu Hüftdysplasie Ausführliche Informationen einer Selbsthilfegruppe Therapeutisches Verfahren in Orthopädie und Unfallchirurgie Operatives Therapieverfahren Therapeutisches Verfahren in der Tiermedizin