id
stringlengths 2
8
| url
stringlengths 33
123
| title
stringlengths 1
69
| text
stringlengths 328
347k
|
---|---|---|---|
2227047 | https://de.wikipedia.org/wiki/Inselbergschanze | Inselbergschanze | Die Inselbergschanze (auch Inselsbergschanze genannt) liegt bei Brotterode im westlichen Teil des Thüringer Waldes gegenüber dem namensgebenden Großen Inselsberg im Landkreis Schmalkalden-Meiningen. Die Großschanze hat einen Konstruktionspunkt (K-Punkt) von 105 Metern und eine Hillsize (HS) von 117 Metern, der Schanzenrekord liegt bei 123,5 Metern. Die Schanze wurde von 1920 bis 1924 gebaut, mehrmals erweitert und modernisiert und zählt seit ihrem Bestehen zu den größeren und inzwischen zu den ältesten Anlagen in Deutschland. Auf ihr finden seit dem Jahre 1995 regelmäßig Continental-Cup-Wettkämpfe statt.
Lage
Die Inselbergschanze befindet sich am Nordhang des hohen Seimbergs, vier Kilometer südwestlich des namensgebenden, hohen Großen Inselsbergs auf etwa , 150 Meter oberhalb von Brotterode. Brotterode liegt in einem Muldental direkt am Rennsteig in etwa 550 bis 600 Meter Höhe. Von hier sind es etwa 24 Kilometer Luftlinie zum südöstlich gelegenen Wintersportzentrum des Thüringer Waldes in Oberhof und zum 28 Kilometer südlich gelegenen Meiningen. Die Landeshauptstadt Erfurt liegt etwa 45 Kilometer in nordöstlicher Richtung.
Beschreibung
Die Inselbergschanze hat ein nach § 414 der Internationalen Skiwettkampfordnung der Fédération Internationale de Ski (FIS) gültiges Schanzenzertifikat (Schanzenprofilbestätigung), das Wettkämpfe mit internationaler Beteiligung erlaubt. Sie ist bei der FIS mit der Zertifikatsnummer 54/GER gelistet. Die Schanze ist wegen fehlender Mattenbelegung nur im Winter bei ausreichender Schneelage nutzbar. Wenn es kalt genug ist und der natürliche Schnee nicht ausreicht, wird die Schanze mit Schneekanonen beschneit. Der Zuschauerbereich befindet sich am Auslauf und auf drei Plattformen am Aufsprunghang.
Auf der Inselbergschanze werden in den Wintermonaten bei entsprechenden Witterungsverhältnissen verschiedene Wettkämpfe ausgetragen, von denen der Continental Cup mit internationaler Beteiligung die bedeutendste Veranstaltung ist. Für den Skinachwuchs von Brotterode hat die Schanze im Gegensatz zu früher keine Bedeutung mehr. Zwar ist Brotterode ein Leistungszentrum für Skispringer im Thüringer Wald mit einer über hundertjährigen Tradition, allerdings trainieren die jüngeren Springer zunächst auf den vier kleineren Schanzen in der Werner Lesser II Skisprung Arena unmittelbar neben der Inselbergschanze. Erbringen sie dort gute Leistungen, wechseln sie zum Sprungtraining in das Sportgymnasium Oberhof.
Zu DDR-Zeiten war die Inselbergschanze ein bedeutendes Wintersportzentrum, wo regelmäßig Großveranstaltungen stattfanden. Aus dem heimischen Sportverein gingen mehrere Springer mit internationalen Erfolgen hervor, die das Skispringen auf der Inselbergschanze erlernt hatten. Zu ihnen gehören Werner Lesser, Dieter Neuendorf, Peter Lesser, Manfred Wolf, Hans-Georg Aschenbach, Jochen Danneberg und Ralph Gebstedt.
Geschichte
Die Inselbergschanze wurde in den Jahren 1920 bis 1924 erbaut und trug bis 1945 den Namen Hagenschanze. 1945 wurde sie in Aufbauschanze umbenannt. Seit 1956 heißt sie Inselbergschanze.
Erste Schanze
Der erste Schritt zur Errichtung einer Sprungschanze war die Gründung des Vereins zur Förderung des Wintersportes in Brotterode am 14. Februar 1905. Neben einer Bob- und einer Rodelbahn legten zwei Norweger auf dem Gelände des Seimbergs eine erste Sprungschanze an. Sie errichteten einen behelfsmäßigen Sprunghügel, von dem am Gründungstag des Vereins Sprünge von 12 bis 18 Metern erzielt wurden. Die ersten Wintersportmeisterschaften fanden am 4. März 1906 statt und wurden bis 1914 jährlich wiederholt.
Hagenschanze
Am 6. Januar 1919 fanden sich einige Enthusiasten, darunter der Rechnungsrat Fuchs und der Lehrer Adam Brod, zusammen und beschlossen den Bau einer großen Sprunganlage. Landrat Dr. Hagen stiftete 20.000 Mark zum Ausbau der Sprungschanze am Seimberg. Die Schanze wurde deshalb Hagenschanze benannt. Bei den Bauarbeiten an der 40-Meter-Schanze in den Jahren 1920 bis 1924 wurde der Wald am Seimberg gerodet, etwa 5000 Kubikmeter Erde wurden bewegt. Im Auslauf wurde ein Sportplatz angelegt. Einwohner, die das Skispringen nicht kannten, äußerten sich: „da soll man doch gleich einen Friedhof mit anbauen!“. Noch im Jahr 1924 war die Einweihung mit den Thüringer Meisterschaften und einem Springen, bei dem der Ernstthaler Karl Huhn mit 45 Metern den ersten Schanzenrekord erzielte. 1929 fanden die ersten Landesmeisterschaften im Spezialsprunglauf und in der Nordischen Kombination statt, die Rudolf Lesser gewann.
Nach dem Umbau in eine 60-Meter-Schanze im Jahre 1930 führte der Inselsberggau im Thüringer Wintersportverband am 18. Februar 1931 ein Länder-Skispringen durch. Dies war der erste Wettbewerb mit internationaler Beteiligung. Den Wettkampf eröffnete vor 15.000 Zuschauern der einheimische Gustav Krahmen. Es beteiligten sich mehr als 40 Springer, unter anderen die Österreicher Gumpold und Galeitner und die Norweger Mowinkel und Kobberstadt. Die größte Weite mit 46 Metern erzielte Knut Kobberstadt vor dem Oberschönauer Karl Wagner und dem Brotteröder Rudolf Lesser. Dem Landrat Hagen wurde unterstellt, seine Stiftung habe einzig dazu gedient, eine Jugendwehr, das heißt Rekruten, heranzubilden. Deshalb wurde die Hagenschanze 1945 in Aufbauschanze umbenannt.
Aufbauschanze
Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden im Februar 1948 die ersten Sprungläufe auf der Aufbauschanze statt. 1948 und 1949 wurde die Schanze modernisiert und vergrößert und der Aufsprunghang neu profiliert. In Brotterode entstanden 1948/1949 die Gemeinschaften Motor und Stahl, die sich später, vermutlich noch im Jahr 1949, zur Betriebssportgemeinschaft (BSG) Stahl vereinigten. Am 9. Januar 1949 fanden Nordische Skiwettkämpfe auf der Schanze statt. In den Jahren 1950, 1951 und 1952 wurden auf der Schanze Wintersportmeisterschaften des Landes Thüringen mit Nachtsprungläufen durchgeführt. 1953 fand die erste große Spartakiade der Sportvereinigungen Aktivist und Stahl und am 7. März 1954 ein Mannschaftssprunglauf auf der Schanze statt.
Die Aufbauschanze wurde in den Jahren 1954/1955 um- und ausgebaut. Dabei wurden 11.000 Kubikmeter Erde bewegt. Viele Brotteröder zeichneten sich dabei durch freiwillige Einsätze aus, bei denen auch Sprengungen durchgeführt wurden. Die erste große Wintersportwoche fand 1955 anlässlich des Jubiläums 50 Jahre Wintersport in Brotterode mit erstmals drei Tagessprungläufen statt. Die Organisation lag in den Händen der BSG Stahl. Die Weihe der neuen Schanze fand am 3. März 1956 im Rahmen eines internationalen Skispringens während der zweiten Wintersportwoche statt. Die neuprofilierte Schanze mit einem Normpunkt von 80 Metern wurde in Inselbergschanze umbenannt.
Inselbergschanze
In Brotterode wurden im Februar 1957 die VIII. DDR-Meisterschaften im Sprunglauf und in der Nordischen Kombination durchgeführt. Die Armeesportgemeinschaft (ASG) in Brotterode wurde im Herbst desselben Jahres gegründet und der gesamte Skisport aus der BSG Stahl in die ASG eingegliedert. Die Kampfrichter wechselten fast ausnahmslos ebenfalls zur ASG über. Von 1958 bis 1970 fanden die jährlichen Armeemeisterschaften im Wintersport in Brotterode statt. Im Rahmen der jährlichen Thüringer Dreischanzentournee in Brotterode, Oberhof und Lauscha wurden von 1960 bis 1970 Sprungläufe auf der Inselbergschanze durchgeführt. 60 Jahre Wintersport feierte man 1965 mit einer Großveranstaltung. Die XVII. Deutschen Skimeisterschaften in der Nordischen Disziplin fanden vom 25. bis 30. Januar 1966 in Brotterode statt.
Von 1968 bis 1969 wurde die Schanze in eine 90-Meter-Schanze umgebaut, wobei neben den Einheimischen auch sowjetische Soldaten mitarbeiteten. Nach dem Schanzenumbau sprang 1969 Clemens Walther aus Zella-Mehlis mit 100,5 Metern als Erster über die 100-Meter-Marke. Vom 5. bis 8. Februar 1970 sah Brotterode die XXII. Deutschen Nordischen Skimeisterschaften. Durch eine Neuprofilierung des Übergangs vom Schanzentisch zum Aufsprunghang in den Jahren 1978 und 1979 ließ die Schanze Weiten von über 100 Metern zu. 1979 wurden zusätzliche Startplätze im Anlauf angebracht. Am 22. Januar 1984 waren etwa 10.000 Zuschauer Zeugen der Olympiaausscheidungen mit dem späteren Olympiasieger und Silbermedaillengewinner Jens Weißflog. Die DDR-Meisterschaften im Skispringen von der Großschanze fanden am 6. März 1988 mit einer Doppelveranstaltung statt. Die 41. und letzten DDR-Skimeisterschaften vom 30. Januar bis 5. Februar 1989 waren nach Brotterode vergeben worden. Aufgrund der schlechten Wetterverhältnisse mussten sie jedoch nach Oberwiesenthal verlegt werden. Brotterode war neben Lauscha, Schmiedefeld am Rennsteig und Oberhof eine der Stationen, an denen regelmäßig die Tournee der Freundschaft stattfand.
Seit 1995 finden auf der Schanze regelmäßig Wettkämpfe des Continental Cups statt. In diesem Jahr wurde auch die Beschneiungsanlage gebaut und 1998/1999 ausgebaut, der Kampfrichterturm 2000/2001 saniert. Die geänderten Flugkurven des zu Beginn der 1990er Jahre aufgekommenen V-Sprungstils machten die Änderung der Schanzennormen durch die FIS erforderlich. Wegen des veralteten Profils drohte der Schanze das Aus. Das FIS-Zertifikat, das immer für fünf Jahre vergeben wird und für internationale Wettkämpfe erforderlich ist, lief im Jahre 2004 aus und wurde nicht verlängert. Bis dahin war die Schanze von der Schanzengröße her mit einem K-Punkt von 98 Metern und einem Hillsize von 110 Metern die größte Normalschanze weltweit.
Daraufhin wurde die Schanze in den Jahren 2003/2004 nach den neuen Normen um- und ausgebaut und ein Wasserreservoir und eine Beschneiungsanlage installiert. Um sie den flacheren, aber längeren Flugbahnen der neuen V-Stil-Generation anzupassen, wurde die Schanzentischneigung verringert und die Landezone des Aufsprunghanges vertieft. 2003 wurde der Schanzentisch umgebaut und der Radius der Anlaufbahn geändert. 2004 wurden hauptsächlich Arbeiten am Schanzenvorbau, am Aufsprunghang und am Auslauf durchgeführt. Der Aufsprungbereich wurde nochmals um mehrere Meter vertieft, dabei wurden etwa 25.000 Kubikmeter Erde bewegt. Die Schanze wurde zu einer Großschanze mit einem K-Punkt von 105 Metern und einer Hillsize von 117 Metern erweitert, so dass sie Weiten von über 120 Metern zulässt. Damit ist die Schanze die kleinste der acht intakten Großschanzen in Deutschland. Weltweit gesehen ist sie, gemeinsam mit weiteren Schanzen, die zweitkleinste zertifizierte Großschanze. Beim Continental-Cup-Springen am 12. Februar 2005 stellte der Koreaner Yong Jik Choi mit 123,5 Metern den aktuellen Schanzenrekord auf. Zum Continental-Cup-Springen 2009 wurde erstmals eine zwölf Quadratmeter große Videoleinwand eingesetzt.
Die Sprungschanze entspricht nicht mehr den Auflagen der FIS. Das Zertifikat der Schanze war am 31. Dezember 2014 ausgelaufen. Am 26. Oktober 2014 hat die Inselbergschanze nochmals ein temporäres FIS-Zertifikat für vier Monate, bis Ende April 2015, erhalten. Um ein neues Zertifikat zu erhalten, was die Voraussetzung für ein Springen ist, muss die Schanze umgebaut werden. Die FIS fordert unter anderem die Erneuerung und Verbreiterung der Startgates am Anlaufturm und einen seitlichen Aufgang für die Athleten am Anlaufturm. Die Anlage ist ein Bauwerk aus der Zeit der Deutschen Demokratischen Republik und es fehlen die Bauunterlagen des Anlaufturmes aus dem Jahre 1969. Ohne technische Zeichnung und eine Statikberechnung können keine Umbaumaßnahmen am Anlaufturm vorgenommen werden. Dem ausrichtenden Verein fehlt zudem das Geld für die nötigen Umbauarbeiten, beziehungsweise für einen Neubau.
Das Zertifikat der Schanze wird seit 2015 mit Ausnahmegenehmigungen immer wieder verlängert. Erfolgt jedoch nicht bis 2023 die von der FIS geforderten Umbaumaßnahmen, gibt es voraussichtlich kein neues Zertifikat. Die dazu geforderten drei Millionen Euro wurde von der Thüringer Landesregierung für den Landeshaushalt 2022 nicht erteilt. Der Landkreis Schmalkalden-Meiningen hält jedoch an den Sanierungsplänen fest und prüft neue Finanzierungsmöglichkeiten.
Skisprung-Continental-Cup
Seit 1995 finden auf der Inselbergschanze jährlich Wettbewerbe im Skisprung-Continental-Cup (COC), der zweithöchsten Wettkampfklasse, unmittelbar nach dem Skisprung-Weltcup statt. Diese Wettkämpfe haben wegen ihrer exakten Organisation und Durchführung bei den Verantwortlichen und Beobachtern des Internationalen Skiverbandes (FIS) eine große Resonanz hinterlassen. Durchschnittlich kommen zu einem Wettkampf etwa 5000 Zuschauer, das sind die höchsten Zuschauerzahlen aller Veranstaltungen im Continental Cup. Inzwischen ist Brotterode fester Austragungsort des Continental Cups. An den COC-Wettbewerben in Brotterode haben wiederholt Weltmeister und Olympiasieger teilgenommen. In den ersten Jahren fand zunächst jeweils ein Springen im Dezember statt, später gab es zwei Springen an Wochenenden im Januar oder Februar. Durch ungünstige Witterungsverhältnisse konnten nicht alle vorgesehenen Wettbewerbe durchgeführt werden.
Sieger der bisherigen Continental Cups waren: 1996 Andreas Widhölzl aus Österreich, 2000 Georg Späth aus Deutschland, 2001 Tami Kiuru (Finnland), 2003 zweimal Janne Happonen aus Finnland, 2004 Jörg Ritzerfeld aus Deutschland und Pekka Salminen (Finnland), 2005 der aktuelle Schanzenrekordhalter Choi Yong-jik (Südkorea) und Kalle Keituri (Finnland). 2006 gewann Harri Olli aus Finnland und 2008 der Österreicher Martin Höllwarth. 2009 siegten die Österreicher Lukas Müller und Stefan Thurnbichler. 2010 siegte vor 4500 Zuschauern Severin Freund (Deutschland) und Jan Matura (Tschechien).
Auf das Siegerpodest konnten weitere, im Skisprung-Weltcup erfolgreiche Athleten springen, wie 1996 Sven Hannawald (Deutschland) mit einem dritten Platz, Stephan Hocke (Deutschland) mit einem zweiten und dritten Platz 2004 und Manuel Fettner (Österreich) mit einem zweiten Platz 2005. Im Jahre 2010 wurde Roar Ljøkelsøy aus Norwegen Zweiter.
Im Februar 2011 fanden ebenfalls Springen im Rahmen der Ladies-COC statt, was bei den Frauen damals die höchste Wettkampfklasse darstellte, da die Frauen erst seit der Saison 2011/12 einen Weltcup austragen. Die erste Siegerin war die Österreicherin Daniela Iraschko.
Schanzendaten
Umbauten und Umprofilierungen:
1920–1924 als 40-Meter-Schanze erbaut
1930 zu einer 60-Meter-Schanze umgebaut
1948 modernisiert und umgebaut
1954/55 umgebaut zu einer 80-Meter-Schanze
1968/69 umgebaut zu einer 90-Meter-Schanze
1978/79 Aufsprunghang umgebaut zu einer 100-Meter-Schanze
2003/04 zu einer 105-Meter-Schanze umgebaut
Schanzenrekorde
Weitere Schanzen
In der sogenannten Werner Lesser II Skisprung Arena befinden sich vier weitere Schanzen unmittelbar neben der Inselbergschanze. Im Jahre 2009 wurden die Kinder- und Jugendschanzen in Brotterode zentralisiert. Die beiden ehemaligen Oskar-Fuchs-Mattenschanzen wurden abgerissen und durch zwei neue Schanzen neben der Inselbergschanze ersetzt. Auch die K 12-Kinderschanze am Seimberg wurde abgerissen. Dort entstanden zwei neue Mattenschanzen- mit K-Punkten von 12 und 17. Zusammen mit den bestehenden K 28- und K 38-Schanzen und der Inselbergschanze entstand so die Werner Lesser II Skisprung Arena, benannt nach dem ehemaligen Skispringer und Brotteroder Ehrenbürger Werner Lesser II.
Zwei Schanzen wurden 1954/1955 neben der Aufbauschanze als Pionier- und Jugendschanze gebaut. Sie sind mit Flutlicht ausgestattet und dienen im Winter den Nachwuchssportlern zum Training. Im Oktober 1956 fand erstmals ein Springen auf Kunststoffmatten statt, die in den späteren Jahren wieder entfernt wurden. Seit Juni 2009 haben diese Schanzen wieder Matten. Der K-Punkt der beiden Schanzen liegt bei 28 und 38 Metern. Eine weitere Schanze mit einem K-Punkt von 12 Metern wurde im Jahre 2008 abgerissen. Dort entstanden bis Oktober 2009 zwei weitere Mattenschanzen mit beheizten Edelstahlspuren als Anlauf. Der K-Punkt liegt bei 12 und 17 Metern. Der Schanzenrekord der kleinsten, der K 12, liegt bei 13,5 Metern (Luca Geyer, WSV 08 Lauscha, 2010), die der mittleren, von 17 Metern, bei 15 Meter (Maximilian Wölke, WSC 07 Rhula, 2009). Der Schanzenrekord bei der K 28 liegt bei 30,5 Metern (Marcus Abicht, TSG Ruhla/WSC 07, 2004) und bei der größten mit einem K-Punkt von 38 Metern bei 41,5 Metern (Carsten Gebhard, 1981).
Für das Training oder für Jugendwettkämpfe befanden sich bis zum Jahre 2009 400 Meter nordwestlich, an einem Hang am Ortsrand von Brotterode weitere zwei Mattenschanzen, Oskar-Fuchs-Mattenschanzen genannt. Sie wurden hauptsächlich im Sommer als Trainings- und Jugendwettkampfschanzen benutzt. Dort fand 1961 der Einweihungssprunglauf statt. Benannt sind sie nach einem Springer aus den Gründerjahren, der im Zweiten Weltkrieg gefallen ist. Die kleine Schanze hat einen K-Punkt von 12 Metern, die große von 26 Metern, der Hillsize liegt bei 28 Metern und der Schanzenrekord aus dem Jahre 2006 bei 26,0 Metern. Beide Schanzen wurden im Jahre 2009 abgerissen.
Siehe auch
Liste der Großschanzen
Literatur
WSV Brotterode (Hrsg.): Festschrift 100 Jahre Wintersport in Brotterode. 2005.
WSV Brotterode (Hrsg.): FIS – Continental Cup – Inselbergschanze Brotterode 25.02.–26.02.2006. 2006.
Roland Sänger: Chronik des Thüringer Skisports. Hrsg. Freies Wort und Südthüringer Zeitung, Suhl-Druck GmbH, Suhl 1995.
Gerd Falkner: Chronik des Skisports in der Deutschen Demokratischen Republik. 2002.
Weblinks
Werner Lesser II Skisprung Arena
FIS – Continental Cup Brotterode
Infos und Fotos über die Inselbergschanze und die Wintersportgeschichte von Brotterode
Inselbergschanze bei Thueringen.info
Brotteröder Wintersporthistorie
Einzelnachweise
Skisprungschanze in Deutschland
Sportstätte im Landkreis Schmalkalden-Meiningen
Sport (Brotterode-Trusetal)
Sport (Thüringer Wald)
Bauwerk in Brotterode-Trusetal |
2232825 | https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCdinsel-Eisenholz | Südinsel-Eisenholz | Das Südinsel-Eisenholz (Metrosideros umbellata), auf , , , ist neben den aus der gleichen Gattung stammenden Nordinsel-Eisenholz und Pohutukawa eine der bekanntesten Baumarten Neuseelands. Sie ist durch die im Dezember und Januar auftretenden kräftig roten Blüten besonders auffällig. Die vor allem auf der Südinsel Neuseelands heimischen Populationen sind durch Verbiss durch den aus Australien eingeschleppten Fuchskusu bedroht.
Beschreibung
Habitus
Die immergrünen Südinsel-Eisenholz-Bäume werden 15 Meter und höher und können dabei Stammdurchmesser von mehr als einem Meter erreichen, zusammen mit den herabwachsenden Luftwurzeln kann dieser jedoch noch erheblich überschritten werden. Die Stämme besitzen eine 2 bis 3 mm starke Borke, deren äußere Schichten in papierartigen Stückchen abfällt. Der Habitus kann je nach Standort jedoch auch stark von diesem Erscheinungsbild abweichen. Während größtenteils freistehende Bäume eine runde Baumform einnehmen, bilden vor allem Bäume in dichter besiedelten Lebensräumen eine schirmförmige Krone aus. An bewachsenen Ufern wachsen Südinsel-Eisenholz-Bäume oft mit einem fast waagerechten Stamm, um unter den Kronen anderer Bäume hervorzuwachsen. Teilweise sind Pflanzen auf extrem steinigem Untergrund nur strauchartig ausgebildet und schon in einer Größe von 15 bis 25 cm blühfähig. Gelegentlich werden auch epiphytisch lebende Exemplare in den Kronen von Libocedrus bidwillii und seltener von Podocarpus hallii oder Dacrydium cupressinum gefunden. Diese Bäume sind oberhalb des ursprünglichen Aufsatzpunktes stark verzweigt; die nach unten wachsenden Wurzeln umhüllen den Wirt zunehmend, teilweise so weit, dass er abstirbt.
Vegetatives Wachstum
Die zunächst samtigen, später glatten, ledrigen Blätter haben eine Größe von (25–) 30–50 (–60) mm × (10–) 15–20 mm, sind gegenständig, nebenblattlos und sitzen an etwa 5 mm langen Blattstielen. Die Blattform variiert zwischen mittel- bis eng-oval oder -elliptisch.
Erwachsene Pflanzen beenden einen vegetativen Wachstumsschub mit der Ausbildung eines vegetativen Knospenpaares, das gegenständig zum letzten ausgebildeten Blattpaar zwischen diesem sitzt. Sie bestehen aus fünf bis sechs Paaren modifizierter, schuppenartiger Blätter, von denen das zweite Paar die Knospe vollständig umschließt. Diese Knospen sind während des Winters 1,5 mm lang und verharzt. Im Frühjahr löst sich das Harz, die äußeren beiden Schuppenpaare werden abgeworfen, die restlichen drei bis vier Paare vergrößern sich zunächst, um die sich entwickelnden Blätter zu schützen, bis auch sie abgeworfen werden.
Jüngere Pflanzen bilden am Ende der Wachstumsperiode keine vegetativen Knospen aus, obwohl auch hier das Wachstum mit der Ausbildung eines Blattpaares endet. Dieses ist jedoch oftmals nicht vollständig ausgebildet und stirbt während des Winters ab.
Das vegetative Wachstum ist meistens auf die bereits in den vegetativen Knospen ausgebildeten Blätter beschränkt, so dass pro Wachstumsperiode nur zwei bis vier Blattpaare mit den entsprechenden Knoten ausgebildet werden. Die Verzweigung der Triebe ist meistens dichotom. Die Aufteilung des Triebes junger Sämlinge beginnt meist nach der vierten Wachstumsperiode.
Die Jahresringe im Stamm erscheinen zumindest bei jungen Pflanzen in Jahresabständen, das hellere, frühere Holz wechselt sich mit dem dunkleren Holz der späten Wachstumsphase ab. Nach etwa 50–100 Jahresringen wird das Wachstum unregelmäßig, in einigen Ringen ist ein regelmäßiges Wachstum zu erkennen, während in anderen das Wachstum fast eingestellt ist und die Übergänge schwer zu erkennen sind.
Die im Boden wachsenden Wurzeln sind sehr dünn, oft nur 0,2 mm dick und stark verzweigt. Da die meisten Triebspitzen der Wurzeln nur sehr kurzlebig sind, werden sie durch neue, von der Pflanzenmitte nach außen wachsende Wurzeln ersetzt. Sind Wurzelhaare vorhanden, sind sie nur vereinzelt oder nah verbündelt und werden 0,5 mm lang.
Wächst das Südinsel-Eisenholz in feuchten Gebieten, also vor allem in den Tälern unterhalb der Franz-Josef- und Fox-Gletscher, bilden sich bei Pflanzen mit einer Stammdicke von mindestens 23–30 cm Luftwurzeln aus. In dieser Größe sind die Pflanzen bereits zirka 100 Jahre alt. Diese Luftwurzeln hängen zunächst frei oder wachsen am Stamm herunter. Erreichen sie den Boden, verdicken sie sich zu Stelzwurzeln und verwachsen oft mit anderen Luft- oder Stelzwurzeln oder dem Stamm.
Auch wenn Pflanzen im Flachland meist ausgebildete Luftwurzelsysteme besitzen, sterben die Pflanzen in fast allen Fällen ab, wenn sie umstürzen, während in höheren Lagen aus den Stämmen oft neue Bäume wachsen, so dass sie ein dichtes Gewirr aus umgestürzten und verkeilten Stämmen bilden.
Vermehrung
Die Blütezeit des Südinsel-Eisenholzes kann selbst innerhalb eines Habitates stark variieren. Während die Hauptblütezeit im Dezember und Januar ist, sind blühende Bäume teilweise bis über den März hinaus zu sehen.
Die Blüten bilden sich einzeln oder in Gruppen von zwei bis drei in den Achseln der inneren ein bis drei (meistens zwei) Knospenschuppen, einzelnen Blüten steht ein Blatt gegenüber, Blütengruppen ein Quirl aus vier bis sechs Blättern. Der vegetative Trieb der Knospe stellt meist schon vor dem Öffnen der Blüte das Wachstum ein, und da die Blütenstiele meist länger sind als die Internodien, scheint es, als würden die Blüten in Gruppen von bis zu neun Blüten auftreten.
Die Blüten bestehen aus fünf etwa 3 mm langen, länglich dreieckig bis ovalen Kelchblättern und fünf etwa 5 mm langen, fast runden roten Kronblättern. Die zahlreichen ebenfalls roten Staubblätter sind etwa 2 cm lang. Vereinzelt kommen auch Pflanzen mit orangen bis hin zu gelben Blüten vor. Die Basis des Griffels setzt leicht oberhalb der Plazenta an.
Die an Nektar reichen Blüten werden vor allem durch den Tui (Prosthemadera novaeseelandiae) und den Korimako (Anthornis melanura) sowie von Honigbienen aufgesucht und befruchtet.
Aus den befruchteten Blüten entwickeln sich 0,75 bis 1 cm große Samenkapseln. Damit sind sie größer als diejenigen verwandter Arten wie Nordinsel-Eisenholz oder Pohutukawa. Während des Wachstums der Kapseln vergrößert sich das Gewebe zwischen Griffel und Plazenta, so dass sie in komplett ausgebildeten Kapseln weit auseinander stehen. Reif sind die etwa 250 bis 300 Samen enthaltenden, zunächst grünen Kapseln im auf die Blüte folgenden Sommer, wie bei den meisten Myrtengewächsen enthalten nur wenige der Samen Embryos und sind keimfähig. Während des Winters platzen die Samenkapseln auf, so dass im darauffolgenden November die Samenkapseln nahezu leer sind. Die nur 2,0 × 0,4 mm großen und weniger als 0,1 mg schweren Samen werden durch den Wind verteilt. Leere Kapseln verbleiben noch für einige Monate an der Pflanze, bevor sie abfallen.
Alter
Korrelationen mit glazialen Daten der anliegenden Gletscher aus den Tälern des Fox River und des Waiho River lassen annehmen, dass die Südinsel-Eisenholz-Bäume eine Lebensspanne von 400 bis 500 Jahren haben.
Chromosomenzahl
Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 22.
Verbreitung und Habitat
Das Südinsel-Eisenholz ist der in Neuseeland am weitesten verbreitete Vertreter der Gattung Metrosideros. Man findet ihn meist in Höhen zwischen 0 und 760 Metern über Meereshöhe, an nordwärts gerichteten Klippen sind auch in Höhen über 1100 Metern einige Bestände bekannt. Am besten wächst der Baum in kühleren Regionen mit einer hohen durchschnittlichen Niederschlagsmenge, so dass er vor allem an der Westküste der Südinsel Neuseelands zu finden ist. Es gibt jedoch auch auf der gesamten Nordinsel einige Habitate, beispielsweise auf der Coromandel Peninsula und dem nördlichen Hochland. Die südlichsten Vorkommen sind auf den subantarktischen Aucklandinseln zu finden, womit sie die südlichsten Wälder Neuseelands bilden.
Typischerweise ist das Südinsel-Eisenholz vergesellschaftet mit anderen Bäumen wie dem „Kamahi“ (Weinmannia racemosa), der Steineiben-Art Podocarpus hallii oder dem „Berg-Neinei“ (Dracophyllum traversii) und Sträuchern wie verschiedenen Coprosma und Pseudopanax-Arten. In der Farn- und Krautschicht finden sich beispielsweise verschiedene Farne der Gattung Blechnum, sowie Gleichenia cunninghamii, das Sauergrasgewächs Gahnia procera, das Tagliliengewächs Phormium cookianum, das Rötegewächs Nertera dichondraefolia oder Astelia nervosa aus der Familie Asteliaceae.
Da junge Sämlinge des Südinsel-Eisenholzes schwer mit anderen Pflanzen konkurrieren können, findet man Südinsel-Eisenholz-Bäume oftmals auf dünn besiedeltem Gebiet mit nährstoffarmen Böden oder anderweitig rauen Umweltbedingungen. Durch ihre Fähigkeit zur epiphytischen Lebensweise findet man die Pflanzen aber auch gelegentlich, dafür in geringen Anteilen, in dichter besiedelten Lebensräumen. Als steinaufsitzende Pflanze findet man Exemplare auf Kalkstein, Schiefer, Grauwacke, Andesit, Gneis, Granit und Quarzit.
Systematik
Die Gattung Metrosideros wird in zwei Untergattungen aufgeteilt: die Untergattung Metrosideros mit etwa 26 Arten und die Untergattung Mearnsia mit etwa 24 Arten. Phylogenetische Untersuchungen haben ergeben, dass das Südinsel-Eisenholz (Metrosideros umbellata) an basaler Stelle der Untergattung Metrosideros steht und somit ebenfalls basal für drei unabhängige Stämme innerhalb der Untergattung ist. Vier Arten der Untergattung sind in Neuseeland endemisch, fünf auf Hawaii und sieben auf Neukaledonien. Es wird angenommen, dass ausgehend von Metrosideros umbellata zunächst die Arten in Neukaledonien entstanden, erst später die anderen neuseeländischen Arten. Von Neukaledonien aus verbreitete sich die Untergattung im westlichen Pazifikraum; die wahrscheinlich jüngsten hawaiischen Arten haben ihre Vorfahren wohl wiederum in Neuseeland. Diese Theorie zur Verbreitung der Untergattung ausgehend von Metrosideros umbellata wird durch die phylogenetische Aufteilung in drei Stämme gestützt. Die weite Verbreitung der Gattung über den pazifischen Raum ausgehend von Neuseeland wird verschiedenen eiszeitlichen Wetterphänomenen, die mit dem heutigen El Niño vergleichbar sind, zugesprochen.
Gefährdung
Seit den 1950er Jahren wird ein vermehrtes Waldsterben innerhalb der Populationen des Südinsel-Eisenholzes bemerkt und untersucht. Teilweise sind über 30 % der Bäume einer Population abgestorben. Als Hauptursache wird der Verbiss durch nach Neuseeland eingeschleppte Säugetiere, vor allem den australischen Fuchskusu (Trichosurus vulpecula), genannt. Aber auch größere Säugetiere wie der Rothirsch (Cervus elaphus scoticus) nutzen die Pflanzen als Nahrung. Durch Verbiss geschwächte Bäume sind auch anfälliger für Windschaden, Pilz- und Insektenbefall sowie Dürre. Die Sterberate der Eisenholz-Bäume ist dabei von Population zu Population unterschiedlich. Zum einen scheinen Populationen, wo es im Unterholz an Hartholz-Büschen fehlt, besonders anfällig gegenüber Verbiss durch die Fuchskusus zu sein, zum anderen sterben ältere Bäume eher durch die Verbissfolgen ab als jüngere Exemplare. Da die Fuchskusus oftmals bereits geschwächte Bäume aufsuchen, um zu fressen, sterben oftmals einzelne Bäume einer Population komplett ab, während andere noch vollständig gesund sind.
Um die Schäden durch den Fuchskusu einzudämmen, wurden verschiedene Programme gestartet, um die Zahl der Tiere zu reduzieren. Es wurden unter anderem per Flugzeug abgeworfene oder per Hand ausgelegte vergiftete Köder eingesetzt, aber auch Fallen gestellt. Zudem werden Zäune aufgestellt, was aber für größere Gebiete teuer und ineffektiv sein kann. Einzelstehende Bäume können durch einen Metallring um den Stamm geschützt werden. Von 1951 bis 1961 zahlte die neuseeländische Regierung eine Fangprämie für Fuchskusus. Da diese jedoch meist in leicht zugänglichen Gebieten, in denen kaum gefährdete Pflanzen beheimatet waren, gefangen wurden, stellte sich diese Methode als ineffektiv heraus und wurde wieder eingestellt.
Fast vollständig zerstörte Waldgebiete, die zuvor weitestgehend von Südinsel-Eisenholz und Kamahi (Weinmannia racemosa) besiedelt waren, konnten sich auch nach Rückgang der Fuchskusu-Zahlen in diesem Gebiet nicht wieder regenerieren. Dort siedelten sich nach der Zerstörung der ursprünglich vorherrschenden Pflanzen vor allem solche Pflanzen an, die nicht vom Fuchskusu gefressen werden, wie beispielsweise Quintinia acutifolia.
Namensherkunft
Der wissenschaftliche Gattungsname Metrosideros leitet sich vom griechischen metra in der Bedeutung von Gebärmutter, Mark, Kern von Pflanzen (zu metra Mutter) sowie von sideros (Eisen) ab, was auf das außerordentlich harte Holz verweist. Das Artepitheton umbellata bedeutet „Dolden tragend“ und bezieht sich auf die schirmförmig angeordneten Blüten, die aus einem einzelnen Blütenstandsstiel entspringen.
Ökonomische Bedeutung
Die Südinsel-Eisenholz-Bäume haben nur eine geringe ökonomische Bedeutung, werden jedoch wegen ihrer Hauptblütezeit im Dezember und den charakteristischen, auffällig roten Blüten zusammen mit dem Pohutukawa und dem Nordinsel-Eisenholz mit Weihnachten in Verbindung gebracht.
Obwohl das Holz des Südinsel-Eisenholzes sehr hart ist und zur Holzklasse der Eisenhölzer gehört, wird das Holz nur sehr selten als Edelholz verwendet. Grund dafür ist vor allem die meist sehr krummwüchsige Form der Bäume. Ausreichend gerade gewachsene Exemplare sind sehr selten. Der von den Blüten gewonnene Honig wird als „Rata-Honig“ angeboten, das Holz wird zum Teil als Feuerholz genutzt.
Weblinks
Metrosideros umbellata in der Flora of New Zealand
Project Crimson – Projekt zur Erhaltung der Eisenholz- und Pohutukawa-Bäume
Einzelnachweise
Myrtengewächse
Baum
Endemische Pflanze Neuseelands |
2426768 | https://de.wikipedia.org/wiki/Zeischa | Zeischa | Zeischa ist ein Ortsteil des Kurortes Bad Liebenwerda im südbrandenburgischen Landkreis Elbe-Elster. Das etwa drei Kilometer vom Stadtzentrum entfernte und im Naturpark Niederlausitzer Heidelandschaft gelegene Dorf liegt an der Schwarzen Elster.
Nahe dem im Jahre 1391 erstmals urkundlich erwähnten Ort soll sich der Überlieferung nach mit der Harigsburg einst eine Schutzanlage der slawischen Ritterschaft befunden haben, die hier den Übergang über die Schwarze Elster sicherte. Die Erwerbsgrundlagen der Einwohner waren seit alters Ackerbau und Viehzucht sowie die Fischerei. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten Forstbaumschulen, deren Anbauflächen die Flur des Ortes in der Elsterniederung bis in die Gegenwart prägen. Etwa zur selben Zeit wurde nördlich der Ortslage mit dem Kiesabbau begonnen, wodurch ein etwa 80 Hektar umfassender Baggerteich entstand, der seit den 1960er Jahren zum Teil als Erholungsgebiet genutzt wird.
Das vor der Eingemeindung im Jahr 1993 zum Landkreis Bad Liebenwerda gehörende Zeischa hat gegenwärtig 472 Einwohner.
In der Denkmalliste des Landes Brandenburg eingetragene Baudenkmäler des Dorfes sind die im Jahre 1904 errichtete einstige Dorfschule sowie das Grab des im Dreißigjährigen Krieg von schwedischen Söldnern bei Zeischa zu Tode geschleiften Liebenwerdaer Bürgermeisters Elias Borßdorff.
Geografie
Geografie und Naturraum
Das im Elbe-Elster-Gebiet gelegene Zeischa ist ein Ortsteil der südbrandenburgischen Kurstadt Bad Liebenwerda. Der Ort schließt sich unmittelbar östlich der Stadt an und erstreckt sich von dort bis zur Landesstraße 593. Er liegt rechts der Schwarzen Elster an der Mündung der Kleinen Röder im Breslau-Magdeburger Urstromtal, das etwa zehn Kilometer östlich in der Niederung des Schradens mit sieben Kilometer Breite seine engste Stelle erreicht und dann nach Nordwesten schwenkt. Nordöstlich des Ortes erhebt sich die Hohenleipisch-Plessaer Endmoräne. Die landschaftsprägenden Oberflächenformen dieses Gebietes entstanden vor allem vor 230.000 bis 130.000 Jahren in der Saalekaltzeit. Im südlich vorgelagerten Sander der Hohenleipisch-Plessaer Endmoräne sind saalekaltzeitliche Sande, kiesige Sande und Kiese zu finden, die sich durch Reinheit und hohe Homogenität auszeichnen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts werden sie in Zeischa industriell abgebaut. Die entstandene Kiesgrube, die sich nördlich der Zeischaer Ortslage befindet, hat inzwischen eine Größe von etwa 80 Hektar erreicht.
Teile des Dorfes sind Bestandteil des 6011 Hektar großen Landschaftsschutzgebietes Elsteraue, das in drei ökologische Raumeinheiten aufgeteilt ist. Das Teilgebiet Elsteraue II befindet sich im Bereich von Zeischa. Eine der Aufgaben des Landschaftsschutzgebietes ist „die Erhaltung des Gebietes wegen seiner besonderen Bedeutung für die naturnahe Erholung im Bereich des Kurortes Bad Liebenwerda“. Außerdem ist Zeischa vom Naturpark Niederlausitzer Heidelandschaft umgeben, der ein 484 Quadratkilometer großes Gebiet im Landkreis Elbe-Elster und im Landkreis Oberspreewald-Lausitz umfasst. Sein Kernstück, das Naturschutzgebiet Forsthaus Prösa mit einem der größten zusammenhängenden Traubeneichenwälder Mitteleuropas, befindet sich nordöstlich der Bundesstraße 101 in der einstigen Liebenwerdaer Heide.
Klima
Zeischa liegt im sogenannten Schwarze-Elster-Bezirk des Binnenlandklimas, jedoch ist ein Übergang zum Kontinentalklima spürbar. Die regionalen Klimaelemente sind gering ausgeprägt und werden im Wesentlichen durch die Besonderheiten des nach Ost-West orientierten Reliefs des Breslau-Magdeburger Urstromtals und die es im Norden und Süden begrenzenden Höhenzüge der Endmoränen bestimmt.
Der Monat mit den geringsten Niederschlägen ist der Februar, der niederschlagsreichste der Juli. Die mittlere jährliche Lufttemperatur beträgt an der 20 Kilometer nördlich gelegenen Wetterstation Doberlug-Kirchhain 8,5 °C. Dabei beträgt die Jahresschwankung zwischen dem kältesten Monat Januar und dem wärmsten Monat Juli 18,4 °C.
Geschichte
Ursprung und Gründung des Ortes
Die Gründung Zeischas, dessen Rundweilergestalt des alten Ortskernes mit dem Freiplatz heute noch erkennbar ist, erfolgte vermutlich im Zuge des mittelalterlichen deutschen Landesausbaus. Der Ort wurde zunächst durch slawische Sorben besiedelt. Die Bewohner des Ortes betrieben von alters her Ackerbau, Viehzucht und Fischerei.
Nahe der heutigen Elsterbrücke befand sich einst die sogenannte Harigsburg, welche den Flussübergang sicherte. Der Überlieferung nach war sie um das Jahr 1000 eine Schutzanlage der slawischen Ritterschaft unter dem Ritter Aribo. In der 1837 erschienenen Chronik der Stadt Liebenwerda beschrieb der Autor Carl von Lichtenberg eine Fehde aus den Jahren zwischen 1058 und 1072. Im Verlauf des wegen der Abtwahl im Kloster Dobrilugk zwischen den Brehnaer Grafen und den nicht näher bezeichneten Heyderittern ausgebrochenen Konfliktes sollen das Dorf Grabo (eine zwischen Wahrenbrück und Uebigau gelegene Wüstung), die Warte Lausitz und die Harigsburg zerstört worden sein. Die unterlegenen Heyderitter wurden letztlich bestraft und ihrer Besitzungen beraubt. Außerdem wurde der gefangen genommene Ritter Aribo zum Hungertod verurteilt.
Da unter anderem die Zisterzienserabtei Dobrilugk erst zwischen 1165 und 1184 gegründet wurde und auch andere Jahreszahlen des Werkes später widerlegt werden konnten, werden Lichtenbergs ohne eindeutige Quellen erwähnte Angaben aus heutiger Sicht als unsicher angesehen.
Urkundlich wurde die Veste Harig erstmals im Jahre 1235 erwähnt. Markgraf Heinrich von Meißen belehnte in jenem Jahr den Zeidelmeister Ulrich von Rummelshain mit dem „Land an der Premnitz“, einem Gebiet, welches unter anderem die Dörfer Thalberg und Knissen sowie die Veste Harig an der Schwarzen Elster einschloss. Ein eindeutig greifbarer Beleg für die Existenz der Veste fehlt allerdings bis heute. Der Liebenwerdaer Heimatforscher M. Karl Fitzkow vermutete im 1955 erschienenen Liebenwerdaer Heimatkalender, dass die Harigsburg in der Folgezeit wieder aufgebaut wurde. Wann sie tatsächlich verschwunden ist, ist allerdings nicht bekannt, da sie später an keiner Stelle mehr erwähnt wurde. Erst im Juni 2011 konnten zwei einheimische Heimatforscher mittels historischer Messtischblätter und Luftbilder den genauen Standort ausmachen, wo sie 700 Jahre alte Scherben hartgebrannter Grauware fanden und die Burg somit archäologisch nachwiesen.
Erste urkundliche Erwähnung und Entwicklung des Ortsnamens
Urkundlich zum ersten Mal erwähnt wurde der Ort im Jahr 1391 im Zusammenhang mit der Zahlung von Abgaben an die Liebenwerdaer Stadtkirche und Burgkapelle. In der Urkunde wird das Dorf mit dem Namen Czscheisaw erwähnt. In der Folgezeit erschien der Ort unter verschiedenen Ortsnamen. So wurde Zeischa um 1422 auch als Cziso erwähnt, das dem heutigen polnischen Wort Cisza ähnelt und auf Deutsch etwa Ruhe oder auch Stille bedeutet.
Weitere Schreibweisen des Ortsnamens waren: 1457 Cziszaw, Czysow, 1460 Zcysow, 1489 Cscheyscha, 1490 Tscheischa, 1500 Zcscheissow, 1504 Zschopsau, 1529 Czischa, 1550 Zeischa, Zceyschaw, 1555 Zscheischaw, Tschissa, 1608 Zeise, Zscheischa, Zeischa sowie 1752 Zscheischa
Das Dorf war Bestandteil des kursächsischen Amtes Liebenwerda. Zur Rechtsprechung mussten die Einwohner zum Dingstuhl im nördlich gelegenen Nachbardorf Dobra, welchem neben Zeischa auch Dobra selbst, Liebenwerda (außer dem Burgbezirk), Maasdorf und Zobersdorf angehörten.
Vom Dreißigjährigen Krieg bis zu den Befreiungskriegen
Wie viele umliegende Gemeinden hatte auch Zeischa unter dem Dreißigjährigen Krieg zu leiden. Allerdings zerstörte bereits 1612 ein Brand große Teile des Dorfes, als fünf Gehöfte abbrannten. Ein Ereignis des bald folgenden Krieges, der für die gesamte Region viel Elend und Plünderungen von durchziehenden Truppen brachte, traf den Ort am 26. Mai 1634 und blieb bis in die Gegenwart in Erinnerung: Der Liebenwerdaer Bürgermeister Elias Borßdorff wurde an diesem Tag in der Nähe des Ortes von schwedischen Truppen an Pferden zu Tode geschleift, nachdem er die Herausgabe der Stadtkasse und 25.000 Taler Kontribution sowie sonstige Forderungen abgelehnt hatte. Knapp drei Jahre später (1637) lagerten Truppen des schwedischen Generals Johan Banér von Januar bis in den Frühsommer im etwa dreißig Kilometer westlich gelegenen Torgau. Dabei durchstreiften sie das angrenzende Elbe-Elster-Gebiet, plünderten seine Orte und setzten sie in Brand. Auch Zeischa wurde in dieser Zeit nicht verschont. Noch im Jahre 1659 gab es hier infolge des Krieges nur noch fünf von einstmals vierzehn Familien.
Während der Befreiungskriege wurde im Frühjahr 1813 das Gebiet zwischen dem Liebenwerdaer Haidchensberg und Zeischa von preußischen Truppen bedrängt. Bis in das etwa einen Kilometer südlich gelegene Zobersdorf vollzog sich der Truppenaufmarsch, um die Soldaten Napoleons in die Zange zu nehmen. Auch im Herbst erlebte man im Vorfeld der Leipziger Völkerschlacht gewaltige Truppenbewegungen französischer und preußischer Kriegsverbände. So nahmen Ende September 1813 die Korps der preußischen Generäle Dobschütz und Tauentzien mit 30.000 Mann in Liebenwerda für zehn Tage Quartier.
Vom Wiener Kongress bis zur Bodenreform
Nach den Bestimmungen des Wiener Kongresses 1815 musste das Königreich Sachsen, zu dem Zeischa gehörte, große Teile seines Staatsgebietes abtreten, wodurch der Ort nun zum Regierungsbezirk Merseburg der preußischen Provinz Sachsen gehörte. Bei der anschließenden Verwaltungsneuordnung entstand 1816 der Kreis Liebenwerda, in dem ein großer Teil des Amtes Mühlberg, das Amt Liebenwerda sowie Teile des Amtes Großenhain aufgingen.
Wie nahezu alle an der Schwarzen Elster gelegenen Orte wurde auch Zeischa von ständig wiederkehrenden Hochwassern des mit zahlreichen Nebenarmen durch die Niederung fließenden Flusses bedroht. So wurde in der Zeit des Siebenjährigen Krieges aus dem Jahr 1763 berichtet, dass sich in Zeischa elf Hufner vergeblich bemühten, den Feldern Erträge abzuringen, weil das ständige Hochwasser der Schwarzen Elster die Frucht verderbe. Deshalb versuchte man seit dem 16. Jahrhundert seitens der sächsischen Regierung mit den unterschiedlichsten Maßnahmen, dieser Naturgewalten Herr zu werden und die Auswirkungen einzudämmen. Nachdem die preußische Provinzialregierung schon seit 1817 Pläne für eine Regulierung entwickelt hatte, begann schließlich im Jahr 1852 das groß angelegte Elsterregulierungswerk ab Zeischa in Richtung Würdenhain. Bis zum Jahre 1863 erhielt der Fluss unter Einsatz von zeitweise bis zu 1200 Arbeitern auf einer Länge von etwa neunzig Kilometern sein heutiges Bett und wurde eingedeicht. Er wurde damit zu einem der am meisten eingeengten Flüsse Mitteleuropas.
Mit der Regulierung der Schwarzen Elster wurden die meisten Fließe zugeschüttet, und die dem Fluss nahe gelegenen Fluren konnten allmählich bewirtschaftet werden. Nachdem 1875 im benachbarten Haida die erste Forstbaumschule gegründet worden war, etablierte sich auch bald in Zeischa das Baumschulenwesen. Im Jahre 1883 begann der Zeischaer Baumschulenbesitzer Gottfried Reichenbach mit dem Anbau von Holzpflanzen. Ihm folgten 1888 die Brüder Eduard und August Andrack. Die Anbauflächen der Zeischaer Baumschulen ziehen sich bis in die Gegenwart nahe der Zeischaer Ortslage durch die Niederung. Zur selben Zeit gewann die nun beginnende Industrialisierung der Zeischaer Umgebung mehr und mehr Einfluss auf den Ort. Im Juni des Jahres 1874 wurde die Oberlausitzer Eisenbahn von Kohlfurt über Biehla bis Falkenberg/Elster (Bahnstrecke Węgliniec–Roßlau) übergeben. Auch Zeischa bekam hier eine eigene Station.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich im Ort allmählich eine weitere ihn prägende Tradition. 1888 begann nordöstlich von Zeischa der Liebenwerdaer Kaufmann und Fabrikant Carl Weiland mit dem Kiesabbau, durch dessen Auswirkungen der heutige die Landschaft bestimmende Baggersee entstand. Weiland belieferte zunächst vor allem den Straßenbau, und auch der fortschreitende Eisenbahnbau brachte steigenden Absatz. Es entstand in der östlichen Flur ein eigenes Hartsteinwerk. Der Zeischaer Kies erwies sich auch ohne umfangreiche Aufbereitung als sehr guter Betonkies. Der Betrieb erhielt ein Anschlussgleis zur benachbarten Bahnstrecke, das auch Flächen in der Haidaer Flur nutzte und zeitweise von den dortigen Kieswerken ebenfalls bedient wurde. Um etwa 1900 teilte sich der Besitz in zwei Linien: zum einen Teil die sogenannte Liebenwerdaer Kieslinie mit der Kiesgrube in Zeischa und zum anderen die Linie des Rittergutes in Maasdorf mit Steinbrüchen in Schwarzkollm und Kamenz.
Der Besitz des Maasdorfer Rittergutes wurde schließlich 1945 im Zuge der Bodenreform aufgeteilt, und auch der Zeischaer Familienbesitz wurde Volkseigentum. Er konnte von den Erben erst mit der deutschen Wiedervereinigung zurückerworben werden.
DDR
Nach Gründung der Deutschen Demokratischen Republik im Oktober 1949 erfolgte im darauffolgenden Jahr der Bau des heutigen Zeischaer Sportplatzes und 1955 errichtete man auf dem Friedhof eine Trauerhalle. Der nah gelegene Kiessee, der von der Bevölkerung schon lange zuvor als Badegewässer entdeckt worden war, weckte nun verstärkt das Interesse von Erholungssuchenden. 1964 wurde hier die erste Bungalowsiedlung gebaut und im Jahre 1970 schließlich das Waldbad eröffnet. Ein von 1956 bis 1957 entstandener Holzbrückenbau über die Schwarze Elster in Richtung des Nachbardorfes Zobersdorf wurde 1966/67 durch eine Betonbrücke ersetzt.
Weitere Verbesserungen der Zeischaer Infrastruktur waren die Errichtung einer Konsumverkaufsstelle in der Bahnhofstraße (1967/68), der Bau eines Feuerwehrhauses (1970), der Ausbau einer Scheune zur Mehrzweckhalle (1973) und eine Kegelbahn (1976/77). Außerdem entstand von 1983 bis 1985 als Initiativbau des Baumschulbetriebes in Zeischa eine Kinderkombination, die am 5. März 1986 eingeweiht wurde. Weiterhin entstanden in dieser Zeit am Waldbad ein Kinderferienlager sowie eine Außenstelle der Liebenwerdaer „Station Junger Naturforscher“. Noch kurz vor der Wende errichtete man in den Jahren 1988 und 1989 in der Waldbadstraße ein Ärztehaus.
Jüngere Vergangenheit
Infolge der deutschen Wiedervereinigung gingen die Zeischaer Kieswerke zeitweise wieder in den Besitz der Familie Weiland über. Durch die mit der Wendezeit zunehmende Bautätigkeit in den neuen Bundesländern nahm auch der Bedarf an Baustoffen aus Zeischa zu. Die Kiesgrube, deren Ufer im Westen etwa bis zur Ortsverbindungsstraße Zeischa – Dobra reichte und wo man die Rohstoffe seit 1970 mittels Schwimmbagger gewann, vergrößerte sich rasch, so dass auch bald die Ortsverbindung nach Dobra durchbrochen wurde.
Kurze Zeit später entstand in den Jahren 1991 und 1992 im Ort die Trink- und Abwasserleitung, der die Neugestaltung des Zeischaer Dorfangers folgte. Außerdem entsteht seit 1995 im Südosten des Ortes an der Kreisstraße 6210 die Siedlung „Am Holzplan“.
Administrativ gehörte Zeischa bis zur Kreisgebietsreform in Brandenburg im Jahre 1993 zum Landkreis Bad Liebenwerda, der am 6. Dezember 1993 mit den Landkreisen Herzberg und Finsterwalde im Landkreis Elbe-Elster aufging. Am selben Tag wurde die Gemeinde zusammen mit den Orten Dobra, Kosilenzien, Kröbeln, Lausitz, Maasdorf, Möglenz, Neuburxdorf, Oschätzchen, Prieschka, Thalberg, Theisa und Zobersdorf in die Stadt Bad Liebenwerda eingemeindet.
Als im Herbst 2010 eine sogenannte Vb-Wetterlage mit flächendeckenden Niederschlägen in der Region zu einem Jahrhunderthochwasser der Schwarzen Elster führte, kam es zwischen Zeischa und Liebenwerda zu einer besonders prekären Situation. Der Deich war aufgrund der Wassermassen so stark aufgeweicht, dass selbst die zu Hilfe eilenden Einsatzkräfte den Abschnitt nicht mehr betreten konnten und er zu brechen drohte. Nachdem bereits zuvor bei Zobersdorf der Deich der am gefährdeten Abschnitt mündenden Kleinen Röder zur Entlastung geschlitzt worden war, sah man sich nun gezwungen, in kürzester Zeit einen etwa einen Kilometer langen Ersatzdamm zu errichten, um das Wasser bei einem Deichbruch aufzuhalten.
Zeischa überstand das Hochwasser letztlich, ohne überflutet zu werden, und der gefährdete Deichabschnitt, nachweislich einer der ältesten Abschnitte am ganzen Fluss, wurde schließlich in den Jahren 2011 und 2012 auf einer Länge von 1,5 Kilometern komplett erneuert.
Bevölkerungsentwicklung
Zur Zeit der Koalitionskriege um das Jahr 1800 umfasste der Ort 16 Grundbesitzer, 22 Gebäude und sechs Häuserwohnungen. Im Jahre 1818 werden die überlieferten Zahlen genauer. Demnach lebten zu diesem Zeitpunkt 105 Einwohner in Zeischa. 1835 waren es dann 99 Einwohner und das Dorf bestand aus 20 Häusern.
Erst mit der beginnenden Industrialisierung der Region gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen die Einwohnerzahlen zu steigen. So hatte Zeischa um 1875 150 und im Jahr 1910 bereits 250 Einwohner. Nachdem die Einwohnerzahl bis zum Jahr 1946 auf 493 Einwohner stieg – auch durch den Zuzug von Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg –, fiel sie in den Folgejahren wieder ab. 1999 erreichte Zeischa mit 512 Einwohnern seinen bisherigen Höchststand. Im Jahr 2011 lebten in diesem Ortsteil 432 Einwohner.
Politik
Seit der Eingemeindung des Dorfes nach Bad Liebenwerda 1993 ist Zeischa ein Ortsteil der Kurstadt. Vertreten wird Zeischa nach der Hauptsatzung der Stadt durch den Ortsvorsteher und einen Ortsbeirat.
Ortsvorsteher ist gegenwärtig Helmut Andrack, der Ortsbeirat besteht aus Bernd Richter und Steffi Schuster.
Kultur und Sehenswürdigkeiten
Bauwerke und Denkmäler
Die markantesten Bauwerke in Zeischa sind die ehemalige Dorfschule und ein dazugehöriger Glockenturm aus rotem Backstein am westlichen Ende des historischen Dorfangers. Sie befinden sich in der Denkmalliste des Landes Brandenburg. Die Schule folgte einem aus dem Jahre 1829 stammenden Schulgebäude. Da die Gemeinde einer von der königlichen Regierung geforderten Aufstockung des jährlichen Lehrergehaltes von 84 Talern und 20 Groschen auf 120 Talern nicht nachkommen konnte, wurde sie ab 1851 zunächst vom benachbarten Zobersdorf aus einige Jahre mitverwaltet und schließlich 1861 ganz geschlossen. Die Kinder des Dorfes besuchten deshalb seither die Schule in Zobersdorf. Dabei mussten sie die beide Orte voneinander trennende Schwarze Elster überqueren, was bei auftretendem Hochwasser zu erheblichen Schwierigkeiten und Gefahren führte. Die Zobersdorfer Schule gelangte schließlich wegen steigender Schülerzahlen in beiden Ortschaften an die Grenze ihrer Kapazität. Bereits aufgenommene Verhandlungen über den Bau einer neuen Schule in Zeischa wurden aber mangels finanzieller Mittel im Jahre 1897 wieder abgebrochen. Drei Jahre später wurden sie allerdings wieder aufgenommen, nachdem am 6. Dezember 1900 die sechsjährige Tochter des Baumschulenbesitzers Reichenbach auf dem Schulweg nach einem Sturz ins Wasser im Fluss ertrunken war. Der Zeischaer Unternehmer Carl Weiland sicherte finanzielle Unterstützung für den Bau zu, indem er die veranschlagte Bausumme der Gemeinde lieh, 2000 Mark zum Bau beisteuerte und sich außerdem zur Zahlung von jährlich 10 Mark Schulgeld für die Kinder seiner Angestellten verpflichtete. Mit dem In-Aussicht-Stellen von 9550 Mark Baubeihilfe durch die königliche Regierung konnte die Schule schließlich errichtet werden. Sie wurde kurz nach dem Bezug durch den neuen Dorflehrer am 27. November 1904 eingeweiht. Fast drei Jahre später folgte am 14. Juli 1907 die Weihung einer ebenfalls von Weiland gespendeten Glocke. Ihm wurde nach seinem Tod nahe dem Bahnübergang an der Landesstraße 593 ein bis in die Gegenwart erhalten gebliebener Gedenkstein errichtet.
Auf dem Friedhof von Zeischa befindet sich das unter Denkmalschutz stehende Grab des im Dreißigjährigen Krieg von schwedischen Truppen bei Zeischa zu Tode geschleiften Liebenwerdaer Bürgermeisters Elias Borßdorff. Der das Grab abdeckende, mit einer Inschrift versehene Gedenkstein stammt aus dem Jahre 1878. Ursprünglich bedeckte dieses Grab ein „einfacher Leichenstein“, der 1834 auf Initiative einiger Liebenwerdaer Bürger gehoben, erneuert und mit einer Inschrift versehen wurde. Zwei Jahre später gab ein Lehrer der Liebenwerdaer Töchterschule, K.G. Kretzschmar, die Denkschrift „Denkworte zur Erinnerung des Borsdorffschen Denksteins“ heraus. Als die Verwitterung die Inschrift des Steins im Laufe der Jahrzehnte nahezu unleserlich gemacht hatte, wurde im Jahre 1878 das Grab unter Mitwirkung des Maurermeisters Jost, des Bildhauers Lauschke und des Schlossermeisters Franke erneuert und von einem kleinen eisernen Gitter umgeben.
Außerdem wird auf dem Friedhof mit einem Denkmal der gefallenen Einwohner des Ersten Weltkriegs gedacht. Am Eingang der Trauerhalle befinden sich ferner zwei Plaketten mit den Namen der Gefallenen des Zweiten Weltkriegs.
Touristische Anbindung
Mehrere befestigte Radwege entlang der Schwarzen Elster verbinden Zeischa mit Bad Liebenwerda, dem umliegenden Elbe-Elster-Gebiet, der nördlich angrenzenden Liebenwerdaer Heide und weiteren Sehenswürdigkeiten des Umlandes. Mit der Tour Brandenburg führt unter anderem der mit 1111 Kilometern längste Radfernweg Deutschlands am Dorf vorbei. Weitere Radrouten sind der Fürst-Pückler-Radweg, der unter dem Motto „500 Kilometer durch die Zeit“ in die Projektliste der Internationalen Bauausstellung Fürst-Pückler-Land aufgenommen wurde, und der 108 Kilometer lange Schwarze-Elster-Radweg.
Die nächsten Bootsanlegestellen für den in jüngerer Zeit auf der Schwarzen Elster aufgekommenen Gewässertourismus befinden sich in Höhe des Zeischaer Ortskerns sowie etwa zwei Kilometer flussaufwärts am Flusskilometer 64,5 im Bereich der Elsterbrücke an der Landesstraße 593. In Bad Liebenwerda gibt es außerdem Ausleihstationen für Kanus und Schlauchboote.
In Zeischa selbst gibt es mehrere Übernachtungsmöglichkeiten. Neben der Gaststätte „Zum Elstertal“ im Ortszentrum bieten mehrere privatbetriebene Pensionen Unterkunft. Ein weiterer Betrieb des Gastgewerbes ist das „Waldcafe“ am Sportplatz.
Nördlich des Ortes befindet sich außerdem das Naherholungsgebiet „Waldbad Zeischa“, wo mit der Gaststätte „Am Waldbad“ ein weiterer gastronomischer Betrieb ansässig ist. Neben dem etwa drei Hektar umfassenden Waldbad ist ein inzwischen sieben Hektar großer Campingplatz mit 137 Stellplätzen und Mietbungalows entstanden. Das Areal gehörte ursprünglich zur Zeischaer Kiesgrube, wo gegenwärtig noch Kies gewonnen wird und die eine Wasserfläche von etwa achtzig Hektar hat. Für das Gebiet, das noch unter Bergbaurecht steht und das im Kurortentwicklungsplan von Bad Liebenwerda als künftiges Erholungs- und Wassersportzentrum angedacht ist, wird im Auftrag der Stadtverwaltung zurzeit ein Konzept für die touristische und naturschonende Nachnutzung erarbeitet.
Regelmäßige Veranstaltungen
Jährlicher Höhepunkt im Ort ist am zweiten Wochenende im August eines jeden Jahres das Waldbadfest.
Weitere regelmäßige Veranstaltungen im Ort sind das alljährliche Osterfeuer auf dem Gelände der Freiwilligen Feuerwehr, das Dorf- und Kinderfest im Juni, die Zeischaer Kneipennacht, die im Jahr 2012 bereits zum zehnten Mal stattfand, sowie der Martinsumzug am 11. November und die weihnachtliche Blasmusik auf dem Dorfanger an Heiligabend.
Vereine
Eng verbunden ist der Ort mit der seit den 1960er Jahren bestehenden und in der Region durch ihre Auftritte bei Volksfesten sowie anderen Veranstaltungen bekannten Musikformation „Elstertaler Blasmusikanten“. Nach der Wende schloss sich diese Gruppe schließlich mit weiteren Zeischaer Musikern zum „Musikverein Zeischa 1993 e.V.“ zusammen, der seitdem einer der aktivsten Vereine im Ort ist und von 1994 bis 2009 alljährlich den inzwischen aus wirtschaftlichen Gründen eingestellten „Zeischaer Musikantenstad’l“ organisierte.
Weitere aktive Vereine im Ort sind unter anderem die seit 1875 bestehende Freiwillige Feuerwehr, der Zeischaer Heimatverein, der Jugendclub, der Sportverein sowie der Deutsche Amateur-Radio-Club, dessen Ortsverband „Elbe-Elster“ sich regelmäßig im Zeischaer Gasthof „Zum Elstertal“ trifft. Die Funkamateure organisierten im Dorf bereits vor der Wiedervereinigung mehrfach Ausbildungslager und in der Gegenwart Fielddays, sogenannte Fuchsjagden sowie andere Veranstaltungen.
Literatur
Vereinzelte Beiträge über Zeischa sind vor allem in älteren Ausgaben der „Schwarzen Elster“, einer heimatkundlichen Schriftenreihe, sowie im seit 1912 erscheinenden „Liebenwerdaer Heimatkalender“ zu finden. Gegenstand der Aufsätze sind hier meist die Sagen um den im Dreißigjährigen Krieg zu Tode gekommenen Liebenwerdaer Bürgermeister Elias Borsdorff und die Zeischaer Harigsburg. Letztere machte die Schriftstellerin Nora Günther in ihrem 2009 erschienenen historischen Roman „Aribo: Ritter der Harigfeste“ zum Mittelpunkt der Geschichte, die sich an historischen Tatsachen, regionalen Orten und Überlieferungen orientiert. Ein Jahr zuvor war außerdem das Buch „Von wem habe ich das bloß. Auf den Spuren der Ahnen. Eine Gebrauchsanweisung.“ von Manuel Andrack erschienen, in welchem der Autor auf humorvolle Art beschreibt, wie er bei den Nachforschungen zu seiner Familiengeschichte letztlich auch in Zeischa landete.
Wirtschaft und Infrastruktur
Wirtschaft und Verkehr
Zeischa liegt südlich der Bundesstraße 101 an der Bahnstrecke Węgliniec–Roßlau. Durch den Ort führt die Kreisstraße 6210, wodurch er an die Städte Bad Liebenwerda und Elsterwerda angebunden ist. Mit der Kreisstraße 6212 gibt es eine nach Süden führende Verbindung zur Landesstraße 59 (Bad Liebenwerda – Ortrand) und an der östlichen Ortsgrenze tangiert die L 593 (Oschätzchen – B 101).
Geprägt wird der Ort seit Ende des 19. Jahrhunderts vor allem durch die hier einst zahlreich ansässigen Baumschulbetriebe sowie den Kiesabbau im Norden des Ortsteils.
Derzeit sind hier einige mittelständische Unternehmen der Landwirtschaft, aus dem Handwerk sowie des Dienstleistungsgewerbes ansässig. Während der Zeischaer Kiesabbau allmählich endet und der dadurch entstandene Baggerteich künftig nur noch touristisch genutzt werden soll, wird die Zeischaer Flur weiterhin durch die Anbauflächen der Baumschulen geprägt. Ansässig ist hier unter anderem die Forstbaumschule Fürst Pückler GmbH, die 1991 aus der 1959 gegründeten Gärtnerischen Produktionsgenossenschaft „3. Forstkonferenz“ Zeischa hervorging. Ein weiteres örtliches Unternehmen der Branche ist die Baumschule Graeff. Aus ihrer Rosenzucht ging unter anderem im Jahre 2007 die „Joe-Polowsky-Friedensrose“ zu Ehren des amerikanischen Friedensaktivisten hervor. Außerdem befindet sich auf dem Gelände der einstigen GPG ein Bau- und Gartencenter.
Bildung
Die Zeischaer Kindertagesstätte „Pfiffikus“ in der Bahnhofstraße, die aus der einstigen Kinderkombination hervorging, befindet sich in der Trägerschaft der Stadt Bad Liebenwerda und bietet gegenwärtig 70 Betreuungsplätze an. Sie arbeitet seit dem Jahr 2004 nach dem Kneipp-Konzept und wurde deshalb mehrmals als einer von bundesweit etwa dreihundert Kindergärten vom Kneipp-Bund, dem Dachverband von etwa 600 Kneipp-Vereinen, zertifiziert und mit dem „Gütesiegel Kneipp“ ausgezeichnet.
Eingeschult werden die Kinder des Ortsteils gegenwärtig im Grundschulzentrum Robert Reiss in Bad Liebenwerda. Die Einrichtung besitzt den Status einer Ganztagsschule. Sie entstand im August 2006 durch den Zusammenschluss der Grundschulen in Bad Liebenwerda, Neuburxdorf und Zobersdorf, wo bis zu diesem Zeitpunkt auch die Zeischaer Kinder eingeschult wurden.
Des Weiteren gibt es in Bad Liebenwerda eine Oberschule. Die Kreisvolkshochschule „Elbe-Elster“ bietet in der Stadt Kurse und andere Weiterbildungsmöglichkeiten an. Die Kreismusikschule Gebrüder Graun hat in der Stadt eine Außenstelle. Außerdem gibt es dort eine Stadtbibliothek, die neben den üblichen Ausleihmöglichkeiten von gegenwärtig etwa 21.000 Medien Bibliotheksführungen, literarische Veranstaltungen und Schriftstellerlesungen anbietet.
Medien
Monatlich erscheint in Zeischa als Amtsblatt der Stadt Bad Liebenwerda „Der Stadtschreiber“. Der Kreisanzeiger des Landkreises Elbe-Elster erscheint nach Bedarf. Die regionale Tageszeitung im Elbe-Elster-Kreis ist die Lausitzer Rundschau mit einer Auflage von etwa 88.000. Die kostenlosen Anzeigenblätter Wochenkurier und SonntagsWochenBlatt erscheinen wöchentlich.
Dokumentationen (Film)
Verein für Stadtmarketing und Wirtschaft Bad Liebenwerda e.V. (Hrsg.): Das Weiße Gold von Zeischa. Produktion: Elbe-Elster-Fernsehen, Sprecher Klaus Feldmann, 2011
Literatur
Weblinks
Privater Internetauftritt des Ortsteils
Fußnoten und Einzelnachweise
Ehemalige Gemeinde (Landkreis Elbe-Elster)
Ort im Landkreis Elbe-Elster
Ort an der Schwarzen Elster
Geographie (Bad Liebenwerda)
Ersterwähnung 1391
Gemeindeauflösung 1993 |
2664715 | https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte%20von%20H%C3%B6chst%20am%20Main | Geschichte von Höchst am Main | Die Stadt Höchst am Main, heute der Frankfurter Stadtteil Höchst, hat eine über zwölfhundertjährige Geschichte. Lange Zeit war Höchst eine eigenständige Stadt und Vorposten des Kurmainzer Gebiets vor den Toren Frankfurts. Erst 1928 erfolgte die Eingemeindung nach Frankfurt.
Geografische Einordnung
Höchst entstand an der Kreuzung frühgeschichtlicher Verkehrswege. Unmittelbar nach der Mündung der Nidda in den Main, zweier damals schiffbarer Flüsse, schiebt sich eine Hangkante fast bis ans Flussufer heran. Das Plateau ist hochwassersicher und war gut zu verteidigen. Am Fuße des Hangs führte eine Furt durch den Main, oben verlief eine vorrömische Altstraße, die Antsanvia oder Hohe Straße, ein Vorläufer der späteren Elisabethenstraße, die von der Mainmündung bei Kastel über Höchst bis in den Vogelsberg führte. Ausgehend von der Niddamündung strebte der Lindenweg (auch Linienweg genannt), eine vor-römische, geradlinige Verbindung über den Taunus-Übergang bei der heutigen Saalburg ins Lahngebiet. Nördlich von Sossenheim zweigte von diesem die alte Handelsstraße, die hessische Weinstraße (Wagenstraße) in die Wetterau ab.
Vor- und Frühgeschichte
Einzelne Funde von Werkzeugen und von bearbeiteten Geweihstücken vom Ende des Jungpaläolithikums im Bereich der Höchster Altstadt lassen den Schluss zu, dass das Höchster Gebiet zu dieser Zeit bereits gelegentlich von Menschen bewohnt war. Eine dauerhafte Besiedelung ist jedoch nicht nachweisbar.
Erst mit Beginn der Jungsteinzeit lässt sich eine ständige menschliche Ansiedelung im Raum der Altstadt, der Höchster Neustadt und des Oberfeldes feststellen. Bei Bauarbeiten und Ausgrabungen wurden Siedlungsreste und Gefäßscherben aus der Bandkeramikzeit und der Glockenbecherkultur gefunden.
Hügelgräber und Urnenfelder aus der Bronzezeit geben Aufschluss über eine fortdauernde menschliche Besiedlung des Höchster Raums. Ebenfalls bei Bauarbeiten gefunden wurden eisenzeitliche Gräber aus der Hallstatt- und La-Tène-Zeit, die auf keltische Bewohner hinweisen. Ein Oppidum lässt sich jedoch nicht nachweisen, wie auch noch von keiner festen Ortsstruktur im Sinne eines Dorfes ausgegangen werden kann.
Römische und vorfränkische Zeit
Kurz nach der Zeitenwende errichteten die Römer auf dem Hochufer über dem Main ein Kastell. Nicht genau nachgewiesen, aber möglich ist, dass in Höhe der Wörthspitze bei der Niddamündung eine Brücke den flachen Main überspannte und die römische Ansiedlung mit den südmainischen Gebieten um die heutigen Orte Kelsterbach und Groß-Gerau verband.
Die Römer bauten bestehende keltische Altstraßen aus und legten zahlreiche neue Verbindungen an: Zur Saalburg bzw. dem dortigen Taunus-Übergang den Linden- oder Linienweg, über diesen nach dem Elisabethenstraßen-Übergang zur Wetterau die Weinstrasse, auf der Wasserscheide Main / Nidda die Hohe Straße zum Vogelsberg und nach Thüringen. In nordwestlicher Richtung zum Feldberg zieht heute noch die Königsteiner Straße, und die Strecke entlang dem Mainlauf findet sich nach der Niddabrücke als Verbindung über Griesheim und den Gutleuthof nach Frankfurt. Dies sind heute der Nieder Kirchweg sowie die Stroofstraße.
In der geschützten Niddamündung wurde ein Flusshafen eingerichtet, am nördlichen Niddaufer entstand eine Militärziegelei im Bereich der heutigen Nieder Gemarkung. Die Legio XXII Primigenia stellte hier zwischen den Jahren 85 und 120 Ziegel her. Mit Weiterbau des Limes zur Mitte des 2. Jahrhunderts wurde die zeitweilig eingestellte Ziegelproduktion wieder aufgenommen. Erhalten sind mehr als 200 verschiedene Ziegelstempel, die meisten von der XXII. Legion.
Die Siedlung verlor mit dem Bau der Elisabethenstraße über Hofheim und der Anlage des Limes an wirtschaftlicher und militärischer Bedeutung. Sie entwickelte sich zu einer zivilen Siedlung. Als die Alamannen ab 260 den Limes überwanden und in römisches Gebiet einfielen, zogen sich die Römer in ihre linksrheinischen Gebiete zurück und gaben ihre Besitzungen rechts des Rheins auf. Die Siedlung an der Niddamündung wurde zur Wüstung, Überlieferungen und Berichte über eine Wiederbesiedelung des Höchster Gebietes nach dem Rückzug der Römer gibt es nicht. Lediglich einige Indizien weisen auf ein alemannisches Gehöft im 4. Jahrhundert und einen merowingischen Königshof am Rande der heutigen Altstadt im 5. Jahrhundert hin.
Unter dem Krummstab: Die mainzische Zeit – 790 bis 1803
Das Dorf Höchst im Früh- und Hochmittelalter
Erst aus dem 8. Jahrhundert gibt es wieder Hinweise auf eine Besiedelung des Hochplateaus über der Nidda mit Gehöften. Von einem Dorf im heutigen Sinn kann dabei allerdings keine Rede sein, es handelte sich vielmehr um eine lockere Ansammlung von Einzelgehöften. Die erste urkundliche Erwähnung dieser Ansiedlung erfolgte am 5. August 790 im Lorscher Codex, als der fränkische Gutsherr Thiotmann dem Kloster Lorsch ein Anwesen „in villa hostat in Nitahgowe“ schenkte, im „Dorf auf der hohen Stätte im Niddagau“. Zu späteren Zeiten schrieb der Renaissancelyriker Georg Calaminus die Hostato-Sage in Versform auf, nach der der Knappe Hostato als einziger die Schlacht von Roncesvalles überlebte und deswegen von Karl dem Großen als Dank für seine Tapferkeit zum Ritter geschlagen und zum Vogt der hohen Stätte ernannt wurde.
Spätestens ab dem frühen 9. Jahrhundert hatte das Erzbistum Mainz, das nach Ausbau seiner Territorialherrschaft strebte, so viele Einzelprivilegien nach fränkischem Recht in den Gebieten entlang des Mains von Mainz bis Frankfurt auf sich vereinigt, dass Höchst Teil des Mainzer Besitzes war und nicht mehr zum Niddagau gehörte. Annalen des Klosters Fulda aus dem Jahr 849 berichten vom „Hofgut Höchst im Gebiet von Mainz“. Die Mainzer Herrschaft dauerte fast tausend Jahre bis zum Jahr 1803, noch heute erinnert das Mainzer Rad im Höchster Wappen daran.
Ab ungefähr 830 ließ der Mainzer Erzbischof Otgar von Mainz auf dem hohen Ufer über dem Main die Justinuskirche errichten, die bis heute weitgehend erhalten ist. Sie ist eine der ältesten Kirchen Deutschlands und das älteste Bauwerk Frankfurts. Die für die Siedlung viel zu große Kirche war ein Machtsymbol des Mainzer Erzbischofs gegenüber dem Frankfurter Königshof. Zugleich diente sie im Rahmen kirchlicher Siedlungspolitik dazu, die Entstehung einer dörflichen Ansiedlung und Konzentration der bis dahin in verstreuten Einzelgehöften lebenden Bevölkerung um die Kirche zu fördern. Otgars Nachfolger Rabanus Maurus weihte den Bau nach seiner Fertigstellung im Jahr 850. Die Justinuskirche diente als Dorfkirche. In der Folgezeit entwickelte sich das Dorf Höchst entlang der Hauptstraße zwischen einem mainzischen Fronhof im Westen, der im Bereich der Wed gelegen war, und der Justinuskirche im Osten. Die westliche Grenze Höchsts bildet ein Mündungsarm des Liederbachs, der über den Bereich des heutigen Schloßplatzes zum Main floss. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts konnte von einem Dorf Höchst die Rede sein.
Aus dem 11. Jahrhundert ist die Entstehung eines weiteren erzbischöflichen Hofes westlich der Justinuskirche überliefert. Zusammen mit der Justinuskirche wurde er dem Kloster St. Alban in Mainz geschenkt. Die Kirche wurde in Schriften des Stifts gezielt als einsturzgefährdet bezeichnet; St. Alban erhielt auf diese Weise als Dreingabe weitere Ländereien und Privilegien in Höchst. Renovierungsarbeiten an der angeblich baufälligen Kirche fanden jedoch nicht statt. Die Höchster Niederlassung der Abtei St. Alban blieb bis zum Jahr 1419 in Höchst.
Im 12. Jahrhundert setzte das Bistum Mainz einen Burggrafen in Höchst ein; urkundlich erwähnt wird ein Graf Gotfried von der Wartburg, ein Verwandter des Erzbischofs Heinrich I. Ein solcher Statthalter hatte üblicherweise seinen Sitz in einer Stadt oder einer Burg. Höchst war zu dieser Zeit noch keine Stadt, daher kann aus der nachgewiesenen Existenz eines Amtmanns geschlossen werden, dass bereits Mitte des 12. Jahrhunderts eine Burg als Vorgängerin des heutigen Höchster Schlosses existierte. Bei Schachtungsarbeiten auf der Schlossterrasse wurden 1981 Gräben gefunden, die aufgrund ihrer abweichenden Ausrichtung nicht zur – nachgewiesenen – späteren gotischen Zollburg gehören konnten.
Der in Höchst und anderen Orten des Untermains erhobene Mainzoll wurde von Kaiser Friedrich Barbarossa im Jahr 1157 aufgehoben und verboten. Lediglich an drei Orten, Frankfurt, Aschaffenburg und Neustadt durfte noch der Flusszoll erhoben werden. Mit dem Verfall der kaiserlichen Macht im 13. Jahrhundert hatte Kurmainz die Möglichkeit, in Höchst wieder Zoll zu erheben. Es wurde eine neue und größere Burg errichtet, die nach der Landseite hin eine hohe und fast fünf Meter dicke Schildmauer besaß. Folge des Burgbaus war eine bescheidene Ausdehnung Höchsts nach Westen. Durch den Aushub des Burggrabens wurde der tief eingeschnittene Mündungsarm des Liederbachs zugeschüttet, der Schloßplatz weitgehend auf sein heutiges Niveau angehoben und das Wasser direkt in den Burggraben geleitet.
Im Norden und Osten des Burgplatzes entstand zwischen dem Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts eine neue Bebauung. Der Allmeygang, der bisher direkt zum Main geführt hatte, wurde auf den neuen Platz umgeleitet. Westlich der Burg stand der Ochsenturm als freistehender Wartturm, er wurde später in die im 15, Jahrhundert entstehende Stadtbefestigung einbezogen.
Stadterhebung und Stadtentwicklung im Spätmittelalter
Die Stadterhebung Höchsts war für längere Zeit ein Streitpunkt zwischen Mainz und Frankfurt. Dabei ging es vorrangig um die Erhebung des Mainzolls durch die Mainzer Erzbischöfe, für die der Zoll eine wichtige Einnahmequelle bedeutete. Frankfurt hingegen betrachtete den Höchster Mainzoll als Handelshindernis und erwirkte mehrfach dessen kaiserliches Verbot. Dennoch erhoben die Mainzer den Mainzoll oft weiter, ohne sich um die Verbote zu kümmern. Dies blieb in der Zeit des Interregnums mit seiner geschwächten Königsmacht meist folgenlos. 1336 erteilte Kaiser Ludwig IV der Bayer Frankfurt ein Privileg, das jeglichen Bau befestigter Anlagen im Umkreis von sieben Meilen um Frankfurt verbot. Damit sollte eine Befestigung Höchsts verhindert werden.
Am 11. Februar 1355 verlieh Kaiser Karl IV. in einer in Pisa ausgestellten Urkunde dem Dorf Hoisten (Höchst) gegen den Willen Frankfurts die Stadtrechte. Die in Latein verfasste Urkunde richtet sich an Gerlach von Nassau, den Landesherrn und Erzbischof von Mainz. Lange Zeit bestanden Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Urkunde, da sie angeblich weder gesiegelt noch unterschrieben sei. Doch die im Münchener Bayerischen Hauptstaatsarchiv aufbewahrte Urkunde trägt sowohl das königliche als auch das kaiserliche Siegel und ist entsprechend gültig.
In einer weiteren in Nürnberg auf Deutsch ausgestellten Urkunde vom 12. Januar 1356, die ebenfalls im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München aufbewahrt wird, bekräftigte Karl IV. die Stadterhebung noch einmal:
Wir gönnen und erlauben ihm von unserer sonderlichen kaiserlichen Gnaden, seinen Nachkommen, […], daß sie aus ihrem Dorfe Hoesten eine Stadt aufrichten, aussetzen, bauen und machen sollen und mögen und die befestigen und bewehren mit Graben, mit Toren, Türmen und mit allen anderen Sachen und mit allen Wegen, …
Zudem erweiterte Karl die Stadtrechte Höchsts deutlich und verlieh der jungen Stadt das Marktrecht. Wie in der ersten Urkunde wurden der Stadt Freiheitsprivilegien nach dem Vorbild der Nachbarstadt Frankfurt zugestanden:
Auch sollen sie in der obengenannten Stadt alle Dienstage einen Wochenmarkt begehen und halten, und soll die obgenannte Stadt auf denselben Markttag und in allen anderen Wegen und Sachen alle die Rechte und Freiheiten, Gnade und gute Gewohnheiten haben und der völlig gebrauchen, als Unser und des obgenannten Reiches Stadt zu Franckenfurt hat und gebrauchet und auch von alters darkommen ist.
Höchst wurde damit als Mainzer Tochterstadt vor den Toren Frankfurts ein wichtiges Instrument der Mainzer im Konkurrenzkampf der beiden Großstädte. Gleichzeitig wurden die Mainzer Erzbischöfe im Rahmen der Goldenen Bulle als Kanzler von Deutschland bestimmt, die das Privileg hatten, die Kurfürsten zur Königswahl zu versammeln.
Mit der Stadtrechtsverleihung wurden die mainzischen Rechte am Untermain gegenüber der aufstrebenden Reichsstadt Frankfurt gestärkt, und durch das Befestigungsrecht konnte Mainz auch militärisch in Höchst präsenter werden. Die bisher ungeschützte Siedlung und der mainzische Fronhof waren nun besser vor Überfällen geschützt. Durch die Stadtumwehrung verlief die Handelsstraße Frankfurt-Mainz durch das geschützte Stadtgebiet, was zur Folge hatte, dass auch ein Landzoll erhoben werden konnte. Die Einnahmen aus den Zöllen in Höchst, Ehrenfels und Niederlahnstein waren für den finanzschwachen mainzischen Staat ein willkommenes Instrument, am wachsenden Reichtum der Nachbarn teilzuhaben.
Eine Stärkung des Bürgertums lag mit der Stadterhebung Höchsts nicht im Interesse des Erzbischofs, der bereits den Bürgern der Stadt Mainz erhebliche Freiheiten hatte zugestehen müssen. Die Höchster Bürger erhielten durch die Stadterhebung zwar die städtischen Freiheiten, aber keine Selbstverwaltung. Mainz richtete keinen Rat ein, und auch der Schultheiß wurde von den Erzbischöfen ernannt. Die Stadt Höchst sollte Zolleinnahmen erbringen und die Ostgrenze des mainzischen Staats militärisch sichern. Die bäuerliche Fron wurde durch andere Pflichten wie den Wachdienst auf den Stadtmauern ersetzt.
Kurz nach der Stadterhebung begann in Höchst der Bau einer Stadtbefestigung. Die teilweise bis heute erhaltene Stadtmauer entstand vermutlich in mehreren Schritten. Die Limburger Chronik erwähnt im Bericht über den Frankfurter Angriff von 1396 keine steinerne Mauer, sondern Palisaden mit Gräben und Türmen:
Auch soll man wissen, daß Höchst vorgenannt erst vor vierzig Jahren zu einem Städtchen und zu einer Freiheit begriffen ist worden mit Graben, Planken und Bergfrieden, als sich das gehöret.
Die Ausdehnung der Stadt reichte anfangs von der Rosengasse im Westen bis zum späteren Kronberger Haus im Osten. Sie erreichte im Osten und Westen erst Ende des 15. Jahrhunderts nach einer zweimaligen Erweiterung den Umfang der erhaltenen Stadtumwallung.
Der von den Mainzern in Höchst von allen den Main befahrenden Schiffen erhobene Zoll blieb weiterhin Streitpunkt zwischen den Mainzern und den Frankfurtern, da die Handelsstadt Frankfurt durch den Mainzoll ihre wichtigste Lebensader bedroht sah. 1368 wurde der Zoll wieder erhoben, 1379 erneut verboten und der Main bis Frankfurt für zollfrei erklärt. König Wenzel erlaubte im Jahr 1380 schließlich dem Erzbischof Adolf I. von Nassau und seinen Nachfolgern die Erhebung eines Zolls auf Wein und andere Kaufmannsgüter. 1396 nutzten die Frankfurter deshalb die Sedisvakanz des Mainzer Bischofsstuhls; im Auftrag des Frankfurter Rats zerstörten die Cronberger Ritter Stadt und Burg Höchst im Handstreich. In den Jahren 1396 bis 1432 erfolgte schrittweise der Wiederaufbau der Burg und der Stadtbefestigung, gegen den Frankfurt vergeblich klagte. Auch das Wechselspiel um den Höchster Zoll von Erlaubnis und Verbot, Erhebung und Verzicht setzte sich weiter fort.
Die Ansiedlung einiger Adelsfamilien in Höchst, die im Wechsel den Posten des mainzischen Amtmanns besetzten, führten zu einem räumlichen und wirtschaftlichen Wachstum. Die Stadt wurde nach der Zerstörung 1396 entlang der Hauptstraße bis 1432 nach beiden Richtungen erweitert. Im Westen wurde dabei der ältere Ochsenturm als südwestliche Ecke in die neue Befestigung einbezogen. An der Hauptstraße entstanden Stadttore.
Das Kloster St. Alban, das bisher die Seelsorge in der Justinuskirche übernommen hatte, wurde 1419 aufgelöst. Das Klostergut wurde deshalb 1441 an den Antoniter-Orden übertragen, der sein Kloster in Roßdorf bei Hanau nach Höchst verlegte. Die Antonitermönche erweiterten die Justinuskirche um einen gotischen Chor, der bis heute das Aussehen des Bauwerks prägt. Die letzten Antoniter verließen Höchst 1803 nach der Säkularisation.
1463 erhielt der in der Mainzer Stiftsfehde unterlegene und als Erzbischof abgesetzte Diether von Isenburg im Frieden von Zeilsheim das Amt Höchst als eigene Herrschaft zugesprochen. Bis Diether 1475 erneut Erzbischof wurde, ließ er Burg und Stadt Höchst ausbauen. In einem weiteren Bauabschnitt von 1460 bis 1475 erfolgte noch einmal eine Stadterweiterung nach Osten, die Aufweitung der Straße vor dem Storch genannten Frankfurter Tor diente als neuer Platz für den Höchster Wochenmarkt. Bei dieser Erweiterung wurde die befestigte Mainmühle als neue südöstliche Ecke in die Befestigung einbezogen.
Höchst in der frühen Neuzeit bis zum Ende von Kurmainz
In der Renaissancezeit entwickelte sich Höchst langsam zu einem kleinstädtischen Unterzentrum westlich von Frankfurt. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden einige der heute noch bestehenden Adelshöfe wie das Kronberger Haus, das Dalberger Haus und das Greiffenclausche Haus. Wolfgang von Dalberg als Erzbischof und Landesherr ließ das Schloss ab 1586 weiter ausbauen.
1582 wurde Höchst von der Pest heimgesucht. Die Zahl der Pesttoten ist nicht überliefert, lediglich das Diarium der Antoniter berichtet von vier Opfern unter den Brüdern. In der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember wurde beim Großen Stadtbrand die Hälfte der Stadt zerstört. Das Diarium der Antoniter überliefert:
1586 Högst gebrandt in Vigilia Damasi; war der Main gefroren stundt 5 wochen zu.
Der Dreißigjährige Krieg bedeutete auch für Höchst einen Einschnitt. Die Stadt wurde durch die Kriegsereignisse stark in Mitleidenschaft gezogen. Am 20. Juni 1622 wurde die Schlacht bei Höchst ausgetragen, bei der die Kaiserlichen unter Tilly die Braunschweiger schlugen. Die Stadt wurde dabei besetzt und geplündert. Vom November 1631 bis März 1632 besetzten die Schweden unter Gustav II. Adolf die Stadt, eine kleine schwedische Besatzung blieb bis Ende 1634. Auf seinem Zug von Frankfurt Richtung Mainz ließ Bernhard von Weimar im Januar 1635 Höchst einnehmen und die Hälfte der Stadt und das damalige gotische Schloss niederbrennen. Der Kurfürst Anselm Casimir Wambolt von Umstadt beklagte sich in einem Schreiben vom März des Jahres darüber beim Kaiser:
Allein aus bösem Vorsatz und giftigem Neid ohne einige ihren Nutzen und Vorteil han sie das durch unsren Vorgänger Wolfgang mit großen Kösten erbaute Residenzschloß ganz und zumal bis auf die noch stehenden Mauern in die Asche gelegt.
Die Stadt wurde noch mehrfach von feindlichen Truppen heimgesucht. Brände, Hunger und Pest dezimierten die Bevölkerung. Von den 126 Familien im Jahr 1618 blieben am Ende des Krieges nur noch 75 übrig. Durch Zuzug stieg die Zahl der Haushaltungen jedoch wieder auf 102. Die Stadt erholte sich nur langsam von den Kriegsfolgen, das zerstörte Schloss wurde nicht wieder aufgebaut. Lediglich der Torbau und der Bergfried wurden in den Jahren 1636 bis 1768 wieder instand gesetzt. Der Turm erhielt dabei 1681 seine Barockhaube.
Im 18. Jahrhundert setzte in Höchst eine langsame Blüte des Handels ein. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung stieg auch langsam die Bevölkerungszahl, sie verdoppelte sich bis 1780 auf 850 gegenüber 450 im Jahr 1668. Die Gründung der bekannten Höchster Porzellanmanufaktur im Jahr 1746 – sie produzierte bis 1796 und wurde 1947 neu gegründet – und die Ansiedlung der italienischen Handelsfamilie Bolongaro waren zwei wichtige Gründe für diesen Aufschwung. Die Bolongaros hatten 1743 eine Frankfurter Tabakhandlung erworben und bauten sie zur größten Schnupftabakmanufaktur Europas aus. 1771 erwarben sie in Höchst das Bürgerrecht, das ihnen die lutherische Reichsstadt Frankfurt verwehrt hatte. Kurfürst Emmerich Joseph gestattete ihnen den Bau des Bolongaropalastes im Rahmen seines 1768 begonnenen Neustadt-Projektes zur Stadtentwicklung Höchsts. Das Projekt kam jedoch nur stockend voran. Zwar wurden den Neusiedlern viele Privilegien zugestanden, die Baukosten auf dem schwierigen Gelände waren jedoch hoch und in der Altstadt stand genügend preiswerter Bauplatz zur Verfügung. Daher blieb die Neustadt bis auf wenige Straßenzüge unbebaut.
Am 24. September 1778 wurde die Altstadt abermals durch einen Stadtbrand getroffen, der das nordöstliche Viertel zerstörte. In der Folge wurde die Bebauung dort neu geordnet, um die Brandgefahr zu mindern. Gleichzeitig gestattete der Kurfürst, die Bebauung bis an die Stadtmauer heranzuziehen. Dies bedeutete das Ende der Stadtmauer als Verteidigungsanlage der Stadt. Die Bolongaros, denen 1783 doch noch das Frankfurter Bürgerrecht zugestanden worden war, verließen Höchst wieder und beauftragten ihren Prokuristen Bertina mit der Geschäftsführung der Tabakmanufaktur.
In den folgenden Jahren ab 1792 wurde Höchst während der Koalitionskriege mehrfach von französischen Truppen besetzt. Im September 1795 überschritt ein französisches Heer unter Marschall Jourdan den Rhein bei Mainz-Kastel, wurde aber am 10. Oktober 1795 von den Österreichern unter Karl von Clerfayt in der Schlacht bei Höchst geschlagen und über den Rhein zurückgeworfen. Am 11. Oktober 1802 nahmen einhundert Mann nassauisches Militär unter Führung des Regierungsrats Huth in Vorwegnahme der Territorialneuordnung Höchst in Besitz.
Von Nassau und Preußen nach Frankfurt – 1803 bis 1928
Die biedermeierliche Kreisstadt in Nassau
Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 wurden die geistlichen Fürstentümer aufgelöst – auch das Territorium des Erzbistums Mainz wurde säkularisiert. Stadt und Amt Höchst wurden dem Fürstentum Nassau-Usingen zugeschlagen, das bereits 1806 im Herzogtum Nassau aufging. Die für Höchst zuständige Residenzstadt war jetzt Wiesbaden. Wenige Jahre später erfolgte die kirchenrechtliche Lösung Höchsts vom Erzbistum Mainz. Im Rahmen der 1821 erfolgten Neuordnung der Bistümer gehörte Höchst ab 1827 mit dem Herzogtum Nassau und der Freien Stadt Frankfurt zum neu geschaffenen Bistum Limburg.
Vom 1. auf den 2. November 1813 verbrachte der bei Leipzig geschlagene Napoléon Bonaparte seine letzte Nacht auf rechtsrheinischem Boden. Er übernachtete im Bolongaropalast. Sein Kontrahent, Marschall Blücher, erreichte Höchst wenige Tage später, am 17. November. Er nutzte den Bolongaropalast bis zum 27. Dezember des Jahres als Hauptquartier.
Die nassauische Regierung begann nach dem Ende der Befreiungskriege ab dem Jahr 1813 mit einer Verbesserung der Infrastruktur und einer Verwaltungsreform im Herzogtum. Höchst wurde 1816 Verwaltungssitz des Amtes Höchst. Im Rahmen des Ausbaus der Mainzer Landstraße wurden im Jahr 1816 die hinderlichen und nutzlosen Stadtmauern sowie beide Stadttore abgebrochen und die Hauptstraße erweitert. Erhalten blieb nur die Mainfront der alten Stadtbefestigung, da hier keine Ausdehnungsmöglichkeit für die Stadt bestand. Sie prägt das mainseitige Bild Höchsts bis heute. Die im Rahmen des Neustadtprojekts angelegte Königsteiner Straße wurde zwischen 1814 und 1820 als Chaussee Richtung Königstein ausgebaut. Höchst erlebte ein weiteres Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum. 1822 lautete der Eintrag in einem Geografiebuch:
Höchst, an dem Einflusse der Nidda in den Main, mit 1516 Einwohnern, Tabaks- und anderen Fabriken, starkem Handel. Das Bolongarosche Gebäude zieret dieses lebhafte Städtchen.
Am 26. September 1839 wurde die erste Etappe der Taunusbahn von Frankfurt nach Höchst eröffnet. Sie war eine der ersten deutschen Eisenbahnen. Der erste Höchster Bahnhof lag am Bahnübergang der heutigen Königsteiner Straße. Anfang 1840 war die Strecke bis in die nassauische Residenz Wiesbaden fertiggestellt. 1847 eröffnete die Nebenbahn ins damals sehr beliebte Kurbad Soden.
Nach der Märzrevolution von 1848, die auch an Höchst nicht vorüberging, beschloss die nassauische Regierung eine Verwaltungsreform. Mit einem Gesetz vom Dezember 1848 zur Neuordnung der Gemeindeverwaltung wurde ein auf vier Jahre gewählter ehrenamtlicher Gemeinderat eingeführt. Der Gemeinderat wurde von der Gemeindeversammlung gewählt und bestand aus einem Bürgermeister, einem Ratschreiber und einer nach Gemeindegröße wechselnden Zahl Gemeinderäte. Von 1860 bis 1887 hatte Höchst vier ehrenamtliche Bürgermeister.
Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Industrielle Revolution in Deutschland ihren ersten Höhepunkt. Das Herzogtum Nassau förderte Industrieansiedlungen nach Kräften, während die Freie Stadt Frankfurt innerhalb ihrer Grenzen keine größeren Fabriken dulden wollte. Bereits 1856 wurde eine erste Fabrik chemischer Producte Simeons, Ruth und Co. in Höchst eröffnet. 1863 gründeten die beiden Frankfurter Unternehmer Eugen Lucius und sein Schwager Carl Friedrich Wilhelm Meister das Unternehmen Theerfarbenfabrik Meister, Lucius & Co. Das anfangs sehr kleine Unternehmen wuchs rasch. Unter dem Namen Farbwerke Höchst vorm. Meister Lucius & Brüning AG und später als Hoechst AG wurde es zum größten Chemie- und Pharmakonzern der Welt. Im Höchster Volksmund behielt das Werk immer den Namen Rotfabrik, nach einem der ersten Produkte des jungen Unternehmens, dem roten Farbstoff Fuchsin.
Groß-Höchst – Die preußische Kreis- und Industriestadt
Das Herzogtum Nassau stand im Deutschen Krieg auf Seiten des Deutschen Bundes und gehörte somit zu den Kriegsverlierern. Das Herzogtum wurde zusammen mit der Freien Stadt Frankfurt und dem Kurfürstentum Hessen von Preußen annektiert. Die Stadt Höchst gehörte von 1867 bis 1885 dem neuen Landkreis Wiesbaden in der Provinz Hessen-Nassau an. 1886 wurde Höchst Kreisstadt des neu gegründeten Landkreises Höchst.
Zum 31. Dezember 1866 hob die preußische Verwaltung endgültig den Mainzoll auf. Die beiden letzten Höchster Zollbeamten beendeten am 15. Februar 1867 ihren Dienst, die Gerätschaften des Amtes wurden versteigert und die Gebäude als Privatwohnung vermietet. Der Zollturm wurde 1870 zur Schule umgebaut.
Die neue Main-Lahn-Bahn nach Limburg wurde 1877 in Betrieb genommen. Mit dem Bau der Limburger Strecke wurde 1880 am heutigen Standort ein neues Bahnhofsgebäude errichtet. Es lag als Inselbahnhof zwischen den Gleisen und war durch eine Stichstraße von der Königsteiner Straße her erreichbar. 1902 wurde die Königsteiner Bahn nach Königstein im Taunus eröffnet. 1914 entstand als letztes öffentliches Bauprojekt in Höchst vor dem Ersten Weltkrieg ein neuer Bahnhof, der dritte nach 1839 und 1880. Mit seinen zwölf Gleisen und dem repräsentativen Empfangsgebäude im Jugendstil war er ein Symbol für das rasante Wachstum, das die Stadt durch den Aufstieg als Chemiestandort erlebte.
Die Einwohnerzahl stieg sprunghaft von 6517 im Jahr 1885 auf 14.000 im Jahr 1905. Weitere Industrie- und Handwerksbetriebe siedelten sich an. 1908 wurde am Mainufer der Höchster Hafen für den wachsenden Warentransport auf dem Fluss ausgebaut. Das vordem flache Ufer wurde dazu um zwei Meter aufgeschüttet. Neue Stadtviertel wurden angelegt, das Westend mit Gründerzeit- und Jugendstilbauten entstand. Während der Stadtplan von 1864 noch einen Stadtgrundriss zeigt, der sich im Bereich der Altstadt fast nicht von der spätmittelalterlichen Ausdehnung unterscheidet und die Neustadt kaum über den Plan Emmerich-Josephs hinaus gewachsen ist, verdeutlicht der Stadtplan von 1898 das schnelle Wachstum Höchsts innerhalb von dreißig Jahren.
Auch das religiöse Leben in der Stadt wurde vielfältiger. War Höchst ehemals als mainzische Besitzung traditionell katholisch, zogen nun Protestanten und Bürger jüdischen Glaubens zu. Mit finanzieller Unterstützung durch den Industriellen Adolf von Brüning wurde 1882 die evangelische Stadtkirche errichtet. Die jüdische Gemeinde weihte 1905 ihre neue Synagoge am heutigen Marktplatz feierlich ein. 1909 wurde die neue katholische Pfarrkirche St. Josef geweiht, deren Bau als Folge der Enteignung von Kirchengut während der Säkularisation von 1803 vom preußischen Staat finanziert wurde. Dies wurde 1906 in einem Höchster Kirchenbauprozess genannten Gerichtsverfahren zwischen der katholischen Kirchengemeinde und dem preußischen Fiskus entscheiden.
Schließlich konnte die ehrenamtliche Verwaltung die Probleme der wachsenden Industriestadt nicht mehr bewältigen. Ohne den massiven Einfluss der Farbwerke Hoechst und ihrer Gründerfamilien auf die soziale und kulturelle Stadtentwicklung sowie ihren Bau von Sozialwohnungen für die Arbeiterschaft wäre die Infrastruktur Höchsts längst zusammengebrochen. 1888 bekam Höchst mit Eugen Gebeschus seinen ersten hauptamtlichen Bürgermeister. Der Verwaltungsjurist setzte sich schnell für eine planvolle Stadtentwicklung ein, die das Wachstum der Stadt ordnete und die verfügbaren Flächen strukturierte. Höchst erwarb 1907 für die wachsende Stadtverwaltung den bis dahin als Wohn- und Industriegebäude genutzten Bolongaropalast und ließ ihn zum Rathaus umbauen.
Mitten im Ersten Weltkrieg, am 1. April 1917, wurden die Gemeinden Unterliederbach, Sindlingen und Zeilsheim nach Höchst am Main eingemeindet. Die neue Stadt nannte sich nun Groß-Höchst, sie hatte mit einem Schlag 32.000 Einwohner. Ihr Bürgermeister Ernst Janke, Amtsinhaber von 1911 bis 1923, wurde von Wilhelm II. zum Oberbürgermeister ernannt.
Nach dem Ersten Weltkrieg – Französische Besatzung und Inflation
Nach dem Ende des Krieges wurden die linksrheinischen Gebiete Deutschlands infolge des Versailler Vertrags durch Frankreich besetzt. Hinzu kamen außerdem drei Brückenköpfe auf rechtsrheinischem Gebiet in einem Radius von jeweils dreißig Kilometern rund um Köln, Koblenz und Mainz. Höchst lag innerhalb des Mainzer Besatzungsgebiets und wurde am 14. Dezember 1918 von französischen, marokkanischen und algerischen Truppen besetzt, die in der eigens für sie erbauten Höchster Kaserne Quartier nahmen. An der Niddabrücke nach Nied wurde ein Grenzübergang (Zollgrenze) eingerichtet, Straßennamenschilder in französischer Sprache wurden aufgehängt. Wegen Widerstands gegen die Besatzungsmacht wurde 1919 Oberbürgermeister Janke ausgewiesen, das gleiche Schicksal traf 1923 seinen Amtsnachfolger Bruno Asch. Er leitete bis 1925 die Amtsgeschäfte telefonisch von Frankfurt aus, bevor er dort Stadtkämmerer wurde und sein Amt an Bruno Müller übergab, den letzten Höchster Bürgermeister. Die französische Besatzung endete erst im Jahr 1930.
Im Werk Höchst entstand 1920 bis 1924 das Technische Verwaltungsgebäude von Peter Behrens, einer der bedeutendsten expressionistischen Industriebauten. Zwischen dem Bahnhof und der Königsteiner Straße wurde südlich des Bahndamms eine der wenigen expressionistischen Parkanlagen Deutschlands angelegt, die heutige Bruno-Asch-Anlage. Der Höchster Stadtarchitekt Carl Rohleder hatte radikale Planungen für ein „Groß-Höchst“, die Abriss und Neubebauung fast der gesamten Altstadt vorsahen. Sie konnten aufgrund der finanzschwachen Situation Höchsts nicht verwirklicht werden. Die Inflation und die Kosten der französischen Besatzung zwischen 1918 und 1930 hatten die Stadtkassen geleert. Zudem war das Gewerbesteuereinkommen beträchtlich gesunken, nachdem sich die I.G. Farben, zu der auch die Hoechst AG gehörte, vom Interessenverband 1925 in einen Konzern mit Hauptsitz in Frankfurt umgewandelt hatte. Der Hauptteil der Steuereinnahmen aus der Hoechst AG floss nun in die Nachbarstadt. Im Werk Höchst wurde in diesen Jahren wenig investiert, da der neue Konzern seinen Schwerpunkt in Mitteldeutschland hatte.
Die wirtschaftlichen Interessen des Konzerns und des Konzernsitzes Frankfurt veranlassten die preußische Regierung, Druck auf die Höchster Verwaltung auszuüben. Würde Höchst sich nicht freiwillig nach Frankfurt eingemeinden lassen, würde dies der preußische Landtag mit einem Gesetzesakt zwangsweise veranlassen. Um nicht Eingemeindungsbedingungen diktiert zu bekommen und weiterhin von den existenziellen Steuereinnahmen zu profitieren, entschied sich der Höchster Magistrat für die freiwillige Aufgabe der städtischen Eigenständigkeit. Die Stadtverordnetenversammlung verabschiedete am 5. Januar 1928 den mit Frankfurt ausgehandelten Eingemeindungsvertrag mit seiner Anlage zur weiteren Entwicklung Höchsts. Der bisherige Höchster Bürgermeister Bruno Müller (SPD) wurde Dezernent in Frankfurt.
Ein Stadtteil Frankfurts – Höchst ab 1928
Von den späten 1920ern bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges
Am 1. April 1928 verlor Höchst nach 573 Jahren seine kommunale Selbständigkeit und wurde ein Ortsbezirk Frankfurts (Frankfurt-West). Die Altstadt, sowie die 1917 eingemeindeten Höchster Stadtteile wurden zu Frankfurter Stadtteilen. Die französische Militärverwaltung widersetzte sich anfangs der Eingemeindung, stimmte dann aber doch zu. Nachdem die letzten französischen Truppen im Dezember 1929 abgezogen waren, endete die französische Besatzung Höchsts formal im Juni 1930.
Höchst blieb allerdings, dies war ein Kuriosum der Eingemeindung, noch bis 1980 Sitz der Kreisverwaltung des Main-Taunus-Kreises, der im Rahmen einer Gebietsreform aus dem Altkreis Höchst und dem Altkreis Wiesbaden neu gebildet wurde.
Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten änderte sich die kommunalpolitische Situation Höchsts. Der Eingemeindungsvertrag sah eine starke Autonomie des Stadtteils vor, die auch einen eigenen Haushalt umfasste. Dies passte nicht zum zentralistischen Führerprinzip der neuen Machthaber, Höchst wurde zu einem abhängigen Verwaltungsbezirk Frankfurts. Im Anhang des Vertrages zugesagte Bauvorhaben und Stadtentwicklungsmaßnahmen wurden nicht ausgeführt, der Vertrag verschwand im Stadtarchiv.
Die Nationalsozialisten begannen schnell mit der Enteignung der jüdischen Bevölkerung Höchsts. Die Besitzer des 1929 auf der Königsteiner Straße eröffneten großstädtischen Kaufhauses Schiff wurden zum Verkauf gezwungen; das Kaufhaus wurde über einen Zwischenbesitzer an den Hertie-Konzern verkauft. Ebenso „arisiert“ wurde die gegenüber dem Bahnhof gelegene Schuhfabrik R. & W. Nathan OHG, deren Anteile zur Hälfte von der Dresdner Bank erworben wurden. Das Unternehmen wurde zur ADA-ADA-Schuh AG umfirmiert, die Inhaber in die Emigration getrieben. Bei den Novemberpogromen 1938 wurde die 1905 am Marktplatz erbaute Synagoge von SA-Leuten niedergebrannt, die Feuerwehr schützte lediglich umstehende Häuser vor dem Feuer. Anstelle der Synagoge wurde ein Luftschutzbunker errichtet. Eine Gedenktafel an dessen Westfassade erinnert heute an das Geschehen.
Im Gegensatz zur Kernstadt Frankfurts und anderen Stadtteilen wurde Höchst im Zweiten Weltkrieg bei den Luftangriffen auf Frankfurt am Main nur leicht beschädigt. Bei Luftangriffen im Jahr 1940 wurden vier Häuser zerstört, 13 Menschen starben dabei. Insbesondere wurden auch die Anlagen der Hoechst AG nur wenig beschädigt. Lediglich ein Produktionsbetrieb, die Telefonzentrale und die Werksbibliothek wurden zerstört. Insgesamt wurden in Höchst 53 Häuser getroffen. Augenzeugenberichten zufolge gab es in Höchst keinen einzigen schweren Luftangriff.
Der letzte Beschuss Höchsts durch US-amerikanische Artillerie erfolgte am Abend des 27. März 1945. Am 29. März 1945 marschierten die amerikanischen Truppen in Höchst ein und besetzten den Stadtteil und das Chemiewerk.
Die Entwicklung Frankfurt-Höchsts nach 1945
Im Juli 1945 richtete sich der Soldatensender AFN im Höchster Schloß ein. Die Studios befanden sich im Neuen Schloss, die Mannschaftsunterkünfte im Alten Schloss. Bis zum Bezug eines neuen Gebäudes beim Hessischen Rundfunk 1966 blieb der Sender im Schloss ansässig.
1947 erfolgte auf Betreiben des Höchster Journalisten Rudolf Schäfer die Neugründung der Höchster Porzellanmanufaktur. Nach finanzieller Beteiligung der Hoechst AG konnte das Unternehmen 1965 fortgeführt werden. Es hatte zwischen 1977 und 2002 seinen Sitz in der Altstadt im Dalberger Haus, seitdem ist der Firmensitz in der Höchster Palleskestraße.
Anfang der 1950er-Jahre kam der Eingemeindungsvertrag und seine bisher nicht erfüllten Punkte wieder in die Diskussion. Die Höchster warteten immer noch auf den Anschluss an die Frankfurter Straßenbahn, ebenso waren die vertraglich zugesagte Markthalle, das Hallenbad und die Mainbrücke nicht gebaut worden. 1953 gründeten Höchster Bürger einen Ausschuss, der unter dem Motto „Zerbrecht die Ketten Frankfurts“ die Ausgemeindung aus Frankfurt betreiben wollte. Da der Frankfurter Oberbürgermeister Walter Kolb seinen Wohnsitz in einem Seitenflügel des Bolongaropalastes hatte, konnte er sich direkt ein Bild vom Unmut der Höchster Bevölkerung machen. Auf seine Initiative wurden die Markthalle und das Hallenbad erbaut und im November 1955 eingeweiht. Die Straßenbahn wurde von Nied bis zur Zuckschwerdtstraße im Osten Höchsts ausgebaut. Weitere Teile des Vertrages wurden erst seit Mitte der 1990er-Jahre erfüllt, so 1994 die Errichtung einer Brücke über den Main und der Bau des Bahnhofs für Zeilsheim und Sindlingen im Jahr 2007.
1957 fand zum ersten Mal das Höchster Schloßfest statt. Es entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einem kulturellen Höhepunkt der Region.
Ein erster Ansatz zum Denkmalschutz in Höchst erfolgte 1959 mit einer von der Stadt Frankfurt erlassenen Bausatzung, die einige Häuser der Höchster Altstadt unter Schutz stellte. Sie mündete 1972 in ein Ortsstatut, mit dem die Höchster Altstadt als Gesamtensemble unter Denkmalschutz gestellt wurde. In den folgenden Jahren wurden die Straßen der Altstadt neu gepflastert und mit neuen Straßenlaternen versehen. Viele historische Gebäude wurden seither renoviert.
Am 4. Juli 1979 beschloss der Hessische Landtag den Umzug der Verwaltung des Main-Taunus-Kreises von Höchst nach Hofheim am Taunus, Höchst verlor dadurch nach fast zwei Jahrhunderten seinen Status als Kreisstadt. Es blieb jedoch noch bis 1987 Sitz der Kreisverwaltung. Bis 1980 verfügte Höchst ebenfalls über eine eigenständige Kfz-Zulassungsstelle für das Kfz-Kennzeichen FH (Frankfurt-Höchst).
Seit den 1970er-Jahren war ein kontinuierlicher Bevölkerungsrückgang in Höchst zu verzeichnen. Der Stadtteil hatte und hat den Ruf eines Industriebezirks mit geringer Wohnqualität. Im Jahr 2005 waren 39 Prozent der Bevölkerung Migranten, was soziale Spannungen und Ghettobildung mit sich bringt. Mit dem Bau von Einkaufszentren wie des Main-Taunus-Zentrums vor den Toren Höchsts wurde die traditionelle Kundschaft aus dem Vordertaunus weggelockt. Nach dem Wegzug der Kreisverwaltung blieben auch die Behördenmitarbeiter und -besucher als Kundschaft der Höchster Geschäfte aus. Der Einzelhandel in Höchst geriet daher seit dem Ende der 1980er in eine Krise.
Ein weiterer wirtschaftlicher Einschnitt für den Stadtteil ergab sich ab Mitte der 1990er mit der Aufteilung und Auflösung der Farbwerke Hoechst. Die Zahl der im Industriepark Höchst Beschäftigten sank von über 30.000 (um 1980) auf zeitweise unter 20.000, und der früher übliche Einkaufsbummel der Rotfabriker während der Mittagspause wurde ein Opfer der Bemühungen um ständige Effizienzsteigerung. Im Jahr 2007 ist der Industriepark ein prosperierender Standort für über 90 Unternehmen, die wieder rund 22.000 Mitarbeiter beschäftigen, die jedoch dem Einzelhandel und der Gastronomie in Höchst nur noch wenig Umsatz verschaffen. Auch die finanzielle Unterstützung der früheren Hoechst AG für soziale, kulturelle und denkmalschützerische Projekte im Stadtteil blieb nun weitgehend aus.
Die 1990 erfolgte Umwandlung eines Abschnitts der Königsteiner Straße zwischen Bolongarostraße und Hostatostraße in eine Fußgängerzone konnte den Abwärtstrend des Höchster Einzelhandels nicht aufhalten. Viele Fachgeschäfte zogen fort oder gaben auf, leerstehende Geschäftsräume und Geschäfte mit Niedrigpreisware kennzeichnen seither das Bild der Höchster Einkaufsstraßen. Daher beschloss die Stadt Frankfurt im Jahr 2006, in den folgenden zehn Jahren die Stadtentwicklung Höchsts mit zwanzig Millionen Euro zu fördern, um Höchst wieder zu einem attraktiven Wohn- und Geschäftsstandort zu machen.
Einzelnachweise und Anmerkungen
Literatur
Wilhelm Frischholz: Alt-Höchst. Ein Heimatbuch in Wort und Bild. Hauser, Frankfurt am Main 1926.
Leo Gelhard (Hrsg.): 600 Jahrfeier der Stadt Höchst am Main vom 2. bis 11. Juli 1955. Fest- und Programmbuch. Stadt Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1955.
Markus Grossbach: Frankfurt-Höchst. Bildband. Sutton, Erfurt 2001, ISBN 3-89702-333-4.
Wilhelm Grossbach: Alt-Höchst auf den zweiten Blick. Impressionen aus einer alten Stadt. Höchster Verlagsgesellschaft, Frankfurt 1980.
Wilhelm Grossbach: Höchst am Main: gestern, heute, morgen. Frankfurter Sparkasse, Frankfurt am Main 2006, .
Wolfgang Metternich: Die Justinuskirche in Frankfurt am Main-Höchst. Verein für Geschichte und Altertumskunde, Frankfurt am Main 1986, .
Wolfgang Metternich: Die städtebauliche Entwicklung von Höchst am Main. Stadt Frankfurt und Verein für Geschichte und Altertumskunde, Frankfurt am Main 1990, .
Wolfgang Metternich: Höchst erstaunliche Geschichte. Kramer, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-7829-0447-8.
Wolfgang Metternich: Die Burg des 13. Jahrhunderts in Höchst am Main. Verein für Geschichte und Altertumskunde, Frankfurt am Main 1995.
Rudolf Schäfer: Höchst am Main. Frankfurter Sparkasse, Frankfurt am Main 1981.
Rudolf Schäfer: Chronik von Höchst am Main. Kramer, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-7829-0293-9.
Heinrich Schüßler: Höchst. Stadt der Farben. Frankfurter Sparkasse von 1822, Frankfurt am Main 1953.
Anna Elisabeth Schreier, Manuela Wex: Chronik der Hoechst Aktiengesellschaft. 1863–1988. Hoechst Aktiengesellschaft, Frankfurt am Main 1990, .
Magistrat der Stadt Höchst am Main (Hrsg.): Höchst am Main. Verlag der Stadtverwaltung, Höchst a. M. 1925.
Weblinks
Frankfurt-Höchst
Geschichte (Rhein-Main)
Hochst |
2678473 | https://de.wikipedia.org/wiki/Theater%20Bremen | Theater Bremen | Das Theater Bremen ist ein Stadttheater und ein Vierspartentheater mit Musiktheater, Schauspiel, Tanz sowie Jungem Theater in der Stadt Bremen. Die vier räumlich zu einem Straßenblock gehörenden und architektonisch verbundenen Spielstätten bilden die unterschiedlichen Bühnen der Institution. Sie bieten zusammengerechnet bis zu 1249 Zuschauern Platz. Im Bereich des Musiktheaters arbeitet das Theater seit 1917 mit dem bereits 1820 gegründeten Orchester Bremer Philharmoniker zusammen, an dem es zu 22 % beteiligt ist. Internationale Bekanntheit erlangte das Theater ab 1962 während der Intendanz Kurt Hübners, der mit innovativen und avantgardistischen Schauspielproduktionen den „Bremer Stil“ prägte und das Theater zu einem Experimentierlabor der deutschen Kulturlandschaft machte.
Geschichte
Ein neues Theater in der Stadt (1910–1933)
Das dominierende Theater in Bremen war über Jahrzehnte das Stadttheater in den Wallanlagen. Nach einem Intendantenwechsel verlagerte sich dessen Aufführungsschwerpunkt signifikant auf das Musiktheater, sodass dem Schauspiel in der Hansestadt kaum noch eine Bühne geboten wurde. Aus diesem Grund entschlossen sich der gelernte Journalist und Autor Johannes Wiegand (* 1874; † 1940) und der Theaterwissenschaftler Eduard Ichon (* 1879; † 1943) dazu, ein eigenes, ausschließlich dem Schauspiel gewidmetes Theater aufzubauen. Zu diesem Zweck erwarben sie im Jahr 1909 die Tonhalle am Neustadtswall auf der linken Weserseite. Der Architekt Joseph Ostwald baute das Gebäude im Frühjahr 1910 zu einem Schauspielhaus um, dessen schlichte Fassade von sechs rechteckigen Pilastern dominiert wurde. In der neuen, als Personalgesellschaft geführten Spielstätte wurden vornehmlich moderne Inszenierungen dargeboten, die die Bremer überaus positiv aufnahmen.
Ichon und Wiegand erkannten bald, dass sich Möglichkeiten boten, ein größeres Theater mit höheren Kapazitäten zu errichten. Man entschied sich für den Standort östlich der Wallanlagen und beauftragte die Architekten August Abbehusen und Otto Blendermann mit der Konstruktion der neuen Spielstätte. Sie konzipierten ein Theater im neoklassizistischen Stil, das heutige Theater am Goetheplatz. Es dominierten sechs Säulen vor einer ruhigen zurückgesetzten Mauerfront die Frontfassade und trugen den Giebel, hinter dem sich das Dach erhob. Am Giebel wurde ein Relief des Künstlers Ernst von Wachold installiert. Diese wenige Meter zurückliegende Wand schuf auf Höhe des ersten Stockwerkes einen die Säulen einbeziehenden Balkon mit großen weiten Fenstern, durch die Sonnenlicht in die Flure fluten konnte. Die neue Spielstätte, deren Gestaltung in Fachkreisen viel Anerkennung erhielt, war äußerlich imposant, tatsächlich jedoch architektonisch sehr schlicht gehalten. Die Bühne maß 18 Meter in der Breite und 17 Meter in der Tiefe. Die Eröffnung des Schauspielhauses, das im Parkett und auf zwei Rängen 804 Zuschauern Platz bot, fand am 15. August 1913 statt, als Johannes Wiegand Oscar Wildes Schauspiel Eine Frau ohne Bedeutung inszenierte.
Ichon und Wiegand führten das neue Theater als Bremer Schauspielhaus GmbH und setzten sich zum Ziel, einen Gegensatz zu den vorherrschenden Richtungen des Wagner-Theaters, der Grand opéra und des Theaters der Repräsentation wie beispielsweise am Burgtheater zu schaffen. Man orientierte sich eher am Goethe-Theater mit psychologischem Drama und zwischenmenschlichen Diskursen. Die Schriftsteller Hermann Bahr, Herbert Eulenberg und Rudolf Presber veröffentlichten anlässlich der Einweihung der neuen Spielstätte eine Erklärung:
In den Folgejahren wurden zahlreiche junge Schauspieler zum Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg eingezogen; es gelang jedoch, die Vorstellungsausfälle durch vermehrte Gastspiele anderer Theater zu kompensieren. Noch bis 1917 bespielte man auch das alte Haus am Neustadtswall, welches dann allerdings aufgegeben wurde. Im gleichen Jahr führten die beiden Theaterleiter am Schauspielhaus komische Singspiele ein, die ebenfalls viel Publikum lockten. Die dadurch erzielten Einnahmen sicherten das eigentliche künstlerische Schauspielprogramm.
Nach dem Ende des Krieges beschlossen Wiegand und Ichon, jede Spielzeit mit einem Leitgedanken zu überschreiben, dem sich alle Stücke unterzuordnen haben. Für die Spielzeit 1918/1919 wählte man den Titel „Das Individuum und die Gesellschaft im Drama der europäischen Völker der letzten Jahrzehnte“. Um auch in den wirtschaftlich schweren Nachkriegsjahren die Einnahmen konstant zu halten, wurde die Idee des Gemeinschaftstheaters entwickelt. Dieses Projekt, das das Theater allen Schichten und Kreisen der Bevölkerung zugänglich machen sollte, realisierte man in Kooperation und mit dem Goethe-Bund. Mit Hilfe organisierter Besuche und Abonnements schuf man sich eine feste Besuchergemeinde, deren Geld das Theater aufbaute und dauerhaft stützte. Eine entsprechende Offerte wurde unter dem Titel „Abonnements mit Gemeinschaftscharakter“ veröffentlicht:
Das Schauspielhaus etablierte sich als Theater, dessen zahlreiche Uraufführungen als wagemutig galten. Ichon und Wiegand bevorzugten die neuere und zeitgemäße Dramatik und nahmen zahlreiche Stücke von bekannten Gegenwartsdramatikern in die Spielpläne auf. Die hohe Qualität der Aufführungen und die hohe Besucherauslastung führten dazu, dass die Spielstätte autark und rentabel weiterbetrieben werden konnte, wohingegen das Stadttheater auf Subventionen in Höhe von 600.000 Reichsmark angewiesen war. Zum Ensemble des Schauspielhauses zählten in den Jahren der Weimarer Republik unter anderem Hans Söhnker, Gustaf Gründgens, Albert Bassermann, Paul Wegener, Käthe Dorsch, Fritz Kortner, Heinz Rühmann, Bernhard Wicki, Willy Fritsch, Tilla Durieux, Lil Dagover und Emil Jannings. Als Oberspielleiter fungierte zwischen 1923 und 1929 der spätere Hollywoodregisseur Douglas Sirk. Ab etwa 1920 wurden vermehrt auch expressionistische Werke mit sozialkritischen Inhalten aufgeführt, die jedoch in der bremischen Kulturlandschaft und bei den Zuschauern zunächst eher auf Kritik und Befremden stießen – so geschehen etwa 1918 bei Georg Kaisers Gas. Nach einigen Jahren erhielt die Stilrichtung allerdings auch am Schauspielhaus Anerkennung. Häufig gespielt wurden am Schauspielhaus auch die Stücke des Literaturnobelpreisträgers Gerhart Hauptmann, von denen mindestens eines in nahezu jeder Spielzeit zum Repertoire des Ensembles zählte. Der Schriftsteller erfreute sich in der Bremer Bevölkerung und unter den Theaterbesuchern großer Beliebtheit und aus Anlass seines bevorstehenden 60. Geburtstages veranstaltete man am 3. September 1922 eine Morgenfeier mit Reichspräsident Friedrich Ebert als Ehrengast. Gespielt wurde Hauptmanns Drama Die Jungfern vom Bischofsberg und der Autor urteilte über die Inszenierung, dass diese in ihm eine „weit über hauptstädtische Erfahrungen hinausgehende Befriedigung“ hervorgerufen habe.
1930 feierte man das zwanzigjährige Bestehen des Schauspielhauses. Während dieser Zeit waren 758 verschiedene Werke in insgesamt 7001 Vorstellungen dargeboten worden. Zum Jubiläum gratulierten unter anderem Leopold Jessner und Carl Zuckmayer. Gerhart Hauptmann schrieb
und auch Thomas Mann sprach Ichon und Wiegand seine tiefe Anerkennung aus:
Die Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945)
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde es problematisch, den Theaterbetrieb aufrechtzuerhalten. Bereits 1933 musste jeder Künstler bei den politisch Verantwortlichen eine Arbeitserlaubnis beantragen. Ichon und Wiegand sahen sich gezwungen, den langjährigen Oberregisseur Wilhelm Chmelnitzky auf Grund seines jüdischen Glaubens zu beurlauben. Chmel, wie er genannt wurde, war nach einer Gastinszenierung (Der Frauenarzt) von 1930 bis 1933 am Theater.
Die beiden Gründer der Spielstätte lehnten die Ideologie der Machthaber im Geiste konsequent ab. Sie hatten sich vorgenommen, das Schauspielhaus als privates Theater weiterzuführen – im Gegensatz zum Stadttheater, das kurz nach Regierungsantritt der NSDAP verstaatlicht worden war. Die Spielpläne wurden ohne Einbeziehung bekannter nationalsozialistischer Autoren, deren Werke an anderen Bühnen immer häufiger aufgeführt wurden, gestaltet. Zwar kamen keine verbotenen Stücke zur Aufführung, doch bewegte man sich stets am Rand des gerade noch Erlaubten, indem man Stücke geschickt umschrieb oder von der deutschlandfreundlichen Gesinnung ausländischer Autoren profitierte. Es gab jedoch auch Ausnahmefälle, in denen tatsächlich missliebige Werke zur Aufführung kamen. So feierte im Mai 1936 Wasser für Canitoga Premiere, ein Schauspiel des 1933 inhaftierten und im Jahr der Aufführung zur Emigration gezwungenen Hans José Rehfisch. Attila Hörbiger übernahm eine Gastrolle in der Inszenierung. Knapp drei Jahre später, im Mai 1939, gelang es Wiegand und Ichon, Die guten Feinde von Günther Weißenborn auf die Bühne zu bringen, der seit 1937 in Berlin der Roten Kapelle angehörte. Ebenfalls zur Aufführung kam Das lebenslängliche Kind von Robert Neuner. Hinter diesem Autorenpseudonym verbarg sich Erich Kästner, dessen Werke 1933 im Zuge der Bücherverbrennung vernichtet wurden.
Franz Reichert, der von 1936 bis 1941 als Regisseur und Spielleiter in Bremen tätig war, schrieb später in seiner Autobiografie, dass die Spielstätte das „einzige Theater“ gewesen sei, in dem es „weder ein Hitler- noch ein Goebbelsportrait gegeben hat“. Das Leitungsduo beschrieb er folgendermaßen:
Reichert fügte außerdem an, dass man im Theater die „Nazis mit der Laterne suchen“ musste. Statt der Porträts der Machthaber fand sich im Foyer des Schauspielhauses das Gemälde Rote Pferde von Franz Marc, dessen Bilder die Nationalsozialisten zur Entarteten Kunst zählten.
Das Bremer Theater fungierte innerhalb der Stadt also als eine Art liberale Insel. Offeneren Widerstand wagten Ichon und Wiegand jedoch nicht und mussten zudem stets mit den politisch Verantwortlichen kooperieren, um die Selbstständigkeit zu sichern. So versuchte man sich durch offizielle Schreiben und Sympathiebekundungen anzubiedern. Insbesondere Wiegand besaß ein Talent der Täuschung, welches ihm hinter vorgehaltener Hand alsbald den Spitznamen „lebender Lügenbaron“ einbrachte. Dennoch wurde bereits ab Mai 1933 eine Überwachung der Aufführungen angeordnet, und in der sogenannten Begutachtungsliste der Spielzeit 1935/1936 war zu lesen:
Mit diesen Äußerungen versuchte man, die Leistungen des Theaters herabzusetzen und dieses zu verunglimpfen. Auch kamen ab und an Zweifel an Wiegands Linientreue auf. So hieß es in der Spielzeit 1936/1937 in einem internen Rundschreiben des Propagandaleiters des Partei-Gaus Weser-Ems:
Der Propagandaleiter wies ferner darauf hin, dass sich das Schauspielhaus grundsätzlich von den anderen Spielstätten in seinem Zuständigkeitsbereich unterscheide und auch „im Reich zu den Bühnen gezählt werde, denen es gestattet ist, einen reinen Unterhaltungsspielplan moderner Gesellschaftsstücke aufzuführen“.
Eine Schließung war wegen des hohen künstlerischen Niveaus und des guten Rufes des Hauses nicht möglich, zumal die Theaterleiter über starken Rückhalt in der Bremer Bevölkerung verfügten. Die Möglichkeit einer Verstaatlichung hätte sich lediglich im Falle von finanziellen Verlusten geboten, weshalb Wiegand und Ichon noch mehr bemüht waren, möglichst viele Zuschauer zu gewinnen und eine große Angebotsvielfalt zu gewährleisten, wovon durchschnittlich 26 Premieren pro Spielzeit zeugen. Die Verkaufserlöse blieben tatsächlich hoch und konstant. Dies war unter anderem der Tatsache geschuldet, dass die Besucherorganisation laut Reichert „so präzise wie ein kostbares Schweizer Uhrwerk“ funktionierte, zum anderen aber auch dem Umstand, dass die Gemeinschaft Kraft durch Freude ein Groß-Abonnement besaß.
Trotz der intern oppositionellen Haltung war es, um den Schein eines parteitreuen Hauses zu wahren, nötig, sich bei Zeiten in die nationalsozialistische Kulturlandschaft zu integrieren. So war das Theater beispielsweise während der Spielzeit 1936/1937 an der Gaukulturwoche des NSDAP-Gaus Weser-Ems beteiligt und Joseph Goebbels bezeichnete die „Wehrmachtsbetreuung des Schauspielhauses“ vor dem Hintergrund dessen, dass im Laufe der Jahre immer mehr Wehrmachtsangehörige zu den Zuschauern zählten, als „vorbildlich für das Reich“.
Johannes Wiegand starb nach 27 Jahren der gemeinsamen Intendanz am 7. Februar 1940 an einer Blutvergiftung. In den folgenden Jahren hielt sich das Theater zwar weiterhin unabhängig, doch während des Zweiten Weltkrieges standen anstatt neuerer Schauspielstücke vermehrt Klassiker und Lustspiele zur Ablenkung der Bevölkerung auf dem Spielplan. Ichon versuchte, die Spielstätte weiterhin liberal zu leiten und sich und das Haus nicht vereinnahmen zu lassen. Er stand den Nationalsozialisten noch ablehnender gegenüber als sein Kompagnon, besaß allerdings etwas weniger Täuschungsgeschick als dieser. Ichon verstarb am 19. Januar 1943. Die Umstände seines Todes konnten nie vollständig aufgeklärt werden. In seinem heimischen Studienzimmer erstickte er an Kohlenstoffmonoxid, das dem Ofen entströmte. Offiziellen Angaben zufolge handelte es sich um einen Defekt und somit um einen Unfall. Es wurden allerdings auch Mutmaßungen bezüglich eines möglichen Suizides geäußert. Hans Tannert, der nach Wiegands Tod vom Oberspielleiter zum Schauspieldirektor befördert worden war, folgte dem Gründer des Theaters nach und verfolgte noch für wenige Monate Ichons und Wiegands Idee. Die letzte in ihrem Sinne gehaltene Vorstellung fand am 25. Juni 1943 statt: Dargeboten wurde Fritz Peter Buchs Komödie Ein ganzer Kerl. In den 33 Jahren von 1910 bis 1943 hatte man am Schauspielhaus insgesamt mehr als 300 Uraufführungen gefeiert.
Knapp einen Monat später, am 1. August 1943 beurlaubten die politischen Machthaber Tannert und setzten Curt Gerdes als neuen Intendanten ein, den Leiter des seit 1933 so genannten Staatstheaters (vormals Stadttheater), der nun beide Posten in Personalunion besetzte. Gerdes verhielt sich linien- und parteikonform und ließ im Schauspielhaus noch neun Stücke aufführen, in der Mehrzahl Lustspiele. Ein Jahr nach seiner Amtsübernahme legte man das Schauspielhaus auf Anordnung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda mit dem Staatstheater zusammen und unterstellte es vollständig dessen Leitung. Die neue Spielzeit 1944/1945 sollte am 19. August 1944 feierlich eröffnet werden, doch am Vorabend wurde das Schauspielhaus durch Luftangriffe der Alliierten schwer beschädigt und am 1. September erging ein Reichserlass mit dem Befehl, alle Theater zu schließen. Am 6. Oktober kam es zu einem weiteren Luftangriff. Während diesem wurde das Staatstheater komplett zerstört. Das Schauspielhaus am Ostertor brannte ebenfalls nahezu bis auf die Grundmauern nieder.
Übergangslösungen (1945–1949)
Nach dem Zweiten Weltkrieg lag die Theaterlandschaft in Bremen keinesfalls brach. Bereits am 18. Mai 1945, zehn Tage nach Kriegsende, riefen ehemalige Mitglieder des Schauspielhauses und des Staatstheaters die Arbeitsgemeinschaft Bremer Bühnenkünstler ins Leben. Diese organisierte binnen weniger Wochen ein spielfähiges Schauspielensemble und bot kleine Aufführungen an unterschiedlichen Orten. Gemeinsam mit dem Kaufmann Franz Kruse gründete der vormals am Schauspielhaus beschäftigte Willy A. Kleinau eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, der die US-amerikanische Militärregierung das Concordia an der Schwachhauser Heerstraße als Spielstätte zuschlug.
Am 19. September 1945 inszenierte man dort Johann Wolfgang von Goethes Trauerspiel Stella. Ab Oktober wurden an dem kleinen Haus diverse Umbauarbeiten durchgeführt und die Bühnentechnik verbessert. Mit der Darbietung von Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise begann die Spielzeit 1945/1946, während der unter anderem Gert Westphal, Eberhard Fechner, Doris Schade, Ursula Noack, Ruth Leuwerik, Hans-Joachim Kulenkampff und Hans Hessling zum Ensemble gehörten. In den Folgemonaten stiegen die Besucherzahlen des Theaters stark an. Es diente vorwiegend dem Zeitvertreib und der Ablenkung von der täglichen Not und bot daher überwiegend amüsante Stücke heiteren und entspannenden Genres. Dennoch wurden auch einige Klassiker von Heinrich von Kleist, Friedrich Schiller und William Shakespeare auf die Bühne gebracht. Einer der Höhepunkte war die deutsche Erstaufführung des Stückes Die fremde Stadt von John Boynton Priestley. Der Eintrittspreis konnte auch in Naturalien an die Schauspieler bezahlt werden, oder aber in Kohlen, um den Zuschauerraum zu heizen. Im August 1946 setzten die US-Amerikaner Willy A. Kleinau ab und eine neue Theaterleitung ein.
Das Musiktheaterensemble gab unter der Leitung des früheren Baritons und Oberspielleiters Philipp Kraus ebenfalls seit 1945 Vorstellungen und zeigte in Bürgerhäusern, Kinos und in der Kunsthalle Ausschnitte aus bekannten Opern. Man trat auch auf Konzerten und Matineen auf. Ab dem 10. Dezember 1945 diente eine Turnhalle der Schule Delmestraße in der Neustadt als Spielstätte. Diese besaß neben einem Rang sogar kleine Logen und bot 580 Zuschauern Platz. Es mangelte allerdings an ausreichend Kostümen, Dekorationsfarbe, einem Orchestergraben und vollständiger Bühnentechnik. Als Leiter der neuen Opernhaus Bremen K.G. (später Bremer Oper GmbH) verpflichtete man Wolfgang Vogt-Vilseck. Bis Jahresende 1946 wurden 220 ausverkaufte Vorstellungen geboten und ab dem 6. November 1947 spielte das Musiktheaterensemble nach einer Genehmigung der Militärregierung im 1.259 Zuschauer fassenden großen Saal des Konzerthauses Die Glocke an der Domsheide. Aufgeführt wurde Fidelio, womit man symbolisch einen Bogen zur Vorkriegszeit schlagen wollte, da diese Oper Ludwig van Beethovens das letzte Stück gewesen war, das vor der Zerstörung im Staatstheater dargeboten worden war. Zur Jahreswende 1947/1948 besaß das Musiktheater 4550 Abonnenten und beschäftigte zwischen 220 und 250 Mitarbeiter. Theateroffizier der US-Militärregierung war bis Anfang 1949 Frederic Mellinger, der erfolglos selbst Regie führte.
Im Zuge der Währungsreform 1948 gerieten die Arbeitsgemeinschaft Bremer Bühnenkünstler und die Bremer Oper GmbH in wirtschaftliche Schwierigkeiten und die Besucherzahlen entwickelten sich rückläufig. Im Frühjahr 1949 spielte man die vorerst letzten Produktionen ab, beendete die Spielzeit vorzeitig und pausierte für mehrere Wochen.
Neuanfang (1949–1962)
Im selben Jahr gründete sich die Theater der Freien Hansestadt Bremen GmbH, in der die Arbeitsgemeinschaft Bremer Bühnenkünstler aufging. Die neue Gesellschaft mit der Stadt Bremen als alleinigen Gesellschafter machte es sich zum Ziel, in der Hansestadt wieder einen geregelten Theaterbetrieb aufzubauen. In den zwölfköpfigen Aufsichtsrat wurden zur Hälfte Arbeitgeber und zur Hälfte Arbeitnehmer gewählt und die privatrechtliche Form garantierte eine größere organisatorische Selbstständigkeit. Als neuer Intendant wurde Willi Hanke (1902–1954) verpflichtet und am 25. August 1949 schlossen sich die Kammerspiele Bremen, ein ebenfalls in den Nachkriegsjahren gegründetes Privattheater, der GmbH an. Nur zwei Tage später konnte am Standort des alten Schauspielhauses das Theater am Ostertor eingeweiht werden, der Neubau, der dem Theater nach knapp sechs Jahren auf provisorischen Bühnen nun als Hauptspielstätte dienen sollte. Mit der Angliederung der Bremer Oper G.m.b.H. am 28. Juni 1950 präsentierte sich das Theater Bremen wieder als vollständiger Kulturapparat.
Hanke besaß eine starke Affinität zum Musiktheater und engagierte zahlreiche berühmte Dirigenten, wie beispielsweise Karl Elmendorff (1891–1962). Er vertrat gemeinsam mit der Theaterleitung die Ansicht, dass ausschließlich anspruchsvolle Operndarbietungen die künstlerischen und technischen Möglichkeiten des neuen Hauses aufzeigen könnten, die noch ausgetestet werden müssten. Aus diesem Grunde orientierte er sich in der Regel an der künstlerischen Gesinnung und weniger an Illusionen und regeltreuen Prinzipien. So ließ er auch Werke von Richard Wagner inszenieren, obschon dieser, da bei den Nationalsozialisten beliebt, in der Nachkriegszeit verpönt war. Ein weiterer Höhepunkt in den ersten Jahren seiner Intendanz war die Aufführung von Mathis der Maler von Paul Hindemith. Mit seinem Konzept hatte Hanke großen Erfolg: In der Spielzeit 1950/1951 verzeichnete das Theater 398.615 Besucher und rund 8.000 Abonnenten. In den ausschließlich als Sprechbühne genutzten Kammerspielen, deren Räumlichkeiten als kleines Haus des Theaters fungierten, spielte man 250 Vorstellungen. Im November 1954 starb Hanke 52-jährig im Amt, kurz nachdem sein Vertrag um drei weitere Jahre verlängert worden war. Für die bereits durchgeplante Spielzeit 1954/1955 übernahm der Chefdramaturg und enge Vertraute Hankes Conrad Heinemann kommissarisch die Leitung, während in der Bremer Öffentlichkeit und in den Tageszeitungen Spekulationen bezüglich möglicher Nachfolger und einer eventuellen Intendantenkrise aufkamen. Zur Spielzeit 1955/1956 konnte jedoch Albert Lippert vom Deutschen Schauspielhaus in Hamburg als neuer Intendant gewonnen werden, an den auf Grund seiner Herkunft hohe Erwartungen geknüpft wurden.
Unter Lipperts Führung, speziell in seinen ersten Jahren, entwickelte sich das Theater entscheidend weiter und erreichte ein hohes künstlerisches Niveau. Als erstes bundesdeutsches Theater ging es eine Kooperation mit einer Bühne in der Deutschen Demokratischen Republik ein – mit dem Volkstheater Rostock. Diese bestand über mehrere Jahre und hatte ihren Nutzen unter anderem in zahlreichen gegenseitigen Gastspielen. Ein bedeutender Regisseur unter Lippert war Walter Jokisch, der sich in zahlreichen Produktionen hervortat. Gleichzeitig inszenierte der Intendant jedoch selbst viele Stücke und stand oftmals auch als Schauspieler auf der Bühne. Für seine künstlerischen Leistungen wurde er mehrheitlich mit großem Lob bedacht. Im Januar 1957 lud die Volksbühne Vertreter der Behörde Kunst und Wissenschaft, des Bauwesens, der Theaterleitung, der Gewerkschaften, des Kulturkartells sowie der Besucherorganisationen zu einem Treffen, um über die Notwendigkeit und Planung einer zweiten Großspielstätte zu diskutieren, da man die Ansicht vertrat, das Theater am Goetheplatz, wie es nun hieß, habe infolge des steten Besucherzuwachses die Grenzen seiner Kapazität erreicht. Man gründete einen Ausschuss, der dem Senat der Freien Hansestadt Bremen zu Beginn der Spielzeit 1958/1959 eine Denkschrift vorlegte, in der der Bau eines Theaters mit 800 Sitzplätzen auf einem Hügel in den Bremer Wallanlagen vorgeschlagen wurde. Man führte an, dass 330.000 Bremern in den 1920er-Jahren jeden Abend über 4000 Theaterplätze zur Verfügung gestanden hätten, wohingegen sich diese Zahl 1958 auf 1200 Plätze für 550.000 Einwohner verringert hätte. Des Weiteren gab man an, dass sich die Theaterleitung und die zugelassenen Besucherorganisationen aus diesem Grunde bereits gezwungen sehen würden, die Abonnements beziehungsweise Mitgliedsanrechte zu begrenzen und befürchtete, das kunst- und kulturinteressierte Publikum könne sich von Bremen abwenden. Die Befürworter eines weiteren Theaterbaus gaben an, das Vierspartentheater mit Schauspiel, Musiktheater, Operetten und Ballett sei lediglich mit dem Theater am Goetheplatz nicht mehr zu halten und man würde bereits zu wenig Schauspielpremieren anbieten. Die Kammerspiele seien bühnentechnisch nicht befriedigend, zumal die Verlage an dortigen Aufführungen wegen zu geringer Tantieme nicht interessiert seien.
Letztendlich verlief die Diskussion um ein neues Theater im Sande, obwohl das Theater Bremen im August 1960 die höchste Auslastung aller Theater in der Bundesrepublik Deutschland aufweisen konnte. Zu den Höhepunkten während Lipperts Intendanz zählte die Inszenierung von Dyskolos, einer erst 1956 entdeckten Komödie des altgriechischen Dichters Menander. In der Spielzeit 1960/1961 kam erstmals Kritik am Intendanten auf, als mehrere Tageszeitungen ihm vorwarfen, mit Alfred Stögmüller über einen Zeitraum von zwei Jahren einen unterdurchschnittlichen Regisseur engagiert zu haben und das angeblich ins Mittelmaß abrutschende Niveau des Theaters bemängelten. Hausintern wurde die Spielzeit dominiert vom Konflikt zwischen Albert Lippert und seinem kommissarischen Vorgänger, dem Chefdramaturgen Conrad Heinemann. Letzterer wurde in der Folge beurlaubt. Um weiterer Kritik und einer drohenden Entlassung zu entgehen, teilte Lippert dem Aufsichtsrat im Mai 1961 mit, seinen im Juli 1962 auslaufenden Vertrag nicht verlängern zu wollen, wofür er offiziell gesundheitliche Gründe angab.
Stadttheater von 1962 bis heute
Kurt Hübner (1962–1973)
Zur Spielzeit 1962/1963 warb der Aufsichtsrat Kurt Hübner vom Theater Ulm als neuen Intendanten ab. Der Hamburger brachte neue Ideen ein und revolutionierte den Theaterbetrieb in Bremen. Er kreierte gemeinsam mit persönlich engagierten Künstlern den so genannten „Bremer Stil“ (siehe Abschnitt Schauspiel) und führte das Theater zu internationaler Bekanntheit. Den Schwerpunkt seiner Arbeit legte er auf das Schauspiel, bezog aber auch das Musiktheater mit ein, sodass die Neuerungen auch auf dieses abfärbten. Die Traditionalisten unter den Theaterbesuchern nahmen diesen Wandel eher kritisch auf und die Abonnement- und Mitgliederzahlen entwickelten sich rückläufig, dafür wurden jedoch deutlich mehr junge Zuschauer ins Theater gelockt. Am 25. Mai 1968 kam es im Theater am Goetheplatz zu einem Eklat, als der Schauspieler Bruno Ganz die laufende Vorstellung der Operette Der Bettelstudent unterbrach und eine von 21 Mitgliedern des Theaters unterzeichnete politische Resolution gegen den Erlass der Notstandsgesetze verlas. Die Aktion löste großen Protest unter den Zuschauern aus, von denen zahlreiche den Zuschauerraum unter Buh- und Schmährufen verließen. Hübner missbilligte den Alleingang der Künstler auf das Schärfste und erklärte:
In einem die Urheberrechte betreffenden Rechtsstreit über eine Aufführung der Operette Maske in Blau vom Theater Bremen angestrengt gegen einen Berliner Bühnenverlag (Felix Bloch Erben) entschied der Bundesgerichtshof zuungunsten des Theaters. Der Regisseur Alfred Kirchner bezeichnete in der Folge das Urteil als groteske und einschneidende Beschränkung der künstlerischen Freiheit der Inszenierung.
1970 belebte Hübner den mittlerweile leer stehenden Bau des Concordia wieder und ließ ihn in der Folge zu einer kleinen, modernen Studio-Bühne umbauen. Ab dem 26. Januar 1971 wurde das Haus mit der Premiere von Yvonne, Prinzessin von Burgund eingeweiht und diente anschließend als Hausbühne des Bremer Tanztheaters unter Johann Kresnik, wurde aber auch vom Schauspiel genutzt und unter anderem häufig von Rainer Werner Fassbinder bespielt, der in Bremen vier seiner Stücke uraufführte: Das Kaffeehaus, Das brennende Dorf, Pioniere in Ingolstadt, Bremer Freiheit. Über den Zweck der Einrichtung des Concordia hieß es in einem zeitgenössischen Programmheft:
Die letzten Jahre der Intendanz Hübners waren geprägt von Kompetenz- und Vertragsstreitigkeiten mit dem sozialdemokratischen Kultursenator Moritz Thape, der dem Bremer Stil kritisch gegenüberstand. So teilte dieser dem Intendanten bereits zu Beginn der Spielzeit 1968/1969 mit, dass dessen Vertrag nicht verlängert werden sollte – eine Entscheidung, die er nach massiven Protesten der Bremer Kulturszene sowie großen Kundgebungen und Demonstrationen der politischen Jugend revidieren musste. Zu erneuten Auseinandersetzungen kam es in der Spielzeit 1970/1971, als Thape empfahl, Hübner zum 1. September 1972 zu entlassen, wogegen dieser klagte. Man einigte sich außergerichtlich und Hübner blieb im Amt. Die persönlichen Differenzen zwischen ihm und Thape traten nun immer deutlicher hervor. Hübner forderte freie Verfügungsgewalt über die für die Theaterarbeit notwendigen finanziellen Mittel. Thape verweigerte dies und erläuterte im Sommer 1971, vor der Eröffnung der Spielzeit 1971/1972, dass er nicht bereit sei, den Vertrag ein weiteres Mal zu verlängern. Hübner erfuhr weiterhin große Unterstützung in der Bevölkerung, vermochte sich aber nicht erneut durchzusetzen, sodass er nach der Spielzeit 1972/1973 aus seinem Amt ausschied. Dieser Umstand wurde von zahlreichen Kulturschaffenden kritisiert, zumal die Stadt Bremen zur gleichen Zeit in Imageanzeigen mit dem „Bremer Stil“ als werbeträchtigem Kulturprogramm warb. Insgesamt kamen in elf Jahren unter Hübner 166 Premieren zur Aufführung – 69 im Theater am Goetheplatz, 87 in den Kammerspielen und zehn im Concordia.
Peter Stoltzenberg (1973–1978)
Auf Hübner folgte Peter Stoltzenberg vom Theater der Stadt Heidelberg. Er baute ein nahezu komplett neues Ensemble auf, was sich schwierig gestaltete, da die talentierten und inzwischen weithin berühmten Schauspieler der Hübnerzeit abgeworben worden waren. Unter anderem gelang jedoch die Verpflichtung von Evelyn Hamann und Barbara Sukowa; letztere blieb allerdings lediglich für eine Spielzeit. Als eine seiner ersten Maßnahmen entwickelte Stoltzenberg die Theaterzeitung „Theater Kontakt“, um Besucher und Abonnenten über aktuelle Geschehnisse auf dem Laufenden zu halten und sie über den Spielplan und die Produktionshintergründe zu informieren. Trotz steigender Besucherzahlen sah sich der neue Intendant häufiger Kritik ausgesetzt, speziell in Bezug darauf, dass er nicht imstande sei, die Lücke zu schließen, die durch Hübners Weggang entstanden sei. Stoltzenberg zeigte sich vorwiegend werktreu und hatte mit diesem Konzept ebenfalls Erfolg: Das Tanz- sowie das Musiktheater erlebten eine Blüte und die Kammerspiele waren während nahezu jeder Vorstellung ausverkauft. Im Schauspiel dagegen verzeichnete man im Gegensatz zur vorherigen Intendanz einen deutlichen Abschwung. Die Kritiker erwarteten von Stoltzenberg, dass er das Niveau des „Bremer Stils“ aufrechterhalten könne, was aber ohne Hübner als Leitfigur unmöglich war. So experimentierte die Theaterleitung in dieser Sparte mit vielen Notlösungen, zahlreichen unterschiedlichen Regisseuren, und interimsweise übernahm Stoltzenberg sogar selbst die Schauspielleitung. 1975 engagierte der Intendant den ungarischen Schriftsteller und Regisseur George Tabori. Dessen erste Inszenierung in Bremen war im April 1976 die Tragödie Die Troerinnen von Euripides, die in einem Skandal endete, als während der Premiere über 200 Zuschauer bereits nach rund zehn Minuten den Saal verließen. Anschließend wurde speziell für Tabori mit dem „Theaterlabor“ im Concordia eine neue, experimentelle Bühne eingerichtet. Zehn Künstler, die Taboris Arbeitsweise bereits kannten, warb man nur für dieses Projekt an. Die Probenarbeiten gestalteten sich grundsätzlich anders als an den anderen Spielstätten. So wurde täglich bis zu zehn Stunden Gruppenarbeit praktiziert und darüber hinaus Körpertraining und Meditation. Diese Methoden führten dazu, dass beispielsweise die Proben zu Hamlet knapp sechs Monate in Anspruch nahmen. Insgesamt sollten im „Theaterlabor“, der prägenden Neuerung während Stoltzenbergs Intendanz, vier Stücke zur Aufführung kommen: Talkshow, Siegmunds Freude, Ein Hungerkünstler und Hamlet. Das erste gestaltete sich als Fehlstart, die anderen jedoch als große Publikumserfolge, und das „Theaterlabor“ gewann eine große Bedeutung für die weitere künstlerische Entwicklung Taboris. Dem Kultursenator Horst Werner Franke missfiel diese Art des Theaters jedoch, und er äußerte sich nach seinem Besuch einer Vorstellung von Siegmunds Freude mit dem berühmt gewordenen Ausspruch „Die Seelenkotze will ich nicht“.
Im Juni 1977 planten die Schauspieler im Vorfeld der Premiere von Ein Hungerkünstler 40 Tage unter ärztlicher Aufsicht zu fasten, was in der Bremer Bevölkerung kontrovers diskutiert wurde und von der Politik negativ aufgenommen wurde. Auf einer eigens einberufenen Senatssitzung wurde die Aktion untersagt. Bereits im November 1976 hatte der Aufsichtsrat des Theaters mit fünf zu vier Stimmen bei zwei Enthaltungen beschlossen, Stoltzenbergs Vertrag nicht zu verlängern. Man warf ihm einen Mangel an neuen Ideen und Konzepten vor, obschon die Kritiker dem Intendanten einen Aufwärtstrend bescheinigten. Mit Abschluss der Spielzeit 1977/1978 schied Peter Stoltzenberg aus dem Amt. Mit ihm verließen auch der mittlerweile deutschlandweit bekannte Choreograf Johann Kresnik und die Schauspielerin Andrea Breth das Theater. Auch Tabori ging; das „Theaterlabor“ wurde nach nur zwei Jahren geschlossen.
Arno Wüstenhöfer (1978–1985)
Der neue Intendant Arno Wüstenhöfer hatte als Generalintendant den Wuppertaler Bühnen zu überregionaler Bedeutung verholfen. Bereits in seiner ersten Spielzeit 1978/1979 hatte er nun auch großen Erfolg in Bremen. So erhielten zwei Schauspielproduktionen eine Einladung zum Berliner Theatertreffen, und 1979 kürte die Fachzeitschrift Theater heute das Bremer Theater zum „Theater des Jahres“. Wüstenhöfer verpflichtete die Tänzerin und Choreografin Reinhild Hoffmann und den Tänzer und Choreografen Gerhard Bohner als Direktoren des Bremer Tanztheaters und den Regisseur Frank-Patrick Steckel als Oberspielleiter für das Schauspiel. Hochklassiges Musiktheater, aber auch kulturpolitische und räumliche Schwierigkeiten prägten Wüstenhöfers Amtszeit. Das Theater am Goetheplatz wurde nahezu ausschließlich für Opern genutzt, und die Kammerspiele als ein sehr beengtes Haus waren den wachsenden Besucherzahlen und den zahlreichen Vorstellungen nicht mehr gewachsen.
Auf der Suche nach Ausweichspielstätten fand sich im Herbst 1978 der ehemalige Bremer Schlachthof, den man in ein Theater- und Kulturzentrum umbauen wollte. Noch vor dem offiziellen Intendantenwechsel hatte der Senat allerdings im Sommer den Abriss eines großen Teils der Gebäude beschlossen, sodass lediglich die Fleischmarkthalle und die Kesselhalle mit dem Hauptturm erhalten blieben. Trotzdem fand am 9. Dezember 1978 in der Fleischmarkthalle die Premiere von Die Krönung Richards III. von Hans Henny Jahnn in der Inszenierung Frank-Patrick Steckels statt. Das Stück wurde insgesamt 27 Mal aufgeführt, bevor auch die Fleischmarkthalle am 13. August 1980 zurückgebaut wurde. In der Folge weigerte sich das Schauspielensemble, weiterhin in den Kammerspielen aufzutreten und forderte eine Schauspieldirektion mit eigenem Etat. Dies kam einem Skandal in der Kulturlandschaft gleich, der dazu führte, dass die Wortführer gekündigt wurden, Steckel das Theater verließ und Wüstenhöfer seinen Rücktritt anbot. Wenige Monate später erließ der Senat eine Verordnung bezüglich einer über mehrere Spielzeiten verteilten Subventionskürzung über insgesamt 12 Mio. Mark, die zwangsläufig die Schließung einer Sparte bedeutet hätte. Aus diesem Grunde organisierte sich am 31. Oktober 1981 eine Großdemonstration „Gegen den Bremer Theatertod“ im Theater am Goetheplatz, an der neben den Ensembles aller Sparten sowie Besuchern unter anderem Claus Peymann und Bernhard Minetti mitwirkten. Bernhard Wicki, Peter Palitzsch, August Everding, Peter Zadek, Dieter Dorn, Ida Ehre und Kurt Hübner bekundeten schriftlich ihre Unterstützung. Die Demonstranten zogen anschließend vor das Rathaus und taten ihre Meinung kund. Nach Ablauf der Spielzeit 1980/1981 verließ ein Großteil des Leitungspersonals mit zahlreichen Ensemblemitgliedern das in Not geratene Theater und hinterließ somit eine nahezu brachliegende Schauspielsparte. In der darauf folgenden Saison schaffte es Wüstenhöfer, das Theater trotzdem sicher zu führen, indem er alle Abteilungen und alle Mitarbeiter einem strikten Sparkurs unterordnete und mehrere bekannte Gastspiele einlud, die von den Bremern positiv aufgenommen wurden.
In dieser Zeit etablierten sich für den Intendanten zwei Spitznamen: „Sparno“ für seinen geschickten Umgang mit den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln und „Sir Arno“ für seine edle, selbstkritische Art der Leitung, immer bemüht, seine Mitarbeiter vor Anfeindungen zu bewahren. Aus Altersgründen schied er nach Ende der Spielzeit 1984/1985 aus, konnte aber im November 1984 noch die Eröffnung des Neuen Schauspielhauses feiern, das die Kapazitätsprobleme des Theaters endgültig löste und dessen Errichtung er dem Senat als letztlichen Triumph abzuringen vermochte. Die Subventionskürzung wurde nie durchgesetzt und die Kammerspiele aufgelöst.
Tobias Richter (1985–1992)
Tobias Richter folgte auf Wüstenhöfer und war seinerzeit der jüngste Theaterleiter Deutschlands. Seine erste Spielzeit war von hausinternen Auseinandersetzungen mit dem Schauspielleiter Günter Krämer geprägt, der eine größere Autonomie seiner Sparte forderte und Protest gegen die geplanten Entlassungen einer Dramaturgin und des Hausregisseurs einlegte. Es bedurfte einer Schlichtung durch den Kultursenator, die eine Rücknahme der Kündigungen zur Folge hatte. Somit erlitt Richter bereits kurz nach Amtsantritt eine taktische Niederlage. Richter legte viel Wert auf die Förderung der Jugend und so fiel in seine Intendanz beispielsweise die Angliederung des Jugendtheaters MoKS als vierte Sparte im Jahre 1986 sowie die Gründung des Jugendclubs. Letztere Initiative ging zur Spielzeit 1986/1987 aus einem vorherigen Workshop hervor und feierte am 10. Januar 1987 ihre erste Premiere. Die Mitglieder des Jugendclubs fokussierten sich auf anarchistisches Theater und schufen in sieben Jahren 18 Produktionen. Richter konnte die in ihn gesetzten Erwartungen nicht zur Gänze erfüllen und beklagte sich vermehrt über mangelnden Rückhalt und fehlende Unterstützung – nach der Spielzeit 1991/1992 schied er aus dem Amt aus. Kritiker bescheinigten ihm im Nachhinein kontrastierend ein gutes Musiktheater, aber ein unterdurchschnittliches Schauspiel geschaffen zu haben.
Hansgünther Heyme (1992–1994)
Im Frühjahr 1991 verkündete der Aufsichtsrat des Theaters die Verpflichtung von Hansgünther Heyme als neuem Intendanten, der als schauspielorientiert und dem „Kampftheater“ zugeneigt galt. Man vereinbarte für seine Intendanz einen Jahresetat von 40 Mio. Deutschen Mark – ein Betrag, der laut Heyme sehr knapp kalkuliert war. Er erhielt laut eigener Aussagen allerdings weitere mündliche Zusagen von der SPD. Nach der Bürgerschaftswahl im Herbst 1991 verfielen die Versprechen jedoch, da die neue Ampelkoalition weitere Sparmaßnahmen beschloss. Die Ansprüche an Heymes Führung waren wesentlich höher als die Ergebnisse, obwohl es im Schauspiel einige bemerkenswerte Höhepunkte gab. Die Medien, die ihn zuvor noch hoch gepriesen hatten, wendeten sich mit der Zeit gegen ihn, da er ihrer Ansicht nach mehr mit seiner Person als mit dem Theater polarisierte. In der Spielzeit 1992/1993 drohte ein Defizit von knapp 750.000 Deutschen Mark, weshalb Heyme im März 1993 den Senat zunächst um die vorzeitige Auflösung seines Vertrages zum Ende der Spielzeit 1993/1994 bat und im Sommer 1993 noch vorzeitiger nach nur einjähriger Intendanz abtrat. Er blieb noch für ein Jahr Oberspielleiter des Schauspiels, während der Verwaltungsdirektor Rolf Rempe für die bereits durchgeplante Spielzeit 1993/1994 die Leitung übernahm. Diese gestaltete sich als problem- und emotionslos. Das Hauptziel war die Schadensbegrenzung und somit die Verminderung der Verluste. Als ein Mittel organisierte man zahlreiche Gastspiele und große Weihnachts- und Osterrevuen, die dem Theater zusätzliche Einnahmen bescherten.
Klaus Pierwoß (1994–2007)
Klaus Pierwoß übernahm die Intendanz zur Spielzeit 1994/1995 in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation. Die Zuschauerzahlen sanken und das Theater besaß innerhalb der Politik, aber auch Teilen der Bevölkerung wenig Rückhalt und Akzeptanz – nicht zuletzt auf Grund der zwei vorangegangenen turbulenten Spielzeiten. Der studierte Germanist und frühere Dramaturg stellte ein junges Ensemble zusammen und ließ im Oktober 1994 binnen 17 Tagen zehn Premieren feiern. Ein Jahr darauf, es konnten inzwischen elf Prozent mehr Zuschauer verzeichnet werden, stand er erstmals mit dem Bremer Senat im Konflikt um einen angemessenen Etat. Der Besucheranstieg war auch mehreren Werbeaktionen etwa mit Werder Bremen geschuldet, die die Bekanntheit der Kulturinstitution wieder erhöhten. Für die Spielzeit 1996/1997 vereinbarte man einen Jahresetat von 36,8 Mio. Mark; ebenfalls 1996 wurde erstmals der Kurt-Hübner-Preis für besondere Leistungen der Ensemblemitglieder verliehen. Das Ansehen des Bremer Theater stieg derweil wieder an. So bezeichnete die Zeitschrift Theater der Zeit das Haus als „Highlight des Nordens“, Theater heute schrieb „Klaus Pierwoß genießt den Aufwind, in den sein Haus nach den kulturpolitischen Stürmen der vergangenen Saison geraten ist. Er hat durch Leistung überzeugt“ und die Frankfurter Allgemeine Zeitung urteilte: „Pierwoß leitet eines der muntersten Theater Deutschlands“.
In der Spielzeit 1997/1998 beauftragte die Stadt Bremen die McKinsey & Company, Einsparmöglichkeiten im Haushalt aufzuzeigen. Die Unternehmensberatung kam zu dem Ergebnis, dass jährlich 6,5 Mio. Mark eingespart werden könnten. Diese Analyse führte zu massiven Protesten der Künstler, Pierwoß’ und des Deutschen Bühnenvereins. Letzterer gab drei Gegengutachten in Auftrag, die die Vorschläge McKinseys widerlegten. Letztlich distanzierte sich der Senat von dem von ihm in Auftrag gegebenen Gutachten und verlängerte den Vertrag des Intendanten bis 2004, dennoch kam es auch 1998/1999 erneut zu aggressiv geführten Debatten um den Jahresetat. Helmut Baumann inszenierte 1999/2000 das Musical La Cage aux Folles, das sich als unerwarteter Publikumserfolg erwies und Pierwoß veranlasste, in jeder seiner folgenden Spielzeiten ein von Baumann inszeniertes klassisches Musical in den Spielplan aufzunehmen. Während der Spielzeit 2002/2003 konnte das Theater am Goetheplatz auf Grund umfassender Umbaumaßnahmen nicht bespielt werden, sodass das Ensemble ins Musical Theater Bremen umzog. Die dortige Technik war zwar nicht für Musiktheaterproduktionen ausgelegt, doch mit einigen kleineren Schwierigkeiten gelang es, die Spielzeit zu überbrücken. Der Erfolg der Darbietungen während der Monate im Musicaltheater hatte auch Einfluss auf kulturpolitische Entscheidungen: Hatte Klaus Pierwoß noch im März 2003 ein Vertragsangebot des Senats als unangemessen abgelehnt, legte man ihm nun eine überarbeitete Version vor, welche er akzeptierte, sodass seine Intendanz bis 2007 verlängert wurde.
Die Spielzeit 2005/2006 entwickelte sich zu einer der kritischsten der jüngeren Geschichte des Theaters. Im September 2005 wurde der Geschäftsführer Lutz-Uwe Dünnwald fristlos entlassen. Die Schulden des Bremer Theaters waren durch die ständige Unterfinanzierung auf 4,8 Mio Euro angewachsen. Im Oktober stellte man die Auszahlung der Gehälter für die Mitarbeiter ein, und der Senat drohte der Theaterleitung mit der Insolvenz. Das Bremer Theater erhielt Solidaritätsbekundungen aus der gesamten Bundesrepublik, und die Mitarbeiter organisierten mehrere Großdemonstrationen. Diese führten dazu, dass der Senat schließlich 1,9 Mio. Euro gewährte, um die akuten Liquiditätsprobleme zu beheben. Zur Rettung des Theaters verzichtete die Belegschaft als Eigenbeitrag auf Weihnachts- und Urlaubsgeld. Dünnwald und Pierwoß mussten sich wegen Untreue und eingestandener Fehlkalkulationen vor Gericht verantworten, wurden aber wegen erwiesener Unschuld freigesprochen. Zum Ende der Intendanz von Klaus Pierwoß, zu deren glanzvollsten Spielzeiten viele Kritiker 2004/2005 und 2006/2007 zählten, war das Theater mit rund 6 Mio. Euro überschuldet. Der Trend zur Verschuldung hatte sich bereits Anfang der 1990er-Jahre abgezeichnet. Neben einigen selbst verursachten finanziellen Problemen wird die Hauptschuld für die schlechte wirtschaftliche Lage zumeist der Kulturpolitik des Landes Bremen angelastet. In den 13 Jahren seiner Intendanz sah sich Pierwoß insgesamt neun Kultursenatoren gegenüber: Helga Trüpel, Bringfriede Kahrs, Bernt Schulte, Hartmut Perschau, Kuno Böse, Hartmut Perschau (erneut), Thomas Röwekamp, Peter Gloystein und Jörg Kastendiek. Eine über längere Zeit konstante Subventionspolitik war somit nicht gegeben. Jeder Kultursenator entwarf eigene Konzepte und oftmals wurden bereits vom Vorgänger getätigte Zuschusszusagen noch während des laufenden Geschäftsjahres abgeändert oder gestrichen. Zur Spielzeit 2007/2008 endete die „Ära Pierwoß“.
Hans-Joachim Frey (2007–2010)
Zum Nachfolger von Pierwoß ernannte der Aufsichtsrat zur Spielzeit 2007/2008 den vormaligen Direktor der Dresdner Semperoper Hans-Joachim Frey. Er erhielt einen bis 2012 befristeten Vertrag und nannte als Zielsetzung eine bessere künstlerische Arbeit bei gleichzeitig weniger zur Verfügung stehenden Geldmitteln. Das Concordia wurde nun als eigene Spielstätte aufgegeben, der Name Bremer Theater in Theater Bremen geändert und ein neues Logo gestaltet. Das neue Theatersymbol ist den Bremer Stadtmusikanten nachempfunden und symbolisiert die vier übrigbleibenden Spielstätten des Theater Bremen (Theater am Goetheplatz, Schauspielhaus, Brauhauskeller und Moks). Ein Ziel seiner Amtszeit war die Neuaufstellung des Theaters als ganzheitliche Kulturmarke über die Bühne hinaus. Auf diese Weise sollte eine vermehrte Verflechtung mit der Wirtschaft und anderen Kultureinrichtungen ermöglicht werden. Während der Intendanz Frey ging das Theater Bremen eine Kooperation mit der Kulturkirche St. Stephani ein, die unter anderem so genannte Theaterpredigten zu bestimmten Stücken beinhaltet. Im Rangfoyer des Theater am Goetheplatz wurde die Theatergalerie Bremen etabliert, in der bisher unter anderen GABO, Armin Mueller-Stahl, Anna Thalbach, Christian Ludwig Attersee und Ai Weiwei Werke präsentierten. In Anerkennung dieser Neuerungen erhielt das Theater einige Preise und Auszeichnungen; unter anderem wurde den Verantwortlichen 2008 vom Marketing-Club Bremen der Bremer Preis für innovatives Marketing, das Highlight 2008, verliehen. Noch im Jahr 2007 gründete Frey darüber hinaus das Internationale Kultur Forum Theater Bremen (IKTB), dessen Vorsitzender er war. Dieser gemeinnützige Verein begleitete Produktionen, bündelte Sponsoren und bot Anlässe, um wirtschaftliche wie gesellschaftliche Gesamtzusammenhänge zu diskutieren.
Bereits zu Beginn seiner Amtszeit hatte Frey die Produktion des Musicals Marie Antoinette von Michael Kunze und Sylvester Levay angekündigt. Dieses wurde vom 30. Januar bis zum 31. Mai 2009 im Musicaltheater Bremen gegeben. Die Produktionskosten beliefen sich auf unerwartet hohe 5,8 Mio. Euro aus dem Etat des Bremer Theaters. Statt der erwarteten 120.000 Besucher kamen nur 90.000. Letztlich erbrachte das Stück 2,5 Mio. Euro Verlust, die Liquiditätslücke des Theater Bremen stieg auf insgesamt 4,8 Mio. Euro, was nach 2005 zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre die Gefahr einer Insolvenz bedeutete. Noch am 6. Mai 2009 hatte Frey Gerüchte über eventuelle finanzielle Probleme dementiert, ließ später allerdings verlautbaren, dass das Theater auf Zuschüsse zurückgreifen müsse, die für kommende Spielzeiten vorgesehen waren. Frey beklagte sich in der ersten Jahreshälfte 2009 über mangelnden Rückhalt der Politik und verwies darauf, bei Vertragsabschluss 2007 sei an ihn sogar von der Kulturbehörde der Wunsch nach risikoreichen Großprojekten herangetragen worden. Kulturstaatsrätin Carmen Emigholz kritisierte im Gegenzug, dass nur nach und nach das ganze Ausmaß der Verschuldung offenbart werde. Anfang Dezember beschloss die Kulturdeputation ein Rettungskonzept, dem zufolge die Stadt 3 Mio. Euro der Schulden sowie die Tarifsteigerungen für die Angestellten übernimmt und für laufende Kosten einen Kredit über 6,5 Mio. Euro gewährt. Im Zuge der politischen Auseinandersetzungen um das Konsolidierungskonzept bat Frey bereits im August 2009 – offiziell aus persönlichen Gründen – um eine vorzeitige Vertragsauflösung zum 1. August 2010.
Direktorium (2010–2012)
Ab der Spielzeit 2010/2011 übernahm ein fünfköpfiges Direktorium die künstlerische Leitung für die folgenden zwei Jahre. Es setzt sich aus den Spartenleitern Hans-Georg Wegner (Musiktheater), Marcel Klett (Schauspiel), Patricia Stöckemann (Tanz), Rebecca Hohmann (MoKS) sowie dem künstlerischen Betriebsdirektor Martin Wiebcke zusammen. Ähnlich wie in den Anfangsjahren des Hauses wird somit die künstlerische Verantwortung geteilt. Das Erscheinungsbild des Theaters wurde überarbeitet und modernisiert, das Logo blieb jedoch erhalten. Zur Stabilisierung der immer noch prekären Finanzlage sagte man die Opernaufführung auf der Seebühne im Sommer 2011 ab, nachdem die dortige Produktion 2010 defizitär verlaufen war. Auch eine zukünftige Fortführung der Seebühnennutzung wurde abgelehnt. Schwerpunkte der künstlerischen Arbeit sind die vermehrte spartenübergreifende Produktion und eine Ausrichtung auf ein junges Publikum. Als diese Absichten stützende Maßnahme wurde vom Direktorium ein deutlich reduzierter Einheitspreis für Schüler und Studenten eingeführt und unter der Schirmherrschaft des Bürgermeisters Jens Böhrnsen das Patenschaftsmodell „Klassen los!“ initiiert, das Mitgliedern ebendieser Zielgruppe aus strukturschwachen Bremer Stadtteilen kostenlosen Eintritt ins Theater ermöglichen soll. Die intensivierte Zusammenarbeit der vier Sparten zeigte sich in Koproduktionen zwischen Schauspiel und MoKS, Tanztheater und Schauspiel (Perpetuum mobile von Urs Dietrich), Tanztheater und MoKS/Junge Akteure (Herzrasen von Henrietta Horn). Das Direktorium kündigte an, die Kernkompetenzen eines Stadttheaters wieder erstarken zu lassen – die Vorstellungen und die Künstler sollen somit wieder alleiniges Zentrum der Theaterarbeit sein. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg war, dass das Schauspiel zu einem regulären Repertoirebetrieb zurückkehrte und die Verkleinerung der Bühne des Neuen Schauspielhauses, die im Zuge des Umbaus 2007 erfolgt war, rückgängig gemacht wurde.
Im Juli 2011 konnte das Theater veröffentlichen, dass die Spielzeit 2010/2011 wirtschaftlich ausgeglichen ist. Zum ersten Mal seit Jahren erwirtschaftete das Theater so wieder einen Überschuss, unberührt bleiben jedoch die Altschulden von ungefähr 4,5 Mio. Euro. Insgesamt besuchten in der Spielzeit 2010/2011 170.000 Zuschauer Vorstellungen des Theaters. Im September 2011 wurde bekannt, dass die Theaterleitung mit der Stadt Bremen einen „Kontrakt“ über die Finanzierung des Hauses bis Ende der Spielzeit 2017 geschlossen hat. Der Zuschuss für das Theater wurde in dieser Zeit auf 26 Mio. € jährlich festgeschrieben. Bürgermeister Jens Böhrnsen würdigte dieses Verhandlungsergebnis mit den Worten: „Bremen ist eine Kulturstadt, und mit diesem Schritt schaffen wir für die kommenden sechs Jahre Planungssicherheit und damit verlässliche Arbeitsbedingungen für unsere größte Kultureinrichtung.“
Das Theater Bremen, das Mitglied des Opernhausverbundes Opera Europa wurde, hatte in der Spielzeit 2008/2009 447 Mitarbeiter, darunter 89 Schauspieler, Sänger (inkl. Chor) und Tänzer.
Michael Börgerding (ab 2012/2013)
2010 gab die Aufsichtsratsvorsitzende und Kulturstaatsrätin Carmen Emigholz die Gremiumsentscheidung bekannt, als neuen Intendanten zur Spielzeit 2012/2013 den Leiter der Theaterakademie Hamburg / Hochschule für Musik und Theater und ehemaligen Chefdramaturgen des Thalia Theaters Michael Börgerding zu berufen.
Börgerding setzt auf zeitgenössisches Theater. In den folgenden Spielzeiten verzeichnet das Theater einen Zuschauerzuwachs und finanziell ausgeglichene Haushalte. Das Theater konnte um 2020/21 die übernommenen Schulden ausgleichen. 2020 verlängerte Börgerding zum zweiten Mal seinen Vertrag bis 2027.
Lage
Das Theater Bremen liegt östlich der Alt- und Innenstadt direkt außerhalb der Wallanlagen im Ortsteil Ostertor im Stadtteil Mitte. Der verschachtelte Gebäudekomplex besitzt eine repräsentative nördliche Front am Goetheplatz und nimmt gen Süden nahezu einen gesamten viertelkreisförmigen Straßenblock ein, gebildet durch den Ostertorwall und den Goetheplatz im Norden, die Mozartstraße im Osten und die Bleicherstraße, die direkt am Theater vom Goetheplatz abzweigt, im Bogen verläuft und südöstlich des Hauses auf die Mozartstraße trifft.
Zusammen mit den in unmittelbarer Nähe gelegenen Kunstmuseen Gerhard-Marcks-Haus und Wilhelm-Wagenfeld-Haus sowie der Villa Ichon, der Zentralbibliothek der Stadtbibliothek Bremen und der Kunsthalle bildet das Theater die sogenannte „Kulturmeile“, die durch ihre Lage als Bindeglied zwischen der Altstadt auf der einen und den alternativen, multikulturell geprägten Straßenzügen des „Viertels“ auf der anderen Seite fungiert. Über die am Ostertorsteinweg gelegene Haltestelle Theater am Goetheplatz, die von den Linien 2 und 3 der Bremer Straßenbahn bedient wird, ist das Theater Bremen an das öffentliche Nahverkehrsnetz der Stadt angeschlossen. Zudem liegt an der Bleicherstraße die Tiefgarage Ostertor/Kulturmeile der Brepark (Bremer Parkraumbewirtschaftungs- und Management-GmbH).
Sparten
Musiktheater
Das Musiktheater gehört schon seit langem zu den Stützen des Theater Bremen und existiert als zweitälteste Sparte nahezu seit dem Beginn. Das erste Musikstück wurde am 9. Mai 1917 aufgeführt. Es handelte sich um Walter Kollos Operette Die tolle Komteß. 1926 fand die Uraufführung der Oper Wozzeck des damaligen Generalmusikdirektors Manfred Gurlitt statt. Zum ersten überregionalen Erfolg nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Der Ring des Nibelungen, den der Intendant Albert Lippert selbst von Mai 1960 bis Juni 1961 mit Günther Schneider-Siemssen als Bühnenbildner inszenierte und der Beachtung in der gesamten Bundesrepublik fand.
Zwar war der „Bremer Stil“ während der Intendanz Kurt Hübners zwischen 1962 und 1973 vornehmlich schauspielorientiert, doch färbte er auch mehr oder minder stark auf das Musiktheater ab, was sich an modernen und alternativen Inszenierungen und dem langsamen Wandel von der Kulissenbühne zur Sinnbildbühne zeigte. Erstmals entsprachen die Opernaufführungen nun nicht mehr ausschließlich dem Willen der Autoren, sondern dienten den Regisseuren dazu, ihre eigenen persönlichen Ansichten und Ideen auf die Bühne zu bringen. Einer von ihnen war Götz Friedrich, der sehr oft Gast am Theater war. Hübner versuchte speziell in der zweiten Hälfte seiner Intendanz, Bühnenbildner und Ausstatter des Schauspiels auch für das Musiktheater zu gewinnen und hatte damit etwa bei Wilfried Minks, Karl-Ernst Herrmann und Manfred Miller Erfolg. Auch die Theaterzuschauer änderten ihr Verhalten. Hatten sie bislang ruhig und kritiklos die Darbietungen verfolgt, erhoben sich nun bei missliebigen Produktionen vermehrt lautstarke Proteste, wie sie im Schauspiel bereits üblich waren. Einen deutlichen Bruch gab es während der Hübner-Zeit bei den Operetten, die mehr und mehr von Musical wie My Fair Lady, Guys and Dolls, Show Boat und Küß mich, Kätchen!, der deutschen Version von Kiss Me, Kate aus den Spielplänen verdrängt wurden.
Während der Spielzeit 1973/1974, der ersten unter dem neuen Generalintendanten Peter Stoltzenberg, beinhaltete der Spielplan erstmals mehr Musiktheaterdarbietungen als Schauspielproduktionen: Sechs Opernpremieren standen fünf in der Schauspielsparte gegenüber. Als neuer Oberspielleiter des Musiktheaters konnte Peter Brenner gewonnen werden, der sich dem Prinzip der Werktreue – er selbst sprach von Werkgerechtigkeit – verschrieben hatte, die zu jener Zeit eine Renaissance erlebte. In Stoltzenbergs fünf Jahren führten nur insgesamt fünf verschiedene Regisseure Opernregie. Die Spielpläne wiesen neben dem üblichen Repertoire nur wenige Novitäten auf. Zu diesen zählte beispielsweise Der Mond geht auf über Irland des britischen Komponisten Nicholas Maw in der Regie von Hubertus Moeller, die jedoch sehr verhalten aufgenommen wurde.
Einen großen Stellenwert nahm diese Sparte unter dem Intendanten Arno Wüstenhöfer ein. Gemeinsam mit Peter Brenner und dem Generalmusikdirektor Peter Schneider bemühte er sich um Aufführungen von überregionaler Strahlkraft und verpflichtete aus diesem Grunde neben bereits prominenten Darstellern auch zahlreiche bekannte Regisseure wie András Fricsay, Hans Korte, Horst Bonnet, Johannes Schaaf und Jean-Claude Auvray. Diese inszenierten mehrheitlich zeitlose Klassiker wie Aida, Die Entführung aus dem Serail und Eugen Onegin, hatten damit aber nicht immer Erfolg. So sah sich beispielsweise Auvray für seine Aida in der Kritik, da er die Figur des Radames mit Giuseppe Verdi gleichgesetzt hatte. Wüstenhöfer förderte auch den Regienachwuchs und gewährte den jungen Talenten zahlreiche Premieren. Er zeigte sich auch zeitgenössischen Werken wie der von Gottfried von Einem komponierten Opernfassung von Georg Büchners Schauspiel Dantons Tod gegenüber aufgeschlossen. Während seiner Intendanz rückte der englische Komponist Peter Maxwell Davies ins Blickfeld des Interesses, von dem drei Opern zur Aufführung gebracht wurden – eine im Theater am Goetheplatz, eine im Concordia und eine in der Liebfrauenkirche in der Altstadt.
Tobias Richter besaß seine künstlerischen Wurzeln im Musiktheater und legte daher auch in Bremen seinen Fokus auf diese Sparte. Anders als manch anderer Intendant zeichnete er auch selbst als Regisseur verantwortlich. Seine Inszenierungen zu Beginn seiner Intendanz erwiesen sich allerdings als Misserfolge, was ihn zu der Erklärung veranlasste:
Durch die Entscheidung, bessere Regisseure als sich selbst zu dulden, trug er zur Stärkung der Sparte bei. So verpflichtete er beispielsweise für einzelne Produktionen international bekannte Regisseure, aber unter anderem auch Jörg Immendorff als Bühnen- und Kostümbildner. Während der Spielzeit 1989/1990, in der das Theater am Goetheplatz umgebaut wurde, war man gezwungen, auf Außenspielorte auszuweichen. Die größte Aufführung in jener Zeit war Palestrina von Hans Pfitzner, die Richter in der Liebfrauenkirche zur Aufführung brachte und die von den Kritikern hochgelobt wurde.
Während der Intendanz Klaus Pierwoß’ bot man sehr solide Opernaufführungen. Als einige der Höhepunkte dieser Zeit gelten zwei Produktionen der Spielzeit 1996/1997: Carmen in der Inszenierung von Karin Beier sowie Macbeth von David Mouchtar-Samorai. Letztere erhielt im Jahre 1997 den Bayerischen Theaterpreis in der Kategorie Oper. Zum Skandal entwickelte sich dagegen 1997/1998 der von Johann Kresnik inszenierte Fidelio in den Fabrikhallen des kurz zuvor aufgelösten Bremer Vulkan. Der Regisseur stellte die Figur des Florestan als einen dem Alkohol verfallenen Trinker dar, was Unmut und Missfallen sowohl bei zahlreichen Abonnenten aber auch bei Mitgliedern des Chores und des Orchesters hervorrief. Auch der Dirigent stand in Opposition zu Kresnik. Letztlich ging das Theater aber gestärkt aus der Kontroverse hervor – man hatte neue Publikumskreise hinzugewonnen und stand weiterhin im Fokus der Öffentlichkeit. Am Ende der letzten Spielzeit von Klaus Pierwoß zeichnete die Fachzeitschrift Opernwelt die Oper Bremen gemeinsam mit der Komischen Oper Berlin als „Opernhaus des Jahres“ aus.
Unter dem Generalintendanten Hans-Joachim Frey lag das Hauptaugenmerk der Spielpläne auf dem Musiktheater. Für einzelne Inszenierungen konnten unter anderem so bekannte Persönlichkeiten wie Katharina Wagner, Peter Ruzicka, Christian Ludwig Attersee und Ai Weiwei als Regisseure und Ausstatter verpflichtet werden. An der Waterfront Bremen errichtete das Theater die Seebühne Bremen mit 2.500 Sitzplätzen, deren Kapazität später noch gesteigert wurde. Dort führte man 2008 Der Fliegende Holländer von Richard Wagner, 2009 Aida von Giuseppe Verdi und 2010 Turandot von Giacomo Puccini auf. Letztere Produktion, die letzte von Frey in Bremen, verzeichnete jedoch 8.000 Besucher weniger als die Vorherigen und in der Folge ein Defizit von geschätzten 300.000 Euro. Die Stadt strich ihre Zuschüsse und dem Aufsichtsrat des Theaters wurde angeraten, sich zumindest für das Jahr 2011 aus dem Projekt zurückzuziehen. Weitere Nutzungsmöglichkeiten sollen erörtert werden.
Dekadenübergreifend betrachtet befand sich das Musiktheater am Theater Bremen oftmals auf hohem nationalen Niveau, was vor allem innovativen Inszenierungen sowie hochklassigen Generalmusikdirektoren und musikalischen Leitern geschuldet war. Auf Grund des vergleichsweise kleinen Ensembles, veränderter Ambitionen der zuständigen künstlerischen Leiter und der stets kritischen Finanzlage entwickelte sich jedoch nur selten eine längerfristige Kontinuität. Die im Nachhinein wohl bekannteste Sängerin des Theater Bremen war die in späteren Jahren weltberühmte Sopranistin Montserrat Caballé, welche von 1959 bis 1962 für drei Spielzeiten dem Bremer Musiktheatersensemble angehörte.
Unter der Intendanz von Michael Börgerding übernahm Benedikt von Peter als leitender Regisseur die Sparte Musiktheater in den Spielzeiten 2012/13 – 2014/15. Für seine Regiearbeiten und das Opernprogramm in Bremen wurde von Peter 2015 mit dem Kurt-Hübner-Preis ausgezeichnet. Im November 2014 wurde er zum Intendanten des Luzerner Theaters berufen und wechselte zur Spielzeit 2016/17 dorthin. Die Zeitschrift Die deutsche Bühne schrieb über seine Zeit am Theater Bremen, er habe die Oper dort „zu einem Zentrum zeitgenössischer Musiktheaterforschung“ gemacht. Die Spartenleitung 2015/16 übernahm Ingo Gerlach, der bereits seit 2012 als leitender Dramaturg im Musiktheater zum Team gehörte. Markus Poschner, seit 2007 Generalmusikdirektor der Bremer Philharmoniker und als solcher ebenfalls am Theater Bremen, blieb bis 2017 in seiner Position, 2017/18 folgte Yoel Gamzou als Musikdirektor.
Ab 2018/19 übernahmen Gamzou als Generalmusikdirektor des Theater Bremen und Brigitte Heusinger als leitende Dramaturgin die Leitung der Sparte. Seit Beginn der Intendanz von Michael Börgerding führen im Musiktheater unter anderem Tatjana Gürbaca, Paul-Georg Dittrich, Marco Štorman, Anna Sophie Mahler, Michael Talke, Frank Hilbrich, Tom Ryser und Armin Petras regelmäßig Regie. Nach mehrfachen Nominierungen für den deutschen Theaterpreis DER FAUST von Paul-Georg Dittrich 2016 für seinen Bremer Wozzeck und 2017 für La Damnation de Faust als beste Regie im Musiktheater und Nadine Lehner als beste Sängerdarstellerin im Parsifal 2017, bekam 2020 Patrick Zielke für seinen Baron Ochs in der Inszenierung Der Rosenkavalier (Musikalische Leitung Yoel Gamzou / Regie Frank Hilbrich) den deutschen Theaterpreis DER FAUST verliehen.
Ab der Spielzeit 2022/23 werden Brigitte Heusinger und Frank Hilbrich als leitender Regisseur die Sparte führen.
Schauspiel
Als älteste Sparte des Theater Bremen fungiert das Schauspiel. Bis 1917 führte man ausschließlich Schauspielstücke auf. Zur Mitte der 1910er-Jahre, offiziell im Oktober 1915, wurde der sogenannte „Nordländer-Zyklus“ eingeleitet. In dessen Verlauf über mehrere Spielzeiten bis etwa 1919 kamen in rascher Folge zahlreiche Werke skandinavischer Autoren wie beispielsweise Henrik Ibsen, August Strindberg und Bjørnstjerne Bjørnson zu Aufführung. Während der Zeit ihrer Leitung zeichneten Ichon und Wiegand selbst oftmals als Regisseure verantwortlich, und speziell Wiegand inszenierte auch eigene Stücke. Diese wurden von den Besuchern äußerst positiv aufgenommen. Anfang der 1920er-Jahre kristallisierte sich eine Strömung heraus, die der anderer deutschen Theater widersprach: Das Schauspiel sollte das Seelenleben der Rollen anschaulich zeigen und die Oberfläche durchdringen. Auf diese Art und Weise sollte sich der Zuschauer in seiner eigenen Widersprüchlichkeit erkennen.
Als die Glanzzeit des Bremer Schauspiels wird gemeinhin die Intendanz Kurt Hübners in den Jahren 1962 bis 1973 bezeichnet. Der gebürtige Hamburger baute ein sehr junges Ensemble zum Großteil noch unbekannter Künstler auf und legte den Schwerpunkt seiner Arbeit explizit auf das Schauspiel. Als prägende Persönlichkeiten jener Zeit agierten die Regisseure Klaus Michael Grüber, Peter Stein und Rainer Werner Fassbinder, der Schauspieldirektor Peter Zadek, der Oberspielleiter Rolf Becker und der Bühnenbildner Wilfried Minks. Letzterer weigerte sich, sich in der Gestaltung der Bühne weiterhin blind an den Tendenzen der Regisseure zu orientieren, und entwickelte eigene Theaterräume. Anfangs führte diese Eigenmächtigkeit zu mehreren Konflikten mit Hübner, bis dieser erkannte, dass ebendiese Gegenüberstellung den Stücken eine besondere Note verlieh. Die Aufführungen waren oftmals sehr frei interpretiert, modern ausgelegt oder gar avantgardistisch und spiegelten das jugendlich-revolutionäre Lebensgefühl der 1960er-Jahre wider. Binnen kurzer Zeit avancierte das Bremer Theater zu einer der innovativsten Schauspielbühnen Europas, zum Versuchslabor der bundesdeutschen Theaterszene und zu einem Sammelbecken junger Talente. Der Begriff des „Bremer Stils“ wurde geprägt. Hübner ging Wagnisse ein, probierte stets neue Darstellungsweisen aus, spielte an unterschiedlichen Orten innerhalb der Stadt und provozierte und spaltete auf diesem Wege das Publikum. Sowohl für Zuschauer als auch für Künstler waren die Veränderungen völlig neue Erfahrungen, mit denen man zunächst einmal umzugehen lernen musste. Zu den damals aktiven Schauspielern zählten unter anderem Hannelore Hoger, Vadim Glowna, Jutta Lampe, Edith Clever, Sabine Andreas, Michael König, Werner Rehm und Bruno Ganz. Die bemerkenswerteste und prägendste Aufführung unter Hübner war während der Spielzeit 1965/1966 Die Räuber von Friedrich Schiller in der Regie Peter Zadeks: Die Kostüme waren bis zur Unkenntlichkeit abstrahiert, ein Comicstrip von Roy Lichtenstein diente als Bühnenbild und man verwendete literweise Theaterblut. Einen schweren Rückschlag musste Hübner im Juni 1969 verkraften, als Peter Stein mit einem Großteil des Ensembles, darunter Andreas, Clever, Lampe, Ganz, Rehm und König, das Theater verließ. Diese Gruppe hatte in der vorherigen Spielzeit 1968/1969 Goethes Torquato Tasso auf die Bühne gebracht und sich während des Gastspiels beim Berliner Theatertreffen ideologisch von Bremen entfernt. Der „Bremer Stil“ endete 1973 mit dem Vertragsende Hübners, und Hoger äußerte sich rückblickend über ihr Engagement:
Hübner dagegen relativierte in mehreren Interviews und mit dem bekannt gewordenen Zitat „Das bemerkenswerte am Bremer Stil war, dass es ihn überhaupt nicht gab“ die oftmals verwendete Bezeichnung.
Als Schauspielleiter unter Tobias Richter fungierte Günter Krämer, der ein intellektuelles Theater favorisierte und umzusetzen versuchte. 1988/1989 kam es zu einer überraschenden Rückkehr Kurt Hübners, der sich als Regisseur betätigte und Der Kaufmann von Venedig inszenierte. Zum Ende der gleichen Spielzeit verließ Krämer auf Grund persönlicher Differenzen mit Richter das Theater und warb zahlreiche Ensemblemitglieder ab. Sein Nachfolger wurde András Fricsay, in den man nicht zuletzt wegen seiner bisherigen Opern- und Schauspielproduktionen am Hause hohe Erwartungen setzte. Diese vermochte er jedoch nicht sogleich zu erfüllen. Als schillernde Persönlichkeit hatte er mehrere Aufsehen erregende Arbeiten, denen aber auch mehrere Misserfolge gegenüberstanden. Er beklagte sich über organisatorische Probleme und verließ gemeinsam mit Richter 1992 das Bremer Theater. Als Übergangslösung erwies sich Hansgünther Heyme, der als Generalintendant zwar nach nur einer Spielzeit zurücktrat, sich in den anschließenden zwölf Monaten aber als Schauspieldirektor betätigte und mit einigen gut aufgenommenen, soliden Werken aus der Hansestadt verabschiedete.
Auch Klaus Pierwoß richtete sein Hauptaugenmerk auf das Schauspiel und schuf ein talentiertes Ensemble. Der erste überregional beachtete Erfolg seiner Intendanz war Die Dreigroschenoper in der Regie von Andrej Woron und der 1995/1996 von Christina Friedrich inszenierte Woyzeck mit einem als herausragend gelobten Max Hopp in der Hauptrolle bildete einen der Höhepunkte der Jahre in Bremen. Darüber hinaus sorgten auch drei Produktionen von Johann Kresnik für große Aufmerksamkeit. So führte dieser in der Spielzeit 1998/1999 Die letzten Tage der Menschheit im dunklen und feuchten U-Boot-Bunker Valentin auf, einer Spielstätte, die sowohl für Zuschauer als auch für die Künstler äußerst ungewohnt war. Von den Kritikern wurde das Stück äußerst positiv aufgenommen. Fünf Jahre darauf inszenierte Kresnik am 22. Januar 2004 in der Friedenskirche sein eigenes Werk Die Zehn Gebote mit Günther Kaufmann. Als Spielstätte war zunächst der Bremer Dom vorgesehen, dessen Verantwortliche das Angebot aber nach massiven Protesten aus der Bevölkerung und durch die Boulevardmedien – wegen angeblicher obszöner Darstellungen – zurückzogen. Auch die Aufführungen in der Friedenskirche verliefen nicht problemlos: Auf das Haus einer Pastorin der Kirche wurde ein Anschlag mit einem Molotowcocktail verübt – dem allerdings keine direkte Verbindung zu dem Theaterwerk zugeschrieben werden konnte. In der Spielzeit 2006/2007 bediente sich Kresnik des Güterbahnhofs Bremen als Aufführungsort für das Stück Amerika mit einem Libretto von Christoph Klimke nach dem gleichnamigen Romanfragment von Franz Kafka. Noch während der Proben brach allerdings ein Wassergraben und mehrere tausend Liter Wasser fluteten die Szenerie und beschädigten auch das angrenzende Musiker-Atelier. Kresnik machte aus der Not eine Tugend und integrierte die Trümmer kurzerhand in sein Bühnenbild.
Mit Beginn der Intendanz von Hans-Joachim Frey verschob sich der Schwerpunkt des Hauses in Richtung Musiktheater. Das Anfangs von einer Doppelspitze geleitete Schauspiel (Marcel Klett und Christian Pade) hatte es zunächst schwer, sich zu behaupten, zumal Frey das Ensemble auf 18 Schauspieler deutlich verkleinerte. Im Laufe der Spielzeit 2007/2008 gelang es, diese Probleme zu lösen und unter anderem mit Die heilige Johanna der Schlachthöfe in der Regie Frank-Patrick Steckels und Robert Schusters Inszenierung der Bakchen von Raoul Schrott nach der Tragödie von Euripides wurden künstlerisch äußerst hochwertige Produktionen realisiert. Die taz urteilte über Bakchen: „Besseres Schauspiel war im Bremer Theater seit Jahren nicht zu sehen.“ Trotzdem waren die Veränderungen im Vergleich zur Pierwoß-Zeit so massiv, dass am Ende der Spielzeit in einer Umfrage der Fachzeitschrift Die Deutsche Bühne das Schauspiel Bremen als „Ärgernis des Jahres“ von einem Kritiker genannt wurde. Insbesondere die Inszenierungen Christian Pades fanden in Bremen zu wenig Publikum. Zu Beginn der Spielzeit 2008/2009 gab der Hausregisseur bekannt, dass er nach Ablauf der Spielzeit nicht mehr zur Verfügung stehen würde. Die alleinige Leitung der Sparte ging an den Dramaturgen Marcel Klett über. Die Schwerpunktverschiebungen Freys zu Lasten des Schauspiels wurden kritisiert. Es gelang Marcel Klett jedoch mit den Regisseuren Robert Schuster, Hanna Rudolph, Alice Buddeberg, Sebastian Schug, Markus Heinzelmann, Herbert Fritsch und Volker Lösch eine ganze Reihe von Regisseuren zu verpflichten, die vor allem an größeren Theatern arbeiten, so konnte die Qualität der Inszenierungen bewahrt werden. Volker Löschs Bremer Inszenierung von Schillers Die Räuber wurde durch das online-Magazin Nachtkritik.de zu einer der zehn besten Inszenierungen deutschsprachiger Theater im Jahr 2010 gewählt. Ästhetisch wurde der Versuch unternommen, das Bremer Schauspiel wieder für Tendenzen des Gegenwartstheaters zu öffnen – mit der Ausnahme der Inszenierungen von Frank-Patrick Steckel, die offensichtlich eine Brücke für das Pierwoß-Publikum darstellen sollten.
Die Reaktionen die ersten Premieren der intendanzlosen Spielzeit 2010/2011 waren dann mehrheitlich positiv: „Das war mehr als ein Spielzeitauftakt, das war eine Demonstration! Das Bremer Schauspiel lange geschunden und vielfach gescholten, meldet sich triumphal zurück“, schrieb der in Bremen ansässige Weserkurier über Robert Schusters Inszenierung von Shakespeares Komödie Was ihr wollt. Und über Ibsens Ein Volksfeind desselben Regisseurs urteilte der Deutschlandfunk: „Mit Aufführungen wie dieser meldet sich das Schauspiel zurück im Kreis der wichtigen deutschen Theater.“ Besonders interessant waren die Reaktionen auf Herbert Fritschs Interpretation der Nibelungen. Die Produktion polarisierte die Kritiker, strikte Ablehnung auf der einen Seite (Weser-Kurier), euphorische Zustimmung auf der anderen (taz).
2012/13 bis 2015 war Benjamin von Blomberg Chefdramaturg und Leiter der Schauspielsparte. Alexander Riemenschneider und Felix Rothenhäusler wurden Hausregisseure. Seit 2016/17 ist Alize Zandwijk leitende Regisseurin, regelmäßig Regie führen am Theater Bremen aber auch u. a. Dušan David Pařízek, Alexander Giesche, Frank Abt und Klaus Schumacher. Gintersdorfer/Klaßen waren gleich zu Beginn als Artists in Residence am Schauspiel angegliedert und sind ihm bis heute mit regelmäßigen Produktionen verbunden.
Die Leitung des Schauspiels übernahmen 2015/16 Börgerding und als leitende Dramaturgin Simone Sterr, ab 2016/17 Sterr und Zandwijk. Sterr setzte wie Blomberg auf zeitgenössisches Theater und die Entdeckung neuer Texte. Mit Thomas Melles Ännie und Arbeiten der Hausautoren Akın Emanuel Şipal und Armin Petras brachte sie mehrere Uraufführungen in den Spielplan ein. Mit Zandwijks Inszenierung von Storms Der Schimmelreiter wurde das Theater Bremen für das Berliner Theatertreffen 2019 nominiert. 2018/19 kam Armin Petras als Hausautor und Hausregisseur ans Theater Bremen, er inszeniert sowohl im Musiktheater als auch im Schauspiel, wo er mit Love you, Dragonfly, düsterer spatz am meer / (hybrid) america und Milchwald bisher drei der Stücke seines Alter Egos Fritz Kater zur Uraufführung brachte. Zur Spielzeit 2020/21 wechselte Sterr als geschäftsführende Dramaturgin ans Theater Oberhausen, seit der Spielzeit 2022 ist sie Intendantin am Theater Gießen. Seit 2020/21 ist Stefan Bläske, bis 2020 Dramaturg am NTGent, leitender Schauspieldramaturg am Theater.
Um 2021 umfasste das Schauspiel-Ensemble 20 Personen.
Tanz
In der Spielzeit 1951/52 war mit Carl Orffs Carmina Burana in der Choreographie Herbert Junkers wurde erstmals ein Tanzstück aufgeführt. Anfangs wurde lediglich Ballett dargeboten und es war üblich, vor den jeweiligen Vorführungen Musikkomödien zu spielen. Dies änderte sich erst 1955, als Albert Libbert zu Beginn seiner Intendanz den damals erst neunundzwanzigjährigen Renzo Raiss als Ballettmeister verpflichtete und begann, das Ballett stärker zu fördern. Das Ensemble wurde – unter anderem durch das Engagement von acht US-Amerikanern – massiv aufgestockt und nun spielte man auch abendfüllende Choreographien.
1965 verpflichtete Kurt Hübner den zuvor in Hannover engagierten US-Amerikaner Richard Adama als Ballettdirektor. Adama konzentrierte sich auf das Genre der Klassik und hatte damit Erfolg. In der Spielzeit 1968/1969 folgte der zuvor in Köln tätige Tänzer und Jungchoreograph Johann Kresnik Adama nach. Kresnik revolutionierte das Tanztheater in der Hansestadt und inszenierte zahlreiche moderne Stücke mit innovativen Choreografien, Handlungen, Themen und Bühnenbildern. Während seine ersten Werke wenig Anklang fanden, hatte er mit seinen späteren Produktionen ab 1970 großen Erfolg – sowohl überregional, national, wie auch international. Das Bremer Theater entwickelte sich, ähnlich wie bereits in der Sparte Schauspiel, zu einem künstlerischen Experimentierlabor, welches die Tanztheater in der gesamten Bundesrepublik beeinflusste. Ab 1973 hatten Kresniks Stücke nahezu im Jahresabstand Premiere und wurden immer in den Tagen um den 20. Januar uraufgeführt. 1978 verließen Kresnik und Intendant Peter Stoltzenberg Bremen. In den folgenden Jahren wurde das Tanztheater maßgeblich von den neuen Ballettdirektoren Gerhard Bohner und Reinhild Hoffmann bestimmt, die die Sparte Anfang der 1980er-Jahre von Ballett des Theaters der Freien Hansestadt Bremen in Tanztheater Bremen umbenannten, nach dem Vorbild der Tanztheater in Darmstadt und Wuppertal und unter dem Gesichtspunkt, dass in Bremen seit 1968 kein einziges Ballettstück mehr aufgeführt worden war. Ab der Spielzeit 1981/1982 zeichnete Hoffmann als alleinige Leiterin verantwortlich. Nach fünf Jahren lief ihr Vertrag aus und sie wurde zu Beginn der Saison 1986/87 von Heidrun Vielhauer und Rotraut de Neve abgelöst. Diese vermochten jedoch nicht, das Tanztheater künstlerisch prägend zu gestalten und sahen sich daher vermehrt im Zentrum der öffentlichen Kritik. Aus diesem Grunde organisierte man 1989/1990 die sporadische Rückkehr von Johann Kresnik, der bereits in der ersten Spielzeit seines erneuten Engagements das Stück Ulrike Meinhof inszenierte und damit einen der Höhepunkte des Tanztheaters schuf. Die Produktion erhielt unter anderem den Theaterpreis Berlin.
Ab 1994 war der Schweizer Urs Dietrich die zentrale Gestalt des Tanztheater Bremen. In der Spielzeit 1996/1997 brachte er seine Choreographie Do re mi fa so Latitod auf die Bühne, die die Frankfurter Allgemeine Zeitung als einen „der Höhepunkte der Tanzspielzeit, nicht nur in Deutschland“ betrachtete. 2000 übernahm Dietrich nach sechs Jahren die Leitung der Sparte von Susanne Linke. Zur Spielzeit 2007/08 ging das Tanztheater eine Kooperation mit der Tanzcompagnie Oldenburg des Oldenburgischen Staatstheaters ein. Unter dem Namen nordwest arbeiten beide Sparten weiterhin autark und vernetzen ihre Produktionen. Die Künstler traten in beiden Städten auf, Inszenierungen wurden ausgetauscht, Gastspiele organisiert und gemeinsame Produktionen erarbeitet. Als Hauptspielstätte des Tanztheater Bremen fungierte lange Zeit das Concordia. Seit 2007 ist das Kleine Haus (ehemals Neues Schauspielhaus) Hauptspielstätte für den Tanz.
Zur Spielzeit 2012/13 übernahm der französisch-algerische Choreograf Samir Akika mit seiner Kompanie Unusual Symptoms die Leitung der Tanzsparte. Akika schrieb damit einerseits die Tradition bedeutender Protagonisten des Tanztheaters Bremen fort. Mit älteren Arbeiten wie dem international vielgetourten Stück, Extended Teenage Era und Neuproduktionen wie Funny, how? und Penguins & Pandas setzte er gleich zu Beginn einen von popkulturellen Einflüssen geprägten Stil durch, der in seinem Umgang mit Mitteln von Tanz, Theater, Film und Musik und eine deutliche Abkehr vom Stil seiner Vorgänger bedeutete. „Vergessen Sie alles, was Sie über das Bremer Tanztheater wissen. Jedenfalls über das der letzten Jahre. Es ist jetzt alles radikal anders. Der neue Chefchoreograf ist da: Samir Akika und seine Truppe ‚Unusual Symptoms‘.“, schrieb die taz zum Auftakt 2012. Kollektive Arbeitsweisen und ein starker Einbezug der individuellen Perspektiven und Erfahrungen des Ensembles bilden einen wichtigen Kern der Arbeit von Unusual Symptoms. Neben Kooperationen mit dem Goethe-Institut widmeten sich Akika und Unusual Symptoms mit dem von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Projekt „Symptom Tanz“ auch verstärkt der Arbeit mit jugendlichen Akteuren. Zur Spielzeit 2018/2019 übergab Akika die Leitung der Tanzsparte und der Kompanie Unusual Symptoms an Alexandra Morales und Gregor Runge, die als Produktionsleiterin und Dramaturg bereits seit 2012 zum künstlerischen Leitungsteam im Tanz gehören. Samir Akika wechselte in die Position des Hauschoreografen und arbeitet daneben wieder verstärkt frei.
Alexandra Morales und Gregor Runge setzen seit 2018/2019 verstärkt auf ein Modell internationaler Zusammenarbeit und Koproduktion an der Schnittstelle von Stadttheater und Freier Szene. Neben der Arbeit mit Hauschoreograf Samir Akika entwickeln sie die Arbeit von Unusual Symptoms in der Zusammenarbeit mit wechselnden internationalen Choreografen weiter. Künstlerinnen und Künstler wie Adrienn Hód, Núria Guiu Sagarra, Máté Mészáros und Faye Driscoll erarbeiten in Bremen häufig erstmals Produktionen in Deutschland und für ein festes Ensemble. Mit Coexist von Adrienn Hód-Hodworks/Unusual Symptoms und Pink Unicorns von Samir Akika/La Macana erhielt die Tanzsparte unter ihrer gemeinsamen Leitung zwei Einladungen zur renommierten Tanzplattform Deutschland.
Neben den Produktionen der Tanzsparte ist das Theater Bremen Gastgeber und Mitveranstalter des 1985 gegründeten internationalen Tanzfestivals TANZ Bremen, einem der ältesten und renommiertesten zeitgenössischen Tanzfestivals Deutschlands.
MOKS
1976 entwickelte das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Initiative Modellversuch Künstler und Schüler (MoKS), auf deren Grundlage Jugendliche in über zwanzig westdeutschen Städten an das Theater herangeführt werden sollten. Auch in Bremen machte man es sich zum Ziel, Heranwachsenden mit Hilfe von Mitmachtheater und neuen pädagogischen Ansätzen die darstellende Kunst näher zu bringen. Das staatlich finanzierte Projekt endete 1982 bundesweit – einzig in Bremen verblieb das junge Theater als Institution innerhalb der Bildungsbehörde. Auf Grund des abgeschlossenen Versuchsstadiums erfolgte noch im gleichen Jahr die Umbenennung in Modelltheater Künstler und Schüler und das MoKS wurde als selbstständiges Theater an die Bremer Theater GmbH angeschlossen. Zwei Jahre darauf trat neben die bis dato praktizierte Mitmach- und Einbeziehungsphilosophie das Vorspieltheater als traditionelle Theaterform und abermals zwei Jahre später erfolgte die Angliederung des MoKS als eigene Sparte.
Pro Jahr werden vom Moks, das ein Ensemble von vier Darstellern hat und von Rebecca Hohmann geleitet wird, durchschnittlich vier Inszenierungen entwickelt, die hauptsächlich auf der eigenen Bühne, aber auch im Brauhauskeller dargeboten werden. Es handelt sich um Eigenproduktionen sowie um Adaptionen bekannter Kinder- und Jugendliteratur. Das künstlerische Profil zeichnet sich durch ästhetische Vielfalt aus, produziert werden verschiedene szenische Formen, angefangen bei Tanz und Performance über Sprechtheater bis zu Stückentwicklungen. Mit speziellen Angeboten richtet sich das Moks auch an Schulklassen, die in Bremen bei Schulvorstellungen freien Eintritt haben.
Anfang 2005 konstituierte sich am Moks mit den Jungen Akteuren eine eigene Theaterschule, ein bundesweit bis dato einmaliges Projekt. Ziel ist es, junge Menschen für die Bühne zu begeistern und ihnen die Grundzüge szenischen Spiels näherzubringen. Seit 2011 werden die Jungen Akteure von Nathalie Forstman geleitet. Es werden in jeder Spielzeit zwei bis drei eigene Produktionen entwickelt, die fest zum Spielplan des Jungen Theaters gehören und unterschiedliche Theaterwerkstätten für verschiedene Altersgruppen angeboten. Die Ergebnisse der Werkstätten werden einmal jährlich im Rahmen des so genannten Werkstattfestivals aufgeführt. Darüber hinaus gibt es pro Spielzeit zahlreiche Extra-Produktionen.
Moks und Junge Akteure bilden gemeinsam die Sparte Junges Theater Bremen.
Das Junge Theater Bremen ist bundesweit bekannt für außergewöhnliche Inszenierungen und erhält regelmäßig Einladungen zu Festivals wie dem deutschen Kinder- und Jugendtheatertreffen „Augenblick Mal!“ – dem bundesweiten Festival für Theater für Junges Publikum, „Hart am Wind“ oder dem Theatertreffen der Jugend in Berlin. Theo Fransz, Antje Pfundtner und das Kollektiv sputnic inszenieren regelmäßig am Moks. Für ihre Produktion Für Vier gewann Birgit Freitag in der Kategorie „Regie Kinder- und Jugendtheater“ 2019 den deutschen Theaterpreis DER FAUST. Der ging in der gleichen Kategorie ein Jahr später für ihre Moks-Produktion Ich bin nicht du an Antje Pfundtner.
Spielstätten
Theater am Goetheplatz
Das Theater am Goetheplatz, Goetheplatz Nr. 1–3 (oftmals fälschlicherweise Goethetheater genannt) ist die größte sowie die Hauptspielstätte des Theater Bremen. Es fungiert als ortsidentischer Nachfolgebau des alten Schauspielhauses von 1913 am Goetheplatz östlich der Altstadt, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Der Neubau begann 1948, und nur zwei Jahre später konnte das Haus mit einer Aufführung von Goethes Egmont am 27. August 1950 wiedereröffnet werden. Es bietet heutzutage bis zu 868 Zuschauern Platz. Neben Musiktheater werden auf der Bühne auch Schauspielstücke, darunter alljährlich das traditionelle Weihnachtsmärchen, inszeniert.
Die Theaterkasse befindet sich links neben dem Theater am Goetheplatz, die jeweiligen Abendkassen sind für Vorstellungen im Kleinen Haus, Brauhaus und Brauhauskeller im Foyer des Kleinen Hauses und für Vorstellungen im Theater am Goetheplatz im Foyer im Theater am Goetheplatz.
Kleines Haus
Das Neue Schauspielhaus (NSH) entstand als Folge lang anhaltender Proteste des Schauspielensembles und der Bremer Bürger gegen die Raumnot und eine drohende Schließung der Schauspielsparte. Es befindet sich unmittelbar neben dem Theater am Goetheplatz und ist über einen gemeinsamen Eingang vom Ostertorsteinweg aus erreichbar. Am 17. August 1983 bewilligte der Senat der Freien Hansestadt Bremen unter Hans Koschnick auf der Grundlage der vorgelegten Pläne acht Millionen Mark für den Neubau einer Spielstätte. Deren Grundsteinlegung erfolgte bereits wenige Tage später, also noch vor Beginn der Spielzeit 1983/1984 auf dem Milsegrundstück südöstlich des Theater am Goetheplatz im Winkel der Bleicherstraße und der Mozartstraße. Innerhalb von 14 Monaten konstruierte man einen modernen, schlichten Theaterbau ohne jedwede äußere Verzierungen, der im Norden mit dem Theater am Goetheplatz und im Süden mit der ehemaligen Brauhaus-Kesselhalle in Verbindung steht.
Die Eröffnung des Neuen Schauspielhauses wurde am 2. November 1984 mit der Darbietung von Carl Sternheims Die Hose in der Inszenierung von Torsten Fischer gefeiert, der in den beiden darauf folgenden Tagen als Komplettierung der Trilogie Sternheims Stücke Der Snob und 1913 folgten.
Während der Spielzeit 1999/2000 erfolgte eine Sanierung des Gebäudes. Es erhielt im Spätsommer 2000 ein großes Tonnendach, für das sich im Sprachgebrauch der Bremer schnell die Bezeichnung „Pierwoßtonne“, nach dem damaligen Intendanten Klaus Pierwoß, etablierte. Die Höhe des Hauses verdoppelte sich im Zuge der Bauarbeiten von 14 auf 28 Meter, und die südliche Rückfront des Gebäudes wurde um einen neun Meter breiten Vorbau erweitert, der Büroräume und Werkstätten aufnahm, ein Ausbau, der auch auf Kritik stieß. Durch den Umbau des Neuen Schauspielhauses schuf man deutlich mehr Raum für die Kulissen, die Proberäume und die Werkstätten, und unter dem neuen Dach fanden ein neuer Fundus sowie zwei große Probebühnen, benannt nach Kurt Hübner und Johann Kresnik, Platz.
Das Neue Schauspielhaus besaß 332 Sitzplätze (229 im Parkett und 103 im Rang) und war das zweitgrößte Haus des Theaters Bremen. Zu sehen sind im Kleinen Haus sowohl Schauspiel als auch Tanz. Östlich an das Gebäude schließt sich der noch zum Grundstück des Theaters gehörende St.-Pauli-Hof an, der dem Neuen Schauspielhaus als Vorplatz dient. Im Dezember 2011 wurde bekannt, dass der ab 2012 amtierende Intendant Michael Börgerding beabsichtigte, das Schauspielhaus erneut umbauen zu lassen. Die Zuschauersituation sollte komfortabler, die Sicht auf die Bühne verbessert und auch die Bühnentechnik sollte erneuert werden. Dadurch reduzierte sich ab der Spielzeit 2012/13 die Zahl der Plätze auf 200. Als neuer Name der Bühne wurde Kleines Haus gewählt.
Brauhauskeller
Der Brauhauskeller ist die kleinste Spielstätte des Theaters Bremen. Er wurde 1992 in der ehemaligen Kesselhalle der St. Pauli-Brauerei an der Bleicherstraße hinter dem Neuen Schauspielhaus eröffnet. Über eine Treppe gelangt man in das Kellergewölbe, welches in zwei kleine Zuschauerräume aufgeteilt ist: Die Spiel- und die Leseröhre. Erstere bietet als Raumbühne maximal 60 Besuchern Platz, während in letzterer die Stühle locker um Tische gruppiert werden können. Es sind keine Sitze fest installiert, weshalb die Anzahl variiert. Durch die geringe Größe wird eine intensive Beziehung zwischen Darstellern und Zuschauern erzeugt. Der Brauhauskeller wird vom Schauspiel als Studiobühne für die Produktion neuer Stücke benutzt. Aber auch Soloabende und Lesungen komplettieren das Programm der Spielstätte.
MOKS
Das Moks erlebte im Laufe seiner Geschichte zahlreiche Spielstättenwechsel. 1980 bezog es Räumlichkeiten in der Weserburg auf dem Teerhof. 1988 sahen sich die Verantwortlichen gezwungen, diese zu verlassen, da deren Kapazitäten für das Neue Museum Weserburg benötigt wurden. Die Folgejahre waren daher bestimmt durch mehrere Umzüge und provisorische Spielstätten. So gastierte man beispielsweise in einer alten Turnhalle, in einem Bus und in verschiedenen Klassenräumen. Schließlich zog das MoKS im August 1992 ebenfalls in das alte Brauereigebäude, allerdings in das erste Obergeschoss. Dort hat es seinen festen und dauerhaften Sitz gefunden, besitzt eine variable Raumbühne und kann maximal 99 Zuschauer aufnehmen. Der Eingang zum Moks befindet sich direkt gegenüber dem Eingang zum Brauhauskeller in einer Tordurchfahrt.
Auszeichnungen
Schauspiel
1966: Einladung zum Berliner Theatertreffen für das Schauspiel Frühlings Erwachen in der Inszenierung von Peter Zadek
1968: Einladung zum Berliner Theatertreffen für das Schauspiel Maß für Maß in der Inszenierung von Peter Zadek
1970: Einladung zum Berliner Theatertreffen für das Schauspiel Torquato Tasso in der Inszenierung von Peter Stein
1972: Einladung zum Berliner Theatertreffen für das Schauspiel Bremer Freiheit in der Inszenierung von Rainer Werner Fassbinder
1974: Einladung zum Berliner Theatertreffen für das Schauspiel Das letzte Band in der Inszenierung von Klaus Michael Grüber
1979: Einladung zum Berliner Theatertreffen für das Schauspiel Antigonae in der Inszenierung von Ernst Wendt
1979: Einladung zum Berliner Theatertreffen für das Schauspiel Maria Stuart in der Inszenierung von Nicolas Brieger
1989: Einladung zum Berliner Theatertreffen für das Schauspiel Der arme Vetter in der Inszenierung von Günter Krämer
1998: Einladung zu den Duisburger Akzenten für das Schauspiel Marat/Sade in der Inszenierung von Andrej Woron
2011: Auszeichnung der Produktion Die Räuber in der Inszenierung von Volker Lösch als eine der zehn besten Inszenierungen des Jahres 2010 durch das Online-Magazin nachtkritik.de
Musiktheater
1997: „Bayerischer Theaterpreis“ für die Oper Macbeth
2007: „Opernhaus des Jahres“ der Opernwelt
2009: „Europäischer Toleranzpreis“ des KulturForum Europa e.V. für die Oper Gegen die Wand
2020: „Der deutsche Theaterpreis DER FAUST“ in der Kategorie „Sängerdarsteller“ an Patrick Zielke für seinen Baron Ochs in Der Rosenkavalier unter der Musikalischen Leitung von Yoel Gamzou und in der Regie von Frank Hilbrich.
Tanztheater
1983: Einladung zum Berliner Theatertreffen für das Tanzstück Könige und Königinnen in der Inszenierung von Reinhild Hoffmann
1984: Einladung zum Berliner Theatertreffen für das Tanzstück Callas in der Inszenierung von Reinhild Hoffmann
1986: Einladung zum Berliner Theatertreffen für das Tanzstück Föhn in der Inszenierung von Reinhild Hoffmann
1990: Einladung zum Berliner Theatertreffen für das Tanzstück Ulrike Meinhof in der Inszenierung von Johann Kresnik
1990: „Theaterpreis Berlin“ für das Tanzstück Ulrike Meinhof und Johann Kresnik
1992: Einladung zum Berliner Theatertreffen für das Tanzstück Frida Kahlo in der Inszenierung von Johann Kresnik
1993: Einladung zum Berliner Theatertreffen für das Tanzstück Wendewut in der Inszenierung von Johann Kresnik
2020: Einladung zur Tanzplattform Deutschland mit Coexist von Adrienn Hód – Hodworks und Unusual Symptoms.
MoKS
2004: Kurt-Hübner-Preis (zusammen mit Klaus Schumacher)
2011: ASSITEJ-Preis für die Jungen Akteure
2012: Bremer Stadtmusikantenpreis
2019: „Der deutsche Theaterpreis DER FAUST“ in der Kategorie „Regie Kinder und Jugendtheater“ für Birgit Freitag und ihre Moks-Produktion Für vier.
2020: „Der deutsche Theaterpreis DER FAUST“ in der Kategorie „Regie Kinder und Jugendtheater“ für Antje Pfundtner und ihre Moks-Produktion Ich bin nicht du.
Allgemeines
1976: „Deutscher Kritikerpreis“ für George Tabori
1979: „Theater des Jahres“ von Theater heute
2007: „Preis der Deutschen Theaterverlage“ des Verbandes Deutscher Bühnen- und Medienverlage
2008: „Highlight 2008“ des Marketing-Club Bremen
2008: „red dot design award“
2009: Kulturpreis „Grenzgänger“ der Evangelischen Kirche in Deutschland
Besucherzahlen
Intendanz
1913–1940: Johannes Wiegand
1940–1943: Eduard Ichon
1943: Hans Tannert
1943–1944: Curt Gerdes
1949–1954: Willi Hanke
1954–1955: Conrad Heinemann (kommissarisch)
1955–1962: Albert Lippert
1962–1973: Kurt Hübner
1973–1978: Peter Stoltzenberg
1978–1985: Arno Wüstenhöfer
1985–1992: Tobias Richter
1992–1993: Hansgünther Heyme
1993–1994: Rolf Rempe (kommissarisch)
1994–2007: Klaus Pierwoß
2007–2010: Hans-Joachim Frey
2010–2012: Direktorium (Rebecca Hohmann, Marcel Klett, Patricia Stöckemann, Hans-Georg Wegner, Martin Wiebcke)
seit 2012: Michael Börgerding
Literatur
Hermann Tardel (Hrsg.): Studien zur Bremischen Theatergeschichte. Oldenburg 1945
Hermann Tardel: Zur bremischen Theatergeschichte (1563-1763) In: Bremisches Jahrbuch 38, 1993 (1563–1736); Bd. 38, 1939, S. 63–83 (1763–1783); Bd. 39, 1940, S. 169–204 (1783–1791); Bd. 42, 1947, S. 154–201 (1792–1796).
Franz Reichert: Durch meine Brille. Österreichischer Bundesverlag, Wien 1986, ISBN 3-215-06062-0
Michael Mrukwa: Das Bremer Staatstheater und das Bremer Schauspielhaus von 1933–45. Magisterarbeit, Bremen 1987
Bremer Theater der Freien Hansestadt Bremen GmbH, Senator für Kultur und Ausländerintegration der Freien Hansestadt Bremen (Hrsg.): 200 Jahre Theater in Bremen. WMIT-Druck-u. Verlags GmbH, Bremen 1993, ISBN 3-929542-04-8
Herbert Schwarzwälder: Das Große Bremen-Lexikon, Edition Temmen, Bremen 2003, ISBN 3-86108-693-X
Lutz-Uwe Dünnwald (Hrsg.): Theater am Goetheplatz. Sanierung 2003–2004. Isensee GmbH, Oldenburg 2005
Frank Schümann: Bremer Theater 1913–2007. Schünemann Verlag, Bremen 2007, ISBN 978-3-7961-1903-3
Klaus Pierwoß, Helmut Brade, Frank Schümann: Bremer Theater: Intendanz Klaus Pierwoß 1994/95–2006/07, Schünemann Verlag, Bremen 2007, ISBN 978-3-7961-1895-1
Weblinks
www.theaterbremen.de – Offizielle Internetpräsenz des Theater Bremen
www.nordwest-tanz.de – Offizielle Internetpräsenz der Tanztheaterkooperation nordwest
Einzelnachweise
Theater (Bremen)
Theatergebäude in Bremen
Mehrspartentheater
Mitte (Bremen) |
3414753 | https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte%20der%20speziellen%20Relativit%C3%A4tstheorie | Geschichte der speziellen Relativitätstheorie | Die Geschichte der speziellen Relativitätstheorie bezeichnet die Entwicklung von empirischen und konzeptionellen Vorschlägen und Erkenntnissen innerhalb der theoretischen Physik, die zu einem neuen Verständnis von Raum und Zeit führten. Nach einer Reihe von theoretischen und experimentellen Vorarbeiten verschiedener Autoren im 19. Jahrhundert wurde diese Entwicklung in den Jahren um 1900 insbesondere von Hendrik Antoon Lorentz und Henri Poincaré eingeleitet und gipfelte 1905 in der Ausarbeitung der speziellen Relativitätstheorie durch Albert Einstein. In der Folge wurde die Theorie weiter ausgebaut, vor allem durch Hermann Minkowski.
Überblick
Isaac Newton war in seinen 1687 publizierten Principia von einem absoluten Raum und einer absoluten Zeit ausgegangen. Gleichwohl galt auch in seiner Theorie das Relativitätsprinzip von Galileo Galilei, wonach alle relativ zueinander gleichförmig bewegten Beobachter ihren absoluten Bewegungszustand nicht bestimmen können. Ihre Perspektiven sind demnach gleichberechtigt und der Galilei-Transformation unterworfen; es gibt kein privilegiertes Bezugssystem. Ende des 19. Jahrhunderts betonten verschiedene Physiker, genau genommen führe dies zu einer Vervielfältigung „absoluter Räume“ – so etwa Ludwig Lange, der 1885 den operational begründeten Begriff Inertialsystem einführte. Ernst Mach sah die Absolutheit von Raum und Zeit nicht hinreichend phänomenologisch-empirisch fundiert.
Das Gegenstück zum „absoluten Raum“ der Mechanik war der Äther in der Elektrodynamik. Dieses Konzept beruht auf der bis Anfang des 20. Jahrhunderts nicht hinterfragten Annahme, dass Wellen zu ihrer Ausbreitung ein Medium benötigen. In Analogie zum Schall, der zu seiner Ausbreitung die Luft benötigt, wurde für das Licht der „Äther“ postuliert, der überdies als stofflich vorgestellt wurde. James Clerk Maxwell hatte diese Voraussetzung so formuliert, dass sich alle optischen und elektrischen Phänomene in einem Medium ausbreiten. Unter diesen Vorannahmen hat die Lichtgeschwindigkeit den durch die maxwellschen Gleichungen angegebenen Wert nur relativ zum Äther. Infolge der damals weit verbreiteten Annahme, dass der Äther ruht und nicht von der Erde mitgeführt wird, wäre es möglich, den Bewegungszustand der Erde relativ zum Äther zu bestimmen und diesen somit als ein ausgezeichnetes Bezugssystem zu verwenden. Allerdings scheiterten alle Versuche, die Relativbewegung der Erde zu ihm zu bestimmen.
Dies führte ab 1892 zur Entwicklung der maxwell-lorentzschen Elektrodynamik durch Hendrik Antoon Lorentz, welche auf einem absolut ruhenden Äther beruhte. Dessen Unauffindbarkeit wurde durch die Annahmen erklärt, dass im Äther bewegte Körper verkürzt sind (Längenkontraktion), und Prozesse bei im Äther bewegten Körpern verlangsamt ablaufen (Zeitdilatation). Grundlage dafür war jedoch, dass die Galilei-Transformation durch die Lorentz-Transformation ersetzt wurde. Lorentz konnte in seiner nachfolgenden Arbeit von 1904 das Relativitätsprinzip jedoch nur unvollkommen erfüllen. Henri Poincaré erkannte 1904, dass die Unüberschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit für alle Beobachter das Hauptmerkmal der „neuen Mechanik“ (also der lorentzschen Theorie) war. 1905 gelang ihm eine vollständige physikalische Verallgemeinerung und mathematisch elegante Formalisierung der lorentzschen Elektrodynamik, wobei er das Relativitätsprinzip als universell gültiges Naturgesetz einschließlich der Elektrodynamik und Gravitation festlegte – jedoch hielt er weiterhin an der Existenz eines Äthers und der Unterscheidung zwischen „wahren“ und „scheinbaren“ Längen und Zeiten fest.
Albert Einstein gelang 1905 mit der speziellen Relativitätstheorie (SRT) schließlich durch Wandlung der Begriffe von Raum und Zeit und durch Abschaffung des Äthers eine völlige Neuinterpretation der lorentzschen Elektrodynamik. Diese Ergebnisse leitete Einstein ausschließlich aus dem Relativitätsprinzip und dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, die er als Postulate seiner Theorie zugrunde legte, ab. Durch die Abschaffung der Konzeption eines Äthers gab es nun keinen Grund mehr für eine Unterscheidung zwischen „wahren“ und „scheinbaren“ Koordinaten, wie noch bei Poincaré und Lorentz. Dies alles machte den Weg zu relativistischen Feldtheorien und zur Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie (ART) frei. Die Untersuchungen zur SRT wurden nach Einstein unter anderem durch Hermann Minkowski fortgesetzt, der 1907 die formalen Grundlagen für das heute übliche Konzept der vierdimensionalen Raumzeit entwickelte.
Äther und Elektrodynamik bewegter Körper
Äthermodelle und maxwellsche Gleichungen
Im 19. Jahrhundert war man vor allem durch die Arbeiten von Thomas Young (1804) und Augustin Jean Fresnel (1816) zur Überzeugung gelangt, dass Licht sich als eine Transversalwelle in einem Medium („Lichtäther“) ausbreitet, welches von vielen als ein elastischer Festkörper aufgefasst wurde. Es wurde jedoch weiterhin zwischen optischen Phänomenen einerseits, elektrodynamischen andererseits unterschieden. Das heißt, es mussten für diese Phänomene jeweils eigene Äthervarianten konstruiert werden. Versuche, diese Äthervarianten zu vereinigen und eine vollständig gültige mechanische Beschreibung des Äthers vorzulegen, scheiterten jedoch.
Nach Vorarbeiten von Physikern wie Michael Faraday, Lord Kelvin und anderen entwickelte James Clerk Maxwell (1864) nun grundlegende Gleichungen für Elektrizität und Magnetismus, die so genannten maxwellschen Gleichungen. Dabei entwarf er ein Modell, in dem die Phänomene der Optik als auch der Elektrodynamik zusammen auf einen einzigen, elektromagnetischen Äther zurückzuführen sind, und definierte Licht als eine elektromagnetische Welle, welche sich konstant mit Lichtgeschwindigkeit in Bezug zum Äther ausbreitete. Als weitere wichtige Konsequenz der Theorie wurde von Maxwell (1873) die Existenz von elektrostatischen und magnetischen „Spannungen“ abgeleitet, die einen Druck auf Körper ausüben können – eine unmittelbare Folge davon ist der vom Licht ausgeübte Strahlungsdruck. Adolfo Bartoli (1876) leitete die Existenz desselben Drucks aus thermodynamischen Überlegungen ab.
Nachdem Heinrich Hertz (1887) die Existenz von elektromagnetischen Wellen nachgewiesen hatte, wurde die maxwellsche Theorie schließlich weithin akzeptiert. Oliver Heaviside (1889) und Hertz (1890 a,b) führten dabei modernisierte Versionen der maxwellschen Gleichungen ein, die eine wichtige Grundlage für die weitere Entwicklung der Elektrodynamik bildeten („maxwell-hertzsche“ bzw. „heaviside-hertzsche“ Gleichungen). Dabei war es schließlich die von Heaviside gegebene Form, welche sich allgemein durchsetzte. Anfang 1900 wurde die hertzsche Theorie jedoch experimentell widerlegt und musste aufgegeben werden. Hertz selbst war dabei einer der letzten Anhänger des „mechanistischen Weltbildes“, wonach alle elektromagnetischen Prozesse auf mechanische Stoß- und Kontaktwirkungen im Äther zurückgeführt werden sollten.
Unauffindbarkeit des Äthers
Was nun den Bewegungszustand des Äthers relativ zur Materie betraf, wurden prinzipiell zwei Möglichkeiten in Betracht gezogen, welche bereits vor den Arbeiten Maxwells diskutiert wurden:
die von Fresnel (1816) und später von Hendrik Antoon Lorentz (1892a) vertretene Vorstellung eines ruhenden bzw. nur teilweise mit einem bestimmten Koeffizienten mitgeführten Äther, und
die von George Gabriel Stokes (1845) und später von Hertz (1890b) angenommene vollständige Mitführung des Äthers durch die Materie.
Fresnels Theorie wurde bevorzugt, weil mit seiner Theorie die Aberration des Lichtes und viele optische Phänomene erklärt werden konnten und weil sein Mitführungskoeffizient von Hippolyte Fizeau (1851) mit dem Fizeau-Experiment sehr genau gemessen wurde. Hingegen konnte sich die Theorie von Stokes nicht durchsetzen, da sie sowohl der Aberration als auch dem Ergebnis des Fizeau-Experiments widersprach – die deswegen eingeführten Hilfshypothesen waren nicht überzeugend oder überhaupt widersprüchlich.
Albert A. Michelson (1881) versuchte die Relativbewegung von Erde und Äther („Ätherwind“), welche nach Fresnels Theorie hätte auftreten müssen, direkt zu messen. Er konnte jedoch mit seiner Interferometeranordnung das von ihm erwartete Ergebnis nicht feststellen und interpretierte das Ergebnis als Beleg für die These von Stokes (vollständige Äthermitführung durch die Erde) und damit gegen die Theorie Fresnels. Lorentz (1886) wies jedoch nach, dass Michelson bei den Berechnungen ein Rechenfehler unterlaufen war, woraus sich ergab, dass das Experiment zu ungenau war, um im Rahmen der Messgenauigkeit überhaupt ein positives Messresultat zu erbringen, was von Michelson selbst zugegeben wurde. Da die fresnelsche Theorie nun doch nicht widerlegt schien, führten Michelson und Edward W. Morley (1886) ein Experiment durch, bei dem die Messungen Fizeaus zum fresnelschen Mitführungskoeffizienten überprüft werden sollten. Tatsächlich gelang die Bestätigung und entgegen seiner Aussage von 1881 war Michelson diesmal der Meinung, dass damit der ruhende Äther Fresnels bestätigt sei. Dies erforderte allerdings eine Wiederholung des Michelson-Experiments von 1881, wobei zur großen Überraschung von Michelson und Morley dieses heute berühmte Michelson-Morley-Experiment das erwartete positive Resultat abermals nicht lieferte. Wieder schien das Experiment den eigentlich bereits widerlegten stokesschen Äther zu bestätigen und stand im krassen Gegensatz zu dem Versuch von 1886, welcher für den fresnelschen Äther sprach.
Woldemar Voigt entwickelte (1887) auf Basis eines elastischen Äthermodells (also nicht des elektromagnetischen Modells Maxwells) und im Zuge von Untersuchungen zum Dopplereffekt eine Koordinatentransformation zwischen einem im Äther ruhenden und einem bewegten System. Die Gleichungen der Voigt-Transformation ließen die Wellengleichung unverändert, waren bis auf einen unterschiedlichen Skalenfaktor identisch mit der späteren Lorentz-Transformation und konnten den Michelson-Morley-Versuch erklären. Dabei beinhalteten sie den später als „Lorentz-Faktor“ bekannten Ausdruck für die y- und z-Koordinaten und eine später als Ortszeit benannte neue Zeitvariable . Sie waren allerdings nicht symmetrisch und verletzten folglich das Relativitätsprinzip.
Es zeigte sich jedoch noch eine andere Möglichkeit einer Erklärung ab: Heaviside (1889) und George Frederick Charles Searle (1897) stellten fest, dass elektrostatische Felder in Bewegungsrichtung kontrahiert waren (Heaviside-Ellipsoid). Den Arbeiten Heavisides folgend führte George Francis FitzGerald (1889) die Ad-hoc-Hypothese ein, dass auch materielle Körper in Bewegungsrichtung kontrahieren, was zur Längenkontraktion führt und den Michelson-Morley-Versuch erklären könnte – im Gegensatz zu Voigts Gleichungen wird hier also die x-Koordinate verändert. FitzGerald begründete dies damit, dass die intermolekularen Kräfte möglicherweise elektrischen Ursprungs seien. Jedoch wurde seine Idee vorerst nicht zur Kenntnis genommen und erst durch eine Veröffentlichung von Oliver Lodge (1892) bekannt. Unabhängig von FitzGerald schlug auch Lorentz (1892b) dieselbe Hypothese vor („FitzGerald-Lorentzsche Kontraktionshypothese“). Aus Plausibilitätsgründen verwies er wie FitzGerald auf die Analogie zur Kontraktion der elektrostatischen Felder, wobei er jedoch selbst zugab, dass das keine zwingende Begründung war.
Die 1895-Theorie von Lorentz
Hendrik Antoon Lorentz legte 1892 und vor allem 1895 die Fundamente der (maxwell-)lorentzschen Elektrodynamik bzw. Äther- oder Elektronentheorie, indem er wie andere vor ihm neben dem Äther auch die Existenz von Elektronen annahm. Dabei ging er davon aus, dass der Äther vollständig in Ruhe sei und nicht von den Elektronen mitgeführt wird. Daraus ergab sich die wichtige Konsequenz, dass die Lichtgeschwindigkeit vollständig unabhängig von der Geschwindigkeit der Lichtquelle ist und folglich relativ zu einem Koordinatensystem, in dem der Äther ruht, unter allen Umständen konstant ist. Statt dabei irgendwelche Aussagen über die mechanische Natur des Äthers und der elektromagnetischen Prozesse zu machen, versuchte er umgekehrt, viele mechanische Prozesse auf elektromagnetische zurückzuführen. Im Rahmen seiner Theorie errechnete Lorentz (wie Heaviside) die Kontraktion der elektrostatischen Felder und führte dazu, unabhängig von Voigt, als mathematische Hilfsvariable die Ortszeit ein. Somit verfügte er über eine Vorform der später als Lorentz-Transformation bekannten Gleichungen, welche zur Erklärung aller negativen Ätherdriftexperimente für Größen erster Ordnung von v/c diente. Dabei verwendete er (1895) den Begriff „Theorem der korrespondierenden Zustände“, d. h. die Lorentz-Kovarianz der elektromagnetischen Gleichungen für relativ geringe Geschwindigkeiten. Daraus folgt, dass die Form der elektromagnetischen Gleichungen eines „realen“ – im Äther ruhenden – Systems der Form eines „fiktiven“ – im Äther bewegten – Systems entspricht. Jedoch erkannte Lorentz, dass seine Theorie gegen das Prinzip von actio und reactio verstieß, da zwar der Äther auf die Materie wirken, jedoch die Materie nicht auf den Äther zurückwirken konnte.
Joseph Larmor (1897, 1900) entwarf ein sehr ähnliches Modell wie Lorentz, jedoch ging er einen Schritt weiter und brachte die Lorentz-Transformation in eine algebraisch äquivalente Form, wie sie bis heute benutzt wird. Dabei sah er, dass nicht nur die Längenkontraktion daraus abgeleitet werden kann, sondern er berechnete auch eine Art Zeitdilatation, wonach Rotationen von im Äther bewegten Elektronen langsamer ablaufen als bei ruhenden Elektronen. Larmor konnte jedoch nur zeigen, dass diese Transformation zwar für Größen zweiter Ordnung, nicht jedoch für alle Ordnungen gültig ist. Auch Lorentz (1899) erweiterte seine Transformation für Größen zweiter Ordnung (mit einem allerdings unbestimmten Faktor) und vermerkte, wie Larmor zuvor, eine Art Zeitdilatation. Unbekannt ist, inwiefern sich Lorentz und Larmor gegenseitig beeinflusst haben; das heißt, es ist nicht klar, ob Larmor (1897) die Ortszeit von Lorentz übernommen hat, und ob umgekehrt Lorentz (1899) die vollständigen Transformationen von Larmor übernommen hat. Beide zitieren zwar die Werke des anderen und standen in brieflichem Kontakt, jedoch diskutierten sie nicht über die Lorentz-Transformation.
Es gab jedoch auch Alternativmodelle zu den Theorien von Lorentz und Larmor. Emil Cohn (1900) entwarf eine Elektrodynamik, worin er als einer der Ersten die Existenz des Äthers (zumindest in bisheriger Form) verwarf und stattdessen, wie Ernst Mach, die Fixsterne als Bezugskörper verwendete. So konnte er zwar das Michelson-Morley-Experiment erklären, da die Erde relativ zu den Fixsternen in Ruhe ist, jedoch konnte nach seiner Theorie die Lichtgeschwindigkeit in Medien gleichzeitig in verschiedenen Richtungen überschritten werden. Wegen dieser und anderer Unstimmigkeiten wurde die Theorie (auch von Cohn selbst) später verworfen. Darüber hinaus diskutierte er auch die Theorie von Lorentz und verwendete den Begriff „Lorentz'sche Transformation“.
Elektromagnetische Masse
Joseph John Thomson (1881) erkannte während seiner Weiterentwicklung der maxwellschen Elektrodynamik, dass elektrostatische Felder sich so verhalten, als ob sie den Körpern neben der mechanischen eine „elektromagnetische Masse“ hinzufügen würden. Dies wurde damals als das Ergebnis einer Selbstinduktion der Konvektionsströme im Äther interpretiert. Er erkannte auch, dass diese Masse bei bewegten Körpern (um einen allerdings für alle positiven Geschwindigkeiten gleichen Faktor) größer wird. Vor allem George FitzGerald, Oliver Heaviside, und George Frederick Charles Searle korrigierten einige Fehler und führten die Arbeit von Thomson fort – wobei als Ausdruck für die elektromagnetische Masse sich die Formel (in moderner Notation) ergab. Heaviside (1888) erkannte überdies, dass die Zunahme der elektromagnetischen Masse bei bewegten Körpern keineswegs konstant ist, sondern bei größerer Geschwindigkeit immer weiter zunimmt. Searle (1897) folgerte daraus, dass dies ein Überschreiten der Lichtgeschwindigkeit unmöglich macht, da unendlich viel Energie dafür erforderlich wäre. Dieser Zusammenhang wurde 1899 auch von Lorentz in seine Theorie integriert. Er bemerkte, dass diese aufgrund der Lorentz-Transformation nicht nur mit der Geschwindigkeit, sondern auch mit der Richtung variiert und führte die später von Max Abraham als longitudinale und transversale Masse bekannt gewordenen Terme ein – wobei nur die transversale Masse dem später als relativistische Masse bezeichneten Begriff entsprach.
Wilhelm Wien (1900) (und vor ihm schon Larmor und Emil Wiechert) vertrat auf Basis der Theorie von Lorentz die Ansicht, dass – entgegen dem „mechanistischen Weltbild“ von Hertz – sämtliche Kräfte der Natur elektromagnetisch erklärbar seien („elektromagnetisches Weltbild“). Entsprechend nahm er an, dass die gesamte Masse elektromagnetischen Ursprungs sei. Das heißt, für Wien galt die Formel – die Thomson (darin Heaviside und Searle folgend) verwendete – für die gesamte Masse der Materie. Auch vermerkte er, dass die Gravitation der elektromagnetischen Energie proportional sein müsse, falls sie ebenfalls auf elektromagnetische Energie zurückgeführt werden könnte. Und in derselben Zeitschrift leitete Henri Poincaré (1900b) aus den erwähnten maxwellschen Spannungen und der Theorie von Lorentz den elektromagnetischen Impuls ab und folgerte in Verbindung mit dem Reaktionsprinzip, dass die elektromagnetische Energie einer „fiktiven“ Masse von bzw. entsprach – wobei Poincaré diese Begriffe als mathematische Fiktionen ansah. Er stieß dabei jedoch auf ein Strahlungsparadoxon, das erst später von Einstein befriedigend gelöst wurde.
Walter Kaufmann (1901–1903) war nun der Erste, der die Geschwindigkeitsabhängigkeit der elektromagnetischen Masse experimentell bestätigte. Dabei wurde ein Kathodenstrahl von Elektronen aus Metallen erzeugt, sodass Verhältnisse von Ladung, Geschwindigkeit und Masse bestimmbar wurden. Da vorher schon bekannt war, dass die Ladung eines Elektrons von seiner Geschwindigkeit unabhängig ist, konnte das von Kaufmann experimentell gezeigte Ergebnis einer Abnahme des Ladungs-Masse-Verhältnisses für Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit nur auf eine Massenzunahme der untersuchten Elektronen zurückgeführt werden. Dabei glaubte Kaufmann, dass seine Messungen bewiesen hätten, dass die gesamte Masse der Materie elektromagnetischen Ursprungs sei.
Max Abraham (1902–1903), der wie Wien ein überzeugter Anhänger des elektromagnetischen Weltbildes war, legte dazu eine Erklärung vor und führte die von Lorentz begonnene Theorie fort. So war er der Erste, der ein feldtheoretisches Konzept der Elektronen vorlegte. Im Gegensatz zu Lorentz definierte er das Elektron jedoch als starres, kugelförmiges Gebilde und lehnte dessen Kontraktion ab, weshalb auch seine Massen-Terme von den von Lorentz gebrauchten differierten (wobei Abraham als Erster die Begriffe longitudinale und transversale Masse prägte). Zusätzlich führte er Poincaré folgend den Begriff des „elektromagnetischen Impulses“ ein, der proportional zu ist. Im Gegensatz zu Poincaré und Lorentz verstand er diesen jedoch als reale physikalische Entität. Abrahams Theorie wurde in den nächsten Jahren das wichtigste Konkurrenzmodell zu der Theorie von Lorentz. Kaufmanns Experimente waren jedoch zu ungenau, um eine Entscheidung zwischen den Theorien herbeizuführen.
Schließlich verband Friedrich Hasenöhrl (1904) Energie mit Trägheit in einer Schrift, die nach seinen eigenen Worten sehr ähnlich denen von Abraham war. Hasenöhrl nahm an, dass ein Teil der Masse eines Körpers (die „scheinbare Masse“) als Strahlung in einem Hohlkörper aufgefasst werden kann. Die Trägheit dieser Strahlung ist proportional zu ihrer Energie nach der Formel . Er bemerkte dazu den engen Zusammenhang von mechanischer Arbeit, Temperatur und scheinbarer Masse, da bei jeder Erwärmung Strahlung und somit zusätzliche Trägheit entsteht. Jedoch schränkte Hasenöhrl diese Energie-scheinbare-Masse-Beziehung auf strahlende Körper ein; das hieß für Hasenöhrl, wenn ein Körper eine Temperatur hat, die größer ist als 0 Kelvin. Jedoch veröffentlichte er (1905) die Zusammenfassung eines Briefes, den Abraham an ihn geschrieben hatte, in dem Abraham das Ergebnis bemängelte und als korrigierten Wert für die scheinbare Masse angab, also den gleichen Wert wie für die bereits bekannte elektromagnetische Masse. Hasenöhrl überprüfte seine eigenen Berechnungen und bestätigte Abrahams Resultat.
Absoluter Raum und absolute Zeit
Newtons Definition des absoluten Raumes und der absoluten Zeit wurde nun von einigen Autoren hinterfragt. Beispielsweise führte Carl Gottfried Neumann (1870) statt irgendwelcher absoluter Größen einen „Körper Alpha“ ein, der einen starren und fixen Bezugskörper darstellen soll, auf den die inertiale Bewegung bezogen werden kann. Ernst Mach (1883) argumentierte, dass Begriffe wie absoluter Raum und Zeit sinnlos seien und dass nur der Bezug auf relative Bewegung sinnvoll sei. Er meinte auch, dass selbst beschleunigte Bewegung wie Rotation durch Bezug auf „ferne Massen“ relativierbar sei, ohne einen absoluten Raum annehmen zu müssen. Die Argumentation von Neumann wurde von Heinrich Streintz (1883) fortgesetzt. Wenn Messungen durch Gyroskope keine Rotation anzeigen, könne man nach Streintz von einer inertialen Bewegung in Bezug auf einen „Fundamentalkörper“ bzw. ein „Fundamental-Koordinatensystem“ sprechen. Schließlich war Ludwig Lange (1885) der Erste, der von ähnlichen Gedankengängen ausgehend den Begriff Inertialsystem einführte, um damit absolute Größen aus der Kinematik zu entfernen. Er definiert dies als „ein System von der Beschaffenheit, dass mit Bezug darauf die in einem Punkt zusammenlaufenden, stetig beschriebenen Bahnen dreier gleichzeitig von demselben Raumpunkte projizierter und sofort sich überlassener Punkte (die aber nicht in einer Geraden liegen sollen) sämtlich geradlinig sind“. Weiterhin veröffentlichte Poincaré (1902) das philosophische und populärwissenschaftliche Buch „Wissenschaft und Hypothese“, welches u. a. enthielt: Philosophisches über die Relativität von Raum, Zeit und Gleichzeitigkeit; die Ausdrücke „Prinzip der relativen Bewegung“ und „Prinzip der Relativität“; die Meinung, dass der Äther niemals entdeckt werden könne, d. h. die Gültigkeit des Relativitätsprinzips; die mögliche Nichtexistenz des Äthers – allerdings auch Argumente für den Äther; ausführliche Schilderungen über die nichteuklidische Geometrie.
Auch über die Zeit als eine vierte Dimension wurde spekuliert. Beispielsweise tat dies bereits 1754 Jean d’Alembert in der Encyclopédie, sowie einige Autoren im 19. Jahrhundert wie H. G. Wells in seinem Roman Die Zeitmaschine (1895). Und Menyhért Palágyi (1901) entwickelte ein philosophisches Modell, wonach Raum und Zeit lediglich sprachliche Bezeichnungen für eine in Wirklichkeit einheitliche „Raumzeitform“ sei. Dabei benutzt er für seine „Raumzeitlehre“ die Zeit als vierte Dimension, die bei ihm bereits die Form it (i bezeichnet die imaginäre Einheit) hatte. Jedoch bestand in Palágyis Philosophie kein Zusammenhang zur lorentzschen Ortszeit, denn bei ihm ist die Zeitdimension nicht von der Lichtgeschwindigkeit abhängig. Er verwarf auch jeglichen Zusammenhang mit den bereits vorhandenen Konstruktionen von n-dimensionalen Räumen und der nicht-euklidischen Geometrie. Bezeichnenderweise lehnte Palágyi später (1915) auch die Raumzeit-Konstruktionen von Minkowski und Einstein ab – deswegen wird Palágyis Kritik als haltlos angesehen und geurteilt, dass seine Theorie nicht viel mit der Relativitätstheorie zu tun habe.
Prinzip der relativen Bewegung und Uhrensynchronisation
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war man intensiv damit beschäftigt, ein weltweites mit elektrischen Signalen synchronisiertes Uhrennetzwerk aufzubauen, wobei auch bereits die Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit berücksichtigt wurde. Daraus zog Henri Poincaré (1898) folgenreiche Konsequenzen für Philosophie und Physik. Er stellte fest, dass die Synchronisation mit Lichtsignalen eine Bedeutung für die Definition der Gleichzeitigkeit an verschiedenen Orten an sich hatte, und deshalb die Definition der Gleichzeitigkeit eine reine, auf Bequemlichkeit beruhende Konvention sei. Dabei argumentierte er, dass die Annahme einer konstanten Lichtgeschwindigkeit in alle Richtungen (z. B. für astronomische Zwecke) als „Postulat“ vorteilhaft sei, um Gesetzen wie dem newtonschen Gravitationsgesetz eine möglichst einfache Form zu geben. In weiteren Arbeiten erklärte Poincaré (1895, 1900a), dass er nicht an eine absolute Bewegung bzw. die Entdeckung einer Bewegung gegenüber dem Äther glaube, und nannte diese Auffassung „Prinzip der relativen Bewegung“. Im selben Jahr (1900b) erkannte Poincaré, dass man die lorentzsche Ortszeit dadurch definieren kann, dass zwei Beobachter mit Lichtsignalen ihre Uhren synchronisieren (Poincaré-Einstein-Synchronisation). Wenn sie aufgrund des Relativitätsprinzips davon ausgehen, sich in Ruhe zu befinden, so folgern sie, das Licht sei in beide Richtungen gleich schnell unterwegs. Wären sie hingegen gegenüber dem Äther bewegt, würden sie damit einen Fehler machen und die Uhren könnten nicht synchron sein (Relativität der Gleichzeitigkeit). Somit definierte Poincaré die Ortszeit als etwas, was physikalisch interpretiert und mit Uhren angezeigt werden kann – im klaren Gegensatz zur rein mathematischen Interpretation von Lorentz.
Alfred Bucherer (1903) erklärte wie Poincaré, dass nur noch Relativbewegungen der Körper untereinander, nicht jedoch zum Äther feststellbar sind. Im Gegensatz zu Poincaré zog er daraus jedoch den Schluss, dass der Begriff des Lichtäthers dann überhaupt verworfen werden sollte. Die von Bucherer nachfolgend konstruierte Theorie war jedoch sowohl aus experimentellen als auch inhaltlichen Gründen unbrauchbar – ebenso zog Bucherer trotz Verwerfung des Ätherbegriffs keine Konsequenzen in Bezug zur Relativität von Raum und Zeit.
Die 1904-Theorie von Lorentz
Unter dem Einfluss von Poincarés Forderung nach der Unentdeckbarkeit einer absoluten Bewegung kam Lorentz (1904b) schließlich einer Komplettierung seines Theorems der korrespondierenden Zustände sehr nahe. Er entwickelte ebenso wie Abraham ein feldtheoretisches Konzept der Elektronen, welches jedoch im Gegensatz zu Abraham die Kontraktion der Elektronen und somit das Relativitätsprinzip zu berücksichtigen versuchte. Dadurch konnte er unter Verwendung des elektromagnetischen Impulses das negative Resultat des Trouton-Noble-Experiments (1903) erklären, bei dem ein Drehmoment aufgrund des Ätherwindes erwartet worden war. Ebenso konnten die negativen Resultate der Experimente von Rayleigh und Brace (1902, 1904) zur Doppelbrechung erklärt werden. Ein weiterer wichtiger Schritt war, dass er die Gültigkeit der Lorentz-Transformation auf nicht-elektrische Kräfte (sofern diese existieren) ausdehnte. Lorentz gelang es jedoch nicht, die vollständige Lorentz-Kovarianz der elektromagnetischen Gleichungen zu zeigen.
Ungefähr zur gleichen Zeit als Lorentz seine Theorie entwarf, stellte Wien (1904a) wie vor ihm Searle (1897) fest, dass aufgrund der Geschwindigkeitsabhängigkeit der Masse eine Überschreitung der Lichtgeschwindigkeit unendlich viel Energie erfordert, also unmöglich ist. Und nachdem ihm die endgültige Fassung von Lorentz’ Theorie vorlag, folgerte er (1904b) dasselbe aus der Längenkontraktion, da bei Überlichtgeschwindigkeit die Länge eines Körpers einen imaginären Wert annehmen würde.
Abraham (1904) zeigte jedoch einen fundamentalen Defekt in der lorentzschen Theorie auf. Diese Theorie war einerseits so konstruiert, dass das Relativitätsprinzip erfüllt ist, aber auch der elektromagnetische Ursprung aller Kräfte sollte aufgezeigt werden. Abraham zeigte, dass beide Annahmen nicht verträglich sind, da in der lorentzschen Theorie die kontrahierten Elektronen eine nicht-elektrische Bindungsenergie benötigten, die die Stabilität der Materie garantiert. In Abrahams Theorie des starren Elektrons war eine solche Energie nicht notwendig. Es stellte sich nun also die Frage, ob das elektromagnetische Weltbild (verträglich mit Abrahams Theorie) oder das Relativitätsprinzip (verträglich mit Lorentz’ Theorie) korrekt war.
Bereits unter Berücksichtigung der neuen Theorie von Lorentz definierte Poincaré (1904) in einer Rede im September in St. Louis (durch Verbindung des galileischen Relativitätsprinzips mit dem lorentzschen Theorem der korrespondierenden Zustände) das „Prinzip der Relativität“ als eine Forderung, dass die Naturgesetze für alle Beobachter die gleichen sein müssen, unabhängig davon, ob sie sich bewegen oder nicht und deswegen ihr absoluter Bewegungszustand unbekannt bleiben müsse. Er präzisierte seine Uhrensynchronisationsmethode durch Licht und damit seine physikalische Interpretation der Ortszeit und erklärte, dass womöglich eine „neue Methode“ bzw. „neue Mechanik“ kommen werde, welche auf der Unüberschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit (auch für relativ zum Äther bewegte Beobachter) beruhe. Er vermerkte jedoch kritisch an, dass sowohl das Relativitätsprinzip, Newtons actio und reactio, der Massenerhaltungssatz als auch der Energieerhaltungssatz keineswegs gesichert seien.
Im November (1904) zeigte Cohn Möglichkeiten für eine physikalische Interpretationen der lorentzschen Theorie auf (welche er mit seiner eigenen verglich). Dabei verwies er auf den engen Zusammenhang mit der Messung durch Maßstäbe und Uhren. Ruhen diese im lorentzschen Äther, zeigen sie die „wahren“ Längen und Zeiten an, und sind sie bewegt, zeigen sie kontrahierte bzw. dilatierte Werte an. Wie Poincaré machte Cohn die wichtige Feststellung, dass die Ortszeit dann zustande kommt, wenn Licht sich auf der Erde als Kugelwelle ausbreitet, d. h. die Lichtausbreitung auf der Erde als isotrop angenommen wird. Im Gegensatz zu Lorentz und Poincaré stellte Cohn nun fest, dass die Unterscheidung zwischen „wahren“ und „scheinbaren“ Koordinaten in der lorentzschen Theorie sehr künstlich anmutet, da kein Experiment den wahren Bewegungszustand aufzeigen kann und alle Koordinaten gleichberechtigt sind. Dagegen glaubte Cohn, dass dies alles nur für den Bereich der Optik gültig sei, wohingegen mechanische Uhren die „wahre“ Zeit anzeigen könnten.
Lorentz' Aufsatz von 1904 war im Frühjahr 1905 von Richard Gans im Heft Nr. 4 der vierzehntäglich herausgegebenen Fachzeitschrift Beiblätter zu den Annalen der Physik recht ausführlich (mit Nennung der Lorentz-Transformation) zusammengefasst worden, zu der auch Albert Einstein um die gleiche Zeit Zusammenfassungen wichtiger internationaler Aufsätze beizusteuern pflegte. Bemerkenswert daran ist, dass Einstein später aussagte, Lorentz’ Arbeit von 1904 nicht gekannt zu haben, obwohl er selbst 14 Tage später in derselben Fachzeitschrift, im Heft Nr. 5, eine ganze Reihe von Zusammenfassungen publizierte, die mit dem Kürzel „A. E.“ unterzeichnet sind.
Poincarés Dynamik des Elektrons
Am 5. Juni 1905 legte Poincaré schließlich die Zusammenfassung einer Arbeit vor, welche formal die vorhandenen Lücken von Lorentz’ Arbeit schloss. Diese Schrift enthielt zwar viele Ergebnisse, jedoch nicht die Herleitungen seiner Betrachtungen, wobei wesentliche Teile davon bereits in zwei Briefen enthalten waren, welche von Poincaré ca. Mai 1905 an Lorentz geschrieben wurden. Er sprach vom Postulat der völligen Unmöglichkeit der Entdeckung einer absoluten Bewegung, welches scheinbar ein Naturgesetz sei. Er erkannte den Gruppencharakter der von ihm als Ersten so bezeichneten Lorentz-Transformation, er gab ihr die moderne symmetrische Gestalt und unter Benutzung der relativistischen Geschwindigkeitsaddition korrigierte er Lorentz’ Terme für Ladungsdichte und Geschwindigkeit und erreichte damit die volle Lorentz-Kovarianz. Lorentz folgend erklärte er, dass die Lorentz-Transformation (und damit die Lorentz-Invarianz) auf alle Kräfte der Natur angewendet werden müsse. Aber im Gegensatz zu Lorentz behandelte er auch die Gravitation und behauptete die Möglichkeit eines Lorentz-invarianten Gravitationsmodells und erwähnte die Existenz von Gravitationswellen. Um die Kritik von Abraham zu entkräften, führte Poincaré einen nicht-elektrischen Druck ein (die „Poincaré-Spannungen“), welcher die Stabilität des Elektrons garantieren soll und womöglich auch die Längenkontraktion dynamisch begründen sollte. Damit gab Poincaré jedoch das elektromagnetische Weltbild zugunsten des Relativitätsprinzips auf.
Schließlich übermittelte Poincaré (vorgelegt am 23. Juli, gedruckt am 14. Dezember, veröffentlicht im Januar 1906) unabhängig von Einstein seine als Palermo-Arbeit bekannt gewordene Schrift, welche eine deutlich erweiterte Fassung von Poincarés erster 1905-Arbeit darstellte. Er sprach von dem „Postulat der Relativität“; er zeigte, dass die Transformationen eine Konsequenz des Prinzips der kleinsten Wirkung sind, und er demonstrierte ausführlicher als vorher deren Gruppeneigenschaft, wobei er den Namen Lorentz-Gruppe („Le groupe de Lorentz“) prägte. Er behandelte detailliert die Eigenschaften der Poincaré-Spannungen. Im Zusammenhang mit seiner Gravitationsauffassung (welche sich allerdings als unzureichend erwies) zeigte Poincaré, dass die Kombination invariant ist und führte dabei den Ausdruck ict (im Gegensatz zu Palágyi also mit Lichtgeschwindigkeit) als vierte Koordinate eines vierdimensionalen Raums ein – er benutzte dabei eine Art von Vierervektor. Allerdings merkte Poincaré 1907 an, dass eine Neuformulierung der Physik in eine vierdimensionale Sprache zwar möglich, aber zu umständlich ist und deshalb geringen Nutzen habe, weshalb er seine diesbezüglichen Ansätze nicht weiterverfolgte – dies wurde später erst durch Minkowski getan. Und im Gegensatz zu Einstein hielt Poincaré weiterhin am Konzept des Äthers fest.
Spezielle Relativitätstheorie
Einstein 1905
Spezielle Relativitätstheorie
Albert Einstein veröffentlichte in seiner Arbeit Zur Elektrodynamik bewegter Körper (übermittelt am 30. Juni, veröffentlicht am 26. September 1905) mit der speziellen Relativitätstheorie einen völlig neuen Ansatz, um diese Problematik zu lösen. Es gelang ihm nicht nur, die maßgeblichen Teile der lorentzschen Elektrodynamik abzuleiten, sondern die Theorie enthielt auch die „Abschaffung des Äthers“ und die Änderung der Grundlagen von Raum und Zeit. Dies beruhte alleine auf der Annahme von zwei Prinzipien, nämlich dem Relativitätsprinzip und der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit in allen gleichförmig bewegten Bezugssystemen. Um Einsteins Schritt zu verstehen, sei hier noch einmal die Ausgangslage zusammengefasst, insbesondere mit Blick auf die theoretischen und experimentellen Voraussetzungen (wobei beachtet werden muss, dass Einstein nach eigener Aussage zwar die 1895-Theorie von Lorentz und „Wissenschaft und Hypothese“ (1902) von Poincaré kannte, jedoch nicht deren Arbeiten von 1904 bis 1905):
Die Maxwell-Lorentzsche Elektrodynamik von 1895, welche die mit Abstand erfolgreichste Theorie war. Die Lichtgeschwindigkeit ist gemäß dieser Theorie konstant in allen Richtungen im Äther und unabhängig von der Geschwindigkeit der Lichtquelle.
Die Unauffindbarkeit eines absoluten Bewegungszustandes als Konsequenz des negativen Ausgangs aller Ätherdrift-Experimente wie auch der Tatsache, dass die Effekte der elektromagnetischen Induktion nur von der Relativbewegung abhängig sind.
Das Fizeau-Experiment.
Die Existenz der Aberration des Lichts.
Für die Lichtgeschwindigkeit und die damals diskutierten Theorien hat dies folgende Konsequenzen:
Die gemessene Lichtgeschwindigkeit setzt sich nicht additiv zusammen aus der Vakuumlichtgeschwindigkeit und der Geschwindigkeit eines bevorzugten Bezugssystems, wegen 2. Dies steht im Widerspruch zur Theorie des ruhenden oder teilweise mitgeführten Äthers.
Die gemessene Lichtgeschwindigkeit setzt sich nicht additiv zusammen aus der Vakuumlichtgeschwindigkeit und der Geschwindigkeit der Lichtquelle, wegen 1 und 3. Dies steht im Widerspruch zur Emissionstheorie.
Die gemessene Lichtgeschwindigkeit setzt sich nicht additiv zusammen aus der Vakuumlichtgeschwindigkeit und der Geschwindigkeit eines mitgeführten Mediums innerhalb bzw. in der Nähe der Materie, wegen 1, 3 und 4. Dies steht im Widerspruch zur Theorie der vollständigen Äthermitführung.
Die gemessene Lichtgeschwindigkeit in bewegten Medien setzt sich nicht direkt zusammen aus der Lichtgeschwindigkeit im ruhenden Medium und der Geschwindigkeit des Mediums, sondern folgt dem Fresnelschen Mitführungskoeffizienten, wegen 3.
Nun ist es zwar immer möglich, diverse Ad-hoc-Hypothesen einzuführen, um eine bestimmte Theorie zu retten, jedoch werden in der Wissenschaft solche „Verschwörungen“ von Effekten, die bestimmte Entdeckungen verhindern, als recht unwahrscheinlich eingestuft. Verzichtet man wie Einstein auf Hilfshypothesen und auf unbeobachtbare Eigenschaften, folgt aus obiger Aufstellung (und einer Vielzahl weiterer Experimente, die bis heute durchgeführt wurden) unmittelbar die Gültigkeit des Relativitätsprinzips und die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit in allen Inertialsystemen. Poincaré und Lorentz benutzten zum Teil dieselben Prinzipien wie Einstein, sie lehrten auch die vollständige mathematische Gleichberechtigung der Bezugssysteme und erkannten an, dass tatsächlich unterschiedliche Raum- und Zeitkoordinaten gemessen werden. Sie blieben aber dabei, die Effekte der Lorentz-Transformation auf dynamische Wechselwirkungen mit dem Äther zurückzuführen, unterschieden zwischen der „wahren“ Zeit im ruhenden Äthersystem und der „scheinbaren“ Zeit in relativ dazu bewegten Systemen und erwähnten den Äther bis zuletzt in ihren Schriften. Konkret bedeutet das, dass sie die newtonsche Mechanik zwar modifizieren, jedoch nicht grundlegend verändern wollten. Dies hatte zur Folge, dass die grundlegende Asymmetrie in der Lorentzschen Äthertheorie, nämlich die sich gegenseitig ausschließenden Begriffe wie „ruhender Äther“ und Relativitätsprinzip, weiterhin in der Konzeption der Theorie nebeneinander fortbestanden, verbunden nur durch ein System von Hilfshypothesen. Die Lösung dieser Problematik, nämlich die grundlegende Neubewertung von Raum und Zeit im Rahmen einer wissenschaftlichen Theorie, blieb also Einstein vorbehalten. Diese Abkehr vom Äther fiel ihm auch deshalb leichter als vielen seiner Zeitgenossen, weil er aufgrund seiner Arbeit zur Quantentheorie bereits erkannte, dass Licht als Teilchen beschrieben werden kann. Damit hatte die klassische Vorstellung, dass elektromagnetische Wellen einen Äther als Trägermedium benötigen, für Einstein keine so große Bedeutung mehr wie noch beispielsweise für Lorentz.
Auf wenigen Seiten konnte Einstein aufgrund seiner axiomatischen Methode Ergebnisse herleiten, auf die andere vor ihm erst in jahrelanger, komplizierter Arbeit gestoßen waren. Einstein erklärte, dass der scheinbare Widerspruch zwischen den beiden Prinzipien (welche er als Postulate seiner Theorie zugrunde legte) durch die Untersuchung der Eigenschaften von Raum, Zeit und Gleichzeitigkeit aufgehoben werden konnte und die Einführung eines Äthers überflüssig wurde. Aus der Synchronisation von Uhren mit Lichtsignalen und der damit zusammenhängenden Relativität der Gleichzeitigkeit in den §§ 1–2 leitete er von rein kinematischen Überlegungen ausgehend im § 3 die Lorentz-Transformation ab. Aus dieser Transformation konnte er wiederum als sekundäre Konsequenzen der Theorie die Längenkontraktion, die Zeitdilatation und das relativistische Geschwindigkeitsadditionstheorem in den §§ 4–5 ableiten. In den §§ 6–10 übertrug er nun die Ergebnisse seiner kinematischen Untersuchungen auf die Elektrodynamik. Er leitete den relativistischen Dopplereffekt und die relativistische Aberration aus den Transformationen ab, zeigte die Lorentz-Kovarianz der elektromagnetischen Gleichungen auf und berechnete die relativistischen Ausdrücke für den Strahlungsdruck. Schließlich leitete er die longitudinale und transversale Masse der Elektronen ab (letztere allerdings mit einem falschen Wert).
Äquivalenz von Masse und Energie
Bereits in der Arbeit zur Elektrodynamik (§10) gab Einstein die kinetische Energie eines Elektrons an mit:
.
Es blieb vorerst jedoch noch offen, ob dieser Zusammenhang wie in der klassischen Mechanik nur für bewegte Körper von Bedeutung ist, oder ob auch ruhende Körper miteinbezogen sind. In seiner Arbeit „Ist die Trägheit eines Körpers von dessen Energieinhalt abhängig?“ vom September (veröffentlicht November) zeigte Einstein anhand eines Strahlungsparadoxons, wie es in ähnlicher Form schon von Poincaré (1900) formuliert jedoch nicht aufgelöst werden konnte, dass auch ruhende Körper durch Übertragung von Energie gemäß an Masse verlieren und gewinnen können, was zur eigentlichen Äquivalenz von Masse und Energie gemäß führt. Ähnliche Formeln zur „elektromagnetischen Masse“ waren wie oben erklärt zwar schon von Thomson, Poincaré, Hasenöhrl usw. aufgestellt worden, jedoch wurde von diesen die Bedeutung der Formel nicht vollständig erkannt. Einstein hingegen konnte den tiefen Zusammenhang der Äquivalenz mit dem Relativitätsprinzip zeigen, und überdies war seine Herleitung völlig unabhängig von der Frage, ob die Masse elektromagnetischen Ursprungs ist oder nicht.
Frühe Rezeption
Erste Einschätzungen
Walter Kaufmann (1905, 1906) war wohl der Erste, der Bezug zur Arbeit Einsteins nahm. Er verglich die Theorien von Lorentz und Einstein, und obwohl er angab, dass die Methode Einsteins zu bevorzugen sei, stellte er die Beobachtungsäquivalenz der beiden Theorien fest. Deshalb sprach er vom Relativitätsprinzip als der „lorentz-einsteinschen“ Grundannahme. Auch Max Planck – der eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung der Relativitätstheorie spielte und seine Studenten Max von Laue und Kurd von Mosengeil für diese Theorie gewinnen konnte – sprach in seiner ersten Arbeit (1906a) zur SRT von der „Lorentz-Einstein-Theorie“, da das Relativitätsprinzip durch Lorentz und in noch „allgemeinerer Fassung“ von Einstein eingeführt worden war. (Der Name Poincarés findet sich allerdings nur in wenigen Arbeiten in der Frühgeschichte der SRT.) Planck war auch der Erste, der in einer weiteren Arbeit (1906b) für den Begriff „Lorentz-Einstein-Theorie“ den vom Relativitätsprinzip abgeleiteten Ausdruck „Relativtheorie“ einführte – im Gegensatz zur „Kugeltheorie“ von Abraham. In der darauf folgenden Diskussion zu der Arbeit wandelte Alfred Bucherer diesen Begriff in (einsteinsche) „Relativitätstheorie“ ab. Viele (auch Einstein) benutzten auch häufig nur den Ausdruck „Relativitätsprinzip“ für die neue Methode. Alle diese Begriffe wurden in den nächsten Jahren abwechselnd von verschiedenen Physikern benutzt. Und Einstein bezeichnete in einem bedeutenden Übersichtsartikel zum Relativitätsprinzip (1908a) den Inhalt der SRT als eine „Vereinigung der lorentzschen Theorie mit dem Relativitätsprinzip“ und der Haupterkenntnis, dass die lorentzsche Ortszeit in Wirklichkeit eine reale, gleichberechtigte Zeit ist.
Kaufmann-Bucherer-Experimente
Kaufmann (1905, 1906) gab nun die Ergebnisse seiner neu durchgeführten Experimente bekannt. Diese stellten seiner Meinung nach eine eindeutige Widerlegung des Relativitätsprinzips und der Lorentz-Einstein-Theorie dar, jedoch seien die Daten sehr gut verträglich mit der abrahamschen Theorie. Für einige Jahre stellten Kaufmanns Experimente einen gewichtigen Einwand gegen das Relativitätsprinzip dar, jedoch wurden von Planck und Adolf Bestelmeyer (1906) die Aussagekraft der Experimente in Frage gestellt. Alfred Bucherer führte schließlich 1908 neue Experimente durch, welche die Messungen Kaufmanns überprüfen sollten. Diesmal jedoch wurde das Ergebnis von Bucherer als Bestätigung der „Lorentz-Einstein-Theorie“ und des Relativitätsprinzips interpretiert. Jedoch blieben auch hier Zweifel offen. Weitere Experimente von Neumann (1914) und anderen sprachen ebenfalls für die Relativitätstheorie, sodass man allgemein zur Überzeugung gelangte, dass die Sache entschieden sei. Jedoch spätere Untersuchungen zeigten, dass die Kaufmann-Bucherer-Neumann-Experimente im Grunde alle nicht genau genug waren, um eine Entscheidung zwischen den konkurrierenden Theorien herbeizuführen. Bei solchen Experimenten konnte erst 1940 die lorentz-einsteinsche Formel endgültig bestätigt werden.
Allerdings bestand diese Problematik nur für diese Art von Experimenten. Bei Untersuchungen der Feinstruktur der Wasserstofflinien konnte schon 1917 eine sehr viel genauere Bestätigung der Lorentz-Einsteinschen Formel, und somit die Widerlegung der Abrahamschen Theorie, erbracht werden.
Relativistische Masse und Impuls
Planck (1906a) korrigierte den Fehler in Einsteins Definition der transversalen relativistischen Masse und zeigte, dass die korrekte Schreibweise mit der von Lorentz (1899) äquivalent war. Dabei definierte er auch den relativistischen Impuls. Der Arbeit Plancks zum relativistischen Impuls folgend entwarfen Gilbert Newton Lewis (1908) und Richard C. Tolman (1912) das Konzept der relativistischen Masse, indem die Masse als Verhältnis von Impuls und Geschwindigkeit definiert wurde und nicht als Verhältnis von Kraft und Beschleunigung (zeitliche Impuls- bzw. Geschwindigkeitsänderung). Dadurch wurde die alte Definition für die longitudinale und transversale Masse überflüssig.
Masse-Energie-Äquivalenz
Einstein (1906) stellte fest, dass die Trägheit der Energie (Masse-Energie-Äquivalenz) eine notwendige und hinreichende Bedingung für die Erhaltung der Schwerpunktsbewegung ist. Dabei verwies er auf Poincaré (1900b) und erklärte, dass der Inhalt dessen Arbeit hauptsächlich mit seiner eigenen übereinstimme. Und Kurd von Mosengeil (1907) entwickelte Hasenöhrls Ansatz zur Berechnung der Schwarzkörperstrahlung in einem Hohlkörper unter Einbeziehung von Einsteins Theorie weiter und legte einen wichtigen Grundstein für die relativistische Thermodynamik – er erhielt dabei den gleichen Wert für die Masse der elektromagnetischen Strahlung wie Hasenöhrl. Auf Mosengeils Arbeit basierend konnte auch Planck (1907) die Masse-Energie-Äquivalenz aus dem Ansatz der Hohlraumstrahlung ableiten, und zusätzlich berücksichtigte er auch die Bindungskräfte in der Materie. Er anerkannte die Priorität von Einsteins 1905-Arbeit zur Äquivalenz, jedoch schätzte Planck seine eigene Ableitung als allgemeingültiger ein.
Experimente von Fizeau und Sagnac
Wie oben erwähnt hatte Lorentz (1895) bereits für Größen erster Ordnung den fresnelschen Mitführungskoeffizienten und somit das Ergebnis des Fizeau-Experiments aus der elektromagnetischen Lichttheorie unter Benutzung der Ortszeit erklären können. Nach ersten Versuchen durch Jakob Laub, eine „Optik bewegter Körper“ zu erstellen, war es Max von Laue (1907), der diesen Effekt für Größen aller Ordnungen durch eine recht einfache Anwendung des relativistischen Geschwindigkeitsadditionstheorems ableitete – im Gegensatz zur vergleichsweise komplizierten Methode von Lorentz. Dieses Ergebnis ist daher nicht nur Bestätigung, sondern auch ein Beispiel für die Effizienz und Einfachheit der SRT.
Max von Laue (1911) besprach ein mögliches Experiment, wo bei einer rotierenden Versuchsanordnung Lichtstrahlen in entgegengesetzter Richtung emittiert werden und dann wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren. Seine Rechnung für die Sicht eines nicht mitrotierenden Inertialsystems ergab, dass es zu einer Verschiebung der Interferenzstreifen kommen müsste, da gemäß der Relativitätstheorie die Lichtgeschwindigkeit unabhängig von der Geschwindigkeit der Quelle ist und somit die Laufwege der beiden Strahlen relativ zum bewegten Ausgangspunkt unterschiedlich sind. D. h. es gibt kein Inertialsystem, in dem der Laufweg der beiden Lichtstrahlen gleich lang wäre. Ein Experiment dieser Art wurde von Georges Sagnac (1913) durchgeführt, welcher die entsprechende Verschiebung tatsächlich fand (Sagnac-Effekt). Während Sagnac selber glaubte, die Existenz eines ruhenden Lichtäthers bewiesen zu haben, zeigt Max von Laues vorherige Rechnung, dass dieser Effekt ebenso in Übereinstimmung mit der SRT ist – denn in beiden Theorien ist die Lichtgeschwindigkeit unabhängig von dem Bewegungszustand der Quelle. Hingegen ein mit der Versuchsanordnung mitrotierender Beobachter führt die unterschiedlichen Lichtlaufzeiten auf die Beschleunigung während der Rotation zurück, wodurch der Sagnac-Effekt als das optische Gegenstück zu rotationsmechanischen Effekten gesehen werden kann, wie z. B. beim Foucaultschen Pendel. Die Beschreibung aus Sicht eines rotierenden Bezugssystems erfolgte durch Paul Langevin (1937), wobei zu beachten ist, dass in beschleunigten Bezugssystemen die Lichtgeschwindigkeit nicht mehr konstant ist (siehe Abschnitt Beschleunigung).
Bereits zwischen 1909 und 1911 wurde ein ähnliches Experiment von Franz Harress durchgeführt, das als eine Synthese der Fizeau- und Sagnac-Experimente betrachtet werden kann. Er versuche den Mitführungskoeffizienten in Glas zu messen, jedoch benutzte er eine rotierende Versuchsanordnung, welche sehr ähnlich der später von Sagnac benutzten ist. Die von ihm gefundenen Verschiebungen wurden von Harress nicht korrekt interpretiert, jedoch konnte Laue zeigen, dass das von Harress gefundene Ergebnis dem Sagnac-Effekt entsprach. Schließlich konnte beim Michelson-Gale-Versuch (1925, eine Variation des Sagnac Versuchs) die Rotation der Erde in Übereinstimmung mit der SRT und einem ruhenden Lichtäther nachgewiesen werden.
Relativität der Gleichzeitigkeit
Die ersten Herleitungen der Relativität der Gleichzeitigkeit durch Synchronisation mit Lichtsignalen von Poincaré und Einstein wurden nun ebenfalls vereinfacht. Daniel Frost Comstock (1910) schlug vor, in der Mitte zwischen zwei bei A und B befindlichen Uhren einen Sender zu platzieren, welcher ein Signal an beide Uhren sendet, die wiederum bei Ankunft des Signals in Gang gesetzt werden. Im System, in dem A und B ruhen, beginnen die Uhren synchron zu laufen. Jedoch aus der Sicht eines Systems, in dem A und B sich mit v bewegen, wird zuerst Uhr B in Gang gesetzt und danach erst Uhr A – die Uhren sind also nicht synchron. Auch Einstein entwarf 1917 ein Modell mit einem allerdings bewegten Empfänger in der Mitte zwischen A und B. Auch ließ er das Signal nicht von der Mitte aus starten, sondern sandte umgekehrt zwei Signale von A nach B zum Empfänger. Aus der Sicht des Systems, in dem A und B ruhen, werden die Signale gleichzeitig abgesendet – hier kommt jedoch der Empfänger dem Signal von B entgegen und läuft dem Signal von A davon und somit kommen die Signale nicht gleichzeitig an. Aus der Sicht des Systems hingegen, in dem der Empfänger ruht, interpretiert man dieses ungleichzeitige Eintreffen damit, dass die Signale von vornherein nicht gleichzeitig von A und B gesendet wurden.
Emissionstheorie
Als eine Alternative zur Relativitätstheorie entwarfen Walter Ritz (1908) und andere eine an der newtonschen Korpuskulartheorie angelehnte Emissionstheorie, wonach die Lichtgeschwindigkeit in allen Bezugssystemen lediglich konstant relativ zur Emissionsquelle (und nicht zu einem Äther) ist und wo statt der Lorentz-Transformation die Galilei-Transformation verwendet wird (das heißt, in Systemen, wo sich die Quelle mit ± v bewegt, breitet sich das Licht nicht mit Geschwindigkeit c, sondern mit c ± v aus). Diese Theorie verstößt also gegen die Lichtkonstanz, genügt aber trotzdem dem Relativitätsprinzip und kann das Michelson-Morley-Experiment erklären. Auch Albert Einstein zog vor 1905 eine solche Hypothese kurz in Betracht, was auch der Grund war, dass er in seinen späteren Schriften das Michelson-Morley-Experiment zwar immer als Bestätigung des Relativitätsprinzips, nicht aber als Bestätigung der Lichtkonstanz verwendete. Jedoch würde eine Emissionstheorie eine völlige Reformulierung der Elektrodynamik erfordern, wogegen der große Erfolg der maxwellschen Theorie sprach. Und schließlich gilt die Emissionstheorie seit der Entdeckung des Sagnac-Effekts und den Versuchen von Willem de Sitter (1913) als widerlegt, da bei einer solchen Theorie die beobachteten Bahnen bei Doppelsternen den Keplergesetzen scheinbar widersprechen müssten, was jedoch nicht beobachtet wurde. Auch neuere Versuche mit hochfrequentem Licht bestätigen dieses Ergebnis und auch Versuche in Teilchenbeschleunigern konnten keine Quellenabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit nachweisen.
Physik der Raumzeit
Minkowskis Raumzeit
Poincarés vierdimensionaler Ansatz wurde von Hermann Minkowski (1907, 1908) entscheidend weiterentwickelt. Diese Geometrisierung der Lorentz-Transformation beruhte beispielsweise auf mathematischen Errungenschaften wie Gruppentheorie, Invariantentheorie und Projektive Geometrie, wie sie im 19. Jahrhundert von Mathematikern wie Arthur Cayley entwickelt wurden. In einem Vortrag von 1907 führte Minkowski nun die Raumzeit als eine „vierdimensionale nicht-Euklidische Mannigfaltigkeit“ ein. Es gelang ihm, die gesamte Elektrodynamik durch Einführung eines vierdimensionalen Formalismus im sogenannten Minkowski-Raum neu zu formulieren, was eine sehr viel klarere und zusammenhängendere Interpretation der SRT ermöglichte. Dabei führte er wichtige Begriffe wie Eigenzeit, Lorentz-Invarianz ein und verwendete Vierervektoren, welche er allerdings anders nannte. Jedoch sein Versuch ein Lorentz-invariantes Gravitationsgesetz aufzustellen, erwies sich als genauso untauglich wie das Modell von Poincaré. In seinem berühmten Vortrag Raum und Zeit (1909), wo er das Ende der bisherigen Vorstellungen von Raum und Zeit verkündete, konzipierte er das Minkowski-Diagramm zur Veranschaulichung der Raumzeit.
Minkowski selbst nannte 1907 als seine Vorläufer bei der Ausarbeitung des Relativitätsprinzips: Lorentz, Einstein, Poincaré und Planck. Hingegen in seinem berühmten Vortrag Raum und Zeit erwähnte er nur noch Voigt, Lorentz und Einstein. Dabei kritisierte er Lorentz für die Künstlichkeit seiner Kontraktionshypothese, wohingegen er seine eigene geometrische Deutung als viel natürlicher ansah. Einstein würdigte er vor allem für seine vollständige Relativierung der Zeit, jedoch bemängelte er, dass sowohl Lorentz als auch Einstein die Relativität des Raumes nicht vollständig berücksichtigt hätten. Minkowskis Prioritätsansprüche in Bezug zur Vervollständigung der Relativitätstheorie werden in diesem Zusammenhang von den Wissenschaftshistorikern jedoch zurückgewiesen. Dies deswegen, da Minkowski (wie Wien und Abraham) weiterhin ein Vertreter des elektromagnetischen Weltbildes blieb und offenbar nicht vollständig den Unterschied zwischen der lorentzschen Elektronentheorie und der einsteinschen Kinematik erkannt hatte.
Vorerst lehnten Einstein und Laub jedoch eine vierdimensionale Formulierung der Relativitätstheorie als zu aufwendig ab und veröffentlichten eine nicht-vierdimensionale Ableitung der Grundgleichungen für bewegte Körper. Trotzdem war es gerade Minkowskis Formalismus, welcher ab 1909 entscheidend für die Verbreitung und Akzeptanz der SRT verantwortlich war.
Vektor-Notation und geschlossene Systeme
Besonders bedeutend war nun die Tatsache, dass Minkowskis Konzept formal beträchtlich verfeinert und modernisiert wurde. Beispielsweise ersetzte Arnold Sommerfeld (1910) Minkowskis Matrix-Notation mit einer eleganteren Vektor-Notation und gebrauchte dabei erstmals Begriffe wie „Vierervektor“ oder „Sechservektor“. Er führte auch eine trigonometrische Herleitung der Geschwindigkeitsaddition ein, welche seiner Ansicht nach viel von der Fremdartigkeit dieses Konzepts entfernte. Weitere wichtige Beiträge wurden von Laue erbracht. Er erweiterte Minkowskis Ausdrücke auch auf nicht-elektromagnetische Prozesse und vertiefte so das Konzept der Masse-Energie-Äquivalenz. Laue zeigte auch, dass nicht-elektrische Kräfte benötigt werden, damit alle Kräfte im Elektron korrekt der Lorentz-Transformation unterworfen sind, und damit das Elektron stabil bleibt – das heißt, er zeigte, dass die Poincaré-Spannung eine natürliche Konsequenz der SRT ist, damit das Elektron ein geschlossenes System bildet.
Lorentz-Transformation ohne Lichtpostulat
Es wurden nun auch Versuche gemacht, die Lorentz-Transformation ohne Einbeziehung des Postulats der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit herzuleiten. Wladimir Sergejewitsch Ignatowski (1910) z. B. benutzte zu diesem Zweck a) das Relativitätsprinzip, b) Isotropie und Homogenität des Raumes, c) die Forderung der Reziprozität. Philipp Frank und Hermann Rothe (1910) zeigten nun auf, dass diese Herleitung unvollständig ist und auf anderen Zusatzannahmen beruhte, welche von Ignatowski nicht aufgeführt wurden. Ihre eigene Herleitung beruhte auf den Annahmen, dass a) die Lorentz-Transformation eine einparametrige, homogene lineare Gruppe bilden soll, b) dass bei Wechsel des Bezugssystems die Relativgeschwindigkeit nur das Vorzeichen wechselt, c) dass die Längenkontraktion ausschließlich von der Relativgeschwindigkeit abhängt. Nach Pauli und Miller waren jedoch sowohl Ignatowski als auch Frank/Rothe nicht in der Lage, in den erhaltenen Transformationen die invariante Geschwindigkeit mit der Lichtgeschwindigkeit zu identifizieren, da beispielsweise Ignatowski auf die Elektrodynamik zurückgreifen musste, um die Lichtgeschwindigkeit zu erhalten. Pauli vertrat daher die Meinung, dass beide Postulate für die Herleitung der Lorentz-Transformation notwendig sind. Ähnliche Versuche, die Transformationen ohne Benutzung des Lichtpostulats abzuleiten, wurden von einer Reihe weiterer Autoren unternommen.
Nichteuklidische Reformulierungen der Theorie
Minkowski stellte 1907 fest, dass der Raumzeit-Formalismus einen engen Zusammenhang zur nichteuklidischen Geometrie besitzt. Jedoch benutzte er weiterhin eine imaginäre Zeitkoordinate als vierte Dimension. Ebenso wurden aus der Arbeit von Born (1909) über Beschleunigung von starren Körper Analogien zur riemannschen Geometrie deutlich, wobei damit zusammenhängend das ehrenfestsche Paradoxon für Einstein ein wichtiger Fingerzeig bei seiner zu entwickelnden Gravitationstheorie war. Von verschiedenen Mathematikern und Physikern wurden nun weitergehende systematische Versuche unternommen, um die gesamte SRT auf Basis einer nichteuklidischen Geometrie zu reformulieren, d. h. diese Raumzeitmodelle operierten mit einer realen Zeitkoordinaten als vierter Dimension. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse ermöglichten eine elegante Formulierung verschiedener Ausdrücke der Theorie. Trotzdem gingen diese Modelle, was den physikalischen Gehalt betrifft, inhaltlich nicht über die Aussagen der SRT hinaus. Vladimir Varičak (1910, 1912) bemerkte die Analogie zur hyperbolischen Geometrie und versuchte damit die SRT neu zu formulieren. Alfred Robb (1911) führte den Begriff der Rapidität als Hyperbelfunktion zur Beschreibung der Systemgeschwindigkeit ein. Edwin Bidwell Wilson und Gilbert Newton Lewis (1912) verwendeten eine nichteuklidische Vektorrechnung. Eine wichtige Entdeckung machte Émile Borel (1913), welcher auf Basis einer hyperbolischen Geometrie die kinematische Grundlage der Thomas-Präzession legte. Jedoch wurde Minkowskis ursprünglicher Raumzeit-Formalismus weiterhin bevorzugt und es dauerte bis zur Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie, bis die nichteuklidische Geometrie eine wichtige Rolle in der Physik spielte. Und auch in den meisten modernen Arbeiten zur RT wird die nichteuklidische Darstellung mit einer realen Zeitkoordinate bevorzugt.
Zeitdilatation und das Zwillingsparadoxon
Einstein (1907a) zeigte, dass der transversale Dopplereffekt (der eine Konsequenz der Zeitdilatation ist) die Möglichkeit offenlegte, die Existenz der Zeitdilatation experimentell nachzuprüfen. 1938 gelang es Herbert E. Ives (obwohl dieser ein erbitterte Gegner der SRT war) und G. R. Stilwell tatsächlich, diesen Effekt und damit die Zeitdilatation experimentell nachzuweisen (Ives-Stilwell-Experiment).
Und Lewis und Tolman (1909) veranschaulichten die von Einstein geforderte Reziprozität der Zeitdilatation durch Benutzung zweier Lichtuhren A und B, welche sich mit einer bestimmten Relativgeschwindigkeit zueinander bewegen. Die Uhren bestehen aus zwei Spiegeln, zwischen welchen jeweils ein Lichtsignal hin- und hergeschickt wird. Für einen Beobachter, welcher im selben Inertialsystem wie A ruht, ist der Laufweg des Signals einfach der Abstand zwischen ihnen durch die Lichtgeschwindigkeit. Betrachten sie jedoch Uhr B, bemerken sie, dass dort die Laufzeit länger ist, weil der Lichtstrahl sich geneigt ausbreiten muss, um sein Ziel zu erreichen – A geht also schneller als B. Hingegen ein bei B ruhender Beobachter sieht es genau umgekehrt: Hier ruht B, und A ist bewegt, und folglich ist B die schneller laufende Uhr. Und in einem Vortrag zwischen 1910 und 1912 diskutierte Lorentz ebenfalls Reziprozität der Zeitdilatation und damit zusammenhängend ein scheinbares Uhrenparadoxon. Lorentz zeigt, dass es sich bei der Aussage, dass jeder die Uhr des anderen jeweils langsamer wahrnimmt, nicht um ein Paradoxon handelt. Es muss nämlich bedacht werden, dass in einem System nur mit einer Uhr gemessen wird, im anderen jedoch zwei Uhren erforderlich sind – in diesem Fall muss auch die Relativität der Gleichzeitigkeit berücksichtigt werden.
Weiters kreierte Paul Langevin (1911) mit dem berühmten Zwillingsparadoxon eine ähnliche Situation, indem er die Uhren mit Personen ersetzte (er sprach zwar nicht wörtlich von Zwillingen, aber seine Darstellung enthält ansonsten alle anderen Merkmale des Paradoxons). Langevin löste das Paradoxon auf, indem er auf die Asymmetrie der beiden Beobachter hinwies, wonach ein Körper einen durch Beschleunigung verursachten Richtungswechsel vollführt. Langevin selbst sah das jedoch als Hinweis auf eine „absolute Bewegung“ in einem Äther. Obwohl diese Erklärung bis heute im Prinzip beibehalten wurde, werden seine Folgerungen in Bezug auf den Äther abgelehnt. Zum Beispiel wies Max von Laue (1913) darauf hin, dass die Beschleunigung in Bezug auf die inertiale Bewegung beliebig klein gemacht werden kann. Dadurch konnte Laue zeigen, dass es von weit wichtigerer Bedeutung ist, dass sich der reisende Zwilling während seiner Reise beim Hin- und Rückflug in zwei Inertialsystemen befindet, während der zurückgebliebene Zwilling in einem einzigen verbleibt. Laue war auch der Erste, der dies mit Minkowski-Diagrammen veranschaulichte und feststellte, wie die Weltlinien von inertial bewegten Beobachtern die Eigenzeit zwischen zwei Ereignissen maximieren.
Beschleunigung
Einstein (1908) versuchte (vorläufig noch im Rahmen der SRT), auch beschleunigte Bewegungen mit dem Relativitätsprinzip zu erfassen. Dabei erkannte er, dass für jeden einzelnen Beschleunigungsabschnitt ein Inertialsystem definiert werden kann, in dem der beschleunigte Körper jeweils ruht. Dabei ergibt sich, dass in auf diese Weise definierten beschleunigten Bezugssystemen die Lichtgeschwindigkeit nicht mehr konstant ist, da das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit nur mehr bei kleinen Lichtwegen zur Bestimmung der Gleichzeitigkeit benutzt werden kann. Das von Einstein in diesem Zusammenhang aufgestellte Äquivalenzprinzip, wonach schwere und träge Masse äquivalent sind, und Vorgänge in einem beschleunigten Bezugssystem äquivalent sind mit Vorgängen in einem homogenen Gravitationsfeld, sprengte allerdings die Grenzen der SRT und brachte die Allgemeine Relativitätstheorie hervor.
Fast gleichzeitig mit Einstein besprach auch Minkowski (1908) den Spezialfall einer gleichförmigen Beschleunigung im Rahmen seines Raumzeitformalismus, und erkannte, dass die daraus resultierende Weltlinie einer Hyperbel entspricht. Dies wurde von Born (1909) und Sommerfeld (1910b) fortgeführt, wobei Born dafür den Ausdruck Hyperbelbewegung prägte. Er erkannte dabei, dass die gleichförmige Beschleunigung als Annäherung für die Beschreibung von verschiedenen Beschleunigungen in der SRT benutzt werden kann. Weiterhin konnten Harry Bateman und Ebenezer Cunningham (1910) nachweisen, dass die Maxwellschen Gleichungen nicht nur unter der Lorentz-Gruppe, sondern auch unter einer allgemeineren Gruppe von Kugelwellentransformationen (oder konformen Transformationen) invariant blieben, und damit ihre Gültigkeit auch bei einer Reihe von beschleunigten Bewegungen beibehielten. Eine allgemein-kovariante Formulierung der Elektrodynamik wurde schließlich von Friedrich Kottler (1912) gegeben, wobei diese auch im Rahmen der später entwickelten allgemeinen Relativitätstheorie gültig ist. Was die weitere Ausarbeitung der Beschreibung von Beschleunigungen im Rahmen der SRT betrifft, sind u. a. die Arbeiten von Paul Langevin für rotierende Bezugssysteme, und vor allem von Wolfgang Rindler zu nennen.
Starre Körper und Realität der Längenkontraktion
Einstein (1907b) besprach die Frage, ob in starren Körpern, bzw. überhaupt, die Informationsgeschwindigkeit größer als Lichtgeschwindigkeit sein könne und erklärte, dass unter diesen Umständen Informationen in die Vergangenheit gesendet werden könnten und die Kausalität verletzt wäre. Da dies jedoch radikal gegen jede Erfahrung verstößt, ist Überlichtgeschwindigkeit ausgeschlossen. Er fügte hinzu, dass weitergehend eine Dynamik des starren Körpers in der SRT erstellt werden müsse (womit nun auch Einstein wie Planck und Bucherer den Ausdruck „Relativitätstheorie“ benutzte). Als Born (1909) versuchte, die SRT auch auf beschleunigte Bewegung auszuweiten, benutzte er dabei das Konzept des starren Körpers. Dieses Modell mündete jedoch in einer konzeptionellen Sackgasse, denn Paul Ehrenfest (1909) veröffentlichte eine kurze Arbeit, worin er mittels des nach ihm benannten ehrenfestschen Paradoxon zeigte, dass ein starrer Körper im Rahmen der SRT nicht in Rotation versetzt werden kann, denn aufgrund der Lorentzkontraktion würde sich der Umfang einer rotierenden Scheibe (als starrer Körper betrachtet) bei gleich bleibendem Radius verkürzen. Diese Untersuchungen wurden u. a. von Gustav Herglotz und Fritz Noether fortgeführt, welche eine relativistische Elastizitätstheorie entwickelten, dabei jedoch die Verwendung von „starren Körpern“ erheblich einschränken mussten. Schließlich erkannte Max von Laue (1911b), dass in der SRT ein Körper unendlich viele Freiheitsgrade besitzt, das heißt, es gibt überhaupt keine „starren“ Körper. Während Borns Definition also für starre Körper unverträglich war, war sie durchaus brauchbar für die Beschreibung von starren Bewegungen der Körper. Jedenfalls wurde ein ähnliches Gedankenexperiment für Einstein ein wichtiger Fingerzeig bei seiner zu entwickelnden Gravitationstheorie, denn er erkannte, dass die Geometrie in einem mitrotierenden Bezugssystem nichteuklidisch ist. Die bis heute maßgebliche Beschreibung der nichteuklidischen Geometrie in einem rotierenden Bezugssystem wurde von Langevin (1935) gegeben, wobei aufgrund der Komplexität der Zusammenhänge (und oft auch aus Unkenntnis der vorhandenen Lösungen) bis heute diverse Variationen und Erweiterungen dieser Lösung veröffentlicht werden.
Im Zusammenhang mit dem ehrenfestschen Paradoxon wurde von Vladimir Varičak (1911) die Frage diskutiert, ob die Längenkontraktion „real“ oder „scheinbar“ sei. Es handelte sich hierbei jedoch eher um einen Streit um Worte, denn wie Einstein in seiner Antwort an Varičak ausführte, ist die kinematische Längenkontraktion zwar insofern „scheinbar“, da sie für einen mitbewegten Beobachter nicht existiert, jedoch für einen nicht mitbewegten Beobachter ist sie sehr wohl „real“ und ihre Konsequenzen sind messbar. Was die Messergebnisse betrifft, ergibt sich für die Kontraktionshypothese von Lorentz das Gleiche: Auch hier ist die Kontraktion nur für einen nicht mitbewegten Beobachter messbar, nicht jedoch für einen mitbewegten. Der fundamentale Unterschied liegt in der Interpretation – während nach Einstein die Kontraktion eine Folge von kinematischen Effekten wie der (un-)gleichzeitigen Messung der Endpunkte einer Strecke ist, handelt es sich bei Lorentz um einen dynamisch-mechanischen, durch im Äther übermittelte Kräfte verursachten Effekt.
Akzeptanz der Theorie
Es kristallisierte sich nun endgültig der wesentliche interpretatorische und philosophische Unterschied zwischen den Theorien von Lorentz und Einstein heraus. So wurde nicht mehr die Bezeichnung „Lorentz-Einstein-Theorie“ benutzt und kaum noch jemand (mit Ausnahme von Lorentz, Poincaré, Langevin und einigen anderen) bekannte sich noch zur Existenz eines Äthers in irgendeiner Form. So verglich Planck bereits 1909 die Auswirkungen des modernen Relativitätsprinzips – vor allem mit Blick auf Einsteins Relativität der Zeit – mit den Umwälzungen durch das kopernikanische Weltsystem. Besonders bedeutend war auch die Tatsache, dass das Raumzeit-Konzept Minkowskis formal beträchtlich verfeinert und modernisiert wurde, was ab 1911 der SRT insbesondere unter Mathematikern und theoretischen Physikern zu weitgehender Akzeptanz verhalf. In diesem Jahr veröffentlichte Laue die erste Monographie zur SRT, Sommerfeld erklärte die SRT bereits zu einer gesicherten Grundlage der Physik, und Wien schlug 1912 Lorentz und Einstein gemeinsam für den Nobelpreis wegen ihrer Leistungen bei der Ausarbeitung des Relativitätsprinzips vor. Einstein war zu dieser Zeit schon intensiv mit der Ausarbeitung der allgemeinen Relativitätstheorie beschäftigt, wobei er zeigte (siehe oben), dass die SRT nicht ausreichte, um eine mit den Beobachtungen übereinstimmende Gravitationstheorie zu entwickeln. Schließlich gebrauchte er 1915 zur Unterscheidung der Theorien erstmals den Ausdruck „Spezielle Relativitätstheorie“.
Relativistische Theorien
Gravitation
Der erste Versuch, eine relativistische Gravitationstheorie zu formulieren, wurde von Poincaré (1905) unternommen. Sein Bestreben war es, das newtonsche Gravitationsgesetz so zu modifizieren, damit das resultierende Gesetz eine Lorentz-kovariante Form annimmt. Er bemerkte dabei selbst, dass seine Lösung nicht eindeutig war, und verschiedene Lösungen möglich waren. Jedoch konnte er einen Einwand entkräften, der bereits um 1800 von Pierre-Simon Laplace gemacht wurde, wonach die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Gravitation aufgrund der Aberration der Gravitation sehr viel schneller als die des Lichtes sein müsse. Poincaré zeigte hingegen, dass in einer Lorentz-kovarianten Theorie die Ausbreitung mit Lichtgeschwindigkeit erfolgt, und trotzdem stabile Orbits möglich sind. Ähnliche Modelle wurden im Anschluss an Poincaré von Minkowski (1907b) und Sommerfeld (1910) dargelegt. Doch Abraham konnte 1914 zeigen, dass praktisch alle älteren „mechanischen“ Modelle wie die Le-Sage-Gravitation aber auch die Theorien von Poincaré und Minkowski, zur Klasse von „Vektortheorien“ der Gravitation zählten. Diese hatten den fundamentalen Fehler, dass hier die Energie des Gravitationsfeldes einen negativen Wert annehmen müsste und eine Verletzung der Energieerhaltung nicht umgangen werden könne. Als Alternative schlugen Abraham (1912) und Gustav Mie (1914) verschiedene „Skalartheorien“ vor. Während Mie seine Theorie niemals vollständig widerspruchsfrei ausformulieren konnte, entwickelte Abraham (der sein Leben lang ein Gegner der Relativitätstheorie war) im weiteren Verlauf eine Theorie, in der die Lichtgeschwindigkeit nicht einmal mehr lokal konstant, und somit mit den Grundprinzipien der Relativitätstheorie nicht mehr vereinbar war.
Darüber hinaus verletzten alle diese Theorien eine Bedingung, die Einstein 1907 vorschlug: Nämlich die Äquivalenz von träger und schwerer Masse. Einstein glaubte nun, dass es unmöglich war eine Theorie zu entwickeln, die sowohl Lorentz-kovariant war als auch das Äquivalenzprinzip erfüllte. Doch Gunnar Nordström (1912, 1913) gelang es, eine Skalartheorie der Gravitation zu entwickeln, in welcher beide Bedingungen erfüllt sind. Dies konnte er dadurch erreichen, in dem er sowohl träge als auch schwere Masse abhängig vom Gravitationspotential machte. Seine Theorie ist darüber hinaus bemerkenswert, weil in ihr (wie Einstein und Adriaan Daniël Fokker 1914 zeigten) erstmals die Gravitationswirkungen vollständig durch die Geometrie einer gekrümmten Raumzeit dargestellt werden konnten. Obwohl Nordströms Theorie also widerspruchsfrei war, hatte sie aus Sicht von Einstein ein grundlegendes Problem: Sie erfüllte nicht die von ihm als besonders wichtig erachtete allgemeine Kovarianz, da sich weiterhin bevorzugte Bezugssysteme in Nordströms Theorie definieren ließen. Im Gegensatz zu diesen mit der speziellen Relativitätstheorie übereinstimmenden „Skalartheorien“ entwarf Einstein (1911–1915) deshalb eine „Tensortheorie“ der Gravitation, welche sowohl das Äquivalenzprinzip erfüllen als auch die Beschreibung von verschiedensten Bewegungen (inkl. Beschleunigungen) auf eine allgemein kovariante Weise beinhalten sollte. Dabei zeigte sich, dass eine solche Theorie (welche von Einstein 1915 als Allgemeine Relativitätstheorie bezeichnet wurde) die Grenzen der speziellen Relativitätstheorie und der Lorentz-Kovarianz sprengte, denn das Prinzip der Lichtkonstanz ist nur mehr lokal gültig. Die Entscheidung zwischen den Lorentz-kovarianten Theorien und Einsteins allgemeiner RT erbrachte erst die Erklärung eines Phänomens, das in den meisten Arbeiten zur Gravitation zwar erwähnt, jedoch vorerst nicht als entscheidend angesehen wurde: Nämlich die Periheldrehung des Merkur, welche nur mit Einsteins Theorie vollständig erklärt werden konnte. Darüber hinaus lieferte nur die ART (im Gegensatz zu den Lorentz-kovarianten Theorien) den richtigen Wert für die Lichtablenkung durch die Sonne.
Quantenfeldtheorie
Die Notwendigkeit, die SRT mit der Quantenmechanik zu vereinen, war eine der hauptsächlichen Motivationen in der Entwicklung der Quantenfeldtheorie. Pascual Jordan und Wolfgang Pauli zeigten 1928, dass die Quantentheorie relativistisch formuliert werden kann. Paul Dirac leitete die Dirac-Gleichung für Elektronen ab und sagte die Existenz von Antimaterie voraus.
Viele andere Gebiete der Physik, wie Thermodynamik, Statistische Mechanik, Hydrodynamik, Quantenchemie etc., können ebenso relativistisch reformuliert werden.
Experimente
Wie oben erklärt, bereiteten vor allem folgende Experimente vor 1905 die Entwicklung der SRT vor: Das Fizeau-Experiment, das Michelson-Morley-Experiment, die Kaufmann-Bucherer-Neumann-Experimente, das Trouton-Noble-Experiment, die Experimente von Rayleigh und Brace, und dazu noch Experimente zur Aberration des Lichtes.
Ab den 1920ern wurden das Michelson-Morley-Experiment vielfach wiederholt, wobei moderne Experimente mit optischen Resonatoren durchgeführt werden. 1932 wurde mit dem Kennedy-Thorndike-Experiment und seinen modernen Wiederholungen, die Unabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit von der Geschwindigkeit der Experimentalanordnungen bezüglich eines bevorzugten Bezugssystems nachgewiesen. Der Beitrag der Zeitdilatation zum relativistischen Doppler-Effekt wurde ab 1938 mit dem Ives-Stilwell-Experiment und Wiederholungen, und die Zeitdilatation bewegter Teilchen ab 1940 bestätigt. Ebenso wurden viele Tests der relativistischen Energie-Impuls-Beziehung durchgeführt. Diese relativistischen Effekte müssen bei der Konstruktion von Teilchenbeschleunigern berücksichtigt werden. Zusätzlich werden viele Moderne Tests der Lorentzinvarianz durchgeführt, um mögliche Theorien der Quantengravitation zu überprüfen.
Kritik
Einige Naturwissenschaftler, Philosophen, und Laien lehnten (und lehnen) die SRT ab. Für nähere Details siehe den Artikel → Kritik an der Relativitätstheorie.
Priorität
Edmund Taylor Whittaker sprach 1953 in der zweiten Ausgabe seiner bekannten History of the theories of aether and electricity von der Relativitätstheorie als der Schöpfung von Poincaré und Lorentz und maß Einsteins Beiträgen nur sekundäre Bedeutung bei. Dies ist jedoch nicht die Meinung der überwiegenden Mehrheit der Fachwelt. Wissenschaftshistoriker wie Gerald Holton, Arthur I. Miller, Abraham Pais, und John Stachel erkennen die Leistungen Poincarés an, jedoch wird betont, dass Einstein als Erster die vollständige Relativierung von Raum und Zeit an sich lehrte, den (klassischen) Äther aus der Physik verbannte, und erst damit den Weg in eine grundlegend neue Theorie geebnet hat. Andere Wissenschaftshistoriker gehen etwas weiter und bezeichnen Poincarés Theorie als eine Art „relativistische Physik“ (Katzir) bzw. „Relativitätstheorie“ (Walter) – wenn auch nicht dieselbe wie Einsteins SRT. Hingegen wird die Meinung, dass Poincaré (und Lorentz), und nicht Einstein, die wahren Begründer der heute gelehrten SRT seien, nur noch außerhalb des wissenschaftlichen Mainstreams vertreten (z. B. Logunov).
Lorentz
Obwohl Lorentz weiterhin am Äthergedanken festhielt, sprach er in seinem Hauptwerk The theory of electrons (1909) voll Anerkennung über „Einsteins Relativitätsprinzip“ und seinen Ausführungen über Uhren, Maßstäbe und Synchronisation. Einsteins große Leistung sei es gewesen, durch die völlige Gleichsetzung der unterschiedlichen Inertialsysteme (insbesondere der Zeitvariable), Lorentz’ umständliche Formulierung durch eine sehr viel durchsichtigere und einfachere zu ersetzen. Bemerkenswert ist, dass weder hier noch in der Neuausgabe (1916) der Name von Poincaré in diesem Zusammenhang erwähnt wird.
Hingegen würdigte Lorentz in einer 1914 geschriebenen, aber erst 1921 veröffentlichten Arbeit auch Poincaré für seine Arbeiten von 1905/1906. Er verwies auf diesen als den ersten, der die formale Gleichwertigkeit der Ortszeit mit der „normalen“ Zeit erkannte, während er selbst sie als mathematischen Trick angesehen hatte. Deswegen habe er selbst nicht die korrekte Anwendung der Transformation angeben können – dies wurde zuerst von Poincaré und später von Einstein und Minkowski getan. Auch habe Poincaré vor ihm die grundlegende Bedeutung des Relativitätsprinzips für die Elektrodynamik erkannt und als erster die Begriffe „Relativitätspostulat“ und „Relativitätsprinzip“ verwendet. Zuletzt wies er auf die (im Abschnitt „Lorentz-Transformation“ dargestellten) von Poincaré gemachten grundlegenden Erkenntnisse hin.
Abgesehen von dieser Ausnahme erwähnte Lorentz jedoch weiterhin nur Einstein in diesem Zusammenhang. Beispielsweise deutete Michelson (1928) an, dass Lorentz der Urheber der Relativitätstheorie sei. Lorentz antwortete, dass er zu der Zeit, als Einstein die SRT erstellte, seine Zeittransformation nur als heuristische Arbeitshypothese betrachtete. Die Relativitätstheorie sei daher wirklich allein Einsteins Werk – es könne keinen Zweifel geben, dass Einstein sie entdeckt habe, selbst wenn die Arbeit seiner Vorgänger auf diesem Gebiet überhaupt nicht gemacht worden wäre.
Poincaré
Poincaré hingegen stellte die neuen Theorien immer als Schöpfung von Lorentz dar und sah keinen Grund, Einstein und Minkowski in diesem Zusammenhang überhaupt zu erwähnen. So schreibt er noch 1912 kurz vor seinem Tod zu der Frage, ob die „lorentzsche Mechanik“ auch nach der Entwicklung der Quantenphysik Bestand haben wird:
Obwohl Poincaré in seinen philosophischen Schriften die Relativität der Zeit hervorhob, verwies er in seinen physikalischen Arbeiten (1900b, 1904, 1906, 1908b) weiterhin auf einen (unmöglich zu entdeckenden) Äther und unterteilte Koordinaten bzw. Phänomene in lokal/scheinbar für bewegte Beobachter, und wahr/real für im Äther ruhende Beobachter. Deshalb wird (mit einigen Ausnahmen) von den meisten Historikern angenommen, dass Poincarés Theorie nicht dem entspricht, was bis heute als spezielle Relativitätstheorie bezeichnet wird, obwohl zugestanden wird, dass er wesentliche Methoden und Inhalte der Theorie vorweggenommen hat.
Einstein
Einsteins Arbeit zur Elektrodynamik (1905) enthält keine Referenzen zu anderen Werken. Deshalb verweisen die Einstein-Biographen Abraham Pais und Albrecht Fölsing im Zusammenhang mit dessen Literaturrezeption auf folgendes Einstein-Zitat:
In einem Brief an Stark von 1907 schrieb Einstein darüber hinaus, dass er aufgrund seiner Tätigkeit in Patentamt kaum Gelegenheit habe, einschlägige Fachliteratur in den Bibliotheken zu studieren. Das heißt allerdings nicht, dass Einstein generell nicht über den Stand der Wissenschaft orientiert gewesen war, sondern er dürfte auf bestimmten Bereichen durchaus gut informiert gewesen sein. Und so versuchen einige Wissenschaftshistoriker, die von Einstein benutzte Quellen aufzulisten.
In philosophischer Hinsicht gab Einstein an, von den empiristischen Philosophen David Hume und Ernst Mach, dessen Machsches Prinzip Einstein 1918 formulierte, beeinflusst worden zu sein. Möglicherweise hatte Einstein auch Kenntnis der wichtigen Arbeiten von Wien, Cohn, Abraham, Bucherer, oder Hasenöhrl in den Annalen der Physik, da er selbst ab 1901 mehrere Artikel in diesem Journal veröffentlichte. So verwendete er Abraham folgend den Ausdruck „Maxwell-Hertzsche Gleichungen“ und „in Anlehnung an die übliche Betrachtungsweise“ die Begriffe der transversalen und longitudinalen Masse. Schließlich erwähnt er in § 9 die „lorentzsche Theorie der Elektrodynamik“. Weiters veröffentlichte Einstein in Beiblätter zu den Annalen der Physik allein im Jahr 1905 einundzwanzig Reviews über vor allem thermodynamische Arbeiten. Jürgen Renn, Direktor vom MPIWG, schrieb:
Eine wichtige Quelle war auch August Föppls Lehrbuch zur Elektrodynamik (1894), welches Maxwells Theorie in der Formulierung von Heaviside und Hertz und eine Variante des für Einstein im Zusammenhang mit dem Relativitätsprinzip wichtigen „Bewegter-Magnet-und-Leiter“ Problems enthielt. Dazu kam noch Einsteins Tätigkeit als Patentprüfer, wo er möglicherweise mit diversen Patenten zur Uhrensynchronisation auf elektrischer Basis zu tun hatte. Auch kannte er die Arbeit von Lorentz von 1895, wo dieser die Ortszeit, die Längenkontraktion, und das Michelson-Morley-Experiment beschrieb. Wie er 1909 ausführte, entnahm Einstein das Prinzip der Lichtkonstanz deswegen auch dem lorentzschen Äther (bzw. den „Maxwell-Lorentzschen“ Gleichungen). 1912 fasste er dies so zusammen:
Einstein kam dabei zur Überzeugung, dass die Ortszeit eine reale, gleichberechtigte Zeitangabe sei und nicht nur ein mathematischer Trick. Und er erkannte im Gegensatz zu Poincaré und Lorentz, dass gerade die Gleichberechtigung der Bezugssysteme und damit die Unentdeckbarkeit des Äthers den Ätherbegriff überhaupt sinnlos machte.
Es ist auch bekannt, dass er vor 1905 mit Maurice Solovine und Conrad Habicht in der Akademie Olympia Poincarés Buch Wissenschaft und Hypothese, welches sie „Wochen hindurch fesselte und faszinierte“, gelesen hat. Ob Einstein eine der anderen Arbeiten Poincarés vor 1905 gelesen hat, bleibt unklar. In seinen wissenschaftlichen Schriften nach 1905 bezieht sich Einstein auf Poincaré nur im Zusammenhang mit der Trägheit der Energie (1906) und der nichteuklidischen Geometrie (1921), nicht jedoch auf dessen Leistungen bei der Formulierung der Lorentztransformation, dem Zusammenhang zwischen Uhrensynchronisation und Gleichzeitigkeit, oder des Relativitätsprinzips. Erst 1953, anlässlich des 50-jährigen Bestehens der SRT, erwähnte er erstmals Poincaré – vielleicht deswegen, weil Abraham Pais um 1950 Einstein eine Kopie von Poincarés Palermo-Arbeit überlassen hatte. Er schrieb:
Und 1955 schrieb er an Carl Seelig:
Siehe auch
Tests der speziellen Relativitätstheorie
Geschichte der Lorentz-Transformation
Literatur
Quellen
Siehe auch englischer Volltext
Siehe auch .
Teilweiser Nachdruck des Vorworts in „Wissenschaft und Hypothese“ (1902), Kap. 12.
Nachdruck in Poincaré, Oeuvres, tome IX, S. 395–413.
Deutsche Übersetzung in „Wissenschaft und Hypothese“ (1902), Kap. 9–10.
Siehe auch .
Nachdruck in „Wissenschaft und Hypothese“ (1902), Kap. 6–7.
Siehe auch .
Siehe auch .
Deutsche Übersetzung in „Wissenschaft und Methode“ (1908), Drittes Buch.
Siehe auch englische Übersetzung.
Einzelnachweise und Sekundärquellen
Im Text verweisen die in Klammern neben den Namen angegebenen Jahreszahlen auf das Veröffentlichungsdatum der Primärquelle des jeweiligen Autors. Die in den Fußnoten angegebenen Einzelnachweise verweisen hingegen auf folgende Sekundärquellen der Wissenschaftshistoriker, welche die inhaltliche Grundlage des Artikels bilden.
Weblinks
Albert Einstein in Annalen der Physik
O’Connor, John J. & Robertson, Edmund F., „Special relativity“, MacTutor History of Mathematics archive
Mathpages: Who Invented Relativity?, Poincaré Contemplates Copernicus, Corresponding States, The End of My Latin,
Geschichte der Physik
Spezielle Relativitätstheorie |
3442117 | https://de.wikipedia.org/wiki/Discovery-Expedition | Discovery-Expedition | Die British National Antarctic Expedition von 1901 bis 1904, besser bekannt als Discovery-Expedition, war die erste offizielle britische Expedition in die Antarktis seit der Fahrt unter James Clark Ross 60 Jahre zuvor. Sie wurde von einem Komitee aus Mitgliedern der Royal Society und der Royal Geographical Society geplant und sollte wissenschaftliche Untersuchungen und geografische Erforschung in einem damals fast völlig unberührten Kontinent durchführen. Mit dieser Expedition begannen die Karrieren vieler Männer, die später zu Hauptfiguren im „Heldenzeitalter“ der Antarktisforschung werden sollten, darunter der Expeditionsleiter Robert Falcon Scott, Ernest Shackleton, Edward Wilson, Frank Wild, Tom Crean und William Lashly.
Die Expedition konnte bedeutende Pionierarbeiten und wichtige geographische Entdeckungen vorweisen, darunter die Entdeckung der Edward-VII-Halbinsel als östliche Begrenzung des Ross-Schelfeises, der erstmalige Aufstieg eines bemannten Ballons in der Antarktis, die Überwinterung in zwei aufeinanderfolgenden Jahren, das erstmalige Betreten des Polarplateaus und einen neuen Rekord in der größten Annäherung an den geographischen Südpol. Als Wegbereiter für spätere Unternehmungen ist die Discovery-Expedition ein wichtiges Ereignis in der Geschichte der britischen Antarktisforschung.
Nach der Heimkehr der Männer wurde sie als Erfolg gefeiert, obwohl eine aufwändige Befreiungsoperation für die im Eis eingefrorene Discovery erforderlich war und später Zweifel an der Qualität einiger der wissenschaftlichen Aufzeichnungen aufkamen. Es wurde geltend gemacht, dass die Expedition vor allem bei der Beherrschung der Fortbewegungsmittel wie Skiern und Hundeschlitten versagt habe, ein Ruf, der britischen Expeditionen noch viele Jahre lang anhängen sollte.
Hintergrund
Vorgänger
Zwischen 1839 und 1843 unternahm der Navy-Kapitän James Clark Ross, der die zwei Schiffe HMS Erebus und HMS Terror kommandierte, drei Reisen in die Antarktis. In dieser Zeit entdeckte und erforschte er ein neues Gebiet der Antarktis, das das Arbeitsgebiet vieler nachfolgender britischer Expeditionen werden sollte, darunter auch das der Discovery-Expedition. Ross stellte die ungefähre Geografie der Region fest und benannte viele geografische Objekte, darunter das Rossmeer, das später nach ihm benannte und ursprünglich „Great Ice Barrier“ getaufte Ross-Schelfeis, die Ross-Insel, Kap Adare, Viktorialand, den McMurdo-Sund, Kap Crozier und die Zwillingsvulkane Mount Erebus und Mount Terror. Er kehrte mehrmals zum Ross-Schelfeis zurück, in der Hoffnung, tiefer eindringen zu können, was ihm jedoch niemals gelang. Den südlichsten Punkt erreichte er im Februar 1842 in einer kleinen Bucht auf 78° 10′ S. Ross vermutete, dass Land im Osten der Schelfeistafel liege, konnte es aber nicht bestätigen.
Nach Ross gab es für fünfzig Jahre keine bekannten Reisen in diesem Gebiet der Antarktis, bis ein norwegisches Walfangschiff im Januar 1895 kurz am Kap Adare anlandete, dem Nordzipfel von Viktorialand. Vier Jahre darauf unternahm Carsten Egeberg Borchgrevink, der an dieser Landung teilgenommen hatte, mit der Southern Cross seine eigene Expedition in die Region. Er landete im Februar 1899 am Kap Adare, errichtete eine kleine Hütte und verbrachte dort den Winter 1899. Im folgenden Sommer segelte Borchgrevink nach Süden und landete in der Bucht Ross’ in der Schelfeistafel. Eine Gruppe von drei Männern fuhr dann per Schlitten auf der Oberfläche der Schelfeistafel nach Süden und kam bis auf 78° 50′ S.
Die Discovery-Expedition wurde während eines zunehmenden internationalen Interesses an der Antarktis um die Jahrhundertwende geplant. Vier andere Expeditionen waren gleichzeitig mit der Discovery-Expedition in der Antarktis: die Gauß-Expedition unter Erich von Drygalski, die Schwedische Antarktisexpedition, geleitet von Otto Nordenskjöld, eine weitere aus Frankreich unter Jean-Baptiste Charcot und die Scottish National Antarctic Expedition unter William Speirs Bruce.
Royal Navy, Markham und Scott
Polarforschung war in Friedenszeiten einst eine traditionelle Aktivität der Royal Navy gewesen. Dieses Interesse verringerte sich nach dem völligen Verlust der Franklin-Expedition, die Großbritannien 1845 mit Ross' Schiffen Erebus und Terror zur Suche nach der Nordwestpassage verlassen hatte und die niemals wieder gesehen wurde. Nach der beinahe fatal verlaufenen Nordpolar-Expedition von 1874 bis 1876 unter George Nares entschied die Admiralität, dass weitere Unternehmungen gefährlich und sinnlos seien.
Der Sekretär und spätere Präsident der Royal Geographical Society jedoch, Sir Clements Markham, war ein ehemaliger Marineangehöriger, der 1851 auf einer der Expeditionen zur Suche nach Franklin und seinen Männern gedient hatte, und verfocht die Ansicht, die Navy solle ihre historische Rolle wieder aufnehmen. Eine Gelegenheit, dieses Streben voranzubringen, ergab sich 1893, als der bekannte Biologe Sir John Murray, der in den 1870ern mit der Challenger-Expedition in antarktischen Gewässern gesegelt war, eine vollwertige Antarktisexpedition zum Nutzen der britischen Wissenschaft forderte. Sowohl Markham als auch die Royal Society, die wichtigste wissenschaftliche Körperschaft des Vereinigten Königreiches, unterstützten dieses Anliegen vehement. Ein gemeinsames Komitee der beiden Gesellschaften wurde eingerichtet, um über die Form der Expedition zu beraten. Markhams Vision von einer Marineexpedition nach dem Vorbild von Ross oder Franklin standen Teile des Komitees kritisch gegenüber, doch er war so hartnäckig, dass die Expedition weitestgehend nach seinen Vorstellungen geplant wurde. Sein Bruder und Biograf schrieb später, die Expedition sei „die Schöpfung seines Gehirns, das Produkt seiner beständigen Energie“ gewesen.
Es war lange Markhams Praxis gewesen, auf vielversprechende junge Marineoffiziere zu achten, denen später möglicherweise tragende Rollen bei einer Polarexpedition zukommen könnten, sollte sich die Gelegenheit ergeben. Er hatte 1887 zunächst den Seekadetten Robert Falcon Scott beobachtet, während dieser mit der HMS Rover in St. Kitts diente, und erinnerte sich an ihn. Dreizehn Jahre später war Scott, mittlerweile Torpedoleutnant auf der HMS Majestic, auf der Suche nach einem Weg zum nächsten Karriereschritt, und eine zufällige Begegnung mit Markham in London bewog ihn dazu, sich für die Leitung der Expedition zu bewerben. Markham hatte schon lange an Scott gedacht, auch wenn dieser keineswegs immer die erste Wahl gewesen wäre, doch andere Kandidaten waren entweder gealtert oder nicht länger verfügbar. Mit Markhams entschiedener Zustimmung wurde Scotts Ernennung bis zum 25. Mai 1900 beschlossen, bald gefolgt von seiner Beförderung zum Fregattenkapitän.
Wissenschaft versus Abenteuer
Das Wesen von Scotts Verantwortungsbereich musste noch immer festgelegt werden. Die Komiteemitglieder der Royal Society vertraten die Ansicht, dass er lediglich der Kapitän des Schiffs sein sollte, das die Expedition in die Antarktis transportieren würde. Sie sicherten die Ernennung von Dr. J. W. Gregory, Professor der Geologie an der University of Melbourne und ehemaliger Assistenzgeologe im British Museum, zum wissenschaftlichen Leiter der Expedition und deren Leiter nach der Landung. Markham und die Fraktion der Royal Geographic Society sahen die Sache anders. Sie argumentierten, dass Scotts Kommando über die Expedition ganz und ungeteilt sein müsse, und Scott selbst bestand so sehr auf diesem Punkt, dass er mit einem Rücktritt drohte. Markhams und Scotts Ansicht gewann die Oberhand und Gregory trat mit der Bemerkung zurück, dass die wissenschaftliche Arbeit nicht „einem Marine-Abenteuer untergeordnet“ sein sollte.
Diese Kontroverse trübte die Beziehung zwischen den beiden Gesellschaften und hielt über das Ende der Expedition hinaus und bis zur Veröffentlichung der wissenschaftlichen Ergebnisse an. Dass Markham auf einem Marine-Kommando bestand, war in erster Linie eine Frage von Tradition und Stil, weniger ein Ausdruck der Respektlosigkeit gegenüber den Wissenschaften. Er hatte selbst seine Meinung ausgedrückt, dass das pure Erreichen eines südlicher gelegenen Punktes als jemals jemand zuvor „der Unterstützung nicht wert“ sei.
Personal
Komplette Liste der Expeditionsmitglieder
Obwohl das Unternehmen offiziell kein Projekt der Navy war, schlug Scott vor, die Expedition auf Marineart durchzuführen, und sicherte die freiwillige Zustimmung der Mannschaft, unter dem Naval Discipline Act zu arbeiten. Die Admiralität erklärte sich bereit, ihn mit drei Offizieren der Royal Navy und 23 Seeleuten auszustatten. Die restlichen Expeditionsmitglieder sollten aus Matrosen der Handelsmarine oder aus Zivilpersonen zusammengesetzt sein. Zwei Offiziere der Handelsmarine heuerten an: Albert Armitage, der Erste Offizier, der bei der Jackson-Harmsworth-Arktisexpedition von 1894 bis 1897 Erfahrungen gesammelt hatte, und Ernest Shackleton, der spätere Expeditionen leiten und gemeinsam mit Scott zur wichtigsten Figur der Antarktisforschung im frühen 20. Jahrhundert werden sollte.
Das wissenschaftliche Team war unerfahren. Dr. George Murray, Gregorys Nachfolger als leitender Wissenschaftler, sollte nur bis Australien reisen (tatsächlich verließ er das Schiff bereits in Kapstadt) und die Fahrt dazu nutzen, die Wissenschaftler zu trainieren, an der Expedition selbst aber nicht teilnehmen. Der einzige Wissenschaftler mit vorhergehender Antarktiserfahrung war Louis Bernacchi, der Borchgrevink als Magnetologe und Meteorologe begleitet hatte. Der Geologe, Hartley Ferrar, war ein zweiundzwanzigjähriger Abgänger der Universität von Cambridge. Der Meeresbiologe Thomas Hodgson vom Museum von Plymouth war etwas älter und reifer, ebenso Reginald Koettlitz, der Ältere von zwei Ärzten und mit 40 Jahren älteste Teilnehmer an der Expedition. Er hatte wie Armitage an der Jackson-Harmsworth-Expedition teilgenommen. Der Zoologe und jüngere Arzt war Edward Wilson, in dem Scott einen ergebenen Anhänger fand. Er besaß sowohl die Ruhe, die Geduld als auch die Distanz, die Scott angeblich fehlte.
Scott hatte Glück, dass sich auch unter den Nichtoffizieren zuverlässige Männer wie Frank Wild und William Lashly, oder auch Thomas Crean fanden, der nach der Desertion des Seemanns Harry Baker am Hafen von Lyttelton einsprang. Bootsmann Edgar Evans und Vollmatrose Thomas Williamson würden Scott später gemeinsam mit Lashly und Crean auf seine Terra-Nova-Expedition begleiten. Ein weiterer Antarktisneuling, der später vor allem im Zusammenhang mit Shackleton bekannt wurde, war Ernest Joyce.
Organisation und Ziele
Finanzierung
Die Gesamtkosten für die Expedition werden auf 90.000 £ geschätzt (2008 ungefähr 5,7 Millionen €), von denen 45.000 £ durch die britische Regierung bereitgestellt wurden, vorausgesetzt, dass die beiden Gesellschaften eine entsprechende Summe sammeln konnten. Sie erreichten dies vor allem dank einer Gabe von 25.000 £ von Sir Llewellyn Longstaff, einem reichen Mitglied der Royal Geographical Society. Die RGS selbst beteiligte sich mit 8000 £, ihr bis heute größter einzelner Beitrag an einer Expedition. Weitere 5000 £ kamen von Alfred Harmsworth, dem späteren Lord Northcliffe. Die verbleibende Summe setzte sich aus kleineren Spenden zusammen. Die Expedition profitierte auch von kommerziellem Sponsoring: Colman’s stellte Senf und Mehl kostenlos zur Verfügung, Cadbury’s gab über 1600 Kilogramm Schokolade, Bird’s spendete Pudding- und Backpulver, und Evans Lescher & Webb spendeten den gesamten Bedarf an Limonensaft. Jaeger’s gewährte 40 % Rabatt auf Spezialkleidung, Bovril lieferte Rindfleischextrakt und andere spendeten kleinere Mengen an Waren.
Schiff
Das Expeditionsschiff wurde von der Dundee Shipbuilders' Company als Forschungsschiff gebaut und war für die Arbeit in antarktischen Gewässern ausgelegt. Die Discovery war einer der letzten in Großbritannien gebauten hölzernen Dreimaster. Die Baukosten betrugen 34.050 £, dazu kamen 10.322 £ für die Maschinen, die Endkosten nach allen Veränderungen beliefen sich auf 51.000 £. Der Name wurde in Anlehnung an eines der Schiffe von George Nares’ Expedition gewählt, gewisse Merkmale des älteren Schiffes wurden auch ins Design des neueren übernommen. Sie wurde am 21. März 1901 durch Lady Markham als SS Discovery vom Stapel gelassen (die Bezeichnung „Royal Research Ship“ erlangte sie in den Zwanzigerjahren).
Ziele
Die Discovery-Expedition sollte wie die Expeditionen von Ross und Borchgrevink zuvor im Rossmeer arbeiten. Andere Gebiete waren in Erwägung gezogen worden, doch man folgte dem Prinzip, dass man mit dem Bekannten starten solle, um zum Unbekannten zu kommen. Die Hauptziele der Expedition wurden in den Instruktionen des Komitees an den Kommandanten Scott wie folgt zusammengefasst: „So weit wie möglich die Natur, den Zustand und die Ausdehnung des Gebietes der südpolaren Lande festzustellen, das in den Bereich Ihrer Expedition fällt“, „magnetologische Forschungen in den südlichen Regionen im Süden des 40. Breitenkreises zu machen und meteorologische, ozeanografische, geologische, biologische und physische Untersuchungen und Forschungen anzustellen“. Die Anweisungen schrieben auch vor, dass „keines dieser Ziele dem anderen geopfert werden darf“.
Die das geografische Ziel betreffenden Instruktionen wurden noch weiter ausgeführt: „Die Hauptpunkte von geografischem Interesse sind […], die Eisbarriere von Sir James Ross zum östlichen Ende hin zu erforschen; das Land, das die Barriere wie von Ross angenommen im Osten flankiert, zu entdecken oder sicherzugehen, dass es nicht existiert […], falls Sie sich entschließen sollten, im Eis zu überwintern […], sollten sich Ihre Anstrengungen betreffend die geografische Erforschung auf […] einen Vorstoß in die westlichen Berge, einen Vorstoß in den Süden und eine Erforschung der vulkanischen Region richten“.
Expedition
Das erste Jahr
Die Discovery verließ am 6. August 1901 die britischen Gewässer und kam am 29. November via Kapstadt in Neuseeland an, nachdem sie für magnetologische Untersuchungen einen Abstecher auf über 40° S gemacht hatte. Nach drei Wochen an letzten Vorbereitungen war sie bereit, die Reise in den Süden anzutreten. Am 21. Dezember, als das Schiff den Hafen von Lyttelton unter dem Jubel der Menge verließ, ereignete sich ein bedauerlicher Unfall, der einen Schatten auf den Beginn der Expedition warf: Der junge Vollmatrose Charles Bonner fiel von der Spitze des Großmastes, den er bestiegen hatte, um den Applaus der Menge zu erwidern, und kam dabei um. Er wurde zwei Tage darauf in Port Chalmers beerdigt.
Nach der Beerdigung brach die Discovery endgültig nach Süden auf und kam am 9. Januar 1902 vor Kap Adare an. Nach einer kurzen Landung fuhr sie weiter nach Süden, entlang der Küste Viktorialands bis zur McMurdo-Bucht und wandte sich dann nach Osten, um am Kap Crozier erneut zu landen. Die Expeditionsmitglieder hinterließen hier wie vereinbart eine Nachrichtenstation. Danach folgte das Schiff dem Ross-Schelfeis bis zu seinen östlichen Ausläufern, wo das von Ross vermutete Land am 30. Januar bestätigt und Edward-VII-Land genannt wurde.
Am 4. Februar landete Scott auf der Schelfeistafel und ließ einen Beobachtungsballon an Land bringen, den er für Erkundungen aus der Luft erworben hatte. Scott erreichte mit dem sorgfältig festgemachten Ballon schnell eine Höhe von über 184 Metern, Shackleton folgte später mit einem zweiten Aufstieg. Alles, was sie sehen konnten, war die endlose Eisfläche. Edward Wilson hielt die Ballonaufstiege für „reinen Wahnsinn“; das Experiment wurde nicht wiederholt.
Auf der Suche nach einem geeigneten Ort für ein Winterlager wandte sich die Discovery jetzt nach Westen. Am 8. Februar fuhr sie in die McMurdo-Bucht ein und wurde später an einem Ort nahe deren südlichem Ende verankert, der später Winter Quarters Bay benannt wurde. Die Arbeit an Land begann mit der Errichtung der Expeditionshütte auf einer felsigen Halbinsel, die Hut Point genannt wurde. Scott hatte beschlossen, dass die Expeditionsmitglieder weiter an Bord des Schiffs leben und arbeiten sollten, und ließ die Discovery ins Packeis einfrieren und die Männer die Hütte als Lagerschuppen und Schutzhütte nutzen.
Für die Männer von der Discovery war der Gewöhnungsprozess an die neue Umgebung ernüchternd. Keiner der Männer war ein geübter Skifahrer, und lediglich Bernacchi und Armitage hatten etwas Erfahrung mit Hundeschlitten. Die Resultate der anfänglichen Bemühungen, diese Techniken zu meistern, waren nicht ermutigend und bekräftigten Scotts Vorurteile zugunsten des Ziehens der Schlitten durch Männer. Die Gefahren für unerfahrene Reisende unter unvorhersagbaren und unbekannten Bedingungen wurden bestätigt, als am 11. März eine von einer abgebrochenen Reise nach Kap Crozier zurückkehrende Gruppe während eines Schneesturms auf einem eisigen Hang eingeschlossen wurde. Bei ihrem Versuch, sichereren Boden zu finden, rutschte der Vollmatrose George Vince über den Rand einer Klippe und kam ums Leben. Seine Leiche wurde nie gefunden; ein Kreuz mit einer einfachen Aufschrift, errichtet in seinem Gedenken, steht noch heute auf dem höchsten Punkt der Hut-Point-Halbinsel.
Während des südlichen Winters von Mai bis August waren die Wissenschaftler in ihren Laboratorien beschäftigt, während anderswo Ausrüstung und Waren für die Arbeit der nächsten Saison vorbereitet wurden. Zur Entspannung gab es Amateur-Theateraufführungen und erzieherische Veranstaltungen in der Form von Lesungen. Eine Zeitung, die South Polar Times, wurde gedruckt. Auch die Aktivitäten im Freien wurden nicht gänzlich eingestellt; die Männer spielten Fußball auf dem Eis und die geplanten magnetologischen und meteorologischen Beobachtungen wurden sämtlich durchgeführt.
Als der Winter endete, wurden die Schlittenfahrten wieder aufgenommen, um Ausrüstung und Rationen für die geplante Reise nach Süden zu testen, die Scott, Wilson und Shackleton unternehmen würden.
In der Zwischenzeit reiste eine Gruppe unter der Führung von Leutnant Charles Royds nach Kap Crozier, um dort eine Nachricht an der Station zu hinterlassen, und entdeckte die Kaiserpinguin-Kolonie, während ein anderes Team unter Armitage zu Aufklärungszwecken in die Berge im Westen vordrang. Dieses Team kehrte im Oktober mit Skorbut-Symptomen zurück. Die Ernährung der Expeditionsmitglieder wurde rasch umgestellt; Dosenfleisch wurde durch Frischfleisch ersetzt, und das Problem war eingedämmt. Es ist nicht klar, wie weit diese Umgestaltung der Ernährung auf die bei den Schlittenfahrten mitgeführten Rationen übertragen wurde, doch es reichte offensichtlich nicht aus, um das erneute Auftreten von Skorbut auf der Südreise zu verhindern.
Scott, Wilson und Shackleton brachen am 2. November 1902 mit den Hunden und unterstützenden Männern auf. Ihr Ziel war es, „so weit, wie wir können auf einer geraden Linie auf dem Eis der Barriere nach Süden zu gelangen, wenn möglich den Pol zu erreichen oder neues Land zu finden“. Ihre mangelhafte Beherrschung der Hunde wurde jedoch bald klar, man kam langsam voran. Nachdem die unterstützenden Gruppen umgekehrt waren, verlegten sich die Männer darauf, die Ausrüstungsgegenstände mit mehreren Fahrten weiterzutransportieren, und mussten so drei Kilometer für jeden Kilometer effektiven Fortkommens nach Süden zurücklegen. Beim Hundefutter waren Fehler gemacht worden, und eine Mischung aus schlechter Ernährung und inkompetenter Behandlung schwächte die Hunde noch weiter, bis Wilson gezwungen war, den Schwächsten als Nahrung für die Übrigen zu töten. Auch die Männer hatten Mühe, Schneeblindheit, Erfrierungen und möglicherweise Skorbut im Frühzustand setzten ihnen zu, doch sie fuhren bis zum 30. Dezember parallel zu den Bergen im Westen weiter nach Süden, als sie, ohne das Eis verlassen zu haben, bei 82° 17′ S den südlichsten Punkt ihrer Reise erreichten und damit einen neuen Südrekord aufstellten. Auf der Rückreise vergrößerten sich die Schwierigkeiten, da die übrigen Hunde starben und Shackleton durch Skorbut geschwächt zusammenbrach. Scott und Wilson kämpften sich weiter, während Shackleton keinen Schlitten ziehen konnte und neben den anderen her ging oder auf dem Schlitten gezogen wurde. Die Gruppe erreichte das Schiff schließlich am 3. Februar 1903 nach einer Reise von 93 Tagen mit einer enttäuschend geringen Geschwindigkeit von durchschnittlich unter 14 Kilometern pro Tag. Dennoch hatten sie trotz ihrer Nöte nie damit aufgehört, die Gebirgskette im Westen zu kartieren, und zahlreiche geografische Objekte und Landmarken identifiziert und benannt.
Ankunft des Versorgungsschiffs
Während der Abwesenheit der Südgruppe war das Versorgungsschiff Morning angekommen und hatte frische Vorräte gebracht. Die Organisatoren der Expedition vermuteten, dass die Discovery Anfang 1903 vom Eis freikommen würde. Scott könnte dann weitere Forschung vom Meer aus unternehmen, sich vor Wintereinbruch aus dem Packeis bewegen und im März oder April nach Neuseeland zurückkehren. Es war geplant, dass die Discovery durch den Pazifischen Ozean zurück nach Großbritannien fahren und unterwegs die magnetologischen Forschungen fortsetzen sollte. Die Morning sollte jegliche Unterstützung gewähren, die Scott in dieser Zeit verlangen könnte.
Dieser Plan wurde vereitelt, als die Discovery fest im Eis eingefroren blieb. Markham hatte dies für sich bereits befürchtet, und der Kapitän der Morning, William Colbeck, hatte einen geheimen Brief an Scott bei sich, der ihm ein weiteres Jahr im Eis gestattete. Da die Discovery nicht freizubekommen war, wurde diese Option unvermeidlich. Die Morning war auch die Gelegenheit für einige Mitglieder der Mannschaft, nach Großbritannien zurückzukehren, und unter diesen war gegen seinen Willen auch der genesende Shackleton, der laut Scott „in seinem momentanen Gesundheitszustand keine weiteren Anstrengungen riskieren sollte“. Einige Antarktishistoriker führen die Antipathie zwischen Scott und Shackleton auf diesen Punkt zurück, während andere sie als Nebenprodukt der Südreise ansehen. Es gibt dennoch viele Beweise dafür, dass ihre Beziehung noch einige Jahre lang herzlich blieb. Die Morning fuhr am 2. März 1903 in Richtung Neuseeland ab, die in der Antarktis verbleibenden Männer bereiteten sich auf einen weiteren Winter vor.
Zweites Jahr im Eis
Nachdem der Winter von 1903 vorüber war, bereitete sich Scott auf die zweite Hauptreise der Expedition vor, die einen Aufstieg in die westlichen Berge und eine Erforschung des Zentrums von Viktorialand beinhalten würde. Armitages Aufklärungsmannschaft im vorigen Jahr hatte eine Route bis zur Höhe von 2670 Metern gebahnt, bevor sie umgekehrt war, doch Scott wollte von dort aus weiter nach Westen vordringen und wenn möglich den südlichen Pol des Erdmagnetfeldes (antarktisch magnetischer Pol) erreichen. Nach einem Fehlstart wegen defekter Schlitten brach am 26. Oktober 1903 eine Gruppe von neun Mann von der Discovery aus auf, darunter Scott, Lashly und Edgar Evans. Nachdem sie einen großen Gletscher hinaufgestiegen waren, der nach dem Geologen der Gruppe Ferrar-Gletscher benannt wurde, erreichten sie eine Höhe von 2100 Metern, bevor sie von Schneestürmen eine Woche lang im Zelt zurückgehalten wurden. Die Spitze des Gletschers erreichten sie erst am 13. November. Sie ließen Armitages Umkehrpunkt hinter sich, entdeckten das Polarplateau und bereisten es als erste Menschen. Nach der Rückkehr der geologischen und unterstützenden Mannschaften fuhren Scott, Lashly und Evans für acht weitere Tage weiter über die eintönige Ebene nach Westen und erreichten den westlichsten Punkt ihrer Reise am 30. November, kurz nach dem 148. östlichen Längengrad und etwa 112 Kilometer südwestlich der berechneten Lage des magnetischen Pols. Da sie ihre Navigationstabellen während des Gletscheraufstiegs in einem Sturm verloren hatten, wussten sie nicht genau, wo sie sich befanden, durch die eintönige Landschaft hatten sie auch keinerlei Landmarken, die ihnen bei der Positionsbestimmung helfen konnten. Die Rückreise zum Ferrar-Gletscher von 240 Kilometern war sehr gefährlich, doch sie fanden den Gipfel des Gletschers und machten auf dem Abstieg einen kurzen Abstecher, um das seltene Phänomen eines schneefreien Gebiets in der Antarktis zu entdecken, die McMurdo-Trockentäler. Scott und Evans überlebten einen Sturz in eine Gletscherspalte, der tödlich hätte enden können, bevor die Gruppe am 24. Dezember die Discovery erreichte. Ihr durchschnittliches Vorankommen auf dieser ausschließlich durch Menschenkraft bewältigten Reise war deutlich besser als das, das auf der Südreise der vorangehenden Saison mit Hunden erreicht worden war, eine Tatsache, die Scotts Vorurteile gegen Hunde weiter stärkte.
Während Scotts Abwesenheit wurden einige weitere Reisen unternommen. Royds und Bernacchi befuhren das Schelfeis während 31 Tagen in südöstlicher Richtung, stellten fest, dass seine Oberfläche durchgehend flach war und machten weitere magnetologische Messungen. Eine weitere Gruppe hatte den Koettlitz-Gletscher im Südwesten erforscht, und Wilson war nach Kap Crozier gefahren, um die Kaiserpinguinkolonie von Nahem zu beobachten.
Rettungsexpedition
Scott hatte gehofft, die Discovery bei seiner Rückkehr eisfrei vorzufinden, doch das Eis brach nicht auf. Befreiungsversuche mit Eissägen waren begonnen worden, doch nach 12 Tagen waren nur zwei parallele Schnitte von 137 Metern gehauen worden, während das Schiff noch immer 32 Kilometer vom offenen Wasser entfernt war. Die Arbeit wurde eingestellt.
Am 5. Januar 1904 kam die Morning mit einem zweiten Schiff zurück, der Terra Nova. Sie brachte eindeutige Anweisungen von der Admiralität mit sich: Wenn die Discovery nicht befreit werden könnte, sollte sie verlassen und ihre Besatzung auf den beiden Rettungsschiffen nach Hause gebracht werden. Dieses Ultimatum resultierte aus Markhams Abhängigkeit vom Finanzministerium, um für die Kosten der Rettungsexpedition aufkommen zu können, was wieder eigene Bedingungen mit sich brachte. Die Frist, über die die drei Kapitäne übereinkamen, endete am 25. Februar. Ein Rennen gegen die Zeit begann für die Rettungsschiffe, die versuchten, die Discovery zu erreichen, die noch immer vor der Hut-Point-Halbinsel eingefroren war. Als Vorsichtsmaßnahme begann Scott, seine wissenschaftlichen Proben auf die anderen Schiffe zu bringen. Sprengkörper wurden genutzt, um das Eis aufzubrechen und die Sägemannschaften nahmen ihre Arbeit wieder auf, doch obwohl die Rettungsschiffe sich der Discovery nähern konnten, blieb sie bis Ende Januar fest im Eis, drei Kilometer von der geöffneten Fahrrinne. Am 10. Februar akzeptierte Scott, dass er bald mit den Vorbereitungen zur Evakuation beginnen müsste, doch am 14. Februar brach das Eis plötzlich auf und die Morning und die Terra Nova konnten gemeinsam in die Fahrrinne navigieren. Eine letzte Sprengladung entfernte das restliche Eis am 16. Februar und am folgenden Tag begann die Discovery nach einer letzten Schrecksekunde, als sie vorübergehend auf einer Untiefe auflief, ihre Rückfahrt nach Neuseeland.
Folgezeit und Erfolge
Bei ihrer Rückkehr nach Großbritannien im September 1904 wurde die Expedition wohlwollend empfangen. Scott wurde zum Kapitän der Royal Navy befördert und nach Balmoral eingeladen, um den König zu treffen, der ihn zum Commander des Royal Victorian Order beförderte. Er erhielt auch einige Medaillen und Auszeichnungen aus Übersee, darunter die französische Ehrenlegion. Auch andere Offiziere und Mannschaftsmitglieder wurden befördert. Scotts veröffentlichter Bericht, The Voyage of the Discovery, verkaufte sich gut, und er erlangte eine gewisse Bekanntheit, bevor er seine Marinekarriere wieder aufnahm, während der er zunächst als Assistent des Direktors des Marinegeheimdienstes und ab August 1906 als Flag Captain für Konteradmiral George Egerton (1852–1940) auf der HMS Victorious diente.
Die wichtigsten geografischen Resultate der Expedition waren die Entdeckung der Edward-VII-Halbinsel und der Aufstieg in die westlichen Berge, die Entdeckung des Polarplateaus, die erste Schlittenfahrt auf dem Plateau und der Westrekord jenseits des 148. Längengrades sowie die Reise auf dem Ross-Schelfeis bis auf 82° 17′ S, wobei ein neuer Südrekord aufgestellt wurde. Die Natur auf der Ross-Insel wurde beschrieben, die Kette der Transantarktischen Berge bis auf 83° S kartiert und die Lage und Höhe von über 200 Bergen berechnet. Viele andere geografische Objekte und Landmarken wurden identifiziert und benannt und es wurden ausführliche Vermessungsarbeiten an der Küste angestellt.
Zusätzlich zu der Masse an Daten aus meteorologischen und magnetologischen Beobachtungen, deren Auswertung Jahre in Anspruch nehmen würde, wurden einige Entdeckungen von großer wissenschaftlicher Bedeutung getätigt. Darunter waren die schneefreien McMurdo-Trockentäler, die Kaiserpinguin-Kolonie am Kap Crozier, wissenschaftliche Beweise dafür, dass das Ross-Schelfeis eine schwimmende Schelfeistafel ist und das von Ferrar gefundene Blattfossil, das dabei half, die Antarktis zum Superkontinent Gondwana in Relation zu setzen. Tausende von geologischen und biologischen Proben waren gesammelt worden, unter denen neue Meeresspezies identifiziert werden konnten. Außerdem war die Lage des südlichen magnetischen Pols mit einer akzeptablen Genauigkeit berechnet worden. Als jedoch die meteorologischen Daten veröffentlicht wurden, war ihre Genauigkeit unter Wissenschaftlern umstritten, etwa dem Präsidenten der Physical Society of London, Charles Chree (1860–1928). Scott verteidigte die Arbeit seiner Leute, während er im Privaten zugab, dass Royds’ Aufzeichnungen in diesem Gebiet „grauenhaft schlampig“ gewesen seien.
Nachwirkungen
Die Expedition schuf unter einigen Mitgliedern beträchtlichen Enthusiasmus für die zukünftige Erforschung der Antarktis. Scott selbst hatte weitere Ambitionen, und drei seiner Offiziere – Armitage, Barne und Shackleton – sollten später eigene Pläne verfolgen. Von den Mitgliedern der Mannschaft kamen Frank Wild und Ernest Joyce mit späteren Expeditionen mehrfach in die Antarktis zurück. Mit insgesamt fünf Unternehmungen nahm Wild an mehr Expeditionen teil als jeder andere Forscher.
Der Öffentlichkeit wurde die Expedition im Großen und Ganzen als nationaler Erfolg präsentiert, teilweise auch dank des Enthusiasmus von Markham. Besonders Scott wurde zu einem Helden. Diese Euphorie war jedoch einer objektiven Analyse oder einer überdachten Abwägung der Stärken und Schwächen der Expedition alles andere als förderlich. Daraus resultierte, dass Charakteristika wie das Vertrauen auf Mut und einfallsreiche Improvisation von späteren britischen Expeditionen eher als Norm angesehen wurden als etwa Professionalität. Besonders Scotts Verherrlichung des Schleppens der Schlitten durch Männer als etwas an sich Nobleres als andere Möglichkeiten der Fortbewegung auf dem Eis führte zu einem generellen Misstrauen gegenüber Methoden, die Skier oder Hunde einbezogen.
Scott wandte einige auf der Discovery-Expedition gelernte Lektionen auf seine nächste Unternehmung an, die Terra-Nova-Expedition. Er nahm ein größeres und erfahreneres wissenschaftliches Team mit, er vermied es, sein Schiff im Eis einfrieren zu lassen, er stellte einen Skiexperten ein und ließ seine Männer Erfahrungen im Skifahren sammeln. Allerdings wiederholte er die allgemeine Form der früheren Expedition – ihre Größe, ihre multiplen Ziele und ihren formellen Marinecharakter. Seine negativen Erfahrungen mit Hunden veranlassten ihn aber dazu, sie zwar unter professioneller Anleitung, aber nur eingeschränkt als sekundäre Transportmethode einzusetzen, obwohl sie einen größeren Beitrag hätten leisten und so möglicherweise den Tod von Scott und den anderen vier Mitgliedern seiner Gruppe hätte abwenden können. Shackletons Nimrod-Expedition von 1907 bis 1909, die kleiner und weniger förmlich war sowie ein genauer definiertes Ziel hatte, übertraf Scotts Erfolg die Erforschung betreffend deutlich und erreichte fast den Pol. Jedoch baute auch Shackletons Transportsystem nicht auf Hunden auf, sondern auf sibirischen Ponys, so dass Scotts schlechte Meinung über die Hunde nicht beeinflusst, durch Shackletons eindrückliche Resultate möglicherweise sogar noch verstärkt wurde.
Dass es nicht gelang, den Skorbut zu vermeiden, was auch auf folgenden Expeditionen zum Problem wurde, ist eher medizinischer Ignoranz im Hinblick auf die Gründe der Krankheit anzukreiden als der Expeditionsleitung. Zu dieser Zeit war es bekannt, dass eine Ernährung mit frischem Fleisch heilend wirken konnte. Frisches Robbenfleisch wurde so auf die Südreise mitgenommen, „für den Fall, dass wir uns von Skorbut angegriffen sehen“, eine Wortwahl, die nahelegt, dass das Fleisch eher für eine Behandlung nach dem Auftreten der Krankheit gedacht war als für einen vorbeugenden Einsatz. Es ist nicht bekannt, wie viel Frischfleisch mitgenommen wurde, doch der Skorbut trat auf der Reise jedenfalls auf. Auf seiner Nimrod-Expedition vermied Shackleton die Krankheit durch sorgfältige Auswahl der Nahrung, in die etwa zusätzliches Pinguin- und Robbenfleisch aufgenommen wurde. Leutnant Edward Evans starb jedoch während der Terra-Nova-Expedition beinahe, und der Skorbut griff auch in der Ross Sea Party 1915 bis 1916 um sich. Es blieb eine Gefahr, bis seine Ursachen schließlich bekannt wurden, etwa 25 Jahre nach der Discovery-Expedition.
Siehe auch
Liste von Antarktisexpeditionen
Literatur und Quellen
E. C. Coleman: The Royal Navy in Polar Exploration, from Frobisher to Ross. Tempus Publishing, 2006, ISBN 0-7524-3660-0.
David Crane: Scott of the Antarctic. HarperCollins, 2005, ISBN 0-00-715068-7.
Ranulph Fiennes: Captain Scott. Hodder & Stoughton, 2003, ISBN 0-340-82697-5.
Roland Huntford: The Last Place On Earth. Pan-Ausgabe, 1985, ISBN 0-330-28816-4.
Max Jones: The Last Great Quest. OUP, 2003, ISBN 0-19-280483-9.
Diana Preston: A First-Rate Tragedy. Constable-Paperback, 1999, ISBN 0-09-479530-4.
Ann Savours: The Voyages of the Discovery: Illustrated History. Chatham Publishing, 2001, ISBN 1-86176-149-X.
Robert Falcon Scott: The Voyage of the Discovery. Bd. 1, Smith, Elder & Co, 1905
Michael Smith: An Unsung Hero: Tom Crean, Antarctic Survivor. Headline Book Publishing, 2000, ISBN 1-903464-09-9.
Edward Wilson: Diary of the Discovery Expedition. Hrsg. Ann Savours, Blandford Press-Ausgabe, 1966, ISBN 0-7137-0431-4.
Zusätzliche Literatur
Roland Huntford: Shackleton. Hodder & Stoughton, 1985, ISBN 0-340-25007-0.
M. Landis: Antarctica: Exploring the Extreme: 400 Years of Adventure. Chicago Review Press, 2003, ISBN 1-55652-480-3.
George Seaver: Edward Wilson of the Antarctic. John Murray, 1933
J. V. Skelton & D. W. Wilson: Discovery Illustrated: Pictures from Captain Scott’s First Antarctic Expedition. Reardon Publishing, 2001, ISBN 1-873877-48-X.
Judy Skelton (Hrsg.): The Antarctic Journals of Reginald Skelton: 'Another Little Job for the Tinker' . Reardon Publishing, 2004, ISBN 1-873877-68-4.
Weblinks
Informationen bei CoolAntarctica.com
Anmerkungen und Einzelnachweise
Antarktis-Expedition
1900er
Ernest Shackleton
Robert Falcon Scott
Wikipedia:Artikel mit Video |
3481132 | https://de.wikipedia.org/wiki/Fluchtafel | Fluchtafel | Die Fluchtafel oder Defixion ( oder „Bindung, Bindezauber“; von „festheften, durchbohren“, im literarischen Sprachgebrauch auch „Gebet, Verwünschung“) stellt eine in der Antike weit verbreitete Form des Schadenzaubers dar.
Fluchtafeln sind für gewöhnlich mit Inschriften versehene, dünne Bleistücke, die dem Zweck dienen sollten, Personen oder andere Lebewesen mit magisch-rituellen Mitteln oder mit Hilfe einer Gottheit in ihrem Handeln zu beeinflussen, an ihren Tätigkeiten zu hindern und sie zu „binden“ oder ihnen auf bestimmte Zeit geistig beziehungsweise körperlich zu schaden, seltener sie sogar zu töten. Das Anliegen wurde entweder Gottheiten der Unterwelt anvertraut, welche den Fluch vollziehen sollten, oder galt bereits allein durch die rituelle Behandlung der Tafel als umgesetzt. Dazu wurden die beschrifteten Lamellen oft zusätzlich eingerollt, gefaltet oder mit Nägeln durchbohrt. Verletzungen des Mediums sollten im Sinne eines Analogiezaubers auf die verwünschte Person übertragen werden.
Die meisten Exemplare wurden an besonderen Orten wie Gräbern, Tempeln oder Teichen vergraben. So verborgen sollten die Botschaften allein die angerufenen Gottheiten erreichen. Fluchtafeln wurden häufig bei Rechtsstreitigkeiten, aber auch gegen Konkurrenten bei Wagenrennen, im Theater oder im Wirtschaftsleben verwendet. Ebenso waren erotische Rivalität, Eifersucht oder ein erotisch motivierter Rachewunsch Anlass der Verwünschungen; einige Inschriften sollten hingegen den gewünschten Partner anziehen.
Entwicklung und Verbreitung
Bisher wurden etwa 1600 archäologische Funde publiziert, die über große Teile der antiken Mittelmeerwelt verteilt sind. Umstritten ist in der Forschung die Frage nach dem Ursprung dieser Tradition: Einige Forscher führen deren Entwicklung auf Kontakte von sich gegenseitig beeinflussenden Kulturen zurück, wodurch etwa religiöse Vorstellungen aus dem assyro-babylonischen Kulturraum auf das hellenistische Griechenland entwicklungsgeschichtlich einwirkten. Für Mesopotamien existieren jedoch keine direkten archäologischen Zeugnisse der Anwendung von Fluchtafeln, weshalb lediglich indirekte Quellen den weitverbreiteten Glauben an Schadenzauber belegen können: Zum einen sind assyrische Zauberbücher aus dem 1. Jahrtausend v. Chr. erhalten, die unter anderem Gegenmittel gegen Verwünschungen und Verzauberungen anführen und die Angst vor diesen Praktiken widerspiegeln. Zum anderen dokumentieren Gesetzeswerke und Gerichtsprotokolle, dass Schadenzauber als Kapitalverbrechen galt und als beispielsweise mit vorsätzlicher Tötung vergleichbar angesehen wurde. Andere Forscher nehmen hingegen aufgrund der geographisch konzentrierten Quellenlage an, dass es sich bei Defixionen um Praktiken handelt, die allein im griechischen Raum entstanden und in der griechisch-römischen Welt Verbreitung fanden.
Von den im Mittelmeergebiet gefundenen Fluchtafeln entfallen ungefähr zwei Drittel auf griechische, nur etwa 600 Exemplare auf lateinische Texte. In Kombination mit anderen Quellen ergibt sich aus den Funden für den griechisch-römischen Raum ein vielfältiges Bild dieser Praxis. Die frühesten Fluchtafeln stammen aus der griechischen Kolonie Selinunt auf Sizilien und werden in den Zeitraum vom Ende des 6. Jahrhunderts bis zum frühen 5. Jahrhundert v. Chr. datiert. Insbesondere aus dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. sind vor allem aus Attika zahlreiche Täfelchen bekannt. Wenig später entstanden viele Exemplare in Olbia am Schwarzen Meer. Dabei ist umstritten, ob sich die Fluchtafeln nur vom sizilischen und attischen Raum ausgehend verbreiteten oder ob sie in anderen Regionen aus dortigen älteren Formen verbaler magischer Praktiken entstanden. Möglich ist auch, dass außerhalb Siziliens und Attikas ältere Fluchtafeln bisher lediglich nicht archäologisch nachgewiesen sind.
Etwa ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. und besonders in der Spätantike wurden Fluchtafeln im Römischen Reich sehr beliebt. Ältere griechischsprachige Funde aus Italien stammen aus griechischen Kolonien in Unteritalien und Sizilien. Die nach heutigem Kenntnisstand älteste lateinischsprachige defixio entstand im 2. Jahrhundert v. Chr. und wurde in einem samnitisch-römischen Grab in der Nähe von Pompeji gefunden. Lateinischsprachige Fluchtafeln aus vorchristlicher Zeit waren zunächst im Wesentlichen auf Italien und Hispanien beschränkt. Ab der frühen Kaiserzeit verbreitete sich die Praxis der defixio zunehmend über die Provinzen des Imperium. Ab dem 2. und 3. Jahrhundert bildeten sich deutliche Zentren: Mit 250 Exemplaren stammt ein großer Teil der bisher gefundenen römischen Fluchtafeln aus der Provinz Britannien. Diese Funde konzentrieren sich mit über 100 Täfelchen auf die Tempelanlage des Mercurius im heutigen Uley sowie auf das Quellheiligtum der Sulis Minerva in Bath. Eine ungewöhnlich hohe Anzahl von ihnen richtet sich in Form von „Gebeten um Gerechtigkeit“ gegen Diebe. Auch in Nordafrika war diese Praxis des Schadenzaubers weit verbreitet. In Karthago und dem antiken Hadrumetum wurden vor allem Fluchtäfelchen konkurrierender Parteien bei Zirkusspielen oder Kämpfen in Amphitheatern gefunden. Aus Ägypten sind nur wenige Fluchtafeln erhalten; die bekannten Flüche wenden sich häufig zugleich an Götter und Dämonen unterschiedlicher Kulte.
Ab dem 4. Jahrhundert nehmen die archäologischen Zeugnisse zeitlich parallel zum Aufstieg des Christentums deutlich ab. Vereinzelt sind auch noch später christliche oder jüdische Flüche zu finden. Sie lassen sich nur schwer von spätantiken paganen Verwünschungen unterscheiden, da diese häufig auch jüdische oder christliche Elemente und Namen in den Zauber einbezogen.
Soziale und kulturelle Aspekte
In der Forschung ist umstritten, in welchen Kreisen man Schadenzauber anwandte. Einige Wissenschaftler nehmen an, dass diese Form von Magie nicht auf untere Schichten beschränkt war, da auf Funden aus Griechenland häufig auch Namen bekannter Persönlichkeiten verzeichnet sind. Andere meinen, dass Fluchtafeln ausschließlich in den niederen Sozialschichten gebräuchlich waren. Auf lateinischen defixiones scheinen häufig Namen auf, die lediglich aus einem Cognomen bestehen; manche kennzeichnen auch durch direkte Angabe des Sozialstatus den Verfluchten als Person, die nicht im Besitz des römischen Bürgerrechts oder Sklave ist. Für zahlreiche defixiones bilden auch Konkurrenzkämpfe zwischen Gladiatoren oder Wagenlenkern den Hintergrund, welche ebenso eine geringe soziale Stellung einnahmen. Dennoch tauchen in den Fluchtexten durchaus auch Namen bekannter Familien höchster Kreise bis hin zu Prokuratoren und Legaten auf. Abgesehen von erotischen Flüchen überwiegen zudem Männer als Verwünschungsziele.
Im klassischen Athen standen magische Praktiken nicht unter Strafe; allenfalls konnte ein Prozess wegen Asebie oder – bei einem auf magische Mittel zurückgeführten Todesfall – der Verabreichung eines Gift- oder Zaubertrankes (pharmakeía) angestrengt werden. Im Römischen Reich hingegen waren Fluchtafeln wie magische Handlungen allgemein trotz ihrer Popularität verboten. Bereits das Zwölftafelgesetz untersagte in der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. generell „böse Gesänge“ (mala carmina) als magische Praktiken. Schadenzauber wird zusammen mit Ernteraub genannt und dadurch mit diesem Delikt, auf das die Todesstrafe stand, auf eine Stufe gestellt. Sulla richtete unter den neu installierten Gerichtshöfen ein Gericht für Kapitalverbrechen und Magie ein. Zudem legten die 81 v. Chr. erlassenen „Dolchmänner- und Giftmischereigesetze“ (lex Cornelia de sicariis et veneficiis) fest, dass Brandstiftung, Meuchelmord und Giftmischerei (veneficium) als heimtückische Verbrechen geahndet wurden, wozu nach antiker Rechtsauffassung auch der Schadenzauber zählte. Ergänzend richteten sich unterschiedliche Senatsbeschlüsse gegen Zauberei und „bösartige Kulthandlungen“ (mala sacrificia).
Vor allem in der Kaiserzeit wurde – mit unterschiedlicher Härte – jede Form von Magie strafrechtlich geahndet. Ein solches Vorgehen diente oft politischen oder ideologischen Zwecken wie etwa der Ablenkung von politischen Spannungen. In manchen Teilen des Reiches war Zauberei dennoch ungestraft weit verbreitet. In Ägypten etwa standen Zauberer in der Tradition der ägyptischen Priester und versahen mancherorts auch Tempeldienst. Unter Augustus wurden Prophezeiungen und Papyri magischen Inhalts im Jahr 13 v. Chr. verbrannt. Bereits zwei Jahre zuvor war ein Edikt gegen Wahrsager erlassen worden, das als Rechtsgrundlage späterer Verfolgungen magischer Praktiken dienen sollte. Kaiser Tiberius ließ 130 Magier und Magierinnen hinrichten, wie auch Claudius und Nero die Anwendung von Magie verfolgten. In einigen Regionen des Reiches dagegen wurden Fluchtafeln, die auf Rächung eines Verbrechens abzielten, in großer Zahl an öffentlichen Orten wie etwa in Heiligtümern aufgestellt (siehe den Abschnitt „Gebete um Gerechtigkeit“) und teilweise sogar mit dem Namen des Verfluchenden versehen, scheinen also nicht als illegal wahrgenommen worden zu sein. Verfluchungen von Prozessgegnern, die häufig auf deren Tod abzielten und diese persönlich schädigen sollten, scheinen dagegen grundsätzlich illegal gewesen zu sein; sie wurden ohne Nennung des Urhebers abgefasst und häufig in Gräbern deponiert.
Allein im 4. Jahrhundert sind jedoch zwölf kaiserliche Edikte belegt, die – zunehmend vom Christentum geprägt – mit äußerster Schärfe gegen Magie vorgehen. Schadenzauber und Wahrsagung zusammenfassend, sehen der spätantike Codex Theodosianus (438) und der Codex Iustinianus (529–534) für derartige Delikte die Höchststrafe wie Kreuzigung, Verbrennung oder Hinrichtung durch wilde Tiere vor, eine Strafe, die laut Iulius Paulus schon im 3. Jahrhundert auf die Verwünschung durch Defixion stand.
Übereinstimmend mit der zunehmend repressiven Gesetzgebung sind vor allem in der Kaiserzeit zahlreiche Verfahren wegen des Gebrauchs von Magie bekannt; der erste belegte Prozess berief sich zu Beginn des 2. Jahrhunderts v. Chr. noch auf das Zwölftafelgesetz als Rechtsgrundlage. Von zehn bei Tacitus geschilderten Prozessen entfällt die Hälfte auf Anklagen aufgrund magischen Handelns, so etwa gegen den Statthalter der Provinz Syria, Gnaeus Calpurnius Piso, der im Verdacht stand, zusammen mit seiner Frau den Thronprätendenten Germanicus mit magischen Mitteln getötet zu haben. Eine Anklage wegen Magie war jedoch stets nur einer von mehreren Anklagepunkten, die für sich genommen eine Verurteilung nicht gerechtfertigt hätte. Aus fadenscheinigen Gründen stand in der Mitte des 2. Jahrhunderts auch der Schriftsteller Apuleius unter der Anklage, er habe seine Eheschließung mittels Magie herbeigeführt, wurde jedoch freigesprochen. Besonders unter den christlichen Kaisern des 4. Jahrhunderts brach eine wahre „Prozeßhysterie“ aus, wovon vor allem der Historiker Ammianus Marcellinus Zeugnis gibt. Auf erfolgreiche Magieanklagen unterschiedlicher Art – nicht selten als Vorwand – standen Verbannung und Hinrichtung; so schildert Ammianus den Fall eines Wagenlenkers, der zum Tod verurteilt wurde, weil er seinen Sohn Magie erlernen ließ.
Form
Herstellung und Gestaltung
Überwiegend wurden etwa 3 bis 4 mm starke Bleche aus Blei gefunden. Dieses haltbare Material war wesentlich beliebter als andere Schriftträger, weshalb bisher lediglich zehn römische defixiones aus anderen Materialien bekannt sind. Jedoch erklärt die gute Haltbarkeit von Blei nicht den Vorzug gegenüber anderen dauerhaften Materialien. Zum einen stellte Blei ein Nebenprodukt des Silberabbaus dar, war bequem beschriftbar und wurde in der Antike im Alltag sehr häufig verwendet. Zum anderen hat Blei spezielle Eigenschaften wie Schwere oder Kälte, ist giftig und wurde mit Wert- und Nutzlosigkeit assoziiert, die es als rituelles Trägermaterial eines Fluches geeignet erscheinen ließen. Darauf nimmt eine Tafel des 2. Jahrhunderts aus Carnuntum Bezug, die sich gegen den Dieb eines Gefäßes richtet: „So wie jenes Blei Gewicht hat, so soll auch den Eudemus euer Zorn treffen.“ Zur Herstellung der Täfelchen wurde geschmolzenes Blei auf eine glatte Oberfläche gegossen, in die gewünschte Stärke ausgetrieben und meist rechteckig zugeschnitten. In der Regel waren die Bleitafeln nicht größer als 12 × 8 cm. Andere Exemplare weisen die Form so genannter tabulae ansatae auf, an deren Rahmen meist dreieckige Henkel befestigt sind und die in Heiligtümern gefundenen Votivtafeln ähneln. Wesentlich seltener verwendete Materialien für Fluchtafeln sind Hartzinn – sie stammen vor allem aus dem britannischen Raum –, Ostraka, Muscheln, Gemmen, Papyrus und Wachs.
Eine Sonderform stellen kleine menschenähnliche Figuren, so genannte Defixionsfigurinen aus Wachs, Ton, Bronze oder Blei dar, die das Fluchopfer darstellen sollten. Um dem Verfluchten zu schaden, wurden Defixionsfigurinen symbolisch nicht nur mit Nägeln durchbohrt, sondern auch gefesselt, verstümmelt oder mit dem Namen des Adressaten versehen. So weisen die Tonstatuetten, die zusammen mit 33 Fluchtafeln im Heiligtum der Isis und Mater Magna des römischen Mogontiacum (Mainz) gefunden wurden, Einstiche an Hals, Brust, Bauch, Hüften, Auge, Rücken und Anus auf. Neuere Funde von einem antiken Friedhof in Athen, dem Kerameikos, belegen für die Zeit um 400 v. Chr. außerdem eine Art „Sargzauber“, bei dem Figuren mit symbolisch verbundenen Gliedmaßen oder mit dem Namen des Verfluchten versehene Bleilamellen in sargähnlichen Behältnissen vergraben wurden.
Sprache und Schrift
Die meisten Fluchtafeln sind in Griechisch geschrieben. Aufgrund ständig hinzukommender Neufunde – vor allem aus Britannien – vergrößert sich jedoch die Anzahl der lateinischsprachigen Täfelchen laufend. Die Texte aus Italien sind in verschiedenen Sprachen verfasst. Griechisch sind insbesondere ältere Verwünschungen aus griechischen Siedlungen in Magna Graecia beschriftet, die sich bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. nachweisen lassen. Aber auch in nachchristlicher Zeit bedienten sich vor allem vornehme Römer fallweise des Griechischen für Verwünschungen. Auch Etruskisch wurde in älterer Zeit vereinzelt für Fluchtafeln verwendet. Lateinischsprachige Exemplare kamen erst im Römischen Reich ab dem 2. Jahrhundert auf und verbreiteten sich mit der Ausdehnung des römischen Einflussgebietes rasch. Während die Sprache mancher Täfelchen kaum Unterschiede zum Schriftlatein zeigt, ist die Mehrzahl in Vulgärlatein verfasst. Defixiones sind daher wichtige Quellen zur Rekonstruktion der gesprochenen Sprache, der sprachlichen Bandbreite und der allmählichen Entwicklung der romanischen Sprachen.
Die erhaltenen Fluchtafeln sind in unterschiedlichen Schrifttypen verfasst. Bei römischen Exemplaren kommen die römische Majuskelschrift, die ältere römische Kursive sowie ab dem 3. Jahrhundert die jüngere römische Kursive vor. Gestützt von philologischen und onomastischen Kriterien, ist die Schrift das wichtigste Kriterium zur Datierung der Inschriften. Um den Inhalt des Fluchtextes zu verschlüsseln oder die Wirkung zu verstärken, veränderte man die Schriften vieler Fluchtafeln zusätzlich. Manche Flüche sollten den Verwünschten ihrer chiffrierten Schreibweise entsprechend geistig verwirren. So sind manche Tafeln in Spiegelschrift verfasst oder kehren die Buchstabenfolge in einem Wort um, ohne jedoch die Wortstellung zu ändern, was bei fehlenden Worttrennungen die Entzifferung erschwert. Andere Exemplare wurden spiralförmig, von unten nach oben oder bustrophedon (mit zeilenweise abwechselnder Schreibrichtung) beschrieben, weisen eine linksläufige Schrift auf oder täuschen durch die Textaufteilung bewusst einen solchen Schriftverlauf vor, sind jedoch rechtsläufig abgefasst. Manche Tafeln geben auch einen lateinischen Text in griechischer Schrift wieder. Einige kombinieren diese Methoden miteinander. Zahlreiche Fluchtafeln wurden auch mit Zauberworten, wiederkehrenden Lautkombinationen oder zufälligen Wortbildungen magisch aufgeladen, die zusätzlich das Lesen und Übersetzen mancher Fluchtexte schwierig bis unmöglich machen. Außerdem wurden etwa in Bath „Pseudoinschriften“ gefunden, die sich lediglich aus verschiedenen Kratzern ohne Bedeutung zusammensetzen und vermutlich von Analphabeten stammen.
Urheber und Vorlagen
Die Funde aus klassischer Zeit sind in sehr unterschiedlichen Stilen verfasst und variieren in den Handschriften stark. Daher wird in der Forschung vermutet, dass die frühen Fluchtafeln, die oft nur Namenslisten sind, von Privatpersonen und nicht von beauftragten Magiern angefertigt wurden. Erst Platon erwähnt in der Politeia professionelle Magier, die gegen Bezahlung derartige magische Praktiken durchführten. Während zahlreiche in die Zeit Platons zu datierende Exemplare noch von Laienhand stammen dürften, weisen bereits die am Kerameikos gefundenen Figuren aus dem 5. Jahrhundert Übereinstimmungen auf, die auf dieselbe Person als Urheber von Exemplaren in zwei unterschiedlichen Gräbern schließen lassen. Ab der Zeit des Hellenismus, vor allem aber in römischer Zeit (vor allem 2./3. Jahrhundert) entstanden eine Vielzahl gleichartiger Exemplare und Fluchtypen, die von beauftragten Magiern oder anhand derselben Vorlage angefertigt wurden. Die Tendenz, Elemente aus orientalischen Kulten zu übernehmen, immer komplexere Formen zu gestalten und den Fluch um zahllose Dämonen zu bereichern, machte die Herstellung durch spezialisierte Zauberer nötig. Bisweilen signierte der Auftraggeber, sofern er des Schreibens mächtig war, lediglich die vorgefertigte Tafel; so ist beispielsweise der Fluchtext einer Tafel aus Bath in älterer römischer Kursive geschrieben, der Name der verfluchenden Person jedoch in jüngerer römischer Kursive.
Zugleich setzten sich ab der Zeitenwende vermehrt mehrsprachige und synkretistisch geprägte magische Handbücher, Formulare und Vorlagen durch, die für den Fluchtext häufig wiederkehrende Phrasen sammelten und sich speziell an Laien richteten. Eine wichtige Quelle sind die unter dem Titel Papyri Graecae Magicae („Griechische Zauberpapyri“, PGM) zusammengefassten Papyri, die zwischen dem 2. Jahrhundert v. Chr. und dem 5. Jahrhundert n. Chr. im griechisch-römischen Ägypten verfasst wurden und nur einen geringen Teil des ehemals vorhandenen antiken Materials ausmachen dürften. Neben Hausmitteln wie Ratschlägen gegen Nasenbluten und einer Vielzahl an Rezepten für Liebeszauber enthalten sie auch detaillierte Anleitungen für die rituelle Gestaltung von Fluchtafeln:
Ritual
Fluchtext
Ursprünglich wurden die Tafeln vermutlich nur mit den Namen der Verfluchten besprochen und unbeschrieben an Orten deponiert, die den Fluch oder seine Umsetzung wirkungsvoll unterstützen sollten. Eine äußerst große Anzahl von frühen Bleilamellen trägt lediglich den mit einem Stilus eingeritzten Namen des Opfers, manchmal auch eine Liste mehrerer Personen oder einfache Formeln wie: „Ich binde xy.“ Andere Tafeln sind stellvertretend für die verfluchten Personen mit stilisierten Zeichnungen versehen. Diese Tafeln wurden vermutlich sowohl beschrieben als auch besprochen. Ab der Klassik geht die Verwendung reiner Namenslisten zurück, um ab dem 1. Jahrhundert nicht mehr nachweisbar zu sein. Stattdessen entwickelten sich längere Fluchtexte, die häufig wiederkehrende rituelle Formeln und äußere Charakteristika aufweisen und einen Wunsch oder Auftrag an die angerufenen Gottheiten übermitteln sollten.
In diesen erweiterten Fluchtexten lassen sich formelhafte Bestandteile erkennen, die getrennt oder in unterschiedlichen Kombinationen auftreten:
Gebetsformel
Mit Gebetsformeln, die ab der Kaiserzeit zu finden sind, appelliert der Verfluchende (defigens) an eine, bisweilen auch mehrere Unterweltsgottheiten oder Totendämonen (nekydaimon). Diese werden entweder ohne nähere Nennung als dominus („Herr“) oder deus („Gott“), bisweilen auch als tyrannus („König“) bezeichnet oder namentlich – wie beispielsweise Hermes, Gaia, Hekate, Persephone, seltener die Erinnyen oder Erdgottheiten – angerufen und mit verschiedenen Beinamen gerühmt. Römische Fluchtafeln appellieren meist ebenso an die Unterweltsgottheiten (di inferni), die Manen, Dis Pater, Pluto, Jupiter, Proserpina oder Nemesis. Besondere römische Fluchtafeln nennen häufig auch fremde Gottheiten wie Osiris oder rufen bekannte Götter mit ungewöhnlichen Beinamen an, um die Macht der Verfluchung zu steigern. Die Täfelchen sind in der Regel einseitig beschrieben; in Einzelfällen nehmen die Lamellen die Form eines Briefes an: So trägt eine Bleitafel neben einer Liste Verfluchter auf der Innenseite gewissermaßen Angaben zum Empfänger auf der Außenseite: „die Namen der Feinde an […] die Unterweltsgottheiten“. Andere Exemplare wurden zu diesem Zweck rückseitig mit sinnlos erscheinenden Kritzeleien versehen.
Der so hergestellte Kontakt zwischen der angerufenen Instanz und dem Verfluchenden kann unterschiedliche Ausprägungen annehmen: In vielen Fällen bezeichnet sich der Fluch selbst dabei demütig als Geschenk oder Gebet an die betreffende Gottheit, deren Gewalt das Opfer übergeben wird. Der Verfluchende wendet sich bittend an einen Gott oder Dämon und ersucht diesen um Hilfe, wie das meist in den so genannten „Gebeten um Gerechtigkeit“ geschieht. Häufig beauftragt der Verfluchende die Gottheiten aber auch oder befiehlt diesen gar, seinen Wunsch zu vollziehen, und verstärkt dies vereinzelt durch Drohungen und rituelle Formulierungen. Vor allem auf frühen Tafeln mit Namenslisten oder einer einfachen Binde-Formel riefen ihre Verfasser hingegen nicht die Götter an, sondern betrachteten die magische Handlung – beispielsweise verstärkt durch das Vernageln der Tafel – als direkt wirksam.
Binde-Formel
Häufig folgt die Bitte, sich gegen die genannte Person zu wenden, ein Anruf zur Mitwirkung oder eine konkrete Fluchformel wie „ich binde“ ( ), „ich verfluche“ (execro), „ich durchbohre“ oder „ich hefte hinab“ (defigo). Diese Formel erweitert der Sender bisweilen um die Adressierung einer Gottheit; in diesen Fällen beansprucht er nicht, selbst dem Opfer Schaden zuzufügen, auch wenn er sich explizit erwähnt, sondern stellt einen Kontakt zwischen dem Verfluchten und der Gottheit her. Sprachlich überantwortet er damit die Person dem Gott als dem Vollzugsorgan seiner Verfluchung. Gerade die ältesten griechischen Fluchtafeln reduzieren jedoch die Formel, sodass die Götteranrufung gänzlich fehlen kann. Die Forschung erklärt diese Exemplare aus religionswissenschaftlicher Sicht unterschiedlich: Einerseits fassen manche Forscher diese verknappten Texte als Kurzform eines vollständigen Fluches auf, der zugleich die Züge eines Gebets tragen würde und daher Götter oder Dämonen mit der Durchführung des Bindezaubers betraut. Andererseits kann die direkte Binde-Formel auch so verstanden werden, dass der Fluch durch den rituellen Akt des Schreibens oder Vernagelns direkt, ohne zeitliche Verzögerung und ohne die Unterstützung durch Gottheiten auf das Opfer magisch wirkt.
Ist der Täter oder das Opfer namentlich nicht bekannt wie beispielsweise bei einem Fluch gegen einen Dieb, richtet sich die Verwünschung gegen die unbekannte Person, „gleich, ob Mann oder Frau, ob Junge oder Mädchen“ (si baro si mulier si puer si puella). Der Verfluchende selbst bleibt hingegen meist anonym und der Vorgang geheim, was neben der Illegalität der Handlung unter anderem durch die Angst begründet werden kann, der Fluch könne irrtümlich den Verfluchenden selbst treffen oder durch einen Gegenzauber des Opfers unwirksam gemacht werden. Lediglich bei Verwünschungen von Dieben, so genannten „Gebeten um Gerechtigkeit“, oder Flüchen in Liebesangelegenheiten wird der Name des Verfassers häufig erwähnt, in letzterem Fall vermutlich, damit die angerufene Gottheit nicht irrtümlich die Liebe zu einer anderen Person errege.
Typisch für diese Form des Bindezaubers ist ein Fund von der Halbinsel Euböa aus dem 4. Jahrhundert v. Chr.:
Wunsch- und similia similibus-Formel
Flüche dieser Form enthalten meist das zu bestrafende Verbrechen wie auch die Strafe, welcher die Gottheit die Person zuführen möge. Dabei reichen die erhofften oder geforderten Folgen des Fluches von momentanem oder dauerhaftem Schaden, der Beeinträchtigung von Körperfunktionen und Krankheit bis hin zum Tod, was jedoch vor allem bei griechischen Flüchen eher selten vorkommt und gegenüber dem reinen Bindezauber deutlich zurücktritt. Bisweilen stellt der Verfluchende auch einen Bezug zwischen einem Opfer und einem Gegenstand, etwa einem Opfertier, oder dem Ablageort her, dessen Eigenschaften dieses annehmen solle (similia similibus-Formel). Merkmale des beschriebenen Materials, wie die Kälte oder Wertlosigkeit von Blei, werden dabei ebenso herangezogen wie eine gegenläufige Schreibweise, welche die Worte oder Gedanken der Zielperson nutzlos machen soll. Häufig richtet sich der Fluch konkret gegen die Körperteile und Organe oder die geistigen Fähigkeiten des Opfers, besonders häufig gegen dessen Gliedmaßen, Zunge, Magen und Gedärme oder Verstand und Gedächtnis. So ersucht eine Fluchtafel aus Uley die Gottheit, einen Dieb zur Rache weder essen und trinken noch sitzen oder liegen zu lassen, bis das Verbrechen gesühnt wäre. Manche Verwünschungen begrenzen die genannte Strafe auf solche Weise zeitlich, andere wiederum werden als unlösbar verstanden. So ist eine gegen einen Athener gerichtete Fluchtafel aus dem 4. Jahrhundert formuliert: „Ich binde und löse nicht.“ ().
Ebenfalls ohne die Möglichkeit einer Aufhebung verflucht eine im Mainzer Isis- und Mater-Magna-Heiligtum gefundene und für den Gott Attis bestimmte Tafel in älterer römischer Kursive einen gewissen Liberalis bei vollem Bewusstsein zu sterben:
Rituelle Manipulation
Das Fluchtäfelchen wurde nach Abfassung des Fluchtextes zusätzlich eingerollt, gefaltet oder mit Nägeln durchbohrt, um einerseits den geheimen Charakter der Defixion zu verstärken und die illegale Handlung verborgen zu halten. Doch so wie der darauf notierte Name oder Zeichnungen als Repräsentationen der verfluchten Person selbst galten, so sollte andererseits der Verfluchte – symbolisch durch das Täfelchen vertreten – durch diese rituelle Behandlung und deren so genannte sympathetische Wirkung „gebunden“ oder verletzt werden.
Manche Exemplare, wie ein Täfelchen aus dem Mainzer Magna Mater-Heiligtum, wurden zur Verstärkung ihrer Wirkung auch um Hühnerknochen gewickelt. Die Opferung eines Tieres ist zwar nicht fester Bestandteil des Rituals, kommt jedoch äußerst vereinzelt in den Fluchtexten vor: So soll etwa das Herausreißen und Durchbohren der Zunge eines Hahnes einer lateinischen defixio zufolge bewirken, dass der Verwünschte analog dazu verstummt. Darüber hinaus empfehlen die griechischen Zauberpapyri aus Ägypten – hauptsächlich bei Defixionen mit erotischem Hintergrund –, in einer Beziehung zum Verfluchten stehende Objekte der Fluchtafel beizufügen. So enthielt beispielsweise ein auf einer Begräbnisstätte in Mautern gefundener Krug neben dem Täfelchen Überreste von Kohle und menschlichem Haar.
Dabei lassen sich lokale Besonderheiten erkennen: So wurden kaum vernagelte oder gefaltete Fluchtafeln im britannischen Raum gefunden; diese sollten wohl vielmehr aufgrund der speziellen Deponierung ihre Wirkung erlangen. Daher vermuten einige Forscher, dass die Fluchtafeln zunächst öffentlich ausgestellt wurden, bevor sie in Quellen versenkt oder vergraben wurden.
Ablage
Um die beschriebenen Fluchtafeln an die dafür bestimmten Unterweltsgottheiten zu übergeben, wurden sie im mediterranen Raum meist unterirdisch, beispielsweise in Gräbern, Särgen oder Urnen, verborgen, wobei insbesondere die Grabstätten früh oder gewaltsam Verstorbener als besonders wirksam galten. Oftmals setzen die Verwünschungen das Opfer explizit mit dem Ort der Deponierung der Fluchtafel in Verbindung, wie beispielsweise ein römisches Exemplar des 1. Jahrhunderts aus einem Grabfund zeigt: Eine gewisse Rhodine wird auf diesem Täfelchen verflucht, „wie der Tote, der hier begraben liegt, weder reden noch sprechen kann“, für einen Marcus Licinius Faustus tot zu sein und weder reden noch sprechen zu können.
Auch Flüsse, Quellen oder Heiligtümer galten – insbesondere in Britannien – als für die Ablage der Täfelchen geeignet. Vor allem in Nordafrika, Rom und den östlichen Provinzen pflegte man Flüche, die Bezüge zu Wagenrennen aufwiesen, im Circus oder in Amphitheatern zu platzieren, wobei besonders gefährliche Stellen wie die Wendepunkte bevorzugt wurden. Eine ganze Reihe von Fluchtäfelchen wurde im Trierer Amphitheater gefunden. Nur wenige Fluchtafeln wurden direkt in den Häusern ihrer Opfer deponiert und liegen aus archäologischen Ausgrabungen als so genannte „Mauerfunde“ vor; andere wurden lose im Inneren eines Gebäudes verborgen, etwa eine in Groß-Gerau gefundene Bleitafel gegen eine gewisse Priscilla, die eine Heirat mit dem Verfluchenden angeblich verschmähte.
Anwendungsgebiete
Die bekannten Fluchlamellen lassen wiederkehrende Motive für Verfluchungen erkennen, welche einen groben Überblick über den archäologischen Befund verschaffen:
Prozess-Defixion
Die Gruppe der mit juristischem Hintergrund verfassten Fluchtafeln beinhaltet einige der ältesten Exemplare. Zugleich fallen mit 67 griechischsprachigen Funden auch die meisten heute bekannten Täfelchen aus dem von Griechen besiedelten oder durch Handelsbeziehungen erschlossenen Raum in diese Kategorie; so wurden Prozess-Defixionen vor allem in Attika, aber auch auf Sizilien, in Spanien und dem heutigen Süd-Russland nachgewiesen. Ab dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. stellten insbesondere in Attika Rechtsstreitigkeiten ein gängiges Motiv dar, um den Prozessgegner mit magischen Mitteln zu binden. Die aus dieser Region bekannten Fluchtafeln zeigen, dass sich dabei der Fluch nicht nur gegen die namentlich genannten Ankläger und die gegnerischen Anwälte, sondern auch gegen mögliche Zeugen und die Richter sowie Zuhörer und Beobachter wandte, die negativen Einfluss auf den Prozessverlauf hätten nehmen können. Daher nimmt die Prozess-Defixion in einigen Fällen die Form umfangreicher Listen an. Häufig zielte die Verwünschung darauf, die Zunge des Anklägers sowie seines Anwalts und damit seine sprachlichen Fähigkeiten zu verfluchen; andere Exemplare sollten deren Denkvermögen irritieren, sodass der Grund der Anklage in Vergessenheit geriete. Obwohl die lateinische Prozess-Defixion gegenüber der griechischen an Beliebtheit offensichtlich abnahm, sind auch im römischen Einflussgebiet und hier speziell in den Provinzen wie Nordafrika – seltener jedoch in Rom selbst – Fluchtafeln dieser Gruppe zu finden.
Die typische Form einer Prozess-Defixion repräsentiert ein attisches Exemplar aus dem späten 5. oder frühen 4. Jahrhundert, welches Zunge und Denkvermögen eines juristischen Gegners und seiner Anwälte verflucht:
Häufig enthalten attische Namenslisten der Verfluchten bekannte Persönlichkeiten wie Redner oder Politiker, weshalb manche Forscher darauf schlossen, dass auch aus politischen Gründen Fluchtafeln verfasst wurden. Da jedoch das politische Leben des klassischen Athen eng mit dem attischen Prozesswesen verbunden war, lässt sich eine solche Gruppe nur schwer von den Prozess-Flüchen unterscheiden.
Defixion gegen Konkurrenten
Fluchtafeln gegen Konkurrenten in Handel und Gewerbe stammen meist aus klassischer oder hellenistischer Zeit. Sie richten sich dabei oftmals gegen einfache Werk- sowie Gaststätten und die Arbeitskraft oder die Gliedmaßen und Körperteile ihrer Besitzer, seltener jedoch gegen spezialisierte Gewerbezweige. In vielen Fällen ist die Festlegung des Motives auf wirtschaftliche Zwecke jedoch nicht eindeutig: So bilden einige Verwünschungen der wirtschaftlichen Lebensgrundlage lediglich ein Teil des Fluches, der die generelle Zerstörung des Opfers anstrebt. Bei manchen Exemplaren dient die Angabe des Berufes nur der genaueren Identifikation des Opfers.
Vor allem in Nordafrika wurden zahlreiche Fluchtafeln aus der späten Kaiserzeit gefunden, die Gegner bei Wagenrennen oder Zirkusspielen zu binden versuchten. Die Verfluchung galt den Teilnehmern, Athleten, Lenkern oder Mitgliedern konkurrierender Mannschaften bei Rennen gleichermaßen, um deren Kraft, Geschwindigkeit und Siegeswillen zu hemmen; bisweilen richtet sich der Fluch auch lediglich gegen die Pferde, wie eine Lamelle aus Karthago belegt, die einen Totendämon anruft, 28 Pferde bewegungsunfähig zu machen, oder ein Exemplar aus Hadrumetum zeigt, auf dem 60 Pferde mit ihren sieben Wagenlenkern verflucht werden. Ein anderer lateinischer Fluchtext aus dieser Region verwünscht einen Lenker und weiht sein Viergespann, das ein gewaltsam zu Tod gekommener Grabdämon während der Fahrt stürzen solle, dreimal den Unterweltsdämonen. Sechs weitere auf Griechisch verfasste Tafeln gegen venatores zielen darauf, die gegen sie kämpfenden wilden Tiere unverwundbar zu machen und die Gladiatoren selbst zu binden, um so eine leichte Beute der Tiere zu werden. Auch in Griechenland wurden aus der Zeit als römische Provinz insgesamt 26 Bindezauber mit sportlichem Hintergrund, unter anderem gegen Ringer und Läufer, gefunden.
Mit vier Exemplaren bilden Fluchtafeln aus dem 5. bis in das 2. Jahrhundert v. Chr., die aus Konkurrenz bei Theateraufführungen entstanden, die kleinste Gruppe der Funde. Sie wenden sich jeweils gegen den Choregos, den für die Proben zuständigen Chorodidaskalos oder die Schauspieler selbst.
Liebes-Defixion
Liebes-Defixionen kamen ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. auf und blieben bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. verbreitet; sie stammen mehrheitlich aus späterer Zeit als die Funde anderer Kategorien. Innerhalb der Gruppe unterscheidet man zwischen Trennungszaubern einerseits und Zaubern zur Anziehung des gewünschten Partners andererseits.
Trennungszauber stammen vor allem aus klassischer oder hellenistischer Zeit. Sie sollen einen Konkurrenten bannen. Diese Form des Zaubers findet sich in griechischer, lateinischer und etruskischer Sprache. Bisher wurden 13 griechische Exemplare – hauptsächlich vom Festland stammend – veröffentlicht. So ersucht eine Frau auf einer Bleilamelle aus dem makedonischen Pella, die auf einem Friedhof direkt neben einem Skelett gefunden wurde und aus der Zeit zwischen 380 und 250 v. Chr. stammt, darum, dass ein Mann namens Dionysophon von seiner geplanten Heirat ablassen und in Zukunft keine andere Frau heiraten möge.
Auf einen ähnlichen Zweck deutet eine attische Tafel aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. hin:
Fluchtafeln, die der Anziehung des gewünschten Partners (philtrokatádesmos „Liebesfluch“) dienten, sollten oftmals die genannte Person an sexuellem Kontakt mit anderen hindern oder ihre Körperteile oder -funktionen bis zur Erfüllung des Wunsches verfluchen. Diese Form entwickelte sich vermutlich ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. in Syrien und Nordafrika; in griechischer Sprache existieren 23 publizierte Täfelchen. Die meisten weisen auf einen Mann als Verfasser hin. Faraone vermutete, dass die von Männern gefertigten Tafeln primär erotischen Zwecken dienten oder eine finanziell profitable Heirat sichern sollten, während die wenigen von Frauen veranlassten Flüche eher Anziehung und Liebe anstrebten. Andere Forscher nehmen an, die Mehrzahl dieser von Frauen verfassten Flüche sei auf wirtschaftliche Interessen von Prostituierten zurückzuführen.
Vergleichbar ist die als Mauerfund entdeckte Fluchtafel aus Groß-Gerau, die einer gewissen Priscilla den Tod wünscht, da sie einen anderen Mann geheiratet habe. Formal nimmt die Tafel die Form eines „Gebetes um Gerechtigkeit“ an:
Gebete um Gerechtigkeit
Abseits der traditionellen Formen wurden auch Inschriften gefunden, die – stärker als es bei herkömmlichen Defixionen der Fall ist – die Gestalt eines Gebets annehmen. Beispiele stammen aus Kleinasien und vor allem aus dem römischen Britannien. Im Gegensatz zu Fluchtafeln wurden manche Exemplare dieser „Gebete um Gerechtigkeit“ öffentlich in Tempeln ausgestellt, um das Verbrechen bekannt zu machen und den Täter von der angedrohten Strafe in Kenntnis zu setzen; andere wiederum dürften wie gewöhnliche Fluchtafeln behandelt und verborgen deponiert worden sein.
Fast alle der 250 bekannten britannischen Täfelchen sollen die Bestrafung eines Diebes bewirken, weshalb sie in der Forschung als „Gebete um Gerechtigkeit“ und „Rachegebete“ bezeichnet werden. Während Fluchtafeln meist als Auftrag an Unterweltsmächte einem Gegner schaden sollen und selten eine konkreten Anlass haben, bringen Gebete um Gerechtigkeit erlittenes Unrecht vor Gottheiten, die durchwegs als überlegene Instanz dargestellt sind. Dabei überantwortet der Verfasser den Streitfall oder Anlass, den Schuldigen oder das gestohlene Gut den Göttern, um diese dazu zu bewegen, das gegenständliche Verbrechen zu untersuchen, den Täter zu verfolgen und zu bestrafen oder den gestohlenen Besitz zurückzubringen. Durch die göttliche Strafe in Form von Krankheit, Unglücksfällen oder Tod sollte der Täter zu einem öffentlichen Geständnis, der Rückgabe des Gegenstandes oder dessen Rückzahlung gezwungen werden. In manchen Fällen weiht der Verfasser das Diebesgut der angerufenen Gottheit als Lohn oder gelobt, ihr einen Teil seines Wertes zu spenden, so eine aus dem 3. oder 4. Jahrhundert stammende Tafel aus Kelvedon in Essex:
Sofern das Diebesgut auf den Tafeln genannt wird, handelt es sich häufig um Kleidung, Schmuck und Bargeld, daneben aber auch um Gefäße, Werkzeuge und Tiere. Kapitalverbrechen dagegen werden in den erhaltenen „Gebeten um Gerechtigkeit“ nicht erwähnt – möglicherweise bestand bei ihnen eine größere Chance, dass die offiziellen Stellen sich des Verbrechens annahmen und es aufklärten.
Rezeption
Den griechischen Begriff erwähnt in der griechischen Literatur zuerst Platon. In der Politeia beschreibt er „Bettelpriester und Wahrsager“, die behaupten, „sie (seien) im Besitze einer Kraft, die von den Göttern durch Opfer und Zaubersprüche erlangt werde“. Diese können beauftragt werden, einem Feind zu schaden, „indem sie mit gewissen Zaubermitteln und Bannsprüchen die Götter, wie sie sagen, bewegen, ihnen dienstbar zu sein.“ In Platons Nomoi werden zudem „aus Wachs geformte Bilder“ erwähnt, die zur Verfluchung von Personen an Türen, Gräbern oder Wegkreuzungen angebracht werden.
In der lateinischen Prosa-Literatur berichtet Plinius der Ältere in seiner Naturalis historia, dass die Furcht vor Verwünschungen allgemein verbreitet sei. Auch Tacitus schreibt in seinen Annales bleiernen mit dem Namen des Opfers beschriebenen Fluchtäfelchen und anderen magischen Gegenständen in den Wänden einer Unterkunft des Germanicus die Wirkung zu, dessen plötzliche Erkrankung und späteren ungeklärten Tod auf einer Reise in den Osten des Reichs verursacht zu haben. Ähnlich schildert Apuleius in seinem Roman Metamorphosen „beschriftete Metallplättchen“ (lamminae litteratae) im Besitz der thessalischen Hexe Pamphile, die mit magischen Zeichen versehen seien. Aufschluss über die gesellschaftliche Haltung gegenüber magischen Praktiken gibt insbesondere die in überarbeiteter Fassung erhaltene Verteidigungsrede des Apuleius (De magia) aus seinem Magieprozess im Jahr 158/159 n. Chr., in dem er des Vorwurfs freigesprochen wurde, die Ehe mit einer reichen Witwe mittels Magie herbeigeführt zu haben.
Vor allem über Flüche aus juristischen Gründen finden sich zahlreiche literarische Quellen: So fällt in Aristophanes’ Die Wespen ein berühmter Redner namens Thukydides während eines Prozesses einem Bindezauber zum Opfer. Cicero erwähnt einen Anwalt, der plötzlich seinen Fall vergaß, daraufhin den Prozess verlor und hierfür später Zauberei verantwortlich gemacht habe. Seinen Orationes zufolge hatte auch der Redner Libanios zeitweilig seine Fähigkeit zu sprechen, zu schreiben oder zu lesen eingebüßt, bis ein verstümmeltes Chamäleon, dem mit einem der Vorderbeine das Maul verschlossen worden war, in seinen Räumlichkeiten gefunden und entfernt wurde.
Manche Bestandteile und antike Vorstellungen gingen vor allem über die Sammlungen der griechischen Zauberpapyri in die Zauberhandschriften des Mittelalters ein. In antiker Tradition dienten diese Anleitungen dazu, persönlichen Feinden, häufig auch Prozessgegnern zu schaden, sie in ihrer Sprech- und Denkfähigkeit zu lähmen oder ihre Zunge zu binden. Zudem fungierten christliche Bleilamellen zunehmend als Schutz des Hauses gegen alle Übel, wobei die Anrufung Christi, der Dreifaltigkeit oder von Geistern den in der Antike üblichen Appell an die Unterweltsgottheiten ersetzt oder sich mit heidnischen Formeln synkretistisch vermischt.
Des Weiteren lebt der antike Bindezauber in christlichen Heiligenlegenden als Inbegriff heidnischen Aberglaubens weiter. So wird dem heiligen Euthymius von Melitene zugeschrieben, einen erkrankten Mönch geheilt zu haben, indem er eine mit Schriftzeichen versehene Zinntafel – ein Werk eines heidnischen Magiers – aus dessen Körper zog. Sophronius von Jerusalem schildert in seinen Schriften über die Märtyrer Cyrus und Johannes von Alexandria, dass die Heiligen unter der Schwelle eines Gelähmten die Ursache der Lähmung, vermutlich ein Fluchtäfelchen, entfernen ließen und damit die Wirkung eines Fluches aufhoben, worauf sein Verfasser augenblicklich umkam. Sophronius zufolge seien die beiden Heiligen ebenso einem anderen Gelähmten namens Theophilos im Traum erschienen und hätten ihn aufgefordert, den nächsten Fang der Fischer im Hafen von Alexandria zu kaufen. Ein unter dem Fang gefundenes Kästchen habe Theophilos auf Geheiß der Heiligen aufbrechen lassen, um darin eine Zauberpuppe in Form einer Bronzestatuette zu finden, deren Hände und Füße mit Nägeln durchbohrt waren. Nach der Entfernung der Nägel sei der Gelähmte geheilt gewesen.
Siehe auch
Fluchstein
Editionen und Corpora
Die Editionen sind in Klammern mit den in der Forschung verwendeten Abkürzungen versehen.
Auguste Audollent: Defixionum tabellae quotquot innotuerunt tam in Graecis, Orientis quam in totius Occidentis partibus praeter Atticas in corpore Inscriptionum Atticarum editas. Paris 1904. (online) [DT]
David R. Jordan: New Greek Curse Tablets (1985–2000). In: Greek, Roman and Byzantine Studies 41, 2001, S. 5–46. [NGCT]
David R. Jordan: A Survey of Greek Defixiones not included in the Special Corpora. In: Greek, Roman and Byzantine Studies. 26, 1985, S. 151–197. [SGD]
Amina Kropp (Hrsg. / Übers.): Defixiones. Ein aktuelles Corpus lateinischer Fluchtafeln. Speyer 2008, ISBN 978-3-939526-02-5 (lateinisch-deutsche Edition der 382 bisher bekannt gewordenen und lesbaren lateinischen Fluchtafeln; bietet exakte philologische Transkription, Angaben zu Datierung, Fundort, archäologischem Kontext, Verzeichnis der jeweiligen Sekundärliteratur) [DFX]
Karl Preisendanz (Hrsg. / Übers.): Papyri Graecae Magicae. Die griechischen Zauberpapyri. Teubner. (mit griechischen Texten und deutscher Übersetzung) [PGM]
Bd. I, Leipzig 1928. oilib.uchicago.edu (PDF; 4,5 MB)
Bd. II, Leipzig 1931. oilib.uchicago.edu (PDF; 5,8 MB)
Celia Sánchez Natalías: Sylloge of Defixiones from the Roman West. A comprehensive collection of curse tablets from the fourth century BCE to the fifth century CE (= BAR International Series. Band 3077). 2 Teilbände, British Archaeological Reports, Oxford 2022, ISBN 978-1-4073-1532-4.
Richard Wünsch: Appendix inscriptionum Atticarum: Defixionum tabellae in Attica regione repertae. Inscriptiones Atticae aetatis Romanae. Inscriptiones Graecae 3, 3. Berlin 1897 [DTA].
Literatur
Anna Bohlen: Fluch und Religion: Lateinische Fluchtafeln als Ausdruck privater Religiosität? Dissertation, Universität Oldenburg 2018 (online) (nicht ausgewertet).
Kai Brodersen, Amina Kropp (Hrsg.): Fluchtafeln. Neue Funde und neue Deutungen zum antiken Schadenzauber. Verlag Antike, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-938032-04-9.
Kai Brodersen: Briefe in die Unterwelt. Religiöse Kommunikation auf griechischen Fluchtafeln. In: Kai Brodersen (Hrsg.): Gebet. und Fluch, Zeichen und Traum. Aspekte religiöser Kommunikation in der Antike (= Antike Kultur und Geschichte 1). Lit-Verlag, Münster u. a. 2001, ISBN 3-8258-5352-7, S. 57–68.
Esther Eidinow: Oracles, Curses, and Risk Among the Ancient Greeks. Oxford University Press, New York 2007, ISBN 978-0-19-927778-0.
Christopher A. Faraone, Dirk Obbink (Hrsg.): Magika Hiera. Ancient Greek Magic and Religion. Oxford University Press, New York 1991, ISBN 0-19-504450-9.
John G. Gager: Curse Tablets and Binding Spells from the Ancient World. Oxford 1992, ISBN 0-19-506226-4.
Michael Hölscher, Markus Lau, Susanne Luther (Hrsg.): Antike Fluchtafeln und das Neue Testament. Materialität – Ritualpraxis – Texte. Mohr Siebeck, Tübingen 2021, ISBN 978-3-16-157592-1.
Amina Kropp: Magische Sprachverwendung in vulgärlateinischen Fluchtafeln (defixiones). Narr, Tübingen 2008, ISBN 978-3-8233-6436-8 (mit einem Corpus aller lateinischen Fluchtafeln auf CD-ROM; Rezension).
György Németh: Supplementum Audollentianum (= Hungarian Polis Studies. Nummer 20). University of Debrecen, Zaragoza/Budapest/Debrecen 2013, ISBN 978-963-473-620-2 (mit zahlreichen Fotos und Zeichnungen von Fluchtafeln).
Bernd-Christian Otto: Magie. Rezeptions- und diskursgeschichtliche Analysen von der Antike bis zur Neuzeit (= Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten. Band 57). de Gruyter, Berlin u. a. 2011, ISBN 978-3-11-025420-4.
Karl Preisendanz: Fluchtafel (Defixion). In: Reallexikon für Antike und Christentum. Band 8, 1972, ISBN 3-7772-7218-3, Sp. 1–29.
Jan Tremel: Magica Agonistica. Fluchtafeln im antiken Sport (= Nikephoros-Beihefte Nr. 10), Olms, Hildesheim 2004, ISBN 3-615-00294-6. (mit einer Zusammenstellung von 100 Fluchtafeln samt Übersetzungen aus dem Bereich des Sports)
Daniela Urbanová: Latin Curse Tablets of the Roman Empire (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Neue Folge, Band 17). Institut für Sprachen und Literaturen der Universität Innsbruck, Bereich Sprachwissenschaft, Innsbruck 2018, ISBN 978-3-85124-245-4 (nicht ausgewertet).
Hendrik S. Versnel: Fluch und Gebet – magische Manipulation versus religiöses Flehen? Religionsgeschichtliche und hermeneutische Betrachtungen über antike Fluchtafeln (= Hans-Lietzmann-Vorlesungen 10). de Gruyter, Berlin u. a. 2009, ISBN 978-3-11-022635-5.
Weblinks
Thesaurus Defixionum, Universität Hamburg (Datenbank der erhaltenen antiken Fluchtafeln)
Curse Tablets of Roman Britain, Centre for the Study of Ancient Documents, Oxford (englisch)
Papyri Graecae Magicae (in Auswahl), demotische Papyri und Fluchtafeln in Übersetzung (englisch)
Ancient Greek Curse Tablets, Interview mit Christopher A. Faraone (englisch)
Magische Texte (Liebeszauber, Amulette, Schadenzauber) aus dem römischen Ägypten, Papyrus-Sammlung der Universität zu Köln
Anmerkungen
Magische Schrift
!
Ritual
Magisches Objekt
Römische Religion
Religionsethnologie
Rechtsgeschichte (griechische Antike)
Literatur (Altgriechisch)
Literatur (Latein) |
3482317 | https://de.wikipedia.org/wiki/Acetabuloplastik | Acetabuloplastik | Der Begriff Acetabuloplastik fasst verschiedene Operationstechniken zusammen, die – unter dem Oberbegriff der Beckenosteotomien – zur operativen Behandlung der Hüftdysplasie (HD) im Kindesalter Anwendung finden. Hierzu zählen einige technisch sehr ähnliche Operationen, wie zum Beispiel die Osteotomie nach Lance, nach Pemberton oder nach Dega.
Die Salter-Osteotomie zählt – im weiteren Sinne – zwar auch zur Gruppe der Acetabuloplastiken, unterscheidet sich aber in der Vorgehensweise sehr von allen anderen Verfahren.
Grundlagen
Das Becken, besser gesagt, das Hüftbein setzt sich aus drei Knochen zusammen, dem Darmbein, dem Schambein und dem Sitzbein. Während des Wachstums bleiben die Verbindungsstellen (Wachstumsfugen) zwischen den drei Knochen offen. Sie sind nur bindegewebig, später durch Knorpelgewebe flexibel miteinander verbunden und verknöchern erst zum Ende des knöchernen Wachstums. Die drei Wachstumsfugen treffen sich im späteren Zentrum der Hüftgelenkspfanne und bilden dort die Y-Fuge.
Bei der Hüftdysplasie fehlt dem Hüftkopf die seitliche (laterale) und vordere (ventrale) Überdachung (auch Pfannenerker genannt). Der „zukünftige“ Hüftkopf wird nicht korrekt überdacht und droht – je nach Schweregrad der Dysplasie – nach oben abzurutschen und zu luxieren (auszurenken).
Das Prinzip der Acetabuloplastik macht sich die noch offene Y-Fuge zu Nutzen. Das Darmbein wird oberhalb der Pfanne so durchtrennt (Osteotomie), dass der seitliche Pfannenerker heruntergeschwenkt werden kann. Dreh- und Knickpunkt ist die Y-Fuge. Dieses Prinzip ist die Grundlage aller Techniken der Acetabuloplastik, lediglich die Vorgehensweise ist unterschiedlich.
Ziel der Acetabuloplastik
Ziel dieser Operation ist es, den lateralen und ventralen Pfannenerker so wiederherzustellen, dass der Hüftkopf eine physiologische Überdachung findet. Je früher die Operation (bei gegebener Indikation) durchgeführt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Hüftgelenk und Schenkelhals normal heranwachsen.
Bemessen wird die laterale Überdachung am sogenannten Acetabulumwinkel (AC-Winkel) im Beckenübersichtsröntgenbild: Ein Winkel zwischen einer Horizontalen durch die Y-Fugen und einer Linie entlang des Pfannenerkers. Beim gesunden Neugeborenen beträgt der AC-Winkel etwa 25°, mit 6 Jahren etwa 15° und ab dem 12. Lebensjahr 11–12°. Entsprechend dieser physiologischen Werte sollte der AC-Winkel auch bei der Acetabuloplastik korrigiert werden. Man spricht von anatomischer Rekonstruktion.
Indikationen und Kontraindikationen
Indikationen für eine Acetabuloplastik ist in erster Linie die Hüftdysplasie. Ein operatives Eingreifen wird notwendig, wenn die HD konservativ – also mit Spreizhose/-schiene, Spreizgips oder Repositionsgips – nicht mehr behandelbar ist oder diese Behandlungsmethoden fehlschlugen. Eine absolute Indikation zur Acetabuloplastik ist die nichtreponierbare (nicht wieder einzurichtende) Hüftluxation. Wenn die Indikation zur Acetabuloplastik gestellt ist, sollte die Operation so schnell wie möglich erfolgen.
Die Operation kann beim Säugling schon ab dem ersten Lebensmonat durchgeführt werden, wenn keine anderen medizinischen Gründe dagegen sprechen. Empfohlen wird ein gelenkverbessernder operativer Eingriff ab einem Alter von rund eineinhalb Jahren, da erst dann die Ausbildung und Festigkeit des Knochens eine exakte und saubere Durchführung erlauben. Durch die in den meisten Fällen vorangehenden konservativen Maßnahmen kommt es ohnehin frühestens im zweiten Lebensjahr zur Operation. Milde Verlaufsformen der Hüftdysplasie weisen oft eine günstige Verlaufsform auf, weshalb in solchen Fällen meist mit einem operativen Behandlungsplan bis zum 3. Lebensjahr gewartet wird.
Es gibt verschiedene Meinungen dazu, bis zu welchem Alter eine Acetabuloplastik durchgeführt werden kann. Entscheidend ist, dass die Y-Fuge noch offen sein muss, was die Operation noch in einem Alter von 12 oder 13 Jahren – also bis zum Verschluss der Y-Fuge – möglich macht. Bei später Erstdiagnose (6. Lebensmonat und älter) ist die Indikation zur direkten OP zwar gegeben, konservative Maßnahmen sollten jedoch, in Abhängigkeit von Befund und Schweregrad, dennoch erwogen werden.
Als weitere Indikation ist der Morbus Perthes (frühkindliche Hüftkopfnekrose) zu erwähnen, wobei häufig die Methode nach Salter in Verbindung mit einer intertrochanteren Varisationsosteotomie (Einwärtskippung / Korrektur des Schenkelhalses mit dem Ziel der besseren Zentrierung des Hüftkopfes in der Hüftpfanne) zur Anwendung kommt. Bei seltenen, neurologischen Störungen (z. B. Infantile Zerebralparese), die zu einer Hüftdysplasie oder Hüftluxation führen, kommt die Acetabuloplastik ebenfalls zum Einsatz.
Kontraindikationen sind fieberhafte Infektionen, entzündliche Prozesse im Bereich des Hüftgelenks oder des Beckenknochens und andere, bis dahin noch nicht abgeklärte Allgemeinbefunde. Bei geschlossener Y-Fuge, abgeschlossenem knöchernen Wachstum und stark verformtem Hüftkopf kann die Operation nicht mehr durchgeführt werden.
Diagnostik und Diagnosestellung
Die Einzelheiten zur klinischen und bildgebenden Diagnostik der Hüftdysplasie beziehungsweise der Hüftluxation werden im Artikel Hüftdysplasie erläutert.
Präoperativ werden sowohl zur genauen Beurteilung der Gelenkfehlstellung und des Schweregrades als auch zur Planung der Operation selbst konventionelle Röntgenbilder des Beckens, sogenannte Beckenübersichtsaufnahmen und Rippstein-Aufnahmen, angefertigt. Die Rippstein-Aufnahmen dienen der genaueren Beurteilung der Schenkelhälse in einer seitlichen Projektion.
Anästhesie
Die Operation wird in Vollnarkose mit Intubation oder Larynxmaske durchgeführt. Zur Schmerztherapie bekommen die Kinder schon vor der Operation ein Schmerzmittel – in Form eines Zäpfchens oder als Injektion – verabreicht.
Operationsablauf
Im Falle der dysplastischen Hüftluxation kann als erstes eine Funktionsarthrographie des/der Hüftgelenke/s vorgenommen werden. Hier lässt sich das Luxationsverhalten und der Grad der Kapselüberdehnung/-verletzung im Röntgenbild genau bestimmen. Spätestens jetzt kann noch die Entscheidung getroffen werden, ob operiert werden muss oder nicht, und wenn ja, welches Verfahren zum Einsatz kommt.
Technik der Acetabuloplastik
Bei allen Osteotomietechniken wird lediglich ein kleiner Zugang zwischen Leistenfalte und Beckenkamm benötigt. Die Muskulatur wird hier stumpf auseinandergedrängt und darunter das Darmbein dargestellt. Kurz oberhalb der Pfanne wird das Periost abgelöst und der Darmbeinknochen freigelegt.
Osteotomie nach Pemberton
Bei Pemberton wird unter ständiger Röntgenkontrolle mit einem flachen Meißel das Darmbein etwa 5 mm oberhalb des Pfannenerkers angekerbt und die Osteotomie in Richtung Y-Fuge vervollständigt. Nun wird das Pfannenfragment, ebenfalls unter Röntgenkontrolle, nach unten und gleichzeitig nach vorne geklappt. So wird eine möglichst anatomische Rekonstruktion der Pfanne erreicht.
Osteotomie nach Dega
Dega führt die Osteotomie ebenfalls in Richtung Y-Fuge aus, benutzt dabei jedoch spezielle, gebogene Meißel, um eine möglichst sphärische – der Pfannenrundung angepasste – Ablösung des Fragmentes zu erzielen. Ursprünglich senkte Dega das Pfannenfragment nur seitlich ab, heute wird dies jedoch meistens mit einer zusätzlichen Ventral-Schwenkung (nach vorne) ähnlich der Pemberton-Methode modifiziert.
Entsprechend dem so entstandenen Spalt wird bei beiden Vorgehensweisen ein passender Knochenkeil (Spenderknochen/Knochenbank, siehe unten) zurechtgesägt und unter Röntgenkontrolle in den Spalt eingestößelt. Der Keil kann wenn nötig mit einem Osteosynthese-Draht (auch Kirschner-Draht genannt) fixiert werden. Bei einem geübten Operateur dauert diese Operation in etwa fünfundvierzig bis sechzig Minuten.
Im Anschluss an die Operation wird ein entsprechender Beckenbeingips (modifizierter Fettweiss-Gips) oder eine Abduktions-Orthese angelegt, damit der Hüftkopf während der postoperativen Heilung zentral in der Pfanne steht. Die Narkose wird erst im Anschluss daran beendet.
Der Knochenkeil
Bei Kindern ist es nur schwer möglich, Eigenknochen im Sinne der Autologen (Knochen-)Transplantation zu verwenden. Bei gleichzeitiger intertrochantärer (zwischen den Knochenvorsprüngen am Oberschenkelknochen) Umstellung kann versucht werden, den abfallenden Korrekturkeil zu verwenden. In den meisten Fällen ist dieser jedoch zu klein.
Heute werden vorwiegend Spenderknochen aus hauseigenen Knochenbanken oder von verschiedenen Herstellern benutzt. Es handelt sich hierbei meistens um Oberschenkelköpfe, die bei Endoprothesenoperationen entnommen und bei sonst gesunden Patienten und vorliegender Einverständniserklärung gespendet werden. Die Spenderknochen werden in zertifizierten Thermodesinfektionsgeräten desinfiziert und entproteinisiert. Anschließend werden sie in sterilen Gefäßen – bei mind. minus 20 °C – kryokonserviert. Alternativ dazu ist es möglich, Spenderknochen im Autoklaven unter Einwirkung von gespanntem Wasserdampf zu sterilisieren. Auch andere Sterilisationsverfahren, zum Beispiel die Gammastrahlen-Sterilisation, werden bei der industriellen Knochenaufbereitung angewendet.
Alle Aufbereitungs- und Desinfektions-/Sterilisationsverfahren sowie die Lagerung der Spenderknochen (Tiefkühlung) sind aufwändig und unterliegen strengen Auflagen der Bundesärztekammer, des Medizinproduktegesetzes (MPG) und des Robert Koch-Instituts.
Sonderfälle
In seltenen sehr schweren Fällen lässt sich der Hüftkopf nicht mehr manuell (Overhead-Technik) reponieren (in die Normalstellung bringen). Der Hüftkopf ist so weit abgerutscht und die Gelenkkapsel so überdehnt und hypertrophiert, dass der Kopf sich nicht zurück in die Pfanne reponieren lässt. Häufig lagert sich überschießendes Kapselmaterial in die Pfanne ab und behindert die Reposition zusätzlich. In solchen Fällen muss der Hüftkopf offen, also unter Eröffnung des Gelenkes selbst, reponiert werden. Man spricht von „Offener Hüfteinstellung“. Dabei wird die Kapsel zirkulär eröffnet, überflüssiges Kapsel- und Gelenkschleimhautgewebe aus der Pfanne entfernt, der Hüftkopf reponiert und die Kapsel gegebenenfalls über dem Hüftkopf gerafft.
Komplikationen
Allgemeine Komplikationen
Wie bei jeder Operation kann es zu Gefäß- und Nervenverletzungen kommen. Der einfache und sichere Zugang sowie die kurze OP-Dauer halten den Blutverlust gering. Bei Operationen am Knochen kann es zu unerwarteten Knochenbrüchen kommen, die intraoperativ direkt versorgt werden müssen.
Postoperativ kann es zu weiteren Komplikationen wie Wundinfektionen und anderen Wundheilungsstörungen, Arthritis des Hüftgelenks oder im schlimmsten Fall zu einer Sepsis kommen.
Spezifische Komplikationen
Intraoperative Verletzungen von Organen oder größeren Blutgefäßen werden in der Literatur nicht beschrieben. Verletzungen oder Reizungen des Nervus cutaneus femoris lateralis (sensibler Leisten-Oberschenkelnerv) können vorkommen, sind jedoch zumeist reversibel.
Ein postoperatives Versagen oder Einbrechen (Sintern) des Knochenkeils kann eine erneute Operation notwendig machen. Ebenso kann es passieren, dass der Knochenkeil nicht fest genug verankert wurde und er sich postoperativ aus dem Osteotomiespalt löst, was meistens zur Auflösung (Lyse) des Keils führt. Durch den Beckenbeingips kann es zu Druckschäden oder Nervenreizungen kommen.
Nachbehandlung und Rehabilitation
Der ruhigstellende Gips (Retentionsgips), der im Anschluss an die Operation angelegt wird, wird in der Regel für sechs Wochen belassen. Es kann nach einer und nach weiteren zwei Wochen jeweils eine Kontroll-Röntgenaufnahme gemacht werden. Nach den sechs Wochen sollte ein Gipswechsel erfolgen, was zumeist eine weitere Narkose erfordert. Insgesamt wird der Gips drei Monate lang getragen und dann von einer Schienenbehandlung abgelöst. Kontinuierliche Nachuntersuchungen und Kontrollen sind zwingend notwendig. Je älter das Kind ist, desto länger dauert die Nachbehandlung.
Erfolgsquoten
Es gibt vereinzelt Studien, die die Resultate und Erfolgsquoten der Acetabuloplastik mit klinischen und radiologischen Nachuntersuchungen beschreiben. Eine Studie beschreibt sogar die Ergebnisse im mittelfristigen Verlaufsbereich. Sie untersucht dreiundachtzig Kinder (insgesamt 125 operierte Gelenke) zehn Jahre nach der Acetabuloplastik in der Technik nach Pemberton. Es werden nicht nur die Ergebnisse der Pfannenkorrektur, sondern auch die Erfolge der Verwendung von sterilisiertem Fremdknochen untersucht. Die Nachuntersuchungen beziehen sich dabei auf den – bereits erwähnten – AC-Winkel, auf die knöcherne Durchbauung des Fremdknochenkeils, auf die Gang- und Bewegungsentwicklung und auf die postoperative Beschwerdesituation. Das Gesamtergebnis dieser Nachuntersuchung fällt äußerst positiv aus: Über 96 Prozent der nachuntersuchten Patienten (und deren Eltern) beurteilen das Ergebnis der Operation als gut oder sehr gut. Lediglich ein Patient beurteilt das Verfahren als schlecht.
Je früher eine HD erkannt wird, desto einfacher und wirkungsvoller ist die Therapie. Da heute die Hüftsonographie bei Neugeborenen (U3) zum Standard gehört, können die meisten Dysplasien sehr früh erkannt und entsprechend behandelt werden.
Geschichte
Die Geschichte der operativen Therapie bei Pfannenfehlstellungen beginnt Ende des 19. Jahrhunderts. 1891 versuchte F. König in Berlin erstmals, eine Periost-Knochenschuppe des seitlichen Hüftpfannenerkers herunterzuklappen. Albee (1915) und Jones (1920) verwendeten dieses Konzept und entwickelten daraus die Grundform der heutigen Acetabuloplastik. Sie lagerten Knochenspäne aus dem Schienbein in den Osteotomiespalt ein. Eine Methode, die sich nicht halten konnte, erprobte Spitzy 1924. Er fixierte Knochenspäne (ebenfalls aus dem Schienbein) am dysplastischen Pfannenrand. Sie sollten im Laufe des Wachstums einen neuen Pfannenerker bilden. Mehr als 50 Jahre später wurde diese Methode wieder aufgegriffen. Die daraus entstandene Operation wird heute noch als „Shelf-Plastik“ angewendet. 1925 griff der Kinderchirurg P. M. Lance in Frankreich die Modifikationen von Albee und Jones wieder auf: Er fixierte einen Knochenkeil im Osteotomiespalt. Bis heute wurde diese Technik vielfach modifiziert, weiterentwickelt und verbessert. Pemberton und Dega sind nicht die Letzten in dieser Reihe. Verschiedene Chirurgen und Kliniken entwickeln diese Technik auch heute noch weiter. Sie erproben beispielsweise den Einsatz von Kunstknochen und minimalinvasive Techniken für den Zugang.
Literatur und Quellen
A.B. Imhoff, R. Baumgartner: Checkliste Orthopädie. Thieme 2006. ISBN 3-13-142281-5
Breusch, Mau, Sabo: Klinikleitfaden Orthopädie. Elsevier 2006. ISBN 978-3-437-22471-3
Klaus Buckup, L.C. Linke, W. Cordier: Kinderorthopädie. Thieme 2001. ISBN 3-13-697602-9
J. Duparc: Chirurgische Techniken in Orthopädie und Traumatologie. Band Beckenring und Hüfte. Elsevier 2005, ISBN 3-437-22556-1
F. Hefti, R. Brunner: Kinderorthopädie in der Praxis. Springer, 2006, ISBN 978-3-540-61480-7
R.-P. Meyer, A. Gächter: Hüftchirurgie in der Praxis. Springer, 2005, ISBN 978-3-540-22718-2
Roland Bonmann: Ergebnisse der Azetabuloplastik in der modifizierten Dortmunder Technik mit allogenen autoklavierten Knochenkeilen in einem postoperativen Zeitraum von acht bzw. neun Jahren. Dissertation, 2003, (Volltext)
C.J. Wirth: Orthopädie und orthopädische Chirurgie. Band Becken/Hüfte. Thieme, 2004, ISBN 978-3-13-126221-9
Weblinks
Präsentation zu Hüftdysplasie
Einzelnachweise
Operatives Therapieverfahren
Therapeutisches Verfahren in Orthopädie und Unfallchirurgie |
3786201 | https://de.wikipedia.org/wiki/Der%20Zauberberg | Der Zauberberg | Der Zauberberg ist ein 1924 erschienener Bildungsroman des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. Das Werk ist seitdem in vielen hohen Auflagen und in zahlreichen Übersetzungen erschienen. Angeregt wurde es durch die Verhältnisse in einem Davoser Sanatorium, das Mann 1912 beim Besuch seiner lungenkranken Ehefrau kennengelernt hatte. Im Roman trifft der junge angehende Ingenieur Hans Castorp während seines Aufenthalts in der Zeit vor 1914 in der abgeschlossenen Welt eines Sanatoriums im Hochgebirge auf weltentrückte Figuren, die ihn mit Politik, Philosophie, aber auch Liebe, Krankheit und Tod konfrontieren. Verzaubert durch die Liebe zu einer ihm dort begegnenden, eine frühe und prägende Schülerzuneigung widerspiegelnden Frau bleibt er dort für sieben Jahre.
Inhalt
Ankunft
Hans Castorp, einziges Kind einer Hamburger Kaufmannsfamilie, wächst nach dem Tod seiner Eltern zunächst bei seinem Großvater, dann bei seinem Onkel Tienappel auf. Anschließend studiert er Schiffbautechnik. Im Alter von 23 Jahren, vor dem geplanten Eintritt als Volontär bei einer Schiffswerft, reist er im Sommer in die Schweizer Alpen, um dort im Sanatorium Berghof nahe Davos seinen Vetter Joachim Ziemßen zu besuchen.
Ursprünglich beabsichtigt er, nur drei Wochen zu bleiben. Die Atmosphäre des von Hofrat Behrens und dem an einer popularisierten Form von Psychoanalyse interessierten Dr. Krokowski geleiteten Sanatoriums übt jedoch eine eigenartige Faszination auf Castorp aus. Beim Mittagessen trifft er auf vor Atemnot röchelnde oder Blut hustende Patienten und beim anschließenden Spaziergang auch auf die aufgrund ihres Pneumothorax aus der Lunge pfeifende Hermine Kleefeld. Er gewinnt den Eindruck, dass Krankheit den Menschen vergeistige und veredele, während Personen von robuster Gesundheit zu einer gewissen Einfalt neigten. Abstoßend findet er demgemäß die Kombination „krank und dumm“, wie er sie bei der „mörderlich ungebildeten“, zu fortwährenden Stilblüten neigenden Karoline Stöhr antrifft.
Der Mentor
Bald lernt Castorp den Literaten Lodovico Settembrini kennen, einen Humanisten, Freimaurer und „individualistisch gesinnten Demokraten“, der ihm allmählich zum Freund wird. In zahllosen Belehrungen über philosophische und politische Fragen aller Art betätigt sich der Italiener als pädagogischer Förderer Castorps. Diesen erinnert die Mischung aus südländischer Erscheinung und abgetragener Kleidung an einen „Drehorgelspieler“. Der Humanist, dessen Leitstern die „Sonne der Aufklärung“ ist, bejaht, ehrt, liebt den Körper, „die Schönheit, die Freiheit, die Heiterkeit, den Genuss“. Er sieht sich selbst als Vorkämpfer der „Interessen des Lebens“ gegen „sentimentale Weltflucht“ und jedwede Romantisiererei. Konsequenterweise erscheint ihm selbst die Musik „politisch verdächtig“, da sie nur das Gefühl, nicht aber die Vernunft entflamme und so dazu neige, den Geist einzulullen. Obwohl selbst „ein Liebhaber der Musik“, hat er sie „im Verdachte des Quietismus“ und hält sie daher für äußerst gefährlich. Zwei Prinzipien lägen im ewigen Kampf um die Welt, „die Macht und das Recht, die Tyrannei und die Freiheit, der Aberglaube und das Wissen“, das Beharren und der Fortschritt, Asien und Europa. Gemäß seiner Familientradition engagiert sich Settembrini im Sinne „der Aufklärung, der vernunftgemäßen Vervollkommnung“. Analyse tauge zwar „als Werkzeug der Aufklärung und der Zivilisation“, insofern sie „dumme Überzeugungen erschüttert, natürliche Vorurteile auflöst und die Autorität unterwühlt“, indem sie „befreit, verfeinert, vermenschlicht und Knechte reif macht zur Freiheit“. Schädlich, „eine unappetitliche Sache“ sei sie indes, „insofern sie die Tat verhindert, das Leben an den Wurzeln schädigt“. Eindringlich warnt Settembrini daher seinen Schützling davor, sich von dem morbiden Reiz der Anstalt beeindrucken zu lassen, und drängt ihn mehrfach zur Abreise.
Madame Chauchat
Gleich zu Beginn seines Aufenthaltes begegnet Castorp der attraktiven 28-jährigen Russin Madame Clawdia Chauchat, der „kirgisenäugigen“ Gattin eines höheren Beamten aus Daghestan. Sie ist verheiratet, trägt aber keinen Ehering, da dieser für sie „etwas Abweisendes und Ernüchterndes“ an sich hat und „ein Symbol der Hörigkeit“ ist. Am Mittagstisch fällt sie regelmäßig durch ihr Zuspätkommen, lautes Türenschlagen, das Drehen von Brotkügelchen und ähnliche Unarten auf.
Von Anfang an bringt Castorp der Russin neugieriges Interesse entgegen, das er sich zunächst selbst nicht erklären kann. Erst später erkennt er, dass ihn die junge Dame unbewusst an einen frühen „Jugendschwarm“, an seinen Mitschüler Přibislav Hippe (s. u.), erinnert. Ausführlich lässt er sich über sie von seiner Tischgenossin Frl. Engelhart informieren. Angesichts ihres zweifelhaften Gesundheitszustands („schlaff, fiebrig und innerlich wurmstichig“) sieht er in dem „stillen Verhältnisse“ aber lediglich „ein Ferienabenteuer, das vor dem Tribunal der Vernunft [nicht bestehen] kann“. Sehr bald wird aus affektierter Anteilnahme eine morbide Verliebtheit, ja Hörigkeit. Castorps Begehren wird durch die Eifersucht auf Hofrat Behrens angeheizt, dem Frau Chauchat „beinahe täglich“ Modell für seine Ölgemälde sitzt.
Settembrini warnt ihn eindringlich davor, ihren Reizen zu erliegen. Er sieht in ihr die Verkörperung des von ihm verachteten Kontinents Asien, der Heimat fortschrittsfeindlicher „Parther und Skythen“ ist. Die im Sanatorium herrschende Sinnenlust erscheint ihm vor dem Hintergrund dekadenter Trägheit geradezu frevelhaft. Am Beispiel von Madame Chauchat sieht er seine These bewahrheitet, wonach Krankheit nicht nur eine Folge, sondern eine Form der Liederlichkeit sei.
Während eines Karnevalsfestes bittet Castorp, bereits leicht angetrunken, Frau Chauchat bei einem Zeichenspiel um einen Bleistift. Sie überreicht ihm „ein kleines silbernes Crayon“, dünn und zerbrechlich und daher „zu ernsthafter Tätigkeit nicht zu gebrauchen“ – eine Parallele und ein Kontrast zu dem Stift, den sich Castorp einst in seiner Jugend von seinem homoerotisch verehrten (wendisch-slavischen) Mitschüler Přibislav Hippe ausgeliehen hat: dem „versilberten Crayon mit einem Ring, den man aufwärts schieben musste, damit der rot gefärbte Stift aus der Metallhülse wachse“. Nachdem Frau Chauchat ihre unmittelbar bevorstehende Rückreise nach Daghestan angekündigt hat, gesteht ihr Castorp in einer ergreifenden, fast ausschließlich in französischer Sprache gehaltenen Szene seine Liebe. Eine sich anschließende Liebesnacht wird vom Erzähler nur angedeutet: Einerseits mahnt Clawdia am Ende der Begegnung, Castorp solle nicht vergessen, ihr ihren Bleistift zurückzugeben, und lädt ihn damit indirekt zu einem Besuch in ihrem Zimmer ein; andererseits besitzt Hans Castorp als „Pfand“ nach dieser Nacht das „Innenportrait“ (also das Röntgenbild) Clawdia Chauchats, das diese nach eigener Auskunft bis dahin in ihrem Zimmer aufbewahrt hat; als er es später einmal betrachtet, sieht er das „Rippenwerk“, umgeben von „dem Fleische, von dem Hans Castorp in der Faschingswoche vernunftwidrigerweise gekostet hatte“.
Eingewöhnung
Nicht zuletzt mit Blick auf die äußere Routine des geregelten Sanatoriumlebens mit seinen festen Aufsteh-, Essens-, Untersuchungs- und Ruhezeiten nimmt Castorp die Zeit subjektiv anders wahr; sie wirkt auf ihn wie eine „ausdehnungslose Gegenwart“. Zunächst hält er sich für völlig gesund, eine Einschätzung, die die Klinikleitung nicht teilt. Auf Hofrat Behrens’ Rat bleibt er vorerst auf dem Berghof, nimmt zunehmend an therapeutischen Maßnahmen wie den Liegekuren teil. Castorp – der sich von Beginn seines Aufenthaltes an fiebrig fühlt – beginnt, an einer Erkältung zu leiden. Die resolute Oberin Adriatica von Mylendonk verkauft ihm ein Fieberthermometer, damit er, wie die anderen Berghofbewohner, mehrmals täglich seine Temperatur messen kann. Schließlich wird im Rahmen einer Untersuchung durch den Hofrat in Castorps Lunge eine „feuchte Stelle“ gefunden, was später bei einer Röntgenuntersuchung bestätigt wird. So wird Hans Castorp ein regulärer Patient des Sanatoriums. Die Tagesordnung der Patienten beginnt, „in seinen Augen das Gepräge einer heilig-selbstverständlichen Unverbrüchlichkeit“ anzunehmen, sodass ihm das Leben unten im Flachland „fast sonderbar und verkehrt erschien.“
Er besucht die psychoanalytische Vortragsreihe Dr. Krokowskis, deren zentrale These davon ausgeht, dass Krankheitssymptome „verkappte Liebesbetätigung und alle Krankheit verwandelte Liebe“ sei. Schließlich treibt Castorp diverse autodidaktische Studien etwa auf medizinischem und psychologischem Gebiet.
Noch ein Mentor
Settembrini, unheilbar krank, verlässt den Berghof, um ins nahe gelegene „Davos-Dorf“ zu ziehen. Er bezieht Quartier im Haus eines „Gewürzkrämers“, in dem auch sein intellektueller Widerpart wohnt, der asketische Jesuitenschüler Naphta, ein zum Katholizismus konvertierter galizischer Jude mit bewegter Vergangenheit. Naphta ist ein brillanter, rhetorisch begabter und sophistischer Logik verpflichteter Intellektueller, von dessen Einflüssen Settembrini seinen jungen Freund Castorp vergeblich fernzuhalten versucht. In sowohl christlicher als auch kommunistischer Tradition strebt Naphta nach der Wiederherstellung des „anfänglichen paradiesisch justizlosen und gottesunmittelbaren Zustands“ der „Staat- und Gewaltlosigkeit“, wo es „weder Herrschaft noch Dienst gab, nicht Gesetz noch Strafe, kein Unrecht, keine fleischliche Verbindung, keine Klassenunterschiede, keine Arbeit, kein Eigentum, sondern Gleichheit, Brüderlichkeit, sittliche Vollkommenheit.“ Nach Abschaffung „der Greuel des modernen Händler- und Spekulantentums“ und „der Satansherrschaft des Geldes, des Geschäfts“ sei ein totalitärer, auf Terror gestützter Gottesstaat zu errichten; das Prinzip der Freiheit sei ein überlebter Anachronismus. Zwischen Settembrini und Naphta kommt es in der Folge immer wieder zu heftigen Disputen über philosophische und politische Fragen, bei denen sich der Zuhörer Castorp beeindruckt davon zeigt, wie Naphta seinem bisherigen Lehrmeister Paroli bietet.
Ziemßens Tod
Im Gegensatz zu Hans Castorp drängt sein soldatischer Vetter Joachim Ziemßen darauf, den Berghof zu verlassen, um wieder aktiv zu leben und seinen Militärdienst wahrzunehmen. Gegen den ärztlichen Rat verlässt er den Berghof, muss jedoch nach kurzem Dienst einsehen, dass sich sein Leiden verschlimmert, und ins Sanatorium zurückkehren. Nach seinem Tod wird sein Geist im Rahmen einer der von Dr. Krokowski geleiteten spiritistischen Sitzungen aus dem Totenreich heraufbeschworen.
Der Schneetraum
Während eines Skiausflugs im Hochgebirge, leichtfertig die Gefahr im „weißen Nichts“ der Schneelandschaft hinnehmend, gerät Hans Castorp in einen lebensbedrohlichen Schneesturm. Mit letzter Kraft kann er sich in den Windschatten eines Heuschobers retten und schläft, erschöpft von der ungewohnten Anstrengung, ein. Im Traum sieht er zunächst eine „wunderschöne Bucht am Südmeer“, mit „verständig-heiterer, schöner, junger Menschheit“, „Sonnen- und Meereskinder“, die einander „mit Freundlichkeit, Rücksicht, Ehrerbietung“ begegnen. Im Rücken dieser verklärten Szenerie spielt sich allerdings höchst Schauerliches ab: Zwei Hexen zerreißen und fressen über flackerndem Feuer ein kleines Kind. Halb erwacht und die beiden Traumbilder vergleichend, erkennt Hans Castorp, dass menschliche Form und Gesittung letztlich die Bewältigung des Grässlichen und Rohen in uns sind. Er beginnt nun nicht nur an seinen einseitigen Mentoren Settembrini und Naphta, sondern auch an den Gegensatzpaaren Tod/Leben, Krankheit/Gesundheit und Geist/Natur zu zweifeln. Der Mensch sei vornehmer als sie, und weil sie nur durch ihn existieren, sei er Herr über die Gegensätze. Aus Sympathie mit dem Menschengeschlecht beschließt Hans Castorp, das Wissen um den Tod zwar nicht zu verdrängen, aber fortan folgenden Leitsatz zu beherzigen: Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. Hans Castorp wird diese Maxime schon bald vergessen, nachdem er dem Schneesturm rechtzeitig entkommen ist. Tatsächlich ist das, was in diesem zentralen Kapitel zum Ausdruck kommt, vor allem Thomas Manns eigenes Credo.
Eine königliche Persönlichkeit
Nach zwei Jahren kehrt Clawdia Chauchat in Begleitung ihres Liebhabers, des niederländischen Kaffee-Pflanzers Mynheer Pieter Peeperkorn, auf den Berghof zurück. Ungeachtet seiner Eifersucht zeigt sich Hans Castorp von den wirkungsvollen Auftritten des „Kaffeekönigs“ beeindruckt. Dessen Persönlichkeit lässt die Intellektuellen Naphta und Settembrini „verzwergen“. Mit „sommersprossig-nagelspitzer Kapitänshand“ trinkt Peeperkorn Wein aus Wassergläsern, experimentiert mit Schlangengiften und Drogen und betrachtet das Leben als „ein hingespreitet Weib, mit dicht beieinander quellenden Brüsten“, das „in herrlicher, höhnischer Herausforderung unsere höchste Inständigkeit beansprucht, alle Spannkraft unserer Manneslust, die vor ihm besteht oder zuschanden wird.“
Peeperkorn kann den intellektuellen Disputen zwischen Settembrini und Naphta wenig abgewinnen. Seine Bemerkungen beschränken sich oft auf ein vages Ungefähr, seine Sätze bleiben häufig unvollendet. Er überzeugt einzig durch die Wucht seiner Persönlichkeit. Erstaunt erlebt Hans Castorp, was charismatische Ausstrahlung bewirken kann. Doch Peeperkorns Tropenfieber, unter dem er bereits bei seinem ersten Auftritt leidet und das er mit Chinarinde zu therapieren versucht, verschlimmert sich zusehends. Da er den Verlust seiner Lebens- und Manneskraft befürchtet, tötet er sich selbst mit einem Gift, das er sich mit einem eigens konstruierten, an „das Beißzeug der Brillenschlange“ erinnernden Apparat injiziert. Nach seinem Tod verlässt Madame Chauchat den Berghof für immer.
Der große Stumpfsinn
Gegen Ende des Romans verflachen die Aktivitäten der meisten Berghofbewohner, man langweilt sich oder vertreibt sich die Zeit mit dem Legen von Patiencen, mit Briefmarkensammeln, Fotografieren, Schokoladeessen und mit spiritistischen Sitzungen, in denen auch der bereits verstorbene Joachim Ziemßen „erscheint“. Castorp wendet sich mit Vergnügen dem neu angeschafften Grammophon zu, auf dem er sich unter anderem Schuberts Lied vom Lindenbaum anhört. Insgesamt entwickeln sich Zanksucht, kriselnde Gereiztheit und namenlose Ungeduld unter den anwesenden Personen. Der zwischen Settembrini und Naphta von jeher schwelende weltanschauliche Streit eskaliert und endet schließlich mit einem Pistolenduell, bei dem Settembrini den Schuss auf Naphta mit Absicht in die Luft abfeuert, worauf sich dieser aus Wut und Verzweiflung selbst erschießt.
Der Donnerschlag
Aus dem ursprünglich geplanten dreiwöchigen Aufenthalt im Sanatorium sind für Castorp mittlerweile sieben Jahre geworden. Erst der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist der unerwartete „Donnerschlag“, der den vermeintlich „Endgültigen“ aus dem passiven Dasein in der Abgeschiedenheit des Berghofs reißt. Hastig kehrt die internationale Patientenschaft in ihre Herkunftsländer zurück, darunter auch Hans Castorp, dessen überstürzte Heimreise ihn mit einer vollkommen veränderten entbürgerlichten Welt konfrontiert: Schuberts Lindenbaum auf den Lippen, zieht er in den Krieg. Als gewöhnlicher Heeressoldat im Schlachtgetümmel nimmt er an einem der zahllosen Angriffe an der Westfront teil. Dort gerät er schließlich aus dem Blickfeld des Erzählers. Sein Schicksal bleibt ungewiss, sein Überleben im Kugelhagel unwahrscheinlich.
Interpretation
Der Zauberberg ist in mancherlei Hinsicht eine Parodie auf den klassischen deutschen Bildungsroman. Wie dessen übliche Protagonisten verlässt Hans Castorp sein Vaterhaus und wird konfrontiert mit Kunst, Philosophie, Politik und der Liebe. Besonders in den Gesprächen mit seinen Mentoren Settembrini und Naphta lernt er eine Reihe verschiedener Ideologien kennen. Anders jedoch als im traditionellen Bildungsroman führt sein Weg nicht hinaus in die Welt, sondern hinauf in eine abgehobene Bergkulisse, hinein in eine hermetische Krankenstation. Die „Erziehung“ auf diesem Zauberberg dient also nicht mehr dazu, Hans Castorp in ein tüchtiges und selbstbewusstes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft zu verwandeln. Vielmehr mündet sein persönlicher Entwicklungsprozess ins Leere, in die jede Individualität auflösenden „Stahlgewitter“ (Ernst Jünger) des Ersten Weltkriegs.
Nach Bekunden des Autors war der ursprünglich als Novelle konzipierte Zauberberg zunächst als heiter-ironisches Gegenstück, als „Satyrspiel“ zu der erst 1912 vollendeten Novelle Der Tod in Venedig gedacht. Ihre Atmosphäre sollte „die Mischung von Tod und Amüsement“ sein, die Thomas Mann beim Besuch seiner Frau im Sanatorium von Davos kennengelernt hatte. „Die Faszination des Todes, der Triumph rauschhafter Unordnung über ein der höchsten Ordnung geweihtes Leben, die im Tod in Venedig geschildert ist, sollte auf eine humoristische Ebene übertragen werden.“ Und so stellt Der Zauberberg in vielerlei Hinsicht die Antithese zur genannten Novelle dar: Dem etablierten Schriftsteller Gustav von Aschenbach steht hier ein junger, unerfahrener Ingenieur gegenüber, dem schönen polnischen Knaben Tadzio die „asiatisch-schlaffe“ Russin Madame Chauchat, der totgeschwiegenen Cholera in Venedig schließlich die offen zur Schau gestellte Tuberkulose im Sanatorium.
Symbolik
Die Bezüge des Romans zu seinem Titel sind vielschichtig: Der Zauberberg als Ort der Entführung ist spätestens seit dem Rattenfänger von Hameln ein Motiv der deutschen Literatur. In Eichendorffs Erzählung Das Marmorbild wird gleich zu Anfang ausdrücklich vor dem „Zauberberg“ gewarnt, in den die Jugend gelockt wird und von wo „keiner wieder zurückgekehrt ist“. Die Geschichte selbst handelt explizit von der Verführungskraft des Verfalls in Form einer auf einer Anhöhe gelegenen Schlossruine, in der die Sinne (der Realitäts- wie der Zeitsinn) getäuscht werden.
Der Schauplatz der Handlung, das Sanatorium Berghof, liegt nicht nur geographisch abseits im Hochgebirge, sondern stellt auch, wie der Zauberberg der alten Dichtungen, eine abgeschlossene Welt für sich dar. Ihre Abgeschiedenheit ermöglicht eine Konzentration von repräsentativen Charakteren, deren Handeln in nuce die sozialen, politischen und geistigen Auseinandersetzungen Europas vor dem Ersten Weltkrieg widerspiegelt. Das Gebirge bildet überdies einen Gegensatz zu Castorps Heimat, der nüchtern-praktischen Geschäftswelt des norddeutschen „Flachlands“. Erst hier, in höhere Sphären aufgestiegen, kann er sich geistig über seine bürgerliche Herkunft erheben und schließlich im „Schneetraum“ der Versuchung der Todessehnsucht widerstehen.
In jener grotesken mit „Walpurgisnacht“ überschriebenen Karnevalsszene, während der Castorp, vom Alkohol ermutigt, Madame Chauchat seine Liebe gesteht, wird das Sanatorium zum Blocksberg, wo sich im ersten Teil von Goethes Faust die Hexen und Teufel zu einem obszön-höllischen Fest zusammenfinden. Hier, in der Mitte des Romans, klingt in Settembrinis Goethezitat indirekt zum ersten Mal auch der Romantitel an: Allein bedenkt! Der Berg ist heute zaubertoll (Walpurgisnacht, Faust I).
Außerdem erinnert das Sanatorium an den Venusberg, einen verbreiteten, nicht zuletzt aus Richard Wagners Oper Tannhäuser bekannten Topos der deutschen Literatur, eine Art „höllisches Paradies“, einen Ort der Wollust und Zügellosigkeit. Dort verläuft die Zeit anders: Der Besucher glaubt, im Venusberg nur wenige Stunden verbracht zu haben. Hat er aus ihm aber herausgefunden, so sind sieben Jahre vergangen – wie für Hans Castorp, dem die ursprünglich geplanten drei Berghof-Wochen letztlich ebenfalls zu sieben ganzen Jahren geraten.
Auch anderswo im Zauberberg sind Anspielungen auf Märchen und Mythologie allgegenwärtig:
Settembrini vergleicht Hofrat Behrens mit dem Totenrichter Rhadamanthys und das Sanatorium Berghof mit dem Schattenreich, in dem Hans Castorp wie ein Odysseus hospitiere.
Hans Castorp übernimmt zudem die Rolle des Orpheus in der Unterwelt: Der Berghof mit seinen „horizontalen Liegekuren“ und den unterkühlten Temperaturen, in dem Hofrat Behrens mit „blauen Wangen“ regiert, gleicht dem Hades. Im Kapitel „Fülle des Wohllauts“ ist es ausgerechnet eine Aufnahme des Cancans aus Offenbachs Orpheus in der Unterwelt, die als erstes auf dem neuen Grammophon wiedergegeben wird, und Hans Castorp schafft es, durch Auflegen einer Arie aus Gounods Margarete während einer spiritistischen Sitzung in Dr. Krokowkis Zimmer, den Geist Joachim Ziemßens zu beschwören und für kurze Zeit dem Jenseits zu entreißen – ähnlich wie Orpheus durch seinen Gesang die Erlaubnis erwirkt, Eurydike mit sich aus dem Totenreich zu entführen.
Mit dem Schneetraum im Kapitel „Schnee“ greift Thomas Mann den Nekyia-Mythos auf, die Hadesfahrt.
Behrens vergleicht die Vettern mit Castor und Pollux, Settembrini sich selbst mit Prometheus.
Die ungebildete Frau Stöhr bringt, wenngleich beide miteinander verwechselnd, Sisyphos und Tantalus ins Spiel.
Die üppigen Krankenmahlzeiten werden mit dem Tischlein-Deck-Dich aus dem Märchen verglichen.
Frau Engelharts hartnäckige Suche nach Madame Chauchats Vornamen erinnert an die Königstochter in Rumpelstilzchen.
Castorp trägt nicht nur denselben Vornamen wie die Märchenfigur Hans im Glück, sondern teilt auch deren Naivität. Am Ende verliert er, genau wie jene, den Lohn von sieben Jahren, da sein vielschichtiger Reifeprozess auf dem Zauberberg doch mutmaßlich im sinnlosen Tod auf dem Schlachtfeld enden wird.
Schließlich taucht noch das Siebenschläfer-Motiv auf, als der Erste Weltkrieg ausbricht und mit dem Bild vom Donnerschlag, der den Zauberberg sprengt und den Siebenschläfer unsanft vor seine Tore setzt zum ersten und einzigen Male der Romantitel wörtlich erwähnt wird.
Selbst der simple Kauf eines Fieberthermometers gerät zum Initiationsritus, der Castorp endgültig in die verschworene Gemeinschaft der Berghof-Bewohner aufnimmt. Schon der Name der Verkäuferin, Oberin Adriatica von Mylendonk, scheint einer anderen Welt zu entstammen – „hier mutet manches mittelalterlich an“, meint Settembrini.
Die Märchen-Zahl 7 taucht leitmotivisch in zahlreichen Zusammenhängen des siebenteiligen Romans auf. Um nur die auffälligsten zu nennen: Sieben Jahre verbringt Castorp auf dem Berghof. Der groteske Karneval, ein Höhepunkt des Romans, findet nach sieben Monaten statt. Exakt sieben Minuten lang muss das Fieberthermometer von allen Patienten täglich mehrmals unter der Zunge gehalten werden. Außerdem ist die Zauberzahl in der Anzahl der Tische im Speisesaal sowie als Quersumme in Castorps Zimmernummer 34, und sie ist auch in der Jahreszahl 1907 (dem Beginn der erzählten Zeit) versteckt. Settembrinis Name enthält die Zahl auf italienisch. Als Mynheer Peeperkorn seinen Entschluss zum Suizid in einer pathetischen Zeremonie besiegelt, sind sieben Personen zugegen. Joachim Ziemßen stirbt um sieben Uhr. Madame Chauchat bewohnt das Zimmer Nummer 7.
Krankheit und Tod
Krankheit und Tod gehören zu den zentralen Themen des Romans, über die in den metaphysischen Gesprächen mit Settembrini und Naphta ausführlich disputiert wird. Nahezu alle Protagonisten leiden in unterschiedlichem Maße an Tuberkulose, die auch den Tagesablauf, die Gedanken und Gespräche beherrscht („Verein Halbe Lunge“). Immer wieder sterben Patienten an dieser Krankheit, wie der „Herrenreiter“, Fritz Rotbein, die junge Leila Gerngroß, die „überfüllte“ Frau Zimmermann, der schöne Lauro, der vierzehnjährige Teddy, die „rassige“ Natalie Mallinckrodt, die mittellose Karen Karstedt oder auch Barbara Hujus, die dem Leser durch die düstere Viatikum-Szene im Gedächtnis bleibt, und nicht zuletzt Castorps Vetter Ziemßen, der „heroisch“ wie ein antiker Held aus dem Leben scheidet. Neben die krankheitsbedingten Todesfälle treten schließlich mehrere Suizide (Peeperkorn, Naphta), ehe der Roman schließlich im mörderischen Krieg der Nationen endet, dem „Weltfest des Todes“.
Zu Tod und Krankheit in seinem Roman kommentiert Thomas Mann: „Was er [gemeint ist Hans Castorp] begreifen lernt, ist, dass alle höhere Gesundheit durch die tiefen Erfahrungen von Krankheit und Tod hindurchgegangen sein muss […]. Zum Leben, sagt einmal Hans Castorp zu Madame Chauchat, zum Leben gibt es zwei Wege: der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg. Diese Auffassung von Krankheit und Tod, als eines notwendigen Durchganges zum Wissen, zur Gesundheit und zum Leben, macht den Zauberberg zu einem Initiationsroman.“ Im „Schnee“-Kapitel erreicht Castorp mit der Überwindung der Verfallenheit an den Tod einen entscheidenden Schritt seiner geistigen Entwicklung. In ironischer Brechung der hier gewonnenen lebensfreundlichen Maxime erlaubt der Autor seinem Protagonisten allerdings erst im letzten Kapitel, nach dieser Erkenntnis zu handeln und die Welt des Zauberbergs (nicht einmal freiwillig) zu verlassen.
Zeit
Mit der Leben/Tod-Thematik ist der Begriff der Zeit verwoben, ein weiteres zentrales Motiv im Zauberberg. Obwohl der Roman nahezu chronologisch aufgebaut ist, verläuft die Handlung – beginnend mit Hans Castorps Ankunft auf dem Bahnhof Davos-Dorf Anfang August 1907 und endend mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs genau sieben Jahre später – nicht in gleichmäßiger Geschwindigkeit, sondern beschleunigt sich zunehmend. Die ersten fünf Kapitel, etwa die Hälfte des Textes, beschreiben von Castorps insgesamt sieben Zauberbergjahren zeitdehnend und detailreich lediglich die ersten sieben Monate, die dem Protagonisten täglich Neues, Interessantes bringen und die in der „Walpurgisnacht“ zugleich ihren Kulminations- und Endpunkt finden.
Die letzten beiden Kapitel drängen, raffen und verdichten indes einen Zeitraum von sechs für Castorp von Routine und Monotonie geprägten Jahren; Mann verarbeitet dabei zitierend ein philosophisches Thema des von ihm verehrten Arthur Schopenhauer, das „zeitlose Jetzt“ (lat. nunc stans). Der Asymmetrie im Romanaufbau entspricht auf der Erzählebene eine verzerrte Zeitwahrnehmung durch den Protagonisten selbst.
Schließlich wird im Roman fortwährend über das Phänomen der Zeit auch auf theoretischer Ebene diskutiert: Über die Frage etwa, inwieweit „Interessantheit und Neuheit des Gehalts die Zeit vertreibe, das heißt: verkürze, während Monotonie und Leere ihren Gang beschwere und hemme“. Erörtert wird auch das Problem der „Erzählbarkeit“ von Zeit, des Zusammenhangs zwischen der Dauer eines Berichts und der Länge des Zeitraums, auf den er sich bezieht.
Im Zeichen symbolhafter Bezüge steht das einzig konkrete Datum der Romanhandlung, der Faschingsdienstag des Jahres 1908, den das Unterkapitel „Walpurgisnacht“ schildert. Der Autor legt diesen letzten Tag des Karnevals – und notabene Vortag des an Buße und Memento mori mahnenden Aschermittwochs – auf den 29. Februar. Von Peeperkorn später (im siebenten Kapitel) mit der Feststellung: „Sie waren Clawdias Geliebter“ in die Enge getrieben, findet Hans Castorp die elegante Ausflucht, dass dieser Faschingsdienstag „ein aus aller Ordnung und beinahe aus dem Kalender fallender Abend war“, ein Extraabend, ein Schaltabend, „und daß es also nur eine halbe Lüge gewesen wäre, wenn ich Ihre Feststellung geleugnet hätte.“ Eine weitere Pointe liegt darin, dass der 29. Februar 1908 in Wirklichkeit gar nicht auf den Faschingsdienstag, sondern auf den vorangehenden Samstag fiel, die symbolträchtige (Um-)Datierung also der poetischen Freiheit zugutezuhalten ist, die sich der Autor hier aus den oben genannten Gründen genommen hat.
Erotik
Der Protagonist Hans Castorp teilt die bisexuelle Orientierung seines Autors. So liebt er einerseits leidenschaftlich die Russin Clawdia Chauchat. Seine homoerotische Ausrichtung kommt indes in seiner Neigung zu seinem Jugendfreund Přibislav Hippe zum Ausdruck, aber auch in der Faszination, die der lebenskräftige Weltmensch Peeperkorn auf Castorp ausübt. Verbunden werden die beiden Aspekte seiner Sexualität durch das Symbol des Bleistifts: Sowohl von Přibislav als auch von Clawdia borgt er sich einen „Crayon“. Während letzterer „dünn und zerbrechlich ist“, wird der seines Schulfreundes für den pubertierenden Castorp fast zur Reliquie und weckt durch seine Größe und Gestalt phallische Assoziationen. Der nostalgisch geliebte Přibislav trägt obendrein einen „sprechenden“ Nachnamen, denn „Hippe“ bedeutet „Sense“ und wird in der Knochenhand des als Schnitter versinnbildlichten Todes zum bedeutungsvollen Attribut, das die enge Verbindung zwischen Eros und Thanatos in der Zauberberg-Sphäre unterstreicht.
Im Laufe des Romans wird die Thematik vielfach ironisch gebrochen: in Castorps Liebesschwüren beim Karneval, die keineswegs frei von Komik sind, in den Röntgenbildern, die Hofrat Behrens Castorp zu „Studienzwecken“ zeigt („ein Frauenarm, Sie ersehen es aus seiner Niedlichkeit. Damit umfangen sie uns beim Schäferstündchen“), und schließlich in der seltsamen Dreierbeziehung, die Castorp und Clawdia zu gemeinsamen Verehrern Peeperkorns werden lässt.
Schließlich gehört in diesen Zusammenhang auch der sich auf Platon berufende pädagogische Eros Settembrinis, dessen liebevolle, völlig asexuelle Zuwendung zu seinem Schüler Castorp ganz dem von ihm verkündeten humanistischen Menschenbild entspricht.
Musik
Wie so oft bei Thomas Mann – etwa in den Buddenbrooks oder ganz besonders in Doktor Faustus – spielt auch im Zauberberg die Musik eine entscheidende Rolle. Die Musik steht hier für die von Hans Castorp letztlich überwundene „Sympathie mit dem Tod“ (eine Formulierung des Komponisten Hans Pfitzner, die Thomas Mann oft aufgriff). In dem Kapitel „Fülle des Wohllauts“ bespricht Thomas Mann eingehend fünf Musikstücke: Giuseppe Verdis Aida, Claude Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune, Georges Bizets Carmen, Charles Gounods Faust und Franz Schuberts Der Lindenbaum. Vor allem das zuletzt genannte Lied wird zum Inbegriff romantischer Todessehnsucht, deren Überwindung letztlich das große Thema des Zauberberg ist. Nicht zufällig summt Hans Castorp in der Schlussszene des Buchs, auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, den Lindenbaum vor sich hin. Hier wird der romantische Todeskult, wie er sich etwa in Richard Wagners – von Thomas Mann sehr geschätzter – Oper Tristan und Isolde findet, drastisch parodiert.
Figuren
Die meisten Figuren des vielschichtigen Zauberberg-Kosmos haben repräsentative Funktion und verkörpern verschiedene Psychologien und Strömungen der Vorkriegszeit.
Castorp
Hans Castorp, nach des Autors eigenem Bekunden ein „Gralssucher“ in der Tradition Parzivals, ein „reiner Tor“, bleibt blass und mittelmäßig gezeichnet. Er steht für das deutsche Bürgertum, das sich, zwischen widersprüchlichen Einflüssen hin- und hergerissen, einerseits zu höchsten humanistischen Leistungen aufschwingen, andererseits auch dumpf-philiströser Kulturfeindlichkeit oder radikalen Ideologien anheimfallen kann. Wie oft bei Thomas Mann verbirgt sich hinter der Namenswahl auch hier eine tiefere Bedeutung. „Hans“ steht einerseits für den deutschen Allerweltsnamen schlechthin. Viele Märchenfiguren tragen ebenfalls diesen Namen, wie etwa der bereits erwähnte Hans im Glück. Wichtig ist zudem die biblische Konnotation: Hans als Kurzform von Johannes verweist auf den Lieblingsjünger Jesu sowie den Evangelisten, dem die Offenbarung zuteilwird. Die auf Castorp wirkenden Einflüsse werden durch weitere Hauptfiguren des Werks vertreten:
Settembrini
Settembrini vertritt intellektuelle Aufgeklärtheit und Lebensbejahung. Tätigsein ist für ihn ein ethischer Wert. Er macht sich zu Hans Castorps Mentor und Erzieher. In dieser Rolle weist er ihn auf das Absurde hin, das in dessen Faszination von Krankheit und Tod liegt. Er warnt ihn auch vor dem fahrlässig-trägen Charakter der Russin Clawdia Chauchat, in die sich Hans Castorp nachhaltig verliebt hat.
In einer Szene veranschaulicht Thomas Mann symbolisch Settembrinis aufklärende (erhellende) Funktion, als dieser Hans Castorp im Dunkeln vorfindet und vor der Gesprächseröffnung das Deckenlicht anknipst. Settembrinis verehrtes Vorbild Carducci hat eine Hymne auf einen anderen, nicht geheueren Lichtbringer geschrieben, auf Luzifer, „la forza vindice della ragione“. Sich selbst vergleicht Settembrini mit Prometheus, der den Menschen das Feuer als technischen Fortschritt gebracht hat. Settembrini gibt sich im Zauberberg gegenüber Hans Castorp, zuvor von Naphta hierüber in Kenntnis gesetzt, als Freimaurer zu erkennen.
Von seinem Gegenspieler Naphta wird Settembrini als „Zivilisationsliterat“ verspottet – eine Wortschöpfung Thomas Manns aus seinem Essay Betrachtungen eines Unpolitischen. Tatsächlich ist der Italiener und Intellektuelle als Karikatur des westlich orientierten, liberal-demokratischen Schriftstellertyps gedacht, wie ihn Thomas Manns Bruder und Schriftsteller-Rivale Heinrich verkörperte.
Parallel zur Entstehung des Romans vollzog sich die bemühte Hinwendung Thomas Manns zur Demokratie und zur Weimarer Republik. In Selbstzeugnissen hat Thomas Mann sich skeptisch geäußert über die extremen Standpunkte der Antagonisten Settembrini und Naphta, aber hinzugefügt, dass ihm die Figur Settembrinis näher stehe als der doktrinäre Naphta.
Die äußere Erscheinung Settembrinis orientiert sich an dem italienischen Komponisten Ruggiero Leoncavallo.
Der Name Settembrini ist eine Anspielung auf den Literaten und Freimaurer Luigi Settembrini, der auch Meister vom Stuhl einer Freimaurerloge war.
Naphta
Naphta steht für die zersetzenden Kräfte, den Extremismus von beiden Seiten, wie er sich in der Weimarer Republik zunehmend etablieren konnte, für die Selbstzerstörung, die in ein totalitäres System führen sollten. Sein heterogen aus radikal-ideologischen Versatzstücken aller Art geformtes kollektivistisches Weltbild trägt ebenso kommunistische wie faschistoide Züge. In diesem Sinne ist seine Religiosität nicht nur christlich, sondern beispielsweise auch pantheistisch orientiert. Zentrale religiöse und philosophische Werte werden durch eine brillante, kalte Intelligenz und sophistische Rhetorik ihres Sinnes entkleidet und ad absurdum geführt, „als wollte er wahrhaben, dass sich die Sonne um die Erde drehe“. Naphta verkörpert eine anti-humane, anti-aufklärerische Gedankenwelt. Er konkurriert mit Settembrini um die Gunst ihres wissbegierigen Schülers Hans Castorp, dessen naive Verklärung der Krankheit er unterstützt: „in der Krankheit beruhe die Würde des Menschen und seine Vornehmheit; er sei, mit einem Worte, in desto höherem Grade Mensch, je kränker er sei“, allein der Krankheit werde jeder Fortschritt verdankt. Rüdiger Safranski hat auf die Verwandtschaft Naphtas zu Dostojewskis Großinquisitor hingewiesen.
Der umworbene Castorp gesteht zwar im Schnee-Kapitel, als er seine beiden Mentoren als „Schwätzer“ entlarvt, dass es Settembrini immerhin gut mit ihm meine, erkennt aber letztlich, dass in den Wortgefechten der beiden Kontrahenten zumeist die ätzende Rabulistik obsiegt. Der Streit ihrer unversöhnlich gegeneinander stehenden Weltanschauungen eskaliert schließlich in einem Pistolenduell. Es ist gewiss kein Zufall, dass Naphta in Thomas Manns ursprünglicher Romankonzeption nicht vorgesehen war, sondern erst später eingearbeitet wurde. Auffällig ist, dass Thomas Mann präfaschistisches, antihumanes Gedankengut ausgerechnet von einem Juden vertreten lässt – wie übrigens später auch im Doktor Faustus, wo faschistisches Denken durch den Juden Dr. Chaim Breisacher repräsentiert wird.
Clawdia Chauchat
Clawdia Chauchat verkörpert im Roman die erotische Verführung, wenn auch in ihrer morbiden, zu „asiatischer Schlaffheit“ degenerierten Form. Vor allem Castorps Verliebtheit ist es, die ihn länger als geplant auf dem Zauberberg verweilen lässt – Sinnenlust, die männlichen Tatendrang hemmt. Die Liste literarischer Vorbilder reicht von Circe bis hin zu den Nymphen in Wagners Venusberg. Auffallend erscheint die vielfach zum Ausdruck kommende, an Baudelaires berühmtes Gedicht Les chats in seiner Gedichtsammlung Les Fleurs du Mal erinnernde Katzen-Symbolik: Als „kirgisenäugig“ wird die Russin bezeichnet, ihr Nachname erinnert an das französische chaud chat, „heiße Katze“. Im Vornamen tauchen Krallen auf, englisch claws genannt. In der Figur der Clawdia soll Thomas Mann eine Mitpatientin seiner Frau namens Clawelia literarisch verarbeitet haben.
Mynheer Peeperkorn
Der erst spät auftretende Mynheer Peeperkorn, Madame Chauchats neuer Liebhaber, zählt zu den markantesten Figuren des Romans. Von Settembrini als „dummer alter Mann“ geschmäht, erinnert er erkennbar an jene zwiespältigen Figuren aus Manns früheren Werken, denen der Autor bzw. sein jeweiliger Protagonist ihrer naiv-vitalen Kraft wegen Bewunderung, Neid und Verachtung gleichermaßen entgegenbringt. Zu nennen sind insbesondere Herr Klöterjahn aus der Novelle Tristan sowie Tonio Krögers lebenskräftiger Freund Hans Hansen. Während diese aber nüchtern und sachlich dargestellt werden, trägt Peeperkorn mit seinem kruden Vitalitätskult groteske Züge. Er gerät zur Karikatur des Dionysischen. Den entgegengesetzten Charakter verkörpert Joachim Ziemßen, dem jeglicher dionysische Wesenszug fehlt. Peeperkorn und Ziemßen gehen letztlich an ihrer Einseitigkeit zugrunde – nicht jedoch der „mittelmäßige“ Hans Castorp. Im Laufe seines Aufenthalts auf dem Zauberberg gelingt es ihm, die Gegensätze apollinisch und dionysisch zu überwinden.
Modell für Peeperkorn war Thomas Manns Schriftstellerkollege Gerhart Hauptmann, der sich beim Lesen wiedererkannte (Bleistift-Marginalien in Hauptmanns Lese-Exemplar; Beschwerdebrief an den gemeinsamen Verleger Samuel Fischer). Auch Max Liebermann hat anlässlich einer Lesung die Vorlage der narrativen Karikatur sogleich erkannt.
Joachim Ziemßen
Vetter Joachim Ziemßen schließlich erscheint als Vertreter der soldatisch-treuen Pflichterfüllung, eine Figur, die sich – wenn auch nur vordergründig – den Herausforderungen des Lebens stellt und ihnen durch aktives Tätigwerden zu begegnen sucht. Trotz der vermeintlichen Andersartigkeit besteht zwischen Joachim und seinem Vetter Hans durchaus eine Seelenverwandtschaft. Hofrat Behrens spielt darauf an, wenn er die Vettern scherzhaft „Castorp und Pollux“ nennt. Zwischen beiden herrscht beredtes Schweigen – wichtig ist gerade das, was nicht offen gesagt wird. Parallel laufen auch die Liebesgeschichten der beiden Cousins ab. Während aber Hans sich allzu bereitwillig in den Rausch seiner Verliebtheit in Madame Chauchat ergibt, versagt sich Joachim, selbst ebenfalls der russischen Mitpatientin Marusja heftig verfallen, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Stattdessen setzt er, der ähnlich wie sein Vetter Gefährdete, willentlich alles daran, den hermetischen Mikrokosmos des Zauberbergs und seine körperliche, vor allem aber geistige Morbidität zu verlassen – um jedoch moribund zurückzukehren. Mit seinem stets taktvollen Benehmen, seiner Bescheidenheit und stets ruhigen, zurückhaltenden Art gewinnt Joachim von Beginn an die Sympathie des Lesers. Entsprechend anrührend ist das Kapitel „Als Soldat und brav“ (eine Zeile aus Goethes Faust zitierend), das seine resignative Rückkehr, sein stilles Leid und gefasstes Sterben schildert. Die Figur des „braven Joachim“ weckt Anklänge an das in Thomas Manns Werken wiederholt aufgegriffene Motiv des heiligen Sebastian. Die Entschlossenheit, ein schweres Schicksal mit Würde zu ertragen, erinnert an weitere bekannte Leistungsethiker wie Gustav von Aschenbach oder Thomas Buddenbrook, die letztlich, genau wie Joachim, an ihrer selbstauferlegten Starre scheitern.
Hofrat Behrens
Vorbild des Hofrat Behrens war der Klinikleiter Geheimrat Professor Dr. Friedrich Jessen (1865–1935). Klinikleiter Hofrat Behrens trägt Züge des Mediziners, der seinerzeit Thomas Manns Frau Katia behandelt hat. Vom Autor wird jener „stiernackige“ Dr. Jessen wenig schmeichelhaft porträtiert: „mit vorquellenden, blutunterlaufenen Augen, blauen Backen, Stumpfnase und riesigen Händen und Füßen“. Geredet haben soll Behrens’ Vorbild wie „die Karikatur eines forschen Korpsstudenten“. Karikiert wird mit Behrens insbesondere auch Jessens Neigung, seinen Patienten aus rein wirtschaftlichem Interesse medizinisch nicht indizierte Verlängerungen ihres Aufenthalts anzuraten. Den Besucher Thomas Mann selbst etwa hatte der Mediziner seinerzeit wegen eines harmlos lästigen Katarrhs ein halbes Jahr in der Klinik behalten wollen.
Dr. Krokowski
Hinter Dr. Krokowski wird der Psychoanalytiker Georg Groddeck vermutet, der als Wegbereiter der Psychosomatik gilt. In seinem Sanatorium Marienhöhe bei Baden-Baden hielt er ab 1912 Vorträge, in denen er in ähnlicher Weise Zusammenhänge zwischen Liebe und Krankheit herstellte, wie dies Dr. Krokowski auf dem Berghof tut. Seine Thesen hat er in seinem 1913 veröffentlichten Buch Nasamecu (natura sanat – medicus curat) niedergelegt. In seiner Person vereinte Thomas Mann mehrere Vorbilder: Neben Sigmund Freud ist Dr. Edhin Krokowski auch Richard von Krafft-Ebing, dessen Werk Thomas Mann nachweislich bekannt war. Dr. Krokowski behandelt die „erschreckenden und unheimlichen Abwandlungen der Liebe“, und zwar in jenem „zugleich poetischen und gelehrten Stil“, der für Krafft-Ebings berühmtes Werk Psychopathia sexualis charakteristisch ist.
Adriatica von Mylendonk
Vorbild der Adriatica von Mylendonk, der „Oberaufseherin dieses Schreckenspalastes“, war Luise Jauch (1885–1933), die rechte Hand des Klinikleiters Geheimrat Professor Dr. Jessen und mit diesem aus Hamburg nach Davos gekommen, die von Mann ebenso wenig schmeichelhaft porträtiert wird wie Professor Jessen selbst: „Unter ihrer Schwesternhaube kam spärliches rötliches Haar hervor, ihre wasserblauen, entzündeten Augen, an deren einem zum Überfluss ein in der Entwicklung sehr weit fortgeschrittenes Gerstenkorn saß, war unsteten Blicks, die Nase aufgeworfen, der Mund froschmäßig, außerdem mit schief vorstehender Unterlippe, die sie beim Sprechen schaufelnd bewegte.“ Luise Jauch beherrschte alle Arten von Kartenspielen, rauchte Zigarren und pflegte einen gewissen „Kasernenton“.
Frau Stöhr
Für die ungebildete Frau Stöhr, die Fremdwörter wie „kosmisch“ und „kosmetisch“ verwechselt und „desinfiszieren“ statt „desinfizieren“ sagt, hat eine weitere von Katias Mitpatientinnen, eine gewisse Frau Plür, Pate gestanden.
Ihr Name wurde aufgrund folgender Doppelbedeutung gewählt: Ihr einziger „Bildungsschatz“ ist die Kenntnis einer beachtlichen Anzahl (28) von Rezepten für Fischsaucen (wie z. B. vom Stör). Andererseits kann man ihr Verhalten bei Tisch – wie das ungefragte Dreinreden – auch als Störung bezeichnen.
Entstehungsgeschichte
Äußerer Anlass für das Werk war ein Kuraufenthalt von Thomas Manns Frau Katia im Waldsanatorium von Davos Platz im Jahre 1912. In zahlreichen, heute nicht mehr erhaltenen Briefen hatte sie ihrem Mann vom Alltag in der Heilanstalt berichtet. Bei einem dreiwöchigen Besuch lernte ihn Thomas Mann auch aus eigener Anschauung kennen. Ursprünglich hatte er die Absicht, die dort empfangenen Eindrücke im Rahmen einer Novelle zu verarbeiten; sie sollte (siehe oben unter Interpretation) „eine Art von humoristischem, auch groteskem Gegenstück“, ein „Satyrspiel“ zum 1912 erschienenen Tod in Venedig werden und in der Literaturzeitschrift Neue Rundschau veröffentlicht werden.
Bereits 1913 begann Thomas Mann mit der Niederschrift und unterbrach hierfür die Arbeit am Felix Krull. 1915 zwang ihn der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu einer Pause. Die Arbeit sollte erst 1920 wieder aufgenommen werden, nachdem inzwischen u. a. Herr und Hund, der Gesang vom Kindchen und die Betrachtungen eines Unpolitischen erschienen waren. Die ursprünglich geplante Novelle war mittlerweile zu einem zweibändigen Roman angewachsen, zu einer „ausgedehnten short story“, wie Thomas Mann später augenzwinkernd kommentierte. 1924 erschien das Werk im S. Fischer Verlag.
Muster und Motivquelle war unter anderem der philosophisch getönte Voyeur-Roman des Franzosen Henri Barbusse mit dem Titel L’Enfer (Paris 1908, dt. Die Hölle, Zürich 1920).
Einige im Zauberberg verwendete Motive und Anspielungen sind schon in Thomas Manns 1903 erschienener Erzählung Tristan vorweggenommen: Anton Klöterjahn bringt seine lungenkranke Frau Gabriele in ein Bergsanatorium. Dort lernt sie den Schriftsteller Detlev Spinell kennen. Dieser bringt sie dazu, ein Stück aus Wagners Oper Tristan und Isolde auf dem Klavier vorzuspielen, obwohl ihr die Ärzte jede Anstrengung untersagt haben.
Wirkungsgeschichte
Weimarer Republik
Beim Publikum stieß Der Zauberberg sofort auf große Resonanz und erreichte bereits nach vier Jahren eine Auflage von 100.000 Exemplaren. Übersetzungen erfolgten bislang in 27 Sprachen, darunter alle größeren europäischen. Auf Englisch gibt es sogar fünf – die erste Übersetzung von Helen Tracy Lowe-Porter erschien 1927 –, auf Japanisch zwei Versionen.
Erhebliche Verärgerung rief der Roman indes bei einer ganzen Reihe von Zeitgenossen hervor, die im Zauberberg karikiert worden waren, insbesondere beim alten Gerhart Hauptmann, der – für den Bekanntenkreis Hauptmanns erkennbar – als äußerliches Vorbild für die Figur des trunksüchtigen, anti-intellektuell gezeichneten Lebemanns Mynheer Peeperkorn gedient hatte. Trotz eines wortreichen Entschuldigungsbriefes vom 11. April 1925, in dem Thomas Mann bekennt, sich „versündigt“ zu haben, sollte es bis zum Goethejahr 1932 dauern, bis Hauptmann seinem jüngeren Kollegen endgültig verzieh. Nach einer anderen Version war es nicht der Dichter Hauptmann selbst, der auf dieses Porträt ablehnend und mit vorübergehender Distanzierung reagierte, sondern lediglich dessen Ehefrau.
Pikiert zeigte sich auch Dr. Friedrich Jessen, der Davoser Anstaltsarzt, der 1912 Thomas Manns Frau Katia behandelt hatte und sich unschwer im „geschäftstüchtigen“ Hofrat Prof. Behrens wiedererkannte. Aus Kollegenkreisen wurde ihm nahegelegt, den Autor zu verklagen, wobei die Erwartung einer gewissen Publicity für die Klinik und den Ort Davos mitgespielt haben mag. Jessen ließ indes die Sache letztlich auf sich beruhen. Auch bei der übrigen Ärzteschaft stieß Der Zauberberg auf erhebliche Kritik. Vom fachlich-medizinischen Standpunkt konnte jedoch gegen die Schilderung des Sanatoriumsbetriebs nichts eingewandt werden. Walther Amelung schrieb hierzu: „Th. M. hatte das Heilstättenmilieu sehr richtig erfaßt. Die Angriffe von Ärzten waren unberechtigt. Der Autor hat sich sehr klug 1925 in der Deutsch. Med. Wochenschr. verteidigt; Hans Castorp kommt durch seinen Aufenthalt in Davos in die Höhe, versackt nicht.“ Ähnlich positiv beurteilte den Roman der renommierte Chefarzt des Tuberkulosekrankenhauses Waldhaus Charlottenburg Hellmuth Ulrici, der mit Thomas Mann in einen Briefwechsel trat.
Der Verkehrsverein von Davos bestellte bei Erich Kästner im Jahre 1936 einen „heiteren Roman über Davos“, weil „Thomas Manns Zauberberg den Ort in gesundheitlicher Hinsicht in Verruf gebracht hatte.“ Kästner verfasste den in Davos spielenden Zauberlehrling (Romanfragment) mit Doppelgänger-Motiven und einem Zeus, der Blitze schleuderte.
In der literarischen Fachwelt erfuhr Der Zauberberg indes ein überwiegend positives Echo. Arthur Schnitzler zum Beispiel teilte, obgleich selbst Arzt, die Vorbehalte seiner Kollegen gegen den Roman nicht. Wohlwollend urteilten auch Georg Lukács (der sich zu Thomas Manns Verwunderung in der Figur des Leo Naphta nicht wiederfand), André Gide sowie Ernst Robert Curtius. Kritischer fielen indes die Voten von Carl Sternheim, Alfred Döblin und vor allem von Bertolt Brecht aus, der Mann als „regierungstreuen Lohnschreiber der Bourgeoisie“ bezeichnete. Die Begründung des Stockholmer Komitees für den Nobelpreis im Jahr 1929 bezog sich wegen der Abneigung des Jurymitglieds Fredrik Böök gegen Manns dritten Roman in erster Linie auf Buddenbrooks.
Drittes Reich
Die Nationalsozialisten schmähten den Zauberberg zwar als Verunglimpfung des von ihnen propagierten „soldatischen Heldentums“ und als „Lob der Dekadenz“. Gleichwohl erschien das Werk nicht auf der schwarzen Liste von Goebbels’ Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda.
Viktor Frankls Buch … trotzdem Ja zum Leben sagen bezieht die Zeiterfahrung von Holocaust-Gefangenen auf Tuberkulose-Patienten (in Der Zauberberg): „So paradox war dieses unheimliche Zeiterleben. In diesem Zusammenhang wäre übrigens auch an die treffenden psychologischen Bemerkungen zu erinnern, die sich etwa in Thomas Manns Roman ‚Der Zauberberg‘ finden, wo die seelische Entwicklung von Menschen geschildert wird, die sich in einer analogen psychologischen Situation befinden: tuberkulöse Sanatoriumsinsassen, die ebenfalls keinen Entlassungstermin kennen und in einer ebenso ‚zukunftslosen‘, nicht auf ein zukünftiges Ziel hin ausgerichteten Existenz dahinleben wie die hier in Frage stehenden Menschentypen, die Insassen von Konzentrationslagern.“
Nachkriegszeit
Nach seinem Tod geriet Thomas Mann als „großbürgerlicher“ Autor mit seinem Werk Der Zauberberg zunehmend in die Kritik linker Literatenkreise, wie etwa der Gruppe 47. Die von der 68er-Bewegung geprägte Kritik erreichte ihren Höhepunkt im Thomas-Mann-Jahr 1975. Seither ist indes eine Mann-Renaissance zu beobachten, die nicht zuletzt auf das Wirken des einflussreichen Kritikers Marcel Reich-Ranicki zurückzuführen ist, der in einem Interview bekannt hat, „keine besseren“ deutschen Romane zu kennen als Goethes Wahlverwandtschaften und den Zauberberg.
Der Roman Castorp des polnischen Schriftstellers Paweł Huelle handelt vom Studium des Zauberberg-Protagonisten in Danzig, wo dieser, laut einem Hinweis in Manns Roman, vier Jahre am Polytechnikum zugebracht haben soll. Der Roman erschien 2004 in deutscher Sprache.
Am 8. November 2014 erlebte Der Zauberberg seine weltweit erste Adaption als Ballett (Ballett Dortmund, Choreographie: Wang Xinpeng, Konzept und Szenario: Christian Baier, Musik: Lepo Sumera).
Verfilmungen
Die erste Verfilmung war eine TV-Produktion des Sender Freies Berlin in Schwarzweiß unter der Regie von Ludwig Cremer. Premierendatum in Deutschland: 4. Januar 1968. Darsteller: Folker Bohnet, Heinz Klevenow, Michael Degen und Curt Bois.
An eine weitere Verfilmung, diesmal in Farbe, wagte sich 1981 der Münchner Filmproduzent Franz Seitz, wobei Hans W. Geißendörfer Regie führte. Die deutsch-französisch-italienische Koproduktion kam 1982 in einer 2½ Stunden langen Version in die Kinos, die dreiteilige Fernsehfassung war mehr als doppelt so lang. Darsteller sind unter anderem Christoph Eichhorn als Castorp, Rod Steiger als Peeperkorn, Marie-France Pisier als Clawdia Chauchat, Hans Christian Blech als Hofrat Behrens, Flavio Bucci als Settembrini, Charles Aznavour als Naphta, Alexander Radszun, Margot Hielscher, Gudrun Gabriel, Ann Zacharias, Irm Hermann, Kurt Raab, Rolf Zacher und Tilo Prückner.
Musik
Der Kölner Minimal-Techno-Musiker Wolfgang Voigt veröffentlichte 1997 unter dem Projektnamen Gas das Album Zauberberg, das im Titel (und indirekt in den düsteren Klangkompositionen) auf Manns Werk Bezug nimmt.
Oper Zauberberg, nach dem Roman von Thomas Mann. Komponist: Robert Grossmann, Libretto: Rolf Gerlach. Uraufführung: 26. September 2002, Stadttheater, Chur (Schweiz) 2002.
Oper Zauberberg, nach dem Roman von Thomas Mann. Komponist: Gregory Vajda, Libretto: Bettina Geyer. Auftragswerk im Rahmen des 25. Davos-Festivals. Uraufführung: 30. Juli 2010, Berghof „Schatzalp“, Davos.
Schauspielmusik Zauberberg, nach dem Roman von Thomas Mann. Komponist und Texter: Mark Scheibe, Regie: Christina Friedrich. Uraufführung: 15. September 2015, Theater Trier.
Theater
2001 wurde Der Zauberberg von Hermann Beil dramatisiert und im Rahmen der Festspiele Reichenau von Vera Sturm im leerstehenden Südbahnhotel am niederösterreichischen Semmeringpass inszeniert.
Am 19. März 2022 hatte eine Bühnenfassung des Romans in der Inszenierung von Sascha Hawemann Premiere am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin.
Am 28. Jänner 2023 hatte im Burgtheater in Wien eine Verdichtung, die viel musikalischen Hintergrund enthielt, ihre Premiere. In dieser Fassung von Bastian Kraft, der auch Regie führte, spielten vier Schauspieler die Hauptfigur Hans Castorps: Markus Meyer, Felix Kammerer, Dagna Litzenberger und Sylvie Rohrer. Auch die 14 weiteren Rollen wurden, in bewusster Vertauschung der Geschlechtsidentitäten, von denselben wenigen Schauspielern beiderlei Geschlechts, abwechselnd gesprochen.
Lesungen
Hörbuch als stark gekürzte Lesung von Gert Westphal, Verlag: Deutsche Grammophon, 15 CDs, ISBN 3-8291-1317-X.
Hörbuch als stark gekürzte Lesung von Gert Westphal, Verlag: Deutsche Grammophon, 7 Cassetten, ISBN 3-8291-0031-0.
Hörspielbearbeitung, Verlag: Der Hörverlag, 2003, 10 CDs, ISBN 3-89940-258-8.
Hörspielbearbeitung, Verlag: Der Hörverlag, 8 Kassetten, ISBN 3-89940-283-9.
Literatur
Titelblatt und Original-Einbände des Erstdrucks
Textausgaben
Der Zauberberg. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe / Der Zauberberg – Kommentar, herausgegeben und kommentiert von Michael Neumann. Band 5 / 1 – 2. Teil, S. Fischer, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-10-048323-5.
Der Zauberberg. 18. Auflage. Fischer-Taschenbuch, Frankfurt 1991, ISBN 3-596-29433-9.
Sekundärliteratur
Jacques Darmaun, Thomas Mann, Deutschland und die Juden. Niemeyer, Tübingen 2003. ISBN 3-484-65140-7.
Dietrich von Engelhardt, Hans Wißkirchen (Hrsg.): „Der Zauberberg“, die Welt der Wissenschaften in Thomas Manns Roman. Stuttgart/ New York 2003.
Helmut Gutmann: Das Musikkapitel in Thomas Manns „Zauberberg“. In: The German Quarterly 47. 1974, S. 415–431.
Nadine Heckner, Michael Walter: Thomas Mann. Der Zauberberg. (= Königs Erläuterungen und Materialien, Band 443). Hollfeld, 2006, ISBN 3-8044-1828-7.
Eckard Heftrich: Zauberbergmusik. Klostermann, Frankfurt am Main 1975, ISBN 3-465-01120-1 / ISBN 3-465-01119-8 (= Über Thomas Mann, Band 1).
Dirk Heißerer: Thomas Manns Zauberberg. Piper, München / Zürich 2000, ISBN 3-492-23141-1; durchgesehene, aktualisierte und ergänzte Neuausgabe: Thomas Manns Zauberberg. Einstieg, Etappen, Ausblick. Königshausen & Neumann, Würzburg 2006, ISBN 3-8260-3171-7.
Andreas Kablitz: Der Zauberberg. Die Zergliederung der Welt. Winter, Heidelberg 2017, ISBN 978-3-8253-6804-3.
Rudolf Kassner: Geistige Welten. Ullstein, Frankfurt am Main 1958, S. 85–90.
Hanjo Kesting: Krankheit zum Tode. Musik und Ideologie. In: Text + Kritik. Sonderband Thomas Mann. München 1976, S. 27–44.
Borge Kristiansen: Zu Bedeutung und Funktion der Settembrini-Gestalt in Thomas Manns Zauberberg. In: Gedenkschrift für Thomas Mann. Text und Kontext, Kopenhagen 1975, ISBN 87-980394-1-5, S. 95 ff.
Hermann Kurzke: Wie konservativ ist der Zauberberg? In: Gedenkschrift für Thomas Mann. Text und Kontext, Kopenhagen 1975, ISBN 87-980394-1-5, S. 137 ff.
Daniela Langer: Erläuterungen und Dokumente zu Thomas Mann: Der Zauberberg, Reclam, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-15-016067-1.
Herbert Lehnert: Leo Naphta und sein Autor. In: Orbis Litterarum. Band 37, 1982, S. 47 ff.
Michael Maar: Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg. Hanser, München / Wien 1995, ISBN 3-446-23431-4 (Zugleich Dissertation an der Universität Bamberg 1994).
Hans Mayer: Thomas Manns Zauberberg als Pädagogische Provinz. In: Sinn und Form – Beiträge zur Literatur. Aufbau, Berlin 1.1949, .
Hans Dieter Mennel: Psychopathologie und Zeitanalyse in Thomas Manns Roman „Zauberberg“. In: Medizinhistorische Mitteilungen. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte und Fachprosaforschung. Band 36/37, 2017/2018 (2021), S. 199–220.
Hans-Jürgen Meyer, Das Duell. In: Festschrift für Alexander Reuter, Köln 2021, ISBN 978-3-504-06065-7, doi:10.9785/9783504387464-020
Lotti Sandt: Mythos und Symbolik im Zauberberg von Thomas Mann. Haupt, Bern 1979, ISBN 3-258-02854-0.
Erik De Smedt: Struktur und Funktion der Gespräche in Thomas Manns Zauberberg In: Germanistische Mitteilungen. H. 6/1977, S. 11–27.
Heinz Sauereßig: Die Entstehung des Romans „Der Zauberberg“. Zwei Essays und eine Dokumentation. Biberach an der Riß 1965 (= Wege und Gestalten, ohne Bandnummer).
Günther Schwarberg: Es war einmal ein Zauberberg. Steidl, Göttingen 2001, ISBN 3-88243-775-8 (Das Buch bietet keinen exakten Nachweis von Zitaten; Bibliographie, Register und Bildnachweis fehlen).
Eva Wessell: Der Zauberberg als Chronik der Dekadenz. In: Thomas Mann – Romane und Erzählungen. Reclam, Stuttgart 1993, ISBN 3-15-008810-0, S. 121 ff.
Thomas Sprecher (Hrsg.): Das Zauberberg-Symposion 1994 in Davos. Frankfurt am Main 1995 (= TMS. XI)
Thomas Sprecher: Davos im Zauberberg. Fink, München 1996, ISBN 3-7705-3119-1.
Thomas Sprecher (Hrsg.): Auf dem Weg zum „Zauberberg“. Die Davoser Literaturtage 1996. Frankfurt am Main 1996 (= TMS. XVI).
Birte vom Bruck: Davos/Schweiz. Alexander Spengler – Pionier der Klimatherapie. In: Deutsches Ärzteblatt. 101.2004,6(06.02.), S. A-357 (Der kurze Artikel beinhaltet Informationen zur damaligen Tuberkulosetherapie, zum Waldsanatorium (Fotografie von 1920) und zum Aufenthalt der Manns)
Carsten Könneker: Raum der Zeitlosigkeit. Thomas Manns 'Zauberberg' und die Relativitätstheorie. In: Thomas-Mann-Jahrbuch Band 14. 2001, ISBN 3-465-03123-7, S. 213–224.
Martin Swales: The Story and the Hero. A Study of Thomas Mann’s ‘Der Zauberberg’: In: DVjs. 46 (1972), S. 359–376.
Björn Weyand: Herme(neu)tischer Zauber: Markenwaren als Leitmotive, Fetische und Archivalien wider Willen in Thomas Manns ‚Zeitroman‘ „Der Zauberberg“ (1924). In: Ders.: Poetik der Marke. Konsumkultur und literarische Verfahren 1900–2000. De Gruyter, Berlin 2013, S. 97–167, ISBN 978-3-11-030117-5.
Siehe auch
Die 100 Bücher des Jahrhunderts von Le Monde
Weblinks
Figurenlexikon zu Der Zauberberg von Eva D. Becker im Portal Literaturlexikon online
Hans Castorp, in re Brotsack PRIMO MONUMENTA, DEINDE PHILOSOPHARI Beiträge von Gerhard Adam
Einzelnachweise
Werk von Thomas Mann
Literarisches Werk
Literatur (20. Jahrhundert)
Literatur (Deutsch)
Gesellschaftsroman
Entwicklungsroman |
3807903 | https://de.wikipedia.org/wiki/Airbus%20A300 | Airbus A300 | Der Airbus A300 war das erste zweistrahlige Großraumflugzeug der Welt, produziert vom europäischen Flugzeughersteller Airbus.
Das Flugzeug war das erste gemeinsame Projekt der heute zur Airbus Group fusionierten Flugzeugwerke und belegte die damalige Marktnische eines Großraum-Verkehrsflugzeuges für Kurz- und Mittelstrecken mit etwa 250 bis 300 Sitzplätzen. Die Endmontage erfolgte in Toulouse (Frankreich). Der Erstflug des Prototyps fand am 28. Oktober 1972 statt, die Indienststellung gut anderthalb Jahre später am 30. Mai 1974 durch Air France. Bis zum Produktionsende am 18. April 2007 wurden insgesamt 561 Exemplare gebaut.
Mit Stand Juli 2018 ist die A300 überwiegend als Frachtmaschine im Einsatz, die größten Betreiber sind FedEx, UPS Airlines und DHL Aviation, dabei handelt es sich vielfach um umgebaute Passagierjets. Als Passagierflugzeug ist die A300 fast vollständig vom Markt verschwunden. Nur noch 22 Maschinen sind in Betrieb, davon 21 im Iran und eine im Sudan. Der größte Betreiber ist Iran Air mit acht Maschinen, darunter eine A300 B2 und drei A300 B4, die die letzten aktiven Exemplare ihrer Art und zum Teil die weltweit ältesten betriebenen Airbus-Maschinen überhaupt sind. Alle übrigen Passagierjets sind vom Typ A300-600, von dem Mahan Air mit sechs Maschinen die größte Flotte betreibt. Vier Maschinen sind bei Qeshm Air in Betrieb, zwei bei Meraj Air und je eine bei Iran Airtour und Sudan Airways.
Geschichte
Konzeption
Bereits 1966 suchte American Airlines nach einer zweistrahligen und deutlich größeren Ergänzung zur Boeing 727 mit 250 bis 300 Sitzplätzen, etwa für die US-Transkontinentalflüge, die aber nicht so groß sein sollte, dass sie einen Großflughafen erforderte. Boeing hatte in diesem Segment bis zur Einführung der Boeing 767 15 Jahre später nichts anzubieten. Im Einsatz waren hier hauptsächlich die dreistrahligen Langstreckenflugzeuge McDonnell Douglas DC-10 und Lockheed L-1011 TriStar.
Im September 1967 beschlossen die Regierungen Frankreichs, Deutschlands und des Vereinigten Königreichs, gemeinsam ein Gegengewicht zur US-Dominanz in der Luftfahrt zu schaffen. Neben dem schon laufenden Concordeprojekt war unter der Bezeichnung Airbus A300 ein konventionelles, zweistrahliges Passagierflugzeug mit 300 Sitzplätzen geplant. Da es zur Zeit der Entwicklung der A300 auf Grund von Sicherheitsüberlegungen noch nicht erlaubt war, mit nur zwei Triebwerken Transatlantikflüge zu unternehmen, wurde der Airbus A300 zur Bedienung von aufkommensstarken Kurz- und Mittelstrecken ausgelegt. Formell wurde Airbus 1970 von der französischen Aérospatiale und der Deutschen Airbus GmbH gegründet. Das Vereinigte Königreich war, anders als Frankreich und Deutschland, aus dem Projekt ausgeschieden. Hawker Siddeley, das die Tragflächen liefern sollte, blieb jedoch ohne Regierungsbeteiligung dabei. CASA aus Spanien schloss sich 1972 an.
Entwicklung
In den ersten Monaten der Entwicklung bezweifelten die französischen und britischen Regierungen die Notwendigkeit des Airbus A300, was ihre Ursache unter anderem in den fehlenden dritten bzw. vierten Triebwerken hatte. Um dieses Problem zu lösen, schlugen der französische Flugzeughersteller Sud Aviation sowie der britische Flugzeughersteller Hawker Siddeley eine verkürzte Version für nur 250 Passagiere mit dem Namen Airbus A250 vor. Diese Version wurde schließlich als Airbus A300B entwickelt, da hierfür bereits die benötigten Triebwerke vorhanden waren. Großen Einfluss auf die erfolgreiche Weiterentwicklung des Airbus A300 hatte in dieser Zeit der Aufsichtsratsvorsitzende von Airbus, Franz Josef Strauß. Um bessere Verkaufschancen auf dem lukrativen amerikanischen Markt zu haben, wählte man das amerikanische Triebwerk General Electric CF6-50 aus und verwendete kein Triebwerk des britischen Konzerns Rolls-Royce. Dies führte zu einem zeitweiligen Rückzug der britischen Regierung aus dem Projekt; lediglich die britische Privatgesellschaft Hawker-Siddeley entwickelte weiterhin die Tragflächen des Airbus A300. Erstbesteller war die damals noch staatliche französische Fluggesellschaft Air France im Jahr 1971, die gleich die verlängerte Serienversion A300B2 bestellte. Als zweite folgte im Jahr 1973 nach dem Erstflug die deutsche Lufthansa.
Die Gewinnschwelle wurde bei 350 verkauften Exemplaren erwartet, erhofft wurde ein Absatz von über 400 Stück.
Am 28. Oktober 1972 hob das erste Flugzeug des auf 250 Sitzplätze verkleinerten Typs A300B ab. Die Zulassung wurde am 15. März 1974 für die Baureihe A300B2 erteilt, am 30. Mai desselben Jahres nahm Air France den Flugbetrieb mit diesem Typ auf.
Durchbruch beim Verkauf
Der Verkauf verlief zunächst schleppend, zeitweise wurden sogar 16 Flugzeuge ohne Abnehmer produziert. Neben der Germanair, die am 23. Mai 1975 zum deutschen Erstbetreiber wurde, fanden sich als weitere Kunden nur die Air Siam, Korean Air Lines, South African Airways, Indian Airlines sowie die staatlichen Fluggesellschaften Air France und Lufthansa, die ihre erste Maschine am 2. Februar 1976 entgegennehmen konnte. Einen Durchbruch erreichte Airbus erst, nachdem der US-amerikanischen Fluggesellschaft Eastern Air Lines Mitte der 1970er-Jahre vier A300 für sechs Monate kostenlos einschließlich Vor-Ort-Service zur Verfügung gestellt wurden. Da die Flugzeuge 30 % sparsamer waren als die Lockheed TriStar, bestellte die Gesellschaft schließlich 1978 zunächst 23 A300, insgesamt sogar 32. Mit dieser ersten Großbestellung eines nichtstaatlichen Unternehmens, das noch dazu in den USA beheimatet war, wendete sich das Blatt für die A300, und Airbus etablierte sich als ernstzunehmende Konkurrenz zu den US-amerikanischen Herstellern Boeing, McDonnell Douglas und Lockheed. Es folgten Bestellungen durch Pan Am, Continental Airlines und American Airlines; letztere Fluggesellschaft gehörte zu den größten Abnehmern des Airbus A300.
Die meisten Exemplare wurden als reine Passagiermaschinen mit etwa 250 bis 300 Sitzplätzen produziert, doch verließen auch auf Frachtbeförderung umrüstbare Exemplare (A300C) sowie reine Frachtmaschinen (A300F) die Werkshallen. Die letzten Exemplare der Passagiervariante wurden 1999 von Japan Air System bestellt und 2002 an Japan Airlines (die JAS mittlerweile übernommen hatten) ausgeliefert. Seitdem waren alle bestellten und ausgelieferten A300-Flugzeuge Frachtmaschinen vom Typ A300F4-600R mit einer maximalen Nutzlast von 54 Tonnen. Bis einschließlich Mai 2005 gingen für die A300F insgesamt 135 Bestellungen ein.
Von der A300 wurde zunächst die verkürzte A310 abgeleitet, die ab 1978 angeboten und ab 1983 ausgeliefert wurde.
Einstellung der Produktion
Nachdem 2005 nur noch sieben Neubestellungen eingingen, zu denen im Jahr darauf keine Folgeaufträge kamen, wurde die Baureihe im Jahr 2006 aus dem Angebot genommen und die Einstellung der Produktion der A300/A310-Reihe zum Juli 2007 angekündigt. Die Produktionsstätten wurden daraufhin für die neueren Airbus-Baureihen genutzt. Letzte Auslieferung war eine A300F4-600R für FedEx am 12. Juli 2007. Es wurden damit insgesamt 816 Flugzeuge der A300/A310-Baureihe ausgeliefert, davon 561 A300. Die Nachfolge des A300-Frachters trat die A330-200F an, deren Programmstart zum Anfang des Jahres 2007 erfolgte; Konzepte eines Nachfolgetyps auf Basis des Airbus A330 wurden in Form der Variante A330-100 erwogen, aber nie verwirklicht. Einen direkten Nachfolger der Passagierversion gibt es nicht, da es momentan keine ausreichende Nachfrage für Mittelstreckenflugzeuge mit dieser Passagierkapazität gibt. Auch die Boeing 757-300 mit ähnlicher Sitzplatzzahl und Reichweite, allerdings als Schmalrumpfflugzeug, wurde ohne direkten Nachfolger mangels Nachfrage eingestellt. Auch die von Boeing geplante 787-3, ein minimal größeres Großraumflugzeug für 290 bis 330 Passagiere und ähnlicher Reichweite wie die A300, hat mittlerweile keine Bestellungen mehr und soll nicht in Produktion gehen. Allerdings hat inzwischen Airbus die A330-300 Regional für 365 bis 400 Passagiere angekündigt.
Wirtschaftliche Aspekte
Der Airbus A300 besetzte erfolgreich die Nische eines Großraumflugzeugs für Kurz- und Mittelstrecken; ein Verkehrssegment, das von der Vergangenheit bis in die Gegenwart von kleinen Regionalverkehrsflugzeugen sowie den Schmalrumpfflugzeugen dominiert wird. Die A300 wird und wurde daher wegen ihrer hohen Kapazität auf den Hauptstrecken zwischen großen Flughäfen des jeweiligen Kontinents eingesetzt (zum Beispiel Frankfurt–London). Dort gibt es genug Passagiere für mehrere Umläufe eines Großraumflugzeugs pro Tag. Bis heute gibt es kein vergleichbares Flugzeug; die Planungen an der Boeing 787-3 wurden aufgrund der geringen Anzahl an Kaufinteressenten eingestellt. In derselben Größenklasse wie die A300 befindet sich das wirtschaftlich sehr erfolgreiche Flugzeugprogramm Boeing 767, das jedoch von Anfang an auf Mittel- und Langstreckenflüge ausgerichtet war. So war die Boeing 767 etwa für lange Zeit das am häufigsten transatlantisch eingesetzte Flugzeug, während dem Airbus A300 für die meisten Transatlantikrouten die Reichweite fehlte; deshalb wurde auch die Langstreckenversion A310 entwickelt. Lediglich die späten Versionen der A300 sind auch für viele Langstreckenflüge einsetzbar; bis heute werden jedoch die meisten Airbus A300 im Kurz- und Mittelstreckenverkehr verwendet.
Konstruktion
Technische Neuerungen
Die A300 führte mehrere technische Neuerungen ein, die heute selbst für deutlich größere Flugzeuge, wie etwa die Boeing 777, selbstverständlich sind. Die zweistrahlige Auslegung und ein Triebwerksschubrechner, der den Piloten immer die Triebwerkseinstellung für den niedrigsten Verbrauch angab, machten ihn besonders sparsam. Das Cockpit ist konventionell ausgestattet und für drei Besatzungsmitglieder (zwei Piloten und einen Flugingenieur) ausgelegt. In späteren Versionen war ein Zwei-Mann-Cockpit optional erhältlich – mit der Einführung der A300B4-600 war es dann serienmäßig verfügbar. Dies wurde durch eine nahezu komplette Übernahme des damals neuen A310-Cockpits erreicht, wodurch die Piloten alle Versionen der A310 und der A300B4-600 mit einer Musterberechtigung fliegen können.
Rumpf
Der Rumpf der A300 hat einen runden Querschnitt und ist in Halbschalenbauweise gefertigt. Er ist in neun Sektionen unterteilt, um den Transport der Baugruppen zu erleichtern und komplett druckbelüftet (einschließlich der Frachträume). Nur Fahrwerksschächte, Klimaanlagensektionen und das Heck mit der APU sind nicht klimatisiert.
In allen Versionen sind drei Paare große Passagier- und ein Paar kleinere Servicetüren eingebaut. Die Frachträume sind durch zwei große Frachttore im unteren Rumpfteil zugänglich. Sie sind für alle gängigen Containertypen ausgelegt. Die Frachträume sind mit einem Rollenbahnsystem ausgestattet. In der Version A300B4-600 sind viele Teile aus kohlenstofffaserverstärktem Kunststoff (CfK) gefertigt. Hierzu gehören die Kabinenbodenträger, das Seitenleitwerk, die Spoiler und Teile des Hauptfahrwerkes. Durch das von der A310 übernommene Heck wurde durch das nach hinten versetzte Druckschott bei gleicher Länge des Rumpfes ein größeres Kabinenvolumen erreicht und somit die Passagierkapazität erhöht.
Varianten und Weiterentwicklungen des Rumpfs der A300 finden sich in den Airbus-Flugzeugtypen A310, A330 und A340.
Tragflächen
Die A300 hat freitragende Tragflächen und ist als Tiefdecker konzipiert. Die Tragflächen der A300 sind konventioneller Bauart; sie bestehen aus hochfestem Aluminium und sind teilweise mit Stahl und Titan verstärkt, zwei Kastenholme mit einem dritten Holm im Mittelteil bilden die tragende Struktur. Die Pfeilung beträgt 28 Grad. Beide Flächen sind mit der im Rumpf integrierten Flügelbox fest verbunden. In den Tragflächen sind jeweils zwei Kraftstofftanks integriert. Als Auftriebshilfen sind an der Vorderkante dreiteilige Vorflügel mit einem Grenzschichtzaun angebracht, die mit Krügerklappe und Notchflap (ausgenommen A300B1 und frühe A300B2) am Rumpf abschließen. Diese sind an der Triebwerksaufhängung nicht unterbrochen. Teile des Vorflügels können bei Bedarf thermisch (mit heißer Triebwerkszapfluft) vor Eisansatz geschützt werden. An der Hinterkante werden Fowlerklappen als Landeklappen verwendet, die an der Triebwerksaufhängung unterbrochen sind. Hier ist das Querruder angebracht, außerdem sind noch Querruder für niedrige Geschwindigkeit an der Tragflächenaußenseite installiert. An der Oberseite sind sieben Spoiler installiert, die zur Unterstützung der Querruder und als Luftbremsen verwendet werden. Die äußeren Querruder und der Grenzschichtzaun an den Vorflügeln entfielen ab der Variante A300B4-600, dafür wurden kleine Winglets installiert.
Leitwerk
Das Leitwerk ist freitragend und hat eine gepfeilte konventionelle Bauweise, bestehend aus Flossen und Rudern. Es ist nicht mit einer Enteisungsmöglichkeit ausgestattet. Im Gegensatz zu anderen, besonders kleineren Flugzeugen, kann die Höhenflosse zur Trimmung hydraulisch verstellt werden. A300B1 bis A300B4-200 weisen eine Ganzmetallbauweise auf, ab der A300B4-600 wurde das Heck der A310 mit einem Seitenleitwerk aus CfK übernommen. In der Version A300B4-600R ist in der Höhenflosse zusätzlich ein Trimmtank installiert.
Fahrwerk
Das Fahrwerk der A300 besteht aus einem Bugfahrwerk mit Zwillingsreifen und zwei Hauptfahrwerken, die als Wagenfahrwerk mit jeweils vier Reifen ausgeführt sind. Es ist als konventionelles Einziehfahrwerk ausgeführt und hydraulisch betätigt. Die Bugradlenkung erfolgt ebenfalls hydraulisch. Alle acht Hauptfahrwerksräder sind mit Scheibenbremsen aus Carbon ausgestattet, die auch hydraulisch betätigt werden. Außerdem verfügen sie über ein Anti-Blockier-System und sind temperaturüberwacht.
Flugsteuerung
Die komplette Flugsteuerung erfolgt mechanisch über Seilzüge und Steuerstangen, die an den Steuerflächen hydraulisch in Bewegungen umgesetzt werden. Jede Steuerfläche wird unabhängig von insgesamt drei redundanten Hydrauliksystemen angesteuert. Die Trimmung wird um alle drei Achsen elektrisch betätigt, die Höhenflosse kann auch von Hand über ein Trimmrad verstellt werden. Vorflügel und Landeklappen werden über einen gemeinsamen Hebel im Cockpit hydraulisch angesteuert. Alle A300-Versionen verfügen über einen leistungsfähigen Autopiloten, der auch für automatische Landungen zugelassen ist. Dieser wurde im Laufe der Versionen immer weiter verbessert. Außerdem verfügt die A300 über eines von verschieden leistungsfähigen Flight-Management-Systemen (abhängig von der Version) und über eine automatische Schubsteuerung.
Aerodynamik
Einen wesentlichen Anteil am Erfolg dieses Typs hatte das erstmals bei einem großen Verkehrsflugzeug verwendete Tragflächenprofil mit superkritischem Strömungsverlauf. Solche Profile sind im schallnahen Bereich (oberhalb etwa Mach 0,75) wesentlich widerstandsärmer als konventionelle Laminarprofile, jedoch sehr komplex und nur mittels CFD-Modellen wirtschaftlich zu berechnen. Die dafür notwendigen leistungsfähigen Computer standen vor den 1970er-Jahren für zivile Anwendungen noch gar nicht zur Verfügung, heute sind solche Profile bei schnellen Unterschallmaschinen Standard. Zeitgenössischen Einschätzungen zufolge hätte eine konventionelle Konstruktion gleicher Größe ein drittes Triebwerk, eine um 27 % größere Tragfläche und ca. 20 Tonnen mehr Strukturgewicht benötigt. Nicht zuletzt deshalb kann diese Maschine (im Gegensatz zu anderen Flugzeugtypen jener Epoche) bis heute wirtschaftlich eingesetzt werden. Insofern war die Maschine eine wegweisende Konstruktion und ist in ihrer historischen Bedeutung ein wichtiger Baustein in der Entwicklung moderner Verkehrsflugzeuge.
Fertigung und Logistik
Seit dem Beginn der A300-Herstellung produzierte Airbus nicht an einem Standort, sondern ließ die einzelnen Rumpfteile von den Firmen produzieren, die Airbus gegründet hatten. Teile der A300, wie beispielsweise die Tragflächen, entstanden in Großbritannien, andere Komponenten in Frankreich und Deutschland. Zwischen den Orten transportierten zunächst vier aus der Boeing 377 abgeleitete Frachtflugzeuge des Typs Super Guppy die Teile, bevor der Airbus Beluga diese Aufgabe übernahm. In Toulouse entstand dann der letztlich flugfähige Rohbau. Der Innenausbau als letzter Produktionsschritt wurde in Hamburg-Finkenwerder durchgeführt. Anschließend wurden die fertigen Flugzeuge nach Toulouse überführt und an die Kunden ausgeliefert.
Varianten
A300B1
Die ersten beiden Prototypen liefen unter der Bezeichnung A300B1. Gegenüber den späteren Serienmaschinen waren sie noch um 2,65 Meter kürzer und hatten nur sechs große Passagiertüren als Zugänge. Der erste Prototyp wurde Anfang der 1980er-Jahre verschrottet. Einige Bauteile der Maschine (wie eine Rumpfsektion und das Höhenleitwerk) befinden sich seitdem im Deutschen Museum in München. Der zweite Airbus A300B1 wurde im November 1974 an die belgische Trans European Airways (TEA) verleast, die das Flugzeug sofort an die Air Algérie weiter vermietete. Das Flugzeug wurde im Januar 1975 an die TEA zurückgegeben, die es bis 1990 einsetzte. Anschließend wurde es am Brüsseler Flughafen zu Feuerübungszwecken genutzt. Am 9. Juli 2003 wurde die Maschine verschrottet, womit keines der beiden ursprünglichen Airbus-Flugzeuge mehr vollständig existiert. Die TEA setzte die A300B1 mit einer Bestuhlung für 300 Passagiere ein. Während des sechswöchigen Einsatzes bei der Air Algérie bot das Flugzeug sogar 323 Passagieren Platz. Die A300B1 verfügte über ein maximales Abfluggewicht von 137 Tonnen. Angetrieben wurde sie von zwei General-Electric-CF6-50A-Triebwerken mit einem Schub von jeweils 220 kN.
A300B2
Die ersten Serienmaschinen des Typs wurden als A300B2 bezeichnet. Ab 1978 unterteilte Airbus sie in drei Untervarianten. Grundsätzlich unterschied sie sich von der A300B1 durch den um 2,65 Meter gestreckten Rumpf und zwei zusätzliche Notausgangstüren im hinteren Bereich des Rumpfes. Bei der A300B2 handelt es sich um ein Kurzstreckenflugzeug mit einer Reichweite von 2100 bis 3500 Kilometern.
A300B2 ZERO-G
Die erste A300B2 (Baujahr 1973, Seriennummer 003) wurde 1998 von der französischen Raumfahrtbehörde CNES gekauft. Seitdem führte die Firma Novespace in deren Auftrag Parabelflüge damit durch. Die Maschine war auch unter der Bezeichnung A300 ZERO-G (von engl. zero gravity = Schwerelosigkeit) bekannt und zuletzt die älteste existierende A300. Nach 5200 Flügen und 13.180 geflogenen Parabeln wurde dieses Flugzeug am 3. November 2014 stillgelegt und ist nun am Flughafen Köln/Bonn zu besichtigen. Als Ersatz wurde die erste A310 der Interflug mit dem Luftfahrzeugkennzeichen DDR-ABA und spätere deutsche Regierungsmaschine Konrad Adenauer aus dem Jahr 1989 beschafft, die nach einem Umbau seit März 2015 als Air ZERO-G mit dem Kennzeichen F-WNOV bei NoveSpace in Betrieb ist.
A300B2-100
Der Antrieb erfolgte durch zwei Triebwerke vom Typ General Electric CF6-50 mit einem Schub von jeweils 223 kN bei einem Höchstabfluggewicht von 137 Tonnen. Das erste Exemplar wurde von Air France im Mai 1974 in Dienst gestellt.
A300B2-200
Bei der A300B2-200 wurde das Höchstabfluggewicht auf 142 Tonnen gesteigert. Dieser Version wurden außerdem Krügerklappen an der Tragflächenwurzel hinzugefügt. Die ursprüngliche Bezeichnung war A300B2K. Sie wurde ebenfalls von General-Electric-CF6-50-Triebwerken mit einem Schub von jeweils 227 kN angetrieben. 1976 übernahm South African Airways das erste Exemplar.
A300B2-300
Die A300B2-300 erhielt strukturelle Änderungen, um das Landegewicht zu erhöhen. Außerdem war es die erste A300B2-Version, die von Pratt-&-Whitney-JT9D-Triebwerken angetrieben wurde.
A300B4
Nach dem Erstflug am 27. Dezember 1974 wurde ab 1975, parallel zur A300B2, auch die für Mittelstrecken ausgelegte A300B4 produziert, die bei gleicher Bauart zusätzlich einen mittleren Treibstofftank und somit eine höhere Reichweite zwischen 6300 und 6500 Kilometern und ein erhöhtes Höchstabfluggewicht aufwies, außerdem war sie mit Krügerklappen ausgestattet. Die A300B2 und A300B4 wurden zusammen insgesamt in 248 Exemplaren produziert. Wie die Version B2 ist auch dieser Typ fast vollständig aus den aktiven Flotten der Fluggesellschaften ausgemustert: Neben einigen Frachtern sind nur noch zwei Flugzeuge bei Iran Air im Passagierdienst verblieben.
A300B4-100
Die A300B4-100 besaß ein maximales Startgewicht von 157,5 Tonnen. Sie war mit General-Electric-CF6-50-Triebwerken mit einem Schub von 233 kN ausgestattet. Das erste Exemplar mit dem Kennzeichen D-AMAX und der Werknummer 12 wurde am 23. Mai 1975 an die deutsche Germanair ausgeliefert. Es gab auch eine Variante A300B4-120 die von Pratt-&-Whitney-JT9-D-Triebwerken angetrieben wurde und ein leicht erhöhtes Landegewicht hatte.
A300B4-200
Die A300B4-200 war baugleich mit der -100-Version, jedoch hatte sie ein erhöhtes Höchstabfluggewicht von 165 Tonnen und ein erhöhtes Landegewicht. Sie wurde ebenfalls von General-Electric-CF6-50-Triebwerken angetrieben. Die Version mit Pratt-&-Whitney-JT9-D-Triebwerken wurde als A300B4-220 bezeichnet. Als A300C4-200 gab es eine Kombiversion, die flexibel zum Transport von Fracht oder Passagieren (oder beidem) umgerüstet werden konnte und über ein seitliches Ladetor im Oberdeck verfügte. Das erste Exemplar ging im Januar 1980 an Hapag-Lloyd Flug. Mit der A300F4-200 wurde auch erstmals eine reine Frachtversion produziert, die erstmals 1986 an Korean Air Lines ausgeliefert wurde.
A300B4-600
Diese im Sprachgebrauch als A300-600 bezeichnete Variante ist eine Weiterentwicklung der A300B4, die – bei gleicher Länge – durch die Übernahme des Hecks der A310 und dem dadurch nach hinten versetzten Druckschott jedoch einen größeren nutzbaren Innenraum aufweist. Von der A310 wurde auch fast die komplette Avionik übernommen, unter anderem ein Schutz gegen Scherwinde. Gegenüber der ursprünglichen A300B4 verfügt die A300B4-600-Reihe bei gleichem Höchstabfluggewicht von 165 Tonnen über ein erhöhtes maximales Landegewicht, leistungsstärkere Triebwerke vom Typ GE CF6-80 oder Pratt & Whitney PW4000 (in der Version A300B4-620) sowie eine größere Reichweite von 6800 Kilometern. Die Tragflächen des A300B4 wurde im Prinzip beibehalten, aber aerodynamisch verbessert. Die äußeren Querruder wurden entfernt, die sieben Spoiler pro Tragfläche werden nun elektronisch angesteuert. Auch die Flaps und Slats werden nun elektronisch gesteuert. An den Tragflächenspitzen wurden Winglets angebracht. Es wurde auch in vielen Bereichen Aluminium durch CfK ersetzt, was eine Gewichtsersparnis brachte. Die A300-600-Reihe ist mit 313 der insgesamt 561 A300 der erfolgreichste Typ. Das erste Exemplar ging im Frühjahr 1983 an Saudi Arabian Airlines, ab 1984 wurde nur noch dieser Typ hergestellt.
Auch von diesem gab es wiederum Untervarianten. Dies sind neben der Basis-Version A300-600 die A300C4-600, die sich einfach von einer Passagier- in eine Frachtversion umrüsten lässt, und die erstmals 1985 ausgelieferte reine Frachtversion A300F4-600.
A300B4-600R
Die Reichweite wurde durch den von der A310-300 übernommenen Trimmtank im Höhenleitwerk auf 7500 Kilometer erweitert und das Höchstabfluggewicht auf 171,7 Tonnen erhöht. Mit dem Trimmtank wurde auch das System zur dynamischen Gewichtsverlagerung des Treibstoffes übernommen, das eine Optimierung des Schwerpunkts im Flug herstellte. Dadurch konnte der Treibstoffverbrauch gesenkt werden. Sie wurde erstmals 1988 an den Erstkunden American Airlines ausgeliefert. Seit 1989 entsprachen alle ausgelieferten A300 dem -600R-Standard, allerdings bestellten nicht alle Airlines eine Version mit Trimmtank. Die letzte Auslieferung einer Passagier-A300 (eine A300B4-622R) erfolgte im November 2002 an Japan Airlines. Während die meisten Passagiermaschinen zwischenzeitlich zu Frachtflugzeugen umgebaut wurden, ist diese letzte Maschine ein Passagierflugzeug geblieben und gehört seit Anfang 2012 zur Flotte der Mahan Air. Von der A300-600R bot Airbus erneut eine Frachtversion an, die als A300F4-600R bezeichnet wurde. Bei der letzten neu gebauten Maschine handelte es sich um diese Version, sie ging am 12. Juli 2007 an FedEx.
A300B4-600ST „Beluga“
Eine besondere Form des A300-600 ist der Super Transporter Airbus A300-600ST, der auch Beluga genannt wird, da die Form des Rumpfes an den Belugawal erinnert. Es ist ein speziell für großvolumige Lasten entwickeltes Frachtflugzeug und wird hauptsächlich dazu benutzt, Flugzeugsektionen zwischen den Airbus-Standorten zu transportieren, die in ganz Europa verteilt sind. Am Anfang reichte hierfür das Frachtraumvolumen des in vier Exemplaren eingesetzten Typs Super Guppy Turbine aus, doch da die Teile mit der Entwicklung des Airbus A330/340 immer größer wurden, entwickelte man aus der Serie des Airbus A300 den Airbus A300-600ST. Der Erstflug fand im September 1994 statt.
In seinem sehr großen Laderaum mit einem Nutzvolumen von mehr als 1.400 Kubikmetern kann der Beluga eine Nutzlast von etwa 47 Tonnen befördern. Der Laderaum ist 37,7 Meter lang und hat eine Ladeflächenbreite von 5,43 Metern. Der Rumpfdurchmesser beträgt 7,70 Meter. Mit diesen Abmessungen kann der Beluga ein voll ausgestattetes Tragflächenpaar für den Airbus A340 oder einen großen Teil des Rumpfes des Airbus A319 aufnehmen. Das Ladevolumen des Beluga ist größer als das einer C-5 Galaxy, An-124 oder C-17. Lediglich der Cockpitbereich ist als Druckkabine ausgeführt. Der Laderaum ist also weder druckreguliert noch beheizt und daher während des Fluges nicht zugänglich.
Bei einer Geschwindigkeit von 750 km/h (Mach 0,7) hat er voll beladen eine Reichweite von fast 1700 Kilometern. Bei halber Nutzlast vergrößert sie sich auf 4600 Kilometer.
Es wurden lediglich fünf Exemplare des Typs Airbus A300-600ST produziert. Eine offene Nachfrage von Frachtfluggesellschaften hat es zunächst für lange Zeit nicht gegeben. Alle „Beluga“-Flugzeuge werden von der Airbus-Tochter Airbus Transport International betrieben und fliegen auch fast ausschließlich für sie. Dieses Unternehmen vermietet die „Belugas“ inklusive Piloten mittlerweile für Großtransporte zunehmend auch an andere Organisationen. Beispielsweise haben die Bundeswehr oder die ESA diese Möglichkeit schon mehrmals genutzt; die Bundeswehr für den Transport von Hubschraubern, und die ESA für das Weltraumlabor Columbus.
Am 17. November 2014 gab Airbus die Entwicklung des Airbus Beluga XL auf Basis der A330-200 bekannt. Nach Indienststellung dieser neuen Baureihe wurden im Oktober 2020 und April 2021 die ersten beiden „Beluga“ aus der Werksflotte ausgemustert.
A300FFCC
Ab 1981 war als A300FFCC erstmals ein Großraumflugzeug erhältlich, das als „Zweimanncockpit“ (FFCC=Forward Face Crew Cockpit, englisch sinngemäß für nach vorne ausgerichtetes Cockpit) angeboten wurde. Es fehlte der Bordingenieur, der in der Regel quer zur Flugrichtung saß. Dazu gab es einige weitere für die damals neue A310 und die A300-600 entwickelte digitale Systeme, jedoch noch ohne Bildschirme. Erstflug dieser Variante war der 7. Oktober 1981. Diese Version war sowohl als A300B2 als auch als A300B4 erhältlich, es wurden aber nur neun Stück als A300B4-220FF mit Pratt-&-Whitney-JT9-D-Triebwerken für Garuda Indonesia und zwei als A300B4-203FF mit General-Electric-CF6-50-Triebwerken für Finnair, die diese bei Karair einsetzte, produziert. Die Maschinen der Garuda sind inzwischen ausgemustert und teilweise verschrottet. Eine Maschine der Karair ist bei Iran Air im Einsatz, es handelt sich um den weltweit letzten noch aktiven Airbus A300FFCC.
A300P2F
Nach ihrem Einsatz als Passagierflugzeuge wurden Maschinen der Versionen A300B4 und A300-600 zu Frachtflugzeugen umgebaut (Passenger to Freighter Conversion, P2F). Dabei wurden die Sitze, Küchen und Passagiertoiletten entfernt, nicht mehr benötigte Türen und Fenster verschlossen, Rumpf und Boden verstärkt sowie eine Sicherheitstrennwand zum Cockpit sowie ein Frachttor auf der linken Vorderseite eingebaut. Die Umbauten wurden von den Elbe Flugzeugwerken in Dresden durchgeführt. Bekannte Nutzer sind DHL Aviation und Fedex.
Weitere Konzepte der A300
Bereits frühzeitig arbeitete Airbus an verschiedensten Versionen der A300 mit den Bezeichnungen A300B1 bis A300B10. Nach ersten Studien wurden zunächst nur die Konzepte A300B1, B2 und B4 verfolgt. Später folgte das Konzept A300B10MC, das ursprünglich nur eine Verkürzung des Rumpfs um etwa acht Meter gegenüber der A300B2 vorsah. MC stand für „Minimum Change“, also geringe Änderungen. Früh zeichnete sich jedoch ab, dass für eine erfolgreiche Markteinführung wesentliche Änderungen an der Tragflächenkonstruktion und der Avionik nötig sein würden, weshalb entschieden wurde, die Baureihe schließlich unter der neuen Typenreihenbezeichnung Airbus A310 anzubieten. Auch das Konzept B9 wurde weiter verfolgt; hieraus entstanden später die Konzepte TA9/TA11, aus denen das A330-/A340-Programm hervorging. Alle diese Typen haben den Rumpfdurchmesser und die Cockpitsektion gemeinsam, jedoch mit weiterentwickelter Avionik.
Verkaufszahlen und Nutzung
Allgemein
Die Lufthansa war mit 25 Maschinen größter europäischer Betreiber der A300 und maßgeblich an der Definition des Typs beteiligt. Eingesetzt wurde die A300, um verkehrsreiche innerdeutsche und innereuropäische Linien zu bedienen, beispielsweise Frankfurt – London Heathrow oder Frankfurt – Berlin-Tegel; in Ausnahmefällen wurden sie außerdem noch transatlantisch eingesetzt. Inzwischen hat die Lufthansa die A300 jedoch ausgemustert. Der letzte Lufthansa-Flug eines Airbus A300-600 (D-AIAM) war der Rückflug von Rom nach Frankfurt am 1. Juli 2009. Ende August desselben Jahres wurde die A300 auch vom ehemals größten Betreiber American Airlines ausgeflottet. Damit betreibt keine der maßgeblichen Fluggesellschaften mehr die Passagierversion der A300; nur wenige Fluggesellschaften im Nahen Osten haben diesen Typ noch in ihrer Flotte. Als letzter Betreiber in Europa musterte Monarch Airlines ihre Passagier-A300 im April 2014 aus.
Die beiden größten A300-Flotten weltweit werden von den Frachtfluggesellschaften FedEx und UPS Airlines betrieben, die 70 bzw. 52 A300F betreiben. 42 der FedEx-Maschinen wurden direkt von Airbus erworben, während es sich bei den anderen Exemplaren um umgerüstete Passagiermaschinen handelt. UPS Airlines hat alle 53 A300F in der Flotte direkt von Airbus erworben und ist damit auch größter Einzelkunde für den Airbus A300. Die A300F war nicht zuletzt deshalb mit 193 aktiven Maschinen im Februar 2012 das zweithäufigste Frachtflugzeug nach der Boeing 747. Im Jahr 2019 startete UPS ein Programm, um alle 52 Exemplare seiner A300-Flotte bis Ende 2022 mit einem Avionik-Upgrade zu versehen, welches den Betrieb der Flugzeuge bis 2040 ermöglichen soll.
Tabellarische Auflistung
(Stand aller Daten sofern nicht anders beschrieben: 14. Juli 2018)
Zwischenfälle
Von der Einführung der A300 im Jahre 1972 bis Oktober 2022 ereigneten sich 36 Totalverluste mit diesem Typ. Bei 10 davon kamen 1423 Menschen ums Leben (davon laut Aviation Safety Network eine kriminelle Handlung mit 290 Toten). Auszüge:
Am 21. September 1987 geriet eine A300-B4 der Egypt Air (Luftfahrzeugkennzeichen SU-BCA) während eines Trainingsflugs bei einer Landung auf dem Flughafen Luxor seitlich von der Landebahn ab und wurde zerstört. Alle fünf Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. Es war der erste tödliche Unfall eines Airbus A300 seit dem Erstflug im Jahr 1972 (siehe auch Flugunfall eines Airbus A300 der Egyptair bei Luxor 1987).
Am 3. Juli 1988 wurde eine A300-B2 der Iran Air (EP-IBU) auf dem Flug von Bandar Abbas nach Dubai durch die Besatzung des US-amerikanischen Kriegsschiffs USS Vincennes (CG-49) mit einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen, wobei das Leitwerk und eine Tragfläche abgerissen wurden und die Maschine ins Meer stürzte. Dabei wurden alle 290 Insassen getötet (siehe Iran-Air-Flug 655).
Am 28. September 1992 wurde ein A300B4 (AP-BCP) der Pakistan International Airlines beim Landeanflug auf den Flughafen Kathmandu (Nepal) in einen Berg geflogen. Alle 167 Insassen wurden getötet. Die Unfallursache war ein Controlled flight into terrain (CFIT) (siehe auch Pakistan-International-Airlines-Flug 268).
Am 26. April 1994 wurde beim Landeanflug einer A300-600 der taiwanischen China Airlines (B-1816) auf den japanischen Flughafen Nagoya vom Copiloten versehentlich der Modus zum Durchstarten aktiviert. Beim Versuch, dagegenzuhalten, steuerte der Autopilot die Maschine letztendlich mit 52,6° Längsneigung nach oben. Nach dem Zurücknehmen des Schubs kam es in einer Höhe von etwa 500 Metern zu einem Strömungsabriss, das Flugzeug stürzte daraufhin im Bereich der Landebahn ab. Von den 271 Insassen kamen dabei 264 ums Leben (siehe auch China-Airlines-Flug 140).
Am 24. Dezember 1994 wurde ein Airbus A300B2-1C der Air France (F-GBEC) auf dem Flughafen Algier durch 4 Mitglieder der islamistischen Terroristenorganisation „GIA (Groupe Islamique Armee)“ entführt. Dort ermordeten die Entführer bereits drei Passagiere. Geplant war, das Flugzeug über Paris abstürzen zu lassen. Zwei Tage später wurde die Maschine zum Flughafen Marseille geflogen. Dort wurde das Flugzeug am Abend durch eine Spezialeinheit gestürmt. Während eines 20-minütigen Feuergefechtes tötete diese die vier Entführer; einige Passagiere sowie die Piloten wurden verletzt. Das Flugzeug wurde irreparabel beschädigt.
Am 26. September 1997 flog eine A300-B4 der Garuda Indonesia Airways (PK-GAI) beim Anflug auf Medan in ein bewaldetes Gebiet, 32 Kilometer vom Flughafen entfernt. Offensichtlich waren sowohl die Besatzung als auch der Fluglotse hinsichtlich der Kurvenrichtung verwirrt; die Piloten steuerten das Flugzeug in die falsche Richtung. Alle 234 Menschen an Bord kamen bei dem Absturz ums Leben (siehe auch Garuda-Indonesia-Flug 152).
Am 16. Februar 1998 stürzte erneut eine A300-600 der taiwanischen China Airlines (B-1814) beim Durchstarten ab. Da die Flughöhe beim Landeanflug auf den Taipei Chiang Kai Shek Airport zu hoch war, entschied sich die Besatzung dafür, durchzustarten. Die Maschine steuerte dabei steil nach oben, bis es bei einem Längsneigungswinkel von 42,7° und einer Geschwindigkeit von 45 Knoten zu einem Strömungsabriss kam. Die Maschine schlug im Bereich der Landebahn auf dem Boden auf und rutschte in bebautes Gebiet, wo sie in Flammen aufging. Insgesamt 203 Menschen kamen dabei ums Leben, darunter alle 196 Insassen des Airbus (siehe auch China-Airlines-Flug 676).
Am 2. Februar 2000 wurde ein A300B2-203 der Iran Air (EP-IBR) zerstört, als die Crew einer Lockheed C-130 Hercules der Iranischen Luftwaffe während des Starts in Teheran-Mehrabad die Kontrolle verlor und ihre Maschine mit dem Airbus kollidierte, der gerade zu einem Hangar geschleppt wurde. Die acht Insassen der Hercules kamen dabei ums Leben (siehe auch Flugzeugkollision auf dem Flughafen Teheran-Mehrabad 2000).
Am 12. November 2001 stürzte eine A300-600 (N14053) in die Vororte von New York. Nach dem Start stellten sich durch eine vorausfliegende Boeing 747 erhebliche Turbulenzen ein. Der fliegende Copilot versuchte, mit dem Seitenruder aggressiv gegenzusteuern und schlug es mehrfach in beide Richtungen voll aus, außerdem wurde der Schub erhöht. Dadurch wurden die Betriebsgrenzen des Flugzeugs überschritten, das Seitenleitwerk riss ab, und die Piloten verloren die Kontrolle über das Flugzeug. Beim Absturz traten so hohe Kräfte auf, dass noch in der Luft beide Triebwerke von den Tragflächen gerissen wurden. Insgesamt starben 265 Menschen, davon fünf in den Häusern von Queens, in die das vollgetankte Flugzeug stürzte (siehe auch American-Airlines-Flug 587).
Am 22. November 2003 ereignete sich ein Zwischenfall ohne Personenschäden. Eine A300-B4 der European Air Transport, als DHL-Frachtflugzeug mit dem Kennzeichen OO-DLL eingesetzt, wurde kurz nach dem Start in Bagdad in einer Flughöhe von 2500 Metern von einer Boden-Luft-Rakete an der linken Tragfläche getroffen, wodurch die Flügelspitze und der darin befindliche Tank beschädigt wurden und der Tank in Brand geriet. Zudem fielen alle drei hydraulischen Steuerkreise aus, wodurch das Flugzeug nur noch über den Triebwerksschub steuerbar war. Dennoch gelang es der Besatzung, nach Bagdad zurückzukehren und das Flugzeug nach 25-minütigem Flug ohne nennenswerte zusätzliche Schäden zu landen, obwohl die Maschine von der Landebahn abkam und nach dem Durchbrechen eines Zaunes eine Böschung hinunterrollte (siehe auch Beschuss des Airbus A300 OO-DLL der European Air Transport). Ähnliche Zwischenfälle mit Maschinen anderer Typen, die mit dem Totalausfall der Steuerhydraulik einhergingen, waren United-Airlines-Flug 232 und Japan-Airlines-Flug 123, die trotz bemerkenswerter Leistungen der Besatzungen in Katastrophen endeten.
Am 23. März 2007 kam ein Airbus A300 der Ariana Afghan Airlines (YA-BAD) bei der Landung auf dem Flughafen Istanbul-Atatürk von der Piste ab und wurde dabei irreparabel beschädigt. Die 50 Insassen konnten das Flugzeug unverletzt verlassen.
In der Nacht zum 14. April 2010 verunglückte um ca. 22:25 (Ortszeit) ein Frachter des Typs A300B4-203F der Aerounion (XA-TUE) im Anflug auf den Flughafen Monterrey (Mexiko) bei schlechtem Wetter etwa zwei Kilometer vor der Landebahn. Sieben Menschen starben, davon zwei am Boden (siehe auch AeroUnion-Flug 302).
Am 14. August 2013 wurde ein Airbus A300-600F der Frachtfluggesellschaft UPS Airlines (N155UP) während des Landeanflugs auf den Birmingham-Shuttlesworth International Airport (Alabama, USA) etwa 1000 Meter vor der Landebahn in eine Wiese geflogen. Bei diesem CFIT (Controlled flight into terrain) wurden beide Piloten getötet.
Am 12. Oktober 2015 landete der Airbus A300B4-200F mit dem Kennzeichen SU-BMZ der ägyptischen Tristar Air nahe einer Straße etwa 25 Kilometer westnordwestlich von Mogadischu. Die Besatzung des Frachtflugzeuges hatte zuvor mehrmals erfolglos versucht, nach Sonnenuntergang auf dem unbeleuchteten Flughafen Mogadischu zu landen. Ein Mitglied – nach anderer Quelle zwei Mitglieder – der siebenköpfigen Besatzung erlitten geringfügige Verletzungen, das 35 Jahre alte Flugzeug war nicht mehr wirtschaftlich reparierbar. Nach Angaben des Flugsicherheits-Informationsdienstes JACDEC fehlte zu diesem Zeitpunkt in Mogadischu seit Jahren eine Landebahnbeleuchtung.
Technische Daten
Siehe auch
Liste von Flugzeugtypen
Literatur
Wolfgang Borgmann: Die Flugzeugstars: Airbus A300, Motorbuch Verlag, Stuttgart 2018, ISBN 978-3-613-04093-9
Weblinks
Die A300-/A310-Familie auf der Airbus-Website
(englisch)
FAA-TCDS-A35EU (PDF; 206 KiB) – FAA-Musterzulassung der A300
EASA-TCDS-A.172 – EASA-Musterzulassung der A300
EASA-TCDS-A.014 – EASA-Musterzulassung der A300-600ST (Beluga)
Luftfahrt.net – Airbus-A300-Bilder
Planespotters.net – Airbus-A300-Produktionsliste
Einzelnachweise
Großraumflugzeug
Frachtflugzeug
Zweistrahliges Flugzeug
Erstflug 1972 |
3837822 | https://de.wikipedia.org/wiki/New%20York%2C%20Westchester%20and%20Boston%20Railway | New York, Westchester and Boston Railway | |}
Die New York, Westchester and Boston Railway (abgekürzt NYWB oder NYW&B, genannt Westchester oder Boston–Westchester) war eine normalspurige, elektrifizierte Schnellbahn, die die Südspitze der Bronx in New York City mit einigen Städten und Gemeinden im Westchester County im US-Bundesstaat New York verband. Sie gehörte zur Firmengruppe der New York, New Haven and Hartford Railroad (NYNH&H, genannt New Haven) und war von 1912 bis 1937 in Betrieb.
Die Westchester war in weiten Teilen parallel zu bereits existierenden Strecken der New Haven gebaut worden, um diese im Vorortnahverkehr zu entlasten. Dazu verfügte sie über vergleichsweise sehr großzügig angelegte, hochmoderne und entsprechend teure Betriebsanlagen und war damit auf sehr hohe Beförderungsleistungen ausgelegt. Da die Westchester aber durch weitgehend dünn besiedeltes Gebiet gebaut worden war, stellte sich eine entsprechende Nachfrage nie ein, so dass der Konkurs der Firmengruppe New Haven im Zuge der Weltwirtschaftskrise schließlich das Ende der Bahnstrecken bedeutete.
In den Jahren unmittelbar nach der Stilllegung wurden die Strecken größtenteils abgebaut. Ein kleinerer Teil wurde von der New Yorker U-Bahn übernommen und ist heute noch in Betrieb.
Vorgeschichte
Eisenbahnen im Norden New Yorks
Mitte des 19. Jahrhunderts gab es mehrere Bahnlinien, die von New York City aus östlich des Hudson Rivers Richtung Norden führten. Dies waren von West nach Ost gesehen die Hudson River Railroad nach Albany und Troy, die New York and Putnam Railroad nach Brewster und die New York and Harlem Railroad nach Chatham. Alle drei Strecken gehörten ab 1869 zur neu gebildeten New York Central and Hudson River Railroad, kurz New York Central, und endeten ab 1871 am Grand Central Terminal in Manhattan.
Weiter östlich verliefen seit 1849 die Gleise der konkurrierenden New York, New Haven and Hartford Railroad, kurz NYNH&H oder New Haven. Sie zweigten am Bahnhof Woodlawn von der New York and Harlem Railroad ab, überquerten bei Port Chester die Staatsgrenze New York–Connecticut und verliefen weiter über Bridgeport nach New Haven. Dazu kam 1873 mit dem Harlem River Branch noch eine Zweigstrecke; die Gleise der vormals eigenständigen Harlem River and Port Chester Railroad führten von New Rochelle aus in südliche Richtung hinunter zum Harlem River (132nd Street).
Die New York, Westchester and Boston Railway Company wurde am 20. März 1872 gegründet, um zwischen den bestehenden Strecken eine weitere Eisenbahn von der damaligen New Yorker Stadtgrenze am Harlem River durch den Westchester County zu bauen. Die Strecke sollte vom Harlem River aus durch die östliche Bronx, dann nach Mount Vernon und weiter durch den südöstlichen Teil des County bis nach Port Chester verlaufen. Die Konzession enthielt außerdem zwei Zweigstrecken, eine von der 177th Street, Bronx, Richtung Osten nach Throgs Neck, und eine weitere von Mount Vernon in nördliche Richtung über White Plains nach Elmsford. Die Gleise sollten in Teilen parallel und damit in Konkurrenz zu den beiden Strecken der New Haven verlaufen. Der Gründerkrach von 1873 setzte dem Unternehmen jedoch noch vor Baubeginn ein Ende.
Die New Haven kauft sich ein
1906 kauften William Rockefeller und J. P. Morgan die NYW&B für 11.000.000 Dollar auf und übereigneten sie anschließend der New Haven.
Dieser an sich überhöhte Geldbetrag lag in den damaligen Geschäftspraktiken der New Haven begründet. Diese bestanden darin, sämtliche örtlichen Konkurrenten praktisch um jeden Preis aufzukaufen, zu konsolidieren und technisch zu modernisieren. Bis 1912 war auf diese Weise ein Verkehrsnetz mit über 2000 Meilen (3200 km) Eisenbahnen sowie weiteren Straßenbahn- und Dampfschifffahrtslinien im südlichen Neuengland entstanden. Dieses faktische Monopol im Transportgewerbe stand unter der Kontrolle J. P. Morgans und seines Vertrauten im Vorstand der New Haven, Charles Sanger Mellen.
Dazu erhoffte sich die New Haven vom Kauf und anschließendem Bau der NYW&B positive finanzielle Effekte, denn die Strecke Richtung Port Chester war durch die vielen Nahverkehrszüge von und nach New York City stark überlastet. Dies ging vor allem zu Lasten des profitablen Fern- und Güterverkehrs, so dass eine Erhöhung der Transportkapazitäten entlang dieser Route sinnvoll erschien. Zudem war die New Haven durch die Interstate Commerce Commission (ICC) dazu verpflichtet worden, die Fahrkarten für Nahverkehrsverbindungen von und nach New York City zu einem Einheitsfahrpreis von 5 US-Cent anzubieten. Die betreffenden Züge mussten jedoch südlich von Woodlawn mangels eigener Gleise die Strecke der konkurrierenden New York Central benutzen, die wiederum pro Fahrgast 24 Cent Streckennutzungsgebühr für die Fahrt zum Grand-Central-Bahnhof verlangte. Um die ständigen Verluste von 19 Cent je Fahrgast zu beenden, sollten die Nahverkehrszüge zukünftig über die Strecke der NYW&B bis zum Harlem River fahren, um die Fahrgäste dort in die Hochbahn umsteigen zu lassen.
Gleichermaßen geschahen diese Überlegungen in Erwartung einer weiteren Ausdehnung des Hauptgeschäftsviertels New York Citys Richtung Norden. Dieses hatte sich bis etwa 1850 vor allem im Bereich des heutigen Financial District südlich der Canal Street entwickelt und um 1900 Midtown Manhattan erreicht. Man ging ganz allgemein davon aus, dass der Stadtteil Harlem und die südliche Bronx angesichts der jüngst eröffneten U-Bahn bis etwa 1950 eine ähnliche Entwicklung erfahren würden, so dass die neue Verkehrsverbindung zunehmend an Bedeutung gewinnen würde. Auch für den ländlich geprägten Westchester County selbst gab es große Hoffnungen für ein stark wachsendes Verkehrsaufkommen. Zwischen 1900 und 1910 war die Einwohnerzahl um über 70 % gestiegen, und die Grundstückspreise hatten sich mitunter verdreifacht.
Bau
Für das Vorhaben, eine Neubaustrecke für den Nahverkehr parallel zu den bestehenden Strecken der New Haven zu errichten, waren die ursprünglich vorgesehenen Streckenäste nach Throgs Neck und über White Plains nach Elmsford im Grunde uninteressant. So wurde bei der zuständigen New York Public Service Commission beantragt, diese Strecken aus der Konzession nehmen zu dürfen. Dort wurde nur der Wegfall der Zweigstrecke nach Throgs Neck genehmigt; die Strecke nach Elmsford durfte aber nur bis White Plains zurückgezogen werden.
Die Bauarbeiten an der Strecke begannen im Mai 1909. Der erste Streckenabschnitt von der Station 180th Street bis North Avenue in New Rochelle konnte am 29. Mai 1912 eröffnet werden. Ab 1. Juli desselben Jahres ging es weiter bis zur Endstation Westchester Avenue in White Plains. Das Harlem River Terminal wurde am 3. August 1912 erreicht.
Die gesamte Trasse war sehr aufwändig angelegt. Die Strecke war durchgehend zweigleisig und südlich von Mount Vernon sogar viergleisig. Weite Kurvenradien und geringe Steigungen ließen eine hohe Ausbaugeschwindigkeit zu. Dazu waren massive Geländeverbauungen und Dutzende Kunstbauten notwendig. Die Strecke wurde von Beginn an auf ihrer gesamten Länge mittels Oberleitung elektrifiziert, um durchgehend elektrischen Betrieb zu ermöglichen.
Die Bahnhöfe und Haltestellen wurden ebenso aufwändig und großzügig gestaltet, wobei besonderer Wert auf Ästhetik gelegt wurde. Die Gebäude und damit die Bahn insgesamt sollten möglichst attraktiv wirken, um die Grundstückspreise nicht negativ zu beeinflussen und damit die Siedlungsentwicklung entlang der Bahnlinie zu befördern. So entstanden die Gebäude aus Stein und vielfach im Stil der Neorenaissance; in deren Inneren wurden Läden eingerichtet, die Außenbereiche angelegt. Die Ausstattung umfasste ferner Terrazzofußböden und Zentralheizung.
Dazu kam ein Wagenpark aus komfortabel ausgestatteten Elektrotriebwagen mit jeweils 350 PS Leistung und einer Höchstgeschwindigkeit von 57 mph (92 km/h). Damit repräsentierte die Westchester den damaligen Stand der Technik einer Schnellbahn und war für sehr hohe Kapazitäten ausgelegt. Die Gesamtkosten für den Bau der Bahn und die Anschaffung der Fahrzeuge beliefen sich offiziell auf 22 Millionen Dollar.
Das eigentliche Ziel, das verlustträchtige Fahrgastaufkommen entlang der ursprünglichen Strecke der New Haven nach New York City zu verringern, erforderte die Fertigstellung der parallel verlaufenden Neubaustrecke bis nach Port Chester. Die Bauarbeiten jenseits der North Avenue begannen 1921; Mamaroneck war 1926, Harrison 1927, Rye 1928 und Port Chester schließlich 1929 erreicht. Das Passagieraufkommen im Nahverkehr ging daraufhin auf den bestehenden Strecken zurück, und so konnte dieser entlang des Harlem River Branch am 27. Juli 1930 eingestellt werden.
Die Streckenerweiterung von North Avenue nach Port Chester wurde offenbar aus finanziellen Gründen nach einfacheren Maßstäben gebaut. Zwar wurden auch hier zwei Streckengleise verlegt, doch die Bahnsteige bestanden nur noch aus Holz, und statt großzügiger Bauten gab es nur noch kleine Holzhäuschen als Zugangsanlagen.
Streckenverlauf
Harlem River–180th Street–Columbus Avenue
Die Strecke begann am nördlichen Ufer des Harlem River am Harlem River Terminal Ecke 132nd Street und Willis Avenue. Dort gab es eine direkte Gleisverbindung zur IRT Third Avenue Line sowie eine überdachte hölzerne Fußgängerbrücke hinüber zu deren Station 133rd Street. Von den insgesamt sechs parallel verlaufenden Bahnsteiggleisen wurden zwei von der NYW&B und vier von der Hochbahn benutzt.
Die Strecke verlief zunächst am Ufer entlang Richtung Südosten und mündete dann in den Harlem River Branch der New Haven. Nach vier Zwischenhalten zweigte die Trasse in Höhe der 174th Street wieder ab, wurde nach Nordwesten hin verschwenkt und erreichte an der Station 180th Street mit der IRT White Plains Road Line die U-Bahn. Dahinter ging es weiter nach Nordosten bis zur Stadtgrenze und dahinter weiter nach Norden entlang der South Fulton Avenue durch Mount Vernon bis zum Bahnhof Columbus Avenue. Bis dahin gab es auf New Yorker Seite weitere fünf, in Mount Vernon drei Zwischenhalte. Die zweite Station hinter 180th Street, Pelham Parkway, befand sich dabei in Tunnellage.
An der Columbus Avenue wurde die Bahnlinie der New Haven überquert; die Station wurde als Turmbahnhof mit entsprechenden Umsteigemöglichkeiten eingerichtet. Etwa einen halben Kilometer nordöstlich gabelte sich die bis dahin viergleisige Strecke schließlich.
Columbus Avenue–Westchester Avenue
Von der Columbus Avenue aus führte die eine Strecke weiter nach Norden Richtung White Plains. Sie war durchgehend zweigleisig und besaß insgesamt neun weitere Stationen in Mount Vernon, Eastchester, New Rochelle, Scarsdale und White Plains. Der Endbahnhof White Plains–Westchester Avenue befand sich Ecke Westchester Avenue und Bloomingdale Road unmittelbar östlich des Stadtkerns.
Columbus Avenue–Port Chester
Die andere Zweigstrecke war ebenfalls durchgehend zweigleisig und verlief zunächst Richtung Osten und bediente in Pelham und New Rochelle je zwei weitere Stationen, bevor sie kurz hinter dem heutigen Bahnhof New Rochelle zum zweiten Mal auf die New Haven traf. Dort schwenkte die Trasse nach Nordosten ein und verlief parallel zur New Haven bis zum Bahnhof Port Chester kurz vor der Staatsgrenze New York–Connecticut. Entlang dieses Abschnitts bediente die Westchester nicht nur alle Stationen der New Haven, sondern auch noch einige zusätzliche Zwischenhalte. Sie verfügte dabei im Gegensatz zum Harlem River Branch durchgehend über eigene Gleise.
Betrieb
Die Betriebsanlagen der Westchester waren so ausgelegt, dass neben den jeden Bahnhof bedienenden Local-Zügen auch noch Express-Züge, die nicht an jeder Station hielten, angeboten werden konnten. Während die zweigleisigen Abschnitte nördlich der Columbus Avenue von beiden Zuggruppen im Mischbetrieb befahren wurden, diente auf dem viergleisigen Abschnitt das äußere Gleispaar den Locals und das innere den Express-Zügen zum richtungsgleichen Überholen. Die Bahnhöfe entlang dieser Strecke wurden auf dieses Betriebsschema ausgerichtet, so dass an herkömmlichen Stationen nur Seitenbahnsteige am äußeren Gleispaar existierten, Expressbahnhöfe dagegen zwei Mittelbahnsteige zwischen den Richtungsgleisen besaßen. Expressbahnhöfe waren insbesondere 180th Street, Pelham Parkway und East 3rd Street auf dem viergleisigen Abschnitt sowie Wykagyl und Heathcote auf der Strecke nach White Plains. Richtung Port Chester änderte sich die Zuordnung mit dem Fortschritt der Bauarbeiten.
Per Konzession war die Westchester dazu verpflichtet, auf New Yorker Stadtgebiet täglich zwischen 04:00 Uhr morgens und 01:00 Uhr nachts mindestens 60 Local-Zugpaare mit höchstens 30 Minuten Zeitabstand anzubieten; in Mount Vernon mussten es mindestens 50 Zugpaare von und nach New York City sein. Nach dem Willen der NYW&B sollten darüber hinaus jeweils um die Hälfte zeitversetzt die zugehörigen Expresszüge verkehren, die wiederum zeitlich so abgestimmt werden sollten, dass an der East 3rd Street in Fahrtrichtung wechselseitig umgestiegen werden konnte. Die Reisezeit zwischen der 180th Street und White Plains betrug mit dem Local 39 und mit dem Expresszug 25 Minuten. Richtung New Rochelle (North Avenue) dauerte es mit dem Local 25 und mit dem Express 13 Minuten.
Der Betrieb wurde 1912 mit einem 20-Minuten-Takt für Locals und einem 40-Minuten-Takt für Expresszüge aufgenommen. Später sollte weiter auf 15/15 Minuten verdichtet werden. Insgesamt war die Strecke darauf ausgelegt, Local- wie Expresszüge im Extremfall im Fünf-Minuten-Takt je Richtung verkehren zu lassen und damit annähernd das Niveau der New Yorker Subway zu erreichen.
Das Ende
Die Westchester war von Beginn an ein hochdefizitäres Unternehmen. Die Ursache für Verluste von zuletzt über 3 Millionen Dollar pro Jahr lag aber nicht nur in der Dimensionierung der Betriebsanlagen und den damit verbundenen Fixkosten. Auch erreichte die Zahl der Fahrgäste nie das ursprünglich angepeilte Niveau, weil die Annahmen bezüglich des Bevölkerungswachstums in der Region viel zu optimistisch gewesen waren. Zwar stiegen die Fahrgastzahlen über die Jahre stetig an, von 2.874.484 (1913) über 6.283.325 (1920) auf schließlich 14.053.188 im Jahre 1928, doch kam die Westchester bis 1930 nicht über 264 Züge am Tag hinaus, womit die Streckenkapazität bei weitem nicht ausgeschöpft wurde.
Dazu boten sowohl die New York Central als auch die New Haven auf ihren parallel verlaufenden Strecken Pendlerzüge nach New York City an, die im Gegensatz zur Westchester direkt bis zum Grand Central Terminal im Stadtzentrum fuhren. Außerdem konnte sich die NYW&B im Gegensatz zu anderen Bahngesellschaften nicht auf gewinnbringenden Güterverkehr stützen.
Solange die Westchester die Gewinnschwelle nicht erreichte, hatte die New Haven das Defizit und obendrein die Zinslast und die Kreditbürgschaft zu tragen. Die NYW&B war damit in vollem Umfang von der finanziellen Gesundheit ihrer Muttergesellschaft abhängig.
Diese wiederum schien seit jeher ein kerngesundes Unternehmen. Doch Mellen hatte aus den insgesamt 336 Tochtergesellschaften der New Haven ein Pyramidensystem aufgebaut, dessen Gewinne vorwiegend mittels Bilanzfälschung erzielt wurden. Obwohl diese Tatbestände bereits 1913 ans Licht gekommen waren, schienen die finanziellen Schwierigkeiten der New York, New Haven and Hartford Railway damit offenbar nicht beendet. Die Weltwirtschaftskrise führte im Oktober 1935 zum Bankrott. Die Westchester geriet daraufhin angesichts nun ausbleibender Unterstützungszahlungen in Zahlungsverzug und folgte rund einen Monat später am 30. November. Sie hatte bis dahin ein Defizit von insgesamt 45.000.000 Dollar angehäuft.
Zunächst wurde versucht, die Bahn durch Sparmaßnahmen und gleichzeitige Bemühungen zur Anhebung der Fahrgastzahlen am Leben zu halten. Weil sich aber angesichts der hohen Kosten für Zinsen, Pacht und Grundsteuer im Laufe der nächsten zwei Jahre keine Besserung einstellte, wurde schließlich auf richterliche Anordnung zunächst der Betrieb eingestellt. Der letzte Zug nach Port Chester fuhr am 31. Oktober, der letzte zwischen dem Harlem River Terminal und White Plains am 31. Dezember 1937. Nachdem auch Versuche, die Gesellschaft an einen Investor zu verkaufen oder unter staatliche Kontrolle zu stellen, gescheitert waren, wurde die Westchester schließlich auf richterliche Anordnung hin liquidiert.
Den Streckenabschnitt zwischen der 174th Street und der Stadtgrenze hinter der Station Dyre Avenue erwarb die Stadt New York für 1,7 Millionen Dollar, um ihn in ihr U-Bahn-Netz zu integrieren. Die Elektrotriebwagen verblieben bei der New Haven; sie wurden zu unmotorisierten Passagierwaggons umgebaut und in Vorortzügen im Raum Boston eingesetzt. Das restliche Anlagevermögen wurde im März 1942 versteigert und brachte noch 423.000 Dollar ein; Schienen und Oberleitung wurden abgebaut und anschließend in der Rüstungsindustrie für den Kriegseinsatz verwertet. Viele der Bahnhofsgebäude wurden den zuständigen Gemeinden als Ausgleich für die Steuerschulden überlassen.
Technische Details
Die New York, Westchester and Boston Railway war als weitgehend unabhängig betriebene Schnellbahn konzipiert und durch vielerorts dünn besiedeltes Gebiet gebaut worden. Außerdem hatte sich die Streckenführung nicht an bestehenden, langsamer zu befahrenden Bahnlinien auszurichten. Insofern waren fast keine Kompromisse hinsichtlich Streckenführung, Konzession oder technischer Ausstattung notwendig, so dass die Bahn das seinerzeit technisch Machbare repräsentierte.
Trasse
Die Trasse sollte für eine möglichst hohe Ausbaugeschwindigkeit angelegt werden, was durch geringe Steigungen (maximal 1 %) und sanfte Kurven (maximal 4 Grad) erreicht werden sollte. Auch sollten Bahnübergänge bewusst vermieden werden. Um dies in dem teils hügeligen Gelände möglich zu machen, mussten entlang der Strecke großzügige Einschnitte, Viadukte und Dämme angelegt werden. Dazu kamen über 70 Kunstbauten, namentlich ein 0,75 Meilen (1,2 km) langer, viergleisiger Tunnel mitsamt unterirdischem Bahnhof unter dem Pelham Parkway in der Bronx, mehrere Viadukte sowie einige Dutzend Brücken und Unterführungen. Sämtliche dieser Bauten wurden ausgesprochen massiv dimensioniert; selbst an sich unbedeutende Fußgängerstege wurden aus Stahl errichtet.
Auf der Trasse wurden durchgehend eingeschotterte Schwellengleise verlegt. Dies geschah auch auf Brücken und Viadukten, um dort das Geräuschniveau möglichst niedrig zu halten, wozu eigens Betontröge auf dem Tragwerk aufgesetzt wurden. Die Überhöhung in den Kurven wurde ferner genau auf die dort erwarteten Fahrgeschwindigkeiten hin optimiert. Die Zugsicherung erfolgte mittels automatischer Blocksignale.
Energieversorgung
Für die Stromzufuhr wurde das 25-Hz-Wechselstromsystem mit 11 kV der New Haven verwendet. Die Oberleitung war an Portalgittermasten aufgehängt und besaß zwei übereinander angeordnete Tragseile (Compound Catenary). Die oberen Tragseile waren an den Oberkanten der Traversen aufgehängt und blieben stromlos. Daran waren in der Mitte der 300 Fuß (91,44 m) langen Felder die unteren Tragseile mittels Isolatoren aufgehängt sowie mit quer verlaufenden Stangen untereinander verbunden. Insbesondere waren die unteren Tragseile nicht an den Masten befestigt. Damit die Oberleitung in Kurven dem Verlauf der Gleise folgen konnte, wurden die Tragseile an diesen Stellen zusätzlich seitlich verspannt. Ferner wurden innerhalb der Weichenwinkel zusätzliche Querdrähte zur Führung der Stromabnehmer angebracht.
Von der Columbus Avenue Richtung New Rochelle wurde zu Versuchszwecken ein anderer, „experimenteller“ (experimental) Typ Oberleitung verwendet. Diese Single Catenary wurde mit nur noch einem Tragseil ausgestattet, das direkt an der Unterseite der Portalmasten aufgehängt wurde. Diese aus heutiger Sicht konventionellere Konstruktion sollte sich innerhalb der NYNH&H-Firmengruppe schließlich durchsetzen.
Stationen
Die Stationen wurden von den Architekten Reed & Stem, New York entworfen und dabei nach den Gesichtspunkten Ästhetik, Dauerhaftigkeit und Wartungsfreundlichkeit gestaltet. Die Empfangsgebäude bestanden aus Beton und wurden im Stil des Historismus errichtet, namentlich in Mission Revival, im Stil der Neorenaissance und des Neoklassizismus. In deren Innern wurden neben den Fahrkartenschaltern häufig auch Läden und Büros eingerichtet; für Böden und Wandverkleidungen wurde Terrazzo verwendet. Da die Gleise häufig im Einschnitt oder auf einem Damm zu liegen kamen, lagen die Empfangsgebäude häufig nicht höhengleich, sondern unter, über oder seitlich oberhalb der Strecke, wobei in der Regel eine der Außenwände mit der Stützmauer der Geländeverbauung fluchtete.
Die Bahnsteige waren als Hochbahnsteige ausgeführt und wurden ebenso wie die Empfangsgebäude aus Beton statt aus dem damals üblichen Holz errichtet. Auch rückwärtige Begrenzungsmauer, Treppen und die dorischen Säulen für das Bahnsteigdach waren aus Beton. Nur die vordere Bahnsteigkante war als Holzplanke ausgeführt, um bei Bedarf das Lichtraumprofil ein Stück aufweiten zu können.
Rollendes Material
Der Wagenpark bestand aus 95 vierachsigen Solotriebwagen, die von Pressed Steel Car und Osgood-Bradley zwischen 1912 und 1929 geliefert wurden. Sie besaßen je zwei Fahrmotoren mit je 175 PS Leistung (Achsformel Bo'2'), konnten mit bis zu 1 mph/s (0,447 m/s²) beschleunigen und wurden auf 57 mph (92 km/h) Höchstgeschwindigkeit abgeregelt. Ferner verfügten die Wagen über Totmann- und Nachlaufsteuerung; die Stromaufnahme erfolgte über zwei Scherenstromabnehmer, die über den Drehgestellen angeordnet waren.
Die Triebwagen waren 70 Fuß 4 Zoll (21,44 m) lang, 9 Fuß 7 3/4 Zoll (2,94 m) breit, 13 Fuß 3 1/4 Zoll (4,04 m) hoch und 120,000 Pfund (54,43 Tonnen) schwer. Sie boten je nach Baujahr 78 bis 80 Sitzplätze, besaßen große Fensterflächen und thermostatgesteuerte Heizung.
Der gesamte Wagenkasten bestand aus einem Stahlgerippe mit aufgenieteten und teilweise bereits aufgeschweißten Stahlplatten. Die Wagen waren in New Haven Green lackiert und besaßen an der Stirnseite Übergänge mit Faltenbalg sowie in Kopfhöhe zwei charakteristische Rundfenster mit 20 Zoll (51 cm) Durchmesser. Die beiden Führerstände waren in Fahrtrichtung gesehen auf der jeweils rechten Seite angeordnet. Je Seite waren drei druckluftbetriebene Taschenschiebetüren mit Zentralsteuerung eingebaut; zwei an den Enden und eine in der Mitte. Da die Westchester auf dem Harlem River Branch im Mischbetrieb mit konventionellen Zügen verkehrte und dort nur niedrige Bahnsteige vorhanden waren, wurden die beiden Türöffnungen an den Fahrzeugenden zusätzlich mit Trittstufen ausgestattet.
Neben den Triebwagen existierten noch vier Flachwagen, ein gedeckter Güterwagen, eine vierachsige Elektrolokomotive sowie ein benzinelektrischer Fahrleitungsmontagewagen für Wartungsarbeiten.
Betriebshof
Der Betriebshof befand sich nördlich des Bahnhofs 180th Street unmittelbar östlich der Bahnstrecke und umfasste Bauhof und Betriebswerkstatt. Diese wiederum bestand aus einer 49 Fuß (14,94 m) breiten, 171 Fuß (52,12 m) langen, dreiständigen Halle in Stahlskelettbauweise und war einzig für Wartung und Instandsetzung dieser Triebwagen ausgelegt. Dabei wurde großer Wert darauf gelegt, sämtliche Reparaturen möglichst schnell und auf kurzen Wegen ausführen zu können. Das Gebäude besaß große Fenster für helle Räume und war bei kompakten Außenmaßen auf maximale Raumausnutzung ausgelegt.
Tarif und Fahrkarten
Die Fahrpreise waren nach (zu Anfang) insgesamt acht Zonen (zones) gestaffelt, wobei der Tarif für die Einzelfahrt pro Zone 5 Cent betrug. Jede Zone repräsentierte einen bestimmten Streckenabschnitt, dessen Grenzen sich aber nicht direkt an tatsächlichen Entfernungen, sondern an den Gemeindegrenzen orientierten. So kostete die Fahrt über 8,39 Meilen (13,5 km) vom Harlem River Terminal zur Dyre Avenue innerhalb New Yorks ebenso 5 Cent wie über die 1,65 Meilen (2,66 km) von der Kingsbridge Road zur Columbus Avenue innerhalb Mount Vernons. Dieses Zonensystem unterschied sich ebenso von den damaligen Pauschaltarifen innerstädtischer Verkehrsmittel wie auch von der kilometerabhängigen Tarifierung, wie sie bei konventionellen Eisenbahnen üblich war. Die Idee dazu stammte aus London und Berlin. Zusätzlich zu ihren europäischen Vorbildern waren die Fahrkarten je nach Zielzone in einer unterschiedlichen Farbe markiert, beispielsweise in Rot für das Stadtgebiet New York Citys.
Die Fahrgäste erwarben am Startpunkt eine Fahrkarte zur gewünschten Zielzone. Dabei legte diese Zielzone die Farbe, und der Startpunkt den zu entrichtenden Fahrpreis fest. Die Karten wurden dann bei Betreten der Station an einem Drehkreuz mit einem Stempel entwertet und beim Verlassen des Zielbahnhofs an einem weiteren Drehkreuz abgegeben und vernichtet. Die farbliche Markierung erleichterte dabei die Kontrolle, weil an jedem Bahnhof einer bestimmten Zone immer nur Fahrkarten in genau der Farbe dieser Zone abzugeben waren. Außerdem waren keine Zugschaffner notwendig.
Spuren und Überreste
Der Streckenabschnitt zwischen der 180th Street und der Stadtgrenze bildet heute die IRT Dyre Avenue Line der New York City Subway und wird von der U-Bahn-Linie 5 befahren. Der rund 4,5 Meilen (7,24 km) lange Abschnitt wurde nach dem Verkauf auf Stromschiene umgerüstet und am 15. Mai 1941 als Pendelverkehr und am 6. Mai 1957 endgültig eröffnet.
Entlang der Strecke sind mit Stand von 2008 zwischen Morris Park und Dyre Avenue genau die fünf ursprünglichen Stationen in Betrieb. An der 180th Street steuern die Züge dann aber nicht mehr den ursprünglichen NYW&B-Bahnhof an, sondern fädeln bereits ein Stück weiter nördlich in die IRT White Plains Road Line ein und benutzen den gleichnamigen IRT-Bahnhof. Das Empfangsgebäude der Westchester sowie die zugehörigen Bahnsteige samt Überdachungen sind aber erhalten und werden als Betriebshof genutzt. Insgesamt wirkt die Dyre Avenue Line bis auf die vergleichsweise großzügigen Empfangsgebäude und die größeren Stationsabstände wie eine ganz normale U-Bahn-Strecke an der Peripherie New Yorks.
Südlich der 180th Street blieb zunächst noch der Viadukt hinunter zum Harlem River Branch und die Gleisverbindung am Harlem River Terminal zur IRT Third Avenue Line bestehen, weil es sonst keine Gleisverbindung zur Übergabe von Rollmaterial gegeben hätte. Nach Eröffnung der Verbindungskurve zur White Plains Road Line wurde diese Behelfslösung überflüssig und im Laufe der Zeit abgebaut. Das Empfangsgebäude am Harlem River Terminal blieb bis 2006 erhalten.
Der Nahverkehr entlang des Harlem River Branch wurde nach dem Ende der NYW&B auch vonseiten der New Haven nicht wieder aufgenommen, so dass die dortigen Stationen aufgegeben wurden. Als Teil des Nord-Ost-Korridors spielt die Strecke jedoch bis heute eine wichtige Rolle im Fernverkehr.
Nördlich der New Yorker Stadtgrenze ist die Trasse besonders im Bereich Mount Vernon und New Rochelle vielfach mit Fabriken und Wohnhäusern überbaut worden, so dass sie auf Luftbildern nur noch abschnittsweise nachvollziehbar ist. Weiter nördlich hebt sich der Bahndamm dagegen besonders durch die Geländeverbauungen und seine weiten Kurvenradien strukturell noch deutlich von der übrigen Landschaft ab. An einigen Stellen existieren noch einzelne Durchlässe und Brückenwiderlager, etwa an der Columbus Avenue. Der Verlauf der Gleise nördlich von New Rochelle und auf dem Harlem River Branch in der Bronx lässt sich durch die dort breiteren Portalmasten der Oberleitung sowie einzelne noch vorhandene Brückenelemente nachvollziehen. Die meisten Stationsgebäude wurden entweder verkauft und umgenutzt, dem Verfall preisgegeben oder im Laufe der Zeit abgebrochen, sofern sich keine anderweitige Nutzungsmöglichkeit anbot.
Zwischen Mount Vernon und White Plains wird die Trasse teilweise noch anderweitig genutzt; so dient der Einschnitt im Bereich Heathcote als Planum für eine Umgehungsstraße und nördlich davon als Wanderweg. An der Stelle des Endbahnhofs in White Plains steht heute das Einkaufszentrum Westchester Mall.
Weiterführende Informationen
Bücher
Arcara, Roger: Westchester’s forgotten railway, 1912–1937; the story of a short-lived short line which was at once America’s finest railway and its poorest: the New York, Westchester & Boston Railway. erweiterte und überarbeitete Auflage. Quadrant Press, New York 1972. (englisch)
Bang, Robert A.: The New York, Westchester & Boston Railway Company 1906–1946. Selbstverlag, Port Chester 2004, ISBN 0-9762797-1-1. (englisch)
Bang, Robert A., John E. Frank, George W. Kowanski und Otto M. Vondrak: Forgotten railroads through Westchester County. Selbstverlag, Port Chester 2007, ISBN 978-0-9762797-3-0. (englisch)
Harwood, Herbert H.: The New York, Westchester & Boston Railway: J.P. Morgan’s Magnificent Mistake. Indiana University Press, Bloomington, 2008, ISBN 978-0-253-35143-2. (englisch)
Zeitschriftenartikel
Zu Betriebsbeginn 1912 erschien eine Reihe von Artikeln im Electric Railway Journal. Zwei davon bieten einen guten Überblick:
McGraw Publishing Company (Hrsg.): The New York, Westchester & Boston Railway. In: Electric Railway Journal, Band XXXIX, Nr. 21, 25. Mai 1912, S. 864 ff. (englisch)
McGraw Publishing Company (Hrsg.): Track and Stations of the New York, Westchester & Boston Railway. In: Electric Railway Journal, Band XXXIX, Nr. 23, 8. Juni 1912, S. 956 ff. (englisch)
Weblinks
New York, Westchester, & Boston Railway auf nycsubway.org (private Seite, enthält zeitgenössische wie aktuelle Fotos sowie unter anderem die genannten Artikel aus dem Electric Railway Journal, jedoch nur textuell vollständig; insbesondere fehlen etliche Abbildungen sowie die meisten technischen Zeichnungen; englisch)
Bryk, William: . In: New York Press, News & Columns. (englisch)
Otto M. Vondrak: The New York Westchester & Boston Railway Co., 2007. (private Seite, englisch)
Einzelnachweise
Bahngesellschaft (New York)
New York City Subway |
4099663 | https://de.wikipedia.org/wiki/Fruchtwasserembolie | Fruchtwasserembolie | Eine Fruchtwasserembolie ist eine Sonderform einer Embolie, bei der während der Entbindung Fruchtwasser, einschließlich seiner festen Anteile, über die Gebärmutter in den mütterlichen Kreislauf eindringt. Dadurch werden Lungenarteriolen oder Kapillaren verlegt und das Gerinnungssystem beeinträchtigt. Sie ist eine seltene, aber gefährliche und von Geburtshelfern gefürchtete Notfallsituation, da sie meist dramatisch verläuft und oft tödlich endet. Überlebende Mütter und Kinder erleiden häufig Hirnschäden.
Die Fruchtwasserembolie wird synonym auch als Geburtshilfliches Schock-Syndrom, Amnioninfusionssyndrom ( – AFE), Anaphylaktisches Schwangerschaftssyndrom () oder Steiner-Lushbaugh-Syndrom bezeichnet. Die Vorgänge wurden 1926 von J. Ricardo Meyer erstmals beschrieben und 1941 von Steiner und Lushbaugh als eigenständige Krankheit definiert.
Bis heute ist eine Fruchtwasserembolie nicht vorhersehbar und nur schlecht zu diagnostizieren und zu behandeln. Vorbeugende Maßnahmen sind nicht bekannt.
Vorkommen
Die Angaben in der medizinischen Fachliteratur zur Häufigkeit (Inzidenz) der Fruchtwasserembolie schwanken erheblich und werden mit einem Erkrankungsfall auf 800 bis 80.000 Geburten angegeben. In Industrieländern wird eine Inzidenz von 1:20.000 bis 80.000 Geburten angenommen. Die unterschiedlichen Angaben zur Inzidenz rühren daher, dass es schwierig ist, eine sichere Diagnose zu stellen. In Großbritannien ist die Fruchtwasserembolie die vierthäufigste Ursache für mütterliche Todesfälle mit einer Häufigkeit von 0,77 pro 100.000 Entbindungen. In Australien wurde sie im Zeitraum von 1964 bis 1990 als Todesursache bei 0,9 von 100.000 Entbindungen registriert. In Frankreich war dies von 1996 bis 1998 bei 1,5 und in den Jahren 1999 bis 2001 bei 0,5 von 100.000 Entbindungen der Fall.
Innerhalb der ersten Stunde sterben 25 bis 34 % der Mütter. Nur 16 bis 20 % der Mütter überleben letztlich ein solches Ereignis. 70 % aller Fruchtwasserembolien ereignen sich unter der Geburt, 11 % nach der vaginalen Entbindung und 19 % während eines Kaiserschnitts nach Entwicklung des Kindes. Die kindliche Sterblichkeit beträgt bei Fruchtwasserembolien, die sich vor oder während der Geburt ereignen, bis zu 50 %.
Obwohl eine Fruchtwasserembolie fast immer unter oder kurz nach der Geburt auftritt, existieren auch Einzelfallberichte über Fruchtwasserembolien im ersten und zweiten Schwangerschaftsdrittel. Das Krankheitsgeschehen setzte dort in Verbindung mit invasivem Vorgehen bei verhaltener Fehlgeburt oder Aborteinleitung ein, wurde jedoch noch nicht bei Ausschabungen wegen einer Fehlgeburt beobachtet. Auch bei der, selten durchgeführten, Infusion von physiologischer Kochsalzlösung in die Amnionhöhle zur Mekoniumaspirationsprophylaxe und bei einer Fruchtwasserpunktion wurden mehrere Fälle von Fruchtwasserembolie beschrieben. Ebenso kann stumpfe Gewalt gegen den Bauch (Abdominaltrauma) zur Fruchtwasserembolie führen.
Krankheitsentstehung
Die Pathophysiologie der Fruchtwasserembolie ist bis heute nicht vollständig geklärt. Einerseits handelt es sich um eine Sonderform der Lungenembolie, die durch den Kontakt von Fruchtwasserbestandteilen mit dem mütterlichen Blutkreislauf ausgelöst wird. Dabei besteht oft ein zeitlicher Zusammenhang zum Blasensprung, sodass dieser als eine mögliche Ursache angesehen wird. Andererseits wird ein ganzer Komplex an Reaktionen ausgelöst, der über eine Embolie weit hinausgeht.
Das Fruchtwasser dringt über das eröffnete Bett der Plazenta (Plazentahaftstelle), über eine Verletzung des Venengeflechts der Gebärmutter oder über Verletzungen von Gefäßen des Gebärmutterhalses in das venöse System der Mutter ein. Von dort aus gelangt es über die rechte Herzseite in die Lungenarterien oder aber über Shunts im Herzen oder in der Lunge in die linke Herzseite und dann in den Körperkreislauf.
Die Mechanismen bei der Entstehung der Fruchtwasserembolie sind nur in Teilen bekannt. Die Erklärungen der Vorgänge beruhen auf klinischen Beobachtungen und teilweise auf Tierversuchen.
Anfangs war man der Meinung, dass die festen Fruchtwasserbestandteile, wie Vernixflocken, Lanugohaare, Mekonium oder Zellabschilferungen, durch Verlegung der Gefäße in der Lunge allein das Geschehen auslösen (Festkörperembolie). Inzwischen ist aus tierexperimentellen Untersuchungen bekannt, dass es bei Kontakt von Fruchtwasserbestandteilen, durch Freisetzung von Prostaglandinen und biogenen Aminen, zusätzlich zu einer ausgeprägten Verengung der Lungengefäße kommt, welche wiederum den Blutdruck im arteriellen Lungenkreislauf erhöht. Dadurch kommt es zu einer Rechtsherzüberlastung (akutes Cor pulmonale), einem schlagartigen Abfall des Füllungsdrucks des linken Herzens, damit zu einer Linksherzüberlastung und nachfolgend zu einer Verminderung der Sauerstoffversorgung des Körpers. Diese Reaktion führt in vielen Fällen zu einem kardiogenen (herzbedingten) Schock und akuten Herztod.
Ein zweiter Mechanismus ist die Auslösung einer generalisierten Gerinnung (disseminierte intravasale Gerinnung) durch Fruchtwasserbestandteile, wobei insbesondere das Mekonium eine entscheidende Rolle zu spielen scheint. Die überall im mütterlichen Kreislauf gebildeten Blutgerinnsel können, in Verbindung mit dem unzureichenden Kreislauf (Herzinsuffizienz), zusätzliche Embolien verursachen. Verbunden mit dem Sauerstoffmangel kann es zu Leber- und Nierenversagen, Krampfanfällen und Koma kommen. Außerdem führt die massive Gerinnungsreaktion zum Verbrauch von Gerinnungsfaktoren (Verbrauchskoagulopathie), die dann für andere bei der Geburt notwendige Gerinnungsprozesse, wie dem Verschluss der Geburtswunden und der Plazentahaftstelle, nicht mehr zur Verfügung stehen. Dies führt zu erheblichen Blutverlusten bis hin zum hämorrhagischen Schock.
Ein dritter Mechanismus wird im Sinne einer anaphylaktischen Reaktion durch die antigene Aktivität des Fruchtwassers ausgelöst. Fetale Antigene führen im mütterlichen Kreislauf zu einer Immunantwort mit Freisetzung von körpereigenen Botenstoffen (endogene Mediatoren), die dramatische Kreislaufreaktionen bewirken können. In der Literatur wurde daher auch vorgeschlagen, den Begriff „Fruchtwasserembolie“ durch „Anaphylactoid syndrome of pregnancy“ zu ersetzen.
Es führt jedoch nicht jeder Kontakt von Fruchtwasser und seinen Bestandteilen mit dem mütterlichen Kreislauf zu einer Fruchtwasserembolie. 1961 war zwar bei fast der Hälfte von 220 mütterlichen Todesfällen Trophoblast-Gewebe in der Lunge nachgewiesen worden, allerdings hatte weniger als 1 % der Frauen klinische Hinweise auf eine Fruchtwasserembolie gezeigt. Normalerweise gelangen nur geringe Fruchtwassermengen (1 bis 2 ml) unter der Geburt in den mütterlichen Kreislauf. Um die Reaktionskette in Gang zu setzen, muss eine größere Menge Fruchtwasser in den mütterlichen Kreislauf übertreten.
Risikofaktoren
Als prädisponierende Faktoren für das Krankheitsbild gelten die Uterusruptur, Geburtsverletzungen (z. B. hoher Scheidenriss, Zervixriss), die manuelle Plazentalösung, eine vorzeitige Plazentalösung, vaginal-operative Entbindungen, ein erhöhter intrauteriner Druck (z. B. bei großem Kind, Mehrlingen oder Polyhydramnion), die Kristellerhilfe (durch die Stempelwirkung) und eine Wehenmittelüberdosierung. Allerdings bestand in einigen Untersuchungen keine Beziehungen zu fetaler Makrosomie und zu einer Überdosierung des Wehenmittels Oxytocin.
Außerdem fanden kanadische Forscher ein häufigeres Auftreten von Fruchtwasserembolien im Zusammenhang mit einem Schwangerschaftsdiabetes, mit einer Präeklampsie, mit einem höheren Alter der Mutter, mit einem Kaiserschnitt und mit einer Geburtseinleitung. 88 % der Betroffenen sind Mehrgebärende. Bei 41 % der Patientinnen mit einer Fruchtwasserembolie finden sich anamnestisch Hinweise auf Allergien oder Atopie. Zudem wurde eine Fruchtwasserembolie gehäuft im Zusammenhang mit männlichen Föten beobachtet.
Die prädisponierenden Faktoren erhöhen zwar das Risiko einer Fruchtwasserembolie, können jedoch nicht als deren Ursache angesehen werden. Das Krankheitsbild gilt als unvorhersehbar. Vorbeugende Maßnahmen sind nicht bekannt.
Symptomatik und Verlauf
Klinische Kriterien
Die nationalen Amniotic fluid embolism (AFE)-Register in den USA und Großbritannien stellten klinische Kriterien auf, die die Verdachtsdiagnose einer Fruchtwasserembolie erlauben:
akuter Blutdruckabfall oder Herzstillstand
akute Hypoxie (Dyspnoe, Zyanose oder Atemstillstand)
Gerinnungsstörung (laborchemischer Nachweise einer disseminierten intravasalen Gerinnung) oder schwere Blutungen
Beginn der Symptome unter Wehen oder bis 30 Minuten nach der Geburt des Kindes
keine anderen klinischen Zeichen oder Erklärungen für die Symptomatik
Phasen
Eine Fruchtwasserembolie läuft in mehreren Stadien ab, von denen jedes potentiell tödlich ist.
Als Vorzeichen können Atembeschwerden, Kältegefühl, innere Unruhe, Lichtscheu, Angstzustände, Empfindungsstörungen der Finger, Übelkeit und Erbrechen auftreten. Das Intervall zwischen diesen ersten Anzeichen und der akuten Symptomatik kann sehr kurz sein, aber auch bis zu 4 Stunden betragen.
Im Frühstadium, innerhalb der ersten Minuten, zeigen die Patientinnen aus völligem Wohlbefinden Atemnot mit Zyanose und Krampfanfälle. Zudem finden sich Schockzeichen. Brustschmerzen treten, entgegen früheren Annahmen, bei über der Hälfte der Frauen auf. Heftige Wehen bis hin zur Uterustetanie bestehen bei etwa einem Viertel der Frauen.
Überlebt die Frau diese erste Phase, treten im zweiten Stadium mit einer Latenzzeit von 0,5 bis 12 Stunden Blutungen auf, die Folge der generalisierten Gerinnung mit Verbrauchskoagulopathie sind. Aufgrund der großen Wundflächen nach Ablösen der Plazenta besteht das Risiko, an einem hämorrhagischen Schock zu versterben.
Im Spätstadium entwickelt sich ein Atemnotsyndrom mit Lungenödem. Es kommt zu einer Hyperfibrinolyse und als Folge des Schocks möglicherweise zu einem Multiorganversagen. Da die zweite und dritte Phase fließend ineinander übergehen, werden sie häufig auch zusammengefasst und der gesamte Verlauf als biphasisch bezeichnet.
Kindliche Reaktionen
Beim Ungeborenen kommt es durch die verminderte Sauerstoffversorgung zu Herzfrequenzveränderungen. Diese äußern sich als Auffälligkeiten im CTG, wie Tachykardie, späte Dezelerationen, eine Abnahme der Bandbreite, verlängerte variable Dezelerationen und Bradykardie. Allerdings sind auch Fälle mit unauffälligem CTG trotz bestehender fetaler Bedrohung beschrieben. Wird die Sauerstoffversorgung nicht schnell verbessert oder kein Notkaiserschnitt durchgeführt, stirbt das Kind nach kurzer Zeit (intrauteriner Fruchttod).
Diagnosestellung
Die klinische Diagnose einer Fruchtwasserembolie ist eine Ausschlussdiagnose. Sie muss wegen des hochakuten Geschehens schnell gestellt werden, damit schon bei dem Verdacht entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden können. Dabei müssen differentialdiagnostisch verschiedene Erkrankungen in Betracht gezogen werden.
Laborchemisch zeigen sich Zeichen der Verbrauchskoagulopathie:
Thrombozytopenie
Hypofibrinogenämie (Mangel an Fibrinogen)
verminderte Prothrombinzeit
verlängerte partielle Thrombinzeit
Nachweis von D-Dimeren
Im EKG finden sich anfangs eine Tachykardie und ST-Strecken-Veränderungen, später Zeichen der Rechtsherzbelastung. Die Sauerstoffsättigung im Blut ist reduziert. Selbst ein Nachweis von fetalen Bestandteilen im Blut aus der rechten Herzkammer kann die Diagnose nur stützen, aber nicht beweisen.
Sicher diagnostizieren kann man eine Fruchtwasserembolie erst post mortem im Rahmen einer Obduktion, indem man histologisch Fruchtwasser oder korpuskuläre Anteile in den Kapillaren der Lunge nachweist. Dies dient oftmals auch dazu, vermutete Behandlungsfehler durch Ärzte und Hebammen auszuschließen.
Therapie
Eine spezifische oder ursächliche Behandlung der Fruchtwasserembolie ist nicht möglich. Die Behandlung der Patientin erfolgt bereits bei Verdacht auf eine Fruchtwasserembolie symptomatisch, jedoch intensivmedizinisch. Dabei steht die Stabilisierung des Zustands der Patientin im Vordergrund.
Fast immer ist eine endotracheale Intubation mit einer künstlichen Beatmung notwendig. Durch Infusion (als Volumenersatz) wird, möglichst unter Kontrolle des zentralen Venendrucks, dem Blutdruckabfall entgegengewirkt. Indem Medikamente, die die Lungenstrombahn erweitern, verabreicht werden, wird einer Rechtsherzinsuffizienz entgegengewirkt. Um die immunologischen Komponenten zu behandeln, ist es sinnvoll, Glucocorticoide zu geben.
Lässt sich der mütterliche Zustand stabilisieren, ist eine rasche vaginale Entbindung möglich. Kommt es innerhalb von 4 bis 5 Minuten zu keiner Verbesserung, ist aufgrund des drohenden Todes des Kindes ein Notkaiserschnitt, auch bei scheinbar sterbender Mutter (Peri-mortem-Schnittentbindung), angezeigt. Dies verbessert auch die Chancen bei der Herz-Lungen-Wiederbelebung der Mutter.
Nach der Geburt des Kindes muss Oxytocin per Infusion auch in Kombination mit Mutterkornalkaloiden wie Methylergometrin zur Verhinderung einer Uterusatonie mit massiven vaginalen Blutungen verabreicht werden. Diese Mittel fördern die Kontraktion der Gebärmutter und verringern damit Blutungen. Auf die Gabe von Prostaglandinen muss verzichtet werden, da diese potenziell vasokonstriktorische Effekte auf die Lungengefäße haben kann.
Beim Überleben der ersten Phase ist die Patientin intensivmedizinisch zu überwachen. Zur Behandlung der Gerinnungsstörung sind die Gabe von Antifibrinolytika und eine Behandlung mit gefrorenem Frischplasma (fresh frozen plasma, FFP) sowie als Ultima Ratio bei fortbestehender Blutung und Thrombozytenzahlen unter 50.000/μl die Transfusion von Thrombozyten-Konzentraten möglich. Der Blutverlust wird mit Erythrozyten-Konzentraten ausgeglichen. Auch Behandlungsversuche mit Kryopräzipitaten und rekombinantem Faktor VII (rFVIIa) wurden unternommen. Außerdem wurde über erfolgreiche Gebärmutterarterienembolisationen zur Behandlung der starken Blutungen aus der Gebärmutter berichtet.
Prognose
Die Prognose der Fruchtwasserembolie ist schlecht. Sie verursacht eine hohe mütterliche und kindliche Sterblichkeit. Von den überlebenden Frauen entwickeln 11 % und von den überlebenden Kindern 61 % bleibende neurologische Schäden. Insbesondere nach Fruchtwasserembolien mit mekoniumhaltigem Fruchtwasser waren bei überlebenden Frauen häufiger neurologische Auffälligkeiten mit hirnanatomischen Korrelaten nachweisbar. Die Prognose ist außerdem von einer schnellen Behandlung abhängig. Eine Peri-mortem-Schnittentbindung nach 4 bis 5 Minuten erfolgloser Wiederbelebung verbessert die Wiederbelebungschancen für die Frau und die Überlebenschancen für das Kind.
Aufgrund der geringen Fallzahlen kann das Risiko einer erneuten Fruchtwasserembolie in einer Folgeschwangerschaft nicht beurteilt werden. Es sind aber komplikationslose Schwangerschaften berichtet worden. Die Empfehlung einer primären Schnittentbindung zur Vermeidung von Wehen wird kontrovers beurteilt.
Geschichte
Der deutsche Pathologe Georg Schmorl berichtete 1893 erstmals über fetale Zellen in der mütterlichen Lunge, die er bei Autopsien von 17 Frauen, die nach einer Eklampsie verstorben waren, gefunden hatte. Er sah darin eine mögliche Ursache der Eklampsie.
Eine Fruchtwasserembolie wurde durch J. Ricardo Meyer in Brasilien zwar bereits 1926 erstmals beschrieben, allerdings publizierte M. R. Warden 1927 Ergebnisse seiner Tierversuche mit intravenöser Injektion von Fruchtwasser, in dem auch er noch eine mögliche Ursache der Eklampsie sah.
Erst 1941 wurde die Fruchtwasserembolie durch die Amerikaner Paul E. Steiner und Clarence Lushbaugh als eigenständiges Krankheitsbild definiert und 1949 als Geburtshilfliches Schock-Syndrom genauer beschrieben. Es wurde daher zeitweilig auch als Steiner-Lushbaugh-Syndrom. bezeichnet.
1961 wiesen die britischen Pathologen Attwood und Park bei fast der Hälfte von 220 mütterlichen Todesfällen Trophoblast-Gewebe in der Lunge nach, obwohl weniger als 1 % der Frauen klinische Hinweise auf eine Fruchtwasserembolie geboten hatten. Daher schied dieses als alleinige Ursache für das Krankheitsbild aus. Selbst ein Zusammenhang zur Fruchtwasserembolie ist fraglich. Im Rahmen einer Schwangerschaft gelangen offenbar fetale Zellen zwangsläufig in die mütterliche Zirkulation. Dieses Phänomen wird als physiologisch angesehen. Eine Embolie mit teilweisem Verschluss der Lungenstrombahn ist jedoch nicht als normal anzusehen und scheint häufiger mit krankhaften Veränderungen der Plazenta, wie einer Placenta accreta oder Placenta praevia, und Manipulationen an der Gebärmutter verbunden zu sein.
Da in einigen Untersuchungen bei einer Fruchtwasserembolie die typischen Symptome einer Anaphylaxie vorherrschten, wird das Krankheitsbild auch als Anaphylactoid syndrome of pregnancy (Anaphylaktisches Schwangerschaftssyndrom) bezeichnet.
In den USA und Großbritannien wurden spezielle Register geschaffen, um Fälle von Fruchtwasserembolie zu erfassen. Das U. S. National AFE Registry wurde 1998 von Steven L. Clark, einem Gynäkologen an der University of Utah School of Medicine, begründet.
Derek J. Tuffnell, Leiter der Frauenklinik am Bradford Royal Infirmary, initiierte das britische UKOSS Amniotic fluid embolism register. Es wird seit 2005 als Teil des U. K. Obstetric Surveillance Systems (UKOSS) der seit 1978 bestehenden National Perinatal Epidemiology Unit der University of Oxford zur Untersuchung seltener Erkrankungen in der Schwangerschaft geführt und vom Royal College of Obstetricians and Gynaecologists (RCOG) unterstützt.
Literatur
Deutschsprachig
Joachim Wolfram Dudenhausen, Hermann P. G. Schneider, Gunther Bastert: Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Walter de Gruyter, 2002, ISBN 3-11-016562-7, S. 638–640. in der Google Buchsuche.
Wolfgang Distler, Axel Riehn: Notfälle in Gynäkologie und Geburtshilfe. Springer, 2006, ISBN 3-540-25666-0, Kapitel 5.13 in der Google Buchsuche.
Alexander Strauss: Geburtshilfe Basics. Springer, 2006, ISBN 3-540-25668-7, S. 70. in der Google Buchsuche.
Maritta Kühnert: Notfallsituationen in der Geburtshilfe. Walter de Gruyter, 2009, ISBN 978-3-11-021378-2, S. 86–89. in der Google Buchsuche.
Jürgen Nieder, Kerstin Meybohm: Memorix für Hebammen. Georg Thieme Verlag, 2001, ISBN 3-7773-1422-6, S. 240. in der Google Buchsuche.
Christine Mändle, Sonja Opitz-Kreuter: Das Hebammenlehrbuch der praktischen Geburtshilfe. Schattauer Verlag, 2007, ISBN 978-3-7945-1765-7, S. 472–474. in der Google Buchsuche.
Werner H. Rath, Stefan Hofer, Inga Sinicina: Fruchtwasserembolie – eine interdisziplinäre Herausforderung: Epidemiologie, Diagnostik und Therapie. In: Dtsch Arztebl Int. 2014, 111(8), S. 126–132, doi:10.3238/arztebl.2014.0126
Werner H. Rath: Fruchtwasserembolie und Herzstillstand. Frauenarzt 58 (2017), 296–301
Englischsprachig
Hung N. Winn, R. H. Petrie: Amniotic fluid embolism. In: Hung N. Winn, John C. Hobbins: Clinical maternal-fetal medicine. Taylor & Francis, 2000, ISBN 1-85070-798-7, Kapitel 11 in der Google Buchsuche.
Maureen Boyle: Amniotic fluid embolism. In: Maureen Boyle: Emergencies around childbirth: a handbook for midwives. Radcliffe Publishing, 2002, ISBN 1-85775-568-5, Kapitel 7 in der Google Buchsuche.
Charlotte Howell, Kate Grady, Charles Cox: Amniotic fluid embolism. In: Managing Obstetric Emergencies and Trauma: The MOET Course Manual. RCOG, 2007, ISBN 978-1-904752-21-9, Kapitel 5 in der Google Buchsuche.
Steven L. Clark: Managing obstetric emergencies: Anaphylactoid syndrome of pregnancy (aka AFE). Contemporary OB/GYN, Juli 2018, online
Weblinks
Lisa E. Moore: Amniotic Fluid Embolism. auf eMedicine.com
Histologisches Bild der University of Utah
Amniotic Fluid Embolism Foundation (afesupport.org)
Einzelnachweise
Krankheitsbild in Gynäkologie und Geburtshilfe
Krankheitsbild in der Notfallmedizin |
4678067 | https://de.wikipedia.org/wiki/Aston%20Martin%20V8%20%281972%29 | Aston Martin V8 (1972) | Der 1972 vorgestellte Aston Martin V8 ist ein Sportwagen des britischen Automobilherstellers Aston Martin, der den weitgehend baugleichen DBS V8 ablöste und bis 1989 in vier Serien produziert wurde. Eine leistungsgesteigerte Version mit der Bezeichnung V8 Vantage kam 1977 auf den Markt, ein Jahr später folgte das Cabriolet V8 Volante und 1986 schließlich der V8 Vantage Volante, der die offene Karosserie mit dem Hochleistungsmotor kombiniert. Kurzzeitig gab es auch eine viertürige Variante. Der namensgebende Achtzylinder-V-Motor war mit Vergasern oder Saugrohreinspritzung in verschiedenen Leistungsstufen erhältlich, die bis zu 322 kW (438 PS) reichten. Aston Martin verwirklichte zahlreiche Sonderversionen, die teilweise auf individuelle Kundenwünsche zurückgingen und in mehreren Fällen zu weiteren Kleinstserien führten. Ein Beispiel dafür ist die vom damaligen britischen Thronfolger Prinz Charles initiierte Prince-of-Wales-Version des Vantage Volante. Im Motorsport wurde das V8 Coupé nur vereinzelt und ausschließlich von privaten Wettbewerbern eingesetzt, allerdings kam sein Achtzylindermotor in den 1980er-Jahren mit Werksunterstützung bei Langstreckensportwagen zum Einsatz. Der V8 erschien 1987 und 2021 als Bond Car in zwei Produktionen der James-Bond-Spielfilmreihe. Alle Karosserie- und Motorisierungsversionen zusammengenommen, entstanden in 17 Jahren etwa 2600 Fahrzeuge. Der V8 gehört zu den bedeutendsten Modellen der Marke. Er sicherte die Existenz Aston Martins über mehrere Finanzkrisen und Eigentümerwechsel hinweg. 50 Jahre nach dem Produktionsbeginn zählt der V8 zu den gesuchten Klassikern.
Überblick: Modellgeschichte
Der Aston Martin V8 ist eine Weiterentwicklung des 1967 vorgestellten Fließheckcoupés DBS, mit dem er technisch und stilistisch in den Grundzügen übereinstimmt. Aston Martin wollte den DBS nach ursprünglichen Planungen von Beginn an mit einem neu konstruierten Achtzylindermotor auf den Markt bringen. Da sich dessen Serienreife allerdings verzögerte, kam der DBS zunächst mit dem gleichen Reihensechszylindermotor in den Verkauf, den auch sein Vorgänger DB6 hatte. Erst 1969 ergänzte der DBS V8 mit dem Achtzylindermotor die Modellpalette.
Nachdem Aston Martin zu Beginn der 1970er-Jahre in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war, verkaufte der Eigentümer David Brown den Betrieb zum Februar 1972 an den in Birmingham ansässigen, primär im Immobiliensektor tätigen Investor Company Developments. Die neue Leitung ließ die beiden DBS-Modelle in wenigen Wochen stilistisch überarbeiten, was vor allem zu einer neu gestalteten Frontpartie führte. Um den Bruch mit dem vorherigen Management zu dokumentieren, wurden zudem alle Hinweise auf David Brown („DB“) aus den Modellbezeichnungen entfernt. Der DBS V8 wurde daraufhin zum Aston Martin V8, während der weiterhin produzierte DBS mit dem Sechszylindermotor traditionswidrig in Aston Martin Vantage umbenannt wurde. Der Aston Martin V8 und sein sechszylindriges Schwestermodell Vantage wurden am 24. April 1972 der Presse vorgestellt. Während die Produktion des Vantage bereits im Juni 1973 endete, blieb der V8 bis 1989 im Programm und überdauerte mehrere Eigentümerwechsel.
Wegen der Auswirkungen der ersten Ölpreiskrise 1973 gelang es Company Developments nicht, Aston Martin zu konsolidieren. Im Dezember 1974 kam es zur Insolvenz. In den ersten sechs Monaten des Jahres 1975 baute Aston Martin kein einziges Auto; ein Großteil des Personals wechselte zu Rolls-Royce. Erst als im Juni 1975 ein Konsortium aus britischen und nordamerikanischen Geschäftsleuten den Betrieb übernommen und in die Gesellschaft Aston Martin Lagonda (1975) Ltd. überführt hatte, wurde die Produktion schrittweise wieder aufgenommen. 1975 entstanden insgesamt nur 21 Autos, im Jahr darauf wurden wieder dreistellige Produktionszahlen erreicht. Nach und nach entstanden weitere Varianten des V8, zu denen eine Sportversion, ein Cabriolet, eine Limousine und Sonderversionen von Zagato gehörten. Mit ihnen gelang es Victor Gauntlett, seit 1981 Aston Martins Mehrheitseigner, das Unternehmen trotz anhaltender wirtschaftlicher Schwierigkeiten dauerhaft am Markt zu halten. Zwei Jahre nach der Übernahme Aston Martins durch den US-amerikanischen Ford-Konzern debütierte mit dem Virage Ende 1989 ein neu konstruierter Sportwagen, der nach 17-jähriger Produktionszeit den V8 ablöste. Eine weiterentwickelte Version des Virage trug ab 1996 erneut die Bezeichnung Aston Martin V8.
Marktpositionierung
Der Aston Martin V8 ist ein Sportwagen der Oberklasse. Teilweise wird er den Gran Turismo zugeordnet. In den 1970er-Jahren konkurrierte er unter anderem mit dem Jensen Interceptor, dem Lamborghini Jarama, dem Ferrari 400, dem Bristol 411 und seinem Nachfolger 603 sowie Maseratis Modellen Kyalami und Khamsin.
Binnendifferenzierung
Von den regulären V8 Coupés, den Cabriolets und den V8 Vantages wurden jeweils mehrere Serien gebaut.
Die Binnendifferenzierung bei den Standard-Coupés ist uneinheitlich. Sie werden überwiegend in vier Serien eingeteilt, die den Zeiträumen April 1972 bis Juli 1973, August 1973 bis September 1978, Oktober 1978 bis Januar 1986 und Januar 1986 bis Dezember 1989 zuzuordnen sind. Aston Martin gab den einzelnen Serien keine offiziellen Bezeichnungen. Ein weit verbreitetes Benennungssystem geht auf den britischen Aston Martin Owners Club zurück, der den unter David Browns Ägide produzierten Aston Martin DBS V8 rückblickend als Series 1 bezeichnet. Die 1972 unter Company Developments eingeführte und bis Sommer 1973 produzierte erste Baureihe, die nicht den Zusatz „DBS“ trägt, ist demnach die Series 2; die folgenden Baureihen sind Series 3 (1973 bis 1978), Series 4 (1978 bis 1986) und Series 5 (1986 bis 1989). Diese Zählweise wurde vielfach von der Fachliteratur übernommen. Einige jüngere Veröffentlichungen nutzen sie nicht mehr, ohne dass sie allerdings ein schlüssiges Alternativkonzept anbieten. Die Differenzierungsmethode des Aston Martin Owners Club wird hier bezüglich der Standard-Coupés zugrunde gelegt.
Die V8 Volante lassen sich in zwei Serien (Markteinführung 1978 bis 1985 für die Series 1, 1985 bis Produktionsende für die Series 2) unterteilen. Beim V8 Vantage werden zumeist drei Generationen unterschieden, für die einige Autoren teilweise noch weitere Untergliederungen bilden.
Technik und Karosserie
Der Aston Martin V8 ist zweitüriges, viersitziges Fließheckcoupé mit einer Karosserie, die klassische Sportwagenelemente, aber auch Stylingdetails zeitgenössischer US-amerikanischer Autos aufgreift. Eine offene Variante mit zwei Sitzen und Stufenheck wurde als V8 Volante verkauft. Der V8 hat einen Plattformrahmen aus Stahl, dessen Grundkonzeption von dem Rahmen der Vorgängermodelle DB4, DB5 und DB6 abgeleitet ist und den der V8 unverändert vom DBS übernahm. Mit dem Rahmen sind Stahlstrukturen verschweißt, die die Karosserie tragen. Angetrieben wird der V8 von einem Achtzylinder-V-Motor, der im Laufe der Jahre in zahlreichen Details weiterentwickelt wurde.
Aufbau: Karosserie und Innenraum
Die Karosserie des V8 besteht aus Aluminiumblechen, die bei Aston Martin selbst in Handarbeit auf Holzformen getrieben wurden.
Designgeschichte
Die Form der Karosserie geht auf den DBS von 1967 zurück. Sie ist ein Entwurf von William Towns, einem ehemaligen Designer der Rootes Group, der bei Aston Martin vorrangig für die Gestaltung von Sitzen zuständig war. Towns hatte gleichsam nebenher eine viertürige Limousine und ein davon abgeleitetes Fließheckcoupé gestaltet, dem das Management 1966 im Auswahlprozess um die Nachfolge des DB6 den Vorzug gegenüber einem Alternativvorschlag der italienischen Carrozzeria Touring gegeben hatte.
Für den ab 1972 gebauten V8 übernahm Aston Martin die DBS-Karosserie weitestgehend unverändert. Zwar hatte Towns 1971 den DBS-Aufbau im Windkanal getestet und unter Einbeziehung der dort gewonnenen Erkenntnisse einen als MP 231 bezeichneten Entwurf mit geänderter Front, höherer Heckpartie und größerem Kofferraum geschaffen, der einige Autoren an Pietro Fruas AC 428 erinnerte; Company Developments erwog in den ersten Wochen nach der Übernahme Aston Martins auch kurzzeitig, den MP 231 als DBS-Nachfolger auf den Markt zu bringen. Der Entwurf ließ sich aber nicht in kurzer Zeit serienreif machen, sodass er letztlich verworfen wurde. Lediglich die Frontpartie des MP 231 wurde beim V8 verwendet.
Beschreibung
Der V8 hat wie der DBS eine lange Motorhaube und knapp geschnittene Fahrgastzelle. Diese Proportionen entsprechen dem seit den 1950er-Jahren gängigen Muster für Sportwagen. Die Gestaltung der hinteren Kotflügel folgt der sogenannten Coke-Bottle-Linie; hier ließ sich Towns nach eigenen Worten vom 1966 vorgestellten Chevrolet Camaro inspirieren. Die geradlinig abfallende Dachlinie wird vielfach als Zitat der Fastback-Version des ersten Ford Mustang angesehen.
Das wesentliche äußerliche Unterscheidungsmerkmal zwischen dem DBS und dem V8 ist die Gestaltung der Frontpartie. Während der DBS vier kleine Joddampflampen hat, die zusammen mit der Blinker-Standlichteinheiten des Ford Cortina Mk. II in die Kühlerverkleidung integriert sind, haben alle Versionen des V8, dem Entwurf MP 231 folgend, große runde Einzelscheinwerfer. Die Blinker, die nun vom MGB stammen, sind jeweils unter den Stoßstangen montiert. Aston Martin begründete die Entscheidung für die Einzelscheinwerfer mit einer größeren Lichtausbeute. Außerdem entfielen die seitlichen Entlüftungsöffnungen, die beim DBS in der C-Säule untergebracht waren. Beim V8 Series 2 befinden sie sich unter der Heckscheibe, und bei den späteren Serien sind sie nicht mehr sichtbar. Zu den inneren, von außen nicht wahrnehmbaren Änderungen gegenüber dem DBS gehören dank geändertem Benzintank größerer Kofferraum, sowie eine verbesserte Geräusch- und Wärmedämmung.
Die Form des Armaturenbretts blieb über den gesamten Produktionszeitraum unverändert. Während es bei den Serien 2 und 3 (wie schon beim DBS) weitgehend mit schwarz gefärbtem Leder bezogen war, lieferte Aston Martin ab der Serie 4 (1978) einen mit Wurzelholz verkleideten Instrumententräger, der vier Monate vorher bereits beim Cabriolet Volante eingeführt worden war. Die Sitze waren serienmäßig mit Leder bezogen, das je nach Kundenwunsch von Conolly oder anderen Lieferanten kam; alternativ waren in den Serien 2 und 3 auch Kunstfaserbezüge lieferbar.
Für die V8-Modelle übernahm Aston Martin zahlreiche Anbauteile verschiedener Großserienmodelle. Die Rückleuchten gab es beim Hillman Hunter, einige Anzeiger beim Jaguar E-Type, und einige Schalter und Hebel wurden auch von British Leyland verwendet.
Motor
Der Aston Martin V8 hat einen Achtzylinder-V-Motor, dessen Grundkonstruktion mit dem Motor des DBS V8 übereinstimmt. Aston Martin hatte ihn ab 1963 unter der Leitung von Tadek Marek entwickelt.
Grundkonstruktion
Der Motorblock, die Zylinderköpfe und zahlreiche Anbauteile bestehen aus Aluminiumlegierungen. Der Bankwinkel beträgt 90 Grad. Jede Zylinderreihe hat zwei obenliegende Nockenwellen, die pro Zylinder ein Ein- und ein Auslassventil steuern. Die Dimensionen des Motorblocks waren so bemessen, dass Hubräume von 4,6 bis 5,4 Litern leicht erreichbar waren. Während Marek anfänglich unter Verweis auf den AC Cobra und den frühen Ford Mustang einen Hubraum von weniger als 5,0 Litern favorisiert hatte, entschied sich das Management mit Blick auf den nordamerikanischen Markt für die Serienproduktion letztlich für 5,3 Liter (5341 cm³; Bohrung×Hub: 100×85 mm), weil Chrysler, Ford und General Motors ähnlich große Motoren für ihre Sportwagen im Programm hatten. Diesen Hubraum behielt das Werk bis zur Produktionseinstellung 1989 bei. Allerdings boten einige Tuner wie R.S. Williams in den 1980er-Jahren überarbeitete Versionen mit bis zu 7,0 Liter Hubraum an.
Entwicklungsstufen der Standard-Coupés und des Volante
Die Grundkonstruktion des Motors blieb während der gesamten Produktionszeit des V8 unverändert, allerdings modifizierte Aston Martin im Laufe der Jahre wiederholt Details wie die Gemischaufbereitung, wobei in der Folge auch die Motorleistung variierte. Genaue Leistungswerte veröffentlichte Aston Martin nicht, abgesehen von denen der letzten Baureihe, für die 227 kW (309 PS; 305 bhp) genannt wurden. Die Angaben in der Literatur beruhen deshalb vielfach auf Schätzungen und sind nicht einheitlich. Die Leistungsspanne bei den Standardmodellen reicht ungefähr von 208 kW (283 PS; 280 bhp) bis 239 kW (325 PS; 320 bhp). Die Bezeichnung der Motoren orientiert sich teilweise am Hubraum, teilweise am Erscheinungsjahr. Die ersten Varianten werden als V 540 bezeichnet (für 5,4 Liter Hubraum), spätere Varianten als V 580 (5 Liter Hubraum, 1980 eingeführt) bzw. als V 585 (5 Liter Hubraum, 1985 eingeführt).
V 540 mit Saugrohreinspritzung (1972 bis 1973): Die Series 2 des Standard-Coupés hat den gleichen Motor, der schon im DBS V8 zum Einsatz kam. Hier wie dort ist der V-540-Motor mit einer Mehrpunkt-Saugrohreinspritzung ausgestattet. Sie arbeitet mit einer mechanisch von der Kurbelwelle angetriebenen Acht-Stempel-Reiheneinspritzpumpe von Bosch (Typ PES 8KL). Einer Quelle zufolge hatte Aston Martin geplant, den V8 von Beginn an mit Vergasern auszustatten; weil aber die „Vergaser nicht pünktlich verfügbar gewesen“ seien, habe sich die Notwendigkeit ergeben, bei der Series 2 (April 1972 bis August 1973) die mechanische Saugrohreinspritzung des DBS zunächst weiterzuverwenden. Die Benzineinspritzung bereitete im Alltagsbetrieb „viele Probleme“ und konnte laut Aston Martin nicht so abgestimmt werden, dass der V8 die US-amerikanischen Abgasvorschriften einhielt. Einer Quelle zufolge habe die Einstellung der Einspritzanlage länger gedauert als der Aufbau des gesamten Motors. Die Bosch-Einspritzung war nach Ansicht von Kritikern für einen spürbaren Mangel an Drehmoment im unteren und mittleren Drehzahlbereich verantwortlich. Die Nennleistung des Motors lag nach Schätzungen bei 239 kW (325 PS; 320 bhp), andere gehen von 232 kW (315 PS; 311 bhp) oder 276 kW (375 PS; 370 bhp) aus.
V 540 mit Vergasern (1973 bis 1980): Mit der Einführung der Series 3 im Juli 1973 ersetzte Aston Martin beim V 540 die Saugrohreinspritzung von Bosch durch vier Doppel-Fallstromvergaser von Weber (Tp 42 DNCF). Aston Martin führte den Wechsel auf Praktikabilitätsgründe zurück: Die Weber-Vergaser seien zuverlässiger als die Benzineinspritzung gewesen, und die Vergaserautos seien besser zu fahren. In der Literatur halten sich allerdings Vermutungen, dass Aston Martin die Gemischaufbereitung vor allem aus finanziellen Gründen umstellte: Die Weber-Vergaser seien deutlich günstiger gewesen als die Bosch-Anlage. Der Wechsel auf Weber-Vergaser führte zu einer Reduzierung der Motorleistung. Die meisten Quellen gehen davon aus, dass sie anfänglich bei 208 kW (283 PS; 280 bhp) lag und 1977 auf 224 kW (305 PS; 300 bhp) angehoben wurde. Bereits seit Ende 1976 eröffnete Aston Martin für die Series-3-Coupés die Möglichkeit einer Leistungssteigerung in zwei Stufen. Zur Wahl standen die Stage 1 mit 224 kW (305 PS; 300 bhp) und die Stage 2 mit 279 kW (380 PS; 375 bhp). Anfänglich war geplant, für beide Leistungsstufen jeweils ein Tuningkit anzubieten, mit dem Aston Martins Works Service auf Kundenwunsch nachträglich reguläre V8-Coupés modifizieren sollte. Weil aber die Nachfrage schon im Vorfeld unerwartet hoch war, entschied sich Aston Martin dafür, die Stage-1-Version ab Februar 1977 zur Standardmotorisierung zu machen, sodass der durch die Umstellung auf Vergaser eingetretene Leistungsverlust im Vergleich zur Series 2 wieder wettgemacht war. Der noch stärkere Stage-2-Motor wurde sodann zur Grundlage einer neuen Modellreihe, die unter der Bezeichnung Aston Martin V8 Vantage ab Sommer 1977 als weiteres Serienmodell neben dem Standard-Coupé erhältlich war. In dieser Ausführung wurde der V8-Motor ab Oktober 1978 auch in die Coupés der Series 4 („Oscar India“) eingebaut; dort war sie bis Herbst 1980 die Standardmotorisierung. Einigen Quellen zufolge wurde die Motorleistung leicht auf 231 kW (314 PS; 310 bhp) angehoben; nach den Messungen des TÜV lag sie bei 224 kW (304 PS).
V 580 (1980 bis 1986): Im Laufe des Jahres 1980 führte Aston Martin eine überarbeitete Motorversion ein, die als V 580 bezeichnet wird. Mit ihr bezweckte das Unternehmen in erster Linie Standardisierungen der Antriebstechnik: Der Motor des V8 erhielt die gleichen Kolben wie der V8 Vantage, während die Nockenwelle und die Ventile an die beim Lagonda verwendeten Komponenten angeglichen wurden. Aston Martin änderte die Ventilsteuerzeiten, die Kalibrierung der Vergaser sowie die Verdichtung (9,5:1 statt 9,1:1). Auf die Motorleistung wirkten sich diese Veränderungen nicht aus, allerdings führten sie zu einer Erhöhung des Motorwirkungsgrades und damit einer Verringerung des Treibstoffverbrauchs: Einer Quelle zufolge war nun bei normaler Fahrweise ein Verbrauch von 16,5 Liter auf 100 km erreichbar.
V 585 (1986 bis 1989): Die Series 5 Aston Martin V8 und die zweite Serie des Volante haben einen grundlegend überarbeiteten Motor. Der nun V 585 genannte Achtzylinder hat eine elektronisch geregelte Saugrohreinspritzung von Weber-Marelli, die hier erstmals in einem außerhalb Italiens produzierten Serienfahrzeug eingesetzt wurde. Aston Martin gab beim Series 5 erstmals seit Produktionsbeginn des V8 die Motorleistung an; der veröffentlichte Wert lag bei 227 kW (309 PS; 305 bhp). Der V-585-Motor wurde zeitgleich auch im Cabriolet Volante eingeführt, nicht aber im V8 Vantage, der den Vergasermotor bis zur Produktionseinstellung beibehielt.
Die Vantage-Motoren
Für den V8 Vantage wurde der 5341 cm³ große Achtzylinder-V-Motor stark überarbeitet. Bis 1980 waren die Vantage-Motoren von den Achtzylindern der Baureihe V 540 abgeleitet, von 1980 bis Anfang 1986 vom V 580. Im Vantage sind die Motoren mit größeren Ein- und Auslassventilen (Durchmesser 2,1 Zoll), einer überarbeitete Nockenwelle mit geänderten Steuerzeiten, Cosworth-Kolben und größeren Weber-Vergasern (Typ 48 IDFD2/100) ausgestattet. Eine Benzineinspritzung gab es nicht. Nach Messungen des TÜV beträgt die Motorleistung früher V8 Vantages 279 kW (380 PS; 375 bhp). Ab Januar 1986 kam eine nochmals überarbeitete Version mit der Bezeichnung V 580X zum Einsatz. Bei ihr beträgt die Motorleistung etwa 305 kW (417 PS; 410 bhp), wahlweise war über den Works Service auch ein 322 kW (438 PS; 432 bhp) starker Motor (Big Bore) erhältlich.
Besonderheiten für Nordamerika und Japan
Aston Martins Achtzylindermotor konnte anfänglich weder an die US-amerikanischen noch an die japanischen Abgasnormen angepasst werden. Die fehlenden Umsätze auf diesen Märkten verschärften die wirtschaftliche Schieflage Aston Martins zu Beginn der 1970er-Jahre erheblich. Aston Martin erwog deshalb 1972, für Länder mit besonders strengen Emissionsschutzwerten die V8s mit abgasgereinigten Großserienmotoren amerikanischer Hersteller auszustatten, wie es auch Bristol, Jensen und einige andere Konkurrenten taten. Zu Testzwecken wurde daraufhin ein Chrysler-Achtzylinder-V-Motor aus dem Imperial in einen DBS eingebaut und erprobt. Noch 1972 gab Aston Martin die Idee eines solchen Hybriden auf.
Erst 1974 erreichte der Aston-Martin-Motor Abgaswerte, die den amerikanischen Vorgaben entsprachen. Damit verbunden war unter anderem eine Absenkung des Verdichtungsverhältnisses auf 8,3:1, bei späteren Versionen auf 8,0:1, damit sie beim Betrieb mit niederoktanigem TEL-freien Benzin, das in den 1970er-Jahren für den Abgaskatalysator unabdingbar war, nicht zu klingeln begannen. Die Eingriffe führten zu erhebliche Leistungseinbußen. In den meisten US-Bundesstaaten betrug die Motorleistung der abgasgereinigten Version 194 kW (263 PS; 260 bhp). Für Kalifornien, wo noch strengere Abgasbestimmungen galten, war eine besondere Variante mit lediglich 149 kW (202 PS; 200 bhp) vorgesehen. Der hoch getunte V8 Vantage konnte zu keiner Zeit an die amerikanischen Abgasbestimmungen angepasst werden und ließ sich in den USA gar nicht verkaufen. Aston Martin half hier stattdessen mit Cosmetic Vantages aus, Autos, die wie Vantages aussahen, aber den Standardmotor hatten.
Getriebe
Die Standard-Coupés und die Cabriolets haben wahlweise eine Dreistufenautomatik von Chrysler (TorqueFlite) oder ein handgeschaltetes Fünfganggetriebe von ZF, in den Vantage-Modellen hingegen war ausschließlich das manuelle Getriebe erhältlich. Die TorqueFlite war in allen Serien des Standard-Coupés das deutlich häufiger bestellte Getriebe. Sie kostete Aston Martin im Einkauf 150 £ pro Stück, ein Zehntel des Preises eines ZF-Getriebes. In einzelnen Jahren (1979 bis 1985) konnten die Kunden das ZF-Getriebe zum gleichen Preis erhalten wie die Automatik, zumeist war das es aber eine aufpreispflichtige Sonderausstattung. Das Differenzialgetriebe wurde von Salisbury zugeliefert.
Fahrwerk
Das Vorderachsprinzip des V8 mit Einzelradaufhängung entspricht konzeptionell dem der Modelle DB4 bis DBS. Die Vorderachse ist eine Doppelquerlenkerachse mit Schraubenfedern, Teleskopstoßdämpfern und einem Stabilisator. Hinten hat der V8 eine De-Dion-Achse mit Längslenkern, einem Wattgestänge und Schraubenfedern. Die Grundkonzeption blieb während der gesamten Bauzeit gleich, allerdings gab es im Laufe der Jahre einige Verbesserungen. So stellte Aston Martin die laufende Series 3 im Frühjahr 1977 auf vordere und hintere Stoßdämpfer von Koni um. An allen vier Rädern finden sich hydraulisch betätigte Scheibenbremsen.
Die Standard-Coupés
Series 2: Aston Martin V8
Das erste Aston-Martin-Modell, das die Bezeichnung V8 ohne den Zusatz DBS trägt, erschien im April 1972 und blieb bis Juli 1973 im Programm. Die vielfach als Series 2 bezeichnete Baureihe hat den etwa 239 kW (325 PS; 320 bhp) starken V-540-Motor mit einer Benzineinspritzung von Bosch. Diese Baureihe ist an einem breiten, flachen Lufteinlass auf der Motorhaube zu erkennen, dessen Ausmaße mit dem des DBS V8 übereinstimmen. Die Höchstgeschwindigkeit des Series-2-Coupé gab das Werk mit 270 km/h an; die deutsche Fachzeitschrift Auto Motor und Sport maß dagegen lediglich 241,7 km/h. Der Verkaufspreis für den Series 2 lag 1972 bei 8.749 £ inklusive Steuern.
Von der Series 2 entstanden 288 Fahrzeuge. Der Verkauf der Autos in den USA war wegen ihrer hohen Emissionswerte ausgeschlossen.
Series 3: Aston Martin V8
Nach 15-monatiger Bauzeit des Series 2 präsentierte Aston Martin im August 1973 eine neue Entwicklungsstufe des Coupés. Sie wurde ohne weitere Differenzierung wiederum als Aston Martin V8 verkauft; inoffiziell wird sie vielfach als Series 3 bezeichnet. In dieser Baureihe ist der V-540-Motor mit vier Doppelvergasern von Weber ausgestattet. Die Motorleistung der bis 1976 produzierten Modelle wird auf 208 kW (283 PS; 280 bhp) geschätzt; ab 1977 wurde sie auf etwa 224 kW (305 PS; 300 bhp) angehoben.
Äußerlich haben die V8s der Series 3 eine deutlich höhere, geöffnete Lufthutze auf der Motorhaube, am Heck fehlen die Entlüftungsgitter, die bislang unterhalb der Heckscheibe zwischen den beiden Tankklappen positioniert waren. Zudem gab es einige kleinere Änderungen im Innenraum. So ließen sich die Scheibenwischer nun serienmäßig über einen Lenkstockschalter betätigen und nicht mehr über einen mit dem Knie zu drückenden Knopf an der Seitenwand.
Der erste Series-3-V8 wurde im Juni 1973 ausgeliefert. Käufer war der Schah von Persien. Fast eineinhalb Jahre später – im Oktober 1974 – wurde der erste Aston Martin V8 in den Vereinigten Staaten zugelassen. Die Serie 3 blieb fünf Jahre lang im Programm. In dieser Zeit entstanden 967 Fahrzeuge, sodass der Series 3 die am weitesten verbreitete Variante der V8-Familie ist. 1974 kostete ein V8 in Großbritannien 11.349 £, ein Jahr später lag der Kaufpreis bei 12.631 £ und Ende 1977 bereits bei 19.000 £ für ein Coupé mit Automatikgetriebe.
Series 4: Aston Martin V8 Saloon („Oscar India“)
Die vierte Serie wurde im Oktober 1978 auf der Birmingham International Motor Show vorgestellt. Sie wird vielfach als Oscar India bezeichnet, eine aus dem Fliegeralphabet übernommene Umschreibung der Buchstaben O und I, die ihrerseits für October-Introduced stehen. Weil Aston Martin seit 1978 auch eine Cabriolet-Version des V8 im Angebot hatte, bekam das Coupé den Zusatz Saloon.
Die Series 4 unterscheidet sich in erster Linie äußerlich von der vorangegangenen Baureihe. Über dem Motorblock ist in der Haube ein Buckel ohne Lufteinlass statt der Hutze. Der Heckabschluss ist im Vergleich zur Series 3 leicht verlängert und endet mit einer Abrisskante. Vorbild ist das Heck des V8 Vantage. Außerdem wurden serienmäßig Stoßstangenhörner eingeführt. Im Innenraum des V8 Saloon Series 4 übernimmt Aston Martin Gestaltungsmerkmale des einige Monate vorher eingeführten Cabriolets Volante: Das Armaturenbrett ist nun mit Wurzelholz verkleidet, außerdem gibt es eine breitere und höhere Mittelkonsole. Änderungen bei der Antriebstechnik gab es zunächst nicht; sie kamen erst im Laufe des Produktionszyklus zum Tragen. So sind die bis Herbst 1980 produzierten Oscar-India-Coupés mit dem bereits im Series 3 verwendeten V-540-Motor mit Vergasern ausgestattet, dessen Leistung auf 231 kW (314 PS; 310 bhp) geschätzt und vom deutschen TÜV mit 224 kW (304 PS) gemessen wurde. Ab Herbst 1980 gab es dann den technisch in Details veränderten, in der Leistung aber ähnlichen V-580-Motor.
Der Oscar India kostete bei seiner Einführung im Oktober 1978 in Großbritannien 23.000 £, mehr als das Elffache eines Austin Mini. Die Preise stiegen in den nächsten Jahren regelmäßig an. 1979 kostete das Auto bereits 28.748 £, 1980 dann 34.500 £ und 1983 schließlich 39.999 £. Die britische Presse mokierte sich regelmäßig darüber, dass Aston Martin bis in die 1980er-Jahre hinein für einen abschließbaren Tankdeckel einen Aufpreis (1983: 56 £) verlangte. Von der Serie 4 entstanden bis 1985 insgesamt 291 Fahrzeuge.
Series 5: Aston Martin V8 Saloon EFI
Im Januar 1986 führte Aston Martin mit der Series 5 die vierte und letzte Baureihe des V8 ein. Sie hat den Achtzylinder-V-Motor der Generation V 585 mit elektronischer Benzineinspritzung von Weber-Marelli, dessen Leistung mit 227 kW (309 PS; 305 bhp) angegeben wurde. Die veränderte Gemischaufbereitung ermöglichte eine Neugestaltung der Wagenfront: Weil der V 585 keinen Platz mehr für die hoch bauenden Vergaser benötigt, entfällt bei den Coupés dieser Baureihe der Buckel auf der Motorhaube; die Series 5 hat deshalb als einziges Coupé eine annähernd flache Motorhaube. Außerdem sind voluminösere Stoßfänger installiert, und die Bodenfreiheit ist geringfügig höher als bei den früheren Baureihen.
Bei Markteinführung kostete ein Series 5 Saloon in Großbritannien 55.000 £. Bis zur Einstellung der Baureihe im Jahr 1989 produzierte Aston Martin 59 Fahrzeuge dieser Baureihe. nach anderer Quelle 61. Die allermeisten von ihnen haben ein Automatikgetriebe. Die Coupés der Series 5 gehören heute in der Klassikerszene zu den gesuchtesten Modellen der V8-Reihe.
Aston Martin V8 Vantage
Der Aston Martin V8 Vantage ist eine leistungsgesteigerte Version des V8 Coupé, die von Februar 1977 bis 1989 parallel zum V8 verkauft wurde. Er gilt als der erste britische Supersportwagen und wurde mit dem (seinerzeit bereits eingestellten) Ferrari 365 GTB/4 „Daytona“ und dem Lamborghini Countach verglichen. Der V8 Vantage ging konzeptionell auf das Tuningpaket Stage 2 zurück, das Aston Martin Ende 1976 als Option für den V8 Series 3 eingeführt hatte.
Die Motorleistung der Vantages reicht von 279 kW (380 PS, 375 bhp; 1978 bis 1986) bis zu 322 kW (438 PS, 432 bhp; 1986 bis 1989). Alle V8 Vantages sind mit dem handgeschalteten Fünfganggetriebe von ZF ausgestattet. Äußerlich baut der Vantage auf der Karosserie der zeitgenössischen Standard-Coupés auf, hat aber vergrößerte Radkästen, weiter ausgestellte Radläufe und einen in Wagenfarbe lackierten Frontspoiler aus glasfaserverstärktem Kunststoff mit mehreren Lufteinlässen. Zudem ist die Kühleröffnung oberhalb der Stoßstangen mit einer in Wagenfarbe lackierten Abdeckung verschlossen, in die zwei Zusatzscheinwerfer eingelassen sind. Auf dem Kofferraumdeckel befindet sich bei frühen Modellen ein Spoiler, der bei den Fahrzeugen des ersten Produktionsjahrs nachträglich angeschraubt war – daraus leitet sich die inoffizielle Zusatzbezeichnung Bolt-on ab – und 1978 fest in den Heckabschluss integriert war (Fliptail Vantage). Erst bei den ab Oktober 1978 gebauten Autos entspricht die Heckgestaltung des Vantage dem Standard-V8 der Oscar-India-Generation. Die Höchstgeschwindigkeit des Vantage lag bei 265 bis 275 km/h. Von 1977 bis 1989 stellte Aston Martin in drei Serien insgesamt etwa 360 Exemplare des V8 Vantage her. Die Preise des V8 Vantage lagen üblicherweise etwa 5000 £ über denen der Standard-Coupés.
Eine Besonderheit sind die Cosmetic Vantages: Sie sind Mischmodelle, die äußerlich dem in Europa verkauften V8 Vantage entsprechen, aber nicht dessen leistungsstarken Motor haben, sondern die für den US-Markt konzipierte Ausführung des V8-Motors mit 149 kW (202 PS; 200 bhp) oder 194 kW (263 PS; 260 bhp), die dort auch im Standard-V8 Saloon angeboten wurde. Mit ihnen reagierte Aston Martin auf den Umstand, dass die regulären V8 Vantages nicht in den USA verkauft werden durften, weil sie die dortigen Abgasvorschriften nicht erfüllten. Je nach Quelle entstanden 11 oder 13 Cosmetic Vantages; ab 1986 baute Aston Martin auch entsprechend hergerichtete offene Modelle für die USA.
Volante: Die Cabriolets
In den ersten zehn Jahren waren der DBS und sein Nachfolger V8 ab Werk ausschließlich als geschlossene Fahrzeuge erhältlich. Der Spezialist Banham Conversions in Kent baute in den 1970er-Jahren auf individuellen Kundenwunsch einzelne DBS und V8 in Cabriolets um, hatte dabei aber keine Werksunterstützung. Banham behielt bei seinen Cabriolets am Kofferraum die leicht abfallende Linie des V8 Coupé der Serien 2 und 3 bei; unter anderem dadurch unterscheiden sie sich äußerlich von späteren Werkscabriolets, deren Kofferraumoberkante im Profil annähernd waagerecht verläuft.
Acht Jahre nach der Einstellung des offenen DB6 führte Aston Martin im Juni 1978 ein Cabriolet auf V8-Basis ein, das nach dem regulären Fließheckcoupé und dem leistungsgesteigerten Vantage – der Lagonda Series 1 war zwischenzeitlich eingestellt worden – das dritte Modell der V8-Familie war. Seine Entwicklung wurde maßgeblich von Aston Martins Importeur für Nordamerika angestoßen, wo seit 1976 keine Cabriolets mehr produziert wurden, aber im hochpreisigen Segment weiterhin entsprechender Bedarf bestand. Wie der offene DB6, erhielt auch das V8 Cabriolet die Zusatzbezeichnung Volante. In den 1980er-Jahren machte der Volante regelmäßig etwa 30 Prozent der Jahresproduktion bei Aston Martin aus. Bis 1989 baute Aston Martin etwa 900 Volantes; mehr als drei Viertel davon wurden exportiert. Wie bei den geschlossenen V8-Modellen, gab es auch beim Volante neben der Standardversion einige von ihr abgeleitete Sonderausführungen.
Konstruktion
Die Entwicklung des offenen V8 begann 1976. Verantwortlicher Konstrukteur war Harold Beach, der auch die Linienführung der Karosserie gestaltete. Stilistisch entspricht der Volante von der vorderen Stoßstange bis zu den Türen der geschlossenen Version. Die Karosserielinie verläuft am Heck annähernd waagerecht, und der Kofferraumabschluss ist höher ist als bei den Coupés der Serien 2 und 3. Die Heckgestaltung des Volante wurde ab Oktober 1978 auf die Coupés übertragen. Sie kennzeichnet die Oscar-India-Serie sowie die Series 5. Das Verdeck des Volante liegt in zusammengefaltetem Zustand zum größten Teil unterhalb der Gürtellinie, verschwindet aber nicht vollständig. Bei geschlossenem Verdeck entsteht eine Stufenheckkarosserie. Das Verdeck entwarf George Mosely, der bereits das Faltdach des Rolls-Royce Corniche Convertible gestaltet hatte, die Konstruktion übernahm der Fachbetrieb CHI. Die Außenhaut des Verdecks besteht aus dem Kunststoff Everflex. Der Verdeckmechanismus wird serienmäßig elektrisch-hydraulisch betrieben. Die notwendigen Versteifungen der Karosserie entwickelte Aston Martin zusammen mit dem Karosseriebauunternehmen Woodall Nicholson aus Halifax. Dazu gehörte die Installation eines hinteren Hilfsrahmens, dessen Form nach anhaltenden Gerüchten von einer Gartenpforte inspiriert war. Das Gewicht des Volante war ungeachtet der Verstärkungen nicht höher als das des geschlossenen Zweitürers.
V8 Volante
Die Basisversion der offenen Aston Martin V8s ist der im Juni 1978 eingeführte V8 Volante. Er nahm die stilistischen Änderungen vorweg, die vier Monate später auch die vierte Serie des geschlossenen V8 (Oscar India) erhielt. Dazu gehören die komplett geschlossene Motorhaube, die auf eine Lufteinlassöffnung verzichtet, sowie ein mit Wurzelholz verkleidetes Armaturenbrett. Die regulären Volantes wurden in zwei Serien gefertigt.
Die erste Serie des Volante war von 1978 bis 1985 im Programm. Ihre Bauzeit entsprach nahezu vollständig der der vierten Serie (Oscar India) des Standard-V8. Mit ihm teilt sich der Volante auch die Motorisierung. Die technischen Verbesserungen, die beim Series 4 Saloon im Laufe der Jahre eingeführt wurden, erhielt jeweils zeitgleich auch der Volante. Nahezu alle Volantes sind mit dem Automatikgetriebe ausgerüstet. Das erste handgeschaltete Cabriolet entstand erst 1983. Das Werk gab die Höchstgeschwindigkeit des Volante Series 1 mit 130 mph (ca. 210 km/h) an, einige Aston-Martin-Fahrer hielten allerdings 140 mph (225 km/h), 145 mph (233 km/h) oder gar 150 mph (241 km/h) für erreichbar. Bei seiner Markteinführung 1978 kostete der Volante Series 1 mit 33.864 £ annähernd 10.000 £ mehr als der V8 Saloon und 8.000 £ mehr als ein V8 Vantage. Zu dieser Zeit konnten britische Kunden einen Volante zwar bestellen; weil aber die ersten 80 Exemplare dem US-amerikanischen Importeur vorbehalten waren, wurden die ersten britischen Autos erst im Sommer 1980 ausgeliefert. Von der Serie 1 des Volante entstanden 439 Autos.
1985 erschien der Volante Series 2. Er entspricht technisch und optisch dem V8 EFI Series 5, hat also ebenfalls einen Einspritzmotor V 585 und eine flache Motorhaube. 1988 kostete der V8 Volante 89.900 £. Vom Volante Series 2 baute Aston Martin 216 Fahrzeuge.
V8 Vantage Volante
Eine Verbindung des V8 Volante mit dem besonders leistungsstarken Vantage-Motor sah das Werk zunächst nicht vor. Ungeachtet dessen rüstete Aston Martins Works Service im Auftrag einzelner Kunden – unter ihnen der Sultan von Brunei – seit den späten 1970er-Jahren einige V8 Volantes nachträglich mit Vantage-Motoren aus. Die Rede ist von sechs derart modifizierten Autos.
Ab Oktober 1986 gab es Kombination aus Cabriolet und starkem Vantage-Motor auch ab Werk. Das als V8 Vantage Volante verkaufte Modell entspricht technisch dem Vantage der dritten Serie (V580X X-Pack), hat also den 308 kW (419 PS; 410 bhp) starken Vergasermotor. Mit ihm erreichte der Vantage Volante eine Höchstgeschwindigkeit von 270 km/h und wurde zum schnellsten in Serie gefertigten Cabriolet der Welt. Äußerlich hebt sich der Vantage Volante durch auffällige Spoiler, Kotflügelverbreiterungen und Seitenschweller vom Standard-Volante ab. Die Abrisskante am Heck ähnelt der der Fliptail-Modelle der frühen V8-Vantage-Coupés. Das Design des Vantage Volante wurde vielfach als „geschmacklos“ kritisiert: Durch die Anbauten werde der V8 Volante zur „Karikatur eines Sportwagens“. Von Oktober 1986 bis in den Spätsommer 1989 entstanden 109 Vantage Volantes. Sie waren mit Preisen von 93.500 £ (1986) bis 135.000 £ (1989) jeweils die teuersten Modelle im Aston-Martin-Programm. Damit waren sie 25.000 £ teurer als ein geschlossener V8 Vantage und 15.000 £ teurer als ein regulärer V8 Volante. Für die USA entstanden außerdem 58 Autos, die äußerlich den Vantage Volantes entsprechen, unter der Motorhaube aber den abgasgereinigten – und in den USA zugelassenen – Standardmotor der Generation V 585 haben. Sie werden analog zu den entsprechend hergerichteten geschlossenen Modellen als Cosmetic Vantage Volantes bezeichnet.
V8 Vantage Volante Prince of Wales und Ecurie Ecosse
Eine besondere Ausführung des V8 Vantage Volante geht auf Prinz Charles, den Prince of Wales, zurück. Für ihn baute Aston Martin 1987 ein Cabriolet, das die Antriebstechnik des V8 Vantage Volante mit der schlichten Karosserie des regulären V8 Volante verband. Lediglich die Radläufe waren weiter ausgestellt als beim regulären V8 Volante. Diese Ausführung wird inoffiziell als V8 Vantage Volante Prince of Wales (oder PoW) bezeichnet. Nachdem das erste Exemplar an Prinz Charles ausgeliefert worden war, entschied sich Aston Martin zur Auflage einer Kleinserie nach dieser Konfiguration. Insgesamt entstanden 22 Prince-of-Wales-Volantes; eines davon hatte ein Automatikgetriebe. Sie sind heute begehrte Sammlerstücke, die 30 Jahre nach der Produktionseinstellung Verkaufspreise von bis zu 1 Mio £ erreichen.
Eng mit den Prince-of-Wales-Cabriolets verwandt sind drei Fahrzeuge, die als Vantage Volante Ecurie Ecosse bezeichnet werden. Sie entsprechen technisch und stilistisch weitgehend den PoW-Modellen, haben abweichend davon aber den auffallenden integrierten X-Pack-Heckspoiler der serienmäßigen V8 Vantage Volante. Auftraggeber dieser Sonderserie waren die Inhaber des in Edinburgh ansässigen schottischen Rennstalls Ecurie Ecosse.
Verwandte Modelle
Auf der Grundlage des Aston Martin V8 entstanden einige Ableitungen und Sondermodelle:
Aston Martin Lagonda
Von 1976 bis 1990 baute Aston Martin zwei Serien viertüriger Limousinen mit V8-Technik, die als Aston Martin Lagonda auf den Markt kamen. Für diese Modellbezeichnung griff Aston Martin erneut auf den Namen Lagonda zurück, der ursprünglich zu einem selbständigen britischen Automobilhersteller gehört hatte und der nach dessen Übernahme durch David Brown 1947 bereits mehrfach für viertürige Fahrzeuge des Konzerns verwendet worden war.
Der Aston Martin Lagonda der ersten Serie (werksintern: MP 230; teilweise als Aston Martin Lagonda Series 1 oder als The 4-Door-V8 bezeichnet) ist eine viertürige Version des V8 mit Fließheckkarosserie, die auf der verlängerten Bodengruppe des V8 aufbaut und abgesehen von der Fahrgastzelle einen an den V8 angelehnten Aufbau hat. Sein Prototyp von 1969 war noch eine Ableitung des Aston Martin DBS V8. Dieses Auto ging an David Brown, der es als Privatfahrzeug nutzte, ohne dass es zur Serienreife weiterentwickelt wurde. Nach der Übernahme durch Company Developments gab das neue Management den Weg frei für eine Serienproduktion der Limousine, die 1974 begann. Die Serienversion basiert auf dem V8 Coupé Series 3, hat dessen Antriebstechnik und auch dessen Frontpartie. Bis 1976 entstanden sieben Lagonda-Limousinen, die zu einem Stückpreis von 14.040 £ verkauft wurden.
Nach der Restrukturierung Aston Martins Ende 1975 veranlasste das neue Management die Entwicklung einer neuen Aston-Martin-Limousine, die sich optisch vom bekannten V8 abheben und als „Hingucker“ die Leistungsfähigkeit von Aston Martin Lagonda (1975) Ltd. belegen sollte. Mit dieser Vorgabe entstand eine viertürige Stufenhecklimousine mit der Antriebstechnik des V8 Oscar India, einer keilförmigen Karosserie nach einem innerhalb eines Monats erarbeiteten Entwurf von William Towns und einer Aufsehen erregenden, im Praxisbetrieb aber defektanfälligen digitalen Instrumentierung. Der Wagen gilt als das fortschrittlichste Serienfahrzeug seiner Zeit. Die Serienproduktion dieser Limousine begann 1979. Bis 1989 wurden 645 Autos in drei Baureihen hergestellt, deren erste als Series 2 bezeichnet wird.
Aston Martin V8 Vantage Zagato
Mit einer auf dem Genfer Auto-Salon 1984 geschlossenen Kooperationsvereinbarung ließ Aston Martin die lange Tradition von Sondermodellen mit italienischen Zagato-Karosserien, zu denen insbesondere der DB4 GT Zagato von 1959 gehörte, wieder aufleben. Ziel war es, ein straßentaugliches Coupé zu schaffen, das die Höchstgeschwindigkeit von 300 km/h erreichte und unter anderem gegen den Ferrari 288 GTO und den Porsche 959 antreten sollte. Das Auto kam im März 1986 als Aston Martin V8 Zagato (alternativ: Aston Martin V8 Vantage Zagato) auf den Markt und wurde 50 Mal gebaut. Ein Jahr später folgte die Cabrioletversion mit der Zusatzbezeichnung Volante, die Klappscheinwerfer hat. Von ihr entstanden 37 Fahrzeuge. Beide Versionen des V8 Vantage Zagato gelten mittlerweile – mehr als 30 Jahre nach ihrer Präsentation – als Spekulationsobjekte.
Die Aluminiumkarosserien beider Versionen wurde im Laufe des Jahres 1985 bei Zagato in Terrazzano di Rho entwickelt und von Giuseppe Mittino im Detail gestaltet. Das Design des Stufenheckcoupés greift die Linien des 1983 bei Bertone entworfenen Alfa-Romeo-Show-Cars Delfino auf, hat aber einige markenspezifische Besonderheiten, darunter eine Kühleröffnung im traditionellen Aston-Martin-Stil und die Double Bubbles genannten, für Zagato typischen Ausbuchtungen im Dach. Als Antrieb dient im Coupé der Achtzylindermotor des V8 Vantage in der höchsten Tuningstufe (X-Pack-Version), die 322 kW (438 PS, 432 bhp) leistet. Die vier Doppelvergaser dieser Motorversion machen eine hohe Ausbuchtung der Motorhaube nötig, die die Aerodynamik nachteilig beeinflusst. Mit ihm erreicht das Coupé eine Höchstgeschwindigkeit von 299 km/h. Die Volante-Version wird dagegen serienmäßig von dem 224 kW (305 PS) starken Einspritzmotor des V8 Series 5 (V 585) angetrieben. Allerdings erhielten einzelne Cabriolets nach der Auslieferung einen Vantage-Motor (580X) oder einen noch größeren, von R.S. Williams getunten Motor. Durch nachträgliche, von Kunden veranlasste Modifikationen, die sich teilweise auch Karosserieelemente erstrecken, existieren mittlerweile diverse Mischformen.
Aston Martin Bulldog
Auf der Technik des V8 basiert schließlich auch der Aston Martin Bulldog, ein keilförmig gestaltetes Mittelmotor-Coupé mit Flügeltüren, das 1980 vorgestellt und als Einzelstück hergestellt wurde. Die Initiative zu diesem Wagen ging von einem arabischen Kunden aus, der sich allerdings vor Abschluss der Entwicklungsarbeiten zurückzog. Konstrukteure waren Mike Loasby und Keith Martin. Die Karosserie folgt einem Entwurf von William Towns, der hier sein bereits beim Lagonda S2 gezeigtes Konzept großer glatter Flächen und deutlich ausgeprägter Winkel intensivierte. Der Bulldog hat einen eigenständigen Zentralrohrrahmen. Als Antrieb dient der aus dem V8 bekannte Achtzylinder-V-Motor mit 5,3 Litern Hubraum, der hier mit einer mechanischen Benzineinspritzung von Bosch und mit zwei Abgasturboladern von Garrett ausgestattet ist. Die Konstruktion ist die Weiterentwicklung der bereits 1972 in den USA entstandenen Idee, den Aston-Martin-Motor aufzuladen. Die Leistung des Bulldog-Motors übertraf die des V8 Vantage nach Werksangaben um 60 Prozent. Genaue Daten gab das Werk nicht bekannt; Schätzungen reichen von 440 kW (598 PS; 590 bhp) über 485 kW (660 PS; 650 bhp) bis hin zu 515 kW (700 PS; 690 bhp). Auch wenn der Bulldog primär ein Show Car sein sollte, ist er voll fahrtauglich. Der Bulldog wurde 1982 an einen Kunden im Nahen Osten verkauft, später stand das Auto einige Jahre in den USA.
Produktion
Aston Martins Werksanlagen befanden sich seit den späten 1950er-Jahren in Newport Pagnell, wo der Betrieb die Hallen des Karosserieherstellers Tickford nutzte, der 1954 von David Brown aufgekauft worden war. Anfänglich war der Produktionsprozess des Aston Martin V8 auf mehrere Standorte aufgeteilt. Seit dem DB4 hatte Aston Martin die Chassis seiner Sportwagen in David Browns Traktorwerk in Meltham Mills im mittelenglischen Huddersfield herstellen lassen, von wo aus sie zur Komplettierung nach Newport Pagnell gebracht wurden. So verfuhr Aston Martin zunächst auch noch beim V8, obwohl das Unternehmen nicht mehr zum David-Brown-Konzern gehörte: Die ersten 153 Chassis des V8, die von April bis Dezember 1972 gebaut wurden, kamen noch aus Huddersfield. Erst ab Januar 1973 verlagerte sich die Produktion des V8 einschließlich der Chassis vollständig zu Aston Martin nach Newport Pagnell.
Insgesamt entstanden von 1972 bis 1989, alle Baureihen zusammen genommen, etwa 1.600 Standard-Coupés, 314 Vantages, 615 Volantes und 109 Vantage Volantes. Hinzu kamen einige Sondermodelle, die jeweils zweistellige Stückzahlen erreichten. Die Produktion verteilt sich wie folgt:
Werksunabhängige Leistungssteigerungen
Der amerikanische Aston-Martin-Importeur Rex Woodgate versuchte in den frühen 1970er-Jahren in Eigeninitiative, den Achtzylindermotor mit einer Turboaufladung zu versehen. In seinem Auftrag ersetzte der Techniker A.K. Miller aus Montclair, New Jersey, die Einspritzanlage durch einen Einfachvergaser aus einem GMC-Truck und installierte einen Turbolader. Woodgate ließ den Motor in Newport Pagnell testen; Aston Martin verfolgte das Projekt allerdings aus finanziellen Gründen nicht weiter. Das Projekt führte allerdings mittelbar zu dem Show Car Aston Martin Bulldog, das 1980 vorgestellt wurde und einen mit zwei Turboladern ausgerüsteten Achtzylindermotor hatte. Einen ähnlichen Weg ging auch Robin Hamilton für eine Rennsportversion des Aston Martin V8.
In den 1980er-Jahren entwickelte der englische Aston-Martin-Händler R.S. Williams Ltd. in Cobham, Surrey eine auf 6,3 Liter Hubraum vergrößerte Version des V8-Motors, die etwa 373 kW (507 PS; 500 bhp) leistet. Bis 1989 rüstete R.S. Williams im Kundenauftrag 24 Autos auf diese Motoren um. Danach kaufte Aston Martin den Betrieb und übernahm auch die Rechte an dem 6,3-Liter-Motor, der danach über den Works Service angeboten wurde. Richard Williams gründete 1990 ein Nachfolgeunternehmen gleichen Namens, das in der Folgezeit eine 7,0-Liter-Version von Aston Martins Achtzylindermotor auf den Markt brachte. Sie war in unterschiedlichen Leistungsversionen erhältlich; die stärkste von ihnen kommt auf 390 kW (530 PS; 523 bhp). Das 7,0-Liter-Upgrade kostete im Jahr 2008 etwa 27.000 £. Eine Reihe von Eigentümern klassischer V8s ließen ihre Autos nachträglich auf den 7,0-Liter-Motor umrüsten. Das gilt etwa für einen der sieben Aston Martin Lagonda Series 1 und für den V8 Vantage des Künstlers Elton John; auch einzelne V8 Vantage Zagato Volante wurden bei R.S. Williams überarbeitet.
Motorsport
Aston Martin engagierte sich mit dem V8 nicht im Motorsport. Das hohe Gewicht und die geringe Belastbarkeit des serienmäßig eingebauten Salisbury-Differenzials schränkten seine Wettbewerbstauglichkeit dem Grunde nach ein. Gleichwohl erschienen in den 1970er-Jahren einige V8 bei britischen und vereinzelt auch bei internationalen Motorsportveranstaltungen. Diese Einsätze wurden von privaten Eigentümern organisiert, die dafür die Technik und die Karosserien ihrer Autos in unterschiedlichem Maße eigenverantwortlich modifizierten. Zu ihnen gehörten Dave Ellis, der angeblich für jedes Rennen ein neues Differenzial benötigte, und Ray Taft.
Das am stärksten für Motorsportzwecke weiterentwickelte Auto ist das Coupé des britischen Aston-Martin-Händlers Robin Hamilton. das später als Aston Martin RHAM/1 bekannt wurde. Der Wagen baut auf dem 1969 komplettierten Chassis eines DBS V8 auf, das im Laufe der Jahre viele Komponenten des V8 erhielt, unter anderem eine Vergaseranlage von Weber und eine an den V8 angelehnte Frontpartie. Die starken Änderungen führten dazu, dass der Wagen anstelle der ursprünglichen Fahrgestellnummer DBSV8/10038/RC eine neue erhielt, wobei Hamilton sich für RHAM/1 (Robin Hamilton Aston Martin 1) entschied. Die Fahrgestellnummer wurde im Laufe der Zeit zum Synonym für das Auto. Mit ihm nahm Hamilton zusammen mit den Fahrern David Preece und Mike Salmon in der GTP-Klasse am 24-Stunden-Rennen von Le Mans 1977 teil. Sie beendeten das Rennen nach 260 Runden auf dem 17. Gesamtplatz und auf Rang 3 der GTP-Wertung. Nachdem der RHAM/1 mit einer Benzineinspritzung und zwei Garrett-Turboladern ausgestattet und auf eine Motorleistung von 480 kW (652 PS; 650 bhp) gebracht worden war, ging er 1979 erneut in Le Mans an den Start; hier fiel er aber in der 22. Runde nach einem Technikdefekt aus.
1982 erschien der Motor des Aston Martin V8 in einer von Tickford weiterentwickelten Version in dem Langstreckensportwagen Nimrod NRA/C2, dessen Chassis von Lola kam.
Der Aston Martin V8 im Film
Verschiedene Ausführungen des Aston Martin V8 kamen seit 1972 in Spielfilmen und Fernsehproduktionen als Requisiten zum Einsatz. Am bekanntesten sind zwei Filme aus der James-Bond-Reihe, die 1987 und 2021 in die Kinos kamen.
18 Jahre nachdem der Aston Martin DBS in dem Spielfilm James Bond 007 – Im Geheimdienst Ihrer Majestät (1969) für George Lazenby als Bond Car gedient hatte, erhielt mit dem V8 in James Bond 007 – Der Hauch des Todes 1987 erstmals wieder ein Aston Martin eine zentrale Rolle in einem Bond-Film. Das Drehbuch suggeriert, dass der hier von Timothy Dalton gespielte Agent durchgängig nur einen einzigen V8 fährt, der im Laufe des Geschehens von der Technikabteilung des Geheimdienstes („Q“) tiefgreifend verändert wird. Zu Beginn des Films wird ein in Cumberland Grey lackierter V8 Volante gezeigt, der einen Vantage-Schriftzug trägt. Später macht „Q“ das Auto angeblich „wintertauglich“. In einer Szene ist der Versuch zu sehen, die Dachpartie eines Saloon auf den offenen Volante zu setzen. Im weiteren Verlauf des Films wird dann nur noch der geschlossene V8 gezeigt. Sowohl der offene als auch der geschlossene V8 haben das Kennzeichen B 549 WUU. Tatsächlich wurden bei der Produktion mehrere unterschiedliche Fahrzeuge verwendet. Der im Film gezeigte Volante ist ein Vorserienmodell von 1978, das einige Jahre lang als Privatfahrzeug des Aston-Martin-Inhabers Victor Gauntlett gedient hatte. Dieses Auto hatte tatsächlich keine technischen Komponenten des Vantage. Der geschlossene V8 späterer Szenen ist in Wirklichkeit kein umgebauter Volante. Stattdessen kamen zwei gebrauchte V8 Standard-Saloons der Oscar-India-Reihe zum Einsatz, die den Eindruck von Vantage-Modellen machten, tatsächlich aber ebenfalls keine Vantage-Elemente enthielten. Eines der Autos war mit besonderen Gadgets wie Raketenwerfern, ausfahrbaren seitlichen Gleitbrettern, einem Head-Up-Display und einem Selbstzerstörungssystem ausgestattet.
In dem 2021 erschienenen Film James Bond 007: Keine Zeit zu sterben, der eine Vielzahl von Reminiszenzen an frühere Bond-Verfilmungen enthält, nutzt Daniel Craig als 007 neben anderen klassischen Bond-Autos auch einen Aston Martin V8 Saloon mit dem Kennzeichen B 549 WUU, der an den Wagen aus Im Hauch des Todes erinnert. Bei der Produktion wurden drei Fahrzeuge verwendet, die äußerlich so hergerichtet wurden, dass sie gleich aussehen: ein Series 3 Coupé mit Automatikgetriebe, ein Series-4-Saloon mit Automatik und ein V8 Vantage der zweiten Serie.
Technische Daten und Messwerte
Technische Daten
Messwerte: Fahrleistungen und Benzinverbrauch
Die nachstehend aufgeführten Fahrleistungen wurden von britischen Fachzeitschriften durch Messungen bei Testfahrten ermittelt.
Literatur
Paul Chudecki: Aston Martin And Lagonda, Vol. 2: V8 Models from 1970, Motor Racing Publications, 1990, ISBN 0-947981-41-1
David Dowsey: Aston Martin. Power, Beauty And Soul, The Image Publishing Group, 2010, ISBN 978-1-86470-424-2
Dieter Günther: Das fliegende Herrenzimmer: Aston Martin DBS, V8, Vantage und Volante, in: Oldtimer Markt 5/2004, S. 187 ff.
Chris Harvey: Aston Martin and Lagonda, The Oxford Illustrated Press, 1979, ISBN 0-902280-68-6
F. Wilson McComb: Aston Martin V8s, Osprey Publishing, London 1981, ISBN 0-85045-399-2
N.N.: Buying an Aston Martin DBS and V8: Kaufberatung in Thoroughbred & Classic Cars, Dezember 2002, S. 128 ff. (englisch)
Andrew Noakes: Faszination Aston Martin. Parragon, Bath 2006, ISBN 978-1-4054-7900-4.
William Presland: Aston Martin V8. Crowood Press 2009. ISBN 978-1-84797-066-4
Rainer Schlegelmilch, Hartmut Lehbrink: Englische Sportwagen. Könemann, Köln 2001. ISBN 3-8290-7449-2.
Rainer Schlegelmilch, Hartmut Lehbrink, Jochen von Osterroth: Aston Martin. Verlag Könemann 2005. ISBN 3-8331-1058-9.
Jonathan Wood: Aston Martin DB4, DB5 and DB6: The Complete Story, The Crowood Press Ltd (3. August 2000), ISBN 978-1-86126-330-8
Andrew Whyte: The Aston Martin and Lagonda. Volume 1: Six-cylinder DB models. Motor Racing Publications, London 1984, ISBN 0-900549-83-1.
Weblinks
Die Aston-Martin-V8-Baureihe auf astonmartins.com
Anmerkungen
Einzelnachweise
Folgende Werke werden in den nachstehenden Einzelnachweisen abgekürzt zitiert:
V08 1972
Coupé
Cabriolet
James Bond |
4748711 | https://de.wikipedia.org/wiki/Expedition%20von%20Burke%20und%20Wills | Expedition von Burke und Wills | Die Expedition von Burke und Wills (ursprünglich Victorian Exploring Expedition, ) war eine in den Jahren 1860 und 1861 im Auftrag der Regierung Victorias durchgeführte Expedition, bei der Australien westlich des 143. Längengrades von Süden nach Norden durchquert wurde. Sie führte von der Stadt Melbourne zum etwa 3250 Kilometer entfernten Golf von Carpentaria und stand unter der Leitung von Robert O’Hara Burke und William John Wills. Sieben Teilnehmer starben während der Expedition, Burke und Wills kamen auf der Rückreise ums Leben. Nur John King schloss die gesamte Expedition ab und kehrte nach Melbourne zurück.
Die Expedition war die am besten ausgerüstete Expedition der Geschichte Australiens und fand viel Beachtung, aber sie scheiterte aufgrund einer Verkettung unglücklicher Umstände und auch aufgrund der schlechten Führungsqualitäten Burkes. Der unerfahrene Leiter entließ unterwegs zahlreiche qualifizierte Teilnehmer und konnte mit den mitgeführten Kamelen nicht umgehen. Des Weiteren waren die Wagen und Tiere zu schwer beladen; es wurden mehrfach Ausrüstungsgegenstände und Vorräte zurückgelassen. Wegen der Konkurrenz zu John McDouall Stuart, der gleichzeitig eine Expedition mit demselben Ziel von Adelaide aus führte, trieb Burke zur Eile und ließ keine Zeit für die wissenschaftlichen Arbeiten, die bei einer Expedition im Vordergrund stehen sollten. Deshalb trug die Expedition selbst so gut wie keine neuen Erkenntnisse zur Beschaffenheit des australischen Hinterlandes bei. Eine bedeutendere Rolle zur Erforschung spielten aber die Suchtrupps, die aus den verschiedenen Landesteilen zur Rettung von Burke und Wills ausgesendet wurden.
Nach ihrem Tod wurden Burke und Wills trotz ihres Scheiterns zu Helden stilisiert. So wurde ihnen ein Staatsbegräbnis in Melbourne gewährt und Denkmäler gewidmet. Als aber nach und nach die Hintergründe ihres Todes bekannt wurden, ließ die Begeisterung nach.
Vorgeschichte
Die Expedition von Burke und Wills steht am Ende einer Reihe von Expeditionen zur Erforschung des australischen Hinterlandes seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Auf der Suche nach fruchtbaren Landschaften und Weidegebieten für die Schafherden vergrößerten Forscher nach und nach das Wissen über das Australien jenseits der Blue Mountains. Die ersten Expeditionen wie die von John Oxley im Jahre 1818 erkundeten das Murray-Darling-Flusssystem, wussten aber nicht, dass es sich um ein System handelte, und konnten daher die Frage, wohin all die Flüsse fließen, nicht klären. So kamen verschiedene Erklärungen in Frage: Möglich war ein Binnenmeer, das von den Flüssen aus der Great Dividing Range genährt würde. Auch Oxleys Schlussfolgerung, das Hinterland sei ein unpassierbares Moor, war plausibel, nachdem jeder seiner Versuche, den Flüssen zu folgen, im Sumpf endete. Erst Charles Sturt konnte 1828 mit der Entdeckung des Darling und 1828–1830 mit der Entdeckung des Flusssystems die Frage nach der Mündung der Flüsse weitgehend klären, allerdings folgte er dem Murray (dessen Zufluss der Darling ist) nur bis zum Lake Alexandria und fand deshalb nicht heraus, dass der Murray ins Meer entwässert. Gippsland, das Gebiet um das heutige Melbourne, wurde 1836 und 1839 von Thomas Livingstone Mitchell und Angus McMillan erkundet. Auch in das heutige Queensland wurden ab Mitte der 1840er Jahre Vorstöße gewagt.
In Victoria war das öffentliche Interesse an einer Expedition gering. Nachdem dort 1851 Gold entdeckt worden war, zog ein Goldrausch verstärkt Einwanderer ins Land. Die Kolonie Victoria wurde sehr wohlhabend und Melbourne wuchs rasch zur größten Stadt Australiens an. Der Aufschwung dauerte 40 Jahre und führte in das als „marvellous Melbourne“ (etwa: „wunderbares Melbourne“) genannte Zeitalter. Der Zustrom gebildeter Einwanderer aus England, Irland und Deutschland führte zum Bau zahlreicher Schulen, Kirchen, Gelehrtengesellschaften, Bibliotheken und Kunstausstellungen.
Infolgedessen wurde die Ausrüstung der Expedition vor allem eine politische Entscheidung: Das reiche Melbourne wollte damit seinen Willen demonstrieren, in Zukunft eine Führungsrolle beim Aufbau des australischen Staates zu spielen. Angetrieben wurden diese Bestrebungen von den einflussreichen Herren William Stawell und Ferdinand von Mueller, die sich im 1854 gegründeten Philosophical Institute of Victoria (seit 1859 Royal Society of Victoria) dafür einsetzten. 1857 rief das Philosophical Institute eine Erkundungskommission ins Leben, die sich mit der Machbarkeit einer Expedition ins Landesinnere beschäftigen sollte. Ursprünglich war es das Ziel, den Kontinent in Ost-West-Richtung zu durchqueren. Der Plan wurde aber in eine Süd-Nord-Durchquerung geändert, nachdem Augustus Gregory, ein Erforscher Nordaustraliens, das Vorhaben als aussichtslos erachtete. Burke und Wills standen dabei in Konkurrenz mit John McDouall Stuart, der im Auftrag der Regierung von South Australia den Kontinent durchqueren sollte. Für die Bevölkerung von Adelaide war die Erforschung des Kontinents von großer Bedeutung, da man auf die Erschließung fruchtbaren Weidelandes angewiesen war.
Vorbereitungen
Erkundungskomitee
Das Erkundungskomitee hatte zunächst wegen des geringen öffentlichen Interesses in Victoria Schwierigkeiten, an Geld zu kommen. Erst 1860 war genug Geld vorhanden, um die Expedition zusammenstellen zu können.
Das Erkundungskomitee schrieb die Leitung der Victorian Exploring Expedition öffentlich aus. Nur zwei Mitglieder des Komitees, Ferdinand von Mueller und Wilhelm Blandowski, hatten überhaupt Erfahrung mit solchen Erkundungsunternehmen. Sie wurden jedoch stets überstimmt, weil sich innerhalb des Komitees Fraktionen gebildet hatten. Mehrere Personen wurden für den Führungsposten in Betracht gezogen. Robert O’Hara Burke wurde nach einer Abstimmung vom Komitee als Leiter, George Landells als Stellvertreter und William John Wills als Landvermesser, Navigator und zweiter Stellvertreter empfohlen. Burke hatte zwar keinerlei Erfahrung mit Expeditionen dieser Art; offenbar überschätzte ihn das Komitee wegen seines selbstsicheren Auftretens. Der gebürtige Ire Burke war ehemaliger Offizier in der österreichischen Armee und später Kriminalrat der Polizei. Er hatte praktisch keine Fähigkeiten in der Überlebenskunst. Wills konnte in der Wildnis eher zurechtkommen. Es war Burkes Führung, die als Hauptgrund für das Scheitern anzusehen ist.
Teilnehmer der Expedition
Insgesamt nahmen 29 Personen an der Expedition teil. Die ursprünglich neunzehnköpfige Mannschaft bestand aus fünf Engländern, sechs Iren, vier indischen Sepoys, drei Deutschen und einem Amerikaner. Von den 29 waren sechs Offiziere in Leitungsfunktion, 19 Assistenten und vier Sepoys zur Betreuung der Kamele. Die folgende Tabelle enthält nur Teilnehmer, die nicht entlassen wurden, und die Leiter:
13 Männer wurden unterwegs entlassen und sind daher nicht in obiger Liste aufgeführt. Owen Cowen und Henry Creber wurden in Melbourne bereits am Tag der Abreise bzw. am Tag vor der Abreise wegen Trunkenheit entlassen und ein dritter, Robert Fletcher, wegen „Inkompetenz“, da er Creber verteidigt hatte. Sie wurden durch James McIlwaine, Jame Lane und Brooks ersetzt, die jedoch wenige Wochen später in Swan Hill bzw. Balranald zusammen mit Charles Ferguson, Patrick Langan und John Polongeaux (Letzterer war am 26. August 1860 in Mia angeheuert worden) ebenfalls rausgeworfen wurden. Ein weiteres Mitglied der ursprünglichen Mannschaft, John Drakeford, wurde schließlich am 14. Oktober 1860 in Menindee entlassen.
Drei weitere Personen verließen noch die Expedition: Robert Bowman trat am 18. September 1860 aus, 14 Tage nach seiner Anwerbung. Von den vier indischen Sepoys schieden zwei vorzeitig aus: Samla durfte als Hindu aus religiösen Gründen die Nahrungsrationen nicht essen und trat deshalb am 22. August 1860 aus. Esau Khan musste zwischen dem 6. und 10. September wegen einer Erkrankung aufgeben.
Ausrüstung
Die Expedition war sehr umfangreich ausgerüstet, insgesamt dürfte die Ausrüstung gut 20 Tonnen gewogen haben und hat fast 5000 Pfund gekostet, die Gesamtkosten der Expedition betrugen 12.000 Pfund und wurden zur Hälfte von der Regierung getragen. Sie war mit Lebensmitteln für zwei Jahre ausgestattet, dazu zur Skorbutabwehr Zitronensaft für die Männer und rund 270 Liter Rum für die Kamele. Landells wollte mit dem Rum müde und geschwächte Kamele stärken, einer anderen Quelle zufolge sollte er vor Skorbut schützen.
Statt Vieh zum Schlachten während der Reise mitzuführen, entschied das Komitee, lieber Trockenfleisch zu verwenden. Das zusätzliche Gewicht erforderte drei zusätzliche Wagen, die die Expedition erheblich verlangsamten.
Des Weiteren waren auch einige Waffen und Munition im Gepäck, aber auch Gegenstände wie ein Tisch, Raketen und ein chinesischer Gong. Zum Transport dieser Menge waren 23 Pferde, sechs Wagen und 26 Dromedare vorgesehen.
Das Komiteemitglied Francis Cadell bot an, die Versorgungsgüter per Schiff nach Adelaide und dann über den Murray River und den Darling River ins Landesinnere zu bringen, wo man sie unterwegs hätte abholen können. Aber weil Cadell sich der Ernennung Burkes als Expeditionsleiter widersetzt hatte, wies Burke dessen Angebot ab. Stattdessen wurde alles auf Wagen geladen, von denen drei schon nach kurzer Zeit unter ihrer Last zusammenbrachen.
Kamele
Kamele wurden in anderen Weltgegenden bereits erfolgreich bei der Erforschung von Wüsten eingesetzt. Bis 1859 waren jedoch lediglich sieben Kamele nach Australien importiert worden.
Die Regierung von Victoria wies George James Landells an, in Indien 24 Dromedare zu erwerben. Die Kamele erreichten Melbourne im Juni 1860. Das Komitee kaufte sechs weitere Tiere von George Coppins Cremorne Gardens. Die Kamele wurden anfänglich in den Ställen am Parlamentsgebäude in Melbourne untergebracht. Später verlegte man sie in den Royal Park. 26 Kamele wurden in die Expedition aufgenommen. Zwei Kamelstuten mit ihren beiden Fohlen und zwei Hengste blieben im Royal Park.
Verlauf der Expedition
Abreise
Die Expedition begann am 20. August 1860 um ungefähr 16 Uhr unter den Augen von rund 15.000 Zuschauern im Royal Park Melbourne.
Heftige Regenfälle und schlechte Straßen erschwerten die Weiterreise durch Victoria und machte sie kraftraubend. Die Gruppe erreichte am 23. August Lancefield, wo sie ihr viertes Lager aufschlug. Dies bedeutet, dass die Expedition innerhalb von drei Tagen 92 Kilometer zurücklegte. Die erste größere Pause wurde am Sonntag, den 26. August 1860, im sechsten Lager in Mia Mia gemacht.
Die Expedition erreichte Swan Hill am 6. September 1860 und kam am 14. September 1860 in Balranald an. Dort ließen sie, um das Gewicht zu verringern, den mitgebrachten Zucker, Zitronensaft sowie Waffen und Munition zurück. Am 24. September entschied Burke in Gambala, die Lasten umzuverteilen und einige Vorräte zum ersten Mal auf die Kamele zu laden sowie die Belastung der Pferde zu verringern, indem er jedem Mann befahl, zu Fuß weiterzugehen. Des Weiteren setzte er das persönliche Gepäck jedes Teilnehmers auf 30 Pfund (14 kg) fest. Wegen längerwährender Differenzen zwischen Landells und Burke trat Landells am 8. Oktober zurück, der Arzt Hermann Beckler tat es ihm wenig später gleich. Streitpunkte von Landells und Burke waren die Kamele, um die sich Landells kümmern sollte. Burke mischte sich jedoch immer wieder in die Betreuung ein. Zum Rücktritt kam es nach einem offenen Streit zwischen Landells und Burke, dessen Auslöser der Rum der Expedition war. Nachdem sich einige Männer betrunken hatten, wollte Burke den Rum zurücklassen, Landells war jedoch dagegen. Im Laufe des Streits beschimpfte Burke seinen Stellvertreter und behauptete, schlecht beraten zu werden. Den Posten als Burkes Stellvertreter übernahm Wills. Sie erreichten Menindee am 12. Oktober 1860 und hatten somit zwei Monate für die 750 Kilometer lange Strecke von Melbourne bis Menindee gebraucht, eine Strecke, die eine Postkutsche in wenig mehr als einer Woche zurücklegte. In Menindee errichtete Burke das erste Depot. Zu diesem Zeitpunkt waren zwei der fünf Offiziere der Expedition zurückgetreten, 13 weitere Mitglieder waren gefeuert und acht neue dafür angeheuert worden.
Burke war besorgt, der konkurrierende Stuart könne die Nordküste schneller erreichen, und wurde zunehmend ungeduldiger ob ihres langsamen Vorankommens, da sie häufig lediglich drei Kilometer pro Stunde zurücklegten. Burke teilte die Gruppe auf; er selbst ritt mit Wills und sechs anderen Männern am 29. Oktober weiter, um möglichst schnell den Cooper Creek zu erreichen, die andere Gruppe sollte nachkommen. Die Reise war relativ unbeschwerlich, da Wasser aufgrund von Regenfällen reichlich vorhanden war und ein ungewöhnlich mildes Wetter herrschte, bei dem die Temperaturen nur zwei Mal die 32 °C-Marke überschritten. Am Torowotto-Sumpf wurde Wright allein nach Menindee zurückgeschickt, um die verbliebenen Männer und den Proviant nachzuholen.
Cooper Creek
Im Jahr 1860 war der Cooper Creek die Grenze des von Europäern erforschten Landes; bis zu diesem Fluss waren 1845 Charles Sturt und 1858 Augustus Gregory vorgedrungen. Burke erreichte am 11. November den Cooper Creek und errichtete ein Depot beim 63. Lager am Oberlauf des Cooper Creek, dem Barcoo River, während sie weiter die Gegend im Norden erkundeten. Eine Rattenplage zwang die Männer dazu, das Camp zu verlegen. Sie gründeten weiter flussabwärts ein zweites Depot am Bullah-Bullah-Wasserloch beim 65. Lager, versahen es mit einer Palisade und nannten den Ort „Fort Wills“.
Um nicht im heißen australischen Sommer reisen zu müssen, sollte Burke ursprünglich bis zum März 1861 am Cooper Creek bleiben. Dennoch harrte Burke nur bis zum 16. Dezember aus, als er aus Ungeduld wegen der Verspätung der Truppe aus Menindee entschied, vorzeitig zum Golf von Carpentaria vorauszueilen. Er teilte die Gruppe erneut auf: Diesmal blieb William Brahe als Verantwortlicher für das Lager mit Dost Mahomet, William Patterson und Thomas McDonough zurück. Burke, Wills, John King und Charles Gray machten sich mit sechs Kamelen, einem Pferd und Proviant für gerade mal drei Monate auf den Weg. Burke wies Brahe an, drei Monate zu warten, Wills bat ihn jedoch heimlich, die Wartezeit auf vier Monate zu verlängern. Mittlerweile war es Hochsommer in Australien mit Tageshöchsttemperaturen von 50 °C im Schatten. Diese Hitze setzte den Expeditionsteilnehmern umso mehr zu, als sich Schatten auf Grund der spärlichen Vegetation nur selten fand.
Golf von Carpentaria
Von der herrschenden Hitze abgesehen war die Reise unbeschwerlich, da die Gruppe wegen der vergangenen Regenfälle immer noch genug Wasser fand und die Aborigines friedlich gesinnt waren. Am 9. Februar 1861 erreichten sie den Little Bynoe River, einen Seitenarm im Delta des Flinders Rivers, wo sie feststellen mussten, dass sie das Meer nicht erreichen konnten, da die Mangrovensümpfe vor ihnen unpassierbar waren. Burke und Wills ließen die Kamele sowie King und Gray beim 119. Lager am Little Bynoe River zurück und machten sich mit dem Pferd auf den Weg durch die Sümpfe, kehrten aber nach 24 Kilometern wieder um und machten sich mit King und Gray auf den Weg zurück zum Depot am Cooper Creek. Zum Zeitpunkt ihrer Umkehr waren ihre Vorräte bereits bedenklich knapp. Sie hatten noch Nahrung für 27 Tage, hatten aber für die Hinreise vom Cooper Creek schon 57 Tage benötigt.
Auf dem Rückweg brach die Regenzeit an, die tropischen Monsunregen mit sich brachte. Ein Kamel wurde am 4. März zurückgelassen, weil es nicht mehr weitergehen konnte. Drei weitere Kamele wurden unterwegs erschossen und ihr Fleisch verzehrt. Das einzige Pferd wurde am 10. April am Diamantina River erschossen, südlich der heutigen Stadt Birdsville. An verschiedenen Orten musste Ausrüstung zurückgelassen werden, als sich die Anzahl der Packtiere reduzierte.
Um ihre Vorräte zu strecken, aßen sie Portulak. Außerdem fing Gray einen fünf Kilogramm schweren Python (wahrscheinlich Aspidites melanocephalus, ein Schwarzkopfpython), den sie ebenfalls verzehrten. Burke und Gray bekamen daraufhin die Ruhr. Gray war stark geschwächt, aber weil er schon lange über Krankheit klagte, hielten ihn die anderen drei für einen Simulanten. Am 25. März wurde Gray beim Stehlen von Skilligolee, einem wässrigen Brei, erwischt, wofür er von Burke geschlagen wurde. Ab dem 8. April konnte Gray nicht mehr gehen. Er starb am 17. April an der Ruhr an einem Ort, den sie „Polygonum Swamp“ („Knöterich-Sumpf“) nannten. Die Stelle wurde später von der südaustralischen Rettungsexpedition Lake Massacre genannt und befindet sich in South Australia. Die drei überlebenden Männer pausierten einen Tag, um Gray zu beerdigen und sich wieder zu erholen, da sie mittlerweile von Hunger und Erschöpfung schwer gezeichnet waren.
Rückkehr zum Cooper Creek
Burke, Wills und King kehrten am Abend des 21. April 1861 in das Depot zurück, fanden es aber verlassen vor. Am Morgen dieses Tages war Brahe vom Cooper Creek nach Menindee aufgebrochen, weil sich einer seiner Männer ein Bein gebrochen hatte. Zudem wurden die Vorräte knapp und es erschien der Depot-Besatzung unwahrscheinlich, dass Burke noch zurückkehrte, sie vergruben aber zur Sicherheit einige Vorräte und einen erklärenden Brief unter einem Baum und markierten die Stelle. (Siehe Abschnitt Dig Tree)
Die drei Männer gruben das Versteck aus und fanden den Brief, waren aber zu ausgelaugt und hatten keine Hoffnung, zur Hauptgruppe aufzuschließen. Sie entschlossen sich zu rasten und sich zu erholen, wobei sie die Vorräte aus dem Versteck aufbrauchten. Wills und King wollten der „alten Spur“ zurück nach Menindee folgen, aber Burke entschied, dem Fluss zu folgen. Er wollte auf diese Weise den weitesten Außenposten ländlicher Besiedlung in South Australia, eine große Rinderfarm nahe dem Mount Hopeless, erreichen. Das bedeutete eine 240 Kilometer lange Reise in Richtung Südwesten quer durch die Wüste. Sie schrieben einen Brief, in dem sie ihre Absichten erklärten, und vergruben ihn in dem Versteck unter dem gekennzeichneten Baum für den Fall, dass ein Rettungstrupp das Gebiet durchsuchte. Sie veränderten nicht die Aufschrift des Baumes oder das Datum auf dem Baum, was sich später als Fehler herausstellte. Am 23. April machten sie sich auf den Weg durch die Strzelecki-Wüste in Richtung Mount Hopeless.
Währenddessen traf Brahe auf dem Rückweg nach Menindee auf Wright, der versuchte, den Nachschub zum Cooper Creek zu bringen. Die beiden einigten sich darauf, noch einmal zum Lager am Cooper Creek zurückzukehren, um zu prüfen, ob Burke vielleicht doch zurückgekommen war. Als sie am 8. Mai ihr Ziel erreichten, waren Burke und Wills bereits 56 Kilometer entfernt. Da die Markierung des Baumes unverändert war, schlossen Brahe und Wright, dass Burke nicht zurückgekehrt war. Sie dachten nicht daran zu prüfen, ob die Vorräte noch an Ort und Stelle begraben waren, sondern kehrten zur Hauptgruppe nach Menindee zurück.
Burke, Wills und King am Cooper Creek
Nachdem Burke, Wills und King den Dig Tree verlassen hatten, reisten sie nie mehr als acht Kilometer (fünf Meilen) am Tag. Von den beiden verbliebenen Kamelen blieb eines unrettbar in einem Wasserloch stecken, und das andere starb. Ohne Packtiere konnten die drei Entdecker nicht genug Wasser mit sich führen, um später den Fluss zu verlassen und die Strzelecki-Wüste Richtung Mount Hopeless zu verlassen, sodass sie gezwungen waren, zum Cooper Creek zurückzukehren. Ihre Vorräte waren fast aufgebraucht und sie waren ausgelaugt. Die Aborigines am Cooper Creek, der Yandruwandha-Stamm, gaben ihnen im Austausch für Zucker Fisch und Bohnen, die padlu genannt wurden, und eine Art Brot, das aus den Fruchtkörpern der ngardu (Nardoo; Marsilea drummondii) hergestellt wurde.
Wills kehrte zum Dig Tree zurück, um dort sein Tagebuch, Notizblock und Protokoll im Versteck zur Aufbewahrung zu vergraben. Burke kritisierte in seinem Tagebuch Brahe scharf dafür, dass er keinen Proviant oder Tiere zurückgelassen hatte.
Tod von Burke und Wills
Die drei Männer lebten am Cooper Creek. Zur Ernährung sammelten sie Ngardu-Samen und nahmen Fisch und gebratene Ratten von den Yandruwandha an.
Gegen Ende Juni 1861 beschlossen Burke und King, flussaufwärts zum Dig Tree zu ziehen. Sie wollten nachsehen, ob mittlerweile ein Suchtrupp dort eingetroffen war. Wills war zu schwach geworden, um weitergehen zu können, worauf sie ihn auf sein Drängen am Breerily-Wasserloch mit etwas Nahrung und Wasser zurückließen. Burke und King liefen weitere zwei Tage, bis Burke nicht mehr weiter konnte. Er starb am nächsten Morgen. King blieb zwei Tage bei seiner Leiche, bis er stromabwärts zum Breerily-Wasserloch zurückkehrte. Wills war in der Zwischenzeit aber auch verstorben. King fand beim Yandruwandha-Stamm Unterschlupf, bei dem er drei Monate bis zu seiner Rettung ausharrte.
Die genauen Todestage von Burke und Wills sind unbekannt. Auf Denkmälern in Victoria werden verschiedene Daten genannt. Das Erkundungskomitee bestimmte den 28. Juni 1861 als Todestag für beide Entdecker.
Todesursache
Die Entdecker wussten nicht, dass Ngardu-Samen Thiaminase enthält, das dem Körper Vitamin B1 (Thiamin) entzieht. Wahrscheinlich bereiteten sie das Busch-Brot, das ein Grundnahrungsmittel der lokalen Bevölkerung war, nicht nach Art der Aborigines zu. Es wird vermutet, dass sie die Samen nicht zu einer Paste verarbeitet hatten, was aber notwendig gewesen wäre, um die Thiaminase auszuwaschen. Trotz Essens wurden die Männer zunehmend schwächer. Wills schrieb in seinem Tagebuch:
Wahrscheinlich starben Burke und Wills an Vitamin-B1-Mangel, genannt Beriberi. Dies unterstreicht auch Kings Bericht, der darlegt, dass Burke kurz vor seinem Tod über Schmerzen in Beinen und Rücken klagte.
Dig Tree
Der Baum am Depot, an dem Brahe die Position der vergrabenen Vorräte markierte, ist ein etwa 250 Jahre alter Eucalyptus (Eucalyptus coolabah). Ursprünglich war der Baum als „Brahe’s Tree“ oder „Depot Tree“ („Brahes Baum“ bzw. „Depot-Baum“) bekannt. Als der Baum, unter dem Burke starb, erfuhr er große Aufmerksamkeit und Interesse. Aufgrund der Markierung und der nachfolgenden Popularität des Buches Dig von Frank Clune wurde der Baum im Nachhinein als „Dig Tree“ bekannt. Zwei der drei Markierungen sind heute zugewachsen, nur die Camp-Nummer ist noch lesbar.
Der Baum weist drei Markierungen auf:
zum einen die Camp-Nummer: das Initial B für Burke über LXV, der lateinischen Schreibweise der Zahl 65.
auf der anderen Seite des Baums war auf den einen Ast DEC 6-60 über APR 21-61 geschnitzt. Die Daten stehen für den Zeitraum, in dem sich Brahe dort aufgehalten hat.
auf dem anderen Ast stand die namensgebende Dig-Markierung: AH über DIG über under über einem Pfeil nach rechts. Diese wurde jedoch nicht von Brahe, sondern von einem Mitglied von Alfred Howitts Suchexpedition später hinzugefügt.
Brahes Dig-Markierung befand sich vermutlich an einem Baum südlich des Dig Trees, an dem die Pferde angebunden wurden. Dementsprechend waren die Vorräte auch nicht am Dig Tree, sondern unter dem „Pferdebaum“ vergraben worden. Dies zumindest lässt sich aus Befragungen, Tagebucheinträgen und alten Fotos entnehmen. 1899 schnitzte John Dick das Gesicht Burkes in einen nahegelegenen Baum.
Rettungsexpeditionen
Insgesamt wurden sechs Expeditionen zur Rettung Burkes und Wills ausgesandt. Zwei davon nahmen den Seeweg, um am Golf von Carpentaria nach den Vermissten zu suchen, die anderen näherten sich aus unterschiedlichen Richtungen dem Landesinneren. Sie leisteten einen wichtigen Beitrag zur Erforschung Australiens, da jede Expedition bei der Suche auch das Umland erkundete.
Victorian Contingent Party
Nachdem ein halbes Jahr lang keine Nachrichten von Burke gekommen waren, wurden in der Presse Forderungen laut, den Verbleib der Forschungsexpedition zu klären. Der öffentliche Druck wurde so stark, dass sich das Erkundungskomitee der Forderung nicht länger verschließen konnte und am 13. Juni in einem Treffen vereinbarte, eine vierköpfige Suchexpedition zu entsenden, die Burke und Wills Expedition aufspüren und ihnen, falls nötig, Unterstützung anbieten sollte.
Die Victorian Contingent Party war die erste Expedition, die nach Burke und Wills suchte. Sie verließ Melbourne am 26. Juni 1861 unter der Leitung von Alfred William Howitt.
Am Loddon River traf Howitt auf Brahé, der den Cooper Creek verlassen hatte. Auch Brahé hatte keine Nachrichten von Burke, und Howitt wurde klar, dass zur Rettung Burkes eine viel größere Expedition nötig war. Howitt ließ die anderen drei Männer seiner Gruppe am Loddon River zurück und reiste mit Brahé nach Melbourne, um das Erkundungskomitee von der neuen Situation zu unterrichten. Er schickte am 29. Juni ein Telegramm an John Macadam, am 30. Juni traf sich das Komitee und entschied die Aufstellung einer zwölfköpfigen Suchexpedition unter dem Kommando Howitts, mit der er bis zum Cooper Creek vorstoßen und anschließend den Spuren Burkes folgen sollte. Am 3. September erreichte die Gruppe den Cooper Creek, am 11. September den Dig Tree und fand am 15. September den lebenden John King bei einem Aborigine-Stamm am Cooper. In den folgenden neun Tagen, in denen sich King erholen sollte, fand Howitt auch die Leichen Burkes und Wills und beerdigte sie. Am 6. November war King wieder in Melbourne. Er war jedoch in einem erbärmlichen Gesundheitszustand und erholte sich von den Strapazen der Reise nicht mehr. Er verstarb elf Jahre später.
Victorian Exploring Party
Die Victorian Exploring Party war die zweite Expedition unter der Führung Alfred Howitts. Auf einem Treffen der Komitees sprach sich von Mueller am 13. November 1861 für die Bergung der Leichen Burkes und Wills aus. Am 9. Dezember brach Howitt mit zwölf anderen Richtung Cooper Creek auf. Er sollte der Route Burkes folgen und die „Überreste der unglücklichen Entdecker“ bergen und für ein feierliches Begräbnis in Melbourne zurückbringen. Nach längeren Aufenthalten in Menindee und am Mount Murchison kam die Gruppe am 25. Februar 1862 am Cooper Creek an und schlug am Cullyamurra Wasserloch ihr Lager auf. Von dort aus unternahm Howitt zahlreiche Ausflüge ins Umland. Am 13. April exhumierte er Burkes und Wills Leichen. Im folgenden halben Jahr erkundete er das australische Hinterland. Am 22. November machte sich Howitt auf den Weg nach Clare, wo er am 8. Dezember ankam. Nur mit dem Arzt ritt er weiter nach Adelaide, der Rest der Mannschaft sollte mit den Leichen Burkes und Wills mit der Eisenbahn fahren. Howitt erreichte Adelaide am 9. Dezember, der Rest am 12. Dezember. Burke und Wills wurden am 29. Dezember nach Melbourne gebracht.
South Australian Burke Relief Expedition
Das Kontingent South Australias wurde von John McKinlay von Adelaide aus geführt. McKinlay fand im Oktober 1861 im Polygonum Swamp (Knöterichsumpf) die mutmaßlichen Überreste von Charley Gray. Er fand dort noch ein weiteres Grab und ging von einem Massenmord an der Expedition aus, weshalb er den Ort „Lake Massacre“ (Massaker-See) nannte.
Victorian Relief Expedition
1861 führte Frederick Walker die Victorian Burke and Wills Relief Expedition an. Die Gruppe bestand aus zwölf berittenen Männern, sieben von ihnen waren Aborigines und Mitglieder der Native Mounted Police Force. Sie brachen am 7. September 1861 mit dem Ziel, den Golf von Carpentaria zu erreichen, von Rockhampton aus auf. Sie fanden die Spuren Burkes und folgten ihnen bis zu Burkes nördlichstem Camp. Am 4. Dezember verübten sie in den Abendstunden ein Massaker an einer Gruppe Aborigines, bei dem zwölf Menschen starben. Am 7. Dezember trafen sich William Henry Norman, Kapitän der HMS Victoria, und Walker an der Golfküste.
HMCSS Victoria
Die HMCSS Victoria (HMCSS = His/Her Majesty’s Colonial Steam Sloop; dt. Kolonialdampfer seiner/ihrer Majestät) wurde von William Henry Norman in den Golf von Carpentaria gesteuert, um dort nach Überlebenden der Expedition Ausschau zu halten. Vorher wurde sie im ersten Taranaki-Krieg in Neuseeland eingesetzt. Als im Juli 1861 Burke und Wills Expedition vermisst wurde, wurde die Victoria nach Brisbane beordert. Von dort stach auch die Queensland Relief Expedition auf der SS Firefly in See. Am 7. Dezember traf sich Norman mit Frederick Walker.
Queensland Relief Expedition
Die Queensland Relief Expedition legte mit der SS Firefly am 24. August 1861 unter der Führung von William Landsborough in Brisbane ab. Landsborough erforschte ab November vor allem die Region an der Golfküste. Später wandte er sich nach Süden und durchquerte Australien in Nord-Süd-Richtung, bis er im Oktober 1862 Melbourne erreichte. Er galt damit als erster Entdecker, der Australien von Norden nach Süden durchquerte, und wurde mit 2000 £ für seine Verdienste um die Erforschung der Golfküste geehrt.
Gründe für das Scheitern der Expedition
Die im Nachhinein eingesetzte Untersuchungskommission machte nach der Befragung der überlebenden Teilnehmer Wright als Verantwortlichen für das Scheitern der Expedition aus. Nach Landells Ausscheiden teilte Burke die Gruppe in Menindee auf und schickte Wright mit einem Teil der Mannschaft zurück, um für Nachschub zu sorgen. Burke zog indessen mit dem Rest der Truppe weiter an den Cooper Creek, wo er eigentlich während des Sommers bleiben sollte. Wright kam in der Zeit aber nicht und Burke zog aus Sorge, Stuart könnte vor ihm am Golf ankommen, vorzeitig und mit nicht ausreichender Verpflegung Richtung Norden ab. Die Kräfte der Gruppe wurden damit überstrapaziert. Weil Wright nicht zum Cooper Creek kam, war das Camp verlassen, als Burke vom Golf zurückkehrte. Aus Sicht der Kommission brachte also Wrights Verspätung die Expedition zum Scheitern.
Alan Moorehead schrieb über das „Mysterium“ um Wrights Verspätung:
Eine eingehende Studie von Wrights Handlungen war Teil der Masterarbeit von Thomas Bergin an der University of New England. Bergin zeigte, dass Wright wegen Geldmangels und fehlender Packtiere zum Tragen des Nachschubs in einer prekären Situation war. Seine Anfragen an das Erkundungskomitee wurden erst Anfang Januar bearbeitet. Die große Hitze und der Wassermangel in dieser Jahreszeit bedeuteten, dass die Reisegruppe nur äußerst langsam vorankam. Sie wurde von Bandjigali und Karenggapa (Clans der Murris) drangsaliert, und drei Männer, Ludwig Becker, Charles Stone und William Purcell, starben auf der Reise an Mangelernährung. Auf dem Weg nordwärts lagerte Wright am Koorliatto-Wasserloch am Bulloo River, während er versuchte, Burkes Spuren zum Cooper Creek wieder zu finden.
Der zurückgetretene Landells macht dagegen vor allem Burkes Führungsschwäche für das Scheitern der Expedition verantwortlich. In seiner Rücktrittserklärung an das Erkundungskomitee im November 1860 sagt er das Scheitern der Expedition voraus. Dort erhebt er schwere Vorwürfe gegen Burke. Konkret bemängelt er Burkes Unerfahrenheit, weshalb ihm jedwede Führungsstärke gefehlt habe. Burke habe einen rauen Umgangston gepflegt, nicht auf den Rat anderer gehört, oft seine Meinung geändert und Landells Bemühungen um die Kamele sabotiert. Die Kamele, die Landells als essentiell für eine erfolgreiche Expedition erachtete, empfand Burke als Last und behandelte sie schlecht. Landells beklagt, die Kamele hätten während der ersten Etappe unter dem starken Regen und den schlechten Straßen gelitten, was Burke aber nicht einsah. Er war gewillt, zu erschöpfte Kamele einfach zurückzulassen. Hinzu kamen lange Tagesmärsche von 20 bis 30 Meilen und ungeeignete Rastplätze ohne genug Futter für das Vieh. Nach Landells Bericht waren die Tiere am Darling River bereits so erschöpft, dass sich beispielsweise die Packpferde zum Ausruhen auf die Straße legten. Die unsachgemäße Behandlung des Viehs führte zum Verlust mehrerer Kamele. Außerdem warf er Ghee und Hafermehl weg, das für die Ernährung der Kamele wichtig war. Er ließ sich zudem nicht beraten, was die erfahrenen Expeditionsteilnehmer verärgerte.
Landells beschreibt aber nicht nur den schlechten Umgang mit den Tieren, sondern auch Burkes Verhalten gegenüber den Männern. Burke entließ viele Männer, die ihm nicht genehm waren, und ersetzte sie durch Männer seiner Wahl. Einige der wegen Trunkenheit entlassenen passten ihm nicht, selbst wenn sie qualifiziert waren. Als Beispiel nennt Landells John Drakeford, der der Koch der Expedition war und bereits Erfahrungen mit Expeditionsunternehmen sammeln konnte. Drakeford lebte die meiste Zeit in Südafrika unter Buren und war Mitglied der Cape Mounted Police. Er hätte an David Livingstones Afrikaexpedition teilnehmen können. Er war am Transport von Pferden vom Kap nach Indien beteiligt, zudem habe er viel von Kamelen verstanden.
Außer Burke und Wills mussten alle zu Fuß gehen; Burke und Wills nahmen sich das Recht heraus, reiten zu dürfen. Burke installierte auch ein Spionagesystem und hatte zwei Männer im Lager, die die Ohren für ihn offen hielten und ihm Bericht erstatteten.
Nachwirken
Obwohl die Expedition an sich als gescheitert anzusehen ist, haben die Suchexpeditionen einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des Kontinents geleistet. Insbesondere McKinlay, Walker und Landsborough konnten auf ihren Reisen viel Weideland erschließen. Sie warfen ein neues Licht auf Regionen, die bislang für unfruchtbare Wüste gehalten wurden. Nach 1862 gab es keine Zweifel mehr, dass es im Hinterland saisonabhängig gutes Weideland gab, das Viehzüchter kaum ignorieren konnten.
Trotz ihres Scheiterns wurden Burke und Wills nach ihrem Tod geehrt. Den Entdeckern wurde ein Staatsbegräbnis auf dem Zentralfriedhof in Melbourne gewährt, dem Berichten zufolge 40.000 Zuschauer beiwohnten. Ihnen zu Ehren wurden auch in vielen Städten entlang ihrer Reiseroute Denkmäler errichtet: 1862 wurde in der Stadt Castlemaine ein Denkmal errichtet. Hier war Burke vor der Expedition stationiert. Vier Jahre nach dem Ende der Expedition, am 21. April 1865, wurde in Melbourne eine Bronzestatue Burkes und Wills’ enthüllt. Dies war der Tag der Rückkehr am Cooper Creek. John King, der einzige Überlebende, war bei dieser Feier anwesend.
Die Städte Bendigo, Ballarat und Fryerstown stifteten ebenfalls Denkmäler. 1890 wurde im Royal Park, dem Ausgangspunkt der Expedition, ein Mahnmal errichtet. 1983 wurde ihr Andenken von der Australischen Post mit einer Briefmarke geehrt, auf der ihre Porträts zu sehen sind. Die Stadt Burketown hat Robert Burke als Namensgeber.
Ihr öffentliches Ansehen als Helden änderte sich aber mit der Zeit, bis 1888 eine Kommission der Regierung von New South Wales die Expedition als „perverse Absurdität“ bezeichnete. In der Folge wurden viele der Denkmäler in Victoria wieder abgebaut und die jährlichen Gedenkfeiern fanden am Ende des Jahrhunderts nicht mehr statt.
1985 wurde der Film Burke & Wills über die Expedition mit den Hauptdarstellern Jack Thompson als Burke und Nigel Havers als Wills gedreht.
Literatur
Alan Moorehead: Cooper’s Creek. Harper & Row, New York 1963 (englisch).
deutsche Übersetzung von Wolfgang Fleischer: Treffpunkt Cooper's Creek. Goverts, Stuttgart 1966.
Thomas John Bergin: In the Steps of Burke and Wills. Australian Broadcasting Commission, Sydney 1981, ISBN 0-642-97413-6 (englisch).
Thomas John Bergin: Across the Outback. Readers Digest, Surrey Hills 1996, ISBN 0-86449-019-4 (englisch).
Tim Bonyhady: Burke and Wills. From Melbourne to Myth. David Ell Press, Balmain 1991, ISBN 0-908197-91-8 (englisch).
Max Colwell: The Journey of Burke and Wills. Paul Hamlyn, Sydney 1971, ISBN 0-600-04137-9 (englisch).
David Corke: The Burke and Wills Expedition. A Study in Evidence. Educational Media International, Melbourne 1996, ISBN 0-909178-16-X (englisch).
Sarah Murgatroyd: The Dig Tree. Text Publishing, Melbourne 2002, ISBN 1-877008-08-7 (englisch).
Willi Stegner: Taschenatlas Geographische Entdeckungen. Klett, Gotha / Stuttgart 2008, ISBN 978-3-12-828131-5.
Zeitgenössische Literatur
The Burke and Wills exploring expedition: an account of the crossing the continent of Australia, from Cooper’s Creek to Carpentaria, with biographical sketches of R. O’Hara Burke and W.J. Wills. Wilson und Meckinnon, Melbourne 1861, books.google.ch.
Supplementary pamphlet to the Burke and Wills exploring expedition: containing the evidence taken before the commission of inquiry appointed by government, with portraits of John King and Charles Gray. Wilson & Mankinnon, Melbourne 1861.
Andrew Jackson: Robert O’Hara Burke and the Australian Exploring Expedition of 1860. Smith, Elder & Co., London 1862, books.google.ch
Burke and Wills Commission: Report of the commissioners appointed to enquire into and report upon the circumstances connected with the sufferings and death of Robert O’Hara Burke and William John Wills, the Victorian explorers. J. Ferres, Melbourne [1862?].
William John Wills: A successful exploration through the interior of Australia: from Melbourne to the Gulf of Carpentaria. Richard Bentley, London 1863, Volltext.
Weblinks
Burke & Wills Web Eine umfassende Website, die viele historische Dokumente enthält, die sich auf die Expedition von Burke und Wills beziehen, englisch
The Burke & Wills Historical Society Die „Burke & Wills Historical Society“ (englisch)
Terra Incognita Burke und Wills Internet-Ausstellung in der Staatsbibliothek von Victoria (englisch)
Burke und Wills Sammlung im Australischen Nationalmuseum (englisch)
Einzelnachweise und Anmerkungen
Martin Mulligan, Stuart Hill: Ecological pioneers: A Social History of Australian Ecological Thought and Action. Cambridge University Press, Cambridge 2001, ISBN 0-521-00956-1, books.google.com.au.
Ernest Scott: Australia, Part 1. In: Cambridge History of the British Empire, Band 7, Teil 1, Cambridge 1988, ISBN 0-521-35621-0, books.google.com.au.
Ed Wright: Lost Explorers: Adventurers who disappeared off the face of the earth. Murdock Books, London 2008, ISBN 978-1-74196-139-3, books.google.de.
Anmerkungen
1860
1861
Australien-Expedition
Robert O’Hara Burke |
4751674 | https://de.wikipedia.org/wiki/EyeHateGod | EyeHateGod | EyeHateGod [] ist eine 1988 in New Orleans gegründete Sludge-Band.
Der Einfluss der Gruppe auf andere Musiker ist im Vergleich zum eigenen kommerziellen Erfolg groß. Neben den international populäreren Crowbar oder Down gilt die Band trotz des geringeren internationalen Erfolges als bedeutsame Größe der Metal-Szene von New Orleans. Die Musik von EyeHateGod vereint Einflüsse aus Hardcore Punk, Industrial und Doom Metal. Als charakteristisch für EyeHateGod gilt die häufige Nutzung von Rückkopplungen der Gitarren sowie der unverständlich-kehlige Schreigesang von Mike Williams. Das künstlerische Konzept der Band orientiert sich am Punk und Industrial. Mit ihrer Stilmischung gilt die Band als Begründer des Sludge. Ebenso gilt die Gruppe aufgrund der Rezeption ihres zweiten Studioalbums Take as Needed for Pain als jene, für welche die Stilbezeichnung Sludge erdacht wurde.
Das Werk der Band wurde in der Rezeption eng mit dem Drogenmissbrauch der Bandmitglieder verbunden. Die Ereignisse um Hurrikan Katrina gelten als Zäsur in der Geschichte der Band. Die Folgen des Hurrikans wirkten sich in besonderer Weise auf das Leben der Bandmitglieder aus. Unter anderem wurde der Drogenentzug des Sängers Williams unterbrochen, wonach er gegen seine Bewährungsauflagen verstieß und inhaftiert wurde.
Geschichte
Intellectual Convulsion
Im ersten Jahr der Band galt EyeHateGod den stetig wechselnden Mitgliedern als loser informeller Zusammenschluss diverser Musiker, die für einen unbestimmten Zeitraum als Gruppe miteinander jamten. Erst durch das Bestreben des Gitarristen Jimmy Bower formte sich zwischen 1988 und 1989 eine beständige Bandkonstellation heraus. Seine ersten Bandmitglieder waren Mark Schulz als Gitarrist, Chris Hillard als Sänger, Kevin Noonan als Bassist und Joe Fazzio als Schlagzeuger. Nach wenigen Monaten der Aktivität trennten sich Hillard, Noonan und Fazzio von der Band und wurden durch Joey LaCaze, Mike Williams und Steve Dale ersetzt. In dieser ersten stabilen Konstellation trat die Band in der Storyville Jazz Hall von New Orleans zum ersten Mal auf. Dieses erste Konzert bestritten EyeHateGod am 30. Juni 1989 mit Soilent Green im Vorprogramm von Exhorder. Der EyeHateGod-Auftritt wurde von den Zuschauern schlecht angenommen und endete damit, dass Williams das Publikum beschimpfte. Im gleichen Jahr nahmen EyeHateGod die beiden Demobänder Garden Dwarf Woman Driver und Lack of Almost Everything auf, vertrieben diese privat und versandten sie an diverse Plattenfirmen. Das französische Independent-Label Intellectual Convulsion reagierte und nahm die Band für ein Album unter Vertrag. Das Debüt In the Name of Suffering wurde in einem kleinen Studio in Kenner, Louisiana, ohne Produzenten oder professionelle Tontechniker, mit den Angestellten des Studios produziert. Intellectual Convulsion stellte der Band eine Summe von 1000 US-Dollar zur Verfügung. Mit 800 US-Dollar bezahlte die Band das Studio und die Tontechniker. Mit den verbleibenden 200 US-Dollar kauften EyeHateGod Alkohol und Marihuana. Das Label veröffentlichte 1990 circa 1500 bis 2000 Exemplare des aufgrund des geringen Vorschusses auf unvollständigen und zum Teil defekten Instrumenten und ohne professionelle Hilfe eingespielten Banddebüts. Im Jahr 1992 musste Intellectual Convulsion Konkurs anmelden.
Century Media
EyeHateGod wurde jedoch noch im gleichen Jahr von dem Label Century Media für sechs Alben unter Vertrag genommen. Century Media veröffentlichte In the Name of Suffering am 1. Dezember 1992 erneut und finanzierte das anschließende Take as Needed for Pain mit welchem EyeHateGod bekannt wurden und viele nachfolgende Bands beeinflussten. Mit dem Label kam es hingegen aufgrund der mangelnden Vermarktungsmöglichkeiten und des geringen kommerziellen Erfolges der extremen Musik zu einem anhaltenden Konflikt, welcher letztendlich dazu führte, dass EyeHateGod bereits ihr drittes Studioalbum Dopesick ohne jedwede finanzielle Unterstützung von Seiten der Produktionsfirma aufnehmen musste. Während der Aufnahmen zu Dopesick ereignete sich ein Zwischenfall, welcher in Presse- und Fankreisen bis hin zu Selbstverstümmelung und satanischen Ritualen verklärt wurde. Jimmy Bower schildert den Vorfall jedoch als weniger kontrovers:
1998 trennten sich EyeHateGod, nachdem Sänger Mike Williams eine laufende Tour wegen gesundheitlicher und persönlicher Probleme, welche vornehmlich durch seine Drogensucht bedingt waren, unterbrechen musste. Williams erläuterte später, dass die Trennung vornehmlich der Regulierung dieser Schwierigkeiten dienen sollte. Im Jahr 1999 beschloss die Band, erneut auf Europatournee zu gehen und ein weiteres Studioalbum einzuspielen. Nachdem die Band ihre Wiedervereinigung bekannt gegeben hatte, veröffentlichte Century Media im Januar 2000 die Kompilation Southern Discomfort mit unfertigen Studioaufnahmen und verschiedenen Beiträgen von EPs und Kompilationen ohne die Einwilligung der Band. Jimmy Bower erklärte die Veröffentlichung der Kompilation im Interview mit dem Online-Magazin Lärmbelästigung.net als „ein Lebenszeichen, dass es [die Band] wieder gibt bevor ‘Confederacy …’ herauskam.“
EyeHateGod veröffentlichten mit Confederacy of Ruined Lives im Jahr 2000 ihr vorläufig letztes vollständiges Studioalbum. Im Jahr 2001 trennte sich die Band von ihrem Bassisten Danny Nick und nahm stattdessen Gary Mader in die Band auf, der nach zwei Konzerten um New Orleans bereits auf eine Japantour mitgenommen wurde. Mit dem bis dahin einzigem Livealbum 10 Years of Abuse (and Still Broke), welches am 29. Mai 2001 erschien erfüllten EyeHateGod ihren Vertrag mit Century Media.
Hurrikan Katrina
Am 27. Mai 2005 veröffentlichte die Band via Emetic Records eine Raritätensammlung unter dem Titel Preaching the “End-Time” Message mit drei Demoversionen von neuen Stücken und tourte unterdessen in Amerika bis zum Juli 2005. Im Anschluss ging Brian Patton mit Soilent Green auf Tour. Jimmy Bower hatte geplant, neues Material mit Down zu erarbeiten und traf sich im August dazu mit den Bandmitgliedern Pepper Keenan, Kirk Windstein und Phil Anselmo. Bower kündigte jedoch ebenso Songwritingtätigkeiten für und mit EyeHateGod an.
Am 29. August 2005 traf Hurrikan Katrina New Orleans. Die Auswirkungen auf die Stadt und deren Bewohner waren verheerend. So führte der Hurrikan bei einigen Bandmitgliedern zu persönlichen Katastrophen, die in der Rezeption der Band häufig thematisiert wurden.
Gitarrist Brian Patton war zu diesem Zeitpunkt mit seiner Band Soilent Green auf Tour, weshalb er persönlich von der Katastrophe verschont blieb. Dennoch betonte er im Interview mit Metal Centre, dass jeder in New Orleans viel verloren hätte. Der ehemalige Sänger der Band Soilent Green und langjährige Freund Pattons, Glenn Rambo, fiel dem Hurrikan und seinen Auswirkungen zum Opfer.
Bassist Gary Mader und seine Frau, die zum Zeitpunkt des Hurrikans in der Canal Street lebten, flüchteten – finanziell unterstützt durch den Journalisten Andy Capper – aus der Stadt. Im Dezember 2005 erklärte Mader, dass der Großteil seines Wohnhauses zerstört sei. Im März 2006 berichtete er, dass er fünf Monate ohne festen Wohnsitz auf die Hilfsbereitschaft von Freunden und Verwandten angewiesen war.
Gitarrist Jimmy Bower floh vor dem Eintreffen des Hurrikans mit seiner Mutter nach Lake Charles in die Obhut von Verwandten. Bowers Familie bot Pepper Keenan die Möglichkeit, mit einem Wohnmobil auf dem Gelände der Familie zu kampieren. Später gab Bower an, dass das Haus seiner Mutter einige Sturmschäden erlitten habe. In einem ersten Interview mit dem Webadministrator von Phil Anselmos Internetseiten bat Bower kurz nach dem Hurrikan darum, ihm Informationen über den Aufenthalt und die Verfassung von Mike Williams zukommen zu lassen.
Zeitgleich waren Sänger Mike Williams und seine damalige Freundin Alicia Stillman, Sängerin der Sludge-Band 13, nicht in der Lage, die Stadt zu verlassen, weshalb beide für Williams, der sich in einem Methadonprogramm befand, das Medikament mit Billigung eines Polizisten aus einem Pharmaziegeschäft entwendeten und nach Morgan City fuhren. In Morgan City kamen Williams und Stilman in einem Motel unter. Der Besitzer des Motels informierte die örtliche Polizei, woraufhin beide wegen der Absicht des Drogenhandels verhaftet wurden. Während Stilman nicht inhaftiert wurde, kam Williams ohne adäquate medizinische Versorgung in Haft. Im Dezember 2005 erklärte Bower seine Bestürzung und Wut über die Situation und kündigte an, die Ereignisse in einem neuen Album zu verarbeiten, verglich New Orleans mit einer Dritte-Welt-Region und griff lokale und nationale Politiker verbal an.
Unter Haftbedingungen unterzog sich Williams einem kalten Entzug. Musiker, Freunde und Fans der Band initiierten unterdessen die Kampagne Free Mike IX, um öffentlichen Druck auszuüben und Williams Haftentlassung zu beschleunigen. Die Kampagne beinhaltete T-Shirts, Webbanner sowie Aufrufe in Interviews und auf Internetpräsenzen. Nachdem Phil Anselmo, der sich an der Kampagne beteiligt hatte, 150.000 US-Dollar Kaution gestellt hatte, wurde Mike Williams am 2. Dezember 2005 nach 91 Tagen Haft entlassen. Anselmo nahm anschließend Williams, der nach der Haft obdach- und mittellos war, in seinem Gästehaus auf. Anselmo bot Williams Arbeit für sein Label Housecore Records an und gründete mit ihm gemeinsam die Crustcore-Band Arson Anthem. Bis dahin lebte Williams in Anselmos Gästehaus.
In der Folge der Ereignisse entschieden sich auch Brian Patton, Jimmy Bower und Phil Anselmo zu einem Entzug. Patton und Bower erklärten, dass insbesondere der Hurrikan zu einer Veränderung der Wahrnehmung des eigenen Lebenswandels geführt hätte. Sowohl Williams als auch Bower und Patton erläuterten, dass sich ihre Abstinenz nur auf solche Drogen beschränke, welche eine körperliche Abhängigkeit nach sich zögen.
Im Juni 2006 wurde Williams aufgrund der Vorkommnisse zu fünf Jahren auf Bewährung verurteilt und musste sich in der Zeit der Bewährung regelmäßigen Drogentests unterziehen. Als weitere Strafe wurde er der Stadt New Orleans auf Lebenszeit verwiesen. Zu dieser Strafe erklärte Williams, dass er in der Stadt nicht polizeilich gesucht werden würde und sich durchaus dort aufhalten könnte, jedoch eingeschränkt öffentlich auftreten könnte. Trotz dieser Auflagen fasste er 2009 die Bedeutung der Ereignisse als prägend und solidarisierend insbesondere im Hinblick auf die Musikszene zusammen.
Am 10. Dezember 2005 trat die Band, deren Mitglieder alle in das weiträumig zerstörte New Orleans zurückgekehrt waren, in dem durch den Hurrikan baufällig gewordenen Club Juans Flying Burrito in New Orleans und am 18. Februar 2006 beim ersten Mardi Gras Festival im Checkpoint Charlys nach dem Hurrikan auf. Brian Patton kommentierte den Auftritt beim Mardi Gras noch am gleichen Tag als Ausdruck eines Lebensgefühls.
Als Reaktion auf die Auswirkungen des Hurrikans auf die EyeHateGod-Mitglieder veröffentlichte Emetic Records am 20. März 2007 das Tribut-Doppelalbum For the Sick mit einer Vielzahl an Bands des amerikanischen Metal- und Hardcore-Underground. Unter anderem beteiligten sich Brutal Truth, die sich für ihren Beitrag wiedervereinten, Mouth of the Architect, Kylesa, Minsk und Unearthly Trance mit dem Anliegen die Musiker von EyeHateGod zu unterstützen. Ebenso zur Unterstützung der Bandmitglieder veröffentlichte Century Media die ersten drei Alben der Band 2006 und 2007 erneut und ergänzte diese um Bonustitel wie Demo- oder Liveaufnahmen, die zuvor auf Kompilationen und EPs erschienen waren. Mit den Wiederveröffentlichungen der alten Alben trug Century Media zum Erfolg sowie zur Bekanntheit der Band bei und unterstützte die Mitglieder in der Krise nach Katrina finanziell. Williams honorierte diese Hilfe in einem Interview und hob eine Veränderung der Firmenpolitik hervor. Während das Label früher seines Erachtens „einfach nur Geld aus den Bands schlagen“ wollte, schien es ihm, „als würden [nun] dort mehr Fans“ arbeiten.
Die Folgen des Hurrikans wirkten sich in den folgenden Jahren auf den Schreibprozess aus. Die Obdach- und Mittellosigkeit nahm auf das Leben der Musiker Einfluss. Viele der Bandmitglieder waren nach dem Hurrikan langfristig damit beschäftigt die alltägliche Ordnung in ihrem Leben wiederherzustellen.
Konzentration auf Nebenprojekte
Die Mitglieder von EyeHateGod agieren bereits vor dem Hurrikan in unterschiedlichen Projekten. Down sind durch den ehemaligen Pantera-Sänger Phil Anselmo und das 1995er US-Platinalbum NOLA die erfolgreichste Formation unter Beteiligung des EHG-Mitglieds und Down-Schlagzeugers Jimmy Bower. Nach Katrina war diese Band es, die als erstes „Nebenprojekt“ neues Material veröffentlichte. Das Album NOLA III:Over the Under erschien am 24. September 2007, nachdem die Band bereits 2006 durch Europa getourt war und erreichte in Deutschland, Großbritannien und den USA Platzierungen in den Top 100. Die Veröffentlichung markierte einen Wendepunkt in der Geschichte von EyeHateGod, da Jimmy Bower fortan Down als Hauptband benannte.
Die verbleibenden EHG-Mitglieder widmeten sich als Reaktion ihren bisherigen Nebenprojekten und Hauptberufen wie Gary Mader und Joe LaCaze, welche nicht hauptberuflich als Musiker agierten. Dennoch veröffentlichten Mader und LaCaze gemeinsam mit Williams und Patton am 10. November 2008 das Debütalbum des Langzeitnebenprojektes der EHG-Mitglieder ohne Jimmy Bower Outlaw Order unter dem Titel Dragging Down the Enforcer. Phil Anselmo, welcher Mike Williams weiterhin beherbergte gründete mit ihm, Hank Williams III und Collin Yeo die Crustcore-Band Arson Anthem, deren erste selbstbetitelte EP am 19. Februar 2008 erschien. Brian Patton veröffentlichte mit Soilent Green am 15. April 2008 Inevitable Collapse in the Presence of Conviction. Weitere Projekte wie Corrections House mit Mike Williams, Sanford Parker und Scott Kelly schlossen sich in den folgenden Jahren an.
Williams verwies 2010 darauf, dass das Schreiben neuer Musikstücke, durch die Veränderungen der Jahre nach Katrina und die neuen Lebensumstände und Prioritäten der einzelnen Bandmitglieder geschuldet, mehr Zeit als zu früheren Veröffentlichungen in Anspruch nimmt. Mitglieder der Band seien mit dem Gesetz in Konflikt geraten und die Nachwirkungen von Katrina würden sich ebenso auf den Schreibprozess auswirken, wie Jimmy Bowers Gewichtung auf Down.
Rückkehr zu Auftritten, Tourneen und Veröffentlichungen
Nach Katrina gaben EyeHateGod vorerst nur vereinzelte Konzerte in New Orleans und Louisiana, da alle Bandmitglieder in anderen Bands aktiv oder in persönlichen Angelegenheiten verstrickt waren. Noch im Jahr 2008 erklärte Williams, dass neben den Bandaktivitäten von Brian Patton und Jimmy Bower sich die weiteren Bandkollegen in persönlichen Schwierigkeiten befanden, welche eine zügige Produktion eines Albums erschwerten. Bassist Gary Mader erwartete eine Gerichtsverhandlung, Schlagzeuger Joey LaCaze befand sich in einer Entziehungskur und Sänger Mike Williams verbüßte erneut zwei Monate in einem Gefängnis aufgrund eines früheren Bewährungsverstoßes. Eines der stattgefundenen Konzerte dieser Zeit war die 20-Jahre-EyeHateGod-Show im One Eyed Jacks in New Orleans am 29. August 2008. Im Juni 2009 trat die Band auf dem französischen Festival Hellfest in Clisson erstmals nach Katrina wieder auf internationaler Bühne auf. Im Herbst 2009 nahmen EyeHateGod mit einer kleinen Tour durch die amerikanischen Südstaaten ihre Tourtätigkeit und somit die Bandaktivität endgültig wieder auf. In den folgenden Jahren schlossen sich Tourneen durch Europa, Amerika und zum ersten Mal Australien an.
Darunter fanden sich Auftritte auf renommierten Festivals wie dem Inferno in Oslo 2010, dem Roadburn Festival in Tilburg 2010 und dem Roskilde-Festival in Dänemark am 1. Juli 2011, auf welchem die Band zum ersten Mal den neuen Titel New Orleans is the New Vietnam präsentieren. Einen Teil der Tourneen und Konzerte wurde von EHG mit einer Kamera begleitet und zu einem Live-Dokument zusammengestellt. Am 22. März 2011 erschien die DVD auf MVD mit dem einfach gehaltenen Titel Live. Am 30. August 2012 veröffentlichten EyeHateGod über A389 Recordings die einseitige 7″-Vinyl-Single New Orleans is the New Vietnam als Begleitung der anstehenden Europatournee, die unter dem Titel Europe is the New Vietnam absolviert wurde.
Der Tod von LaCaze, neue Albumveröffentlichung
Nachdem die Band sich eine kurze Auszeit gegönnt hatte, aber vereinzelte Konzerte im Großraum Louisiana gegeben hatte, begaben sich EyeHateGod vom 19. Juli bis 20. August 2013 erneut auf eine Europatournee. Zurück in New Orleans, starb Joey LaCaze am 23. August 2013 mit 42 Jahren in seinem Haus an Atemversagen. Der Schlagzeuger hatte seit seiner Jugend an schwerem Asthma gelitten. Williams berichtete auch von dessen Schlafapnoe-Syndrom mit massiven Atemaussetzern während der Europatournee. EyeHateGod wandten sich einige Tage nach dem Tod des Bandmitgliedes an die Öffentlichkeit und gaben die Todesursache sowie die Eröffnung eines Spendenkontos für LaCaze Tochter auf der Homepage der Band bekannt.
EyeHateGod, die im Herbst 2013 ihr 25-jähriges Bandjubiläum mit Konzerten und Festivalauftritten feiern wollten, luden den Schlagzeuger Dale Crover von The Melvins für eine große Show auf dem Housecore Horror Fest in Austin am 27. Oktober 2013 ein und sagten die Hälfte der geplanten Konzerte ab. Williams bezeichnete es als Tribut an LaCaze, mit dem von diesem verehrten Schlagzeuger zu spielen.
Trotz des Verlustes eines Freundes aus frühester Jugend und eines der ersten Bandmitglieder war eine Auflösung der Band kein Thema für die restlichen Mitglieder von EyeHateGod, wie Bower und Williams betonten. Bower war sicher, dass LaCaze eine Auflösung der Band nie gewollt hätte; er habe mit ihm sogar darüber gesprochen.
Nach dem Tod von Joey LaCaze und nach der Absage einiger Konzerte im Herbst 2013 bemühten EyeHateGod sich in diesem Zeitraum um einen neuen Schlagzeuger. Trotz der Anfrage einiger populärer Musiker entschieden sich EyeHateGod nach den ersten Vorspielen für den unbekannten lokalen Musiker Aaron Hill, ohne die noch verbleibenden Musiker zum Vorspiel und Gespräch einzuladen. Die Entscheidung fiel insbesondere aufgrund der lokalen Verwurzelung Hills in New Orleans. Hill spielte zuvor unterschiedliche Instrumente in kleinen Bands der Metal- und Punkszene von New Orleans, insbesondere spielte er Gitarre in der Crustcore-Band Gas Miasma mit Patrick Bruders von Down und Crowbar. Neben der technischen Frage nach der Spielweise, stand ebenso die Frage im Vordergrund, ob und wie sich der 29-jährige Aaron Hill in das soziale Gefüge der Band einfinden und sich am zukünftigen Songwriting beteiligen könne. Laut Williams ist Hill „ein Verrückter, genau wie“ die restlichen Bandmitglieder und „passt großartig“ in das Bandgefüge. Die Band begab sich mit dem neuen Mitglied alsbald in den Proberaum und übte mit Aaron Hill eine Vielzahl an EyeHateGod-Stücken ein und spielten neue Konzerte und Tourneen.
Von November 2013 bis Januar 2014 tourten EyeHateGod mit Aaron Hill in Amerika. Ursprünglich war für den Januar 2014 eine erneute Tournee durch Australien geplant, diese scheiterte jedoch an einem vermeintlichen Fehler des Künstleragenten. Erst am Flughafen stellte die Band fest, dass die australische Agentur Heathen Skulls keine Flugtickets gebucht hatte und EyeHateGod die Reise nach Australien nicht antreten konnte. Auch ein zügiges Nachbuchen aus eigenen finanziellen Mitteln war aufgrund der knappen Zeit und zugleich hohen Sicherheitsbestimmungen der amerikanischen Flughäfen nicht möglich. Zum Ausgleich buchte die Band einige weitere Konzerte in Amerika.
Im Mai 2014 erschien, nach 14 Jahren Albumpause und zwei Jahren Aufnahmezeitraum, das fünfte Studioalbum der Band. Das selbstbetitelte Album EyeHateGod beinhaltet die klassische, der Band zugeschriebene Mischung aus frühen Black Sabbath und späten Black Flag mit Southern-Rock-Elementen. Die Produktion ist, als roh bezeichnet, einfach gehalten und stellt das Riffing in den Vordergrund. Das Album ist die letzte Veröffentlichung der Band, an welcher Joey LaCaze mitgewirkt hat und das erste Album, welches eine Chartplatzierung erreichte. EyeHateGod erlangte für eine Woche Platz 92 der amerikanischen Billboard-Charts. Das Album wurde LaCaze gewidmet. Die Veröffentlichung wurde überwiegend positiv aufgenommen und als konsequente Fortsetzung des bisherigen Schaffens von EyeHateGod bezeichnet. Mit dem Musikvideo zu Medicine Noose erschien im Juni 2014 auch das erste offizielle Musikvideo der Band.
Williams gesundheitliche Schwierigkeiten
Im Dezember 2014 wurde Williams während einer Tournee mit Corrections House eine Leberzirrhose mit fataler Prognose diagnostiziert. Nach seiner Heimkehr kontaktierte Williams unterschiedliche Ärzte und konzentrierte sich auf eine Veränderung seines bisherigen Lebenswandels. In der Folge sagten EyeHateGod eine Australientournee Anfang 2015 aufgrund Williams gesundheitlicher Verfassung ab. Die Band hielt nähere Informationen zu Williams Verfassung und Krankheit geheim. Spätere im gleichen Jahr angesetzte Konzerte und Festivalauftritte in Europa und Amerika fanden jedoch statt, nachdem Williams seinen Zustand mit ärztlicher Unterstützung stabilisierten konnte. Am 10. April 2015 erschien über Century Media die Sammelbox Original Album Collection, welche die 2006 und 2007 veröffentlichten überarbeiteten Versionen der ersten drei Alben sowie Confederacy of Ruined Lives in Pappschubern, mit zusammengefasstem Begleitheft enthielt.
Nach einer USA-Tournee mit Discharge im April 2016 sagte die Band eine für Juli und August 2016 geplante Europa-Tournee, offiziell aufgrund „persönlicher Probleme und Terminschwierigkeiten“ ab. Zu zwei Konzerten im August, trat Phil Anselmo als Gastsänger auf. Der Auftritt vom 10. August in New Orleans wurde von einem Kamerateam dokumentiert. Eine zweiwöchige US-Tournee mit Discharge und Toxic Holocaust fand im Herbst 2016 mit Randy Blythe von Lamb of God als Sänger statt, da Mike Williams aufgrund vorerst nicht näher benannter gesundheitlicher Beeinträchtigungen die Konzertreihe nicht absolvieren konnte. Blythe und Anselmo betonten, dass sie sich nur als Tourhilfen bis zur Genesung Williams verstünden. Williams erläuterte später, dass die Einsätze der Ersatzsänger und deren Auswahl auf seine Initiative zurückzuführen sein. Er sei bestrebt gewesen die Band ohne Unterbrechung aktiv zu halten sowie die im Voraus eingegangenen Verpflichtungen einzuhalten.
Williams Frau Michelle Maher-Williams gab im November 2016 bekannt, dass Williams während einer US-Tournee einen Zusammenbruch in seinem Hotelzimmer erlitten habe und erneut stabilisiert werden musste. Nachdem Williams Leber und Nieren im Oktober 2016 versagten und der Sänger nach ärztlicher Beurteilung auf eine Lebertransplantation angewiesen war, suchte Maher-Williams die Öffentlichkeit um die finanziellen Mittel via Crowdfunding-Kampagne zu generieren. Im Dezember des gleichen Jahres kündigten Crowbar, Goatwhore und EyeHateGod gemeinsam mit einer Vielzahl weiterer Interpreten für Februar 2017 ein dreitägiges Benefiz-Festival zu Williams Gunsten unter dem Titel IX Lives, an zwei Standorten in New Orleans, an. Der Erlös von circa 20.000 $, wurde Williams zur Verfügung gestellt um einen Teil der Folgekosten seiner Operation zu tragen. Williams Bühnenrückkehr mit EyeHateGod fand beim Berserker Fest in Pontiac, Michigan am 15. April 2017, als Auftakt einer kleinen Amerika-Tournee, statt.
Tournee bis in die Covid-19-Pandemie, sechstes Albums
Im Juni 2017 gab die Gruppe Arbeiten an einem weiteren Studioalbum bekannt. Der fortlaufende Schreib- und Produktionsprozess für das auf EyeHateGod folgende Album wurde von anhaltenden beinahe weltweiten Tourneetätigkeiten begleitet. Die Band befand sich nach Williams Genesung für mehrere Jahre nahezu dauerhaft auf Tournee. Unterbrechungen fanden höchstens für wenige Wochen statt. Im Verlauf des Jahres 2018, noch im Tour- und Produktionsprozess, schied Patton aus der Band aus, um mehr Zeit mit seiner Familie zu verbringen. Williams bezeichnete den Umbruch zu vier Bandmitgliedern als dauerhafte Veränderung und den Beginn einer neuen Ära in der Geschichte der Band. Er verwies in späteren Interviews auf seine Sozialisation in der Punkszene und nannte die auf vier Musiker reduzierte Besetzung in diesem Kontext „das einzig Wahre“. Im Zuge der Verlautbarung beteuerte Williams, das angekündigte Album zu viert für das Jahr 2019 fertigstellen zu wollen. Die Musiker bekundeten dennoch die persönliche Verbundenheit zueinander. So unterstützte Patton die Band trotz seines Ausstiegs, während Bower sich einem Eingriff am rechten Arm unterziehen und sich danach von der Operation erholen musste, zur Tournee 2019.
Im März 2020 musste EyeHateGod die andauernde Tournee in der Ukraine aufgrund der COVID-19-Pandemie unterbrechen. Der Gruppe wurde mitgeteilt, dass das Land die Grenzen binnen 24 Stunden schließe und eine Ausreise in die Vereinigten Staaten anschließend nicht möglich gewesen wäre. Als Reaktion brach die Band die Tournee ab und reiste aus. Da die Musiker sich nach der Tournee auf den Abschluss der Aufnahmen konzentrieren wollte, zog die Band diese Arbeit vor. Allerdings verzögerten sich die Gesangsaufnahmen durch die Einschränkungen zum Schutz Williams, der aufgrund seines Transplantats und der zugehörigen Medikamention als Hochrisikopatient galt. Unter dem Titel A History of Nomadic Behavior erschien das sechste Studioalbum der Band im März 2021.
Besetzungsübersicht
Werk und Wirkung
Diskografie
Musikalische Bedeutung
Die Band gilt seit ihrem Debüt als wichtiger Einfluss auf die Entstehung und Etablierung des damals noch unbenannten Sludge-Genre und der Metal-Szene von New Orleans. Nach Garry Sharpe-Young ist EyeHateGod eine der wenigen Bands die sich damit rühmen kann, ein Genre weitestgehend allein definiert zu haben. Robert Müller vom Metal Hammer sieht in EyeHateGod, neben Crowbar, die Begründer des Genres. Mike Williams erläuterte, dass der Ausdruck Sludge erstmals für das Album Take as Needed for Pain gebraucht wurde. Dabei beklagte er diese Zuordnung, wie jede andere Genrezuordnung, als vereinfachend und etikettierend.
Die Gruppe gilt unter Kritikern als zentrale Inspiration für nachkommende Sludge-Bands. Und viele Bands aus den Genren Sludge, Post-Metal und Death Doom bezeichneten EyeHateGod als wichtige Inspiration. Pelican bezeichneten EyeHateGod „a longtime inspiration“, Ganon bezeichneten ihren Ursprung als schlechte EyeHateGod-Kopie, und die auf dem Tributalbum For the Sick beteiligten Bands und Projekte Unearthly Trance, Alabama Thunderpussy, Kylesa, Brutal Truth, Raging Speedhorn, Kill the Client und Mouth of the Architect bezeichnen sich als Freunde und Fans der Band. Weitere bekannte Sludge-Bands wie Buzzov•en, Iron Monkey und Grief bezeichneten besonders Take as Needed for Pain als „Offenbarung“ oder „Bibel“, die ihren Stil maßgeblich mitprägte. Der ehemalige EyeHateGod-Bassist Marc Schultz ergänzte, dass sich zu der Zeit des Albums jede Band aus New Orleans durch die Band und das Album beeinflussen ließ.
Stilistische Einordnung
In der Rezeption wird das Werk laut Williams häufig als „zu viel Metal für Punkanhänger und als zu viel Punk für Metalanhänger“ wahrgenommen. Er gab dazu an, dass er sich seit seiner Jugend eher der Punk- als der Metal-Szene zugehörig fühle. Ebenso wird darauf hingewiesen, dass sich EyeHateGod „besonders durch ihren eigenständigen Sound“ auszeichne.
Die Musik der Band wird als Mischung aus frühen Black Sabbath und späten Black Flag mit Southern-Rock-Elementen beschrieben. Insbesondere auf das Black-Flag-Album My War und die ersten vier Alben von Black Sabbath wird in Rezensionen und Stilbeschreibungen häufig verwiesen. Williams erläuterte, dass diese Umschreibung auch den Einflüssen der Band entspricht, aber auch weitere Interpreten des Industrials, des Doom Metals und des Blues EyeHateGod beeinflusst hätten.
Bereits auf dem Debütalbum von 1990, In the Name of Suffering, waren alle für den Stil und die Band typischen Elemente enthalten; eine roh produzierte Mischung aus Doom Metal und Hardcore Punk mit Einflüssen aus dem Blues und Stoner Rock, gelegentlich unterbrochen von Industrial- und Noiseausbrüchen, die stets von Michael Williams kehlig krächzendem Kreisch- und Brüllgesang begleitet wird.
Als Stilbegriff wird häufig der für Take as Needed for Pain geprägte Terminus Sludge bemüht, welchen die Band jedoch als unzureichend und unverständlich ablehnt. Williams bezeichnet den Stil als moderne Bluesvariante und prägte in diesem Zusammenhang unterschiedliche Stilbeschreibungen wie „Hardcore Drug Blues“, „Modern Drug addled and Alcohol drenched M-F‘in’ Blues“, „Southern Hardcore Blues“ oder „Down To Earth Motherfucken Post-Amplification Blues“. William York von Allmusic nennt den Stil der Band grob und aggressiv, zugleich schleppend und roh und eine Mischung aus Doom Metal und Hardcore Punk mit langsamen Gitarren, unverständlichem Gesang und andauernden Rückkopplungen.
Die wiederkehrenden Rückkopplungen der Gitarren, Williams kehliger Gesang, eine grobe Produktion, eingängige Bassläufe und Filmsamples werden von verschiedenen Rezensenten zu nahezu allen Alben als charakteristische Merkmale der Band betont. Lediglich das von Dave Fortman produzierte Confederacy of Ruined Lives wurde anders Wahrgenommen und als „glatter“, „sauberer“ und „weniger erdrückend“ beschrieben. Dabei wurden Stilelemente der Band, insbesondere die Rückkopplungen, anfänglich abgelehnt. Williams bezeichnete es als „unmöglich den Leuten zu erklären, dass [sie] die Rückkopplungen wollten, dass sie Teil der Songs waren.“
Rezeption
Laut Captain Chaos von Vampster sind EyeHateGod „ekelhaft, zäh bis punkig und verzerrt“.
Im Musikmagazin Intro wird der Klang von EyeHateGod als chaotischer Mischmasch aus Black Sabbath und crustcoriger Atmosphäre beschrieben. Thom Jurek bezeichnet den Klang der Band am Beispiel von Preaching the “End-Time” Message als „massiv, pervers, angepisst und voller Tief-Frequenz Verzerrung und Schmerz.“ Arne Ebner nennt die Musik der Gruppe „roh und aggressiv, kaputt, schleppend und für den ungeübten Hörer auf den ersten Moment mit Sicherheit entsetzlich.“
Williams heiserer und gebrüllter Gesang wird in Besprechungen als aggressiv wahrgenommen und von den unterschiedlichen Rezensenten mit den „Schreien eines gequälten Kehlkopfentzündeten“ verglichen sowie als „nicht identifizierbares wütendes Gegeifer“ und „krankhafte Klang gewordene Gräueltaten“ bezeichnet. Dieser charakteristische Gesang wird mitunter auf Williams Asthma zurückgeführt, welches ihn seit früher Kindheit begleitet.
William York verweist darauf, dass man die Titel kaum voneinander unterscheiden könne. Der vermeintliche Gleichklang der Stücke wird auch auf der Seite DeadTide.com hervorgehoben. Die angemahnte Monotonie, wird von manchen Rezipienten als Kritikpunkt gewertet, an anderer Stelle wird die Bedeutung der Band im Genre anhand der Monotonie hervorgehoben. So bezeichnet Sammy O’Hagar gerade die „hässliche“ und „schmerzhafte“ Monotonie als Verkörperung eines, seiner Ansicht nach von vielen Vertretern des Genres missachteten, Grundgedanken des Sludge.
Erfolg
Das Frühwerk der Band ist mit einem umfangreichen nachträglichen Kritikererfolg versehen. In Genre-Retrospektiven und -Listungen wird auf die Pionierleistung und Genredefinition EyeHateGods verwiesen. Ebenso werden die Veröffentlichungen als wesentlicher Bestandteil eines relevanten und qualitativen Teils des gesamten Doom-Metal-Spektrums beurteilt. So führt das Decibel die Alben Dopesick auf Platz 74 und Take as Needed for Pain auf Rang 14 der Liste The Top 100 Doom Metal Albums of all Times. Das deutschsprachige Webzine Metal.de führt Take as Needed for Pain ebenfalls in der Liste Weltschmerz – Unsere liebsten Doom-Perlen auf. Weitere Genrechroniken und Doom-Metal-Retrospektiven loben ebenfalls das Frühwerk der Gruppe.
Ein erster Charterfolge stellten sich indes mit dem Album EyeHateGod ein. Dies erreichte die amerikanischen Billboard-Charts mit auf Platz 92 für eine Woche. Das nachfolgende A History of Nomadic Bevahiour platzierte sich in Deutschland für zwei Wochen mit Platz 33 als höchste Position und in der Schweiz für eine Woche auf Platz 96.
Do-It-Yourself-Ethos
Nach den vertraglichen Kontroversen um die Produktion des Albums Dopesick äußerte Jimmy Bower den Wunsch, aus dem bestehenden Kontrakt mit Century Media entlassen zu werden, um am Beispiel von Minor Threat orientiert, in absoluter Eigenständigkeit mit den Aktivitäten der Band fortzufahren. Dies beinhalte sowohl die Gestaltung und Produktion von Merchandisingartikeln als auch den Vertrieb der selbst produzierten Tonträger. Laut Bower sei der Leitgedanke hinter diesen Bestrebungen die „[t]otale Kontrolle über alle […] Produkte“ um eine „eigene Welt“ zu gestalten.
Nachdem die Band im Jahr 2000 ihren Vertrag erfüllt hatte, trennte sie sich von Century Media. Fortan setzten EyeHateGod Do-it-Yourself-Gedanken weitestgehend um. Williams betonte jedoch, dass die Band nicht absolut unabhängig agieren könnte und auf professionelle Hilfe angewiesen sei. Die Band habe schon früh damit begonnen, eigenständig Tourneen zu planen und zu organisieren. EyeHateGod greifen jedoch auf im Geschäft geschulte Personen zurück, welche für die Bandmitglieder den organisatorischen Überblick behalten sollen. Seit der Trennung von Century Media lehnt die Band klassische Plattenverträge ab und arbeitet mit Lizenzen für separate Veröffentlichungen.
Vom Songwriting über die Gestaltung und Produktion bis hin zu den Tourneen, wurden die nach dem Jahr 2000 folgenden Veröffentlichungen, Tourneen und Merchandisingartikel eigenständig ohne den Vorschuss einer Plattenfirma erarbeitet. Die Bandmitglieder waren stolz auf den Versuch, in so vielen Bereichen wie möglich unabhängig zu agieren und den Gewinn zu behalten. Die Unabhängigkeit von einer Firma garantierte der Band absolute künstlerische Freiheit. Um als Rechteinhaber auftreten zu können, gründeten EyeHateGod 2010 die Firma Take as Needed LLC, deren Mitarbeiter die Mitglieder der Band darstellen und als deren Direktor ihr Bassist Gary Mader eingetragen ist.
Songwriting
Neue Stücke der Band werden zumeist gemeinsam von mehreren Musikern ausgearbeitet. Jeder der Musiker bringt sich ein und präsentiert den Mitmusikern eigene Ideen, welche die weiteren Musiker mit umsetzen. Zum Teil agieren die Musiker jedoch in Jamsessions. Als weitestgehend unabhängig vom vornehmlich gemeinschaftlichen Prozess des Musikschreibens schreibt Mike Williams die Texte allein, tauscht sich jedoch hierzu mit den Musikern aus und lässt sich von der Musik inspirieren. Als lyrische Hauptthemen gelten Drogen- und Gewalterfahrungen sowie Depression und Vulnerabilität. Sein Schreibstil ist wie auch sein grafischer Stil durch die Cut-up-Technik von William S. Burroughs beeinflusst. Mit dieser Methode möchte Williams erreichen, dass seine Texte unverständlich, kryptisch und irritierend wirken. Dazu räumt er ein, die Texte gelegentlich noch im Studio auf den Rhythmus und Fluss der Musik anzupassen.
Gestalterisches Konzept
Das der Band zugrundeliegende künstlerische Konzept geht auf Mike Williams zurück. Die von Williams bevorzugte Cut-and-Paste-Ästhetik findet sich in allen Veröffentlichungen und geht laut Williams auf SPK und Discharge zurück. Die Collagetechnik mit Schwarzweißfotografien, sei vornehmlich Discharge entlehnt, welche jedoch mit Kriegsbildern arbeiteten. Die medizinische Bildauswahl entlehnte sich hingegen SPK. Joey LaCaze ergänzte, dass die oft genutzten Bilder von Hautkrankheiten auf seine Mutter zurück, die für einen Dermatologen arbeitete und mehrere medizinische Bücher besaß, was laut LaCaze, das Interesse von LaCaze und Williams an diesen Bildern erst begründete. Neben medizinischen Fotografien nutzen EyeHateGod pornografische Fotografien der 1970er Jahre, insbesondere der BDSM-Szene sowie okkultistische Symbole und Abbildungen von Waffen zur grafischen Gestaltung ihrer Tonträger. Die Bilder werden in den Beiheften zu Collagen verarbeitet. Als weiteren Bestandteil, welcher die Konsumenten laut Williams irritieren soll, fügt die Band in der gleichen Collagentechnik Textpassagen der Lieder hinzu, ohne deren Titel zu benennen und vermengt diese mit Zeitungszitaten.
Gary Mader fiel nach seiner Aufnahme in die Band die Aufgabe der künstlerischen Gestaltung aufgrund seiner Computerkenntnisse zu. Dennoch brachte sich Williams auch weiterhin in die Konzeption der Gestaltung ein.
Arne Eber schreibt der Collagen-Technik eine Verdeutlichung des Do-it-Yourself-Gedanken zu. Die gewählten Motive und Symbole sowie die rohe Ausführung der Gestaltung sollen hingegen emotionale Reaktionen provozieren und eine die Musik unterstützende Atmosphäre erzeugen. Anspielungen auf Unterdrückung, Drogenmissbrauch und Übernatürliches sind fester Bestandteil des gestalterischen Konzeptes.
Bandname
Die Namensgebung EyeHateGod ( für „Auge Hass Gott“) wird häufig auf den homophonen englischen Wörtern Eye für „Auge“ und I für „ich“ [] zurückgeführt. Die so assoziierte Übersetzung des Namens lautet dementsprechend „Ich hasse Gott“. Derweil geht der Name auf Chris Hilliard, ein ehemaliges Mitglied der Band zurück. Hilliard war für kurze Zeit Sänger der Band, bevor die ersten Demoaufnahmen stattfanden. Laut Williams erlebte Hilliard einen psychischen Zusammenbruch kurz nach der Namensgebung. Unmittelbar nach seinem Psychiatrieaufenthalt distanzierte er sich von der Band. Jimmy Bower erzählt im Gespräch mit Tom Denny, dass Hilliard später zum gläubigen Christen wurde und Bower davon überzeugen wollte, den Bandnamen fallen zu lassen.
Der Name wird häufig fälschlich als satanische Äußerung assoziiert. Das den Namen begründende Konzept erklärt Bower als zynischen religiösen Kommentar: „Die Idee war, dass wenn Gott sehen könnte, was er erschaffen hat, er sich selbst hassen würde“. Als weitere Interpretation bietet er das Verhältnis zu materiellen Gütern und Drogen an: Es ginge ihm so um Glauben „oder Sucht, Menschen die glauben, Drogen oder Geld seien Gott.“ Laut Williams basiert der Name auf einer religiös-konzeptionellen Überlegung Hilliards, welche die Bedeutung des Auges als Sinnesorgan betont und damit den Namen, der zuerst mit einem Artikel als The EyeHateGod, geschrieben wurde, von der meist assoziierten Aussage „Ich hasse Gott“ hin zu einer Bezeichnung wie „Der Augehassgott“ für das von Hilliard erdachte Gottesbild, entfernt.
Mike Williams bezeichnet den Bandnamen ergänzend als Konzept über Fremdbestimmungen. So bezieht er den Namen auf die religiöse Vorstellung, dass Gott menschliche Entscheidungen begründe oder die Begründung von Suchtverhalten aus gesellschaftlichen Gegebenheiten basiere.
Die Band nutzt eine zusammenhängende Schreibweise mit Binnenmajuskeln, während die Presse auf die Binnenmajuskeln zumeist verzichtet. Der hingegen auf Tonträgern und Merchandise-Artikeln genutzte Schriftzug besteht ausschließlich aus Großbuchstaben. Eine Schreibweise mit voneinander getrennten Substantiven ist nur selten, zumeist in abgedruckten Rezensionen oder Interviews, aus den ersten Jahren der Band, anzutreffen.
Nebenprojekte
Alle Musiker sind neben ihrem Schaffen für EyeHateGod noch in weiteren Bands tätig.
Gitarrist Jimmy Bower ist bei der Band Down als Schlagzeuger aktiv und war zeitweiliges Mitglied von Crowbar und Corrosion of Conformity sowie fester Gitarrist der Band Superjoint Ritual.
Die weiteren Mitglieder der Band gründeten nebenbei das Metalprojekt Outlaw Order, welches ebenso unter dem Titel 00% vermarktet wird. Mike Williams arbeitet für Phil Anselmos Label Housecore Records, wo das gemeinsame Crustcore-Projekt Arson Anthem unter Vertrag steht. Basierend auf Mike Williams Buch Cancer as a social Activity wurde von Sanford Parker, Bruce Lamont, Scott Kelly und Williams das Projekt Corrections House gegründet. Williams gründete 2010 hinzukommend das Post-Industrial-Projekt The Guilt Øf…. Der ehemals langjährig zweite Gitarrist Brian Patton spielt Gitarre für die Sludge-Band Soilent Green. Joey LaCaze unterhielt diverse Electro-Industrial-Projekte und war als Voodooschlagzeuger aktiv. Bower und LaCaze gründeten 1996 mit weiteren Musikern der NOLA-Szene das Southern-Rock-Projekt The Mystick Krewe of Clearlight zu welchem Scott “Wino” Weinreich und Pepper Keenan Gastgesang beisteuerten.
Literatur
Weblinks
Offizielle Website
EyeHateGod bei Doom-Metal.com
Einzelnachweise
Sludge-Band
US-amerikanische Band
Musik (New Orleans) |
5002526 | https://de.wikipedia.org/wiki/H.M.S.%20Pinafore | H.M.S. Pinafore | H.M.S. Pinafore; or, The Lass that Loved a Sailor (: ‚H.M.S. Pinafore, oder Das Mädchen, das einen Matrosen liebte‘) ist eine Operette (Originalbezeichnung: comic opera) in zwei Akten mit Musik von Arthur Sullivan nach einem Libretto von W. S. Gilbert. Die Uraufführung fand am 25. Mai 1878 im Londoner Theater Opera Comique statt. Mit insgesamt 571 Aufführungen in Serie hatte das Stück die bis dahin zweitlängste Aufführungszeit eines musikalischen Bühnenwerks. H.M.S. Pinafore war Gilbert und Sullivans vierte gemeinsame Opernproduktion, und ihr erster internationaler Erfolg.
Die Geschichte spielt an Bord des britischen Kriegsschiffes H.M.S. Pinafore. Josephine, die Tochter des Kapitäns, ist in den Matrosen Ralph Rackstraw verliebt, obwohl ihr Vater sie mit Sir Joseph Porter, dem Ersten Lord der Admiralität, vermählen will. Josephine folgt zunächst dem Willen ihres Vaters, doch nachdem Sir Joseph für die Gleichheit der Menschen plädiert hat, gestehen sich Ralph und Josephine die Liebe und planen eine heimliche Heirat. Der Kapitän erfährt von diesem Plan, aber wie in vielen anderen Operetten von Gilbert und Sullivan stellt eine überraschende Enthüllung am Ende alles auf den Kopf.
Die Operette schildert auf humorvolle Weise die Liebe zwischen Angehörigen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und verspottet so das britische Klassensystem. Darüber hinaus macht sich Pinafore über Patriotismus, Parteipolitik, die Royal Navy und den Aufstieg unqualifizierter Personen zu verantwortungsvollen Posten lustig.
Die außerordentliche Beliebtheit von Pinafore in Großbritannien und den Vereinigten Staaten diente als Ausgangspunkt für eine Reihe weiterer Operettenerfolge von Gilbert und Sullivan. Diese später als Savoy Operas bekannten Werke beherrschten die musikalische Bühne auf beiden Seiten des Atlantiks für über ein Jahrzehnt. Aufbau und Stil dieser Operetten, insbesondere von Pinafore, wurden oft kopiert und trugen wesentlich zur Entwicklung des modernen Musicals bei.
Entstehungsgeschichte
Im Jahr 1875 beauftragte Richard D’Oyly Carte, damals Impresario des Royalty Theatre unter Selina Dolaro, Gilbert und Sullivan mit der Schaffung ihres zweiten gemeinsamen Werks, dem Einakter Trial by Jury. Diese Operette erwies sich als Erfolg, und 1876 fand Carte mehrere Geldgeber, um die Operngesellschaft Comedy-Opera Company zu finanzieren, die sich der Produktion und Vermarktung der familienfreundlichen englischen Operette widmen sollte. Damit hatte Carte die notwendigen finanziellen Ressourcen, um nach vielen fehlgeschlagenen Versuchen eine neue, abendfüllende Gilbert-und-Sullivan-Operette zu produzieren. Diese nächste Operette, The Sorcerer, hatte ihre Premiere im November 1877. Auch dieses Werk war mit 178 Aufführungen erfolgreich. Die Notenblätter des Werks verkauften sich gut, und Straßenmusikanten spielten die Melodien.
Anstatt die Aufführung des Stücks einem Produzenten zu überlassen, wie es für viktorianische Theater üblich war, produzierten Gilbert, Sullivan und Carte die Aufführung aus eigenen Mitteln. Dadurch waren sie in der Lage, ihre eigene Besetzung auszuwählen, ohne die bereits angestellten Schauspieler einsetzen zu müssen. Für die Produktion stellten sie talentierte Darsteller ein, die meist wenig bekannt waren und keine hohen Gehälter verlangten, und denen sie ein naturalistischeres Schauspiel als damals üblich beibringen konnten. Anschließend passten sie ihr Werk den individuellen Stärken und Schwächen der Darsteller an. Wie der Kritiker Herman Klein berichtete, übte Gilberts und Sullivans geschickter Einsatz der Darsteller auf die Zuschauer Eindruck aus: „Insgeheim bewunderten wir die Natürlichkeit und Ungezwungenheit, mit der Gilberts Scherze und Absurditäten vorgetragen und aufgeführt wurden, denn bis dahin hatte keine Menschenseele so merkwürdige, exzentrische und doch zutiefst menschliche Wesen auf der Bühne gesehen … Sie zauberten eine bis dahin unbekannte komische Welt voller Entzücken hervor.“
Der Erfolg von The Sorcerer ebnete den Weg für eine weitere Zusammenarbeit von Gilbert und Sullivan. Carte einigte sich mit seinen Teilhabern auf die Bedingungen für eine neue Operette, sodass Gilbert gegen Ende des Jahres 1877 mit der Arbeit an H.M.S. Pinafore beginnen konnte. Gilbert war mit dem Thema der Seefahrt vertraut, da sein Vater Schiffsarzt gewesen war. Für sein Libretto griff er auf seine humoristische Gedichtesammlung Bab Ballads zurück. Die dort enthaltenen Gedichte hatten oftmals die Seefahrt zum Inhalt, so etwa Captain Reece (1868) und General John (1867), und dienten auch einigen Rollen als Vorbild. Dick Deadeye basiert auf einer Figur in Woman’s Gratitude (1869); eine frühe Entsprechung von Ralph Rackstraw findet sich in Joe Go-Lightly (1867), wo ein Matrose in die Tochter eines Ranghöheren verliebt ist. Little Buttercup wurde aus The Bumboat Woman’s Story (1879) übernommen. Am 27. Dezember 1877 sandte Gilbert Sullivan, der an der Côte d’Azur auf Urlaub war, eine Handlungsskizze nebst folgender Notiz zu:
Trotz Gilberts Dementi identifizierten das Publikum, Kritiker und sogar der Premierminister Sir Joseph Porter später mit W. H. Smith, einem Politiker, der kürzlich zum Ersten Lord der Admiralität ernannt worden war, obwohl ihm jegliche militärische und seemännische Erfahrung fehlte. Sullivan zeigte sich hocherfreut über Gilberts Idee, und Mitte Januar las Gilbert D’Oyly Carte einen Entwurf der Handlung vor.
Gilbert folgte seinem Vorbild Thomas William Robertson, indem er sich vergewisserte, dass die Kostüme und das Bühnenbild so realitätsnah wie möglich waren. Bei der Vorbereitung der Bühnenbilder für H.M.S. Pinafore besuchten Gilbert und Sullivan im April 1878 Portsmouth, um sich die Schiffe genau anzusehen. Gilbert zeichnete Skizzen der HMS Victory und fertigte ein Modell an, das die Handwerker bei ihrer Arbeit verwendeten. Diese Vorgehensweise war weit entfernt von der üblichen Praxis im viktorianischen Schauspiel, wo der Naturalismus immer noch als relativ neues Konzept galt und die meisten Autoren wenig Einfluss auf die Inszenierung ihrer Stücke und Libretti hatten. Die Detailgenauigkeit war charakteristisch für Gilberts Regiearbeit und wurde in allen seinen Savoy Operas angewandt. Die Korrektheit der visuellen Darstellung lieferte einen Bezugspunkt, der die Skurrilität und Absurdität der Situation noch hervorhob. Sullivans Arbeit als Komponist war Mitte April 1878 „in vollem Gange“. Die Besetzung begann am 24. April mit der musikalischen Probe, und Anfang Mai 1878 arbeiteten die beiden Autoren in Sullivans Wohnung eng zusammen, um das Stück zu vollenden.
Für Pinafore sahen Gilbert, Sullivan und Carte mehrere Hauptdarsteller vor, die bereits bei The Sorcerer mitgespielt hatten. Wie Gilbert im Dezember 1877 Sullivan vorschlug, sollte „Mrs. Cripps [Little Buttercup] eine großartige Rolle für [Harriett] Everard sein … [Rutland] Barrington wird ein hervorragender Kapitän sein, und Grossmith ein erstklassiger First Lord.“ Allerdings hatte sich die Stimme von Mrs. Howard Paul, die bereits Lady Sangazure in The Sorcerer gespielt hatte, verschlechtert. Vertraglich war sie dazu verpflichtet, die Rolle der Kusine Hebe in Pinafore zu übernehmen. Gilbert bemühte sich zunächst, für sie eine amüsante Rolle zu schreiben, wenn auch Sullivan ihrem Einsatz abgeneigt war. Doch Mitte Mai 1878 fassten Gilbert und Sullivan den Entschluss, sie aus der Besetzung ausschließen; enttäuscht von ihrer Rolle trat sie zurück. Nur eine Woche vor der Premiere engagierte Carte die Konzertsängerin Jessie Bond, um Hebe zu spielen. Da Bond wenig schauspielerische Erfahrung besaß, kürzten Gilbert und Sullivan ihren Dialog bis auf einige Zeilen in der letzten Szene, die sie in ein Rezitativ umwandelten. Zu den neu engagierten Schauspielern zählten außerdem Emma Howson und George Power als Josephine und Ralph, deren Stimmen eine Verbesserung des Soprans und des Tenors in The Sorcerer darstellten.
Gilbert war Regisseur seiner eigenen Stücke und Opern. Auf das naturgetreue Schauspiel legte er ebenso viel Wert wie auf ein realistisches Bühnenbild. Selbstbewusste Interaktion mit dem Publikum lehnte er ab und forderte einen Darbietungsstil, in dem die Figuren niemals ihrer eigenen Absurdität bewusst waren, sondern in sich schlüssige Einheiten bildeten. Sullivan dirigierte die musikalischen Proben. Wie auch bei seinen späteren Opern befasste er sich erst ganz am Ende mit der Ouvertüre und überließ dem musikalischen Leiter der Gesellschaft, in diesem Fall Alfred Cellier, einen Entwurf zur Ausarbeitung. Die Premiere von Pinafore fand am 25. Mai 1878 im Theater Opera Comique statt.
Inhalt
Handlung
Erster Akt
Das britische Kriegsschiff H.M.S. Pinafore liegt geankert vor Portsmouth. Die Matrosen befinden sich auf dem Quarterdeck, voller Stolz „Messingteile reinigend, Tauwerk spleißend usw.“
Little Buttercup, eine Verkäuferin des Hafens, die „rosigste, rundeste und röteste Schönheit von ganz Spithead“, kommt an Bord, um der Mannschaft Waren zu verkaufen. Sie deutet an, dass sie unter ihrem „fröhlichen und lockeren Äußeren“ ein dunkles Geheimnis verbirgt. Ralph Rackstraw, „der klügste Bursche der ganzen Flotte“, betritt die Szene und gesteht, dass er Josephine, die Tochter des Kapitäns, liebt. Seine Kameraden drücken ihre Anteilnahme aus – mit Ausnahme von Dick Deadeye, dem grimmigen und hässlichen Realisten der Mannschaft –, können aber Ralph wenig Hoffnung geben, dass seine Liebe erhört wird.
Der stolze und beliebte Kapitän drückt seiner „furchtlosen Mannschaft“ die Anerkennung aus und sagt, dass er sich für ihre Höflichkeit revanchiere, indem er nie („nun ja, kaum jemals“) Schimpfworte wie „a big, big D“ verwende. Nachdem die Matrosen die Szene verlassen haben, gesteht der Kapitän Little Buttercup, dass Josephine einem Heiratsantrag von Sir Joseph Porter, dem Ersten Lord der Admiralität, abgeneigt ist. Buttercup erwidert, dass sie wisse, wie sich unglückliche Liebe anfühlt. Nachdem sie sich zurückgezogen hat, bemerkt der Kapitän, dass sie eine „dralle und reizende Person“ sei. Josephine betritt die Szene und offenbart ihrem Vater, dass sie einen einfachen Matrosen aus seiner Mannschaft liebt, beteuert aber, dass sie eine pflichtbewusste Tochter sei und niemals ihre Liebe zum Seemann ausdrücken würde.
Sir Joseph kommt an Bord, begleitet von seiner „bewundernden Schar Schwestern, Kusinen und Tanten“. Er erzählt, wie er sich durch Hartnäckigkeit aus bescheidenen Verhältnissen zum „Leiter der königlichen Flotte“ hochgearbeitet hat, ohne jegliche Qualifizierung in der Seefahrt zu besitzen. Anschließend erteilt er eine peinliche Lektion in Umgangsformen. Den Kapitän ermahnt er, nach jedem Befehl „wenn ich bitten darf“ zu sagen, denn „ein britischer Soldat ist jedem Menschen gleichgestellt“ – mit Ausnahme von Sir Joseph. Er hat diesbezüglich ein Lied komponiert, und händigt Ralph eine Kopie aus. Von Sir Josephs Ansichten zur Gleichheit ermutigt, entschließt sich Ralph kurz darauf, Josephine seine Liebe zu gestehen. Seine Kameraden zeigen sich erfreut, mit Ausnahme von Dick Deadeye, der behauptet, dass „wenn Leute den Befehlen anderer Leute gehorchen müssen, von Gleichheit keine Rede sein kann“. Schockiert von seinen Worten zwingen die anderen Matrosen Dick dazu, sich Sir Josephs Lied anzuhören, bevor sie die Szene verlassen und Ralph alleine auf dem Deck zurücklassen. Josephine betritt das Deck, und Ralph gesteht ihr in für einen „gewöhnlichen Seemann“ ungewöhnlich sprachgewandten Worten seine Liebe. Josephine ist gerührt, weiß aber, dass es ihre Pflicht ist, Sir Joseph anstatt Ralph zu heiraten, auch wenn sie Sir Josephs Werben widerlich findet. Sie verbirgt ihre wahren Gefühle und weist Ralphs Liebeserklärung „hochmütig“ zurück.
Ralph ruft seine Schiffskameraden herbei – Sir Josephs weibliche Verwandtschaft kommt ebenfalls – und erklärt ihnen, dass er dem Freitod nahe ist. Die Mannschaft drückt ihre Anteilnahme aus, wiederum mit Ausnahme von Dick. Als Ralph eine Pistole an seine Schläfe hält, eilt Josephine herbei und gesteht, dass sie ihn letztendlich doch liebt. Ralph und Josephine planen, sich bei Nacht an Land zu stehlen, um sich heimlich zu vermählen. Dick Deadeye ermahnt sie, „das Vorhaben nicht zu verwirklichen“, doch die fröhliche Gesellschaft ignoriert ihn.
Zweiter Akt
In der Vollmondnacht grübelt Captain Corcoran über seine Sorgen: seine „wohlgesinnte Mannschaft rebelliert“, seine „Tochter ist einem Seemann zugetan“, seine Freunde scheinen ihn zu verlassen, und Sir Joseph droht mit Kriegsgericht. Little Buttercup drückt ihr Mitgefühl aus. Der Kapitän bekennt, dass er ihre Zuneigung erwidert hätte, wenn nicht ihr sozialer Stand sie trennen würde. Buttercup stellt fest, dass nicht alles ist, wie es scheint, und dass ihn „eine Änderung“ erwartet, doch der Kapitän begreift ihre rätselhaften Andeutungen nicht.
Sir Joseph tritt ein und beschwert sich, dass Josephine seinen Heiratsantrag noch nicht erwidert hat. Der Kapitän mutmaßt, dass sie von seinem „hohen Dienstgrad“ eingeschüchtert ist, und dass sie seinen Antrag sicher annehmen würde, wenn Sir Joseph sie davon überzeugen könnte, dass die „Liebe alle Ränge ebnet“. Nachdem sich beide entfernt haben, betritt Josephine die Szene, immer noch voller Schuldgefühle wegen der geplanten Flucht, und besorgt darüber, dass sie ein Leben voller Luxus aufgeben müssen wird. Als Sir Joseph sein Argument vorbringt, dass die Liebe jede Rangordnung überwindet, sagt Josephine erfreut, dass sie „nicht länger zögern wird“. Der Kapitän und Sir Joseph sind hocherfreut, aber Josephine ist insgeheim entschlossener denn je, Ralph zu heiraten.
Dick Deadeye berichtet dem Kapitän vom Plan der beiden Liebenden, durchzubrennen. Der Kapitän tritt Ralph und Josephine entgegen, als sich beide vom Schiff stehlen wollen. Beide erklären ihre Liebe und begründen ihr Vorhaben damit, dass „er ein Engländer ist!“. Der aufgebrachte Kapitän bleibt davon unbeeindruckt und platzt heraus mit „Verdammt nochmal, das ist zu arg!“ („Why, damme, it’s too bad!“). Sir Joseph und dessen Verwandte, die seinen Fluch vernommen haben, sind entsetzt, dass sie an Bord eines Schiffes Schimpfworte hören, und Sir Joseph befiehlt, den Kapitän in seiner Kabine einzuschließen.
Als Sir Joseph fragt, was den Ausbruch des ansonsten höflichen Kapitäns verursacht habe, erklärt Ralph, dass es seine Liebeserklärung an Josephine war. Wiederum erzürnt über diese Enthüllung, und ohne Josephines Bitte um Gnade zu beachten, befiehlt Sir Joseph, Ralph anzuketten und in das Schiffsgefängnis zu bringen. Little Buttercup tritt nun hervor und offenbart ihr lange gehütetes Geheimnis. Vor vielen Jahren waren ihr als Amme zwei Babys anvertraut, eines von „niederem Stand“, das andere aus der Oberschicht. Sie gesteht, dass sie „beide Kinder vertauschte … das wohlgeborene Kind war Ralph; euer Kapitän war das andere.“
Sir Joseph begreift nun, dass Ralph der Kapitän sein sollte, und der Kapitän Ralph. Er lässt beide herbeirufen, und jeder erscheint in der Uniform des anderen: Ralph als Kapitän der Pinafore, und Corcoran als gewöhnlicher Matrose. Eine Heirat mit Josephine hält Sir Joseph nun für „ausgeschlossen“: „die Liebe ebnet alle Ränge … bis zu einem beträchtlichen Grad, aber sie ebnet sie nicht in diesem Ausmaß.“ Er überlässt Josephine Captain Rackstraw. Der nun niedrige Dienstgrad des ehemaligen Kapitäns erlaubt es ihm, Buttercup zu heiraten. Sir Joseph gibt sich mit seiner Kusine Hebe zufrieden, und die Szene endet im allgemeinen Jubel.
Musikalische Nummern
Originale Orchesterbesetzung: 2 Flöten, Oboe, 2 Klarinetten, Fagott, Piccoloflöte, 2 Hörner, 2 Posaunen, 2 Kornette, 2 Pauken, Schlagwerk
Quelle der Hörbeispiele: Aufnahme der D’Oyly Carte Opera Company unter der Leitung von Isidore Godfrey, 1960
Fassungen und Kürzungen
Ballade für Captain Corcoran, „Reflect, my child“
Während der Proben der Uraufführung fügte Gilbert eine Ballade für Captain Corcoran hinzu, in der dieser seine Tochter auffordert, ihren geliebten Seemann zu vergessen, denn „bei jedem Schritt würde er Taktlosigkeiten begehen, die ihm die Gesellschaft nie verzeihen würde“. Diese Ballade sollte zwischen Nr. 5 und 6 der endgültigen Fassung vorgetragen werden, wurde aber noch vor der Premiere gestrichen. Die Worte haben sich im Libretto erhalten, das beim Lord Chamberlain zur Lizenzierung hinterlegt war. Vor 1999 war von Sullivans Komposition nur die Stimme des Konzertmeisters erhalten.
Im April 1999 entdeckten die Sullivan-Forscher Bruce I. Miller und Helga J. Perry in einer Privatsammlung die fast vollständige Partitur. Das Material wurde zusammen mit einer Rekonstruktion der zum Teil verloren gegangenen Baritonstimme und zweiten Violinstimme veröffentlicht. Das Stück wurde bereits mehrmals von Operngesellschaften aufgeführt und auch aufgenommen, ist aber bislang kein fester Bestandteil von Aufführungsmaterialien oder Einspielungen.
Dialog für Kusine Hebe
Die Lizenzkopie des Librettos enthielt in mehrere Szenen des zweiten Akts Dialogzeilen für Sir Josephs Kusine Hebe. In der Szene, die Nr. 14 („Things are seldom what they seem“) folgt, begleitet sie Sir Joseph auf die Bühne und wiederholt dessen unzufriedene Äußerungen bezüglich Josephine. Nachdem sie mehrmals Sir Joseph unterbrochen hat, ermahnt er sie zur Ruhe, worauf sie „crushed!“ („niedergeschmettert!“) ausruft. Gilbert verwendete diese Textstellen später für Lady Jane in Patience. Hebe hatte außerdem einige Dialogzeilen nach Nr. 18 („Carefully on tiptoe stealing“) und nach Nr. 19 („Farewell, my own“).
In späteren Proben für die Uraufführung übernahm Jessie Bond die Rolle von Hebe und ersetzte damit Mrs. Howard Paul. Bond, die bis dahin eine Karriere als Konzertsängerin verfolgt hatte und wenig schauspielerische Erfahrung besaß, fühlte sich nicht imstande, den Dialog vorzutragen, sodass diese Stellen gestrichen wurden. Hebes Dialog wird in neueren Aufführungen gelegentlich wiederhergestellt, insbesondere die Zeilen in der Szene nach Nr. 14.
Rezitativ vor dem Finale des Zweiten Akts
Der Dialog vor dem Finale des zweiten Akts, beginnend mit „Here, take her sir, and mind you treat her kindly“, war im Original ein Rezitativ. Die Musik für diese Passage wurde in der Erstausgabe des Stimmsatzes als Nr. 20a abgedruckt. Kurz nach der Premiere wurde das Rezitativ in einen gewöhnlichen Dialog umgewandelt. In einigen neueren Aufführungen wird das Rezitativ wiederhergestellt.
Analyse
Der Theaterhistoriker John Bush Jones schrieb, Pinafore habe „alles, was der Besucher eines Musiktheaters erwarten kann: eine mitreißende und sogar vergleichsweise spannende Geschichte ist mit vielfältigen und gut ausgearbeiteten Rollen besetzt, die drollige, geistreiche und oftmals unerhört lustige Dialoge und Liedtexte sprechen und singen. Die Musik enthält eine Fülle von Melodien, die das Publikum nachsummend mit nach Hause nehmen möchte“. Sir George Power, der als Erster die Rolle von Ralph Rackstraw besetzte, sah das Erfolgsgeheimnis der Savoy Operas in der Art und Weise, mit der „Sullivan den Geist von Gilberts verrücktem Humor traf, und pompös war wenn Gilbert lebhaft war, oder ganz bewusst die Stimmung überspitzte, wann immer Gilberts Satire am verwegensten und bissigsten war“.
Satire und Komik
Bereits der Titel des Werks ist komisch, da er die Bezeichnung für eine Kinderschürze (engl. Pinafore) auf ein Kriegsschiff überträgt. Die Biografin Jane Stedman schrieb, dass Pinafore „in Bezug auf die Satire erheblich komplexer“ als The Sorcerer sei. Sie hob hervor, dass Gilbert mehrere Ideen und Themen aus seinen Bab Ballads verwendet hatte; so etwa stammt die Idee des weltmännischen Gebarens des Kapitäns vor seiner Mannschaft aus Captain Reece (1868) und die Umkehrung der Rangordnung durch die Vertauschung nach der Geburt aus General John (1867). Dick Deadeye, der auf einer Figur in Woman’ Gratitude (1867) basiert, verkörpert ein weiteres satirisches – und halb autografisches – Thema, das Gilbert immer wieder aufgriff: die misanthropische Missgestalt, die aufgrund ihres abstoßenden Aussehens unbeliebt ist, obwohl sie die Stimme der Vernunft und des gesunden Menschenverstands verkörpert. Gilbert griff außerdem auf seine Operette The Gentleman in Black (1870) zurück, in der ebenfalls der Tausch von Babys vorkommt.
Der Historiker H. M. Walbrook schrieb 1921, Pinafore parodiere „jene Gattung Seemansdrama, deren typisches Beispiel Douglas Jerrolds Black-Eyed Susan ist, und jene ‚God’s-Englishman‘-Art von Patriotismus, die darin besteht, Plattheiten auszurufen, eine schauspielerische Haltung einzunehmen und wenig oder nichts zu tun, um seinem Land zu dienen“. Der australische Opernregisseur Stuart Maunder kommentierte 2005 die Gegenüberstellung von Satire und Nationalismus in der Operette mit folgenden Worten: „sie singen alle ‚He is an Englishman‘, und man weiß ganz genau, dass sie es ins Lächerliche ziehen, aber die Musik ist so militärisch … dass man nicht anders kann, als in den ganzen Jingoismus des British Empire hineingezogen zu werden.“ Darüber hinaus knüpfe das Lied an die Satire auf die Klassenunterschiede an: „H.M.S. Pinafore ist im Grunde eine Satire auf die britische Liebe zum Klassensystem … In diesem Moment sagen alle Männer an Bord: ‚Aber natürlich kann Ralph die Tochter des Kapitäns heiraten, denn er ist ja Brite, und deshalb ist er großartig‘“.
Zu Gilberts beliebten komischen Themen zählt auch der Aufstieg von unqualifizierten Personen zu einer verantwortungsvollen Stellung. So etwa beschreibt Gilbert in The Happy Land (1873) eine Welt, in der Regierungsstellen der jeweils ungeeignetsten Person anvertraut werden; insbesondere wird jemand, der noch nie etwas von Schiffen gehört hat, zum Ersten Lord der Admiralität ernannt. In Pinafore griff Gilbert nochmals dieses Thema auf: Sir Joseph steigt zu eben jenem Posten auf, weil er „niemals zur See fährt“. Auch in den späteren Gilbert-and-Sullivan-Operetten finden sich Entsprechungen, so etwa Major-General Stanley in The Pirates of Penzance und Ko-Ko in The Mikado. Die Figur des Sir Joseph karikiert nicht nur die mangelnde Qualifikation von W. H. Smith, sondern auch das demonstrativ anständige Benehmen, für das er bekannt war. Weiterhin macht sich Gilbert über Parteipolitik lustig, indem Sir Joseph „immer nach dem Verlangen der Partei wählt“ und so seine persönliche Integrität aufgibt. Die „gewerbliche Mittelschicht“, aus der die meisten von Gilberts Zuschauern stammten, wird ebenso satirisch dargestellt wie die Unterschicht und soziale Aufsteiger. Der Altersunterschied zwischen Ralph und dem Kapitän, die beide gemeinsam aufgezogen wurden, parodiert das wechselnde Alter von Thaddeus in Michael William Balfes Operette The Bohemian Girl.
Ein Thema, das die Operette durchzieht, ist die Liebe von Angehörigen verschiedener Gesellschaftsklassen. In der vorherigen Gilbert-und-Sullivan-Operette, The Sorcerer, bereitet ein Liebestrank Probleme, indem er die Dorfbewohner und Hochzeitsgäste dazu bringt, sich in Personen aus unterschiedlichen sozialen Klassen zu verlieben. Obwohl in Pinafore die Tochter des Kapitäns einen gewöhnlichen Matrosen liebt, sagt sie ihm pflichtbewusst: „Ihre dargebotene Liebe weise ich stolz zurück“. Seine Zuneigung äußert er in einer poetischen und ergreifenden Rede, die mit „Ich bin ein britischer Matrose, und ich liebe Sie“ endet. Erst am Ende stellt sich heraus, dass er in Wirklichkeit von höherem Rang ist. Dies ist eine Parodie des viktorianischen „Equality Drama“, zu dem beispielsweise Lord Lyttons The Lady of Lyons (1838) gehört. In diesem Schauspiel weist die Heldin einen tugendhaften Bauern ab, der seine ebenso bewegende Rede mit „Ich bin ein Bauer!“ abschließt. Später stellt sich heraus, dass er ihr sozialer Vorgesetzter geworden ist. Außerdem beteuert Sir Joseph in Pinafore, dass die Liebe „alle Ränge ebnet“. In Tom Taylors The Serf liebt die Heldin ebenfalls einen Bauern, der zu einer höheren Stellung aufsteigt, sodass sie am Ende feststellt, dass die Liebe „alles ausgleicht“. In einer Parodie auf die freiheitsliebende Darstellung des Seefahrer-Melodrams erklärt Sir Joseph der Besatzung der Pinafore, dass sie „jedem Manne ebenbürtig sei“ (mit Ausnahme von ihm selbst), und schreibt ihnen ein Lied, das den britischen Matrosen verherrlicht. Im Gegensatz dazu erniedrigt er den stolzen Kapitän, indem er ihn dazu auffordert, „eine Hornpipe auf dem Kabinentisch zu tanzen“. Jones bemerkt, dass die Beziehung zwischen Ralph und Josephine „nur durch Buttercups absurdes Geständnis von der Vertauschung der Kinder im zweiten Akt akzeptabel wird“ und schließt daraus, dass Gilbert „ein konservativer Satiriker ist, der letztendlich dafür plädierte, den Status quo beizubehalten … und zeigen wollte, dass die Liebe eben nicht alle Ränge ebnet“.
Biografen sind sich uneinig darüber, ob Gilbert – wie von Jones behauptet – ein Befürworter der damaligen gesellschaftlichen Zustände war und den Schwerpunkt eher auf die Unterhaltung legte, oder ob er im Wesentlichen parodierte und sich „gegen die Narrheiten seiner Zeit“ wandte. Andrew Crowther ist der Auffassung, dass diese unterschiedlichen Auffassungen auf Gilberts „Techniken der Umkehrung – durch Ironie und Auf-den-Kopf-Stellen“ zurückgehen, weshalb „die oberflächlichen Aussagen in seinen Werken das Gegenteil der zugrundeliegenden Aussagen“ darstellen würden. Laut Crowther habe Gilbert die gesellschaftlichen Normen gleichzeitig „zelebrieren“ und verspotten wollen. H.M.S. Pinafore habe Gilbert die Gelegenheit geboten, seine eigenen zwiespältigen Gefühle auszudrücken, die „auch bei der Allgemeinheit ungeheuren Anklang fanden.“ Das Werk sei „eine höchst intelligente Parodie auf das nautische Melodram … wenn auch beherrscht von den Konventionen, die es verspottet“. Während das nautische Melodram den gewöhnlichen Seemann verherrlicht, macht Gilbert in Pinafore den Fürsprecher der Gleichheit, Sir Joseph, zu einem aufgeblasenen und hypokritischen Mitglied der herrschenden Klasse, das den Begriff der Gleichheit nicht auf sich selbst anwenden kann. Der Matrosenheld Ralph ist durch Sir Josephs kühne Äußerungen von seiner Ebenbürtigkeit überzeugt und missachtet das Sozialgefüge, indem er der Tochter des Kapitäns seine Liebe gesteht. An dieser Stelle, so Crowther, hätte Gilberts satirisches Argument logischerweise zu Ralphs Verhaftung führen müssen. Um aber der Konvention gerecht zu werden, habe Gilbert eine offensichtliche Absurdität herbeigeführt: der Kapitän und Ralph wurden als Kinder vertauscht. Indem Ralph durch ein zufälliges Ereignis plötzlich zum angemessenen Gatten für Josephine wird, kann sowohl die herrschende Gesellschaftsordnung als auch ein romantisches Happy End gewährleistet werden. Crowther zieht daraus den Schluss, dass man es mit einer Operette zu tun habe, die „alle Konventionen des Melodrams einsetzt und verspottet, aber letzten Endes fällt es schwer, festzustellen, wer gewonnen hat, die Konventionen oder der Spott“. Der weitreichende Erfolg des Werks sei darauf zurückzuführen, dass es alle Gruppen gleichermaßen ansprach: das intellektuelle Publikum, das Satire erwartete, den Theaterbesucher aus der Mittelschicht, der eine beruhigende Bestätigung des gesellschaftlichen Ordnung suchte, und den Arbeiter, der zum Zeuge eines melodramatischen Sieges des „kleinen Mannes“ wurde.
Musik
Zu den bekanntesten Liedern der Operette gehören der Walzer „I’m called Little Buttercup“, der die Figur vorstellt und den Sullivan im Entracte und im Finale des 2. Akts wiederholt, um dem Zuhörer die Melodie einzuprägen. Bekannt ist auch „A British tar“, ein Glee für drei Männer, das den musterhaften Matrosen beschreibt. Ein weiteres bekanntes Stück ist Sir Josephs Lied „When I was a Lad“, das von seiner rasanten Karriere erzählt.
Musikforscher Arthur Jacobs ist der Ansicht, dass Gilberts Handlung „Sullivans Talent vortrefflich anregte“. Im Eröffnungslied des Kapitäns, „I am the Captain of the Pinafore“, gesteht dieser, dass sein weltmännisches Verhalten „nie … nun ja, kaum jemals“ Schimpfworten weiche, und dass er als erfahrener Seemann „kaum jemals“ an Seekrankheit leide. Sullivan fand „zielsicher die richtige musikalische Untermalung für die Worte ‚wie, niemals?‘ … geschickt betont … durch das chromatische Spiel des Fagotts“. Volker Klotz bemerkt, dass unter Sullivan der Dialog zwischen Kapitän und Matrosen eine „beinahe kirchenliturgische Responsorienform annimmt“, die „die Verdrehung der tatsächlichen Machtverhältnisse vollends überdreht“.
Die allmähliche Ausdruckssteigerung bei der Ankündigung von Sir Joseph, beginnend als „zarter, unsichtbarer Damenchor“ („Over the bright blue sea“) über den Matrosenchor („Sir Joseph’s barge is seen“) bis hin zum pompösen Höhepunkt in „Now give three cheers“ stellt laut Klotz einen komischen Gegensatz zur darauffolgenden musikalischen Antiklimax dar, in der der Amtsträger nur noch „ein dummdreist verschmitztes Couplet“ („When I was a lad“) verlauten lässt.
Sullivan verwendete Moll-Tonarten, um eine komische Wirkung zu erzielen, wie etwa in „Kind Captain, I’ve important information“. Der Komponist und Sullivan-Biograf Gervase Hughes zeigte sich beeindruckt von der Introduktion zum Eröffnungschor, die „eine schwungvolle Seefahrtsmelodie enthält … in einer unkomplizierten Tonart, C-Dur … eine Modulation in die Moll-Mediante, wo zu unserer Überraschung eine schwermütige Oboe den ersten Vers von ‚Sorry her lot‘ im ²/4-Takt verlauten lässt. Danach kündigen in der lokalen Dominanttonart B-Dur die Violinen (immer noch in ²/4) Little Buttercup an … bei einer Begegnung unter diesen Umständen würde man kaum erwarten, dass sie später als Walzerkönigin erscheint … das Fagott und die Kontrabässe … bringen energisch zur Geltung, wer der Kapitän der Pinafore ist … in der unwahrscheinlichen Tonart as-Moll …. Buttercup macht einen letzten verzweifelten Versuch, sich in des-Moll Gehör zu verschaffen, aber die anderen haben nie gewusst, dass eine so ausgefallene Tonart existiert. Somit kehren alle plötzlich wieder zu C-Dur im guten alten 6/4-Takt zurück“.
Jacobs zufolge leben „Ralph, Captain Corcoran, Sir Joseph und Josephine alle von ihrer wechselwirkenden Musik (insbesondere ‘Never mind the why and wherefore’), und fast genau so viele musikalische Elemente werden für zwei Figuren eingesetzt, die die Oper oder das Melodram parodieren, nämlich Little Buttercup mit ‚Zigeunerblut in ihren Adern‘ und Dick Deadeye mit seinen schweren Schritten“. Der Sullivan-Forscher David Russell Hulme wies auf Sullivans Parodie von Opernstilen hin, „besonders die händelschen Rezitative und die Ausreiß-Szene, die Erinnerungen an viele nächtliche Opern-Verschwörungen weckt, aber am besten von allem ist die Parodie der patriotischen Melodie in ‚For he is an Englishman!‘“ Die Satire des Liedes wird noch durch den Oktavsprung auf „He is an Englishman“ betont. Deutlich wird die Parodie auf das übertriebene Pathos der italienischen Oper in Josephines Solo „The hours creep on apace“. Das Trio „Never mind the why and wherefore“ nutzt laut Volker Klotz jenes „vertraute Schema der Nummernoper“ so plakativ, dass es dem Publikum überdeutlich werde: Trotz des stimmigen Ensembles gehen die Interessen der Personen auseinander – Josephine hat insgeheim vor, Ralph zu heiraten –, so dass jeder unbeirrt seinen eigenen Stimmpart verfolgt. Buttercups Lied im zweiten Akt, in dem sie offenbart, dass sie die Kinder vertauscht hatte, beginnt mit einem Zitat aus Franz Schuberts Erlkönig und parodiert außerdem Verdis Oper Il trovatore. Jacobs weist darauf hin, dass Sullivan seine eigenen humoristischen Spuren in der Musik hinterließ, indem er banale Äußerungen in „Donizetti-artigen Rezitativen vertont“. In anderen Fällen, wie in Josephines und Ralphs Duett „Refrain, audacious tar“, hielt Sullivan Parodie für unangebracht und nutzte den dramatischen Stil der italienischen Oper nur, um die emotionalen Umstände musikalisch zu untermalen.
Aufführungen
Erste Aufführungen in Großbritannien
Die Premiere von Pinafore fand am 25. Mai 1878 im Opera Comique vor einem begeisterten Publikum statt. Sullivan war bei der Premiere Dirigent. Bald ließen jedoch die Ticketverkäufe nach, was allgemein einer Hitzewelle zugeschrieben wird, durch die es im kleinen Opera Comique besonders stickig und unbehaglich wurde. Der Historiker Michael Ainger stellt diese Erklärung zumindest teilweise in Frage, denn die Hitzewellen im Sommer 1878 seien kurz und vorübergehend gewesen. In jedem Fall schrieb Mitte August Sullivan an seine Mutter, dass kühleres Wetter herrschte, was den Verkäufen zugutekäme. Carte verhalf dem Stück zu größerer Bekanntheit, indem er am 6. Juli 1878 eine Frühvorstellung im Crystal Palace gab. Zwischenzeitlich hatten die Direktoren der Comedy-Opera Company das Vertrauen in die Rentabilität der Operette verloren und kündigten an, das Stück abzusetzen. Nachdem sich die Besucherzahl kurzfristig erhöht hatte, wurde die Ankündigung vorläufig zurückgezogen. Um die Fortsetzung der Aufführungen zu gewährleisten, wurden die Gagen der Künstler um ein Drittel gekürzt.
Ende August 1878 führte Sullivan Auszüge der Musik aus Pinafore, die von seinem Assistenten Hamilton Clarke bearbeitet wurden, bei mehreren erfolgreichen Promenadenkonzerten im Covent Garden auf. Diese Konzerte riefen Interesse hervor und förderten die Ticketverkäufe. Im September wurde Pinafore vor vollbesetzten Zuschauerrängen im Opera Comique aufgeführt. Die Klavierauszüge hatten sich 10.000-mal verkauft, und Carte sandte bald zwei weitere Operngesellschaften zur Tournee in die Provinz. Carte überzeugte Gilbert und Sullivan davon, dass nun eine Teilhaberschaft aller drei von Vorteil wäre, und plante, sich vom Vorstand der Comedy-Opera Company zu lösen. Das Opera Comique musste über Weihnachten 1878 wegen Arbeiten am Abflusssystem schließen. Carte nutzte die erzwungene Schließung des Theatergebäudes, um sich auf eine Vertragsklausel zu berufen, nach der die Rechte an Pinafore und Sorcerer nach der ersten Aufführungsreihe von H.M.S. Pinafore an Gilbert und Sullivan zurückfielen. Daraufhin nahm Carte zum 1. Februar 1879 die Oper für sechs Monate in Pacht. Nach dem Ablauf der sechs Monate plante Carte, die Comedy-Opera Company davon zu informieren, dass deren Rechte an der Produktion und dem Theatergebäude abgelaufen waren.
Unterdessen begannen in den Vereinigten Staaten unter großem Anklang zahlreiche unlizenzierte Produktionen von Pinafore, beginnend mit einer Erstaufführung in Boston am 25. November 1878. Pinafore wurde auf beiden Seiten des Atlantiks zur Quelle geflügelter Worte, so etwa der folgende Dialog:
Im Februar 1879 wurden die Aufführungen von Pinafore am Opera Comique wieder aufgenommen. Außerdem fanden ab April erneut Tourneen statt. Im Juni gingen zwei Gesellschaften auf Tournee in die Provinz, eine davon mit Richard Mansfield als Sir Joseph, die andere mit William Sydney Penley in der Rolle. Carte, der auf Einkünfte aus amerikanischen Aufführungen hoffte, begab sich im Juni nach New York. Dort bereitete er eine „authentische“ Produktion von Pinafore vor, deren Proben vom Autor und Komponisten persönlich geleitet werden sollten. Zur Produktion von Pinafore und für die geplante Premiere der folgenden Gilbert-und-Sullivan-Operette in New York mietete er ein Theater und ließ Chorsänger vorsingen. Darüber hinaus plante er, mit Pinafore und Sorcerer auf Tournee zu gehen.
Wie mit Carte und Gilbert vereinbart, teilte Sullivan Anfang Juni 1879 den Teilhabern der Comedy-Opera Company mit, dass der Vertrag zur Aufführung von Pinafore nicht verlängert werden würde, und dass er die Aufführungsrechte für seine Musik am 31. Juli zurückziehen würde. Die verärgerten Teilhaber ließen daraufhin verlauten, dass sie Pinafore in einem anderen Theater aufführen lassen würden, und leiteten rechtliche Schritte gegen Carte und die anderen ein. Den Mitwirkenden in London und den Tourneegesellschaften boten sie eine höhere Gage an, um in ihren Aufführungen zu spielen. Obwohl einige Chormitglieder zustimmten, wechselte nur ein Hauptdarsteller, Mr. Dymott. Zur Aufführung mieteten die Teilhaber das Imperial Theatre, allerdings besaßen sie kein Bühnenbild. Daher erteilten sie einer Gruppe von Schlägern den Auftrag, während des zweiten Akts der Abendvorstellung am 31. Juli die Kulissen und Requisiten zu entwenden. Gilbert war an diesem Abend abwesend, und Sullivan erholte sich von einer Operation. Bühnenarbeitern und Schauspielern gelang es, den Angriff hinter der Bühne abzuwenden. Der Inspizient Richard Barker und andere Mitarbeiter wurden bei diesem Vorfall verletzt. Die Vorführung lief weiter, bis jemand „Feuer!“ rief. George Grossmith, der Sir Joseph spielte, trat vor den Vorhang, um die in Panik geratenen Zuschauer zu beruhigen. Nachdem die herbeigerufene Polizei die Ordnung wiederhergestellt hatte, lief die Vorstellung weiter. Gilbert klagte die ehemaligen Teilhaber an, um ihre Produktion von H.M.S. Pinafore zu unterbinden. Das Gericht erlaubte die Fortführung der Aufführungen am Imperial zum 1. August 1879. Die Konkurrenzproduktion wurde ab September am Olympic Theatre weitergeführt, erreichte aber nicht die Beliebtheit der D’Oyly-Carte-Produktion, und wurde im Oktober nach 91 Aufführungen eingestellt. Die Angelegenheit wurde letztendlich vor Gericht ausgetragen, wo ein Richter zwei Jahre später zugunsten von Carte entschied.
Nach seiner Rückkehr nach London begann Carte eine neue Teilhaberschaft mit Gilbert und Sullivan, um die Erlöse aus den Aufführungen gleichmäßig zu verteilen. Mittlerweile wurde Pinafore weiterhin häufig aufgeführt. Am 20. Februar 1880 schloss Pinafore die erste Saison nach insgesamt 571 Vorführungen ab. Weltweit war bis dahin nur ein musikalisches Bühnenwerk länger aufgeführt worden, nämlich Robert Planquettes Operette Les cloches de Corneville.
Pinafore in den Vereinigten Staaten
1878 und 1879 gab es in den Vereinigten Staaten etwa 150 verschiedene Neuproduktionen von H.M.S. Pinafore, von denen keine einzige Lizenzgebühren an die Autoren entrichtete. Die Erstaufführung, die am 25. November 1878 im Boston Museum ohne Wissen der Urheber stattfand, machte soviel Furore, dass das Stück innerhalb kurzer Zeit in Großstädten und auf Tourneen von dutzenden Gesellschaften aufgeführt wurde. Alleine in Boston gab es mindestens ein Dutzend Inszenierungen, darunter eine Kinderaufführung, die von Louisa May Alcott in ihrer Kurzgeschichte Jimmy’s Cruise in the Pinafore beschrieben wurde. In New York wurde das Werk zur gleichen Zeit in acht Theatern im Umkreis von weniger als fünf Häuserblocks aufgeführt.
Diese unlizenzierten Aufführungen nahmen vielfältige Formen an, darunter Burlesken, Männer, die die Frauenrollen übernahmen und umgekehrt, Parodien, Varietévorstellungen, Minstrel-Show-Adaptionen, Kinderaufführungen, solche mit ausschließlich schwarzer oder katholischer Besetzung, deutsche, jiddische und andere fremdsprachige Versionen sowie Aufführungen auf Booten oder mit Kirchenchören. Bearbeitungen als Notensätze waren beliebt, es gab Puppen und Haushaltsgeräte passend zum Pinafore-Thema, und Bezüge zur Operette fanden sich oftmals in der Werbung, den Nachrichten und anderen Medien. Gilbert, Sullivan und Carte strengten Gerichtsprozesse in den Vereinigten Staaten an und versuchten jahrelang erfolglos, die amerikanischen Aufführungsrechte durchzusetzen oder zumindest einige Lizenzgebühren einzutreiben. Sullivan bedauerte besonders, dass die amerikanischen Eigenproduktionen seine Musik in einer „entstellten Form“ vermittelten. Für ihre nächste Operette, The Pirates of Penzance, suchten sie ihre Ansprüche zu sichern, indem sie die offizielle Uraufführung in New York stattfinden ließen.
Am 24. April 1879 trafen sich Gilbert, Sullivan und Carte, um Pläne für eine eigene Aufführung von Pinafore in Amerika zu treffen. Carte reiste im Sommer 1879 nach New York und traf mit dem Bühnenregisseur John T. Ford Vereinbarungen, um am Fifth Avenue Theatre die erste autorisierte Aufführung von Pinafore zu präsentieren. Im November kehrte er mit Gilbert, Sullivan und einer Gruppe von hervorragenden Sängern wieder nach Amerika zurück, darunter John Handford Ryley als Sir Joseph, Blanche Roosevelt als Josephine, Alice Barnett als Little Buttercup, Furneaux Cook als Dick Deadeye, Hugh Talbot als Ralph Rackstraw und Jessie Bond als Kusine Hebe. Hinzu kamen einige amerikanische Sänger, darunter Signor Brocolini (John Clark) als Captain Corcoran. Alfred Cellier reiste an, um Sullivan zu unterstützen, während sein Bruder François in London blieb, um die dortigen Aufführungen zu leiten.
Die Erstaufführung dieser Pinafore-Inszenierung fand am 1. Dezember 1879 statt, mit Gilbert als Chormitglied. Die Aufführungen liefen den ganzen Dezember lang. Nach einer relativ gutbesuchten ersten Woche nahm die Besucherzahl rapide ab, da die meisten New Yorker bereits Aufführungen von Pinafore gesehen hatten. Diese unerwartete Wendung zwang Gilbert und Sullivan dazu, ihre nächste Operette, The Pirates of Penzance, schnell fertigzustellen und einzuproben. Die Uraufführung fand am 31. Dezember mit großem Erfolg statt. Kurz darauf sandte Carte drei Tourneetheater zur Ostküste und zum mittleren Westen, um Pinafore zusammen mit The Sorcerer und Pirates aufzuführen.
D’Oyly Cartes Kinderaufführung
Die nicht genehmigten Kinderaufführungen von Pinafore waren so beliebt, dass Carte eine eigene Version inszenierte, die ab dem 16. Dezember 1879 vormittags am Opera Comique lief. François Cellier, der den Posten seines Bruders als Cartes Chefdirigent in London übernommen hatte, bearbeitete das Werk für Kinderstimmen. Zwischen den beiden Weihnachtssaisons, vom 2. August 1880 bis zum 11. Dezember 1880, ging die Vorstellung auf eine Provinztournee.
Cartes Kinderaufführung wurde sowohl von Theaterkritikern wie Clement Scott als auch vom Publikum – auch von den Kindern – hoch gelobt. Captain Corcorans Fluch „Damme!“ wurde allerdings in der Kinderfassung beibehalten, was einige Besucher schockierte. Lewis Carroll schrieb dazu später: „eine Schar süßer, unschuldig aussehender Mädchen sang mit heiterem und frohem Blick ‚Er hat verdammt gesagt! Er hat verdammt gesagt!‘ im Chor. Ich kann dem Leser kaum die Qualen beschreiben, die ich dabei empfand, diese lieben Kinder zu sehen, denen solche Worte beigebracht wurden, um abgestumpfte Ohren zu erfreuen … Wie Mr. Gilbert sich dazu herablassen konnte, solchen widerwärtigen Schund zu schreiben, oder Sir Arthur Sullivan seine vornehme Kunst feilbot, dergleichen zu vertonen, ist mir schleierhaft.“
Weitere Inszenierungen
Nach dem Erfolg des Werks in London sandte Richard D’Oyly Carte unverzüglich Tourneegesellschaften in die britische Provinz. Unter Cartes Aufsicht wurde Pinafore zwischen 1878 und 1888 jährlich von bis zu drei D’Oyly-Carte-Gesellschaften aufgeführt, darunter die erste Wiederaufführung im Jahr 1887. Danach ließ man das Werk vorläufig ruhen und wandte sich von 1894 bis 1900 sowie die meiste Zeit von 1903 bis 1940 wieder dem Tourneerepertoire zu. Gilbert leitete alle Wiederaufführungen bis zu seinem Tod. Danach behielt die D’Oyly Carte Opera Company bis 1962 die ausschließlichen Aufführungsrechte an den Savoy Operas. Dabei hielt sie sich die ganze Zeit eng an Gilberts schriftlich festgehaltene Regieanweisungen und verlangte auch von den Lizenznehmern, diese zu befolgen.
Bis 1908 fanden Wiederaufführungen der Operette in zeitgenössischer Kleidung statt. Danach schufen Kostümbildner wie Percy Anderson, George Sheringham und Peter Goffin viktorianische Kostümentwürfe. Im Winter 1940–1941 wurden das Bühnenbild und die Kostüme der D’Oyly Carte Company für Pinafore und drei weitere Operetten durch deutsche Luftangriffe zerstört. Im Sommer 1947 wurde die Operette in London wieder aufgeführt. Von da an stand sie bis zur Schließung des Unternehmens auf den Saisonprogrammen der D’Oyly Carte Company. Am 16. Juni 1977 wurde Pinafore im Windsor Castle vor Elisabeth II. und der Königsfamilie aufgeführt; dies war die erste Hofsondervorstellung einer Gilbert-und-Sullivan-Operette seit 1891.
Bis zum Auslaufen der urheberrechtlichen Schutzfrist im Jahre 1961 erlaubte die D’Oyly Carte Company keine Inszenierungen der Savoy Operas durch andere professionelle Operngesellschaften, erteilte aber bereits seit dem 19. Jahrhundert zahlreichen Amateur- und Schultheatern Lizenzen. Nach 1961 führten weitere Gesellschaften das Werk in Großbritannien auf. Hierzu zählten Tyrone Guthries Produktion, die zunächst 1960 in Stratford, Ontario sowie am Broadway aufgeführt wurde und anschließend 1962 in London wiederholt wurde, sowie eine Inszenierung der New Sadler’s Wells Opera Company, deren Premiere am 4. Juni 1984 im Sadler’s Wells Theatre stattfand und die auch in New York zu sehen war. Die Scottish Opera, Welsh National Opera und viele andere britische Operngesellschaften führten das Werk auf, darunter auch die wiedergegründete D’Oyly Carte Company von 1990 bis zu ihrer Einstellung im Jahr 2003. Zu den neueren Inszenierungen zählen diejenigen der Carl Rosa Opera Company; die Opera della Luna und andere Gesellschaften führen das Werk weiterhin auf.
Ein Augenzeuge des außerordentlichen Anfangserfolg von Pinafore in Amerika war der Schauspieler J. C. Williamson, der mit D’Oyly Carte die erste autorisierte Aufführung der Operette in Australien vereinbarte. Die Premiere fand am 15. November 1879 am Theatre Royal in Sydney statt. Mindestens bis 1962 bildete das Werk zusammen mit weiteren Savoy Operas einen festen Teil des Programms seiner Gesellschaft. In den Vereinigten Staaten verlor das Werk nie an Beliebtheit. Die Internet Broadway Database listet alleine am Broadway vierzig Produktionen auf. Zu den professionellen Operngesellschaften, die Pinafore weiterhin regelmäßig in den USA aufführen, zählen die Opera a la Carte in Kalifornien, die Ohio Light Opera und die New York Gilbert and Sullivan Players, die jährlich mit der Operette auf Tournee gehen und sie oft in ihre New-York-Saisons aufnehmen.
Seit ihrer Uraufführung ist H.M.S. Pinafore eine der beliebtesten Operetten von Gilbert und Sullivan, und jedes Jahr finden weltweit hunderte Aufführungen des Werks statt. Alleine im Jahr 2003 verlieh die D’Oyly Carte Opera Company 224 Orchesterstimmen-Exemplare, größtenteils für Aufführungen von Pinafore, Pirates und Mikado. Diese Zahl berücksichtigt nicht andere Verleihfirmen und Theatergesellschaften, die ihre Stimmen ausleihen oder eigene besitzen, oder die nur ein bis zwei Klaviere anstatt eines Orchesters verwenden.
Die folgende Tabelle führt die D’Oyly-Carte-Produktionen zu Gilberts Lebenszeit (mit Ausnahme von Tourneen) auf:
Historische Besetzungen
Die folgenden Tabellen geben die wichtigsten Mitwirkenden an den bedeutenden Produktionen der D’Oyly Carte Opera Company bis zur Schließung der Gesellschaft im Jahr 1982 an.
Rezeption
Zeitgenössische Kritik
Die frühen Rezensionen des Werks waren überwiegend positiv. Die damals führende Theaterzeitschrift The Era schrieb:
The Era lobte besonders Emma Howson als Josephine. The Entr’acte and Limelight bemerkte, dass die Operette zwar an Trial by Jury und Sorcerer erinnere, hielt sie aber für unterhaltsam und nannte die Musik „sehr reizvoll. Die sogenannte große Oper durch banale Worte nachzuahmen, ist ein lustiger Einfall.“ Das Blatt lobte außerdem Grossmith als Sir Joseph und stellte mit Belustigung fest, dass er nach den Porträts von Horatio Nelson zurechtgemacht wurde, „und sein gutes Eingangslied“ scheine auf W. H. Smith zu zielen. Das Blatt bemerkte weiterhin, „He Is an Englishman“ sei „eine exzellente Satire auf die Auffassung, dass ein Mann notwendigerweise rechtschaffen sein muss, um Englisch zu sein“. Insgesamt befand es die Vorführung für gut und sagte dem Stück eine lange Spielzeit voraus.
Auch The Illustrated London News schloss, dass die Produktion ein Erfolg war und dass die Handlung, wenn auch trivial, als gutes Medium für Gilberts „beißenden Humor und drollige Satire“ diene. Das Blatt fand, dass vieles „an den gelegentlichen satirischen Angriffen herzliches Lachen hervorrief … Dr. Sullivans Musik ist ebenso lebhaft wie der Text, zu dem sie geschrieben wurde, hier und da mit einem Hauch sentimentalen Ausdrucks … Das Stück ist durchgehend gut gespielt.“ Die britische Daily News, The Globe, The Times – welche besonders Grossmith, Barrington und Everald pries – sowie The Standard stimmten zu, wobei letzterer sich besonders über die Darbietung des Chores erfreut zeigte, der „wirklich zur Realität der Illusion beiträgt“. Der Times zufolge stellte das Werk einen frühen Versuch dar, eine „nationale Musikbühne“ aufzubauen, dessen Libretto frei von gewagten französischen „Unschicklichkeiten“ war, und das ohne die „Hilfe“ von italienischen und deutschen musikalischen Vorbildern auskam.
The Daily Telegraph und das Athenaeum nahmen die Operette nur mit verhaltenem Beifall auf. The Musical Times beschwerte sich, dass die andauernde Zusammenarbeit von Gilbert und Sullivan „der künstlerischen Entwicklung beider abträglich“ sei, da, obwohl beim Publikum beliebt, „etwas höheres erwartet wird für das, was man ‚komische Oper‘ nennt“. Die Zeitschrift kommentierte, dass Sullivan „mit dem echten Schlage eines Künstlers begabt ist, der sich erfolgreich entwickeln würde, wenn ihm nur ein sorgfältig gearbeitetes Libretto zur Komposition vorgelegt werden würde“. Das Blatt kam aber zum Schluss, dass es Gefallen an der Operette gefunden hatte: „Nachdem wir nun gewissenhaft unsere Pflicht als Kunstkritiker haben walten lassen, fahren wir sogleich damit fort, zu sagen, dass H.M.S. Pinafore ein amüsantes Stück Extravaganz ist, das bis zum Ende fröhlich durch die Musik vorangetrieben wird.“ The Times und mehrere andere Zeitungen schlossen sich der Ansicht an, dass Sullivan zu höherer Kunst fähig sei. Nur The Figaro war dem Werk völlig abgeneigt. Nach der Veröffentlichung eines Klavierauszugs schloss sich auch eine Rezension in The Academy dem allgemeinen Bedauern an, dass Sullivan so tief gesunken war, Musik für Pinafore zu schreiben, und hoffte, dass er sich Projekten widmen würde, die „seinem großen Können würdiger“ wären. Derartige Kritik begleitete Sullivan bis zum Ende seiner Karriere.
Die vielen unautorisierten amerikanischen Produktionen in den Jahren 1878–1879 waren von sehr unterschiedlicher Qualität, und viele waren Bearbeitungen. Zu den originalgetreueren Inszenierungen zählte diejenige der Boston Ideal Opera Company. Die Gesellschaft engagierte angesehene Konzertsänger und hatte ihre Premiere am 14. April 1879 im Boston Theatre, das 3000 Besuchern Platz bot. Die Kritiker stimmten darin überein, dass die Operngesellschaft ihr Ziel, eine „ideale“ Aufführung zu bieten, erfüllt hätte. The Boston Journal berichtete, dass das Publikum „sich bis zum absoluten Beifall für die Unterhaltung begeisterte“. Die Zeitschrift stellte fest, dass es ein Fehler wäre, Pinafore als Burleske zu betrachten, da das Stück, „wenngleich unwiderstehlich komisch, nicht bouffe ist und mit großer Sorgfalt behandelt werden muss, da ansonsten seine ausgewogenen Proportionen Schaden nehmen würden, und der subtile Charakter des Humors verloren ginge“. Die Zeitung beschrieb die Operette als „klassisch“ in der Ausarbeitung und schrieb, dass ihre „hervorragendste Satire“ darin bestünde, „die Absurditäten [der großen Oper] zu imitieren“. Die Operngesellschaft wurde zu einer der erfolgreichsten Tourneegesellschaften in den Vereinigten Staaten. Die erste Kinderaufführung in Boston war sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen eine Sensation, und die Saison wurde bis zum Sommer 1879 verlängert. Der Boston Herald schrieb, dass „das große Publikum aus Kindern und deren Eltern einigermaßen außer sich geriet … immer wieder vernahm man gellendes Lachen“.
Spätere Bewertung
Als Pinafore zum ersten Mal 1887 in London wiederholt wurde, galt das Stück bereits als Klassiker. The Illustrated London News stellte fest, dass die Operette zwar nicht mit neuem Dialog, Witzen oder Liedern angereichert wurde, meinte aber, dass dies wohl am besten sei, da das Publikum die „altehrwürdigen Witze, wie ‚Hardly Ever‘ [vermisst hätte]. Das Savoy hat wieder einmal einen brillanten Erfolg.“ The Theater stimmte zu und bemerkte, dass, weil die Operette „in fast jedem bewohnten Teil dieses Erdballs gehört und überall mit Vergnügen aufgenommen wurde, es kaum Grund gibt, lange auszuschweifen“. Die Zeitschrift nannte die Wiederholung einen „überaus brillanten Erfolg“ und erwartete eine weitere Saison.
Eine originalsprachige Produktion von H.M.S. Pinafore wurde 1887 an der Krolloper in Berlin durch eine Tourneegesellschaft der D’Oyly Carte Company aufgeführt. Die Neue Berliner Musikzeitung beurteilte die Aufführung wie folgt:
In einer Besprechung der Londoner Wiederaufführung von 1899 rühmte The Athenaeum das Werk, schloss sich aber der Kritik an Sullivan an. Auf der einen Seite klinge „Pinafore … so frisch wie nie. Die Musikwelt ist ernst geworden – sehr ernst – und es ist in der Tat erfrischend, ein fröhliches, lustiges Stück und unprätentiöse Musik zu hören … sie ist sorgfältig gearbeitet, und zeigt in vielerlei Hinsicht höchstes Können“. Auf der anderen Seite schrieb die Zeitschrift, dass, wenn Sullivan ernstere Musik im Stile seiner Sinfonie komponiert hätte, „er noch hochwertigere Ergebnisse geschaffen hätte; genauso fragt man sich bei Pinafore, was der Komponist wohl mit einem ähnlich gestalteten Libretto geleistet hätte, aber einem, das ihm einen größeren Raum zur Verwirklichung seiner Begabung gelassen hätte.“
1911 schrieb Henry L. Mencken: „Keine andere komische Oper, die je geschrieben wurde – wohl kein anderes Bühnenstück jedweder Art – war so beliebt … Pinafore … wurde mit Erfolg aufgeführt, wo immer es Opernhäuser gibt – von Moskau bis Buenos Aires, von Cape Town bis Shanghai, in Madrid, Ottawa und Melbourne, ja selbst in Paris, Rom, Wien und Berlin.“ Nach dem Tode Gilberts und Sullivans behielt die D’Oyly Carte Opera Company die ausschließlichen Aufführungsrechte in Großbritannien bis 1962. Die meiste Zeit des Jahres organisierte sie Tourneen, und ab 1919 führte sie oft eine viermonatige Saison in London durch. The Times gab der Londoner Inszenierung von 1920 eine glänzende Kritik, schrieb, dass das Publikum „hingerissen“ war, und bedauerte, dass Pinafore nur zwei Wochen lang spielte. Die Zeitung lobte die Besetzung und den „prächtigen“ Chor. Sie schloss damit, dass die Operette einen „ausgelassenen Höhepunkt der Saison“ darstelle. Zwei Jahre später veröffentlichte das Blatt einen noch enthusiastischeren Bericht der Aufführungen während der Saison, nannte Derek Oldham einen „idealen Helden“ als Ralph, nahm zur Kenntnis, dass Sydney Granville mit seinem Lied „einigermaßen stürmischen Beifall erntete“ und dass Darrell Fancourt als Deadeye „ein bewundernswert ausdauerndes Stück Karikatur“ darstellte. Die Inszenierung der Operngesellschaft im Jahr 1961 wurde ähnlich positiv bewertet.
1879 erlangte J. C. Williamson die ausschließlichen Aufführungsrechte für Pinafore in Australien und Neuseeland. Seine erste Produktion erntete den Beifall des Publikums und der Kritiker. Williamson spielte Sir Joseph und seine Frau, Maggie Moore, Josephine. Der Sydney Morning Herald lobte die Aufführung und die Darsteller und nannte die Inszenierung, obwohl „strotzend vor Spaß“, würdig und präzise. Viele Nummern wurden als Zugabe gespielt, und das „riesige Publikum … spendete reichlich Gelächter und Applaus“. Williamsons Gesellschaft fuhr bis in die 1960er Jahre erfolgreich damit fort, Pinafore in Australien und Neuseeland sowie auf Tourneen aufzuführen.
In den Vereinigten Staaten, wo die Aufführungsrechte nie gültig waren, wurde Pinafore weiterhin sowohl von professionellen Operngesellschaften als auch von Laien aufgeführt. In einer Rezension von 1914 bezeichnete The New York Times eine großangelegte Produktion im 6000 Personen fassenden New York Hippodrome als „königliche Unterhaltung“. Die Operette war in ein „Mammutspektakel“ umgewandelt worden, zu dem ein hundertköpfiger Chor gehörte. Das bekannte künstliche Wasserbecken wurde zum realistischen Hafen umgewandelt, von dem aus Buttercup in einem Boot zur dreimastigen Pinafore ruderte, und Dick Deadeye wurde später tatsächlich mit lautem Platschen über Bord geworfen. Die Times lobte den innigen Gesang, fand aber, dass manche Feinheit verloren ginge, wenn der Dialog „fast geschrien“ werden müsse. Die Aufführung wich in mancher Hinsicht von Original ab, so etwa wurde Musik aus anderen Werken Sullivans eingefügt. Die Zeitung schloss damit, dass „die leichte Satire von Pinafore so unterhaltsam ist, weil sie universell ist“. Das Blatt nannte außerdem Winthrop Ames’ beliebte Broadway-Produktionen der Operette in den 1920er und 1930er Jahren „spektakulär“. Moderne Inszenierungen in den Vereinigten Staaten werden im Allgemeinen weiterhin positiv aufgenommen. Zur Saison 2008 der New York Gilbert and Sullivan Players im New York City Center schrieb die New York Times: „Die von Gilbert angesprochenen Themen – Klassenunterschiede, anmaßender Nationalismus und inkompetente Behörden – bleiben relevant, so absurd sie auch dargestellt werden. Doch der bleibende Reiz von Pinafore und [den anderen Savoy Operas] hat eher mit ihrem unerreichten sprachlichen Genie und Sullivans reichlichem Angebot an süchtig machenden Melodien zu tun“.
Aufnahmen
Seit 1907 gibt es Tonträger-Aufnahmen der Musik aus Pinafore; Ian Bradley zählte im Jahr 2005 17 CD-Einspielungen der Operette. Die Aufnahme von 1930 ist insofern bemerkenswert, als die damaligen Stars der D’Oyly Carte Opera Company mitwirken. Häufig gelobt wurde die D’Oyly-Carte-Aufnahme von 1960, die den gesamten Dialog enthält. Die Aufnahme von 1994 unter der Leitung von Charles Mackerras, bei der bekannte Opernsänger die Hauptrollen besetzen, wurde als musikalisch herausragend befunden. Eine neuere D’Oyly-Carte-Einspielung der Operette inklusive Dialog aus dem Jahr 2000 ist die erste, die die lange verschollene Ballade „Reflect, my child“ für Captain Corcoran enthält. Eine dänische Einspielung aus dem Jahr 1957 zählt zu den wenigen professionellen Aufnahmen von Gilbert und Sullivan in fremder Sprache.
1939 wurde Pinafore von der National Broadcasting Company als eine der ersten Opern im amerikanischen Fernsehen übertragen, allerdings ist keine Aufzeichnung der Sendung bekannt. Ein Video einer Aufführung der D’Oyly Carte Opera Company aus dem Jahr 1973 zählt zu den insgesamt drei Videoaufzeichnungen, die die Gesellschaft von ihren Produktionen machte. Das 1982 erschienene Video aus der Brent-Walker-Productions-Reihe von Gilbert und Sullivan wird in Besprechungen zu den schlechtesten der Serie gezählt. Das International Gilbert and Sullivan Festival bietet mehrere Videoaufzeichnungen ihrer Aufführungen an.
Auswahl von Aufnahmen:
1922 D’Oyly Carte – Leitung: Harry Norris and G. W. Byng
1930 D’Oyly Carte – London Symphony Orchestra; Conductor: Malcolm Sargent
1949 D’Oyly Carte – Leitung: Isidore Godfrey
1958 Sargent/Glyndebourne – Pro Arte Orchestra, Glyndebourne Festival Chorus; Leitung: Sir Malcolm Sargent
1960 D’Oyly Carte (mit Dialog) – New Symphony Orchestra of London; Leitung: Isidore Godfrey
1972 G&S for All – G&S Festival Chorus & Orchestra; Leitung: Peter Murray
1973 D’Oyly Carte (Video) – Leitung: Royston Nash
1981 Stratford Festival (Video) – Leitung: Berthold Carrière; Regie: Leon Major
1987 New Sadler’s Wells Opera – Leitung: Simon Phipps
1994 Mackerras/Telarc – Orchestra and Chorus of the Welsh National Opera; Leitung: Sir Charles Mackerras
1997 Essgee Entertainment (Video; Bearbeitung) – Leitung: Kevin Hocking
2000 D’Oyly Carte (mit Dialog) – Leitung: John Owen Edwards
Übersetzungen
Erste deutschsprachige Produktionen von H.M.S. Pinafore wurden von deutschen Einwanderern in den Vereinigten Staaten organisiert; 1879 etwa führte die Germania Theater Company von Philadelphia Ihrer Majestät Schiff Pinafore, oder, Die Seemannsbraut auf. Großen Erfolg hatte eine Produktion in Pennsylvania Dutch, die 1882 und 1883 in mehreren Städten in Ost-Pennsylvania aufgeführt wurde, und die 1901 und 1910 wieder aufgenommen wurde. Die 1882 und 1901 veröffentlichten Textbücher legen nahe, dass der Reiz dieser Version in der humorvollen Mischung von Dialektsprache und Englisch lag. Eine solche „polyglotte“ Bearbeitung war möglich, da das Publikum bereits die englische Version kannte.
Obwohl die Savoy Operas mehr Erfolg in Deutschland als in jedem anderen nicht-englischsprachigen Land hatten, wurde H.M.S. Pinafore im Vergleich zu The Mikado nur selten aufgeführt. Eine Bearbeitung von Pinafore für die deutsche Bühne durch Ernst Dohm wurde 1882 am Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater in Berlin unter dem Titel Amor an Bord aufgeführt. Wie zeitgenössische Quellen berichteten, scheiterte die Aufführung „an der Schwierigkeit, in Deutschland auf der Bühne etwas wie politische Karikatur darzubieten“. Die unlizenzierte Übersetzung erschien ein Jahr später im Verlag Henry Litolff als Partitur. Es handelt sich dabei um die erste veröffentlichte Partitur einer Gilbert-und-Sullivan-Operette.
Der Organisator der D’Oyly-Carte-Tourneen in Deutschland, Dr. C. Carlotta (Siegfried Ehrenberg), veröffentlichte eine nach eigener Angabe „möglichst originalgetreue“ Übersetzung des Werks unter dem Titel I.M.S. Pinafore, oder, Die Maid, die einen Matrosen liebte. 1948 regte Bertolt Brecht den jungen Dramatiker Gerd Salmen dazu an, das Werk zur Übung in die deutsche Sprache zu übersetzen. Salmen lehnte ab, fertigte aber später eine eigene Nachdichtung des Werks unter dem Titel HMS „Pinafore“ oder Die Liebe der Kapitänstochter an. Weitere deutsche Libretti wurden von Charles Lewinsky sowie Stefan Troßbach verfasst.
Als sehr erfolgreich erwies sich die dänische Übersetzung des Werks, die in den 1950er Jahren über 100 mal vor „vollbesetzten Rängen“ in Kopenhagen aufgeführt wurde.
Die folgende Tabelle listet bisherige professionelle Aufführungen von H.M.S. Pinafore in Deutschland auf.
Einfluss und Verarbeitung
Den größten Einfluss hatte Pinafore auf die Entwicklung des Musicals. Theaterhistoriker John Kenrick zufolge wurde Pinafore „zu einer internationalen Sensation, die das kommerzielle Theater in England sowie in den Vereinigten Staaten neu formte.“ Musikforscher Andrew Lamb ist der Auffassung, dass „der Erfolg von H.M.S. Pinafore im Jahr 1879 die britische komische Oper in der gesamten englischsprachigen Welt zu einer festen Größe neben der französischen opéra bouffe machte“. Laut Historiker John Bush Jones beweisen Pinafore und die anderen Savoy Operas, dass das Musical „aktuelle gesellschaftliche und politische Probleme behandeln kann, ohne den Unterhaltungswert einzuschränken“ und dass sie das Vorbild für eine neue Art des musikalischen Bühnenwerks, des „integrierten“ Musicals, darstellen würden, in dem „Gesang, Text und Musik zu einem geschlossenen Ganzen kombiniert werden“. Er fügt hinzu, die „unerreichte … Beliebtheit brachte eine amerikanische Zielgruppe für Musicals hervor, während die Inszenierung selbst in Bezug auf Gestaltung, Inhalt und sogar Zielsetzung ein Vorbild für … spätere Musicals lieferte, insbesondere für gesellschaftlich relevante Musicals“. Die Beliebtheit des Werks führte außerdem zu Musical-Adaptionen, zu Musicals, deren Handlung eine Aufführung von Pinafore beinhaltet, sowie zu anderen, die die Operette parodieren oder die Musik neu arrangieren.
Adaptionen
H.M.S. Pinafore wurde oft adaptiert. 1909 schrieb W. S. Gilbert ein von Alice Woodward illustriertes Kinderbuch mit dem Titel The Pinafore Picture Book, das die Geschichte von Pinafore erzählt und einige Zusammenhänge schildert, die nicht im Libretto enthalten sind. Seitdem erschienen weitere Kinderbücher, die Pinafore nacherzählen oder Figuren und Ereignisse aus der Operette verwerten.
Eine frühe kanadische Bearbeitung von H.M.S. Pinafore durch William H. Fuller, die den Titel H.M.S. Parliament trägt, basiert auf Sullivans Musik. Das Stück, das die damaligen kanadischen Politiker verspottete, wurde 1878 uraufgeführt und erlangte große, wenn auch nur kurzzeitige, Beliebtheit. Zu den zahlreichen Musical-Adaptionen von Pinafore zählt George Simon Kaufmans Broadway-Musical Hollywood Pinafore von 1945, das Sullivans Musik verwendet. Dieses Musical wurde mehrmals neu aufgeführt, darunter 1998 in London. Bei einer weiteren Broadway-Adaption von 1945, Don Walkers Memphis Bound!, wirkten Bill Robinson und eine durchgehend schwarze Besetzung mit. 1940 lieferte die American Negro Light Opera Association eine Produktion vor karibischer Kulisse unter dem Titel Tropical Pinafore.
Eine jiddische Bearbeitung von Pinafore, genannt Der Shirtz, wurde 1952 von Miriam Walowit für die Hadassah-Gruppe aus Brooklyn geschrieben, und zwölf der Lieder wurden auf Schallplatte aufgenommen. Angeregt durch diese Aufnahme forderte in den 1970er Jahren Al Grand die Gilbert and Sullivan Long Island Light Opera Company dazu auf, diese Lieder aufzuführen. Später übersetzte er zusammen mit Bob Tartell die verbliebenen Nummern, und seitdem wurde diese Adaption unter dem Namen Der Yiddisher Pinafore mehr als zwei Jahrzehnte lang aufgeführt.
1997 führte Essgee Entertainment eine bearbeitete Version von Pinafore in Australien und Neuseeland auf, die seitdem mehrmals wiederholt wurde. Eine weitere Musical-Adaption ist Pinafore! (A Saucy, Sexy, Ship-Shape New Musical) des Amerikaners Mark Savage. Sie wurde neun Monate lang ab 2001 am Celebration Theater in Los Angeles mit großem Erfolg aufgeführt und 2003 in Chicago und New York wiederholt. In dieser Bearbeitung enthält die Besetzung nur eine Frau; alle anderen Künstler sind mit einer Ausnahme homosexuell. Zahlreiche Interpretationen der letzten Jahrzehnte verwenden ein Star-Wars- oder Star-Trek-artiges Bühnenbild.
Weitere Bezugnahmen
Die Lieder aus Pinafore wurden oft in der Literatur, im Film, in Fernsehserien und anderen Medien als Pastiche aufgegriffen. Ein Beispiel ist Allan Shermans Version von „When I Was a Lad“ auf seinem Album My Son, the Celebrity, in dem er vom Aufstieg eines Studenten einer Ivy-League-Universität zum erfolgreichen Geschäftsmann erzählt. Das Lied wurde außerdem von der britischen Abgeordneten Virginia Bottomley als politische Satire gegen Tony Blair aufgegriffen. Literarische Bezugnahmen auf Pinafore finden sich in Jerome K. Jeromes Erzählung Drei Mann in einem Boot, in dem Harris versucht, „When I Was a Lad“ zu singen. Ein anderes Beispiel ist Isaac Asimovs Kurzgeschichte Runaround aus Ich, der Robot, in der ein Roboter einen Auszug aus „I’m Called Little Buttercup“ singt. In der Episode „Am Kap der Angst“ aus der 5. Staffel der Fernsehserie Die Simpsons bittet Bart seinen Gegner Tingeltangel-Bob, die gesamte Operette (in der deutschen Übersetzung: „die Hymne der Pinafore“) zu singen. In The West Wing – Im Zentrum der Macht führt ein Streit um „He is an Englishman“ durch die gesamte Episode die auch ihren Namen aus dem Lied bezieht.
In den letzten Jahrzehnten wurde die Musik aus Pinafore gelegentlich dazu verwendet, um Filmen eine zeitgenössische Atmosphäre zu verleihen. Ein prominentes Beispiel ist der historische Sportlerfilm Die Stunde des Siegers (1981), in dem der Protagonist Harold Abrahams und andere Studenten „He Is an Englishman“ singen. Im Spielfilm Peter Pan (2003) singt eine Familie „When I Was a Lad“. Im Westernfilm Wyatt Earp (1994) trifft der Sheriff seine zukünftige Frau, als sie in einer frühen Aufführung von Pinafore spielt. Die Filmbiografie The Story of Gilbert and Sullivan (1953) verwendet ebenfalls Musik aus Pinafore. Das Lied „A British Tar“ wird im Indiana-Jones-Film Jäger des verlorenen Schatzes (1981) und in Star Trek: Der Aufstand (1998) gesungen. Der Thriller Der gute Hirte (2006) enthält eine Szene mit einer Universitätsaufführung von Pinafore. Im Thriller Die Hand an der Wiege (1992) werden mehrere Lieder aus der Operette gesungen. Im Jugenddrama The Last Song (1988) führt eine Schulklasse Pinafore auf.
Literatur
Michael Ainger: Gilbert and Sullivan – A Dual Biography. Oxford University Press, Oxford 2002, ISBN 0-19-514769-3
Ian Bradley: Oh Joy! Oh Rapture!: The Enduring Phenomenon of Gilbert and Sullivan. Oxford University Press, New York 2005, ISBN 0-19-516700-7
Andrew Crowther: Contradiction Contradicted – The Plays of W. S. Gilbert. Associated University Presses, Cranbury 2000, ISBN 0-8386-3839-2
Arthur Jacobs: Arthur Sullivan – A Victorian Musician. Oxford University Press, Oxford 1986, ISBN 0-19-282033-8
John Bush Jones: Our Musicals, Ourselves. Brandeis University Press, Hannover 2003, ISBN 0-87451-904-7
Volker Klotz: Operette: Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst, S. 703–712. Bärenreiter, Kassel 2004, ISBN 3-7618-1596-4
Cyril Rollins, R. John Witts: The D’Oyly Carte Opera Company in Gilbert and Sullivan Operas: A Record of Productions, 1875–1961. Michael Joseph, London 1962. Daneben fünf Ergänzungsbände im Selbstverlag.
Meinhard Saremba: Arthur Sullivan. Ein Komponistenleben im viktorianischen England. Noetzel, Wilhelmshaven 1993, ISBN 3-7959-0640-7
Jane W. Stedman: W. S. Gilbert, A Classic Victorian & His Theatre. Oxford University Press, Oxford 1996, ISBN 0-19-816174-3
Weblinks
H.M.S. Pinafore in The Gilbert & Sullivan Archive
H.M.S. Pinafore in The Gilbert & Sullivan Discography
Parodien und Pastiches von Pinafore-Liedern
Anmerkungen
Operette aus dem 19. Jahrhundert
Oper von Arthur Sullivan
Operette nach Titel
Musik 1878
William Schwenck Gilbert |
5083691 | https://de.wikipedia.org/wiki/Samuel%20Ryan%20Curtis | Samuel Ryan Curtis | Samuel Ryan Curtis (* 3. Februar 1805 bei Champlain, New York; † 26. Dezember 1866 in Council Bluffs, Iowa) war ein amerikanischer Ingenieur, Politiker und Offizier.
Curtis wurde als Sohn einer Farmerfamilie geboren, die während seiner Kindheit von New York an die Frontier in Ohio auswanderte. Nach seinem Studium an der United States Military Academy arbeitete er in Ohio als Ingenieur und Anwalt, wobei er sich insbesondere bei der Kanalisierung des Muskingum River hervortat. Bei Ausbruch des Mexikanisch-Amerikanischen Krieges meldete er sich freiwillig und diente ein Jahr lang als Oberst eines Infanterieregiments, kam dabei allerdings nur im rückwärtigen Gebiet zum Einsatz. Nach dem Krieg übersiedelte er nach Iowa und arbeitete weiter als Anwalt, an mehreren Bauprojekten und als Investor und Geschäftsmann.
Für die Republikaner wurde er 1856 zum Bürgermeister von Keokuk, Iowa, gewählt, und im gleichen Jahr ins Repräsentantenhaus. Als Abgeordneter setzte er sich insbesondere für den Bau einer transkontinentalen Eisenbahnverbindung ein. Nach zwei erfolgreichen Wiederwahlen gab er seinen Sitz bei Ausbruch des Sezessionskrieges ab und wurde Brigadegeneral des Unionsheeres. Curtis erhielt den Befehl über die „Südwestarmee“ in Missouri und drängte die Konföderierten aus dem Staat. Einen Gegenangriff konnte er in der Schlacht am Pea Ridge erfolgreich abwehren, wofür er zum Generalmajor befördert wurde. Im Juli 1862 eroberte er Helena am Mississippi. Noch vor Inkrafttreten der Emanzipationsproklamation verhalf er dort Tausenden von Sklaven zur Freiheit.
Im September 1862 erhielt er den Oberbefehl über den Großteil der Unionstruppen auf dem Kriegsschauplatz westlich des Mississippi. In dieser Funktion koordinierte er unter anderem die Truppenbewegungen, die schließlich zur Schlacht bei Prairie Grove führten. Diese endete mit einem Sieg seiner untergebenen Generale Herron und Blunt und sicherte Nordwestarkansas für die Union. Als Anhänger der radikalen Fraktion der Republikaner überwarf sich Curtis jedoch zunehmend mit Missouris konservativem Gouverneur Gamble, was schließlich zu seiner Ablösung im Mai 1863 führte. Anfang 1864 erhielt er mit dem Befehl über die Unionstruppen in Kansas, Colorado und Nebraska ein neues Kommando. Schwerpunkte waren hier zunächst der Kampf gegen konföderierte Guerillas und gegen Kriegszüge der Plains-Indianer. Im Herbst 1864 nahm Curtis mit einer eilig ausgehobenen Feldarmee an der Abwehr von Sterling Price’ Raid durch Missouri teil. Er besiegte Price in der entscheidenden Schlacht bei Westport und verfolgte ihn danach bis an den Arkansas River.
Anfang 1865 wurde Curtis zum Kommandeur über die Truppen in den Bundesstaaten Iowa, Wisconsin und Minnesota ernannt und nahm später als militärischer Vertreter an Friedensverhandlungen mit den Plains-Indianern teil. Nach seinem Ausscheiden aus dem Heer 1866 arbeitete er als Inspekteur für die sich im Bau befindliche transkontinentale Eisenbahnlinie und starb auf einer Dienstreise.
Leben
Kindheit und Ausbildung
Samuel Ryan Curtis wurde am 3. Februar 1805 in der Nähe von Champlain, New York, geboren – unweit der kanadischen Grenze. Seine Eltern Zarah und Phally Curtis besaßen und bewirtschafteten dort eine Farm. Er war das jüngste von neun Geschwistern, von denen zwei bereits im Kindesalter verstarben. 1809 zog die Familie nach Ohio und erwarb eine Farm am Licking River. Hier, im Licking County, wuchs Curtis mit seinen Geschwistern auf. Wie seine beiden älteren Brüder Hosmer und Henry besuchte Curtis die schlichten örtlichen Schulen und erhielt darüber hinaus Privatunterricht von Geistlichen und Privatlehrern. Während Hosmer und Henry erfolgreiche Anwälte und Geschäftsleute wurden, half Curtis zunächst auf der elterlichen Farm aus. Auf Fürsprache seiner Brüder erhielt er 1823 eine Stelle als Schreibkraft in der Verwaltung von Licking County. Zwei Jahre später zog er nach Mansfield und arbeitete dort als kaufmännischer Angestellter für den Kurzwarenhändler McComb. Aus Briefen seiner Brüder und Eltern wird deutlich, dass der junge Curtis nicht immer den sparsamen und puritanischen Idealen seiner Familie entsprach und gerne feierte und sich vergnügte. Die beiden Brüder waren deswegen positiv überrascht, als Curtis ihnen 1826 eröffnete, gerne die US-Militärakademie West Point besuchen zu wollen. Hosmer und Henry blieben für Curtis zeitlebens wichtige und kritische Vertraute und Ratgeber.
Unter Superintendent Sylvanus Thayer lag der Schwerpunkt der US-Militärakademie auf dem militärischen Festungsbau und deswegen auf der mathematisch-naturwissenschaftlichen und insbesondere ingenieurswissenschaftlichen Ausbildung der Kadetten. Entsprechende Fächer machten mehr als die Hälfte des Curriculums aus: Die Kadetten lernten Geometrie, Algebra, Trigonometrie, Differenzial- und Integralrechnung, Chemie, Physik, topographisches Zeichnen und zahlreiche Aspekte des Bauingenieurwesens wie Straßenbau, Be- und Entwässerung, den Bau von Tunnels und Kanälen und Hochwasserschutz. Zahlreiche Absolventen verließen die Armee deswegen bald nach ihrem Abschluss, um der lukrativeren Arbeit als Ingenieure nachzugehen. Auch Curtis schien kein besonderes Interesse an einer Militärkarriere gehabt zu haben, war aber stark von den damaligen Infrastrukturmaßnahmen (internal improvements) fasziniert, die das interne Transportwesen der Vereinigten Staaten verbesserten. Eigentlich war er mit 22 Jahren jedoch zu alt für eine Berufung an die Militärakademie. Er löste dies, indem er sein Geburtsjahr kurzerhand mit 1807 statt 1805 angab. Erst als er 1866 starb, wurde sein tatsächliches Alter publik. Seine Brüder unterstützten ihn tatkräftig beim Bewerbungsprozess, und 1827 wurde er an die Militärakademie berufen.
In West Point bemerkte Curtis bald, dass die meisten seiner Kameraden besser auf das Studium vorbereitet waren als er: „Ich hatte eine sehr gleichgültige Ausbildung in den Volksschulen des Westens genossen,“ erinnerte er sich später. In manchen Fächern konnte er deswegen nicht mit anderen Kadetten mithalten, von denen viele bereits ein College besucht hatten. In den militärischen Fächern dagegen waren alle Kadetten Neulinge, und hier strengte sich Curtis besonders an. Am Ende des ersten Jahres wurde er zum First Corporal seiner Kadettenkompanie befördert. Weitere Beförderungen zum First Sergeant und Ersten Hauptmann folgten in den nächsten Jahren. Als Aufseher des Speisesaals musste er außerdem darüber wachen, dass seine Kameraden sich beim Essen anständig benahmen. „Ich bin überrascht über meine Geduld und Ausdauer,“ erinnerte sich Curtis später an seine Kadettenzeit. „Vier Jahre ohne meine Freunde und meine Heimat.“ Während seiner Zeit in Mansfield hatte er Belinda Buckingham kennengelernt und sich später als Kadett mit ihr verlobt. Eine Heirat kam allerdings erst nach seinem Abschluss in Frage. Dies stellte seine Geduld zusätzlich auf die Probe: „Oh! Ich erinnere mich gut an diese trüben Monate und Tage, die sich hinzogen. Und ich erinnere mich auch an die Gefühle meiner schmerzenden Brust, die täglich[,] monatlich und für Jahre hin und hergeschleudert wurde, mit Hoffnung und Furcht.“
Die Ausbildung in West Point war rigoros und stark von Auswendiglernen geprägt. Die Kadetten wurden im Unterricht der Reihe nach zu den Inhalten der Lehrbücher abgefragt. In den mathematisch-naturwissenschaftlichen Kursen mussten sie außerdem Übungsaufgaben an den Tafeln vorrechnen und wurden dazu befragt. Das System zielte auf das Aneignen von Fakten und Denken in Schemata anstatt auf unabhängiges Denken. Im Vergleich zu anderen amerikanischen Universitäten der Zeit war es jedoch durchaus fortschrittlich und erfolgreich. Das System siebte die Kadetten auch stark aus: Als Curtis im Juli 1831 abschloss, waren von den ursprünglich 86 Kadetten nur noch 33 übrig. Unter ihnen belegte er den 27. Rang.
Werdegang vor dem Sezessionskrieg
Ingenieur, Anwalt und Milizoffizier in Ohio
Nach seinem Abschluss wurde Curtis als Brevet-Leutnant zum 7. Infanterieregiment in Fort Gibson im Indianerterritorium beordert. Schon nach kurzer Zeit erhielt er Heimaturlaub, da seine Mutter im Alter von 69 Jahren verstorben war. Während dieses Urlaubes heiratete er am 3. November 1831 die sechs Jahre jüngere Belinda. Anfang 1832 kehrte er nochmals nach Fort Gibson zurück, wo gerade die Umsiedlung der „Fünf Zivilisierten Stämme“ ins Indianerterritorium im Gange war. Zu Curtis’ Aufgaben gehörten unter anderem der Straßenbau und das Vermessen von Stammesgrenzen. Schon sechs Monate nach seiner Rückkehr schied er jedoch aus dem Dienst aus und kehrte nach Ohio zurück, um dort eine Zivilkarriere zu beginnen.
Seine erste Anstellung war als Bauingenieur für einen Abschnitt der National Road. In diese Zeit fiel die Geburt seiner ersten Tochter Amanda am 16. September 1832. Von 1833 bis 1837 bekleidete Curtis das Amt des staatlichen Landvermessers, was jedoch zahlreiche Reisen und viel Abwesenheit von seiner Familie bedeutete. Amanda starb im Alter von nur 20 Monaten, wahrscheinlich an der Cholera. Sohn Henry Zarah kam am 14. Oktober 1836 auf die Welt. 1837 wurde Curtis Leitender Ingenieur für die Kanalisierung des Muskingum River. Die Stellung bot ein jährliches Gehalt von 1.000 Dollar sowie monatliche Zulagen von 36 Dollar, womit Curtis und seine Frau ein komfortables Leben in der Mittelschicht führen konnten. Curtis’ politische Ausrichtung half ihm dabei, diese Stelle zu erhalten: Er unterstützte die Whigs, die zu diesem Zeitpunkt die für Infrastrukturmaßnahmen in Ohio zuständige Behörde kontrollierten. Die politische Gemengelage änderte sich 1839, und Curtis wurde, gemeinsam mit all seinen Assistenten, entlassen. Die Kanalisierung wurde unter Leitung anderer Ingenieure fortgeführt und 1849 abgeschlossen – nach fast unveränderten Plänen Curtis’.
In der Folgezeit arbeitete Curtis als freiberuflicher Ingenieur an verschiedenen Projekten. Der Börsencrash von 1837 machte sich jedoch zunehmend bemerkbar, sodass er sich von seinem Bruder Hosmer zum Anwalt ausbilden ließ. 1842 begann er in Wooster als solcher zu praktizieren. Er sah dies jedoch nur als zweites Standbein und arbeitete auch weiter als Ingenieur an Bauprojekten. In Wooster engagierte er sich außerdem erstmals politisch als Stadtrat. Seine Familie wuchs durch die Geburt einer Tochter 1842 und eines Sohnes 1844. Trotz seiner Zivilberufe gab Curtis die Verbindungen zum Militär nie ganz auf: Ab 1833 diente er in der Miliz von Ohio, zunächst als Hauptmann, dann als Oberstleutnant, ab 1843 als Oberst.
Kriegsdienst in Mexiko
Am 13. Mai 1846 erklärte der Kongress der Vereinigten Staaten Mexiko den Krieg. Zu diesem Zeitpunkt war das amerikanische Heer nur rund 5.300 Mann stark. Der Kongress ermächtigte Präsident James Knox Polk deswegen, das reguläre Heer mit Freiwilligenverbänden zu vergrößern, die von den Einzelstaaten aufgestellt werden sollten. Bis zu 50.000 Freiwillige waren vorgesehen, mit einer Dienstzeit von einem Jahr. Der Staat Ohio hatte drei Freiwilligenregimenter aufzustellen. Zu diesem Zweck wurde Curtis von Ohios Gouverneur Mordecai Bartley zum Generaladjutanten des Staates ernannt, mit der Aufgabe, diese drei Freiwilligenregimenter zu organisieren. Curtis wählte Camp Washington in Cincinnati als Sammelpunkt für die Freiwilligen aus. Für die drei Regimenter benötigte er rund 3.000 Männer, jedoch meldeten sich fast 4.000. Curtis musste viele wieder nach Hause schicken. In der Presse wurden dabei Vorwürfe laut, dass Curtis die Deutschamerikaner diskriminierte und bevorzugt nach Hause schickte. Als der Gouverneur Curtis vorschlug, das Amt des Generaladjutanten zugunsten eines Kommandos im Feld abzugeben, war er hierzu gerne bereit. Curtis stellte sich im 3. Ohio-Infanterieregiment zur Wahl und wurde zum Oberst gewählt. Auf Wunsch des Gouverneurs blieb er jedoch weiter für Camp Washington und für den Drill und die Ausbildung der drei Regimenter aus Ohio verantwortlich. Als General John E. Wool Camp Washington besuchte, zeigte er sich mit dem Ausbildungsstand der Freiwilligen zufrieden und lobte Curtis’ Regiment besonders.
Curtis’ Freunde und Familie waren nicht glücklich über seine Kriegsteilnahme und versuchten, ihn davon abzubringen. Der frisch gewählte Oberst lehnte dies jedoch ab. Wahrscheinlich hatte er das Gefühl, seinem Land aufgrund seiner Ausbildung in West Point den Dienst zu schulden. Daneben spielte allerdings auch eine gewisse Abenteuerlust eine Rolle – der Einsatz erlaubte ihm, aus seinem Leben als Kleinstadtanwalt auszubrechen.
Das 3. Ohio-Regiment wurde nach Südtexas beordert, wo es Teil von Zachary Taylors Armee werden sollte. Taylors Truppen hatten am 8. und 9. Mai bei Palo Alto und Resaca de la Palma zwei Siege über die Mexikaner errungen und Matamoros auf der mexikanischen Seite des Rio Grande besetzt. Nun bereiteten sie sich auf einen Vormarsch tiefer nach Mexiko vor. Der Weg von Curtis’ Regiment führte den Ohio hinab bis zu dessen Einmündung in den Mississippi und von dort nach New Orleans – fast 1.500 Kilometer, die mit dem Dampfschiff in sieben Tagen zurückgelegt wurden. Von dort führte der Weg weiter per Schiff über den Golf von Mexiko nach Brazos Island. Am 20. Juli landeten Curtis und seine Männer auf der Insel, die die vorgelagerte Basis des US-Heeres bildete. Die Amerikaner hatten zu diesem Zeitpunkt jedoch noch keine Erfahrung mit der Versorgung langfristiger Operationen über das Meer gemacht, und Curtis konnte die Auswirkungen mangelnder Logistik aus erster Hand beobachten. „Jedes Schiff zeigt das gleiche Bild“, vertraute er seinem Tagebuch an. „Eine große Menge Männer in schmutziger Unterkleidung, bleich und ausgezehrt von mehreren Tagen Seekrankheit […] eilen ans Ufer, wo sie hoffen ein paar unbedeutende Unterkünfte zu finden. Doch leider Gottes! Sie finden eine Mischung aus Mexikanern, Offizieren, Maultieren, Wägen und Seemännern, die ihnen alle und jedermann keine Aufmerksamkeit schenken.“ Curtis zeigte sich auch unzufrieden mit der Versorgung der Kranken. In seinem Regiment grassierte der Durchfall, und er notierte drei Todesfälle in seinem Tagebuch. In den nächsten zehn Monaten verlor Curtis’ Regiment insgesamt 46 Mann durch Krankheit.
Nach fast zwei Wochen auf Brazos Island wurde Curtis’ Regiment auf das Festland beordert, und am 31. Juli betrat Curtis zum ersten Mal in seinem Leben den Boden eines anderen Landes. General Taylor hatte seine Offensive inzwischen fast 200 Kilometer ins Landesinnere vorangetrieben. Zu seiner Enttäuschung wurde Curtis jedoch mit seinem Regiment nicht dorthin beordert, sondern nach Matamoros, um dort im rückwärtigen Gebiet der Armee für Ordnung zu sorgen. Die Stadt hatte sich im Mai ergeben. Die Amerikaner verfügten über kein Regelwerk für den Umgang mit besetzten Gebieten. Sie überließen die Behandlung von Verbrechen zwischen Mexikanern den lokalen Gerichten. Amerikanische Zivilisten, die sich an Mexikanern vergangen hatten, wurden ebenfalls den mexikanischen Behörden übergeben, von diesen aber oft aus Angst oder nach Bestechung freigelassen. Auch für Straftaten amerikanischer Soldaten gab es keine klare Prozedur. Das Ergebnis waren anarchische Zustände mit zahlreichen Morden, Raubüberfällen, Diebstählen und Vergewaltigungen. Curtis ließ seine Männer die Straßen patrouillieren und verdächtige Amerikaner nach Brazos Island und von dort nach New Orleans deportieren. Die Zustände besserten sich, aber Curtis war von dem Routinedienst in der Etappe gelangweilt. Im September erkrankte er außerdem an der Malaria.
Im Dezember 1846 besuchte Winfield Scott, der Oberkommandeur des amerikanischen Heeres, Matamoros. Er informierte Curtis, dass Taylors Streitmacht reduziert werden würde, zugunsten einer amphibischen Landung in Veracruz. Von dort wollte Scott auf Mexiko-Stadt marschieren. Curtis hoffte, Scotts Expeditionsarmee zugeteilt zu werden und somit dem Garnisonsdienst zu entkommen. Er wurde jedoch enttäuscht: Das 3. Ohio-Regiment blieb in Nordmexiko und wurde lediglich nach Camargo, weiter flussaufwärts des Rio Grande, verlegt. Camargo diente als Nachschubdepot für Taylors verkleinerte Armee, die bei Monterrey und Saltillo eine Verteidigungsstellung eingenommen hatten. Wie auch in Matamoros war es Curtis’ Aufgabe, für öffentliche Ordnung zu sorgen und das rückwärtige Gebiet zu sichern. Dies war hier jedoch eine deutlich schwierigere Aufgabe: Mexikanische Partisanen attackierten amerikanische Wagenzüge und Patrouillen, und mexikanische Kavallerie unter José de Urrea bedrohte Taylors Verbindungslinien. Von Süden her marschierte außerdem General Santa Anna gegen Taylors Truppen. Curtis verlor die Verbindung zu Taylors Armee, und einige versprochene Verstärkungstruppen trafen nur langsam ein. In seiner Nervosität bat er Scott und die Gouverneure von Texas und Louisiana um Hilfe. Am 2. März 1847 schrieb er außerdem direkt an Präsident Polk, schilderte die Gefahr, in der sich Taylor seiner Meinung nach befand, und schlug vor, eine neue, 50.000 Mann starke Armee zu Taylors Unterstützung aufzustellen. Polk befand Curtis’ Brief für übertrieben. Der Inhalt des Briefs gelangte an die Presse und machte Curtis zum Gespött, zumal nachdem bekannt wurde, dass Taylor Santa Annas Angriff bei Buena Vista abgewehrt hatte.
Curtis und seine Männer eskortierten einen Nachschubzug zu Taylors Truppen und erreichten am 18. März Monterrey. Taylor übergab ihm hier die gleiche Aufgabe wie zuvor in Matamoros und Camargo. Im Juni lief die Dienstzeit von Curtis und seinen Männern ab. Curtis blieb jedoch noch länger in Mexiko, da ihn General Wool gebeten hatte, als Generalinspekteur und Militärgouverneur für die Stadt Saltillo zu dienen. Er hoffte dadurch, an einer erneuten Offensive teilnehmen zu können, die jedoch nie stattfand. Außerdem hoffte er, dass Wools Bitte nach außen hin deutlich machen würde, dass er weiter das Vertrauen des Generals hatte. Dadurch, so hoffte Curtis, würde die Peinlichkeit um seinen Brief an Polk ausgewetzt. Am 25. Juni endete diese Aufgabe und Curtis machte sich auf den Heimweg. Unterwegs wurde er in ein Scharmützel mit mexikanischen Partisanen verwickelt. Dies war seine einzige Gefechtserfahrung während seiner Zeit in Mexiko. Den ganzen Kriegseinsatz hindurch hatte er seiner Familie viele lange Briefe geschrieben, in denen er Land und Leute in Mexiko beschrieb. Die sentimentale Seite, die er darin zeigte, war für Ingenieure und Militäroffiziere seiner Zeit eher ungewöhnlich.
Umzug nach Iowa und Politikkarriere
Es fiel Curtis zunächst schwer, sich wieder ins Zivilleben in Wooster einzuleben. Zeitweise überlegte er, wieder als Oberst in den Militärdienst einzutreten. Dies war jedoch eine unrealistische Hoffnung, da die Armee nach dem Sieg über Mexiko wieder schrumpfte und somit eher zu viele als zu wenige Offiziere hatte. Curtis erhielt das lukrative Angebot, die Kanalisierung des Des Moines River in Iowa zu leiten. Die Aufgabe ähnelte der Kanalisierung des Muskingum in Ohio und bot ein jährliches Gehalt von 2.500 Dollar zuzüglich Spesen. Im November 1847 zog Curtis, zunächst ohne seine Familie, nach Keokuk. Neben seiner Arbeit am Kanal eröffnete er dort eine Anwaltspraxis und erwarb mehrere Grundstücke als Geldanlage. Belinda und die Kinder folgten im Herbst 1848 nach Keokuk, und Curtis ließ dort ein neues Heim für die Familie errichten.
1849 starb Curtis’ Vater Zarah im Alter von 88 Jahren. Curtis und seine Familie erfuhren hiervon, als sie gerade vor der in Keokuk grassierenden Cholera ins ländliche Iowa geflohen waren. Darüber hinaus kam das Kanalprojekt in finanzielle Schwierigkeiten, weil der Verkauf von öffentlichem Land nicht genug Einnahmen erzielt hatte. Ein politischer Strömungswechsel brachte außerdem den Demokraten die Mehrheit in der Aufsichtsbehörde, woraufhin der Whig Curtis entlassen wurde. Die Kanalisierung des Des Moines wurde auch unter seinen Nachfolgern nie fertiggestellt.
1850–1853 arbeitete Curtis als leitender Bauingenieur der Stadt St. Louis. In seiner Zeit dort arbeitete er an einem Abwassersystem für die Stadt und beaufsichtigte die Verbreiterung des Uferdamms und den Bau zusätzlicher Kais. Der wahrscheinlich wichtigste Teil seiner Arbeit war es, den Mississippi in seinem gewohnten Bett zu halten. Curtis konnte dabei auf Vorarbeiten von Robert Edward Lee aufbauen. Er verstärkte die bestehenden Dämme und ordnete den Bau neuer an. Die Arbeit war ein Katz- und Mausspiel mit dem Fluss, denn das Schmelzwasser des Frühjahrs spülte oft einen Teil der vorangegangenen Arbeit wieder weg. Trotzdem gelang es Curtis und seinen Arbeitern, den Fluss in seinem Bett zu halten. Persönlich war die Zeit in St. Louis von Höhen und Tiefen geprägt. Curtis genoss das Leben in der Großstadt, seine Familie blieb jedoch zunächst in Keokuk, sodass er oft dorthin reiste. Am 10. März 1851 wurde sein Sohn Yale in Keokuk geboren. Er starb jedoch schon im Alter von drei Monaten an der Cholera. Kurz darauf erlag auch Sohn Bucky der Krankheit. In dieser schwierigen Zeit war Curtis außerdem aufgrund seiner Pflichten nicht imstande, nach Keokuk zu reisen. Erst im Dezember 1851 zogen Belinda und die drei noch lebenden Kinder nach St. Louis. Am 8. Dezember 1852 wurde dort Curtis’ siebtes und letztes Kind – eine Tochter namens Cara Eliza – geboren. Bald darauf endete Curtis’ Anstellung in St. Louis wieder: Die politischen Machtverhältnisse in der Stadt änderten sich, und Curtis musste gehen.
Curtis’ nächste Anstellung war im Eisenbahnbau. Bereits 1839 hatte er eine (erfolglose) Petition verfasst, in der er darum bat, öffentliches Land für die Finanzierung einer transkontinentalen Eisenbahn zur Verfügung zu stellen. Nun fand er eine Anstellung in der Philadelphia, Fort Wayne and Platte Valley Railroad, die auch als „Luftlinien“-Route bekannt war. Im Gegensatz zu anderen Eisenbahnprojekten, die eher kurze Strecken bedienten, versuchte dieses Unternehmen, eine durchgängige Verbindung von der Ostküste bis auf die Great Plains zu schaffen. Curtis’ Stelle als Leitender Ingenieur war äußerst lukrativ, aber auch herausfordernd. Er musste einerseits das Land für den Streckenabschnitt zwischen Fort Wayne und Council Bluffs vermessen – eine Länge von fast 1.000 Kilometern. Darüber hinaus rührte er die Werbetrommel für das Projekt – zunächst in Indiana, Illinois und Iowa, später auch in Washington, wo er versuchte, die Unterstützung des Repräsentantenhauses zu gewinnen. Curtis scheiterte jedoch in Washington und bemerkte bald, dass die Firma in finanziellen Schwierigkeiten war. Ende 1854 trat er zurück, und kurz darauf ging das Unternehmen bankrott. Curtis musste dabei fast 9.000 Dollar abschreiben, die ihm die Firma noch schuldete.
1854 kehrte Curtis nach Keokuk zurück, wo er sich verstärkt seiner Tätigkeit als Anwalt widmen wollte. Tatsächlich war er inzwischen eher ein Geschäftsmann oder professioneller Investor geworden: Er hatte in seiner Zeit bei der Eisenbahnlinie weiteres Geld in Land angelegt, unter anderem in Omaha und Council Bluffs. In Council Bluffs war er auch Teilhaber einer Fährlinie auf dem Missouri River geworden. In Südost-Iowa besaß er drei Farmen und weitere Grundstücke in Keokuk, Des Moines und in den Bundesstaaten Ohio, Missouri und Illinois. Curtis war jedoch kein guter Buchhalter, und das komplexe Geflecht aus Besitztümern mit Hypotheken und Grundsteuerzahlungen half hierbei auch nicht – er verlor den Überblick und 1856 fand er sich in einer so schlechten Lage, dass seine Frau und er einen Kostgänger in ihrem Haus aufnehmen mussten. Trotz seiner zahlreichen Investitionen waren die Rückflüsse aus diesen offenbar gering. Curtis hatte ein Cash-Flow-Problem.
Politisch war Curtis immer ein Whig gewesen, der sich für staatliche Entwicklungsmaßnahmen und gegen die Ausbreitung der Sklaverei nach Westen ausgesprochen hatte. Als die Whig-Partei im Zuge des Kansas-Nebraska Acts 1854 zusammenbrach, trat auch Curtis der neu gegründeten Republikanischen Partei bei. 1856 wurde er für sie zum Bürgermeister von Keokuk gewählt. Dieses Amt bekleidete er allerdings nur kurz, denn bereits im Herbst des gleichen Jahres wurde er als republikanischer Kandidat für den Kongress der Vereinigten Staaten aufgestellt. Zu seiner eigenen Überraschung konnte Curtis den Sitz im traditionell demokratisch eingestellten Süd-Iowa gegen den Amtsinhaber Augustus Hall mit knapper Mehrheit gewinnen. Curtis wurde dadurch der erste republikanische Kongressabgeordnete für Iowa. 1858 und 1860 wurde er wiedergewählt. Sein Hauptaugenmerk als Kongressabgeordneter war der Bau einer transkontinentalen Eisenbahnstrecke. 1860 brachte er einen Gesetzentwurf ein, der den Bau entlang des Overland Trail vorsah. Der Antrag wurde an einen Ausschuss verwiesen, dessen Vorsitzender Curtis wurde. Im weiteren Gesetzgebungsprozess wurde der Entwurf noch verändert und sah schließlich auch die Prüfung zweier Alternativrouten vor. Nach weiteren Änderungen wurde das Gesetz schließlich 1862 angenommen – allerdings war Curtis zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im Kongress.
Privat erlaubten ihm die 4.000 Dollar jährliches Salär eines Kongressabgeordneten ein komfortables Leben und die Zurückzahlung einiger Schulden. Diese waren jedoch nach wie vor beträchtlich. 1861 gelang es ihm außerdem, seinen Sohn Sam zum Leiter der Bundespoststelle in Denver, Colorado, ernennen zu lassen. Während eines Sommerurlaubes in Council Bluff brach 1859 der Pawnee-Krieg aus. Curtis beteiligte sich als Freiwilliger im Rang eines Oberstleutnants an der Expedition. Er war damit wahrscheinlich der einzige aktive Kongressabgeordnete in der Geschichte der Vereinigten Staaten, der an einem Feldzug gegen die Plains-Indianer teilnahm.
General im Sezessionskrieg
Sezessionskrise und Ausbildungsdienst in Missouri
Nach dem Sieg Abraham Lincolns in der Präsidentschaftswahl 1860 drohte South Carolina mit dem Austritt aus den Vereinigten Staaten. Im Repräsentantenhaus wurde ein Ausschuss aus je einem Delegierten pro Bundesstaat eingerichtet, der nach einer Lösung für die Krise suchen sollte. Curtis war in diesem Ausschuss der Vertreter Iowas. Der Ausschuss konnte den Krieg aber genauso wenig abwenden wie der „Friedenskonvent“ im Februar 1861, an dem Curtis ebenfalls teilnahm.
Curtis befand sich in Keokuk, als die Konföderierten mit dem Angriff auf Fort Sumter die Feindseligkeiten begannen. Er eilte zurück nach Washington, allerdings hatten Sezessionisten aus Maryland die Gleise von der Hauptstadt in den Norden beschädigt. Curtis schloss sich einem Milizregiment aus New York an, das von Philadelphia aus mit dem Schiff nach Annapolis fuhr und von dort nach Washington marschierte. Curtis wollte einerseits seinen Sitz im Kongress behalten, da er für Winfield Scott noch mehrere Heeresreformgesetze durchbringen wollte. Gleichzeitig wurde er zum Musterungsoffizier für Iowa ernannt. Wie zu Beginn des Mexikanisch-Amerikanischen Krieges in Ohio war er nun in Iowa dafür zuständig, drei Freiwilligenregimenter auszubilden. Kurz darauf wurde er vom 2. Iowa-Infanterieregiment zum Oberst gewählt. Seinen ersten militärischen Auftrag erhielt Curtis von General Nathaniel Lyon, dem unionistischen Befehlshaber in Missouri. Auf Lyons Befehl hin verlegte Curtis Mitte Juni mit zweieinhalb Regimentern nach Hannibal. Von dort fuhr er mit der Eisenbahn nach Saint Joseph und ließ unterwegs Garnisonen zurück, um die Eisenbahnlinie zu sichern. Curtis handelte hierbei entschlossen und schnell. Dies und die Benutzung moderner Transportmittel wie Dampfschiff und Eisenbahn erlaubten ihm, in wenigen Tagen hunderte Kilometer zurückzulegen und eine wichtige Eisenbahnlinie in Nordmissouri zu sichern.
Anfang Juli kehrte Curtis nochmals nach Washington zurück und wurde dort Zeuge der Niederlage bei Bull Run. Kurz darauf wurde er zum Brigadegeneral befördert und musste dafür seinen Sitz im Kongress abzugeben. Für Curtis kam es nicht infrage, das militärische Angebot abzulehnen, allerdings beklagte er sich gegenüber seinem Bruder, dass ihn dies Geld kostete: Als Oberst in Diensten Iowas hätte er dort 3.000 Dollar und weitere 4.000 Dollar als Kongressabgeordneter verdienen können, als Brigadegeneral dagegen nur 3.800 Dollar. Curtis wurde wieder nach St. Louis geschickt, um dort Freiwilligenregimenter auszubilden. Sein Vorgesetzter dort war General John C. Frémont, der neue Befehlshaber des „Wehrbereichs West“ (Department of the West).
Frémont hatte seine Ernennung seinen politischen Verbindungen zu verdanken, genoss jedoch einen guten Ruf als Militär. Seine ersten Wochen im Kommando waren von militärischen Misserfolgen in den Schlachten von Wilson's Creek und Lexington geprägt, die zu erheblichen Gebietsverlusten führten. Auch auf politischer Ebene war Frémont glücklos: Am 30. August verkündete er unter anderem die Befreiung aller Sklaven, die konföderierten Aktivisten gehörten. Lincoln, der zu diesem Zeitpunkt noch versuchte, den Sklavenstaat Kentucky von der Sezession abzuhalten, widerrief dieses Edikt Frémonts kurz darauf. Lincoln zweifelte an Frémonts Eignung und bat Curtis um dessen Meinung. Curtis hatte sich schon zuvor in privaten Briefen über Frémonts Führung beklagt und bestärkte Lincoln in seinen Zweifeln. Lincoln antwortete, indem er Curtis einen Befehl schickte, der Frémont seines Kommandos enthob und durch General David Hunter ersetzte. Curtis sollte den Befehl allerdings für sich behalten, falls Frémont kurz vor oder bereits in einer Schlacht stand. Frémont war inzwischen mit seiner Feldarmee nach Springfield vorgerückt. Curtis’ Bote traf Frémont dort am 2. November an und händigte ihm, als er keine Anzeichen für eine bevorstehende Schlacht sah, den Entlassungsbefehl aus. Für seine Bemühungen erhielt Curtis ein persönliches Dankschreiben des Präsidenten, über das er sich sehr freute. General Hunter blieb nur kurz sein Vorgesetzer: Am 9. Dezember restrukturierte die Union die Kriegsgliederung westlich des Mississippi, und Missouri und Curtis kamen unter den Befehl von Henry W. Halleck, Kommandeur des neuen Wehrbereichs Missouri (Department of the Missouri).
Pea Ridge
Curtis war seine Ausbildungstätigkeit leid und wünschte sich ein Feldkommando. Er war zwar nach außen hin reserviert und entsprach dem Bild eines Viktorianischen Gentleman, hoffte jedoch inständig, sich militärisch auszeichnen zu können. Halleck erfüllte seinen Wunsch schließlich, indem er ihn am 25. Dezember zum Befehlshaber des Distrikts Südwestmissouri machte. Curtis’ Auftrag war, die konföderierte Armee von General Price zu vernichten oder zu zerstreuen. Curtis eilte sofort von St. Louis nach Rolla, wo er am 26. Dezember den Befehl über die ihm unterstellten Truppen übernahm und ihnen den Namen Südwestarmee (Army of the Southwest) gab. Sein erstes Feldkommando begann jedoch mit Streitigkeiten: Einer seiner Divisionskommandeure war Brigadegeneral Franz Sigel. Der Forty-Eighter Sigel war militärisch erfahren und hatte erwartet, selbst das Distrikt führen. Als Curtis ernannt wurde, gab er aus Protest sein Offizierspatent zurück. Halleck gelang es allerdings, ihn hiervon abzubringen, und Sigel akzeptierte schließlich seine Stellung unter Curtis.
Curtis’ nächstes Problem war die Versorgung seiner Männer: In ihrer Basis in Rolla konnte die Südwestarmee gut über eine Eisenbahnlinie versorgt werden, die hier jedoch endete. Im südlich von Rolla gelegenen Operationsgebiet blieb nur die Versorgung durch bespannte Wägen über primitive Straßen. Curtis wies seine Männer deswegen an, so wenig zusätzliches Gepäck wie möglich zu behalten, um die Transportwägen für essentielle Versorgungsgüter freizuhalten. Am 13. Januar rückte Curtis seine Armee nach Lebanon vor. Dort angekommen, organisierte er sie in vier Divisionen unter dem Befehl von Peter Joseph Osterhaus, Alexander Asboth, Jefferson C. Davis und Eugene Asa Carr. Einige weitere Regimenter, vor allem Kavallerie, behielt er unter seinem direkten Befehl. Die Gliederung folgte der ethnischen Zusammensetzung der Armee: Osterhaus und Asboths Divisionen bestanden größtenteils aus Immigranten (vor allem Deutschamerikanern), Davis’ und Carrs Verbände setzten sich aus Einheimischen zusammen. Curtis machte Sigel zu seinem Stellvertreter. Die Gliederung der rund 12.100 Mann starken Südwestarmee in vier Divisionen war ein wenig unbeholfen. Curtis hoffte wahrscheinlich, weitere Streitigkeiten wie bei seiner Befehlsübernahme zu verhindern. Sein unmittelbarer Gegner waren Sterling Price und dessen rund 8.000 konföderierte Missourier, die in Springfield ihr Winterlager eingerichtet hatten.
Curtis begann seine Offensive am 10. Februar. Er drängte Price aus Springfield und verfolgte die sich nach Süden zurückziehenden Konföderierten. Ein Versuch Sigels, den Konföderierten den Weg abzuschneiden, scheiterte. Als die Konföderierten sich über das eisige Ozark-Plateau zurückzogen, konnten die Nordstaatler allerdings viele Männer gefangen nehmen, die den Anschluss an ihre Einheiten verloren hatten. Die Nordstaaten marschierten in Arkansas ein, wo Price am 17. Februar ein Rückzugsgefecht ablieferte, unterstützt nun von den Truppen General Benjamin McCullochs. Danach setzten die Konföderierten ihren Rückzug bis Cross Hollows fort. Durch ein Flankenmanöver seiner Kavallerie konnte Curtis sie auch aus dieser Position verdrängen und am 21. Februar Bentonville einnehmen. McCulloch und Price zogen sich in die Boston Mountains zurück.
Curtis setzte seine Verfolgung der Konföderierten nicht weiter fort. Er war mehr als 300 Kilometer von seiner Nachschubbasis in Rolla entfernt, und da er in Springfield und an anderen Orten Garnisonstruppen hatte zurücklassen müssen, war seine Feldarmee nur noch rund 10.500 Mann stark. Halleck konnte ihm jedoch keine weiteren Truppen schicken. Curtis verteilte seine Armee in weitem Bogen, um möglichst viele Nahrungsmittel sammeln zu können. Weiter südlich hatte unterdessen General Earl Van Dorn den Oberbefehl über McCullochs und Prices Truppen übernommen. Zusammen mit einem Kontingent von mit den Konföderierten verbündeten Indianern hatte Van Dorn rund 16.000 Mann zur Verfügung und entschied, Curtis anzugreifen. Sein Ziel war es, die etwas exponiert stehenden zwei Divisionen von Sigel zu überwältigen. Die Falle gelang jedoch nicht, und Sigel und seine Männer zogen sich hinter den Little Sugar Creek zurück, wo Curtis bereit eine andere Division postiert hatte. Auf den Hügeln am Nordufer des Flüsschens legten die Unionssoldaten ein Stellungssystem an.
Van Dorn entschied, Curtis’ Stellung westlich zu umgehen. Dazu wollte er auf einer Nebenstraße um den Höhenzug Pea Ridge marschieren und die für Curtis wichtige Verbindungsstraße Telegraph Road erreichen. Van Dorn begann seinen Marsch am Abend des 6. März, kam jedoch nur langsam voran. Zum einen hatte Curtis geradezu in letzter Minute auf der Nebenstraße Bäume fällen lassen, um sie schwerer passierbar zu machen, zum anderen kostete das Überqueren des eiskalten Little Sugar Creek viel Zeit. Viele der hungrigen und müden Konföderierten konnten das Marschtempo nicht mithalten, und am Morgen des 7. März musste Van Dorn erkennen, dass seine ganze Streitmacht nicht vor Mittag angriffsbereit war. Um den Angriff schneller beginnen zu können, teilte er seine Armee: Prices Division griff wie geplant nach Süden hin auf die Elkhorn Tavern an, McCullochs Division sollte weiter südwestlich angreifen. Die Teilung war riskant, weil beide Armeeflügel durch einen Berg voneinander getrennt wurden. Van Dorn erwartete jedoch, die beiden Flügel wieder vereinen zu können, bevor Curtis reagierte. Curtis wurde jedoch schon bald über die Bewegungen der Konföderierten informiert und schickte sofort Truppen nach Norden, um die Konföderierten aufzuhalten. Osterhaus’ Division traf gegen Mittag bei Leetown auf McCullochs Truppen, und eine Meile weiter östlich stoppte Carrs Division Prices Kolonne. Die beiden Unionsdivisionen waren jedoch zahlenmäßig unterlegen und forderten Unterstützung an. Curtis schickte zuerst Davis’ Division zu Osterhaus und, nachdem er sich vergewissert hatte, dass am Little Sugar Creek keine Gefahr mehr drohte, Asboths Verband zu Carr. Innerhalb eines Tages hatte Curtis die Front seiner Armee um 180 Grad gedreht. Er führte seine Armee an diesem Tag schnell, effizient und mit Geistesgegenwart.
Davis’ Division ging gegen McCullochs Konföderierte zum Gegenangriff über, wobei zuerst McCulloch und dann sein Stellvertreter James M. McIntosh tödlich getroffen wurden. Der nächsthöhere konföderierte Offizier, Oberst Louis Hébert, wurde gefangen genommen. Die Konföderierten in diesem Abschnitt wurden geschlagen und zogen sich zurück. Weiter östlich hatte Price Carrs Truppen zurückgedrängt, doch bei Einbruch der Nacht konnte Carr eine neue Linie bilden. Curtis verstärkte ihn hier mit seinen drei anderen Divisionen. Am nächsten Tag ließ er seine Armee in Schlachtreihe aufstellen und begann um 8 Uhr mit einer Artilleriekanonade. Das zwei Stunden dauernde Feuer war das bis dato schwerste Artilleriebombardement in der Geschichte Nordamerikas. Curtis hatte dabei großes Glück: Als er sich mit Sigel besprach, schlug eine Granate unter seinem Pferd ein, explodierte jedoch nicht. Gegen 10 Uhr befahl Curtis den Angriff der Infanterie auf breiter Linie. Die Konföderierten konnten der Wucht des Angriffs nichts mehr entgegenhalten: Viele flohen, und Price und Van Dorn mussten das Schlachtfeld räumen. Curtis’ Truppen erbeuteten mehrere Geschütze und weiteres Material. Ihr Sieg hatte sie 1.384 Gefallene, Verwundete und Vermisste gekostet. Die Verluste der Konföderierten sind schwerer zu beziffern. Schätzungen gehen von mindestens 2.000 Mann aus. Curtis’ Sieg beendete alle Ambitionen der Konföderierten, Missouri erobern zu können. Der umkämpfte Staat, in dem Tausende von Bewohnern mit den Konföderierten sympathisierten, erlebte in den folgenden Jahren einen blutigen Guerillakrieg.
Feldzüge in Arkansas
In Anerkennung seines Sieges wurde Curtis am 21. März 1862 zum Generalmajor des Freiwilligenheeres befördert. Seine Armee konnte sich ein wenig ausruhen, litt jedoch unter schlechter Versorgungslage. Es fehlte insbesondere an Munition und Pferden. in diesem Zusammenhang kam es auch zu einem Streit zwischen Curtis und seinem Logistikoffizier Sheridan, und Curtis entließt Sheridan kurzerhand. Curtis störte sich außerdem an Zeitungsberichten im Norden, die Sigel den Löwenanteil am Sieg bei Pea Ridge zusprachen. Dies wurde erst durch die Veröffentlichung von Curtis’ offiziellem Bericht zur Schlacht richtiggestellt. Als die Nordstaatler acht gefallene Soldaten fanden, die offenbar von den konföderierten Indianern skalpiert worden waren, schickte Curtis eine Protestnote an Van Dorn. Am 27. März erfuhr er außerdem, dass seine zwanzigjährige Tochter Sadie an Typhus verstorben war. Die Nachricht war ein schwerer Schlag für ihn, zumal ihm kurz darauf auch klar wurde, dass er aufgrund seiner Pflichten nicht zu Sadies Beerdigung fahren konnte. Er zog sich lange und oft allein in sein Zelt zurück und schrieb einen Monat lang nicht mehr in sein Tagebuch. Zeitweise zweifelte er, ob er noch in der Lage war, seine Armee zu führen, sah jedoch niemanden mit genügend Erfahrung und Ausbildung, dem er sie anvertrauen hätte können.
Curtis' Sieg bei Pea Ridge war nicht der einzige Erfolg der Nordstaaten im Frühjahr 1862: Fast zur gleichen Zeit brach infolge der Niederlagen bei Mill Springs, Fort Henry und Fort Donelson auch die konföderierte Position in Tennessee und Kentucky zusammen. Der konföderierte Befehlshaber westlich der Appalachen, General Albert Sidney Johnston, zog deswegen seine Verbände bei Corinth zusammen und beorderte zur Unterstützung auch Van Dorns Truppen auf die östliche Seite des Mississippi. Curtis bemerkte, dass Van Dorn nach Osten marschierte, und folgte ihm, um zwischen den Konföderierten und Missouri zu bleiben. In drei Wochen marschierte seine Armee dadurch mehr als 200 Kilometer und erreichte Ende April West Plains in Südmissouri. Eine Woche später besetzte die Südwestarmee Batesville, die wichtigste Stadt in Nordostarkansas. Curtis, der wochenlang in einem spartanischen Zelt geschlafen hatte, richtete sein Hauptquartier hier in einem Stadthaus ein. Seine Armee blieb rund zwei Monate in der Stadt, und in dieser Zeit rief er eine unionistische Zeitung ins Leben und begann, loyale Bürger für das 1. Arkansas-Freiwilligenregiment zu rekrutieren. Die Armee wurde durch 3.000 Mann unter General Frederick Steele verstärkt, und Halleck wollte sie gegen Memphis operieren lassen. Dies erwies sich jedoch aufgrund der Geographie als nicht praktikabel. Stattdessen musste Curtis die Hälfte seiner Infanterie an General Grant in Corinth abgeben. Der Rest der Südwestarmee – drei Divisionen unter Steele, Carr und Osterhaus – sollte Little Rock einnehmen.
Little Rock war zu diesem Zeitpunkt nur schwach verteidigt, aber die Nachschubsituation war schwierig: Flüsse schwollen aufgrund des Frühjahrswetters an und wurden unpassierbar, und die Südstaatler verbrannten außerdem Brücken. Ende Mai ernannten die Konföderierten mit Thomas Carmichael Hindman außerdem einen neuen Oberkommandeur, der sich mit großer Energie daran machte, eine neue Armee aufzustellen. Hindman beschäftigte Curtis mit zahlreichen lokalen Attacken und weckte den Eindruck einer größeren Streitmacht. Curtis und seine Männer waren nach fünf Monaten im Feld erschöpft, und ihre Nachschublinie erstreckte sich inzwischen über mehr als 500 Kilometer. Ende Mai gab er den Vorstoß auf Little Rock auf und zog sich nach Batesville zurück. Hier entschied Curtis Ende Juni, seine Nachschublinie aufzugeben und stattdessen den White River hinab in Richtung Mississippi zu marschieren. Curtis’ Truppen verpflegten sich die nächsten zwei Wochen, indem sie Nahrungsmittel im Umland requirierten – ein Novum für Unionstruppen. Am 7. Juli wehrten sie einen unbeholfenen konföderierten Angriff ab, und am 12. Juli erreichten sie Helena am Mississippi, wo sie von der Marine versorgt werden konnten. In den drei Monaten seit Pea Ridge hatten Curtis und seine Männer rund 800 Kilometer zurückgelegt. Sein Feldzug hatte Missouri für die Union gesichert, die Hälfte von Arkansas erobert und das strategische Gleichgewicht im Mississippital geändert.
Bereits auf dem Weg nach Helena hatte Curtis begonnen, Sklaven zu befreien. Zwar gab es hierfür bis Mitte Juli 1862 keine gesetzliche Grundlage, Curtis ließ aber schlichtweg Druckerpressen beschlagnahmen und druckte hierauf „Befreiungspapiere“ aus. Tausende Männer, Frauen und Kinder folgten seiner Armee. Curtis war vor dem Krieg kein radikaler Abolitionist gewesen, sondern hatte sich nur gegen die Ausweitung der Sklaverei ausgesprochen. Während des Krieges scheint sich seine Haltung aber verschärft zu haben. Curtis gab den Sklavenhaltern die Schuld am Krieg, und die Wegnahme der Sklaven war ein Weg, um sie zu bestrafen. Diese Politik setzte er in Helena fort. Um die Mengen an entflohenen Sklaven zu beschäftigten, ermutigte er seine Offiziere, die Befreiten als Näherinnen, Wäscherinnen, Wagenlenker, Köche und für andere Arbeiten anzustellen und setzte sie gegen Bezahlung und Verpflegung beim Festungsbau ein. Konservative Offiziere wie Frederick Steele waren über Curtis' Maßnahmen nicht erfreut. Curtis konnte sich jedoch durch Lincolns Zweites Konfiskationsgesetz und später die Emanzipationserklärung bestätigt sehen. Neben befreiten Sklaven zog Helena auch viele Baumwollhändler an, und es kam zu zahlreichen Betrugs- und Diebstahlsfällen. Curtis entschied schließlich, dass Baumwollhändler nur mit einer von ihm ausgestellten Lizenz ihrer Arbeit nachgehen konnten. In diesem Zusammenhang getätigte Äußerungen von Curtis in seinen Briefen zeigen, dass auch er dem Alltags-Antisemitismus seiner Zeit anhing.
Befehlshaber des Wehrbereichs Missouri
Im Juli 1862 beschloss der Kongress den Bau einer transkontinentalen Eisenbahnlinie. Curtis, der lange dafür gearbeitet hatte, wurde zum Mitglied einer Kommission ernannt, die in Chicago erste Vorarbeiten leisten sollte. Er erhielt 60 Tage Fronturlaub, die er neben der Kommissionsarbeit auch nutzen konnte, um Familie und Freunde zu treffen, sich von den gesundheitlichen Strapazen des Feldzuges zu erholen und sich in Keokuk um seine Geschäftangelegenheiten zu kümmern. Sein Urlaub wurde jedoch vorzeitig beendet. General Halleck – inzwischen Oberbefehlshaber des gesamten Heeres – beorderte ihn am 22. September nach St. Louis, um dort den Befehl über den Wehrbereich Missouri (Department of the Missouri) zu übernehmen. Curtis’ neues Kommando war der größte Wehrbereich des Unionsheeres. Er umfasste Missouri, Colorado, Nebraska, Kansas, das Indianerterritorium, einen Teil von Illinois und die eroberten Gebiete in Arkansas. Das Gebiet war in verschiedene Distrikte eingeteilt, und Mitte November zählten diese insgesamt 62.535 Soldaten und 137 Geschütze. Curtis führte diese Truppen jedoch nicht im Feld. Wahrscheinlich auch aufgrund seiner noch immer angeschlagenen Gesundheit blieb er in seinem Hauptquartier in St. Louis und führte die militärischen Operationen des Wehrbereichs mithilfe des Telegrafen. Auch so war die Führung eines Wehrbereichs jedoch harte Arbeit, zumal auch viele von Curtis’ Stabsoffizieren wegen Krankheit ausfielen.
Im Spätsommer und Herbst konnten Curtis’ Untergebene James G. Blunt und John McAllister Schofield einen Vorstoß der Konföderierten nach Südmissouri abwehren. Ende Oktober zogen sich die Konföderierten wieder hinter die Boston Mountains zurück, und die Nordstaatler besetzten Fayetteville in Nordarkansas. Curtis wurde während dieser Zeit von Halleck unter Druck gesetzt, Truppen für den Feldzug gegen Vicksburg abzugeben. Aus diesem Grund, aufgrund der angespannten Nachschubsituation und aufgrund falscher Meldungen eines konföderierten Vorstoßes auf Springfield rief Curtis General Schofield mit zwei seiner drei Divisionen nach Springfield zurück. Er plante, die beiden Divisionen nach Helena zu schicken, um sie dort an der Offensive gegen Vicksburg teilnehmen zu lassen. Die Konföderierten bemerkten diesen Abzug jedoch und marschierten gegen die in Arkansas verbliebene und nun isolierte Unionsdivision von General Blunt. Curtis schickte die beiden Divisionen wieder zurück, die von ihrem Kommandeur Francis J. Herron zu einem Eilmarsch angetrieben wurden und in drei Tagen fast 180 Kilometer zurücklegten. Das Ergebnis dieser Bewegungen war die Schlacht bei Prairie Grove, die mit einer Niederlage der Konföderierten und ihrem Rückzug endete. Die fehlgeschlagene Offensive bedeutete für die Konföderierten den dauerhaften Verlust von Nordwestarkansas und des nördlichen Indianerterritoriums. Zwar gab es auch in Zukunft Kavallerie-Raids und Guerillaaktionen bis nach Missouri, doch die Konföderierten waren danach nie mehr in der Lage, das Gebiet militärisch zu kontrollieren. Der Feldzug nach Prairie Grove war auch die letzte groß angelegte operative Offensive der Südstaaten westlich des Mississippi.
Dies bedeutete allerdings nicht, dass in Missouri Ruhe einkehrte. Missouri hatte von allen in der Union verbliebenen Staaten die größte Anzahl sezessionistisch eingestellter Einwohner. Während einige von ihnen in Prices konföderierten Verbänden dienten, waren andere zurückgeblieben – als Guerilla-Kämpfer, als Helfer von Guerilla-Kämpfern oder einfach als Einwohner von zweifelhafter Loyalität. Ende 1862 war Südostmissouri stark von Guerilla-Aktivitäten betroffen, unterstützt von einem Einfall konföderierter Kavallerie. Curtis verfolgte die Guerillas mit Härte, hatte aber das Problem, dass Oberbefehlshaber Halleck den Wehrbereich Missouri vor allem als Kräftereservoir für Operationen gegen Vicksburg sah. Während seiner acht Monate als Wehrbereichskommandeur sandte Curtis Tausende von Soldaten nach Vicksburg. Trotzdem wurde er regelmäßig von Halleck kritisiert und ermahnt, mehr Truppen zu schicken. Das Verhältnis der beiden Männer trübte sich deswegen merklich ein. Curtis war außerdem enttäuscht, dass er nicht selbst eine aktive Rolle bei der Eroberung der Festungsstadt am Mississippi spielen durfte.
Curtis’ größte Probleme waren jedoch politischer Natur. Missouris Gouverneur Hamilton Rowan Gamble war ein konservativer Unionist, der zwar die Sezession ablehnte, aber auch gegen die Abschaffung der Sklaverei war und die Präsenz von Bundestruppen in Missouri nach Möglichkeit reduziert sehen wollte. Curtis dagegen hatte sich zunehmend dem Lager der Radikalen Republikaner angenähert und stand damit in Opposition zu Gamble. Die beiden stritten unter anderem, als Curtis unter Anwendung des Kriegsrechts einen Presbyterianischen Priester aus Missouri verbannte, weil er sich Curtis’ Meinung nach zu sehr für die Konföderierten geäußert hatte. Auf Anraten Lincolns nahm Curtis diese Maßnahme wieder zurück. Ein anderer Streitpunkt zwischen Gouverneur und Wehrbereichsbefehlshaber war der Umgang mit befreiten Sklaven, die von Helena aus den Weg nach Missouri machten. Gamble wollte sie nach Möglichkeit nicht in seinem Staat haben, während Curtis beweisen wollte, dass die befreiten Sklaven sich in die freie Gesellschaft integrieren konnten, wenn man sie dabei unterstützte. Curtis wurde außerdem Opfer einer politischen Kampagne, die ihm vorwarf, sich während seiner Zeit in Helena bei der Verteilung von Handeslizenzen für Baumwolle bereichert zu haben. Konservative Politiker und Generäle wie John S. Phelps, Frederick Steele, Eugene Carr und auch Gouverneur Gamble verbreiteten entsprechende Gerüchte und forderten Curtis' Ablösung. Die Armee setzte schließlich einen Untersuchungsausschuss ein. Die dort gemachten Aussagen waren offiziell vertraulich, sickerten jedoch regelmäßig an die Presse durch. Erst im Sommer 1863 konnte Curtis, der jegliche Bereicherung kategorisch leugnete, zur politischen Gegenoffensive übergehen, und seine Unterstützer sandten zahlreiche Stellungnahmen an das Kriegsministerium. Curtis blieb dabei nach außen hin ruhig, war jedoch innerlich zutiefst erbost über die Behandlung, die ihm zuteilwurde. Erst der Abschlussbericht des Ausschusses rehabilitierte ihn. Zwar wurde er für schlampige Buchführung und unaufmerksame Verwaltung kritisiert, der Ausschuss sah jedoch keine Hinweise auf illegale Machenschaften. Ein kurzzeitig im Raum stehendes Kriegsgerichtsverfahren verlief ebenso im Sande.
Ablösung und neue Aufgabe
Lincoln war das zerrüttete Verhältnis zwischen Curtis und Gamble jedoch nicht entgangen. Um die weitere Enzweiung der beiden unionistischen Lager in Missouri zu verhindern, musste er handeln, und, wie er später erklärte, „da ich Gouverneur Gamble nicht absetzen konnte, musste ich General Curtis absetzen.“ Im März 1863 sollte mit Edwin Vose Sumner ein konservativerer Offizier den Befehl über den Wehrbereich Missouri übernehmen. Sumner starb jedoch, bevor er im Westen ankam. Curtis wurde deswegen erst im Mai und dann durch John McAllister Schofield ersetzt, einen konservativen Demokraten, der sich gut mit Gouverneur Gamble verstand. Curtis ging zurück nach Keokuk. Während er dort auf neue Befehle wartete, ruhte er sich aus, ging seinen Geschäften nach und kümmerte sich um seinen Garten und sein Anwesen.
Curtis’ Sohn Henry Zarah Curtis diente als Major im Stab von General Blunt. Im Oktober 1863 begleitete er seinen Vorgesetzten auf dem Weg von Fort Scott nach Arkansas. Bei Baxter Springs wurde Blunt samt Stab und Eskorte von William Clarke Quantrill und seiner Partisanenbande überrascht. Blunt und wenige andere konnte entkommen, der Großteil der Nordstaatler fiel jedoch Quantrills Schergen zum Opfer. Die Partisanen richteten verwundete oder gefangengenommene Unionssoldaten per Kopfschuss hin und feuerten auf sich ergebende Gegner. Zu den solcherart Ermordeten gehörte auch Henry Curtis: Als er zur Aufgabe seinen Revolver übergeben wollte, erschoss ihn einer von Quantrills Leuten. Insgesamt 82 Männer starben im Massaker von Baxter Springs, darunter mehrere Zivillisten. Henry hinterließ seine Frau, die im sechsten Monat schwanger war. Sein Tod war der nächste Schicksalsschlag für Curtis und seine Frau Belinda. Von ihren insgesamt sieben Kindern waren nun nur noch zwei am Leben. Später benannte Curtis Fort Zarah (im Barton County, Kansas) nach seinem Sohn.
Am 1. Januar 1864 erhielt Curtis ein neues Kommando. Das Kriegsministerium übertrug ihm den Befehl über den neugeschaffenen Wehrbereich Kansas (Department of Kansas). Dieser umfasste neben dem namensgebenden Staat die Territorien Nebraska und Colorado, das Indianerterritorium sowie Fort Smith in Arkansas. Rund 10.000 Soldaten dienten in dem neuen Wehrbereich, aufgeteilt auf vier Distrikte. Ihre Aufgabe war es, das Gebiet des Wehrbereichs gegen reguläre konföderierte Einheiten, Partisanen und Indianerüberfälle zu schützen. Es war somit ein ruhigeres, wenig Aufsehen erregendes Kommando, was Curtis aber nach seinen anstrengenden Aufgaben zu Kriegsbeginn wahrscheinlich entgegenkam. Kansas war außerdem eine Hochburg der Republikaner, sodass er hier deutlich willkommener war als zuvor in Missouri. In den folgenden Monaten wurde Curtis’ Verantwortungsbereich weiter reduziert, als Fort Smith und das Indianerterritorium an den benachbarten Wehrbereich Arkansas gingen. Im April 1864 befehligte Curtis dadurch nur noch knapp 5.000 Soldaten. Im gleichen Monat erhielt er Urlaub, um sich in Keokuk um Belinda zu kümmern, die an einer Lungenentzündung erkrankt war. Im Juli zogen Belinda, Tochter Caddie und Henrys Witwe Julia zu ihm nach Fort Leavenworth. Curtis fand sogar neben seinen militärischen Pflichten die Zeit, sich um seine Geschäfte und Investitionen zu kümmern. Dank seines Verdienstes als Generalmajor konnte er außerdem seine Schulden größtenteils tilgen.
Mit dem Sommer nahm die Guerillaaktivität zu. Im Juli sandte Curtis Truppen ins benachbarte Missouri, um dort eine größere Guerillabande niederzuschlagen. Danach wurde sein Augenmerk verstärkt auf die Great Plains gelenkt, wo es zu zahlreichen Angriffen durch mehrere Indianerstämme kam. Curtis führte Ende Juli eine Kolonne nach Great Bend. Er rief seine Männer auf, indianischen Frauen und Kindern keinen Schaden zuzufügen, doch es kam ohnehin zu keinem Kampf: Die Indianer zogen sich kampflos zurück. Um Westkansas besser zu schützen, schuf Curtis ein neues Distrikt und unterstellte es dem Befehl von General Blunt. Im August musste er dann nach Nebraska, wo die Sioux und verbündete Indianer vermehrt Siedler und Reisende überfielen. Auch hier kam es allerdings nicht zu Kampfhandlungen.
Westport
Im Sommer 1864 zogen die Nordstaaten große Teile der westlich des Mississippi stationierten Truppen ab, um damit die Armeen der Generäle Sherman und Grant östlich des Mississippi zu verstärken. Damit ging die Initiative auf diesem Kriegsschauplatz wieder auf die Konföderierten über. Der konföderierte General Sterling Price wollte dies für einen Kavallerie-Raid nach Missouri nutzen. Price versprach sich davon nicht nur neue Rekruten für seine Verbände, sondern hoffte auch, dass ein erfolgreicher Raid die Union vielleicht zwingen würde, Truppen aus dem Osten zurückzuverlegen. Die Konföderierten hofften außerdem, dass ein Erfolg Lincoln bei der anstehenden Präsidentschaftswahl Stimmen kosten würde. Price befehligte drei Kavalleriedivisionen mit insgesamt 14.000 Mann, von denen allerdings 4.000 noch keine Waffen besaßen. Er umging die Unionstruppen von General Steele in Arkansas und marschierte am 19. September in Missouri ein.
William Starke Rosecrans, zu diesem Zeitpunkt Unionskommandeur in Missouri, warnte Curtis, dass Price möglicherweise auch in Kansas einmarschieren wollte. Curtis riet daraufhin Gouverneur Thomas Carney, die Kansas-Miliz in Bereitschaft zu halten. Carney war jedoch nicht von einer Bedrohung Kansas’ überzeugt. Im Herbst standen außerdem Wahlen in Kansas an, und Carney glaubte an eine Intrige seines Parteirivalen James Henry Lane: Er befürchtete, dass Lane die Milizionäre nach Missouri schicken wollte, um sie dadurch von der Wahl abzuhalten. Unterdessen ritt Price durch Ost-Missouri und zielte auf St. Louis. Rosecrans hatte seine Truppen jedoch in den strategisch wichtigen Orten Missouris konzentriert, und schreckte Price damit sowohl von einem Angriff auf St. Louis als auch auf Jefferson City ab. Von Jefferson City drehten die Konföderierten nach Nordwesten ab und ritten auf die Grenze Missouri-Kansas zu. Entlang des Missouri River war die Bevölkerung den Südstaatlern freundlich gesinnt, und mehrere Tausend Männer meldeten sich freiwillig. Price’ neues Ziel war Kansas City, von wo aus er in Kansas einmarschieren und Fort Leavenworth und Fort Scott erobern wollte. Rosecrans schickte ihm seine Kavalleriedivision unter General Alfred Pleasonton hinterher. Pleasonton sollte Price' Vormarsch verzögern, sodass Curtis und Rosecrans mehr Truppen in Price' Front und Rücken zusammenziehen konnten.
Curtis hatte unterdessen seine Verbände gesammelt. Am 9. Oktober erfuhr er aber zu seiner Überraschung, dass Carney die Kansas-Miliz noch immer nicht mobilisiert hatte. Erst als Rosecrans die von Price ausgehende Gefahr bestätigte, handelte der Gouverneur. Die hastig einberufene Kansas-Miliz bildete den Großteil von Curtis’ Streitmacht. Da er unter gesundheitlichen Problem litt, rief er General Blunt zu seiner Unterstützung und unterstellte ihm eine größtenteils aus Kavallerie bestehende Division. Die Infanterie der Kansas-Miliz bildete eine zweite Division unter dem Befehl von Brigadegeneral George W. Dietzler. Insgesamt konnte Curtis zwischen 16.000 und 18.000 Mann im Grenzgebiet von Missouri und Kansas zusammenziehen. Er gab seiner Feldarmee den Namen „Grenz-Armee“ (Army of the Border). Blunt marschierte nach Missouri und scharmützelte am 19. Oktober bei Lexington mit Prices Männern. Aufgrund seiner zahlenmäßigen Unterlegenheit konnte er den Vormarsch der Konföderierten lediglich verzögern. Er riet Curtis, den Little Blue River als Verteidigungslinie zu nutzen. Die Kansas-Miliz weigerte sich jedoch, so weit nach Missouri vorzurücken. Curtis konnte die Milizionäre aber wenigstens davon überzeugen, bis an den näher an der Staatsgrenze gelegenen Big Blue River zu marschieren. Dort gruben sich die Milizionäre ein. Verstärkt durch Blunt blockierte die Grenzarmee den direkten Weg nach Kansas City. Curtis hoffte, die Konföderierten zwischen seinen Truppen im Westen und den von Osten heranrückenden Truppen Pleasontons vernichten zu können. Letztere waren inzwischen nur noch wenige Kilometer vom Little Blue River entfernt.
Am 22. Oktober griffen die Konföderierten vor allem Curtis’ rechten (südlichen) Flügel an und versuchten, den Übergang über den Big Blue zu erzwingen. Nach einigen erfolglosen Versuchen fanden sie eine unbewachte Furt und konnten dadurch den rechten Unionsflügel aus den Angeln heben. Die Unionssoldaten strömten nach Norden in Richtung Kansas City zurück. Blunts Kavallerie gelang es jedoch mittels mehrerer Gegenangriffe, den Vormarsch der Konföderierten aufzuhalten und südlich des Dorfes Westport an einem kleinen Flüsschen eine neue Linie zu bilden. Statt nach Osten verlief die Unionsfront nun nach Süden, deckte aber weiter Kansas City. Pleasonton hatte unterdessen die Verfolgung fortgesetzt, Price' Nachhut besiegt, dabei 400 Gefangene gemacht und seinerseits fast den Big Blue River erreicht. Aufgrund seiner Position zwischen zwei Unionsarmeen entschied Price, seinen Vorstoß auf Kansas City abzubrechen und stattdessen nach Südwesten zu marschieren. Während sein mit Plündergut voll geladener Wagenzug sich auf den Weg in Richtung Fort Scott machte, sollte eine seiner Divisionen Pleasonton am Big Blue River aufhalten. Den anderen beiden befahl er, Curtis nochmals anzugreifen. Dabei ist aber unklar, ob Price wirklich hoffte, Curtis’ Grenzarmee zerschlagen zu können, oder ob sein Angriff lediglich dem Schutz des eigenen Wagenzuges diente. Curtis erfuhr durch Gefangene und Deserteure vom Abmarsch des konföderierten Wagenzuges. In der Nacht auf den 23. Oktober entschied er deswegen seinerseits, am nächsten Tag anzugreifen.
Die daraus resultierende Schlacht von Westport begann am Morgen des 23. mit dem Angriff von Blunts Kavalleriedivision auf die konföderierten Divisionen von Joseph Shelby und James Fagan südlich von Brush Creek. Blunts Division wurde zurückgedrängt und musste sich um 9:30 Uhr wieder auf die Nordseite von Brush Creek zurückziehen, wo inzwischen Dietzlers Milizdivision eingetroffen war. Die Konföderierten konnten ihren Vormarsch jedoch aufgrund von Munitionsmangel nicht fortsetzen und nahmen ihrerseits eine defensive Stellung auf erhöhtem Gelände südlich des Flüsschens ein. Curtis ließ die Konföderierten unter Artilleriefeuer nehmen und organisierte mit seinen Divisionskommandeuren einen zweiten Angriff. Dieser begann um 11:00 Uhr, scheiterte jedoch ebenfalls. Curtis erhielt unerwartete Hilfestellung von George Thoman, einem Farmer aus der Gegend, den die Konföderierten bestohlen hatten. Thoman führte Curtis und eine verstärkte Geschützbatterie auf einem schmalen, unbewachten Pfad hinter die linke Flanke der Konföderierten. Von ihrer Position dort konnten die Nordstaatler linke Flanke und Rücken der Konföderierten unter Artilleriefeuer nehmen, und Blunt nahm gleichzeitig seinen Angriff wieder auf. Die Konföderierten mussten ihre Stellung südlich von Brush Creek aufgeben und bildeten weiter südlich eine neue Linie.
Curtis massierte nun seine 30 Geschütze starke Artillerie. Ihr konzentriertes Feuer zerschlug die schwache konföderierte Artillerie und machte den Weg für einen erneuten Angriff frei. Seine Truppen drängten Shelbys Konföderierte weiter nach Süden. Kampflärm war außerdem von Südosten her zu hören, wo es Pleasonton gegen 12 Uhr gelang, Price' rechten Flügel zum Rückzug zu zwingen. Die Konföderierten sahen sich einer immer enger werdenden Zange von Unionstruppen im Norden und Osten entgegen und mussten außerdem ihre Front schwächen, um ihren Wagenzug zu beschützen. Shelbys verbleibende Männer sahen sich bald sowohl Pleasontons Truppen an ihrer rechten Flanke als auch Curtis’ frontalem Angriff entgegen und flohen. Curtis und Pleasonton trafen um 14:30 Uhr zusammen und beglückwünschten sich zu ihrem Erfolg. Mit insgesamt rund 29.000 Kämpfern war Westport die größte Schlacht westlich des Mississippi. Beide Seiten hatten dabei rund 1.500 Mann verloren.
In den nächsten Wochen führte Curtis eine energische Verfolgung der Konföderierten an. Dabei musste er mit einer sich verschlechternden Versorgungslage ebenso zurechtkommen wie mit der Erschöpfung seiner Männer und Pferde, dem Wunsch der Kansas-Miliz, nach Hause zurückzukehren, und der nicht immer engen Unterstützung durch Rosecrans und Pleasonton. Trotz dieser Schwierigkeiten verfolgte Curtis Price bis an den Arkansas River, den er am 7. November erreichte. Auf dem Weg dorthin brachten seine Männer den Konföderierten eine empfindliche Niederlage bei, als sie sie am 25. Oktober bei der Durchquerung des Mine Creek angriffen. Die Konföderierten mussten mehr als einhundert Versorgungswägen und fast ihre gesamte Artillerie aufgeben und verloren 1.300 Mann durch Verwundung, Gefangenschaft oder Tod, darunter den gefangengenommenen General John S. Marmaduke. Später musste Price auch den Rest seines Wagenzuges aufgeben und verbrennen, damit er nicht den Nordstaatlern in die Hände fiel. Price’ ausgehungerte Männer zogen sich ins Indianerterritorium und teilweise sogar bis nach Texas zurück. Price hatte zwar in Missouri mindestens 5.000 Freiwillige rekrutieren können, aber der Großteil seines Kavalleriekorps beendete den Feldzug ohne Pferde und ohne Waffen. Auch politisch erreichte er das Gegenteil seiner Ziele, denn sowohl in Missouri als auch in Kansas brachten die Wähler im Herbst 1864 die Radikalen Republikaner an die Macht. Die unionistische Stimmung machte es auch den Guerillas schwieriger, in den beiden Staaten zu operieren. Curtis’ Entschlossenheit brachte den Krieg in den beiden umkämpften Staaten zum Erliegen. Seine Aufgaben im Wehrbereich Kansas verlagerten sich deswegen vom Feld zurück ins Büro und zu gesellschaftlichen Veranstaltungen. Nach zehn Monaten aktivem Felddienst war er froh über diesen Wechsel zu ruhigeren Tätigkeiten. Erfreut war er auch über Lincolns Wiederwahl und vor allem die Siege der Radikalen Republikaner bei den Wahlen im Herbst 1864. Er zeigte sich aber enttäuscht darüber, dass sein Erfolg in der öffentlichen Wahrnehmung kaum Beachtung fand und sich die Aufmerksamkeit stattdessen auf William Tecumseh Sherman und dessen Marsch zum Meer und die Eroberung Savannahs konzentrierte.
Kriegsende
Mit dem Ende von Prices Raid musste Curtis seine Aufmerksamkeit wieder mehr auf den Konflikt mit den Indianern lenken. Seine Anweisungen an seine Untergebenen zeigten dabei, dass er gegenüber kriegerischen Indianern eine strenge Haltung vertrat und von ihnen die Unterwerfung unter die Autorität der Vereinigten Staaten erwartete. Diese Unterwerfung wollte er aber bevorzugt durch Verhandlungen und nicht Feldzüge erreichen. Mit dieser Haltung unterschied er sich deutlich von dem ihm unterstellten John M. Chivington oder von Colorados Gouverneur John Evans, die beide einer radikaleren Politik das Wort redeten. Der von Curtis in Westkansas eingesetzte Blunt dagegen war den Indianern freundlich gesinnt. Curtis' Biograph William Shea spekuliert, dass das Sand-Creek-Massaker womöglich nicht geschehen wäre, wenn Curtis Blunt nicht aufgrund von Prices Raid zu sich gerufen hätte.
Ulysses S. Grant, der Oberbefehlshaber des Heeres, war unzufrieden mit der Leistung der Unionskommandeure während Price' Raid, wobei persönliche Abneigungen Grants wahrscheinlich auch eine Rolle spielten. Er versetzte Frederick Steele, den Kommandeur des Wehrbereichs Arkansas, nach Texas, und enthob William Rosecrans seines Kommandos in Missouri. Grants Zorn traf auch Curtis, den er aus unbekannten Gründen für leistungsschwach hielt. Aufgrund von Curtis' Erfolgen und politischen Verbindungen konnte Grant ihn allerdings nicht entlassen. Er vereinigte jedoch den Wehrbereich Kansas mit dem Wehrbereich Missouri, unterstellte das neue Kommando General Grenville M. Dodge und versetzte Curtis am 31. Januar 1865 in den Wehrbereich Nordwest (Department of the Northwest). Dieser umfasste zu diesem Zeitpunkt rund 5.200 Soldaten und die militärische Verantwortung für Iowa, Minnesota und Wisconsin. Das Hauptquartier befand sich in Milwaukee. Der Wehrbereich Nordwest war, wie auch Curtis wusste, ein Abstellgleis, von dem aus er mit dem Krieg nichts mehr zu tun hatte. Die Ruhe des Wehrbereichs im Winter kam Curtis jedoch gelegen. Als verdienter General war er in Milwaukee außerdem ein gern gesehener Gast in der Oper, dem Theater oder auf Dinner-Parties. Im April reagierte Curtis verhalten auf die Nachricht, dass Robert Edward Lee mit seiner Nord-Virginia-Armee kapituliert hatte. Die Nachricht von der Ermordung Abraham Lincolns schockierte ihn jedoch. In einer Gedenkrede gab er seiner Meinung Ausdruck, dass der konföderierte Präsident Jefferson Davis als Verräter gehängt werden sollte. Nach einem Überfall der Sioux auf eine Siedlerfamilie zwang die angeheizte öffentliche Meinung Curtis zu einer Show of Force in Minnesota, die aber nicht zu Kampfhandlungen führte.
Nachkriegszeit und Tod
Mit dem nahenden Kriegsende begann Curtis, sich um seine Zukunft zu sorgen. Seine Bezüge als Generalmajor hatten es ihm erlaubt, seine Schulden zu tilgen, aber er hatte darüber hinaus keine Ersparnisse ansammeln können. Auch deswegen hoffte er, weiter in der Armee dienen zu können. Gleichzeitig plagte ihn allerdings das Gefühl, angesichts seiner Verdienste ungerecht behandelt und oft übergangen worden zu sein. Bei einem kurzen Urlaub in Keokuk brach er sich einen Arm. Aus Sorge, Grant könnte dies zum Vorwand nehmen, ihn zu entlassen, meldete er sich nicht krank, sondern führte seinen Wehrbereich mehrere Wochen von seinem Haus aus. Ende Juli schließlich wurde der Wehrbereich Nordwest in den Wehrbereich Missouri integriert. Curtis erhielt jedoch kurz darauf eine neue Aufgabe und wurde zum militärischen Vertreter in einer diplomatischen Mission zu den Indianerstämmen der nördlichen Plains ernannt. Die Kommission, zu der unter anderem auch Henry Hopkins Sibley und Newton Edmunds gehörten, traf sich im Oktober drei Wochen lang in Fort Sully (heute South Dakota) mit Vertretern der Lakota und Yanktonai und schloss Verträge mit ihnen. Allerdings ist unklar, ob die Vertragsbestimmungen den Indianern vollständig verständlich waren. Außerdem waren mehrere wichtige Häuptlinge wie Red Cloud, Spotted Tail oder Sitting Bull nicht anwesend oder weigerten sich, ihren jeweiligen Vertrag zu unterschreiben. Bei seinem Aufenthalt in Fort Sully befand Curtis das Bureau of Indian Affairs für inkompetent und gleichgültig. Curtis glaubte den Indianern, dass sie sich Frieden wünschten, sah aber voraus, dass die andauernde Westexpansion der Vereinigten Staaten die Lebensweise der Indianer unmöglich machen würde, und dass sie im Konfliktfall militärisch chancenlos waren. Wie zuvor auch in Mexiko war Curtis ein aufmerksamer Beobachter, der seine Eindrücke von Kultur und Natur eifrig notierte. Schwierigkeiten bereitete ihm als Nichtraucher allerdings die oft dargebotene Friedenspfeife. Nach seiner Rückkehr bot ihm Innenminister James Harlan an, Mitglied einer dreiköpfigen Kommission zu werden, die die Bauarbeiten für die transkontinentale Eisenbahn inspizieren sollte. Curtis nahm dieses Angebot gerne an. Die transkontinentale Eisenbahn war eines seiner Herzensprojekte, und die Stelle bot ihm ein sicheres Auskommen nach dem absehbaren Ende seiner Militärkarriere.
Am 30. April 1866 wurde Curtis schließlich aus dem Freiwilligenheer ausgemustert. Als ziviler Vertreter nahm er aber im Sommer des gleichen Jahres an einer zweiten Mission zu den Plains-Indianern teil, auch wenn er sich über Heimweh und die Trennung von Belinda beklagte. In Fort Sully interessierte er sich wieder für Kultur und Lebensweise der Sioux. Er trug Mokassins, schmückte seinen Hut mit Federn und nahm an einem Sonnentanz-Ritual teil, das allerdings gar nicht nach seinem Geschmack war. Nach Fort Sully ging die Kommission noch weiter ins Landesinnere, um auch mit anderen Stämmen wie den Crow und Mandan zu verhandeln. Im September kehrte Curtis wieder zu seinen Aufgaben als Eisenbahninspekteur zurück. Im November besuchte sein Bruder Henry Keokuk. Da Hosmer inzwischen auch dort lebte, waren damit alle drei Brüder seit längerer Zeit wieder einmal beieinander. Weihnachten konnte Curtis allerdings nicht mit seiner Familie feiern, da er auf eine weitere Inspektionsreise musste. Unterwegs schrieb er einen Brief an eine Zeitung in Keokuk, in dem er nochmals die Vorzüge der Eisenbahn für die zukünftige Entwicklung Iowas anpries. Auf dem Rückweg nach Keokuk starb er am 26. Dezember 1866 im Altern von 61 Jahren, wahrscheinlich an einem Schlaganfall. Er wurde in Keokuk auf dem Oakland Cemetery beigesetzt, in einem Familiengrab neben vier seiner verstorbenen Kindern.
Nachleben
Curtis war nach Ansicht seines Biographen William L. Shea „die wichtigste Figur im Bürgerkrieg westlich des Mississippi“ und erreichte während des Bürgerkrieges große Bekanntheit. Nach Kriegsende verblasste diese allerdings schnell, wobei mehrere Faktoren eine Rolle spielten. Schon während des Krieges machte Curtis wenig Werbung in eigener Sache und hoffte, dass seine Erfolge für sich sprächen. Aufgrund seines frühen Todes konnte er auch keine Memoiren veröffentlichen, im Gegensatz zu vielen anderen Generälen, die in diesen ihre eigene Rolle oft vergrößerten und beschönigten. Curtis' Nachwirkung litt auch darunter, dass er ausschließlich auf dem Kriegsschauplatz westlich des Mississippi diente. Dieser war jedoch ein Nebenschauplatz, da die Bevölkerungszentren und Hauptstädte östlich des Flusses lagen. Dort wurde der Bürgerkrieg entschieden, und dorthin konzentrierte sich auch das öffentliche und historische Interesse. Noch 2017 konstatierte der Historiker Thomas Cutrer, der Kriegsschauplatz westlich des Mississippi „bleibt zu einem bemerkenswerten Grade unbekannt und zu wenig wertgeschätzt“.
Als Absolvent der United States Military Academy, General der Union und Kongressabgeordneter fand Curtis Eingang in Nachschlagewerke wie George Washington Cullums Verzeichnis aller USMA-Absolventen, Ezra Warners Generals in Blue oder das Biographische Verzeichnis der Kongressabgeordneten. Hierbei handelt es sich jedoch um Kurzbiographien, die das Leben in groben Zügen skizzieren. Curtis wurde außerdem in Gesamtdarstellungen des Bürgerkrieges oder Büchern über die Schlachten mit seiner Beteiligung vorgestellt. James M. McPherson beispielsweise beschrieb ihn als „farblosen, aber kompetenten West Pointer“. Alvyn Josephy Jr. charakterisierte ihn in seiner Darstellung des Bürgerkriegs westlich des Mississippi auf ähnliche Weise („nüchterner West Pointer“). Für William L. Shea und Earl Hess in ihrer 1992 erschienenen Geschichte der Schlacht von Pea Ridge war Curtis der „farblose, aber komplexe Mann, der der erfolgreichste Truppenkommandeur der Union westlich des Mississippi wurde.“ Shea und Hess beschreiben Curtis als reservierten und förmlichen Gentleman, der großen Wert auf sein Äußeres legte und auf militärischen Ruhm hoffte, sich aber selbst nicht anpreisen oder herausstellen wollte. Shea und Hess wiesen allerdings auch auf Curtis' poetische und sentimentale Ader hin, die sich beispielsweise in seinem Interesse für Botanik und in seinen langen Briefen nach Hause äußerte. Auch Shelby Foote befand Curtis’ lange Briefe an seine Frau für ein wichtiges Charaktermerkmal. Er beschrieb Curtis außerdem als „vorsichtige oder auf jeden Fall höchst methodische Person“, die gerne Raum für Unvorhergesehenes in ihren Planungen ließ. Darin glaubte Foote, Curtis' ingenieurswissenschaftliche Prägung erkennen zu können. 1994 wurde das Tagebuch, das Curtis während seiner Zeit in Mexiko geführt hatte, in einer kommentierten Version veröffentlicht. Eine ausführliche Biographie in Buchlänge, die sich seinem ganzen Leben widmete, folgte jedoch erst 2023 durch William L. Shea. Shea sieht Curtis nicht nur als erfolgreichen General auf dem Schlachtfeld, sondern hebt auch hervor, dass er durch seine Befreiung von Sklaven in Helena der Sklaverei einen schweren Schlag verpasst hatte. In Curtis’ Friedensverhandlungen mit den Plains-Indianern 1865/66 sieht Shea eine wichtige Pionierrolle, und er habe dem Land als Bauingenieur an der damaligen Frontier und als einer der wichtigsten Väter der transkontinentalen Eisenbahnlinie seinen Stempel aufgedrückt.
1898 wurde in Des Moines eine Reiterstatue Curtis’ im Soldiers’ and Sailors’ Monument aufgestellt. Eine Kopie davon befindet sich in Keokuk. Curtis ist außerdem einer der Schwerpunkte der Ausstellung des Pea Ridge National Military Parks. Dort können unter anderem seine Uniform und sein Degen besichtigt werden. Sein Haus in Keokuk ist seit 1998 im National Register of Historic Places als Denkmal eingetragen. Curtis hinterließ neben seinen Tagebüchern eine umfangreiche Korrespondenz, die jedoch nicht als Ganzes archiviert wurde, sondern über zahlreiche Sammlungen und Museen in den Vereinigten Staaten verteilt ist. Teile seiner Papiere finden sich unter anderem an den Universitäten Kansas, Berkeley und Universität Yale, der Bibliothek des Historischen Museums von Missouri in St. Louis, der Abraham Lincoln Presidential Library in Springfield und bei der Historischen Vereinigung Iowas in Des Moines.
Weblinks
Eintrag im Biographical Dictionary of Iowa
Literatur
Joseph E. Chance (Hrsg.). 1994. Mexico Under Fire : Being the Diary of Samuel Ryan Curtis, 3rd Ohio Volunteer Regiment, during the American Military Occupation of Northern Mexico, 1846-1847. Fort Worth : Texas Christian University Press.
Charles D. Collins Jr. 2016. Battlefield Atlas of Price’s Missouri Expedition of 1864. Fort Leavenworth: Combat Studies Institute Press. 2016 online verfügbar (PDF).
Thomas W. Cutrer. 2017. Theater of a Separate War – The Civil War West of the Mississippi River. Chapel Hill: University of North Carolina Press.
Shelby Foote. 1986. The Civil War – A Narrative. First Vintage Edition. New York: Vintage Books.
Ruth A. Gallaher. 1930. Samuel Ryan Curtis. In The Palimpsest, Vol. 11, No. 4, S. 129–140.
Alvin M. Josephy, Jr. 1991. The Civil War in the American West New York: Alfred K. Knopf.
James M. McPherson 1989. Battle Cry of Freedom : the Civil War Era. New York : Ballantine Books.
William L. Shea und Earl J. Hess. 1992. Pea Ridge : Civil War Campaign in the West. Chapel Hill: University of North Carolina Press.
William L. Shea. 2009. Fields of Blood: The Prairie Grove Campaign. Chapel Hill: University of North Carolina Press.
William L. Shea. 2023. Union General: Samuel Ryan Curtis and Victory in the West. Lincoln University of Nebraska Press.
1880–1901.
Anmerkungen
Generalmajor (United States Army)
Person im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg
Militärperson (Nordstaaten)
Mitglied des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten für Iowa
Bürgermeister (Iowa)
Mitglied der Republikanischen Partei
Politiker (19. Jahrhundert)
Absolvent der United States Military Academy
Person (Keokuk)
US-Amerikaner
Geboren 1805
Gestorben 1866
Mann |
6085567 | https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%A9unionweihe | Réunionweihe | Die Réunionweihe (Circus maillardi) ist ein Greifvogel aus der Gattung der Weihen (Circus). Die auf der Insel Réunion endemische Art ist eine der kleinsten Weihen und bewohnt das wald- und gebüschreiche Hochland der Insel. Sie ernährt sich vor allem von kleinen Säugetieren und Vögeln, die sie in dichter Vegetation erbeutet. Die Brutzeit liegt zwischen Januar und April, die Gelege bestehen aus zwei bis drei Eiern. Ursprünglich war die Art auch auf der benachbarten Hauptinsel von Mauritius beheimatet, starb dort aber zu einem unbekannten Zeitpunkt aus.
Die Réunionweihe, im örtlichen Kreolisch Papangue genannt, ist eine der weltweit am stärksten bedrohten Greifvogelarten. Der Bestand umfasst höchstens 340 ausgewachsene Vögel. Hinzu kommt das sehr kleine Verbreitungsgebiet, das sich auf die weniger besiedelten Gebiete Réunions beschränkt. BirdLife International klassifiziert die Art aus diesen Gründen als endangered (stark gefährdet).
Merkmale
Körperbau und Aussehen
Die Réunionweihe ist ein sehr kleiner Vertreter ihrer Gattung. Sie hat im Vergleich zu anderen Weihenarten relativ kurze und gerundete Flügel und kurze Beine, dafür vergleichsweise lange dritte Zehen und Krallen. Dieser Körperbau stellt eine Anpassung an die ursprünglich stark bewaldeten Maskarenen und die hauptsächlich fliegende Beute dar. Zwischen den Weibchen und den Männchen der Réunionweihe besteht sowohl im Bezug auf die Körpergröße als auch auf die Gefiederfärbung ein deutlicher Unterschied. Weibliche Individuen werden zwischen 3 und 15 % größer als Männchen. Männchen der Réunionweihe haben eine Flügellänge von 340–360 mm und eine Schwanzlänge von 218–230 mm. Ihr Laufknochen misst zwischen 78 und 90 mm. Weibliche Vögel erreichen eine Flügellänge von 370–390 mm und eine Schwanzlänge von 218–230 mm. Der Laufknochen des Weibchens wird ebenfalls 78–90 mm lang. Die Spannweite macht im Flug etwa das 2,4-Fache der Körperlänge aus.
Männliche Vögel zeigen eine kontrastreiche Gefiederfärbung aus Schwarz-, Grau- und Weißtönen. Der Gesichtsschleier ist einheitlich schwarz, er wird von einem schwarz-weiß gestrichelten Kragen eingefasst, der sich von Hinterkopf und Nacken über die Kehle bis zur Brust zieht. Rücken und Oberflügeldecken sind einheitlich schwarz, lediglich der Flügelbug ist weiß gefärbt. Die grauen Hand- und Armschwingen des Männchens zeigen eine schmale, schwarze Subterminalbinde; die äußeren sechs Handschwingen sind vollständig schwarz. Der Bürzel ist weiß, die Steuerfedern oberseits einheitlich grau mit einer schwarzen Subterminalbinde. Bauch und Hosen sind einheitlich weiß und zeigen höchstens einige wenige schwarze Strichel. Die Unterarmdecken und die Unterseite der Schwingen sind mit Ausnahme der fünf äußeren, schwarzen Handschwingen weiß, am unteren Flügelrand verläuft eine schmale, schwarze Subterminalbinde. Die Steuerfedern sind auf der Unterseite ebenfalls grau und besitzen eine dunkle Subterminalbinde.
Die Weibchen haben einen vom Schnabel ausgehend radial braun-weiß gestrichelten Kopf. Die Strichelung ist auf dem Gesichtsschleier dunkler und dichter als auf dem Rest des Kopfes. Rücken und Flügel sind einheitlich dunkelbraun, die einzige Ausnahme bildet der weiße Flügelbug. Der Bürzel ist variabel weiß gefärbt, die Schwanzfedern sind auf der Oberseite braun und zeigen eine breite, dunkle Bänderung. Auf der Bauchseite zieht sich auf weißem Grund von der Brust bis zu den Hosen eine deutliche, rotbraun-gelbliche Strichelung. Beine und Wachshaut sind bei adulten Männchen und Weibchen gelb, ebenso wie die Iris.
Jungvögel im ersten Jahr sind noch dunkler braun gefärbt als die Weibchen. Auf der Oberseite sind sie fast einheitlich dunkelbraun, lediglich im Nacken besitzen sie einen hellen cremefarbenen Fleck. Der Bürzel ist rotbraun, an ihn schließen sich oberseitig dunkel gebänderte, braune Steuerfedern an. Auf Brust und Bauch sind Jungvögel dunkelbraun gefärbt, der Hinterleib ist rotbraun. Juvenile Tiere haben eine kastanienbraune Iris sowie gelbe Beine und eine gelbe Wachshaut. Das Jugendkleid geht schrittweise in die adulten Gefieder über, wobei beim Männchen zunächst der Bauch ein Strichelmuster annimmt, später die Flügelunterseiten aufhellen und schließlich auch die Gefiederoberseite von braun nach schwarz-weiß umfärbt.
Flugbild
Die Réunionweihe unterscheidet sich im Flug deutlich von den anderen Arten der Gattung Circus. Vom Habitus erinnert sie stärker an kompaktere Habichte, vor allem im Bezug auf die relativ kurzen, gerundeten Flügel. Der weihentypische Gaukelflug in geringer Höhe über weitläufigem, offenem Gelände ist bei der Réunionweihe seltener zu beobachten. Stattdessen fliegt die Réunionweihe in wendigem Flug häufig knapp über und zwischen Bäumen oder entlang von Steilhängen. Bisweilen kreist sie auch in großer Höhe über der Vegetation. Daneben sind in der Brutzeit vor allem beim Männchen spektakuläre Balzflüge mit rasanten Manövern zu beobachten.
Lautäußerungen
Réunionweihen verfügen über ein Repertoire verschiedener Rufe, die teils denen anderer Weihen ähneln, teils charakteristisch für die Art sind. Während der Balzflüge rufen beide Geschlechter klagend mit kai pi-pi-pi-pi-pi oder kai-ké-ké-ké. Dies ist ein im Vergleich mit dem Rest der Gattung eher komplexer Ruf, der häufiger vom Männchen zu hören ist. Außerdem lässt das Männchen während der Balz ein krächzendes tschip vernehmen. Zum Ende des Balzfluges stößt es einen kie-kju-Ruf aus. Bringt das Männchen Nahrung heran oder verjagt es einen Rivalen, ruft es mit einem scharfen pjiuu. Küken und brütende Weibchen betteln mit langgezogenem pijou pijou um Futter. Einen ähnlichen Ruf geben Jungvögel regelmäßig von sich, wenn sie in Gruppen unterwegs sind.
Verbreitung und Wanderungen
Die Réunionweihe ist heute auf der im Indischen Ozean gelegenen Insel Réunion endemisch. Das Verbreitungsgebiet umfasste früher auch das etwa 200 km entfernte Mauritius, hier starb die Art jedoch zu einem unbekannten Zeitpunkt aus. Mit 2507 km² hat die Réunionweihe das kleinste Verbreitungsgebiet aller Weihen.
Auf Réunion werden vor allem die höher gelegenen Teile der Insel besiedelt. Entlang der tiefer gelegenen Küstengebiete fehlt die Réunionweihe – mit Ausnahme des Nordwestens, der mittleren Nordostküste und des Ostens –, weil die menschliche Besiedlung dort besonders dicht und die Eingriffe in die ursprüngliche Vegetation der Insel am stärksten sind. Im Inneren des Cirque de Cilaos fehlt der Vogel rund um Cilaos. Die Plaine des Cafres im Süden bietet offenbar kein geeignetes Bruthabitat, weshalb hier ebenfalls eine Lücke besteht. Die höchsten Bergregionen um den Piton des Neiges werden von der Réunionweihe gemieden, ebenso wie die Vulkanlandschaft Grand Brûlé, die sich vom Piton de la Fournaise bis zur Ostküste erstreckt und regelmäßig durch Eruptionen erschüttert wird.
Réunionweihen sind Standvögel und unternehmen keine größeren Wanderungen. Auf Mauritius erscheinen gelegentlich Individuen als Irrgast. Im Spätwinter finden sich größere Zahlen über den Zuckerrohrfeldern im Tiefland ein, die ansonsten gemieden werden. Grund dafür ist der erleichterte Zugang zu Kleintierbeute in den dann geernteten Feldern, wobei dieses Phänomen in früheren Jahrhunderten wohl stärker ausgeprägt war als in Zeiten der heute vorherrschenden intensiven Landwirtschaft.
Lebensraum
Der Lebensraum der Réunionweihe ist für Weihen eher untypisch. Er besteht vorrangig aus dicht mit halbhohen Sträuchern und Bäumen bewachsenen Berghängen, Flusstälern oder Talkesseln, die nicht besonders ausgedehnt sind. Die Bruthabitate umfassen fast ausschließlich dichtes Gestrüpp, Savanne oder Waldlichtungen in höheren Lagen, nur stellenweise reichen sie in Flusstälern auch tiefer hinab. Dort werden auch sumpfige und spärlicher bewachsene Habitate genutzt.
In Bezug auf Jagdhabitate ist die Réunionweihe weniger anspruchsvoll. Hier nutzt sie auch landwirtschaftliche Flächen, Straßenränder und Golf- oder Flugplätze. Am häufigsten jagt die Réunionweihe über offener und halboffener Landschaft entlang von Berghängen, Heidelandschaften oberhalb der Baumgrenze sowie in Wäldern im Tiefland. Daneben wird auch häufig in Zuckerrohrfeldern gejagt, die trotz dichter Vegetation nicht für die Brut genutzt werden. Dichte Primärwälder, urbane und suburbane Lebensräume sowie Flussmündungen nutzt sie hingegen kaum als Jagdhabitate.
Die ungewöhnliche Habitatnutzung resultiert aus den Veränderungen in der Inselvegetation seit der Besiedlung durch den Menschen. Während ursprünglich wohl die Marschgebiete entlang der Flüsse und der Küste besiedelt wurden, drängten Landwirtschaft und menschliche Besiedlung der Küste die Art weiter ins waldreiche Hochland.
Die Brutgebiete reichen bis auf 1200 m, gejagt wird in Höhen von bis zu 2600 m, wobei Gebiete unterhalb von 800 m sowohl für die Brut als auch für die Jagd bevorzugt werden.
Lebensweise
Jagd und Ernährung
Die Réunionweihe nutzt bei der Jagd in der Regel eine Überraschungstaktik. Beutetiere werden aus der Deckung des Gestrüpps oder Geästs heraus attackiert oder indem sie im Sturzflug einen Hang hinab fliegt und Beute aufschreckt. Die von anderen Weihen bekannte Jagdstrategie, bei der im niedrigen Gaukelflug Beute aus der Vegetation gegriffen wird, wird mangels geeigneter Flächen und Vegetationsformen nur selten verfolgt. Die Réunionweihe patrouilliert entlang fester Routen, meist ausgehend vom Nistplatz, oder kreist in großer Höhe, um Beute auszumachen. Dabei sind die Vögel sehr aktiv und verbringen einen Großteil des Tages im Flug. Sie beginnen in der Regel zwei Stunden nach Sonnenaufgang mit der Jagd. Wenn die Jungen gefüttert werden müssen, beginnen sie bereits eine Stunde früher.
Die Nahrung besteht zu rund 50 % aus Säugetieren, daneben werden auch kleine Vögel, Reptilien und Amphibien erbeutet. Grundsätzlich ist die Réunionweihe bei der Nahrungsaufnahme opportunistisch und frisst auch Aas oder Vogeleier. Hauptnahrung sind Ratten (Rattus spp.) und Große Tenreks (Tenrec ecaudatus). Die Aktivitätszeit der Tenreks zwischen Oktober und Mai fällt mit der Hauptbrutzeit vieler Vogelarten auf Réunion zusammen. Im Winter sind diese Nahrungsquellen für die Réunionweihe nicht verfügbar, weshalb sie auf andere Beutetiere zurückgreifen muss. Unter den Vögeln werden Singvögel wie Réunion-Brillenvögel (Zosterops olivaceus) oder verwilderte Haustauben (Columba livia) erbeutet. Letztere sind wegen der Bejagung durch die Réunionweihe außerhalb von Ortschaften offenbar stark zurückgegangen.
Der hohe Anteil von terrestrischen Säugetieren an der heutigen Nahrung ist insofern bemerkenswert, als dass diese erst bei der Besiedlung durch die Europäer im 17. Jahrhundert eingeführt wurden. Bis dahin muss sich die Réunionweihe vorwiegend von Vögeln – mittlerweile ausgestorbenen Tauben- und Papageienarten – und endemischen Fledermäusen ernährt haben. Die Réunionweihe ist der einzig verbliebene Beutegreifer der örtlichen Fauna, der das ganze Jahr über auf der Insel anzutreffen ist. Als solcher konnte sie anders als viele andere Vogelarten auf der Insel ihre ökologische Nische durch die Einführung von Ratten und anderen Säugetieren somit erweitern.
Territorialverhalten und Siedlungsdichte
Réunionweihen zeigen kaum Territorialverhalten. Jagdgebiete werden oft gemeinsam von benachbarten Brutpaaren genutzt. Lediglich während der Paarungszeit kommt es zu aggressivem Verhalten zwischen den Männchen. Dabei fliegen die Vögel mit stark zu einem V gewinkelten Flügeln und herabhängenden Beinen unter lauten Rufen um das Nest auf und ab.
Die Größe der Jagdgebiete variiert je nach Region und liegt zwischen 3 und 6 km² pro Brutpaar. Die höchste Siedlungsdichte fand sich in einem 8 km langen Talabschnitt von 16 km², der von sieben Brutpaaren besiedelt wurde. Innerhalb der großen Talkessel ist die Siedlungsdichte mit durchschnittlich zwei bis drei Brutpaaren hingegen eher gering.
Balz und Brut
Die Paarungszeit beginnt im Oktober, wobei beide Geschlechter, jedoch vorwiegend die Männchen, spektakuläre Balzflüge zeigen. Sie steigen mit klagenden Rufen kreisend in große Höhen auf und beginnen dort, in sinusförmigen Kurven auf- und abzufliegen. Die Amplitude beträgt 15–20 m. Kurz vor dem Gipfel jeder Flugkurve schlagen sie erst intensiv mit den Flügeln, vollführen dann eine Rolle und lassen den tschip-Ruf vernehmen, bevor sie sich wieder hinabstürzen. Zum Ende dieser Schauflüge stürzen sie sich unter kie-kju-Rufen trudelnd hinab, vollführen im Fall Loopings und landen schließlich auf dem potentiellen Nistplatz. Dieses Balzritual nimmt in der Regel 10–15 min in Anspruch und wird mehrmals am Tag wiederholt. Manchmal wird es von mehreren Männchen gleichzeitig vollführt, nur selten nimmt das Weibchen daran teil.
Das Nest wird ab Oktober oder November von beiden Geschlechtern direkt auf dem Erdboden oder in niedrigen (1–3 m hohen) Sträuchern gebaut. Es besteht aus Zweigen, misst 60–70 cm im Durchmesser und besitzt in der Mitte eine Vertiefung von 20–25 cm Tiefe. Diese Mulde wird mit trockenen Gräsern ausgekleidet. Das Weibchen legt 1–3 weiße Eier von 4,6–5,1 × 3,5–3,7 cm Größe, im Schnitt 2,7. Die Eiablage erfolgt zwischen Anfang Januar und Ende Mai, meist im Februar und März, und findet nach der aller anderen indigenen Vogelarten statt. Zu dieser Zeit herrscht auf Réunion feuchtwarme Witterung vor, andere Weihenarten brüten hingegen eher in Trockenperioden. Die Küken schlüpfen nach 33–36 Tagen und haben zunächst ein gräulich-weißes Dunengefieder, das nach 8–10 Tagen ins Gelbliche umfärbt. Bereits ab diesem Zeitpunkt bewegen sich die Nestlinge aktiv in der Umgebung des Nests. Im Alter von 45–50 Tagen werden die Jungen flügge. Während der nächsten zwei Monate bleiben sie von den Eltern abhängig, bewegen sich weiterhin meist in der näheren Nestumgebung und werden vom Vater versorgt. Sie erweitern ihren Aktionsradius Schritt für Schritt, bleiben aber das ganze erste Jahr hindurch bis in den Dezember in der Nähe der Eltern. Mit durchschnittlich 1,4 ausfliegenden Jungen und 2,7 Eiern pro Brutpaar und Jahr ist die Reproduktionsrate für Weihen äußerst gering.
Systematik und Forschungsgeschichte
Die Erstbeschreibung erfolgte durch Jules Verreaux und wurde 1862 in Louis Maillards Notes sur l'Île de la Réunion (Bourbon) publiziert. Die Beschreibung umfasste die Gefieder und Körpermaße adulter, juveniler und subadulter Männchen; das Weibchen war Verreaux offenbar nicht bekannt. Das Artepithet widmete Verreaux Maillard, der mehrere Werke über die Ökologie und Naturgeschichte Réunions verfasste. Verreaux begründete dies damit, dass Maillard der Erste gewesen sei, der die Art von der asiatischen Elsterweihe (C. melanoleucos) unterschieden hätte. Zudem wollte er mit der Benennung Maillards Bemühungen bei der Erforschung der Vogelwelt Réunions würdigen.
Die Réunionweihe wurde nach der klassischen Systematik der Gattung Circus von Erwin Stresemann als Unterart der westpaläarktischen Rohrweihe (C. aeruginosus) angesehen. 1980 trennten Dean Amadon und John Lewis Bull die sehr viel größere Madagaskarweihe (C. macrosceles) und die Réunionweihe vom Rohrweihen-Komplex und stellten sie aufgrund von Ähnlichkeiten im Gefieder und der geographischen Nähe als Unterarten in eine gemeinsame Art C. maillardi. Auf Basis ökologischer Studien von Bretagnolle et al. und Analysen des mitochondrialen Cytochrom-b-Gens durch Robert Simmons und Michael Wink aus dem Jahr 2000 wurde der Réunionweihe schließlich Artstatus zugestanden.
Tatsächlich stellt die Réunionweihe das Schwestertaxon zur Madagaskarweihe dar. Beide Arten gingen vor etwa 760.000 Jahren aus einem gemeinsamen Vorfahren hervor. Das Schwestertaxon der von beiden Arten gebildeten Klade ist die Rohrweihe. Auf welchem Weg der Vorfahr der Réunionweihe die Maskarenen erreichte ist ungeklärt. Da die Radiation innerhalb des engeren Rohrweihen-Komplexes offenbar von Australien ausging, nehmen einige Autoren an, dass er im Pleistozän vom indischen Subkontinent aus über die Archipele der Malediven und Seychellen einwanderte, die damals deutlich höher lagen als heute.
Ein 1874 auf Mauritius entdecktes, zunächst der Gattung Accipiter zugeschriebenes Subfossil wurde anfänglich unter dem Namen Circus alphonsi als eigene Art der Weihen behandelt. Bereits früh wurden daran jedoch Zweifel geäußert, osteologische Vergleiche bestätigten schließlich, dass die auf Mauritius ausgestorbene Weihe der gleichen Art wie die Vögel von Réunion angehörte. Wann die Réunionweihe von dort verschwand ist ungeklärt. Cornelis Matelief de Jonge berichtete 1606 sowohl von Falken (faucons) – wahrscheinlich Mauritiusfalken (Falco punctatus) – als auch „Sperbern“ (éperviers) auf Mauritius. Sollte die Réunionweihe auf Mauritius noch bei der Ankunft der ersten Siedler existiert haben, so starb sie bald danach aus.
Bestand und Gefährdung
Von den ersten Siedlern wurde die Réunionweihe als häufig beschrieben, die Art wurde jedoch traditionell als Schädling angesehen und als Räuber von Hühnerbeständen verdächtigt. Abschüsse durch den Menschen waren deshalb bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts häufig. Zwischen 1706 und 1834 wurde die Art in keinem Bericht aus Réunion erwähnt, was darauf hindeutet, dass die Réunionweihe in dieser Zeit sehr selten war. Aufgrund eines starken Bestandseinbruchs zwischen 1949 und 1967 wurde die Réunionweihe 1966 offiziell nicht mehr als Landwirtschaftsschädling eingestuft, aber erst 1974 wurden Schutzmaßnahmen und ein Abschussverbot verhängt. Bis zum Ende der 1970er Jahre kam es zu einer deutlichen Erholung, es ist jedoch unklar, ob diese der eingeschränkten Bejagung oder dem Verbot des Insektizids DDT geschuldet ist.
Der Bestand der Réunionweihe ist mit wenigen hundert Individuen einer der kleinsten unter allen Greifvögeln. Die genauen Schätzungen variieren, so ist wahlweise von weniger als 100 Brutpaaren bis hin zu 1740 Brutpaaren die Rede. Eine Zahl von 130 Paaren entspräche dabei einem Gesamtbestand von 260 geschlechtsreifen Individuen und etwa 500 Vögeln insgesamt. Obgleich die Population derzeit stabil ist, ist der maximal mögliche Bestand aber nicht notwendigerweise erreicht. BirdLife International führt die Art seit 2000 deshalb als endangered (stark gefährdet). Bedroht ist die Art vor allem durch den Rückgang geeigneter Bruthabitate infolge der Ausweitung landwirtschaftlicher Flächen, der Zunahme des Tourismus und des Straßenbaus sowie die Wilderei und den Abschuss durch den Menschen, die trotz Verboten weiter stattfinden. Trotz ihres Zuwachses seit den 1960er Jahren bleibt die kleine Population weiter gefährdet, zumal Vulkanausbrüche auf Réunion regelmäßig große Flächen der Vegetation vernichten und zu einem Bestandseinbruch bei heimischen Vögeln führen. Gleiches gilt für Zyklone: So vernichtete der Zyklon Hyacinthe 1980 die Hälfte des Vogelbestands auf Réunion und zerstörte fast alle Gelege. Beide Naturereignisse stellen somit einen weiteren Unsicherheitsfaktor für den Bestand dar, der weiterhin durch anthropogene Faktoren gefährdet ist.
Literatur
Armand Barau, Nicolas Barré, Christian Jouanin: Le Grand Livre des Oiseaux de la Réunion. Éditions Orphie, Paris 2005, ISBN 2-87763-263-6.
Vincent Bretagnolle, Thomas Ghestemme, Jean-Marc Thiollay, Carole Attié: . In: 34 (1), 2000. S. 8–17. (Online als PDF)
Vincent Bretagnolle, Jean-Marc Thiollay, Carole Attié: Status of Réunion Marsh Harrier Circus maillardi on Réunion island. In: R.D. Chancellor, B.-U. Meyburg (Hrsg.): . , Berlin & Hancock House, Blaine, WA 2000, ISBN 0-88839-478-0, S. 669–676.
Michel Clouet: In: 48 (2), 1978. S. 95–106.
Anthony S. Cheke: . In: A. W. Diamond (Hrsg.): . Cambridge University Press, Cambridge 1987, ISBN 0-521-25808-1, S. 5–89.
Anthony S. Cheke: . In: A. W. Diamond (Hrsg.): . Cambridge University Press, Cambridge 1987, ISBN 0-521-25808-1, S. 151–207.
Anthony S. Cheke, Julian Hume: Lost Land of the Dodo. An Ecological History of Mauritius, Réunion & Rodrigues. T & AD Poyser, London 2008, ISBN 978-0-7136-6544-4.
James Ferguson-Lees, David A. Christie: . Houghton Mifflin Harcourt, 2001, ISBN 0-618-12762-3.
Louis Maillard: Notes sur l’ile de la Réunion (Bourbon). Dentu, Paris 1862. (Online)
C. Mourer-Chauviré, R. Bour, S. Ribes: , In: Ibis 146, 2004. S. 168–172.
C. G. Jones: Aerial display of the Réunion Harrier. In: Gabar 4, 1989. S. 22–23.
Antoine Roussin (Hrsg.): Album de l’Île de la Réunion. Neuauflage, Editions Orphie, Paris 2004, ISBN 2-87763-222-9, S. 293–295.
Robert E. Simmons: Oxford University Press, 2000, ISBN 0-19-854964-4.
Weblinks
Circus maillardi auf www.globalraptors.org
[ Species factsheet: Circus maillardi.] BirdLife International, 2011.
Einzelnachweise
Weihen |
6249782 | https://de.wikipedia.org/wiki/Orgellandschaft%20S%C3%BCdniedersachsen | Orgellandschaft Südniedersachsen | Die Orgellandschaft Südniedersachsen umfasst das Gebiet der Landkreise Goslar, Göttingen, Hameln-Pyrmont, Hildesheim, Holzminden und Northeim sowie die Stadt Salzgitter.
Über 70 historische Orgeln vom 17. bis 19. Jahrhundert sind in der südniedersächsischen Orgellandschaft vollständig oder in Teilen erhalten. In Einbeck, Herzberg am Harz, Hildesheim und Göttingen entstanden einflussreiche Orgelwerkstätten mit teils langer Familientradition. Hinzu traten Einflüsse aus den benachbarten Regionen wie Hamburg, Thüringen, Ostwestfalen und Hessen. In der Moderne zeichnet sich der Kulturraum durch zahlreiche Restaurierungen und Rekonstruktionen historischer Instrumente aus, die durch einige überregional bedeutende Neubauten unterschiedlichster Stilrichtungen ergänzt werden.
Schwerpunkt dieses Artikels bilden die historischen Instrumente, die noch ganz oder teilweise erhalten sind. Nähere Details zu einzelnen Werken finden sich in der Liste von Orgeln in Südniedersachsen.
Gotik und Renaissance
Die ersten Orgeln sind im 14. Jahrhundert in größeren Stadtkirchen nachweisbar. In Hildesheim ist als erster Orgelbauer Conrad von Bernstorp namentlich greifbar, der im Jahr 1382 den Auftrag für einen Orgelneubau in St. Michael erhielt. Möglicherweise hatte er auch die Orgel im Hildesheimer Dom von 1367 geschaffen. Diese spätmittelalterlichen Instrumente verfügten über ein Blockwerk, das nur den vollen Orgelklang, aber noch keine Scheidung der einzelnen Pfeifenreihen (Register) ermöglichte. Erst mit der Erfindung der Spring- und Schleifladen im 15. Jahrhundert konnten Einzelregister angesteuert werden. Um 1600 baute Meister Henning Hencke (* um 1550; † vor 1620) drei neue Orgelwerke in Hildesheim: St. Lamberti (1590), St. Michaelis (1599) und St. Godehard (1612–1617). Ab 1612 begann er mit dem Neubau einer zweimanualigen Domorgel, die anscheinend im Jahr 1617 von Meister Conrad Abtt mit über 30 Registern vollendet wurde. Michael Praetorius führt in seiner Organographia (Syntagma musicum, Band 2, 1619) die damalige Disposition an (II/P/23) und weist auf die neuartige Konstruktion des Balgwerks „mit einer einzigen Falten“ hin.
Während alle diese Orgeln später ersetzt wurden, blieb der Prospekt der Orgel von Hans Scherer dem Älteren in der Hildesheimer St.-Georgi-Kirche von 1585 in Burgdorf erhalten. Das Instrument ist ein frühes Beispiel für den norddeutschen Werkaufbau, bei dem über verschiedene Klaviaturen (Manuale und Pedal) verschiedene Werke, die in separaten Gehäusen aufgestellt waren, angespielt werden können. Im Hamburger Prospekt fand dieser Werkaufbau seine klassische Gestalt. Das Hauptwerk der Burgdorfer Orgel bildet den oberen Teil, während das Brustwerk unmittelbar über dem Spieltisch angebracht ist, flankiert von zwei freistehenden Pedaltürmen. In der Emporenbrüstung befindet sich das Rückpositiv in verkleinerter Gestalt des Hauptwerks, deren Gehäuse durch einen runden Mittelturm und spitze Ecktürme gegliedert werden, zwischen denen zweigeschossige Flachfelder angebracht sind. Profilierte Gesimse, korinthische Säulen, Akanthus-Schleierwerk in den Pfeifenfeldern, aufsteigende Flammenornamente zwischen den Frontpfeifen im Pedal und bekrönendes Schnitzwerk auf dem Rückpositiv verzieren die Orgel reichlich.
Im Zeitalter der Gotik und der Renaissance erfüllte die Orgel im Gottesdienst eine ausschließlich liturgische Funktion. Sie übernahm im Wechsel mit dem Chor oder dem Vorsänger die Aufführung von Teilen der Liturgie, wurde aber nicht zur Begleitung des Gemeindegesangs eingesetzt. In den katholischen Kirchen wurde diese Tradition auch nach Einführung der Reformation fortgeführt, während sie in den evangelischen Kirchen an Bedeutung verlor.
Barock
Der norddeutsche Orgelbau erlebte im Zeitalter des Barock einen Höhepunkt und erstreckte seinen Einfluss auch auf Südniedersachsen. Das Werkprinzip, das bereits in der Renaissance entwickelt wurde, fand seine klassische Form in der Aufstellung räumlich getrennter Werke. Vielfach blieben die repräsentativen barocken Prospekte erhalten, auch wenn im Laufe der Zeit Register oder das ganze Innenwerk ersetzt wurden. Kleinere Orgeln folgten dem „mitteldeutschen Normaltyp“, der sich durch einen fünfteiligen symmetrischen Prospekt mit drei Pfeifentürmen auszeichnet, die durch zwei Flachfelder verbunden werden. Klangliches Rückgrat einer Barockorgel bildet das Plenum, das auf einem Prinzipalchor basiert und von Flöten- und Zungenregister ergänzt wird.
Das Klangkonzept im Barock war der neuen Verbindung von Orgel und Gemeindegesang geschuldet. Erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde die Orgel für die gemeindliche Liedbegleitung verwendet. In den evangelischen Kirchen führte dies zu zahlreichen Orgelneubauten, selbst in kleinen Dorfkirchen. Auf katholischer Seite entstanden im Zuge der Gegenreformation repräsentative Werke, besonders in größeren Stadtkirchen und den Klosterkirchen.
In Göttingen wohnte Jost Sieburg, der einer Orgelbauerfamilie entstammte und dessen Tätigkeitsgebiet sich über Bremen bis nach Groningen erstreckte. Sein Bruder Johann(es) Just Sieburg baute 1617 bis 1620 eine Orgel in der Göttinger Jakobikirche. Nach deren Wegzug ließen sich Orgelbauer aus Thüringen und Hessen in Göttingen nieder, wie beispielsweise Jost Friedrich Schäffer, der Vater von Johann Friedrich Schäffer, und Christoph Weiß, dessen Prospekt in Hann. Münden, St. Blasius in umgebauter Form erhalten ist. Der Magdeburger Heinrich Herbst der Ältere schuf für Hildesheim eine neue Orgel in St. Paulus (1658) und vollendete 1667 in St. Andreas das Werk von Hans Hinrich Bader aus Unna, der einen westfälischen Einfluss nach Hildesheim brachte. Ab 1661 baute Bader eine weitere Orgel in der Heilig-Kreuz-Kirche. 1686 schuf Herbst eine kleine Orgel für Hoheneggelsen.
Um 1700 entwickelte sich Einbeck zum bedeutendsten Orgelzentrum in Südniedersachsen, was dem Auftreten von Andreas Schweimb zu verdanken ist. Schweimb stammte aus Dedeleben und schuf in verschiedenen rekatholisierten Hildesheimer Feldklöstern Orgeln, die an das Niveau von Arp Schnitger heranreichten. Wohl auf ihn geht die Orgel in Brevörde, St. Urban (um 1690) zurück, die ursprünglich möglicherweise für Höxter gebaut war. Das Werk in Greene (Kreiensen), St. Martini (1687) hat mehrere eingreifende Erweiterungen und Umbauten erfahren, präsentiert aber noch den Prospekt von Schweimb. Ein ähnliches Schicksal hat sein Werk in Langenholzen (1692) erfahren. Um 1870 disponierte Heinrich Vieth Schweimbs Orgel in Heiningen, St. Peter und Paul von 1698 um. Seine Orgel in Lamspringe, St. Hadrian und Dionysius (1691–1696) wurde zwar 1876 und 1959 von Philipp Furtwängler & Söhne eingreifend umgebaut, enthält aber noch 15 originale Schweimb-Register ganz und vier teilweise. Die große Orgel in Salzgitter-Ringelheim, St. Abdon und Sennen wurde um 1700 von Schweimbs Nachfolger Johann Jacob John vollendet; 13 Register von Schweimb sind bis heute erhalten. Sie zählt zu den wenigen großen Klosterorgeln Südniedersachsens. Auch das begonnene Werk in Kloster Riechenberg (1696) wurde von John fortgeführt. Im Gegensatz zum Orgeltypus norddeutsch-niederländischer Prägung verzichteten Schweimb und John auf das Rückpositiv, setzten, anders als Schnitger, weiterentwickelte Springladen ein und erweiterten den Manualumfang von C, D und Dis bis e3.
Johann Georg Müller (um 1670–1750) aus Sankt Andreasberg begründete 1692 in Hildesheim eine Orgelwerkstatt und baute für die St.-Magdalenen-Kapelle 1733 ein Werk, dessen Prospekt erhalten ist. Sein Sohn Johann Conrad Müller (1704–1798) führte die Werkstatt bis zu seinem Tod fort. Von Vater und Sohn ist die Orgel in Almstedt (1746), von Johann Conrad stammen die unverändert erhaltene kleine Orgel in der Gutskapelle Welsede (1735) und die Werke in Schmedenstedt und Schellerten (1769) sowie Vöhrum (1778).
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts erstreckte sich der Einfluss der Schnitger-Schule auch auf das Gebiet Südniedersachsens. Johann Matthias Naumann war ein Meistergeselle von Arp Schnitger, der 1702 dessen große Orgel in Zellerfeld vollendete, die über 55 Register verfügte. Die Disposition ist bei Johann Hermann Biermann in seiner Organographia Hildesiensis specialis von 1738 überliefert. Naumann machte sich in Hildesheim selbstständig, wo er im Dom einen Orgelumbau vornahm (1703–1706) und von 1712 bis 1717 in St. Lamberti einen großen Neubau durchführte (III/P/47). Für Groß Förste, St. Pankratius schuf er 1708/09 und für die Neuwerkkirche Goslar 1725/26 Orgelneubauten. Von Hildesheim aus führte auch der Schnitger-Geselle Andreas Müller die Bauweise seine Lehrmeisters fort. Christian Vater war ein weiterer Meistergeselle Schnitgers, der sich eng an dessen Stil anlehnte. Seine Gehäuse sind aber viel einheitlicher gestaltet und zeichnen sich durch einen regelmäßigen Wechsel von Pfeifentürmen und doppelgeschossigen Flachfeldern aus. Auch die Pedaltürme sind durch Flachfelder mit dem Hauptwerk verbunden, sodass breit angelegte Prospekte entstehen. In seinen späteren Werken findet sich nur noch selten ein Rückpositiv. Vaters kleine Orgel in Hohenrode (1749) stand ursprünglich in Gestorf und wurde 1824 überführt. In Kloster Marienrode schuf er in den Jahren 1749 bis 1752 ein Werk, dessen Registerbestand heute noch zur Hälfte auf ihn zurückgeht, während von seinem Instrument in Brunkensen (1721) nur noch der Prospekt erhalten ist. Johann Heinrich Gloger und sein Sohn Johann Wilhelm Gloger, Bruder von Dietrich Christoph Gloger, standen im Einflussbereich Schnitgers und bauten um 1732 für die ehemalige Klosterkirche in Marienstein ein zweimanualiges Werk. Die Arbeiten von Johann Heinrich Gloger in Northeim, St. Sixti zogen sich von 1721 bis 1732 hin. Der Prospekt von Christian Hartig und über ein Dutzend Register Glogers blieben trotz späterer Umbauten bewahrt.
Klassizismus
Der südniedersächsische Kulturraum wurde während der Zeit des Klassizismus stark durch Orgelbauer aus Nordhessen geprägt. In Gottsbüren entstand im 17. Jahrhundert ein Orgelbauzentrum, dessen bedeutendster Vertreter Johann Stephan Heeren war. Heeren baute in Löwenhagen (1772), Wahmbeck (1787), Varlosen (1791), Lenglern (1795), Erbsen (Adelebsen) (1797–1800) und Adelebsen (um 1800, zusammen mit Johann Dietrich Kuhlmann) einmanualige Dorforgeln. Sie sind dem „mitteldeutschen Normaltyp“ zuzurechnen, der sich bereits im Barock herausgebildet hatte. Dieser zeichnet sich durch einen fünfachsigen Prospektaufbau aus, der auf einem Prinzipal in Vierfuß- oder Achtfußlage basiert. Die Basspfeifen sind im hohen runden oder polygonalen Mittelturm aufgestellt, die Pfeifen der mittleren Tonlage in den etwas niedrigeren runden oder spitzen Außentürmen und die Diskantpfeifen in den ein- oder zweigeschossigen Flachfeldern zwischen den drei Türmen. Charakteristisch für Heerens Bauweise ist der breite Rundturm in der Mitte, der von niedrigeren Rundtürmen an den Seiten flankiert wird. Über den Flachfeldern zwischen den Türmen sind bekrönende Vasen oder Urnen angebracht. Im Göttinger Raum war Heeren für die Pflege und Reparatur zahlreicher Instrumente zuständig.
Nahezu baugleich ist die Prospektgestaltung von Johann Wilhelm Schmerbach dem Mittleren, dessen Familienbetrieb im nordhessischen Frieda ansässig war. Einige seiner Orgeln wie in Mengershausen (1798) und Niedergandern (1811) sind mit seitlichem Ankanthus-Schleierwerk verziert. Heerens Schwiegersohn und Nachfolger Johann Dietrich Kuhlmann führte die Familientradition fort und baute die Werke in Hemeln (vor 1820), Barterode (1825) und Scheden (1829). Wie bei Heerens Orgel in Erbsen verwendete Kuhlmann in Barterode massive Schleierbretter als oberen Abschluss der Pfeifenfelder, bekrönte aber die niedrigen Flachfelder mit flachgeschnitzten Leiern und gestaltete seine Mitteltürme in der Regel schlanker.
Einer der wenigen in Südniedersachsen ansässigen Orgelbauer des Klassizismus war August von Werder. Er war kein gelernter Orgelbauer, sondern hatte von einem Tischler, der auch Orgeln reparierte, das Tischlerhandwerk erlernt. Aufgrund seines handwerklichen Geschickes und seines Interesses wandte er sich dem Orgelbau zu und schuf kleine, einmanualige Werke, die in klanglicher Hinsicht noch in spätbarocker Tradition standen. Architektonisch weisen von Werders Werke bereits erste Kennzeichen der Romantik auf: Statt der drei traditionell hervortretenden Türme wird ein flächiger Prospekt bevorzugt, der vor 1850 noch die klassische fünfachsige Gestaltung aufweist, bei späteren Werken aber durch ein großes rundbogiges Mittelfeld geprägt wird. Von seiner Werkstatt in Höckelheim aus war er im Gebiet von Northeim und Göttingen tätig. Bei seinen erhaltenen Werken in Holzerode (1840), Wöllmarshausen (1843), Obernjesa (1844), Bremke (Gleichen) (1848), Settmarshausen (1849), Esebeck (um 1850) und in Berka (Katlenburg-Lindau) (1852) liegt die Zahl der Register zwischen neun und elf.
Romantik
Die Romantik brachte Veränderungen in der Klangästhetik mit sich, die zu entsprechenden Veränderungen im Orgelbau führten. So wurde im südlichen Niedersachsen wie auch sonst in Deutschland das traditionelle Werkprinzip aufgegeben und der flächige Verbundprospekt ohne hervortretende Pfeifentürme bevorzugt. Statt der räumlich getrennten Werke hielten das Hinterwerk und das Schwellwerk Einzug, um größere dynamische Abstufungen zu ermöglichen. Bei den Klangfarben wichen die Aliquot- und Zungenstimmen stärker grundtönigen Labialregistern, insbesondere in der Achtfuß-Tonlage. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzten sich die pneumatische Orgeltraktur und die neogotische oder neoromanische Prospektgestaltung durch.
Aus den benachbarten Regionen prägten verschiedene Orgelbauer die Orgellandschaft Südniedersachsen. Der hannoversche Hoforgelbauer Ernst Wilhelm Meyer baute 1839 in Groß Hilligsfeld eine Orgel, sein Sohn Eduard Meyer 1845 eine in Klein Berkel. Die Orgelwerkstatt in Gottsbüren wurde im 19. Jahrhundert von Balthasar Conrad Euler fortgeführt, der in Dransfeld (1843–1845), Uslar (1845), Vahlbruch (1845), Hillerse (1848) und Nörten-Hardenberg (1848) mit neuen Orgeln beauftragt wurde.
Um 1829 ließ sich Johann Andreas Engelhardt in Herzberg am Harz nieder und wirkte ausgehend vom Harz bis in die Regionen von Braunschweig und Hannover. Er stammte aus Lossa (Finne) und war vom mitteldeutschen Orgelbau in seiner sächsisch-thüringischen Ausprägung beeinflusst. Klanglich stehen seine Werke noch weitgehend in der Tradition des ausgehenden Barocks, leiten aber auch zum Klassizismus und zur Frühromantik über. Insgesamt gingen über 100 Orgelneubauten aus seiner Werkstatt hervor. Engelhardt hat das südliche Niedersachsen nachhaltig geprägt, so durch neue Werke in Osterode am Harz, St. Jacobi (1841), Oker (1841), Westerode (1843), Dorste (um 1850), Wollershausen (1851), Osterhagen (1854), Scharzfeld (1855), Bad Lauterberg (1859) und Lucklum, Kommendekirche (1861). Seine größte erhaltene Orgel mit 36 Stimmen steht in Herzberg, St. Nicolai, und datiert von 1845. Von seinem Sohn Gustav Carl Engelhardt ist die Orgel in Gladebeck (1861/62) erhalten.
Demgegenüber war Philipp Furtwängler, der in Elze eine Orgelwerkstatt begründete, fortschrittlicher geprägt und stand in starker Konkurrenz zu Meyer. Von seinen zahlreichen Werken im Stil der Romantik seien Dassel (1845), Sudheim (1864) und Markoldendorf (1869) genannt. Nach dem Erlöschen der Firma wurde sie 1883 unter dem Namen P. Furtwängler & Hammer neu gegründet und nach Hannover verlegt. Dort stieg man auf die pneumatische Kegellade um und wandte sich ab 1893 der Röhrenpneumatik und der Taschenlade, ab 1907 auch der elektro-pneumatischen Traktur zu. Die Firma gehört zu den führenden Vertretern des spätromantischen Orgelbaus, die Orgeln in großer Anzahl produzierte.
Im Bereich des Bistums Hildesheim wirkten Heinrich Schaper und August Schaper. Während der Vater bei seinen 52 Orgelneubauten ausschließlich die traditionelle mechanische Schleiflade einsetzte, führte sein Sohn den Bau der Kegellade in der Firma ein. Die meisten ihrer romantischen Werke wurden später umdisponiert und prägen die Kulturregion bis heute. Im Jahr 1864 erbaute Carl Heyder, der ein Schüler des berühmten Johann Friedrich Schulze war, seine Orgel in Langenholtensen. Kleinere Heyder-Orgeln mit je sieben Registern entstanden 1861 in Unterbillingshausen und 1871 in Stockhausen (Friedland). Ein anderer Schüler Schulzes war Carl Giesecke, der ab 1844 in Göttingen wirkte und als weltweiter Zulieferant von Zungenstimmen bekannt wurde. Er schuf Orgeln in Oldenrode (um 1850), Stöckheim (1859/60) und Weende (Göttingen) (um 1860). Louis Krell unterhielt ab 1868 seine Werkstatt in Duderstadt und baute 1884 ein Instrument in Lonau, 1879 eins in Gieboldehausen und 1882 eins in Lindau (Eichsfeld).
20. und 21. Jahrhundert
Im 20. Jahrhundert ging der südniedersächsische Orgelbau in der allgemeinen Entwicklung des deutschen Orgelbaus auf. Einige Firmen expandierten und blieben in ihrem Wirkungskreis nicht mehr auf eine Region beschränkt, da konfessionelle und geografische Grenzen ihre Bedeutung verloren. Dies führte deutschlandweit zu einer stärkeren stilistischen Angleichung.
Obwohl Furtwängler & Hammer vorwiegend dem romantischen Orgelbau verpflichtet waren, führte die Zusammenarbeit mit Christhard Mahrenholz zu einem zeitweisen Interesse an der Orgelbewegung. Eines der ersten Beispiele dieser Art ist die Orgel der Pfarrkirche St. Marien (Göttingen) von 1925/26, ein späteres das Werk in Bad Sachsa (1955/56). Prominentester Vertreter der Orgelbewegung war Paul Ott, der sich vor allem durch – dem Kenntnisstand der Zeit entsprechende – Restaurierungen historischer Orgeln in Norddeutschland einen Namen machte. In Göttingen schuf er große Werke mit drei oder vier Manualen in der St. Johannis-Kirche (1954–1960), in St. Albani (1964) und in der St.-Jacobi-Kirche (1964–1966) mit mechanischer Spiel- und Registertraktur und neobarocker Disposition.
Der Ott-Schüler Rudolf Janke entwickelte die Bauweise seines Lehrmeisters weiter und legte größeren Wert auf eine sorgfältige Intonation. Stärker als Ott war er den traditionellen Handwerkstechniken und Klangkonzepten verpflichtet und prägte die Orgellandschaft nachhaltig durch zahlreiche Orgelneubauten und durch eine konsequente Restaurierungspraxis. Etliche durch Ott unter Annahme eines erniedrigten Winddrucks restaurierte Orgeln wurden von Janke zurückrestauriert. Hinter historischen Prospekten entstanden neue Werke beispielsweise in Katlenburg (1967), Meinersen (1984) und Wiershausen (1987). Bei ganz neuen Werken baute Janke keine historisierenden Stilkopien, sondern schuf moderne Prospekte, wie in der Kreuzkirche (1965, mit einem einzigen solitären Pedalturm) und Christophorus-Kirche in Göttingen (1967, mit konkaven Gehäusedecken), der Corvinuskirche (1967, mit Spiegelprinzipal im Rückpositiv) und Apostelkirche in Northeim (1971, mit geflammten Kupferpfeifen in Pedal), Helmstedt (1968, mit spanischen Trompeten), der Lutherkirche in Holzminden (1968–1970) und der Martin-Luther-Kirche in Hildesheim (1994).
Bedeutende Neubauten entstanden durch Rudolf von Beckerath im Jahr 1966 in Hildesheim, St. Andreas, in norddeutscher Orgeltradition mit ihrem Werkprinzip und im selben Jahr in Hameln, St. Nikolai. Mit über 40 Registern, einem Schwellwerk und elektrischen Koppeln ermöglicht das Instrument in Hameln die sachgemäße Darstellung symphonischer Orgelmusik. Jürgen Ahrend, ein weiterer Schüler von Ott, baute 1977 ein Werk im Stil des norddeutschen Barock für St. Servatius (Duderstadt), das sein größter Neubau in Niedersachsen war und internationale Bekanntheit erlangte. In Hildesheim entstanden ein dreimanualiges Werk für St. Michael von Gerald Woehl (1999), für den Hildesheimer Dom ein sechsmanualiges Werk von Romanus Seifert (2010) unter Wiederverwendung der bisherigen Orgel von Breil/Klais (1989). Ebenfalls von Romanus Seifert wurde in St. Magdalenen (2010) eine neue Orgel gebaut, die auch zu Schulungszwecken dient.
Literatur
Weblinks
Musik in Kirchen Südniedersachsens
Einzelnachweise |
6563690 | https://de.wikipedia.org/wiki/Burggrafschaft%20Friedberg | Burggrafschaft Friedberg | Die Burggrafschaft Friedberg war ein Territorium des Heiligen Römischen Reichs. Sie entstand im späten Mittelalter aus der Burgmannschaft der Reichsburg Friedberg in Hessen. Einzigartig innerhalb des Reiches waren das genossenschaftlich organisierte Verfassungsgebilde der Burggrafschaft und die Ausstattung mit herrschaftlichen Privilegien durch den Kaiser, die bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1806 mehrfach bestätigt wurden. Durch die Ausbildung eines eigenen Territoriums, das neben der Kontrolle über die benachbarte Reichsstadt Friedberg und dem Freigericht Kaichen einen schmalen Landstrich in der südlichen Wetterau umfasste, kann die Burg Friedberg seit der Aufnahme in die Reichsmatrikel 1431 als einzige reichsständische Burg angesehen werden. Nach ihrem Selbstverständnis war die Kayserliche und des heiligen Reichs-Burg Friedberg, wie sie sich nannte, eine herausgehobene Einrichtung der Reichsritterschaft und direkt dem König oder Kaiser unterstellt.
Geschichte
Gründung und staufische Zeit
Die Burg Friedberg wurde erstmals 1217 urkundlich erwähnt, als König Friedrich II. gegenüber dem Friedberger Burggrafen Giselbert, den Burgmannen und dem Frankfurter Schultheiß bekannte, dass er Ulrich von Münzenberg die Güter zurückgab, die sein Vater und sein Bruder besessen hatten. Wahrscheinlich handelte es sich um eine planmäßige staufische Gründung, die schon einige Jahre zuvor erfolgt sein mag. Darauf deuten Reste einer romanischen Vorgängerkirche unter der Stadtkirche hin. Die Anlage von Stadt und Burg ist im Rahmen der staufischen Reichslandpolitik zu sehen. Der Ausbau der Wetterau zum staufischen Hausgut wurde nach 1171 forciert, als mit dem Aussterben der Grafen von Nürings ihre in dieser Region konzentrierten Lehen an das Reich heimfielen. Die Gründung Friedbergs hat regionale Parallelen in der Gründung und dem Ausbau der Burgen und Reichsstädte Gelnhausen und Wetzlar.
Interregnum
In der Zeit des Interregnums (1245–1273) blieben Burg und Stadt Friedberg wie die meisten von staufischen Kaisern gegründeten Reichsstädte der Region zunächst auf staufischer Seite. Doch mit dem Aufbruch Konrads IV. nach Italien 1252 wechselte Friedberg die Seite. Erstmals sind am 17. September 1252 dort ausgestellte Urkunden des Gegenkönigs Wilhelm von Holland belegt. Der Seitenwechsel und die Beendigung des Loyalitätsverhältnisses zu den Staufern zahlten sich bereits wenige Tage später insofern aus, als Wilhelm die Burgmannen am 20. September 1252 von der Verpflichtung zur Reichsheerfahrt entband, ihnen aber eine freiwillige persönliche und finanzielle Beteiligung anheimstellte.
Weiterhin war es den Burgmannen in dieser Zeit gelungen, sich von ihrem Status als Reichsministerialen zu Niederadligen zu entwickeln, indem sie am Ende des Interregnums die volle landrechtliche Verfügungsgewalt über ihre Burglehen und damit die volle Lehnsfähigkeit besaßen. Spätere Könige konnten diesen Zustand nur noch bestätigen, um sich die Unterstützung dieser Gruppe zu sichern, was durch eine Urkunde Albrechts I. 1298 bezeugt ist. Für die Burgmannen bedeutete dies eine Standeserhöhung, da sie im genossenschaftlichen Verband reichsunmittelbar wurden.
Zuvor hatte bereits König Rudolf I. der Burg und ihren Burgmannen umfangreiche Rechte bestätigt und ihre herausgehobene Stellung privilegiert. Dies sollte entscheidenden Einfluss auf die weitere Verfassungsgeschichte der Burggrafschaft haben:
Im Herbst 1275 förderte er den Burgdienst materiell, indem er der Burg die jährliche Steuer der Friedberger Juden in Höhe von 130 Mark Kölner Pfennige überließ. Hintergrund sind möglicherweise die Unterhaltungskosten für die außergewöhnlich große Burganlage. Vereinzelt wurde aus diesen Zuwendungen auf eine vorherige Zerstörung der Burg durch die Stadt geschlossen, was aber nicht eindeutig zu belegen ist. Als ähnliche Unterstützung wurde der Burg im Jahr 1285 das in der Stadt erhobene Ungeld zugesprochen (in subsidium edificiorum et reparacionis castri nostri).
Noch bedeutender ist das Gerichtsprivileg vom 1. Mai 1287, das den Burgmannen als Dank für ihre treuen Dienste gewährt wurde. Damit durften sie vor keinem anderen Richter als ihrem Burggrafen, mit Ausnahme des königlichen Hofgerichts, angeklagt oder verklagt werden. Dieses Recht wurde bis in die Neuzeit von nachfolgenden Herrschern, meist im Rahmen von Generalkonfirmationen der Burgprivilegien, immer wieder bestätigt. Ein eigenes Burggericht ist bereits in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wahrscheinlich.
Die Aufrechterhaltung des genossenschaftlichen Charakters wurde 1276 durch ein Privileg unterstützt, das die Erblichkeit des Burggrafenamtes untersagte.
In einer weiteren Urkunde vom gleichen Tag verbot Rudolf die Errichtung von Burgen, Befestigungen oder festen Häusern bei Friedberg, um die räumliche Dominanz der Reichsburg zu sichern.
Rudolf gewährte den Burgmannen 1285 das Privileg, keinen Freien oder Herren ohne ihre Zustimmung in die Burgmannschaft aufzunehmen, was ein faktisches Mitspracherecht bedeutete, das sich bald zu einem Vorrecht entwickelte. Schon im 14. Jahrhundert nahm der König keinen Einfluss mehr auf die Kooptation neuer Genossenschaftsmitglieder.
Spätes Mittelalter
Die bereits im Interregnum erworbenen Rechte, die weit über das in der Organisation der Reichsburgen Übliche hinausgingen, wurden im 14. und 15. Jahrhundert gefestigt. 1347 unterlag Graf Adolf I. von Nassau-Wiesbaden der Burgmannschaft in einer Fehde. Mit dem Lösegeld wurde der mächtige Adolfsturm als zweiter Bergfried und Wahrzeichen der Burg errichtet. Durch einen 1349 unter Karl IV. verfassten Burgfrieden wurde der Burgmannschaft das Recht, den Burggrafen einzusetzen, eingeräumt, das zuvor dem König oblag.
Während sich die Burggrafschaft mit der Aufnahme in die Reichsmatrikel 1431 auf dem Höhepunkt ihrer Macht befand, setzte in der Stadt bereits seit dem 14. Jahrhundert ein Niedergang ein. Die Friedberger Messen verloren durch die nahe Frankfurter Messe an Bedeutung und wurden eingestellt. Als Ursache werden neben einem Niedergang der Tuchproduktion zwei Stadtbrände von 1383 und 1447, Seuchen und die Abwanderung von Bürgern vermutet. Die wiederholten Auseinandersetzungen mit der Reichsstadt Friedberg konnte die Burggrafschaft im 15. Jahrhundert endgültig für sich entscheiden, weil die Burgmannen es verstanden, die schwache Position der Stadt geschickt auszunutzen. Auf dem Höhepunkt der Krise wurde die Stadt 1454 zahlungsunfähig. Frankfurt kündigte aufgrund der Friedberger Schulden den Geleitschutz auf, den Friedberger Bürger bis dahin auf dem Weg zur Frankfurter Messe in Anspruch nehmen konnten. Dadurch wurde die Wirtschaft der Stadt, besonders die Tuchproduktion, schwer getroffen. Im Februar des folgenden Jahres wurde der Rat abgelöst, wobei der Burggraf und die sechs Burgmannen im Rat verblieben und eine vermittelnde Position einnahmen. Die Schlüssel der Stadt wurden der Burg übergeben, zunächst nur aufgrund der Unruhen, die das Ereignis begleiteten. Doch war der Vorgang nicht nur symbolisch, denn in der Folgezeit vergrößerte sich der Einfluss der Burgmannschaft auf die Stadt erheblich.
1455 erwarb die Burggrafschaft, die sich zunächst abwartend verhalten hatte, erste Teile der Reichspfandschaft, auf deren Basis sie den Rat 1482 zum sogenannten Verherrungsrevers (damit war es der Stadt verboten, ohne Erlaubnis den Herrn zu wechseln, faktisch die Unterwerfung der Stadt) und 1483 zu einer Huldigungsverschreibung (regelte Einzelheiten im Verhältnis der Stadt zur Burg als ihrem Herren) zwingen konnte. Weitere Anteile der zuvor zwischen verschiedenen Parteien geteilten Pfandschaft folgten in den nächsten Jahren. Bereits 1376 hatte die Burggrafschaft erste Rechte im Freigericht Kaichen erworben, deren Landeshoheit sie endgültig 1475 zugesprochen bekam. Ebenfalls 1475 erhielt sie die landesherrliche Stellung in Teilen der Mörler Mark. Hinzu kam ein Anteil an der seit 1405 bestehenden Ganerbschaft Staden um die Burg Staden in der Wetterau.
So gewann anstatt der bisherigen städtischen Steuer- und Justizeinnahmen die Landesherrschaft erheblich an Bedeutung. 1541 kam noch das Münzprivileg in Friedberg hinzu, die Münzen wurden im Namen des jeweiligen Burggrafen herausgegeben.
Neuzeit
Der Niedergang des Niederadels im 17. und 18. Jahrhundert blieb für die Burggrafschaft nicht folgenlos. Das Aussterben und die Verarmung vieler ritterständiger Familien der Region führten dazu, dass die tragenden Säulen der Burgmannschaft (Residenzpflicht, Burghut, Burggericht, Burglehen) verfielen. Die Zahl der Burgmannen sank zum Ende des Dreißigjährigen Kriegs auf das geringste Niveau.
Der Einfluss der verbliebenen lokalen Niederadligen wurde in der Folge noch weiter zurückgedrängt. Durch Dienstverpflichtungen bei größeren Landesherren traten Interessenskonflikte auf. Ein großer Teil der Burgmannschaft war inzwischen faktisch vom Einfluss auf die Burgpolitik ausgeschlossen. Durch steigende Bedeutung und die Zahl der Mitglieder war es bereits seit dem 15. Jahrhundert üblich, Regierung und Amtsausübung in die Hand eines kleineren Gremiums, des sogenannten Burgregiments aus zwölf Burgmannen, zu legen. Selbst bei Burggrafenwahlen hatte die gemeine Burgmannschaft gegenüber den vom Regiment vorab ausgewählten Kandidaten kaum mehr als ein Akklamationsrecht. Entsprechend sank die Beteiligung bei Burgkonventen und herrschaftlich-administrativen Anlässen im 18. Jahrhundert auf nahezu Null.
Während die Mitgliedschaft in einer einzigartigen Genossenschaft der Reichsritterschaft in der Neuzeit vorwiegend dem sozialen Prestige des Einzelnen in der Ständegesellschaft diente, wurde die Burggrafschaft durch den Einfluss größerer Landesherren allmählich gelähmt. Die Mainzer Erzbischöfe brachten die Burggrafschaft letztlich auf reichspolitisch-katholisch-kaiserlichen Kurs. In der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die seit der Reformation mehrheitlich protestantischen Burgmannenfamilien aus dem Burggrafenamt und dem Regiment verdrängt. Die Einrichtung des Ordens des heiligen Joseph 1768 verfestigte diese Politik und erhöhte gleichzeitig nochmals das Ansehen der Burgmannschaft, das jedoch in keinem Verhältnis mehr zur tatsächlichen Bedeutung stand.
Auflösung
Ab dem 17. Jahrhundert wandelte sich die Burg zunehmend zum Herrensitz. Davon zeugen repräsentative Gebäude, etwa das Schloss, zunächst Sitz des Johann Eberhard von Cronberg, dann Burggrafiat, der weitläufige Burggarten und die Burgkirche. Als im 18. Jahrhundert zunehmend ständisch andersartige Anteilseigner in die Burggrafschaft eindrangen, etwa die Landgrafschaft Hessen-Kassel oder durch Kurmainz geförderte römisch-katholische Mitglieder, paralysierte das die hergebrachte genossenschaftliche Struktur und die Burggrafschaft versank in politischer Bedeutungslosigkeit.
1806 wurde sie im Großherzogtum Hessen mediatisiert, obwohl der letzte Burggraf, Clemens August von Westphalen, bei Napoleon und seinem Minister Talleyrand intervenierte. Zuvor hatte die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt bereits 1803 versucht, die Burggrafschaft zu besetzen, wurde zu dieser Zeit aber noch vom Kaiser daran gehindert. Die Rheinbundakte von 1806 sprach in Artikel 21 die Burggrafschaft dem Großherzogtum zu. Das Großherzogtum gliederte die Burggrafschaft zunächst als Amt mit der Bezeichnung „Amt Burg-Friedberg“ in seine Verwaltungsstruktur ein. 1821 kam es zu einer Justiz- und Verwaltungsreform, mit der auch die Trennung der Rechtsprechung von der Verwaltung auf unterer Ebene umgesetzt wurde. Die Ämter wurden aufgelöst, ihre Aufgaben hinsichtlich der Verwaltung neu gebildeten Landratsbezirken, die erstinstanzliche Rechtsprechung Landgerichten übertragen. Das „Amt Burg-Friedberg“ wurde aufgelöst, seine Verwaltungstätigkeit übernahm der neu geschaffene Landratsbezirk Butzbach, die von ihm bis dahin ausgeübte Rechtsprechung das Landgericht Friedberg.
Der letzte Burggraf erhielt die Genehmigung, seinen Titel bis zu seinem Tode weiterzuführen und behielt die Einkünfte aus der Burg. Beim Wiener Kongress bemühte er sich nochmals um die Wiederbelebung der Burggrafschaft, musste aber 1817 einem Abtretungsvertrag zustimmen, der ihm nur seinen Titel sowie den Rang eines Standesherren beließ. Er starb 1818 in Frankfurt. 1846 starb mit Sigmund Löw zu Steinfurth der letzte der Burgmannen.
Umfang
Die Burggrafschaft Friedberg umfasste
die Burg Friedberg, bestehend aus
Burg
Vorstadt
Jägerhaus
das Freigericht Kaichen
Verfassung
Innere Verfassung
Die Burgmannschaft war genossenschaftlich organisiert. Als Führung wählte sie einen Burggrafen und Baumeister. Es gelang dieser Gruppe – trotz entsprechender Versuche – im Mittelalter und zu Beginn der frühen Neuzeit das Eindringen größerer Dynasten zu verhindern. So erhielt Reinhard I. von Hanau als Landvogt der Wetterau um 1275 ein Burglehen. Die Hanauer schieden jedoch 1409 wieder aus dem Verbund aus. Ähnliches ereignete sich auch mit den Herren von Eppstein 1292 und Konrad von Trimberg 1297. Diese, meist durch den König verliehenen Burglehen waren jedoch Ausnahmen, die keinen dauerhaften Einfluss auf die Verfassung der Burgmannschaft hatten. Eine weitere Ausnahme bildete das Burgrecht der Deutschordenskomture aus Sachsenhausen und Marburg. Letzteres war zwar von längerer Dauer, aber für die Verfassung der Burggrafschaft zunächst ebenfalls folgenlos.
Burggraf
Das Amt des Burggrafen ist bereits in der frühesten Urkunde 1217 genannt und seit dieser Zeit fassbar. Der Burggraf wurde zunächst durch den König eingesetzt, erst ab der Mitte des 14. Jahrhunderts erfolgte eine Wahl, die durch den König bestätigt werden musste, auf Lebenszeit. Ein weiterer Unterschied zu den übrigen – meist erblichen – Burggrafschaften im Reich bestand darin, dass die Friedberger Burggrafen aus der Reichsministerialität stammten.
Der Burggraf stand der Burgmannschaft in allen Belangen vor: Er war militärischer Kommandant, oberster Repräsentant und Richter des Burggerichts. Sein Amt erstreckte sich von Anfang an auch auf die Reichsstadt, wo er als oberster Vertreter des Reichsoberhauptes (im 14. Jahrhundert: des Reiches Amtmann) an der Spitze der städtischen Funktionäre stand und – wie in der Burg – oberster Richter war. Wiederholt führte der Burggraf auch Aufträge des Königs außerhalb von Burg und Stadt aus.
Baumeister
Fester Bestandteil der Burgverwaltung waren die beiden Baumeister, von denen in späterer Zeit jeweils ein älterer und ein jüngerer belegt ist. Ursprünglich für die Unterhaltung der Burg zuständig, wuchs ihre Bedeutung mit der Vergrößerung der Verwaltung, sodass sie später vor allem die Finanzverwaltung leiteten. Sie gehörten zu den vornehmeren Burgmitgliedern und wurden in Urkunden häufig zusammen mit den Burggrafen und Regimentsburgmannen genannt. Als Vertreter des Burggrafen und Wirtschaftsverwalter der Burggrafschaft waren sie im 16. Jahrhundert wie der Burggraf verpflichtet, ihren ständigen Wohnsitz innerhalb der Burg zu nehmen.
Burgmannen
Der Bedarf an Burgleuten zur Erfüllung der Burghutpflichten war im späten Mittelalter in der sehr umfangreichen Burg Friedberg ständig vorhanden. Erstmals 1478 ist ein sogenanntes Rezeptionsstatut fassbar, das bei der Aufnahme neuer Mitglieder die Standeshomogenität der ritterbürtigen Mitglieder sichern sollte. Der Nachweis der Erbberechtigung eines Burglehens war seitdem nicht mehr zwingend, in einigen Fällen genügte es, eine für die Zeit außerordentlich hohe Gebühr von 100 Gulden zu entrichten.
Bedeutender war der Nachweis der Ebenbürtigkeit durch eine Ahnenprobe, die ebenfalls seit dem Rezeptionsstatut nachweisbar ist. Sie wurde im Lauf der Zeit zur wichtigsten Voraussetzung und entsprechend verfeinert und komplexer. Das Burgregiment beschloss 1652, dass der Stammbaum in Farbe vorgelegt werden musste. 1692 wurde sogar Größe und Beschreibstoff vorgeschrieben. Ab 1712 wurden Atteste von ritterbürtigen Familien verlangt, welche die Abstammung des Bewerbers belegen mussten. In einigen Fällen hatte sie bis zu 32 ritterständische Vorfahren aufzuweisen. In der Praxis beschränkte man sich aber auf den Nachweis über vier Generationen (16 ritterständische Vorfahren).
Die Rechtsstellung eines Burgmannen war erblich. Der Entzug der Mitgliedschaft war nur möglich, wenn bei der Aufschwörung falsche Angaben gemacht wurden oder der Burgmann gegen den Burgfrieden verstieß. Ausschlüsse waren höchst selten. Möglicherweise kamen ihnen davon Bedrohte in der Praxis durch eine Niederlegung der Mitgliedschaft zuvor.
Zur Erfüllung der Burghut wurden die Ministerialen anfangs vom König mit Dienstgütern ausgestattet, auf die sie aber keinen Rechtsanspruch hatten. Die Wandlung dieser Dienstgüter zu erblichen Burglehen scheint mit der Reichslandpolitik Rudolfs I. in Zusammenhang zu stehen. 1276 wurde erwähnt, dass der König die Burglehensverhältnisse in der Reichsburg Rödelheim nach Friedberger Vorbild eingerichtet hatte. Der Umfang dieser Ausstattungen kann in Friedberg nicht genau festgestellt werden. Es wurden sowohl Geld- und Güterlehen oder beides zusammen vergeben, auch Naturalienlehen zur Versorgung der Burgmannen sind nachweisbar. Die zur Zeit Rudolfs noch üblichen Vergaben an höhere Dynasten und Grafen scheinen besser dotiert gewesen zu sein als die an ehemalige Ministeriale. Später wurden auch Güter in den Friedberger Besitzungen in der Mörler Mark und dem Freigericht Kaichen vergeben.
Die Burgmannen unterlagen ursprünglich einer Residenzpflicht. Um dieser zu genügen, errichteten sie seit dem 14. Jahrhundert innerhalb der Burg Burgmannenhäuser. In späterer Zeit bestand die Residenzpflicht nicht mehr und die Aufgaben der Burgmannen wurden oft durch von ihnen eingesetzte und dort residierende Beamte wahrgenommen. Die Burghut wurde im 16. und 17. Jahrhundert durch das Aufkommen von Söldnerheeren überflüssig. Während der Sickingischen Fehde wurde 1523 eine solche angeordnet, zusätzlich aber 100 Knechte angenommen und besoldet. 1535 beschloss das Burgregiment, neben zehn Burgmannen auch sechs bis acht Männer aus dem Freigericht Kaichen zur Verstärkung der Wachen anzufordern. 1546 sollten die Burgmannen persönlich erscheinen, andernfalls zwey von Adel, wo die nicht zu bekommen, sonst zwen glaubhafte Reissige oder Landsknecht in ihrer Rüstung nach Friedberg (...) schicken. Als im Jahr 1657 zur Burghut aufgefordert wurde, hatte sich die Ablösung der persönlichen Burghut durch eine Geldzahlung bereits durchgesetzt, es konnten als Ersatz zwölf Reichstaler für vier Monate gezahlt werden.
Die Burgmannschaft ist bereits in den ersten Urkunden des frühen 13. Jahrhunderts als Genossenschaft fassbar. In ihren Reihen versammelten sich die begüterten Familien des niederen Adels der Region. Im Mittelalter setzten sich diese zunächst aus dem Ritteradel der Wetterau zusammen. Die Zahl der Burgmannen schwankte im Laufe der Zeit stark. Ursprünglich ist eine Zahl von 20 bis 30 anzunehmen. Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts dürfte sie auf 40–50 gestiegen sein, sie vermehrte sich parallel zur steigenden Bedeutung der Burggrafschaft weiter bis auf etwa 100 Anfang des 14. Jahrhunderts. 1400 gab es 99 Burgleute aus 49 verschiedenen Familien, so dass einige Familien gleichzeitig mehr als zwei Burgmannen stellten. Im 16. Jahrhundert waren etwa 50 die Regel, bis die Zahl in der Mitte des 17. Jahrhunderts einen Tiefpunkt mit nur 19 Burgmannen erreichte. Durch die Aufnahme neuer Mitglieder, vor allem aus römisch-katholischen Familien, wuchs sie erneut und erreichte 1783 einen Höchststand von 113. Zwischen 1473 und 1806 können 230 Familien identifiziert werden, die Burgmannen stellten.
Burgregiment
Durch die steigende Anzahl an Burgmannen war es im 14. Jahrhundert notwendig geworden, die Verwaltung in die Hand eines kleineren, handlungsfähigeren Gremiums aus zwölf Burgmannen zu legen. Das Burgregiment wird erstmals 1467 erwähnt. Es bestand aber wahrscheinlich schon seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts, da seit dieser Zeit in Urkunden wiederholt eine kleine Gruppe von Burgmannen aus einflussreichen Familien auftrat. Dazu gehörte anfangs neben dem Baumeister und fünf in den Friedberger Rat abgeordneten Burgmannen auch der Burggraf, später nahm er eine Sonderrolle ein.
In der Verantwortung des Burgregiments lag die Verwaltung von Burg und Stadt, später auch der Reichsterritorien. Darüber hinaus war der Zwölfer-Ausschuss deckungsgleich mit dem Burggericht unter dem Vorsitz des Burggrafen. Spätestens seit 1491 musste der Burggraf zwar von der gesamten Burgmannschaft gewählt werden, zuvor jedoch Regimentsburgmann gewesen sein. Zusammen mit der Wahl der beiden Baumeister aus ihrer Mitte konzentrierte sich die Organisation der Reichsburg in den Händen des Regiments. Die Regimentsburgmannen mussten ihren Sitz in der Umgebung Friedbergs haben, sodass sie gegenüber den anderen Burgmannen bei Entscheidungen schneller verfügbar waren und häufiger einberufen werden konnten als die Gesamtversammlung aller Burgmannen, Burgverbot, auch Burgkonvent genannt.
Recht
In der Burggrafschaft Friedberg galt ein besonderes Partikularrecht, die Friedberger Polizeiordnung. 1679 wurde sie erneuert und gedruckt. Damit ist sie zum ersten Mal schriftlich fassbar. Sie behandelte überwiegend Polizei-, Verwaltungs- und Polizei- und Ordnungsrecht. Insofern blieb für den weiten Bereich des Zivilrechts das Solmser Landrecht die Hauptrechtsquelle. Das Gemeine Recht galt darüber hinaus, wenn all diese Regelungen für einen Sachverhalt keine Bestimmungen enthielten. Diese Rechtslage blieb auch im 19. Jahrhundert geltendes Recht, nachdem die Burggrafschaft an das Großherzogtum Hessen übergegangen war. Erst das Bürgerliche Gesetzbuch vom 1. Januar 1900, das einheitlich im ganzen Deutschen Reich galt, setzte dieses alte Partikularrecht außer Kraft.
Äußere Verfassung
Verhältnis zum Reich
Die staatsrechtliche Stellung der Burgmannschaft im Reich bildete eine Ausnahme im Reichsverfassungsgefüge. Dies resultierte aus ihren im 13. Jahrhundert entstandenen Privilegien und ihrer unmittelbaren Rechtsbindung an das Reichsoberhaupt. Formal wurde die Burggrafschaft 1431 auf dem Nürnberger Reichstag mit der Aufnahme in die Reichsmatrikel reichsunmittelbar. Sie hatte für den Hussitenkrieg 30 Gleven zu stellen, vergleichbar mit dem Kontingent der Herzöge von Mecklenburg oder des Bischofs von Speyer.
Die Burgmannschaft versuchte schon bald, sich aus diesen Verpflichtungen zu lösen, denn außer den Kosten zur Ausrüstung der Truppen für die Reichsanschläge waren für die Inanspruchnahme einer doppelten Rechtsposition als Reichsstand und Glied der Reichsritterschaft auch die Steuerbelastungen doppelt; zudem fielen seit der Einteilung in Reichskreise Kontributionen an. Die Burgmannschaft berief sich auf das Reichsheerfahrtprivileg von 1252 und versuchte schon im 16. Jahrhundert, auf die Wahrnehmung der Reichsstandschaft zu verzichten.
Von Seiten des Reiches wurde diese Rechtsposition nur zögerlich anerkannt. Einzelne Kaiser nahmen die Burgmannschaft von der Reichssteuer aus, ohne dass dies von ihren Nachfolgern bestätigt wurde. So wurde die Burg Friedberg bis 1662 immer wieder zu Reichstagen eingeladen. Seit 1564 leistete sie der Einladung keine Folge mehr; davor sind allerdings zahlreiche Reisen von Abgesandten nachweisbar. Sie hatte über ihren genossenschaftlichen Verbund Anteil an der Kuriatsstimme des Wetterauer Grafenvereins im Reichsfürstenrat des Reichstags. Die Auseinandersetzungen endeten 1577, als Rudolf II. die Burg endgültig von der Reichs- und Kreissteuer befreite und ihren Status als Teil der Reichsritterschaft bestätigte. In der folgenden Zeit wurde die Wiederaufnahme intern verschiedentlich diskutiert, ohne dass es bis zur Auflösung des Reichs zu ernsthaften Initiativen gekommen wäre.
Es blieb der Burg ihre einzigartige, herausgehobene Stellung innerhalb der Reichsritterschaft als Sitz und Mittelpunkt des Ritterkantons Mittelrhein, den bis 1729 der Friedberger Burggraf führte. Auch die Mitglieder des Kantons rekrutierten sich zu großen Teilen aus der Burgmannschaft. Erst seit 1729, endgültig 1764, wurden beide Korporationen voneinander abgegrenzt.
Verhältnis zur Reichsstadt Friedberg
Das Territorium der Burggrafschaft Friedberg umfasste zunächst die Burg Friedberg, die auch gegenüber der Stadt Friedberg eine eigene rechtliche Einheit und später ein gesondertes Territorium bildete. Bereits seit ihrer Gründung besaß die Burg einen machtpolitischen Vorrang vor der Reichsstadt. Urkundlich trat der Burggraf schon im 13. Jahrhundert an Stelle des kaiserlichen Schultheißen in Erscheinung. Später urkundende städtische Schultheiße waren stets dem Burggrafen nachgeordnet. Der Burggraf war also nicht nur kaiserlicher Beamter und Kommandant der Burg, er stand auch städtischen Gerichten vor.
Parallel zur Funktion des Burggrafen als Schultheiß gelang es der Burg im späten Mittelalter, ihre Vorrangposition vor der Reichsstadt allmählich zu einer faktischen Herrschaft zu erweitern. Seit 1306 entsandte die Burg auf Anordnung König Albrechts I. sechs Burgmannen in den Rat der Stadt, die sogenannten Adeligen Sechser. Dies sicherte zukünftig der Burg einen erheblichen Einfluss auf die Politik der Stadt. Theoretisch hatten die Sechser dem König über Unrecht in der Stadt, besonders Gerichtssachen, Marktgerechtigkeit und allgemeines städtisches Leben zu berichten. Faktisch hatte der Rat der Stadt damit aber seinen Status einer bürgerlichen Institution verloren und jede Maßnahme städtischer Politik fand nun unter Beobachtung oder Mitwirkung der Burg statt. Im 14. und 15. Jahrhundert erwuchsen daraus erneut Streitigkeiten, als die städtischen Räte verschiedentlich versuchten, den Einfluss der Sechser zurückzudrängen. Mit der finanziellen und politischen Krise der Reichsstadt im 15. Jahrhundert und dem Erwerb der seit 1349 bestehenden Pfandschaften über die Stadt aus den Händen verschiedener Territorialherren (darunter der Erzbischof von Mainz und die Herren von Eppstein) geriet Friedberg vollends in die Abhängigkeit der Burg, so dass die Bürger am Ende des 15. Jahrhunderts dem jeweils amtierenden Burggrafen huldigen mussten.
Herrschaft und Rechte in der Wetterau
Die Burggrafschaft besaß seit ihrer Gründung eine Vielzahl unterschiedlicher Rechte und Güter, die ursprünglich zur Versorgung der Reichsburg dienten. Seit dem 15. Jahrhundert gelang es der Burg, diese Rechte zu einer eigenen Landesherrschaft in der Wetterau zu erweitern. Zur ursprünglichen staufischen Ausstattung zählten insbesondere Jagd-, Wald-, Holz- und Fischereirechte in der Umgebung der Burg. Zwischen Dorheim und Ossenheim im Osten Friedbergs besaß die Burg seit ihrer Gründung einen Wiesenbezirk von etwa 60 Hektar zur Versorgung der Pferde. Um die Markwiesen kam es in späterer Zeit wiederholt zu Auseinandersetzungen mit den Grafen von Solms, zu deren Territorialherrschaft die beiden angrenzenden Orte gehörten.
Die sogenannte Mörler Mark nordwestlich der Stadt wurde in Teilen als Dienstgut an einzelne Burgmannen vergeben und kam nie vollständig in den Besitz der Burg. Bedeutend für die Versorgung der Burg waren die dortigen Holz- und anderweitigen Nutzungsrechte. Die Friedberger Vorstadt Zum Garten unterstand der Burg unmittelbar. Die dortigen Beisassen waren zu Hand- und Spanndiensten verpflichtet. Sie leisteten im 14. Jahrhundert einen bedeutenden Beitrag zum Bau und zur Unterhaltung der Burg. Im 15. Jahrhundert ging die Bevölkerungszahl der Vorstadt aber wie in allen Friedberger Vorstädten stark zurück. 1455 gelang es der Burg schließlich, die Pfandschaft über die gesamte Reichsstadt Friedberg zu erwerben.
Die Burggrafschaft kaufte 1405 einen Anteil an der Ganerbschaft Staden um die Burg Staden, anfangs bestehend aus vier Teilen und 19 Teilhabern, die sich im Laufe der Zeit stark reduzierten, weil beim Aussterben einer Familie in männlicher Linie der Besitz an die Ganerbschaft insgesamt zurückfiel. 1806 war die Ganerbschaft auf drei Teilhaber zusammengeschmolzen: Burg Friedberg 12/57, Grafschaft Isenburg 13/57 und die Freiherren Löw von Steinfurth mit 32/57. Zur Ganerbschaft gehörten die Orte Ober-Florstadt, Nieder-Florstadt und Stammheim, der zugehörige Gerichtsbezirk umfasste noch weitere Orte.
1475 gelangte die Burg Friedberg endgültig in den Besitz des Freigerichts Kaichen, in dem einzelne Burgmannen schon Jahrhunderte zuvor Dienstgüter besaßen. Zu diesem Freigericht gehörten 18 Orte und vier Wüstungen. Mit der Rechtsprechung waren Gefälle verbunden. In einem Urteilsspruch von 1293 erschienen unter den Zeugen fast ausschließlich Burgmannen, die auch die Mehrheit der Lehnsherren im Freigericht bildeten. Vermutlich hatten sie diese Dienstgüter im 12. Jahrhundert aus dem Reichsbesitz der Grafschaft Malstatt nach dem Aussterben der Grafen von Nürings erhalten. Ein Schutzverhältnis zwischen Freigericht und Burg schloss aber zunächst das direkte Erheben von Abgaben durch die Burggrafschaft aus.
Versuche der Burggrafschaft im 14. Jahrhundert, das Freigericht Kaichen völlig an die Burg zu binden, stießen auf energischen Widerstand anderer Lehnsherren. Dazu zählten mehrere Frankfurter Bürger sowie die Herren bzw. Grafen von Hanau, Isenburg und Eppstein. Zunächst entbrannte der Streit mit den Frankfurtern an deren Präsenzpflicht zu Gerichtstagen. Sie beriefen sich auf ihr Privileg, nicht vor fremden Gerichten außerhalb der Reichsstadt beklagt zu werden. Der zunehmende Einfluss der Burggrafschaft, die durch ihre Burgmannen immer mehr Dörfer in Abhängigkeit brachte, konnte auch durch das Einschalten König Sigismunds nicht verhindert werden. Er verbot 1431 erneut die Besteuerung durch die Burg. Kaiser Friedrich III. erkannte in drei Privilegien schließlich die Oberhoheit der Burggrafschaft über das Freigericht an. 1467 bestätigte er der Burg den Besitz einschließlich Steuerhoheit und Einfluss auf die Gerichtsverfassung. Ein zweites Privileg von 1474 bestätigte die Wahl des Obergrefen des Freigerichts durch die Burgmannen und erlaubte die Wahl des Burggrafen zum Obergrefen. Das dritte Privileg von 1475 fasste alle Rechte zusammen und bestätigte das Freigericht als Territorium der Burggrafschaft.
Adelsgesellschaften in der Burg Friedberg
Aus dem späten Mittelalter sind in der Friedberger Burg zwei Adelsgesellschaften bekannt, die Gesellschaft der Grünen Minne (1365) und die Gesellschaft vom Mond (mane, 1371). Beide existierten offenbar gleichzeitig und bestanden aus Ganerben der Burg Friedberg. Über die Grüne Minne liegen vier Urkunden vor, über die Gesellschaft vom Mond nur zwei, jedoch drei weitere, die ihren Altar erwähnen. Geistliches Zentrum waren Altäre der Gesellschaften in der Burgkirche, Abzeichen sind nicht bekannt. Sie hörten offenbar 1387 auf zu existieren, als es zu einer Neuordnung des Gottesdienstes in der Burgkirche kam. Danach wurden noch die Altäre genannt, jedoch nicht mehr die Gesellschaften selbst. Die Mitglieder wurden in eine neue Gesellschaft aufgenommen.
Bruderschaft vom heiligen Georg
Mehr Informationen liegen seit 1492 über die Fraternitas equestris S. Georgii vor. Hauptquelle ist ein Bestätigungsschreiben des Mainzer Erzbischofs Berthold von Henneberg, das wichtige Bestimmungen und Statuten der Bruderschaft enthält. Die Gründung muss deshalb vor dem 26. März 1492 (Datum des Schreibens) erfolgt sein. Mitglieder waren die Ganerben der Reichsburg, darunter der Burggraf, rectores sowie Ritter und ritterbürtige Personen. Ein Anlass zur Gründung ist nicht ersichtlich. Erwähnt wurde, dass sie zum Lobe Gottes, Mariens, der Heiligen Antonius und Georg sowie zum Seelenheil ihrer Mitglieder gegründet worden sei.
Eine vorrangige Tätigkeit der Bruderschaft bestand in der Verehrung einer Fronleichnamsreliquie, wie es auch für die Gesellschaft vom Mond belegt ist. Jährlich am Montag nach Fronleichnam hielten die Mitglieder Messen in der Burgkirche, an die sich eine Prozession mit mindestens zehn Priestern anschloss, von denen einer die Fronleichnamsreliquie tragen sollte. An bestimmten Tagen hatten die Mitglieder eine silberne oder vergoldete Halskette mit dem Bild des Heiligen Georg zu tragen. Im Salbuch des Klosters Naumburg erscheint der Heilige als Schutzpatron der Burg. Die mittelalterliche, 1783 abgebrochene Burgkirche war dem heiligen Georg geweiht. Eine Sandsteinfigur zierte jahrhundertelang den St. Georgsbrunnen in der Burg. Die aufwändige Verzierung des Brunnens mit den Wappen des Burggrafen, der beiden Baumeister, dem Burgwappen und den Wappen der zehn Regimentsburgmannen zeugt von der Regierungsorganisation der Burg.
Orden des heiligen Joseph
Kaiser Josef II. gründete 1768 einen Orden des heiligen Joseph für die Burgmannen von Friedberg. Der regierende römische Kaiser war Großmeister, der Burggraf Großprior, die Baumeister und Regimentsburgmannen waren Kommandeure und die Burgmannen Ritter des Ordens.
Siehe auch
Liste Friedberger Burggrafen
Literatur
Karl Ernst Demandt: Geschichte des Landes Hessen. 2. Auflage. Bärenreiter-Verlag, Kassel/ Basel 1972, ISBN 3-7618-0404-0, S. 470f.
Albrecht Eckhardt: Die Burgmannenaufschwörungen und Ahnenproben der Reichsburg Friedberg in der Wetterau 1473–1805. In: Wetterauer Geschichtsblätter. 19, 1970, S. 133–167.
Albrecht Eckhardt: Burggraf, Gericht und Burgregiment im mittelalterlichen Friedberg (mit einem Urkundenanhang). In: Wetterauer Geschichtsblätter. 20, 1971, S. 17–81.
Friederun Hardt-Friederichs: Das königliche Freigericht Kaichen in der Wetterau in seiner landes- und rechtshistorischen Bedeutung. (= Wetterauer Geschichtsblätter. 25). Bindernagel, Friedberg 1976, ISBN 3-87076-013-3, bes. S. 25–29 und S. 39–41.
Friedberg (Burggrafschaft). In: Gerhard Köbler: Historisches Lexikon der deutschen Länder. Die deutschen Territorien vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 4., vollständig überarbeitete Auflage. C.H. Beck, München 1992, ISBN 3-406-35865-9, S. 179.
Friedrich Karl Mader: Sichere Nachrichten von der Kayserlichen und des heiligen Reichs-Burg Friedberg und der darzu gehörigen Grafschaft und freyen Gericht zu Kaichen, aus zuverläßigen Archival-Urkunden und beglaubten Geschicht-Büchern zusammen getragen auch hin und wieder erläutert. 1. Teil Lauterbach 1766 (Digitalisat); 2. Teil Lauterbach 1767 (Digitalisat); 3. Teil Lauterbach 1774 (Digitalisat)
Angela Metzner: Reichslandpolitik, Adel und Burgen – Untersuchungen zur Wetterau in der Stauferzeit. (= Büdinger Geschichtsblätter. 21). 2008, , S. 179–184.
Klaus-Dieter Rack: Die Burg Friedberg im Alten Reich: Studien zu ihrer Verfassungs- und Sozialgeschichte zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert. (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte. 72). Hessische Historische Kommission, Darmstadt 1988, ISBN 3-88443-161-7.
Klaus-Dieter Rack: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Ende des Alten Reiches. In: Michael Keller (Hrsg.): Friedberg in Hessen. Die Geschichte der Stadt. Band II, Bindernagel, Friedberg 1999, ISBN 3-87076-081-8.
Thomas Schilp: Die Reichsburg Friedberg im Mittelalter. Untersuchungen zu ihrer Verfassung, Verwaltung und Politik. (= Wetterauer Geschichtsblätter. 31). Bindernagel, Friedberg 1982, ISBN 3-87076-035-4. (zugleich Dissertation Uni Marburg).
Thomas Schilp: Urkundenbuch der Stadt Friedberg, zweiter Band. Die Reichsburg Friedberg im Mittelalter. Regesten der Urkunden 1216–1410. (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen. 3/2). Elwert, Marburg 1987, ISBN 3-86354-070-0.
Arthur Benno Schmidt: Die geschichtlichen Grundlagen des bürgerlichen Rechts im Großherzogtum Hessen. Curt von Münchow, Giessen 1893.
Georg Schmidt: Reichsritterschaften. In: Winfried Speitkamp (Hrsg.): Ritter, Grafen und Fürsten – weltliche Herrschaften im hessischen Raum ca. 900-1806. (= Handbuch der hessischen Geschichte. 3; = Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen. 63). Marburg 2014, ISBN 978-3-942225-17-5, S. 348–375.
Joachim Schneider: Ganerbschaften und Burgfrieden in der frühen Neuzeit – Relikte oder funktionale Adaptionen? In: Eckart Conze, Alexander Jendorff, Heide Wunder: Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert. (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen. 70). Historische Kommission für Hessen, Marburg 2010, ISBN 978-3-942225-00-7, S. 129–148, bes. S. 136–141.
Reimer Stobbe: Die Stadt Friedberg im Spätmittelalter. Sozialstruktur, Wirtschaftsleben und politisches Umfeld einer kleinen Reichsstadt. (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte. 92). Hessische Historische Kommission Darmstadt und Historische Kommission für Hessen, Darmstadt/ Marburg 1992, ISBN 3-88443-181-1, bes. S. 162–209.
Reimer Stobbe: Die Geschichte Friedbergs: Von der Gründung bis zur Reformationszeit. In: Michael Keller (Hrsg.): Friedberg in Hessen. Die Geschichte der Stadt. Band I: Von den Anfängen bis zur Reformation. Bindernagel, Friedberg 1997, ISBN 3-87076-080-X, S. 129–246.
Weblinks
Einzelnachweise
Historisches Territorium (Hessen)
Reichsgrafschaft |
6816391 | https://de.wikipedia.org/wiki/Notiomastodon | Notiomastodon | Notiomastodon ist eine ausgestorbene Gattung aus der Familie der Gomphotheriidae innerhalb der Ordnung der Rüsseltiere. Sie lebte vom Mittleren bis Oberen Pleistozän vor rund 460.000 bis 11.000 Jahren vor heute in Südamerika. Dort nutzten die Tiere hauptsächlich die Tieflandsgebiete östlich der Anden. Die Vertreter von Notiomastodon erreichten etwa die Ausmaße eines heutigen Asiatischen Elefanten. Wie andere südamerikanische Gomphotherien wie etwa Cuvieronius aus den Hochlandsgebieten der Anden und einige nordamerikanische Formen, so Stegomastodon, zeichnete sich Notiomastodon durch einen kurzschnauzigen und hoch gewölbten Schädel aus. Die kurze Schnauze entstand durch die Zurückbildung der unteren Stoßzähne, die bei den Gomphotherien Eurasiens und Afrikas zumeist erhalten blieben. Besonderheiten finden sich bei Notiomastodon in der Ausprägung der oberen Stoßzähne, denen häufig eine Umhüllung aus Zahnschmelz fehlte, des Weiteren auch in der Gestaltung der Backenzähne. Das deutlich höckerige Kauflächenmuster zeichnet die Tiere als Verwerter gemischter Pflanzenkost aus, die sich lokal aber unterschiedlich zusammensetzen konnte. Im Verlauf der letzten Kaltzeit kam es zu einer Anpassung an Grasnahrung. Die Gattung wurde im Jahr 1929 wissenschaftlich eingeführt. Sie war im Laufe der Forschungsgeschichte teils umstritten beziehungsweise wurde mit einer Form namens Haplomastodon und mit Stegomastodon verwechselt oder gleichgesetzt. Intensive anatomische Studien seit den 2010er Jahren ließen erkennen, dass Notiomastodon die einzige Rüsseltierform in den Tieflandsgebieten Südamerikas repräsentiert, Haplomastodon mit ihr identisch ist und sich Stegomastodon auf Nordamerika beschränkte.
Merkmale
Größe
Notiomastodon war ein mittelgroßes bis großes Rüsseltier. Anhand eines vollständigen Skelettes konnte eine Schulterhöhe von etwa 2,5 m und ein Körpergewicht von rund 3,15 t rekonstruiert werden, andere Angaben belaufen sich auf bis zu 4,4 t für das gleiche Individuum. Für ein weiteres Individuum schwanken die Gewichtsberechnungen zwischen 4,1 und 7,6 t. Da die Annahmen auf den Ausmaßen der Gliedmaßenknochen beruhen, diese aber proportional von rezenten Elefanten abweichen, können die Werte nur als Annäherung betrachtet werden. Die Tiere besaßen allgemein in etwa die Ausmaße eines heutigen Asiatischen Elefanten (Elephas maximus).
Schädel- und Gebissmerkmale
Der Schädel von Notiomastodon war kurz und hoch gestaltet, im Vergleich zu seinem Verwandten Cuvieronius wirkte er schmaler und kürzer. In Seitenansicht wölbte er sich deutlich kuppelartig auf, vergleichbar zu den Schädeln heutiger Elefanten. Jedoch ist bei den rezenten Elefanten der Schädel noch markanter vertikal orientiert und das Rostrum noch weiter gekürzt. Einzelne aufgefundene Schädel besaßen Gesamtlängen von 75 bis 113 cm, die Höhe betrug bei diesen, gemessen von der Oberkante bis zur Ebene der Alveolen 41 bis 76 cm. Die Schädeloberkante war in Vorderansicht durch zwei seitliche Buckel geprägt, zwischen denen entlang der Schädelmitte eine leichte Eindellung lag. Beide Buckel entstanden durch die rüsseltiertypischen luftgefüllten Kammern in den Knochen des Hirnschädels. Sie waren deutlicher als etwa im Vergleich zu Gomphotherium. Die Stirn zeigte sich breit und weitgehend flach. Das Nasenbein war wie bei allen entwickelten Rüsseltieren kurz und lag am oberen Rand der sehr weiten, aber flachen Nasenöffnung, an der der Rüssel ansetzte. Seitlich begrenzte eine Furche das Nasenbein, welche dem Musculus maxillo labialis als Ankerpunkt diente. Der Muskel fungierte als Heberarm für den Rüssel. Die übrigen Ränder der Nasenöffnung wurden durch den Mittelkieferknochen und einzelne Fortsätze von diesem gebildet. Der Mittelkieferknochen formte auch die Alveolen der oberen Stoßzähne aus. Diese waren sehr lang, mitunter bis zu 59 cm, und insgesamt sehr breit. Ihr Durchmesser nahm nach vorn hin zu. Sie divergierten nur geringfügig auseinander, in Seitenansicht bildeten sie eine Linie mit dem Stirnverlauf. Dadurch entstand ein weiter Winkel zwischen der Orientierung der Stoßzahnalveolen und der Ebene der Kaufläche der Backenzähne. An der Oberseite verliefen die Stoßzahnalveolen leicht eingedellt. Insgesamt war der Mittelkieferknochen deutlich massiver als etwa bei Gomphotherium. Aufgrund der Kürzung des Schädels im Schnauzenbereich lag die Orbita bei Notiomastodon oberhalb des vorderen Endes der hinteren Zahnreihe, was auffallend weiter vorn ist als bei den langschnauzigen Gomphotherien wie Gomphotherium oder Rhynchotherium. Der Jochbogen war massig und hoch. Die Oberkante verlief eher gerade, die Unterkante zeigte eine leichte Eindellung, wo der Massetermuskel ansetzte.
Der Unterkiefer wurde bis zu 77 cm lang, im Bereich der Zähne war der Unterkieferkörper deutlich verbreitert und hier an der Unterkante auch merklich ausgewölbt. Seine Höhe unterhalb der Backenzähne betrug bis zu 15 cm. Abweichend davon hatte Stegomastodon eine weitgehend gerade verlaufende Unterkante. Die Symphyse war typisch für südamerikanische Gomphotherien relativ kurz (brevirostrin), bei einigen Individuen verlief sie auffallend nach unten gerichtet und bildete mitunter einen kleinen Fortsatz, wie es auch bei Cuvieronius der Fall ist. Die abwärtsgerichtete Symphyse gilt als eher ursprüngliches Merkmal. Bei Stegomastodon war der Fortsatz dagegen deutlich reduziert. Teilweise bestanden bis zu drei Foramina merntalia. Der aufsteigende Gelenkast war massiv und ragte bis zu 47 cm auf. Die Vorder- und Hinterkante zeigten eine parallele Ausrichtung. Der Kronenfortsatz lag deutlich niedriger als der Gelenkfortsatz, was bei Stegomastodon nicht der Fall war. Die Gelenkenden standen quer zur Unterkieferlängsachse und waren kräftig ausgebildet, die Außenkanten wiesen einen Abstand von bis zu 57 cm zueinander auf. Ebenfalls im Unterschied zu Stegomastodon hob sich der Winkelfortsatz weniger prominent hervor.
Das Gebiss setzte sich aus den Stoßzähnen und den Backenzähnen zusammen. Im Gegensatz zu den urtümlicheren Gomphotherien Eurasiens waren Stoßzähne nur im oberen Gebiss ausgebildet, allerdings bildeten sich am Unterkiefer manchmal kleine Alveolen aus. Die oberen Stoßzähne stellten wie bei allen Rüsseltieren die jeweils hypertrophierten zweiten Schneidezähne dar. Hinsichtlich der Ausprägung der Stoßzähne gab es einzelne Variationen, so dass die Stoßzähne entweder kurz und mit den Spitzen deutlich nach oben gebogen waren oder eher gerade verliefen. Eine Ummantelung aus Zahnschmelz war bei ausgewachsenen Individuen zumeist nicht ausgebildet. Dadurch besteht ein Unterschied zu Cuvieronius, dessen obere Stoßzähne von Schmelzbändern spiralförmig umlaufen waren. Außerdem kamen bei letzterem noch untere Stoßzähne bei Jungtieren vor. Generell zeigten sich die Stoßzähne bei Notiomastodon sehr robust. Ihre Länge betrug bis zu 88 cm außerhalb der Alveolen, bei besonders langen Exemplaren erreichte sie über die äußere Krümmung gemessen bis zu 128 cm. Der Querschnitt war oval und variierte von 11, 5 bis 16,4 cm. Das weitere Gebiss setzte sich bei Notiomastodon wie bei den heutigen Elefanten aus den Prämolaren und Molaren zusammen, die aufgrund des horizontalen Zahnwechsels nacheinander durchbrachen. Die Kauoberfläche setzte sich allgemein aus mehreren Höckerpaaren zusammen, was den Zähnen ein bunodontes Muster gab. Die ersten beiden Molaren wiesen dabei drei quer zur Zahnlängsachse orientierte Paare an Höckern auf (trilophodont). Der obere dritte besaß dagegen vier und der untere bis zu fünf Höckerpaare (tetra- und pentalophodont), wobei diese zusätzlichen Höcker weniger ausgeprägt entwickelt waren. Bei Stegomastodon hingegen kamen oben fünf und unten bis zu acht Leisten vor. Daneben lassen sich bei Notiomastodon im Bezug auf die Molaren zwei Morphotypen ausmachen, einer mit zusätzlichen zentralen Höckerchen auf jeder Längshalbseite eines Zahns und einer ohne diese. Charakteristisch war auch die im abgekauten Zustand kleeblattförmige Struktur der einzelnen Höcker. Insgesamt zeichnete sich der Zahnaufbau von Notiomastodon durch einen eher ursprünglichen Charakter aus, der stärker dem von Cuvieronius glich. Aufgrund der unterschiedlichen Morphotypen näherte er sich aber dem komplexeren Kauflächenmuster von Stegomastodon, wass hauptsächlich durch die Ausbildung zusätzlicher Nebenhöckerchen hervorgerufen wurde. Der letzte Mahlzahn konnte bei Notiomastodon zwischen 35 und 82 Höckerchen aufweisen, bei Cuvieronius waren es 33 bis 60 und bei Stegomastodon 57 bis 104. Dementsprechend betrug die Gesamtkaufläche des letzten Molaren bei Notiomastodon 57 bis 160 cm² (12 bis 32 cm² je Leiste) und bei Stegomastodon 72 bis 205 cm² (12 bis 34 cm² je Leiste). Die Zähne waren dadurch typisch für entwickelte Rüsseltiere relativ groß. Der untere letzte Molar maß in der Länge bis zu 21,6 cm, der obere letzte bis zu 19,3 cm.
Skelettmerkmale
Im postcranialen Skelettbau ähnelte Notiomastodon weitgehend den heutigen Elefanten, war allerdings generell robuster gebaut. Der Oberarmknochen war massiv und 78 bis 87 cm lang. Er lud an den Gelenkenden weit aus, der Gelenkkopf war weit und deutlich gerundet. Einzelne aufgeraute Flächen am Schaft zeigten aber nur wenige prominente Erhebungen. Die Elle war eher grazil, mit einer Gesamtlänge von 75 bis 80 cm aber fast so groß wie der Humerus. Aufgrund des massiven Olecranon, dem oberen Gelenkfortsatz, betrug die physiologische Länge des Knochens aber nur 57 bis 64 cm. Dadurch war die Elle funktional deutlich kürzer als oder Oberarmknochen, was kennzeichnend für die südamerikanischen Gomphotherien im Vergleich zu ihren eurasischen Verwandten ist. Die physiologische Länge der Elle entsprach in etwa auch der Gesamtlänge der Speiche. Der Oberschenkelknochen wurde 96 bis 100 cm lang und bestand aus einem nahezu zylindrischen, nur vorn und hinten leicht abgeplatteten Schaft. Der kugelige Kopf erhob sich deutlich über den Großen Rollhügel, saß aber im Vergleich zu Cuvieronius auf einem kürzeren Hals. Am unteren Gelenk war die innere Gelenkrolle größer als die äußere. Das bis zu 70 cm lange Schienbein zeichnete sich durch einen prismatischen Schaft und ein gegenüber dem unteren ausladenderen oberen Gelenkende aus. Vorder und Hinterfuß wiesen wie bei den heutigen Elefanten jeweils fünf Strahlen auf. Die Gliedmaßen von Notiomastodon waren wie bei anderen kurzschnauzigen Gomphotherien generell massiger und robuster gebaut als bei den heutigen Elefanten. Ebenfalls markant war die ausgeglichenere Länge zwischen den jeweils oberen und unteren Beinabschnitten bei Notiomastodon im Vergleich sowohl zu den rezenten Elefanten als auch zu Stegomastodon. Bei letzterem übertraf der Oberschenkelknochen das Schienbein um fast das Doppelte an Länge. Ein weiterer wichtiger Unterschied findet sich im Verhältnis der Länge der Vorderbeine zu den Hinterbeinen. Dies beträgt bei Notiomastodon durchschnittlich 82 %, bei Stegomastodon 93 %, wodurch die Hinterbeine bei ersteren deutlich kürzer waren als die Vorderbeine. Sowohl die Relation der oberen und unteren Beinabschnitte wie auch die der Vorder- und Hinterbeine zueinander gibt für Stegomastodon eine deutlich bessere Anpassung an offene Landschaften und langandauernde Wanderungen an (graviportal), als es bei Notiomastodon der Fall ist. Des spiegelt sich auch im Bau der Füße wider, die bei Notiomastodon schlanker und höher waren als bei Stegomastodon.
Verbreitung
Das Verbreitungsgebiet von Notiomastodon erstreckte sich annähernd über das gesamte nördliche, östliche und südliche Südamerika. Der Rüsseltiervertreter kam vor allem in den Tieflandsgebieten vor, in den Hochländern der Anden wurde er von Cuvieronius ersetzt. Möglicherweise vermieden die beiden Rüsseltiervertreter durch ihre strikte Lebensraumabgrenzung direkte Konkurrenz, da sie jeweils ein ähnliches ökologisches Spektrum aufwiesen. Als Lebensräume lassen sich für Notiomastodon vor allem Savannen und trockene Graslandschaften rekonstruieren, die unter warmen bis gemäßigten Klimabedingungen bestanden. Dadurch fand sich die Verbreitungsgrenze etwa beim 37. bis 38. südlichen Breitengrad. Wichtige Fossilfundnachweise liegen aus der Pamparegion und dem Gran Chaco von Argentinien vor. Zu nennen wären hier etwa Santa Clara del Mar in der Provinz Buenos Aires und der Río Dulce in der Provinz Santiago del Estero. Ebenso sind Reste aus dem südlichen Bolivien belegt, das landschaftlich noch zum Gran Chaco gehört. Ansonsten wurden aus dem Staat überwiegend Funde von Cuvieronius berichtet. Zu den südlichen Nachweisen der Rüsseltiergattung zählen auch einzelne Reste aus dem zentralen Chile.
Weitere Funde sind aus Brasilien bekannt, wo Notiomastodon weit verbreitet von den südlichen Offenlandgebieten des Chaco bis in das heutige Amazonasbecken auftrat, darüber hinaus sind Fossilreste vom Kontinentalschelf vor der Atlantikküste geborgen worden. Eine der bedeutendsten Fundstellen stellt allerdings Águas de Araxá im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais dar. Hier wurden wenigstens 47 Individuen von Notiomastodon entdeckt. Diese lagerten in einem mit grobkörnigen Sedimenten gefüllten Kolk. Ebenso wurde die Gattung aus Peru, Ecuador, Kolumbien und Venezuela berichtet. In Ecuador ist die Fundstelle Quebrada Pistud bei Bolívar in der Provinz Carchi erwähnenswert. Diese enthielt in flutartig angeschwemmten Ablagerungen rund 160 Fossilreste von Notiomastodon verteilt auf mehrere Dutzend Quadratmeter. Sie repräsentieren wenigstens sieben Individuen, ein einzelnes Skelett bestehend aus 68 Knochenelementen streute dabei über rund 5 m². Eine andere wichtige Fundstelle ist hier die natürliche Asphaltgrube von Tanque Loma auf der Halbinsel Santa Elena, welche über 1000 Einzelknochen barg. Gut 660 wurden davon näher untersucht, zu Notiomastodon können etwa 11 % gestellt werden. Sie verteilen sich auf drei Individuen, darunter zwei Jungtiere.
Paläobiologie
Ernährungsweise
Das bunodonte Kauflächenmuster der Gomphotherien steht meist mit einer wenig spezialisierten Ernährungsweise in Verbindung, was eine Bevorzugung von gemischter Pflanzenkost annehmen lässt. Dies unterstreichen auch Untersuchungen zu Abnutzungsspuren auf den Molaren von Notiomastodon aus der oberpleistozänen Fundstelle von Águas de Araxá im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais. Die Zähne weisen eine hohe Anzahl an Kratzern und Einkerbungen auf, was mit ähnlichen Abrasionsspuren an Zähnen heutiger Huftiere mit einer Ernährung von sowohl weicher als auch harter Pflanzenkost übereinstimmt. Durch einige Pflanzenreste aus den Zähnen konnten Nadelbäume, Knöterichgewächse und Tüpfelfarngewächse als Nahrungsgrundlage identifiziert werden. Dem gegenüber zeichnen Isotopenanalysen an zahlreichen Fossilien aus weiten Bereichen Südamerikas ein komplexeres Bild. Diese ergaben für Tiere des Oberpleistozäns aus den nördlichen und zentraleren Teilen Südamerikas wie Ecuador oder das Gran Chaco weitgehend eine Dominanz von C4-Pflanzen im Nahrungsspektrum, während sich solche aus den südlicheren Abschnitten wie der Pamparegion überwiegend von C3-Pflanzen ernährten. In den Gebieten dazwischen kann anhand der Isotopenverhältnisse wiederum eine gemischte Pflanzenkost rekonstruiert werden. Dies trifft allerdings auch für Individuen aus dem Mittleren Pleistozän des südlichen Südamerikas zu. Besonders herausstellen ließ sich dies bei Fossilfunden einer Fundstelle, Quequen Grande in der argentinischen Provinz Buenos Aires. Hier verweisen Isotopenuntersuchungen an Funden aus dem Mittleren Pleistozän auf eine eher gemischte Pflanzenkost, bei weiteren aus dem Oberen Pleistozän auf eine spezialisierte Grasnahrung. Ein gradueller Wechsel der Nahrungszusammensetzung konnte auch bei einzelnen Exemplaren dokumentiert werden, so an einem Unterkiefer eines nicht ganz ausgewachsenen Tieres aus der brasilianischen Pampa. Isotopenanalysen an den ersten beiden Mahlzähne zeigten einen geringeren Anteil an C4-Pflanzen im Nahrungsspektrum auf, während solche am dritten Molar einen höheren Gehalt ergaben. Möglicherweise war Notiomastodon dadurch ein opportunistischer Pflanzenfresser, der seine Nahrungsgewohnheiten nicht nur im Rahmen einer Population, sondern auch individuell den örtlichen Bedingungen anpasste, ähnlich wie es für die heutigen Elefanten belegt ist. Vor allem im Verlauf des Oberen Pleistozäns, als durch die klimatischen Änderungen der letzten Kaltzeit im südlichen Teil Südamerikas die Baumbestände schwanden und durch Graslandschaften ersetzt wurden, war dies eine wichtige Anpassungserscheinung.
Populationsstruktur und Fortpflanzung
Die Fundstelle Águas de Araxá ist insofern bedeutend, da sie eine der größten Fundansammlungen von Notiomastodon-Fossilien barg. Sie werden als Überreste einer lokalen Population interpretiert, die durch ein katastrophales Ereignis ausgelöscht wurde. Die Gruppe bestand nach Untersuchungen der Zähne zu 14,9 % aus Jungtieren (0 bis 12 Jahre), zu 23,0 % aus nahezu ausgewachsenen Individuen (13 bis 24 Jahre) und zu 62,1 % aus ausgewachsenen Tieren (25 Jahre und älter). Dabei lassen sich letztere noch einmal untergliedern in 27,7 % mittelalte (25 bis 36 Jahre) und jeweils 17,2 % alte (37 bis 48 Jahre) and extrem alte (49 bis 60 Jahre) Tiere unterscheiden. Bemerkenswert hieran ist der große Anteil an Individuen mit einem Alter von 37 Jahren und mehr, was eine hohe Überlebensrate innerhalb dieser Gruppe annehmen lässt. Ein Teil der ausgewachsenen Tiere litt unter pathologischen Knochenveränderungen wie Schmorl-Knorpelknötchen, Osteomyelitis und Osteoarthritis. Diese zeigten sich unter anderem an den Wirbeln sowie Langknochen und gehen möglicherweise auf individuelle Erkrankungen zurück. Zumindest Osteomyelitis wurde auch bei Funden von Notiomastodon anderer Fundstellen diagnostiziert. Die Reste von Águas de Araxá müssen nach ihrer Ablagerung eine längere Zeit offen gelegen haben. Den Schluss erlauben nicht nur Bohrlöcher von Speckkäfern in den Knochen, sondern auch Beißspuren größerer Vertreter der Hunde wie etwa von Protocyon. Die Nagespuren sind dabei wohl das Resultat von Aasfresserei eventuell in Folge einer Periode von Nahrungsknappheit. Aufgrund seiner Größe hatte Notiomastodon wohl kaum natürliche Feinde. Fraßspuren eines größeren Raubtieres wurden auch an einem Skelett der Fundstelle Pilauco im südlichen Chile festgestellt.
Bei einem Stoßzahn eines männlichen Tieres aus dem Talkessel von Santiago de Chile wurden mittels Isotopenanalysen und Dünnschliffen die letzten vier Lebensjahre analysiert. Der Stoßzahn nahm während dieser Zeit jährlich um rund 10 mm an Dicke zu. Die Zuwachsrate erwies sich dabei als zyklisch und wurde im Frühsommer des Jahres durch einen verminderten Zahnbeinwachstum unterbrochen. Die Zeitspanne des verminderten Wachstums wird mit dem Eintreten in die Musth interpretiert, eine bei heutigen Elefanten jährlich auftretende hormongesteuerte Phase, die durch einen massiven Anstieg des Testosterons gekennzeichnet ist. Während der Musth sind Bullen äußerst aggressiv und bestreiten Dominanzkämpfe um das Paarungsvorrecht mit teils tödlichem Ausgang. Ein äußerliches Kennzeichen stellt der erhöhte Sekretfluss aus der Temporaldrüse dar. Bei dem Tier aus Santiago de Chile gingen die Wachstumsanomalien teilweise mit einer veränderten Ernährung einher. Der Tod des Individuums erfolgte im frühen Herbst relativ abrupt.
Fortbewegung
Relativ selten sind bisher Spurenfossilien von Rüsseltieren in Südamerika belegt. Eine der bedeutendsten Fundstellen findet sich mit Pehuén-Có nahe Bahía Blanca in der argentinischen Provinz Buenos Aires. Die Fundstelle wurde 1986 entdeckt und erstreckt sich über eine Fläche von 1,5 km². Die unzähligen Spuren sind in einem ursprünglich weichen Substrat eingedrückt. Es lassen sich die verschiedensten Säugetiere nachweisen, wie etwa das kamelartige Megalamaichnum (Hemiauchenia), das südamerikanische Huftier Eumacrauchenichnus (Macrauchenia), der große Gürteltierverwandte Glyptodontichnus (Glyptodon) oder das riesige Bodenfaultier Neomegatherichnum (Megatherium), darüber hinaus sind Vögel wie Aramayoichnus aus der Gruppe der Nandus nachgewiesen. Aufgrund der Vielfältigkeit der Spuren gehört Pehuén-Có zu den weltweit bedeutendsten Fundstellen mit Ichnofossilien. Das Alter wird auf 12.000 Jahre vor heute datiert. Rüsseltierspuren sind auch hier rar. Die Hauptspur umfasst sieben Trittsiegel auf einer Länge von 4,4 m. Die einzelnen Abdrücke weisen eine ovale Form auf mit Längen um 23 bis 27 cm und Breiten um 23 bis 30 cm. In der Regel sind sie etwa 8 cm in den Untergrund eingetieft. Teilweise finden sich an der Vorderkante kleinere Ausbuchtungen, die als Hinweise auf drei bis fünf Zehen gedeutet werden, vergleichbar den „nagelartigen“ Strukturen der heutigen Elefanten. Die als größer angesehenen Vorderfußabdrücke weisen demnach fünf, die der kleineren in Einzelfällen nur drei derartige Ausbuchtungen auf. Ebenso verweist die flächige Ausformung der Trittsiegel auf die polsterartige Sohle der heutigen Elefanten. Die Trittsiegel von Pehuén-Có werden der Spurengattung Proboscipeda zugeordnet, als deren Synonym fungiert Stegomastodonichnum. Die Größe der Fußspuren lässt auf ein Rüsseltier von den Ausmaßen des Asiatischen Elefanten schließen, was in etwa mit Notiomastodon übereinstimmt.
Parasiten und Pathologien
An einzelnen Backenzähnen von Notiomastodon konnte Zahnstein festgestellt werden, der auf Bakterien in der Mundhöhle zurückgeht. Dies tritt auch bei heutigen Elefanten auf, zeigt aber, dass diese teils parasitären Beziehungen schon bei den Gomphotherien bestanden. Innerhalb der Rüsseltiere ist es der derzeit älteste Beleg. Des Weiteren weisen verschiedene Wirbel von Notiomastodon pathologische Veränderungen in Form von Asymmetrien, Deformationen oder Durchlöcherungen auf. Sie werden unter anderem auf Arthrose zurückgeführt, verursacht etwa durch Defizite im Nähr- und Mineralstoffhaushalt. Engpässe in einer ausreichenden Versorgung mit Nahrung könnten Überlegungen zufolge vor allem im Ausklang der letzten Kaltzeit mit rasch wechselnden Klima- und Umweltverhältnisse bestanden haben.
Systematik
Notiomastodon ist eine Gattung aus der ausgestorbenen Familie der Gomphotheriidae innerhalb der Ordnung der Rüsseltiere (Proboscidea). Als relativ erfolgreiche und langlebige Ordnungsgruppe sind die Rüsseltiere bereits im ausgehenden Paläozän fassbar. Ihr Ursprung liegt in Afrika, sie erreichten im Verlauf ihrer Stammesgeschichte eine große Vielfalt und weite Verbreitung sowohl in der Alten als auch in der Neuien Welt. Es lassen sich dabei mehreren Radiationsphasen unterscheiden. Die Gomphotherien gehören in die zweite Phase, die im Unteren Miozän einsetzte. Generelles Kennzeichen aller (echten) Gomphotherien ist die Ausbildung von drei quergestellten Leisten auf dem ersten und zweiten Molar (trilophodonte Gomphotherien; modernere Formen mit vier Leisten werden mitunter als tetralophodonte Gomphotherien bezeichnet, stehen aber nicht mehr innerhalb diese Familie). Wie die heutigen Elefanten verfügten die Gomphotherien über einen horizontalen Zahnwechsel und gehören dadurch zur gegenüber ihren Vorfahren moderneren Gruppe der Elephantimorpha. Beim horizontalen Zahnwechsel werden im Gegensatz zu dem für die meisten Säugetiere üblichen vertikalen Zahnwechsel, bei dem alle Zähne des Dauergebisses gleichzeitig zur Verfügung stehen, die einzelnen Backenzähne nacheinander hervorgeschoben. Er entstand durch die Kürzung des Unterkiefers im Verlauf der Evolution der Rüsseltiere und ist erstmals bei Eritreum im ausgehenden Oligozän vor rund 28 Millionen nachweisbar. Im Unterschied zu den heutigen Elefanten besaßen die Gomphotherien aber noch einige urtümliche und abweichende Merkmale. Dazu zählen etwa ein prinzipiell flacherer Schädel, die Ausbildung von Stoßzähnen sowohl in der oberen als auch in der unteren Zahnreihe sowie Backenzähne mit einer geringeren Anzahl an Leisten und einem höckerigen Kauflächenmuster. Aus diesem Grund werden die Gomphotherien häufig auch in eine eigene Überfamilie, die Gomphotherioidea gestellt, die den Elephantoidea mit ihren heutigen Vertretern gegenübersteht. Manchmal gelten sie aber auch als Mitglieder der Elephantoidea. Insgesamt bilden die Gomphotherien eine der erfolgreichsten Gruppen der Rüsseltiere, die über den langen Zeitraum ihres Bestandes zahlreiche Veränderungen durchliefen. Diese schließen eine substantielle allgemeine Größenzunahme, speziell auch der Stoß- und Mahlzähne, sowie eine zunehmende Komplexität der Backenzähne ein.
Die Gomphotherien sind erstmals im ausgehenden Oligozän in Afrika belegt und gehören zu den ersten Vertretern, die den Kontinent nach der Schließung der Tethys und der Entstehung der Landbrücke nach Eurasien im Übergang zum Miozän verließen. Dabei erreichten unter anderem Gomphotherium im Verlauf des Miozän vor rund 16 Millionen Jahren über die Beringstraße kommend auch Nordamerika, in Mittelamerika sind sie erstmals im ausgehenden Miozän vor rund 7 Millionen Jahren nachweisbar. Südamerika betraten die Gomphotherien im Zuge des Großen Amerikanischen Faunenaustauschs vor rund 3,5 bis 2,5 Millionen Jahren. Die südamerikanischen Gomphotherien unterscheiden sich von ihren Verwandten in Eurasien und Nordamerika durch ihr vergleichsweise kurzes Rostrum (brevirostrine Gomphotherien) und höher aufgewölbten Schädel. Darüber hinaus waren nur im oberen Gebiss Stoßzähne ausgebildet. Die zwei aus Südamerika bekannten Gattungen (Notiomastodon und Cuvieronius) bilden zusammen mit ihrem nordamerikanischen Verwandten (Stegomastodon) eine monophyletische Gruppe, die die Unterfamilie der Cuvieroniinae repräsentiert, teilweise werden die genannten Formen auch gemeinsam mit Rhynchotherium in eine größere Gruppe namens Rhynchotheriinae eingebettet. Einige Forscher teilen die Meinung, dass Cuvieronius ein direkter Nachfolger von Rhynchotherium ist, was sich in den hochspezialisierten oberen Stoßzähnen ausdrückt, welche von einem Zahnschmelzband spiralig umschlossen sind. Notiomastodon würde dann wiederum direkt von Cuvieronius abstammen. Unterstützung fand diese Ansicht durch die Erkenntnis, dass Jungtiere von Cuvieronius im Gegensatz zu ausgewachsenen Individuen noch über untere Stoßzähne verfügen, während bei Rhynchotherium die Unterkieferstoßzähne in allen Lebensstadien vorkommen. Unberücksichtigt dieser jüngeren Entwicklung sind die Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der kurzschnauzigen Gomphotherien weitgehend ungeklärt. Problematisch ist hier vor allem Sinomastodon, eine Form aus Ostasien mit ähnlichen Skelettmerkmalen wie die südamerikanischen Gomphotherien. In mehreren phylogenetischen Untersuchungen bildet Sinomastodon eine Einheit mit Stegomastodon, Cuvieronius und Notiomastodon, wobei seine Präsenz in Ostasien durch Rückwanderung aus den amerikanischen Verbreitungsgebieten interpretiert wird. Aufgrund der geographischen Isolierung von den amerikanischen Gattungen stellen chinesische Wissenschaftler die Form in die eigene Unterfamilie der Sinomastodontinae. Manche Autoren sehen aufgrund fehlender Zwischenformen die Ähnlichkeiten zwischen Sinomastodon und den südamerikanischen Gomphotherien nur als konvergente Bildung an.
Die angenommenen Verwandtschaftsverhältnisse bei den ausgestorbenen Rüsseltieren basieren wie bei vielen nur fossil überlieferten Säugetiergruppen auf skelettanatomischen Merkmalen. Erst seit den 2000er Jahren spielen zunehmend auch molekulargenetische und biochemische Analyseverfahren eine größere Rolle. Bei den Rüsseltieren wurden neben dem Wollhaarmammut (Mammuthus primigenius), dem Präriemammut (Mammuthus columbi) und dem Europäischen Waldelefanten (Palaeoloxodon antiquus) aus der Familie der Elefanten auch das Amerikanische Mastodon (Mammut americanum) aus der Familie der Mammutidae bisher sequenziert. Notiomastodon ist der momentan einzige Vertreter der Gomphotherien, von dem biochemische sowie genetische Daten im Vergleich vorliegen. Im Gegensatz zu dem anatomisch vermuteten näheren Verwandtschaftsverhältnis zu den Elefanten ergab sich laut einer Kollagen-Studie aus dem Jahr 2019 jedoch eine engere Bindung zu den Mammutiden. Genetische Analysen aus dem Jahr 2021 stimmen demgegenüber wieder stärker mit den anatomischen Befunden überein. Neben der abweichenden phylogenetischen Position ist dabei gegenwärtig unklar, ob die Ergebnisse auf die gesamte Gruppe der Gomphotherien übertragen werden können.
Innerhalb der Gattung ist eine Art anerkannt:
N. platensis (Ameghino, 1888)
Im Laufe der Forschungsgeschichte wurden mehrere andere Formen beschrieben, die teilweise mit Notiomastodon (N. ornatus), teilweise auch mit Haplomastodon (H. waringi, H. chimborazi) in Verbindung stehen, heute aber als synonym zu N. platensis aufgefasst werden.
Stammesgeschichte
Ursprünge
Das Erscheinen der Gomphotherien in Südamerika ist mit dem Großen Amerikanischen Faunenaustausch verbunden. Dieser setzte im Pliozän vor rund 3,5 Millionen Jahren ein, als sich der Isthmus von Panama schloss und so eine feste Landverbindung zwischen Nord- und Südamerika entstand. Der Faunenaustausch wirkte in beide Richtungen, so dass etwa riesige Faultiere und Glyptodonten oder Südamerikanische Huftiere nach Norden gelangten, während Raubtiere und Paarhufer, aber eben auch Rüsseltiere sich mit der bis dahin endemischen Fauna Südamerikas durchmischten. Der älteste Nachweis von Rüsseltieren aus Südamerika liegt aus dem mittleren Abschnitt der Uquía-Formation im nordwestlichen Argentinien vor. Er datiert auf ein Alter von rund 2,5 Millionen Jahre. Die Funde dort, fragmentierte Wirbelreste, sind aber momentan keiner bestimmten Gattung zuweisbar. Wann es zur Herausdifferenzierung von Notiomastodon kam ist bisher unbekannt. In Mittelamerika sind keine eindeutigen Funde der Gattung belegt. Hier trat Cuvieronius erstmals vor rund 7 Millionen Jahren in Erscheinung. Häufig wird angenommen, dass die Gomphotherien in zwei unabhängigen Besiedlungswellen Südamerika erschlossen. Cuvieronius nutzte dabei einen westlichen Korridor über die Anden, Notiomastodon hingegen einen östlichen entlang der Atlantikküste und den Tiefländern. Es ist allerdings möglich, dass die Besiedlung Südamerikas deutlich komplexer verlief, da Cuvieronius in Mittelamerika keine strikte Bindung an Hochlagen zeigt, sondern hier auch in Tiefländern nachweisbar ist. Als ältester Beleg von Notiomastodon in Südamerika gelten momentan einzelne Zähne vom Kontinentalschelf vor der Küste des brasilianischen Bundesstaates Rio Grande do Sul, die radiometrisch auf rund 464.000 Jahre datiert wurden und somit dem Mittleren Pleistozän angehören. Der weitaus größte Teil der Funde von Notiomastodon gehört dem ausgehenden Mittleren und dem Oberen Pleistozän an. Die zentralchilenischen Verbreitungsgebiete erreichte Notiomastodon möglicherweise relativ spät, entweder über eine Route aus der Pamparegion im Osten über niedrig gelegene Talabschnitte der Anden oder vom Tiefland des Amazonas weiter im Norden kommend. Möglicherweise erfolgte dies während wärmerer Phasen der letzten Kaltzeit, als der Eisschild Patagoniens weniger stark ausgedehnt war. Im nördlichen Südamerika könnte als ein möglicher Migrationskorridor durch die Anden das breite Tal des Río Cauca in Kolumbien gedient haben, wie einige Fossilfunde dort zeigen. Die Fundstellen liegen in Höhen von 900 bis 1400 m über dem Meeresspiegel und machen eine Passage in zumindest klimatisch begünstigten Phasen wahrscheinlich.
Aussterben
In der Spätphase der stammesgeschichtlichen Entwicklung trat Notiomastodon gemeinsam mit den ersten menschlichen Jäger-und-Sammler-Gruppen in Südamerika auf. Hinweise dafür finden sich unter anderem in einigen Felszeichnungen, die elefantenartige Tiere darstellen. Große Bedeutung hat hierbei Serranía La Lindosa, ein rund 20 km² großes felsiges Gebiet im zentralen Kolumbien. Die in rot gehaltenen Malereien, deren Alter bei rund 12.600 bis 11.800 Jahre vor heute liegt, zeigen verschiedene Vertreter der ehemaligen Großtierfauna Südamerikas, darunter riesige Faultiere, Südamerikanische Huftiere, Pferde und Kamele. Eine Darstellung scheint ein Tier mit aufragendem Rüssel, aufgestellten Ohren und einem relativ flach aufgewölbten Kopf zu repräsentieren. Hierbei könnte es sich durchaus um eine Wiedergabe von Notiomastodon handeln, das nach heutiger Auffassung damals das einzige Rüsseltier in den Tiefländern Südamerikas war.
Ähnlich wie andere Großsäugetiere verschwand die Rüsseltierform dann im Zuge der quartären Aussterbewelle, deren genauen Ursachen Gegenstand eines unabgeschlossenen, teilweise kontrovers geführten, wissenschaftlichen Diskurses sind. Ob die Paläoindianer durch aktive Jagd eine maßgebliche Rolle für das Aussterben von Notiomastodon spielten, ist bisher unklar. In einzelnen Regionen wie etwa der Pampa war Notiomastodon schon vor dem ersten Auftreten des Menschen weitgehend verschwunden. Insgesamt gibt es weit weniger als ein Dutzend Fundstellen in Südamerika, an denen die Rüsseltiergattung mit menschlichen Hinterlassenschaften vergesellschaftet vorkommt. Diese verteilen sich auf das nördliche und südwestliche Südamerika, in der gesamten Pamparegion ist momentan kein einziger Fundplatz mit einem gemeinsamen Auftreten von Rüsseltier und Mensch bekannt. Tatsächliche Belege für eine aktive Jagd liegen dadurch nur wenige vor. Zu den bedeutendsten gehören die Funde aus Taima taima in der Küstenzone des nordzentralen Venezuelas. Hier wurde in einem Skelett von Notiomastodon eine Projektilspitze vom Typ El Jobo gefunden, zusätzlich barg der Fundplatz noch Reste des großen Bodenfaultiers Glossotherium. Das Alter der Funde datiert um etwa 13.000 Jahre vor heute. Teilweise werden auch die mit 11.900 Jahren vor heute etwas jüngeren Funde von Monte Verde im zentralen Chile mit menschlicher Jagd in Verbindung gebracht. Die Stücke hier sind aber teils stark fragmentiert und beschränken sich häufig auf Zähne und Stoßzahnteile sowie einzelne Skelettelemente, so dass manche Autoren annehmen, dass die Rüsseltierreste von anderweitig gelegenen Kadavern abstammen und eingetragen wurden. Für eine aktive Bejagung hingegen könnte ein Schädel eines Kalbes aus dem Höhlenkomplex von Lagoa Santa im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais sprechen. In den Schädel eingebettet war ein 12,9 cm zugespitzter Stab aus organischem Material, der als Projektilspitze oder Perforator gedeutet wird. Der Fund ist nicht genau datiert, gehört aber wahrscheinlich in den Übergang vom Pleistozän zum Holozän. Die bisher jüngsten gemessenen Daten für Notiomastodon besitzen Alterswerte von 11.740 bis 11.100 Jahre vor heute und wurden aus Quereo im zentralen Chile, aus Itaituba am Rio Tapajós im zentralen Brasilien und aus Tibitó in Kolumbien gewonnen, an letzterer sind die Rüsseltierreste mit rund drei Dutzend Steingeräten assoziiert. Noch jünger könnte ein Schädel aus Taguatagua wiederum in Chile sein, dessen Alter mit 10.300 Jahre vor heute beziffert wird. Andererseits mahnen verschiedene Wissenschaftler für einzelne Fundstellen mit Funddaten im Unteren Holozän wie bei Quebrada Ñuagapua in Bolivien eine Überprüfung an.
Forschungsgeschichte
Frühe Rüsseltierforschung in Südamerika
Traditionell wurden in Südamerika mehrere Vertreter der spätpleistozänen Gomphotherien unterschieden. Zu diesen gehört einerseits die Hochlandform Cuvieronius aus den Anden, dessen Stellung unangezweifelt ist, andererseits schließen sie auch verschiedene Flachlandvertreter wie Haplomastodon und Notiomastodon ein. Hinzu kommt Stegomastodon, das eigentlich eine nordamerikanische Verbreitung besaß. Die Beziehungen der drei letztgenannten Gattungen zueinander sowie ihre jeweilige Eigenständigkeit oder Synonymität wird bis heute kontrovers diskutiert. Die Erforschung der südamerikanischen Rüsseltiere begann mit den Expeditionen Alexander von Humboldts im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhunderts. Aus dessen Fundsammlung veröffentlichte Georges Cuvier im Jahr 1806 zwei Zähne, von denen einer aus der Umgebung des Vulkans Imbabura bei Quito in Ecuador, der andere aus Concepción in Chile stammte. Cuvier legte zwar keine heute gültigen Artnamen fest, verwies ersteren Zahn aber zu „Mastodonte des cordilléres“ und letzteren zu „Mastodonte humboldien“. Gotthelf Fischer von Waldheim prägte dann im Jahr 1814 die ersten wissenschaftlichen Artnamen südamerikanischer Rüsseltiere, indem er Cuviers „Mastodonte des cordilléres“ in Mastotherium hyodon und „Mastodonte humboldien“ in Mastotherium humboldtii umbenannte. Cuvier selbst verwies 1824 beide Arten in die heute nicht mehr anerkannte Gattung „Mastodon“, schuf aber mit „Mastodon“ andium eine neue Artbezeichnung für die ecuadorianischen Funde (die chilenischen Funde stellte er zu „Mastodon“ humboldtii). Aus heutiger Sicht besitzen beide Zähne keine spezifisch diagnostischen Merkmale, die sie einer bestimmten Art zuordnen lassen. In der Folgezeit stiegen die Fossilfunde sukzessive an, was Florentino Ameghino im Jahr 1889 veranlasste, in einem umfangreichen Werk zu den ausgestorbenen Säugetieren Argentiniens einen ersten Überblick über die Rüsseltiere zu geben. Hierin führte er mehrere Arten auf, die er alle analog zu Cuvier zu „Mastodon“ ordnete. Neben den bereits von Cuvier und Fischer kreierten Arten erwähnte Ameghino auch einige neue, darunter „Mastodon“ platensis, welche er bereits ein Jahr zuvor etabliert hatte und dessen Beschreibung auf einem Stoßzahnfragment aus San Nicolás de los Arroyos in der argentinischen Provinz Buenos Aires beruhte (Exemplarnummer MLP 8-63). Henry Fairfield Osborn nutzte 1923 „Mastodon“ humboldtii um die Gattung Cuvieronius wissenschaftlich einzuführen (sein 1926 geprägter Gattungsname Cordillerion unter Berufung auf „Mastodon“ andium gilt heute als identisch mit Cuvieronius). Vierzig Jahre nach Ameghino revidierte Ángel Cabrera die südamerikanischen Rüsseltierfunde. Dabei benannte er die Gattung Notiomastodon und wies ihr die neue Art Notiomastodon ornatus zu, die er auf einem Unterkiefer und wiederum auf ein Stoßzahnfragment aus Playa del Barco bei Monte Hermosa ebenfalls in der Provinz Buenos Aires begründete (Exemplarnummer MACN 2157). Ameghinos „Mastodon“ platensis hingegen ordnete er Stegomastodon zu und setzte die Art mit einigen von Ameghinos älteren Bezeichnungen gleich. Die Gattung Stegomastodon geht auf Hans Pohlig aus dem Jahr 1912 zurück, der diese auf Unterkieferfunde aus Nordamerika bezog.
Im weiter nördlicheren Bereichen Südamerikas entdeckte Juan Felix Proaño im Jahr 1894 ein nahezu vollständiges Skelett bei Quebrada Chalán nahe Punin in der ecuadorianischen Provinz Chimborazo. Das Skelett veranlasste ihn im Jahr 1922 die Form „Masthodon“ chimborazi aufzustellen. Es ging aber dann im Jahr 1929 gemeinsam mit einem im Jahr zuvor bei Quebrada Callihuaico nahe Quito geborgenen Skelett bei einem Brand an der Universität von Quito nahezu verloren. Einzelne von dem Skelett aus Quebrada Chalán nach dem Brand noch erhalten gebliebene Knochen wie der rechte und linke Oberarmknochen nutzte dann Robert Hoffstetter im Jahr 1950, um Haplomastodon einzuführen, das er als Untergattung von Stegomastodon auswies. Als Typusart nahm er Haplomastodon chimborazi an (Exemplarnummern MICN-UCE-1981 und 1982; im Jahr 1995 wurden von Giovanni Ficcarelli und Forscherkollegen ein Neotypus mit den Exemplarnummer MECN 82 bis 84 aus Quebrada Pistud in der ecuadorianischen Provinz Carchi festgelegt, welcher ebenfalls ein vollständiges Skelett umfasst). Nur zwei Jahre später hob Hoffstetter Haplomastodon auf Gattungsebene, als hauptsächliches Kriterium zur Unterscheidung der beiden Gattungen führte er das Fehlen von quergerichteten Öffnungen am Atlas (erster Halswirbel) bei Haplomastodon an. Innerhalb der Gattung unterschied er gleichzeitig zwei Untergattungen, Haplomastodon und Aleamastodon, die im Fehlen und Vorkommen derartiger Knochenöffnungen auch am Axis voneinander abwichen.
Stegomastodon, Notiomastodon und Haplomastodon
Seit der Etablierung von Stegomastodon durch Pohlig 1912, Notiomastodon durch Cabrera 1929 und Haplomastodon als eigenständige Gattung durch Hoffstetter 1952 gab es eine vielfache Diskussion über die Gültigkeit der drei Formen. Noch 1952 hatte Hoffstetter Haplomastodon auf das nordwestliche Südamerika beschränkt, für die restlichen Funde, etwa aus Brasilien, bevorzugte er eine Stellung innerhalb von Stegomastodon. Dies wurde durch George Gaylord Simpson und Carlos de Paula Couto im Jahr 1957 in ihrem umfangreichen Werk Mastodonts of Brazil neu geordnet. Hier verwiesen die beiden Autoren alle brasilianischen Fossilfunde zu Haplomastodon. Die beiden anderen Gattungen Notiomastodon und Stegomastodon hingegen sahen sie weiter südlich in der Pamparegion verbreitet. Die von Hoffstetter zur Unterscheidung von Haplomastodon gegenüber Stegomastodon angebrachten Merkmale der quergerichteten Foramina am ersten Halswirbel erwiesen sich nach den Untersuchungen von Simpson und Paula Couto als sehr variabel, sogar innerhalb eines einzelnen Individuums. Beide hoben daher als diagnostisches Merkmal von Haplomastodon im Vergleich zu Notiomastodon und Stegomastodon die stärker nach oben gekrümmten Oberkieferstoßzähne hervor, die keine Umhüllung aus Zahnschmelz aufweisen. Die Typusart bezeichneten Simpson und Paula Couto mit Haplomastodon waringi. Die Artbezeichnung geht auf „Mastodon“ waringi zurück, ein Taxon, welches William Jacob Holland im Jahr 1920 eingeführt hatte. Grundlage dafür bildete ein stark fragmentierter Unterkiefer aus Pedra Vermelha im brasilianischen Bundesstaat Bahia, aufgrund der früheren Benennung hatte sie nach Meinung von Simpson und Paula Couto und in Übereinstimmung mit der Nomenklaturregel der ICZN Vorrang vor Haplomastodon chimborazi. An der Plausibilität der Artbezeichnung wurde aber häufig Kritik geübt, auch von Hoffstetter selbst, da das Typusmaterial aus Brasilien aufgrund des Erhaltungszustandes wenig aussagekräftig ist. Andere Autoren folgten dieser Auffassung und hielten Haplomastodon chimborazi für die valide Nominatform (allerdings wurde im Jahr 2009 das Taxon „Mastodon“ waringi von der ICZN aufgrund der vielfachen Nennung in der wissenschaftlichen Literatur konserviert).
Im Jahr 1995 synonymisierten María Teresa Alberdi und José Luis Prado Notiomastodon mit Stegomastodon und stellten die Art Stegomastodon platensis heraus. Im gleichen Zug setzten sie auch Haplomastodon mit Stegomastodon gleich und benannten die Art mit Stegomastodon waringi. Nach dieser Ansicht bestand zu dieser Zeit mit Stegomastodon nur eine Gattung der Gomphotherien in den südamerikanischen Flachlandregionen. Im Jahr 2008 sprach sich dagegen Marco P. Ferretti für eine eigenständige Stellung von Haplomastodon aus, bezweifelte aber gleichzeitig die Eigenständigkeit von Notiomastodon gegenüber Stegomastodon. Nur zwei Jahre später legte er eine umfangreiche Arbeit zur Skelettanatomie von Haplomastodon vor, in der er die Form deutlich von Stegomastodon absetzte und ihr eine Mittelstellung zwischen diesem und Cuvieronius in den südamerikanischen Anden gab. Etwa im gleichen Zeitraum kamen Spencer George Lucas und Forscherkollegen zu einem ähnlichen Schluss, vor allem nachdem sie ein nahezu vollständiges Skelett von Stegomastodon aus dem mexikanischen Bundesstaat Jalisco untersucht hatten und feststellten, dass die Gattung aufgrund eines abweichenden Bewegungsapparates von den südamerikanischen Gomphotherien abzutrennen sei. Von Notiomastodon setzten sie Haplomastodon durch eine komplexere Kauoberfläche der Backenzähne bei ersterem ab. Demnach lebten wenigstens zwei Gattungsvertreter der Gomphotherien in den Tieflandsgebieten Südamerikas. Ein abweichendes Ergebnis erbrachten dann die Analysen eines Forscherteams um Dimila E. Mothé Anfang der 2010er Jahre. Dieses stellte nach der Untersuchung von zahlreichem Rüsseltiermaterial aus Südamerika fest, dass neben Cuvieronius aus dem Andengebiet nur eine weitere Gattung in Südamerika während des späten Pleistozäns vorkam. Diese zeigte aber ihrer Auffassung nach im Bezug auf die Schädel- und Gebissmorphologie eine hohe Variabilität, etwa bei der Gestaltung der Stoßzähne und der Backenzähne. Der Prioritätsregel der ICZN folgend ist der gültige, da zuerst vergebene Gattungsname dieses Gomphotherienvertreters Notiomastodon, die einzige eingeschlossene Art ist mit Notiomastodon platensis zu benennen. Die Ansicht wurde in der Folgezeit mehrfach wiederholt, zudem stellten Mothé und Forscherkollegen durch umfangreiche zahn- und skelettmorphologische Analysen heraus, dass Stegomastodon deutlich von Notiomastodon abwich und auf Nordamerika beschränkt war. Später übernahm auch Spencer George Lucas die Auffassung.
Amahuacatherium
Problematisch ist die Gattung Amahuacatherium, die im Jahr 1996 von Lidia Romero-Pittman anhand eines Unterkieferfragmentes und zwei isolierten Molaren aus der Region Madre de Dios im südöstlichen Peru beschrieben worden war. Die Funde kamen in der Ipururo-Formation zu Tage, welche entlang des Río Madre de Dios aufgeschlossen ist. Ein zusammen mit den Funden entdecktes Teilskelett ging allerdings bei einer heftigen Flut verloren. Als besondere Merkmale von Amahuacatherium hob die Autorin den kurzen Unterkiefer mit Alveolen für rudimentäre Stoßzähne und Molaren mit einem moderat komplexen Kauflächenmuster hervor. Das Alter der Sedimentschichten mit den Fossilresten wird auf rund 9,5 Millionen Jahren geschätzt, was dem Oberen Miozän entspricht. Damit wäre Amahuacatherium eines der ersten Säugetiere, das noch vor dem Großen Amerikanischen Faunenaustausch, der erst rund sechs Millionen Jahre später einsetzte, von Nord- nach Südamerika gelangte. Außerdem wären die Funde weitaus älter als die nächstältesten Belege von Gomphotherien sowohl in Mittel- als auch Südamerika, die 7 beziehungsweise 2,5 Millionen Jahre alt sind. Nur wenige Jahre später meldeten verschiedene Autoren Zweifel an der Gattung und Alterstellung an. So wurden die Molaren als kaum unterscheidbar zu anderen südamerikanischen Gomphotherien und die Präsenz von Alveolen für die Unterkieferstoßzähne als Fehlinterpretation von mandibulären Hohlräumen angesehen. Auch ließ sich das geologische Alter aufgrund der komplexen stratigraphischen Gegebenheiten nur schwer ermitteln. Andere Wissenschaftler schlossen sich der Meinung an, zudem stellten erneute Zahnuntersuchungen im Vergleich zu anderen südamerikanischen Funden keine signifikanten Unterschiede zu Notiomastodon heraus.
Literatur
Marco P. Ferretti: Anatomy of Haplomastodon chimborazi (Mammalia, Proboscidea) from the late Pleistocene of Ecuador and its bearing on the phylogeny and systematics of South American gomphotheres. Geodiversitas 32 (4), Florenz 2010, S. 663–721, doi:10.5252/g2010n4a3
Dimila Mothé, Leonardo dos Santos Avilla, Lidiane Asevedo, Leon Borges-Silva, Mariane Rosas, Rafael Labarca-Encina, Ricardo Souberlich, Esteban Soibelzon, José Luis Roman-Carrion, Sergio D. Ríos, Ascanio D. Rincon, Gina Cardoso de Oliveira und Renato Pereira Lopes: Sixty years after ‘The mastodonts of Brazil’: The state of the art of South American proboscideans (Proboscidea, Gomphotheriidae). Quaternary International 443, 2017, S. 52–64
Dimila Mothé, Marco P. Ferretti und Leonardo S. Avilla: Running Over the Same Old Ground: Stegomastodon Never Roamed South America. Journal of Mammalian Evolution 26 (2), 2019, S. 165–177
Einzelnachweise
Weblinks
Rekonstruktionsinterpretation von Haplomastodon durch Dimitri Bogdanov
Rüsseltiere
Ausgestorbenes Rüsseltier
Proboscidea |
7066640 | https://de.wikipedia.org/wiki/Fu%C3%9Fballauswahl%20des%20FLN | Fußballauswahl des FLN | Die Fußballauswahl des FLN (auch als „Unabhängigkeitself“, französisch Onze de l’indépendance, bezeichnet; ) war eine Mannschaft, die im Auftrag der algerischen Unabhängigkeitsbewegung Front de Libération Nationale (FLN) Fußballspiele austrug, um als „Botschafter der algerischen Nation“ die Selbständigkeit der französischen Kolonie zu propagieren und für internationale Unterstützung zu werben. Das Team bestritt während des Algerienkrieges zwischen 1958 und 1962 in Osteuropa, Asien und Afrika etwa 80 Begegnungen, wobei es sportlich sehr erfolgreich war. Es setzte sich aus Spielern zusammen, die bis unmittelbar vor seiner Gründung größtenteils in der professionellen Première Division des „Mutterlandes“ Frankreich, vereinzelt auch bei nordafrikanischen Vereinen tätig waren. Nachdem Algerien die Unabhängigkeit erlangt hatte, arbeiteten zahlreiche seiner rund 30 Mitglieder als Spieler, Trainer oder Funktionäre im 1963 gegründeten algerischen Fußballverband mit; in die französischen Profiligen kehrte nur eine Minderheit von ihnen zurück. Wegen dieser personellen Kontinuität gilt die FLN-Auswahl als legitimer Vorgänger der Fennecs, der offiziellen Nationalmannschaft des Landes, als die sie zahlreiche Algerier auch damals schon ansahen.
Historischer Hintergrund
Algerien war seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Teil der französischen Kolonialbesitzungen in Nordafrika; da es Hauptziel der Immigration von Festlandsfranzosen – aber auch zahlreicher Spanier und Italiener – war, wurde das Gebiet politisch und verwaltungsmäßig zunehmend enger an Frankreich angebunden. Die an der Mittelmeerküste gelegenen Siedlungskerne Algier, Oran, Constantine und Bône wurden zu Hauptorten und Präfektursitzen von vier Départements, die als „französisches Algerien“ (Algérie française) integraler Bestandteil des französischen Staates waren. Innerhalb der algerischen Gesellschaft dominierten die Angehörigen der europäischen Einwanderer, in Frankreich als Algerienfranzosen bzw. Pieds-Noirs („Schwarzfüße“) bezeichnet; auch die Zivilverwaltung und die Besatzungsarmee standen fest unter europäischer Kontrolle.
Die „Nationale Befreiungsfront“ FLN war die aus der paramilitärischen Organisation Spéciale (OS) von 1947 und dem Comité révolutionnaire d'unité et d'action (CRUA) von 1954 entstandene Nachfolgeorganisation, die einen Plan für den Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich ausarbeiten und dabei die strukturellen und strategischen Fehler der vorangegangenen Jahre vermeiden wollte.
Wenngleich der Beginn des Algerienkriegs bereits auf 1954 zu datieren ist, nahmen die militärischen Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Kräften des einheimischen FLN und der französischen Armee nach der Schlacht von Algier (1957) eine neue Qualität an. Die Brutalität der „antirevolutionären Kriegführung“ unter General Salan und die Repressionsmaßnahmen der Verwaltungsorgane verstärkten die Unterstützung weiter Teile der Bevölkerung für den FLN. Der Konflikt wirkte sich auf alle Lebensbereiche aus: so explodierte am 10. Februar 1957 unter anderem eine Bombe im Fußballstadion von El Biar und tötete acht Fans, woraufhin französische Zuschauer drei Algerier lynchten. Überlagert wurde dieser Kolonialkrieg von einem blutigen „Bruderkonflikt“ zwischen dem FLN und dem Mouvement National Algérien (MNA) unter Messali Hadj, der hauptsächlich in Frankreich selbst ausgetragen wurde. So tötete ein FLN-Mitglied den wegen seiner moderaten Haltung als „Verräter“ bezeichneten Nationalversammlungsabgeordneten Ali Chekkal am 26. Mai 1957, während dieser auf der Haupttribüne des Pariser Olympiastadions an der Seite von Staatspräsident René Coty dem französischen Pokalfinale beiwohnte.
Der auch für Frankreich schmerzhafte Prozess der Entkolonialisierung als Folge des Indochinakriegs – von der militärischen Niederlage in Vietnam (1954) über die Unabhängigkeit Marokkos und Tunesiens hin zur Suezkrise (1956) – beschleunigte das Ende der Vierten Republik; am 1. Juni 1958 wurde Charles de Gaulle zum Ministerpräsidenten mit außerordentlichen Vollmachten gewählt. Ende 1958 scheiterte eine UN-Resolution zugunsten der algerischen Unabhängigkeit noch knapp an der erforderlichen Zweidrittelmehrheit (35:18 bei 28 Enthaltungen); zwei Jahre später hingegen wurde ein entsprechender Beschluss gefasst (63:8 bei 27 Enthaltungen). Im September 1959 kündigte de Gaulle an, Algerien die Selbstbestimmung zu gewähren; ab Juni 1960 begannen Verhandlungen mit Vertretern der provisorischen Regierung Algeriens in Melun. Auch wenn es dagegen sowohl in Frankreich als auch bei Teilen insbesondere der nicht-arabischen Bevölkerung Algeriens erhebliche Widerstände gab – beispielsweise bildete sich im Januar 1961 die prokoloniale Untergrundorganisation OAS, die erstmals im April des Jahres gegen de Gaulles Politik putschte –, schritt dieser Prozess voran.
Mit dem Inkrafttreten der Verträge von Évian nach positivem Ausgang der Referenden in Frankreich (8. April 1962, 91 % Ja-Stimmen) und Algerien (3. Juli 1962, 99,7 %) endete die französische Herrschaft; dies war auch der Zeitpunkt, zu dem die Fußballauswahl des FLN aufgelöst wurde. An ihre Stelle trat die algerische Nationalmannschaft, die im Januar 1963 ihr erstes offizielles Länderspiel bestritt, nachdem der nationale Fußballverband Fédération Algérienne de Football in den Weltfußballverband FIFA aufgenommen worden war.
Algerier im französischen Berufsfußball
Der Fußball gehörte in Algerien bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu den bevorzugten Sportarten, und das nicht nur bei den europäischen Einwanderern, sondern auch in der autochthonen Bevölkerung. So gab es 1934 in den algerisch-französischen Départements mehr registrierte Spieler als im Großraum Paris. Schon seit dem Ersten Weltkrieg waren zahlreiche Fußballer aus Nordafrika von den großen Vereinen Frankreichs verpflichtet worden. Olympique Marseille etwa galt in den 1930er Jahren als „Filiale Algeriens“, wofür spätere Nationalspieler wie Joseph Alcazar, Emmanuel Aznar, Abdelkader Ben Bouali und Mario Zatelli als bekannteste Beispiele stehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bedienten sich Frankreichs Profiklubs verstärkt im Maghreb; wie schon in den 1930er Jahren zog es die neu Verpflichteten ganz überwiegend zu südfranzösischen Vereinen, und in der Mehrzahl handelte es sich um Offensivspieler. Dass Nordafrikaner als französische Staatsangehörige galten, erleichterte den Klubs die Einhaltung der vom Verband vorgeschriebenen Beschränkung auf anfänglich zwei Ausländer pro Mannschaft. Dazu kam, dass sie ihnen in der Regel weniger bezahlen mussten und dafür qualitativ mindestens gleichwertige Spieler bekamen: 1954 schlug eine Nordafrika-Auswahl Frankreichs A-Nationalelf im Pariser Prinzenparkstadion mit 3:2, wobei mit Abderrahman Mahjoub und Abdelaziz Ben Tifour zwei Maghrebiner den blauen Dress der Franzosen trugen, während der französische Nationalspieler Larbi Ben Barek als Kapitän der Nordafrika-Auswahl fungierte. Auch die Tatsache, dass der bescheidene algerische Amateurligist SCU El Biar die zu europäischer Bedeutung aufgestiegene und in Bestbesetzung angetretene Erstligaelf von Stade Reims 1957 aus dem französischen Pokalwettbewerb zu eliminieren vermochte, ist ein Indiz für die Existenz eines beachtlichen Talentreservoirs an der Südküste des Mittelmeeres.
Von den 40 nordafrikanischen Spielern, die zwischen 1945 und 1955 in Frankreich unter Vertrag genommen wurden, waren 23 Algerier. 1956 und 1957 nahm ihre Zahl stark zu, um ab 1958 rapide zurückzugehen (siehe Tabelle rechts). Hingegen wurden, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, Fußballer aus den frankophonen Teilen Subsahara-Afrika, insbesondere Französisch-Westafrika, erst ab Mitte der 1950er verpflichtet und machten erst ab Mitte der 1960er mehr als ein Drittel aller ausländischen Spieler aus.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind es eher die algerischstämmigen Angehörigen der zweiten und dritten Immigrantengeneration wie Zinédine Zidane oder, noch aktueller, Samir Nasri und Karim Benzema, die die Bedeutung Algeriens für den französischen Profifußball veranschaulichen. Erstligaspieler, die ausschließlich die algerische Staatsbürgerschaft besaßen und von einem dortigen Verein kamen, gab es 1991 lediglich noch zwei. Auch diese gegenwärtigen Beispiele bestätigen allerdings, dass die beiden obigen Aussagen über die frühen Jahre weiterhin zutreffen, wonach das algerische Erbe vor allem im südlichen Frankreich und, fußballerisch, im Offensivbereich anzutreffen ist.
Entstehung des FLN-Teams
Die Planungsphase
Im Herbst 1957, nach der Schlacht von Algier, beschloss die Leitung des FLN, eine „algerische Nationalmannschaft“ aufzubauen, um damit in anderen Staaten für die Unabhängigkeit Algeriens zu werben. Sie sollte auf dem sportlichen Sektor ergänzen, was durch die Gründung autonomer algerischer Organisationen in anderen Bereichen (Militär, Gewerkschaften, Studentenverband, Kulturvereine) zuvor bereits gelungen war: den Nachweis zu erbringen, dass das Land zu einer eigenständigen Entwicklung fähig war, und zugleich die Voraussetzungen für ein funktionierendes Gemeinwesen nach dem „Sieg der Revolution“ zu schaffen. Zudem erhoffte man sich positive Auswirkungen auf die Moral der eigenen Bevölkerung. Dazu schien es erforderlich, eine wirklich spielstarke Elf zusammenzustellen, weshalb sie aus Profis bestehen sollte. Dabei betrachtete eine Strömung innerhalb der FLN-Führung den Fußballsport, insbesondere den professionellen, als „Teil des kolonialherrschaftlichen Erbes“, der die kulturelle Hegemonie Frankreichs sichern helfe.
Im Endergebnis konnte sich diese Position allerdings nicht durchsetzen. Das offizielle FLN-Kommuniqué vom 15. April 1958 betonte vielmehr die Bedeutung einer erfolgreichen Mannschaft für die Herausbildung einer „nationalen Identität“ und lobte die Spieler als „konsequente Patrioten, die die Unabhängigkeit ihres Vaterlands über alles andere stellen und der algerischen Jugend ein Beispiel von Mut, Rechtschaffenheit und Selbstlosigkeit geben“.
Mit der Aufgabe, die Spieler auszuwählen, wurde Mohamed Boumezrag betraut, zu dieser Zeit eines der Vorstandsmitglieder des algerischen Regionalverbandes der Fédération Française de Football (FFF), der sie später auch trainierte und während der Reisen betreute. Politisch war seitens des FLN Mohamed Allam für die Planung und Geheimhaltung während der Aufbauphase, danach für die Reiselogistik und den Schutz der Spieler verantwortlich. Die Organisatoren dieser Mannschaft konnten einigermaßen sicher sein, genügend viele gute Spieler rekrutieren zu können, weil etliche von ihnen den Kampf des FLN schon länger unterstützten. Sie leisteten – wie zahlreiche andere, in Frankreich arbeitende Algerier auch – regelmäßige Zahlungen, die „Revolutionssteuer“ (die Rede ist von bis zu 15 % ihres Spielergehalts), und standen auch inhaltlich hinter der Unabhängigkeitsbewegung. Mustapha Zitouni erklärte dies später mit den Worten
Aus Geheimhaltungsgründen besuchte Boumezrag jeden in Frage kommenden algerischen Profi persönlich; teilweise versicherte er sich für die erste Kontaktaufnahme auch der Unterstützung durch Mannschaftskameraden, um deren Überzeugung er bereits wusste. Er übte in den Gesprächen zwar einen gewissen moralischen Druck aus, aber die Angesprochenen hatten offenbar keine ernsteren Repressalien zu befürchten, falls sie seiner Aufforderung nicht nachkommen wollten. Absagen erhielt er, aus unterschiedlichen Motiven, beispielsweise von Kader Firoud, Salah Djebaïli (beide bei Olympique Nîmes), Ahmed Arab (FC Limoges) oder Mahi Khennane (Stade Rennais UC).
April 1958: Auf Schleichwegen nach Tunis
Im Frühjahr 1958 waren die Vorbereitungen abgeschlossen – einschließlich einer möglichst unauffälligen Organisierung der Ausreise von Angehörigen der Spieler nach Tunesien –, so dass die Mannschaft der Öffentlichkeit vorgestellt werden konnte. Der Zeitpunkt dafür war vom FLN in Hinblick auf mediale Wirkung und psychologischen Effekt gewählt worden. Meisterschaft und Pokalwettbewerb in Frankreich befanden sich im April in ihrer entscheidenden Phase, und das öffentliche Interesse an der französischen Nationalmannschaft, die sich mit einem Spiel am 16. April gegen die Schweiz auf die Endrunde der Weltmeisterschaft in Schweden vorbereiten wollte, nahm ebenfalls zu – Frankreich sollte spüren, was es an seinen Algeriern hatte. Mustapha Zitouni und Rachid Mekhloufi standen im vorläufigen WM-Aufgebot der Bleus für dieses Turnier, das keine zwei Monate nach Vorstellung der FLN-Auswahl begann; Letzterer war zudem mit der französischen Armeeauswahl im Sommer 1957 Militärweltmeister geworden. Diese Absichten des FLN waren der Grund dafür, dass Zitounis Bitte, die Aktion auf einen Zeitpunkt nach der WM zu verschieben, unberücksichtigt blieb.
Am 8. April 1958 benachrichtigte Boumezrag alle Spieler über den Zeitpunkt ihrer Abreise nach Tunis, dem Sitz der provisorischen algerischen Regierung, wo die FLN-Auswahl der Öffentlichkeit präsentiert werden sollte. Zudem ließ er ihnen Reisepläne und konkrete Verhaltensratschläge, insbesondere für eventuelle kritische Begegnungen mit Polizisten und Grenzbeamten, zukommen. Am 13. bzw. 14. April verließen zwölf algerische Fußballer (Aribi, Bekhloufi, Ben Tifour, Boubekeur, Bouchouk, Brahimi, Chabri, Kermali, Maouche, Mekhloufi, Rouaï, Zitouni – Genaueres siehe unten, „Die Auswahlspieler“) in kleinen Gruppen, teilweise auch alleine, klammheimlich ihren Wohnort und ihren Klub in Frankreich. Als Treffpunkt mit Boumezrag war Rom vereinbart; eine Gruppe fuhr mit dem Zug direkt nach Italien, eine weitere per Privatauto durch die Schweiz. Diese zweite Gruppe erreichte aufgrund von Visumproblemen – Frankreichs Regierung versuchte inzwischen mit diplomatischen und geheimdienstlichen Mitteln, den Spielerexodus zu stoppen – Tunis erst am 20. April, die beiden allein reisenden Spieler (Hacène Chabri und Mohamed Maouche) sogar noch sehr viel später.
Maouche wollte sich mit der Schweizer Gruppe in Lausanne treffen, verpasste diese jedoch. Da er noch in der französischen Armee diente, befürchtete er, nach 48 Stunden wegen Desertion zur Fahndung ausgeschrieben zu werden, und wollte deshalb vor Ablauf dieser Frist nach Frankreich zurückkehren. An der Grenze soll er jedoch verhaftet und für gut einen Monat arrestiert worden sein. Eine Militärgerichtsverhandlung blieb ihm anschließend allerdings erspart. Zur FLN-Auswahl stieß er erst Ende 1960.
Chabri wurde in Menton, an der Grenze zu Italien, festgenommen, wo französische Beamte ihn einem Verhör unterzogen. Algerier standen seinerzeit unter dem Generalverdacht, Waffen bzw. größere Geldmengen zur Unterstützung des FLN außer Landes zu bringen. Da der Fußballer den wahren Grund für seinen Grenzübertritt verschwieg und keine die Polizisten überzeugende Erklärung geben konnte, wurde er nach Marseille gebracht, inhaftiert, später – als sein wahres Reisemotiv längst bekannt war – unter Anklage gestellt und wegen „Beeinträchtigung der Sicherheit des Staates“ (atteinte à la sûreté de l’État) auch verurteilt. Er verbüßte seine Strafe in einem Gefangenenlager nahe Algier und konnte erst im Oktober auf Umwegen nach Tunis gelangen.
Die rechtzeitig angekommenen Spieler wurden in Tunis vom provisorischen Ministerpräsidenten Ferhat Abbas und Tunesiens Staatsoberhaupt Habib Bourguiba empfangen und dabei der Presse vorgestellt. Weitere Frankreichprofis erklärten ihre Unterstützung in den folgenden Tagen und Wochen. Offenbar war die Geheimhaltung im Vorfeld gelungen; das anschließende Medienecho war so gewaltig, wie vom FLN erhofft. Die Schlagzeile von L’Équipe am 15. April lautete „9 algerische Fußballer verschwunden“; France Football widmete dem Thema einige Tage später sogar vier Seiten. Die öffentliche Diskussion über diesen Schritt verlief kontrovers. Die betroffenen Vereine kündigten die Spielerverträge fristlos, und der Verband zog ihre Lizenzen ein. Dazu gab die FFF eine Erklärung heraus, deren Kernsätze lauteten:
Es gab im Land aber auch zahlreiche Stimmen, die Verständnis für den Schritt der Sportler äußerten, weil sie beispielsweise der Kolonialpolitik – einschließlich der französischen – kritisch oder ablehnend gegenüberstanden. Dazu zählten auch Fußballer: etliche Nationalspieler, darunter Kopa, Fontaine und Piantoni, unterschrieben Ende Juni in Schweden eine Postkarte mit freundlichen Grüßen an Zitouni.
Anfang mit Hindernissen
In Tunis nahm die Mannschaft alsbald ein regelmäßiges Training auf, meist unter der Leitung Boumezrags und Aribis, später auch Ben Tifours. Ihr erstes offizielles Spiel als – nach eigenem Verständnis – algerische Nationalelf fand am 9. Mai 1958 gegen Marokkos A-Auswahl statt und endete mit einem 2:1-Sieg. Zwei Tage später besiegte das in den Landesfarben (grüne Hemden, weiße Hosen und grüne Stutzen) antretende Team Tunesien mit 6:1. Dabei ergänzte Khaldi Hammadi, ein in Tunesien lebender algerischer Verteidiger, die zehn Profis; das Problem, dass diese fast ausschließlich Offensivkräfte waren, wurde durch die „Umschulung“ Bekhloufis zum Abwehrspieler gelöst. Die erste Reise führte die FLN-Auswahl im Juni nach Libyen. Im August stieß eine sechsköpfige Gruppe aus Frankreich zur Mannschaft (Bouchache, Smaïn Ibrir, Mazzouz, die Brüder Soukhane, Zouba), im Herbst 1958 folgten Doudou und Haddad. 1960 ergänzten weitere elf Spieler aus Frankreich das Team.
Die bis dahin ordentlich verdienenden Berufsfußballer wurden über die Reisekosten hinaus vom FLN während der vier Jahre finanziell unterstützt. Das war auch notwendig, denn wirklich reich werden konnte in der französischen Division 1 nur eine Handvoll Spieler (aus der Unabhängigkeitself lediglich Mustapha Zitouni und, eingeschränkt, Rachid Mekhloufi), während die große Mehrheit nicht viel mehr als ein Facharbeiter oder Angestellter erhielt, wovon sich keine größeren Rücklagen bilden ließen. Jeder Spieler, ob alleinstehend oder verheiratet, bekam vom FLN Miete und sämtliche Nebenkosten für eine möblierte Neubauwohnung in Tunis erstattet, dazu Kleidung, Schuhe sowie die komplette Sportausrüstung und monatlich 50.000 FF (was nach heutiger Kaufkraft knapp 800 Euro entspräche). Dies war für die meisten sogar mehr als sie vorher verdienten; lediglich für Zitouni, der bei seinem Verein zuletzt etwa 150.000 FF pro Monat erhalten hatte und dem ein noch deutlich höheres Angebot von Real Madrid vorlag, bedeutete es eine spürbare Verschlechterung. Neben dem materiellen Aspekt war es aber vor allem die persönliche Überzeugung, in einem Krieg, der in nahezu jeder Familie Opfer gefordert hatte, das Richtige zu tun, wie beispielsweise Mohamed Maouche rückblickend für sich feststellte:
Als Problem beim Abschluss von Spielen stellte sich zunächst das Verhalten der internationalen Fußballverbände heraus: Algerien hatte im Mai 1958 seine Mitgliedschaft beim Weltverband (FIFA) beantragt, durfte aber weder der FIFA noch dem afrikanischen Kontinentalverband (CAF) beitreten. Auf frühzeitige Intervention des französischen Verbandes FFF drohte die FIFA darüber hinaus ihren Mitgliedern am 7. Mai mit Sanktionen, sollten sie Begegnungen gegen die FLN-Auswahl zulassen. Nachdem die Algerier Ende 1958 eine Gastspieltournee durch Marokko absolviert hatten, sperrte die FIFA den marokkanischen Verband. Dessen Vorsitzender distanzierte sich daraufhin von den maghrebinischen Nachbarn, indem er behauptete, diese Spiele seien ohne seine Billigung und nur auf ausdrücklichen Wunsch des marokkanischen Königs Mohammed V. zustande gekommen; die FIFA hob daraufhin Ende April 1959 Marokkos Sperre auf, was den französischen Verband zu einem erneuten Protest veranlasste.
Auch von der CAF, die ihren Sitz in Kairo hatte und deren erste beiden Präsidenten Ägypter waren, erhielt die Mannschaft wenig Unterstützung: im Januar 1959 war sie bereits in Ägypten eingetroffen, fand dort aber nicht einen einzigen Gegner, auch kein Vereinsteam oder eine Stadtauswahl. Auf dem afrikanischen Kontinent boten ihr lediglich Tunesien und das von der FIFA schon länger suspendierte Libyen Bühnen, um ihre attraktive, als „lebhaft und angriffslustig“ charakterisierte Spielweise zu präsentieren. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass die kontinentalen Fußballverbände ihrerseits trotz partieller Autonomie gleichfalls der FIFA angehören und deren Regularien unterworfen sind. Zudem waren weite Teile Afrikas noch von Kolonialmächten abhängig. Nait-Challal ergänzt zwei Vermutungen, weshalb es bis 1962 zu keinem einzigen Aufeinandertreffen mit ägyptischen Teams gekommen ist. Zum ersten habe der ägyptische Verband befürchtet, seine sportliche Vormachtstellung in der Region könnte Schaden nehmen, wenn die eigene Nationalelf oder die dominierenden Klubs gegen die Algerier schlecht abschnitten. Zum zweiten habe die Nasser-Regierung nach der Suezkrise vermeiden wollen, international zusätzlichen Anlass zu diplomatischen Irritationen zu geben. Damit ließe sich zudem erklären, weshalb die FLN-Auswahl trotz wiederholter Anfragen auch in Syrien keine Gegner fand: Syrien und Ägypten waren seit Februar 1958 in einer politischen Union, der Vereinigten Arabischen Republik, eng miteinander verbunden.
Die Auswahlspieler
Zu den prominentesten Profifußballern, die in den vier Jahren für diese Mannschaft gespielt haben, gehörten die Torhüter Abderrahmane Boubekeur (AS Monaco) und Abderrahman Ibrir (Ex-Olympique Marseille), Abwehrspieler Mustapha Zitouni (Monaco) sowie die als Außenläufer bzw. Stürmer eingesetzten Abdelaziz Ben Tifour (Monaco), Saïd Brahimi (FC Toulouse), Abdelhamid Kermali (Olympique Lyon), Mohamed Maouche (Stade Reims), Rachid Mekhloufi (AS Saint-Étienne) und Ahmed Oudjani (RC Lens, wie Ibrir und Maouche ab 1960). Fünf von ihnen hatten zuvor auch schon A-Länderspiele für Frankreich bestritten, nämlich Ibrir, Zitouni, Ben Tifour, Brahimi und Mekhloufi.
Weitere Mitglieder der Auswahl waren Saïd Amara (AS Béziers), Mokhtar Arribi/Aribi (Lens, anschließend Trainer bei AS Avignon), Kaddour Bekhloufi (Monaco), Ali Benfadah (SCO Angers), Chérif Bouchache, Hocine Bouchache (beide Le Havre AC), Abdelhamid Bouchouk (Toulouse), Mohamed Bouricha (Olympique Nîmes), Hacène Bourtal (Béziers), Hacène Chabri (Monaco), Dahmane Defnoun (Angers), Ali Doudou (USM Bône/Algerien), Saïd Haddad (Toulouse), Khaldi Hammadi (Stade Tunisien/Tunesien), Smaïn Ibrir (Le Havre), Abdelkrim Kerroum (AS Troyes-Savinienne), Abdelkader Mazzouz/Mazouza (Nîmes), Mokrane Oualiken (SO Montpellier), Amar Rouaï/Rouiaï (Angers), Abdallah Hedhoud, genannt „Settati“ (Girondins Bordeaux), Abderrahmane Soukhane, Mohamed Soukhane (beide Le Havre) sowie Abdelhamid Zouba (Chamois Niort).
Für die FLN-Elf liegen bisher keine vollständigen Mannschaftsaufstellungen der einzelnen Spiele vor, aber bis etwa Mitte 1959 – das heißt, während der ersten ca. 45 Spiele – hatte sich eine Stammformation wie hierneben dargestellt herausgebildet.
Verletzungen infolge der teilweise strapaziösen Tourneebelastungen sowie die später eintreffenden Neuzugänge führten dazu, dass die Mannschaft mit der Zeit ihr Gesicht und ihr Spielsystem änderte. Ab der Ostasienreise von Oktober bis Dezember 1959 wurde vom WM-System auf ein 4-3-3 umgestellt; in der Abwehrreihe ersetzte Abdelhamid Zouba Hammadi und Mohamed Soukhane rückte zusätzlich in die Innenverteidigung, wofür mit Bouchouk auf einen Stürmer verzichtet wurde. Mohamed Soukhanes Bruder Abderrahmane ersetzte Brahimi im Angriff, und anstelle von Boubekeur hütete Ali Doudou das Tor. Mit dem Eintreffen weiterer Spieler kam es ab 1960 zu einzelnen Änderungen bzw. Ergänzungen (siehe rechts).
Von den insgesamt 30 algerischen Frankreichprofis, die in der Unabhängigkeitself eingesetzt worden waren, kehrten 1962 lediglich 13 (überwiegend die jüngeren) in den französischen Ligabetrieb zurück, meist zu ihren Vereinen des Frühjahrs 1958. Soweit bekannt, wurde ihre Rückkehr von Klubvorständen und Zuschauern positiv aufgenommen. Amar Rouaï erhielt bei seinem Antrittsbesuch 1962 in der Geschäftsstelle des SCO Angers als erstes einen Gehaltsscheck über den Betrag ausgehändigt, den ihm der Verein für März und den halben April 1958 noch schuldete.
Mindestens acht der Auswahlspieler wurden in die 1963 neu gebildete algerische Nationalmannschaft berufen und waren auch an mehreren derjenigen vier Länderspiele beteiligt, die zu den ganz frühen Höhepunkten der Fennecs – „Wüstenfüchse“ ist eine Bezeichnung für die dortige Nationalelf – zählen:
am 28. Februar 1963 beim 4:0 gegen die Tschechoslowakei: Amara, Boubekeur, Defnoun, Mekhloufi, Oudjani, A. Soukhane, M. Soukhane
am 1. Januar 1964 beim 2:0 gegen Deutschland: Amara, Boubekeur, Mekhloufi, Oudjani, A. Soukhane, Zitouni
am 4. November 1964 beim 2:2 gegen die UdSSR: Boubekeur, Defnoun, Mekhloufi, Oudjani, A. Soukhane, M. Soukhane, Zitouni
am 17. Juni 1965 beim 0:3 gegen Brasilien: Defnoun, Mekhloufi, Oudjani, A. Soukhane, Zitouni
Mekhloufi, der als Spieler letztmals im Dezember 1968 für Algerien auflief, war seit den 1970ern mit Unterbrechungen Nationaltrainer – sowie 1988 für ein paar Monate sogar Präsident des nationalen Fußballverbandes – und in dieser Funktion einer der Hauptbetroffenen des deutsch-österreichischen „Nichtangriffspakts von Gijón“ bei der Weltmeisterschaft 1982. Auch Amara, Ben Tifour, A. Ibrir, Kermali, Maouche und Zouba (dieser zuletzt noch 2003) hatten dieses Traineramt nach 1962 zumindest kurzzeitig inne.
Sportliche Bilanz
Trotz der internationalen Restriktionen hat die FLN-Auswahl in den vier Jahren ihres Bestehens gegen etliche europäische und asiatische Stadt- und Klubmannschaften, aber auch gegen A-, Militär- und Juniorennationalmannschaften gespielt. Dazu reiste sie in ein Land, bestritt dort mehrere Begegnungen innerhalb relativ kurzer Zeit und kehrte anschließend nach Tunesien zurück. Allerdings gab es auch drei besonders lange Tourneen: Mai bis Juli 1959 (20 Spiele in Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Polen, der Sowjetunion und der Tschechoslowakei), Oktober bis Dezember 1959 (11 Spiele in der Volksrepublik China und Nordvietnam) sowie März bis Juni 1961 (21 Spiele in Jugoslawien, Bulgarien, Rumänien, Ungarn und der Tschechoslowakei). Das Team bestand stets darauf, dass vor dem Anpfiff die Flaggen gehisst und die Nationalhymnen gespielt wurden – beide zum damaligen Zeitpunkt noch nicht offizielle Insignien der algerischen Selbständigkeit.
Ihre Gegner kamen aus folgenden Staaten (in Klammern die jeweilige Zahl der ausgetragenen Partien): Tunesien (8), Libyen (8), Marokko (6), Bulgarien (9), Tschechoslowakei (8), Rumänien (7), Ungarn (6), Jugoslawien (5), Sowjetunion (5), Polen (1), Irak (6), VR China (5), Nordvietnam (5) und Jordanien (4). Von den osteuropäischen Mitgliedern des Warschauer Pakts bereiste die FLN-Auswahl lediglich die DDR nicht; Gründe dafür werden in der Literatur nicht genannt.
Obwohl sie keine Heimspiele in Algerien austragen konnte, erreichte die Mannschaft hervorragende Ergebnisse gegen international starke Gegner, namentlich Erfolge in Jugoslawien (6:1, wo sie sich allerdings auch mit 0:3 geschlagen geben musste), Ungarn (6:2) und der CSSR (6:0). Gegen „fußballerische Entwicklungsländer“ gab es teilweise regelrechte Kantersiege, so ein 11:0 in Jordanien, ein 10:1 im Irak und einen 7:0-Sieg in Nordvietnam. Ihre erste Niederlage kassierte sie im Mai 1959 (0:1 gegen Botew Plowdiw), ihre höchste im selben Jahr mit 1:5 gegen eine chinesische Provinzauswahl.
Über den sportlichen Wert vieler dieser Begegnungen waren die Spieler durchaus geteilter Meinung; es gab sogar Unzufriedenheit über zu einfach errungene Erfolge. Ähnlich, wenn auch differenzierter, drückte Rachid Mekhloufi dies 1967 aus:
Dass sich keine Gegner aus der westlichen Welt fanden, lässt sich über das FIFA-Verdikt hinaus auch mit dem strikten „Blockdenken“ in dieser Hochzeit des Kalten Krieges erklären, in dem sich die Westmächte mitsamt ihren Verbündeten und der Ostblock dermaßen unversöhnlich gegenüberstanden, dass selbst ein kulturelles oder sportliches Überschreiten des „Eisernen Vorhangs“ die absolute Ausnahme blieb. Neutral bleiben konnte kaum ein Staat; die Bewegung der blockfreien Staaten gründete sich erst im September 1961. Von den 14 Staaten, in denen die FLN-Auswahl angetreten ist, hatten zwölf 1958 in der UN-Vollversammlung (siehe oben, „Historischer Hintergrund“) für die algerische Autonomie gestimmt.
Die Gesamtzahl der Spiele ist umstritten, was darauf zurückzuführen sein dürfte, dass es sich aus Sicht der internationalen Verbände nicht um offizielle Begegnungen handelte, keine unanfechtbare Statistik geführt und gelegentlich – ab 1959, aufgrund der wachsenden Zahl an Spielern – auch zwei Partien gleichzeitig ausgetragen wurden. Am besten belegt ist die Angabe bei Nait-Challal: Er kommt auf 83 Spiele, die er nach Jahren und Herkunftsländern der gegnerischen Teams aufschlüsselt; zudem finden sich bei ihm auch zahlreiche Einzelergebnisse. Danach siegte die FLN-Auswahl in 57 Partien, spielte 14-mal unentschieden und verlor zwölf Begegnungen; das Torverhältnis betrug 349:119. Andere vorliegende Quellen kommen auf 53 (39 Siege, zehn Remis und vier Niederlagen), 62 (47 Siege, elf Unentschieden, vier Niederlagen bei einem Gesamttorverhältnis von 246:66) oder sogar 91 Spiele (65 Siege, je 13 Remis und Niederlagen, Torverhältnis insgesamt 385:127). Von den Detailunterschieden abgesehen, beweisen all diese Bilanzen, dass die Unabhängigkeitself torgefährlich und erfolgreich spielte. Soweit für einzelne Partien Zuschauerzahlen in Erfahrung zu bringen sind, waren die Stadien, in denen sie auftrat, stets sehr gut gefüllt, oft sogar ausverkauft. Ihrem Sieg über die jugoslawische Nationalmannschaft beispielsweise wohnten 80.000 Zuschauer im Stadion von Roter Stern Belgrad bei, ihrem 2:2 gegen Petrolul Bukarest sogar 90.000. Dazu hat sicherlich auch der Umstand beigetragen, dass ihre Auftritte als ehemalige Profis, die sich der revolutionären Sache verschrieben hatten, propagandistisch groß angekündigt wurden; darüber hinaus bestätigten die Spieler aber auch regelmäßig ihren Ruf, wirklich ansehnlichen Fußball zu bieten.
Viele gegnerische Teams schenkten den Algeriern sportlich nichts; vor und nach den Partien fühlten die Gäste sich aber stets willkommen – mit der einen Ausnahme Polen im Sommer 1959, wo die Mannschaft schon am Ankunftstag das ihr zugewiesene Quartier in Łódź als unzumutbar ablehnte. Sie fand an diesem Abend auch kein geöffnetes Restaurant mehr, und einen Empfang oder gar ein Bankett hatten die Gastgeber nicht vorgesehen. Tags darauf erklärten die polnischen Offiziellen ihre Weigerung, vor dem abendlichen Anpfiff die algerische Fahne zu hissen und die Nationalhymnen abzuspielen, was sie mit dem FIFA-Verbot und den traditionell guten Beziehungen zu Frankreich begründeten. Sie lenkten erst ein, als daraufhin die algerischen Spieler ihrerseits keine Anstalten machten, die Umkleidekabine des Stadions zu verlassen. Nach diesem Spiel einigten sich beide Seiten darauf, diesen Teil der Tournee vorzeitig abzubrechen.
Dagegen blieb die FLN-Auswahl am Ende ihrer Ostasientournee auf Einladung der dortigen Regierung drei Wochen länger als beabsichtigt in China. Dies nutzten die Spieler für eine ausgedehnte Rundreise durch das Land und waren im Gegenzug gerne bereit, einheimischen Trainern am Nationalen Sportinstitut in Peking die Geheimnisse ihrer Ballbeherrschung zu demonstrieren. Auf dem anschließenden Rückflug legte die Mannschaft über die Weihnachtstage 1959 einen Zwischenstopp in der Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie von Vertretern Eintracht Frankfurts zum Besuch eines Oberligaspiels eingeladen wurde, bei dem die Algerier als Ehrengäste im Riederwaldstadion am 27. Dezember einen 4:1-Sieg über den Karlsruher SC sahen.
Ihre letzten Begegnungen absolvierte die Mannschaft um den Jahreswechsel 1961/62 in Libyen. Aufgrund der politischen Entwicklung hatte sie ihre Bedeutung als Botschafter für die algerische Unabhängigkeit weitgehend eingebüßt; zudem war es angesichts des Terrors der OAS, der Bizerta-Krise (ab Juli 1961) und des weiterhin massiven Vorgehens französischer Sicherheitskräfte gegen Algerier – wie am 5. Juli in Algier und am 17. Oktober 1961 in Paris – nicht ungefährlich für Vertreter der Befreiungsbewegung, sich auf Reisen zu begeben. Während der kommenden Monate betätigten sich die Spieler teils als Trainer bei Vereinen in Tunesien und Libyen, teils begannen sie eine Ausbildung oder genossen das Nichtstun. Erst im Juni 1962 verabschiedete der FLN die Spieler endgültig; am 29. Juni hob die FFF ihr Spielverbot gegen diejenigen Profis auf, die „ihren Verein verlassen hatten, sofern sie sich diesem wieder zur Verfügung stellten“.
Einmal ist der ursprüngliche Kern der FLN-Auswahl danach aber noch nahezu vollständig zusammengekommen: im Dezember 1970 bestritten neun der ersten zehn Fußballer vom April 1958, verstärkt durch elf weitere ehemalige Mitspieler, in Algier vor 20.000 Zuschauern ein Abschiedsspiel für ihren drei Wochen zuvor verunglückten Mannschaftskameraden Abdelaziz Ben Tifour.
Spätere Rezeption
Die Rolle dieses Auswahlteams für die Erlangung der Unabhängigkeit ist in Algerien seit 1962 wiederholt hervorgehoben worden. So hat Algeriens erster Staatspräsident, der FLN-Mitbegründer Ahmed Ben Bella, der 1940 selbst kurzzeitig bei Olympique Marseille Fußball spielte, in Reden immer wieder auf die Bedeutung der Mannschaft hingewiesen. Der 50. Jahrestag ihrer Gründung gab Mitte April 2008 Anlass zu zahlreichen Erinnerungsveranstaltungen, Fernsehsondersendungen und Ehrungen ehemaliger Spieler. Bei einem dieser Anlässe sagte der Präsident der Republik, Abdelaziz Bouteflika:
Die algerische Post hat zu diesem Anlass einen Ersttagsbrief und eine Postkarte mit zwei Fotos der Mannschaft herausgegeben (siehe unten, „Weblinks“). FIFA-Präsident Joseph Blatter, von Rachid Mekhloufi persönlich eingeladen, fehlte bei der offiziellen Jubiläumsveranstaltung, weil sein „prall gefüllter Terminkalender eine Reise nach Algerien zu diesem Zeitpunkt leider nicht [zuließ]“.
In dem Roman Le Vainqueur de coupe von Rachid Boudjedra (Denoël, Paris 1981) stehen die Elf und insbesondere ihr „Kopf“ Mekhloufi im Zentrum; über Mekhloufi und die Mannschaft haben auch die französischen Fußballhistoriker Pierre Lanfranchi und Alfred Wahl Aufsätze in Fachzeitschriften veröffentlicht.
Die für einen größeren Markt produzierte, neuere Fußballliteratur in Frankreich hingegen beschränkt sich in aller Regel auf wenige Zeilen zu diesem Thema und erwähnt dabei meist lediglich die Tatsache, dass einzelne Vereinsmannschaften kurz vor Saisonende 1957/58 einen personellen Aderlass zu verkraften hatten. Frankreichs späterer Nationaltrainer Michel Hidalgo, damals Stürmer bei AS Monaco, widmet dem Vorgang auch nur fünf Sätze in seiner 2007 erschienenen Autobiographie, wobei er sich hauptsächlich darüber beklagt, dass seine Mannschaft von den fünf Algeriern „in der entscheidenden Phase der Saison 1957/58 im Stich gelassen worden“ sei. Auf Monacos Vereinswebseite klingt immerhin leises Bedauern über ihren Weggang an: „Unglücklicherweise beraubte der Algerienkrieg die AS ihrer brillanten nordafrikanischen Spieler …“.
Es kann angenommen werden, dass die Einstellung, die algerischen Spieler hätten „nur ihre Pflicht getan“ (so Bordeaux’ damaliger Bürgermeister Jacques Chaban-Delmas nach der Rückkehr von Settati zu Girondins Bordeaux), bis heute eher eine Minderheitsposition in Frankreich geblieben ist. Auch der berühmte Ausspruch Präsident de Gaulles („Sie sind Frankreich!“) gegenüber dem zweifachen Saint-Étienner Torschützen Mekhloufi nach dem französischen Pokalendspiel 1968 blieb eine Momentaufnahme. Erst anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der FLN-Auswahl erschienen dort zwei Buchtitel speziell zu diesem Kapitel der algerisch-französischen Sporthistorie (siehe unten, „Literatur“).
Am 6. Oktober 2001 – gut 39 Jahre nach dem Ende der kolonialen Abhängigkeit – kam es zum ersten offiziellen A-Länderspiel der Männer zwischen Frankreich und Algerien überhaupt. Im Vorfeld dieses Freundschaftsspiels wurde in den Medien beider Länder gelegentlich auch an die algerische Auswahl erinnert. Überwiegend standen aber die bis heute nicht umfassend aufgearbeitete Konfliktgeschichte und der aktuelle Stand der Beziehung zwischen Algeriern und Franzosen im Vordergrund, der sich insbesondere in der Lebenssituation algerisch-muslimischer Einwanderer in Frankreich manifestiert. Die Hoffnung mancher Kommentatoren, dieses Fußballspiel im ausverkauften Stade de France würde ein „Fest der Verständigung“ und eine „Chance zur Wiederannäherung beider Länder“ (Lilian Thuram) nach einem „so schmerzhaften und lange Zeit verdrängten Trennungsprozess“, erfüllte sich nicht. Nachdem schon das Abspielen der Nationalhymnen in einem Pfeifkonzert unterging, führte die Erstürmung des Spielfeldes durch Zuschauer, darunter zahlreiche algerischstämmige Franzosen, in der 76. Minute zum Abbruch der Begegnung. L’Équipe titelte am folgenden Tag mehrdeutig „Eine abgebrochene Geschichte“, die Schlagzeile von Libération lautete „Frankreich-Algerien, 40 Jahre Spielabbruch“.
Auch einer französischen Nationalelf, die aufgrund ihrer personellen Zusammensetzung in wortspielerischer Anlehnung an die Farben der Landesflagge (bleu-blanc-rouge) häufig als „black-blanc-beurs“ („Schwarze, Weiße, Maghrebiner“) bezeichnet wird, war es nicht gelungen, die existierenden sozialen und politischen Widersprüche wenigstens für 90 Minuten vergessen zu machen. Andererseits äußerte Algeriens Stürmer Farid Ghazi die Hoffnung, „eines Tages eine solche Partie doch noch durchführen zu können“.
Literatur
Marc Barreaud: Dictionnaire des footballeurs étrangers du championnat professionnel français (1932–1997). L'Harmattan, Paris 1998 ISBN 2-7384-6608-7
L’Équipe: France Football 59. Numéro Speciale, Paris 1959 (Jahrbuch über 1958).
Yvan Gastaut: Les footballeurs algériens en France à l’épreuve des identités nationales. (2003) Als PDF online unter wearefootball.org (PDF; 200 kB).
David Goldblatt: The ball is round. A global history of football. Viking/Penguin, London 2006 ISBN 0-670-91480-0.
Pierre Lanfranchi: Mekloufi, un footballeur français dans la guerre d'Algérie. in: Actes de la Recherche en Sciences sociales, Nr. 103, Juni 1994; online unter persee.fr
L'Équipe/Gérard Ejnès: La belle histoire. L'équipe de France de football. L'Équipe, Issy-les-Moulineaux 2004 ISBN 2-9519605-3-0.
Yves Michaud (Université de tous les savoirs, Hg.): La Guerre d'Algérie (1954–1962). Odile Jacob, Paris 2004 ISBN 2-7381-1190-4.
Jean-Philippe Rethacker/Jacques Thibert: La fabuleuse histoire du football. Minerva, Genève (zuerst 1974) 1996, 20032 ISBN 978-2-8307-0661-1.
Alfred Wahl/Pierre Lanfranchi: Les footballeurs professionnels des années trente à nos jours. Hachette, Paris 1995 ISBN 978-2-01-235098-4.
Zwei Neuerscheinungen des Jahres 2008 speziell zu dieser Mannschaft:
Kader Abderrahim: L'indépendance comme seul but. Paris Mediterranée, o. O. 2008 ISBN 2-84272-308-2 (lag bei Artikelerstellung nur auszugsweise vor)
Michel Nait-Challal: Dribbleurs de l'indépendance. L'incroyable histoire de l'équipe de football du FLN algérien. Éd. Prolongations, o. O. 2008 ISBN 978-2-916400-32-7.
Zudem Ende 2008 mit eigenem Kapitel zur „Unabhängigkeitself“ erschienen:
Paul Dietschy/David-Claude Kemo-Keimbou (Ko-Herausgeber: FIFA): Le football et l'Afrique. EPA, o. O. 2008 ISBN 978-2-85120-674-9.
Weblinks
Artikel aus La Tribune (Algier) vom 13. April 2008 – Darstellung der Geschichte der Mannschaft (französisch)
Ein Foto der Mannschaft (Postkarte, 2008 von der algerischen Post herausgegeben)
Interview auf fifa.com mit Rachid Mekhloufi (2008) – im ersten Teil zur FLN-Auswahl (deutsch)
Artikel zur Bedeutung des Fußballs für das französisch-algerische Verhältnis aus der Berliner Zeitung vom 6. Oktober 2001
Artikel über FLN-Elf und neuere Entwicklungen des franko-algerischen Fußballs aus Le Monde diplomatique vom 8. August 2008 (deutsch)
Anmerkungen
Algerien
Algerienkrieg
Fußball (Algerien)
Fußball (Frankreich)
Fussball FLN |
7487029 | https://de.wikipedia.org/wiki/The%20Great%20Carbuncle | The Great Carbuncle | The Great Carbuncle, deutsch Der große Karfunkel, ist eine 1836 erschienene Erzählung des amerikanischen Schriftstellers Nathaniel Hawthorne.
Sie handelt von Schatzsuchern, die in den „Weißen Bergen“ New Hampshires den „großen Karfunkel“ zu finden hoffen, einen sagenumwobenen, leuchtenden Edelstein. Ein junges Ehepaar entdeckt ihn, wagt es aber nicht, sich seinem gleißenden Licht zu nähern, macht kehrt und entscheidet sich so für ein häusliches Glück in ehrbarer Bescheidenheit. The Great Carbuncle war im 19. Jahrhundert sehr populär, in der späteren Literaturkritik jedoch weniger gut gelitten. Bemängelt wird oft die Eindimensionalität der merklich allegorisch gezeichneten Figuren und der Moralismus der Erzählung. Quellenforschungen haben jedoch ergeben, dass sie in einem komplexen intertextuellen Verhältnis zu einer Vielzahl biblischer, literarischer und historiographischer Texte steht.
Inhalt
Die Erzählung beginnt mit der Schilderung eines Lagerfeuers in der Wildnis der Weißen Berge, an dem sich acht Schatzsucher für einen Abend zusammengefunden haben, die vom „egoistischen und eigenbrötlerischen Verlangen“ getrieben sind, den „Großen Karfunkel“ zu finden, einen sagenumwobenen Edelstein von unermesslichem Wert. Man erzählt sich, dass sein Leuchten in manchen Nächten fernhin, ja noch vom Meer aus zu sehen sei, doch noch nie habe es jemand vermocht, ihn zu finden. Laut der „indianischen Überlieferung“ bewache ein Geist den Karfunkel „und verwirre diejenigen, die ihn suchten, entweder indem er ihn von Gipfel zu Gipfel der höchsten Berge versetze oder indem er aus dem verzauberten See, über dem der Stein hing, einen Nebel aufsteigen lasse.“
Nur einer der acht, „der Zyniker“ genannt, verfolgt ein anderes Ziel: Er will versuchen, seinen „Fuß auf jeden Gipfel dieser Berge zu setzen,“ um der Welt zu beweisen, dass „der Große Karfunkel nichts weiter als Humbug ist.“ Spöttisch fragt er die anderen, was sie denn mit dem Juwel zu tun gedächten. Dem ältesten von ihnen, genannt „der Sucher,“ ist die Suche selbst zum Lebensinhalt geworden: „Allein das Streben danach ist meine Stärke, die Energie meiner Seele.“ Wenn er den Karfunkel finde, werde er ihn in eine Höhle bringen und lege sich dort „zum Sterben nieder, und dort wird er für immer mit mir begraben sein.“ Der Nächste, der antwortet, ist der Chemiker Dr. Cacaphodel. Er möchte den Karfunkel „in seine ursprünglichen Elemente zerlegen,“ also stückchenweise zermahlen, in Säuren auflösen, schmelzen und verbrennen, und die Ergebnisse seiner Forschung schließlich „in einem Foliantenband der Welt vermachen.“ Der dritte ist Master Ichabod Pigsnort, ein „gewichtiger Kaufmann und Selectman aus Boston, dazu Kirchenältester;“ er will den Karfunkel an den Meistbietenden verkaufen. Der vierte ist ein namenloser Dichter; er möchte den Karfunkel „Tag und Nacht anblicken […] er wird all meine geistigen Fähigkeiten durchdringen und hell aus jeder Zeile der Dichtung leuchten, die ich niederschreibe. So wird der Glanz des Großen Karfunkels noch Jahrhunderte nach meinem Tod meinen Namen umflammen.“ Der fünfte ist der Lord De Vere, Spross eines altehrwürdigen Adelshauses; er will das Juwel im großen Saal des Schlosses seiner Ahnen anbringen, wo er „auf den Rüstungen, Bannern und Wappenschildern funkeln“ und „das Andenken an Helden strahlend erhalten“ soll. Die letzten beiden sind Matthew und Hannah, ein frischvermähltes Paar von schlichtem Gemüt; sie wollen mit dem Karfunkel im Winter ihre Hütte erhellen, und „es wird so nett sein, ihn den Nachbarn zu zeigen, wenn sie uns besuchen kommen.“
Am nächsten Morgen gehen die Schatzsucher ihrer Wege. Die Erzählung folgt Hannah und Matthew, die es bei ihrem Bergaufstieg in immer kargere Landschaften verschlägt. Nachdem sie sich in einem dichten Nebel fast verlieren, finden sie tatsächlich den verzauberten See, erhellt von gleißendem Licht. An der Klippe unter dem Karfunkel erblicken sie die Gestalt des Suchers, die Arme ausgestreckt, das Gesicht nach oben gewandt, er „rührte sich jedoch nicht, als sei er zu Marmor erstarrt.“ Plötzlich gesellt sich der Zyniker zu ihnen, der noch immer nicht an den Karfunkel glauben möchte. Auf Matthews Aufforderung hin nimmt er seine verrußte Brille ab, blickt zum Karfunkel und wird von seinem Licht unheilbar geblendet. Die Furcht übermannt nun Matthew und Hannah, sie kehren nach Hause zurück und geloben, sich nie wieder „mehr Licht zu wünschen, als alle Welt mit uns teilen kann.“
Zum Schluss wird das weitere Schicksal der acht Schatzsucher geschildert: Hannah und Matthew verbrachten noch „viele friedliche Jahre miteinander und erzählten gerne die Legende vom Großen Karfunkel.“ Mit den Jahren wurde ihr aber immer weniger Glauben geschenkt, doch der Erzähler selbst meint, er habe von Ferne ein „wunderbares Licht“ in den Bergen gesehen, und „der Glaube an die Poesie lockte mich, der jüngste Pilger des Großen Karfunkels zu werden.“
Werkzusammenhang
Entstehung und Publikationsgeschichte
The Great Carbuncle erschien erstmals in The Token and Atlantic Souvenir für das Jahr 1837. Das Titelblatt dieses Bandes zeigt das Jahr 1837, doch ist sicher, dass er schon vor Weihnachten 1836 im Buchhandel erhältlich war; der Token, ein literarischer Almanach für gehobene Ansprüche, war ausdrücklich als Weihnachts- oder Neujahrsgeschenk konzipiert. Zwischen 1831 und 1838 war der Token der eifrigste Abnehmer der Kurzgeschichten Hawthornes, allein im Jahrgang 1837 finden sich noch sieben weitere Beiträge aus seiner Feder. Dem Publikum blieb dieser Umstand jedoch lange unbekannt, da Hawthorne seine Erzählungen zu dieser Zeit stets anonym veröffentlichte. The Great Carbuncle ist im Token aber immerhin mit dem Hinweis versehen, die Geschichte sei vom selben Autor wie The Wedding Knell, das in der Vorjahresausgabe erschienen war. Im Frühjahr 1837 veröffentlichte Hawthorne The Great Carbuncle dann erneut in seiner ersten und auch namentlich gezeichneten Kurzgeschichtensammlung Twice-Told Tales und gab sich so öffentlich als Verfasser dieser und anderer Geschichten zu erkennen.
Ursprünglich war die Geschichte aber mit einiger Sicherheit Teil eines größeren Werkes, The Story Teller, das Hawthorne zwischen 1832 und 1834 schrieb, das als Ganzes aber nie erschien und nicht erhalten ist. Zwar hatte Hawthorne für den Story Teller anders als für seine ersten beiden, heute ebenfalls verlorenen Erzählzyklen Seven Tales of My Native Land (um 1826–27) und Provincial Tales (um 1828–1830) einen Verleger gefunden, doch nachdem die ersten Teile im November und Dezember 1834 im New-England Magazine erschienen waren, wechselte die Zeitschrift den Besitzer und setzte die Veröffentlichung aus. Letztlich veröffentlichte Hawthorne nur einige Einzelerzählungen des Story Teller, manche im New-England Magazine, manche in anderen Publikationen wie dem Token. Der Werkzusammenhang ging dabei verloren, kann aber im Falle von The Great Carbuncle schlüssig rekonstruiert werden.
Beim Story Teller handelt es sich demnach um eine Reihe von kurzen Geschichten, die in eine übergeordnete Rahmenerzählung eingebettet sind. Ich-Erzähler und zugleich Protagonist der Rahmenhandlung ist ein durch Neuengland wandernder Geschichtenerzähler namens „Oberon“ (benannt nach der Figur in Shakespeares Sommernachtstraum). Die Handlungsorte mancher Einzelerzählungen des Story Teller lassen sich dabei einigen Fragmente des Rahmens zuordnen, die Hawthorne später, deklariert als „Skizzen“ (sketches), doch noch veröffentlichte. The Great Carbuncle steht dabei in engem Zusammenhang mit den Rahmenfragmenten The Notch und Our Evening Party among the Mountains, die Hawthorne neben anderen Reiseskizzen im November 1835 unter dem Sammeltitel Sketches from Memory im New-England Magazine veröffentlichte. Oberon schildert darin seine Wanderung durch die White Mountains, die „Weißen Berge“ des Bundesstaats New Hampshire, wo auch die Handlung von The Great Carbuncle angesiedelt ist. Hier spielt außerdem die im Juni 1835 erschienene Erzählung The Ambitious Guest, die auch thematisch viele Überschneidungen mit The Great Carbuncle aufweist. Gemäß Alfred Webers Rekonstruktion des Story Teller leiteten die ersten beiden Absätze von The Notch Oberons Wanderung durch die White Mountains ein, gefolgt von The Ambitious Guest und dem zweiten Teil von The Notch. Darauf schloss sich Our Evening Party among the Mountains und schließlich The Great Carbuncle an, die darauf folgenden Rahmenteile sind nicht erhalten.
Hawthorne selbst bereiste die White Mountains im September 1832; es ist anzunehmen, dass er The Great Carbuncle und The Ambitious Guest bald darauf niederschrieb. Ein weiteres Mal veröffentlichte er 1850 mit The Great Stone Face eine Erzählung über die White Mountains, doch entstand sie wohl erst einige Jahre später und steht somit nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Story Teller. Ein Verweis auf The Great Carbuncle findet sich zudem in der erstmals 1842 und erneut 1846 in Mosses from an Old Manse erschienenen Erzählung A Virtuoso’s Collection. Hier wird der Ich-Erzähler durch ein Museum geführt, in dem verschiedenste Kuriositäten der Literaturgeschichte ausgestellt sind. Neben dem weißen Vlies aus Spensers Faerie Queene und dem Skelett von Don Quijotes treuem Schlachtross Rosinante erblickt er hier auch seine eigene literarische Schöpfung, den Großen Karfunkel (one of the wild projects of my youth), ausgestellt in einer schnöden Vitrine und nicht annähernd so brillant, wie er ihn in Erinnerung hatte – in den Worten Helmut Schwarztraubers verdeutlicht A Virtuoso’s Collection die Perversion der Einbildungskraft, „die Materialisierung alles Geistigen durch einen rationalistisch begründeten Realismus.“
Stellung im Kontext des Story Teller
Alfred Weber macht in seiner Arbeit deutlich, dass die Binnenerzählungen des Story Teller in vielerlei Hinsicht in Beziehung zur Rahmenhandlung und auch untereinander stehen: Oberon platziert die Geschichten nicht nur in einer geographisch und atmosphärisch passenden Erzählsituation, sondern kommentiert bisweilen auch ihre Bewandtnis und Bedeutung. Umgekehrt finden sich viele Details der Rahmenhandlung in den Binnenerzählungen wieder, wenn auch oft merkwürdig verzerrt. So passiert Oberon im zweiten Teil der Skizze The Notch die Gebirgsschlucht Crawford Notch. Auf dem Weg zum Gasthaus von Ethan Crawford wird er von einer Gruppe Touristen überholt, darunter ein Mineraloge mit einer grünen Brille, ein galant gekleideter junger Mann, der ein Gedicht von Lord Byron rezitiert und ein Händler aus Portland. In der anschließenden Skizze, Our Evening Party among the Mountains, erreicht er das Gasthaus und trifft hier auf weitere Reisende, darunter zwei junge Paare auf Hochzeitsreise. In diesen zufälligen Weggefährten Oberons lassen sich unschwer Vorbilder für die zur Karikatur überzeichneten Abenteurer in The Great Carbuncle erkennen, also für den Chemiker Cacaphodel (der ebenfalls eine Brille trägt), den uninspirierten Dichter, den Kaufmann Ichabod Pigsnort sowie für Matthew und Hannah, das junge Ehepaar.
Später findet sich Oberon wie die anderen Touristen im Gesellschaftszimmer ein, wo man sich in geselliger Runde unterhält – die Situation spiegelt sich in The Great Carbuncle in der abendlichen Zusammenkunft der Schatzsucher am Lagerfeuer. Oberon hält sich im Gespräch zurück, lauscht aber aufmerksam. Besonders beeindruckt ihn eine indianische Legende, von der einer der Touristen zu berichten weiß. Sie handelt von einem großen Karfunkel, der hoch in den Bergen über einem See thronen soll und von einem Geist bewacht werde. Oberon kommt dabei der Gedanke, aus diesem Stoff „eine Geschichte mit einer tiefen Moral“ zu zimmern (‘On this theme methinks I could frame a tale with a deep moral’). Schließlich löst sich die Runde auf, denn früh am Morgen will man gemeinsam zum sechs Meilen entfernten Mount Washington wandern, wohl, um dort, wie Oberon humorig anmerkt, den „großen Karfunkel“ zu suchen. Wie sich The Great Carbuncle an Our Evening Party among the Mountains anschloss, ist unklar, auch weil unsicher ist, wie sehr dieses Fragment bei seiner Veröffentlichung redigiert oder gekürzt wurde. Sicher scheint aufgrund einiger inhaltlicher Verstrebungen, dass Oberon identisch mit der Ich-Erzählerfigur von The Great Carbuncle ist. Weber mutmaßt, dass die Geschichte einen Traum Oberons darstellt – im Bett mag ihm die Legende noch lange durch den Kopf gegangen sein. Die merkwürdigen Parallelen zwischen Rahmen- und Binnenerzählung erklärten sich demnach als „Tagesreste,“ die im Traum verzerrt wiederkehren. So lasse sich schließlich auch das Genre dieser eigentümlichen Erzählung genauer bestimmen: Sie sei als „märchenhafte Traumallegorie“ anzusehen.
Auf die Parallelen zu The Ambitious Guest, das der Erzählung im Story Teller wohl voranging, haben mehrere Kommentatoren hingewiesen. Beide Geschichten spielen in den White Mountains, und beide beteuern, Ereignisse zu schildern, die sich in einer mehr oder weniger entrückten Vergangenheit tatsächlich zugetragen haben und nun zur Legende geworden sind. Beide Geschichten beginnen mit der Schilderung einer Gruppe von Menschen, die abends vor einem wärmenden Feuer von ihren Plänen und Wünschen berichten. Während der „ehrsüchtige Gast“ jedoch vom Schicksal für sein anmaßendes Streben nach Ruhm bestraft wird und spurlos vom Erdboden verschwindet, wird Matthew und Hannah die Einsicht gewährt, dass ihre selbstsüchtige Suche ihnen kein Glück bringen wird. Diese beiden gegensätzlichen Auflösungen stehen sinnbildlich für Oberons zwiespältige Gefühle auf der Suche nach seiner eigenen Bestimmung im Leben. Diese Zweifel sind das grundlegende Thema der Rahmenhandlung des Story Teller, die somit einem Bildungsroman gleichkommt. The Great Carbuncle scheint auch in den letzten Tagebuchaufzeichnungen Oberons nachzuhallen, die 1837 als Fragments from the Journal of a Solitary Man erschienen: Kurz vor seinem Tod ist er vom Gedanken besessen, „dass ich niemals das wahre Geheimnis meiner Kräfte entdeckt habe; dass da ein Schatz zum Greifen nah war, eine Goldmine unter meinen Füßen, wertlos, weil ich sie nie zu suchen verstand.“
Deutungen
Rezeptionsgeschichte
Von den zeitgenössischen Kritikern wurde The Great Carbuncle überaus positiv aufgenommen. Henry Wadsworth Longfellow erklärte 1837 in der North American Review in seiner Rezension der Twice-Told Tales, diese Erzählung habe ihm am besten gefallen und äußerte sein Bedauern, sie nicht in voller Länge abdrucken zu können. Auch Elizabeth Palmer Peabody zeigte sich im Jahr darauf in The New-Yorker sehr angetan: Die Geschichte verbinde aufs Trefflichste die „wilde Einbildungskraft“ und den „allegorischen Geist“ Deutschlands mit dem common sense des Engländers und der natürlichen Empfindsamkeit des Amerikaners. Henry James lobte die Erzählung 1879 in seiner Hawthorne-Biographie ebenfalls, merkte aber an, dass die Geschichte wie einige andere Werke Hawthornes nach nunmehr vierzig Jahren nicht mehr ganz so frisch und originell erscheine, wie sie seinerzeit auf den amerikanischen Leser gewirkt haben muss, gerade als Gegensatz zur sonst recht trockenen Zeitschriftenprosa dieser Zeit.
Zwar wurde sie seither häufiger anthologisiert, doch nahm die Wertschätzung der Literaturkritiker für die Erzählung mit der Zeit merklich ab. Lea Bertani Vozar Newman führt dies ebenso wie ihre einstige Popularität darauf zurück, dass sie eines der konventionellsten Werke Hawthornes darstellt. Sowohl W. R. Thompson als auch Patrick Morrow, zwei der wenigen Literaturwissenschaftler, die bislang eine eingehende Analyse versucht haben, kommen zum Urteil, dass The Great Carbuncle als Geschichte scheitere. Thompson bemängelt, dass die Figuren statisch blieben und ihrer Beschreibung zu viel Raum eingeräumt werde, so dass die Handlung nie recht in Gang komme. Morrow konstatiert, dass die Geschichte die psychologische und moralische Komplexität und Feinfühligkeit vollkommen vermissen lasse, die Hawthornes Meisterwerke auszeichneten; von den Landschaftsbeschreibungen bis zum Schicksal der Protagonisten sei alles allzu explizit vorbuchstabiert, als dass beim Leser noch mitfühlendes Interesse aufkomme. Doubleday wendet dagegen ein, dass Figuren in einer Allegorie wie The Great Carbuncle „Typen“ darstellten, also notwendigerweise statisch seien. Aber auch er ist wenig angetan von der Erzählung, ihr Problem sei nicht, dass sie eine Allegorie sei, sondern dass sie eine misslungene Allegorie sei.
Morrow, Thompson und Neal Frank Doubleday machen sich dennoch die Mühe, das Personal von Hawthornes Allegorie im Einzelnen darzustellen und die „Moral“ der Geschichte auf den Punkt zu bringen. Thompson verweist zudem auf denkbare biblische Vorbilder. Michael J. Colacurcio und David S. Ramsey lenken das Augenmerk hingegen auf den spezifischen amerikanischen Kontext der Erzählung und Hawthornes Umgang mit historischen Quellen.
Allegorie und Satire
The Great Carbuncle vereint Merkmale verschiedener Genres und literarischer Traditionen. Terence Martin erkennt in der Erzählung Charakteristika des Märchens, gerade im Eingangssatz, der die Handlung „in alter Zeit“ (‘At nightfall, once in the olden time…’) verortet und eine Variation der Formel „Es war einmal …“ darstellen mag. Die schablonenhafte Überzeichnung der acht Charaktere lässt sie vielen Interpreten als bloße Personifikationen ihres bestimmenden Wesenszugs (etwa Gier, Hochmut, Unglaube) erscheinen, zumal manche („der Zyniker“, „der Dichter“, „der Sucher“) auch nur mit ihm benannt werden; die Erzählung als Ganzes zeigt somit deutlich Merkmale der Allegorie. Speziell ist auf den Einfluss der berühmtesten Allegorie der englischen Literaturgeschichte hingewiesen worden, John Bunyans The Pilgrim’s Progress (1678), das erste Buch, das Hawthorne im Alter von vier Jahren zu lesen lernte. Auf Bunyan weist etwa die Bezeichnung der Schatzsucher – und schließlich des Erzählers selbst – als „Pilger“ des Großen Karfunkels hin. Auch die verschiedenen Landschaften, die Hannah und Matthew bei ihrem Aufstieg durchwandern, gleichen den allegorischen Stationen von Bunyans Pilger (wie dem „Tal der Demütigung,“ den „lieblichen Bergen,“ dem „verzauberten Grund“ und schließlich die „himmlische Stadt“). Bunyan, der der puritanischen Tradition entstammte, teilt mit Hawthornes neuenglischen Vorfahren und noch seinen Zeitgenossen einen Hang zur religiösen Typologie, und so können die allegorischen Elemente auch als Aneignung oder Parodie der Predigten des Puritanismus oder auch der Erweckungsbewegungen gelesen werden, die Neuengland und New York noch zu Hawthornes Lebzeiten mit einiger Regelmäßigkeit erfassten.
Neben den märchenhaften und allegorischen, also „zeitlosen“ Merkmalen enthält die Erzählung aber auch Hinweise auf ihren spezifischen historischen und kulturellen Kontext. So ist sie geographisch präzise in den Bergen New Hampshires verortet, und ein Hinweis auf die Erkundungsfahrten des John Smith legt nahe, dass die Erzählung wie viele der Werke Hawthornes in der Kolonialzeit Neuenglands angesiedelt ist. Auch die Beschreibung der Figuren enthält teils recht spezifische Angaben und lässt so Anflüge politischer oder gesellschaftlicher Satire erkennen. Deutlich wird dies insbesondere im Falle von Ichabod Pigsnort: Er ist Kirchenvorstand in der First Church Bostons, also der prestigeträchtigsten Gemeinde Neuenglands. Seine Gottesfurcht ist indes mindestens so ausgeprägt wie seine Raffgier – man erzählt sich, dass er (ähnlich wie Dagobert Duck) die „Gewohnheit hätte, sich jeden Morgen und Abend nach dem Gebet eine Stunde lang nackt in einem Riesenhaufen von Schillingen zu wälzen.“ Für Hawthornes Karikatur der neuenglischen Eliten bietet sich auch ein unmittelbares literarisches Vorbild an, nämlich Ichabod Crane, der Yankee-Schulmeister, der in Washington Irvings gattungsprägender Kurzgeschichte The Legend of Sleepy Hollow (1820) gefoppt wird. Auch Hawthornes Ichabod ereilt die poetische Gerechtigkeit; er wird schließlich von Indianern nach Kanada verschleppt, muss ein hohes Lösegeld zahlen und besaß den Rest seines Lebens „selten Kupfer im Wert von sechs Pence.“ Deutlich satirisch fällt auch die Beschreibung des Chemikers Dr. Cacaphodel aus, ein kleiner ältlicher Mensch, fast eine Mumie, der einen „wie einen Schmelztiegel geformten Hut trug.“ William Collins Watterson erkennt in ihm eine Karikatur von Parker Cleaveland, dem „Vater der amerikanischen Mineralogie,“ dessen exzentrische Erscheinung Hawthorne während seiner Studienzeit am Bowdoin College häufig zu Augen bekam. Doch auch für Cacaphodel bietet sich ein literarisches Vorbild an, der Apotheker „Cacafogo“ in Oliver Goldsmiths The Citizen of the World (1760–1762).
Morrow und Doubleday machen die Mischung allegorischer und satirischer Elemente für das „Scheitern“ der Geschichte verantwortlich, der Franzose Renaud Zuppinger hingegen sieht in ihr eine gelungene Innovation: Hawthorne knüpfe mit der Allegorie zum einen an eine klassische (oder klassizistische) Tradition an und wisse auch die Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung zu wahren, zum anderen schaffe er durch die „karnevaleske“ Ansammlung so verschiedener Gestalten aber auch ein mehr oder minder realistisches soziales Panorama, eine ihrer Zeit entsprechende comédie humaine. Für andere Kritiker überwiegt aber letztlich der Gleichnischarakter der Erzählung. Sowohl Thompson als auch Morrow sehen die christliche Brüderlichkeit, oder vielmehr ihr Fehlen, als zentrales Thema der Erzählung an. Terence Martin sieht in der Entscheidung Matthews und Hannahs eine Affirmation des Ideals der bescheidenen Häuslichkeit, das besonders die zeitgenössischen Frauenzeitschriften, aber auch viele Werke Hawthornes (wie etwa The Ambitious Guest) präge. Auch Alfred Weber sieht die „Moral“ der Erzählung in der Erkenntnis, dass menschliches Glück nur „im vertrauten Bereich des Alltags und im Schein des häuslichen Herdes“ möglich sei. Der didaktisch-moralistische Gestus erscheint vielen der Kommentatoren in dieser Erzählung geradezu aufdringlich; Alison Easton mutmaßt indes, dass Hawthorne sich hier parodistisch betätigt oder zumindest ein Pastiche der biederen, oft rührseligen Erbauungsliteratur seiner Zeit zeichnet.
Morrow führt darüber hinaus aus, dass die Erzählung zugleich eine Parabel über die Grenzen und Gefahren der Erkenntnis sei: Sowohl im Falle des Suchers wie in dem des Zynikers nimmt die Suche nach dem Karfunkel monomanische, letztlich selbstzerstörerische Züge an; der eine bezahlt dafür mit seinem Leben, der andere verliert sein Augenlicht – Morrow vergleicht ihr Schicksal so mit dem Kapitän Ahabs in Melvilles Moby-Dick. Hannah und Matthew hingegen ließen sich zwar in der Erzählung nach ethischen Maßstäben am wenigsten zuschulden kommen, ihren Seelenfrieden erkaufen sie jedoch mit einem Mangel an Erkenntnis. Colacurcio merkt zudem an, dass ihre „Erlösung“ keineswegs sicher sei, wie die vorangegangene Erzählung verdeutlicht – genau wie die todgeweihte Familie in The Ambitious Guest könne auch ihre bescheidene Hütte jederzeit von einem gleichgültigen oder zornigen Gott zerstört werden.
Biblische Bezüge
W. R. Thompson führt einige biblische Subtexte für die Erzählung an, die schon durch Hawthornes Namensgebung nahegelegt werden, denn drei seiner Figuren tragen biblische Namen, und sein Erzähler merkt zu Hannah und Matthew an, sie trügen „zwei schlichte Namen, die aber gut zu dem einfachen Paar passten“. Der Name Ichabod wird im 1. Buch Samuel erklärt: Er bedeutet im Hebräischen „unrühmlich“ (: „Sie nannte den Knaben Ikabod – das will besagen: Fort ist die Herrlichkeit aus Israel“) und passt folglich ebenso zur spöttischen Beschreibung des pharisäerhaften Ichabod Pigsnort (Pigsnort bedeutet wiederum wörtlich „Schweingrunz“).
Ebenfalls im 1. Buch Samuel findet sich die Geschichte der Hanna. Sie pilgerte jedes Jahr nach Schilo, dem höchsten Heiligtum der Israeliten, um vom Herrn Erlösung von ihrer Unfruchtbarkeit zu erbitten. Den Verlauf und die Moral von Hawthornes Erzählung sieht Thompson im sogenannten „Lobgesang der Hanna“ bis ins Detail vorgebildet. In ihrem Gebet preist sie die Gerechtigkeit des Herrn, der stets den Schwachen beistehe („von ihm werden Taten gewogen. Der Bogen der Starken ist zerbrochen, und die Schwachen sind umgürtet mit Stärke… Der HERR macht arm und macht reich; er erniedrigt und erhöht“). Das Schicksal Ichabod Pigsnorts scheint in Hannas Lobgesang ebenso vorgezeichnet („Die da satt waren, müssen um Brot dienen“) wie die Blendung des Zynikers („die Gottlosen sollen zunichte werden in Finsternis“). Ihre Zuversicht, der Herr werde „behüten die Füße seiner Heiligen“, erinnert zudem an die Bergbesteigung bei Hawthorne: Hannah und Matthew hätten, so der Erzähler, wohl versucht, „zwischen Himmel und Erde so weit und so hoch zu steigen, wie sie für ihre Füße Halt fanden,“ und als Hannah taumelt und abzurutschen droht, fängt sie sich noch rechtzeitig.
Der Name Matthew deutet schließlich auf das Matthäusevangelium; hier lässt sich insbesondere eine berühmte Passage der Bergpredigt Jesu plausibel mit The Great Carbuncle in Zusammenhang bringen: „Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben. Man zündet auch nicht ein Licht an und stülpt ein Gefäß darüber, sondern man stellt es auf den Leuchter; dann leuchtet es allen im Haus. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen“ . Der Dichter plant hingegen, den Karfunkel unter seinem Mantel verborgen in seine Kammer nach London zu bringen, um ihn dort ganz für sich allein zu haben; der Zyniker entgegnet ihm darauf spöttisch: „Ihn unter deinem Mantel verbergen, sagst du? Da wird er doch durch die Löcher scheinen, und du wirst wie eine Kürbislaterne aussehen!“ Hannah und Matthew wollen den Karfunkel zwar auch für sich, auf dass er an den langen Winterabenden ihr Heim erleuchte, entscheiden sich aber schließlich ganz im Sinne der biblischen Verheißung dagegen: „Am Abend zünden wir in unserem Kamin ein fröhliches Feuer an und werden in seinem Schein glücklich sein. Nie wieder aber wollen wir uns mehr Licht wünschen, als alle Welt mit uns teilen kann.“ Michael J. Colacurcio merkt dazu an, dass sich eingedenk Morrows Interpretation noch eine benachbarte matthäische Stelle als Verweis aufdrängt, namentlich Mt 5,3: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.“
Geschichte und Wildnis
Der Umstand, dass Hawthorne The Great Carbuncle und viele andere seiner Geschichten in seiner Heimat Neuengland ansiedelte, ist im Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Bemühen zu sehen, eine eigenständige amerikanische Nationalliteratur zu etablieren. So ist zwar gerade die unberührte, „jungfräuliche“ Natur Amerikas zu einem wichtigen Topos der amerikanischen Literatur geworden, doch beklagten über Generationen hinweg zahlreiche amerikanische Schriftsteller, dass es Amerika an einer reichen Vergangenheit zu mangeln schien, aus der sich literarisches Kapital schlagen ließe; noch viele der schaurigen Geschichten Edgar Allan Poes spielen in den jahrhundertealten Burgen, Schlössern und Klöstern des feudalen Europa. Hawthorne folgte hingegen in vielerlei Hinsicht dem Vorbild Washington Irvings, der seine Erzählungen Rip Van Winkle und The Legend of Sleepy Hollow (1819–1820), beide angelehnt an deutsche Volkssagen, in der Kolonialzeit seines Heimatstaats New York ansiedelte und als amerikanische „Legenden“ ausgab. Auch Hawthorne betont in The Great Carbuncle wie auch in The Ambitious Guest, dass er auf „volkstümliche“ Stoffe zurückgreife und Geschehnisse schildere, die sich in einer mehr oder minder weit entrückten Vergangenheit tatsächlich ereignet hätten und seither mündlich überliefert würden oder zumindest in staubigen alten Chroniken nachzulesen seien. Wichtig ist dabei die enge Ortsgebundenheit, so wie Irving mit seinen Erzählungen den Catskills zu einem sagenumwobenen pastoralen Idyll verklärte, so verhalf Hawthorne den „wilden“ White Mountains zu einer historischen Patina. Irvings Sketch Book dürfte Hawthorne noch in anderer Hinsicht Vorbild gestanden haben; wie im Story Teller sind die Erzählungen des Sketch Book in eine Rahmenerzählung eingebettet, die einer Künstlerbiographie des Ich-Erzählers (Oberon bei Hawthorne, „Dietrich Knickerbocker“ bei Irving) gleichkommt.
Leo B. Levy zufolge ist das Naturbild in The Great Carbuncle indes untypisch für Hawthorne. Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen James Fenimore Cooper und Henry David Thoreau stellt er die Natur in seinen Werken kaum ja in ihrer Ursprünglichkeit dar, sondern zumeist im Sinne der Picturesque-Ästhetik bereits komponiert, gedeutet und gestaltet. Der Ästhetik des Erhabenen, das Gefühl der Überwältigung und Ehrfurcht im Angesicht einer „ungebändigten“ Natur misstraue Hawthorne hingegen, wie überhaupt jeder Emotion, die unbedingte Hingabe verlange und nicht durch den Verstand austariert werde. Auch Hannah und Matthew fürchten sich bei ihrem Aufstieg zum Gipfel vor dem, was ihnen unvertraut und unerklärlich ist:
Dennoch, so Levy, ist The Great Carbuncle neben The Great Stone Face eine der wenigen Erzählungen Hawthornes, in denen er das Erhabene über das „Pittoreske“ stelle, denn schließlich finden Hannah und Matthew den Karfunkel, den Inbegriff des Erhabenen, „ließen dann jedoch erschauernd und in ehrfurchtsvoller Bewunderung die Lider sinken, um die blendende Pracht“ auszuschließen; Hawthorne mache deutlich, dass ihnen dies gerade durch ihr schlichtes Gemüt und ihren naiven Glauben vergönnt war (wohingegen der „Zyniker“ bei dem Anblick geblendet wird). Dass sie den Karfunkel nicht an sich nehmen und sich stattdessen ihres häuslichen Glücks entsinnen, widerspreche dieser Deutung nicht: Sie verdeutliche vielmehr die Einsicht, dass das Erhabene nach menschlichem Ermessen nicht zu „fassen“ ist. Letztlich ist Levy zufolge aber nicht das romantische Naturerlebnis zentral für die Erzählung, sondern letztlich eine religiöse Erfahrung: The Great Carbuncle ist demnach eine Parabel über die spirituelle Befindlichkeit der Puritaner Neuenglands und ihrer unbedingten Hingabe an einen allmächtigen und unerklärlichen Gott.
Kritik an den nationalromantischen Prämissen übt David S. Ramsey. Zwar sei die Geschichte volkstümlich in dem Sinne, dass sich Hawthorne, wie er glaubt, vor allem auf die mündliche überlieferte Familientradition der Familie Crawford berief, deren Gasthaus in den White Mountains Hawthorne auf seiner Reise 1832 ebenso aufsuchte wie später sein Alter Ego Oberon im Story Teller. Diese Folklore ist in Lucy Crawfords History of the White Mountains (1846) erhalten. Demnach ist die Legende vom „Großen Karfunkel“ ursprünglich eine indianische Sage: Demnach hätten die Indianer, die die Gegend vormals besiedelten, einst einen der ihren getötet, auf dass sein Geist darüber wache, dass dieser Schatz nicht in die Hände der Weißen gerate. Dass Indianer in Hawthornes Erzählung keine Rolle spielen, hält Ramsey für signifikant. In der Erzählung selbst werden sie nur in einer kurzen Nebenbemerkung genannt, und Oberon gibt in der einleitenden Skizze freimütig zu, dass er Indianergeschichten eigentlich verabscheue (‚I do abhor an Indian story‘). Im vermeintlich pluralistischen Mikrokosmos, den Hawthorne mit dem Lagerfeuer der Schatzsucher imaginiert, sei für die Ureinwohner kein Platz, die Geschichte entpuppe sich letztlich als „kultureller Monolog.“
Quellenforschungen und historistische Interpretationen
Die Quellenforschung zieht verschiedene Vorbilder für The Great Carbuncle in Betracht. Neal Frank Doubleday glaubt wie Ramsey, dass Hawthorne vom Karfunkel wohl in Crawfords Ethans Gasthaus gehört haben mag, als literarisches Vorbild führt er aber eine Episode im 19. Kapitel von Walter Scotts Roman The Pirate (1822) an. Nicht nur ist hier von einem unheimlich leuchtenden Karfunkel die Rede, der für jeden, der ihn sucht, unsichtbar und damit unerreichbar wird, Doubleday sieht hier auch die „Moral“ von The Great Carbuncle vorgebildet: Scotts Romanfigur Norna beklagt, dass sie in ihrer ungestümen Jugend Unerreichbares begehrte und sich „verbotener Mittel“ bediente, um ihr Wissen zu vergrößern. Dieses faustische Verlangen, die Grenzen der Erkenntnis (oder auch der Sterblichkeit) um jeden Preis zu überwinden, ist zentral für viele andere Erzählungen Hawthornes; Doubleday führt insbesondere Ethan Brand und The Birthmark zum Vergleich an.
Kenneth Walter Cameron weist auf eine Passage in Jeremy Belknaps The History of New-Hampshire (1784–1792) als mögliche Quelle hin. Belknap berichtet, die Indianer glaubten, auf dem Gipfel des ‚Agiocochook‘ (also des Mount Washington) lebten „unsichtbare Wesen,“ und warnten davor, den Gipfel zu besteigen. Auch hätten englische Kriegsgefangene, die von den Indianern durch diese Gegend nach Kanada verschleppt wurden, nachts in den Gipfeln Karfunkel leuchten sehen.
Hawthornes Erzähler selbst benennt zwei Autoritäten für die Legende vom „großen Karfunkel,“ eine indirekt, eine explizit. Wie Michael J. Colacurcio zeigt, erscheint die Erzählung in einem völlig anderen Licht, wenn man Hawthornes Hinweisen folgt und diese Quellen auch aufsucht; die Ironien, die sich auftäten, seien schlechterdings unfassbar. Zum einen verweist Oberon noch in Our Evening Party among the Mountains vage auf den „Biographen der Indianerhäuptlinge“ (‚the biographer of the Indian chiefs‘). Gemeint ist offensichtlich Samuel Gardner Drakes Indian Biography (1832); in der einzigen Erwähnung der White Mountains in diesem Werk ist indes nicht von einem Edelstein die Rede, nur von einem rätselhaften See hoch in den Bergen, aus dem bei Sonnenschein in einer großen Säule Dunstschwaden aufstiegen, aus denen sich schließlich eine Wolke bilde. Zum anderen behauptet Hawthorne in einer Fußnote zu Beginn der Erzählung, dass „Sullivan, in seiner Geschichte Maines, geschrieben nach der Revolution“ berichte, dass die Existenz des Karfunkels noch zu seiner Zeit nicht vollkommen ausgeschlossen würde. Besieht man sich aber die entsprechende Stelle in James Sullivans History of the District of Maine (1795), so ist dort nur zu lesen, „die Wilden Nordamerikas, gerissen wie sie waren“, hätten die Raffgier der weißen Siedler bald erkannt und sie arglistig ermuntert „in ihrer fruchtlosen Suche nach Bergen voller Erz“ und einem „ungeheuer großen und wertvollen Edelstein,“ der auf einem bestimmten Gipfel zu finden sei.
Colacurcio verweist weiter auf die Quellenforschungen John Seelyes, denen zufolge Hawthorne in The Great Carbuncle auf die Aufzeichnungen John Winthrops zurückgreift. Winthrop, einer der Gründer der Kolonie Massachusetts, kolportiert darin indianische Berichte von einem „großen See,“ von dem die meisten und wertvollsten Biberfelle stammten und sinniert darüber, wie er die Kontrolle über diese Ressourcen erlangen kann. Dass Hawthorne eine Assoziation mit Winthrop im Sinn hatte, legt zudem die von Thompson als Subtext der Erzählung ausgedeutete Passage aus der Bergpredigt hin – sie steht im Mittelpunkt der berühmten Predigt (A Model of Christian Charity), die Winthrop 1630 kurz vor dem Landgang der puritanischen Siedler anlässlich der Gründung der Massachusetts Bay Colony hielt. Winthrops Trope von der City upon a Hill, der „Stadt auf dem Berge,“ mahnte die Siedler, der Welt ein Vorbild zu sein, und gilt bis heute als eine der ersten und wirkmächtigsten Manifestationen des amerikanischen „Exzeptionalismus“. Colacurcio wittert hinter all diesen Ironien eine subversive Absicht Hawthornes. Der Karfunkel repräsentiere demnach nichts geringeres als die „Idee Amerika,“ und entscheidend sei seine „strategische Abwesenheit“ in der Geschichte – niemand erblickt in ihr je mehr als einen Abglanz, nie aber das Juwel selbst.
Literatur
Ausgaben
Die Erstausgabe der Erzählung findet sich in:
S. G. Goodrich (Hrsg.): The Token and Atlantic Souvenir: A Christmas and New Year’s Present. Charles Bowen, Boston 1837, S. 156–75.
In der maßgeblichen Werkausgabe, der Centenary Edition of the Works of Nathaniel Hawthorne (Ohio State University Press, Columbus OH 1962 ff.), findet sich The Great Carbuncle im von Fredson Bowers und J. Donald Crowley herausgegebenen Band IX (Twice-Told Tales, 1974), S. 149–65. Einige der zahlreichen Sammelbände mit Kurzgeschichten Hawthornes enthalten die Erzählung; eine verbreitete, auf der Centenary Edition aufbauende Leseausgabe ist:
Nathaniel Hawthorne: Tales and Sketches. Herausgegeben von Roy Harvey Pearce. Library of America, New York 1982. ISBN 1-883011-33-7
Ein E-Text findet sich auf den Seiten von Wikisource:
Es liegen mehrere Übersetzungen ins Deutsche vor:
Der große Karfunkel. Deutsch von Franz Blei. In: Nathaniel Hawthorne: Die Totenhochzeit. Südbayerische Verlagsanstalt, München-Pullach 1922. (Digitalisat beim Projekt Gutenberg-DE)
ohne Angabe des Übersetzers Franz Blei findet sich diese Fassung auch in: Nathaniel Hawthorne: Der Garten des Bösen und andere Erzählungen. Hrsg. von R. W. Pinson. Magnus Verlag, Essen 1985. ISBN 3-88400-216-3
auch in: Nathaniel Hawthorne: Die Mächte des Bösen: Unheimliche Geschichten. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2014, ISBN 978-3-423-14300-4.
Der große Karfunkel. Deutsch von Günter Steinig. In: Nathaniel Hawthorne: Der große Karfunkel. Phantastische Erzählungen. Safari-Verlag, Berlin 1959.
Der große Karfunkel. Deutsch von Lore Krüger. In: Nathaniel Hawthorne: Der schwarze Schleier. Ausgewählte Erzählungen. Insel, Leipzig 1980. (= Insel-Bücherei 653)
Sekundärliteratur
Michael J. Colacurcio: The Province of Piety: Moral History in Hawthorne’s Early Tales. Duke University Press, Durham NC 1984. ISBN 0-8223-1572-6
Neal Frank Doubleday: Hawthorne’s Early Tales: A Critical Study. Duke University Press, Durham NC 1972.
Leo B. Levy: Hawthorne and the Sublime. In: American Literature 37:4, 1966, S. 391–402.
Patrick Morrow: A Writer’s Workshop: Hawthorne’s ’The Great Carbuncle’. In: Studies in Short Fiction 6, 1969. S. 157–64.
Lea Bertani Vozar Newman: A Reader’s Guide to the Short Fiction of Nathaniel Hawthorne. G. K. Hall, Boston 1979.
David S. Ramsey: Sources for Hawthorne’s Treatment of a White Mountain Legend. In: Studies in Language and Culture (Graduate School of Languages and Cultures, Nagoya University) 26:1, 2004. S. 189–201.
W. R. Thompson: Theme and Method in Hawthorne’s ’The Great Carbuncle’. In: South Central Bulletin 21, 1961. S. 3–10.
Alfred Weber: Die Entwicklung der Rahmenerzählungen Nathaniel Hawthornes. „The Story Teller“ und andere frühe Werke. Erich Schmidt Verlag, Berlin 1973. ISBN 3-503-00714-8
William Collins Watterson: . In: Bowdoin Magazine, 11. November 2009.
Renaud Zuppinger: Vanitas vanitatis; ou, La gemme mal aimée: The Great Carbuncle de Hawthorne. In: Études anglaises 46:1, 1993. S. 10–18.
Weblinks
Einzelnachweise
Literarisches Werk
Literatur (Englisch)
Literatur (19. Jahrhundert)
Literatur (Vereinigte Staaten)
Erzählung
Werk von Nathaniel Hawthorne |
7577835 | https://de.wikipedia.org/wiki/The%20Gray%20Champion | The Gray Champion | The Gray Champion ist eine 1835 erschienene kurze Erzählung des amerikanischen Schriftstellers Nathaniel Hawthorne. Es liegen mehrere Übersetzungen ins Deutsche vor: Der graue Streiter (deutsch von Franz Blei, 1925), Der graue Beschützer (Friedrich Minckwitz, 1970), Der graue Kämpfer (Hannelore Neves, 1977) und Der weißhaarige Kämpfer (Lore Krüger, 1979).
Die Handlung trägt sich im Jahr 1689 in Boston zu: Als der verhasste königliche Gouverneur Edmund Andros zur Einschüchterung des Volkes durch die Stadt paradiert, stellt sich ihm plötzlich ein mysteriöser alter Mann in alter puritanischer Tracht in den Weg und prophezeit ihm das Ende seiner Herrschaft. Andros befiehlt seinen Soldaten verunsichert den Rückzug, und am nächsten Tag wird er tatsächlich durch einen Volksaufstand gestürzt. Der „graue Kämpfer“ verschwindet ebenso unvermittelt, wie er gekommen ist, aber es heißt, dass er zu Zeiten der Amerikanischen Revolution wieder erschienen sei und immer dann wiederkehre, wenn Neuengland Gefahr drohe. Hawthorne vermengte in The Gray Champion verschiedene historische Ereignisse, zum einen den Bostoner Aufstand von 1689, zum anderen die Legende vom „Engel von Hadley“, der zufolge der Königsmörder William Goffe die Siedler der Stadt Hadley 1675 bei einem Indianerangriff aus höchster Not gerettet haben soll.
In der Literaturwissenschaft konkurrieren zwei entgegengesetzte Deutungen der Erzählung. Gemäß der herkömmlichen Interpretation steht die mit viel patriotischem Pathos erzählte Geschichte ganz im Dienste einer nationalistischen Interpretation der amerikanischen Geschichte, die die Puritaner des 17. Jahrhunderts und die Revolutionäre des 18. Jahrhunderts gleichermaßen als heldenhafte Freiheitskämpfer darstellt. Demgegenüber behauptet seit den 1960er Jahren eine wachsende Zahl von Kritikern eine ironische Absicht Hawthornes; The Gray Champion ist demnach vielmehr eine Kritik des Puritanismus und der unkritischen Ahnenfrömmigkeit der amerikanischen Geschichtsschreibung.
Inhalt
Eine kurze Einleitung erläutert den historischen Kontext der Erzählung: Sie handelt im April 1689, zu der Zeit, als König Jakob II. die alten Rechte der Kolonien in Neuengland außer Kraft gesetzt und den „rohen, gewissenlosen Soldaten“ Edmund Andros zu ihrem Gouverneur ernannt hatte. Nun verbreiten sich Gerüchte, dass in England ein vom Prinz von Oranien angeführter Umsturzversuch im Gange sei. Die Aussicht, dass Jakob vom Thron gestürzt und auch die tyrannische Herrschaft Andros’ bald enden würde, sorgt in den Straßen für eine „brodelnde, lautlose Erregung,“ die Leute lächelten „einander geheimnisvoll zu und warfen kühne Blicke auf ihre Unterdrücker.“
In dieser angespannten Lage setzt die Handlung ein. Um seine Macht zu demonstrieren, reitet Andros eines Abends mit seiner Entourage durch Boston. Wie eine „Maschine, die unerbittlich alles niederwalzt, was sich ihr in den Weg stellt“, marschieren seine Soldaten auf der King Street auf, gefolgt vom Tross des Gouverneurs mit seinen betrunkenen Beratern wie Benjamin Bullivant und dem „elenden Schurken“ Edward Randolph. Von ihren Rössern herab verspotten sie das eingeschüchterte Volk, Angst und Wut machen sich breit. Der alte Gouverneur Simon Bradstreet versucht vergebens, die Menge zu beschwichtigen. Eine verzweifelte Stimme warnt, bald werde „Satan uns sein Meisterstück liefern“, eine andere, es werde eine neue Bartholomäusnacht geben und Mann und Kind hingeschlachtet, eine dritte schickt ein Stoßgebet zum Himmel: „Oh! Herr der Heerscharen! Sende deinem Volk einen Fürsprecher!“ Da erscheint plötzlich ein alter Mann auf der menschenleeren Straße, bewaffnet mit Stock und Schwert. Er trägt einen Spitzhut und einen dunklen Umhang, die „Kleidung der alten Puritaner“ vergangener Jahrzehnte. Obwohl er offenkundig eine Person von großer Autorität ist, kann niemand sagen, wer dieser „alte Patriarch“ ist. Zum Erstaunen der Menge schreitet der Greis entschlossen auf die Reihen der Soldaten zu, streckt seinen Stock „wie einen Marschallstab“ vor sich aus und gebietet ihnen, einzuhalten. Als Andros ihn anherrscht, wie er es wagen könne, sich König Jakobs Gouverneur in den Weg zu stellen, erwidert er in „finsterer Gelassenheit“ und in altertümlich anmutendem Englisch:
Diese Worte bringen die Menge noch mehr in Wallung, Gewalt liegt in der Luft, und da der Alte standhaft den Weg versperrt, befiehlt der verunsicherte Andros seinen Soldaten den Rückzug. Am nächsten Tag erfüllt sich die Prophezeiung: Wilhelm von Oranien wird in Neuengland zum König ausgerufen, Andros gestürzt und ins Gefängnis geworfen. Der „graue Kämpfer“ aber verschwindet ebenso plötzlich, wie er gekommen war. Der Erzähler hat aber sagen hören, dass er „immer dann wiedererscheine, wenn die Puritaner aufgerufen werden, den Geist ihrer Vorväter zu bezeugen.“ So sei er achtzig Jahre später auf der King Street gesehen worden (also zur Zeit des „Massakers von Boston“), zuletzt bei den Gefechten von Lexington und Bunker Hill (mit denen 1775 der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg begann).
Werkzusammenhang
Entstehung, Editionsgeschichte
The Gray Champion erschien erstmals 1835 im Januarheft des New-England Magazine und wie alle Werke Hawthornes vor 1837 zunächst anonym, hier aber mit dem Hinweis, die Geschichte sei vom selben Autor wie The Gentle Boy (erschienen 1831 im Token). 1837 veröffentlichte Hawthorne sie dann im ersten Band seiner Sammlung Twice-Told Tales, die zugleich seine erste namentlich gezeichnete Publikation darstellt. The Gray Champion eröffnet diesen Band, was zahlreiche Kritiker zur Vermutung verleitet hat, dass Hawthorne der Erzählung besondere Bedeutung zumaß und sie womöglich als programmatisch für sein literarisches Schaffen verstanden wissen wollte. Zwischenzeitlich sah der Verlag sogar den Titel The Gray Champion, and Other Tales für die Sammlung vor, wobei unklar ist, ob dieser Titel Hawthornes Idee war oder die seines Verlegers.
Ursprünglich war The Gray Champion aber mit großer Wahrscheinlichkeit Teil von mindestens einem der anderen Erzählzyklen, die Hawthorne in den Jahren zuvor erstellt hatte, die aber nie in ihrer Gesamtheit erschienen und heute verloren sind. Die Mehrheit der Forscher, die sich mit dieser bibliographischen Frage auseinandergesetzt haben, geht davon aus, dass The Gray Champion Teil der Sammlung Provincial Tales war, die Hawthorne um 1828 bis 1830 zusammenstellte. Zu den Ausnahmen zählen Nina Baym sowie J. Donald Crowley, einer der Herausgeber der heute maßgeblichen Werkausgabe, der Centenary Edition of the Works of Nathaniel Hawthorne; beide rechnen sie mit Verweis auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung erst Hawthornes nächstem Projekt zu, dem gerahmten Erzählzyklus The Story-Teller (um 1832–1834), der ebenso wenig in seiner Gesamtheit erhalten ist. Zwar begann das New-England Magazine 1834 mit dem Serienabdruck des Werks, brach ihn aber nach zwei Heften ab und brachte ab 1835 nur noch einige Einzelerzählungen und andere Fragmente ohne Rücksicht auf den ursprünglichen Zusammenhang. Da in diesem Blatt auch The Gray Champion erschien, liegt es nahe, dass auch diese Geschichte aus dem Story-Teller herausgelöst wurde. Alfred Weber, der 1973 den bislang detailliertesten Rekonstruktionsversuch der frühen Erzählzyklen vorlegte, hält dies für wahrscheinlich, aber nicht zwingend, Hawthorne könne die Geschichte auch zusätzlich eingereicht haben. Zu den erhaltenen Teilen der Rahmenerzählung des Story-Teller kann Weber anders als bei anderen Geschichten keine Bezüge ausmachen, was sich für ihn damit erklärt, dass sie zunächst für die Provincial Tales verfasst wurde. Auch Alison Easton vermutet, dass Hawthorne die Geschichte nach dem Scheitern der Provincial Tales für den Story-Teller übernahm.
Für eine Entstehung vor 1830 und somit für eine Zuordnung zu den Provincial Tales sprechen die Erkenntnisse der Quellenforschung: Zwischen 1826 und 1830 las Hawthorne, wie aus den erhaltenen Ausleihregistern des Salem Athenæum hervorgeht, einige historiographische Werke, die die Forschung als Hauptquellen für The Gray Champion identifiziert hat. Thematisch entspricht The Gray Champion der grundsätzlichen Vorstellung der Provincial Tales, auf die sich die verschiedenen Rekonstruktionsversuche einigen können. Wie der Titel deutlich macht, waren ihre Erzählungen „provinziell“, befassten sich also mit Hawthornes Heimat Neuengland, insbesondere mit der Kolonialzeit (bis zur Unabhängigkeit hieß die Kolonie Massachusetts offiziell Province of Massachusetts Bay). Weber arbeitet mit der Hypothese, dass die Sammlung neben The Gray Champion sechs weitere Erzählungen umfasste, namentlich Alice Doane, The Gentle Boy, My Kinsman, Major Molineux, Roger Malvin’s Burial, The Wives of the Dead sowie The Maypole of Merry Mount. Sie alle beginnen mit einer der eigentlichen Handlung vorangestellten historischen Einleitung, die Weber somit als kennzeichnendes und programmatisches Merkmal der Sammlung ausmacht.
Bezüge zu anderen Werken Hawthornes
In engem thematischem Zusammenhang mit den Provincial Tales stehen die vier historisch-biographischen Skizzen über berühmte Persönlichkeiten der Kolonialgeschichte, die Hawthorne zwischen 1830 und 1833 veröffentlichte. Eine davon, Dr. Bullivant, erschienen am 11. Januar 1831 in der Salem Gazette, ist ein Porträt von Andros’ Berater Benjamin Bullivant, der auch in The Gray Champion namentlich genannt wird. Von besonderem Interesse sind die Skizzen aber wegen ihrer Ausführungen über das Verhältnis der Literatur zur Geschichtsschreibung, die als poetologische Begründung der Provincial Tales gelten können. In der Skizze Sir William Phips argumentiert Hawthorne, dass die wissenschaftliche Historiographie sich der historischen Wahrheit vielleicht annähern, sie aber wegen ihrer Pflicht zur Objektivität weder anschaulich noch emotional erfahrbar machen könne. Diese Aufgabe komme der Literatur zu, der man aber dafür eine künstlerische Freiheit im Umgang mit den historischen Tatsachen einräumen muss. Geschichte und Literatur (History und Romance) sind demnach kein Gegensatz, sondern komplementäre Zugänge zur Vergangenheit. Hawthorne rechtfertigt mithin, dass er als Schriftsteller im Revier der Historiker wildert und ihre Methoden und Erkenntnisse nutzt, sich aber dennoch nicht an ihre Zwänge gebunden fühlt. Alison Easton meint, dass von allen Provincial Tales am deutlichsten The Gray Champion nach dieser programmatischen Vorgabe verfasst ist, das Ergebnis erscheint ihr aber wenig gelungen: Die „erfundenen“ Anteile wirkten wie aufgepropft auf die altbekannten historischen Begebenheiten; der Erzähler versäume es, echte Charaktere mit einer subjektiven Perspektive zu entwickeln, verlege sich stattdessen zu sehr auf politische Vorträge und bleibe letztlich stets den Konventionen der zeitgenössischen Prosa verhaftet.
Die Mehrzahl der Kurzgeschichten Hawthornes ist in der Puritanerzeit angesiedelt, die Herrschaft Andros’ thematisieren etwa die vier Legends of the Province House (1838–1839). In besonders engem Zusammenhang zu The Gray Champion stehen George Dekker zufolge insbesondere The Maypole of Merry Mount und The Gentle Boy, da ihre Handlung mehr als etwa Young Goodman Brown oder auch Roger Malvin’s Burial eng mit konkreten Ereignissen und historisch verbürgten Persönlichkeiten der amerikanischen Geschichte verknüpft ist. Alle drei Erzählungen seien so weniger „universal“ oder „zeitlos“ als vielmehr historische Literatur im eigentlichen Sinne. Ihr Plot ist mithin Teil eines „großen Plots“: des weiteren Verlaufs der amerikanischen Geschichte bis zur Revolution und darüber hinaus. Die drei Geschichten thematisieren allesamt auch die Strenge und oftmals in Grausamkeit umschlagende Unnachgiebigkeit der Puritaner gegenüber ihren politischen und religiösen Gegnern – The Maypole of Merry Mount schildert, wie die Soldaten John Endecotts 1628 dem fröhlichen Treiben in der Siedlung des Abenteurers Thomas Morton ein gewaltsames Ende setzten, The Gentle Boy hat die Verfolgung der Quäker nach 1656 zum Thema. Sie alle weisen auch mehr oder minder explizit auf den puritanischen Ursprung des amerikanischen „Nationalcharakters“ und auf das zentrale Ereignis der amerikanischen Geschichte hin, die Revolution. Von besonderem Interesse für jede Untersuchung von Hawthornes Geschichtsverständnis ist daher auch seine einzige Erzählung, die ausdrücklich zur Revolutionszeit angesiedelt ist, nämlich My Kinsman, Major Molineux (1831). Auch diese Geschichte spielt sich auf den Straßen Bostons ab, und in seiner Darstellung der Revolutionäre als gewalttätigem, grausamem Mob zeigen sich vielsagende Parallelen gerade zu The Gray Champion.
Historischer Hintergrund, Quellen
Der Aufstand gegen Andros (1689)
Historischer Hintergrund der Legende ist die politische Krise, die sich am 18. April 1689 in einem Aufstand der Bürger Bostons gegen die Herrschaft des königlichen Gouverneurs Edmund Andros entlud und mit dessen Absetzung und Festnahme endete. Sie begann 1684, als König Charles II. die Charter der Massachusetts Bay Colony widerrief und Massachusetts in eine Kronkolonie umwandelte; 1685 wurde sie mit den benachbarten Kolonien in einem „Dominion of New England“ vereinigt. Hatten die neuenglischen Kolonisten zuvor jährlich einen Gouverneur aus ihren eigenen Reihen gewählt, so mussten sie sich jetzt der Herrschaft eines vom König ernannten Gouverneurs beugen. Andros trat dieses Amt 1687 an. Die Ablehnung, die ihm in Massachusetts entgegenschlug, hatte jedoch nicht nur tagesaktuelle politische Gründe, sondern wurzelte tief in der Geschichte der Kolonie. Massachusetts war 1630 von Puritanern gegründet worden, die vor der Unterdrückung durch die englischen Staatskirche nach Neuengland geflohen waren und dort eine Mustergesellschaft nach ihren politischen und religiösen Vorstellungen zu verwirklichen suchten. Die Angst vor einer neuerlichen Unterdrückung ihres Glaubens wurde 1685 noch durch die Thronbesteigung des Katholiken Jakob II. verstärkt; es verbreiteten sich Gerüchte, dass er England wieder zu einem katholischen Land machen wolle. 1686 bereitete die Gründung des ersten anglikanischen Gotteshauses Neuenglands, der King’s Chapel, dem puritanischen Glaubensmonopol ein Ende. In diesem Kontext ist der Umstand zu verstehen, warum es nicht einmal Andros selbst ist, der die Gemüter der Bostoner in The Gray Champion am heftigsten erregt, sondern der Vertreter der Amtskirche in seinem Ornat. Politisch setzte Jakob II. die absolutistische Politik seines Vorgängers fort, wogegen sich bald in England selbst Widerstand regte. Im Verlauf der Glorious Revolution wurde er letztlich gegen Ende des Jahres 1688 zur Flucht gezwungen und der Protestant Wilhelm von Oranien zum neuen König gekrönt. Die Kolonien erreichte die Nachricht vom Sturz Jakobs II. wegen der heftigen Winterstürme erst im Frühjahr 1689, doch zuvor schon kursierten zahlreiche Gerüchte und heizten die explosive Stimmung weiter an. Im April traf schließlich ein Schiff mit einer Abschrift der Königsproklamation Wilhelms ein. Andros ließ sie konfiszieren und versuchte sie geheim zu halten, doch verbreitete sich die Nachricht in Windeseile, und die Kolonisten machten sich auf einen Griff zu den Waffen bereit. In dieser Situation setzt die Handlung von The Gray Champion ein, nämlich am Vorabend des Aufstands.
Horst Kruse macht für die Schilderung des Aufstands in The Gray Champion zwei Hauptquellen aus: Zum einen Thomas Hutchinsons zweibändige History of the Colony and Province of Massachusetts Bay (1764–1767) in einer Ausgabe von 1795 mit der dazugehörigen Quellenedition Collection of Original Papers Relative to the History of Massachusetts-Bay (1769), zum anderen Daniel Neals History of New-England (1720). So findet etwa die katalogartige Auflistung der Rechtsmissbräuche (grievances) Andros’ zu Beginn der Erzählung eine ganz ähnliche Entsprechung bei Hutchinson. An mehreren Stellen lehnt sich Hawthorne offenbar an die bei Neal in voller Länge abgedruckte Deklaration aus der Feder Cotton Mathers an, die auf dem Höhepunkt der Revolte auf dem Bostoner Marktplatz verlesen wurde. Insbesondere findet sich bei Mather in biblischer Diktion die Zuversicht formuliert, dass Gott die verzweifelten „Klagen der Armen,“ an anderer Stelle die „Schreie der Unterdrückten“ erhören werde („Him, who hears the Cry of the Oppressed […]“). Bei Hawthorne erheben sich aus der Menge am Straßenrand immer wieder verzweifelte „Rufe“ nach göttlichem Beistand („Oh! Herr der Heerscharen! Sende deinem Volk einen Fürsprecher“). Der alte Simon Bradstreet ermahnt sie zwar, kein „lautes Geschrei“ zu erheben, doch später lässt der „graue Kämpfer“ selbst Andros wissen, dass ihn der „Schrei eines unterdrückten Volkes“ erreicht habe und er vom Herrn höchstselbst die Erlaubnis erbeten habe, noch einmal auf Erden zu erscheinen. Ausdrücklich beruft sich Hawthornes Erzähler auf Cotton Mather, als er dessen Beschreibung von Edward Randolph als „elenden Schurken“ (Edward Randolph, our arch-enemy, that „blasted wretch“, as Cotton Mather calls him) übernimmt. Die fragliche Passage findet sich in Mathers Parentator (1724).
Die Quellenforschungen machen auch deutlich, in welchen Punkten Hawthorne den verbürgten Gang der Ereignisse hinter sich lässt. Dass der „graue Kämpfer“ fiktiv ist, dürfte seinen Lesern offensichtlich gewesen sein. Doch schon der provokante Ausritt Andros’ auf der Bostoner King Street ist Hawthornes Erfindung: Tatsächlich findet sich in den Quellen überhaupt kein Hinweis, dass Andros je zu Pferde zu sehen war. Dieses Detail ist signifikant, da es einen symbolischen Kontrast zwischen den Potentaten hoch zu Ross auf der Mitte der Straße und dem an den Rand gedrängten Volk drunten verschärft; Reiterstandbilder galten in den Vereinigten Staaten lange als Inbegriff einer feudalen Gesellschaft. Die statische Straßenszene ist für Kruse die am sorgfältigsten ausgearbeitete Fiktion der Erzählung: Hawthorne arrangiere bedacht ausgewählte Persönlichkeiten der Zeit zu einem allegorischen Gruppenbild, wissentlich auch solche wie den „Verräter“ Joseph Dudley, die zu dieser Zeit nicht in Boston waren, dazu den Parvenü Benjamin Bullivant, den Soldaten Edmund Andros und den pompösen Pfaffen der King’s Chapel.
Der „Engel von Hadley“ (1675)
Die Figur des grauen Kämpfers ist an eine örtliche Legende angelehnt und verweist auf eine frühere Epoche der puritanischen Kolonialzeit. Die Entwicklung der Legende vom so genannten „Engel von Hadley“ ist gründlich erforscht, doch ist bis heute unklar geblieben, inwieweit sie auf historischen Tatsachen beruht. Erstmals wurde sie 1764 im ersten Band von Thomas Hutchinsons History of the Colony and Province of Massachusetts-Bay schriftlich fixiert; alle späteren Versionen lassen sich auf diese eine Quelle zurückführen. Hutchinson berichtet unter Berufung auf eine örtliche Familientradition, dass das Städtchen Hadley 1675 während des King Philip’s War von Indianern umzingelt wurde. Die Siedler feierten gerade den Gottesdienst und wären wohl überrumpelt worden, wenn nicht plötzlich ein alter Mann erschienen wäre und sie vor der Gefahr gewarnt hätte. Der resolute Greis organisierte sogleich die Reihen der Verteidigung, schlug den Angriff zurück und verschwand darauf wieder spurlos. Die Anekdote findet sich bei Hutchinson in einer Anmerkung zur Geschichte der regicide judges, also der Richter, die im Verlauf des englischen Bürgerkrieges 1649 das Todesurteil gegen König Charles I. unterzeichnet hatten. Nach der Restauration des Hauses Stuart auf dem Königsthron 1660 sollten sie ihrerseits für diesen „Königsmord“ belangt werden. Drei von ihnen, John Dixwell, Edward Whalley und William Goffe, flohen darauf nach Neuengland, und wurden ab 1664 in Hadley unter strengster Geheimhaltung von ihren puritanischen Glaubensbrüdern versteckt. Bei der mysteriösen Erscheinung des Jahres 1675 handelte es sich mithin um keinen Geringeren als um den auch militärisch erfahrenen William Goffe, der in einer Stunde der Gefahr für kurze Zeit sein Versteck verließ.
Zwar erscheint es undenkbar, dass die Anwesenheit von drei berühmten Männern in einer kleinen Siedlung über Jahre hinweg selbst den Nachbarn verborgen bleiben konnte, doch beflügelte diese Vorstellung die Fantasie von Hutchinsons Lesern offenbar ebenso wie die dramatische Rettung aus einer Notlage, der Ruch des Königsmordes und nicht zuletzt die unheimlichen, wenn nicht übernatürlichen Qualitäten der Anekdote. In den nächsten Jahrzehnten wurde die Legende immer wieder geschildert und ging schließlich in die Folklore ein. Hawthorne dürfte Hutchinsons Bericht gekannt haben, das unmittelbare Vorbild für The Gray Champion war aber Walter Scotts historischer Roman Peveril of the Peak (1822), mit dem der Stoff auch Eingang in die europäische Literatur fand. Hawthorne ist dabei nur einer von mehreren amerikanischen Schriftstellern, die die Legende auf diesem Wege reimportierten; andere von Scott geprägte Darstellungen sind etwa James Fenimore Coopers Roman The Wept of Wish-ton-Wish (1829) und James Nelson Barkers Bühnenstück Superstition (1826), die Hawthorne ebenfalls gekannt haben mag. Peveril of the Peak stand möglicherweise sogar bei Hawthornes Titelwahl Pate: An einer Stelle betont Scott die grauen Locken des „Engels von Hadley,“ an einer weiteren seine grauen Augen, und nach seinem Verschwinden lässt er die Siedler mutmaßen, dass es sich bei ihm um einen „inspired champion“ gehandelt haben müsse (also einen von Gott berufenen oder zumindest beseelten „Kämpfer“). Hawthornes Wortwahl erinnert manches Mal an Scott, besonders sticht aber eine Parallele am Schluss der beiden Erzählungen hervor. Bei Scott heißt es über das weitere Schicksal des mysteriösen Streiters: „Vielleicht kann seine Stimme noch einmal im Felde sich hören lassen, sollte England eines seiner hochherzigsten Männer bedürfen.“ Gegen Ende von The Gray Champion findet sich eine ähnliche Prophezeiung:
Mit dem Bostoner Aufstand lässt sich Goffe historisch schwerlich in Verbindung bringen, er starb um 1679. Hawthorne besuchte 1828 das Grab Goffes in New Haven sowie die Judge’s Cave, eine Höhle, in der sich die drei „Königsmörder“ einst versteckt haben sollen. Er zeigte sich jedoch wenig beeindruckt und nannte die Höhle gegenüber seinem Begleiter Horace Connolly den „größten Humbug in Amerika“, sie sei nicht einmal tief genug, um darin eine tote Katze zu begraben. Hawthorne konnte seinerzeit noch darauf setzen, dass seine Leserschaft die Geschichte Goffes kannte und seine Anspielung erkennen würden:
Nach ihm griffen etwa noch Delia Bacon und Harriet Beecher Stowe Goffes Biographie auf, doch riss die Folge der Werke über ihn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab und der Stoff geriet weitgehend in Vergessenheit. Mark L. Sargent vermutet, dass dies mit dem Attentat auf Abraham Lincoln (1865) zusammenhängt; sein Mörder John Wilkes Booth rechtfertigte seine Tat als Tyrannenmord.
Deutungen
Deutungsstreit
Während Hawthornes Romane, insbesondere The Scarlet Letter und The House of the Seven Gables, schon seit Hawthornes Lebzeiten eine zentrale Stellung im Kanon der amerikanischen Literatur einnahmen, „entdeckte“ die Literaturwissenschaft seine Kurzgeschichten erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; als Initialzündung gilt die Veröffentlichung von Q. D. Leavis Aufsatz Hawthorne as Poet (1951). The Gray Champion zählt seither zu seinen häufiger besprochenen Erzählungen, jedoch kaum, weil sie als seine gelungenste gälte. Vielmehr exerzieren viele Kritiker gerade an dieser Geschichte das für die Hawthorne-Forschung zentrale Problem der Ironie vor. Hawthornes Prosa ist für ihre Doppelbödigkeit bekannt, so betont etwa Joel Porte, dass bei Hawthorne oft genau das Gegenteil von dem gemeint ist, was scheinbar gesagt wird. Die Schwierigkeit, eine ironische Absicht nachzuweisen, mithin aus den Aussagen seiner Erzählung auf die Intention oder Gesinnung des Autors schließen zu wollen, ist in der Rezeptionsgeschichte Hawthornes so zentral geworden, dass sich dafür der Terminus Hawthorne Question etabliert hat.
Wie wenige Geschichten hat gerade The Gray Champion zu solchen Versuchen angeregt, weil der Hurra-Patriotismus oder besser Jingoismus, den der Erzähler zur Schau trägt, sich kaum mit dem gängigen Bild von Hawthorne als Skeptiker und scharfsinnigem Beobachter menschlicher und gesellschaftlicher Abgründe vereinbaren lässt. The Gray Champion wirkt dabei wie ein Rorschachbild. Für die herkömmliche Lesart stehen Kritiker wie Ursula Brumm, Neal Frank Doubleday und Nina Baym. Sie nehmen den Erzähler beim Wort und sehen die Erzählung so als Ausdruck eines überzeugten wie zeittypischen Patriotismus; noch 1979 bezeichnete Lea Bertani Vozar Newman in ihrem Forschungsüberblick diese Interpretation als vorherrschend. Seit den 1960er Jahren mehren sich Kritiker, die den Text als satirisches Pastiche lesen: Hawthorne rede seinen Zeitgenossen demnach nicht nach dem Wort, sondern äffe sie vielmehr nach. Hervorzuheben sind hier die Arbeiten von Frederick C. Crews (1966), Frederick Newberry (1973/1987), Michael J. Colacurcio (1984) sowie G. R. Thompson (1993).
Nationalistische Interpretationen
Der Kontext der amerikanischen Nationalromantik
Die Vereinigten Staaten hatten als junges, nach einer Revolution aus einstigen englischen Kolonien hervorgegangenes Land einen besonderen Bedarf, sich als Nation zu beweisen, vor allem gegenüber den „alten“ Nationen Europas, aber auch zur Selbstvergewisserung. Der Geschichtsschreibung und der Literatur kam dabei eine besondere Bedeutung zu. Von den Schriftstellern wurde erwartet, dass sie das europäische Vorurteil von den „kulturlosen“ Amerikanern entkräften sollten. In der amerikanischen Geschichtsschreibung wird schon bald nach der Revolution das Bemühen deutlich, die Eigenart und Eigenständigkeit der Amerikaner auch schon in der vorrevolutionären Zeit nachzuweisen und so die Unabhängigkeit und Nationswerdung historisch zu legitimieren. In diesem kulturellen und ideologischen Kontext sind Diktion und Themenwahl von The Gray Champion zu verstehen.
Die Erzählung entspricht in vielerlei Hinsicht dem „Programm“ der amerikanischen Nationalromantik, so schon in der Wahl des Schauplatzes. Noch in Washington Irvings Sketch Book (1819–1820), das Hawthorne in vielerlei Hinsicht ein Vorbild war, sind die meisten Geschichten an europäischen Schauplätzen angesiedelt. Den größten Anklang fanden aber die beiden Ausnahmen, Rip Van Winkle und The Legend of Sleepy Hollow, die im ländlichen New York spielen – allerdings beruhen beide Geschichten auf deutschen Sagenstoffen. The Gray Champion hingegen bearbeitet mit dem „Engel von Hadley“ einen genuin amerikanischen Stoff, der ebenso Merkmale einer Sage oder Legende trägt: Zum einen verknüpft er ein verbürgtes historisches Ereignis mit der märchenhaften Vorstellung eines Schutzengels, zum anderen wurzelt er gemäß Hutchinson in der mündlichen Überlieferung, ist also in gewissem Sinne „volkstümlich,“ und somit nicht nur ein nationales, sondern auch ein typisch romantisches Sujet. Dies erkannte nicht erst Hawthorne, schon 1815 zählte William Tudor in einem Artikel in der North American Review denkwürdige Ereignisse der amerikanischen Geschichte auf, die sich für eine literarische Bearbeitung besonders anböten, und empfahl dabei auch den „Engel von Hadley“. Die Bedeutung des Schauplatzes betont auch Henry James in seiner Hawthorne-Biographie (1879). James, der seine Heimat Neuengland selbst früh verließ und sie hier mit leicht spöttischer Distanz beschreibt, charakterisiert Hawthorne als stolzen Lokalpatrioten. Er habe Massachusetts einen großen Dienst erwiesen, als er den „primitiven Annalen“ des Staates Leben einhauchte, um sie wenigstens pittoresk erscheinen zu lassen. Die Stadt Boston müsse ihm besonders für The Gray Champion dankbar sein, das er als Werk von großer Schönheit hervorhebt und wegen seiner Ökonomie mit einem Kabinettstück vergleicht. Auch lobt er die lebhaften Personenbeschreibungen.
Typologische und nationalistische Geschichtsschreibung
Neben dem Ort ist auch der spezifische historische Hintergrund mit Bedacht gewählt. Der Aufstand gegen Andros 1689 wurde in der amerikanischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts oft als eine Art Bühnenprobe der Amerikanischen Revolution dargestellt, auch wenn die eher für ihre Strenge und Gottesfurcht bekannten Puritaner nur bedingt für die für sie vorgesehene Rebellenrolle taugten. Als frühe Manifestation eines schon damals vorhandenen, spezifisch amerikanischen Freiheitswillens und wichtige Etappe der Nationswerdung beschreibt den Aufstand insbesondere George Bancroft, der führende amerikanische Historiker seiner Zeit, der zudem durch ein besonders pompöses Pathos besticht. Seine zwölfbändige History of the United States erschien zwar erst ab 1834 und kommt als direktes Vorbild nicht in Frage, doch kannte Hawthorne sicher seine früheren Schriften. Bancrofts Darstellung ist häufig mit The Gray Champion verglichen worden, George Dekker bezeichnet Hawthornes Prosa gar als ihren „belletristischen Klon.“ Hawthorne verweist schon im ersten Satz darauf, dass sich die Geschichte hier zu wiederholen scheint, und der zweite bedient sich der antimonarchistischen Invektive, wie sie sich bei Bancroft, aber auch bei englischen Whig-Historikern wie Thomas Babington Macaulay finden:
So man nicht wie viele Kritiker von einer parodistischen Absicht Hawthornes ausgeht, muss man zu dem Schluss kommen, dass Hawthorne Bancrofts enthusiastischen Patriotismus teilt, schon da er sich bei seinem Publikum anbiedert, indem er „unsere“ Freiheiten in Gefahr sieht. So meint Nina Baym, The Gray Champion sei „unzweideutig patriotisch, und seine Einstellung gegenüber den Puritanern uneingeschränkt affirmativ,“ und Edward Wagenknecht, dass Hawthorne den „Kampf seiner Vorfahren gegen ihre Gegner“ als einen Gegensatz wie „Schwarz und Weiß“ darstelle (dass der Kämpfer grau ist, entgeht ihm dabei, wie G. R. Thompson anmerkt). Für Henry G. Fairbanks ist es nicht minder ein Triumph des Patriotismus als des Protestantismus, so lebhaft geschildert, dass er auch heute noch das Gemüt in Wallung bringen könne. Mehrere der anderen Kritiker, die den Text nicht als Satire verstehen, zeigen sich indes bei allem Verständnis für andere Zeiten, Sitten und Umstände von Hawthornes Säbelrasseln peinlich berührt, so etwa Neal Frank Doubleday. Er macht zwar in der Darstellung der Puritaner einige ironische Zwischentöne aus, die Geschichte sei insgesamt aber fest verankert in der nationalistischen Geschichtsschreibung und Literatur ihrer Zeit.
Bancrofts und Hawthornes Gleichsetzung des Bostoner Aufstandes von 1689 mit der Amerikanischen Revolution wurzelt dabei in der für die puritanische Geschichtsschreibung prägenden typologischen Tradition. Gemäß der typologischen Bibelexegese lassen sich Ähnlichkeiten zwischen Personen und Ereignissen des Alten Testaments mit solchen des Neuen Testaments als göttliche Verheißungen erklären. Überragende Bedeutung erlangte die Typologie für die Puritaner Neuenglands, die dieses Instrument zum Verständnis der Schrift geradezu gewohnheitsmäßig auf weltliche Belange anwendeten. In der Hoffnung, dass sich die Verheißungen des Neuen Testaments zu ihren Lebzeiten erfüllen würden, suchten sie auch für aktuelle politische Entwicklungen und natürliche Phänomene biblische Entsprechungen und glaubten bald tatsächlich, allerorten Zeichen der Vorsehung ausgemacht zu haben. Noch lange nach dem Ende des Puritanismus und trotz der fortschreitenden Säkularisierung wirkte dieser puritanische Wesenszug nach. Bancrofts und Hawthornes Vergleich legitimiert die Revolution mithin nicht nur mit der Behauptung einer historischen Kontinuität, sondern verleiht ihr mindestens implizit auch eine heilsgeschichtliche Bedeutung. Explizit bedient sich Hawthorne, Peter Shaw zufolge, in der Beschreibung des „grauen Kämpfers“ als „Muster und Vorbild des ererbten Geistes von Neu-England“ des Vokabulars der puritanischen Typologie, die proleptischen Behauptung eines schon unter den Puritanern vorherrschenden „primitiven demokratischen Geistes“ entspreche hingegen ganz dem Geschichtsbild des 19. Jahrhunderts.
Allegorie und Mythos
Nach Ursula Brumm erklärt sich die Wirksamkeit der Geschichte zum Zwecke der patriotischen Erbauung nicht so sehr durch die Rhetorik der Wortebene, sondern durch ihre tieferliegenden allegorischen und mythischen Eigenschaften. Im eigentlich literarischen Sinne allegorisch ist, wie mehrere Kritiker betonen, die Komposition der Straßenszene:
In einem allgemeineren Sinne liegt auch dem typologischen Vergleich der „zwei Revolutionen“ eine allegorische Methode zugrunde. Das mythische Potential der Geschichte vom „Engel von Hadley“ hat Brumm zufolge als erster Walter Scott erkannt. Scott fand in ihr einen uralten und weitverbreiteten Stoff wieder, den Mythos vom entrückten „König im Berge“, der eines Tages wieder seinem Volk erscheinen und es wieder zu Macht und Größe führen werde. Wie Scott wusste, war eine Version dieses Mythos eine der wirkmächtigsten Erzählungen der deutschen Nationalbewegung, nämlich die Sage vom schlafenden Friedrich Barbarossa, der im Kyffhäuser schläft, aber eines Tages zurückzukehren und „des Reiches Herrlichkeit“ (Friedrich Rückert) wiederherstellen wird. Washington Irving, der zu seiner Zeit in Europa ein häufiger Gast auf Scotts schottischem Landsitz war, lernte die Kyffhäusersage durch Scott kennen und ließ sie auch in Rip Van Winkle anklingen, jedoch eher beiläufig als patriotische Dekoration dieser mehr unterhaltsamen als politischen Geschichte. Scott unterstrich den mythisch-überzeitlichen Charakter der Figur des „Engels von Hadley“ in seiner Schilderung des Indianerangriffs in Peveril of the Peak zwar, machte ihn aber nicht zum Helden. Als konservativer Tory und frisch geschlagener Ritter hatte Scott wenig Sympathie für einen Königsmörder und beschließt die Episode daher mit einer moralistischen Diskussion über Verdienst und Schuld, Gut und Böse.
Dass der amerikanische König im Berge zugleich ein aktenkundiger Königsmörder ist, möchte Hawthorne nur halb so schlimm erschienen sein, zumal die Vereinigten Staaten wenn nicht aus einem Mord, so doch aus einer Rebellion gegen die britische Monarchie geboren wurden. Hawthorne betont die mythischen Züge des „Engels“ noch mehr als Scott, indem er ihm fast alle individuellen Züge nahm – so wird sein Name hier nicht aufgedeckt, es findet sich nicht einmal ein Hinweis auf seine Heldentaten in Hadley. Den historisch spezifischen Verweis auf die Tat des Königsmords machte er hingegen zum dramatischen Wendepunkt der Geschichte und gibt der Legende so eine neue Sinndeutung. Als allegorische Figur versöhnt der „graue Kämpfer“ Brumm zufolge so die Widersprüche des neuenglischen Charakters: wie die Puritaner und später die Revolutionäre bringt er eine Hierarchie zu Fall und begründet eine neue, stellt die Autorität in Frage, fordert sie aber zugleich für sich ein. The Gray Champion ist für Brumm ein Zeugnis der „mythenschaffenden Aktivität einer jungen Nation“, verfolgt aber zugleich ein konkretes politisches Ziel: zu einer Zeit, da sich das politische Machtzentrum Amerikas nach Süden verschoben hat, „erinnert er die Nation daran, dass die Puritaner Neuenglands die eigentlichen Pioniere der Rebellion und die wahren Vertreter des freiheitlich-unabhängigen Geistes gewesen waren.“
Ironische Interpretationen
Seit den 1960er Jahren mehren sich die Kritiker, die hinter dem vorgeblichen patriotischen Enthusiasmus des Erzählers eine ironische Absicht Hawthornes vermuten, die sich zum einen gegen die Puritaner selbst, zum anderen aber auch gegen ihre Vereinnahmung durch die nationalistische Geschichtsschreibung wendet. Frederick C. Crews ist in seiner psychoanalytisch geprägten Studie The Sins of the Fathers (1966) weniger an konkreten historisch-politischen Aussagen gelegen als vielmehr am zugrundeliegenden Menschen- und Gesellschaftsbild Hawthornes. Für ihn stellt The Gray Champion die „verborgene Einheit“ oder vielmehr Ähnlichkeit der Antagonisten dar, die Puritaner würden als nicht minder repressiv als ihre königlichen Unterdrücker gezeichnet. Letztlich zeige die Geschichte, dass Autorität nur durch noch stärkere Autorität übertrumpft werden könne; der „graue Kämpfer“ sei neben Gouverneur Andros, dem König von England und dem Papst zu Rom, auf der anderen Seite aber auch Simon Bradstreet und den anderen puritanischen „Patriarchen“ nur die stärkste verschiedener Vaterfiguren, die um die „kindliche Liebe“ der Bostoner Bürger konkurrieren. Crews und einige Jahre darauf Newberry (1977) haben übereinstimmend nachgezeichnet, wie die Ironie in die Struktur der Erzählung eingebettet ist: demnach beginnt und schließt zwar die Geschichte mit einem zeittypischen patriotischen Lobgesang auf die Puritaner als protodemokratische Revolutionäre, doch steht ihre Beschreibung in den dazwischenliegenden Passagen dazu in merklichem Kontrast.
Tatsächlich zeigen die Puritaner bei Hawthorne im Angesicht der Bedrohung mehr noch als sonst ihre „kräftigen, düsteren Züge“ und vertrauen wie schon die ersten puritanischen Siedler wieder darauf, dass „der Segen des Himmels auf ihrer gerechten Sache liege“, auch macht er deutlich, dass ihr selbstgerechter religiöser Fanatismus immer wieder zu Blutvergießen führte:
Am meisten erbost die Puritaner der Anblick des anglikanischen Priesters in seinem Ornat, das ihnen als Ausbund papistischer Anmaßung und Idolatrie erschien. Diesem Frevel verfallen sie aber unbewusst selbst, denn ihre eigenen Geistlichen behandeln sie, wie der Erzähler bemerkt, „mit größter Ehrfurcht, als wären schon ihre Kleider heilig“. Bezeichnenderweise missachten sie ihren würdevollsten Patriarchen, den „guten alten Gouverneur Bradstreet“, der sie ermahnt, Ruhe zu bewahren und „sich der verfassungsmäßigen Obrigkeit zu unterwerfen“. Für Crews ist die Ironie dieser Passagen „überwältigend“, und Newberry wie auch Colacurcio sehen sie als unvereinbar mit der demokratisch-patriotischen Rhetorik der Einleitung an. Die Ironie ergibt sich in ihrer Deutung aber nicht erst im Rückblick aus einem modernen Geschichtsverständnis heraus, vielmehr ist sie die grundlegende auktoriale Intention Hawthornes. Mehrere Kritiker sehen schon in Hawthornes Titelwahl subtile Hinweise, die auf die Zweideutigkeit der Geschichte weisen. Nicht zufällig ist der alte Kämpfer weder weiß noch schwarz, sondern grau, also schwer zu bestimmen. Zudem steht The Gray Champion an erster Stelle der Twice-Told Tales, also „zweimal erzählter Geschichten“, die vielleicht erst auf den zweiten Blick ihre Bedeutung offenbaren. G. R. Thompson erklärt die Doppelnatur dieser Geschichten mit einem rezeptionsästhetischen Modell. Für den arglosen „durchschnittlichen“ Leser funktioniert die Geschichte ganz im Sinne seiner Erwartungshaltung als patriotische Erbauungsliteratur. Der ideale implizite Leser ist hingegen in der Lage, die subtilen ironischen Hinweise des Autors und die Widersprüche der Erzählung zu erkennen. Die Erzählerfigur, die sich in so lapidarer Weise etwa über den Genozid an den Indianern hinwegjubiliert, sieht er als parodistischen Popanz in der Tradition von Swifts A Modest Proposal (1729).
Die Doppeldeutigkeit ist dabei, wie Newberry aufzeigt, oft in Hawthornes präziser Wortwahl angelegt, so in der allegorischen Deutung der Straßenszene, als Hawthornes Erzähler Newberry zufolge also mit Bedacht nicht vom Übel dieser ganz besonderen Regierung, sondern von „jeder Regierung“, die die „Natur“ missachte spricht, der Vorwurf trifft somit Andros und die Puritaner gleichermaßen. Auf eine weitere subtile Doppeldeutigkeit macht Colacurcio aufmerksam: Gegen Ende der Erzählung ruft der Erzähler über den grauen Kämpfer aus: Long, long may it be, ere he comes again! Das may kann hier zum einen als mahnende Vermutung verstanden werden – lange noch könne es dauern, bis der graue Kämpfer wieder auftaucht – oder aber als Optativ: „Lange, lange“ möge es dem Wunsch des Erzählers nach noch dauern, bis der repressive „Geist der Vorväter“ sich wieder bemerkbar mache. Newberry und Colacurcio weisen auch darauf hin, dass der „graue Kämpfer“ wiederholt mit dem Teufel assoziiert wird: Als die Stimme in der Menge fürchtet, nun werde „Satan uns sein Meisterstück liefern,“ mahnt sie damit zwar offensichtlich vor einem bevorstehenden Gewaltakt durch Andros und seine Soldaten, doch erscheint unmittelbar nach diesem Ausruf der graue Kämpfer auf der Straße, und Bullivant spöttelt vom Ross herab über den vermeintlichen Tattergreis: „Ohne Zweifel gedenkt er, uns mit einer Proklamation von Old Noll [englischer Spitzname für den Teufel] zu zerschmettern!“ Newberry verweist zur Untermauerung seiner These vom grauen Kämpfer als Sendboten Satans auch auf das Vorbild Scotts, der zumindest andeutet, dass der Engel von Hadley als Königsmörder mit dem Bösen im Bunde sei.
Auch am der Geschichte scheinbar zugrundeliegenden Geschichtsbild scheint Hawthornes Erzähler leise Kritik zu üben; als einige hysterische Stimmen befürchten, Andros plane eine neue Bartholomäusnacht, merkt er trocken an:
Colacurcio zufolge parodiert Hawthorne hier auch die nachgerade paranoiden Spökenkiekereien und Selbstkasteiungen, die Perry Miller, der Begründer der modernen Puritanerforschung, gut ein Jahrhundert später als das prägende Motiv der puritanischen Klagepredigten („Jeremiaden“) des späten 17. Jahrhunderts ausgemacht hat. Für Newberry und Colacurcio stellt The Gray Champion letztlich also keineswegs einen Beitrag zur nationalistischen Mythologisierung der Vergangenheit dar, sondern dekonstruiert sie vielmehr durch eine ironische Nachahmung einer ideologischen Geschichtsklitterung, die unvereinbare Widersprüche zu übertünchen versucht. Thompson unterstreicht die Tragweite dieser Unterscheidung noch: sie macht teleologisch den Unterschied zwischen Fortschrittsglauben (besonders des amerikanischen „Manifest Destiny“) und einem letztlich sinn- und gesetzlosem Gang der Weltgeschichte.
Diese Deutung ist allerdings nicht unwidersprochen geblieben. Gegen Colacurcios Bemerkung, Hawthornes Erzähler habe zu viel Cotton Mather und zu viel George Bancroft gelesen, wendet etwa George Dekker ein, dass dies ebenso gut auf Hawthorne selbst gemünzt werden könne, und der Wunsch nach einem „subversiven“ Hawthorne Colacurcios Lesart allzu voreingenommen mache; letztlich schließt sich aber auch Dekker der Ansicht an, dass die Geschichte Raum für beide Deutungen lasse. Alison Easton anerkennt zwar die Ironie der Geschichte, doch sei diese so subtil, dass sie kaum noch wahrnehmbar sei; mithin leiste die Geschichte für die meisten Leser doch nicht mehr, als die nationalistische Ideologie des 19. Jahrhunderts zu reproduzieren.
Literatur
Ausgaben
Ein Digitalisat der Erstveröffentlichung findet sich auf den Seiten der Cornell University Library:
The Gray Champion. In: The New-England Magazine 8:1, Januar 1835. S. 20–26.
Die Erstausgabe der Twice-Told Tales findet sich digitalisiert auf den Seiten des Internet Archive:
Nathaniel Hawthorne: Twice-Told Tales. American Stationers' Co., Boston 1837.
Die moderne Standardausgabe der Werke Hawthornes ist The Centenary Edition of the Works of Nathaniel Hawthorne (hrsg. von William Charvat, Roy Harvey Pearce et al., Ohio State University Press, Columbus OH 1962–1997; 23 Bände). The Gray Champion findet sich hier im von Fredson Bowers und J. Donald Crowley edierten Band IX (Twice-Told Tales, 1974), S. 9–18. Zahlreiche Sammelbände der Kurzgeschichten Hawthornes enthalten die Erzählung; eine verbreitete, auf der Centenary Edition aufbauende Leseausgabe ist:
Nathaniel Hawthorne: Tales and Sketches. Herausgegeben von Roy Harvey Pearce. Library of America, New York 1982, ISBN 1-883011-33-7.
Ein E-Text findet sich auf den Seiten von Wikisource:
Es liegen mindestens vier Übersetzungen ins Deutsche vor:
Der graue Streiter. Deutsch von Franz Blei. In: Nathaniel Hawthorne: Der Garten des Bösen. Verlag Martin Maschler, Berlin 1925.
auch in: Nathaniel Hawthorne: Dr. Heideggers Experiment. Erzählungen und Skizzen. Hrsg. von Ingeborg Hucke. Reclam jun., Leipzig 1977. (= Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 668)
ohne Angabe des Übersetzers Franz Blei auch in: Nathaniel Hawthorne: Der Garten des Bösen und andere Erzählungen. Hrsg. von R. W. Pinson. Magnus Verlag, Essen 1985, ISBN 3-88400-216-3.
Der graue Beschützer. Deutsch von Friedrich Minckwitz. In: Nathaniel Hawthorne: Der graue Beschützer und andere Erzählungen. Gustav Kiepenheuer Verlag, Weimar 1970.
Der graue Kämpfer. Deutsch von Hannelore Neves. In: Nathaniel Hawthorne: Die himmlische Eisenbahn. Erzählungen, Skizzen, Vorworte, Rezensionen. Mit einem Nachwort und Anmerkungen von Hans-Joachim Lang. Winkler, München 1977, ISBN 3-538-06068-1.
Der weißhaarige Kämpfer. Deutsch von Lore Krüger. in: Nathaniel Hawthorne: Mr. Higginbothams Verhängnis. Ausgewählte Erzählungen. Hrsg. von Heinz Förster. Insel-Verlag, Leipzig 1979.
Sekundärliteratur
Michael Davitt Bell: Hawthorne and the Historical Romance of New England. Princeton University Press, Princeton NJ 1971, ISBN 0-691-06136-X.
Ursula Brumm: A Regicide Judge as “Champion” of American Independence. In: Jahrbuch für Amerikastudien 21, 1976. S. 177–186. Deutsche Fassung: Ein „Königsmörder“ als „Champion“ der amerikanischen Unabhängigkeit. In: Ursula Brumm: Geschichte und Wildnis in der amerikanischen Literatur. Erich Schmidt Verlag, Berlin 1980, ISBN 3-503-01636-8. S. 119–134. (=Grundlagen der Anglistik und Amerikanistik 11)
Michael J. Colacurcio: The Province of Piety: Moral History in Hawthorne’s Early Tales. Harvard University Press, Cambridge MA 1984. Reprint: Duke University Press, Durham NC 1996, ISBN 0-8223-1572-6.
Frederick C. Crews: The Sins of the Fathers. Hawthorne’s Psychological Themes. Oxford University Press, New York 1966. Reprint: University of California Press, Berkeley/Los Angeles 1989, ISBN 0-520-06817-3.
George Dekker: The American Historical Romance. Cambridge University Press, Cambridge 1990. (= Cambridge Studies in American Literature and Culture 23) ISBN 0-521-33282-6.
Neal Frank Doubleday: Hawthorne’s Early Tales: A Critical Study. Duke University Press, Durham NC 1972.
Horst Kruse: Hawthorne and the Matrix of History: The Andros Matter and ‘The Gray Champion’. In: Winfried Fluck (Hrsg.): Forms and Functions of History in American Literature: Essays in Honor of Ursula Brumm. Erich Schmidt Verlag, Berlin 1981, ISBN 3-503-01660-0.
John Probasco McWilliams: Hawthorne, Melville and the American Character: A Looking Glass Business. Cambridge University Press, 1984. (= Cambridge Studies in American Literature and Culture 3) ISBN 0-521-25900-2.
Frederick Newberry: ‚The Gray Champion‘: Hawthorne’s Ironic Criticism of Puritan Rebellion. In: Studies in Short Fiction 13, 1976. S. 363–370.
Frederick Newberry: Hawthorne’s Divided Loyalties: England and America in His Works. Fairleigh Dickinson University Press, Rutherford NJ 1987, ISBN 0-8386-3274-2.
Lea Bertani Vozar Newman: A Reader’s Guide to the Short Stories of Nathaniel Hawthorne. G. K. Hall & Co., Boston 1979, ISBN 0-8161-8398-8.
G. Harrison Orians: The Angel of Hadley in Fiction. In: American Literature 4:3, 1932. S. 257–269.
G. R. Thompson: The Art of Authorial Presence: Hawthorne’s Provincial Tales. Duke University Press, Durham, N.C. 1993, ISBN 0-8223-1321-9.
Einzelnachweise
Werk von Nathaniel Hawthorne
Literarisches Werk
Literatur (Englisch)
Literatur (19. Jahrhundert)
Literatur (Vereinigte Staaten)
Erzählung
Kurzgeschichte |
7839159 | https://de.wikipedia.org/wiki/Augenentwicklung%20%28Wirbeltiere%29 | Augenentwicklung (Wirbeltiere) | Als Augenentwicklung der Wirbeltiere wird die embryonale Bildung (Ontogenese) der Sehorgane bezeichnet. Die Erforschung dieser Prozesse ist Teil der Entwicklungsbiologie. Das Wirbeltierauge zeigt nach Aufbau und Leistungsfähigkeit deutliche Unterschiede zwischen Spezies, während die Phasen seiner Ontogenese grundlegende Gemeinsamkeiten aufweisen. Entwicklungsbiologisch ist das Wirbeltierauge ein Musterbeispiel für ein Organ, das durch eine Verkettung ontogenetischer Auslöseereignisse gebildet wird. Diese sogenannten Induktionen sind dabei so miteinander verknüpft, dass die verschiedenen Komponenten des Auges – wie etwa Linse, Hornhaut und Netzhaut – in einem nach der Reihenfolge der Entwicklungsschritte streng geordneten und wechselseitigen Zusammenhang stehen und so als ein Gesamtsystem auftreten. Evolutionskritiker nahmen lange an, dass diese nur unabhängig voneinander hätten entstehen können und sich folglich ontogenetisch (individuell) auch unabhängig entwickeln würden. Dazu, dass diese Sichtweise heute überholt ist, haben die Erkenntnisse der Entwicklung des Auges beigetragen.
Bei Wirbeltieren oder Schädeltieren werden im Kopfbereich noch vor der Mundbucht die paarigen Fernsinnesorgane der Geruchsempfindung und der Lichtempfindung angelegt. Die Entwicklung der Augen wird im Neuroektoderm initiiert und geht von Furchungen (optische Furchen) beidseits aus, die sich sackförmig ausbuchtend zu einem Paar von Augenbläschen (optische Vesikel) werden. Hierbei handelt es sich um zwei seitliche Ausstülpungen des vorderen Teils des Neuralrohres, die aus dem embryonalen Vorderhirn (Prosencephalon) im Bereich des späteren Zwischenhirns (Diencephalon) hervorgehen. Im weiteren Verlauf kommt es zu einer Reihe von Gewebeinteraktionen, die jederseits zur Bildung der Linse aus dem Oberflächenektoderm führen und zur Einsenkung des Augenbläschens zum Augenbecher. Während das äußere Blatt des Augenbechers zum abschattenden Pigmentepithel wird, entwickelt sich das innere Blatt in komplexen Vorgängen zur Netzhaut mit mehreren Schichten aus licht- bzw. farbsensitiven Fotorezeptorzellen und ihnen zugeordneten Nervenzellen. Die Verbindungen der Nervenzellfortsätze untereinander und die mit anderen Hirnanteilen werden in einem selbstorganisierenden Prozess anhand chemischer Signale geschaffen. Die Ausbildung von Anhangsorganen wie Augenmuskeln, Augenlider und Tränenapparat sind dem nachgeordnete Prozesse, die die Entwicklung des Auges vervollständigen wird. Erst lange nach der Geburt wird diese mit der Koordination der Augenbewegungen, insbesondere bei Lebewesen mit beidäugigem Sehen, sowie der Optimierung der Sehschärfe abgeschlossen.
Die Evolution des Wirbeltierauges
Da die Anatomie des Auges fossil nicht im Detail überliefert ist und zudem der Fossilbericht der frühesten Wirbeltiere und ihrer unmittelbaren Vorfahren faktisch unbekannt ist, basieren die im Folgenden getroffenen Aussagen über die Evolution des Wirbeltierauges auf
vergleichend-anatomischen Studien des Aufbaus des Auges (auch auf molekularer Ebene) in den einzelnen rezenten Wirbeltiergroßgruppen
molekulargenetischen Untersuchungen der Verwandtschaftsverhältnisse dieser Wirbeltiergruppen
dem Einsatz der molekularen Uhr, der es ermöglicht, die Evolutionsschritte einem in der Vergangenheit liegenden Zeitraum zuzuordnen
vergleichenden Studien zur Embryonalentwicklung in den einzelnen rezenten Wirbeltiergroßgruppen
Die Evolution des Wirbeltierauges lässt sich grob in sechs Phasen gliedern (Abb. 1). Danach hatten in einer ersten Phase bereits vor 600 Millionen Jahren einfache bilaterale Tiere rhabdomerartige (bürstenförmige) und ziliare (mit Wimpern ausgestattete) Fotorezeptoren mit entsprechenden frühen Formen des Sehpigment-Proteins Opsin entwickelt. In diese Sehpigmente sind lichtempfindliche Farbstoffe (Chromophoren) integriert, die entscheidend für die Licht-Wahrnehmung bei Tieren (Phototaxis) sind. Die Rezeptoren können dabei in sogenannten Augenflecken (Ocellen) konzentriert gewesen sein oder aber über den ganzen Körper verteilt.
In einer zweiten Phase zwischen 580 und 550 Millionen Jahren (spätes Proterozoikum) hatten die unmittelbaren Vorfahren der ersten Wirbeltiere fortgeschrittene ziliare Fotorezeptoren mit entsprechendem Opsin-Protein entwickelt. Diese waren den Fotorezeptoren der heute lebenden engsten Verwandten der Wirbeltiere, des Lanzettfischchens (Branchiostoma) und denen der lanzettfischchenähnlichen Larven der Manteltierchen (Tunicata), vermutlich sehr ähnlich.
In Phase drei, vor etwa 550–530 Millionen Jahren (frühes Kambrium), gab es bereits einen Fotorezeptortyp mit Außenmembran und einem für eine abgestufte Signalübertragung an der Synapse geeigneten Ausgang. Das Gewebe des Nervenknotens in der Kopfregion („Gehirn“) bildete beidseitig mit Photorezeptoren bestückte Ausstülpungen (Vesikel, Augenbläschen). Diese Augenbläschen begannen sich nachfolgend wiederum becherförmig einzustülpen, wobei die Innenseite des Bechers die früheste Form der Netzhaut (Retina) darstellt. Mit der Einstülpung des Vesikels ging zudem die Anlagerung einer Frühform des Netzhautpigmentepithels an die „Proto-Netzhaut“ einher. Zudem entstand die Linsenplakode, homolog der gleichnamigen embryonalen Linsenanlage höherer Wirbeltiere. Die Linsenplakode verhinderte aber zunächst nur die Pigmentierung der über dem Augenvesikel liegenden Außenhaut des Kopfes, sodass die Außenhaut an diesen Stellen lichtdurchlässig blieb. Dieses frühe Auge, vor etwa 530 Millionen Jahren, noch ohne die bilderzeugenden Fähigkeiten der Netzhaut, kann mit dem der rezenten Schleimaale (Myxinoidea), den ursprünglichsten rezenten Wirbeltieren, verglichen werden.
Im nächsten, vierten Abschnitt vor etwa 530–500 Millionen Jahren (mittleres Kambrium) evolvierten fünf verschiedene neuartige Fotorezeptorzellen, die Zapfen, jede mit ihrem eigenen ziliaren Opsin, sowie Bipolarzellen und neuartige retinale Ganglienzellen (sogenannte „biplexiforme retinale Ganglionzellen“) als Voraussetzung für die anspruchsvollere Signalweiterleitung zum Sehnerv. Bipolarzellen und Ganglienzellen sind hierbei in einer drei-lagigen Nervenstruktur innerhalb der Netzhaut organisiert. Durch Einstülpung der Linsenplakode in den Augenbecher und anschließende Abschnürung entsteht die Linse. Akkommodation und Iris (und damit die Möglichkeit einer beschränkten Größenveränderung der Pupille) kamen später hinzu, sowie, für die Augenbewegung, extra-okulare Muskeln mit Nervenanbindung. In diesem Zeitraum, vor etwa 500 Millionen Jahren, existierte somit bereits ein Auge, das dem fast aller heutigen Wirbeltiere in Grundzügen vergleichbar war. Es hatte die Bauweise einer einfachen Kamera, konnte daher Bilder sehen und war dem Auge des heutigen Neunauges (Petromyzon) am ähnlichsten.
In Phase fünf, vor 500–430 Millionen Jahren (spätes Kambrium bis spätes Silur) evolvierte Myelin, das für eine schnellere Signalweiterleitung im gesamten Nervensystem sorgt. Dazu kommt ein weiterer neuer Photorezeptor-Typ, die Stäbchen, die Sehen bei schwachem Licht ermöglichen. Mit diesen erschien das für Wirbeltiere charakteristische Sehpigment Rhodopsin. Die Iris wurde hoch kontraktil und konnte die Pupillengröße nunmehr optimal an die Lichtverhältnisse anpassen (Adaptation). An der Innenseite des Augapfels entstanden Muskeln für die Linse, die eine verbesserte Akkommodation ermöglichten. Dieses schon relativ hoch entwickelte Auge kennzeichnete vermutlich die heute ausgestorbenen gepanzerten, kieferlosen Fische („Ostracodermi“) und wahrscheinlich war es auch jenem Auge sehr ähnlich, das bei vielen heutigen Fischen, und damit bei kiefertragenden Wirbeltieren (Gnathostomen), anzutreffen ist.
Im Laufe der sechsten und letzten Phase, die vor etwa 430 Millionen Jahren begann, entstand u. a. auch die Basisversion des Auges der Landwirbeltiere (Tetrapoden). Im Zuge der zahlreichen Anpassungen des fischartigen Wirbeltierorganismus an ein Leben außerhalb des Wassers, die vor ca. 375 Millionen Jahren (spätes Devon) einsetzten, nahm die Linse eine im Querschnitt elliptische Form an. Dies war nötig, da das Licht beim Übergang von Luft in die Hornhaut stärker gebrochen wird, als beim Übergang von Wasser in die Hornhaut. Zum Schutz der Augen vor Austrocknung an der Luft entstand das Augenlid.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Wirbeltierauge von den einfachsten, nur hell-dunkel unterscheidenden Vorgängerformen bis zum modernen, zum Sehen hoch aufgelöster, farbiger Bilder befähigten Linsenauge der meisten Gnathostomen einen Evolutionszeitraum von etwa 200 Millionen Jahren benötigte. Alle grundlegenden Merkmale, die auch das Auge des Menschen auszeichnen, könnten nach weiteren 50 Millionen Jahren, am Ende des Devons, bereits vorhanden gewesen sein. Mehr als 200 Millionen Jahre später reduzierten eine Reihe endothermer und damit zur nachtaktiven Lebensweise fähiger Landwirbeltiere (z. B. Eulen oder Katzen) einige dafür unnötige Photorezeptoren wieder und passten ihre Netzhaut noch anderweitig an das Nachtsehen an. Daneben treten auch in anderen Entwicklungslinien der Kiefermäuler Spezialisierungen des Auges mit entsprechender Modifikation des Gnathostomen-Grundtypus auf.
Das Auge als Musterbeispiel vernetzter Auslöseprozesse
Damit die Entwicklung zum Phänotyp in Gang kommt und in der richtigen Reihenfolge abläuft, bedarf es einer ganzen Kaskade von organisierten Gewebeinteraktionen in Form aufeinander folgender und vernetzter Auslöser (Induktionen) (Abb. 2 und 12). Drei spezifische DNA-Abschnitte stehen am Beginn der Kette. Sie enthalten jeweils einen für den gesamten weiteren Entwicklungsverlauf des Auges wichtigen Gentypus, der als Schaltergen, Mastergen, Masterkontrollgen oder Transkriptionsfaktor bezeichnet wird. Hier sind das die Gene Rx1 (retinales Homöobox-Gen), Six3 (lat. sine oculis) und vor allem – gemessen am häufigen Vorkommen in der Fachliteratur – das von Gehring 1995 entdeckte Gen Pax6 (engl. paired box 6 gene).
Im Weiteren wird die Induktion der Linsenplakode (Linseninduktion) und damit die Entstehung der Linse durch zwei hauptsächliche Faktoren getrieben, erstens das Vorhandensein der Expression von Pax6 in der Epidermis des Kopfs und zweitens das Vorhandensein des spezifischen Ektoderm-Gewebes. Die mit Pax6 und anderen Genen verbundenen Schritte der frühen Entwicklung des Linsenauges sind evolutionsgeschichtlich tief verankert und artenübergreifend vielfach übereinstimmend. Pax6 selbst ist bei Maus und Mensch vollkommen identisch. Die genannten Gene Pax6, Rx1 und Six3 sind ein notwendiger und hinreichender Regelkreis für die Augeninduktion beim Wirbeltier. Durch Verwendung von Pax6 der Maus konnten zunächst bei der Taufliege in einem Experiment auf die Beine verlagerte (ektopische) Augen induziert werden. Dieses spektakuläre Experiment, mit dem die Funktion des zu Pax6 homologen Gens eyeless der Fliege vollständig erfüllt wurde, bewies die hohe Konservierung von Pax6. Gleiches gelang später zumindest ansatzweise beim Wirbeltier, unter anderem beim Hühnchen (1995) oder mittels Sox3 beim Krallenfrosch (Xenopus laevis) (2000). In diesen Versuchen kam es zur Herausbildung ektopischer Linsen oder Plakoden. Dass die Versuche nicht zu so vollständigen Ergebnissen geführt haben wie bei der Fruchtfliege, lässt auf die höhere Komplexität der Wirbeltiere schließen. In jedem Fall unterbleibt die Augenentwicklung beim Wirbeltier gänzlich, wenn Pax6 unterdrückt wird (Abb. 3).
Die genannten drei Masterkontrollgene bilden ein stabilisierendes Netzwerk aus, durch das neue Induktionen angestoßen und hunderte weiterer Gene aktiviert werden. Beim Auge der Taufliege sind es 2000 Gene. Allein etwa die Pigmentierung der Iris, also die Augenfarbe, erfordert mindestens 16 verschiedene Gene. Weitere Induktionen schließen sich im folgenden Verlauf der Augenentwicklung an. Sie leiten jeweils umfangreiche Entwicklungsschritte unter Einbeziehung vieler nachgeschalteter Gene ein, etwa die Entstehung der Linse und der Hornhaut (Abb. 2).
Die Rolle des Gens Pax6
Die nach seiner Entdeckung eingeräumte extreme Sonderstellung von Pax6 als das Masterkontrollgen für die Augenentwicklung kann nach 20 Jahren neu beurteilt werden. Für die Besonderheit von Pax6 als Mastergen spricht erstens, dass es einerseits früh, nämlich bereits in Augenstammzellen, andererseits in vielen Geweben während der gesamten Augenentwicklung exprimiert wird, und zwar bei der Fruchtfliege, bei Mensch und Tintenfisch. Bei diesen Arten aus verschiedenen Tierstämmen wird die Augenentwicklung als unabhängig angenommen. Pax6 kann daher seit einem gemeinsamen Vorgänger als konserviert gelten. Zweitens führt die Reduzierung seiner Expression zu einer verminderten Augengröße bei Drosophila, Maus und Mensch. Drittens kann Pax6-Fehlexpression in bestimmten Geweben, z. B. im Drosophilaflügel oder -bein ektopische Augen hervorrufen.
Gegen eine herausragende oder gar alleinige Mastergenstellung von Pax6 in der Augenentwicklung sprechen die folgenden Fakten: Erstens führt die Eliminierung von Pax6 bzw. die des homologen Gens Eyeless bei Drosophila, das ebenfalls zur Pax6-Familie zählt und bei der Fliege vergleichbare Funktion hat, nicht allein zum Verlust des Auges, sondern auch von weiteren Gehirnteilen, im Extremfall bei Drosophila zum totalen Kopfverlust. Zweitens nehmen weitere Gene neben Pax6 Schlüsselstellungen bei der frühen Augenentwicklung ein, so etwa neben den genannten Rx1 und Sine oculis (Six) auch Eyes absent (Eya) oder Dachshund (Dach). Diese Gene können ebenfalls ektopische Augen induzieren. Ihr Funktionsverlust führt ebenfalls zum Verlust des Auges. Sie zeigen somit ähnliche Masterkontrollgen-Eigenschaften wie Pax6.
Zusammenfassend werden somit aus gegenwärtiger Sicht weniger die bekannten stammesübergreifenden Charakteristika von Pax6 in Frage gestellt. Sie werden jedoch im Vergleich zu den Fähigkeiten anderer Mastergene heute relativiert. Es muss daher nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft von der evolutionären Konservierung des Regulationsnetzwerks einer ganzen Gruppe von Genen gesprochen werden.
Phasen der Augenentwicklung
Frühe Entwicklungseinleitung eines Augenfeldes
Das Linsenauge des Wirbeltiers kann als ein aus dem Gehirn auswachsendes Sinnesorgan gesehen werden. Bereits am Ende der Gastrulation werden die ersten Weichen für die Entwicklung des Auges gestellt. Das ist noch in einer frühen Phase der Embryonalentwicklung der Fall, wenn die Bildung der drei Keimblätter Entoderm, Mesoderm und Ektoderm (Innenschicht, Mittelschicht, Außenschicht) zum Abschluss kommt. Beim Auge wie bei den anderen Sinnesorganen ist das Ektoderm das wesentliche Keimblatt, aus dem sich die Strukturen entwickeln. Beim Menschen geschehen diese ersten Schritte ab dem 17. Tag der Schwangerschaft.
Die Entwicklung der schuhsohlenförmigen Neuralplatte auf der Gastrula (Abb. 4, hellgraue Fläche), aus der zuerst das Neuralrohr (Abb. 4, senkrechter Mittelstreifen) und daraus später das Gehirn und Rückenmark entstehen, wird durch das darunter liegende Mesoderm ausgelöst (induziert), und es kommt zur Ausbildung zunächst eines uniformen Augenfelds auf dieser Patte (Abb. 4, violett). Die genannten Schaltergene Rx1, Six3 und Pax6 sind wesentlich für die initiierenden Schritte. Während der Bildung des Neuralrohrs teilt sich das Augenfeld in zwei äußere Augendomänen, gesteuert durch das Gen Sonic hedgehog (Shh), das in einer Mittellinie zwischen diesen beiden Domänen aktiviert wird und Pax6 unterdrückt. Sonic hedgehog liefert damit die Erklärung dafür, dass das Wirbeltier zwei Augen hat. Bleibt seine Exprimierung an dieser entscheidenden Stelle aus, entwickelt sich Zyklopie. Eine ausbleibende Aktivierung (Expression) der genannten Schaltergene führt zum Verlust der Augenbildung.
Augenvesikel und Linsenplakode
In der Folge kommt es beim Menschen etwa zum Beginn des 2. Schwangerschaftsmonats an den Augenfeldern zu einer beidseitigen Ausstülpung des vorderen Neuralrohres und zu ihrem Auswachsen als optische Augenbläschen aus dem Zwischenhirn (Abb. 6), Augenstiel genannt. Demnach erreichen die hierüber eingehende Erregung zunächst das Zwischenhirn, die Verarbeitung erfolgt im Großhirn.
Das Ausstülpen der Augenbläschen beruht auf individueller Zellmigration. Wie zuerst beim Fisch entdeckt, gibt das Protein Rx3 den Augenvorläuferzellen molekulare Wegweiser mit. Sie vermitteln diesen Zellen die Information, wie sie sich aus der Mitte des Gehirns in Richtung Augenfeld bewegen können, wo es zu größeren Ansammlungen dieser Zellen kommt. Das auswachsende optische Vesikel interagiert mit der äußeren Schicht und löst als neuen wichtigen Induktionsschritt dort die Bildung der Linsenplakode aus, eine Verdickung dieses Ektoderms und Einbuchtung der Augengrube (Abb. 5 und 6). Ohne das Vesikel entstünde (mit Ausnahme von Amphibien) keine Verdickung und keine Linse. Durch verschiedene mesodermale Signalgebungen und Signale des optischen Vesikels wird das Oberflächenektoderm immer stärker auf die prospektive Linsenbildung vorbereitet. Das Gewebe wird zunächst für die Linsenbildung als kompetent bezeichnet und wird in weiteren Schritten linsenspezifisch. Das Gewebe kann nach dem Kontakt mit dem Vesikel und dessen Signalen nur noch Linse werden. Nur die Oberhaut des Kopfes (Epidermis) ist somit in der Lage, auf Signale des optischen Vesikels zu reagieren. In empirischen Versuchen konnte gezeigt werden, dass ein Vesikel, das man in eine andere Region als dem Kopfektoderm einpflanzt und dort auswachsen lässt, zu keiner Linsenbildung führt. Aber auch verpflanztes Oberflächenektoderm des Kopfs führt zu keiner Linse, wenn dort der Kontakt zum optischen Vesikel fehlt.
Die Verdickung des Ektoderms führt zur Umformung des Vesikels zu einem Becher, dem Augenbecher (Abb. 7). Dieser sorgt durch entsprechende Induktionssignale dafür, dass die zunächst noch nicht transparente Linse entsteht. Nach deren anfänglicher Formation schließt sich das Oberflächen-Ektoderm wieder über dem Vesikel. Das Linsenbläschen löst sich vom Ektoderm ab und sinkt in die Tiefe (Abb. 8).
Linse und Hornhaut
Die frühe Linse, das aus der Linsenplakode hervorgehende Linsenbläschen, ist zunächst ein hohler Ball aus umliegenden Zellen (Abb. 9.1). Jede dieser Zellen enthält einen Zellkern mit Chromosomen und DNA. Die anteriore Seite ist zur Außenseite, die posteriore zur Innenseite des Auges gerichtet (Abb. 9.2). Die Zellen sind von einer Kapsel mit proteinhaltigem Material umgeben (nur in Abb. 9.1 u. 9.6 gezeigt). In einem ersten Schritt verlängern sich ab der fünften Woche beim Menschen die posterioren Zellen in den Hohlraum hinein (Abb. 9.2, blaugrau). Sie formen primäre Linsenfasern, den späteren Linsenkern. Das Anschichten um den zentralen Kern geschieht immer vom Linsenäquator aus (Abb. 9.4). Bei der Verlängerung bilden diese Fasern mehrere Proteine, die Kristalline. Diese füllen den Hohlraum der Linse aus und bilden später mit 3 Typen und 90 % Anteil aller Proteine der Linse deren Hauptkomponenten. Zunächst bilden sie die Linsenfasern. In der Folge bauen die Linsenfaserzellen ihren Zellkern sowie andere Organellen, darunter auch die die Energiezentren (Mitochondrien) ab (Abb. 9.3, blau). Dadurch wird der Zellstoffwechsel drastisch reduziert, die Lichtstreuung minimiert. Dieser Vorgang führt nicht, wie sonst üblich, zu programmiertem Zelltod (Apoptose). Auf Grund dieser Vorgänge können und müssen sich die Linsenzellen bis zum Tod nicht mehr erneuern.
Die anterioren Zellen bleiben als eine einlagige Zellenschicht an der äußeren Oberfläche der Linse bestehen (Linsenepithel), auch bei der fertig entwickelten Linse. Sie teilen sich ständig weiter, wobei am oberen und unteren Ende beim Menschen ab der siebten Woche sekundäre Linsenfasern entstehen (Abb. 9.3, rot). Diese Linsenfasern werden sehr lang und überlagern die Linse in konzentrischen Ringen zwiebelschalenartig in vielen Lagen. Dazu wachsen stets neue sekundäre Linsenfasern aus den genannten Positionen oben und unten um die Linse herum (Abb. 9.4), verdrängen die zuvor gebildeten sekundären Linsenfasern nach innen ab, während immer neue sekundäre Linsenfasern generiert werden (Abb. 9.4, braun), die gleichermaßen um die Linse herum wachsen. Fortlaufend bildet die anteriore Außenschicht durch Zellteilung Nachschubmaterial für diesen Prozess. Durch die fortlaufende Bildung neuer Ringe kann die Linse wachsen (Abb. 9.6). Während der gesamten Zeit der vorgeburtlichen Linsenentwicklung ist über diese posterior und seitlich ein vaskuläres, blutgefäßhaltiges Netz ausgebreitet, die Tunica vasculosa lentis, die erst kurz nach der Geburt verschwindet.
Die Bildung neuer sekundärer Linsenfasern hält im Verlauf des gesamten Lebens des Organismus an. Dabei vergrößert sich die Linse nicht mehr wesentlich, nimmt aber an Dichte zu. Die entwickelte Linse enthält einen Nukleus aus frühen Zellen (Abb. 9.6, hellblau). Mit zunehmendem Alter nimmt die Elastizität der Linse ab, dabei verliert sie mehr und mehr die Fähigkeit zur Akkommodation. Die fertige Linse besteht als einziges organisches Gewebe aus völlig transparenten, lebenden Zellen.
Die Linse kann bei einem Salamander regeneriert werden. Das geschieht durch Transdifferenzierung, eine schrittweise Rückentwicklung von Zellen am mesodermalen Irisrand in einen früheren Zustand (Wolffsche Linsenregeneration). Die Linse ist dabei bis zu 18 mal regenerierbar. Auch bestimmte Gewebe der Iris und der neuralen Retina sind bei Salamandern regenerierbar.
Als nächster Prozess nach der Linseninduktion erfolgt nochmals eine Induktion, diesmal der Linse mit dem Oberflächenektoderm. Sie führt dort zu einer neuen Verdickung, der Hornhaut (Abb. 5 u. 8). Im Gegensatz zu den Zellen der Linse haben Hornhautzellen eine extrem kurze Lebensdauer und erneuern sich auch nachgeburtlich wöchentlich. Die Hornhaut ist stark mit Nerven durchdrungen. Der vordere Becherrand wird zur Pupille. Die Hornhaut (Cornea) entsteht durch eine Transformation des Oberflächenektoderms in anteriores Epithelium. Die Aderhaut (Chorioidea), Lederhaut (Sclera) entsteht aus dem mesodermalen Mesenchym des Kopfbereichs. Mit der Ausbildung der Lederhaut kann die Entstehung von Blutgefäßen einsetzen, die die Netzhaut durchziehen.
Netzhaut
Bevor es zur Differenzierung der Netzhaut kommt, besteht das Gewebe aus einem Feld undifferenzierter Retina-Vorläuferzellen. Vergleichbar zu den vorangegangenen Phasen der Vesikel- oder Linseninduktion müssen geordnete Schritte der Zelldifferenzierung etabliert werden. Alle diese Retina-Vorläuferzellen exprimieren zu diesem Zweck eine gemeinsame Suite von Transkriptionsfaktoren, das sind Gene, die wieder andere Gene exprimieren. Dies sind Pax6, Six3, Six6, Lbx2, Hes1. Die Zellen sind in diesem Stadium noch multipotente Stammzellen, das heißt, sie können sich noch zu unterschiedlichen Zielzellen differenzieren. Aus diesen werden neben den teilweise lichtleitenden Müllerzellen später vor allem die Fotorezeptorzellen sowie verschiedene Typen von Nervenzellen, die sie als Horizontalzellen untereinander verschalten oder nachgeschaltet den Signalfluss formieren, wie Bipolarzellen, und modulieren, wie Amakrinzellen, bevor er die Ganglienzellen der Retina erreicht, deren Fortsätze dann Signale aus dem Auge an andere Hirnbereiche weiterleiten können. Die Mechanismen, die hier eine akkurate Zelldifferenzierung zur Entwicklung der Netzhaut gewährleisten, sind Genaktivitäten sowohl aus dem optischen Vesikel (intrinsisch) als auch aus mesenchymen Regionen außerhalb des Auges (extrinsisch). Hierbei spielen Fibroblasten-Wachstumsfaktoren (FGF) eine wichtige Rolle. Eine sich selbst verstärkende Sonic hedgehog-Expressionswelle, die durch die Ganglienzellschicht „schwappt“, veranlasst als erste die Ganglienzellen zu differenzieren. Eine weitere Shh-Welle, die quer durch die innere Schicht exprimiert wird, gibt den Startschuss zur Differenzierung weiterer neuronaler Zellen der Netzhaut. Beide Entdeckungen wurden beim Zebrafisch gemacht.
Die Wand des Augenbechers besteht jetzt aus einem äußeren und einem inneren Blatt, in dem sich später weitere Netzhautschichten ausbilden (Abb. 7 einfach, Abb. 10 innere Schicht detaillierter). Das dünne, nach außen weisende Blatt (Abb. 8) formt das retinale Pigmentepithel, das abdunkelt, Licht absorbiert und der Regeneration der Sinneszellen dient. Der Aufbau des dickeren Innenblattes wird im Folgenden näher beschrieben. Diese neuronale Retinaschicht besteht aus Nervenzellen und wird in weitere innere und äußere Unterschichten unterteilt (Abb. 10). Im Laufe der Entwicklung bildet sich in der neuronalen Schicht eine weitere mittlere Unterschicht mit den bipolaren Zellen der Retina. Ihre Aufgabe ist es, die Informationen der lichtempfindlichen Fotorezeptoren (Stäbchen und Zapfen) zu sammeln, zu gewichten und an die Ganglienzellen der Netzhaut nach innen (Abb. 10 links) weiterzuleiten. Zusammengefasst entwickeln sich also in der Netzhaut des Auges ähnlich wie bei anderen Sinnesorganen, etwa dem Ohr, im Wesentlichen drei, hier übereinander liegende Zellschichten: Rezeptorzellen, bipolare Zellen und Ganglienzellen, deren Neuriten zu Regionen des Gehirns projizieren. Diese Anordnung gilt gleichermaßen für den Menschen wie für andere Wirbeltiere.
Die Ausbildung von Zapfen und Stäbchen erfolgt auf der äußeren Seite der inneren Schicht (Abb. 10 rechts, Zellkerne der Fotorezeptoren vor weißer Hintergrundschicht, lichtsensitive, langgezogene Fortsätze vor brauner Hintergrundschicht). Die drei verschiedenen Zapfentypen beim Menschen dienen der Unterscheidung von Farbtönungen des Lichts. Die Stäbchen vermitteln die Intensität allein als Helligkeit. Da beim Menschen nur ein Typ von Stäbchen vorhanden ist, kann bei ihm in der Dämmerung kein Farbeindruck entstehen. Nachtaktive Wirbeltiere haben mehr Stäbchentypen entwickelt.
Der Großteil der komplexen Retinaentwicklung verläuft beim Menschen in einer koordinierten Zellwachstumswelle ab der Mitte des 3. Monats bis in den 4. Monat. Dann ist der Sehnerv für eine adäquate Signalweiterleitung vollständig myelinisiert. Der gelbe Fleck (Macula lutea) mit der größten Dichte an speziellen Zellen (Zapfen) beginnt sich erst nach 8 Monaten auszubilden. Er wächst bis über die Geburt hinaus weiter. Nach fünf Monaten etwa ist die Nervenverbindung des Auges mit dem Gehirn abgeschlossen. Der Embryo zeigt bereits im 7. Monat der Schwangerschaft bestimmte Formen von Augenbewegungen, das sogenannte Rapid Eye Movement (REM), das die Synchronisation der Netzhaut mit dem visuellen Cortex im Gehirn unterstützt und auch nach der Geburt in bestimmten Schlafphasen auftritt, deren Bedeutung noch erforscht wird (siehe REM-Schlaf).
Lichtabgewandte (inverse) Lage der Fotorezeptoren
Das Wirbeltierauge wird als Teil des Gehirns angesehen, da seine erste Anlage aus diesem hervorgeht. Dies ist zum Beispiel beim Oktopus, der nicht zu den Wirbeltieren, sondern zu den Kopffüßern zählt, nicht der Fall, bei dem das Auge durch Einstülpung der äußeren Oberfläche entsteht. Der Entwicklungsvorgang beim Wirbeltier mit einer invertierten Retina hat mehrere Konsequenzen: Erstens generiert der inwendig gebündelte, zum Gehirn führende Sehnerv einen blinden Fleck, da sich an der Stelle, wo er aus dem Auge austritt, keine lichtempfindlichen Sinneszellen befinden. Zweitens liegen die Nervenfasern, Nervenzellen und Blutgefäße auf der zum Licht hin gerichteten Innenseite, sodass das Licht diese durchqueren muss, bevor es die Fotorezeptoren erreicht. Drittens sind die langen Fotorezeptorfortsätze der Zapfen und Stäbchen nach außen zum Pigmentepithel hin gerichtet – also vom Licht weg. Das Licht muss demnach also sowohl die aufliegenden Schichten durchqueren als auch ungestreut die Fotorezeptoren selbst, bevor es auf deren lichtsensitive Außensegmente trifft (Abb. 10). Beim Oktopus gestaltet sich der Weg einfacher; bei ihm trifft das Licht unmittelbar auf die Rezeptoren.
Bei sonst gleichen und gleich gut ausgebildeten Komponenten des Auges deutet die invertierte Retinastruktur des Wirbeltiers auf eine „suboptimale“ evolutionäre Lösung hin. Der Octopus könnte bei wenig Licht möglicherweise besser sehen, da hier den eintreffenden Lichtsignalen weniger Hindernisse im Wege stehen. Evolutionäre Lösungen müssen jedoch gemäß der Evolutionstheorie nicht perfekt sein, sie müssen nur so gut sein, dass die Art ausreichend gut an ihre jeweiligen Umgebungsbedingungen angepasst ist, um überleben zu können. Das invertierte Linsenauge ist bei den Nachtvögeln durch eine Verbesserung der Netzhauteigenschaften an das Sehen im Dunkeln adaptiert.
Die strukturellen Unterschiede bei Wirbeltier und Octopus deuten zumindest beim Konstruktionselement der Netzhaut auf eine voneinander unabhängige, konvergente Entstehungsgeschichte dieser Augentypen hin. Auf der anderen Seite liegen mit den Schaltergenen übereinstimmende, zumindest aber ähnliche und damit homologe genetische Grundlagen vor. Die Entwicklungsgenetik des Auges gibt mit dem gleichzeitigen Bezug auf Konvergenz und Homologie somit mehrdeutige Hinweise auf seine Evolutionsgeschichte. Mit anderen Worten: Fotorezeptoren oder das Auge initiierende Gennetzwerke können einmal oder mehrfach entstanden sein, bestimmte Konstruktionselemente des Auges, wie etwa Linse oder mehrschichtige Netzhaut, sind in jedem Fall mehrfach unabhängig entstanden.
Sehbahn und ihre Bestandteile
Neben den Stäbchen und Zapfen als Fotorezeptoren des Auges bildet die Netzhaut auch einige Millionen Nervenzellen für eine erste Informationsverarbeitung. Damit das Auge als Sinnesorgan funktionieren kann, müssen die eingehenden Lichtinformationen an das Gehirn als „Auswertestationen höherer Ordnung“ weitergeleitet werden. Zunächst bilden sich Ganglienzellen auf der inneren Retinaschicht (Abb. 11, links). Diese Zellen bilden Nervenfasern (Axone) aus, die die Netzhautschicht durchdringen und in der Folge bestimmte Zielgebiete im Gehirn suchen und finden müssen. Die Steuerung dieser topografischen Zielerreichung ist ein selbstorganisierender Vorgang (Axon guidance). Komplizierte chemische Prozesse sind dafür verantwortlich: Moleküle in der Netzhaut und im Mittelhirn (Tectum) bilden gestufte chemische Gradienten aus. Deren durch Diffusion entstehende Konzentrationsgefälle helfen, die Wachstumsrichtung der Axone zu lenken. Die Axone werden am blinden Fleck gebündelt und bei Säugetieren von dort als dem zentralen Nervenstrang, dem Sehnerv (Nervus opticus), über die Sehbahn mit verschiedenen neuronalen Strukturen an das Sehzentrum (visueller Cortex) weitergeführt (Abb. 11). Sie erreichen nach einer Zwischenstation zuerst das primäre Sehzentrum für eine Vorverarbeitung und danach das sekundäre Sehzentrum. Auf diesem Weg kommt es zu einer partiellen Sehnervenkreuzung (Chiasma opticum). Die Sehnervenzellen des linken Auges erreichen das primäre Sehzentrum sowohl der linken als auch der rechten Gehirnhälfte. Entsprechendes gilt für die Nervenzellen des rechten Auges. Im Empfangsbereich des Gehirns müssen die bereits in mehreren Einzelsträngen ankommenden Nervenzellen weiter aufgefächert werden, damit eine präzise Verarbeitung möglich wird. Je nach Ursprungsort münden die Axone in verschiedenen, eng umschriebenen Arealen. Der Prozess wird retino-tectale Projektion genannt. Er wird maßgeblich gesteuert durch Ephrine (Gradienten) und Ephrinrezeptoren. Einer Landkarte auf der Netzhaut entspricht dabei eine Kopie dieser Landkarte im Gehirn. Bei Nichtsäugern (Fische, Amphibien, Reptilien und Vögel) bildet sich eine vollständige Kreuzung der Nervenbahnen aus. Dabei werden alle Axone einer Augenseite auf die jeweils gegenüberliegende Gehirnseite geführt. Der Effekt der Sehnervenkreuzung kann beim Krallenfrosch Xenopus laevis experimentell gezeigt werden, indem ein Augenbecher entfernt und umgekehrt reimplantiert wird. Es erfolgt eine ungekreuzte Zuordnung der Netzhautregionen im Mittelhirn. Das Tier bewegt bei der Nahrungssuche seine Zunge an falsche Stellen und lernt erst mit der Zeit eine korrekte Orientierung.
Anhangsorgane und Pupille
Äußere Augenmuskeln
Beim Wirbeltier werden in Abhängigkeit von ihrer Funktion und Lage die inneren von den äußeren Augenmuskeln unterschieden. Die äußeren, für die Augenbewegungen zuständigen Augenmuskeln entstehen zusammen mit der Tenonschen Kapsel (Teil des Bandapparates) und dem Fettgewebe der Augenhöhle (Orbita). Sie sind gemeinsame Abkömmlinge des embryonalen Bindegewebes (Mesenchym), das die Augenvesikel umgibt, und werden aus sogenannten Somitomeren gebildet, bestimmten Mesodermsegmenten des Rumpfbereichs beim Embryo, die beidseitig auswachsen (Abb. 12). Die später durch den Nervus oculomotorius versorgten Augenmuskeln (oberer gerader Muskel, unterer gerader Muskel, innerer, nasal gelegener, gerader Muskel und unterer, schräger Muskel) stammen dabei gemeinsam mit dem Lidheber aus den vordersten beiden Somitomeren 1 und 2, der obere schräge Muskel aus dem dritten und der seitliche gerade Muskel, sowie der beim Menschen nicht mehr vorhandene Zurückzieher des Auges, aus dem fünften Somitomer. Die Muskelzellen aus den Myotomen der Somiten migrieren hierbei in ihre Zielgebiete in den Augen, wo anschließend die Muskelstrukturen gebildet werden.
Die weitere Entwicklung wird von drei Wachstumszentren gesteuert, denen jeweils ein Nerv zugeordnet ist. Daraus entsteht die spätere motorische Nervenversorgung (Innervation) der Augenmuskeln durch die drei Hirnnerven Nervus oculomotorius (III), Nervus trochlearis (IV) und Nervus abducens (VI). Die Entwicklung der äußeren Augenmuskeln ist abhängig von einer normalen Entwicklung der Augenhöhle, während die Ausbildung des Bandapparates davon unabhängig ist. Die Augenmuskulatur entwickelt sich beim Menschen spät, erst im fünften Monat. Eine vollständige Koordination aller Formen von Augenbewegungen erfolgt erst nach der Geburt im Säuglingsalter und findet in der Regel zwischen dem 2. und 4. Lebensmonat statt.
Augenlider
In der 7. Woche entstehen die Augenlider in Form von zwei Hautfalten, die von oben und unten über das Auge wachsen und wegen der Verklebung ihrer Epithelränder zwischen der 10. Woche und dem 7. Monat verschlossen sind. An ihrem Rand entstehen die Wimpern, und es kommt durch Einsprossungen von Epithelsträngen in das Mesenchym zur Ausbildung der Meibom- und Moll-Drüsen. In dieser Phase entsteht zudem die als „drittes Augenlid“ bezeichnete Nickhaut im nasalen Lidwinkel. Gleichzeitig bildet sich aus dem Kopfmesenchym die Bindehaut.
Tränenapparat
In der 9. Schwangerschaftswoche zieht eine Reihe von Epithelsprossen aus dem seitlichen Bindehautsack in das darunter liegende Mesenchym, aus denen die Anlage der Tränendrüsen gebildet werden. Sie werden durch die Sehne des Musculus levator palpebrae superioris in zwei unterschiedlich große Anlagen geteilt. Aus der sogenannten Tränen-Nasen-Rinne, die sich etwa in der 7. Schwangerschaftswoche am äußeren Nasenwall bildet, entstehen die ableitenden Tränenwege. Deren Aushöhlung beginnt zwar bereits im 3. Schwangerschaftsmonat, jedoch öffnen sich ihre Ausflussstellen erst im 7. Monat der Schwangerschaft.
Pupille und innere Augenmuskeln
Etwa in der 8. Schwangerschaftswoche bildet sich beim Menschen durch die Abrundung der Augenbecheröffnung die Pupille, die unter anderem als Lochblende dynamisch auf Lichteinfall reagiert. Zwischen dem Augenbecher und dem Oberflächenepithel entstehen die inneren Augenmuskeln, Musculus sphincter pupillae und Musculus dilatator pupillae. Ihre Zellen entstammen den ektodermalen Epithelzellen des Augenbechers. Der Ziliarmuskel, der das Auge fortlaufend auf die unterschiedlichen Objektentfernungen einstellt, entsteht aus dem Mesoderm innerhalb der Aderhaut und wird als ein Derivat der Neuralleiste betrachtet.
Im Endstadium der Schwangerschaft kommt es beim Embryo zu Pupillenreaktionen, die entgegen früherer Anschauung bereits in der Gebärmutter möglich und notwendig sind. Eine Pupillenerweiterung durch den hierfür zuständigen Musculus dilatator pupillae, der über das Sympathische Nervensystem, einen Teil des vegetativen Nervensystems, gesteuert wird, kann insofern auch Ausdruck emotionaler Erregung sein. Die Lichtreaktion kontrolliert die Anzahl der Neuronen in der Netzhaut. Gleichzeitig reguliert sie die Entwicklung von Blutgefäßen in den Augen. Die Photonen im Mutterleib aktivieren im Mäuse-Embryo ein Protein Melanopsin, das die normale Entwicklung von Gefäßen und Neuronen in Gang setzt.
Weitere Entwicklung nach der Geburt
Die Entwicklung des Auges ist bei der Geburt noch nicht abgeschlossen. Es hat seine volle Größe erst zu Beginn der Pubertät erreicht und erfährt im ersten Jahr noch eine Reihe von Veränderungen (Abb. 13). So vergrößert sich das Gesichtsfeld; die Linse, die Macula und die Pigmentierung der Iris erfahren strukturelle Verbesserungen. Eine vollständige Koordination aller Formen von Augenbewegungen und somit die Ausbildung von beidäugigem Sehen dauert bis einige Monate nach der Geburt. Viele Zellen des Corpus geniculatum laterale, eines Teils der Sehbahn, können noch nicht auf die von den Ganglienzellen der Netzhaut eingehenden Lichtreize reagieren. Die Sehschärfe (Visus) ist bei der Geburt auch auf Grund einer noch instabilen zentralen Fixation noch nicht vollständig ausgebildet. Tatsächlich entwickelt sich der Visus bis etwa zum 10. Lebensjahr.
Pathologie
Die wohl spektakulärste Fehlbildung ist das schon erwähnte Zyklopenauge, die Zyklopie. Durch Unterbleiben des Auseinanderweichens der beiden Augenanlagen bildet sich ein Konglomerat von Augenteilen in der Mitte der oberen Gesichtshälfte (Abb.). Wegen der damit verbundenen Gehirnmissbildung sind die Feten nicht überlebensfähig. Unvollständiger Verschluss des embryonalen Augenbechers führt zu Spaltbildungen unterschiedlichen Ausmaßes, den Iris-, Aderhaut- und Netzhaut-Kolobomen. Viruserkrankungen der Mutter im ersten Drittel der Schwangerschaft, aber auch die Einnahme mancher Medikamente, können zu Entwicklungsstörungen führen. Bekannt ist die Linsentrübung neben anderen Schäden durch Rötelninfektion in der 4. bis 8. Schwangerschaftswoche, also in der Phase der Linsenentwicklung. Nicht selten sind beim Menschen persistierende Reste der Pupillarmembran als in der Regel harmlose Hemmungsmissbildung. Nur vereinzelt sind Blutungen daraus beobachtet worden. Sie sind auch bei Wirbeltieren (Ratten, Kaninchen) beschrieben.
Besonderheiten bei ausgewählten Wirbeltieren
Wirbeltieraugen müssen spezifischen Anforderungen genügen, etwa für die Wahrnehmung bei Dunkelheit (Katzen, Nachtvögel) oder ein scharfes Sehen in großer Entfernung (Greifvögel). Insbesondere Katzen, aber auch Hunde, Pferde und Rinder haben beispielsweise als Restlichtverstärker für eine erhöhte Nachtsichtfähigkeit eine retroreflektierende Schicht hinter oder inmitten der Netzhaut entwickelt, das Tapetum lucidum (Spiegelauge) (Abb. 14). Bei Greifvögeln treten andere Entwicklungsunterschiede hervor. Ihre Augen sind verhältnismäßig groß, was einen hohen Lichteinfall und damit ein großes Abbild des Sehobjekts auf der Retina und im Gehirn ermöglicht. Die großflächigere Aufteilung des fixierten Objekts auf eine höhere Anzahl von Netzhautzellen führt zu einem detailreicheren Bild.
Die Augen der Greifvögel werden auf der Kopfvorderseite, also frontal ausgebildet, was die gleichzeitige Wahrnehmung eines Objekts mit beiden Augen ermöglicht. Gestattet diese Anordnung binokulares Einfachsehen, ist dies, wie beim Menschen, die Voraussetzung für räumliches Sehen.
Für optimiertes Scharfsehen entwickeln Greifvögel eine hochspezialisierte, neuromuskuläre Akkommodation. Hierbei passen feine Ziliarmuskeln die Wölbung der Linse an wechselnde Objektentfernungen an. Im Weiteren entwickeln Greifvögel neben der Fovea centralis eine zweite, seitliche Sehgrube in der Retina. Hier liegt, wie in der zentralen Sehgrube, eine Verdichtung von Zapfen vor. Schließlich verfügen alle Vögel über einen kammartigen Augenfächer innerhalb des Glaskörpers, den Pecten oculi. Diese mit engen Kapillaren durchzogene Struktur sorgt für eine verstärkte Durchblutung und Nährstoffversorgung der Netzhaut.
Der Mensch sieht in unterschiedlichen Entfernungen scharf, indem er den Krümmungsradius der Linse ändert und auf diese Weise den Brennpunkt verschiebt. Denselben Effekt erzielen Schlangen und Fische, indem sie den Abstand von der Linse zur Netzhaut verändern. Durch einen speziellen Muskel können Fische die Linse aus dem Ruhezustand in Richtung zur Netzhaut ziehen, Schlangen nach vorne. Schlangen besitzen kein Augenlid. Vielmehr ist die Augenoberfläche von einer transparenten Schuppe überzogen. Unterschiede herrschen ferner bei der Farbwahrnehmung. Während der Mensch drei Zapfentypen ausbildet (trichromatisches Sehen), entwickeln die meisten Säugetiere nur zwei Rezeptortypen (dichromatisches Sehen), Reptilien und die aus ihnen hervorgegangenen Vögel dagegen vier (tetrachromatisches Sehen), Tauben sogar fünf. Vögel können im Gegensatz zum Menschen UV-Licht sehen. Haie, Wale, Delfine und Robben sind farbenblind und besitzen nur einen grün-empfindlichen Zapfentyp.
Einmalig in der Augenentwicklung von Wirbeltieren ist die Wanderung eines der beiden Augen bei Plattfischen. Hierbei kann ein Auge während des frühen Wachstums an der Rückenflosse vorbei oder durch deren Basis hindurch auf die spätere obere Körperseite wandern. Die Wanderung kann sowohl auf die linke Seite (Steinbutt) als auch auf die rechte Seite (Scholle, Seezunge) verlaufen.
Einige Wasserschildkröten, darunter die Falsche Landkarten-Höckerschildkröte (Graptemys pseudogeographica), können ihre Augen um eine gedachte Achse drehen, die die Pupillen verbindet (Abb. 16 und 17). Die Zentrallinie der Augen bleibt dadurch meist auf den Horizont ausgerichtet, auch wenn das Tier nach oben oder unten schwimmt und dabei in Schwimmrichtung blickt. Auf der Ebene der schwarzen Zentrallinie hat die Netzhaut die höchste Rezeptorendichte, somit ist das dicht am Boden oder im Wasser lebende Tier für das Sehen entlang der Horizontallinie am besten angepasst. Koordiniert wird diese einmalige Entwicklung vermutlich durch den Gleichgewichtssinn im Gehirn (Vestibularorgan), der spezifische Augenmuskeln dafür steuert. Eine große Herausforderung stellt die Anpassung an Augen der Wirbeltiere, die sowohl unter als auch über Wasser gut sehen müssen, wie etwa das Vierauge. Seine Hornhaut entwickelt sich zweigeteilt: Die obere Hälfte ist stark gekrümmt für das Sehen über Wasser, die untere Hälfte nur sehr schwach gekrümmt für das Sehen unter Wasser (Abb. 16). So wird der unterschiedlichen Brechkraft von Luft und Wasser Rechnung getragen und gleichzeitiges gutes Sehen in Luft und Wasser möglich. Auch die Netzhaut des Vierauges entwickelt sich zweigeteilt. Die für das Sehen in der Luft zuständige Seite hat doppelt so viel Zapfen wie die für das Sehen im Wasser.
Chamäleons entwickeln mehrere herausragende Eigenschaften ihrer Augen. Diese sind voneinander unabhängig beweglich. Man vermutet, dass es zu einer unabhängigen und getrennten Verarbeitung der Informationen beider Augen im Gehirn kommt. Chamäleons erzielen ferner durch die kleine Augenöffnung einen zusätzlichen Lochkameraeffekt, der es ihnen erlaubt, auf einen Kilometer scharf zu stellen. Ihre Fokussiergeschwindigkeit ist etwa viermal schneller als die des Menschen. Weitere Besonderheiten bei Wirbeltieraugen sind die kugelförmige, im Ruhezustand auf kurze Distanz fokussierte Linse bei Fischen, multifokale Linsen bei manchen Katzenarten, die Schrägstellung der Netzhaut zur Linse bei Pferden, was einen Gleitsichteffekt bewirkt oder die schützende Nickhaut bei Fröschen, Vögeln und Hunden, rudimentär auch im nasenseitigen Augenwinkel beim Menschen. Entwicklungsprozesse und Genetik der hier beschriebenen Augenkomponenten und -unterschiede bei Wirbeltieren sind erst wenig erforscht.
Chronologie wissenschaftlicher Entdeckungen zur Augenentwicklung
Siehe auch
Augenevolution
Literatur
Jan Langman (Begr.), Thomas W. Sadler: Medizinische Embryologie. Die normale menschliche Entwicklung und ihre Fehlbildungen. 10. Auflage. Thieme Verlag, Stuttgart 2003, ISBN 3-13-446610-4.
Weblinks
Online Animation der Augenentwicklung (Flash; 68 kB)
Developmental origins of the eye
PY4302 Developmental Neuroscience Eye Development – PowerPoint PPT Presentation
(englisch)
Bilder der frühen Ausbildung des Augenfelds bei Xenopus laevis durch Pax6-Rx1-Sox3-Expression auf der Neuralplatte
Ein tiefer Einblick in die Evolution der Augen. Ein Masterkontrollgen kontrolliert die Entwicklung. Neue Zürcher Zeitung 7. Nov. 2001
Zebrafisch: Augenenmorphogenese im Film
University of the Basque Country Press (UBC Press): Eye Development. The International Journal of Developmental Biology Vol. 48 No. 8/9, (2004) S. 685–1058. Special Issue
James F. Fadool, John E. Dowling: Zebrafish: A model system for the study of eye genetics (PDF; 2,1 MB)
Einzelnachweise
Auge
Entwicklungsbiologie
Embryologie
Organogenese |
7853528 | https://de.wikipedia.org/wiki/Rhizosmilodon | Rhizosmilodon | Rhizosmilodon ist eine Gattung der ausgestorbenen Säbelzahnkatzen (Machairodontinae), die bislang nur durch einzelne Unterkieferbruchstücke sowie Teile der Gliedmaßen der Art Rhizosmilodon fiteae aus Florida dokumentiert ist. Die Fossilien stammen aus einer Phosphatmine der Upper-Bone-Valley-Formation bei Fort Meade in Florida. Sie werden der sogenannten Palmetto-Fauna oder Whidden Creek Local Fauna zugeordnet, die vor etwa fünf Millionen Jahren im heutigen Zentralflorida lebte.
Rhizosmilodon war wie andere Säbelzahnkatzen ein Fleischfresser, der wahrscheinlich aktiv seine Beute jagte und tötete. Dabei handelte es sich wohl um ein kleineres bis mittelgroßes Säugetier, wobei das Beutespektrum dem des Pumas ähnelte. Der Lebensraum in Zentralflorida bestand wahrscheinlich aus Überschwemmungs- und Auengebieten mit einem Mosaik von Wäldern mit geschlossenem Kronendach, offenerem Waldland und offenen Grasflächen.
Die ersten Knochen der Art wurden 1983 als erste Funde auf dem amerikanischen Doppelkontinent der Art Megantereon hesperus zugeordnet. 2013 erfolgte aufgrund neuer Funde eine Revision der Zuordnung sowie die wissenschaftliche Erstbeschreibung von Rhizosmilodon fiteae als eigene Art innerhalb der ebenfalls neuen Gattung Rhizosmilodon.
Merkmale
Die Beschreibung von Rhizosmilodon fiteae als eigenständige Art erfolgte auf der Basis mehrerer Gebissfragmente, zudem wurden der Art Überreste mehrerer Extremitätenknochen zugeordnet, die vom gleichen Fundort stammen.
Merkmale der Zähne und Gebissfragmente
Der Holotypus UF 124634 (UF steht für Florida Museum of Natural History, University of Florida, Gainesville, und benennt den Aufbewahrungsort der Fossilien) ist ein Teil des rechten Unterkiefers mit erhaltener Symphyse sowie dem Eckzahn (C1) und dem ersten Mahlzahn (M1); zwischen diesen sind die Zahnfächer (Alveolen) der Prämolaren P3 und P4 vorhanden, die Zähne selbst fehlen. Als Paratypus UF 135626 wurde ein Bruchstück des linken Unterkiefers mit erhaltenen Prämolaren P3 und P4 sowie dem Backenzahn M1 ausgewählt. Neben diesen beiden Unterkieferteilen wurden der Art weitere Fundstücke der gleichen Fundstelle zugeordnet. Dabei handelt es sich vor allem um einige weitere Unterkieferbruchstücke mit Zähnen und teilweise erhaltenen Symphysen- und Zahnfächerteilen (UF 22890, UF 223796, UF 212381, UF 272337).
Als diagnostische Merkmale der Art werden anhand der verfügbaren Fragmente zahlreiche Merkmale der vorhandenen Zähne und einzelne der Unterkieferknochen angegeben. So ist die Symphyse des Unterkiefers fast vertikal ausgeprägt und der Unterkiefer besitzt eine leichte Einbuchtung als Anpassung an die stark verlängerten Eckzähne des Oberkiefers. Die Schneidezähne sind klein, jedoch nicht liegend. Zumindest die unteren Eckzähne sind groß, jedoch seitlich deutlich abgeflacht; sie besitzen eine moderate, abgerundete Zähnung. Der zweite Vormahlzahn (P2) fehlt, P3 ist verlängert, jedoch nur etwa zwei Drittel so groß wie der letzte Prämolar (P4), der klingenartig vergrößert ist; P3 und P4 sind dabei nicht verbunden und stehen nicht in einer Line und auch P4 liegt nicht in einer direkten Linie mit dem ersten Mahlzahn (M1). Typisch erscheint die Anordnung der Höcker auf den Zahnkronen der Prämolaren und Molaren. So fehlt P3 der vordere Zahnhöcker und der hintere Zahnhöcker ist nur leicht ausgeformt. Auch der vordere Zahnhöcker auf P4 ist klein. Der erste Mahlzahn ist ähnlich kräftig wie der von Smilodon.
Merkmale der Gliedmaßenknochen
Neben den beschriebenen Teilen der Kiefer wurden mehrere Knochen und Teile der Gliedmaßen aufgrund ihrer Größe der Art zugeordnet, obwohl sie nicht direkt mit den Kieferfragmenten gefunden wurden. Es handelt sich um einen vollständigen linken Oberschenkelknochen (UF 133938), das untere (distale) Ende eines rechten Oberschenkelknochens (UF 65686), das distale Stück einer linken Speiche (UF 123836), ein vollständiges linkes Schienbein (Tibia) (UF 133939) sowie das obere (proximale) Stück eines rechten Schienbeins (UF 212380).
Für die Erstbeschreibung von Rhizosmilodon fiteae wurden nur die beiden Oberschenkelknochen genauer beschrieben. Als arttypisch gelten vor allem die ausgeprägte Verlängerung des Mittelteiles der Gelenkknorren (Epikondylen) und der sehr gerade ausgeprägte Pectoralgrat, der nicht zu dem typisch gebogenen Deltoidgrat der meisten Panthera-Arten passt und eine Zuordnung zu den Säbelzahnkatzen zulässt. Weitere Details der Knochen wie der gebogene Schaft und der insgesamt kräftige Aufbau der Knochen sowie der Aufbau der Gelenkknorren und Foramina lassen auf eine verwandtschaftliche Nähe zu Smilodon schließen. Die Existenz einer weiteren, noch unbeschriebenen nahe verwandten Art neben Rhizosmilodon fiteae aus der Fundgegend, zu der diese Knochen gehören könnten, wird als unwahrscheinlich angenommen.
Merkmalsrekonstruktion
Obwohl von Rhizosmilodon fiteae nur wenige Skelettbestandteile bekannt sind, ist eine relativ fundierte Rekonstruktion des gesamten Tieres möglich. Die Paläontologen profitieren in diesem Fall stark von den Arten, die in die nähere Verwandtschaft eingeordnet werden, also vor allem von bekannten Säbelzahnkatzen sowie auch von heute lebenden Katzen ähnlicher Größe und Statur. Über einen Merkmalsvergleich können viele Merkmale als Plesiomorphien, also bereits in der gemeinsamen Stammart vorhandene Merkmale, vorausgesetzt werden – darunter vor allem die Haltung und Gestaltung der Gliedmaßen sowie der allgemeine Körperbau und die Körperhaltung.
Auf der Basis der vorhandenen Oberschenkel- und Schienbeinknochen konnte eine Hochrechnung auf das Gewicht der Katze gemacht werden, indem die Knochen mit denen heute lebender und ausgestorbener Katzen verglichen wurden. Nach dieser Abschätzung erreichte Rhizosmilodon fiteae ein Gewicht von etwa 56 bis 85 Kilogramm und entsprach damit etwa einem heute lebenden Puma (Puma concolor) oder Jaguar (Panthera onca). Die Größe überlappt sich zudem mit den Abschätzungen für den ausgestorbenen kleineren Smilodon gracilis.
Merkmale im Vergleich mit anderen Arten
Da Rhizosmilodon fiteae als eigenständige Art und Gattung beschrieben wurde, mussten in der Erstbeschreibung die vorhandenen und rekonstruierten Merkmale mit anderen potenziell nahe verwandten Arten und Gattungen abgeglichen werden, um die Eigenständigkeit zu belegen und eine phylogenetische Zuordnung abzuleiten.
Die Zuordnung zu den Smilodontini, zu denen neben Rhizosmilodon auch die Gattungen Smilodon und Megantereon gestellt werden, basiert auf der Zähnung der Schneidflächen der Eckzähne, die bei Vertretern der Machairodontini alle Zähne betrifft. Auch die vertikale Unterkiefersymphyse sowie die Stellung der Zähne P3, P4 und M1 zueinander sowie die Ausbildung der einzelnen Zähne ermöglichen die Zuordnung in diese Verwandtschaft. Von den Gattungen Smilodon und Megantereon unterscheidet sich Rhizosmilodon allerdings durch eigenständige Merkmale. Dies sind ebenfalls spezifische Zahnmerkmale wie die konkret moderate und abgerundete Ausprägung der Zähnung am unteren Eckzahn. Diese ist auch bei Smilodon gracilis vorhanden, bei anderen Arten von Smilodon (Smilodon fatalis, Smilodon popular) jedoch deutlich ausgeprägter; bei Megantereon fehlt die Zähnung dagegen und ist wahrscheinlich verloren gegangen. Auch die Unterkiefereinbuchtung als Anpassung an die vergrößerten Eckzähne des Oberkiefers ist im Vergleich zu Smilodon nur leicht ausgeprägt. Weitere Merkmale mit deutlichen Unterschieden betreffen die Ausbildung der Zahnhöcker auf den Prämolaren und Molaren.
Fundort und zeitliche Einordnung
Die Fossilien zur Erstbeschreibung stammen aus einer Phosphatmine bei Fort Meade im Polk County in Zentral-Florida, weitere Funde aus den angrenzenden Regionen im Hardee und Hillsborough County. Die fossiltragenden Schichten dieser Region werden der Upper Bone Valley Formation in Florida zugeordnet, die darin enthaltenen Tiere der sogenannten Palmetto-Fauna und der Whidden Creek Local Fauna. Diese wird zeitlich in das späte Hemphillium eingeordnet, einer Periode der nordamerikanischen Säugetierfauna, die sich mit dem frühen Pliozän, dem Zancleum, überlappt. Die in dieser Schicht enthaltenen Fossilien werden auf ein Alter von etwa fünf Millionen Jahren geschätzt.
Während die meisten fossilen Überreste von Wirbeltieren in der Upper Bone Valley Formation an isolierten Fundorten aufgesammelt werden und eine gezielte Suche nach weiteren Fossilien nicht lohnenswert ist, stellt die Mine der Gardinier Inc. bei Fort Meade eine Ausnahme dar. Seit 1989 konnten in dieser Mine tausende Wirbeltierfossilien in einer nur etwa 0,8 Meter dicken Schicht auf einer Fläche von etwa 2000 Quadratmetern, der größten bekannten Fossilkonzentration in dem Gebiet, gefunden werden.
Lebensweise und Paläoökologie
Über die Lebensweise und Ökologie der Gattung liegen keine Daten vor, allerdings lässt sie sich ähnlich wie bei anderen fossilen Großkatzen durch einen Vergleich mit rezenten Arten rekonstruieren. Wie andere Säbelzahnkatzen wird auch Rhizosmilodon ein Fleischfresser gewesen sein, der wahrscheinlich aktiv seine Beute jagte und tötete. Dabei handelte es sich entsprechend seiner Größe wahrscheinlich um kleinere bis mittelgroße Säugetiere, das Beutespektrum ähnelte dem des rezenten Puma (Puma concolor). Möglich ist, dass Rhizosmilodon durch seine vergleichsweise geringe Größe auf Bäume klettern und seine Beute so vor größeren Raubtieren oder Rudeln verstecken konnte.
Die Zusammensetzung der Palmetto-Fauna lässt auf ein Vorkommen der Art an der Meeresküste schließen. In den Fossilschichten sind neben Landwirbeltieren zahlreiche Fossilien von Meereslebewesen wie Knorpelfische, Knochenfische, Schildkröten und Wale enthalten. Der Lebensraum im Bone Valley in Zentralflorida bestand wahrscheinlich aus feuchten Überschwemmungs- und Auengebieten, deren Vegetation aus einem Mosaik von Wäldern mit geschlossenem Kronendach, offenerem Waldland und offenen Grasflächen bestand. Insgesamt konnten in der Whidden Creek Local Fauna Fossilien von 33 verschiedenen Säugetierarten identifiziert werden, darunter 11 Raubtierarten. Es handelt sich um etwa 900 Fossilien, von denen etwa fünf Prozent Raubtiere sind. Unter den Katzen befinden sich neben Rhizosmilodon mit Machairodus coloradensis eine weitere Säbelzahnkatze, Lynx rexroadensis und ein nicht bestätigter Vertreter der Gattung Pseudaelurus, weiterhin Hunde (Borophagus, Carpocyon, Eucyon und Vulpes), Bären (Agriotherium, Plionarctos) sowie Kleinbären, Marder und Skunks. Die restlichen Säugetierfossilien stammen zum größten Teil von Unpaarhufern (ca. 33 %), Paarhufern (ca. 37 %) und Walen (ca. 16 %). Insgesamt stellt die Palmetta-Fauna eine der artenreichsten Ökosysteme Nordamerikas dieser Zeit dar, wobei vor allem die große Anzahl größerer Pflanzenfresser bemerkenswert ist.
Taxonomie
Fundgeschichte und Auswirkungen auf die Systematik
Das erste bekannte Fossil einer vergleichsweise kleinen Säbelzahnkatze aus der Palmetto-Fauna, ein Unterkieferfragment (UF 22890), diente 1983 für die Zuordnung des Fundes als Megantereon hesperus. Das Fossil wurde zudem als ältester Fund der Gattung Megantereon weltweit zugeordnet und aufgrund dieser Beschreibung wurde die Entstehung der Gattung, die ansonsten vor allem in Eurasien und Afrika vorkommt, in Nordamerika begründet.
Megantereon hesperus wurde 1933 von Gazin als Machairodus hesperus anhand eines rechten Unterkieferfragments aus dem Twin Falls County in Idaho beschrieben und 1970 von Schultz und Martin der Gattung Megantereon zugeordnet. Durch den Fund in Florida wurde die These erarbeitet, dass sich die Gattung entgegen der bis dahin gültigen eurasischen oder afrikanischen Entstehung in Nordamerika entwickelt hat und Megantereon hesperus den ältesten Vertreter derselben darstellt. Von Nordamerika wurde dieser These entsprechend eine Ausbreitung der Gattung nach Eurasien und Afrika vor etwa 3,5 Millionen Jahren im beginnenden Villafranchium im mittleren Pliozän angenommen, die mit den ältesten Vorkommen der Gattung in Europa in Les Etouaires, Frankreich, übereinstimmt. Einige spätere Bearbeiter übernahmen diese Thesen, darunter etwa Martinez-Navarro & Palmqvist (1995) bei einer Untersuchung der Fossilien des Megantereon whitei in Spanien.
Die Zuordnung der nordamerikanischen Fossilien aus Florida zur Gattung Megantereon führte jedoch bereits vor der Beschreibung von Rhizosmilodon auch zu Verwirrung und Kritik. Der Paläontologe Alan H. Turner stellte die Zuordnung 1987 in Frage und schlug alternativ die Zuordnung zu einer noch unbekannten Art der weit verbreiteten Gattung Dinofelis oder zu der ursprünglicheren Gattung Paramachairodus vor. Auch John-Paul Hodnett favorisierte eine Einordnung der vorliegenden Fossilien in die Gattung Paramachairodus, da sie dem von ihm beschriebenen Fund eines Paramachairodus aus dem Norden Arizonas ähnelten. Zugleich argumentierte er mit seinem Fund ebenfalls für einen Ursprung der Smilodontini in Nordamerika, indem er Paramachairodus der Tribus zuordnete. Wallace & Hulbert 2013 stellen in ihrer Erstbeschreibung von Rhizosmilodon als Antwort auf Hodnett allerdings sehr deutlich die Unterschiede zwischen dem von ihm beschriebenen Paramachairodus und Rhizosmilodon dar. Webb et al. (2008) stellen ebenfalls dar, dass die Beschreibung als Machairodus nicht korrekt sein kann und zeigen auf, dass es sich nach neu gefundenem Material um eine Art in der Verwandtschaft von Smilodon und Machairodus handeln muss, von beiden jedoch verschieden ist. Einer der Autoren, Richard C. Hulbert, gehörte später zu den Erstbeschreibern von Rhizosmilodon.
Aktuelle Systematik
2013 erfolgte eine Revision der Zuordnung sowie die wissenschaftliche Erstbeschreibung von Rhizosmilodon fiteae als eigene Art innerhalb der ebenfalls neuen Gattung Rhizosmilodon auf der Basis eines 1990 gefundenen Unterkiefers sowie weiterer Knochen, die der Art zugeordnet werden.
Entsprechend der Erstbeschreibung wird die Gattung Rhizosmilodon aufgrund der vorhandenen Merkmale an der Basis der Tribus Smilodontini eingeordnet und dort einem Taxon, bestehend aus den Gattungen Smilodon und Megantereon, gegenübergestellt. Die Systematik ergibt sich aus einer Analyse einer Matrix von Merkmalen bekannter Säbelzahnkatzen. Mit einem Alter von etwa fünf Millionen Jahren stellen die Fossilien die ältesten Fossilien der Tribus dar, deshalb lebte Rhizosmilodon vor den anderen Vertretern der Smilodontini.
Konkrete Merkmalsvergleiche betreffen vor allem die Ausprägung einzelner Zähne. So war beim Rhizosmilodon wahrscheinlich als erstem Vertreter der Smilodontini die Zähnung an den Eckzähnen moderat und abgerundet ausgeprägt wie auch bei dem frühesten und kleinsten Vertreter der Gattung Smilodon, Smilodon gracilis. Innerhalb der Gattung prägte sie sich bei Smilodon fatalis und Smilodon popular zu einer deutlichen und scharfen Zähnung aus, während sie bei der Gattung Megantereon verloren ging. Die Unterkiefereinbuchtung als Anpassung an die vergrößerten Eckzähne des Oberkiefers ist im Vergleich zu ursprünglicheren Arten des Taxons wie Promegantereon oder Paramachaerodus deutlich und ähnlich stark wie bei Machairodus, dessen vergrößerte Eckzähne abgeflacht waren; im Vergleich zu Smilodon und Megantereon mit kräftigen und sehr großen oberen Eckzähnen ist sie jedoch nur leicht ausgeprägt.
Diese Entwicklung würde bedeuten, dass die Tribus Smilodontini und die Gattungen in Nordamerika entstanden, wo sich alle drei Gattungen ausbilden konnten und später von Megantereon nach Eurasien und Afrika einwanderten.
Neben der von den Autoren bevorzugten Hypothese, nach der Rhizosmilodon einem gemeinsamen Taxon aus Smilodon und Megantereon als Schwesterart gegenübersteht, wird alternativ angenommen, dass Rhizosmilodon und Smilodon ein gemeinsames Taxon bilden und Megantereon diesem gegenübersteht. Für eine solche Hypothese könnten vor allem die Ausbildung der Unterkiefereinbuchtung und die ungezähnten Eckzähne stehen. In diesem Fall wäre die Entstehung der Tribus Smilodontini mit Megantereon als ursprünglichster Gattung in Eurasien oder Afrika und eine doppelte Einwanderung nach Nordamerika wahrscheinlich.
Namensgebung
Der wissenschaftliche Name der Gattung Rhizosmilodon basiert auf einer Zusammensetzung des griechischen Wortes rhizo, das ‚Wurzel‘ bedeutet, sowie dem bereits existierenden Gattungsnamen Smilodon. In der Namensgebung als „Wurzel des Smilodon“ spiegelt sich die von den Erstbeschreibern dargelegte Position der Gattung an der Basis der Smilodontini und damit dem Ursprung der bekannten Gattung Smilodon wider.
Der Artname Rhizosmilodon fiteae der einzigen bislang beschriebenen Art innerhalb der Gattung leitet sich vom Namen der Paläontologin Barbara Fite ab, die den Paratypus aus ihrer privaten Sammlung spendete.
Belege
Literatur
Steven C. Wallace, Richard C. Hulbert Jr.: A New Machairodont from the Palmetto Fauna (Early Pliocene) of Florida, with Comments on the Origin of the Smilodontini (Mammalia, Carnivora, Felidae). In: PLoS One. 8(3), 2013, S. e56173. doi:10.1371/journal.pone.0056173
Annalisa Berta, Henry Galiano: Megantereon hesperus from the late Hemphillian of Florida with remarks on the phylogenetic relationships of machairodonts (Mammalia, Felidae, Machairodontinae). In: Journal of Paleontology. 57, 1983, S. 892–899. (Abstract, JSTOR)
Weblinks
Rhizosmilodon fiteae. – Profil auf der Website des Florida Museum of Natural History
Rhizosmilodon fiteae • A New Machairodont from the Palmetto Fauna (Early Pliocene) of Florida, with Comments on the Origin of the Smilodontini (Mammalia, Carnivora, Felidae). – Blogpost im Blog „Species New to Science“
Tanya Lewis: 5-Million-Year-Old Saber-Toothed Cat Fossil Discovered. LiveScience, 15. März 2013. Abgerufen: 29. September 2013.
Säbelzahnkatzen
Machairodontinae |
8169716 | https://de.wikipedia.org/wiki/Block%2011%20%28KZ%20Auschwitz%29 | Block 11 (KZ Auschwitz) | Als Block 11 (bis August 1941 Block 13) oder Todesblock wird ein zweigeschossiges Backsteingebäude des Stammlagers des KZ Auschwitz bezeichnet, in dessen Kellergeschoss sich von Juli 1940 bis zur Evakuierung des Konzentrationslagers im Januar 1945 das Lagergefängnis befand. Die Häftlinge bezeichneten das Lagergefängnis als Bunker; offiziell hieß es Kommandanturarrest. Viele der dort inhaftierten Häftlinge starben aufgrund der grausamen Haftbedingungen und Misshandlungen. Tausende Häftlinge wurden nach Bunkerselektionen und Polizeistandgerichtsverfahren vor der im Hof zwischen Block 10 und 11 befindlichen Schwarzen Wand erschossen. Im Herbst 1941 wurde im Keller des Blocks 11 die erste Massenvergasung von Menschen mit Zyklon B durchgeführt. Dem Block 11 als Gefängnis im Gefängnis kommt aufgrund dieser Sonderfunktionen eine besondere Bedeutung im Terrorsystem des KZ Auschwitz zu.
Die im Block 11 an Häftlingen begangenen Verbrechen waren auch Verfahrensgegenstand im ersten Frankfurter Auschwitzprozess. Heute ist der Block 11 Teil des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau und für die Öffentlichkeit zugänglich. Eine wissenschaftliche Studie zum Block 11 liegt derzeit noch nicht vor.
Einrichtung, Aufbau und Funktion des Blocks
Ab Juli 1940 wurden zunehmend Gebäude der ehemaligen polnischen Artilleriekaserne in Oświęcim für den Ausbau des zwei Monate zuvor dort eingerichteten KZ Auschwitz genutzt. Dazu wurden in der alten Kaserne, die teils von einer Mauer umgeben war, 18 Backsteingebäude zum Teil aufgestockt. Ein am südwestlichen Eck des Lagerareals gelegener Backsteinbau mit ziegelgedecktem Walmdach wurde in diesem Zuge für den Lagerarrest und Sonderfunktionen verwendet. Dieser Block wurde zunächst als Block 13 und nach der Lagererweiterung ab August 1941 (wahrscheinlich 9. August 1941) als Block 11 bezeichnet.
Dieses Gebäude verfügte neben einem Erd- und Obergeschoss auch über einen Dachboden sowie ein Kellergeschoss, das als Lagerarrest genutzt wurde. Seitens der Häftlinge wurde das Gebäude auch Todesblock () genannt, da eine Einweisung in den Lagerarrest häufig zum Tod des betreffenden Häftlings führte. Die Fenster des Blocks waren vergittert. Im Kellergeschoss befanden sich lediglich winzige Fenster an vorgelagerten Lichtschächten, durch die Tageslicht einfallen und Luft einströmen konnte. Im Obergeschoss des Blocks wurden die Fenster später bis auf einen kleinen Spalt zugemauert.
Der Hof zwischen Block 11 und Block 10 mit der Schwarzen Wand war an den Stirnseiten der beiden parallel zueinander stehenden Gebäude mit hohen Backsteinmauern eingesäumt und damit sichtgeschützt. An der dem Lagerbereich zugewandten Hofseite befand sich ein massives und aus zwei Flügeln bestehendes Holztor mit verschließbarer Sichtklappe, das von innen verriegelt war. Neben der Schwarzen Wand, an der tausende Häftlinge mittels Kleinkalibergewehr durch Genickschuss ermordet wurden, befanden sich auf dem Hof auch zwei „transportable“ Galgen zur Hinrichtung von Häftlingen sowie mehrere Pfähle zum Vollzug der Strafe des Pfahlbindens.
Der über wenige Steinstufen erreichbare Haupteingang des Blocks lag an der Stirnseite des Gebäudes in Richtung Lagerstraße. Rechts neben dem Haupteingang befand sich ein kleines schwarzes Schild mit der Blocknummer. Die Eingangstür am Haupteingang verfügte über eine kleine Klappe, durch die einzulassende Personen von dem diensthabenden Blockführer überprüft wurden. Innerhalb des Lagers war Block 11 streng isoliert und stets verschlossen. Lediglich der Lagerkommandant, der Schutzhaftlagerführer, die Rapportführer, der Leiter und die Referatsleiter der so genannten Politischen Abteilung (Lagergestapo) sowie die in diesem Block untergebrachten Funktionshäftlinge hatten Zugang zu diesem Block. Aufgrund der Sicherungsmaßnahmen war eine Flucht aus Block 11 praktisch ausgeschlossen.
Erdgeschoss
Vom Haupteingang aus teilte ein breiter Hauptgang das Erdgeschoss des Blockes in zwei Hälften. Rechts vom Haupteingang aus gesehen befand sich zunächst das Dienstzimmer des Blockführers. In den folgenden Zimmern befanden sich Stuben der im Block 11 eingesetzten Funktionshäftlinge (Blockschreiber, Blockältester etc.). In der Mitte des Blocks führte vom Hauptgang aus ein Flur zum Seitenausgang des Blocks, durch den der Hof betreten werden konnte. Des Weiteren befanden sich im Erdgeschoss u. a. noch Wasch- und Latrinenräume.
Dachboden und Obergeschoss
Im Obergeschoss beziehungsweise auf dem Dachboden befanden sich anfangs die Räumlichkeiten der Strafkompanie (1940/42) und jene der nur wenige Monate bestehenden Erziehungskompanie. Zeitweilig waren im Obergeschoss in das Lager neu eingewiesene Häftlinge untergebracht wie auch kurz vor der Entlassung stehende Insassen sowie inhaftierte SS-Angehörige.
Zellenbau
Der Zellenbau war nur über das Erdgeschoss durch ein ständig verschlossenes Eisengitter erreichbar. Das Kellergeschoss war wie das Erd- und Obergeschoss durch einen breiten Hauptgang geteilt, der durch zwei Gittertüren unterteilt war. Auf der von der Lagerstraße aus gesehen linken Hälfte befanden sich die Zellen 1 bis 14 und rechts die Zellen 15 bis 28. Laut dem Blockschreiber Jan Pilecki waren die Zellen 1 bis 7 für weibliche Häftlinge vorgesehen. Außer mit KZ-Häftlingen wurden einige Zellen mit Polizeihäftlingen, Zivilisten und zuvor in SS-Diensten stehenden ukrainischen Nationalisten belegt. Prominente Häftlinge wurden in Zelle 21 eingesperrt. In Zelle 22 befanden sich vier Stehzellen, weitere Zellen dienten als Dunkelzellen.
Lagerarrest
Das Kellergeschoss des Blocks wurde ab Ende 1940 zu einem Lagerarrest ausgebaut. Bereits ab Juli 1940 wurden jedoch erstmals Häftlinge in den Lagerarrest des Blocks eingewiesen. Offiziell wurde der Arrestbereich als Kommandanturarrest bezeichnet. Inoffiziell nannten die Häftlinge diesen Zellenbau Bunker.
Einweisende Instanzen, Haftgründe und Strafzumessung
Das Lagergefängnis war offiziell der Lagerkommandantur (Abteilung 1) zugeordnet. Die Einweisung eines Häftlings in den Lagerarrest konnten jedoch neben dem Lagerkommandanten auch der Schutzhaftlagerführer oder insbesondere der Leiter der Politischen Abteilung verfügen. Die Häftlinge wurden in der Regel zum Vollzug des Lagerarrests durch den diensthabenden Blockführer oder Angehörige der Politischen Abteilung zum Block 11 verbracht. Äußerst selten wurden Häftlinge auch durch Funktionshäftlinge zu Block 11 geführt und dort dem Blockführer übergeben, beispielsweise bei „aggressiven Ausschweifungen“ homosexueller Häftlinge. Solche Einweisungen wurden am Folgetag durch den Lagerkommandant autorisiert. Einweisungsgründe waren beispielsweise:
Sabotage oder Verdacht auf Sabotage.
Teilnahme am Lagerwiderstand oder der Verdacht darauf
Kontakt mit der Zivilbevölkerung oder entsprechender Verdacht
Besitz von Lebensmitteln, Wertgegenständen u. a. Dingen, die ins Lager geschmuggelt wurden
Vorbereitung einer Flucht, Fluchthilfe, Fluchtversuche oder ein entsprechender Verdacht sowie gescheiterte Fluchten
Verstöße gegen die Lagerordnung wie Diebstahl und weitere Vergehen im Sinne der Lager-SS
Die Strafzumessung, ob und wie lange ein Häftling in die Arrestzellen oder eine Dunkel- oder Stehzelle eingeschlossen wurde, hing von der Schwere des Vergehens ab. Die Häftlinge wurden in der Regel zwischen 3 und 27 Tagen in den Arrest eingewiesen, in Einzelfällen aber auch kürzer oder länger. Zwei Häftlinge waren sogar 260 beziehungsweise 210 Tage im Bunker eingesperrt. Die Lagergestapo holte Häftlinge, die von der Politischen Abteilung eingewiesen worden waren, oft für „verschärfte Vernehmungen“ ab und misshandelte sie dabei schwer. Manche Häftlinge überlebten diese Folter nicht. Einige Bunkerinsassen verübten während ihrer Haft aus Verzweiflung Suizid.
Vom Hauptgang gingen zwei schmale parallel zueinander liegende Seitengänge ab. Über kleinere Flure war der Zugang zu den insgesamt 28 Arrestzellen zusätzlich gesichert. Die schweren Zellentüren waren mit Stahlbeschlägen verstärkt und mit einem Türspion ausgestattet. An den Zellentüren wurden Karten mit Personalien der Insassen befestigt, eine ständig zu aktualisierende Übersichtstafel mit den im Bunker einsitzenden Häftlingen befand sich ab 1943 im Dienstzimmer des Blockführers. In den Zellen befanden sich lediglich Holzpritschen und ein Zinkeimer für die Notdurft.
Stehzellen
Nachdem der SS-Führer Hans Aumeier, der schon im KZ Dachau „Erfahrung gesammelt“ hatte, Anfang Februar 1942 den Posten des Schutzhaftlagerführers im Stammlager übernommen hatte, wurde verschärfte Dunkelhaft im Stehbunker als Strafmaßnahme eingeführt. In die Zelle 22 des Lagerarrests wurden mittels Trennwänden vier kleine Stehzellen mit einer Grundfläche von 90 cm × 90 cm eingerichtet. Nach Zeugenberichten wurde eine Stehzelle mit bis zu vier Häftlingen belegt, so dass Hinsetzen oder gar Liegen unmöglich war. Der Zugang zur Zelle erfolgte über eine kleine Öffnung am Boden, durch die der Häftling kriechen musste. Nach Eintritt des Häftlings in den Stehbunker wurde die Zelle durch eine mit Eisenbeschlägen verstärkte Holztür gesichert. Da nur durch eine fünf Quadratzentimeter kleine Öffnung Frischluft in die Zelle gelangen konnte, drohte bei dieser Strafe den Häftlingen auch der Erstickungstod. An der Außenwand des Blocks 11 war diese Öffnung mit einer Metallblende abgedeckt. Diese Strafe wurde in der Regel nachts vollzogen, teils mehr als zehn Nächte lang, tagsüber mussten die Häftlinge Zwangsarbeit leisten. Die dort inhaftierten Häftlinge erhielten während der gesamten Strafdauer in der Regel keine Verpflegung. In Einzelfällen wurden Häftlinge auch ununterbrochen für mehrere Tage in die Stehzelle gesperrt. Zudem erhielten die Häftlinge in diesem Fall weder Nahrung noch Wasser und starben an den Folgen der Folter.
Dunkel- und Hungerzellen
Dunkelhaft wurde in den Zellen 7, 9 und zeitweise auch 8 und 20 vollzogen. Statt Fenstern befanden sich dort wie in den Stehzellen ebenfalls nur kleine Luftöffnungen, die von außen durch korbähnliche Blechblenden abgedeckt waren. In den Zellen befanden sich lediglich Kübel zur Verrichtung der Notdurft, die dort eingewiesenen Häftlinge mussten auf dem Betonfußboden schlafen. Diese Strafe wurde in einem Zeitraum von einigen Tagen bis zu mehreren Wochen vollzogen. Bei Überbelegung des Arrests wurden die Dunkelzellen auch als Stehzellen verwendet.
In einigen Fällen dienten Arrestzellen auch als Hungerzellen. Diese Strafe drohte geflüchteten Häftlingen, Fluchthelfern oder auch Geiseln, die zur Abschreckung anstelle der Flüchtigen bestraft wurden. Bekanntestes Opfer in einer Hungerzelle war der polnische Franziskaner-Minorit und Auschwitzhäftling Maximilian Kolbe, der am 29. Juli 1941 mit 14 weiteren Häftlingen zur Vergeltung einer erfolgreichen Flucht aus dem Lager zum Hungertod verurteilt wurde. Kolbe stellte sich dem Schutzhaftlagerführer Karl Fritzsch für den zunächst auch ausgesuchten Häftling Franciszek Gajowniczek zur Verfügung, der aufgrund des ihm bevorstehenden Schicksals sehr verzweifelt war. Fritzsch akzeptierte diesen Austausch und Kolbe wurde mit den 14 weiteren Geiseln in die Zelle 18 gesperrt. Nachdem Kolbe bis zum 14. August 1941 im Hungerbunker gelitten und das Sterben seiner Leidensgenossen erlebt hatte, wurde er durch eine Phenolspritze ermordet.
Bunkerräumungen
Bei Überfüllung des Bunkers wurden auf Initiative des Leiters der Politischen Abteilung, Maximilian Grabner, und des jeweiligen Schutzhaftlagerführers in regelmäßigen Abständen sogenannte Bunkerentleerungen beziehungsweise Bunkerräumungen durchgeführt. Dabei wurden Häftlinge zur Exekution an der Schwarzen Wand ausgewählt. Grabner nannte diese Selektionen, die Platz für neue Insassen schaffen sollten, auch „Bunkerausstauben“. Dabei suchten die Angehörigen der Lager-SS die ihrer Ansicht nach todeswürdigsten Opfer aus, die nach einem kurzen Scheinverfahren zum Tod verurteilt wurden. Die Todeskandidaten mussten sich in den Waschräumen entkleiden, erhielten mit Kopierstift ihre Häftlingsnummern auf den nackten Körper geschrieben und wurden dann nacheinander in Zweiergruppen an der Schwarzen Wand exekutiert, wobei sie die auf dem Hof aufgestapelten Leichen der bereits Hingerichteten sahen.
Diese willkürlichen Exekutionen waren selbst nach den Vorschriften des NS-Staates rechtswidrig, da die Angehörigen der Lager-SS nicht eigenmächtig und ohne Befehl von höherer Stelle wie beispielsweise des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) über den Tod von Häftlingen entscheiden durften. Die Mordopfer wurden deswegen als „im Häftlingskrankenbau verstorben“ geführt.
Bunkerbuch
Vom 9. Januar 1941 bis zum 1. Februar 1944 wurde durch den jeweiligen Blockschreiber zunächst inoffiziell das sogenannte Bunkerbuch geführt, in welchem während dieses Zeitraums in den Block 11 eingewiesene Häftlinge verzeichnet wurden. Neben dem vollständigen Namen wurden Häftlingskategorie, Häftlingsnummer, Geburtsdatum sowie der Geburtsort, Haftgrund, Einlieferungs- und Entlassungs- oder Todeszeitpunkt angegeben. Aufgrund von Abweichungen bei den Angaben der einsitzenden Häftlingen und den Aufzeichnungen im zunächst vom Blockführer offiziell geführten Bunkerbuch begann Blockschreiber Franciszek Brol, heimlich ein eigenes Bunkerbuch zu führen, um seine eigene Position nicht zu gefährden und um die Verbrechen zu dokumentieren. Nachdem während eines Häftlingsappells im März 1941 die Aufzeichnungen des offiziellen Bunkerbuchs nicht mit der festgestellten Blockstärke übereingestimmt hatten, konnte Brol mit seinen eigenen Angaben die korrekte Belegstärke des Blocks nachweisen. Daher wurde das von Brol angelegte und später durch seine Nachfolger weitergeführte Bunkerbuch von der Lager-SS stillschweigend anerkannt. Das Bunkerbuch bestand aus zwei fortlaufenden Bänden: Der 146 Seiten umfassende Band 1 wurde bis zum 31. März 1943 geführt; in ihm sind 1190 Häftlinge (darunter vier Doppelnennungen und ein Zivilist) verzeichnet. Der zweite Band mit 68 Seiten enthält Informationen über 952 Häftlinge. Pilecki fertigte von den beiden Bunkerbüchern Abschriften und es gelang, das Original des ersten Bandes sowie eine Kopie des zweiten über Józef Cyrankiewicz aus dem Lager herauszubringen.
Aus dem Bunkerbuch ergibt sich unter anderem, dass während dieses Zeitraums 814 Häftlinge durch die Politische Abteilung und 335 durch den Schutzhaftlagerführer in den Lagerarrest eingewiesen wurden. Die Zahl der im Bunkerbuch verzeichneten Häftlinge stimmt jedoch nicht mit der tatsächlichen Zahl der in den Lagerarrest eingewiesenen Häftlinge überein, da es neben einer falsch eingetragenen Zivilperson in vier Fällen zu Doppelnennungen kam und mehrere Eintragungen die wiederholte Einweisung eines Häftlings in den Bunker anführen: Jeweils ein Häftling war sieben beziehungsweise sechsmal im Bunker eingesperrt, drei Häftlinge fünfmal (darunter Josef Windeck), vier Häftlinge viermal, 17 Häftlinge dreimal (darunter Bruno Brodniewicz, der Lagerälteste mit der Häftlingsnummer 1) und 101 Häftlinge zweimal. Der Nationalität nach wurden in den Bunkerbüchern folgende Häftlingsgruppen angeführt (mehr als 15 Nennungen von 2137, insgesamt 1261 ohne Angabe der Nationalität): 422 Polen, 175 Deutsche und Österreicher, 82 „Zigeuner“ und 61 Tschechen. Jüdische Häftlinge wurden in diesem Zusammenhang nach ihrer Nationalität oder unter der Rubrik „ohne Angabe“ erfasst. Über die Hälfte der im Bunkerbuch verzeichneten 2137 Angaben zu Häftlingen umfassten nach Kennzeichnungen sogenannte politische Häftlinge (1241) und des Weiteren (mehr als 100 Nennungen) Juden (286), in Polizeiliche Vorbeugehaft genommene (auch als Berufsverbrecher oder befristete Vorbeugehäftlinge bezeichnet) (259) sowie sogenannte Asoziale. Die meisten Bunkerinsassen waren zwischen 30 und 50 Jahre (967) beziehungsweise zwischen 21 und 30 Jahre alt (712). In Ausnahmefällen wurden auch Jugendliche unter 16 Jahren und alte Menschen in den Bunker eingewiesen. Der jüngste Bunkerinsasse war ein dreizehnjähriger polnischer Junge und der Älteste ein 75-jähriger Greis; beide wurden 1943 erschossen. 142 Häftlinge wurden nach dem Arrest in die Strafkompanie überwiesen; mindestens 807 Häftlinge haben den Bunker nicht überlebt. Die tatsächliche Anzahl der Todesopfer ist jedoch nicht nur aufgrund der zeitlich begrenzten Eintragungen im Bunkerbuch höher anzusetzen: Zur Strafe Stehbunker verurteilte Häftlinge, weibliche Häftlinge, Polizeihäftlinge, an der Schwarzen Wand hingerichtete Häftlinge aus dem Lager, sowjetische Kriegsgefangene, ukrainische Nationalisten vom Unternehmen Zeppelin, Zivilarbeiter sowie SS-Angehörige wurden nicht im Bunkerbuch vermerkt. Etliche Eintragungen verschleiern das Schicksal von Bunkerinsassen, und auch die an den Folgen ihrer Bunkerhaft im Lager verstorbenen Häftlinge sind dort nicht erfasst. Der österreichische Generalmajor Josef Stochmal, als Sonderhäftling in Zelle 21 inhaftiert und 1942 hingerichtet, war aus Geheimhaltungsgründen ebenfalls nicht verzeichnet.
Das Original des ersten Bunkerbuchs sowie die Kopie des zweiten sind erhalten geblieben. Die Bunkerbücher werden im Archiv des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau aufbewahrt.
Bunkeramnestie
Nachdem Arthur Liebehenschel im November 1943 Rudolf Höß als Lagerkommandant nachfolgte, räumte er in seiner sechsmonatigen Dienstzeit der Arbeitskrafterhaltung von Häftlingen höchste Priorität ein. Unter seiner Lagerkommandantur verbesserten sich die Verhältnisse für die KZ-Häftlinge im Lager. Liebehenschel erließ im Stammlager unter anderem ein Prügelverbot, tauschte brutale Kapos aus, verfügte die Einstellung von „Bunkerräumungen“ und die anschließenden Erschießungen, befahl die Entfernung der Stehzellen und erließ eine generelle Bunkeramnestie für die einsitzenden Häftlinge. Im Frühjahr 1944 wurden jene Bunkerinsassen, die auf Weisung der Politischen Abteilung oder Schutzhaftlagerführung in den Bunker eingewiesen worden waren, in das Obergeschoss von Block 11 zur Entlassung in das Lager oder andere Konzentrationslager überstellt.
Auf seine Weisung hin wurde auch die „Schwarze Wand“ abgebaut. Die Erschießungen wurden jedoch im Krematorium IV fortgeführt. Des Weiteren schränkte er den Einfluss der Politischen Abteilung ein und ließ deren bekannte Häftlingsspitzel Anfang Februar 1944 in das KZ Flossenbürg überstellen. An diesen Maßnahmen hatten der SS-Standortarzt Eduard Wirths und der mit ihm in Verbindung stehende Lagerwiderstand erheblichen Anteil. Nachdem Liebehenschel im Mai 1944 in das KZ Majdanek versetzt worden war, verschlechterten sich unter seinem Nachfolger Richard Baer die Verhältnisse im Lager wieder. Viele der von Liebehenschel verfügten Neuerungen wurden zurückgenommen.
Erste Massenvergasung in den Bunkerzellen des Blocks 11
Der Schutzhaftlagerführer Karl Fritzsch erprobte im Spätsommer 1941 erstmals die Methode, zum Tode bestimmte sowjetische Kriegsgefangene mittels Zyklon B zu töten, das ansonsten zum Entlausen von Häftlingskleidung benutzt wurde. Während dieser ersten „experimentellen Vergasung“ im Keller des Blocks 11 befand sich der Lagerkommandant Höß nicht in Auschwitz. Das genaue Datum ist nicht bekannt. Frühestens wird der 15. August 1941 angenommen, spätestens wird sogar Anfang Dezember 1941 angesetzt. Die meisten wissenschaftlichen Darstellungen nennen jedoch für die darauf folgende erste Massenvergasung in Anwesenheit von Höß den 5./6. September 1941. Nach Danuta Czech lief die erste Massenvergasung folgendermaßen ab:
Fritzsch wies die aus dem Bunker entlassenen Häftlinge sowie die Häftlinge der Strafkompanie an, das Erd- und Obergeschoss von Block 11 zu räumen und Pritschen etc. auf den Dachboden zu bringen. Die Häftlinge wurden am Abend dieses Tages in den noch im Bau befindlichen Block 5a eingewiesen.
Am folgenden Tag wurden aus dem Häftlingskrankenbau des Stammlagers etwa 250 kranke Häftlinge durch den SS-Standortarzt Siegfried Schwela selektiert und in das Kellergeschoss des Blocks 11 verbracht. Auch etwa 600 sowjetische Kriegsgefangene, überwiegend Offiziere und Politkommissare, wurden in die Arrestzellen des Bunkers getrieben. Sie waren zuvor aufgrund des auf dem Kommissarbefehl basierenden Einsatzbefehls Nr. 8 vom 17. Juli 1941 aus Kriegsgefangenenlagern selektiert und zur Exekution bestimmt worden. Die Fensterschächte der Kellerräume des Blocks 11 wurden mit Erde zugeschüttet. Unmittelbar vor dem Verschließen und Abdichten der Türen warfen Angehörige der Lager-SS am Abend, nach einer Lagersperre, Zyklon B in die Räume.
In den Morgenstunden des darauffolgenden Tages schloss der durch eine Gasmaske geschützte Rapportführer Gerhard Palitzsch die Zellentüren auf und stellte fest, dass nicht alle Opfer tot waren. Anschließend wurde erneut Zyklon B in die Zellen eingeworfen und die Türen wurden wieder verschlossen. Nachmittags wurde festgestellt, dass alle Häftlinge und Kriegsgefangenen tot waren. Zur Nacht wurde erneut eine Lagersperre angeordnet. Nachdem sich das Gas weitestgehend verflüchtigt hatte, wurden Häftlinge (insbesondere aus der Strafkompanie und aus dem Häftlingskrankenbau), die unter Androhung der Todesstrafe zur strengsten Geheimhaltung verpflichtet worden waren, zur Sonderarbeit auf den Hof zwischen Block 10 und Block 11 geführt. Dort befanden sich bereits die leitenden Angehörigen der Lager-SS Fritzsch, Palitzsch, Schwela, Maier sowie mehrere Blockführer. Eine mit Gasmasken ausgestattete Häftlingsgruppe musste die Leichen vom Keller- ins Erdgeschoss tragen, eine zweite dort die Leichen bis auf die Unterhose entkleiden, eine dritte die Leichen vom Erdgeschoss auf den Hof tragen und eine vierte die Leichen auf bereitstehende Rollwagen laden. Währenddessen wurde die Kleidung der Toten unter Aufsicht von Angehörigen der Lager-SS nach Wertgegenständen durchsucht und das Zahngold entfernt. Die mit Leichen beladenen Rollwagen wurden zum Krematorium gebracht. Dieser Vorgang konnte bis zum Morgengrauen nicht abgeschlossen werden und am Abend des 5. September musste dieselbe Häftlingsgruppe nach wiederholter Lagersperre den Leichentransport zum Krematorium beenden. Aufgrund der hohen Anzahl von Leichen dauerte die Kremierung mehrere Tage.
Der Lagerkommandant Rudolf Höß schrieb in seinen Aufzeichnungen zu dem ersten Massenmord mit Zyklon B im Block 11:
„Die Vergasung wurde in den Arrestzellen des Blocks 11 durchgeführt. Ich selbst habe mir die Tötung, durch eine Gasmaske geschützt, angesehen. Der Tod erfolgte in den vollgepfropften Zellen sofort nach Einwurf. Nur ein kurzes, schon fast ersticktes Schreien, und schon war es vorüber. So recht zum Bewusstsein ist mir diese erste Vergasung von Menschen nicht gekommen, ich war vielleicht zu sehr von dem ganzen Vorgang überhaupt beeindruckt. Stärker erinnerlich ist mir die bald darauf erfolgte Vergasung von 900 Russen im alten Krematorium, da die Benutzung des Blocks 11 zuviel Umstände erforderlich machte.“
Polizeistandgericht
Der erste Raum links nach dem Haupteingang diente als Warteraum für Polizeihäftlinge, die durch das ab 1943 in der Schreibstube von Block 11 tagende Standgericht der Staatspolizeileitstelle Kattowitz abgeurteilt wurden. Den Vorsitz dieses ein- bis zweimal monatlich einberufenen Standgerichts übernahm der Leiter der örtlichen Gestapo, zunächst bis September 1943 Rudolf Mildner und anschließend Johannes Thümmler. Des Weiteren gehörte dem Tribunal u. a. der Leiter der Politischen Abteilung im KZ Auschwitz sowie dessen Mitarbeiter der Vernehmungsabteilung und der Lagerkommandant beziehungsweise der Schutzhaftlagerführer an. Polen, die beispielsweise wegen Widerstandstätigkeit gegen die deutschen Besatzer oder aufgrund anderer „Vergehen“ wie Schmuggeln durch Beamte der örtlichen Gestapo verhaftet worden waren, wurden aus den Polizeigefängnissen zu ihrer Aburteilung ohne Registrierung als Häftling in den Block 11 verbracht. Auch sogenannte Volksdeutsche und bereits ins Lager eingewiesene Häftlinge befanden sich unter den Angeklagten. Die „Geständnisse“ der beschuldigten Männer und Frauen lagen bereits vor.
Der Blockschreiber und Auschwitzüberlebende Jan Pilecki berichtete im Zuge des ersten Frankfurter Auschwitzprozesses, dass pro Sitzung etwa 100 Fälle mit bis zu 200 Angeklagten in 60 bis 90 Minuten verhandelt wurden. Die Angeklagten mussten auf dem Korridor auf ihre Verhandlung warten und wurden nach einer Liste aufgerufen. Fast alle Beschuldigten wurden zum Tode verurteilt und vor der Schwarzen Wand exekutiert, nur wenige wurden ins Konzentrationslager eingewiesen.
Blockführer
Im Block 11 verrichteten die Blockführer beziehungsweise deren Stellvertreter im Schichtsystem 24 Stunden am Tag ihren Dienst zur Überwachung der in Block 11 einsitzenden Häftlinge. In diesem Zusammenhang hatte der Blockführer im Wesentlichen folgende Aufgaben:
Ein- und Auslasskontrolle zum Block 11
Kontrolle der Gesamtanzahl der in Block 11 einsitzenden Häftlinge (Stärkemeldung)
Begleitung von Häftlingen aus dem Lagerbereich in den Block 11
Konfiszierung des Eigentums der in den Block 11 eingewiesenen Häftlinge
Führung des Bunkerbuchs (für in Block 11 eingewiesene SS-Angehörige wurde ein eigenes Bunkerbuch geführt)
Verbringung des Häftlings in den ihm zugewiesenen Zellenbereich und Vollzug der befohlenen Behandlungsweise (insbesondere Einzelhaft, Fesselung, Stehbunker, Dunkelhaft, Nahrungsentzug)
Überwachung der Reinigung des Lagerarrests und der Essensausgabe
Begleitung von Häftlingen aus dem Arrest zum Verhör in der Politischen Abteilung
Aufbewahrung des Bunkerschlüssels
Teilnahme an Zellenkontrollen
Entlassungen aus dem Lagerarrest
Vollzug der Prügelstrafe (Korridor und Blockführerzimmer) und des Pfahlbindens (Dachboden) in Block 11
Teilnahme an der Erschießung von Häftlingen an der Schwarzen Wand
Namentlich bekannte Blockführer waren folgende Angehörige der Lager-SS: Reinhard Eberle (1942–1944), Georg Engelschall (1941), Wilhelm Gehring (1941–1942), Ernst Kroh (1942–1943), Otto Lätsch (1943), Kurt Hugo Müller (1943), Otto Ogurek (1943), Bruno Schlage (1942–1943), Karl Seufert (1941), Heinz Villain (1941). Franciszek Brol, Gerad Włoch und Jan Pilecki nennen darüber hinaus noch Ludwig Plagge sowie Kurt Gerlach, Werner Kleinmann und Gustav Schulz. Zusätzlich war ein Mitglied der Politischen Abteilung zur Beaufsichtigung der Polizeihäftlinge in Block 11 abgestellt, der auch die Sitzungen des Polizeistandgerichts vorbereitete. Diese Aufgabe übernahm der SS-Mann Willi Florschütz.
Funktionshäftlinge
Unter den in Block 11 eingesetzten Häftlingen bekleideten insbesondere die jeweiligen Blockältesten und Blockschreiber wichtige Funktionen. Der Blockälteste war in diesem Block für das Erd- und Obergeschoss zuständig und hatte insbesondere beim Appell die Gesamtzahl der in Block 11 befindlichen Häftlinge zu melden.
Des Weiteren oblag ihm anfangs die Aufsicht über die bis 1942 im Block 11 befindliche Strafkompanie. Die Funktion des Blockältesten bekleideten unter anderem Ernst Krankemann, Johannes (Hans) Krümmel und Franz Teresiak.
Der Blockschreiber hatte alle Schreibarbeiten zur Überwachung der in Block 11 befindlichen Häftlinge auszuführen und insbesondere die Blockmeldungen schriftlich festhalten. Namentlich bekannte Blockschreiber in Block 11, die auch das Bunkerbuch führten, waren nacheinander die polnischen Häftlinge Franciszek Brol, Gerard Włoch und Jan Pilecki. Die Funktionshäftlinge in Block 11 verfügten neben anderen Privilegien über eine relative Bewegungsfreiheit im Lager. Sie waren im Gegensatz zu anderen Häftlingen weniger Schikanen ausgesetzt und hatten daher wesentlich bessere Überlebensbedingungen.
Im Bunker war ein als Kalfaktor bezeichneter Kapo eingesetzt, dessen Aufgabenbereich sich auf den Lagerarrest erstreckte. Die Regelaufgaben des Bunkerkalfaktors umfassten neben dem Auf- und Abschließen der Zellen und der Essensausgabe an einsitzende Häftlinge auch die Reinigung des Zellenbaus. Des Weiteren hatte er die Leichen der im Lagerarrest verstorbenen Häftlinge aus der Zelle zum Eingang des Zellenbaus zu tragen, von wo diese durch Leichenträger aus dem Häftlingskrankenbau weggeschafft wurden. Der Bunkerkalfaktor wurde bei seinen Aufgaben durch einen Gehilfen unterstützt. Bei Zellenkontrollen mussten sie manchmal zwischen Lager-SS und Bunkerinsassen dolmetschen.
Bekannt wurde der als Bunkerjakob bezeichnete jüdische Häftling Jakob Gorzelezyk (oft fälschlich Kozelczuk geschrieben), der am 26. Januar 1943 mit einem aus 2300 Juden bestehenden Transport im KZ Auschwitz ankam und als einer der Wenigen für Zwangsarbeit im Lager selektiert wurde; 2107 Menschen dieses Deportationszuges wurden umgehend in den Gaskammern ermordet. Gorzelezyk wurde von dem Auschwitzüberlebenden Filip Müller als außergewöhnlich starker und sehr muskulöser Hüne geschildert, der aufgrund seiner außergewöhnlichen Kraft als Kalfaktor im Bunker des Blocks 11 eingesetzt wurde. Vor Gorzelezyk hatten zunächst der deutsche Kurt Pennewitz und danach der polnische Häftling Hans Musioł die Aufgaben des Bunkerkalfaktors beziehungsweise Bunkerkapos übernommen.
Der Auschwitzüberlebende und zeitweilige Bunkerinsasse Hermann Langbein charakterisiert Gorzelezyk auf vier Seiten in dem von ihm verfassten Buch „Menschen in Auschwitz“. Gorzelezyk oblag über dessen Regelaufgaben hinaus die Begleitung von Hinrichtungskandidaten zur Schwarzen Wand und das Festhalten der Opfer während ihrer Erschießung. Er wurde von der Lager-SS gezwungen, bei den Bunkerräumungen zu assistieren, an Häftlingen die Prügelstrafe zu vollziehen beziehungsweise auch auf dem Appellplatz Erhängungen vorzunehmen. Gorzelezyk wurde von vielen Auschwitzüberlebenden dennoch als außerordentlich hilfsbereit beschrieben, da er beispielsweise die Prügelstrafe im Gegensatz zu Angehörigen der Lager-SS schonend vollzog, Nachrichten von Bunkerinsassen an andere Gefangene im Zellenbau übermittelte, Gefolterte pflegte sowie Gefangene mit Nahrungsmitteln versorgte. Der Bunkerjakob habe so im Rahmen seiner Möglichkeiten konspirativ wertvolle Hilfe geleistet.
Räumung und Befreiung des Lagers
Im Zuge der kriegsbedingten Räumung des KZ Auschwitz mussten auch die noch in Block 11 gefangenen Häftlinge zwischen dem 18. und 23. Januar 1945 einen Todesmarsch antreten. In Wodzisław Śląski angekommen wurden sie jedoch nicht wie die Mehrzahl der Häftlinge mit Güterzügen in weiter westlich gelegene Konzentrationslager verbracht, sondern wurden zu Fuß weiter Richtung Westen getrieben. Zielort dieser Häftlingsgruppe war möglicherweise das KZ Groß-Rosen.
Am 27. Januar 1945 gegen 15 Uhr wurde das weitgehend geräumte KZ Auschwitz von sowjetischen Einheiten der 1. Ukrainischen Front befreit. An die Befreiung erinnert am 27. Januar der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, der in Deutschland seit 1996 ein bundesweiter, gesetzlich verankerter Gedenktag ist und von den Vereinten Nationen im Jahr 2005 zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust erklärt wurde.
Juristische Aufarbeitung
Noch zur Zeit des Nationalsozialismus wurde 1943 gegen den Leiter der Politischen Abteilung Grabner ein Ermittlungsverfahren durch den SS-Richter Konrad Morgen eingeleitet. Der gegen ihn im Oktober 1943 vor dem SS- und Polizeigericht Weimar geführte Prozess, insbesondere wegen Mordes in 2000 Fällen im Rahmen der Bunkerräumungen, wurde jedoch nicht abgeschlossen. Auch gegen den Lagerkommandanten Höß und die Schutzhaftlagerführer Aumeier sowie Schwarz wurden Ermittlungen aufgenommen, jedoch nicht zum Abschluss gebracht.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden Aumeier und Grabner im Krakauer Auschwitzprozess wegen in Auschwitz begangener Verbrechen zum Tode verurteilt und im Januar 1948 hingerichtet, letzterer „wegen Mordes an mindestens 25.000 Häftlingen“. Höß und Schwarz waren zu diesem Zeitpunkt bereits im Frühjahr 1947 im ehemaligen Stammlager beziehungsweise in Sandweier hingerichtet worden.
Die Bunkerräumungen und Exekutionen im Zusammenhang mit den in Block 11 begangenen Verbrechen waren gewichtige Verfahrensgegenstände während des ersten Frankfurter Auschwitzprozesses; entsprechende Tatvorwürfe wurden gegen folgende Angeklagte erhoben: Wilhelm Boger, Pery Broad, Klaus Dylewski, Franz Johann Hofmann sowie Bruno Schlage. Während dieses Prozesses fand vom 14. bis zum 16. Dezember 1964 eine von der Presse viel beachtete Besichtigung des Tatortes Auschwitz statt, an der neben einem Richter und drei Staatsanwälten auch Verteidiger sowie der Angeklagte Franz Lucas teilnahmen. Die Ortsbesichtigung sollte im Verfahren der Klärung von Detailfragen dienen, u. a. wurden in Block 11 die Hör- und Sichtverhältnisse überprüft. Dabei wurden die zahlreichen Aussagen Auschwitzüberlebender zu den Verbrechen im Block 11 bestätigt und jene der Angeklagten fast völlig widerlegt: So konnte das Aufrufen der Namen von Exekutionsopfern aus den Bunkerzellen deutlich vernommen und der Hof zwischen Block 10 und 11 mit der Schwarzen Wand durch die Ritzen der Bretterverschalung aus den Fenstern von Block 10 gut eingesehen werden.
Block 11 als Teil des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau
Kurz nach Kriegsende – noch vor Gründung des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau – wurde ab Mitte 1945 eine erste Ausstellung zum KZ Auschwitz im ehemaligen Stammlager gezeigt. Neben den in Block 4 gezeigten Raubgütern war auch Block 11 Teil der Ausstellung. Viele Polen reisten zu dieser Ausstellung nach Oświęcim, um ihrer dort ermordeten Angehörigen zu gedenken oder sich über die in Auschwitz begangenen Verbrechen zu informieren. Block 11 ist im Rahmen der Ausstellung des Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau für die Öffentlichkeit zugänglich. Das Gebäude befindet sich in dem nach der Befreiung des Konzentrationslagers vorgefundenen Zustand. Erd- und Kellergeschoss sind noch weitestgehend im Originalzustand erhalten. An den Kellerwänden sind noch heute eingeritzte Namen und Botschaften sichtbar. Im ersten Stock des ehemaligen Todesblocks befindet sich eine Ausstellung zum Widerstandskampf.
Während die Ruinen der Krematorien und Gaskammern des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau ein Symbol des Holocausts geworden sind, steht das ehemalige Stammlager für das „Martyrium unzähliger Polen“. In diesem Zusammenhang ist die Schwarze Wand herausragender Gedenkort des „nationalsozialistischen Terrors gegen Polen“.
Literatur
Franciszek Brol, Gerad Włoch, Jan Pilecki: Das Bunkerbuch des Blocks 11 im Nazi-Konzentrationslager Auschwitz. In: Hefte von Auschwitz, Nr. 1, Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau 1959.
Józef Buszko, Danuta Czech et al.: Auschwitz. Faschistisches Vernichtungslager. Interpress, Warschau 1981, ISBN 83-223-1913-4.
Jan Pilecki: Standgericht. In: Hans Günther Adler, Hermann Langbein, Ella Lingens-Reiner (Hrsg.): Auschwitz. Zeugnisse und Berichte. Erstauflage 1962. 6. Auflage, mit einem Vorwort zur Editionsgeschichte von Katharina Stengel: Schriftenreihe 1520. Bundeszentrale für politische Bildung BpB, Bonn 2014, ISBN 978-3-8389-0520-4, S. 173–175.
Danuta Czech: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945. Rowohlt, Hamburg 1989, ISBN 3-498-00884-6.
Wacław Długoborski, Franciszek Piper (Hrsg.): Auschwitz 1940–1945. Studien zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Verlag Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, Oswiecim 1999, ISBN 83-85047-76-X. 5 Bände:
Aufbau und Struktur des Lagers.
Die Häftlinge – Existenzbedingungen, Arbeit und Tod.
Vernichtung.
Widerstand.
Epilog.
Raphael Gross, Werner Renz (Hrsg.): Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965). Kommentierte Quellenedition. Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Band 1. Campus, Frankfurt 2013, ISBN 978-3-593-39960-7.
Hermann Langbein: Menschen in Auschwitz. Ullstein-Verlag, Berlin/Wien 1980, ISBN 3-548-33014-2.
Robert Jan van Pelt: Auschwitz. In: Günther Morsch, Bertrand Perz: Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas. Berlin 2011, ISBN 978-3-940938-99-2.
Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau (Hrsg.): Sterbebücher von Auschwitz. Band 1: Berichte, Saur, München 1995, ISBN 3-598-11263-7.
Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau (Hrsg.): Auschwitz in den Augen der SS. Oswiecim 1998, ISBN 83-85047-35-2.
Verein zum Erhalt der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau e. V. (Hrsg.): Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Online: Titel, Inhaltsverzeichnis, Grußwort, Vorwort (PDF; 201 KB) Teil 1 (PDF; 1,2 MB) Teil 2 (PDF; 1,4 MB) Anhang (PDF; 956 KB).
Weblinks
Texte und Materialien zur Geschichte des Lagers Auschwitz, zum Auschwitz-Prozess, zum Tonbandmitschnitt. Fritz Bauer Institut, auf auschwitz-prozess.de/
Vergrößerbares Luftbild vom 25. August 1944, hier zur Lage des Gebäudes innerhalb des Konzentrationslagers; dabei ist auch die Lage der ehemaligen polnischen Armeekaserne im ersten Lagerteil (Auschwitz I, Stammlager) erkennbar. (nachträgliche englische Beschriftung: Penal Block = Strafblock)
Einzelnachweise
Auschwitz-Birkenau – Deutsches nationalsozialistisches Konzentrations- und Vernichtungslager (1940-1945)
Hinrichtungsstätte in Polen
Geschichte (Woiwodschaft Kleinpolen)
Oświęcim
Gefängnismuseum
1940er |
9237583 | https://de.wikipedia.org/wiki/N%C3%BCrnberger%20B%C3%B6rse | Nürnberger Börse | Die Nürnberger Börse entstand als eine der ersten deutschen Börsen im 16. Jahrhundert am Hauptmarkt in Nürnberg. Sie war ein Bindeglied im Handel zwischen Italien und anderen europäischen Wirtschaftszentren. Gehandelt wurden sowohl Waren als auch Finanzprodukte. Ab dem Dreißigjährigen Krieg verlor die Nürnberger Börse zunehmend ihre Bedeutung als europäischer Finanzplatz. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden in Nürnberg keine Wechselkurse mehr notiert. Die Stadt ist seitdem nur noch indirekt über andere Handelsplätze mit den internationalen Finanzmärkten verbunden.
Gründung
Anfänge
Im Mittelalter lag Nürnberg an wichtigen Handelsrouten und entwickelte sich ab dem 14. Jahrhundert zu einer europäischen Wirtschaftsmetropole. Nürnberg pflegte einen regen Austausch mit deutschen Städten und internationalen Handelspartnern wie Venedig, Antwerpen und Lyon.
Im 15. und 16. Jahrhundert waren in Nürnberg bedeutende Händlerfamilien aktiv. Zu ihnen zählten die Hirschvogel, Imhoff, Kreß, Stromer und Tucher. Der Reichtum, den sie im Warenhandel erwarben, gab ihnen die Möglichkeit, auch Finanzgeschäfte in großem Umfang durchzuführen. Der Nürnberger Fernhändler und Bankier Wilhelm Rummel galt als Hauptgeldgeber König Ruprechts. 1401/02 finanzierte er zusammen mit seinen florentinischen Geschäftspartnern dessen Italienfeldzug. Weitere prominente Kunden des Bankhauses Rummel waren der Nürnberger Burggraf Friedrich und König Sigismund. Auch die Augsburger Fugger, die Welser und zahlreiche ausländische Gesellschaften unterhielten Handelsniederlassungen in der Stadt.
Der nordwestliche Teil des heutigen Nürnberger Hauptmarkts hieß früher Herrenmarkt. Hier gingen die Großkaufleute ihren Geschäften nach. In unmittelbarer Nähe existierten bereits im 15. Jahrhundert zwei Institutionen, die wesentlich zur Entstehung der Börse beitrugen:
die öffentliche Waage
der Wechsel
Die öffentliche Waage (auch Fronwage genannt) befand sich seit 1497 zusammen mit der Herrentrinkstube in einem von Hans Behaim erbauten Gebäude. Händler hatten hier die Möglichkeit, Geschäfte abzuschließen und ihre Waren direkt in einem vor Betrug geschützten Umfeld zu wiegen. Die öffentlichen Wechsler hatten ihren Stand in der Nähe des Schönen Brunnens. Sie boten zunächst nur einen tatsächlichen Münzwechsel an. Später wurden am Herrenmarkt auch Wechsel in Form von Wertpapieren gehandelt. In der seit 1520 neben der Sebalduskirche gelegenen Münzschau konnten Kaufleute Münzen auf ihre Echtheit prüfen lassen. Diese Institution wurde auch Schauamt oder Alte Schau genannt.
Ab welchem Zeitpunkt man am Nürnberger Herrenmarkt von einer Börse sprechen kann, hängt von der Definition des Begriffs ab. Durch die Fronwage, den Wechsel und die Münzschau war frühzeitig eine öffentliche Infrastruktur vorhanden. Mehrere Quellen nennen als Gründungszeitpunkt das Jahr 1540 oder die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts. Hiernach wäre die Nürnberger Börse, zusammen mit jener in Augsburg, die erste Institution dieser Art in Deutschland.
Marktordnung
Im Jahr 1560 legten 61 Kaufleute dem hohen Rat der Stadt Nürnberg ein Schriftstück vor. Dieses enthielt die Bitte, die Einrichtung und Ordnung des Handelsplatzes zu verbessern. In einer Marktordnung wurden daraufhin vom Rat Handelsregeln erlassen und für alle sichtbar auf einer Tafel am Herrenmarkt angebracht. Zu ihrer Sicherstellung ernannte der Rat 1562 die beiden Obermarktherren Martin Pfinzing und Hans Welser. Beide stammten aus angesehenen Nürnberger Patrizierfamilien. Sie wurden ab 1566 von fünf (später vier) Handelsleuten unterstützt, die als Marktvorsteher tätig waren. Zusammen bildeten sie den Handelsvorstand der Börse.
Die Marktordnung beschränkte die Handelszeiten am Herrenmarkt auf 11:00 bis 17:00 Uhr. Handelsbeginn und -ende läutete man mit einer Glocke ein. Das Marktglöcklein wurde an einem Strebepfeiler der Sebalduskirche befestigt. Das Einläuten des Marktes übernahm erstmals der Taschner und Predigtstuhlmacher Hans Öfner. Er erhielt zudem den Auftrag, einen Goldschilling von allen Personen einzutreiben, die außerhalb der Marktzeiten handelten.
Nach Etablierung der neuen Marktordnung mieteten die Kaufleute ein Marktgewölbe. Der Handelsvorstand hielt dort seine Beratungen ab. Das Marktgewölbe befand sich zwischen dem Schönen Brunnen und der Sebalduskirche und ist heute Sitz der Industrie- und Handelskammer Nürnberg für Mittelfranken. Ein eigenes Börsengebäude wie in anderen Städten war in Nürnberg zwar geplant, es wurde jedoch nicht realisiert. Der Handel am Herrenmarkt fand zumindest zum Teil unter freiem Himmel statt.
Handelsgüter
An der Nürnberger Börse wurden sowohl Waren- als auch Finanzgeschäfte abgeschlossen.
Im Warenbereich sind Metallprodukte und Tuche zu nennen. Diese Güter wurden in Nürnberg nicht nur vertrieben, sondern auch in großer Menge hergestellt. Ihre hohe Verbreitung führte zu dem Spruch Nürnberger Hand geht durch alle Land. Später entwickelte sich daraus das leicht abgewandelte Sprichwort Nürnberger Tand geht durch alle Land. Am Herrenmarkt wurden zudem Gewürze gehandelt. Nürnberg war im 15. und 16. Jahrhundert ein internationaler Umschlagplatz für Safran und Pfeffer.
Handelsobjekte im Finanzbereich waren Münzen (Sorten) und Wechsel. Wechsel spielten im Fernhandel eine wichtige Rolle, da sie einen bargeldlosen Zahlungsverkehr ermöglichten. Dies sparte Aufwand und reduzierte das Risiko eines Überfalls. Seit 1583 wurden auf Verlangen der Kaufmannschaft regelmäßig Wechselkurse der wichtigsten Handelspartner notiert. Darüber hinaus wurden am Herrenmarkt Darlehen begeben.
Ein weiteres Handelsgut waren Anteilsscheine an Bergwerken, sogenannte Kuxe. Durch ihren Erwerb sicherten Nürnberger Kaufleute die Versorgung der ansässigen Handwerker mit Metallen.
Handelsbräuche
Die Nürnberger Börse war ein Handelsplatz der Großkaufleute. Am Herrenmarkt gingen einflussreiche Kaufmannsfamilien und Handelsgesellschaften ihren Geschäften nach. Der Einzelhandel wurde strikt von der Börse getrennt und fand in anderen Bereichen des heutigen Hauptmarkts statt.
Die Nürnberger Großkaufleute organisierten sich zunächst informell in der Herrentrinkstube im alten Waaggebäude. Die damaligen Gebräuche hielt Lorenz Meder 1558 in seinem Handelsbuch fest, das zum Standardwerk für die oberdeutschen Kaufleute wurde. Mit der im Jahr 1560 etablierten Marktordnung gaben sich die Kaufleute offizielle Regeln. Für ihre Durchsetzung war der Handelsvorstand der Börse verantwortlich. Er ahndete Verstöße mit Geld- oder Freiheitsstrafe. Die im Jahr 1564 veröffentlichte Nürnberger Zivilgesetzgebung, Der Stat Nürmberg verneute Reformation [sic], enthielt weitere Vorschriften zu Handelsgeschäften in der Stadt. In der Reformation von 1564 sind auch Bestimmungen über börsenmäßige Termingeschäfte enthalten.
Öffentliche Wechselkursnotierungen erfolgten an der Nürnberger Börse ab 1583. Kaufleute konnten zu den regelmäßig publizierten Kursen Fremdwährungen bei den amtlichen Wechslern am Herrenmarkt tauschen. Die dort üblichen Usancen wurden in verschiedenen Wechselordnungen festgehalten. Aufgrund der damaligen Konkurrenzsituation versuchte die Augsburger Kaufmannschaft über Kaiser Rudolf II. die Kursnotierungen am Herrenmarkt zu stoppen. Sie hatte damit jedoch keinen Erfolg.
Die Nürnberger Handelsbräuche und -gesetze waren in der frühen Neuzeit über die Ortsgrenze hinaus relevant und galten auch in anderen Städten. Sie bildeten eines der Fundamente des heutigen deutschen Handelsrechts. Die Vorgängerversion des HGB, das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch, wurde in Nürnberg verfasst.
Handelspartner
Nürnberg war im 16. Jahrhundert ein Handels- und Finanzzentrum europäischen Ranges. An der Nürnberger Börse wurden Wechselkurse zu folgenden Handelspartnern notiert:
Amsterdam
Antwerpen
Danzig
Frankfurt am Main
Hamburg
Leipzig
Lübeck
Lyon
Ulm
Venedig
Wien
Die Nürnberger Börse diente als Bindeglied im Handel zwischen Italien und anderen europäischen Wirtschaftszentren. Eine wichtige Rolle spielte der Warentransfer von Venedig in die Hafenstädte an der Nord- und Ostsee. Nürnberger Kaufleute nutzten in Venedig den Fondaco dei Tedeschi als Handelsniederlassung, wie alle Händler aus dem Reich, die am Handel mit Venedig partizipieren wollten. Umgekehrt siedelten sich italienische Kaufleute in Nürnberg an. Im Mittelalter geschah dies noch selten, wie etwa durch die venezianischen Amadi von Mitte des 14. bis Anfang des 15. Jahrhunderts. Im Jahr 1574 waren in der Stadt bereits 18 „welsche“ Familien im Handel tätig. Neben der günstigen Lage waren für sie die Privilegien attraktiv, die Nürnberger Bürger in anderen Handelsmetropolen wie Frankfurt am Main und Antwerpen genossen.
In Nürnberg erschien 1537 die erste Abhandlung über Buchführung in deutscher Sprache. Diese wurde aus dem Italienischen übersetzt. Im Jahr 1585 waren es Nürnberger Kaufleute, die zusammen mit ihren italienischen Handelspartnern die Gründung einer Börse in Frankfurt am Main anregten. In der Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sich die Nürnberger Kaufmannschaft soweit internationalisiert, dass der Umsatz der ausländischen Händler den der einheimischen Gesellschaften bei weitem übertraf.
Banco Publico
Im Jahr 1618 begann in Deutschland der Dreißigjährige Krieg. Der enorme Bedarf an Kriegsmitteln führte in den Finanzmetropolen zu einer Verschlechterung der Münzqualität und somit zu einer Inflation. Die damalige Münzentwertung wird als Kipper- und Wipperzeit bezeichnet. Den Handel stellte sie vor große Probleme. Auf Anregung des Marktvorstehers Bartholomäus Viatis beschloss der Rat der Stadt Nürnberg daher im Jahr 1621 die Gründung des Nürnberger Banco Publico. Hierbei handelte es sich um eine städtische Girobank, die den bargeldlosen Zahlungsverkehr mit Handelspartnern ermöglichte. Nürnberger Kaufleute waren verpflichtet, dort Gelder einzulegen und alle Geschäfte abzuwickeln, deren Wert 200 Gulden überstieg. Ähnliche Institutionen gab es in Amsterdam, Hamburg und Venedig.
Das Gesetz zur Gründung des Banco Publico wurde von Andreas III. Imhoff verfasst. Als öffentliche Einrichtung hatte die Bank ihren Sitz im Nürnberger Rathaus. Die Beaufsichtigung des Instituts unterlag dem Bancoamt. Dieses Gremium bestand aus zwei Ratsmitgliedern, zwei Juristen und den Marktvorstehern der Börse. Das Aufsichtsgremium konnte nicht verhindern, dass der Rat der Stadt mehrfach auf die Einlagen des Banco zugriff. Dies verschärfte sich, als der schwedische König und Heerführer Gustav Adolf während der Schlacht an der Alten Veste sein Lager 1632 bei Nürnberg aufschlug. Für die kostspielige Verpflegung seiner Armee musste die Stadt aufkommen. Der König forderte von Nürnberg zudem ein Kriegsdarlehen. In den darauf folgenden Jahren kam es mehrfach zu Kampfhandlungen im Stadtgebiet. Als diese 1635 endeten, war Nürnberg hoch verschuldet und der Banco Publico bankrott.
Der Rat verpflichtete sich im Jahr 1635, die entnommenen Gelder in monatlichen Raten an den Banco Publico zurückzuzahlen. Um zukünftig Übergriffe auf die Einlagen der Bank zu verhindern, wurde das Bancoamt ab diesem Zeitpunkt von 12 vom Rat gewählten Marktadjunkten unterstützt. Sie entstammten der Kaufmannschaft und sollten deren Interessen schützen. Neben einer reinen Bankenaufsicht erfüllte das Bancoamt auch die Aufgaben eines Schiedsgerichts. Hieraus ging im Jahr 1697 das Mercantil- und Bancogericht als unabhängige Gerichtsinstanz hervor. Dieses Handelsgericht war für die Rechtsprechung in Nürnberg verantwortlich und fertigte Gutachten für auswärtige Rechtsangelegenheiten an. Das Nürnberger Mercantil- und Bancogericht entwickelte sich im frühen 19. Jahrhundert. zum Handelsgericht der Reichsstadt Nürnberg und wurde so im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Keimzelle des bayerischen und deutschen Handelsgerichtswesens.
Durch die Gründung des Banco gelang es Nürnberg im 17. Jahrhundert, den Anschluss an andere wichtige Finanzplätze zu halten. Die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt nahm in dieser Zeit jedoch bereits ab. Dass der Banco dennoch rund 200 Jahre existierte, verdankte er weniger seinem finanziellen Erfolg als vielmehr seiner Funktion als Stabilitätsgarant im bargeldlosen Zahlungsverkehr. Allerdings hatte die Bank – ebenfalls im Gegensatz zu vergleichbaren Institutionen – den Nachteil, dass ihre Dienstleistungen nicht kostenlos waren, sondern Gebühren anfielen. Damit sowie mit der Zulassung des mehrfachen Indossaments 1700 verlor der Banco Publico eigentlich seine bankenwirtschaftliche Existenzberechtigung, dennoch wurde er aus Traditionsgründen weiterhin am Leben erhalten, obwohl seine ökonomische Relevanz zunehmend sank.
Wechselordnungen
Neben Vorschriften zum Zwang der Zahlung in guter Währung umfasste die Bancoordnung von 1621 auch Paragraphen zu Wechselgeschäften. Bei ihrer Erneuerung 1654 wurden die wechselrechtlichen Bestimmungen in eine getrennte Wechselordnung überführt. Hierbei flossen Vorschriften der oberitalienischen Handelsplätze mit ein. Insbesondere die Wechselordnung der Regentin Claudia von Medici für Bozen von 1635 diente als Muster. Die Nürnberger Wechselordnung war die erste im Heiligen Römischen Reich, die durch italienische Vorläufer geprägt war. Die Wechselordnung von Frankfurt am Main von 1581, die älteste in Deutschland, hatte sich am Vorbild niederländischer Regelungen orientiert. Die Nürnberger Wechselordnung von 1654 enthielt ein Verbot des mehrfachen Indossierens. Dies stellte einen Kompromiss dar. Während die nordeuropäischen Kaufleute Indossamente nutzten, waren diese in Oberitalien verboten. Im Jahr 1700 wurde eine revidierte Fassung der Wechselordnung erlassen, die auch in Nürnberg mehrfache Indossamente erlaubte.
Die Nürnberger Wechselordnung vom 16. Februar 1722 stellte eine komplette Neufassung dar. Sie war deutlich umfangreicher als ihre Vorgänger und regelte das Wechselgeschäft im Detail. Für Spannungen mit der Nachbarstadt Fürth sorgte ein Paragraph, der vorschrieb, dass Wechsel die „alternative in Nürnberg oder einen benachbarten Ort, zahlbar [sic]“ lauteten, immer in Nürnberg bezahlt werden mussten. Diese Vorschrift betraf vor allem jüdische Kaufleute aus Fürth und dem Umland. Sie waren hierdurch gezwungen ihre Wechselgeschäfte in Nürnberg, anstatt in ihrem Heimatort, abzuwickeln.
Niedergang
Im 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlor Nürnberg seine Stellung als internationales Handels- und Finanzzentrum zunehmend an Frankfurt am Main und München. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zum einen hatten sich die Handelswege in Europa durch die Entdeckung Amerikas dauerhaft verändert. Zudem litt die Stadt lange Zeit unter den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges und war durch eine verfehlte Wirtschaftspolitik hoch verschuldet.
Im Jahr 1806 büßte Nürnberg aufgrund der Rheinbundakte den Status als Reichsstadt ein und wurde ins Königreich Bayern eingegliedert. Das 1560 an der Sebalduskirche angebrachte Marktglöcklein wurde 1813 abgehängt. Der Marktvorsteher Gottfried Kießling erwarb es zum Materialpreis. Die bayrische Regierung löste den Banco Publico 1827 auf. Im Jahr 1843 wurde in Nürnberg die Handelskammer Mittelfranken gegründet und übernahm ab 1854 die Aufgaben des Handelsvorstands. In Form der IHK hat sie ihren Sitz bis heute am ehemaligen Herrenmarkt. Aus dem Jahr 1858 ist bekannt, dass Nürnberg keine eigenen Wechselkurse mehr notierte, sondern die Kurse von Frankfurt am Main übernahm. Durch diese Veränderungen war die Stadt nur noch indirekt mit den internationalen Finanzmärkten verbunden.
Literatur
Richard Ehrenberg: Die alte Nürnberger Börse. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg Bd. 8. Nürnberg 1889 (online).
IHK Nürnberg (Hrsg.): Im Zeichen der Waage – Wirtschaft und Gesellschaft im Wandel – 425 Jahre Nürnberger Handelsvorstand. IHK Nürnberg 1985.
Markus A. Denzel: Der Nürnberger Banco Publico, seine Kaufleute und ihr Zahlungsverkehr (1621–1827). Stuttgart 2012, ISBN 978-3-515-10135-6.
Heinrich von Poschinger: Unmittelbare Veranlassung der Gründung des Banco Publico in: Bankgeschichte des Königreichs Bayern: Bankgeschichte der Reichsstadt Nürnberg, Band 2, Deichert, 1875
Weblinks
Eine kleine Glocke beendete das Chaos
Vom Handelsvorstand zur IHK
Einzelnachweise
Ehemaliges Unternehmen (Nürnberg)
Warenbörse
Wertpapierbörse
Gegründet 1540
Finanzdienstleister (Deutschland)
Ehemaliger Finanzdienstleister |
9834868 | https://de.wikipedia.org/wiki/Fletcher%E2%80%99s%20Checksum | Fletcher’s Checksum | Fletcher’s Checksum (übersetzt „Fletchers Prüfsumme“, auch Fletcher checksum oder Fletcher algorithm) ist ein 1982 von John G. Fletcher (1934–2012) vorgestelltes Fehlererkennungsverfahren in Form einer Prüfsumme. Mit dem Verfahren können Fehler, beispielsweise in einer digitalen Datenübertragung, entdeckt werden. Es basiert darauf, dass die einzelnen Bits der Nachricht nicht nur aufsummiert, sondern zusätzlich abhängig von ihrer Position gewichtet werden. Damit stellt der Algorithmus einen Kompromiss zwischen der langsameren, aber sensitiveren zyklischen Redundanzprüfung (CRC) und fehleranfälligen Verfahren wie einer einfachen Prüfsumme oder vertikaler Redundanzprüfung dar. Fletcher’s Checksum wird unter anderem in verschiedenen Netzwerkprotokollen und Dateisystemen verwendet.
Der Algorithmus
Die binär übertragene Nachricht wird in Abschnitte der Länge unterteilt, jeweils Bit bilden somit einen Block. Der letzte Block wird gegebenenfalls für die Dauer des Algorithmus aufgefüllt und jeder Block als vorzeichenloser Integer interpretiert. Die Anzahl der Blöcke sei . Der Prüfwert besteht aus zwei verschiedenen Summen: Die erste () summiert schrittweise sämtliche Blöcke auf, die zweite () ist die Summe aller Zwischenergebnisse der ersten Summe. Der erste Block geht also -mal in ein, der letzte dagegen nur einmal. Werden durch eine Störung beim Übertragen Bits invertiert oder zwei Blöcke unterschiedlichen Wertes vertauscht, verändert sich im Normalfall der Prüfwert: Der Fehler fällt auf.
Da der Prüfwert unabhängig von der Länge der Nachricht in einer festen Anzahl von Bits (im Allgemeinen ) übertragen werden können soll, werden beide Summen zuletzt modulo gerechnet und anschließend in die Nachricht integriert. Normalerweise wird oder gewählt. Letzteres ist trotz leicht aufwändigerer Berechnung zu bevorzugen, weil vergleichbar groß ist, im Gegensatz zu jedoch nicht durch 2 – die Basis des Binärsystems – teilbar. Für das Ergebnis ist unerheblich, ob die Modulo-Operation nach jeder Addition oder am Ende angewandt wird. Um Überlauf zu vermeiden, erfolgt sie in einer Implementierung schon im Laufe der Berechnung.
Die Anzahl an möglichen Prüfwerten von Fletcher’s Checksum beträgt . Eine genügend lange Nachricht vorausgesetzt, verringert sich also mit größerem die Wahrscheinlichkeit, dass eine verfälschte Nachricht denselben Prüfwert aufweist. Grundsätzlich kann für eine beliebige natürliche Zahl gewählt werden, der Algorithmus würde entsprechend als Fletcher- bezeichnet werden. Verbreitet sind Fletcher-16 und Fletcher-32, teilweise auch Fletcher-8.
Beispielrechnung
Wird die Nachricht „Wikipedia“ in ASCII binär übermittelt, findet für Fletcher-16 mit die in der Tabelle ausgeführte Rechnung statt. Ist ein Zwischenergebnis einer Summe größergleich 255, wird modulo angewendet, hier dargestellt als .
Pseudocode
Nachfolgend ein Pseudocode für Fletcher-16 mit ohne jegliche Optimierung. Als Prüfwert werden beide Summen aufeinanderfolgend zurückgegeben.
Fletcher_16 (data)
Input: Array data von 8-Bit-Integern
Output: 16-Bit-Prüfsumme zu data
sum1 := 0
sum2 := 0
for i := 0 to length (data) do
sum1 := (sum1 + data[i]) modulo 255
sum2 := (sum2 + sum1) modulo 255
endfor
checksum := sum1 gefolgt von sum2
return checksum
Varianten
In einer Variante, die Fletchers ursprünglichem Algorithmus näher liegt, werden zwei Prüfblöcke der Länge an das Ende der Nachricht angehängt, die derart gewählt werden, dass beide Summen des Prüfwerts über die neue, verlängerte Nachricht null betragen. Dazu werden die beiden Summen und zunächst wie gehabt berechnet. Dem ersten Prüfblock wird dann der Wert zugewiesen, dem zweiten . Betty Salzberg zeigte kurz nach Fletchers Veröffentlichung, dass die Lage der beiden aufeinanderfolgenden Prüfblöcke beliebig innerhalb der Nachricht gewählt werden kann, ohne dass dabei die Prüfeigenschaften verschlechtert werden. Sollen die Blöcke an die Stelle bzw. , ist ihr Wert als und , jeweils modulo , zu wählen. Dabei entspricht der Anzahl an Blöcken der ursprünglichen Nachricht. Tatsächlich können die beiden Blöcke an frei wählbaren Stellen und stehen, solange der Betrag und teilerfremd sind.
Keith Sklower entwickelte eine Rekursion, die zwei Blöcke auf einmal verarbeitet und am Ende denselben Prüfwert wie Fletcher’s Checksum erzeugt. Des Weiteren kann es in bestimmten Fehlermodellen von Vorteil sein, den Prüfwert im Trailer statt wie in den meisten Netzwerkprotokollen im Header unterzubringen.
Optimierung
Werden die Summen in jeweils mehr als Bit gespeichert, muss die Modulo-Operation nicht nach jeder Addition erfolgen, sondern erst, wenn die Variable überzulaufen droht. Man nimmt den Worst Case an, also eine Nachricht, bei der jeder Block den größtmöglichen Wert aufweist, um eine obere Grenze (upper bound) für die Anzahl an Additionen ohne Überlauf zu ermitteln. Besitzen beide Summen denselben Datentyp, erfolgt dieser zuerst auf . Bei einer Umsetzung von Fletcher-16 mit und sowie unter Verwendung von vorzeichenlosen 16-Bit-Integers beträgt .
Zusätzlich kann die Modulo-Operation durch bitweise Operatoren ersetzt werden. Ist , genügt x & (M-1) statt x % M (notiert in der Programmiersprache C), für könnte die Einerkomplement-Arithmetik verwendet werden, bei der sich durch das in dieser Arithmetik erforderliche Addieren des Übertrags (end-around carry) das passende Resultat ergibt. Allerdings verwendet heutige Hardware nahezu ausschließlich eine Zweierkomplement-Arithmetik, das Addieren des Übertrags kann in diesem Fall durch (x & (M-1)) + (x >> K) imitiert werden, unter der Voraussetzung, dass der verwendete Datentyp mehr als Bits aufnehmen kann. In der Literatur zu Prüfsummen allgemein und auch bei Fletcher wird dementsprechend häufig als Einer- und als Zweierkomplementversion bezeichnet.
Fletcher’s Checksum kann sowohl parallelisiert als auch vektorisiert werden. Der Algorithmus kann zusätzlich durch generelle Optimierungsmethoden, insbesondere Loop unrolling, beschleunigt werden.
Geschichte
John Fletcher entwickelte den Algorithmus Ende der 1970er Jahre im Lawrence Livermore National Laboratory. Im Januar 1982 veröffentlichte die IEEE Communications Society Fletchers Artikel über die Prüfsumme und ihre Eigenschaften in IEEE Transactions on Communications. Darin begründet er seine Entwicklung einer arithmetischen Prüfsumme damit, dass Computer eher für arithmetische Operationen als für Polynomdivision, wie sie die zyklische Redundanzprüfung benötigt, ausgelegt seien. Fletcher beschrieb den Prüfwert nicht als Zusammensetzung von zwei, sondern von beliebig vielen Summen, wobei die erste wie berechnet wird und jede weitere die Zwischenergebnisse der vorhergehenden aufsummiert. Die Verwendung von mehr als zwei Summen verbessert den Algorithmus jedoch nicht genügend, um die Verlangsamung zu rechtfertigen.
Angepasste Varianten von Fletchers Algorithmus werden unter anderem in der vierten Schicht (Transport) des ISO-Netzwerkprotokollstandards und im IS-IS-Protokoll eingesetzt. J. Zweig und C. Partridge schlugen 1990 vor, das TCP dahingehend zu erweitern, dass Fletcher’s Checksum verwendet werden kann. Diese Erweiterung besitzt seit 2011 den Status „Historic“. Sowohl im 2006 eingeführten Dateisystem ZFS als auch im 2016 vorgestellten Apple File System wird die Prüfsumme genutzt.
1995 stellte Mark Adler mit Adler-32 eine Variation von Fletcher-32 vor, bei der modulo 65.521 (die größte Primzahl kleiner 216) gerechnet wird.
Eigenschaften und Vergleich mit anderen Verfahren
Bei gleicher Byteanzahl des Prüfwerts ist Fletcher’s Checksum einer gut implementierten zyklischen Redundanzprüfung (CRC) in der Fehlererkennung unterlegen. Dafür kann die Berechnung schon beginnen, bevor die Nachricht vollendet wurde, da es keine direkten Abhängigkeiten zu gibt. Werden einzelne Blöcke verändert, nachdem die Prüfsumme bereits ausgerechnet wurde, kann diese aktualisiert werden, ohne auf die unveränderten Blöcke zuzugreifen.
Nachfolgende Eigenschaften beziehen sich stets auf den Algorithmus mit . Fletcher’s Checksum entdeckt alle Bündelfehler bis zur Länge , anfällig ist es gegen solche Burstfehler, die einen Block aus nur Einsen zu einem aus nur Nullen invertieren oder umgekehrt, denn modulo sind diese beiden Blöcke äquivalent. Lässt man diese spezielle Art von Fehler aus der Betrachtung heraus, werden alle Bündelfehler bis zur Länge erkannt. Für Nachrichten bis zu einer Länge von Bit besitzt das Verfahren eine Hamming-Distanz von , für längere Nachrichten ist . Fletcher-16 erkennt also ab Nachrichtenlänge von 2.056 Bit nicht mehr alle Zwei-Bit-Fehler, während für eine geeignete CRC mit einem gleich langen Prüfwert ein Abstand zwischen den beiden Fehlern von bis zu 65.535 Bit noch zum Erkennen reicht. Hier offenbart sich eine Schwäche der Umsetzung von Fletcher-16 mit , da hier der Abstand kleinergleich 16 Bit sein muss.
Fletcher’s Checksum erkennt keine fälschlich an eine Nachricht angehängten Nullen, da sich dadurch die Summen nicht mehr verändern. Dies kann verhindert werden, indem der Empfänger entweder die Länge der Nachricht im Voraus kennt oder sie ihm innerhalb dieser mitgeteilt wird.
Obwohl bei Adler-32 die Besetzung von durch eine Primzahl die möglichen Prüfwerte besser verteilt, gibt es doch insgesamt weniger von ihnen, sodass die aufwändigere Berechnung trotzdem fast immer schlechter prüft als Fletcher-32.
Damit ist Fletcher’s Checksum bei gleicher Bitanzahl des Prüfwerts sowohl einfachen Algorithmen wie der vertikalen Redundanzprüfung, einer simplen Summe oder der XOR-Prüfsumme als auch der Adler-Prüfsumme überlegen. Ist eine CRC umsetzbar, sollte diese jedoch bevorzugt werden.
Literatur
John G. Fletcher: An Arithmetic Checksum for Serial Transmissions. In: IEEE Transactions on Communications, Jahrgang 30, Heft 1, 1982, doi:10.1109/TCOM.1982.1095369, S. 247–252.
Anastase Nakassis: Fletcher’s Error Detection Algorithm: How to implement it efficiently and how to avoid the most common pitfalls. In: Computer Communication Review, Jahrgang 18, Heft 5, 1988, doi:10.1145/53644.53648, S. 63–88.
John Kodis: Fletcher’s Checksum: Error correction at a fraction of the cost. In: Dr. Dobb’s Journal, Jahrgang 17, Heft 5, 1992, S. 32.
Theresa C. Maxino, Philip J. Koopman: The Effectiveness of Checksums for Embedded Control Networks. (PDF; 676 kB) In: IEEE Transactions on Dependable and Secure Computing, Jahrgang 6, Heft 1, 2009, doi:10.1109/TDSC.2007.70216, insbesondere Kapitel 3.4.
Weblinks
Implementierung von Fletcher-16 in verschiedenen Programmiersprachen. reddit.com (englisch).
Peter Kankowski: Hash functions: An empirical comparison. 2009.
Einzelnachweise
Algorithmus
Kodierungstheorie
Fletcher's Checksum |
9972829 | https://de.wikipedia.org/wiki/Ferrari%20365%20GTB/4 | Ferrari 365 GTB/4 | Der Ferrari 365 GTB/4 ist ein von 1969 bis 1973 gebauter Sportwagen des italienischen Automobilherstellers Ferrari, der auch unter der Bezeichnung Ferrari Daytona bekannt ist, benannt nach dem Dreifach-Sieg beim 24-Stunden-Rennen von Daytona 1967. Der geschlossene 365 GTB/4 und die von ihm abgeleitete Cabrioletversion 365 GTS/4 („Daytona Spider“) gehören zur Modellfamilie Ferrari 365. Sie werden wie deren übrige Mitglieder von einem 4,4 Liter großen Zwölfzylinder-V-Motor angetrieben, haben aber eine eigenständige Karosserie von Pininfarina.
Der „Daytona“ war seinerzeit Ferraris Spitzenmodell. Er wird als einer der attraktivsten Straßensportwagen Ferraris angesehen und gehört sowohl in der geschlossenen als auch in der offenen Version zu den hochpreisigen Ferrari-Klassikern. Die Autos gelten mittlerweile als Anlageobjekte, für die siebenstellige Europreise gezahlt werden. Besondere Popularität erlangte der „Daytona“ in den 1980er-Jahren durch die Fernsehserie Miami Vice, in der eine Hauptfigur zeitweise die Kopie eines GTS/4 fuhr. Eine Sonderstellung nimmt die Wettbewerbsversion 365 GTB/4 Competizione ein, die von 1971 bis 1981 bei internationalen Langstreckenrennen erfolgreich war.
Entstehungsgeschichte und modellpolitische Einordnung
1961 begann Ferrari, die 1953 eingeführte Modellfamilie 250 durch die Baureihe 330 zu ersetzen, die von 4,0 Liter großen Zwölfzylindermotoren angetrieben wurde. Nach und nach erschienen die Modelle 330 America, 330 GT 2+2 und 330 GTC, die unterschiedliche Kundengruppen ansprachen. Als leistungsstärkster Straßen-Ferrari und Spitzenmodell kam ab 1964 der Ferrari 275 GTB hinzu, der ab 1966 mit vier obenliegenden Nockenwellen als 275 GTB/4 verkauft wurde. Ab 1966 ersetzte Ferrari die 330-Reihe schrittweise durch die Modelle der 365-Familie, deren Motoren einen auf 4,4 Liter erhöhten Hubraum hatten. Den Anfang machte das „elitäre“, auf die nordamerikanische Kundschaft zugeschnittene Oberklassefahrzeug 365 California Spyder, von dem nur 14 Exemplare entstanden. Im folgenden Jahr erschien der viersitzige 365 GT 2+2, der als „Familien-Ferrari“ angesehen und wegen seiner Abmessungen und seines Gewichts als „Queen Mary“ verspottet wurde. Als sportliche Variante brachte Ferrari Ende 1967 schließlich den kürzeren 365 GTC auf den Markt.
Ein Ersatz für das Spitzenmodell 275 GTB/4 war zunächst nicht vorgesehen. In dieser Klasse hatte Ferraris Konkurrent Lamborghini 1966 mit dem Miura in seinen Wagen den Mittelmotorantrieb eingeführt, der seit einigen Jahren im Automobilsport dominierte. Obwohl Enzo Ferrari diesem Konzept bei Straßensportwagen skeptisch gegenüberstand und auch aus diesem Grund den kleinen Mittelmotorsportwagen Dino 206 nicht unter der Marke Ferrari verkaufen ließ, begannen seine Ingenieure bereits 1966 mit den Entwicklungsarbeiten für einen Hochleistungssportwagen mit Mittelmotor, die letztlich zu dem 1971 vorgestellten 365 GT/4 Berlinetta Boxer führten. Einige Quellen gehen davon aus, dass Enzo Ferrari den zu dieser Zeit noch relativ jungen 275 GTB/4 bis zum Erscheinen des Berlinetta Boxer im Programm belassen wollte. Der Pininfarina-Designer Leonardo Fioravanti behauptete Ende 2017 in einem Zeitungsbeitrag, er sei dem entgegengetreten und habe im Herbst 1966 den Anstoß zur Entwicklung des 365 GTB/4 gegeben. Er habe Enzo Ferrari auf die schlechte Aerodynamik und die „miserable Übersichtlichkeit“ der 275-GTB/4-Karosserie hingewiesen und ihn mit den ersten „Daytona“-Skizzen von der Notwendigkeit überzeugt, den alten 275 GTB/4 abzulösen. Daraufhin kombinierte Ferrari das Fahrgestell des 275 GTB/4 mit einem Motor aus der 365-Baureihe und einer eigenständigen Karosserie zum 365 GTB/4 „Daytona“. Er wird modellpolitisch vielfach als ein bloßes Interimsmodell zwischen dem 275 GTB/4 und dem Berlinetta Boxer angesehen.
Mit Blick auf die Konkurrenz war der 365 GTB/4 gegen den Lamborghini Miura gerichtet, der bei seinem Debüt der schnellste und leistungsstärkste Straßensportwagen der Welt war. Ferrari gelang es, die Fahrleistungen des Lamborghini zu übertreffen: Der 365 GTB/4 hatte eine höhere Motorleistung sowie eine höhere Endgeschwindigkeit als der Miura P400. Enzo Ferrari bewies damit, dass ein klassischer Gran Turismo mit Frontmotor schneller sein konnte als ein Mittelmotorsportwagen.
Nomenklatur
Die Modellbezeichnung des 365 GTB/4 leitet sich, wie seinerzeit bei Ferrari üblich, von der Motorisierung ab und nimmt auf den in Kubikzentimetern gemessenen Hubraum eines einzelnen Zylinders (hier: 365 cm³) Bezug. Der beim Coupé verwendete Buchstabenzusatz GTB ist die Abkürzung von Gran Turismo Berlinetta. Die offene Version trägt statt des „B“ den Schlussbuchstaben „S“, der je nach Quelle für Spyder oder Spider steht. Die angehängte Ziffer 4 schließlich ist ein Hinweis auf die Anzahl der Nockenwellen.
Das Auto ist allgemein als „Ferrari Daytona“ bekannt. Der Begriff „Daytona“ bezieht sich auf das 24-Stunden-Rennen von Daytona 1967, bei dem die Scuderia Ferrari mit ihren Prototypen 330P4 und 412P auf den Plätzen eins, zwei und drei ins Ziel gekommen war. Er wurde werksseitig nicht verwendet, etablierte sich aber schnell in den Medien. Heute wird er in der Literatur vielfach synonym verwendet bzw. erscheint in Publikationen als gleichberechtigter Zusatz zu dem Ziffern-Buchstaben-Code.
Einzelne Quellen gehen davon aus, dass „Daytona“ während der Entwicklungsphase die werksinterne Bezeichnung für das Auto gewesen war und jedenfalls nach anfänglichen Überlegungen auch die offizielle Modellbezeichnung hätte werden sollen. Nachdem aber der Begriff durch eine Indiskretion verfrüht an die Presse gelangt sei, habe Enzo Ferrari aus Verärgerung seine weitere Verwendung untersagt.
Entwicklung und Prototypen
Im Dezember 1966 waren die Zeichnungen für die Karosserie des 365 GTB/4 fertig, im Frühjahr 1967 begann die technische Entwicklung.
Im Herbst 1967 baute die Carrozzeria Scaglietti die ersten beiden Prototypen auf. Sie hatten noch Übergangskarosserien, die mit dem späteren Serienmodell nicht völlig gleich waren. Beide Fahrzeuge existieren noch.
Der erste Prototyp beruhte auf einem unveränderten Chassis der 275-GTB/4-Baureihe (Fahrgestellnummer 10287). Das Auto hatte die Frontpartie des regulären 275 GTB/4, während der hintere Teil ab der Windschutzscheibe mit Ausnahme einiger Detaillösungen bereits dem späteren „Daytona“ entsprach. Der ursprünglich in diesem Prototyp eingesetzte Motor Tipo 243 war ein Unikat. Er war dem in der Baureihe 330 verwendeten Tipo-226-Zwölfzylinder mit einem Hubraum von 4,0 Litern abgeleitet, hatte aber drei Ventile pro Zylinder. Später stattete Ferrari diesen Prototyp mit einem serienmäßigen Motor des 365 GTB/4 aus.
Scagliettis zweiter Prototyp, ebenfalls auf einem 275-GTB/4-Chassis (Fahrgestellnummer 11001), hatte eine im hinteren Bereich sehr ähnliche Karosserie, aber eine Front mit flacher Scheinwerferabdeckung. Der Motor war unverändert vom 275 GTB/4 (Tipo 226) übernommen.
Im Laufe des Jahres 1968 entstanden bei Pininfarina mindestens zwei weitere Prototypen, die äußerlich dem späteren Serien-Coupé entsprachen. Zwei Prototypen aus dieser Gruppe wurden vom 3. bis zum 13. Oktober 1968 auf dem Pariser Autosalon präsentiert, einer (Fahrgestellnummer 11795) auf dem Stand von Pininfarina, der andere (12037) bei Ferrari.
Modellbeschreibung
Motor und Kraftübertragung
Der Ferrari 365 GTB/4 und der GTS/4 haben einen 4390 cm³ großen Zwölfzylinder-V-Motor, der werksintern als Tipo 251 bezeichnet wird. Er geht auf eine Konstruktion von Gioacchino Colombo aus dem Jahr 1947 zurück.
Ferrari hatte Colombos Zwölfzylinder zuletzt für die 1961 erschienene Modellfamilie 330 weitgehend überarbeitet; dabei war der Motorblock unter Beibehaltung des Zylinderbankwinkels von 60 Grad neu konstruiert worden. Jener Tipo 209 genannte, 4,0 Liter große Motor (330 cm³ pro Zylinder) wurde für die 365-Reihe auf 4,4 Liter vergrößert. Den Hubraumzuwachs erreichten die Ingenieure durch eine Vergrößerung der Bohrung von 77 auf 81 mm. Der Hub blieb mit 71 mm unverändert. Dieser Motor erschien 1966 im 365 California Spyder als Tipo 217B und 1967 im 365 GT 2+2 „Queen Mary“ sowie im 365 GTC als Tipo 245.
Der Motor Tipo 251 des 365 GTB/4 entspricht im Wesentlichen dem Tipo 217B und dem Tipo 245. Allerdings hat er im Gegensatz zu ihnen eine Trockensumpfschmierung, die vom 275 GTB/4 übernommen wurde. Eine weitere Besonderheit sind die vier obenliegenden Nockenwellen (zwei für jede Zylinderreihe). Sie werden über zwei Ketten angetrieben. Die Kurbelwelle ist siebenfach gelagert. Zur Gemischaufbereitung werden in den europäischen Autos sechs Fallstrom-Doppelvergaser von Weber (Typ 40DCN20) eingesetzt. Das Verdichtungsverhältnis beträgt 9,3:1. Die in Nordamerika verkauften „Daytonas“ hatten Vergaser vom Typ 40DCN21 und eine auf 8,8:1 reduzierte Verdichtung. Die Höchstleistung des Motors beträgt in beiden Ausführungen bei 7500 Umdrehungen pro Minute.
Der Motor ist so weit wie möglich nach hinten versetzt eingebaut. Die Kraft wird über eine Trockenkupplung und ein vollsynchronisiertes handgeschaltetes Fünfganggetriebe, das an der Hinterachse positioniert ist (Transaxle-Bauweise), übertragen. Ferrari übernahm die Konstruktion vom Vorgänger 275 GTB/4. Diese Auslegung trägt zu einer nahezu ausgewogenen Gewichtsverteilung bei.
Chassis und Fahrwerk
Das Chassis des 365 GTB/4 und GTS/4, das die werksinterne Bezeichnung Tipo 605 trägt, entspricht weitgehend dem des 275 GTB/4. Der Radstand und die übrigen Dimensionen stimmen mit denen des Vorgängers überein; lediglich die Spur ist auf Betreiben Leonardo Fioravantis aus optischen Gründen 5 mm breiter.
Der 365 GTB/4 hat einen Gitterrahmen aus Stahlrohren mit ovalem Querschnitt. Um die Steifigkeit zu erhöhen, sind im Bereich des Passagierraums Querverstrebungen eingebaut. Die Chassiskonstruktion gilt als „simpel, aber robust und bewährt“. Im Bereich der vorderen und hinteren Aufhängung sind Hilfsrahmen montiert.
Vorn und hinten sind die Räder einzeln aufgehängt, wie beim Vorgänger an jeweils zwei unterschiedlich langen Querlenkern mit Schraubenfedern, hydraulischen Teleskopstoßdämpfern von Koni und an beiden Achsen Stabilisatoren. An allen Rädern hat der 365 GTB/4 servounterstützte Scheibenbremsen, die einen geringeren Durchmesser haben als die Bremsen des 275 GTB/4. Ferrari versuchte, die daraus resultierende geringere Bremsleistung durch ein neues Innenbelüftungssystem auszugleichen. Einige zeitgenössische Tester beschrieben die Bremsen als sehr effizient und standfest, dazu attestierten sie außergewöhnliche Spurstabilität bei Bremsvorgängen. Andere kritisierten die Bremsen dagegen als zu schwach. Die Räder haben einen Zentralverschluss.
Karosserie
Gestaltung
Der Ferrari 365 GTB/4 ist als zweisitziges Fließheckcoupé konzipiert; die Karosserie entwarf Leonardo Fioravanti für Pininfarina angeblich innerhalb einer Woche.
Die Proportionen der Karosserie betonen das Frontmotorkonzept des Autos: Der Motorraum ist sehr lang, die Fahrgastzelle dagegen knapp und das Heck kurz und „abrupt endend“. An die Stelle der ovalen Kühlluftöffnung, die die bis dahin gebauten Modelle der 365-Familie hatten, trat ein breiter niedriger Einlass in Form eines Rechtecks, der Beobachter an einen Briefkastenschlitz erinnerte.
Eine stilistische Besonderheit betrifft die Frontpartie. Die bis 1971 gefertigten Modelle haben ein umlaufendes vorderes Plexiglasband, das bündig in die Motorhaube übergeht und die beiden seitlich in die Kotflügel hineinragenden Blinker miteinander verbindet. Die vorderen Doppelscheinwerfer sind bei diesen Modellen feststehend hinter Plexiglasabdeckungen installiert. Als der 365 GTB/4 erschien, war das neu im europäischen Automobildesign. Diese Gestaltung verstieß allerdings gegen die ab 1971 geltenden US-amerikanischen Sicherheitsbestimmungen, nach denen eine Abdeckung vor der Scheinwerferstreuscheibe nicht mehr zulässig war. Auf der Suche nach einer Lösung experimentierte Ferrari 1970 unter anderem mit vier Rundscheinwerfern, die auf die Frontverkleidung aufgesetzt waren. Da diese Konstruktion allerdings nicht mit den fließenden Linien der Frontpartie harmonierte, wurde sie nicht in die Serie übernommen. Stattdessen haben alle ab Herbst 1971 gebauten 365 GTB/4 Klappscheinwerfer mit einer in Wagenfarbe lackierten Abdeckung, die sich in geschlossenem Zustand ebenfalls fließend in die Frontmaske einfügen. Aufgeklappt zeigen die Scheinwerfer auch bei hohen Geschwindigkeiten zwar keine Vibrationen, allerdings vergrößern sie den Luftwiderstand. Anfängliche Überlegungen Ferraris, die Klappscheinwerfer auf den amerikanischen Markt zu beschränken, wurden im Hinblick auf eine einfachere Produktionslogistik nicht umgesetzt. Die auffällige Form der vorderen Blinker änderte sich über die Jahre nicht. Sie beeinflusste den British-Leyland-Designer David Bache bei der Gestaltung des Rover SD. Zu den weiteren Besonderheiten der Karosserie gehören Scheibenwischer, die sich unter einer Wölbung der Motorhaube verbergen.
Bewertung
Nach zeitgenössischen Kritiken, die die Karosserie teilweise als zu avantgardistisch ansahen, setzte sich bald eine positive Bewertung des Entwurfs durch. Leonardo Fioravantis Design wird heute vielfach als eine der gelungensten Arbeiten Pininfarinas angesehen. Vor allem wegen seines Aufbaus gilt der Daytona als eines der attraktivsten Ferrari-Modelle. Eine Analyse aus dem Jahr 1984 sieht die „bemerkenswert ausgewogene Kombination klassischer geschwungener Linien und Kurven mit dem modernen, messerscharf abgeschnittenen Heck“ als den Schlüssel für den besonderen Reiz des 365 GTB/4 an.
Konstruktion
Die äußeren Teile der Karosserie der Straßenversionen bestehen aus Stahlblech. Nur bei den bis 1971 gebauten Fahrzeugen sind die Türen und Hauben aus Aluminium, alle danach entstandenen Fahrzeuge (ab Fahrgestellnummer 15701) haben Türen und Hauben aus Stahlblech. Außerdem ist in diesen Versionen ein Seitenaufprallschutz in die Türen eingebaut. Der Grund für diese Änderungen waren US-amerikanische Sicherheitsbestimmungen. Die vorderen Radkästen der Coupés waren aus Gründen der Gewichtsersparnis bei allen Berlinettas aus glasfaserverstärktem Kunststoff; gleiches gilt für die Spritzwand und den Mitteltunnel.
Ein einzelnes Exemplar der Straßenversion erhielt wie das Rennsportmodell 365 GTB/4 Competizione eine vollständig aus Aluminium gefertigte Karosserie. Dieses Fahrzeug mit der Chassisnummer 12653 galt vier Jahrzehnte lang als verschollen, bevor es im Frühjahr 2017 in Japan in verwahrlostem Zustand wiedergefunden wurde. Es wurde im September 2017 unrestauriert für 1,8 Mio Euro verkauft.
Fahrleistungen
Ferrari gab die Höchstgeschwindigkeit des 365 GTB/4 mit 280 km/h an. Dieser Wert wurde in keinem Test bestätigt. Messungen des Fachmagazins auto motor und sport aus dem Herbst 1972 ergaben einen Durchschnittswert von 274,8 km/h.
365 GTS/4 „Daytona Spider“
Ein Dreivierteljahr nach dem Coupé stellte Ferrari die offene Version des „Daytona“ vor, den 365 GTS/4.
Die Präsentation fand im September 1969 auf der Internationalen Automobil-Ausstellung in Frankfurt statt. Das Frankfurter Ausstellungsstück (Fahrgestellnummer 12851) trug wie die frühen Berlinettas Doppelscheinwerfer hinter einer Plexiglasscheibe. Es war allerdings der einzige GTS/4, dessen Frontpartie dem ursprünglichen Daytona-Entwurf folgte. Alle Serien-Spider hatten Klappscheinwerfer.
Technisch entspricht der 365 GTS/4 weitestgehend dem geschlossenen Modell. Allerdings gibt es Modifikationen an der Karosseriestruktur, die dem offenen Wagen die notwendige Festigkeit geben. So finden sich Versteifungen an der Spritzwand, hinter den Sitzen und im Rahmen der Windschutzscheibe. Schließlich sind die vorderen Radkästen aus Stahl und nicht – wie beim GTB/4 – aus Kunststoff. In stilistischer Hinsicht ist die Linienführung im Heckbereich eigenständig.
Die Serienfertigung des GTS/4 begann im Frühjahr 1971.
365 GTB/4 Conversions
Zu den Werkscabriolets kommen etwa 100 offene „Daytonas“ hinzu, die nachträglich von einer Berlinetta in ein Cabriolet umgewandelt wurden.
Der Trend zu nachträglichen Umbauten kam in erster Linie in den USA zum Tragen. Er wurde durch den erheblichen Preisunterschied zwischen gebrauchten GTB/4- und GTS/4-Modellen ausgelöst, der sich bereits wenige Jahre nach der Produktionseinstellung bemerkbar machte, und wurde durch die US-amerikanische Fernsehserie Miami Vice verstärkt, die den offenen „Daytona“ Mitte der 1980er-Jahre weltweit populär und begehrt machte. Deshalb versuchten zahlreiche Berlinetta-Eigentümer, durch das nachträgliche Öffnen ihrer Coupés von dieser Wertdifferenz zu profitieren. Die Umbauten nahmen unabhängige, üblicherweise in den USA ansässige Unternehmen wie Michael Sheehan’s European Auto Restoration in Costa Mesa und Richard Straman Coachworks in Newport Beach vor. Sheehan baute 28 Fahrzeuge um, Straman 35. Entgegen den Behauptungen einiger Eigentümer gab es keine Umbauten von Scaglietti, allerdings erhielten einige der US-amerikanischen Werkstätten durch Scaglietti-Mitarbeiter inoffiziellen Zugang zu Originalteilen des 365 GTS/4.
Die 365 GTB/4 Conversions sind üblicherweise daran zu erkennen, dass die inneren Radkästen aus Kunststoff und nicht wie beim originalen GTS/4 aus Stahl bestehen; üblicherweise fehlen bei ihnen auch die Stahlverstärkungen im Fahrzeuginnern. Die Qualität der Arbeiten variierte stark; einige Unternehmen schnitten lediglich das Dach ab und passten die Heckpartie an, während andere grundlegend in die Struktur des Aufbaus eingriffen. Michael Sheehan verlangte 1984 etwa 45.000 US-$ für einen Umbau, was dem Gegenwert von sechs Mittelklasselimousinen vom Typ eines Dodge Aries entsprach.
In der Ferrari-Szene werden mittlerweile die Conversions toleriert, erreichen aber nicht die Preise der originalen GTS/4.
Produktion
Die Serienfertigung des Ferrari GTB/4 begann 1969. Der Produktionsprozess war auf verschiedene Betriebe verteilt. Ferrari stellte wie üblich nur den Motor selbst her. Die Autos wurden bei der Carrozzeria Scaglietti aufgebaut, die Werksanlagen in Maranello in unmittelbarer Nähe zur Ferrari-Fabrik unterhielt und seit 1970 zu Ferrari gehörte. Die Karosserie bestand aus zahlreichen kleinen, in Handarbeit geformten Blechteilen, die zusammengeschweißt wurden.
Der 365 GTB/4 Daytona wurde vier Jahre lang gebaut und damit doppelt so lange wie sein unmittelbarer Vorgänger. Von 1969 bis 1973 entstanden insgesamt 1284 Exemplare des 365 GTB/4; sie tragen Fahrgestellnummern zwischen 12301 und 17615.
Auch der 365 GTS/4 wurde bei Scaglietti aufgebaut. Er blieb bis 1973 im Programm. Der Produktionsumfang war deutlich geringer als der des GTB/4. Einige Quellen nennen 125 oder 124 Exemplare, andere 121 oder 122. 96 Spyder wurden in die USA ausgeliefert. In Europa verblieben lediglich etwa 25 Fahrzeuge, sieben von ihnen hatten ab Werk Rechtslenkung.
Insgesamt entsprach der Produktionsumfang annähernd dem des Maserati Ghibli, von dem 1280 Coupés und 125 Spyder bis 1973 hergestellt wurden.
Preise
Auf dem italienischen Markt lag der Preis für den 365 GTB/4 im Sommer 1970 bei 8.736.000 Lire, im folgenden Jahr bei 10.000.000 Lire, und im letzten Produktionsjahr war er auf 12.980.000 Lire gestiegen.
Hauptabsatzmarkt des „Daytona“ waren die USA. Ferraris amerikanischer Importeur Luigi Chinetti bot den 365 GTB/4 im Jahr 1970 an der Westküste zu einem Preis von 19.500 US-$ an. Damit war er dreimal so teuer wie ein Cadillac Eldorado, viermal so teuer wie eine Chevrolet Corvette C3 und siebenmal so teuer wie der Chevrolet Chevelle, die am häufigsten verkaufte US-amerikanische Familienlimousine des Modelljahrs 1970.
In Deutschland hatte Ferrari bis 1989 kein eigenes Vertriebsunternehmen. Stattdessen sorgten Generalimporteure wie etwa Auto Becker für die Einfuhr und den Verkauf der Autos. Sie waren in der Preisgestaltung nicht an Werksvorgaben gebunden. 1969 und 1970 boten sie den Ferrari 365 GTB/4 für 68.600 DM an. Im Modelljahr 1971 stieg der Preis auf 78.435 DM. Er lag 3.000 DM über dem des Maserati Ghibli und entsprach annähernd dem Niveau eines Mercedes-Benz 600 Pullman. Ein Lamborghini Miura war etwa 8.000 DM günstiger. Ein VW Käfer 1200 kostete zur gleichen Zeit 5.045 DM, ein Opel Ascona 7.645 DM. 1972 kostete der 365 GTB/4 dann ca. 82.000 DM, bevor der Preis im letzten Produktionsjahr wieder auf 78.435 DM fiel.
Die Verkaufspreise in der Schweiz lagen 1969 und 1970 jeweils bei 63.000 CHF.
In Großbritannien bot der Importeur Maranello Concessionaires 1969 den GTB/4 für 6.700 £ an. Damit kostete das Coupé 605 £ mehr als ein Rolls-Royce Silver Shadow und gut 15 mal soviel wie ein Mini in der Basisausstattung (438 £). In seinem letzten Produktionsjahr war der Verkaufspreis auf 8.680 £ gestiegen, lag nun aber 50 £ unter dem Silver Shadow.
365 GTB/4 Competizione
Obwohl der 365 GTB/4 zunächst nicht für Einsätze im Motorsport gedacht gewesen war, entwickelte Ferrari 1970 auf Kundenwunsch eine Wettbewerbsversion des Coupés. Den Anstoß dafür hatte Ferraris USA-Importeur Luigi Chinetti gegeben, der in den späten 1960er-Jahren das North American Racing Team (N.A.R.T.) leitete. Chinetti bestellte 1969 im Werk einen 365 GTB/4 mit einer eigens aus Aluminium gefertigten Karosserie (Fahrgestellnummer 12547), mit dem N.A.R.T. 1970 an einigen Langstreckenrennen teilnahm. Darauf aufbauend, entstanden in Ferraris eigener Serviceabteilung Assistenza Clienti 1971 (Serie 1), 1972 (Serie 2) und 1973 (Serie 3) jeweils fünf Competizione genannte Wettbewerbsversionen des 365 GTB/4. Die drei Serien unterschieden sich technisch in einigen Details voneinander. Die Motorleistungen lagen bei , und , die Höchstgeschwindigkeit übertraf jeweils 290 km/h. Alle Competizione-Modelle wurden ausnahmslos an private Kunden wie N.A.R.T, Charles Pozzi oder die Scuderia Filipinetti verkauft, die dann auch die Renneinsätze selbst organisierten. Einen Einsatz des Competizione durch das Werksteam Scuderia Ferrari gab es nicht. Zusätzlich zu den 17 werksseitigen Competizione gab es noch sieben weitere 365 GTB/4 im Renneinsatz, die von privater Hand zu Rennfahrzeugen umgebaut worden waren.
Die 365 GT/4 Competizione wurden vielfach bei Langstreckenrennen in Frankreich und in den USA eingesetzt. Ab 1972 waren sie, nachdem eine hinreichende Zahl von Serienfahrzeugen gebaut worden war, in die Gran-Turismo-Klasse eingestuft. Hier erzielten sie in drei aufeinanderfolgenden Jahren jeweils den Klassensieg bei den 24-Stunden-Rennen von Le Mans: 1972 mit Claude Ballot-Léna und Jean-Claude Andruet, 1973 mit Ballot-Léna und Vic Elford sowie 1974 mit Cyril Grandet und Dominique Bardini. 1972 und 1973 gehörten die Siegerautos dem Team von Ferraris französischem Importeur Charles Pozzi, 1974 gewann Rayond Thourouls Auto. Den einzigen Gesamtsieg eines Competizione erzielte Charles Pozzis Zweitserienauto bei der Tour de France für Automobile 1972 mit Jean-Claude Andruet und Michèle Espinosi-Petit. Der letzte Renneinsatz eines 365 GTB/4 Competizione außerhalb des historischen Motorsports fand 1981 mit einem acht Jahre alten Auto statt; Joe Crevier und Pete Halsmer fielen beim 24-Stunden-Rennen von Daytona 1981 nach einem Motorbrand aus.
Einige Competizione haben außerdem eine prominente Historie. Zu den Competizione-Fahrern gehörte unter anderem der Schauspieler Paul Newman, der beim 24-Stunden-Rennen von Daytona 1977 einen Wagen der ersten Serie fuhr und zusammen mit Milt Minter und Elliott Forbes-Robinson den fünften Gesamtplatz belegte. Ein weiterer prominenter Fahrer war Robert Carradine.
Besondere Versionen
365 GTB/4 Hardtop
Auf der Basis eines 365 GTB/4 gestaltete Pininfarina 1969 ein zweitüriges Stufenheckcoupé mit aufgesetztem Dach. Das Fahrzeug (Fahrgestellnummer 12925) hatte hinter den Türen einen umlaufenden Streifen aus Edelstahl, der einen Überrollbügel imitieren sollte. Dahinter war eine Panoramaheckscheibe installiert. Das Dach war fest mit dem Fahrzeug verbunden, die Heckscheibe konnte allerdings herausgenommen werden. Das Fahrzeug wurde von Beobachtern als „etwas plump“ empfunden. Das Hardtop Coupé blieb ein Einzelstück; Es existiert noch.
365 GTB/4 „Shooting Brake“
1975 entstand ein außergewöhnliches Einzelstück auf Basis eines 1972er 365 GTB/4: der sogenannte „Shooting Brake“. Dieses Fahrzeug war ein zum Kombi umgebauter Serien-Daytona. Die Idee dazu kam von Luigi Chinetti Junior, der dieses Fahrzeug von Gene Garfinkle und Bob Gittleman angeblich für Jagdausflüge konstruieren ließ. Vorbild für das Design der tonnenförmigen Heckpartie war der „The Rocket“ genannte Prototyp für den Volvo P1800 ES, den Pietro Frua 1968 im Auftrag Volvos als Einzelstück aufgebaut hatte. Der Umbau erfolgte in Großbritannien bei Panther Westwinds. Von der originalen Karosserie wurde lediglich der Scheibenrahmen weiterverwendet, alle anderen Karosserieteile waren neu. Obwohl es mehrere Interessenten gab, blieb der „Shooting Brake“ ein Einzelstück.
365 GTS/4 NART Spyder (15965)
1975 entwarf Michelotti eine neue Karosserie für das 1972 hergestellte GTB/4-Chassis mit der Fahrgestellnummer 15965. Luigi Chinetti hatte das Auto ursprünglich als serienmäßiges Coupé an einen US-amerikanischen Kunden verkauft. Nach kurzer Zeit ging der Wagen zurück an Chinetti, der den italienischen Designer Giovanni Michelotti mit dem Entwurf einer neuen Karosserie beauftragte. 1974 erhielt das Fahrgestell einen neuen, aus Aluminium gefertigten Aufbau mit betonter Keilform und einem Targadach. Es wurde auf dem Genfer Autosalon 1975 in rot-weißer Lackierung gezeigt. Chinettis NART-Team meldete den Wagen für Jean-Pierre Malcher und Patrick Langlois zum 24-Stunden-Rennen von Le Mans 1975. Sie gingen allerdings nicht ins Rennen, weil Chinetti die Meldung kurz vor dem Start zurückzog. Drei Jahre später meldete Otto Zipper das Auto zum 24-Stunden-Rennen von Daytona. Diese Meldung wurde wegen der nicht serienmäßigen Karosserie nicht akzeptiert. Das Auto existiert noch und ist fahrbereit.
365 GTS/4 NART Spyder (16467)
1975 übernahm Luigi Chinetti einen GTS/4, der bei den Dreharbeiten zu dem Spielfilm A Star Is Born stark beschädigt worden war (Fahrgestellnummer 16467). Chinetti beauftragte erneut Giovanni Michelotti mit dem Entwurf einer neuen Karosserie. Michelotti gestaltete einen keilförmigen, glattflächigen Aufbau, der Beobachter an den Triumph TR7 erinnerte. Anders als sein ein Jahr älterer Entwurf für das Chassis 15965 hatte dieser Aufbau ein zurückklappbares Stoffverdeck und keinen Überrollbügel.
Der 365 GTB/4 und GTS/4 in Film und Fernsehen
Cannonball
Beim ersten Cannonball Baker Sea-To-Shining-Sea Memorial Trophy Dash Cannonball-Rennen 1971 von New York nach Los Angeles gewann Dan Gurney, Le-Mans-Sieger 1967 und mehrfacher Formel-1-Sieger u. a. auf Porsche sowie Eigenkonstruktion, zusammen mit Autojournalist Brock Yates auf einem blauen Daytona, wobei "zu keiner Zeit schneller als 175 mph (280 km/h)" gefahren worden sei. Die Berichte darüber waren Anlass für mehrere Cannonball-Run-Filme.
Filme
In dem Spielfilm A Star Is Born (1976) fährt Kris Kristofferson einen Original-Spyder (Fahrgestellnummer 16467). Das Auto wurde bei den Dreharbeiten stark beschädigt und erhielt nach Abschluss der Produktion eine neue Karosserie von Michelotti.
In dem Film Die verrückteste Rallye der Welt (Originaltitel: Gumball Rallye) von 1976 fährt Tim McIntire in der Rolle des Steve Smith einen (echten) 365 GTB/4.
In Cannonball Fieber – Auf dem Highway geht’s erst richtig los (Speed Zone!, 1989) fahren Melody Anderson und Shari Belafonte scheinbar einen 365 GTS/4. Das Fahrzeug ist allerdings tatsächlich kein Ferrari, sondern eine der von McBurnie Coachcraft für Miami Vice hergestellten Replikate, die äußerlich geringfügig überarbeitet worden waren.
In Rookie – Der Anfänger (The Rookie, 1990) erscheint eine weitere von McBurnie gebaute Replica des 365 GTS/4.
In Columbo – Schritte aus dem Schatten (Lady in Waiting) bekommt Beth nach der Ermordung ihres Bruders den bereits vor ihrer Tat bestellten blauen 365 GTB/4 geliefert.
Auch in Columbo – Zigarren für den Chef (Short Fuse) wird ein Daytona vom Neffen des Opfers, der sich auch als Mörder erweist, gefahren.
Miami Vice
In der von 1984 bis 1989 produzierten US-amerikanischen Fernsehserie Miami Vice fuhr die Hauptfigur Sonny Crockett (dargestellt von Don Johnson) angeblich einen schwarzen „Daytona Spider“. Tatsächlich waren die beiden in der Serie eingesetzten Exemplare keine Ferrari 365 GTS/4, sondern Nachbauten, die McBurnie Coachcraft in Santee, Kalifornien, auf dem Chassis eines Chevrolet Corvette C3 hergestellt hatte. Auch die Antriebstechnik kam von General Motors. Die Karosserie der Plagiate bestand aus Kunststoff. Sie wich in einigen Details vom Original ab, darunter bei den Türgriffen, den Scheinwerfern, den Außenspiegeln und der Innenausstattung. Mit geringen Modifikationen entstammten auch diese Teile überwiegend der C3-Corvette. Auch die Abmessungen waren nicht gleich; die Replicas waren etwas länger und breiter als der 365 GTS/4. In der Serie wurden insgesamt fünf Nachbauten eingesetzt
Ferrari ließ die Verwendung der Replicas gerichtlich verbieten, insbesondere, da das Fahrzeug in der Serie durchweg als echter Ferrari bezeichnet wurde. In der Episode "Schmutzige Hände" (3. Folge, 2. Staffel) wird als (fiktive) Fahrgestellnummer für den in den Fahrzeugpapieren als "Ferrari Daytona Spider" bezeichneten Wagen die "23986686J" angegeben. Die McBurnie-Replika wurde, um sie aus der Serie entfernen zu können, in der Folge "Liebe und Tod" (1. Folge, 3. Staffel) durch eine Explosion zerstört (tatsächlich wurde lediglich eine leere Karosserie gesprengt). An die Stelle des Daytona trat in der Handlung der Serie ein Ferrari Testarossa, der anfänglich schwarz und später weiß lackiert war. An die Produktionsfirma ausgeliefert wurden hierfür von Ferrari zwei echte Exemplare; hinzu kam ein mit Karosserieteilen des Testarossa modifizierter De Tomaso Pantera, welcher als Stunt-Auto für schnelle Actionszenen Verwendung fand. Die – scheinbare – Verwendung des Daytonas in der weltweit erfolgreichen Fernsehserie erhöhte den Bekanntheitsgrad des 365 GTS/4 erheblich und führte in der Folgezeit zu einem deutlichen Anstieg der Verkaufspreise. Ein Mitarbeiter des Auktionshauses Sotheby’s sagte 2003 dazu:
„Das Fahrzeug, das Design, die Gene, alles das, was den Wagen ausmacht, kommt aus Italien. Der Mythos aber, der kommt aus den USA. Und zwar aus Miami. Denn ohne Miami Vice wäre der Daytona sicherlich nicht annähernd so bekannt, wie er es heute ist. Wen interessiert es da schon, ob Sonny Crockett eigentlich eine Corvette fuhr? Für alle Welt war es ein Daytona. Und nur das zählt. Statt es zu verbieten hätte Enzo stolz darauf sein sollen.“
Replicas
Bereits seit den frühen 1980er-Jahren bieten zahlreiche Unternehmen Nachbauten des Ferrari „Daytona“ an, die eine dem Original nachempfundene Karosserie mit kostengünstiger Großserientechnik unterschiedlicher Herkunft verbinden. In einigen Fällen wurden die Autos als Bausätze verkauft, andere Hersteller produzierten Komplettfahrzeuge. Insgesamt existieren mittlerweile mehr Replicas des Ferrari 365 GTS/4 als Originalfahrzeuge.
USA
Anknüpfend an die Requisite für die Miami-Vice-Serie fertigte McBurnie Coachcraft zahlreiche ähnlich konstruierte Daytona-Nachbauten für US-amerikanische Kunden.
Bei Exotic Coachcraft in San Diego entstanden von 1984 bis etwa 1990 GTS/4-Nachbauten mit Corvette-Technik.
California Custom Coach aus Pasadena stellte in den 1980er-Jahren den Nachbau eines GTS/4 vor, der ähnlich wie McBurnies Replica in zahlreichen Details vom Original abwich.
Deutschland
Leggatti Automobilbau aus Düsseldorf bot ab 1989 Nachbauten des 365 GTS/4 mit Kunststoffkarosserien und Corvette-Technik an. Die Abmessungen der Aufbauten entsprachen nicht vollständig dem Original. Zudem gab es zahlreiche Detailabweichungen, beispielsweise bei den Türgriffen.
Einige weitere Nachbauten des 365 GTS/4 entstanden von 1988 bis 1994 bei Lorico Sport Cars in Michelau.
Großbritannien
Der in Wales ansässige Betrieb EG Autocraft produzierte ab 1987 Nachbauten des 365 GTB/4 und des GTS/4 in Bausatzform und als Fertigfahrzeuge. Die Karosserien bestanden aus Kunststoff, das Fahrwerk und die Antriebstechnik kamen vom Jaguar XJ12. EG Autocraft fertigte 73 Coupés und sieben Spyder, die als EG Arrow vermarktet wurden. Nach der Insolvenz von EG Autocraft übernahm Hillcrest Classics die Fertigung der Nachbauten. Hier entstanden acht weitere Fahrzeuge mit der Bezeichnung Hillcrest V12. Der genaue Produktionszeitraum ist unklar.
Das britische Unternehmen LR Roadsters fertigte von 1987 bis 1990 etwa 30 Bausätze für Replicas des 365 GTS/4, die als RAM RT verkauft wurden.
Robin Hood Engineering aus Nottinghamshire bot von 1979 bis 1989 Replicas des 365 GTS/4 an, wahlweise mit der Technik des Rover SD1, des Triumph TR7 oder des Jaguar XJ12. Insgesamt entstanden etwa 100 Fahrzeuge.
Southern Roadcraft aus Lancing vertrieb zunächst die US-amerikanischen McBurnie-Replicas in Großbritannien. Schrittweise überarbeitete das Unternehmen die amerikanischen Konstruktionen und vertrieb sie, nun mit Jaguar-Technik, als SR V12. Von 1988 bis 1993 entstanden etwa 120 Bausätze.
Der 365 GTB/4 und GTS/4 auf dem Klassikermarkt
Sowohl der Ferrari 365 GTB/4 als auch der GTS/4 sind auf dem Klassikermarkt sehr begehrt. Sie gelten mittlerweile als Anlageobjekte, für die sehr hohe Preise bezahlt werden. Ein 365 GTB/4 in perfektem Zustand kostete 2017 etwa 875.000 Euro, in gutem Zustand noch 690.000 Euro. Die Preise sind im Vergleich zu 2011 um annähernd 200 % gestiegen, und gegenüber 2008 haben sie sich verdreifacht. Einzelne Stücke, die eine besondere Historie aufweisen, sind deutlich teurer.
Wesentlich teurer sind die offenen 365 GTS/4, sofern es Original-Spyder sind. In perfektem Zustand erreichten sie 2017 Preise von etwa 2,7 Mio. Euro, in gutem Zustand von 2,2 Mio. Euro. Ein paar Jahre früher erreichte der Spyder von Greg Garrison, dem Produzenten der Dean Martin Show, bei einer Versteigerung noch lediglich einen Preis von 1,5 Mio. Euro.
Die „Conversions“ hingegen erreichen bei Verkäufen nicht annähernd das Preisniveau eines echten 365 GTS/4, mittlerweile liegen sie aber auf einem ähnlichen Niveau wie die Berlinettas.
Eine eigene Rolle spielen die seltenen Competizione-Modelle der Serien 1, 2 und 3. Für sie werden – je nach Rennhistorie – 2018 Preise zwischen 3 und 7 Mio. US-$ gefordert.
Technische Daten
Literatur
Leonardo Acerbi: Ferrari: A Complete Guide to All Models, MBI Publishing Company LLC, 2006, ISBN 978-0-7603-2550-6.
Georg Amtmann, Halwart Schrader: Italienische Sportwagen. Motorbuch-Verlag, Stuttgart 1999, ISBN 3-613-01988-4
Pat Braden und Gerald Roush: The Ferrari 365 GTB/4 Daytona, Osprey, 1982, ISBN 978-0-85045-412-3.
Matthias Braun, Ernst Fischer, Manfred Steinert, Alexander Franc Storz: Ferrari Straßen- und Rennsportwagen seit 1946. Motorbuch Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-613-02651-3.
Peter Braun, Gregor Schulz: Das große Ferrari-Handbuch. Alle Serien- und Rennfahrzeuge von 1947 bis heute. Heel Verlag, Königswinter 2006, ISBN 3-89880-501-8.
Klaus Finkenburg: Ferrari Daytona. Motor Klassik Kauf-Ratgeber Italienische Klassiker. Motor Presse Verlag 2017, ISBN 978-3-613-30843-5.
Brian Laban: Ferrari. Aus dem Englischen von Frauke Watson. Parragon Books, Bath 2006, ISBN 978-1-4054-1409-8.
Doug Nye: World Supercars 1: Ferrari 365 GTB/ 4 Daytona, Arco Publishing 1984, ISBN 978-0-668-05883-4.
Weblinks
Ferrari 365 GTB/4 „Daytona“. In: Ferrari.com
Ferrari 365 GTS/4 „Daytona“. In: Ferrari.com
Ferrari 365 GTB/4 Competizione. In: Ferrari.com
365 GTB/4 „Daytona“ Registry (englisch)
Anmerkungen
Einzelnachweise
Folgende Werke werden in den Einzelnachweisen abgekürzt zitiert:
Coupé
Cabriolet
Rennwagen des 24-Stunden-Rennens von Le Mans
365 GTB4 |
10692118 | https://de.wikipedia.org/wiki/Fourteenth%20Street%20Bridge | Fourteenth Street Bridge | Die Fourteenth Street Bridge (auch Ohio Falls Bridge oder Pennsylvania Railroad Bridge) ist eine eingleisige Eisenbahnbrücke über den Ohio zwischen Louisville in Kentucky und Clarksville in Indiana. Namensgeber ist die Lage der Zufahrt zur Brücke im Stadtraster von Louisville, entlang der 14. Straße (engl. Fourteenth Street), deren Fläche aber ausschließlich durch den Bahndamm eingenommen wird. Sie führt über die Stromschnellen Falls of the Ohio, die heute größtenteils unterhalb des Wasserspiegels der Staustufe McAlpine Locks and Dam liegen.
Erste Planungen zum Bau einer Brücke aus den 1830er-Jahren gehen auf den Politiker James Guthrie zurück. Nach mehreren erfolglosen Anläufen konnte das Projekt aber erst über 30 Jahre später, nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg, realisiert werden. Die erste Eisenbahnbrücke über den Ohio in Kentucky wurde schließlich vom Brückenbauingenieur der Louisville and Nashville Railroad (L&N), Albert Fink, entworfen und verband dort ab 1870 die Eisenbahnnetze des Mittleren Westens mit denen der Südstaaten. Finks eingleisige Fachwerkbrücke war fast 50 Jahre lang in Betrieb, konnte aber das Anfang des 20. Jahrhunderts auf bis zu 300 Züge täglich angestiegene Verkehrsaufkommen nicht mehr bewältigen. Die Pennsylvania Railroad (PRR) sah sich als damaliger Eigner daher zum Neubau eines zweigleisigen Stahl-Überbaus gezwungen, den man bis 1919 bei laufendem Betrieb errichtete. Im Jahr 1976 ging die insolvente Nachfolgegesellschaft Penn Central zusammen mit der Brücke in den Besitz der staatlichen Auffanggesellschaft Conrail über. Die Louisville and Indiana Railroad (LIRC) erwarb 1994 die Brücke und betreibt sie heute nur noch eingleisig für den Güterverkehr zwischen Louisville und Indianapolis.
Geschichte
Falls of the Ohio
Die Falls of the Ohio liegen etwa 980 Flusskilometer vom Ursprung des Ohio bei Pittsburgh entfernt und waren bis zum Bau eines Kanals eine natürliche Barriere für den Schiffsverkehr, die nur bei ausreichend hohen Pegelständen für etwa zwei Monate im Jahr passierbar war. Aufgeschlossene harte Gesteinsbänke aus den fossilreichen devonischen Kalksteinen der Jeffersonville Limestone Formation bildeten auf einer Strecke von drei Kilometern im Flussbett Stromschnellen aus, wo der Ohio Felsen und Kalkklippen erodierte und dabei einen Höhenunterschied von etwa acht Metern überwand. Durch den Zwangsstopp für Reisende entlang des Flusses und das nötige Umsetzen von Fracht, auf dem Weg von der Ostküste Richtung Westen bis zur Vereinigung mit dem Mississippi bei Cairo und weiter in Richtung Golf von Mexiko oder Westküste, entwickelten sich hier Siedlungen, aus denen später die Städte Louisville auf der Kentucky-Seite sowie Clarksville und Jeffersonville auf der Indiana-Seite hervorgingen.
Auf der Kentucky-Seite ließ sich 1820 der neu ernannte Staatsanwalt des Jefferson County und spätere Politiker James Guthrie im heutigen Louisville nieder. Er setzte sich als Präsident der Betreibergesellschaft des späteren Louisville and Portland Canal für eine Möglichkeit zur Umschiffung der Stromschnellen ein, die entlang des Kentucky-Ufers ab 1826 gebaut und 1830 für den Schiffsverkehr freigegeben wurde. Guthrie war zudem als Mitglied des Senats von Kentucky treibende Kraft bei der Entwicklung von Louisville und wollte sie insgeheim zur Hauptstadt des Bundesstaates ausbauen. Dazu setzte er sich unter anderem für die Errichtung des Jefferson County Courthouse und einer Brücke über die Falls of the Ohio ein. Beide Vorhaben kamen durch die Wirtschaftskrise von 1837 in Finanzierungsprobleme und konnten erst Jahre später fertiggestellt werden. Das Brückenprojekt kam über die Grundsteinlegung 1836 nicht hinaus und auch ein neuer Versuch zur Finanzierung in den 1850er-Jahren scheiterte.
Brücke von Albert Fink 1870
Nachdem Guthrie 1853–1857 Finanzminister unter Präsident Franklin Pierce gewesen war, wurde er Vizepräsident der Louisville and Nashville Railroad (L&N) sowie 1860 deren Präsident. Zur Realisierung der lange geplanten Brücke, die die beiden hier durch den Ohio getrennten Eisenbahnnetze des Mittleren Westens und der Südstaaten verbinden sollte, gründete die L&N zusammen mit der Jeffersonville, Madison and Indianapolis Railroad (JM&I) die Louisville Bridge Company. Leitender Ingenieur der L&N war der aus Deutschland emigrierte Bauingenieur Albert Fink. Er entwarf eine 1,6 km lange Fachwerkbrücke aus Guss- und Schmiedeeisen, die eine integrierte Drehbrücke über dem Kanal aufwies und auf 27 bis zu 32 Meter hohen Steinpfeilern ruhte. Besonderes Merkmal waren die von ihm patentierten Fink-Träger mit obenliegendem Gleis, die keinen Untergurt besaßen. Diese frühe Form der Fachwerkträger fand unter anderem noch bei der Wabash Bridge (1871) und der Verrugas-Brücke (1873) Anwendung, wurde aber später durch geschlossene Fachwerke verdrängt.
Die Bauarbeiten begannen am 1. August 1867 und waren Anfang 1870 abgeschlossen, wobei 56 Arbeiter ums Leben kamen und 80 weitere verletzt wurden. Der erste Zug überquerte die 26 Fachwerkträger der damals längsten Eisenbrücke der USA am 18. Februar 1870. Die etwas über acht Meter breite Eisenbahnbrücke besaß zusätzlich an den Außenseiten je einen zwei Meter breiten Fußweg, von denen der östliche ab November 1870 der Öffentlichkeit zur Verfügung stand.
Die JM&I kam 1871 unter die Kontrolle der Pittsburgh, Cincinnati, Chicago and St. Louis Railway, eine Tochtergesellschaft der Pennsylvania Railroad (PRR), die damit die Verbindung nach Indianapolis kontrollierte, wo Anschluss nach St. Louis, Chicago und an die Ostküste bestand. Die PRR erwarb dann Mitte der 1870er-Jahre den 60-Prozent-Anteil der L&N an der Louisville Bridge Company und wurde dadurch Eigner von einer der ersten Brücken über den Ohio entlang der etwa 1000 km langen nördlichen Grenze von Kentucky. Die erste Eisenbahnverbindung zwischen dem Mittleren Westen und den Südstaaten hatte die Illinois Central Railroad bei Cairo schon 1861 vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) mittels Eisenbahnfähren über den Ohio realisiert und die PRR errichtete die erste Eisenbahnbrücke über den Fluss 1865 an der Ostgrenze von Ohio in Steubenville. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurden sieben weitere Eisenbahnbrücken auf dem Flussabschnitt in Kentucky errichtet, davon eine in Cairo (1890) und in Henderson (1885), zwei weitere in Louisville (1886, 1895) und drei in Cincinnati (1872, 1877, 1888). In der Phase der expandierenden Eisenbahngesellschaften in Nordamerika nach dem Bürgerkrieg erreichte das Verkehrsaufkommen über die Fourteenth Street Bridge im Jahr 1882 über 150 Züge täglich. Zur Bewältigung des Verkehrs wurde hier auch erstmals die aus Europa stammende Technik der Formsignale (Signale mit beweglichen Elementen) eingesetzt, die in den USA um die Jahrhundertwende Standard wurde.
Umbau durch die PRR 1919
Finks Brücke stellte sich als äußerst robust heraus und war bis auf drei Anstriche, kleinere Reparaturen an den Bolzenverbindungen und den Austausch der Tragbalken der Gleisebene in fast 50 Jahren Betrieb in ihren Strukturelementen nahezu wartungsfrei; die Drehbrücke über dem Louisville and Portland Canal modernisierte man allerdings 1902, wobei der alte Fachwerkträger und der Drehmechanismus ersetzt wurden. Das Verkehrsaufkommen verdoppelte sich Anfang des 20. Jahrhunderts auf über 300 Züge täglich, bei einer stetigen Zunahme der Gewichte der Dampflokomotiven und der transportierten Fracht. Die PRR sah sich in den 1910er-Jahren daher gezwungen, die Brücke mit einem neuen zweigleisigen Stahl-Überbau zu versehen. Die Brückenpfeiler waren gleich dem ursprünglichen Eisen-Überbau in einem hervorragenden Zustand und konnten nach kleineren Modifikationen weiterverwendet werden. Von Juni 1916 bis Oktober 1918 erfolgte der Austausch der Fachwerkträger bei laufendem Betrieb mit Hilfe von Portalkränen. Im Zuge des Umbaus wurde zu Gunsten des zweiten Gleises auf einen zusätzlichen Fußweg verzichtet und die Drehbrücke durch eine Hubbrücke ersetzt. Die Eröffnung der neuen Brücke fand im Januar 1919 statt. Entwurf und Ausführung leitete der Brückenbauingenieur der Pennsylvania Railroad, J. C. Bland. Zu seinem Mitarbeiterstab zählte unter anderem Frank M. Masters, der als Metallurge für die Überwachung der Produktion der Stahlkomponenten zuständig war. Er wurde später Partner von Ralph Modjeski im bis heute bestehenden Ingenieurbüro Modjeski & Masters, das unter anderem 1929 die flussaufwärts folgende Louisville Municipal Bridge errichtete. Die Hubbrücke entwarf der damals führende Experte für diesen beweglichen Brückentyp, John Alexander Low Waddell, der zu jener Zeit mit seinem Sohn das Ingenieurbüro Waddell & Son betrieb. J. A. L. Waddell konstruierte über 70 Brücken dieser Bauart und war Mitbegründer des heute als Hardesty & Hanover fortbestehenden Ingenieurbüros.
Staustufe und Eigentümerwechsel bis 1994
Der Louisville and Portland Canal wurde 1874 verstaatlicht und vom United States Army Corps of Engineers übernommen. Es folgten mehrere Erweiterungen der Schleusen und des unterhalb der Brücke verlaufenden Kanals, was auch den Bau der Hubbrücke bedingte. Durch die Entfernung des Mittelpfeilers der alten Drehbrücke konnte hier die Breite der Fahrrinne von 32 m auf über 70 m verbreitert werden. Weiterhin wurde in Höhe der Falls of the Ohio eine Staustufe errichtet, deren Staumauer man in den 1920er-Jahren mit einem bei Niedrigwasser aufrichtbaren Segmentwehr (wicket dam) und einem Laufwasserkraftwerk als Lock and Dam No. 41 erweiterte. Ab Ende der 1950er-Jahre erfolgten weitere Vergrößerungen der Schleusenanlagen und die Errichtung eines neuen Drucksegmentwehrs (Tainter gates), dabei wurde die letzte Fahrrinne unter dem größten Fachwerkträger der Brücke verschlossen. Im Jahr 1960 benannte man die Staustufe in McAlpine Locks and Dam um, deren Reservoir die Stromschnellen heute größtenteils überdeckt. Nur im nördlichen Teil hinter der Hochwasserentlastung sind vor der Brücke noch Teile erhalten, die sich heute im Falls of the Ohio State Park befinden.
Infolge des einsetzenden Ausbaus des Straßennetzes und des Entstehens des motorisierten Individualverkehrs transportierte die Eisenbahn immer weniger Güter und Personen, was in den 1970er-Jahren zur Insolvenz gleich mehrerer Eisenbahngesellschaften im Osten der USA führte. Darunter befand sich mit der Penn Central auch der Nachfolger der PRR. Als Folge wurde die staatliche Auffanggesellschaft Conrail geschaffen, in deren Besitz auch die Eisenbahnbrücke über den Ohio überging. Im Jahr 1994 wurde die Louisville and Indiana Railroad (LIRC) als Teil der Anacostia Rail Holdings Company gegründet, die eine Strecke von 170 km zwischen Louisville und Indianapolis von Conrail erwarb. Dies schloss auch die Fourteenth Street Bridge mit ein, die heute von der Eisenbahngesellschaft eingleisig für den Güterverkehr betrieben wird sowie auch dem Kooperationspartner CSX Transportation zur Verfügung steht. Die CSX investierte ab 2015 etwa 100 Mio. US$ in den Ausbau der LIRC-Strecke nach Indianapolis, um sie auch mit 130-Tonnen-Güterwagen nutzen zu können. Zudem konnte dadurch die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 40 auf fast 80 km/h erhöht werden. In diesem Rahmen überholte die LIRC 2015 auch den Antrieb der Hubbrücke. Dabei kam es im April zum Versagen einer Halterung für die Stahlkabel, woraufhin der Schiffsverkehr für 48 Stunden unterbrochen werden musste. Durch die Kooperation mit der CSX entwickelte sich die LIRC zu einer der erfolgreichsten lokalen Eisenbahngesellschaften und wurde Anfang 2019 von der Fachzeitschrift Railway Age zur Short Line of the Year gewählt.
Beschreibung
Die Fourteenth Street Bridge gliedert sich in den Nordteil auf der Indiana-Seite (Gruppe V), den waagerechten Mittelteil in Kentucky mit den beiden größten Fachwerkträgern über den damals teilweise nutzbaren Fahrrinnen (Gruppe III und IV) und den ebenfalls in Kentucky befindlichen Südteil, der durch die Hubbrücke über dem Kanal abgeschlossen wird (Gruppe I und II). Insgesamt besitzt der Überbau aus den 1910er Jahren 21 Fachwerk- und vier Balkenträger sowie zwei Fachwerktürme (Hubbrücke). Er ruht auf 26 gemauerten Brückenpfeilern aus Sandstein, die größtenteils aus dem Jahre 1870 stammen. Sie erreichen eine Höhe von bis zu 32 m und wurden direkt auf dem Grundgestein des Flussbettes errichtet. Zur Aufnahme des breiteren zweigleisigen Stahl-Überbaus wurden die Brückenpfeiler teilweise eingekürzt und mit Stahlauflagen versehen, die die Auflager der Brückenelemente tragen. Der größte Fachwerkträger (im Mittelteil) musste entsprechend der staatlichen Vorgaben beim Umbau vergrößert werden und erstreckt sich heute über 196 m (vorher 122 m), wobei ein ehemaliger Brückenpfeiler entfernt wurde. Weitere Änderungen bezogen auf die Spannweite betrafen den Neubau der Hubbrücke und der angrenzenden Balkenträger auf der Südseite sowie zwei kleinere Balkenträger am Widerlager der Nordseite in Indiana. Die restlichen Pfeilerabstände der insgesamt 1614 m langen Brücke blieben unverändert und variieren zwischen 46 m und 113 m (die Spannweiten sind i. d. R. etwas kürzer, da ein Pfeiler immer die Auflager zweier benachbarter Brückenfelder trägt und bei Anbringung in gleicher horizontaler Ebene nicht beide auf der Pfeilermittelachse liegen können).
Nordteil (Indiana)
Der Nordteil der Brücke beginnt am Indiana-Ufer des Ohio mit dem Widerlager, das beidseitig von gemauerten Türmen bis auf Höhe der Gleisebene flankiert wird und den ersten, 10 m langen Balkenträger einrahmt. Darauf folgt über den Ohio River Scienic Bayway ein weiterer Balkenträger von 30 m Länge, an den sich vier parallelgurtige Fachwerkträger mit obenliegendem Gleis über den Falls of the Ohio State Park anschließen, die als Strebenfachwerke mit Pfosten ausgeführt sind und in dieser Bauform für insgesamt 18 Fachwerkträger der Brücke in unterschiedlichen Größen zur Anwendung kamen. Die Längen variieren hier zwischen 46 m und 55 m, wobei die Konstruktionshöhe mit der Länge zunimmt und bei den längsten baugleichen Trägern im Mittelteil über 10 m erreicht (bei einer Spannweite von 75 m). Die Steigung bis zum Mittelteil beträgt auf diesem 251 m langen Teilstück 13,8 ‰. Die Grenze zwischen den Bundesstaaten Indiana und Kentucky verläuft unter dem dritten Fachwerkträger.
Mittelteil (Kentucky)
Der waagerechte Mittelteil erstreckt sich mit einer Länge von 684 m über sieben Brückenfelder. Über den ehemaligen Fahrrinnen, die nur bei ausreichendem Wasserstand befahrbar waren und heute von der Staumauer verschlossen sind, befinden sich ein 113 m und ein 196 m langer Halbparabelträger mit untenliegendem Gleis, zwischen denen fünf der parallelgurtigen Fachwerkträger mit obenliegendem Gleis angebracht sind, die hier Längen von rund 75 m haben. Die Halbparabelträger mit ihrem gebogenen Obergurt sind als Ständerfachwerke ausgeführt, mit zusätzlichen Pfosten sowie zusätzlichen Längs- und Querverstrebungen im unteren Bereich, wodurch die Fachwerkfelder nochmals unterteilt und verstärkt werden. Diese als Pennsylvania truss bezeichnete Bauform wurde von der Pennsylvania Railroad entwickelt und bis in die 1930er Jahre verwendet. Sie war bei höheren Traglasten im Design materialsparender als ältere Fachwerkskonstruktionen, was zur Minimierung des Eigengewichtes gerade bei großen Spannweiten von Bedeutung war. Wie oben erwähnt, erstreckt sich der längste Träger der Brücke mit einer Spannweite von 196 m über drei der ehemaligen Brückenpfeiler, wobei der mittlere Pfeiler entfernt und der südliche in Richtung Kentucky für den 5630 t schweren Stahlträger verstärkt wurde; er besitzt daher als einziger der Strompfeiler im unteren Bereich eine Betonummantelung. Der Fachwerkträger erreicht in der Mitte eine Konstruktionshöhe von über 35 m und ist 11,5 m breit. Er zählt zu den größten einfachen Fachwerkträgern (Einfeldträger) der Welt und wurde seinerzeit nur von der Metropolis Bridge (1917, 220 m) und der MacArthur Bridge (1912, 204 m) übertroffen.
Südteil mit Hubbrücke (Kentucky)
Der Südteil der Brücke besteht aus neun der parallelgurtigen Fachwerkträger mit obenliegendem Gleis, deren Länge sich von 69 m bis auf 46 m in Richtung Kentucky-Ufer reduziert. Den Abschluss bildet eine Hubbrücke mit einer Spannweite von 79 m über dem Kanal, die zwischen zwei 12 m breiten Fachwerktürmen geführt wird. Die Übergänge zu den anderen Fachwerkträgern bzw. zum Widerlager am Kentucky-Ufer sind durch Balkenbrücken von 33 m bzw. 18 m Länge realisiert. Der Louisville and Portland Canal erstreckt sich nach mehrfachen Verbreiterungen heute neben der Hubbrücke über drei weitere Brückenfelder, und mehrere ehemalige Strompfeiler stehen dadurch auf der künstlich angelegten Landzunge des Shippingport Island, die den Kanal von Reservoir des McAlpine Locks and Dam abtrennt. Der insgesamt 670 m lange Südteil der Brücke besitzt ein Gefälle von 14,4 ‰, wobei die Untergurte der Hubbrücke horizontal ausgerichtet sind und nur die Gleisebene eine Neigung aufweist.
Die Vertikalbewegung des 1200 t schweren Halbparabelträgers der Hubbrücke – ausgeführt als Strebenfachwerk mit Pfosten – wird durch Stahlbeton-Gegengewichte realisiert, die innerhalb der 32 m hohen Fachwerktürme an 4×16 Stahlseilen mit je 5,4 cm Durchmesser hängen, welche in Gruppen von 16 Seilen über Stahl-Umlenkrollen an der Spitze der Türme geführt werden. Diese haben einen Durchmesser von 4,6 m, die Gesamthöhe der Stahlkonstruktion erreicht dadurch über 34 m. Die Steuerung erfolgt über ein weiteres Seilzugsystem, das von zwei Elektromotoren angetrieben wird, die sich in einem Betriebshaus auf dem Mittelteil des Fachwerkträgers befinden. Zusätzlich kann die Bedienung von einem Stellwerk aus erfolgen, das sich am Ende der Brücke neben dem Widerlager befindet. Der Fachwerkträger kann knapp 10 m angehoben werden und ermöglicht dem Schiffsverkehr eine Durchfahrtshöhe von 21 m (Lichte Höhe bei normalem Wasserstand des Reservoirs der Staustufe).
In Richtung Louisville folgt auf das Widerlager noch eine Balkenbrücke über ehemalige Gleisanlagen, die heute Teil des Louisville Riverwalk sind. Bevor die Zufahrt zur Brücke im Stadtraster von Louisville entlang der namensgebenden 14. Straße (engl. Fourteenth Street) verläuft, unterquert sie noch eine Hochstraße der kreuzenden Interstate 64.
Literatur
Bridge over the Ohio River at Louisville. In: American Railroad Journal. Vol. 43, 19. März 1870, S. 337.
Old Ohio River Bridge at Louisville - Nearly Fifty Years in Service. In: Engineering News-Record. Vol. 77, Nr. 6, 1917, S. 217–222.
Design of New Superstructure of Louisville Bridge with 644-foot Riveted Span. In: Engineering News-Record. Vol. 82, Nr. 21, 1919, S. 1007–1011; Ergänzung in Designers of Louisville Lift-Bridge Machinery. In: Engineering News-Record. Vol. 82, Nr. 24, 1919, S. 1151.
Riveted-Truss Span of Record Length. In: Engineering News-Record. Vol. 82, Nr. 21, 1919, S. 995.
Maintaining Traffic During Erection of Louisville Bridge. In: Engineering News-Record. Vol. 82, Nr. 22, 1919, S. 1061–1064.
Reconstruction of a Notetable Railroad Bridge. In: Railway Age. Vol. 66, Nr. 4, 1919, S. 238–243.
Weblinks
The Three Railroad Bridges over the Ohio River. Historic Photos Of Louisville Kentucky And Environs.
Einzelnachweise
Eisenbahnbrücke in den Vereinigten Staaten
Stahlbrücke
Fachwerkbrücke
Brücke in Indiana
Brücke in Kentucky
Erbaut in den 1910er Jahren
Brücke in Nordamerika
Brücke über den Ohio River
Bauwerk im Clark County (Indiana)
Bauwerk in Louisville (Kentucky)
Clarksville (Clark County, Indiana)
Verkehr (Louisville, Kentucky)
Pennsylvania Railroad
Schienenverkehr (Indiana)
Schienenverkehr (Kentucky) |
10835309 | https://de.wikipedia.org/wiki/J.R.%20Davis%20Yard | J.R. Davis Yard | Der J.R. Davis Yard (kurz Davis Yard) ist ein Rangierbahnhof der Union Pacific Railroad (UP) in Roseville, Kalifornien. Er ist mit 55 Richtungsgleisen und einer Gesamtfläche von 365 Hektar der größte Rangierbahnhof westlich der Rocky Mountains, über den heute 95 Prozent des Güterverkehrs von und nach Nordkalifornien verlaufen. Seine Ursprünge gehen auf den Roseville Yard der Southern Pacific Company (SP) zurück, der Anfang des 20. Jahrhunderts auf der Strecke der First Transcontinental Railroad etwa 25 Kilometer nordöstlich von Sacramento am Fuße der Sierra Nevada errichtet wurde. Er trug maßgeblich zur Entwicklung der Stadt Roseville bei und beschäftigt über 1000 Mitarbeiter. In den 1950er Jahren wurde der Rangierbahnhof erstmals umfassend umgebaut und modernisiert. Im Jahre 1996 übernahm die Union Pacific Railroad die SP und baute den Rangierbahnhof zu ihrem Hauptdrehkreuz im Güterverkehr in Nordkalifornien aus. Mit der Fertigstellung im Mai 1999 benannte sie ihn zu Ehren des ehemaligen Vice Chairman und Präsidenten der UP in „J.R. Davis Yard“ um.
Geschichte
First Transcontinental Railroad 1864
Zwischen 1863 und 1869 entstand in den USA die erste transkontinentale Eisenbahnverbindung zwischen Kalifornien und den Siedlungsgebieten am Missouri River im Osten von Nebraska. Die beiden Hauptstrecken wurden dabei von der Union Pacific Railroad im Osten (1746 km) und der Central Pacific Railroad im Westen (1110 km) gebaut. Treibende Kraft hinter der Central Pacific war der Eisenbahningenieur Theodore Judah, der schon Mitte der 1850er Jahre den Bau einer Eisenbahnverbindung durch die Sierra Nevada vorschlug. Mit Unterstützung der später als die „Big Four“ bekannt gewordenen Investoren konnte die Central Pacific 1861 gegründet werden. Ab 1863 baute sie die Strecke zwischen Sacramento und dem Promontory Summit nahe Salt Lake City in Utah. Beginnend von Sacramento aus in Richtung Osten verlegten die Arbeiter 1864 die Gleise im heutigen Roseville und kreuzten hier die von Nord nach Süd verlaufende Strecke der California Central Railroad zwischen Lincoln und Folsom. Der damals als Junction bezeichnete Ort entwickelte sich in der Folgezeit zur Stadt Roseville. Bis 1867 wurde die Strecke über den Donner Pass der Sierra Nevada fertiggestellt und bis 1869 über Reno und weiter durch Nevada bis nach Utah fortgeführt, wo sie mit dem östlichen Teil der Union Pacific verbunden wurde; das Teilstück nach San Francisco errichtete die Western Pacific Railroad, die 1870 in der Central Pacific aufging.
Die „Big Four“ dehnten ihre Monopolstellung im Transportgeschäft im Westen der USA mit dem Erwerb der Southern Pacific Railroad 1870 weiter aus und reorganisierten 1885 die beiden großen Gesellschaften Central Pacific und Southern Pacific als Southern Pacific Company (SP), wobei die eigentliche Fusion aber erst 1959 vollzogen wurde. Die kleine Nord-Süd-Verbindung der California Central wurde 1868 von der Oregon and California Railroad übernommen, die wiederum unter der Kontrolle der Southern Pacific stand und somit später auch Teil des Eisenbahnimperiums der „Big Four“ wurde; die Verbindung von Roseville nach Folsom wurde 1868 eingestellt.
Roseville Yard der Southern Pacific 1906
Mit der Zunahme des Eisenbahnverkehrs Anfang des 20. Jahrhunderts verkehrten pro Richtung täglich etwa fünf Personen- und zehn Güterzüge auf der eingleisigen Verbindung zwischen Kalifornien und Utah. Zur Erhöhung der Kapazität mittels längerer Züge mussten ab 1906 die Ausweichgleise auf der Gebirgsstrecke nach Truckee verlängert werden. In diesem Zuge verlegte die SP das Bahnbetriebswerk am Fuße der Sierra Nevada von Rocklin nach Roseville, wo zudem ein großer Rangierbahnhof errichtet wurde. Auf dem Roseville Yard konnten die langen, aus Sacramento kommenden Züge für den Aufstieg ins Gebirge aufgeteilt oder in der Gegenrichtung zu längeren Zügen über das flache Sacramento Valley zusammengestellt werden. Hier befand sich auch der Knotenpunkt mit der Verbindung der Oregon and California Railroad nach Norden, die über Lincoln und Redding nach Portland in Oregon führte (Shasta Route), wodurch eine bessere Steuerung des Güterstroms nach Osten und Norden möglich wurde. Bis 1910 entstanden südwestlich von Roseville Bahnanlagen mit über 80 Gleiskilometern und zwei Ringlokschuppen für je 32 Dampflokomotiven sowie weitere Gebäude und Anlagen. Dazu zählte eine Eisfabrik des gemeinschaftlich von der SP und UP gegründeten Kühlwagenbetreibers Pacific Fruit Express. Diese wurde ab 1907 am Rangierbahnhof errichtet und später zur weltweit größten Produktionsstätte für Blockeis ausgebaut. Mit einer täglichen Produktionskapazität von 400 Tonnen und einer Lagerkapazität von 30.000 Tonnen konnten hier in den 1920er Jahren rund um die Uhr über 250 Eisenbahnkühlwagen gleichzeitig bestückt werden; die Anlage bestand bis Mitte der 1970er Jahre.
Der Roseville Yard förderte maßgeblich die Entwicklung von Roseville, dessen Einwohnerzahl bis Ende der 1920er Jahre auf über 6000 angestiegen war. Die Southern Pacific beschäftigte zu dieser Zeit über 1200 Mitarbeiter auf ihren umfangreichen Bahnbetriebsstätten. Der Güterverkehr der SP gewann zunehmend an Bedeutung und sein Anteil am Umsatz der Eisenbahngesellschaft stieg zwischen 1921 und 1940 von 67 % auf 81 %, wobei die Strecke von Roseville nach Ogden in Utah die am höchsten frequentierte war; der Warenfluss nach Osten überwog aber den nach Kalifornien. Anfang der 1950er Jahre modernisierte die SP den Roseville Yard und baute einen automatisierten Flachbahnhof mit hintereinander folgenden Gleisfeldern in Richtung der Hauptrichtung des Güterverkehrs, die sich hier vom Südwesten nach Nordosten in eine Einfahrgruppe mit 21 Gleisen, eine Richtungsharfe mit 49 Gleisen und eine Ausfahrgruppe mit ebenfalls 21 Gleisen gliederte. Die Ringlokschuppen für die Dampflokomotiven am nördlichen Ende der Ausfahrgruppe wurden bis Anfang der 1960er Jahre durch eine Wartungshalle (Rechteckschuppen) für Diesellokomotiven ersetzt.
Eisenbahnunfall 1973
In den Morgenstunden des 28. April 1973 erreichte ein teilweise mit Munition beladener Güterzug aus Hawthorne in Nevada die Einfahrgruppe im südwestlichen Teil des Roseville Yard. Die SP transportierte in dem über 100 Wagen langen Zug für die United States Air Force mit 21 gedeckten Güterwagen über 7000 Fliegerbomben von Typ Mk-81, die für die Verladung auf die USNS Private Francis X. McGraw bestimmt waren und im Vietnamkrieg zum Einsatz kommen sollten. Ein von den Bremsen der Wagen ausgehender Brand löste gegen 8 Uhr die erste Explosion einer über 32 Stunden andauernden Serie aus, die 18 Güterwagen zerstörte sowie große Teile der Gleisanlagen und der angrenzenden Ortschaft Antelope stark beschädigte. Dabei entstanden teilweise über zehn Meter tiefe Krater. Da nach den ersten Explosionen Antelope und Teile von Roseville evakuiert wurden, kamen keine Personen ums Leben und es gab nur 38 meist leicht Verletzte.
Bei Umbauarbeiten an den Gleisanlagen wurden Ende 1997 acht nicht detonierte Fliegerbomben von 1973 gefunden, die durch die Räumkommandos der Air Force damals übersehen worden waren. Zur Beseitigung der über 20 Jahre alten Munition mussten etwa 400 Personen der umliegenden Ortschaften sowie der Rangierbahnhof zeitweise evakuiert werden, die Entschärfung erfolgte durch Militär-Personal des Moffett Field.
Übernahme durch die Union Pacific 1996
Mit dem Ausbau des Straßennetzes in den USA verlagerte sich der Personen- und Güterverkehr zunehmend auf die Straße, was ab den 1960er Jahren die großen Eisenbahnnetze in Nordamerika immer unrentabler machte und in der Folgezeit zu mehreren Insolvenzen und Fusionen der Eisenbahngesellschaften führte. Die Holdinggesellschaften der Southern Pacific und der Atchison, Topeka and Santa Fe Railway, Southern Pacific Company und Santa Fe Industries, wurden am 23. Dezember 1983 von der neu gegründeten Santa Fe Southern Pacific Corporation (SFSP Corp) übernommen. Eine Fusion der beiden Bahngesellschaften wurde beantragt, konnte aber aufgrund von Vorbehalten der Interstate Commerce Commission gegen eine Monopolstellung nie vollzogen werden und führte schließlich 1988 zum Verkauf der SP an Rio Grande Industries. Im Jahr 1996 übernahm schließlich die Union Pacific Railroad die Southern Pacific; die Santa Fe Pacific Corporation fusionierte Ende 1995 mit der Burlington Northern Railroad zur heutigen BNSF Railway (Burlington Northern Santa Fe).
Die UP entschied sich nach der Übernahme zum Ausbau des Roseville Yard zum Hauptdrehkreuz im Güterverkehr in Nordkalifornien. Bis Mai 1999 wurden die Gleisanlagen des Rangierbahnhofs für 142 Mio. US-Dollar komplett umgebaut, wobei das Hauptaugenmerk auf der Verlängerung der einzelnen Gleisfelder lag. Konnten die Richtungsgleise nach der Modernisierung in den 1950er Jahren nur etwa 30 Güterwagen aufnehmen, so können auf den zentralen Gleisen heute bis zu 80 Wagen zusammengestellt werden. Um die Ein- und Ausfahrgruppe für Züge von fast drei Kilometern Länge auszulegen, wurde die ursprüngliche hintereinander folgende Anordnung der Gleisfelder aufgegeben, die Ausläufer der beiden Gruppen umschließen heute die Gleisharfe im Zentrum (55 Richtungsgleise) und die Züge werden über entsprechende Ausziehgleise zwischen den Gruppen transferiert. Durch den Umbau entstand der größte Rangierbahnhof westlich der Rocky Mountains, über den heute 95 Prozent des Güterverkehrs von und nach Nordkalifornien verlaufen. Zu Ehren des ehemaligen Vice Chairman und Präsidenten der UP Jerry R. Davis benannte man ihn nach der Fertigstellung in J.R. Davis Yard um. Die BNSF Railway betreibt mit dem Barstow Yard in der Mojave-Wüste auf einer Fläche von etwa 240 Hektar in Südkalifornien den zweitgrößten Rangierbahnhof (48 Richtungsgleise).
Beschreibung
Der J.R. Davis Yard erstreckt sich mit einer Breite von etwa 300–500 Metern von Südwesten nach Nordosten über fast sieben Kilometer und nimmt eine Fläche von 365 Hektar ein. Im Folgenden wird zur Orientierung das langgestreckte Areal durch eine gedachte Mittellinie in einen Süd- und Nordteil aufgeteilt. Dem Verkehrsfluss folgend gliedern sich die Gleisanlagen des Flachbahnhofs in die Einfahrgruppe im Südteil, in die die ankommenden Güterzüge von Südwest (aus Richtung Sacramento) oder von Nordost (aus Richtung Nevada oder Oregon) eingeleitet werden. Die Streckenlokomotiven (line-haul) werden hier durch Rangierlokomotiven (switcher) ersetzt, die die Züge – oder Teile davon – über Ausziehgleise nach Südwesten vor den Ablaufberg befördern und die Güterwagen dann in entgegengesetzter Richtung in die Richtungsharfe im Zentrum abdrücken. Hier werden diese zu neuen Zuggruppen zusammengestellt, die später in die Ausfahrgruppe im Nordteil befördert werden. Die endgültigen Züge können hier aus mehreren Zuggruppen kombiniert werden. Vor der Ausfahrt übernehmen wieder Streckenlokomotiven die Züge, wobei meist mehrere Lokomotiven zu sogenannten consists kombiniert werden.
Die Ein- und Ausfahrgruppe haben jeweils acht Gleise von durchschnittlich 2,7 km Länge und umschließen die zentrale Richtungsharfe aus 55 über 800 Meter langen Richtungsgleisen. Hier wurden hinter dem Ablaufberg bis 1999 die herkömmlichen Gleisbremsen (Balkenbremsen) durch moderne Dowty-Retarder ersetzt. Zusätzlich befinden sich im Südteil mit dem Rockpile Yard (drei Gleise) und dem City Yard (13 Gleise) zwei kleinere Gleisgruppen für den lokalen Güterverkehr, die aber auch als zusätzliche Ein- und Ausfahrgruppe für die Zugbildung in der Richtungsharfe benutzt werden können.
Im Nordosten befindet sich gegenüber der Einfahrgruppe das Bahnbetriebswerk. Zur Wartung der Diesellokomotiven dient ein großer Rechteckschuppen, der fünf durchgehende Gleise und drei Stumpfgleise hat. Zusätzlich schließen sich daran Gleisanlagen und Einrichtungen zum Waschen, Betanken und zum Testen der Lokomotiven sowie zur Zusammenstellung der consists an. Neben der Zugbildung auf dem Rangierbahnhof, mit einem täglichen Durchsatz von bis zu 2.000 Güterwagen, passieren jährlich über 46.000 Strecken-Diesellokomotiven den Davis Yard (Stand 2004). Davon werden auf dem Bahnbetriebswerk etwa 31.000 gewartet (knapp 10.000 werden davon aber nur betankt). Weitere etwa 15.000 passieren als Teil von Zugverbänden die Anlagen im Nordteil entlang der Umfahrungsgleise, die unter anderem vom Amtrak-Personenzug California Zephyr benutzt werden. Dieser hält auch in Roseville, das mit über 100.000 Einwohnern heute zur Metropolregion Sacramento gehört; die Amtrak-Station befindet sich unmittelbar vor der Einfahrt zur Wartungshalle des Davis Yard.
Luftverschmutzung durch Diesellokomotiven
Mit dem Ausbau des Rangierbahnhofs Ende des 20. Jahrhunderts und der damit verbundenen Zunahme des Güterverkehrs in der Region gab es in der Bevölkerung vermehrt Bedenken vor einer möglichen Gesundheitsgefährdung durch die Abgase der täglich etwa 100 verkehrenden Diesellokomotiven. Das California Air Resources Board (CARB) führte daher zwischen Dezember 1999 und November 2000 eine großangelegte Studie zur Untersuchung der Luftverschmutzung durch. Diese zeigte eine jährliche Belastung von 25 Tonnen Feinstaub, wovon besonders stark die nördlichen Gebiete neben dem Bahnbetriebswerk, der Ausfahrgruppe und der Richtungsharfe betroffen waren. Zum Vergleich lag die gesamte verkehrsbedingte Feinstaubbelastung in Deutschland im Jahr 2000 bei 1,1 Mio. Tonnen (2017 bei 453.300 t). Mit der Verschärfung der staatlichen Vorgaben zur Luftreinhaltung in Kalifornien sah sich die Union Pacific gezwungen, ihre Flotte an Diesellokomotiven zu erneuern sowie unter anderem durch die Nachrüstung von Stopp-Start-Systemen die Leerlaufzeiten der Lokomotiven zu reduzieren.
Im Jahr 2012 entsprachen etwa 80 Prozent der über 8000 Diesellokomotiven der UP den Emissions-Standards der Environmental Protection Agency Tier 0-3. Bis 2014 ließ die UP zum Beispiel 27 ältere SD60M aus den 1990er Jahren von EMD zum Typ SD59MX umbauen (UP 9900–9927), die den Emissions-Standard Tier 2 einhalten. Eine der Strecken-Lokomotiven (UP 9900) wurde dabei mit Förderung des CARB bis 2012 zu einer Testlokomotive ausgebaut, um mit geeigneten Methoden zur Abgasnachbehandlung die Erreichung des strengen Emissions-Standard Tier 4 zu erproben, der seit 2015 eine weitere Reduktion der Stickoxide und des Feinstaubes vorschreibt. Die Testphase erfolgte vom Davis Yard aus in einem Umkreis von mehreren hundert Kilometern. Eine der ersten Tier-4-Neuentwicklungen waren die ET44AC der Evolution Series von GE Transportation Systems, die durch Abgasrückführungsysteme den hohen Emissions-Standard erreichten. Die UP erwarb ab 2015 die ersten von 200 Diesellokomotiven vom vergleichbaren Typ ET44AH (UP 2570–2769), die speziell in Kalifornien zum Einsatz kommen. Insgesamt investierte die UP zwischen 2000 und 2017 rund 8,5 Mrd. US$ in die Erneuerung der Flotte und erreichte dadurch 2017 einen Anteil von 96 % an Lokomotiven nach Emissions-Standard Tier 0-4.
Nach erfolgreichen Tests eines ersten Prototyps einer Tier-4-Rangierlokomotive bestellte die UP Anfang 2018 als erste Class-1-Eisenbahngesellschaft zehn vom Typ EMD24B bei Progress Rail Locomotive. Dabei handelte es sich um umgebaute EMD GP38 aus den 1960er Jahren, die mit neuen Motoren ausgestattet wurden und mittels selektiver katalytischer Reduktion den Emissions-Standard auch bei Rangierlokomotiven einhalten. Sie sind für den Einsatz in der Region um Sacramento einschließlich des Davis Yard vorgesehen, wo auch alle Wartungen ausgeführt werden.
Siehe auch
Liste von Rangierbahnhöfen in Nordamerika
Literatur
Ron Hand, Pingkuan Di, Anthony Servin, Larry Hunsaker, Carolyn Suer: Roseville Rail Yard Study. California Air Resources Board, State of California, 2004.
Robert G. Ireson, M. Jon Germer, Lanny A. Schmid: Development of Detailed Railyard Emissions to Capture Activity, Technology, and Operational Changes. In: 14th Annual International Emission Inventory Conference. Las Vegas, Nevada, 2005.
Michael Rhodes: North American Railyards. Voyageur Press, 2014, ISBN 978-0-7603-4609-9 (Davis Yard: S. 64–68).
Weblinks
J.R. Davis Yard, Roseville, California. Union Pacific Railroad.
Roseville Rail Yard Study. California Air Resources Board.
Roseville Railyards Explosion April 28-29, 1973. Filmdokumentation des Eisenbahnunfalls, Center for Sacramento History.
Full Steam Ahead: Union Pacific’s J.R. Davis rail yard. Filmdokumentation des Bahnbetriebswerks, Comstock Publishing.
Aerial View of the UPRR J.R. Davis Yard. Filmdokumentation des Rangierbahnhofs, Encore Images.
Einzelnachweise
Rangierbahnhof
Bauwerk im Placer County
Roseville (Kalifornien)
Bahnhof in Nordamerika
Bahnhof in Kalifornien
Union Pacific Railroad
Southern Pacific Transportation |
11411030 | https://de.wikipedia.org/wiki/Grande%20Sert%C3%A3o%20%28Roman%29 | Grande Sertão (Roman) | Grande Sertão: veredas („Der große Sertão: Pfade“) ist ein 1956 erschienenes Prosawerk des brasilianischen Schriftstellers João Guimarães Rosa. Curt Meyer-Clason übersetzte es ins Deutsche. 1964 erschien das Werk unter dem Titel Grande Sertão. Roman bei Kiepenheuer & Witsch in Köln. Der im Deutschen häufig, aber nicht von Rosa selbst als Roman bezeichnete Text gibt das wieder, was Riobaldo, ein alter Gutsbesitzer und ehemaliger Chef einer Söldnerbande, einem Zuhörer erzählt, der sich nie zu Wort meldet und anonym bleibt. Grande Sertão: veredas gehört zu Rosas Hauptwerk und gilt als eines der bedeutendsten Werke der lusophonen Literatur. Viele zählen das Werk zur Weltliteratur.
Ursprünglich konzipierte Rosa den Roman als eine der Novellen im Buch Corpo de Baile, das ebenfalls 1956 erschien. Der Text wuchs jedoch stark an und gewann an Eigenständigkeit. Der Roman spielt im brasilianischen Hinterland, dem namengebenden Sertão, um die Jahrhundertwende des 19. zum 20. Jahrhundert. Zu der von Machismo geprägten Männerwelt steht die homoerotische Beziehung des Erzählers Riobaldo mit seinem engsten Freund Diadorim in einem unüberwindlichen Widerspruch. Die Söldnerbande mit den beiden erwähnten Hauptfiguren ist beinahe ständig unterwegs. Ihr Weg führt kreuz und quer, vorwärts und rückwärts durch den Sertão. Diese ziel- und endlose Bewegung wirkt als labyrinthische Situation beklemmend. Die leitmotivisch wiederkehrende Frage nach dem Teufel und danach, ob ein Teufelspakt stattgefunden habe und er sich erfülle, eröffnet intertextuelle Bezüge zum Fauststoff. Mit der Frage nach der Existenz des Teufels und dem Kampf gegen Hermogenes, den Erzfeind von Riobaldo und Diadorim, stellt Guimarães Rosa Gut und Böse dar, deren Verhältnis zueinander sich aber schwer als Entweder-oder verstehen lässt. Insgesamt stellt Guimarães Rosa das Bild einer Gesellschaft dar, in der das Verbrechen integraler Bestandteil des politischen und sozialen Systems ist.
Inhalt
Rosas Roman handelt von den beiden Protagonisten Riobaldo und Reinaldo, beide Söldner einer gesetzlosen Bande im Dienst rivalisierender Großgrundbesitzer und Politiker im brasilianischen Sertão, dem als rückständig geltenden Hinterland der Bundesstaaten Minas Gerais, Goiás und Bahia. Der alte Riobaldo, Besitzer eines Landguts am Rande des Sertão, gibt einem anonymen Besucher aus der Stadt eine Einführung in die Welt des Sertão, die weit entfernt von staatlichen Dienstleistungen wie Schulen, Spitälern und staatlicher Kontrolle war und deren nur rudimentär gebildete Bevölkerung dem Schalten und Walten von Großgrundbesitzern ausgesetzt war. Anschließend erzählt er ihm von seiner Kindheit als Sohn eines Gutsherrn in Minas Gerais. Prägend für ihn war eine Begegnung mit einem etwa gleichaltrigen Jungen. Zusammen überquerten sie in einem Einbaum den Rio São Francisco. Dabei befiel Riobaldo schreckliche Angst, weil er nicht schwimmen konnte. Gleichzeitig bewies der fremde Junge Mut, Gelassenheit und Sicherheit, was Riobaldo faszinierte. Als sie sich trennten, wusste Riobaldo nicht einmal den Namen des sympathischen Jungen. Nach der Schilderung der Jugendjahre auf der Fazanda seines Vaters, der Schule in Corinto und der anschließenden Arbeit als Lehrer und Sekretär bei Zé Bebelo beschreibt Riobaldo seine zweite Begegnung mit dem ehemaligen Jungen, mit dem er im Einbaum den Fluss überquert hatte. Inzwischen war der Junge ein junger Mann, der sich als der Jagunço (Söldner) Reinaldo vorstellte. Bewegt von der Wiederbegegnung folgte ihm Riobaldo in die Söldnertruppe von Joca Ramiro. Anschließend schildert der Erzähler seine Zuneigung zu Reinaldo, die gegenseitig war. Dieser gab ihm seinen geheim gehaltenen Namen Diadorim preis, der ein intimes Geheimnis der beiden bleiben sollte. Die Liebe der beiden Freunde war angesichts der machistischen Gesellschaft des Sertão ein Tabu. Deshalb erklärte sich Riobaldo nicht offen zu dieser Liebe. Parallel dazu stellt Riobaldo seine aufkeimende Liebe für Otacília, Einzelkind eines Gutsherrn, dar, der er versprach, sie nach seiner Rückkehr zu heiraten. Zu diesen zwei von Liebe, Sympathie, Treue, aber auch von Eifersucht geprägten Beziehungen stellt der Erzähler eine gegenteilige dar. Er berichtet von Joca Ramiros Tod. Dieser wurde von seinen eigenen Hauptleuten Hermógenes und Ricardão verraten und hinterrücks erschossen. Dieser Mord am allseits hochgeachteten Joca Ramiro löste tiefe Trauer aus und nährte Hass und Wut. Damit begann der Rachefeldzug gegen die beiden Verräter, dem sich Riobaldo und Diadorim nun verschrieben.
Im Folgenden berichtet Riobaldo über den zweiten Teil seines Lebens als Jagunço. Er übernahm die Führung der Söldnertruppe und wurde als Urutú-Branco, Weiße Klapperschlange, geachtet und gefürchtet. Bei den Veredas Mortas entschloss er sich für einen Pakt mit dem Teufel, der aber nicht in Erscheinung trat. In Paredão fand die entscheidende letzte Schlacht gegen Hermógenes statt. Dabei kam es zu einem Duell zwischen Hermógenes und Diadorim, die beide den Tod fanden. Riobaldo erzählt weiter, dass er die Gutsbetriebe seines Patenonkels Selorico Mendes, der eigentlich sein Vater war, erbte und als gemachter Mann erschien. Durch seine Heirat mit Otacília wurde er zum anerkannten Großgrundbesitzer, der von seinen Jagunços beschützt wird. Immer wieder steigen Erinnerungen an entscheidende Orte und Momente seines Lebens auf, wie etwa an die Veredas Mortas, an den Pakt mit dem Teufel und die Frage nach einem Verrat an Diadorim, nach der Schuld an dessen Tod und danach, wie es möglich war, bis zum Tod seines besten Freundes Diadorim nicht erkannt zu haben, dass dieser eine Frau war.
Erzählform
Mit diesen Worten beginnt Riobaldo seinem Zuhörer, der sich nie zu Wort meldet und bis am Schluss anonym bleibt, von seinem Leben und dem Sertão zu erzählen. Es handelt sich bei dieser Erzählung nicht um einen Roman im herkömmlichen Sinn, sondern um einen über 500 Seiten langen Monolog. Trotz dieser Sonderform spricht die Sekundärliteratur in Anlehnung an die deutsche Übersetzung, welche die Erzählung gleich im Titel als Roman etikettiert, meist von einem Roman.
Fokalisierung
Der Erzähler namens Riobaldo wendet sich an einen fiktiven Zuhörer, der anonym bleibt. Er wird vage als Gebildeter, als geduldiger Zuhörer angesprochen, der sich für Tiere und Pflanzen des Sertão interessiert und einige Tage scheinbar zufällig zu Gast bei Riobaldo weilt. Sein Besuch ist Anlass für die Erzählung.
Der Ich-Erzähler schildert seinem Zuhörer während dreier Tage seine Erlebnisse aus der Zeit, als er einer Gruppe von Jagunços (auch Cangaceiros genannt) angehörte. Das waren in Brasilien mittellose Banditen, Mitglieder gesetzloser Räuberbanden im Dienste rivalisierender Politiker oder Großgrundbesitzer, die sich untereinander bekriegten oder auch gegen Regierungstruppen kämpften. Riobaldo funktioniert als Erzählinstanz und spielt in der erzählten Geschichte die Rolle der Hauptfigur, was für Ich-Erzählungen typisch ist. Der Erzähler Riobaldo, der im Rückblick auf sein Leben und die erzählte Geschichte mehr weiß als die Figuren, hält sich in Bezug auf das Wissen, das er erzählt, an das, was Riobaldo als Jagunço zur erzählten Zeit wusste. Es handelt sich nach Gérard Genette um die Fokalisierung auf eine Figur. Deutlich erkennbar wird diese Fokalisierung daran, dass der alte Riobaldo natürlich von Anfang der Erzählung an den Namen und das Geschlecht seines bestens Freundes kennt. Dieser wird aber im Sinne der Fokalisierung zuerst ohne Namen und als Knabe in die Geschichte eingeführt, schließlich mit dem Vornamen Reinaldo vorgestellt, etwas später mit dem intimen Geheimnamen Diadorim und erst nach dessen Tod gegen Ende der Erzählung mit dem vollständigen Namen und dem wahren Geschlecht: Diadorim war kein Mann, sondern eine Frau namens Maria Deodorina da Fé Bettancourt Martins. Die Erzählinstanz vermittelt im Ablauf ihrer Rede stets gerade so viel Wissen, wie die Figur des Jagunço Riobaldo zur erzählten Zeit wusste.
Modus
Wie nah oder wie distanziert steht der Erzähler den Figuren? Dies reguliert der Erzähler, indem er seinen Figuren direkte Rede zugesteht oder das, was sie denken und sagen, dem Leser nur indirekt vermittelt. Letzteres nennt Genette den narrativen Modus und Ersteres den dramatischen. Riobaldo lässt seine Figuren oft selbst sprechen, es gibt oft direkte Figurenrede. Das betrifft aber meist kurze Passagen. Weit häufiger tritt Riobaldo als Erzähler stark in Erscheinung. Er stellt zudem sein Verhalten als Jagunço in Frage und sinniert über seine Schuld, was eine kritische Distanz zu sich als Jagunço und den Figuren voraussetzt. Der dominierende Erzählmodus ist der narrative. So gesehen lässt sich der Erzählmodus beschreiben als eine Mischung aus Bewusstseinsstrom und Innerem Monolog.
Auffallend ist, dass der anonyme Zuhörer, der gar nicht so schweigsam ist, wie man Riobaldos Bemerkungen entnehmen kann, nie mit direkter Figurenrede dargestellt wird. Der Erzähler richtet Fragen an den anonymen Zuhörer, fordert ihn zur Teilnahme am Dialog auf: «Einverstanden? Sagen Sie es frei heraus, ich bitte Sie darum. Sie tun mir damit einen Gefallen.» Trotz solcher Aufforderungen zur Teilnahme am Gespräch, kommt der Zuhörer nie in direkter Rede zu Wort. Der Erzähler nimmt auch Fragen des Zuhörers vorweg: «Was - so werden Sie mich fragen - war das also?» Und: «Vupes war Ausländer, ein Deutscher […] Sie haben ihn gekannt? Die Welt ist doch ein Dorf! Wie sprechen Sie seinen Namen aus? Wusp? Ganz recht. Seu Emílio Wuspes... Wúpsis... Vuspes.» Die Passagen machen deutlich, dass Riobaldos Erzählung kein Monolog im herkömmlichen Sinn ist. Darauf hatte schon Roberto Schwarz 1960 hingewiesen. Er hielt Riobaldos Monolog für die eine Hälfte eines Dialogs. Odilo Kreutz spricht von einem Dialog-Monolog.
Dadurch, dass diese Kommentare und Fragen jedoch nicht explizit dem fiktiven Zuhörer in den Mund und als direkte Rede wiedergeben werden, wird dem Leser eine sehr intime und intensive Auseinandersetzung mit den ethischen Problemen des Erzählers ermöglicht und gleichzeitig die Illusion verstärkt, an die Stelle des Zuhörers zu treten, und damit eine Identifikationsfigur geboten. Die Form eines Monologs wird durch die Reaktionen Riobaldos auf die Kommentare des fiktiven Zuhörers durchbrochen. Was der Leser dargestellt bekommt, ist, wie bereits erwähnt, sozusagen die eine Hälfte eines Dialogs.
Die erzählte Zeit
Laut Willi Bolle erzählt Riobaldo seine Geschichte gegen Ende der 1920er Jahre. Die erzählten Ereignisse trugen sich etwa drei Jahrzehnte früher um die Jahrhundertwende zu. Der Bau der Eisenbahnlinie von Sete Lagoas nach Curvelas war damals noch in Planung. Die Transportmittel waren Pferde und Maultiere. Im Sertão gab es weitflächige Fazendas, die Viehzucht betrieben und deren Besitzer Jagunços zur Verfügung hatten. Deshalb galt diese Region als rückständig, unterentwickelt und gefährlich. Berthold Zilly rückt die erzählte Zeit näher an die Entstehungszeit des Werks. Zu dieser Einordnung gelangt er aus zwei Gründen: Erstens weil die Erlebnisse des Zweiten Weltkriegs den Schriftsteller, der während des Zweiten Weltkriegs als Diplomat in Hamburg gelebt hatte, dazu angeregt haben mögen, den Sertão in einem permanenten Kriegszustand darzustellen, als eine Art Kriegsroman, in dem Krieg und Kriminalität eng miteinander verknüpft sind. Und zweitens die Epoche der beschleunigten Modernisierung Brasiliens, als die neue Hauptstadt Brasília unter dem Präsidenten Getúlio Vargas und der Leitung des Stadtplaners Lúcio Costa und des Architekten Oscar Niemeyer im Sertão entworfen und zwischen den Jagunço-Banden und den sie anführenden Grundherren gekämpft wurde und einige von ihnen und die Regierung unzureichend versuchten, Ordnung und Fortschritt zu erzwingen. Das spiegele sich in Rosas Roman.
Sieben Kompositionseinheiten
Martin Münchschwander schlägt für Riobaldos Erzählfluss sechs Primärphasen und mehrere Sekundärphasen vor. Dies ist insofern hilfreich, da sich Riobaldos Erzählfluss über mehr als 500 Seiten erstreckt und Rosa keine Gliederung in Kapitel vorsah. Die Einteilung in Kapitel würde die Illusion eines spontanen Monologs bzw. Dialogs stören. Aufgrund der zeitlichen Struktur, insbesondere aufgrund der fiktiven Reaktionen des Zuhörers, die einen zeitlichen Sprung aus der erzählten Vergangenheit in die erzählte Gegenwart mit sich bringen, teilt Münchschwander den Roman in sechs Primärphasen, wobei sich die einzelnen Phasen nicht streng chronologisch fortbewegen. Da Riobaldo erzählt, um sich seines Menschseins zu vergewissern, ist dieser Prozess nicht planbar, verläuft also oft assoziativ. Durch Assoziationen ausgelöste Vorausdeutungen und Rückwendungen erzeugen auch innerhalb einer Phase Sprünge, die nur deshalb keine Brüche hervorrufen, weil sich ihr Reihungsprinzip auf Assoziationen zum gerade Erzählten gründen.
Willi Bolle, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität São Paulo, nimmt Münchschwanders Vorschlag auf und beschreibt sieben Kompositions-Einheiten. In vier davon steht die Erzählsituation im Vordergrund, bei den übrigen drei handelt es sich um den Inhalt der erzählten Geschichte. Demnach lässt sich die Komposition wie folgt gliedern. Die angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf dieselbe deutsche Ausgabe, die in diesem Artikel auch den übrigen Zitaten aus Grande Sertão zugrunde liegt.
Die Einleitung (Proömium) stellt dem Leser die Erzählsituation und den Ort des Erzählens vor. Der Fazendeiro (Besitzer eines landwirtschaftlichen Betriebs in Brasilien) und ehemalige Jagunço Riobaldo gibt seinem Besucher, einem gebildeten Städter, eine Einführung in die Welt des Sertão. Zu diesem Zweck erzählt er ihm verschiedene Geschichten aus dieser Region. Die Fazenda liegt am linken Ufer des Rio São Francisco, in der Kontaktzone zwischen dem Sertão und der Zivilisation, die von den Kleinstädten Sete Lagoas, Curvelo, Corinto und Andrequicé repräsentiert wird. (S. 11–32)
Ausschnitt aus dem Jagunçoleben: Riobaldo beginnt seine Erzählung seines Lebens als Jagunço, und zwar mitten hinein. Es ist eine Durchquerung des Sertão in alle Himmelsrichtungen. Die zentralen Handlungsorte befinden sich in der Region des Urucúia-Flusses. Dieses Gebiet ist bis heute eines der ärmsten von Minas Gerais. (S. 32–94)
Erster Unterbruch der Erzählung: Riobaldo spricht von der Schwierigkeit des Erzählens und setzt zu einem Neubeginn an, indem er sein Leben nun in chronologischer Folge schildert. (S. 94–96)
Erster Teil der Lebensgeschichte von Riobaldo: Ein prägendes Erlebnis war in frühen Jahren die Begegnung mit dem Jungen (Diadorim), mit dem er den Rio São Francisco in einem Einbaum überquert hatte. Nach den Jugendjahren auf der Fazanda seines Vaters, der Schule in Corinto und der anschließenden Arbeit als Lehrer und Sekretär bei Zé Bebelo begegnet er wieder dem Jungen, der sich als der Jagunço Reinaldo vorstellt. Bewegt von der Wiederbegegnung folgt ihm Riobaldo in die Bande von Joca Ramiro. Zusammen durchqueren sie den wilden Norden auf der östlichen Seite des Rio São Francisco. Infolge der Ermordung des Jagunçoführers Joca Ramiro durch die Verräter Hermógenes und Ricardão bricht ein Krieg zwischen den Banden aus, der erst am Schluss des Romans zu Ende geht. (S. 96–287)
Zweiter Unterbruch der Erzählung und Neuansatz: Riobaldo berichtet seinem Zuhörer nun von seinen „Fehlern“ und von seiner „Schuld“. Dabei nimmt er auch Bezug auf den Rio São Francisco, der sein Leben „in zwei Teile geteilt hat.“ (S. 287–290)
Zweiter Teil der Lebensgeschichte von Riobaldo: Riobaldo knüpft mit seiner Fortsetzung der Erzählung dort an, wo er sie im anfänglichen Teil unterbrochen hatte. Nun berichtet er über den zweiten Teil seines Lebens als Jagunço. Bei den Veredas Mortas beschließt Riobaldo, einen Pakt mit dem Teufel einzugehen. Er übernimmt das Kommando der Bande und praktiziert das Jagunço-System. In Paredão findet die entscheidende letzte Schlacht statt. Dabei kommt es zu einem Duell zwischen Hermógenes und Diadorim, die beide den Tod finden. (S. 290–544)
Epilog: Riobaldo erscheint als gemachter Mann, als Großgrundbesitzer, der von seinen Jagunços beschützt wird. Immer wieder steigen Erinnerungen an entscheidende Orte und Momente seines Lebens auf, wie etwa an die Veredas Mortas, an Diadorim oder an den Pakt mit dem Teufel. (S. 544–550)
Räumliche Darstellung
Die erzählte Geschichte spielt sich im Norden des Bundesstaates Minas Gerais und den angrenzenden Regionen der Bundesstaaten Bahia und Goiás ab, jenseits der Kleinstädte Curvelo und Corinto, hinter denen bereits der Sertão beginnt. Der Rio São Francisco bildet mit seinen Nebenflüssen in dieser Region die geographische Hauptachse. Viele der im Roman erwähnten Örtlichkeiten existieren tatsächlich, viele andere Ortsangaben sind Erfindungen des Autors. Die wichtigsten im Roman erwähnten Ortsnamen, die der geografischen Wirklichkeit entsprechen, sind nebst dem Rio São Francisco die Flüsse des Urucúia und Carinhana, der Ort Paredão und der Liso do Sussuarão. Andere erwähnte Örtlichkeiten sind hingegen erfunden, wie etwa die Fazenda von Riobaldo oder die Veredas Mortas, wo der Pakt mit dem Teufel lokalisiert ist; wieder andere sind das Ergebnis einer Montage von Fragmenten der Realität mit Elementen literarischer Erfindung wie etwa die Sussuarão-Wüste.
Der Ort der erzählten Ereignisse ist daher nur teilweise mit der realen geografischen Wirklichkeit identifizierbar. Im Verlauf des Romans legt die Hauptfigur Riobaldo einen sehr weiten Weg zurück. Dieser Weg ist keineswegs geradlinig; er führt in alle Himmelsrichtungen durch den Sertão und zurück. Riobaldo bzw. seine Bande hat auf diesem Weg auch ganz verschiedene Reiseziele: mal sind sie einer verfeindeten Bande auf der Spur, mal sind sie auf der Flucht, mal suchen sie einen Platz, an dem sie sich ausruhen und wieder mit Wasser und nötigen Nahrungsmitteln, Munition usw. versorgen können.
Der Literaturwissenschaftler Willi Bolle, der den im Roman zurückgelegten Weg und die benannten Örtlichkeiten im Ablauf der Lektüre auf einer größtenteils geografisch realen, teils fiktiven Karte nachgezeichnet hat, kommt zum Schluss, dass Guimarães Rosa mit dem Weg, der kreuz und quer durch den Sertão führt, eine labyrinthische Situation darstellt.
Münchschwander macht an mehreren Textbeispielen plausibel, dass der Begriff „Sertão“ in diesem Roman die Bedeutung „Welt“ einschließt. Sertão ist dort, wo das Recht des Stärkeren herrscht. Der Sertão ist Symbol für eine ungerechte Welt.
Bolle sieht in Riobaldos Monolog, dem sozusagen die zweite Hälfte eines Dialogs fehlt, eine diabolische Situation. Es ist die Situation eines fehlenden Dialogs zwischen der Klasse der Gebildeten und dem einfachen Volk. Diese Situation versuche der Roman mit einer neuen Sprache, mit seinen Erzählformen zu überwinden.
Figuren
Riobaldo
Riobaldo, der Ich-Erzähler, ist Besitzer einer Fazenda und glücklich verheiratet mit Otacília, der einzigen Tochter eines Fazendabesitzers. Er kann die Früchte seines Lebens genießen, als er seinem Gast von seinem ehemaligen Jagunço-Leben erzählt. Einen ersten Kontakt mit der Welt der Jagunços hatte Riobaldo durch die Geschichten, die sein Vater, Selorico Mendes, auf der Fazenda São Gregório erzählte. Als plötzlich eine Bande unter der Führung von Joca Ramiro auftaucht und um Übernachtung auf der Fazenda ersucht, erinnert sich Riobaldo an die Geschichten seines Vaters von den Jagunços. Wenige Tage später flieht der junge Riobaldo aus dem Haus seines Vaters in das Städtchen Corintos, wo er die Schule besucht und sich als ein außergewöhnlich begabter Schüler auszeichnet. Von seiner aussichtsreichen Karriere als Lehrer in einer öffentlichen Schule lässt er sich durch Zé Bebelo ablenken, den Besitzer der Fazenda Nhanva, der ein hohes politisches Amt anstrebt. Sein Wahlversprechen lautet: „Abschaffung des Jagunçotums“. Riobaldo wird dessen Sekretär. Mit einer Truppe von Soldaten, die Zé Bebelo engagiert hat, muss Riobaldo nach Norden reiten und erlebt die brutalen Kämpfe mit anderen Banden.
Es gibt zwei Punkte, an die sich Riobaldo klammert. Einer davon ist Diadorim, auch Jagunço, zu dem Riobaldo eine spezielle Beziehung aufbaut, die geprägt ist von Vertrauen und Emotionen. Der zweite Punkt betrifft den Pakt mit dem Teufel. Damit ergibt sich ein intertextuelles Verhältnis zum literarischen Stoff des Doktor Faust. Der Zweifel, ob der Teufelspakt sich erfülle (denn Luzifer lässt sich nicht blicken) beunruhigt den Erzähler und treibt ihn zu tiefschürfenden Fragen bezüglich der Existenz des Teufels und – konsequenterweise – Gottes. Der Literaturwissenschaftler Kutzenberger kommt in seiner ausführlichen Analyse zu dem Ergebnis, dass der Roman auf einem abendländisch-christlichen Fundament ruht. Er zeigt dies an der Allgegenwart des Teufels, der in Riobaldos Erzählung viele Namen hat, doch nie als Figur auftritt. Dafür steht Hemógenes, der in der Erzählung seine Auftritte hat und das Böse verkörpert, was einer christlichen Tradition entspricht.
Diadorim ist der geheime Name von Reinaldo. Außer Riobaldo, dem besten Freund, erfährt diesen Geheimnamen niemand. Zum ersten Mal begegnen sich die beiden, als Reinaldo noch als Jugendlicher in einem Kanu zusammen mit Riobaldo den Rio São Francisco überquert. Bei der Wiederbegegnung viele Monate später ist Riobaldo von Reinaldo so bewegt, dass er ihm in die Bande von Joca Ramiro folgt. Da die Liebe zwischen zwei Männern in der machistischen Gesellschaft des Sertão ein Tabu war, erklärte sich Riobaldo nicht offen zu dieser Liebe. Als er dann Otacília, die Tochter eines Fazendeiros, kennen lernt, erwählt er sie zu seiner Frau. Dabei ist er sich der Möglichkeit seines gesellschaftlichen Aufstiegs bewusst. Im Verlauf der Geschichte identifiziert sich Diadorim immer mehr mit dem einfachen Volk, während sich Riobaldo immer mehr davon entfernt und sich wie ein Herrscher und Besitzer verhält.
Mancher Kommentator sieht in Riobaldos Begierde nach Diadorim die Entdeckung seiner Homosexualität. Demgegenüber betont Pedro Dolabela Chagas, dass Riobaldo nicht sein Interesse an Männern generell entdecke, sondern nur an einem einzigen: Diadorim. Und der ist biologisch gesehen eine Frau. Gerade durch ihre femininen Züge erscheint sie Riobaldo attraktiv: ihre sanfte Haut, der zarte Geruch, ihre Eleganz – die Art und Weise, wie sie die Wäsche wäscht. Die Eigenschaften von Männlichkeit und Weiblichkeit seien im Roman an sich sehr konventionell angelegt. Diadorims Erscheinung und die Verhaltensweise wirken weiblich, männlich ist aber sein Mut. Destabilisierend wirkt der Gebrauch der Eigenschaften. Der Mann kann weiblich sein, wenn er Angst hat, die Frau kann männlich sein, wenn sie Mut zeigt. Diese Zuordnung von Eigenschaften zeigt sich ausschließlich bei Diadorim und Riobaldo. Guimarães Rosa übermittelt das psychologische Drama eines Mannes, für den Homosexualität tabu ist, der jedoch allmählich sein sexuelles Interesse für einen Mann erkennt und es sich eventuell eingesteht. Damit bewies der Autor 1956 großen Wagemut. Doch das implizite Risiko wird durch die Enthüllung der wahren Identität Diadorims abgeschwächt. Das polemische Thema werde eingeführt, aber zum Schluss zurückgezogen. Trotzdem pulsiere es weiterhin. Seine Liebschaften bezüglich Diadorim, Nhorinhá und Otacília bewegen sich zwischen Leidenschaft, Erotik und Pflicht. Die Erotik an sich verspricht keine Dauerhaftigkeit. Am Ende wählt Riobaldo die Sicherheit und Beständigkeit der Ehe. Otacília ist Penelope: Zu ihr kehrt er nach geschlagener Schlacht heim. Sein Liebesleben zeigt keine Selbstfindung. Riobaldo ist pragmatisch, realistisch, egoistisch und ziemlich traditionalistisch. Die konventionellen Alternativen werden nicht destabilisiert.
Diadorim
Der Leser erfährt den Namen des Jungen, mit dem Riobaldo als Kind den Rio São Francisco überquert und der ihn so stark fasziniert hatte, erst bei der zweiten Begegnung, als sich der ehemalige Junge als Reinaldo vorstellt. Und erst nachdem die beiden ein enges Verhältnis miteinander aufgebaut haben, eröffnet Reinaldo seinem Freund, dass sein wahrer und geheimer Name Diadorim und sein Vater Joca Ramiro sei. Die wahre Identität enthüllt sich Riobaldo und dem Leser erst nach Diadorims Tod gegen Ende des Romans: Diadorim ist eine Amazone. Sie heißt laut Taufschein Maria Deodorina da Fé Bettancourt Marins.
Kutzenberger referiert einige Interpreten, die in Diadorim das verkörperte Reine sehen. Frankl Sperber meine beispielsweise, dass Diadorim an die Jungfrau Maria erinnere. Aber auch Meyer-Clason sehe Diadorim als unschuldige und überirdische Figur, denn am Vorabend der alles entscheidenden Schlacht gegen Hermógenes übersetzt er Riobaldos Ausruf «Meu bem» mit «Mein Engel». Wer in Diadorim die personifizierte Unschuld sehe, könne der Lehre von Christi Sühneopfer folgend seinen Tod als Erlösung der sündigen Seele Reinaldos verstehen.
Kutzenberger weist des Weiteren darauf hin, dass Diadorim zuerst namenlos als «menino» auftritt, was nicht nur Junge bedeutet, sondern auch eine euphemistische Bezeichnung für Teufel ist. Und Riobaldo fragt sich angesichts des außerordentlichen Mutes, den der «menino» bei der ersten Begegnung an den Tag legte: «War er von Gott, vom Teufel?» Außerdem erklärt Kutzenberger, dass Diadorims Name diabolische Anklänge enthält. «Dia» ist nicht nur die erste Silbe von «diabo», sondern für den Autor auch alleinstehend ein Synonym für den Teufel: «[Q]uem sabe, a gente criatura ainda é tão ruim, tão, que Deus só pode às vezes manobrar com os homens é mandando por intermédio do diá?» («[W]er weiß, ob das Menschengeschlecht immer noch so erzschlecht ist, daß Gott mit den Menschen bisweilen nur über den Urfeind [diá] zurechtkommt?») Riobaldo nennt aber nicht nur den Teufel diá, sondern wendet sich mit der gleichen Silbe einmal auch an Diadorim: «- … Mas, porém, quando isto tudo findar, Diá, Di, então, quando eu casar, tu deve de vir viver em companhia com a gente, […]» («Na schön, wenn aber alles vorbei ist, Diá, Di, wenn ich heirate, mußt du bei uns wohnen auf einer Fazenda, am schönen Ufer des Urucúia...») Selbstverständlich steht die Silbe «dia» auch für das portugiesische Wort «dia», was Tag bedeutet. Diadorim führt also sowohl den Teufel als auch den klaren Tag in seinem Namen. Diese Ambivalenz zeigt sich auch in dem, was Diadorim für Riobaldo bedeutet: Er ist dessen Wegweiser durchs Leben, er zeigt ihm die Schönheit der Natur und ist Vorbild an Tapferkeit und Treue, er ist rein wie ein klarer Tag. Aber durch die von ihm ausgelöste homoerotische Neigung ruft er auch ein teuflisches Verlangen hervor. In diesem Sinn ist Diadorim weder Teufel noch Tag, sondern der klassische Daimon der griechischen Antike, ein Wesen, das sowohl Gutes als auch Böses bringen kann.
Hermógenes
Rosa gab dem Gegenspieler von Riobaldo und Diadorim den Namen Hermógenes. Dieser Name war aufgrund der seit dem Mittelalter weit verbreiteten Legenda aurea, einer Sammlung von Heiligen- und Märtyrerlegenden, bekannt. Demnach wollte Hermogenes den predigenden Apostel Jakobus d. Ä. vor dem Volk diskreditieren. In der christlichen Kunst wird Hermogenes oft als Zauberer, der Dämonen gegen Jakobus schickt, oder selbst als Dämon dargestellt, der Jakobus zum Bösen verleiten will (vgl. nebenstehende Bilder vom Meister von Lourinhã und von Józef Mehoffer).
Rosa verwendet Hermógenes als Synonym für den Teufel: «Hermógenes – Teufel, der wars. Er war der Teufel in Person.»
Der Pakt mit dem Teufel
Bolle fragt, welches Riobaldos Motive für den Pakt mit dem Teufel sind. Erstens ist es der Plan, den Erzfeind Hermógenes, der den Ruf eines Teufelspaktierers hat, mit derselben Waffe zu besiegen. Ein weiteres Motiv ist sein Wille, der bedrohlichen Situation zu entkommen, die durch die Begegnung mit dem Großgrundbesitzer Seô Habão entsteht. Während der vorausgegangenen Durchreise an Ortschaften tiefsten Elends, Pubo und Sucruiú, neben denen sich die Güter von Seô Habão befinden, wird sich Riobaldo in der Begegnung mit diesem Fazendeiro seiner wahren gesellschaftlichen Stellung bewusst: «Ich erkannte, dass ein Gutsbesitzer der endgültige Herr des Landes ist, während ein Jagunço nur provisorisch dahinlebt.» Noch am Abend des gleichen Tages macht er sich auf den Weg zu den Veredas Mortas, wo er den Pakt mit dem Teufel schließen will. Ein dritter Beweggrund für Riobaldos Pakt mit dem Teufel besteht darin, dass es ihm als Paktierer mit dem Teufel gelingt, zum Chef der Bande aufzusteigen und die Jagunços zu seinem eigenen Nutzen zu verwenden. So lässt er als erstes die Männer der äußerst ärmlichen Orte Pubo und Sucruiú zu sich kommen. Seinen gewaltsamen Zwang kommentiert der neue Chef auf pseudo-moralistische Art: «War das etwa boshaft von mir?» Darauf antwortet er selbst scheinheilig: «Keineswegs – ich wollte sie alle nur aus ihrem Elend befreien.» Die demagogische Versprechung, die Riobaldo den neu rekrutierten Männern macht, veranschaulicht, wie die Rhetorik des Jagunçotums funktioniert. «Wir werden hinausziehen in die Welt und denen, die etwas haben, ihr Geld und ihre Wertsachen wegnehmen. Und wir werden erst dann ruhen, wenn jeder hat, was er braucht, wenn bei jedem von euch im Bett oder in der Hängematte zwei oder drei stramme Weiber liegen!»
Die Schuld
Riobaldo thematisiert auch seine Schuld. «Mein Verhängnis […] aber war, daß ich in meinen beiden Händen eine Liebe gegen die andere [Diadorim versus Otacília] wägen mußte. Kann man das? Es kamen Stunden, in denen ich mir sagte: wenn die eine Liebe von Gott kommt, woher kommt dann die andere? […] Ich weiß, daß ich offensichtlich zu verdammen, daß ich schuldig bin. Aber wann begann die Schuld? Vorläufig werden Sie mich kaum verstehen. Sofern Sie mich am Schluß verstehen werden. Aber das Leben ist nicht zu verstehen.» Die Antwort auf die Schuldfrage ist dem Leser anheimgestellt. In Bezug auf Diadorim hatte Riobaldo wegen des gesellschaftlichen Tabus nicht den Mut, sich zu dieser Liebe offen zu bekennen. Er entschied sich für Otacília und erwählte sie zu seiner Braut. Die Heirat mit ihr war sehr vorteilhaft für den sozialen Aufstieg Riobaldos und die Erweiterung seiner Besitztümer. Den Teufelspaktierer Hermógenes hat nicht Riobaldo, dem die Aufgabe angestanden hätte, zum Duell Mann gegen Mann herausgefordert, sondern er überließ Diadorim diese Aufgabe, der dabei ums Leben kam. Bezüglich seiner Jagunço-Gefährten lässt sich feststellen, dass er sie von dem Moment an verraten hat, als er sich gegenüber Seô Habão als Sohn eines Gutsbesitzers und Obersten vorstellte. Als Kommandant hat er sie dann zur Mehrung seines Ruhms und seiner Ehre als Menschenmaterial benutzt. Riobaldo ist ein dialektischer Erzähler. Indem er die «Formen des Falschen» darstellt, zeigt er zugleich, wie sie hergestellt werden. So kritisiert und ironisiert er beispielsweise die «Phrasendrescherei » des opportunistischen Zé Bebelo. Als Riobaldo dann aber selber das Kommando übernimmt, benutzt er genau dieselbe Art von demagogischen Sprüchen.
Intertextuelle Bezüge
Faust
Was Riobaldo und die Figur Faust bei Johann Wolfgang von Goethe (Faust. Eine Tragödie und Faust. Der Tragödie zweiter Teil) gemeinsam haben, ist der Pakt mit dem Teufel. Diesen Aspekt untersucht Fani Schiffer Durães. Sie vergleicht Rosas Riobaldo und Goethes Faust miteinander. Beide werden vom empirisch-sozialen Gehalt der sie umgebenden Verhältnisse beeinflusst: Faust ist ein Neuerer des 18. Jahrhunderts im Bereich der Religion und der Wissenschaft. Er stellt den Aufklärer dar und verkörpert den Fortschrittsoptimismus seiner Zeit. Der «jagunço» Riobaldo ist in die Gesellschaft des brasilianischen Sertão zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingebettet. Im Gegensatz zu Faust ist Riobaldo kein Rebell. Er will sich und die Welt nicht verändern. Er ist vielmehr der fragende Mensch. Er will die ihn umgebende Welt verstehen.
Obwohl sich Faust und Riobaldo, stark auf ihre Außenwelt einlassen, sind sie beide blind für ihre Realität. Riobaldo thematisiert seine Blindheit so: «Ah, es war eine Wiederholung, wie’s immer in meinem Leben geschieht. Ich gehe durch etwas hindurch – und unterwegs sehe ich nichts, ich habe nur Augen für Aufbruch und Ankunft. Sie wissen, wie so was zugeht: man will einen Fluß durchschwimmen und schwimmt hindurch, landet aber am anderen Ufer viel weiter unten an, als man anfangs dachte. Ist das Leben nicht ein verteufelt gefährliches Geschäft?» Wegen ihrer Unfähigkeit, die Realität wahrzunehmen, verstricken sich beide, Riobaldo und Faust, in eine Schuld, aus der sie sich nicht befreien können. Im Rückblick sehen beide ihr Leben als ein sinnloses Sich-im-Kreise-drehen, bei dem sie das Entscheidende jeweils nicht bemerkt haben. Wenn Riobaldo erzählt, will er das nachholen, was ihm im vorherigen Leben entgangen ist. Erst jetzt weiß er, dass sich das Glücklichsein nicht erst an einem endgültigen Ziel erfüllt, sondern schon auf dem Weg. Aber unterwegs war er stets blind dafür: «Hätte ich gewußt, was ich später erfuhr, nach manchem bösen Schlag … Man tappt immer im Dunkeln, nur im allerletzten Moment gehen die Lichter im Saal an. Ich will damit sagen: das Wirkliche geschieht nicht im Aufbruch, nicht in der Ankunft: es begegnet uns mitten auf der Reise.» Die Widersprüche der faustischen Seele Riobaldos werden nicht gelöst. Sie sind Teil von ihr. Riobaldo sagt: «Was mir immer an die Nieren gegangen ist, will ich Ihnen sagen, Senhor: ich muß unbedingt wißen, daß das Gute gut ist und das Schlechte schlecht, daß das Häßliche weit weg bleibt vom Schönen und Fröhlichkeit von der Trauer! Ich möchte alle Viehweiden deutlich abgegrenzt sehen … Wie soll ich mit dieser Welt zurechtkommen? Das Leben ist im Kern eine undankbare Sache; und trotzdem bringt es uns Hoffnung, mitten in gallenbitterer Verzweiflung. Die Welt ist eben ein wüster Wirrwarr …» In seinem Selbsterkenntnisprozess erscheinen immer neue Qualen, aber auch Hoffnungen. Sie treiben die Erzählung voran. Riobaldo erzählt, um sich seiner Identität bewusst zu werden, bezüglich seiner Schuld eindeutige Klarheit zu erlangen und letztlich den Sinn der menschlichen Existenz zu erfassen, was ihm nie gelingt.
Den beiden Werken gemeinsam ist auch das Motiv der verbotenen Liebe. Die geheim gehaltene Schwangerschaft Gretchens ist zu Goethes Zeit ein Thema. Das Geheimnis von Diadorims Geschlecht dagegen ist Gesprächsstoff im brasilianischen Hinterland. Diadorim ist die «Donzela guerreira», die Kämpferin, die sich als Mann ausgibt. Die Liebe bringt Faust und Riobaldo in Konflikt mit sich selbst. Sie kompromittieren mit ihrer Liebe ihre Welten. Diese weiblichen Figuren versinnbildlichen sowohl den Protest gegen die Vorurteile moralistischer bzw. patriarchalischer Gesellschaften. Sie zeugen aber auch von der Ambivalenz in der menschlichen Liebe. Gretchens Naivität und Diadorims Zärtlichkeit implizieren in hohem Maß auch Komplexität und Widersprüchlichkeit, was sich als teuflische Machenschaft erweist. Nach der Vernichtung der beiden jeweiligen Geliebten müssen die Überlebenden mit Schuldgefühlen weiterleben.
Schiffer Durães stellt auch Parallelen in den drei Erscheinungsformen der Liebe dar, die sich in beiden Werken gegeneinander abheben. Der Eros, die sinnliche, triebhafte Liebe wird von Faust mit der Walpurgisnacht und von Riobaldo im Zusammenhang mit der Prostituierten Nhoriná thematisiert. Die erhabene Liebe erscheint in den Figuren von Helena und Diadorim. Die himmlische Liebe verkörpern Gretchen in Goethes Faust und Otacília in Rosas Roman. Otacília gewinnt im Verlauf der Erzählung eine Aura von Heiligkeit und ist für Riobaldos Seele wie eine tröstliche Heilige. Schon Otacílias Wohnort trägt den Namen einer Heiligen und ist nach Riobaldos Meinung dem Himmel nah. «Die Fazenda Santa Catarina ist dem Himmel nahe – einem tiefblau gepinselten Himmel, darinnen reglose Wolken.» « […] Die Fazenda stand auf einem Hügel, schaute aufs Gebirge, auf den Himmel.» Für Riobaldo verkörpert Otacília den himmlischen Frieden. «Ihre Augen, schöner als alle, die ich kannte, blickten auf zum Himmel mit seinen Wolkenseglern.» «[…] ich wollte nur Otacília, das Wunschbild meiner Liebe. Aber in meinem Drang nach Frieden, nach Freundschaft mit allen, nach einem geordneten, geruhsamen Leben konnte ich nicht umhin, an die Trauung zu denken, an die Kleider, an die Feier, an die reichgedeckte Festtafel, an Sôr Amadeu, Otacílias Vater, der nach alter Väter Sitte seiner Tochter als Angebinde einen Buritípalmenhain schenken würde, eine Gabe für uns beide allein.»
Berlin Alexanderplatz
Daniel Reizinger Bonomo untersucht Parallelen zwischen Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin und Grande Sertão: Veredas. Er fasst beide Werke als Exponenten des modernen Romans auf. Besonderes Augenmerk legt er auf die für beide Protagonisten charakteristischen Bewegungen, sowohl die räumlichen wie die emotionalen und das sich ändernde Umfeld, in dem die beiden Protagonisten Riobaldo und Franz Biberkopf verkehren. Es sind die Übergänge, die sich in den Bewegungen realisieren, welche die Erzählung in beiden Romanen vorwärts treibt. Damit stellt Reizinger Bonomo Grande Sertão: Veredas in die Traditionslinie mit Wilhelm Meisters Lehrjahre von Johann Wolfgang von Goethe und L’Éducation sentimentale von Gustave Flaubert.
Nachdichtung von Os Sertões
Rosas Roman stellt aufgrund inhaltlicher Verwandtschaften oder sprachlicher Analogien zu mehreren anderen literarischen Werken Bezüge her. Einer der ersten, die über den Sertão schrieben, war der brasilianische Schriftsteller und Journalist Euclides da Cunha. 1902 berichtete er in seinem bekanntesten Werk Os Sertões (1994 unter dem Titel Krieg im Sertão auf Deutsch erschienen) über den Kampf der Regierungsarmee gegen die widerständischen Bewohner von Canudos. Unter der Führung des Wanderpredigers Antônio Conselheiro, der die Zivilehe, die Steuergesetze, die Schulpflicht und die allgemeine Volkszählung als Teufelswerk bekämpfte und eine soziale Ordnung in Canudos aufgebaut hatte, die außer dem eigenen Haus kein Privateigentum zuließ. Selbst der Boden, auf dem das Haus stand, das Vieh und die Pflanzungen waren Gemeineigentum. Da Cunhas Werk machte deutlich, dass sich die Aufständischen ein eigenes Gemeinwesen schufen, «weil der Staat, in dem sie lebten, keinen Wert darauf legte, in der Region für geordnete Verhältnisse zu sorgen.» Nur wenige Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei gab es Tausende von ehemaligen Sklaven in prekären Situationen, unzählige verarmte Siedler, Landarbeiter ohne Boden. Auf sie wirkte Antônio Conselheiro wie ein Magnet, wie ein Messias, der die Erlösung brachte. Sie flogen ihm zu und bauten auf der Fazenda Canudos ihr Gemeinwesen Belo Monte auf. Dieses beruhte auf Gemeineigentum. Das blieb nicht ohne Folgen. Den Großgrundbesitzern begann das Reservoir an billigen Arbeitskräften und an leicht manipulierbaren Wählern wegzulaufen. Deshalb schürten sie nach Kräften die Stigmatisierung der Aufständischen als religiös Wahnsinnige, Verrückte, die nichts als frommen Aberglauben im Kopf hätten, als religiöse Fanatiker, als Kommunisten. Nach mehreren Anläufen und monatelanger Belagerung gelang es der Armee im vierten Feldzug, Canudos zu besetzen und zu zerstören. Dabei kam es zu Gräueltaten, welche die Armee barbarischer aussehen ließen als die fanatischen Anhänger von Antônio Conselheiro. «Os Sertões» von da Cunha, der den vierten Feldzug gegen Canudos selbst begleitet hatte, verhalf den Brasilianern dazu, eine bis anhin kaum bekannte Wirklichkeit zu verstehen: Die Aufständischen waren keine Religionsfanatiker, sie fühlten sich vom Staat in Stich gelassen. Da Cunhas Werk lehrte sie, in soziologischen Kategorien zu denken. Zudem erinnerte der Krieg die Brasilianer daran, dass Brasilien keine nationale Einheit habe und weder eine Nation noch eine Gesellschaft sei und die Brasilianer keine Bürger seien, wie Alberto Sales schon 1901 geschrieben hatte.
Bolle vergleicht anhand des Begriffs des Jagunço die Darstellung von Euclides da Cunha in Os Sertões und von Guimarães Rosa in Grande Sertão: veredas und stellt fest, dass die Darstellung von Euclides da Cunha durch einen gravierenden Widerspruch gekennzeichnet sei: Einerseits beabsichtige der Autor von Os Sertões, den Feldzug der Armee als «ein Verbrechen» gegen das politische und soziale Projekt des Antônio Conselheiro zu denunzieren; andererseits bezeichnet er die Anhänger von Antônio Conselheiro während seiner ganzen Darstellung als Jagunços. Damit stufe er auch diese als Verbrecher ein und trage dazu bei, die Vernichtung des politischen und sozialen Projekts von Canudos zu legitimieren.
Am Beispiel des Jagunçotums zeigt Bolle, dass Grande Sertão: veredas eine kritische Nachdichtung von Os Sertões ist. Nicht wie bei Euclides da Cunha, der den Begriff des Jagunços negativ konnotiert, stellt Guimarães Rosa den Begriff des Jagunço in seiner ganzen Komplexität dar. Der Leser trifft auf alle möglichen Perspektiven, mal idealisiert als Verteidiger der Belange der armen Bevölkerung im Stile eines Robin Hood, mal mystifiziert als begnadeter Heilsbringer oder entmystifiziert als skrupelloser, machthungriger Revolvermann. Schließlich gibt sein Protagonist und Erzähler zu erkennen, dass sein Aufstieg zu einem Jagunçochef ihm ermöglichte, seine einstigen Gefährten zu seinem eigenen Vorteil zu benutzen mit dem Ergebnis, dass er sich als ein mächtiger, von seinen Jagunços beschützter Großgrundbesitzer zur Ruhe setzen kann.
Zusammen mit der labyrinthischen Situation, der unbeantworteten, aber das Bewusstsein bedrängenden Frage der Schuld und diesem Jagunçotum präsentiere Rosa ein Bild einer Gesellschaft, in der das Verbrechen ein fester Bestandteil des politischen und sozialen Systems sei und in weitem Umfang auf allen Ebenen praktiziert werde.
Sprache und Übersetzungen
Aufgrund der sperrigen, eigentümlichen Sprache des Originals ist die Übersetzung eine große Herausforderung. Nilce Sant'Anna Martins, die Rosas speziellen Wortschatz zusammengetragen und dokumentiert hat, liefert damit für jüngere Übersetzungen ein nützliches Werkzeug. Mathieu Dosse kommt zum Schluss, dass man Rosa, wie Nabokov es wollte, nicht mit unserem Gehirn, sondern mit unserem Rückenmark lese.
Die erste Übersetzung von Grande Sertão: Veredas erschien 1963 auf Englisch unter dem Titel The Devil to Pay in the Backlands. Sie stammt von Harriet de Omís, die während der Übersetzung erkrankte, und James L. Tayler, Lexikologe für brasilianisches Portugiesisch, der die angefangene Arbeit vervollständigte. Trotz der starken Unterstützung von Literaturkritikern, Akademikern und der konzertierten Bemühungen eines der besten US-amerikanischen Verlage für lateinamerikanische Literatur jener Zeit war The Devil to Pay in the Backlands kommerziell unterlegen, konnte sich bei der Kritik nicht durchsetzen und wurde bald nicht mehr aufgelegt. Ein wichtiger Grund dafür, dass sich Rosas Roman beim anglophonen Publikum nicht durchzusetzen vermochte, war die schiere Unmöglichkeit, dieses Werk zu übersetzen. So entstand eine verwässerte Erzählung, die das Original falsch wiedergibt. Aber auch Rosa selbst, der seine Fähigkeiten als Diplomat nutzte, um die laufenden Übersetzungen ins Englische, Französische, Deutsche und Italienische zu beaufsichtigen, spielte die verschiedenen Übersetzer gegeneinander aus, förderte einen Wettbewerb unter ihnen, um bessere Übersetzungen zu liefern. Er billigte den Verlust von Bedeutung aufgrund vereinfachter Übersetzung und hoffte dadurch, sogar einen größeren Leserkreis gewinnen zu können. In Bezug auf lateinamerikanische Literatur in englischer Übersetzung ist laut Remington Krause The Devil to Pay in the Backlands eine der besten Fallstudien für unerfüllte Erwartungen und redaktionelle Zwänge im Übersetzungsprozess.
Deutsche Übersetzung
Der Verlag Kiepenheuer & Witsch gewann für die Übersetzung ins Deutsche den auf Lateinamerika spezialisierten Curt Meyer-Clason. Seine deutsche Übersetzung erschien 1964 in Köln und wurde 1987 und 1994 neu aufgelegt. Seit längerem ist diese Übersetzung vergriffen. Meyer-Clason fügte seiner Übersetzung ein Glossar an, das 55 brasilianische Begriffe auf Deutsch erklärt.
Die deutsche Übersetzung galt lange aufgrund des Lobes von João Guimarães Rosa als die beste Übersetzung von Grande Sertão: Veredas und der Übersetzer dem brasilianischen Autor nahezu ebenbürtig. Diese Sicht hielt sich nicht nur in der deutschen Forschung lange. Kutzenberger hält diese Beurteilung für einen Mythos, der aus verschiedenen Gründen zustande kam und lange aufrechterhalten wurde. Er macht darauf aufmerksam, dass Rosa auch Übersetzer anderer Sprachen über den grünen Klee lobte, wahrscheinlich um sie für die Übersetzung zu motivieren. Außerdem beherrschte der brasilianische Autor, der auch Französisch, Englisch, Spanisch, Italienisch, Esperanto sowie ein wenig Russisch sprach und auch Schwedisch, Holländisch, Lateinisch und Griechisch lesen konnte und Deutsch als seine Lieblingsfremdsprache bezeichnete, doch zu wenig gut Deutsch, um die Qualität der deutschen Übersetzung kompetent beurteilen zu können. Kutzenberger listet eine Vielzahl von deutschen Redewendungen auf, die Meyer-Clason für die deutsche Übersetzung verwendete, obwohl das brasilianische Original Redewendungen geradezu aus dem Weg geht. Rosa erschuf für diesen Roman eine Sprache, die neu und sperrig ist, die keine ausgetretenen Pfade einschlägt, die einige Kritiker sogar für unlesbar halten. Schon der Anfang der deutschen Übersetzung weicht vom Original ab. Das Original beginnt mit einem Gedankenstrich und endet mit ∞, dem Symbol für die Unendlichkeit. Das bedeutet, dass die originale Erzählung in einer Endlosschleife dreht und die labyrinthische Situation verstärkt. Die deutsche Übersetzung endet zwar auch mit dem Unendlichkeitszeichen, verweist den Leser aber nicht wie das Original auf den Anfang, sondern entlässt ihn in eine Zukunft.
2011 schloss der Hanser-Verlag mit dem Literaturwissenschaftler und Übersetzer Berthold Zilly einen Vertrag für eine Neuübersetzung von Grande Sertão: Veredas. Die Übersetzung von Curt Meyer-Clason wird seit längerem kritisiert, weil sie die sprachlichen Herausforderungen des Originals zu Gunsten leichter Lesbarkeit vernachlässigt. Meyer-Clason versuchte, die eigentümliche, teils spröde Kunstsprache Rosas in ein flüssiges, gut lesbares Deutsch zu übertragen. Dabei vervollständigte er auch unvollständige Sätze und fügte vom Leser erwartete Elemente hinzu. Im Gegensatz dazu will Berthold Zilly die Fremdheit und Vieldeutigkeit des Werks, aber auch seinen eigenen Klang und Rhythmus wenn irgend möglich erhalten. Für die noch unvollendete deutsche Neuübersetzung erhielt Zilly 2019 das Zuger Übersetzer-Stipendium.
Die Sprache des Originals
João Guimarães Rosa bezeichnete in einem Brief von 1947 die Erneuerung der brasilianischen Literatur für notwendig. Er charakterisierte darin das Brasilianische als eine schändliche und armselige Sprache. Sie gehe barfuß, ungekämmt und in Begleitung des Spanischen 'ohne Kleid'. Verarmung des Wortschatzes, Starrheit der Formulierungen und Formen, Anhäufung von Gemeinplätzen, wie Klumpen in einem dünnen Gespinst, Vulgarität, fehlender Sinn für Schönheit, Mangel an Repräsentation. Sie müsse gestreckt, gedreht, trainiert werden. «Ich will alles: das Minensische, das Brasilianische, das Portugiesische, das Lateinische – vielleicht sogar das Idiom der Eskimos oder Tartaren.» erklärte Guimarães Rosa. Er konzipierte diese Erneuerung, inspiriert durch den Sertão und seine Vorstellungskraft und durch seine Sprache, die er, ein Weltbürger, seit seiner Kindheit kannte: «Die Bewohner des Sertão von Minas Gerais […] haben eine klassisch-archaische Sprache fast unversehrt bewahrt, die seit meiner Kindheit die meine war und die mich verführt.» Aus diesem Grund nahm er wesentliche Prinzipien der Avantgarde der 1920er Jahre auf: das Experimentelle, den Bruch mit der sprachlichen und literarischen Tradition, den Schock als beabsichtigte Wirkung. Damit wolle er den Leser zu einer reflexiven und berührenden Lektüre zwingen, wie er an seine nordamerikanische Übersetzerin Harriet de Onís schrieb. Deshalb vermeide er abgenutzte Begriffe, Klischees und Konventionen und mute dem Leser Fremdes zu in dem Bestreben, ihn die Neuheit in den Worten und im Satzbau erleben zu lassen.
Die Sprache des Originals ist geprägt von Neuschöpfungen (Neologismen), alten Begriffen (Archaismen) und regionalen Ausdrücken (Regionalismen).
Rezeption
Laut Literaturwissenschaftler Stefan Kutzenberger waren die ersten Kritiken nach Erscheinen von «Grande Sertão: Veredas» so überwältigt von den linguistischen und strukturellen Innovationen, dass sich die Studien in den folgenden Jahren vor allem mit diesen Aspekten auseinandergesetzt und den Inhalt des Romans vernachlässigt hätten. Zwar änderte sich das im Laufe der Jahre, führte aber zur weit verbreiteten Annahme, dass Rosa soziale und historische Aspekte der Form untergeordnet habe. Rosa selbst hielt in einem längeren Interview fest, dass man die beiden Dinge nicht trennen könne, denn Sprache und Leben seien eins («a linguagem e a vida são uma coisa só»).
Schon bald kam zu den stark auf die Sprache konzentrierten Studien zur linguistischen eine stark esoterische Komponente hinzu. So sehen einige Kritiker in Riobaldos Jagunçoleben beispielsweise eine Initiationsreise. Diesen transzendierenden Auslegungen steht der in São Paulo lehrende Literaturwissenschaftler Willi Bolle sehr kritisch gegenüber. Er ist wie Eduardo Coutinho der Meinung, dass sich die Forschung in den vier vergangenen Jahrzehnten, die seit dem Erscheinen von Grande Sertão: Veredas vergangen sind, mit wenigen Ausnahmen entweder getäuscht oder sich dem Roman entzogen haben. Seiner Meinung nach sei der Roman eine «re-escritura» (Nachschöpfung) von Euclides da Cunhas «Os Sertões», worauf schon Antonio Candido 1958 hinwies.
Nicht selten wurde Grande Sertão: Veredas als plötzlich auftretende Erscheinung hingenommen und isoliert betrachtet. So schreibt etwa Günter Lorenz: «Dieses Buch verschließt sich jedem Vergleich; es steht nicht nur außerhalb aller gängigen Formen europäischer Literatur, es findet auch in Lateinamerika nichts, was man nur annäherungsweise zur Erklärung heranziehen könnte.» Dieser Position hielt Georg Rudolf Lind, einer der ersten deutschsprachigen Kommentatoren von Guimarães Rosas Werk, entgegen, dass der Roman sehr wohl Gemeinsamkeiten mit den wichtigsten brasilianischen Literaturströmungen des zwanzigsten Jahrhunderts aufweist, wie etwa den Regionalismus und den Modernismo. Die «Erneuerung der Sprache, die entschlossene Wendung zum offenen Roman und die – an verwandte Bestrebungen von James Joyce, Thomas Mann oder Hermann Broch erinnernde – Einbeziehung mythischer Elemente» könnte aber die Rezeption verunsichert haben.
In den späten 1990er Jahren verlagerte sich der Akzent der Sekundärliteratur zu einer vertiefenden Leseweise, die versuchte, das Werk in die großen Fragen der Philosophiegeschichte einzugliedern. Als allgemein anerkannt gilt, dass Rosas Werk in der kulturgeschichtlichen Tradition des Abendlandes verwurzelt ist.
Im Zuge der internationalen Kongresse zu João Guimarães Rosa, welche die Universität von Minas Gerais 1998 und 2002 durchführte, wurden auch rezeptionsästhetische Studien publiziert und bedeutende Archive der Forschung zugänglich gemacht, so dass auch die Entstehung des Werks und die Übersetzungen in die Forschung einbezogen werden konnte.
Im Mai 2002 nahm der Norwegische Buchklub, ein Zusammenschluss norwegischer Verleger, Grande Sertão: Veredas in seine Liste der hundert besten Bücher aller Zeiten auf – als einzigen Brasilianer unter 100 Autoren aus 54 Ländern.
Kersten Knipp stellt in seiner 2013 erschienen Kulturgeschichte Brasiliens Guimarães Rosas Roman ans Ende einer Reihe sozialkritischer Literaturwerke. Aber Guimarães Rosa nähere sich dem Thema auf eine ganz eigene Weise: «Weit weg von aller Sozialkritik […] deutet er den Sertão als Lebensform, als Herrschaftsgebiet der Jagunços […] , die diesem staatenlosen Raum ihren Willen aufzwingen.» Das Leben werde «zum Kampf – aber zum Kampf um was?» Er zeige Figuren, «die im großen Rad des ewig Gleichen strampeln. Seine Figuren kämpfen, ohne zu wissen, wofür genau.» Dieser Kampf sei nur Teil eines allgemeineren Aspekts, den der Roman ausmache, des Kampfes um die Existenz. «Der Sertão ist da, wo befiehlt, wer stark ist.» Und darum müsse man auf der Hut sein. «Denn der Sertão, das ist auch da, wo der Teufel zu Hause sein könnte.» Riobaldo erkläre zwar am Ende des Buches, dass es den Teufel nicht gebe, aber sicher, zweifelsfrei sicher sei das nicht. Und Rettung komme paradoxerweise ausgerechnet durch die Menschen, die mit ihrer Gesetzlosigkeit dem Teufel überhaupt erst die Bühne bereiten. Riobaldo entlasse den Leser mit der Hoffnung, dass der Mensch aus seinem Leben etwas machen muss. Aber was? «Travessia» (Überfahrt), wie das letzte Wort des Romans heißt. Das Leben fließe. Eine endgültige Station, ein letztes Ziel gebe es nicht, deutet Knipp das Ende des Romans.
Zur Rezeption in den deutschsprachigen Ländern hält Kutzenbeger fest, dass sich Grande Sertão: Veredas trotz des anfänglichen Erfolgs, der sich auch in den Verkaufszahlen spiegelte, nicht einmal in spezialisierten Kreisen dauerhaft durchsetzen konnte. Der Roman ist seit Jahrzehnten auf Deutsch nicht lieferbar. Obwohl sowohl der Übersetzer als auch die deutschsprachigen Kritiker und Philologen zum internationalen Ruhm des brasilianischen Autors beigetragen haben, scheint deren Arbeit in keiner Relation mit der deutschsprachigen rezeptionssoziologischen Realität zu stehen. Im englischen und deutschen Sprachraum waren die Werke von Guimarães Rosa anfangs des 21. Jahrhunderts nicht mehr lieferbar. In England gibt es die englischen Übersetzungen seiner Bücher nicht einmal in den größten Universitätsbibliotheken oder in der sonst so gut bestückten British Library. Auch auf dem nordamerikanischen Markt konnte sich die englischsprachige Übersetzung nicht etablieren. In den deutschsprachigen Bibliotheken gibt es sehr wohl die deutschen Versionen der Werke von Guimarães Rosa, das gilt aber nicht für den Buchhandel. Dafür ist wohl auch die nicht ganz unproblematische Übersetzung Curt Meyer-Clasons mitverantwortlich.
Gustavo Castro e Silva, Florence Dravet und Leandro Bessa, Professoren der Universitäten von Brasília, beklagen 2021, dass es auch über 40 Jahre nach dem Tod des Schriftstellers noch keine tiefschürfende biografische Studie zu João Guimarães Rosa gibt. 2008 veröffentlichte Alaor Barbosa ein Buch unter dem Titel Sinfonia Minas Gerais: a vida e a literatura de João Guimarães Rosa. Der Zusatz zum Titel lautete Band I, womit der Autor seine Absicht ankündigte, wenigstens einen weiteren Band zu diesem Schriftsteller zu publizieren. Doch bald nach der Veröffentlichung ließ Vilma Guimarães Rosa, die Tochter des Schriftstellers, die Publikation aus dem Buchhandel zurückziehen. Sie bezichtigte Barbosa des Plagiats, der Lüge und Verzerrung von Fakten. Sieben Jahre später verlor Vilma Guimarães Rosa den Fall und musste Barbosa entschädigen. Dieser veröffentlichte keinen weiteren Band. Und auch der erste war bald in der einschlägigen Forschungsliteratur in Vergessenheit geraten. Grund dafür war unter anderem der Mangel an belegten biografischen Angaben zu João Guimarães Rosa. Nebst den Angehörigen des Schriftstellers gab es noch andere, die der Forschung Steine in den Weg legten.
Ehrungen, Preise
1957 wird Grande Sertão: Veredas mit den Prêmio Carmen Dolores Barbosa von São Paulo und im selben Jahr mit dem Prêmio Paula Brito in Rio de Janeiro ausgezeichnet
1961 ehrt das Instituto Nacional do Livro Guimarães Rosa mit dem Prêmio Machado de Assis für sein Lebenswerk
Adaptionen
1965: Grande Sertão, Kinofilm in Schwarz-Weiß, Regie: Geraldo Santos Pereira, Renato Santos Pereira, in den Hauptrollen: Mauricio Valle (als Riobaldo), Sônia Clara (als Reinaldo/Diadorim) und Joffre Soares (als Zé Bebelo), YouTube.
1985: Grande Sertão: veredas, Fernseh-Miniserie von Rede Globo, Drehbuch: Walter Georg Dürst, Regie: Walter Avancini, in den Hauptrollen: Tony Ramos (als Riobaldo), Bruna Lombardi (als Reinaldo/Diadorim) und Tarcisio Meira (als Hermógenes)
2001: Sertão, Sertões, Uma Cantata Cênica, komponiert von Rufo Herrera, aufgeführt 2001 vom Sinfonieorchester von Minas Gerais, dem städtischen Lyrischen Chor und der Tanzkompagnie der Clóvis-Salgado-Stiftung unter der gemeinsamen Leitung von Carlos Rocha und Carmen Paternostro, Bühnenbild und Kostüme von André Cortez im Palácio das Artes de Belo Horizonte
Sertão, Sertões, Dokumentarfilm von Sergio Rezende, 2012, produziert und gesendet von TV Câmara. Der Dokumentarfilm montiert Passagen aus den beiden literarischen Werken Os Sertões (von Euclides da Cunha) und Grande Sertão: Veredas (von Guimarães Rosa) zu Aussagen von Sertão- und Favelabewohnern, zu Ereignissen und Fakten Brasiliens und der globalisierten Welt und dokumentiert damit, dass der Sertão überall auf der Welt ist; oder mit einem Zitat von Antônio Conselheiro, dem messianischen Anführer im Krieg von Canudos frei übersetzt: «Der Sertão wird Strand und der Strand wird Sertão werden». (portugiesisch auf Youtube)
2013: Sujeito Oculto: na Rota do Grande Sertão (deutsch etwa: Verborgenes Subjekt: auf dem Weg des Grande Sertão), Dokumentarfilm unter der Regie von Silvio Tendler. Der Film zeichnet den Weg nach, den Guimarães Rosa unternahm, bevor er seinen Roman verfasste, als er 1952 der berühmten Herde von 300 Rindern von Manuelzão folgte.
2014: Grande Sertão: veredas, Comic von Eloar Guazzelli und Rodrigo Rosa, erschienen bei Editora Globo, 2014 in einer Luxusedition von 7000 Exemplaren exklusiv erhältlich bei Livraria Cultura, 2016 eine günstigere Ausgabe erhältlich im freien Buchhandel.
2017: Grande Sertão: veredas, Theaterstück unter der Regie von Bia Lessa, in den Hauptrollen Caio Blat (Riobaldo) und Luiza Lemmertz (Diadorim)
2022: Grande Sertão: veredas, Neuverfilmung in Vorbereitung, Produzent: Filme Globo, Regie/Drehbuch: Guel Arraes und Jorge Furtado. Die Neuverfilmung verlagert den Schauplatz in eine große, von Mauern umgebene Favela und thematisiert damit die Gewalt in den Städten.
Bibliografie (Auswahl)
Deutsche Ausgaben
Sämtliche deutschen Ausgaben basieren bis 1994 auf der Übersetzung von Curt Meyer-Clason. Der Schutzumschlag wurde von Hannes Jähn gestaltet. Eine Neuübersetzung, von Kiepenheuer & Witsch unterstützt, wird seit 2011 von Berthold Zilly erarbeitet.
1964: deutsche Erstausgabe: Köln: Kiepenheuer & Witsch
1966: Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg
1969: Berlin: Aufbau-Verlag (Der Lateinamerika-Kenner Hans-Otto Dill hatte für die Veröffentlichung in der DDR größte Bedenken geäußert. Erst Anna Seghers Vorwort zur deutschen Ausgabe machte die Publikation möglich)
1987: Köln: Kiepenheuer & Witsch
1992: München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, ungekürzte Ausgabe
1994: Köln: Kiepenheuer & Witsch
Die Seitenzählung der Ausgabe von 1987 bei Kiepenheuer & Witsch entspricht der Erstausgabe von 1964.
Weitere Übersetzungen (europäische Sprachen)
Englisch (USA): The Devil to Pay in the Backlands. Knopf, New York 1963. (Übersetzer: Harriet de Onís und James L. Taylor).
Französisch: Diadorim. Roman. Albin Michel, Paris 1965. (Übersetzer: Jean-Jacques Villard).
Spanisch: Gran Sertón: Veredas. Alianza Editorial, Madrid, 1967. (Übersetzer: Angel Crespo).
Italienisch: Grande Sertão. Feltrinelli, Milano 1970. (Übersetzer: Edoardo Bizzarri).
Tschechisch: Velká Divočina: cesty. Odeon, Prag 1971, (übersetzt von Pavla Lidmilová, überarbeitet von Pavla Lidmilová 2003)
Polnisch: Wielkie pustkowie. Państwowy Instytut Wydawniczy, Warszawa 1972. (Übersetzer: Helena Czajka).
Schwedisch: Livet är farligt, senhor. Banditen Riobaldos äventyr. Forum, Stockholm, 1974. (Übersetzer: Jan Sjögren)
Slowakisch: Vel'ká pustatina. Edícia Vavrín, « Slovesnký Spisovatel' », Bratislava 1980 (Übersetzer: Ladislav Franek)
Katalanisch: Gran Sertão: riberes. Ediciones 62, Barcelona, 1990, (Übersetzer: Xavier Pàmies)
Französisch: Diadorim. Roman. Albin Michel, Paris 1991. (Übersetzerin: Maryvonne Lapouge-Pettorelli; Vorwort: Mario Vargas Llosa).
Niederländisch: Diepe wildernis: de wegen. Roman. Meulenhoff « Literatura Latina », Amsterdam 1993. (Übersetzer: August Willemsen).
Dänisch: Djævelen på vejen. Samlerens Bogklub, Kopenhagen, 1997. (Übersetzer: Peter Poulsen)
Norwegisch: Den Store Sertão, Gyldendal, Oslo, 2004, (Übersetzer: Bård Kranstad)
Spanisch: Gran Sertón: Veredas, Adriana Hidalgo, Buenos Aires (Übersetzer: Florencia Garramuño und Gonzalo Aguilar)
Sekundärliteratur (Auswahl)
Weblinks
Ausschnitt aus einem Interview, das Guimarães Rosa einem deutschen TV-Sender gewährte, in einer Sendung von TV-Estadão.
Museu Casa Guimarães Rosa, Wohnhaus seiner Eltern und seiner Kindheit und frühen Jugend in Cordisburgo, Minas Gerais, Brasilien (portugiesisch)
Parque Nacional Grande Sertão Veredas, im Norden von Minas Gerais und angrenzenden Bahia (portugiesisch)
Einzelnachweise
Literarisches Werk
Literatur (Portugiesisch)
Brasilianische Literatur
Literatur (20. Jahrhundert)
Roman, Epik |
3296 | https://de.wikipedia.org/wiki/Max%20Frisch | Max Frisch | Max Rudolf Frisch (* 15. Mai 1911 in Zürich; † 4. April 1991 ebenda) war ein Schweizer Schriftsteller und Architekt. Mit Theaterstücken wie Biedermann und die Brandstifter oder Andorra sowie mit seinen drei großen Romanen Stiller, Homo faber und Mein Name sei Gantenbein erreichte Frisch ein breites Publikum und fand Eingang in den Schulkanon. Darüber hinaus veröffentlichte er Hörspiele, Erzählungen und kleinere Prosatexte sowie zwei literarische Tagebücher über die Zeiträume 1946 bis 1949 und 1966 bis 1971.
Der junge Max Frisch empfand bürgerliche und künstlerische Existenz als unvereinbar und war lange Zeit unsicher, welchen Lebensentwurf er wählen sollte. Infolgedessen absolvierte er nach einem abgebrochenen Germanistik-Studium und ersten literarischen Arbeiten ein Studium der Architektur und arbeitete einige Jahre lang als Architekt. Nach dem Erfolg seines Romans Stiller entschied er sich für ein Dasein als Schriftsteller und verließ seine Familie, um sich ganz dem Schreiben widmen zu können. Frisch war zweimal verheiratet – mit Gertrud von Meyenburg (1942–1959) und Marianne Oellers (1968–1979) – und hatte unter anderem eine Beziehung mit Ingeborg Bachmann (1958–1963).
Im Zentrum von Frischs Schaffen steht häufig die Auseinandersetzung mit sich selbst, wobei viele der dabei aufgeworfenen Probleme als typisch für den postmodernen Menschen gelten: Finden und Behaupten einer eigenen Identität, insbesondere in der Begegnung mit den festgefügten Bildern anderer, Konstruktion der eigenen Biografie, Geschlechterrollen und ihre Auflösung sowie die Frage, was mit Sprache überhaupt sagbar sei. Im literarisch ausgestalteten Tagebuch, das Autobiografisches mit fiktionalen Elementen verbindet, findet Frisch eine literarische Form, die ihm in besonderem Maße entspricht und in der er auch seine ausgedehnten Reisen reflektiert. Nachdem er jahrelang im Ausland gelebt hatte, beschäftigte Frisch sich nach seiner Rückkehr zudem zunehmend kritisch mit seinem Heimatland, der Schweiz.
Leben
Elternhaus und Schulzeit
Max Frisch wurde am 15. Mai 1911 in Zürich als zweiter Sohn des Architekten Franz Bruno Frisch und dessen Frau Karolina Bettina Frisch (geb. Wildermuth) geboren. Er hatte eine Halbschwester aus der ersten Ehe des Vaters, Emma Elisabeth (1899–1972), und einen acht Jahre älteren Bruder (1903–1978), der nach dem Vater Franz hieß. Die Familie lebte in einfachen Verhältnissen, und die finanzielle Lage verschärfte sich, als der Vater während des Ersten Weltkriegs seine Anstellung verlor. Frisch hatte kaum eine emotionale Beziehung zum Vater, stand seiner Mutter dagegen sehr nah.
Während seiner Zeit als Gymnasiast (1924–1930) am Züricher Realgymnasium schrieb Frisch erste Stücke, die er erfolglos zur Aufführung zu bringen versuchte und später vernichtete. Am Gymnasium lernte er darüber hinaus Werner Coninx kennen, dessen Kenntnisse über Literatur und Philosophie Frisch im Laufe ihrer langjährigen Freundschaft zahlreiche Impulse gaben.
Germanistikstudium und Arbeit als Journalist
Dem Wunsch seiner Eltern gemäß, die ihren Kindern ein Studium nach freier Wahl ermöglichen wollten, begann Frisch im Wintersemester 1930/31 ein Germanistik-Studium an der Universität Zürich. Auf der einen Seite traf er hier auf Professoren, die ihn beeindruckten und ihm Kontakte zu Verlagen und Zeitungen vermitteln konnten, darunter Robert Faesi, Schriftsteller und Professor für neuere und schweizerische Literatur, und den Romanisten Theophil Spoerri. Auf der anderen Seite stellte er fest, dass der akademische Lehrplan ihm nicht das solide schriftstellerische Handwerkszeug vermitteln konnte, das er sich von dem Studium erhofft hatte. Im Nebenfach belegte Frisch Forensische Psychologie, von der er sich tiefere Einsichten in den Kern menschlicher Existenz versprach.
Frischs erster Beitrag in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) stammt aus dem Mai 1931. Als im März 1932 sein Vater starb, konzentrierte er sich zunehmend auf die journalistische Arbeit, um sich und seiner Mutter ein Auskommen zu sichern. Dieser Schritt ist Thema des im April 1932 entstandenen Essays Was bin ich?, der als eigentlicher Auftakt seiner freiberuflichen Tätigkeit gilt und bereits ein Grundproblem des gesamten späteren Werks zu erkennen gibt. In den folgenden drei Jahren entstanden über 100 journalistische und literarische Arbeiten, die sich weitgehend auf autobiografische Selbsterforschung und die Verarbeitung privater Erlebnisse konzentrieren, etwa der Trennung von der 18-jährigen Schauspielerin Else Schebesta, in die Frisch sich verliebt hatte. Nur wenige dieser Texte wurden später in die Werkausgabe aufgenommen. Schon während ihrer Entstehung hatte der Autor selbst bisweilen den Eindruck, dass die Selbstreflexion überhandnehme, und versuchte sich durch körperliche Arbeit abzulenken, etwa bei einer studentischen Arbeitskolonie im Straßenbau 1932.
Von Februar bis Oktober 1933 erfüllte Frisch sich den Wunsch einer ausgedehnten Auslandsreise, die er durch während der Reise verfasste Feuilletonbeiträge finanzierte. So berichtete er unter anderem für die NZZ von der Eishockey-Weltmeisterschaft in Prag. Weitere Stationen waren Budapest, Belgrad, Sarajevo, Dubrovnik, Zagreb, Istanbul, Athen, Bari und Rom. Aus den Erlebnissen dieser Reise entstand Frischs erster Roman Jürg Reinhart, der 1934 erschien. Die Romanfigur Jürg Reinhart ist hierin ein Alter Ego Frischs, der im Zuge einer Balkan-Reise versucht, seine Position im Leben zu bestimmen. Hierbei kommt er zu dem Schluss, sich nur durch eine „männliche Tat“ seiner Reife vergewissern zu können, und vollzieht diese, indem er der todkranken Tochter seiner Pensionswirtin aktive Sterbehilfe gewährt. Frisch griff damit das zu jener Zeit weltweit diskutierte Konzept der „Euthanasie“ auf, ohne die ethischen und politischen Konsequenzen, die sich wenige Jahre später durch die praktische Umsetzung der Nationalsozialisten ergaben, zu durchschauen.
Neben seiner Arbeit für verschiedene Zeitungen belegte Frisch bis 1934 weiterhin Kurse an der Universität. Im Sommersemester 1934 lernte er die drei Jahre jüngere Käte Rubensohn kennen, mit der ihn in den folgenden Jahren eine Liebesbeziehung verband. Als deutsche Jüdin war Rubensohn aus Berlin emigriert, um weiter studieren zu können. Als Frisch 1935 zum ersten Mal ins Deutsche Reich reiste, bezog er in seinem Kleinen Tagebuch einer deutschen Reise kritisch Stellung gegenüber dem Antisemitismus, äußerte sich jedoch bewundernd über die „rassekundliche“ Ausstellung Wunder des Lebens von Herbert Bayer. Frisch konnte seine unpolitischen ersten Romane problemlos bei der Deutschen Verlags-Anstalt veröffentlichen, die der nationalsozialistischen Zensur unterlag. Erst im Laufe der 1940er Jahre begann Frisch, ein kritisches politisches Bewusstsein zu entwickeln. Diese zögerliche Entwicklung wird heute zum Teil mit dem konservativen Klima an der Universität Zürich erklärt, an der einzelne Professoren sogar Sympathien für Hitler und Mussolini pflegten. Dass Frisch solche Sympathien fremd waren, erklärte er später selbstkritisch mit seiner Liebe zu Käte Rubensohn.
Hinwendung zur Architektur und Familiengründung
Im Gefühl, bei seinem Germanistikstudium keinen echten Beruf erlernt zu haben, suchte Frisch nach einer nicht literarischen, aber ebenfalls kreativen Alternative zum Journalismus. Mit einem Stipendium seines Freunds Werner Coninx ausgestattet, begann er 1936 ein Studium der Architektur an der ETH Zürich. Zu diesem Schritt hatte ihn auch Käte Rubensohn angeregt. Im gleichen Jahr zog sie ihre Zustimmung zu einer bereits beim Standesamt angemeldeten Heirat zurück, weil sie nicht aus Mitleid wegen ihrer unsicheren Situation als deutsche Jüdin in der Schweiz geheiratet werden wollte. Zuvor war es lange Frisch gewesen, der sich der Ehe widersetzt hatte, für die er sich nicht geschaffen glaubte. Im Herbst 1937 trennten sich beide, im Frühjahr des Folgejahres zog Rubensohn nach Basel.
1937 erschien Frischs zweiter Roman, Antwort aus der Stille, über den er später vernichtend urteilte. Er greift das Thema der „männlichen Tat“ auf, bezieht nun aber ausdrücklich Stellung für einen bürgerlichen Lebensentwurf. Aus dieser Haltung zog Frisch auch privat Konsequenzen: Er ließ die Berufsbezeichnung „Schriftsteller“ aus seinem Pass löschen und verbrannte alle bisherigen Schriften. Frischs Vorsatz, das Schreiben aufzugeben, wurde 1938 durch den Gewinn des Conrad-Ferdinand-Meyer-Preises konterkariert, der mit 3000 Schweizer Franken dotiert war; sein Jahresstipendium betrug zu diesem Zeitpunkt 4000 Franken.
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 wurde Frisch Kanonier der Schweizer Armee; er leistete bis 1945 insgesamt 650 Aktivdiensttage. Während dieser Zeit begann er wieder zu schreiben und veröffentlichte seine Notizen 1939 unter dem Titel Aus dem Tagebuch eines Soldaten in der Zeitschrift Atlantis (im Folgejahr auch als Buch unter dem Titel Blätter aus dem Brotsack). In ihm kommt eine weitgehend unkritische Haltung zum Soldatenleben und der Stellung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg zum Ausdruck, die Frisch 1974 in seinem Dienstbüchlein aufarbeitete und auch revidierte.
Nach Frischs Architekturdiplom im Sommer 1940 bot ihm sein Lehrer William Dunkel eine feste Stelle in seinem Architekturbüro an, so dass Frisch Ende 1940 die erste eigene Wohnung beziehen konnte. In Dunkels Atelier lernte er auch die Architektin Gertrud von Meyenburg kennen, die er am 30. Juli 1942 heiratete. Mit ihr hatte er zwei Töchter (Ursula, * 1943, und Charlotte, * 1949) sowie einen Sohn (Hans Peter, * 1944). Seine Tochter Ursula, später Ursula Priess, hat in ihrem 2009 erschienenen Buch Sturz durch alle Spiegel ihr schwieriges Verhältnis zu ihrem Vater reflektiert.
1943 gewann Frisch unter 65 eingereichten Arbeiten den Architekturwettbewerb der Stadt Zürich für den Bau des Freibads Letzigraben (umgangssprachlich auch Letzibad oder Max-Frisch-Bad genannt). Er eröffnete daraufhin sein eigenes Architekturbüro und beschäftigte zeitweise zwei Zeichner. Wegen kriegsbedingter Materialknappheit konnte der Bau erst 1947 beginnen. Das 1949 eröffnete Bad steht heute unter Denkmalschutz und wurde 2006/2007 im Zuge einer Totalsanierung wieder weitgehend in den Originalzustand gebracht. Es ist Frischs einziger öffentlicher Bau und gilt mit seinen gestalterischen Qualitäten aus architekturgeschichtlicher Sicht als Referenzentwurf.
Insgesamt entwarf Frisch ein gutes Dutzend Bauwerke, von denen neben dem Freibad einzig zwei Einfamilienhäuser für seinen Bruder Franz sowie ein Landhaus für den Haarwasserfabrikanten K. F. Ferster umgesetzt wurden. Letzterer stellte vor Gericht hohe Schadensersatzansprüche gegen Frisch, nachdem dieser ohne Rücksprache die ursprünglich vereinbarten Maße des Treppenhauses geändert hatte. Frisch rächte sich, indem er dem Protagonisten seines Dramas Biedermann und die Brandstifter den Beruf eines Haarwasserfabrikanten zuschrieb. Auch während seiner Tätigkeit als Architekt hielt Frisch sich meist nur vormittags in seinem Büro auf. Einen großen Teil seiner Zeit widmete er weiterhin der Schriftstellerei.
Arbeiten für das Theater
Frisch besuchte schon während des Studiums regelmäßig Vorstellungen am Schauspielhaus Zürich, das in der Zeit des Nationalsozialismus deutsche Exilanten aufnahm und ein hochkarätiges Programm bot. Der Dramaturg und spätere Vizedirektor Kurt Hirschfeld ermutigte Frisch 1944 zu Arbeiten für das Theater und bot ihm Unterstützung bei deren Umsetzung an. In seinem ersten Stück Santa Cruz (1944, Uraufführung 1946) stellte der seit Kurzem verheiratete Frisch die Frage, wie sich Träume und Sehnsüchte des Einzelnen mit dem Eheleben vereinbaren lassen. Schon in dem 1944 veröffentlichten Roman J’adore ce qui me brûle oder Die Schwierigen hatte er die Unvereinbarkeit von künstlerischer und bürgerlicher Existenz betont und dabei, in Weiterentwicklung des Protagonisten seines ersten Romans, eine misslingende Liebesbeziehung des Malers Jürg Reinhart geschildert. Im Prosatext Bin oder Die Reise nach Peking griff er die Problematik 1945 nochmals auf.
Die beiden folgenden Theaterstücke stehen unter dem Eindruck des Kriegs: Nun singen sie wieder (1945) wirft die Frage nach der persönlichen Schuld von Soldaten auf, die unmenschliche Befehle ausführen, und behandelt sie aus subjektiver Perspektive der Betroffenen. Das Stück vermeidet undifferenzierte Wertungen und wurde 1946/47 auch auf deutschen Bühnen gespielt. Die NZZ warf Frisch hingegen auf der Titelseite vor, den Terror des Nationalsozialismus zu „verbrämen“, und weigerte sich, eine Erwiderung des Autors abzudrucken. Die Chinesische Mauer (1946) setzt sich mit der Möglichkeit auseinander, dass die Menschheit sich mittels der gerade erfundenen Atombombe selbst ausrotten könnte. Das Stück sorgte für öffentliche Diskussionen; heute ist es im Vergleich zu Friedrich Dürrenmatts Die Physiker (1962) und Heinar Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer (1964) weitgehend in Vergessenheit geraten.
Die Zusammenarbeit mit Hirschfeld ermöglichte Frisch Bekanntschaften, die ihn wesentlich beeinflussten: So lernte er 1946 Carl Zuckmayer kennen und 1947 den jungen Friedrich Dürrenmatt, mit dem ihn trotz Differenzen im künstlerischen Selbstverständnis eine langjährige Freundschaft verband, in der jedoch auch eine gewisse Rivalität mitschwang. Im selben Jahr traf Frisch Bertolt Brecht, dessen Arbeit er bewunderte und mit dem er sich nun regelmäßig über künstlerische Fragen austauschte. Brecht ermunterte Frisch zu weiteren Stücken und wies ihn auf die gesellschaftliche Verantwortung des Künstlers hin. Obwohl Brechts Einfluss in Frischs kunsttheoretischen Ansichten und einigen praktischen Arbeiten erkennbar ist, zählt Frisch nicht zu den Schülern Brechts. Er bewahrte sich eine eigenständige Position, die insbesondere durch Skepsis gegenüber der traditionellen politischen Lagerbildung gekennzeichnet war. Dies kommt besonders in dem Stück Als der Krieg zu Ende war zum Ausdruck, in dem Frisch Augenzeugenberichte über die Rote Armee als Besatzungsmacht verarbeitet.
Im April 1946 reiste Frisch zusammen mit Hirschfeld ins Nachkriegsdeutschland. Im August 1948 besuchte er einen internationalen Friedenskongress in Breslau, zu dem zahlreiche Intellektuelle eingeladen waren, die zur politischen Vermittlung zwischen Ost und West beitragen sollten. Da die Gastgeber den Kongress jedoch als Propagandaplattform missbrauchten und kaum ein Austausch zwischen den Gästen stattfand, reiste Frisch vorzeitig nach Warschau weiter, um in seinen Notizheften weiter eigenständige Eindrücke zu sammeln. Dennoch unterstellte ihm die NZZ nach seiner Rückkehr Sympathien mit dem Kommunismus und weigerte sich wiederum, eine Gegendarstellung abzudrucken, so dass Frisch die Zusammenarbeit mit der Zeitung aufkündigte. Seine Teilnahme am Kongress hatte noch eine weitere Konsequenz: Die Schweizer Bundespolizei legte über Frisch eine Fiche an und bespitzelte ihn bis fast an sein Lebensende, siehe auch die postume Veröffentlichung Ignoranz als Staatsschutz?.
Durchbruch als Romancier und freier Schriftsteller
Aus den etwa 130 Notizheften, die Frisch in der Nachkriegszeit anlegte, ging 1947 zunächst das literarische Tagebuch mit Marion hervor. Peter Suhrkamp ermutigte Frisch, das Konzept weiter auszubauen, und gab durch persönliche Rückmeldung zu den Texten konkrete Anregungen. 1950 erschien im neu gegründeten Suhrkamp Verlag das Tagebuch 1946–1949, ein Mosaik aus Reiseberichten und autobiografischen Betrachtungen, politischen und literaturtheoretischen Essays sowie literarischen Skizzen, die Frischs Dramen und wesentliche Motive seines erzählerischen Schaffens des kommenden Jahrzehnts vorwegnahmen. Kritiker bescheinigten dem Werk, dass es der Gattung des literarischen Tagebuchs neue Impulse gebe, und seinem Autor, den „Anschluss ans europäische Niveau“ gefunden zu haben. Der kommerzielle Erfolg setzte erst mit der Neuauflage 1958 ein.
1951 folgte das im Tagebuch bereits skizzierte Drama Graf Öderland um einen Staatsanwalt, der vom bürgerlichen Leben gelangweilt ist und sich auf die Suche nach absoluter Freiheit begibt, wobei er mit einer Axt jeden ermordet, der sich diesem Ziel in den Weg stellt. Öderland endet als Anführer einer revolutionären Freiheitsbewegung und erhält durch diese Position Macht und Verantwortung, die ihn ebenso unfrei machen, wie er es zu Beginn des Stücks war. Das Drama wurde bei Publikum und Kritik zu einem klaren Misserfolg, es wurde vielfach als Ideologiekritik missverstanden oder als nihilistisch verurteilt. Frisch hingegen betrachtete Graf Öderland als eines seiner bedeutendsten Werke und arbeitete es für weitere Aufführungen 1956 und 1961 um, ohne damit eine wesentlich beifälligere Rezeption zu erreichen.
Mit einem Stipendium der Rockefeller-Stiftung ausgestattet, bereiste Frisch zwischen April 1951 und Mai 1952 die USA und Mexiko. Während dieser Zeit arbeitete er unter dem Titel Was macht ihr mit der Liebe an einem Vorgänger des späteren Romans Stiller sowie an dem Theaterstück Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie, das im Mai 1953 gleichzeitig in Zürich und Berlin uraufgeführt wurde. In diesem Stück kehrt er zur Thematik des Widerstreits zwischen ehelichen Pflichten und intellektuellen Interessen zurück: Die Hauptfigur des Stücks ist ein parodierter Don Juan, der sich in erster Linie für geometrische Studien und das Schachspiel interessiert und Frauen daher nur einen episodischen Platz in seinem Leben einräumt. Nachdem sein gefühlloses Verhalten zahlreiche Tote gefordert hat, verliebt er sich jedoch in eine frühere Prostituierte.
1954 erschien Frischs Roman Stiller, dessen Protagonist Anatol Ludwig Stiller zunächst behauptet, ein anderer zu sein, im Zuge eines Gerichtsverfahrens jedoch gezwungen wird, seine ursprüngliche Identität als Schweizer Bildhauer wieder anzuerkennen. Bis zu ihrem Tod lebt er daraufhin wieder mit der Ehefrau zusammen, die er in seinem früheren Leben verlassen hatte. Der Roman, der Elemente des Kriminalromans mit einem authentisch wirkenden, tagebuchartigen Erzählstil verbindet, wurde zu einem kommerziellen Erfolg und brachte Frisch eine breite Anerkennung als Schriftsteller ein. Zugleich lobte die Kritik die komplexe Konstruktion und Perspektivik sowie die Verbindung von philosophischen Einsichten mit autobiografischen Erfahrungen. Die These der Unvereinbarkeit von Kunst und Familie tauchte auch im Stiller wieder auf. Nach dessen Erscheinen zog Frisch, der während seiner Ehe zahlreiche Liebschaften pflegte, die Konsequenzen, trennte sich von seiner Familie und bezog in Männedorf in einem Bauernhaus eine eigene kleine Wohnung. Nachdem das Schreiben schon einige Jahre in Folge seine Haupteinnahmequelle gewesen war, schloss er im Januar 1955 auch sein Architekturbüro, um nun ganz als freier Schriftsteller zu arbeiten.
Ende 1955 begann Frisch mit der Arbeit an dem Roman Homo faber, der 1957 veröffentlicht wurde. Er handelt von einem Ingenieur, der mit seiner rein technisch-rationalen Weltsicht am realen Leben scheitert. Homo faber wurde in den Schulkanon aufgenommen und zu einem von Frischs meistgelesenen Büchern. Die Routen des Protagonisten spiegeln Frischs eigene Reisen während der Entstehungszeit des Romans wider. Sie führten ihn 1956 nach Italien, dann nach einer Schiffspassage über den Atlantik ein zweites Mal in die Vereinigten Staaten, nach Mexiko und Kuba und im Folgejahr nach Griechenland.
Erfolge am Theater und Beziehung zu Ingeborg Bachmann
Das 1958 uraufgeführte Theaterstück Biedermann und die Brandstifter etablierte Frisch als Dramatiker von Weltrang. Es handelt von einem Kleinbürger, der Hausierern Unterschlupf gewährt und trotz deutlicher Anzeichen nicht dagegen einschreitet, dass diese sein Haus niederbrennen. Erste Skizzen waren bereits 1948 unter dem Eindruck der kommunistischen Machtübernahme in der Tschechoslowakei entstanden und im Tagebuch 1946–1949 erschienen; 1953 hatte der Bayerische Rundfunk eine Hörspielfassung ausgestrahlt. Frischs Absicht war es, das Selbstvertrauen des Zuschauers zu erschüttern, dass er in einer ähnlichen Gefahrensituation besonnener reagieren würde. Als das Schweizer Publikum das Stück zunächst als reine Warnung vor dem Kommunismus auffasste, fühlte er sich missverstanden. Für die deutsche Uraufführung fügte er daher ein „Nachspiel“ hinzu, das nun als Warnung vor dem Nationalsozialismus verstanden und später wieder gestrichen wurde.
Auch das folgende Drama Andorra hatte Frisch bereits im Tagebuch skizziert: Es behandelt die Macht, die ein vorgefasstes Bild der Mitmenschen über den Betroffenen hat. Seine Hauptfigur ist das uneheliche Kind Andri, dessen Vater es als Jude ausgibt. In der Folge muss Andri sich mit antisemitischen Vorurteilen auseinandersetzen und nimmt mit der Zeit Wesenszüge an, die in seiner Umgebung als „typisch jüdisch“ gelten. Der Stoff lag Frisch besonders am Herzen, so dass er innerhalb von drei Jahren fünf Fassungen des Stücks schrieb, bevor es Ende 1961 zur Uraufführung kam. Obwohl es bei Kritik und Publikum erfolgreich war, brachte das Stück Frisch insbesondere nach der Uraufführung in den USA (1963) auch den Vorwurf eines zu leichtfertigen Umgangs mit der jüngsten historischen Wirklichkeit ein. In der Tatsache, dass der vorurteilsbehaftete Umgang mit anderen in Andorra als allgemeiner menschlicher Fehler dargestellt ist, sahen einige Deutsche eine Relativierung der eigenen Schuld.
Im Juli 1958 lernte Frisch die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann kennen. Nachdem er bereits seit 1954 von Frau und Kindern getrennt gelebt hatte, ließ er sich 1959 auch offiziell von seiner ersten Frau Gertrud scheiden. Frisch machte Bachmann einen schriftlichen Heiratsantrag, den diese jedoch ablehnte. 1960 bezogen die beiden eine gemeinsame Wohnung in Rom, wo Frisch bis 1965 seinen Lebensmittelpunkt behielt. Zugleich hatten sie eine Wohnung in Uetikon bei Zürich. Die beiden vereinbarten, eine offene Beziehung zu führen, die Affären zuließ, jedoch keine Liebe zu anderen Partnern. Bachmanns Beziehungen zu Hans Magnus Enzensberger im Jahr 1959 und zu Paolo Chiarini im Frühjahr 1962 gefährdeten die Partnerschaft, die schließlich zerbrach, als sich Frisch im Herbst 1962 in Marianne Oellers verliebte. Frisch und Bachmann trennten sich nach einem gemeinsamen Gespräch in Uetikon definitiv im März 1963. Die Beziehung zwischen den beiden war lange von Mythen und Legenden umrankt, die durch den 2022 erschienenen Briefwechsel teilweise korrigiert wurden. Frischs 1964 veröffentlichter Roman Mein Name sei Gantenbein gilt – wie auch später Bachmanns Roman Malina – als literarische Reaktion auf die Beziehung. Der Roman verarbeitet das Ende einer Ehe in einem komplexen Stil des Was-wäre-wenn: Identitäten und Biografien der Hauptpersonen wechseln, wie auch Details des ehelichen Lebens. Der Erzähler probiert alternative Geschichten an „wie Kleider“ und kommt doch zu dem Schluss, dass keine davon seiner Erfahrung völlig gerecht wird. Hier greift Frisch die im Tagebuch 1946–1949 geäußerte Auffassung wieder auf, dass das Wesentliche für die Sprache unsagbar bleibe.
Mit ähnlichen Mitteln gestaltete Frisch das Stück Biografie: Ein Spiel. Von den Missverständnissen um Biedermann und die Brandstifter und Andorra enttäuscht, wandte Frisch sich von der Parabelform ab und suchte nach einer neuen Ausdrucksform, die er als „Dramaturgie der Permutation“ bezeichnete. Im Zentrum des Stücks steht ein Verhaltensforscher, der die Möglichkeit erhält, sein Leben noch einmal zu führen, und dabei letztlich keine wesentlich anderen Entscheidungen treffen kann. Die Zusammenarbeit mit dem Regisseur Rudolf Noelte scheiterte im Herbst 1967, eine Woche vor der angekündigten Premiere. Auch die 1968 zur Aufführung gebrachte Umsetzung unter Leopold Lindtberg stellte weder den Autor noch Kritik und Publikum zufrieden. Frisch hatte die Zuschauer aufrufen wollen, die Möglichkeiten zur Veränderung im Bewusstsein ihrer Beschränktheit voll auszunutzen, und empfand das Stück auf der Bühne letztlich selbst als zu fatalistisch. Erst elf Jahre nach dieser erneuten Enttäuschung kehrte Frisch ans Theater zurück.
Zweite Ehe mit Marianne Oellers und rege Reisen
Im Sommer 1962 begegnete der damals 51-jährige Frisch der 28 Jahre jüngeren Germanistik- und Romanistik-Studentin Marianne Oellers. 1964 bezogen die beiden eine gemeinsame Wohnung in Rom, im Herbst 1965 zogen sie in ein aufwändig renoviertes Häuschen in Berzona im Tessin um. Als „soziales Experiment“ lebte das Paar ab 1966 zeitweise auch in einer Zweitwohnung in der Wohnsiedlung Lochergut, tauschte sie jedoch bald gegen eine Wohnung in Küsnacht am Zürichsee. Ende 1968 heirateten die beiden.
Marianne Oellers begleitete ihren späteren Ehemann auf zahlreichen Reisen: 1963 besuchten sie die amerikanischen Uraufführungen von Biedermann und Andorra, 1965 reisten sie anlässlich der Verleihung des Man’s Freedom Prize nach Jerusalem, wo Frisch die erste offizielle deutschsprachige Rede nach Ende des Zweiten Weltkriegs hielt. Im Bemühen um ein eigenständiges Urteil über das Leben hinter dem „Eisernen Vorhang“ bereisten sie 1966 die Sowjetunion. Anlässlich eines Schriftstellerkongresses kehrten sie zwei Jahre später dorthin zurück und trafen unter anderem die DDR-Schriftsteller Christa und Gerhard Wolf, mit denen sie von nun an eine Freundschaft verband. Nach der Hochzeit folgten 1969 eine Reise nach Japan sowie 1970–1972 ausgedehnte Aufenthalte in den USA. Viele Eindrücke dieser Reisen sind im Tagebuch 1966–1971 wiedergegeben.
Nach der Rückkehr aus den USA nahm das Ehepaar Frisch 1972 eine Zweitwohnung in Berlin im Ortsteil Friedenau, die zunehmend zum Lebensmittelpunkt wurde und 1973–1979 einen intensiven und anregenden Kontakt zu den dortigen Intellektuellen ermöglichte. Auszüge eines Tagebuchs aus dieser Zeit erscheinen erst 2014 unter dem Titel Aus dem Berliner Journal. In seinen Berliner Jahren verstärkte sich Frischs kritische Haltung gegenüber der Schweiz, die sich in Werken wie Wilhelm Tell für die Schule (1970) und dem Dienstbüchlein (1974) niederschlug, aber auch in der Rede Die Schweiz als Heimat?, die Frisch im Januar 1974 anlässlich der Verleihung des Grossen Schillerpreises der Schweizerischen Schillerstiftung hielt. Obwohl er keine politischen Ambitionen hatte, hegte Frisch Sympathien für Ideen der Sozialdemokratie. Aus persönlicher Verbundenheit mit Helmut Schmidt begleitete er ihn 1975 auf dessen China-Reise und hielt 1977 eine Rede auf dem SPD-Parteitag.
Im April 1974 hatte Frisch auf einer Lesetour in den USA eine Affäre mit der 32 Jahre jüngeren Amerikanerin Alice Locke-Carey. Diese Begegnung im Dorf Montauk auf Long Island nahm er als Ausgangspunkt der 1975 erschienenen gleichnamigen Erzählung, die sein autobiografischstes Buch wurde und von allen seinen bisherigen Liebesbeziehungen berichtet, einschließlich der Ehe mit Marianne und deren Seitensprung mit dem amerikanischen Schriftsteller Donald Barthelme. Anlässlich der Veröffentlichung kam es zwischen den Eheleuten zu einem offenen Streit über das Verhältnis von Öffentlichem und Privatem und in der Folge zu einer zunehmenden Entfremdung. 1979 wurde die Ehe geschieden.
Spätwerk und Alter
Nachdem Frisch 1978 ernsthafte gesundheitliche Probleme durchlebt hatte, wurde im Oktober 1979 unter seiner Mitwirkung die Max-Frisch-Stiftung gegründet, die mit der Verwaltung seines Nachlasses beauftragt wurde. Ihre wichtigste Einrichtung bildet das Max Frisch-Archiv, das sich an der ETH Zürich befindet und seit 1983 öffentlich zugänglich ist.
Alter und Vergänglichkeit rückten nun zunehmend ins Zentrum von Frischs Werk. 1976 nahm er die Arbeit an dem im Totenreich spielenden Theaterstück Triptychon auf, das im April 1979 in einer Hörspielfassung gesendet wurde und im Oktober desselben Jahres in Lausanne zur Uraufführung kam. Eine Aufführung in Frankfurt am Main scheiterte am Widerstand des dortigen Ensembles, das das Stück als zu unpolitisch ablehnte. Die Premiere am Burgtheater in Wien betrachtete Frisch als gelungen, das Publikum reagierte jedoch zurückhaltend auf das komplex konstruierte Werk.
1980 nahm Frisch erneut Kontakt zu Alice Locke-Carey auf und lebte mit ihr bis 1984 abwechselnd in New York und in Berzona. In den USA war Frisch inzwischen ein geschätzter Schriftsteller, unter anderem erhielt er 1980 die Ehrendoktorwürde des Bard College und 1982 die der City University of New York. Die Übersetzung von Der Mensch erscheint im Holozän wurde von den Kritikern der New York Times als beste Erzählung des Jahres 1980 ausgezeichnet. Der Text berichtet von einem pensionierten Industriellen, der unter dem Verlust eigener geistiger Fähigkeiten und dem Schwund mitmenschlicher Beziehungen leidet. Frisch bemühte sich in diesem Text um Authentizität, wehrte sich jedoch gegen eine allzu autobiografische Deutung. Nach Abschluss der 1979 erschienenen Arbeit erlebte Frisch eine Schreibblockade, die er erst im Herbst 1981 mit dem Prosatext Blaubart überwand.
1984 kehrte Frisch nach Zürich zurück, wo er nun bis zu seinem Tode lebte. 1983 begann die Beziehung zu seiner letzten Lebensgefährtin Karin Pilliod, mit der er 1987 am Moskauer „Forum für eine atomwaffenfreie Welt“ teilnahm. Nach Frischs Tod berichtete Pilliod davon, dass er in den Jahren 1952–1958 eine Liebesbeziehung mit ihrer Mutter Madeleine Seigner-Besson unterhalten habe. Im März 1989 wurde bei Frisch unheilbarer Darmkrebs diagnostiziert. Im selben Jahr erfuhr er im Rahmen der Fichenaffäre, dass er seit seiner Teilnahme am internationalen Friedenskongress 1948 wie viele andere Schweizer Bürger von den Behörden bespitzelt worden war. Am 1. August 1990 erhielt er (zensurierten) Zugang zu den behördlichen Aufzeichnungen und verfasste vor Ende 1990 dazu den Kommentar Ignoranz als Staatsschutz?, in dem er zu einzelnen Aktenteilen Stellung nahm: Seine Fiche sei „ein Dokument der Ignoranz, der Borniertheit, der Provinzialität“. Der Text wurde 2015 bei Suhrkamp als Buch veröffentlicht.
Frisch regelte die Umstände seiner Bestattung. Er engagierte sich noch im Rahmen der Diskussion über die Abschaffung der Schweizer Armee und veröffentlichte den Prosatext Schweiz ohne Armee? Ein Palaver sowie eine Bühnenfassung davon, Jonas und sein Veteran. Max Frisch starb am 4. April 1991, mitten in den Vorbereitungen zu seinem 80. Geburtstag. Die Trauerfeier fand am 9. April 1991 in St. Peter statt. Es sprachen seine Freunde Peter Bichsel und Michel Seigner. Karin Pilliod verlas eine Erklärung, es kam kein Geistlicher zu Wort. Frisch war ein Agnostiker, der jedes Glaubensbekenntnis für überflüssig befand. Die Asche Max Frischs wurde bei einem Erinnerungsfest seiner Freunde im Tessin in ein Feuer gestreut; eine Tafel an der Friedhofsmauer des Ortes Berzona erinnert an ihn.
Literarisches Werk
Gattungen
Das Tagebuch als literarische Form
Das Tagebuch gilt als die für Frisch typische Prosaform. Hiermit ist weder ein privates Tagebuch gemeint, dessen Veröffentlichung der voyeuristischen Befriedigung der Leserschaft dienen würde, noch ein „journal intime“ im Sinne Henri-Frédéric Amiels, sondern vielmehr eine literarisch gestaltete Bewusstseinsschilderung in der Tradition James Joyce’ und Alfred Döblins, die neben der Schilderung realer Fakten Fiktionalität als gleichberechtigtes Mittel der Wahrheitsfindung akzeptiert. Nach dem Vorsatz, die Schriftstellerei aufzugeben, hatte Frisch unter dem Eindruck einer als existenziell empfundenen Bedrohung durch den Militärdienst angefangen ein Kriegstagebuch zu führen, das 1940 unter dem Titel Blätter aus dem Brotsack veröffentlicht wurde. Anders als seine früheren Arbeiten konnten die literarischen Ergebnisse in Tagebuchform vor ihrem Autor bestehen. Frisch fand so zu der Form, die sein weiteres Prosawerk bestimmte. Er veröffentlichte zwei weitere literarische Tagebücher aus den Zeiträumen 1946–1949 bzw. 1966–1971. Das Typoskript für ein drittes, 1982 begonnenes Tagebuch wurde 2009 in den Unterlagen von Frischs Sekretärin entdeckt. Bis dahin war man davon ausgegangen, dass Frisch dieses Werk als 70-Jähriger vernichtet hatte, weil er sich dessen kreativer Gestaltung aufgrund eines zunehmenden Verlusts seines Kurzzeitgedächtnisses nicht mehr gewachsen fühlte. Als das Typoskript 2010 veröffentlicht wurde, erhielt es aufgrund seines fragmentarischen Charakters den Titel Entwürfe zu einem dritten Tagebuch.
Viele zentrale Werke Frischs sind als Skizze bereits im Tagebuch 1946–1949 angelegt, darunter die Dramen Graf Öderland, Andorra, Don Juan und Biedermann und die Brandstifter, aber auch Elemente des Romans Stiller. Gleichzeitig sind die Romane Stiller und Homo faber sowie die Erzählung Montauk als Tagebuch ihres jeweiligen Protagonisten angelegt; Sybille Heidenreich weist darauf hin, dass auch die offene Erzählform des Romans Mein Name sei Gantenbein eng an die Tagebuchform angelehnt ist. Rolf Kieser sieht in der Tatsache, dass die unter Mitwirkung Frischs 1976 herausgegebenen Gesammelten Werke nicht nach Textart, sondern streng chronologisch geordnet sind, die Tagebuchform sogar als Schema auf das Gesamtwerk übertragen.
Frisch selbst vertrat die Auffassung, dass die Tagebuchform die einzige ihm entsprechende Prosaform sei und er sie daher ebenso wenig wählen könne wie die Form seiner Nase. Von fremder Seite gab es dennoch Ansätze, Frischs Wahl der Textform zu begründen: So sieht Friedrich Dürrenmatt darin die „rettende Idee“, die es Frisch im Stiller ermöglicht habe, „aus sich selber eine Gestalt, einen Roman“ zu machen, ohne dabei „der Peinlichkeit [zu] verfallen“. Insbesondere sieht er in der Figur James Larkin Whites, der in Wirklichkeit mit Stiller identisch ist, dies in seinen Aufzeichnungen über Stiller aber stets bestreitet, die Verkörperung des Schriftstellers, der in seinem Werk nicht umhinkann, „sich selbst zu meinen“, dies im Interesse der literarischen Qualität seines Ergebnisses aber ständig verbergen muss. Rolf Kieser weist darauf hin, dass in der Tagebuchform am deutlichsten Frischs Auffassung Rechnung getragen wird, dass Denken immer nur für einen bestimmten Standpunkt und Kontext stimme und es unmöglich sei, mit Sprache ein geschlossenes Bild der Welt oder auch nur eines einzelnen Lebens zu entwerfen.
Erzählendes Werk
Obwohl Max Frisch seine ersten Erfolge im Theater feierte und auch selbst später oft betonte, dass er eigentlich vom Theater komme, zählten neben dem Tagebuch vor allem der Roman und die längere Erzählung zu seinen wichtigsten literarischen Formen. Insbesondere in späteren Jahren wandte sich Frisch von der Bühne ab und der Prosa zu. Nach eigenen Angaben fühlte er sich unter den subjektiven Anforderungen des Erzählens wohler als unter den objektiven Anforderungen, die die Arbeit am Theater an ihn richtete.
Frischs Prosawerk lässt sich grob in drei Schaffensphasen einteilen. Sein Frühwerk bis 1943 entstand ausschließlich in Prosa. Darin enthalten waren zahlreiche kurze Skizzen und Essays, die Romane Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt und seine Fortsetzung J’adore ce qui me brûle oder Die Schwierigen sowie die Erzählung Antwort aus der Stille. Alle drei sind autobiografisch geprägt, alle kreisen um die Entscheidung des jungen Autors zwischen einer bürgerlichen und einer Künstlerexistenz und lassen ihre Protagonisten unterschiedliche Wege aus Frischs persönlichem Dilemma finden: in der Entwicklung zur Autonomie im Erstling, der an einen klassischen Bildungsroman erinnert, im Scheitern des Lebensentwurfs in seiner Fortsetzung, in der Absage an künstlerische Verwirklichung in der Erzählung. Mit seiner zweiten Erzählung Bin oder Die Reise nach Peking war Frisch im Jahr 1945 im bürgerlichen Milieu angekommen und formulierte aus dieser Warte bereits die Ausbruchssehnsucht. Frisch distanzierte sich im Nachhinein von seinem Frühwerk, nannte den Erstling einen „sehr jugendlichen Roman“, die folgende Erzählung eine „sehr epigonale Geschichte“, die zweite Erzählung „Fluchtliteratur“.
Frischs Prosa-Hauptwerk besteht aus den drei Romanen Stiller, Homo faber und Mein Name sei Gantenbein. Unter diesen Werken wird laut Alexander Stephan Stiller „allgemein als Frischs wichtigstes und komplexestes Buch angesehen“, sowohl was seine Form als auch seinen Inhalt betrifft. Gemein ist den drei Romanen die Thematik der Identität und des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern. Dabei nimmt Homo faber eine Komplementärposition zu Stiller ein. Hatte Stiller sich gegen die Festlegungen durch andere gewehrt, legt sich Walter Faber, der Protagonist aus Homo faber, selbst auf die Identität des rationalen Technikers fest. Eine dritte Variation des Themas bietet Mein Name sei Gantenbein, dessen Titel bereits die Umkehr des Einleitungssatzes aus Stiller in sich trägt. Statt „Ich bin nicht Stiller!“ heißt es nun „Ich stelle mir vor“. Statt der Suche nach der festen Identität steht das Spiel mit den Identitäten im Mittelpunkt, das Ausprobieren von Biografien und Geschichten.
Auch die drei Erzählungen aus Frischs Spätwerk Montauk, Der Mensch erscheint im Holozän und Blaubart werden in Untersuchungen oft zusammengefasst. Inhaltlich zeichnen sich alle drei Texte durch eine thematische Hinwendung zum Tod, einer Lebensbilanz aus. Formal stehen sie unter dem Motto einer Reduktion von Sprache und Handlungselementen. Volker Hage sah in den drei Erzählungen „eine untergründige Einheit, nicht im Sinn einer Trilogie, […] wohl aber im Sinn eines harmonischen Akkords. Die drei Bücher ergänzen sich und sind doch selbständige Einheiten. […] Alle drei Bücher haben den Tenor der Bilanz, des Abschlusses – bis hinein in die Form, die nur noch das nötigste zuläßt: verknappt, zugeknöpft.“ Frisch schränkte ein: „Die letzten drei Erzählungen haben nur eins gemeinsam: daß sie in der Erprobung der mir möglichen Darstellungsweisen weiter gehen als die Arbeiten vorher.“
Dramen
Die Dramen Max Frischs bis Anfang der 1960er Jahre unterteilte Manfred Jurgensen in drei Gruppen: die frühen Kriegsstücke, die poetischen Stücke wie Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie und die dialektischen Stücke. Vor allem mit letzteren, namentlich den Parabeln Biedermann und die Brandstifter, von Frisch als „Lehrstück ohne Lehre“ betitelt, und Andorra feierte Frisch seine größten Bühnenerfolge. Sie gehören zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Theaterstücken. Dennoch blieb Frisch unzufrieden wegen der Missverständnisse, die ihre Aufnahme begleitet hatten. In einem Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold wandte er sich explizit gegen die gleichnishafte Parabelform: „Ich habe einfach festgestellt, daß ich durch die Form der Parabel mich nötigen lasse, eine Botschaft zu verabreichen, die ich eigentlich nicht habe.“ Ab den 1960er Jahren zog sich Frisch verstärkt vom Theater zurück, seine folgenden Stücke Biografie: Ein Spiel und Triptychon wurden unpolitischer, erreichten aber auch nicht mehr den Publikumserfolg der früheren Werke. Erst kurz vor seinem Tod kehrte Frisch mit Jonas und sein Veteran, der Theaterfassung von Schweiz ohne Armee? Ein Palaver, noch einmal zur politischen Botschaft auf der Bühne zurück.
Für Klaus Müller-Salget war den meisten Bühnenstücken Frischs gemein, dass sie auf der Bühne keine realistischen Situationen darstellen, sondern zeit- und raumübergreifende Gedankenspiele seien. So treten in Die Chinesische Mauer historische und literarische Figuren auf, in Triptychon Tote. In Biografie: Ein Spiel wird das Leben nachträglich korrigiert, Santa Cruz und Graf Öderland spielen im Traumhaften oder in der märchenhaften Moritat. Typisch seien karge, reduzierte Bühnenbilder, Brechungen wie zweigeteilte Bühnen, ein Chor oder die direkte Ansprache des Publikums. Immer wieder vergegenwärtige das Stück dem Publikum, dass es Theater sei, auf einer Bühne stattfinde. Im Stile von Brechts epischem Theater solle sich der Zuschauer nicht mit dem Geschehen auf der Bühne identifizieren, sondern durch das Dargestellte zu eigenen Gedanken angeregt werden. In Abweichung zu Brecht wolle Frisch dem Zuschauer aber keine vorgegebene Einsicht vermitteln, sondern lasse ihm die Freiheit einer eigenen Interpretation.
Frisch selbst bekannte, dass ihn die Theaterarbeit in den ersten Proben am meisten fasziniere, wenn ein Stück noch nicht festgelegt, sondern in seinen Möglichkeiten offen sei. So sah Hellmuth Karasek Frischs Stücke auch dominiert von dessen Misstrauen gegen die Form, was sich etwa in Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie in der Offenlegung der theatralischen Mittel äußere. Frisch führe die Unglaubwürdigkeit des Theaters vor, er strebe seine Durchschaubarkeit an. Dabei herrsche keine Lust am theatralischen Effekt wie etwa bei Dürrenmatt vor, die Effekte brächen sich an Zweifeln und skeptischen Einsichten. Wirkungen entstünden aus Wortlosigkeit, Verstummen oder Missverständnissen. Wo Dürrenmatts Stücke auf die schlimmstmögliche Wendung zusteuerten, endeten Frischs Dramen oft mit einer dramaturgischen Rückkehr zu ihrem Anfang; das Schicksal seiner Protagonisten sei es, kein Schicksal zu haben.
Stil und Sprache
Frischs Stil wandelte sich in verschiedenen Phasen seines Werks. Während sein Frühwerk noch stark unter dem Einfluss Albin Zollingers und dessen poetischer Metaphorik stand, dabei nicht frei von epigonalen Lyrismen, distanzierte sich Frisch im Rückblick von vermeintlich „falscher Poetisierung“. Seine späteren Arbeiten zeichneten sich durch einen wesentlich knapperen, unprätentiöseren Stil aus, zu dem Frisch erläuterte: „Ich schreibe im allgemeinen sehr gesprochen“. Walter Schenker sah das Zürichdeutsch, mit dem Frisch aufgewachsen war, als seine Grundsprache. Dennoch wurde in seinen Werken das Hochdeutsch, das er vor allem als Schrift- und Literatursprache kennengelernt hatte, die bevorzugte Ausdrucksform, wobei er aber immer wieder mundartliche Wendungen als Stilmittel einsetzte.
Frisch war geprägt durch eine grundlegende Sprachskepsis. In Stiller lässt er seinen Protagonisten ausrufen: „ich habe keine Sprache für meine Wirklichkeit!“ Im Tagebuch 1946–1949 führte er weiter aus: „Was wichtig ist: das Unsagbare, das Weiße zwischen den Worten, und immer reden diese Worte von Nebensachen, die wir eigentlich nicht meinen. Unser Anliegen, das eigentliche, läßt sich bestenfalls umschreiben, und das heißt ganz wörtlich: man schreibt darum herum. Man umstellt es. Man gibt Aussagen, die nie unser eigentliches Erlebnis enthalten, das unsagbar bleibt; […] und das eigentliche, das Unsagbare erscheint bestenfalls als Spannung zwischen diesen Aussagen.“ Werner Stauffacher sah in Frischs Sprache „eine Sprache des Suchens der unaussprechlichen menschlichen Wirklichkeit, die Sprache eines Sehens und Erforschens“, ohne dass sie ihr dahinterliegendes Geheimnis tatsächlich enthülle.
Frisch übertrug Prinzipien des epischen Theaters Bertolt Brechts sowohl in sein dramatisches als auch sein erzählendes Werk. Bereits 1948 schloss er eine Betrachtung über den Verfremdungseffekt mit den Worten: „Es wäre verlockend, all diese Gedanken auch auf den erzählenden Schriftsteller anzuwenden; Verfremdungseffekt mit sprachlichen Mitteln, das Spielbewußtsein in der Erzählung, das Offen-Artistische, das von den meisten Deutschlesenden als ‚befremdend‘ empfunden und rundweg abgelehnt wird, weil es ‚zu artistisch’ ist, weil es die Einfühlung verhindert, das Hingerissene nicht herstellt, die Illusion zerstört, nämlich die Illusion, daß die erzählte Geschichte ‚wirklich‘ passiert ist“. Insbesondere in seinem Roman Mein Name sei Gantenbein brach Frisch mit dem geschlossenen Handlungskontinuum zugunsten der Darstellung von Varianten und Möglichkeiten. Das Theaterstück Biografie: Ein Spiel erhob die Probe zum dramatischen Prinzip. Bereits in Stiller übertrug Frisch mit den eingebetteten Geschichten die Form des fragmentarischen, episodenhaften Erzählens seines literarischen Tagebuchs in einen Roman. In seinem Spätwerk radikalisierte Frisch die Montagetechnik weiter bis zur Collage aus Texten, Notizen und Abbildungen in Der Mensch erscheint im Holozän.
Themen und Motive
Das literarische Werk Max Frischs ist von einigen grundlegenden Themen und Motiven geprägt, die entweder im Zentrum einer bestimmten Schaffensperiode stehen oder durch das gesamte Werk hindurch immer wieder aufgegriffen und variiert werden.
Bildnis und Identität
In seinem Tagebuch 1946–1949 formulierte Frisch einen zentralen Gedanken, der sein Werk durchzieht: „Du sollst dir kein Bildnis machen, heißt es, von Gott. Es dürfte auch in diesem Sinne gelten: Gott als das Lebendige in jedem Menschen, das, was nicht erfaßbar ist. Es ist eine Versündigung, die wir, so wie sie an uns begangen wird, fast ohne Unterlaß wieder begehen – Ausgenommen wenn wir lieben.“ Frisch bezog das biblische Gebot auf das Verhältnis der Menschen untereinander. Nur in der Liebe sei der Mensch bereit, sein Gegenüber mit all seiner Wandelbarkeit, den ihm innewohnenden Möglichkeiten anzunehmen. Ohne Liebe banne der Mensch sein Gegenüber und die gesamte Welt in vorgefertigte Bilder. Ein zum Klischee erstarrtes Bild werde zur Versündigung des Menschen gegen sich selbst und gegen den anderen. Hans Jürg Lüthi unterschied in Frischs Werk zwei Kategorien des Umgangs mit dem Bildnis: in der ersten werde das Bildnis als Schicksal erlebt. Hierzu gehöre das Stück Andorra, in dem Andri von den Andorranern das Bildnis eines Juden zugewiesen werde, sowie der Roman Homo faber, in dem Walter Faber im Bildnis des Technikers gefangen bleibe. Die zweite Kategorie thematisiere die Befreiung vom Bildnis, etwa in Stiller oder Mein Name sei Gantenbein, in denen sich die Hauptpersonen neue Identitäten entwerfen, um vorgefertigten Bildnissen zu entkommen.
Im Gegensatz zum Fremdbild steht die menschliche Identität. Für Frisch besitzt jeder Mensch seine einzigartige Individualität, die ihre Berechtigung aus sich selbst beziehe und verwirklicht werden müsse. Es „vollzieht sich das menschliche Leben oder verfehlt sich am einzelnen Ich, nirgends sonst.“ Der Prozess der Selbstannahme und der folgenden Selbstverwirklichung sei ein Akt der Freiheit, der Wahlmöglichkeit: „Die Würde des Menschen, scheint mir, besteht in der Wahl.“ Dabei sei die Selbstwahl kein einmaliger Akt, sondern das wahre Ich müsse hinter den Bildnissen immer wieder neu erkannt und gewählt werden. Die Furcht, das Ich zu verpassen und damit das Leben zu verfehlen, hat bereits in Frischs Frühwerk eine zentrale Stellung. Eine misslungene Selbstwahl führe zu einer Entfremdung des Menschen von sich selbst und von der Welt. Nur in der begrenzten Frist eines wirklichen Lebens könne sich die menschliche Existenz erfüllen, da ihre Erlösung im Zustand der endlosen Unveränderbarkeit des Todes ausgeschlossen sei. In Stiller formulierte Frisch als Kriterium eines wirklichen Lebens, „daß einer mit sich selbst identisch wird. Andernfalls ist er nie gewesen!“
Beziehung zwischen den Geschlechtern
Die männlichen Protagonisten in Frischs Werk lassen sich laut Claus Reschke auf den gemeinsamen Grundtyp eines modernen Intellektuellen zurückführen: egozentrisch, entscheidungsschwach, unsicher in Bezug auf ihr Selbstbild, verkennen sie oft ihre tatsächliche Situation. Sie sind Agnostiker, in der Beziehung zu anderen Menschen fehlt es ihnen an echter Hingabe, so dass sie das isolierte Leben eines Einzelgängers führen. Wenn sie tiefere Beziehung zu Frauen entwickeln, verlieren sie ihre emotionale Balance, werden ihres Partners unsicher, besitzergreifend und eifersüchtig. Immer wieder fallen sie in überkommene Geschlechterrollen und maskieren ihre sexuellen Unsicherheiten durch Chauvinismus. Gleichzeitig ist ihre Beziehung zu Frauen überschattet von Schuldgefühlen. Im Verhältnis zur Frau suchen sie das „wirkliche Leben“, die Vervollständigung und Erfüllung ihrer selbst in einer Beziehung, die frei von Konflikten und einer lähmenden Wiederholung ist, die nie das Element von Neuheit und Spontaneität verliert.
Auch die Frauenfiguren in Frischs Werk führte Mona Knapp auf ein Stereotyp zurück. Sie haben in den Texten, die auf ihre männlichen Protagonisten zentriert sind, eine zweckgebundene, strukturelle Funktion und erweisen sich als austauschbar. Oft werden sie als „großartig“ und „wunderbar“ verherrlicht, sind scheinbar emanzipiert und dem Mann überlegen. Tatsächlich zeichne sich ihre Motivation aber zumeist durch Kleinlichkeit aus: Treulosigkeit, Besitzgier und Gefühlsmangel. In Frischs späterem Werk werden die Frauenfiguren zunehmend eindimensionaler, folienhafter und zeigen keine innere Ambivalenz. Oft werde die weibliche Figur auf die Bedrohung der männlichen Identität oder auf ihre Rolle als Objekt der Untreue reduziert, werde zum Katalysator des Gelingens oder Scheiterns der männlichen Existenz und liefere dem männlichen Protagonisten bloß den Anlass für seine Selbstbetrachtung. Zumeist gehe in Frischs Werken die Aktivität in Partnerbeziehungen von der Frau aus, der Mann verbleibe passiv, abwartend und reflektierend. Scheinbar werde die Frau vom Mann geliebt, in Wahrheit aber gefürchtet und verachtet.
Karin Struck sah Frischs männlichen Protagonisten letztlich abhängig von den Frauenfiguren. Dabei blieben die Frauen für sie Fremde. Die Männer hingegen seien von Beginn an bezogen auf den Abschied: sie können nicht lieben, weil sie vor sich selbst, ihrem Versagen und ihrer Angst fliehen. Oft vermischen sich Bilder der Weiblichkeit mit jenen des Todes, so in Frischs Don-Juan-Version: „Das Weib erinnert mich an Tod, je blühender es erscheint.“ In immer wieder neuen Beziehungen zu Frauen und der anschließenden Trennung werde für Frischs Männerfiguren der Tod körperlich erfahrbar: ihre Angst vor Frauen korrespondiere mit der Angst vor dem Tod, die Reaktion auf die Beziehung zur Frau sei Flucht und Schuldgefühl.
Spätwerk: Vergänglichkeit und Tod
Obwohl der Tod ein durchgängiges Motiv im Werk Frischs ist, wird er im Früh- und Hauptwerk durch Identitäts- und Beziehungsproblematiken überlagert. Erst mit dem Spätwerk wird er zur zentralen Frage. Frischs zweites veröffentlichtes Tagebuch leitet den Themenkreis ein. Ein Schlüsselsatz des Tagebuchs 1966–1971 ist ein mehrfach wiederholtes Zitat Montaignes: „So löse ich mich auf und komme mir abhanden.“ Im Zentrum der Aufzeichnungen steht das Altern als private und gesellschaftliche Problematik. Obwohl noch politische Forderungen gestellt werden, rücken die sozialen Bindungen in den Hintergrund, zentral wird die Beschäftigung mit dem eigenen Ich. Das Tagebuch gibt in seiner Fragmenthaftigkeit und formalen Reduktion den Stil vor, der neben einer melancholischen Grundstimmung für die folgenden Werke bestimmend bleibt.
Auch die Erzählung Montauk behandelt das Altern. Der Mangel an Zukunft des autobiografischen Protagonisten richtet den Blick auf die Verarbeitung der Vergangenheit und den Wunsch nach Erleben von Gegenwart. Im Theaterstück Triptychon wird der Tod an sich dargestellt, allerdings in metaphorischem Bezug aufs Leben. Der Tod spiegelt die Erstarrung der menschlichen Gemeinschaft und wird damit eine Anweisung zur Lebensgestaltung. Die Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän schildert den Sterbeprozess eines alten Mannes als Eingehen in die Natur. Laut Cornelia Steffahn zeichnet Frisch im Spätwerk kein einheitliches Todesbild, die Werke geben vielmehr den Prozess seiner eigenen Auseinandersetzung mit der Thematik wieder und wandeln sich im gleichen Maße, in dem Frisch selbst altere. Dabei verarbeite er philosophische Einflüsse von Montaigne, Søren Kierkegaard, Lars Gustafsson bis Epikur.
Politisches Engagement
Während Frischs frühe literarische Arbeiten noch weitgehend unpolitisch waren und er sich etwa im Militärtagebuch Blätter aus dem Brotsack vom Leitbild Schweiz und der Geistigen Landesverteidigung beeinflusst zeigte, wandelte sich sein politisches Bewusstsein in der Nachkriegszeit. Vor allem die Trennung zwischen Kultur und Politik prangerte Frisch nun an, und 1948 notierte er in seinem Tagebuch: „Wer sich nicht mit Politik befaßt, hat die politische Parteinahme, die er sich sparen möchte, bereits vollzogen: er dient der herrschenden Partei.“ Laut Sonja Rüegg zeichnete sich Frischs Ästhetik durch eine grundsätzlich kritische und antiideologische Haltung aus, ein Selbstverständnis des Schriftstellers als Emigrant innerhalb der Gesellschaft, den Widerstand gegen die herrschende Ordnung, die Parteinahme nicht für eine Klasse, sondern für das einzelne Individuum, die Betonung des Fragens sowie die Übernahme moderner Literaturformen.
Frischs Gesellschaftskritik entzündete sich insbesondere auch an seinem Heimatland, der Schweiz. In seiner Rede zur Verleihung des Großen Schillerpreises bekannte er unter dem Titel Die Schweiz als Heimat?: „Ich bin Schweizer (nicht bloß Inhaber eines schweizerischen Reisepasses, geboren auf schweizerischem Territorium usw., sondern Schweizer aus Bekenntnis)“. Doch er schränkte auch ein: „Heimat ist nicht durch Behaglichkeit definiert. Wer Heimat sagt, nimmt mehr auf sich.“ Frischs veröffentlichte Auseinandersetzung mit seiner Heimat, dem Leitbild und der Sonderrolle der Schweiz reichte von der Streitschrift achtung: Die Schweiz bis zur Demontage des Nationalepos von Wilhelm Tell in Wilhelm Tell für die Schule, worin der Gründungsmythos als eine Geschichte von Zufällen, Unzulänglichkeiten sowie Beschränktheit und Opportunismus dargestellt wird. Mit dem Dienstbüchlein rechnete Frisch mit seiner eigenen Vergangenheit in der Schweizer Armee ab, die er auch in seinem letzten umfangreichen Text Schweiz ohne Armee? Ein Palaver in Frage stellte.
Charakteristisch für Frischs Werk war, dass sich immer wieder Phasen starken politischen Engagements mit Phasen der Erfahrung von Wirkungslosigkeit und des Rückzugs auf private Themen abwechselten. Bettina Jaques-Bosch sah den Autor deswegen zwischen Perioden der Kritik und der Melancholie pendeln, Hans Ulrich Probst verortete das Spätwerk „zwischen Resignation und republikanischer Alters-Radikalität“. Frischs letzte publizierte Sätze, ein Brief an Marco Solari in der Wochenzeitung, richteten sich noch einmal an die Schweiz: „1848 eine große Gründung des Freisinns, heute unter der jahrhundertelangen Dominanz des Bürgerblocks ein verluderter Staat – und was mich mit diesem Staat noch verbindet: ein Reisepaß (den ich nicht mehr brauchen werde)“.
Rezeption
Erfolg als Schriftsteller
Für Max Frisch kennzeichnete sich seine literarische Karriere dadurch, dass er keinen „frappanten Durchbruch“ erlebt habe, und der Erfolg „sehr langsam gekommen“ sei. Dennoch erreichten auch seine frühen Veröffentlichungen bereits einen gewissen Erfolg. Schon als Zwanzigjähriger wurde er in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Mit seinem Erstling fand er in der Deutschen Verlags-Anstalt einen renommierten Verlag, dem sich, als Frisch nicht länger im nationalsozialistischen Deutschland veröffentlichen wollte, der Schweizer Atlantis Verlag und ab 1950 der Suhrkamp Verlag anschlossen. Auch seine Dramen wurden ohne Verzögerung angenommen und am bedeutenden Schauspielhaus Zürich gespielt. Frischs Werke wurden in Rezensionen positiv besprochen, bereits sein Frühwerk wurde mit Preisen bedacht, erst Graf Öderland wurde 1951 ein „erster Mißerfolg auf der Bühne“. Gemeinsam mit dem ersten Tagebuch leitete das Drama aber auch eine Beachtung Frischs über die Schweizer Grenzen hinweg ein, besonders in der Bundesrepublik Deutschland, wo der Roman Stiller zum ersten großen Erfolg wurde und ihm ein Leben als Berufsschriftsteller ermöglichte.
Ausgehend von 3000 verkauften Exemplaren im ersten Jahr, erreichte Stiller durch beständig wachsende Nachfrage als erstes Buch des Suhrkamp Verlages eine Millionenauflage. Zu einem weiteren Bestseller wurde der Folgeroman Homo faber mit einer deutschsprachigen Gesamtauflage von vier Millionen Exemplaren bis zum Jahr 1998. Biedermann und die Brandstifter und Andorra gehören nach Einschätzung Volker Hages zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Theaterstücken mit 250 beziehungsweise 230 Inszenierungen bis zum Jahr 1996. Beide Dramen und Homo faber wurden zum vielfachen Unterrichtsstoff an Schulen im deutschen Sprachraum. Bis auf wenige Frühwerke Frischs lagen bis 2002 von jedem Werk Übersetzungen vor, überwiegend in rund 10 Sprachen, wobei Homo faber mit 25 Sprachen am häufigsten übersetzt wurde.
Stellung in der Schweiz und im Ausland
Sowohl innerhalb als auch außerhalb der Schweiz wurde Frisch oft mit dem zweiten großen Schweizer Schriftsteller seiner Generation, dem zehn Jahre jüngeren Friedrich Dürrenmatt, in einem Atemzug genannt. Hans Mayer bezeichnete sie etwa als „Dioskuren“, aber auch als miteinander dialektisch verknüpfte „Antagonisten“. Die enge Freundschaft zu Beginn ihres literarischen Werdegangs wurde später von persönlichen Differenzen überschattet. In einem letzten Versuch eines Versöhnungsbriefs Dürrenmatts zu Frischs 75. Geburtstag, der unbeantwortet blieb, fand Dürrenmatt für ihre Beziehung die Formulierung: „wir haben uns wacker auseinander befreundet“. Auch literarisch wurden beide zunehmend unterschiedlich gesehen, so galt laut Heinz Ludwig Arnold Dürrenmatt in der Öffentlichkeit – trotz seines erzählenden Werks – als der „geborene“ Dramatiker, Frisch – trotz seiner Bühnenerfolge – als geborener Erzähler.
Beide, Frisch und Dürrenmatt, trugen in den 1960er Jahren gemeinsam durch ihre Fragen nach unbewältigter Schweizer Vergangenheit stark zu einer Revision des dominanten Schweizer Geschichtsbildes bei. Spätestens seit Veröffentlichung des Dienstbüchleins 1974 war Frischs Rezeption in der Schweiz stark gespalten in Zuspruch und heftige Ablehnung. Vor die Alternativen der Vorbilder Dürrenmatt und Frisch gestellt, entschieden sich laut Janos Szábo die meisten jungen Schweizer Schriftsteller für Frisch und dessen Rolle als Erzieher und Aufklärer. Frisch wurde in den 1960er Jahren zur Leitfigur einer Schweizer Autorengeneration, zu der etwa Peter Bichsel, Jörg Steiner, Otto F. Walter oder Adolf Muschg zählten. Noch 1998, als die Schweiz als Gastland der Frankfurter Buchmesse vorgestellt wurde, vernahm Andreas Isenschmid in den Büchern einer jungen Schriftstellergeneration aus der Schweiz wie Ruth Schweikert, Daniel de Roulet, Silvio Huonder und Peter Stamm „einen merkwürdig vertrauten alten Ton, aus allen Richtungen klingen und oft fast Seite für Seite seltsame Echos auf den Stiller von Max Frisch.“
Auch in der Bundesrepublik Deutschland nahmen die Werke des Schweizers Max Frisch eine zentrale Rolle ein, Heinrich Vormweg bezeichnete Stiller und Homo faber als „[z]wei der für die deutschsprachige Literatur der fünfziger Jahre bezeichnendsten, sie beispielhaft repräsentierenden Romane“. In der DDR wurden in den 1980er Jahren umfangreiche Ausgaben von Frischs Prosa und Dramen herausgegeben, ohne dass es zu intensiveren literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Frischs Werk kam. Leichter verfügbar waren Übersetzungen von Frischs Werken in anderen sozialistischen Staaten, was Frisch selbst darauf zurückführte, dass etwa in der Sowjetunion von offizieller Seite geurteilt wurde, seine Werke stellen „Krankheitserscheinungen einer kapitalistischen Gesellschaft“ dar, die „in einer Gesellschaft mit verstaatlichten Produktionsmitteln nicht vorhanden“ seien. Trotz einiger ideologisch motivierter Kritiken an ihrem „Individualismus“, „Pessimismus“ oder „Modernismus“ wurden Frischs Werke in der UdSSR rege übersetzt und publiziert sowie in rund 150 Aufsätzen besprochen. Erfolgreich war Frisch auch in seiner zeitweiligen Wahlheimat, den Vereinigten Staaten. Dabei wurde von der Kritik positiv vermerkt, dass sich die Handlungen wiederholt in Amerika zutragen und der Autor frei von „europäischer Arroganz“ sei.
Bedeutung und Einfluss
Nach Einschätzung Jürgen H. Petersens hatte Frischs Bühnenwerk nur geringen Einfluss auf andere Dramatiker. Auch seine spezielle Form des literarischen Tagebuchs habe keine Nachahmer gefunden. Dagegen seien die Romane Stiller und Mein Name sei Gantenbein sowohl in ihrer Thematik der Identitätsfrage als auch in ihrer literarischen Gestaltung, in der personale Identität nicht durch Beschreibung oder Innenansichten, sondern durch erfundene Geschichten dargestellt werde, zu literarischen Modellen geworden. Häufig mit diesem stilistischen Einfluss in Bezug gebracht werden etwa Nachdenken über Christa T. von Christa Wolf oder Malina von Ingeborg Bachmann. Andere beeinflusste Autoren sind Peter Härtling und Dieter Kühn. Max Frisch wurde auch selbst Gegenstand von Literatur. So schrieb Wolfgang Hildesheimer 1983 die Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge und anderes. Uwe Johnson stellte 1975 eine Sammlung von Frisch-Zitaten unter dem Titel Max Frisch Stich-Worte zusammen. Gottfried Honegger veröffentlichte 2007 elf Porträtskizzen und vierzehn Texte zur Erinnerung an seinen Freund.
Adolf Muschg fasste an Max Frisch gerichtet zusammen: „Deine Stelle in der Literaturgeschichte: wie beschreibt man sie? Ein formaler Neuerer bist Du nicht gewesen; Du hast auch nicht – Identitätsproblem in Ehren – von Dir reden gemacht durch eine nie dagewesene Thematik. Ich glaube, Du hast Epoche gemacht durch etwas zugleich Unauffälliges und Fundamentales: ein neues Ethos (und Pathos) des Versuchs. Deine Bücher machen die literarische Probe auf ein Exempel der Phantasie“. Marcel Reich-Ranicki standen Frischs Werke näher als die anderer Autoren aus seiner Generation: „Anders als Dürrenmatt oder Böll, als Grass oder Uwe Johnson schrieb Frisch über die Komplexe und die Konflikte der Intellektuellen, und er wandte sich immer wieder an uns, die Intellektuellen aus der bürgerlichen Bildungsschicht. Er hat wie kein anderer unsere Mentalität durchschaut und erkannt“. Friedrich Dürrenmatt bewunderte an seinem Kollegen „die Kühnheit, mit der er vom ganz Subjektiven ausgeht. […] Frisch ist immer der Fall. Sein Fall ist der Fall.“ In seinem letzten Brief an Frisch prägte er dafür die Formulierung, Frisch habe in seinen Werken „seinen Fall zur Welt“ gemacht.
Film
Zum Film hatte Max Frisch laut Alexander J. Seiler eine weitgehend „glücklose Beziehung“, obwohl sein Stil oftmals an filmische Mittel erinnerte. Seiler erklärte dies damit, dass Frischs Werk sich bemühe, „das Weiße zwischen den Worten“ auszudrücken, dessen Umsetzung in Filmbildern zumeist nur zum Abklatsch werden könne. Bereits im Tagebuch 1946–1949 findet sich unter dem Titel Der Harlekin. Entwurf zu einem Film eine frühe Beschäftigung Frischs mit dem Genre Film. Die ersten praktischen Erfahrungen waren jedoch gescheiterte Projekte: Aus dem Film SOS – Gletscherpilot von 1959 stieg Frisch aus, sein Entwurf zu Wilhelm Tell (Burgen in Flammen) von 1960 wurde abgelehnt und der Film ganz gegen seine Intentionen realisiert. Die unter dem Titel Zürich – Transit im Jahr 1965 geplante Verfilmung einer Episode aus Mein Name sei Gantenbein scheiterte zuerst an Differenzen mit dem Regisseur Erwin Leiser, dann an der Erkrankung seines Nachfolgers Bernhard Wicki. 1992 erfolgte eine Verfilmung durch Hilde Bechert.
Auf die Romane Stiller und Homo faber wurden mehrfach Filmoptionen vergeben, letztere an Anthony Quinn, doch die Realisierungen zerschlugen sich. Zwar wurden Frischs Dramen oft in Fernsehproduktionen verfilmt, doch zu ersten Adaptionen seiner Prosa kam es erst durch Georg Radanowicz (Das Unglück nach der Tagebuchskizze Skizze eines Unglücks, 1975), Richard Dindo (Max Frisch, Journal I–III nach der Erzählung Montauk, 1981) und Krzysztof Zanussi (Blaubart nach der gleichnamigen Erzählung, 1985). Wenige Monate nach Frischs Tod gelangte mit Volker Schlöndorffs Verfilmung Homo Faber eine erste große Produktion in die Kinos. Frisch hatte am Drehbuch noch mitgearbeitet, der Film blieb allerdings ohne positives Echo in der Kritik. 1992 erreichte Holozän, Heinz Bütlers und Manfred Eichers Verfilmung von Der Mensch erscheint im Holozän, beim Internationalen Filmfestival von Locarno den Spezialpreis der Jury.
Volker Schlöndorffs Spielfilm Rückkehr nach Montauk aus dem Jahr 2017 ist von Frischs autobiografischer Erzählung Montauk inspiriert und dem Andenken des Freundes gewidmet. Im gleichen Jahr wurde Frischs kurzer Auftritt in Der Besuch (1964), einer Filmadaption des Theaterstückes Der Besuch der alten Dame, erstmals öffentlich bekannt. Über die Hintergründe des Cameos in der Verfilmung seines Freundes und Rivalen Dürrenmatt hatten sowohl Frisch als auch Regisseur Wicki geschwiegen.
Auszeichnungen und Ehrungen
1935: Einzelwerkpreis für Jürg Reinhart der Schweizerischen Schillerstiftung
1938: Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis der Stadt Zürich
1940: Einzelwerkpreis für Blätter aus dem Brotsack der Schweizerischen Schillerstiftung
1942: Erster Preis in einem Architekturwettbewerb der Stadt Zürich
1945: Preis der Welti-Stiftung für das Drama für Santa Cruz
1954: Wilhelm-Raabe-Preis der Stadt Braunschweig
1955: Gesamtwerkspreis der Schweizerischen Schillerstiftung
1955: Schleußner-Schueller-Preis des Hessischen Rundfunks
1958: Georg-Büchner-Preis
1958: Charles-Veillon-Preis der Stadt Lausanne
1958: Literaturpreis der Stadt Zürich
1962: Ehrendoktorwürde der Philipps-Universität Marburg
1962: Großer Kunstpreis der Stadt Düsseldorf
1965: Jerusalempreis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft
1965: Schiller-Gedächtnispreis des Landes Baden-Württemberg
1973: Grosser Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung
1974: Ernennung zum ausländischen Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Letters
1976: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1979: Ehrengabe aus dem Literaturkredit des Kantons Zürich (abgelehnt)
1980: Ehrendoktorwürde des Bard College (Staat New York)
1982: Ehrendoktorwürde der City University of New York
1984: Ehrendoktorwürde der Universität Birmingham
1984: Ernennung zum Commandeur dans l’ordre des arts et des lettres (Frankreich)
1985: Commonwealth-Preis (Chicago)
1985: Ernennung zum ausländischen Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Sciences
1986: Neustadt International Prize for Literature der University of Oklahoma
1987: Ehrendoktorwürde der Technischen Universität Berlin
1989: Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf
2000: Benennung des Asteroiden (14836) Maxfrisch nach ihm
Im Gedenken an Max Frisch vergibt die Stadt Zürich seit 1998 den Max Frisch-Preis.
Zu Max Frischs 100. Geburtstag fanden im Jahr 2011 verschiedene Veranstaltungen statt, so auch eine Ausstellung im Strauhof in Frischs Heimatstadt Zürich sowie eine Ausstellung im Literaturhaus München und im Museo Onsernonese in Loco. Im Jahr 2016 ist der Max-Frisch-Platz beim Bahnhof Zürich Oerlikon eröffnet worden. Der Niemands-Brunnen im Zürcher Rosenhof, für den Frisch 1967 eine Inschrift verfasste, wird im Volksmund auch Max-Frisch-Brunnen genannt. In Gedenken an Max Frisch wurde eine Zugskomposition der SBB des Typs RABDe 500 nach ihm benannt.
Werke (Auswahl)
Originalausgaben
Erzählungen und Romane
Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt. Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1934
Antwort aus der Stille. Erzählung. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1937
J’adore ce qui me brûle oder Die Schwierigen. Roman. Atlantis, Zürich 1944
Neufassung als: Die Schwierigen oder J’adore ce qui me brûle. Atlantis, Zürich 1957
Bin oder Die Reise nach Peking. Atlantis, Zürich 1945
Neuausgabe in der Bibliothek Suhrkamp (= BS 8). Frankfurt am Main 1952
Stiller. Roman. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1954
Homo faber. Ein Bericht. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1957
Mein Name sei Gantenbein. Roman. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1964
Montauk. Eine Erzählung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975
Der Mensch erscheint im Holozän. Eine Erzählung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979
Blaubart. Eine Erzählung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982
Tagebücher
Blätter aus dem Brotsack. Geschrieben im Grenzdienst 1939. Atlantis, Zürich 1940
Tagebuch mit Marion. Atlantis, Zürich 1947
Tagebuch 1946–1949. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1950
Tagebuch 1966–1971. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1972
daraus entnommen: Fragebogen. Suhrkamp (BS 1095), Frankfurt am Main 1992
Essays und sonstige Prosawerke
Achtung: Die Schweiz (Ein Pamphlet, zusammen mit Lucius Burckhardt und Markus Kutter), Handschin, Basel 1955
Öffentlichkeit als Partner (Reden und Essays). Suhrkamp (edition suhrkamp, es 209), Frankfurt am Main 1967
Erinnerungen an Brecht (= erste Einzelausgabe). Friedenauer Presse, Berlin 1968
Wilhelm Tell für die Schule. Mit alten Illustrationen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1971, ISBN 978-3-518-36502-1.
Dienstbüchlein. Suhrkamp (als Taschenbuch, st 205), Frankfurt am Main 1974
Stich-Worte. Ausgesucht von Uwe Johnson. Einmalige Ausgabe zur Suhrkamp Buchwoche im September 1975. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975
Wir hoffen. Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1976. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1976
Forderungen des Tages. Portraits, Skizzen, Reden 1943–1982. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983
Schweiz ohne Armee? Ein Palaver. Limmat, Zürich 1989
Schweiz als Heimat? Versuche über 50 Jahre. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Walter Obschlager. Suhrkamp (Weißes Programm Schweiz), Frankfurt am Main 1990
Theaterstücke
Santa Cruz. Eine Romanze. Schwabe, Basel 1947 (geschrieben 1944) (Uraufführung am 7. März 1946 am Zürcher Schauspielhaus, Regie: Heinz Hilpert).
Nun singen sie wieder. Versuch eines Requiems. Schwabe, Basel 1946 (Uraufführung am 29. März 1945 am Zürcher Schauspielhaus, Regie: Kurt Horwitz).
Die Chinesische Mauer. Eine Farce. Schwabe, Basel 1947 (Uraufführung am 10. Oktober 1946 am Zürcher Schauspielhaus, Regie: Leonard Steckel).
Zweite Fassung: Suhrkamp, Frankfurt am Main 1955 (Erstaufführung am 18. September 1955 am Berliner Kurfürstendamm-Theater, Regie: Oscar Fritz Schuh).
Dritte Fassung: unpubliziert (Erstaufführung am 26. Februar 1965 am Deutschen Schauspielhaus, Regie: Oscar Fritz Schuh).
Vierte Fassung: Suhrkamp, Frankfurt am Main 1972 (Erstaufführung am 8. November 1972 am Théâtre National de l’Odéon, Regie: Jean-Pierre Miquel).
Als der Krieg zu Ende war. Schauspiel. Schwabe, Basel 1949 (Uraufführung am 8. Januar 1949 am Zürcher Schauspielhaus, Regie: Kurt Horwitz).
Graf Öderland. Ein Spiel in zehn Bildern. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1951 (Uraufführung am 10. Februar 1951 am Zürcher Schauspielhaus, Regie: Leonard Steckel).
Zweite Fassung: unpubliziert (Erstaufführung am 4. Februar 1956 an den Städtischen Bühnen Frankfurt, Regie: Fritz Kortner).
Dritte Fassung: Suhrkamp, Frankfurt am Main 1961 (Erstaufführung am 25. Oktober 1961 am Berliner Schillertheater, Regie: Hans Lietzau).
Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie. Eine Komödie in fünf Akten. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1953 (Uraufführung am 5. Mai 1953 gleichzeitig am Zürcher Schauspielhaus, Regie: Oskar Wälterlin, und am Berliner Schillertheater, Regie: Hans Schalla).
Neufassung: Suhrkamp, Frankfurt am Main 1962 (Erstaufführung am 12. September 1962 am Deutschen Schauspielhaus, Regie: Ulrich Erfurth)
Biedermann und die Brandstifter. Ein Lehrstück ohne Lehre. Mit einem Nachspiel. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1958 (Uraufführung am 29. März 1958 am Zürcher Schauspielhaus, Regie: Oskar Wälterlin).
(Uraufführung des Nachspiels am 28. September 1958 an den Städtischen Bühnen Frankfurt, Regie: Harry Buckwitz)
Die große Wut des Philipp Hotz. Ein Sketch. In: hortulus 32, Heft 2/1958 (Illustrierte Zweimonatsschrift für neue Dichtung), hg. von Hans Rudolf Hilty (Uraufführung am 29. März 1958 am Zürcher Schauspielhaus, Regie: Oskar Wälterlin).
Andorra. Stück in zwölf Bildern. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1961 (Uraufführung am 2., 3. und 4. November 1961 am Zürcher Schauspielhaus, Regie: Kurt Hirschfeld).
Biografie: Ein Spiel. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1967 (Uraufführung am 1, 2. und 3. Februar 1968 am Zürcher Schauspielhaus, Regie: Kurt Hirschfeld).
Neufassung: Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985 (Erstaufführung am 15. September 1984 im Ludwigshafener Pfalzbau, Regie: Christian Quadflieg).
Triptychon. Drei szenische Bilder. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1978 (Uraufführung am 9. Oktober 1979, Centre dramatique de Lausanne, Regie: Michel Soutter).
Neufassung: Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980 (Erstaufführung am 1. Februar 1981 am Wiener Akademietheater, Regie: Erwin Axer)
Hörspiele und Filmvorlagen
1946: Nun singen sie wieder. Versuch eines Requiems – Regie: Theodor Mühlen (Hörspiel – Berliner Rundfunk)
Rip van Winkle. Hörspiel (erstmals ausgestrahlt 1953). Erste Einzelausgabe: Reclam, Stuttgart 1969
Erstdruck in: Kreidestriche ins Ungewisse. Zwölf deutsche Hörspiele nach 1945, hg. v. Gerhard Prager. Moderner Buch-Club, Darmstadt 1960
Herr Biedermann und die Brandstifter. Mit einem Nachwort von C. E. Lewalter, Hans Bredow-Institut, Hamburg 1955 (= Erstdruck des im März 1953 im Bayerischen Rundfunk ausgestrahlten Hörspiels)
Herr Biedermann und die Brandstifter. Rip van Winkle. Zwei Hörspiele. Suhrkamp (st 599), Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-518-37099-5
Zürich – Transit. Skizze eines Films., Suhrkamp (es 161), Frankfurt am Main 1966
Sammelbände
Stücke. 2 Bände. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1962
I: Santa Cruz. Nun singen sie wieder. Die Chinesische Mauer. Als der Krieg zu Ende war. Graf Öderland
II: Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie. Biedermann und die Brandstifter. Die große Wut des Philipp Hotz. Andorra
Neuausgabe in einem Band: Sämtliche Stücke, ISBN 978-3-518-38917-1
Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Jubiläumsausgabe 1931–1985, hg. v. Hans Mayer. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1976 (Bände 1 bis 6) bzw. 1986 (Band 7)
Band 1: 1931–1944. Kleine Prosaschriften. Blätter aus dem Brotsack. Jürg Reinhart. Die Schwierigen oder J’adore ce qui me brûle. Bin oder die Reise nach Peking
Band 2: 1944–1949. Santa Cruz. Nun singen sie wieder. Die Chinesische Mauer. Als der Krieg zu Ende war. Kleine Prosaschriften. Tagebuch 1946–1949
Band 3: 1949–1956. Graf Öderland. Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie. Kleine Prosaschriften. Der Laie und die Architektur. achtung: Die Schweiz. Stiller. Rip van Winkle
Band 4: 1957–1963. Homo faber. Kleine Prosaschriften. Herr Biedermann und die Brandstifter. Biedermann und die Brandstifter. Mit einem Nachspiel. Die große Wut des Philipp Hotz. Andorra
Band 5: 1964–1967. Mein Name sei Gantenbein. Kleine Prosaschriften. Zürich-Transit. Biografie: Ein Spiel
Band 6: 1968–1975. Tagebuch 1966–1971. Wilhelm Tell für die Schule. Kleine Prosaschriften. Dienstbüchlein. Montauk
Band 7: 1976–1985. Kleine Prosaschriften. Triptychon. Der Mensch erscheint im Holozän. Blaubart
Taschenbuch-Ausgabe: 12 Teilbände in Kassette (textidentisch mit Band 1–6), Suhrkamp (= edition suhrkamp), Frankfurt am Main 1976; neu in 7 Bänden 1986: ISBN 978-3-518-06533-4
Der Traum des Apothekers von Locarno. Erzählungen. 1978
Romane, Erzählungen, Tagebücher. Mit einem Nachwort von Volker Hage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008. ISBN 3-518-42005-4
Postum erschienen
Jetzt ist Sehenszeit. Briefe, Notate, Dokumente 1943–1963. Im Auftrag der Max Frisch-Stiftung hg. von Julian Schütt. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-518-40981-6
Max Frisch/Friedrich Dürrenmatt. Briefwechsel. Hrsg. von Peter Rüedi. Diogenes, Zürich 1998, ISBN 3-257-06174-9 (als Taschenbuch: ISBN 3-257-23289-6)
Max Frisch/Uwe Johnson. Briefwechsel 1964–1983. Hrsg. von Eberhard Fahlke. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-518-40960-3 (als Taschenbuch: ISBN 3-518-39735-4)
Im übrigen bin ich immer völlig allein. Briefwechsel mit der Mutter 1933, Berichte von der Eishockey-Weltmeisterschaft in Prag, Reisefeuilletons. Hg. von Walter Obschlager. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-518-41156-X
Journalistische Arbeiten 1931–1939. Hg. von Carsten Niemann unter Mitwirkung von Walter Obschlager. Niedersächsisches Staatstheater, Hannover 2001, ISBN 3-931266-07-9
Schwarzes Quadrat. Zwei Poetikvorlesungen. Hrsg. von Daniel de Vin unter Mitarbeit von Walter Obschlager. Mit einem Nachwort von Peter Bichsel. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-518-41999-1
Entwürfe zu einem dritten Tagebuch. Hrsg. und mit einem Nachwort von Peter von Matt. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-518-42130-7
Helen Wolff, Max Frisch. Briefwechsel 1984–1990. In: Sinn und Form 1/2012, S. 102–128 [einleitend: Marion Detjen: Spiritual Companionship. Max Frisch und Helen Wolff. In: Sinn und Form 1/2012, S. 91–101].
Aus dem Berliner Journal. Hrsg. von Thomas Strässle unter Mitarbeit von Margit Unser. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-518-42352-3.
Alfred Andersch, Max Frisch. Briefwechsel. Hrsg. von Jan Bürger. Diogenes, Zürich 2014, ISBN 978-3-257-06879-5.
Ignoranz als Staatsschutz? Hrsg. von David Gugerli und Hannes Mangold. Suhrkamp, Berlin 2015, ISBN 978-3-518-42490-2.
»Wie Sie mir auf den Leib rücken!« Interviews und Gespräche. Hrsg. von Thomas Strässle. Suhrkamp, Berlin 2017, ISBN 978-3-518-42584-8.
Ingeborg Bachmann, Max Frisch. »Wir haben es nicht gut gemacht.« Der Briefwechsel. Herausgegeben von Hans Höller, Renate Langer, Thomas Strässle und Barbara Wiedemann. Suhrkamp, Berlin 2022, ISBN 978-3-518-43069-9.
Literatur
Biografien
Urs Bircher: Vom langsamen Wachsen eines Zorns: Max Frisch 1911–1955. Limmat, Zürich 1997, ISBN 3-85791-286-3, 220 S.
Urs Bircher: Mit Ausnahme der Freundschaft: Max Frisch 1956–1991. Limmat, Zürich 2000, ISBN 3-85791-297-9, 274 S.
Daniel de Vin (Hrsg.): Max Frisch – Citoyen und Poet. Wallstein Verlag, Göttingen 2011, ISBN 978-3-8353-0858-9
Ingeborg Gleichauf: Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch – eine Biografie. Nagel & Kimche, Zürich 2010, ISBN 978-3-312-00989-3, 271 S.
Volker Hage: Max Frisch. Rowohlt (rm 719), Reinbek 2011, ISBN 978-3-499-50719-9, 160 S.
Volker Hage: Max Frisch – Sein Leben in Bildern und Texten. Suhrkamp, Berlin 2011, ISBN 978-3-518-42212-0
Beatrice von Matt: Mein Name ist Frisch. Begegnungen mit dem Autor und seinem Werk. Nagel & Kimche, Zürich 2011, ISBN 978-3-312-00476-8.
Julian Schütt: Max Frisch. Biographie eines Aufstiegs. Suhrkamp, Berlin 2011 ISBN 978-3-518-42172-7
Karin Tantow-Jung, Lutz Tantow: Max Frisch. Ein Klassiker der Moderne. Heyne (Biographien Band 222), München 1994, ISBN 3-453-05755-4, 253 S.
Lioba Waleczek: Max Frisch. Deutscher Taschenbuchverlag (dtv portrait 31045), München 2001, ISBN 3-423-31045-6, 159 S.
Volker Weidermann: Max Frisch. Sein Leben, seine Bücher. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, ISBN 978-3-462-04227-6.
Untersuchungen zum Werk
Heinz Ludwig Arnold: Was bin ich? Über Max Frisch. Wallstein, Göttingen 2002, ISBN 3-89244-529-X, 72 S.
Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): text + kritik 47/48, 3. erweiterte Auflage 1983, ISBN 3-88377-140-6, 152 S.
Thomas Beckermann (Hrsg.): Über Max Frisch I. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1971, ISBN 3-518-10852-2, 298 S.
Hellmuth Karasek: Max Frisch. Friedrichs Dramatiker des Welttheaters, Band 17. Friedrich Verlag, Velber 1974, 130 S.
Gerhard P. Knapp (Hrsg.): Max Frisch. Aspekte des Bühnenwerks. Peter Lang, Bern 1979, ISBN 3-261-03071-2, 517 S.
Gerhard P. Knapp (Hrsg.): Max Frisch. Aspekte des Prosawerks. Peter Lang, Bern 1978, ISBN 3-261-02996-X, 367 S.
Hans Mayer: Frisch und Dürrenmatt. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-518-22098-5, 184 S.
Klaus Müller-Salget: Max Frisch. Literaturwissen. Reclam, Stuttgart 1996, 140 S., ISBN 978-3-15-015210-2.
Jürgen H. Petersen: Max Frisch. Realien zur Literatur. Metzler (Sammlung Metzler, Band 173), Stuttgart 1978; 3. akt. A. 2002, ISBN 3-476-13173-4, 231 S.
Marcel Reich-Ranicki: Max Frisch. Aufsätze. Ammann, Zürich 1991, ISBN 3-250-01042-1, 125 S.
Albrecht Schau (Hrsg.): Max Frisch – Beiträge zu einer Wirkungsgeschichte. Becksmann, Freiburg 1971, 360 S.
Walter Schmitz: Max Frisch: Das Werk (1931–1961). Studien zu Tradition und Traditionsverarbeitung. Peter Lang, Bern 1985, ISBN 3-261-05049-7, 455 S.
Walter Schmitz: Max Frisch: Das Spätwerk (1962–1982). Eine Einführung. Francke, Tübingen 1985, ISBN 3-7720-1721-5, 188 S.
Walter Schmitz (Hrsg.): Max Frisch. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-518-38559-3, 422 S.
Walter Schmitz (Hrsg.): Über Max Frisch II. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1976, ISBN 3-518-10852-2, 567 S.
Alexander Stephan: Max Frisch. C. H. Beck, München 1983, ISBN 3-406-09587-9, 178 S.
Materialien und Sonstiges
Luis Bolliger et al.: Jetzt: Max Frisch. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-518-39734-6, 348 S.
Fernand Rausser (Fotos): Fünf Orte im Leben von Max Frisch, gesehen von Fernand Rausser. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981, ISBN 3-518-02843-X.
Siegfried Unseld (Hrsg.): Begegnungen. Eine Festschrift für Max Frisch zum siebzigsten Geburtstag. (Ill. v. Günter Grass). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981, ISBN 978-3-518-02842-1.
Dokumentationen
Film
Gespräche im Alter. Regie: Philippe Pilliod. Schweiz 1985 (142 Min. aus 27 Stunden Videomaterial)
Wenn es die Literatur nicht gäbe… Stichwörter zu Max Frisch. Regie: Peter K. Wehrli. Schweiz 1998 (57 Min.)
Max Frisch, Citoyen, Regie: Matthias von Gunten (Schweiz 2008, 94 Min.)
Tonaufnahmen und Hörbücher
Heinz Ludwig Arnold: Max Frisch. Leben und Werk. Der Hörverlag, München 2001, ISBN 3-89584-576-0
„Nicht weise werden, zornig bleiben“. Ein Porträt in Originalaufnahmen. Max Frisch. Der Hörverlag, München 2011, ISBN 978-3-86717-688-0.
Max Frisch spricht. Reden und ein Gespräch mit Hans Ulrich Probst. Christoph Merian Verlag, 2011, ISBN 978-3-85616-453-9.
Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern 1974–1977. Quartino, München 2011, ISBN 978-3-86750-088-3 (u. a. ca. 3,5-stündiges Interview mit Frisch).
Weblinks
Max Frisch in Swisscovery, dem schweizerischen Suchportal der wissenschaftlichen Bibliotheken
Max-Frisch-Archiv an der ETH Zürich mit Katalog zur Online-Recherche
(Ulrich Goerdten)
Max Frisch. Biografie und Bibliografie auf Viceversa Literatur
Biographie
Biographie (Zeittafel) beim Suhrkamp Verlag
Audio
Tondokument: Lesung und Gespräch mit Walter Höllerer, Juni 1987
App Auf den Spuren von Max Frisch Drei Stadtspaziergänge in Zürich mit Audio-Guide
Einzelnachweise
Autor
Literatur (Deutsch)
Literatur (Schweiz)
Literatur (20. Jahrhundert)
Drama
Roman, Epik
Tagebuch
Brief (Literatur)
Politische Literatur
Bestsellerautor (Deutschland)
Architekt der Moderne
Architekt (Schweiz)
Träger des Georg-Büchner-Preises
Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels
Träger des Jerusalem-Preises
Mitglied der American Academy of Arts and Letters
Mitglied der American Academy of Arts and Sciences
Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste
Träger des Ordre des Arts et des Lettres (Komtur)
Ehrendoktor der Philipps-Universität Marburg
Ehrendoktor der Technischen Universität Berlin
Ehrendoktor des Bard College
Ehrendoktor der City University of New York
Ehrendoktor der University of Birmingham
Person als Namensgeber für einen Asteroiden
Ingeborg Bachmann
Schriftsteller (Zürich)
Schweizer
Geboren 1911
Gestorben 1991
Mann |
7622 | https://de.wikipedia.org/wiki/Nosferatu%20%E2%80%93%20Eine%20Symphonie%20des%20Grauens | Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens | Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens ist ein deutscher Spielfilm aus dem Jahr 1922 von Friedrich Wilhelm Murnau in fünf Akten. Der Stummfilm ist eine – nicht autorisierte – Adaption von Bram Stokers Roman Dracula und erzählt die Geschichte des Grafen Orlok (Nosferatu), eines Vampirs aus den Karpaten, der in Liebe zur schönen Ellen entbrennt und Schrecken über ihre Heimatstadt Wisborg bringt. Nosferatu gilt als einer der ersten Vertreter des Horrorfilms und übte mit seiner visuellen Gestaltung einen großen Einfluss auf das Genre aus. Zugleich gilt das Werk mit seiner dämonischen Hauptfigur und seiner traumartigen, gequälte Seelenzustände spiegelnden Inszenierung als eines der wichtigsten Werke des Kinos der Weimarer Republik. Der Film sollte nach einem verlorenen Urheberrechtsstreit 1925 vernichtet werden, überlebte aber in unzähligen Schnittversionen und ist heute in mehreren restaurierten Fassungen verfügbar.
Handlung
Ein Chronist berichtet, wie im Jahr 1838 die Pest in die Hafenstadt Wisborg kam: Der Häusermakler Knock bekommt von einem Grafen namens Orlok aus den Karpaten den schriftlichen Auftrag, für ihn ein Haus in Wisborg zu suchen. Der Makler, augenscheinlich begeistert von der Anfrage des Grafen, beauftragt seinen jungen Mitarbeiter Thomas Hutter damit, zu Orlok zu reisen und ihm das halbverfallene Haus gegenüber der Wohnung der Hutters anzubieten. Thomas ist voller Tatendrang und freut sich sehr auf die Reise. Seine junge Frau Ellen hingegen reagiert voll Sorge und mit dunklen Vorahnungen auf die Reisepläne ihres Mannes. Thomas gibt seine Frau in die Obhut seines Freundes, des Reeders Harding, und macht sich auf den Weg. Unterwegs macht er Rast in einem Gasthaus. Die Einheimischen fürchten sich offenbar sehr vor Orlok und warnen den jungen Mann eindringlich davor, weiterzureisen. Das „Buch der Vampyre“, ein Kompendium über Blutsauger, das Thomas schon bei seiner Abreise aus Wisborg mitgenommen hatte, hätte ihm als Warnung dienen können. Doch er schlägt alle Warnungen und Mahnungen in den Wind und setzt seine Reise fort.
Als ihn schließlich seine Reiseführer an einer Brücke vor dem letzten Aufweg zur Burg voller Angst verlassen, muss Thomas zerknirscht allein weiterreisen. Wenige Meilen vor dem Ziel wird er in einem dunklen Wald von der unheimlichen Kutsche des Grafen abgeholt und erreicht Orloks düsteres Schloss. Im Hof angekommen, ist niemand zu sehen. Thomas wundert sich, wo denn all die Bediensteten des Schlosses bleiben, doch dann wird er vom Burgherrn persönlich empfangen. Graf Orlok ist nicht minder unheimlich als seine Behausung: eine hagere, kahlköpfige Gestalt mit großen Augenbrauen, großer Hakennase und unnatürlich spitzen Ohren. Ein Nachtmahl ist für Thomas bereitet. Als er sich versehentlich mit einem Messer am Daumen verletzt, will sich Orlok gierig über das Blut hermachen, lässt dann aber doch von Thomas ab. Der Graf bittet den jungen Mann zu verweilen. Nach einer Nacht in schwerem Schlaf erwacht Thomas mit zwei Bissmalen an seinem Hals. Er interpretiert sie jedoch naiverweise als Mückenstiche und schreibt seiner Frau einen Schmachtbrief. Als Graf Orlok am folgenden Abend zufällig das Bildnis von Ellen in einem Medaillon erblickt, nimmt er sofort Thomas' Angebot an und unterschreibt unbesehen den Kaufvertrag. Thomas ahnt, dass er damit das Verhängnis in seine Heimatstadt eingeladen hat. Orlok nähert sich in dieser Nacht dem schlafenden Thomas, um sein Blut zu saugen, doch in weiter Ferne erwacht Ellen in Wisborg schreiend und streckt flehend ihre Hände aus. Der Graf lässt von seinem Opfer ab.
Ellen fällt in einen tranceähnlichen Zustand und beginnt zu schlafwandeln. Währenddessen erforscht Thomas tagsüber Orloks Schloss und findet den Grafen in todesähnlichem Schlaf in einem Sarg liegen. Am Abend darauf wird er Zeuge, wie der Graf eilends mit Erde gefüllte Särge auf einen Wagen verlädt. Kaum hat sich Orlok in den letzten, leeren Sarg gelegt und dessen Deckel über sich gezogen, rast der unheimliche Karren davon. Thomas flieht aus dem Schloss, wird ohnmächtig und von Einheimischen gerettet, die den Fiebernden in einem Hospital gesund pflegen. Orlok hat unterdessen veranlasst, dass die Särge mit einem Floß nach Warna transportiert und auf ein Segelschiff verladen werden. Die Empusa macht sich mit Orlok an Bord auf den Weg nach Wisborg, während Thomas, wieder genesen, auf dem Landweg nach Hause eilt. An Bord der Empusa sterben die Besatzungsmitglieder, einer nach dem anderen, an einer mysteriösen Krankheit. Als die Matrosen nachforschen und einen der Särge öffnen, entweicht ihm eine Horde Ratten. Als schließlich nur noch der Kapitän und sein erster Maat am Leben sind, entsteigt der Graf des Nachts seinem Sarg. Der Maat springt von Bord und der Kapitän bindet sich am Ruder fest. Die Empusa fährt, einem Geisterschiff gleich, in den Hafen von Wisborg ein, wo die Hafenarbeiter nur noch den toten Kapitän auf dem Schiff finden.
Knock, inzwischen wegen seines Appetits auf lebende Fliegen im Irrenhaus gelandet, frohlockt, der „Meister“ sei endlich hier. Der Graf, einen Sarg und die Ratten im Schlepptau, verlässt das Schiff und wandelt durch die nächtliche Stadt. Der Reeder Harding findet auf der verwaisten Empusa das Logbuch, das von der tödlichen Krankheit berichtet. Die Stadt ruft den Notstand aus, doch es ist zu spät: Die Pest breitet sich in Wisborg aus und fordert unzählige Opfer. Selbst der „Paracelsianer“ Professor Bulwer, ein Experte für epidemische Krankheiten, findet kein Gegenmittel gegen die Seuche. Knock ist aus der Anstalt entflohen und wird von einer Meute verfolgt, die ihm die Schuld an der Plage gibt, doch er kann entkommen und sich außerhalb der Stadt verstecken.
Auch Thomas ist es gelungen, Wisborg zu erreichen. Er bringt das „Buch der Vampyre“ mit sich, in dem Ellen liest, nur eine Frau reinen Herzens könne „den Vampyr“ aufhalten, indem sie ihm aus freiem Willen ihr Blut zu trinken gibt und ihn so „den Hahnenschrey vergessen“ macht. Unterdessen ist Orlok in das öde Haus gegenüber den Hutters eingezogen. Sehnsuchtsvoll und beschwörend blickt er aus dem Fenster in Ellens Zimmer. Die junge Frau spielt vor, beinahe zu kollabieren, und schickt Thomas weg, um einen Arzt zu holen. Nun kann sie sich dem Vampir ungestört opfern, so wie sie es im Buch gelesen hatte. Orlok, nichts ahnend, wähnt sich der Erfüllung seiner Wünsche nahe, schleicht in ihr Zimmer und nähert sich Ellen, um ihr Blut zu trinken. Als er sich an ihr labt, schreckt er plötzlich hoch: Der erste Hahnenschrei ist zu hören, Nosferatu hat über seine Lust die Zeit vergessen. Das Morgengrauen ist bereits da, und mit dem ersten Strahl der Sonne vergeht der Vampir zu Rauch. Thomas erreicht mit dem Doktor Ellens Zimmer und schließt sie in die Arme, aber es ist zu spät – Ellen ist tot. Doch wie von Ellen gehofft, ist mit dem Ende des Vampirs auch die Pest besiegt.
Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte
Drehbuch und Vorproduktion
Nosferatu war die einzige Filmproduktion der 1921 von Enrico Dieckmann und Albin Grau gegründeten Prana-Film. Grau hatte die Idee, einen Vampirfilm zu drehen. Die Inspiration dazu stammt aus einem Kriegserlebnis von ihm: Im Winter 1916 erzählte ihm ein serbischer Bauer, sein Vater sei ein Vampir und Untoter gewesen. Dieckmann und Grau gaben bei Henrik Galeen ein Drehbuch in Auftrag, das sich an Bram Stokers Roman Dracula aus dem Jahr 1897 anlehnen sollte, obwohl die Filmrechte an Stokers Buch nicht von der Prana-Film erworben wurden. Galeen galt als ausgewiesener Fachmann für schauerromantische Stoffe; er hatte bereits an Der Student von Prag (1913) mitgewirkt und das Drehbuch zu Der Golem, wie er in die Welt kam (1920) geschrieben. Der Drehbuchautor verlegte die Romanhandlung von London (bzw. Whitby) in eine fiktive norddeutsche Hafenstadt namens Wisborg und veränderte die Namen der Figuren. Dazu brachte er den Aspekt in die Geschichte ein, dass der Vampir die von den Ratten übertragene Pest nach Wisborg bringt. Auf die Figur des Vampirjägers Van Helsing verzichtete er. Galeens Drehbuch war gedichtähnlich rhythmisiert, ohne jedoch so zergliedert und abgehackt zu sein wie beispielsweise die Bücher des stark vom Expressionismus beeinflussten Autors Carl Mayer. Lotte H. Eisner nennt Galeens Drehbuch „voll Poesie, voll Rhythmus“.
Dieckmann und Grau gewannen für die Regie Friedrich Wilhelm Murnau, der erst seit 1919 Filme drehte, sich aber mit seinen ersten sieben Produktionen einen Namen als talentierter Filmemacher gemacht hatte. Grau, der an der Kunstakademie Dresden studiert hatte, übernahm die künstlerische Leitung und entwarf Dekorationen und Kostüme. Für die Filmmusik zeichnete der musikalische Leiter der Prana-Film Hans Erdmann verantwortlich. Der unbekannte Theaterschauspieler Max Schreck aus München wurde für die Titelrolle verpflichtet. Weitere Rollen übernahmen am expressionistischen Theater Max Reinhardts geschulte Schauspieler wie Greta Schröder, Gustav von Wangenheim, John Gottowt und Alexander Granach, ein ehemaliger Schulkamerad Murnaus an Reinhardts Schauspielschule des Deutschen Theaters.
Produktion
Die Dreharbeiten zu Nosferatu begannen im Juli 1921 mit Außenaufnahmen in Wismar. Eine Aufnahme vom Turm der Marienkirche über den Wismarer Marktplatz mit der Wasserkunst diente als Eröffnungsszene für den Schauplatz Wisborg. Weitere Drehorte waren das Wassertor, die Westseite der Georgenkirche, der Hof der Heiligen-Geist-Kirche und der Hafen. In Lübeck wurden die aufgelassenen Gebäude der Salzspeicher als Drehort für Nosferatus neues Domizil in Wisborg genutzt, auf der Depenau wurden die Särge herabgetragen, der Aegidienkirchhof, die Israelsdorfer Eiche sowie noch andere Orte der Stadt dienten ebenfalls als Kulisse. Weitere Außenaufnahmen folgten in Lauenburg, in Rostock und auf Sylt. Im Anschluss reiste das Filmteam in die Karpaten, wo die Arwaburg und zum Ende des Films die Burgruine Starý hrad als Kulisse für Orloks Schloss dienten. Weitere Drehorte fanden sich in unmittelbarer Nähe; so entstanden die Aufnahmen von Hutters Rast in Dolný Kubín, die Floßfahrt mit den Särgen wurde auf der Waag gedreht. Für die Gebirgsaufnahmen nutzte das Filmteam das Panorama der Hohen Tatra. Von Oktober bis Dezember 1921 entstanden dann die Innenaufnahmen im JOFA-Atelier in Berlin-Johannisthal, einige weitere Außenaufnahmen wurden im Tegeler Forst gedreht.
Dem lichtsetzenden Kameramann Fritz Arno Wagner stand für die Dreharbeiten aus Kostengründen nur eine einzige Kamera zur Verfügung, daher existierte nur ein einziges originales Filmnegativ. Der Regisseur folgte Galeens Drehbuch sehr exakt und fügte lediglich handschriftliche Anweisungen und Notizen bezüglich Kamerapositionierung, Lichtsetzung und ähnlichem hinzu. Zwölf Seiten des Skripts wurden allerdings von Murnau neu geschrieben, die entsprechenden Texte Galeens fehlen im Arbeitsexemplar des Regisseurs. Hierbei handelt es sich um die letzten Szenen des Films, in denen Ellen sich opfert und der Vampir durch den ersten Sonnenstrahl stirbt. Murnau arbeitete mit akribischer Vorbereitung; es gab zu jeder Szene künstlerische Vorzeichnungen, die genau dem späteren Filmbild entsprechen sollten. Um das Spiel der Darsteller zu rhythmisieren, setzte er ein Metronom ein.
Premiere und Kinoveröffentlichung
Im Vorfeld der Veröffentlichung wurde der Film mit großem Aufwand beworben. Kurz vor der Uraufführung schalteten die Verantwortlichen in der Zeitschrift Bühne und Film Nr. 21/1922 eine Werbestrecke mit Inhaltsangabe, Szenen- und Werkfotos, Produktionsberichten und Essays, unter anderem einer Abhandlung Graus über den Vampirismus. Die Premiere von Nosferatu fand am 4. März 1922 im Marmorsaal des Zoologischen Gartens Berlin statt. Zu dieser als großer Gesellschaftsabend geplanten Veranstaltung wurde unter dem Titel „Das Fest des Nosferatu“ geladen, wobei das Erscheinen der Gäste in Biedermeierkostümen erwünscht war. Ein von Kurt Alexander geschriebener und nach dem Vorbild von Goethes Vorspiel auf dem Theater gestalteter Prolog eröffnete die Filmvorführung, während der die Kapelle Otto Kermbach unter der Leitung des Komponisten die Filmmusik spielte. An die Aufführung von Nosferatu schloss sich ein von Erdmann geschriebenes Tanzspiel „Die Serenade“ an, dargeboten von einer Solotänzerin der Staatsoper. Der darauf folgende Kostümball zog viele prominente Filmschaffende Berlins an, unter anderem Ernst Lubitsch, Richard Oswald, Hanns Kräly, Johannes Riemann und Heinz Schall. Der Kinostart von Nosferatu erfolgte schließlich am 15. März 1922 im Primus-Palast. Im deutschen Fernsehen war der Film erstmals am 23. Juni 1969 in der ARD zu sehen.
Zeitgenössische Kritik
Nosferatu brachte den Regisseur Murnau verstärkt ins Blickfeld der Öffentlichkeit, zumal sein Film Der brennende Acker nur wenige Tage später veröffentlicht wurde. Die Presse berichtete ausführlich über Nosferatu und seine Premiere, wobei die lobenden Stimmen überwogen und gelegentlich kritisiert wurde, dass die technische Perfektion und Klarheit der Bilder nicht zum Gruselthema passe. Der Filmkurier vom 6. März 1922 kritisierte, der Vampir sei im Film zu körperhaft und zu hell ausgeleuchtet, um wirklich schaurig zu wirken: „Was bei […] wirklichkeitstreuen Filmen ein Vorteil ist, muß bei einem Werk aus der Unwirklichkeit gegenteilig bewertet werden. Hier muß die künstlerische Unklarheit der Schattierungen vorherrschen. […] Denn mit der steigenden Helligkeit verliert nun einmal jedes Schreckgespenst seine Schrecken.“ Auch Der Film vom 12. März 1922 notierte, die Vampirgestalt hätte eine größere Wirkung gehabt, „wenn die Menschen der Handlung mehr in den Vordergrund und er mehr als Schemen unter sie käme“.
Hans Wollenberg bezeichnete den Film in Lichtbild-Bühne Nr. 11 vom 11. März 1922 als „Sensation“ und lobte Murnaus Naturaufnahmen als „Stimmung schaffende Elemente“. Die Inszenierung sei eine „Meisterleistung“, das Drehbuch „von wirkungsvollstem, ausgewogenstem Aufbau“. In der Vossischen Zeitung vom 7. März 1922 wird Nosferatu eine spezifisch filmische Qualität zugesprochen, die Inszenierung sei „sprechrampenfremd, buchfeindlich; ein eigener Film-Stil“. Auch Der Film vom 12. März 1922 lobt die Bilderauswahl, die „mit einem hervorragend feinen malerischen Sinne“ getroffen sei.
Roland Schacht urteilte am 15. April 1922 in Das blaue Heft, Nosferatu sei nur „mäßiger Durchschnitt“ und eine Kopie von Das Cabinet des Dr. Caligari (1920, Regie: Robert Wiene). Er spottete: „Dazu dann dieser Vampir, der egal mit einem Sarg herumschleppt, wie jemand, der kurz vor Sieben, wenn die Postämter schließen, noch ein Weihnachtspaket aufgeben will und nicht recht weiß, wo er’s probieren soll.“ Auch Alfred Rosenthal beschäftigte sich im Berliner Lokal-Anzeiger vom 6. März 1922 mit der Vampirfigur: „Die unsympathische Hauptrolle übernahm Max Schreck aus München. Er stand vor einer schwierigen Aufgabe. Vom Erhabenen zum Lächerlichen war bei diesem blutsaugenden Gespenst nur ein kleiner Schritt.“ Letztendlich fand er lobende Worte: „Ich sah selten ein Werk, bei dem die Stimmung des Manuskripts sich so vollendet in der Landschaft widerspiegelt, wo das Zusammenspiel der Darsteller so gut abgetönt ist, und wo von Gestalten, die auf der Scheide zwischen Komik und Tragik fünf Akte lang wandelten, die verhängnisvolle Klippe so sicher überwunden wurde.“ Béla Balázs lobte die Fokussierung des Films auf die Natur und urteilte in Der Tag vom 9. März 1923, der Film sei deswegen so wirkungsmächtig, „weil die stärkste Ahnung des Übernatürlichen gerade aus der Natur zu holen ist“. Nur das Medium Film könne dies wirkungsvoll leisten, denn Sprache sei für die Darstellung des Phantastischen zu rational.
Konkurs der Prana und Urheberrechtsstreit
Nosferatu wurde ein finanzieller Misserfolg. Die UFA weigerte sich, den Film in das Programm ihrer großen Lichtspielhäuser aufzunehmen, und so lief Nosferatu nur in wenigen kleineren, vom Marktführer unabhängigen Kinos. Bereits im April 1922 kamen Gerüchte auf, die Prana-Film habe sich finanziell übernommen. Die mehreren Millionen Mark, die die Prana als Startkapital von im Filmgeschäft unerfahrenen Geldgebern aus Schlesien erhalten hatte, waren aufgebraucht, was einerseits der großangelegten Werbekampagne für den Film, andererseits dem verschwenderischen Ausgabeverhalten Dieckmanns und Graus zugeschrieben wird. Murnau hatte für seine Regiearbeit 25.000 Mark erhalten, und noch zu Weihnachten 1921 hatten ihm die Prana-Chefs zusätzlich eine prozentuale Beteiligung am Einspielergebnis des Films angeboten. Im August 1922 wurde das Konkursverfahren gegen die Prana eröffnet und der Film wurde gepfändet.
Noch im Jahr der Uraufführung bemühte sich Bram Stokers Witwe Florence Stoker, gegen die durch die Prana begangene Urheberrechtsverletzung vorzugehen. Sie trat der British Incorporate Society of Authors bei und klagte über einen Anwalt in Berlin gegen die Rechtsnachfolger der Prana. Ein Vergleich, in dem Stoker 5000 Pfund für die Rechte forderte, kam nicht zustande. Im Juli 1925 entschied das Berliner Gericht letztinstanzlich, dass das komplette Filmmaterial inklusive aller Kopien von Nosferatu zu vernichten seien. Die Film Society in London plante trotz dieser Gerichtsentscheidung die Aufführung einer in England befindlichen Kopie, wogegen Florence Stoker einschritt. Es gelang jedoch, die Kopie vor der Vernichtung zu verbergen. Als vier Jahre später die Film Society erneut einen Anlauf unternahm, den Film zu zeigen, setzte sich Florence Stoker durch und die Kopie wurde vernichtet. Unterdessen hatte Stoker Verhandlungen mit Universal über die Filmrechte an Dracula aufgenommen. Das Filmstudio erwarb die Rechte für 40.000 Dollar und produzierte 1931 die erste autorisierte Filmadaption, Tod Brownings Dracula.
Weitere Versionen
Trotz Florence Stokers Bemühungen, die vorhandenen Kopien des Films vernichten zu lassen, blieben viele unversehrt. Der Film war bereits ins Ausland verkauft, und es existierten bereits in vielen Ländern Versionen, die sich in Schnitt und Zwischentitelung unterschieden. In den späten 1920er Jahren wurde eine französische Schnittfassung, die im Unterschied zur deutschen Version nur 31 Zwischentitel enthielt, unter den Surrealisten um André Breton sehr populär. Diese französische Version gelangte schließlich in die Vereinigten Staaten und wurde mit englischen Zwischentiteln versehen. Die Filmfiguren hießen nun wieder nach Stokers Roman Jonathan und Mina Harker, Dracula, Renfield und so weiter. Aus dem Handlungsort Wisborg wurde Bremen.
1930 erschien unter dem Titel Die zwölfte Stunde eine durch die Deutsch-Film-Produktion nachträglich vertonte Version des Films, ohne Murnaus Autorisierung und ohne Regisseurnennung. Waldemar Roger als künstlerischer Bearbeiter hatte von Albin Grau zusätzliches Filmmaterial unter der Maßgabe erhalten, das Material durch Schnitt und Ton so zu verfremden, dass eine weitere Rechteverletzung nicht zu erkennen sei. Roger änderte die Namen der Protagonisten; aus Orlok wurde Wolkoff, aus Knock wurde Karsten, Hutter hieß Kundberg, Ellen bekam den Namen Margitta, und aus Harding wurde Hartung. Eine Szene mit dem glücklichen Paar Hutter und Ellen, die sich in Murnaus Version im ersten Akt befand, setzte Roger als Happy End an den Schluss des Films. Zusätzlich drehte er weitere Szenen, unter anderem eine Totenmesse mit Hans Behal als Priester, die der Zensur zum Opfer fiel. Einige eingeschnittene bäuerlich-folkloristische Szenen entstammten Kulturfilmen. Die neue Filmmusik für den Nadelton des Films stammte von Georg Fiebiger.
Aufgrund der ursprünglichen Urheberrechtsverletzung durch die Prana und da weder sie noch das rechtsnachfolgende Unternehmen das Copyright für Nosferatu in den USA beantragt hatten, galt der Film dort als Public Domain. Bekanntheit erlangte er, als er in den 1960er Jahren in einer stark verkürzten Fassung in der Reihe Silents Please! im US-Fernsehen gesendet wurde. Viele Unternehmen, die Videos produzierten, machten sich den Umstand der Copyright-Freiheit zu Nutze und vertrieben den Film unter verschiedenen Namen wie Dracula, Terror of Dracula, und Nosferatu the Vampire und in Versionen unterschiedlicher Qualität, viele davon Derivationen einer Ausgabe von Blackhawk Films aus den frühen 1970ern.
Rekonstruktionen und Restaurierungen
Ab 1981 wurde Nosferatu auf Initiative des Filmmuseums München erstmals rekonstruiert und restauriert. Als Grundlage dienten deutsche, französische und spanische Schnittversionen, einschließlich einer sich in der Cinémathèque française befindlichen Kopie von Die zwölfte Stunde. Allerdings war diese Fassung nicht wie Murnaus Urfassung viragiert, sondern in schwarz-weiß. Die Zwischentitel wurden anhand einer im Staatlichen Filmarchiv der DDR befindlichen Filmkopie rekonstruiert. Eine eingefärbte Version dieser Restaurierung – die Viragierungen wurden durch Umkopieren durch einen Filter erzeugt – hatte seine Uraufführung anlässlich der Internationalen Filmfestspiele Berlin am 20. Februar 1984, wo der Film zu Ehren Lotte H. Eisners gezeigt wurde. Ein Salonorchester spielte dazu Erdmanns Originalmusik. Eine auf dieser Version basierende, aber von Enno Patalas ergänzte und in den Viragen korrigierte Fassung wurde vom 1. Februar bis zum 5. Februar 1987 im Carl-Orff-Saal im Münchner Gasteig gezeigt. Unter der Leitung von Berndt Heller spielte das Symphonie-Orchester Graunke Erdmanns originale Filmmusik. Diese Fassung wurde am 29. Dezember 1988 auch im ZDF ausgestrahlt, wobei Farbe und Kontraste durch Videotechnik nachbearbeitet wurden und die Vorführgeschwindigkeit auf 18 Bilder pro Sekunde herabgesetzt wurde. Die Musik zu dieser Fernsehfassung schrieb Hans Posegga.
Ein weiterer Anlauf zur Restaurierung wurde 1995 durch das Projekt Lumière unternommen. Anhand einer vom Murnau-Fachmann Luciano Berriatúa in der Cinémathèque française neu aufgefundenen Nitratkopie des Films aus erster Generation erfolgte eine Überarbeitung unter Federführung der Cineteca di Bologna und wiederum des Filmmuseums München unter Enno Patalas. Diese besonders in den Farbgebungen anhand der frühen Kopie nochmals überarbeitete Version kam auf verschiedenen Filmfestivals zur Aufführung, so etwa in Cannes, Bologna und London.
2005 bis 2006 schufen Luciano Berriatúa und die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung eine Überarbeitung, bei der der Film komplett digitalisiert und jedes Einzelbild bearbeitet wurde, um es zu säubern, von Altersschäden zu befreien, Klebungen zu retuschieren und den Bildlauf zu stabilisieren. Das verwendete Filmmaterial stammte aus einer viragierten, französischen Kopie. Fehlende Szenen wurden von zwei Sicherungskopien des Filmarchivs des Bundesarchivs aus den Jahren 1939 und 1962 ergänzt, die wiederum auf einer tschechischen Version aus den 1920ern beruhten. Auch hier benutzte man wieder eine Kopie von „Die zwölfte Stunde“. Die originalen, deutschen Zwischentitel wurden aus einer Sicherungskopie des Bundesarchiv-Filmarchivs in die restaurierte Fassung eingefügt. Fehlende Zwischentitel wurden nachgestaltet und der Original-Typographie angepasst. Diese Version, unterlegt mit Erdmanns Musik, wurde von Transit Film in Deutschland auf DVD veröffentlicht.
DVD-Veröffentlichungen
Von Nosferatu existiert auf dem westlichen Markt etwa ein Dutzend unterschiedlicher DVD-Fassungen (Stand 2007). Zu dieser Vielzahl wesentlich beigetragen hat, dass Nosferatu in den USA bereits als Public domain galt, bevor der Film 2020 auch in Deutschland gemeinfrei wurde. Die Spannweite der DVDs reicht dabei von Billigpressungen bis zu mehr oder weniger aufwendigen Restaurierungen. Erhältlich sind sowohl viragierte als auch Schwarzweiß-Fassungen mit Zwischentiteln in unterschiedlichen Sprachen und diversen Filmmusiken.
Inszenierung
Visueller Stil
Drehortwahl und Bildkomposition
Ungewöhnlich für einen deutschen Film dieser Zeit war die große Anzahl an Außenaufnahmen und die intensive Nutzung real existierender Drehorte. Der Regisseur verweigert sich damit den Kunstwelten des expressionistischen Films, wie sie mit Filmen wie Das Cabinet des Dr. Caligari (Robert Wiene, 1920) und Der Golem, wie er in die Welt kam (Paul Wegener und Carl Boese, 1920) in Mode waren. Im Gegensatz dazu waren Murnaus Aufnahmen naturalistisch und enthielten nach Eisner „etwas von dem fast Dokumentarischen gewisser Filme Dowshenkos“. Damit erzielt der Film seine Schauerwirkung durch den Einbruch des Unheimlichen in den Alltag, durch die Bedeutungsumkehrung idyllischer, naturalistisch gefilmter Schauplätze. Gehler und Kasten merken an: „Das Grauen erwächst aus dem Vertrauten, nicht aus dem Abartigen.“ Durch die Mittel der szenischen Gestaltung, der Kamera und der Cadrage gelingt es Murnau trotz seiner passiven, lediglich dokumentierenden Haltung gegenüber der abgebildeten Welt, expressiven Ausdruck zu schaffen. Lotte Eisner bezieht sich auf die Szene, in der schwarzgekleidete Sargträger in einer langen Prozession eine schmale Gasse herunterkommen, wenn sie feststellt: „Die ‚expressivste Expression‘, wie sie die Expressionisten fordern, ist hier ohne künstliche Mittel erreicht.“
Insbesondere im Zusammenspiel von Filmfigur und Architektur erschafft Murnau diese Ausdrucksstärke: Der Vampir steht oft vor verwinkelten Eingängen, unter Torbögen oder vor sargähnlichen Öffnungen. Seine Gestalt mit der krummen Nase und dem Buckel wird in Verbindung zu architektonischen Wölbungen und Bögen gebracht. Frieda Grafe sieht eine „Parallelisierung von Körper und Bau“, die sich ins Metaphorische fortsetzt: sowohl Orloks Karpatenschloss als auch sein neues Haus von Wisborg sind öde und ruinös, korrespondierend zu seiner Einsamkeit und seiner Stellung zwischen Leben und Tod.
Lichtsetzung und Kameraführung
Die Lichtsetzung in Nosferatu ist besonders in den spukhaften Szenen im Low-Key-Stil gestaltet. Nur einzelne Figuren oder Bildbereiche sind gerichtet ausgeleuchtet, während der Rest des Bildes im Dämmerlicht oder im Dunklen bleibt. Dadurch entstehen plastische Schatteneffekte, insbesondere der Körperschatten des Vampirs, der ihm „wie ein böses Omen“ vorauseilt und den szenischen Raum damit ins Off erweitert. Der kunstgeschichtlich geschulte Murnau bezieht sich in seiner Lichtgestaltung nach Silke Beckmanns Meinung auf Vorbilder in der Malerei, namentlich auf Rembrandt, Vermeer, Hendrick ter Brugghen und Frans Hals. Bei den Farbgebungscodes der Viragierung hielt sich Murnau an die Konventionen der damaligen Zeit: die Nachtszenen waren blau eingefärbt, die Innenräume tagsüber sepiabraun und nachts gelborange. Eine Einfärbung in Rosa wählte Murnau für die Szenen bei Morgengrauen.
Da die Kamera in Nosferatu zumeist statisch und unbewegt bleibt, arbeitet Murnau mit Bewegung und Staffelung innerhalb des starren Kaders, um das Geschehen zu dynamisieren. Als Orloks Schiff langsam von rechts nach links das Filmbild durchfährt, nutzt Murnau den, so Eisner, „wirkungsmächtige[n] Eindruck der transversalen Bewegung“ zur Spannungsbildung. Dem gleichen Zweck dienen Subjektivierungen des Kamerablicks, etwa wenn der Vampir auf dem Schiff aus der Froschperspektive gefilmt wird oder beim Blick aus Fenstern Teile des Rahmens und der Sprossen ins Bild ragen. Höhepunkt des subjektivierten Blicks sind die Szenen, in denen sich die Vampirfigur – direkt in die Kamera blickend – dem Zuschauer zuwendet und somit die vierte Wand durchbrochen wird: „Der Vampir scheint durch seine Riesenhaftigkeit die Dimensionen der Leinwand zu sprengen und den Zuschauer direkt zu bedrohen.“ Andere Elemente in Murnaus Kamerasprache sind Versuche, mit Schärfentiefe zu arbeiten; so wird etwa der schlafende Hutter mit dem hinter ihm im Türrahmen auftauchenden Vampir in Art einer Inneren Montage in Verbindung gebracht.
Visuelle Effekte
Murnau setzt in Nosferatu Filmtricks ein, um den Übergang Hutters in die Welt des Grafen zu markieren. Durch Einzelbildschaltung der Kamera entsteht bei der Kutschfahrt Hutters ein ruckartiger Zeitraffereffekt. Indem der Regisseur in einer weiteren Szene Negativbilder verwendet und damit die Tonwerte umkehrt, entsteht der Eindruck, die Kutsche fahre durch einen weißen Geisterwald. Durch Doppelbelichtung entstehen in einigen Szenen mit dem Vampir Überblendungseffekte, die ihn geisterhaft-körperlos durch geschlossene Türen gehen lassen können. Thomas Koebner spricht diesen Effekten jede verstörende Wirkung ab und nennt sie „heitere Bildwitze aus der Zeit der Laterna magica“. Auch Siegfried Kracauer ist der Ansicht, dass die Durchschaubarkeit der Tricks deren nachhaltige Wirkung auf den Zuschauer verhindern würden: „Es versteht sich, dass Filmsensationen dieser Art sich schnell erschöpfen.“
Dramaturgie
Erzählstil
Vordergründig ist Nosferatu eine schlichte, volksmärchenartige Erzählung, die linear auf ein Ende von unvermeidlicher Konsequenz zusteuert. Ein ähnlicher Erzählaufbau findet sich in Murnaus Der letzte Mann (1924) und Faust – eine deutsche Volkssage (1926). Bei näherer Betrachtung fallen jedoch die vielen unterschiedlichen Erzählinstanzen auf, durch die die Geschichte aus den verschiedensten Blickwinkeln beleuchtet wird: der Chronist der Seuche, Hutters Chef, die abergläubischen Dorfbewohner, das „Buch der Vampyre“, sowie weitere schriftliche Erzählzeugen wie das Schiffslogbuch, Tagebuchtexte, Briefe und Zeitungsausschnitte. Der Zuschauer bleibt über den Wahrheitsgehalt und die Zuverlässigkeit der einzelnen Quellen im Unklaren, zumal die Erzählpositionen oft vage und wenig definiert sind. So merkt etwa Frieda Grafe an, der Bericht des Chronisten sei „für eine Chronik zu persönlich, für ein Tagebuch zu fiktiv.“ Für Michael Töteberg ist Nosferatu somit „ein Versuch, die Möglichkeiten des Films zu erkunden“, ein Experimentierfeld für den Gehalt an Wahrheit in der Abbildung und ein Ausloten der Stellung des Films als erzählender Autorität.
Eine wichtige narrative Funktion nehmen dabei die Zwischentitel ein. Ihre Anzahl ist mit 115 ungewöhnlich hoch. Die von Albin Grau kalligraphierten Titel zeigen beim Bericht des Chronisten eine stilisierte lateinische Schreibschrift auf papierartigem Untergrund, bei den Dialogen eine grell eingefärbte, modernere Schrift und bei Briefen eine deutsche Kurrentschrift. Seiten aus dem „Buch der Vampyre“ erscheinen in einer gebrochenen Druckschrift. Die Zwischentitel wirken wie filmische Einstellungen: Auf- und Abblenden umrahmen sie, die Kamera fährt auf sie zu oder entfernt sich von ihnen, Seiten werden umgeschlagen.
Schnitt und Montage
Mit über 540 Einstellungen ist Nosferatu ein für die damalige Zeit sehr schnell geschnittener Film. Der Einfluss von David Wark Griffiths revolutionärer Schnittarbeit in Intoleranz (1916) wird deutlich. Gemäß Thomas Elsaesser wird der Tempoeindruck des Zuschauers jedoch dadurch verlangsamt, dass die einzelnen Szenen monolithische Einheiten für sich sind und Murnau keine harmonischen, den Handlungsfluss beschleunigenden Anschlüsse einfügt, also nicht nach den Kriterien der Kontinuitätsmontage schneidet. Der Regisseur weist den Geschehnissen keine eindeutige zeitliche Abfolge zu und vernetzt sie nicht nach Kriterien der Kausalität. Der für den Zuschauer entstehende Eindruck ist der einer „Traum-Logik“, in der Ursache-Wirkungs-Mechanismen außer Kraft gesetzt sind und die Nachvollziehbarkeit der Ereignisse für eine eher psychologisch wirkende Darstellung gegenseitiger Abhängigkeiten und Anziehungen der Figuren in den Hintergrund tritt. Seeßlen und Jung bezeichnen den Film deshalb als „großartiges Stimmungsbild viel mehr denn als Film-‚Erzählung‘“.
Diese Filmgestaltung nach Art eines Traums, der sich nie völlig erschließt, führt zu offensichtlichen logischen Brüchen. So bleibt unklar, warum der Graf sich für das Ruinenhaus in Wisborg interessiert, bevor seine Liebe zu Ellen überhaupt entbrannt ist, oder warum Ellen am Strand auf Hutter wartet, wo sie ihn doch eigentlich auf dem Landweg zurückerwarten müsste. Diese und weitere „Fehler“ in Zeit und Raum kulminieren in einer Montage, in der der Vampir und Ellen zueinander in Verbindung gebracht werden, obwohl sie Hunderte Kilometer voneinander entfernt sind: Der Graf, sich noch in seinem Karpatenschloss befindend, blickt ins rechte Off, gefolgt von einer Einstellung, in der Ellen, in Wisborg weilend, ihre Hände flehend ins linke Off streckt. Die Blickachse der beiden Figuren wird verbunden und die räumliche Distanz damit überwunden. Die Szene evoziere „nicht den Eindruck einer räumlichen Beziehung, sondern der einer Ahnung oder seherischen Gabe der Figuren“, stellt Khouloki fest.
Elsaesser nennt diese Brüche in Raum und Zeit die „Logik des imaginären Raumes“, dazu geeignet, die Abhängigkeiten und Manipulationen der Protagonisten anzudeuten: Orlok manipuliert Knock, Knock manipuliert Hutter, Ellen manipuliert Orlok, um Hutter manipulieren zu können. Die gegenseitigen „Kraftströme der Anziehung und Abstoßung“ zeigten eine „geheime Verwandtschaft“ unter den Figuren auf: alle seien sie „sowohl aktiv als auch passiv, Initiator und Opfer, Rufender und Verrufener“.
Musik
Hans Erdmann betitelte seine Filmmusik zu Nosferatu als „Fantastisch-romantische Suite“; der Titel offenbare, so Berndt Heller, ein „gängiges Mißverständnis“. Anders als der Filmuntertitel Symphonie des Grauens vermuten lasse, setze Erdmann weniger auf mit dem Vampirstoff allgemein verbundene Elemente wie Grauen, Schauer und Schock als auf zur Intention des Regisseurs korrespondierende Stimmungsbilder, in denen sich die Verklärung der Natur und der märchenhaft-volkssagenartige Charakter des Films widerspiegeln. Wie Murnau verdeutliche Erdmann in seiner Musik „die Verstrickung der Dämonie ins Sagen-, Märchen- und Naturhafte“.
Erdmanns Partitur erschien in Ausgaben für großes Orchester und für Salonorchester beim Verlag Bote & Bock. Die zehn Einzelstücke tragen auf Wiederverwendbarkeit angelegte, typische Kinothekentitel: Idyllisch, Lyrisch, Spukhaft, Stürmisch, Vernichtet, Wohlauf, Seltsam, Grotesk, Entfesselt und Verstört. Da die Gesamtspieldauer des Werkes nur etwa 40 Minuten beträgt, vermutet Berndt Heller, dass für die Aufführungen einzelne Teile wiederholt wurden, etwa um die Figuren immer wieder leitmotivisch zu begleiten. Auch den wiederholten Einsatz einzelner Sätze für neue szenische Situationen durch Abwandlung des Stückcharakters, etwa durch veränderte Vortragsangaben in den Tempi und in der Dynamik hält Heller für möglich.
2003 schrieb der Spanier José María Sánchez-Verdú eine neue Filmmusik zu Murnaus Werk, die den Film in einer modernen, stimmigen Weise kommentiert und sehr erfolgreich in Spanien und Deutschland bei Vorführungen des Films live gespielt wurde.
2015 wurde Murnaus Film Nosferatu mit der Filmmusik von Matthew Aucoin unter Mitwirkung des Los Angeles Opera Orchestra und unter Leitung des Komponisten im Theatre at Ace Hotel in Los Angeles gezeigt.
2018 rekonstruierten Hans Brandner und Marcelo Falcão die komplette „Fantastisch-romantische Suite“ von Hans Erdmann und veröffentlichten zugleich Filmpartituren auf dieser Grundlage für Klavier, Ensemble, Salonorchester und großes Orchester. 2018 führten sie die Musik erstmals in Brasilien auf und Nosferatu wird seit 2018 regelmäßig im Kino Babylon in Berlin mit ihrer Musikfassung gezeigt.
Eine seltene Version des Filmes beinhaltet die musikalische Umrahmung nach Motiven von Johann Sebastian Bach, aufgeführt durch 17 Musiker des Radio-Sinfonieorchesters Basel unter Leitung von Armin Brunner.
Der Film wurde auch mehrmals Grundlage für Improvisationskonzerte, beispielsweise 2013 mit Mathias Rehfeldt an der Konzertorgel in Edmonton oder 2014 mit Gabriela Montero am Klavier in Berlin.
Im Rahmen der Filmsinfonik-Reihe des Filmmusikspezialisten Frank Strobel in der Tonhalle Zürich kam es zu einer weiteren Neuvertonung. 2023 wurde die Komposition von Horrorfilmmusikspezialist Christopher Young mit dem Tonhalle-Orchester Zürich uraufgeführt.
Cameo-Auftritt
Zusammen mit seinem Lebensgefährten und Assistenten Walter Spies ist Murnau auch in einem Cameo-Auftritt in Nosferatu zu sehen. In einer Szene gegen Ende des Films lauschen sie entsetzt dem Bericht einer alten Frau, die ihnen vom Bösewicht Knock erzählt, der den Gefängniswärter erwürgte.
Themen und Motive
Natur
Der Regisseur präsentiert neben den Landschaftsaufnahmen ein Panoptikum der Tier- und Pflanzenwelt: Von der mikroskopischen Aufnahme eines Polypen über eine Venusfliegenfalle, eine für einen Werwolf einstehende Streifenhyäne bis hin zu scheuenden Pferden reicht der Bogen der verwendeten Naturaufnahmen. Murnau symbolisiere damit eine „fatale Beziehungskette vom Fressen und Gefressen-Werden“, merkt Elsaesser an. Seeßlen und Jung kommentieren: „Die Natur in allen ihren verschlingenden und saugenden Aspekten verlangt ihr Recht.“ Die überwiegend Kulturfilmen entspringenden Szenen haben laut Frieda Grafe die Funktion, „den Vampir zu naturalisieren“, ihn als Bestandteil der Natur in diese einzubetten, um seine Wirkungsmacht noch unheimlicher, da naturgegeben und somit unumstößlich erscheinen zu lassen. Als ein „Untoter“ sei er „jenseits der Kategorien von Schuld und Reue“, wie Hans Günther Pflaum anmerkt.
Der Vampir selbst wird neben seinen menschlich-rationalen und tierisch-animalischen Eigenschaften durch seine Starrheit und seine ruckartigen Bewegungen auch noch mit einer mechanischen Komponente charakterisiert. Die Figur sprengt damit alle Kategorisierungsversuche; ein Aspekt der Zuschauerverunsicherung: „All unsere Sicherheiten, die sich auf klare Grenzen, Ordnung, Klassifikationen gründen, werden schwankend.“ Andererseits ist die starke Verbindung zwischen dem Vampir und der Natur Anlass für den Zuschauer, mit der Figur mitzufühlen: „Wenn die erschreckende Gestalt als Teil der Natur identifiziert wird, ist es nicht länger möglich, sich allen Gefühlen des Mitleids zu entziehen.“ Besonders deutlich wird dies in der Sterbeszene Orloks; der Hahnenschrei evoziert Ahnungen von Verrat, das abstoßende Wesen wird im Todeskampf menschlich.
In der umfassenden Vereinnahmung aller Erscheinungsformen der Natur sehen Seeßlen und Jung pantheistische Aspekte: es besteht eine göttliche Verbindung zwischen allen Dingen, die nach Harmonie und Vollkommenheit strebt, doch ihnen wohnt auch eine latente dämonische Gefahr inne. Der Instinkt der Tiere (im Film die scheuenden Pferde) nimmt diese Bedrohung als erster wahr. In diesem Zusammenhang verweisen Gehler und Kasten auch auf Murnaus Künstlerfreund Franz Marc und seine metaphysischen Tierdarstellungen, insbesondere auf das Bild Tierschicksale aus dem Jahr 1913, das die Kreaturen im Kampf um die ursprüngliche Harmonie des Paradieses darstellt.
Romantizismus
Murnau folgt mit der Ansiedlung seiner Geschichte im frühen 19. Jahrhundert und seiner Naturbetontheit einem Trend der 1920er Jahre, eine verklärende und romantisierende Sicht auf vorindustrielle Zeiten zu suchen. Wie etwa auch bei Fritz Lang mit Filmen wie Der müde Tod (1921) ist ein eskapistischer Hang zum „altdeutschen“, biedermeierlichen Sujet zu erkennen, der als Angst vor der Modernität und den Umbrüchen der Nachkriegsgesellschaft gedeutet werden kann. Andererseits nutzten diese Regisseure für ihren Blick zurück die modernsten Produktionstechniken und Organisationsformen der Zeit. Klaus Kreimeier hält Murnau deshalb nicht für einen reaktionären Künstler: „Die Technizität, das Geometrie-Bewusstsein seiner Filmarbeiten weisen ihn […] als dezidierten Modernen aus.“
Erkennbar greift Murnau jedoch in seinen Naturdarstellungen und Bildkompositionen auf sehnsuchtsvolle und verklärende Elemente der Romantik zurück, am offensichtlichsten auf Bildmotive von Caspar David Friedrich, dessen Vergegenständlichungen transzendenter Zustände für viele szenische Aufbauten Murnaus Pate gestanden zu haben scheinen. Grafe erkennt besonders in den Szenen mit Ellen etliche Verweise auf Werke Friedrichs, etwa auf Frau am Fenster oder auf Friedrichs Strandbilder. Ellen sei in diesen artifiziell gestalteten Filmbildern „die verkörperte Melancholie, die Freud als eine Blutung des Innenlebens bezeichnete“, merkt Grafe an. Andere Topoi der Romantik wie die Beseeltheit der Natur und die Wirkungsmacht des Schicksals werden früh im Film eingeführt: Ellen fragt ihren Ehemann, der ihr einen Blumenstrauß bringt: „Warum tötest du die schönen Blumen?“; ein Passant warnt Hutter beiläufig: „Niemand entflieht seinem Schicksal.“
Politik und Gesellschaft
Siegfried Kracauer stellt in seinem Buch Von Caligari zu Hitler (1947) das Kino der Weimarer Zeit in einen Zusammenhang mit dem Aufkommen der Diktatur in Deutschland und nennt die Figur des Vampirs „gleich Attila […] eine ‚Geißel Gottes‘, […] eine blutrünstige, aussaugerische Tyrannenfigur.“ Zu diesem Tyrannen stehe das Volk in einer Art „Hassliebe“: einerseits verabscheue es die Gewaltherrschaft des Despoten, andererseits sei es getrieben von einer antiaufklärerischen Sehnsucht nach Erlösung und Erhöhung durch eine unergründliche Macht. Kracauers Sicht folgen etwa Christiane Mückenberger, die den Film „eine der klassischen Tyrannengeschichten“ nennt, sowie Fred Gehler und Ullrich Kasten, die Nosferatu ebenfalls als „Tyrannenfilm“ einordnen. Auch Seeßlen und Jung sehen den Vampir als „das metaphysische Sinnbild politischer Diktatur“. Wie viele ähnliche Figuren in den Stummfilmen dieser Zeit sei er nur deswegen tyrannisch, weil er das Gefühl habe, nicht geliebt zu werden; er könne nur durch die Liebe bezwungen werden.
Dass Nosferatu unmittelbar die Geschehnisse des Ersten Weltkriegs und die Wirren der Nachkriegszeit reflektieren sollte, bestätigt Albin Grau. Der Film beziehe sich auf das Erlebnis des Krieges und sei „ein Hilfsmittel zu begreifen, wenn auch oft nur unbewusst, was hinter diesem ungeheuren Geschehnis liegt, das daherbrauste wie ein kosmischer Vampir“. Auch Gehler und Kasten beziehen sich auf die gesellschaftliche und politische Instabilität der Zeit und sehen die Vampirfigur als Manifestation kollektiver Ängste. Nosferatus Schatten stehe „über einer vielfach gefährdeten, instabilen, von dunklen Ängsten gepeinigten Gesellschaft. Er kommt in ein Universum, das anfällig geworden ist gegenüber Gewalt und Terror.“ Koebner mutmaßt, die Pestepidemie könnte eine Repräsentation der gerade erst überstandenen Pandemie der Spanischen Grippe sein und weist darauf hin, dass in Nosferatu die Figur des Van Helsing, des Vampirbezwingers, keine Entsprechung hat. Statt sich aktiv gegen das Verderben zu wehren, blieben die Figuren passiv und wie erstarrt; sie reihten sich damit ein in die Tradition des Weimarer Films und hätten „Anteil am zeitgenössischen Pandämonium der reduzierten Existenzen, die aus ihren Alpträumen nicht zu erwachen scheinen.“
Anton Kaes sieht in der Repräsentation angsterregender Fremdheit in der Figur des Orlok „antisemitische Strukturen und Motive“: Wie die migrierenden „Ostjuden“ zu Ende des 19. Jahrhunderts komme der Graf aus Osteuropa. Die Charakterisierung als „Blutsauger“ und die Bilder der die Pest verbreitenden Ratten wecken in Kaes die Assoziation an antisemitische Stereotype, wie sie etwa in Fritz Hipplers Propagandafilm Der ewige Jude (1940) eingesetzt werden. Thomas Koebner hält diese Meinung allerdings für abwegig; es sei zu plump, die Instrumentalisierung dieser Motive aus der Zeit des Nationalsozialismus auf Murnaus Film zu übertragen.
Sexualität
Die im Schnitt des Films angelegte Abhängigkeit und Manipulation der Figuren untereinander lässt sich auch auf den Bereich der Sexualität übertragen. Gunter E. Grimm bezeichnet Nosferatu als „die traumatische Kompensation der in der bürgerlichen Gesellschaft untersagten Sexualität“. Als Ellen dem Vampir schlussendlich Einlass in ihr Schlafzimmer gewährt, kann dies als Repräsentation des alten Volksglaubens gelesen werden, eine unschuldige Jungfrau könne eine Stadt vor der Pest retten. Andererseits ist auch eine Wertung naheliegend, dass die junge Frau mit ihrer Tat gegen die Zwangsinstitution Ehe rebelliert und versucht, die sexuelle Frustration ihrer Beziehung zu Hutter zu überwinden. Entgegen dem asexuell gezeichneten Hutter ist der Vampir „die unterdrückte Sexualität, die in das idyllische Leben der Neuvermählten einbricht“, wie Kaes anmerkt.
Für Koebner ist Nosferatu somit eine „merkwürdige, nur halb verschlüsselte Dreiecksgeschichte“ und der animalische Graf „die puritanische Verschlüsselung sexuellen Appetits“. Die zügellose Triebhaftigkeit, der sich Ellen und Orlok anheimgeben, bleibt im Film nicht ungesühnt: Sowohl der Graf als auch Ellen sterben, und Hutter ist erst wieder frei, nachdem sich seine Frau in fataler, tödlicher Weise mit dem Monster vereinigt hat. Elsaesser wertet die sexuelle Konnotation des Films auch biografisch: der homosexuelle Murnau thematisiere in der Figur des Orlok „die Verschiebung und Verdrängung des eigenen homosexuellen Verlangens auf potente Doppelgänger, die die dunkle Seite der eigenen Sexualität spiegeln.“. Auch Stan Brakhage nimmt einen biografischen Hintergrund an. Die Figurenkonstellation verweise auf Murnaus „eigene[n] persönlichste[n] Kindheits-Terror“; Hutter werde auf das furchtsame Kind reduziert, das dem „Vater“ Nosferatu ohnmächtig ausgeliefert ist. Ellen sei die Mutterfigur, die durch ihr Wesen und ihre Tat das Kind rettet.
Okkultistische Symbolik
Die realistische Inszenierung des Films erweckt den Eindruck, dass übersinnliche Vorgänge wie selbstverständlich in der realen Welt verankert sind. In der Zeichnung des Vampirs als magische und trotzdem reale Figur, die in elitär-gelehrter Weise mit Geheimwissen ausgestattet ist, wird der Einfluss Graus, der in okkulten Kreisen verkehrte, auf den Film deutlich. Sichtbar wird dieser Einfluss vor allem in der Gestaltung des Briefes, den Knock zu Beginn des Films von Nosferatu erhält. In zwei kurzen Einstellungen, die zusammen nur wenige Sekunden dauern, sieht man einen kabbalistisch anmutenden Geheimtext, dessen Code Sylvain Exertier für durchaus interpretierbar hält. Neben Zeichen wie dem Malteserkreuz und einer Swastika sind Buchstaben aus dem hebräischen Alphabet sowie astrologische Symbole zu erkennen. Sylvain Exertier interpretiert den Text als Ankündigung von Orloks – auch spiritueller – Reise im Spannungsfeld zwischen dem männlichen Prinzip, vertreten durch den Jupiter, dem Weiblichen, symbolisiert durch die Venus, und dem Tod, für den der Saturn steht. Hinzu kommen dekorative Zeichnungen eines Totenkopfs, einer Schlange und eines Drachen, die Exertier für „eher spektakulär als authentisch“ hält. Es bleibe offen, ob es sich bei dem Brief um eine „Koketterie des Regisseurs oder ein[en] Augenwink für die Okkultisten“ handle.
Moderne Rezeption
Einordnung und Bewertung
Ulrich Gregor und Enno Patalas werten Nosferatu als Quantensprung in Murnaus filmischer Arbeit, Murnaus Talent werde hier „zum ersten Mal in jeder Einstellung sichtbar“. Die Innovation liege in der revolutionären Gestaltung des Vampirs, merkt Lars Penning an, dieser sei „die zweifellos grauenerregendste Figur, die das Kino bis dato kannte“. Für Gunter E. Grimm ist der Film „ohne Zweifel der wirkungsmächtigste der alten Vampirfilme, der bis heute auch auf moderne Filmemacher kaum etwas von seiner Faszination verloren hat“.
Thomas Elsaesser betont den Reiz des Films aus dem Widerstreit zwischen technischer Perfektion und seiner hauptsächlich psychologisch wirkenden Thematik: „Murnaus Poesie war das Ergebnis einer distanzierten, fast schon klinischen Anwendung der technischen Meisterschaft deutscher Photo- und Kameraarbeit auf emotional aufgeladene, mit tiefsitzenden Ängsten und Gefühlen verknüpfte Themen.“ Die traumartige, das Unterbewusstsein ansprechende Inszenierung gebe dem Filme eine „nur schattenhaft entschlüsselbare, verborgene Logik“, diese bewahre dem Film „bis heute starken Appellcharakter“, urteilt Thomas Koebner. Auch Klaus Kreimeier hebt auf diese Filmwirkung ab und bescheinigt Nosferatu eine „Authentizität des Traums – und den fiktiven (das heißt: auf Konventionen beruhenden) Charakter dessen, was wir Wirklichkeit nennen“.
William K. Everson urteilt, der Film leide „unter dem extrovertierten und reichlich überzogenen Spiel von Alexander Granach […] sowie praktisch allen anderen Mitgliedern der Besetzung außer Schreck“. Auch Lotte H. Eisner bemängelt das schwerfällige Spiel, die Darstellerleistungen seien „keineswegs bedeutend“, was sie dem Umstand zurechnet, dass Murnau zu dieser Zeit in der Schauspielerführung noch nicht erfahren genug gewesen sei.
Nachwirkung
Lars Penning bezieht sich auf Nosferatu und auf Caligari und Golem, wenn er feststellt: „Der amerikanische Horrorfilm der 1930er Jahre ist ohne das fantastische deutsche Stummfilmkino nicht denkbar.“ Jörg Buttgereit sieht mit diesem Film Deutschland gar als „einen Geburtsort des seither arg geschmähten Horrorfilm-Genres.“ Nachhaltige Wirkung auf das Genre zeigte Nosferatu vor allem bei Filmen, die auf den Schrecken sublimer Imagination anstatt auf vordergründige, grauenerregende Effekte bauten, etwa auf Carl Theodor Dreyers Vampyr – Der Traum des Allan Grey (1931) und auf die Filme Val Lewtons für RKO in den 1940er Jahren. Besonders die Gestaltung der Rolle durch Max Schreck, die den relativ unbekannten Schauspieler in der öffentlichen Wahrnehmung mitunter mit der Film-Persona verschmelzen ließ, und die Konzeption der Maske mit kahlem Schädel, spitzen Ohren, den beiden mittig sitzenden Beißzähnen und verlängerten Extremitäten gingen in den Kanon populärkultureller Standards ein. So stellt Buttgereit fest, der Vampir aus Tobe Hoopers Brennen muss Salem (1979) sei zum Beispiel eine „exakte Nosferatu-Kopie“, und auch die fliegenden Vampire in Tim Burtons Nightmare Before Christmas (1993) seien nach Nosferatus Vorbild gestaltet.
Die US-amerikanische Rockband Blue Öyster Cult verarbeitete den Nosferatu-Stoff in dem gleichnamigen Song, erschienen 1977 auf dem Album Spectres. 1989 veröffentlichte die Metal-Band Helstar ein Album namens Nosferatu.
E. Elias Merhiges Film Shadow of the Vampire (2000) beschäftigt sich auf fiktive Weise mit den Dreharbeiten zu Nosferatu und geht von der Prämisse aus, Max Schreck, gespielt von Willem Dafoe, sei ein echter Vampir gewesen. Der Film beschäftigt sich mit dem ausbeuterischen, vampirischen Qualitäten des Filmemachens an sich und bedient sich in postmoderner Weise am Repertoire von Murnaus Stilmitteln.
Am 4. März 2022 – auf den Tag genau 100 Jahre nach der Filmpremiere in Berlin – fand die Uraufführung der Theatercollage Nosferatu – ein Menuett der Schatten statt (Buch und Regie: Gisbert Franken, Hauptdarsteller: Gerd J. Pohl).
Die Ausstellung Phantome der Nacht: 100 Jahre Nosferatu eröffnet ebenfalls im Jubiläumsjahr in der Sammlung Scharf-Gerstenberg in Berlin-Charlottenburg.
Der Kurzfilm F.W.M. Symphonie (AT 2022) von Thomas Hörl ist eine Hommage an Murnau und ein filmisches Reenactement des Vampirs, indem er versucht den gestohlenen Kopf aus Murnaus Familiengruft wiederherzustellen und dem Friedhofswärter zu übergeben.
Nosferatu wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung in den Filmkanon aufgenommen.
Remakes
Im Jahr 1979 drehte Werner Herzog unter dem Titel Nosferatu – Phantom der Nacht eine Hommage an Nosferatu. Herzogs Film mit Klaus Kinski in der Rolle des Vampirs ist über weite Strecken ein Remake und kopiert Murnaus Einstellungen zum Teil detailliert. Er versah sein Werk mit einem pessimistischeren Ende (Hutter/Harker wird nach dem Tod des Grafen der neue Vampir) und gestaltete ihn mit umfangreichen Dialogen, die die Einsamkeit und Verlorenheit des Vampirs herausstellen. Everson bewertet den Film als „Fehlschlag“, da dem populären Kinski „das Anonyme, Unfassbare und Überirdische“ von Murnaus Figur abgehe.
David Lee Fisher soll den Film mit Doug Jones und Sarah Carter in den Hauptrollen neuverfilmen.
Auch ein Remake des Films durch Robert Eggers mit Bill Skarsgård in der Hauptrolle befindet sich in Produktion.
Dokumentarfilm
Anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Films strahlte der Fernsehsender Arte den 75-minütigen Dokumentarfilm Nosferatu – Ein Film wie ein Vampir aus. Regie führte Eric Brinkmann, Mitwirkende waren u. a. Rolf Giesen (Filmhistoriker), Mark Benecke (Forensiker und Vorsitzender der Deutschen Dracula-Gesellschaft), Gerd J. Pohl (Schauspieler), Werner Herzog (Filmregisseur) und Ovidie (Schriftstellerin und Filmemacherin). Schauspieler Rainer Kühn führte als Nosferatu durch den Dokumentarfilm und an die Drehorte des Murnau-Stummfilms.
Nachlass Albin Grau
Albin Graus Nachlass mit Dokumentationsmaterial zu «Nosferatu» (Skizzen zu Szenenbildern, fotografische Dokumente sowie grafische Entwürfe) befindet sich in der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden (Schweiz)
Vier Original-Aquarelle (Rotoskopien, die ursprünglich zu Werbezwecken angefertigt, aber nie verwendet wurden) Albin Graus mit Szenen aus „Nosferatu“ befinden sich in der theater- und filmhistorischen Sammlung Pohl in Bergisch Gladbach.
Literatur
Lotte H. Eisner: Die dämonische Leinwand. Fischer, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-596-23660-6, S. 93–110.
Lotte H. Eisner: Murnau. Der Klassiker des deutschen Films. Friedrich, Velber/Hannover 1967.
Alfred Holighaus (Hrsg.): Der Filmkanon – 35 Filme, die sie kennen müssen. Bertz + Fischer, Bonn/Berlin 2005, ISBN 3-86505-160-X, S. 13–19.
Christiane Mückenberger: Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens. In Günther Dahlke, Günther Karl (Hrsg.): Deutsche Spielfilme von den Anfängen bis 1933. Ein Filmführer. 2. Auflage. Henschel Verlag, Berlin 1993, ISBN 3-89487-009-5, S. 71 f.
Jürgen Müller: Der Vampir als Volksfeind. Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu“: ein Beitrag zur politischen Ikonografie der Weimarer Zeit, in: Fotogeschichte, 19 (1999), H. 72, S. 39–58.
Hans Helmut Prinzler (Hrsg.): Murnau – Ein Melancholiker des Films. Stiftung Deutsche Kinemathek, Bertz, Berlin 2003, ISBN 3-929470-25-X, S. 129–136.
Anke Steinborn: Nosferatu – Ein expressionistisches Bewegtbild-Bestiarium. In: Komparatistik online. Komparatistische Internet-Zeitschrift. Jahrgang 2013. Justus-Liebig-Universität, Gießen 2013, S. 229–243 (Online).
Michael Töteberg (Hrsg.): Metzler Film Lexikon. 2. Auflage. Metzler, Stuttgart/Weimar 2005, ISBN 978-3-476-02068-0.
Weblinks
Nosferatu: History and Home Video Guide Serie, detailliert die Filmgeschichte, verschiedene Versionen und jede weltweite Veröffentlichung der Restaurierungen (englisch)
mit zeitgenössischen Rezensionen, Entwurfsskizzen, Fotos und Filmausschnitten.
Nosferatu auf der Internetseite der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung
Nosferatu bei filmhistoriker.de. Sammlung von zeitgenössischen Kritiken und Bildmaterial.
100 Jahre Nosferatu: Ein brandaktueller Stummfilm – hintergründiges Radiogespräch mit Filmhistoriker Rolf Giesen, Deutschlandfunk Kultur, 2. März 2022
Nosferatumovie.com Englischsprachige Seite zum Film.
Einzelnachweise
Filmtitel 1922
Deutscher Film
Schwarzweißfilm
Stummfilm
Vampire im Film
Film über Dracula
Seefahrt im Film
Filmdrama
Thriller
Friedrich Wilhelm Murnau
Literaturverfilmung
Krankheit im Film
Psychiatrische Klinik im Film
Wikipedia:Artikel mit Video
Horrorfilm |
9729 | https://de.wikipedia.org/wiki/Pablo%20Picasso | Pablo Picasso | Pablo Ruiz Picasso (* 25. Oktober 1881 in Málaga, Spanien; † 8. April 1973 in Mougins, Frankreich, voller Name Pablo Diego José Francisco de Paula Juan Nepomuceno María de los Remedios Cipriano de la Santísima Trinidad Ruiz y Picasso) war ein spanischer Maler, Grafiker und Bildhauer. Sein umfangreiches Gesamtwerk umfasst Gemälde, Zeichnungen, Grafiken, Collagen, Plastiken und Keramiken, deren Gesamtzahl auf 50.000 geschätzt wird. Es ist geprägt durch eine große Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen und Techniken.
Die Werke aus seiner Blauen und Rosa Periode und die Begründung des Kubismus zusammen mit Georges Braque bilden den Beginn seiner außerordentlichen Künstlerlaufbahn.
Zu den bekanntesten Werken Picassos gehört das Gemälde Les Demoiselles d’Avignon (1907). Es avancierte zum Schlüsselbild der Klassischen Moderne. Mit Ausnahme des monumentalen Gemäldes Guernica (1937), einer künstlerischen Umsetzung der Schrecken des Spanischen Bürgerkriegs, hat kein anderes Kunstwerk des 20. Jahrhunderts die Forschung so herausgefordert wie die Demoiselles. Das Motiv der Taube auf dem Plakat, das er im Jahr 1949 für den Pariser Weltfriedenskongress entwarf, wurde weltweit zum Friedenssymbol.
Umfassende Sammlungen von Picasso werden in Museen in Paris, Barcelona und Madrid gezeigt. Er ist mit Werken in vielen bedeutenden Kunstmuseen der Welt, die die Kunst des 20. Jahrhunderts ausstellen, prominent vertreten. Das Museu Picasso in Barcelona und das Musée Picasso in Antibes entstanden bereits zu Lebzeiten.
Leben
Kindheit und Ausbildung (1881–1900)
Frühe Jahre
Pablo Ruiz Picasso wurde als erstes Kind von José Ruiz Blasco (1838–1913) und María Picasso y López (1855–1938) als vermutete Totgeburt geboren. Der traditionellen Namensgebung in Málaga folgend erhielt er bei seiner Geburt im Jahr 1881 eine Vielzahl von Vornamen: Pablo, Diego, José, Francisco de Paula, Juan Nepomuceno, María de los Remedios, Cipriano de la Santísima Trinidad, von denen lediglich Pablo (eine Reverenz an Blascos kurz vor dem ursprünglichen Hochzeitstermin verstorbenen älteren Bruder) gebräuchlich wurde.
Der Vater war freischaffender Maler und Lehrer an der „Escuela de San Telmo“, einer Kunstgewerbeschule, die in der Tradition der akademischen Malerei des 19. Jahrhunderts stand, sowie Konservator eines kleinen Museums. 1884 wurde seine Schwester Dolores (Lola) und 1887 seine Schwester Concepción (Conchita) geboren.
Picasso beschrieb die künstlerischen Fähigkeiten des Vaters: „Mein Vater malte Bilder für Esszimmer; Rebhühner oder Tauben, Tauben und Kaninchen: Fell und Federn waren darauf zu sehen, Vögel und Blumen seine Spezialität. Vor allem Tauben und Flieder.“ Bereits im Alter von sieben Jahren begann er unter Anleitung seines Vaters zu malen. Er vollendete 1890 das 1889 begonnene Ölbild Picador, das einen Stierkämpfer in der Arena zeigt und das als sein erstes bekanntes Ölgemälde gilt.
1891 zog die Familie nach A Coruña in Galicien um, wo Picassos Vater eine Stelle als Kunstlehrer am „Instituto da Guarda“ angenommen hatte. Picasso wurde dort als Zehnjähriger an der Schule für Bildende Künste aufgenommen. Ab 1894 begann er Tagebücher zu führen, die er La Coruña und Azul y Blanco („Blau und Weiß“) nannte und mit Porträts und Karikaturen illustrierte. Im selben Jahr begann er seine Werke mit „P. Ruiz“ zu signieren.
Studium
Nach dem Tod der Schwester Conchita, die im Januar 1895 an Diphtherie starb, zog die Familie nach Barcelona, wo Picasso mühelos mit 14 Jahren die Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie „La Llotja“ in nur einem Tag schaffte – seinem Vater wurde dort eine Stelle als Lehrer angeboten – sodass er die ersten zwei Klassen überspringen durfte. Der Vater richtete ihm ein Jahr später sein erstes Atelier in der Nähe der elterlichen Wohnung ein, das Picasso gemeinsam mit seinem Freund Manuel Pallarès i Grau, einem katalanischen Maler, nutzte.
1897 studierte Picasso für kurze Zeit an der angesehenen Königlichen Akademie von San Fernando in der Hauptstadt Madrid, die er jedoch wieder verließ, weil ihm die dortigen Lehrmethoden missfielen. In seinem Selbstbildnis von 1897/98 änderte er die Signatur „Ruiz“ erstmals zu „P. Picasso“ – ein Symbol für die innere Loslösung vom Elternhaus. In Madrid besuchte Picasso die Museen, vor allem den Prado – wie schon auf einem Besuch 1895 – und die Künstlerlokale.
Erste Einzelausstellung im „Els Quatre Gats“
Nach einer Scharlach-Erkrankung, die ihn zur Rekonvaleszenz in Horta de Sant Joan (Katalonien) zwang, kehrte er 1898 nach Barcelona zurück. Hier verkehrte er in avantgardistischen Künstlerkreisen des katalanischen Modernisme, unter anderem mit Ramon Casas, Carlos Casagemas, Isidre Nonell, Ramon Pichot i Gironès und Santiago Rusiñol, die sich im Café und Künstlerzentrum Els Quatre Gats trafen.
Ab Juni 1898 verbrachte er acht Monate mit seinem Malerfreund Manuel Pallarès i Grau in dessen Heimatstadt Horta de Sant Joan. 1899 lernte er den Dichter Jaime Sabartés kennen, der sein enger Freund und 1935 sein Sekretär werden sollte.
Im Februar 1900 wurde im „Els Quatre Gats“ die erste Einzelausstellung Picassos gezeigt, die jedoch, kritisch rezensiert, nur zu einem mäßigen Verkaufserfolg führte. Im selben Jahr unternahm Picasso anlässlich der Weltausstellung gemeinsam mit seinem Freund Casagemas eine erste Reise in die Kunstmetropole Paris, wo ihn die impressionistischen Werke von Paul Cézanne, Edgar Degas und Pierre Bonnard beeindruckten. Er teilte im Oktober mit Casagemas zeitweise ein Atelier am Montmartre an der Adresse 49 Rue Gabrielle, das Nonell aufgegeben hatte. Zu dieser Zeit lernte er die Arbeiten von Henri de Toulouse-Lautrec kennen, die ihn zu farbenfrohen Darstellungen des großstädtischen Lebens inspirierten.
Paris – Madrid – Barcelona – Paris (1901–1907)
Tod Casagemas – Beginn der Blauen Periode
Im Januar 1901 kehrte Picasso nach Madrid zurück. Er erhielt eine Nachricht, die ihn tief erschütterte: Sein Freund Carlos Casagemas hatte sich am 17. Februar aus enttäuschter Liebe zu der Tänzerin Germaine Gargallo in Paris erschossen.
Picasso versuchte sich in Madrid an einer neuen Karriere: ab März des Jahres erschien das erste von insgesamt fünf Heften der Kunstzeitschrift Arte Joven (Junge Kunst), herausgegeben von dem katalanischen Schriftsteller Francisco de Assis Soler, die Picasso als Mitherausgeber mit Illustrationen versah. Seine Signatur änderte sich erneut, er signierte nur noch mit „Picasso“. Die Zeitschrift musste jedoch nach kurzer Zeit aus finanziellen Gründen eingestellt werden. Picasso verließ nach der Einstellung von Arte Joven Madrid und kehrte nach Barcelona zurück. Zwei Jahre später schuf er ein Porträt des Schriftstellers.
Im Mai besuchte der aufstrebende Künstler wiederum Paris. Sein erster Kunsthändler Pere Mañach, bei dem er logierte, die Galeristin Berthe Weill und vor allem der Kunsthändler und Verleger Ambroise Vollard bemühten sich um den vielversprechenden jungen Künstler. Ab dem 24. Juni 1901 zeigte Vollard in seiner Galerie, 6 Rue Laffite, Picassos Werke erstmals in einer Pariser Ausstellung und wurde sein Förderer in Picassos Blauer und Rosa Periode. Dem nachfolgenden kubistischen Werk stand er nicht so positiv gegenüber. Picassos kubistisches Porträt von Vollard entstand 1910.
Picasso widmete 1901 seinem Freund Casagemas das Bild Evokation – Das Begräbnis Casagemas. Es gilt als das erste Bild der Blauen Periode. Casagemas’ Porträt ist ebenfalls in der männlichen Figur des melancholischen Gemäldes aus dem Jahr 1903, La Vie (Das Leben) dargestellt. Die Werke aus dieser Zeit brachten dem Künstler mehr Zustimmung von Galeristen und Kritikern ein als seine früheren Bilder. Ein Freund Gauguins, der Dichter Charles Morice, sah in einer Besprechung die „unfruchtbare Traurigkeit“, bescheinigte Picasso dennoch ein „wahres Talent“.
Im Oktober 1902 kehrte Picasso zum dritten Mal nach Paris zurück und wohnte erst in Hotels, hiernach bei dem Dichter Max Jacob, der als Gehilfe in einem Modegeschäft arbeiten musste. Im Winter heizten die Freunde mit Picassos Zeichnungen den Raum, weil Geld für Heizmaterial fehlte, aus demselben Grund benutzte Picasso Leuchtpetroleum statt Öl zum Malen und sparte an Bindemitteln.
Picassos Atelier im Bateau-Lavoir
Im Jahr 1903 arbeitete Picasso sehr produktiv in Barcelona, kehrte jedoch wieder nach Paris zurück, wo er ab April 1904 bis zum Oktober 1909 im Bateau-Lavoir wohnte. Dieses war ein verwahrlostes Haus mit zahlreichen Künstlerateliers auf dem Montmartre. Dort hatten schon der mit Picasso befreundete spanische Bildhauer Paco Durrio und der Maler Kees van Dongen Unterkunft gefunden. Später kamen unter anderem Max Jacob und Juan Gris hinzu.
Er schloss mit dem Dichter Guillaume Apollinaire Freundschaft und lernte 1904 Fernande Olivier kennen, die von 1905 bis 1912 seine Begleiterin und Muse wurde. Fernande war eine aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende geschiedene Frau, die sich für die Malerei der Impressionisten begeisterte. Über die Begegnung mit Picasso berichtet sie in ihren Erinnerungen Picasso et ses amis, erschienen 1933:
Fernande Olivier bildete er unter anderem in dem Ölgemälde La Toilette im Jahr 1906 ab oder 1909 in Bronze gegossen als Tête de femme. Die Unterkunft im Bateau-Lavoir war kärglich. Picassos Kunsthändler Kahnweiler erinnert sich an das eiskalte und zugige Atelier im Winter und berichtet, dass im Sommer, „wenn es zu heiß war, Picasso bei geöffneten Türen völlig nackt im Korridor mit nur einem Tuch um die Lenden arbeitete.“
Bekanntschaft mit Gertrude und Leo Stein sowie mit Matisse
Clovis Sagot, ein früherer Zirkusclown, hatte in einer ehemaligen Apotheke in der Rue Laffitte eine Galerie eingerichtet. Dort entdeckte der in Paris lebende US-amerikanische Kunstsammler Leo Stein, der Bruder der Dichterin und Kunstsammlerin Gertrude Stein, 1905 Picassos Gemälde. Das erste Bild des Künstlers, das Leo Stein kaufte, Junges Mädchen mit dem Blumenkorb, gefiel seiner Schwester nicht. Als Picasso die Geschwister bei Sagot kennengelernt hatte, lud er sie in sein Atelier ein und konnte ihnen Bilder für 800 Francs verkaufen, die auch Gertrude Steins Interesse weckten.
Die Steins gaben regelmäßig in ihrem Salon nahe dem Jardin du Luxembourg in der 27 Rue de Fleurus am Samstag Gesellschaften, wo sich die Künstler der Avantgarde trafen, zu denen fortan ebenfalls Picasso gehörte, der dort im Jahr 1906 Henri Matisse traf und Freundschaft mit ihm schloss. Im Salon d’Automne hatten die Fauves, zu denen Matisse gehörte, mit ihrer ersten Gemeinschaftsausstellung im Vorjahr auf sich aufmerksam gemacht.
Der Galerist Vollard kaufte Picasso bald darauf Werke für 2000 Franc ab, was seine finanzielle Situation wesentlich verbesserte. Sein Bildnis Gertrude Stein entstand im Jahr 1906, für das die Schriftstellerin bis zu neunzigmal Modell gesessen haben soll. Im Frühjahr brach Picasso die Porträtsitzungen mit Gertrude Stein ab. Er traf Derain durch Vermittlung von Alice Princet. Im Sommer desselben Jahres hielt er sich mit Fernande Olivier in Gósol auf. Als er wieder nach Paris zurückkehrte, vollendete Picasso das Porträt Gertrude Steins aus dem Gedächtnis und reduzierte die Gesichtszüge auf die Schlichtheit iberischer Masken.
Beginn der Rosa Periode und Les Demoiselles d’Avignon
Ab 1905 beginnen rosa Töne in Picassos Werken vorzuherrschen. So bildet das Gemälde Junge mit Pfeife aus dem Jahr 1905 den Übergang von der Blauen zur Rosa Periode. Im Vergleich zur Blauen Periode gibt es nur noch wenig Melancholie in den Werken dieser Periode. Das Blau weicht in den Hintergrund. Besonders Gaukler, Seiltänzer und Harlekins, traurige Spaßmacher aus der Commedia dell’arte, zählen zu seinen Bildmotiven.
Seit dem Winter des Jahres 1906 bereitete Picasso in zahlreichen Studien und Variationen das große Gemälde Les Demoiselles d’Avignon vor, das er im Juli 1907 beendete. Mit den Demoiselles legte er den Grundstein kubistischen Denkens und leitete die als „période nègre“ bezeichnete Periode ein.
Die ersten Reaktionen bei der Begegnung mit den Demoiselles in Picassos Atelier waren überwiegend negativ. Das Bild wurde weitgehend als unmoralisch angesehen und von vielen, selbst engen Freunden Picassos, heftig kritisiert. Neben Wilhelm Uhde hatte nur Leo Stein zunächst Verständnis für die Demoiselles aufgebracht, kaufte seine neuen Werke jedoch nicht mehr. Die Künstler des Fauvismus, Matisse und Derain, äußerten ihr Missfallen. Gertrude Stein förderte Picasso weiter und näherte sich in ihrem literarischen Ausdruck dem Kubismus. Im Jahr 1938 schrieb sie eine Broschüre über Picasso.
Wilhelm Uhde machte den jungen deutschen Galeristen Daniel-Henry Kahnweiler, der in der Rue Vignon 28 seine erste Galerie eröffnet hatte, auf Picasso aufmerksam. Kahnweiler wurde sein wichtigster Förderer und stellte im selben Jahr Picassos Werke aus. Picasso hatte die große Retrospektive von Paul Cézannes Werken 1907 im Pariser Salon d’Automne besucht, die ein Jahr nach dem Tod des Künstlers ausgerichtet worden war. Durch Apollinaire lernte Picasso den gleichaltrigen fauvistischen Maler Georges Braque gegen Ende des Jahres kennen; die Freundschaft mit Braque sollte große Auswirkungen auf den Verlauf der modernen Kunstgeschichte haben.
Picasso begründet mit Braque den Kubismus (1908–1914)
Zusammenarbeit mit Braque
Den Sommer 1908 verbrachte Picasso mit Fernande Olivier in La Rue-des-Bois nördlich von Paris. Im Herbst desselben Jahres verglichen Braque und Picasso ihre im Sommer geschaffenen Bilder – Braque in L’Estaque und Picasso in La Rue-des-Bois. Sie waren merkwürdig ähnlich. Braque stellte im Gegensatz zu Picasso im November des Jahres seine Werke in der Galerie Kahnweiler aus. In der Besprechung zur Ausstellung der Bilder Braques prägte der französische Kunstkritiker Louis Vauxcelles in der Kunstzeitschrift Gil Blas zum ersten Mal den Begriff der „cubes“ (Kuben). Vauxcelles bezog sich dabei im Besonderen auf das Gemälde Braques Häuser in L’Estaque.
Zwischen September 1908 und Mai 1909 sahen sich Picasso und Braque beinahe täglich; Kahnweiler war der Dritte im Bunde und vermittelte zwischen den vom Naturell her sehr unterschiedlichen Künstlern, dem besonnenen, systematisch arbeitenden Braque und dem temperamentvollen Picasso. Ihre Arbeitsgemeinschaft war so intensiv, dass sich die Künstler mit den Brüdern Wright, den Flugpionieren, verglichen und sich wie Mechaniker kleideten.
Ebenfalls 1908 war der spanische Maler Juan Gris in das Bateau-Lavoir gezogen, wo er Ateliernachbar von Picasso wurde. Nachdem er 1911 begonnen hatte, sich mit dem Kubismus auseinanderzusetzen, entstand im Jahr 1912 das kubistische Porträt Hommage à Picasso von Gris.
Das Bankett für Rousseau
Im November 1908 gab Picasso in seinem Atelier im Bateau-Lavoir ein großes Fest zu Ehren Henri Rousseaus, von dem er das lebensgroße Bildnis einer früheren Freundin Rousseaus, die sogenannte Yadwigha, erworben hatte und das er sein Leben lang behalten sollte. Über das kunsthistorisch bekannt gewordene Bankett für Rousseau, an dem neben vielen anderen Künstlern Apollinaire, Jacob, Salmon, Uhde und den Geschwistern Stein ferner die junge Malerin Marie Laurencin teilnahm, berichtete Raynal als Augenzeuge: „Es war eine richtige Scheune. […] An den Mauern, die man von ihrem gewöhnlichen Schmuck befreit hatte, hingen nur einige schöne Negermasken, eine Münztabelle und auf dem Ehrenplatz das große, von Rousseau gemalte Porträt Yadwigha“. Nicht lange nach dem Bankett verließ Picasso im Jahr 1909 das Bateau-Lavoir und wohnte bis 1912 in einer Atelierwohnung am Boulevard de Clichy 130.
Distanzierung von den Salonkubisten
Fernand Léger und Robert Delaunay lernten die Arbeiten Picassos und Braques durch Vermittlung von Kahnweiler kennen. Die Einflüsse Picassos und Braques machten sich von nun an in den Bildwerken vieler Maler bemerkbar. Es bildete sich 1911 eine Gruppierung von Malern, die als Salonkubisten bezeichnet wurden. Zu ihnen zählen neben Léger und Delaunay die Künstler Albert Gleizes, Jean Metzinger und Henri Le Fauconnier. Picasso und Braque distanzierten sich von den Salonkubisten.
Der Raub der Mona Lisa
Im Sommer 1911 gerieten die Freunde Apollinaire und Picasso in den Verdacht, am Diebstahl des bekanntesten Gemäldes des Louvre, der Mona Lisa, beteiligt zu sein. Sie war am 21. August 1911 spurlos verschwunden, und beide gerieten in das Visier der Polizei durch den Besitz von iberischen Steinmasken, die über Géry Pieret – ein belgischer Abenteurer und zeitweise Angestellter Apollinaires – erworben worden waren. Nach einer Hausdurchsuchung wurde Apollinaire am 8. September wegen Beherbergung eines Kriminellen und Verwahrung von Diebesgut verhaftet; er verriet nach zwei Tagen Picassos Beteiligung. Dieser wurde zwar verhört, aber nicht arretiert. Apollinaire wurde wenige Tage später aus der Haft entlassen und der Prozess gegen ihn im Januar 1912 aus Mangel an Beweisen eingestellt. Die Mona Lisa tauchte erst wieder am 13. Dezember 1913 in Florenz auf und kehrte am 1. Januar 1914 in den Louvre zurück. Der Dieb war Vincenzo Peruggia, ein Bildeinrahmer des Louvre.
Erste Ausstellungen von Picassos Werken im Ausland
Die frühe Phase des Kubismus bis etwa 1912 wird als „Analytischer Kubismus“ bezeichnet. Ein Beispiel hierfür ist das Bildnis Ambroise Vollard (1910). Ab dem Jahr 1912 entstanden die Papiers collés, eine Frühform der Collagen. Der Übergang zum „Synthetischen Kubismus“ hatte begonnen.
Picassos Werke wurden allmählich im Ausland bekannt. In Deutschland war Picasso 1910 auf der Ausstellung der Neuen Künstlervereinigung München vertreten sowie auf der im Mai 1912 eröffneten Ausstellung des Sonderbundes in Köln und in Herwarth Waldens Galerie Der Sturm in Berlin. Vier von Picassos Werken wurden im selben Jahr in die zweite Ausstellung des Blauen Reiter in der Münchner Galerie Goltz aufgenommen: Frauenkopf (1902), Umarmung (1903), Kopf (1909) und Stillleben (1910). 1913 fand die erste größere Retrospektive in der Modernen Galerie von Heinrich Thannhauser in München statt.
Ab November 1910 zeigte die von Roger Fry in London organisierte Ausstellung Manet and the Post-Impressionists unter anderem Gemälde, Zeichnungen und Drucke Picassos, ebenso eine Nachfolgeausstellung 1912.
In Übersee war die neue Kunstrichtung nach einer erstmaligen Ausstellung Picassos im Jahr 1911 in Alfred Stieglitz’ Galerie 291 ebenfalls in der Armory Show, New York, 1913 vertreten, in der beispielsweise Werke von Braque, Picasso und Matisse ausgestellt wurden. Gezeigt wurden von Pablo Picasso acht Arbeiten, darunter zwei Stillleben, die Zeichnung Frauenakt von 1910, Frau mit Senftopf von 1910, eine Leihgabe von Kahnweiler, und die Bronze Frauenkopf von 1909, eine Leihgabe von Stieglitz. Die Kritik bei allen Ausstellungen war jedoch beträchtlich, die moderne Kunst wurde noch nicht akzeptiert.
Als Picassos Liaison mit Fernande Olivier im Jahr 1912 zerbrach, wurde Eva Gouel, geborene Marcelle Humbert, die er Eva nannte, seine zweite Lebensgefährtin bis zu ihrem frühen Tod 1915. Den Sommer des Jahres 1913 verbrachte Picasso mit Braque und Juan Gris in Céret. Im selben Jahr starb sein Vater. Seinen Wohnsitz schlug er in der Rue Schoelcher 5 am Montparnasse auf, nachdem er 1912 kurzfristig am Boulevard Raspail 242 gewohnt hatte.
Zeit des Ersten Weltkriegs (1914–1918)
Picasso verbrachte die Zeit von Ende Juni bis Mitte November 1914 mit Eva Gouel in Avignon. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs änderte sich die Situation für viele Künstler schlagartig. Am 2. August 1914 begleitete Picasso Braque und Derain, die ihren Gestellungsbefehl erhalten hatten, zum Bahnhof in Avignon. Braque erlitt 1915 eine schwere Kopfverletzung und brauchte nach überstandener Operation länger als ein Jahr, um davon zu genesen. Ihr Kunsthändler Kahnweiler, der Deutscher war, musste Frankreich verlassen; Picasso, der als Spanier keinen Kriegsdienst leisten musste, blieb in Paris ohne seine Freunde zurück.
Im Juli 1916 organisierte André Salmon eine Ausstellung, L’Art moderne en France (der so genannte „Salon d’Antin“), in der Pariser Galerie Barbazanges. Dort wurde Picassos Werk Les Demoiselles d’Avignon zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorgestellt; das Gemälde erhielt erst zu diesem Zeitpunkt von Salmon diesen Namen.
Nach dem Tod von Eva Gouel, die 1915 an Tuberkulose starb, hatte Picasso eine Affäre mit Gabrielle Lespinasse, die er Gaby nannte. Sie wohnte am Boulevard Raspail nahe seinem Studio. Während eines Aufenthalts in Saint-Tropez im Jahr 1916 erklärte er ihr seine Liebe, sie wies ihn jedoch ab und heiratete im folgenden Jahr den amerikanischen Künstler Herbert Lespinasse. Im Oktober 1916 zog er nach Montrouge bei Paris.
Im Frühjahr 1917 wohnte Picasso in Rom den Proben des Ensembles Ballets Russes unter der Leitung von Sergei Djagilew zum Ballett Parade mit dem Libretto von Jean Cocteau und der Musik von Erik Satie bei. Er entwarf die Kostüme, Bühnenbilder und den aus der Reihe fallenden klassisch romantischen Bühnenvorhang. Der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg, der in Paris im Exil lebte, beschrieb die spektakuläre Premiere im Mai 1917 im Pariser Théâtre du Châtelet und den Aufruhr des Publikums, das den Abbruch der Vorstellung forderte: „Die Musik gab sich modern, das Bühnenbild war halb kubistisch […] Und als ein Pferd mit kubistischer Schnauze Zirkusnummer vorführte, verloren sie endgültig die Geduld: ‚Tod den Russen! Picasso ist ein Boche! Die Russen sind Boches!‘“ Picassos Freunde jedoch waren begeistert. Apollinaire beispielsweise betrachtete die erstmalige künstlerische Allianz zwischen Malerei und Tanz, Plastik und Darstellungskunst als Beginn einer umfassenden Kunst, als eine Art „sur-réalisme“.
Während der Arbeiten zu Parade lernte Picasso die Tänzerin Olga Stepanowna Chochlowa, Primaballerina des „Ballets Russes“, kennen, die er am 12. Juli 1918 in Paris heiratete. Trauzeugen waren Cocteau, Max Jacob und Apollinaire. Das Ehepaar bezog im Dezember eine Wohnung in der Rue La Boétie 23. Nach der Heirat gab er sein Bohèmeleben auf und wurde zum „Malerfürsten“ mit eigenem Chauffeur und Hauspersonal. Aus der Ehe ging Sohn Paulo hervor.
Nach Kahnweiler wurde Picasso ab 1918 von den Kunsthändlern Paul Rosenberg und Georges Wildenstein gemeinsam weltweit vertreten. Sie kauften jedes Jahr eine nennenswerte Anzahl seiner Bilder. Die Verbindung Picassos zu Rosenberg dauerte bis zum Jahr 1939, die zu Wildenstein bis 1932.
Abkehr von den Kubisten (1916–1924)
Bereits 1914 begann sich Picasso von dem Kreis der Kubisten zu entfernen. Er erinnerte sich an diesen Abschied und äußerte: „Aus dem Kubismus hat man eine Art Körperkultur machen wollen. […] Daraus ist eine verkünstelte Kunst hervorgegangen, ohne echte Beziehung zur logischen Arbeit, die ich zu tun trachte.“
Von 1916 bis 1924 zeigt sein Werk ein stilistisches Nebeneinander. Neben klassizistischen Gemälden wie Drei Frauen am Brunnen aus dem Jahr 1921, gemalt in Fontainebleau, und Panflöte, 1923, gemalt in seinem Ferienort Antibes, entstanden Arbeiten im Stil des synthetischen Kubismus, wie beispielsweise Drei Musikanten aus dem Jahr 1921.
Picasso konnte dank seines gewachsenen Ruhms mehr Zeit für die Entwicklung seiner Formensprache nutzen. Er experimentierte viel und legte einen neuen Schwerpunkt auf sein plastisches Werk, das er 1902 mit Sitzende Frau eröffnet hatte. Gleichzeitig entfremdete er sich von seiner Frau Olga.
Auseinandersetzung mit dem Surrealismus (1924–1936)
Beteiligung und Konflikte
Im Jahr 1923 traf Picasso den Surrealisten André Breton. Bereits in der ersten Nummer der surrealistischen Zeitschrift La Révolution surréaliste vom Dezember 1924 wurde eine plastische Konstruktion Picassos reproduziert. In der zweiten Nummer vom Januar 1925 zwei Seiten aus dem im Sommer 1924 in Juan-les-Pins geführten Skizzenbuch mit den Sternzeichnungen. In der vierten Ausgabe erschien eine Abbildung von Picassos Gemälde Les Trois Danseuses (Die drei Tänzerinnen) und – erstmals in Frankreich – von den Demoiselles d’Avignon.
Der langjährige Kontakt mit den Surrealisten war jedoch nicht konfliktfrei. Als 1924 Eric Saties Ballett Les Aventures de Mercure mit dem Bühnenbild und den Kostümen von Picasso aufgeführt wurde, protestierten mehrere Surrealisten gegen Picassos Mitwirkung und nannten das Ereignis eine Wohltätigkeitsveranstaltung für die internationale Aristokratie. André Breton, Louis Aragon und andere Surrealisten, die von Picassos Einfallsreichtum beeindruckt waren, veröffentlichten daraufhin im Paris-Journal eine als Hommage à Picasso deklarierte Entschuldigung. Andererseits beschuldigte Picasso 1926 die Surrealisten in einer ausführlichen Stellungnahme zu den Absichten und Zielen seiner Kunst, ihn nicht verstanden zu haben. Die gegen Breton gerichtete surrealistische Zeitschrift Documents von Georges Bataille widmete sich in ihrer Sonderausgabe Nr. 3 vom April 1930 vollständig Picasso.
Im Jahr 1927 lernte er Marie-Thérèse Walter kennen, die er in Frau mit Blume 1932 in minimalistischer Weise mit surrealistischen Anklängen porträtierte. Die Beziehung zu der anfangs noch minderjährigen Marie-Thérèse hielt er lange Zeit geheim.
Erstmals tauchte 1928 das Minotaurus-Motiv in seinen Werken auf – als Spanier war Picasso schon immer vom Stierkampf fasziniert. Die erste Nummer des surrealistischen Künstlermagazins Minotaure erschien am 25. Mai 1933 mit einem Cover von Picasso, der dem Titel gemäß einen Minotaurus zeigt. 1935 entstand die Radierungsfolge Minotauromachie, die von Francisco de Goyas Tauromaquia (um 1815) inspiriert wurden. Darin wird in immer neuen Variationen der Zusammenhang von Sexualität, Gewalt und Tod ausgelotet.
Im Sommer 1936 lernte Picasso durch den surrealistischen Dichter Paul Éluard den Künstler und Kunstkritiker Roland Penrose kennen, mit dem er Freundschaft schloss und der im Jahr 1958 die erste Biografie über Picasso veröffentlichte, an der der Künstler mitwirkte. 1937 schuf er von Penrose’ späterer Ehefrau, der Fotografin Lee Miller, sechs Porträts. Die Fotografin machte bei gegenseitigen Besuchen um die 1000 Aufnahmen, die Picasso während der Arbeit und in der Freizeit zeigen. Deutlichere Anklänge an seinen Spätstil zeigt ein weiteres Porträt der Marie-Thérèse Walter, das Interieur mit zeichnendem Mädchen aus dem Jahr 1935. Der Zusammenhang von Sexualität und künstlerischer Kreativität wurde zu einem Thema, das Picasso bis zu seinem Lebensende beschäftigte.
Familiäre Krisen
Das Jahr 1935 bezeichnet eine Krise in seinem Leben und Schaffen. Aus der Beziehung zu Marie-Thérèse, die bis 1937 andauerte, wurde die Tochter Maya in diesem Jahr geboren. Dies wurde seiner Frau hinterbracht, die daraufhin die Scheidung verlangte. Nach französischem Recht hätte Picasso seinen Besitz mit ihr teilen müssen. Daran hatte er kein Interesse, und sie blieben daher bis zu ihrem Tod im Februar 1955 verheiratet.
1936 hatte Picasso eine Affäre mit Alice Rahon, der Ehefrau von Wolfgang Paalen, und lernte die französische Fotografin Dora Maar kennen, die in den 1940er Jahren seine ständige Begleiterin wurde und die ihm oft Modell saß. Im November 1937 besuchte er Paul Klee in Bern, um ihn moralisch zu unterstützen, da dessen Werke gerade in der berüchtigten Münchner Ausstellung über „Entartete Kunst“ von den Nationalsozialisten diffamiert wurden. 1941 entstand Dora Maars Porträt mit gleichzeitiger Vorder- und Seitenansicht, Dora Maar mit Katze (Dora Maar au chat). Sie konkurrierte mit Marie-Thérèse Walter um die Gunst Pablo Picassos. „Ich hatte kein Interesse daran, eine Entscheidung zu treffen. […] Ich sagte ihnen, sie sollten es unter sich ausmachen“, so der Maler über die Rivalität zwischen den beiden Frauen.
Stellungnahmen zum Spanischen Bürgerkrieg – Guernica (1936–1939)
Die Ereignisse des Spanischen Bürgerkriegs erschütterten Picasso zutiefst, und es entstanden Bilder, die in ihrer Eindringlichkeit an Goyas Schrecken des Krieges erinnern, vor allem Guernica, das das Grauen anlässlich der Bombardierung der baskischen Stadt Gernika am 26. April 1937 durch die deutsche Legion Condor thematisiert. Unter diesem Eindruck begann Picasso bereits am 1. Mai mit Studien für das gleichnamige monumentale Bild, das ab dem 12. Juli 1937 als Wandbild im spanischen Pavillon auf der Weltausstellung in Paris ausgestellt wurde.
Picasso unterstützte ab 1936 von Paris aus die republikanische Regierung Spaniens, die sich gegen den Putschisten und künftigen Diktator Franco zur Wehr setzte. Er versuchte, gleichwohl vergeblich, die französische Regierung zum Eingreifen zu bewegen und wurde für seinen Einsatz von der republikanischen Regierung Spaniens 1937 in Abwesenheit zum Direktor des bedeutenden Kunstmuseums Prado in Madrid bestimmt.
Zeit des Zweiten Weltkriegs (1940–1945)
Der Künstler arbeitete seit 1936 in Paris in einem Atelier in der 7 Rue des Grands-Augustins, in dem Guernica entstand und das er seit dem Frühjahr 1939 zudem als Wohnung nutzte. Vom Beginn der deutschen Besetzung 1940 im Zweiten Weltkrieg bis zur Befreiung von Paris am 25. August 1944 wohnte er hier, ohne eine Reise zu unternehmen. Die Nationalsozialisten hatten ihm wegen seiner Gegnerschaft zu Franco Ausstellungsverbot erteilt. Der von Picasso 1940 gestellte Antrag auf den Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft war abgelehnt worden, da den Behörden Dossiers aus dem Jahr 1905 vorlagen, in denen er als anarchistisch eingestuft worden war.
Während der Besatzungszeit wurde die moderne Kunst von den Kollaborateuren nicht toleriert. Der Maler André Lhote erinnerte sich an die Schlachtrufe „Matisse in den Müllkasten“ und „Picasso ins Irrenhaus!“. Nach der Befreiung schätzte ihn die politische Linke zunächst als den Künstler ein, der „aufs Wirksamste den Geist des Widerstands versinnbildlichte“.
Das Museum of Modern Art in New York City unter seinem Direktor Alfred Barr widmete Picasso 1939–1940 eine erfolgreiche Retrospektive, die ihn in Amerika und bei zeitgenössischen Kunstkritikern und Künstlerkollegen weithin bekannt machte.
Im Jahr 1944 wurde Picasso Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs und blieb es bis ans Ende seines Lebens. Die Ernsthaftigkeit seines Eintritts wurde bezweifelt, und man beschuldigte ihn, dass seine Farben und Formen in seinen Arbeiten eine bestimmte symbolische Bedeutung besäßen, woraufhin er konterte: „Bloß wegen des Vergnügens, verstanden zu werden, werde ich nicht in einem gewöhnlichen Stil arbeiten.“ Eine Aussage, unter anderen, die zu der Anschuldigung führte, dass sein Kommunismus oberflächlich sei und er nicht an die Untrennbarkeit von Kunst und Politik glaube. Zu seiner Verteidigung schrieb er: „Was, glauben Sie denn, ist ein Künstler? Ein Schwachsinniger, der nur Augen hat, wenn er Maler ist, nur Ohren, wenn er Musiker ist, gar nur eine Lyra für alle Lagen des Herzens, wenn er Dichter ist, oder gar Muskeln, wenn er Boxer ist? Ganz im Gegenteil! Er ist gleichzeitig ein politisches Wesen, das ständig im Bewußtsein der zerstörerischen, brennenden oder beglückenden Weltereignisse lebt und sich ganz und gar nach ihrem Bilde formt. […] Nein, die Malerei ist nicht erfunden, um Wohnungen auszuschmücken! Sie ist eine Waffe zum Angriff und zur Verteidigung gegen den Feind.“
Die späteren Jahre (1945–1973)
Nach sechs Jahren innerer Emigration und Isolation in Paris während des Zweiten Weltkriegs besuchte Picasso ab 1945 häufiger südfranzösische Orte wie Antibes und Nizza. Dort besuchte er Henri Matisse, dessen Malweise deutliche Einflüsse in Picassos Spätwerk hinterließ. Beide Künstler blieben über viele Jahre in loser Verbindung, wobei Matisse der einzige lebende Künstler war, den Picasso als ebenbürtig ansah. Beide erkannten die Bedeutung des Anderen, respektierten einander zeitlebens und beeinflussten sich trotz ihrer Andersartigkeit gegenseitig.
Seine Begleiterin in diesen Jahren war die Malerin Françoise Gilot, die er 1943 in Paris kennengelernt hatte. Die Beziehung dauerte bis 1953; der Sohn Claude wurde im Jahr 1947 geboren, die Tochter Paloma 1949. Sie gilt als die einzige Frau, die Picasso verlassen hat und nicht von ihm verlassen wurde.
Vallauris und Cannes
Die mediterrane Umgebung seiner Jugendzeit zog Picasso wieder in seinen Bann, denn ab dem Frühling 1948 wohnten er und Françoise Gilot nach Aufenthalten in Golfe-Juan in der Villa „La Galloise“ in Vallauris, einem Ort mit traditionellen Töpfereien, wo er sich schon im Jahr zuvor aufgehalten hatte. Dort experimentierte er unter Anleitung örtlicher Töpfer in der Manufaktur Madoura mit Ton und Glasuren, sprengte den traditionellen Produktrahmen und verhalf dem Ort zu überregionaler und später zu internationaler Bekanntheit.
Trotz des Eintritts in die Kommunistische Partei behielt Picasso eine unabhängige Einstellung. Das Gemälde Massaker in Korea, das 1951 entstand, verärgerte die Amerikaner, sein Porträt Stalins von 1953 die Kommunisten, denn in der Sowjetunion galt seine Malweise offiziell als dekadent. Picasso engagierte sich allerdings, wann immer man ihn darum bat, für den Frieden. Im Jahr 1949 entwarf er ein Plakat mit einer Taube für den Pariser Weltfriedenskongress. Die Taube wurde in der Folge weltweit ein Symbol für den Frieden. 1952 entstanden zwei große Wandgemälde: Der Krieg und Der Frieden, für den „Friedenstempel“ in Vallauris.
Jacqueline Roque, eine Keramikverkäuferin bei Madoura in Vallauris, war Picassos neue Lebensgefährtin ab 1953, nachdem ihn Françoise Gilot verlassen hatte, und auch Geneviève Laporte, mit der er eine Affäre hatte, nicht zu ihm ziehen wollte. Er schuf zahlreiche Porträts von Roque wie beispielsweise 1954 Bildnis Madame Z. (Jacqueline Roque) und 1956 Jacqueline im Atelier.
1954 lernte er in Vallauris die 19-jährige Sylvette David kennen, eine junge Frau mit blondem Pferdeschwanz, die ihm Modell saß und die er in mehreren Monaten in knapp 60 Porträts darstellte.
1955 kaufte Picasso die Villa „La Californie“ in Cannes. Seine Hinwendung zu klassischen Interpretationen von Meisterwerken zeigten Werke wie Frauen von Algier von Eugène Delacroix 1955, Diego Velazquez’ Las Meninas 1957 oder Édouard Manets Frühstück im Freien 1961. Bereits 1946 hatte eine Ausstellung im Louvre seine Bilder denen klassischer Meister gegenübergestellt.
In der „Tauwetter-Periode“ der Sowjetunion gelang es Ilja Ehrenburg 1956, eine große Picasso-Ausstellung im Moskauer Puschkin-Museum durchzusetzen.
Im Jahr 1958 bot ihm der französische Kabinettschef und spätere Staatspräsident Georges Pompidou die französische Staatsbürgerschaft an, doch Picasso reagierte nicht.
Erwerb von Schloss Vauvenargues
Picasso wurde zunehmend von Touristen und Bewunderern belästigt. In unmittelbarer Nähe von „La Californie“ wurden Wohnhochhäuser gebaut, die ihm sowohl den Ausblick auf die Landschaft versperrten als auch Fremden den Einblick auf sein Grundstück ermöglichten. Er versuchte erfolglos, den Kunstsammler Douglas Cooper dazu zu bewegen, ihm dessen Schloss Château de Castille nahe Avignon zu überlassen. Cooper empfahl ihm 1958 stattdessen das Schloss Vauvenargues bei Aix-en-Provence mit Blick auf Paul Cézannes Lieblingsmotiv, das Gebirge Montagne Sainte-Victoire. Picasso erwarb es und richtete sich dort ein Studio ein, kehrte aber immer wieder nach „La Californie“ zurück.
Picassos Stil reduzierte sich zunehmend auf das Linienbetonte, Skizzenhafte. Mit hoher Produktivität setzte er sich nicht nur mit der Malerei und Grafik wie Lithografie und Linolschnitt auseinander, sondern ab 1947 auch mit der Bildhauerei und Keramik. Er variierte und zitierte seine Themen wiederholt.
Letzter Wohnort Mougins und Tod
Picasso hatte sich von seiner Frau Olga aus finanziellen Gründen nie scheiden lassen. Mehrere Jahre nach ihrem Tod heiratete er 1961 Jacqueline Roque und zog mit ihr nach Mougins in das Herrenhaus Mas Notre-Dame de Vie, nördlich über den Hängen von Cannes. Die Ehe blieb kinderlos. Das Schloss Vauvenargues nutzte er als Lager für unzählige Bilder.
1962 wurde Picasso mit dem Internationalen Lenin-Friedenspreis ausgezeichnet.
1963 wurde das Museu Picasso in Barcelona eröffnet, das später einen Großteil seines Nachlasses erhielt. Den Grundstock bildete die Schenkung von 574 Werken von Picassos Freund und Sekretär Sabartés. Anlässlich des Erscheinens der Erinnerungen von Françoise Gilot, Leben mit Picasso im Jahr 1964, kam es zum Zerwürfnis mit seinen aus dieser Beziehung stammenden Kindern Claude und Paloma Picasso.
Im Jahr 1971 fand eine Retrospektive in Paris anlässlich Picassos 90. Geburtstags im Louvre statt. Er war der erste Künstler, dem diese Auszeichnung bereits zu Lebzeiten gewährt wurde.
Am 8. April 1973 starb Picasso in seinem Haus in Mougins infolge einer Lungenembolie, andere Quellen nennen als Ursache infolge eines Herzinfarkts mit Lungenödem. Er wurde am 10. April im Garten seines Schlosses in Vauvenargues begraben. Picasso hatte kein Testament hinterlassen. Seine Erben entrichteten die Erbschaftsteuer in Form von Kunstwerken Picassos und anderen Gemälden aus seiner Sammlung, wie beispielsweise Werke von Matisse und die Yadwigha von Rousseau. Sie bildeten den Grundstock der Kollektion des Musée Picasso in Paris. Im Jahr 2003 weihten Verwandte das Picasso gewidmete Museum in seiner Geburtsstadt Málaga ein, das Museo Picasso Málaga, und überließen ihm viele Ausstellungsstücke.
Seine Witwe Jacqueline nahm sich in dem Haus in Mougins 1986 das Leben, 13 Jahre nach dem Tod Picassos.
Nachlass
Picasso hinterließ neben Immobilien ca. 1900 Gemälde, 12 000 Zeichnungen, 1300 Skulpturen, 3000 Keramiken und acht Teppiche. Ein von Christian Zervos herausgegebenes Werkverzeichnis ist 33 Bände stark, umfasst aber nicht alle Picasso-Arbeiten. Immer wieder tauchen unbekannte Werke auf.
Der renommierte Pariser Auktionator Maurice Rheims wurde mit der systematischen Erfassung aller Kunstwerke beauftragt. Auftraggeber war der französische Staat, die Sichtung begann 1974 und dauerte bis 1981.
Der französische Staat suchte sich 3800 Kunstwerke aus dem Nachlass aus und zog so die Erbschaftssteuer in Form von Kunstwerken ein. Sie wurden zur Grundlage des Musée Picasso, des größten Picasso-Museums der Welt.
Nachkommen/Erben
Da Picasso kein Testament hinterlassen hatte, war die Erbauseinandersetzung durch juristische Auseinandersetzungen geprägt. Im Herbst 1977 war das Erbe verteilt. Die Beteiligten einigten sich auf Quoten am Gesamterbe. Jacqueline Roque, die zweite Ehefrau, erhielt 30 Prozent des Nachlasses, die Mehrzahl der Kinder und Enkel je 10 Prozent.
Etwas abweichend äußert sich folgender Beitrag: Die überlebenden fünf Erben (nach dem Tod von Jacqueline Roque) sind Françoise Gilots Kinder Claude und Paloma, Maya Widmayer-Picasso (* 5. September 1935; † 20. Dezember 2022), Tochter von Picasso und Marie-Thérèse Walter, sowie die Enkel Bernard und Marina Picasso.
Zunächst gab es offiziell nur einen rechtmäßigen Erben unter Picassos Kindern:
Paulo Picasso (* 4. Februar 1921; † 5. Juni 1975) war das erste Kind Picassos aus seiner Ehe mit Olga Chochlowa. Er verstarb bereits vor Beendigung des Erbstreits. Paulo war als Kleinkind unter anderem das Modell für die Gemälde Paulo auf einem Esel (1923) und Paulo als Harlekin (1924).
Pablito Picasso (1949–1973, Suizid)
Marina Picasso (* 14. November 1950), erbte ein Fünftel des Nachlasses ihres Großvaters und hat einen Großteil des Erbes verwendet, um humanitäre Bemühungen für Kinder in Not zu finanzieren.
Bernard Ruiz-Picasso (* 3. September 1959)
Erst 1975 wurden die drei unehelichen Kinder als rechtmäßige Erben Picassos anerkannt.
Maya Widmaier Picasso (* 5. September 1935; † 20. Dezember 2022) entstammte der Verbindung mit Marie-Thérèse Walter. Ihr Vater malte mehrere Bilder, die Maya zum Thema hatten, darunter Maya à la poupée (Maya mit Puppe), das im Februar 2007 aus der Wohnung ihrer Tochter Diana Widmaier Picasso (* 12. März 1974) geraubt wurde. Im August 2008 wurden die Bilder und eine ebenfalls gestohlene Zeichnung von der französischen Polizei wiedergefunden. Außer der Tochter Diana hatte sie die Söhne Olivier und Richard.
Claude Picasso (* 15. Mai 1947; † 24. August 2023) war das erste Kind aus der Verbindung mit Françoise Gilot. Er wurde zwei Jahre nach Picassos Tod als Nachlassverwalter für die Familie eingesetzt und lebte in Paris. Er hatte einen 1981 geborenen Sohn Jasmin aus der Ehe mit Sydney Picasso.
Paloma Picasso (* 19. April 1949) ist das zweite Kind aus der Verbindung Picassos mit Françoise Gilot. Sie schaffte sich durch die Kreation von Schmuck, Modeaccessoires und Parfums einen Markennamen.
Werk
Nach dem On-Line Picasso Project, 1997 von Enrique Mallen, Professor an der Sam Houston State University, eingerichtet, wird die Gesamtzahl der Werke Picassos auf etwa 50.000 geschätzt, darunter 1885 Gemälde, 7089 Zeichnungen, 30.000 Drucke (Radierungen, Lithographien etc.), 150 Skizzenbücher, 1228 Skulpturen, 3222 Keramiken sowie Bildteppiche. Das On-Line-Projekt benutzt ein dem @-Zeichen nachempfundenes kleines P als Logo.
Malerei
Werk der Jugend (1889–1897)
Das erste, um 1889 entstandene Bild von Picasso ist Der Picador, das bereits in Öl gemalt ist. Stierkampfszenen, Tauben und die Darstellung einer Herkulesstatue bildeten die Themen seiner ersten Zeichnungen. Es entstanden Ölbilder in der Malweise der altmeisterlichen Genremalerei nach dem Vorbild des Vaters. Als Elfjähriger erhielt er Unterricht in der Tradition der Akademischen Malerei unter dessen Anleitung. Nach Gipsabdrücken fertigte er Zeichnungen wie Etude pour un torse.
In den um 1895 entstandenen Bildern waren die spanischen Maler des 17. Jahrhunderts sein Vorbild. Zu dieser Zeit war er Schüler der Zeichenklasse der „La Llotja“ in Barcelona. Einige seiner Bilder zeigen Anklänge und Studien nach den Werken von Francisco de Zurbarán und des frühen Diego Velázquez, wie etwa das Porträt Philippe IV. nach Velázquez. Ab 1897 studierte Picasso für kurze Zeit an der königlichen Akademie von San Fernando in Madrid. Eine aus dieser Zeit stammende Zeichnung zeigt den Matador Luis Miguel Dominguin.
1896 war sein Gemälde Die Erstkommunion in der Ausstellung für Kunst und Kunstgewerbe in Barcelona ausgestellt und wurde in einer bedeutenden Zeitung lobend besprochen. 1897 malte er die große Komposition Wissenschaft und Nächstenliebe. Sie entsprach der seinerzeit beliebten Spielart der Historienmalerei und erhielt in der Allgemeinen Kunstausstellung in Madrid eine offizielle ehrenvolle Erwähnung. Später erhielt es in seiner Geburtsstadt Málaga eine Goldmedaille.
Jahre der Orientierung (1898–1901)
Als Picasso 1897, im Alter von 16 Jahren, die Königliche Akademie verlassen hatte, begann seine selbständige Künstlerkarriere.
Die Jahre zwischen 1898 und 1901 charakterisieren die Zeit der Orientierung: das konsequente Überprüfen der kreativen Prinzipien nahezu aller damals progressiven und avantgardistischen Richtungen. Er überwand seine rein akademische Ausbildung in einer für ihn bezeichnenden Weise, so wie er gelernt hatte, Neues aufzunehmen: als Aneignung durch Nachahmung.
Er wurde von den Werken der katalanischen Maler des Modernisme, Isidre Nonell und Santiago Rusiñol, beeinflusst und erhielt weitere Anregungen – um nur einige zu nennen – aus dem Bereich des Symbolismus, der englischen Präraffaeliten, der Wiener Moderne, katalanischen Wandmalereien des 14. Jahrhunderts, aus den Werken von El Greco, Henri de Toulouse-Lautrec und Théophile Steinlen, dem Illustrator im Stil des Art Nouveau. Picasso versuchte bereits seine Vorbilder umzuformen. Im Jahr 1900 fand Picassos Auseinandersetzung mit Toulouse-Lautrec in dem Gemälde Le Moulin de la Galette ihren Höhepunkt. Seine erste Einzelausstellung im „Els Quatre Gats“ im selben Jahr erntete jedoch negative Kritiken.
Blaue Periode (1901–1904)
Der Begriff Blaue Periode in Picassos Werk stellt die vorherrschende monochrome Farbigkeit in den Vordergrund. Die Grundlagen der Blauen Periode wurden in Paris entwickelt. Das Bild Evokation – Das Begräbnis Casagemas ist das erste Bild jener Schaffensphase. Es soll das Ende einer Freundschaft und den Beginn von etwas Neuem darstellen. Es entstanden in Folge Werke wie Das Blaue Zimmer und das berühmte Selbstbildnis aus dem Jahr 1901.
Nach der Umsiedlung nach Barcelona im Jahr 1902 bildeten schwermütige Figurenbilder die Hauptthemen. Außenseiter der Gesellschaft wie Bettler, Obdachlose, aber auch einsame Menschen sowie Mutter und Kind kamen zur Darstellung. Mit Hilfe dieser Themen verarbeitete er sowohl seine Einsamkeit in der Fremde als auch den Tod des Freundes. Die Themenwahl der Werke Picassos ist mit den Werken Nonells vergleichbar. Gibt Nonell jedoch einen Wirklichkeitsausschnitt zu erkennen und lässt den Rückschluss auf größere Zusammenhänge zu, so verwirklicht Picasso das Schicksal als etwas einzelnes, in der Isolation.
1902 entstand Melancholie, das Bildnis einer melancholischen jungen Frau. Die überlange Darstellung der Personen wie beispielsweise bei der Büglerin (1904) ist auf die Auseinandersetzung mit El Greco zurückzuführen: „Daß meine Figuren in der Blauen Periode sich alle in die Länge strecken, liegt wahrscheinlich an seinem Einfluß.“ Andererseits schließt sich das Thema der Büglerin nahtlos an die Darstellungen von Daumier und großartige Studien von Degas an.
Als Hauptwerk der Blauen Periode gilt La Vie (Das Leben) vom Mai 1903, in dem der abgebildete Mann die Gesichtszüge des Freundes Carlos Casagemas trägt.
Rosa Periode (1904–1906)
Die Kunstgeschichte trennt die Jahre 1901–1906 im Schaffen Picassos in zwei Perioden, die Blaue und die Rosa Periode. Für die Zeitgenossen hingegen bildeten die erwähnten Jahre eine Einheit. Die vorherrschende Verwendung der Farbe Rosa rechtfertigte für sie keineswegs eine Abtrennung vom Vorangegangenen, und sie sprachen durchgehend von der Blauen Periode. Auch der Künstler sah es in der Rückschau so.
Mit den Bildern der Blauen und der Rosa Periode setzte sich Picasso thematisch deutlich von der seinerzeit gefeierten offiziellen Kunst ab. Ab 1904 ersetzte Picasso allmählich das vorherrschende Blau durch rosa- und orangefarbene Töne. Die Motive der Rosa Periode stammen oft aus der Welt der Schauspieler und Artisten, die damals als Symbole für das Künstlertum verstanden wurden. So wird die Rosa Periode auch als Harlekin-Periode bezeichnet. Andererseits jedoch tritt die Figur des Harlekin in beiden Perioden auf. Picasso hatte sich selbst 1905 im Pariser Kabarett Le Lapin Agile in dem Gemälde Au Lapin Agile als Harlekin mit seiner damaligen Geliebten Germaine Gargallo porträtiert. Bedingt durch die Liebe Picassos zu Fernande Olivier, dem Modell für Bildhauer und Maler, die er 1904 in Paris getroffen hatte und die zum Thema vieler seiner Gemälde werden sollte, und zusätzlich durch seine ersten finanziellen Erfolge, erscheint das Werk optimistischer. Als Hauptwerk der Rosa Periode gilt das Gemälde Die Gaukler (Les Saltimbanques) aus dem Jahr 1905.
Les Demoiselles d’Avignon und période nègre (1907–1908)
Das Gemälde Les Demoiselles d’Avignon aus dem Jahr 1907 gilt heute unbestritten als Höhepunkt von Picassos Sturm-und-Drang-Periode. Als das Werk 1939 seinen Weg in die Öffentlichkeit fand, avancierte es zum Schlüsselbild der Moderne schlechthin. Inspiriert sind die Demoiselles von den Gemälden Paul Cézannes und den Arbeiten der Fauves, etwa Le bonheur de vivre (Lebensfreude, 1905/06) von Henri Matisse.
Ausgangspunkt für Picasso war seine Auseinandersetzung mit der europäischen Kunstüberlieferung und der Rückgriff auf prähistorische Kunst, der sich in seiner im Sommer 1906 beginnenden Beschäftigung mit der iberischen Kunst zeigt. Seit dem Winter 1905/06 entstanden Formstudien, die diese Auseinandersetzung widerspiegeln. Mit dem abschließenden Werk der Demoiselles begann Picassos sogenannte période nègre (Negerperiode oder Iberische Periode). In jener Phase hatte Picasso Anregungen aus der afrikanischen und, in geringem Ausmaß, ozeanischen Kunst frei kombiniert (siehe hierzu Primitivismus). Picasso selbst sprach immer nur von art nègre, da er die ozeanischen Vorbilder „afrikanisierte“. Ein Werk aus der période nègre ist das Gemälde Akt mit Kleidungsstück aus dem Sommer/Herbst 1907.
Kubismus (1908–1916)
Zentraler Ausgangspunkt für Picasso war die malerische Kunstform Cézannes aus dessen letzten Lebensjahren. Picasso hatte dessen Werk studiert und äußerte später gegenüber dem Fotografen Brassaï: „Cézanne! Er war unser aller Vater!“ Bevorzugte Motive waren Stillleben, insbesondere sind Musikinstrumente, Landschaften und Personen dargestellt.
Die kubistische Periode Picassos lässt sich in zwei Phasen einteilen: in den analytischen und synthetischen Kubismus.
Analytischer Kubismus (1908–1912). Picassos Methode – das „Öffnen“ der geschlossenen Form der dargestellten Körper zugunsten eines Formenrhythmus – gestattet, die Körperlichkeit der Dinge und ihre Lage im Raum darzustellen, anstatt sie durch illusionistische Mittel vorzutäuschen. Die Lichtführung spielte eine untergeordnete Rolle. In den Gemälden wurde nicht festgelegt, von welcher Seite das Licht kommt. Die dadurch hervortretenden unterschiedlichen Ansichten der Objekte bewirken die Erscheinung simultaner Perspektive, als könnten sie von allen Seiten gleichzeitig betrachtet werden. Auf diese Weise entsteht die Wirkung einer „kristallinen“ Struktur. Ein Beispiel ist das im Jahr 1910 geschaffene Porträt Ambroise Vollard.
Synthetischer Kubismus (1912–1916). Der synthetische Kubismus entstand durch die von Picasso und Braque praktizierte Collagetechnik, dem papier collé. Zu den papier collés wurden sie durch ihre zuvor entstandenen dreidimensionalen Konstruktionen, den Papierplastiken angeregt, die sie aus Papier und Karton, Picasso später aus Blech, fertigten. Sie bilden die Grundlage aller nachfolgenden Collage-Techniken bis hin zum Ready-made.
In den Werken tauchten nun Papier, Zeitung, Tapete, imitierte Holzmaserung, Sägespäne, Sand und ähnliche Materialien auf. Die Grenzen zwischen gemaltem und realem Gegenstand bis hin zum Objekt gehen fließend ineinander über. Auf diese Weise schufen Braque und Picasso eine Synthese aus verschiedenen Elementen, woraus sich der Name dieser Schaffensperiode ergab. Die in dieser Weise bearbeiteten Bilder bekommen einen dinghaften, materiellen Charakter, der eine neue Realität des Bildes schafft. Picassos erstes Werk dieser Art war die im Jahr 1912 entstandene Arbeit Stillleben mit Rohrstuhl (Nature morte à la chaise cannée), die die erste Collage darstellt. Eine weitere Arbeit aus dieser Phase ist Geige und Weinglas auf einem Tisch.
Stilistisches Nebeneinander (1916–1924)
Während des Ersten Weltkriegs entstand in Europa eine Sehnsucht nach „Reinheit und Ordnung“ (Retour à l’ordre). Es erfolgte eine Rückbesinnung auf die klassische Tradition und einer oft krass vorgetragenen Ablehnung aller Modernismen. Frankreich verstand sich in direkter Nachfolge der vorbildlichen Antike als Hort der Humanität und Gegner der „barbarischen Deutschen“. Die Rückbesinnung vollzog sich auch in anderen romanischen Ländern: so in Barcelona im Noucentisme, den Picasso 1917 bei seiner Spanienreise kennenlernte. In Frankreich bildeten sich zwei entgegengesetzte künstlerische Lager heraus. Das eine, mit dem Hauptvertreter Fernand Léger, versuchte, die formalen Errungenschaften des Kubismus mit den Formen der Klassik zu verbinden, um die Kunst politischen Zielen dienstbar zu machen. Das andere, mit Picasso als Hauptvertreter, folgte der unmittelbaren Auseinandersetzung mit den klassischen Werten. Die Wiederbelebung des Klassizismus in Picassos Werk war die Folge.
So zeigen Picassos Arbeiten bereits ab 1914/15 Figurendarstellungen, die ganz nach der Tradition der Klassik und der europäischen Klassizismen von der formbestimmenden Linie ausgehen, wie etwa das Bildnis Olga in einem Sessel aus dem Jahr 1917. Neben den klassizistischen Akten, Porträts und szenischen Darstellungen entstanden jedoch gleichzeitig Werke des synthetischen Kubismus, wie etwa Stillleben vor einem Fenster in Saint-Raphaël aus dem Sommer 1919 oder Drei Musikanten aus dem Sommer 1921. Die Jahre 1916 bis 1924 bilden auf diese Weise scheinbar eine Zeit der Koexistenz der Gegensätze. So spottete der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe: „Morgens macht er Kuben, nachmittags voluminöse Frauen.“
Die Komposition Drei Frauen am Brunnen aus dem Jahr 1921 zeigt drei mächtig wirkende Frauen, gekleidet wie antike Göttinnen, die sich melancholisch anblicken. Ein weiteres antikes Thema bildet das Gemälde Die Panflöte aus dem Jahr 1924 ab.
Auseinandersetzung mit dem Surrealismus (1925–1936)
Von 1925 bis 1936 wandte sich Picasso erneut intensiv plastischer Gestaltung zu. Alle zwei- und dreidimensionale Ausdrucksformen wurden in einer geradezu „explodierenden“ Fülle gegenseitiger Entsprechungen neben- und nacheinander gesetzt. Für sein Jonglieren mit der Form erhielt Picasso in jenen Jahren durch eine neue künstlerische Bewegung Rückhalt, die sich aus den Strömungen des Dadaismus herauskristallisiert hatte: den Surrealismus. Für die Surrealisten war Picasso eine Symbolfigur der Moderne. Jedoch kann Picasso im engeren Sinn nicht dem Surrealismus zugerechnet werden.
Picasso beteiligte sich 1925 an der ersten Ausstellung surrealistischer Maler in der Pariser Galerie Pierre. Seine Arbeiten waren dort neben Werken von Hans Arp, Giorgio de Chirico, Max Ernst, Man Ray und Joan Miró zu sehen. Rückschauend äußerte er sich dann in den fünfziger Jahren, vor 1933 frei von surrealistischen Einflüssen gearbeitet zu haben. Dieser Äußerung Picassos steht jedoch gegenüber, dass er die Arbeiten von Giorgio de Chirico bis zu Joan Miró genau wahrgenommen und als Vorbild verwendet hatte. Besonders viele Anregungen gab ihm die surrealistische Plastik, vor allem Werke von Alberto Giacometti. Allerdings stehen diese Übernahmen nie isoliert, sondern werden von Picasso für seine Zwecke funktionalisiert und mit Anleihen aus völlig anders gearteten Kunstrichtungen kombiniert. Picasso äußerte: „Manche nennen die Arbeiten, die ich in einer bestimmten Periode geschaffen habe, surrealistisch. Ich bin kein Surrealist. Ich bin nie von der Wahrheit abgewichen: Ich bin immer in der Wirklichkeit geblieben.“
Als surrealistisch inspirierte Werke gelten beispielsweise Schlafende Frau im Armsessel, 1927, die Sitzende Badende am Meeresstrand und Die Kreuzigung aus dem Jahr 1930.
Guernica (1937)
Das erste Werk, das Picasso zum Thema des Spanischen Bürgerkriegs schuf, war Traum und Lüge Francos, eine Folge von 18 Aquatinta-Radierungen, die Picasso am 8. Januar 1937 begonnen hatte. Nach der Bombardierung Gernikas im April 1937 entstand unter diesem Eindruck das großformatige, rund dreieinhalb Meter hohe und fast acht Meter breite Wandbild Guernica, das zusammen mit Paul Éluards Gedicht Der Sieg von Guernica im Juni in der Pariser Weltausstellung im spanischen Pavillon ausgestellt war.
Nach anfänglicher Kritik, die sich gerade an seiner mangelnden politischen Eindeutigkeit festmachte, wurde es in der Rezeption zum berühmtesten Antikriegsbild des 20. Jahrhunderts erklärt – in weitem Abstand folgen die Bilder von George Grosz und Otto Dix über den Ersten Weltkrieg. Einige Schlüsselfiguren aus dem Gemälde, wie die Weinende Frau und das Sterbende Pferd, finden sich in seinen späteren Werken wieder.
Spätwerk nach 1945
Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich Picassos Stil erneut, indem er die Kunst der alten Meister neu interpretierte und den Wettstreit mit ihnen suchte. Beispiele sind Bildnis eines Malers nach El Greco, 1950, die ab 1954 entstandenen 15 Versionen nach Delacroix’ Frauen von Algier sowie 1957 Las Meninas nach Velazquez. In Las Meninas ersetzte Picasso die Dogge des spanischen Königs durch seinen Dachshund Lump. Die Nachschöpfungen zeichnen sich durch formalen Witz und inhaltliche Ironie aus. Die „Zitatkunst“ nahm er hiermit vorweg, sie sollte in den 1960er Jahren sehr verbreitet werden.
Die von Jean Crotti erfundene spezielle Form der Glasmalerei, „Gemmail“ (Plural „Gemmaux“), wendete Picasso beispielsweise in seinem Werk Ma jolie guitar aus dem Jahr 1955 an. In dieser Technik schuf er ab 1954 etwa 60 Werke, in denen er frühere Themen wiederholte.
Selbstporträts von Picasso sind selten: „Mit meinem Gesicht habe ich mich wirklich nicht oft beschäftigt.“ Stattdessen zeigte sich Picasso in verschlüsselten Selbstbildnissen, versteckt in Harlekinen, Jünglingen und Greisen sowie in den Porträts von Rembrandt und Balzac (1952). Gegen Ende seines Schaffens entstanden jedoch eine Reihe von Selbstbildnissen. Im April 1972 schuf Picasso Der junge Maler. Mit wenigen schlichten Strichen, die im Gegensatz zu den expressiven, pastos gemalten Werken der vergangenen Jahre stehen, porträtiert er sich mit breitkrempigem Hut, den Pinsel locker in der Hand haltend, vielleicht ein Versuch angesichts des Todes, wieder der kleine Pablo Ruiz zu sein. Im Juni folgte ein weiteres Selbstporträt, das ihn als alten Mann zeigt und auf dem er den Betrachter mit schreckgeweiteten Augen anstarrt.
Mit dem Bild Die Umarmung, das am 1. Juni 1972 entstand, endete Picassos malerisches Werk; bis zu seinem Tod am 8. April 1973 zeichnete Picasso nur noch – es waren nicht weniger als zweihundert Bilder. Zwei Farben dominieren die Liebesszene: Blau und Rosa. Picasso greift hier noch einmal auf die Grundlagen seiner Kunst zurück: auf die Todesbilder, den Liebesrausch, die melancholische Blaue Periode und die spielerische Rosa Periode. In diesem letzten Bild rast eine blaue Welle auf ein Paar zu, das kaum zu erkennen ist; es ist nur aus dem Titel abzuleiten. Ein ekstatisches Knäuel aus Körper- und Geschlechtsteilen beherrscht das Bild.
Bildhauerei
Als nicht ausgebildeter Bildhauer schuf Picasso zwischen den Jahren 1909 und 1930 Skulpturen, die einen großen Einfluss auf die Bildhauerei des 20. Jahrhunderts haben sollten. Dreidimensionale Arbeiten begleiteten sein ganzes Werk und dienten ihm als Experimentierfeld für sein malerisches Schaffen. Seine Innovationen verfolgte er nicht weiter, sie dienten jedoch zeitgenössischen Bildhauern als Anregung wie beispielsweise den Futuristen, den Dadaisten und den Konstruktivisten.
Picassos früheste Skulptur ist die kleine Bronze Sitzende Frau von 1902, die er modellierte, als er gut 20 Jahre alt war. Seine erste bedeutende Skulptur war der annähernd lebensgroße Frauenkopf (Fernande) aus dem Sommer 1909, der im Zusammenhang mit Bildern von Fernande entstand, die nach der Auseinandersetzung mit Cézannes Spätwerk bereits einen neuen, nichtperspektivischen Bildaufbau, eine reduzierte Farbplatte und Formzerlegung aufwiesen. Bis zum Jahr 1912, als die erste Collage, Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht geschaffen wurde, entstanden keine weiteren Plastiken. Im selben Jahr schuf er die Montage Gitarre, eine „Konstruktion“ aus zusammengeleimten, mit Schnüren versehenen Kartonstücken.
Aus dem Jahr 1914 stammt eine Serie von sechs Absinthgläsern, bestehend aus kubistisch geformtem Glas aus Bronze, dem ein echter Absinthlöffel und ein unechtes Stück Zucker hinzugefügt wurde und die eine unterschiedliche Bemalung aufweisen – eine unkonventionelle Behandlung des Werkstoffs Bronze. Es handelt sich hier um eine Assemblage. Der echte Löffel erinnert an ein Ready-made von Marcel Duchamp. Ab 1923 arbeitete Picasso mit seinem Freund, dem Bildhauer Julio González, zusammen, der ihn mit den verschiedenen Möglichkeiten der bildhauerischen Gestaltung weiter vertraut machte.
In den Jahren 1928 und 1929 entstanden die Eisen- und Drahtskulpturen, von denen eines seiner Schlüsselwerke die Drahtkonstruktion (Denkmal für Guillaume Apollinaire) ist; sie wurde in Paris Ende 1928 geschaffen. In seiner Werkphase zu Beginn der 1930er Jahre schuf Picasso Skulpturen in realistischer Ausformung wie den Frauenkopf (Marie Thérèse), 1931, der auf die Liebesbeziehung mit seiner neuen Partnerin Marie-Thérèse Walter verweist. Zu weiteren plastischen Werken gehören beispielsweise die Assemblage Der Stierschädel von 1942, Mann mit Lamm, 1942/43, sowie das Modell für die monumentale Plastik ohne Titel aus dem Jahr 1967 in Chicago auf dem Daley Plaza; die Bürger bezeichnen sie als Chicago Picasso, und sie wird gelegentlich mit einem Vogel oder Frauenkopf verglichen. Picassos Enkel Olivier Widmaier Picasso äußerte 2004 gegenüber der Chicago Sun-Times, dass der Künstler beim Entwurf der Skulptur von seinem Modell Sylvette inspiriert gewesen sei.
Druckgrafik
In den Jahren von 1930 bis 1937 schuf Picasso eine Serie von hundert Grafiken, die nach dem Verleger und Kunsthändler Vollard die Suite Vollard benannt wurde; dieser hatte sie bei dem Künstler in Auftrag gegeben. Picasso variiert darin Themen wie Künstler und Modell und das Minotaurus-Motiv. Das Graphikmuseum Pablo Picasso Münster erwarb 2001 die komplette Grafikfolge.
Ein zentrales Thema wurde der Stierkampf, den Picasso 1935 in einer Folge von Radierungen darstellte. Motive des Stiers und des Stierkampfes als traditionell spanisches Thema ziehen sich durch Picassos gesamtes Werk. Die Minotauromachie verknüpft den antiken Minotauros-Mythos mit modernen Stierkampfszenen, die beispielsweise in der 1937 entstandenen Radierungsfolge Traum und Lüge Francos und seinem Monumentalgemälde Guernica anzutreffen sind. Die Minotauromachie ist ein Zitat seines Landsmanns Francisco de Goya, der seine Radierungsfolge Tauromaquia um 1815 schuf. Die 1957 geschaffene Serie La Tauromaquia mit 26 Aquatinta-Radierungen entstand als Illustration zum ersten Lehrbuch der Stierkampfkunst, La Tauromaquia, o arte de torear, ein Buch aus dem Jahre 1796, dessen Autor einer der bekanntesten Stierkämpfer seiner Zeit war, der Torero José Delgado y Galvez, genannt Pepe Illo.
Ab November 1945 wandte er sich, nach ersten Lithografien der Jahre 1919 bis 1930, in der Werkstatt von Fernand Mourlot in Paris erneut der Technik der Lithografie zu; es entstanden beispielsweise Tête de femme, Les deux femmes nues und Le Taureau.
1968 entstanden zwei große Radierfolgen: Maler und Modell sowie Die Liegenden, die nochmals die zentralen Themen seines Werkes aufnahmen: Zirkus, Stierkampf und erotische Motive.
Gebrauchsgrafik Picasso war ferner in der Gebrauchsgrafik tätig – Herstellung von Pressezeichnungen, Plakaten und Buchillustrationen sowie mit Entwürfen für Kalenderbilder, Karten und Notenheften. Die gebrauchsgrafischen Arbeiten dienten zunächst noch dem Broterwerb des jungen Künstlers, später entstanden sie als Gefälligkeiten für befreundete Schriftsteller, Komponisten, Verleger und Galeristen. Er widmete sich in Vallauris 1948 neben der Keramik der Technik des Linolschnitts, den er zusammen mit dem Drucker Hidalgo Arnera ausführte. Plakate für Stierkämpfe und Keramikausstellungen der Gemeinde waren seine ersten Werke. Sein bekanntestes Plakat ist die Friedenstaube für den Pariser Weltfriedenskongress im Jahr 1949. Für die Friedenstaube, die zum weltweit bekannten Symbol wurde, schuf Picasso etwa hundert Zeichnungen; ihre Gestaltung beruht auf impressionistischen Stilmitteln. Im April 1949 wurde die Friedenstaube erstmals auf dem Pariser Kongress, dem „Congrès mondial des partisans de la paix“ ausgestellt. Weitere Tauben folgten für die Kongresse in Warschau und Wien.
Buchillustrationen Picasso illustrierte Werke aus der griechischen Antike bis zu zeitgenössischer Literatur in bibliophilen Ausgaben. André Bretons Clair de terre aus dem Jahr 1923 enthält seine ersten Buchillustrationen, es folgten Abbildungen für Werke von Luis de Góngora, Francesco Petrarca, Tristan Tzara, Antonin Artaud und Pierre Reverdy. Das bekannteste Werk ist das von Vollard 1931 herausgegebene Le Chef d’Œuvre Inconnu (Das unbekannte Meisterwerk) von Honoré de Balzac mit Illustrationen des Künstlers. Mit dem Protagonisten Frenhofer, einem Maler, verband ihn der Beruf und die Straße, in der jener gelebt hatte – die Rue des Grands-Augustins.
Weitere Werkgattungen
Bühnenbilder und -vorhänge, Kostüme Schon in frühen Jahren hatte Picasso das Theater als Inspirationsquelle für seine Kunst entdeckt. Ab 1905 hatte er den melancholischen Harlekin und traurige Artisten als Motive seiner Gemälde gewählt. Die Auseinandersetzung mit dem Theater zieht sich durch sein gesamtes Werk. Im Jahr 1917 schuf Picasso sechs Bühnenbilder, den Bühnenvorhang und die Kostüme für Sergei Djagilews Balletts Russes, die nach einem Thema Jean Cocteaus und der Musik Erik Saties das Ballett Parade aufführten. 1919 folgten Bühnenbilder für Manuel de Fallas Oper Der Dreispitz, 1920 für Igor Strawinskis Pulcinella und 1924 für Saties Ballett Les Aventures de Mercure. Die Frankfurter Schirn zeigte Ende 2006 bis Anfang 2007 mehr als 140 Werke: Entwürfe für Bühnenbilder, Fotografien, Kostüme, Bühnenvorhänge, Zeichnungen und Gemälde. Viele originale Bühnenbilder und Kostüme sind jedoch zerstört oder verschollen. Von den ursprünglichen Choreografien existieren oft nur noch wenige Schwarz-Weiß-Fotografien.
Keramik Im Frühjahr 1947 bezog Picasso ein Atelier in dem französischen Ort Vallauris, nachdem er im Jahr zuvor bei der jährlichen Töpferausstellung zufällig Suzanne und Georges Ramie, die Eigentümer der Werkstatt Madoura, einer Keramikfabrik, getroffen hatte. Picasso unternahm seine ersten Versuche mit Keramik und beschloss, sich dieser Kunst zu widmen. Seine Vorgehensweise war unorthodox. Er schuf Faune und Nymphen aus dem Ton, goss die Erde wie Bronze, dekorierte Platten und Teller mit seinen bevorzugten Motiven wie Stierkampf, Frauen, Eulen, Ziegen, benutzte ungewöhnliche Unterlagen (Pignates-Scherben, Brennkapseln oder zerbrochene Ziegel) und erfand eine weiße Tonmasse aus nicht emaillierter, mit Reliefs versehener Keramik. Innerhalb von zwanzig Jahren schuf Picasso eine große Anzahl keramischer Originalwerke.
Luminografie Obwohl sich Picasso selbst wenig mit der Fotografie befasste, wusste er die Möglichkeiten des Mediums durchaus für seine künstlerischen Experimente zu nutzen. So entstand 1949 in Vallauris in Zusammenarbeit mit dem Fotografen Gjon Mili eine Serie von Lichtmalereien, sogenannte Luminografien. Picasso tauschte dazu den Zeichenstift mit einer Taschenlampe und malte in einem abgedunkelten Raum vor Milis Kamera Figuren in die Luft. Durch Langzeitbelichtung wurden seine Lichtbahnen auf dem Foto als „Luminogramme“ deutlich.
Medailleur Als Designer schuf Picasso die Medaillen für die seit 1974 in Tel Aviv, Israel, alle drei Jahre stattfindende Arthur Rubinstein International Piano Master Competition.
Literarisches Werk
Neben seinem bildnerischen Werk hinterließ Pablo Picasso Dutzende von Gedichten. Seine Texte finden sich in der Literaturliste unter Peter Schifferli: Pablo Picasso. Wort und Bekenntnis. Die gesammelten Dichtungen und Zeugnisse.
Zudem trat Picasso als Dramatiker in Erscheinung. Unter dem Eindruck der deutschen Besatzung von Paris und eines harten Winters entstand 1941 in nur wenigen Tagen das Stück Le Désir attrapé par la queue, das zuerst in der Zeitschrift Message erschien. Es wurde im März 1944 unter der Regie von Albert Camus in der Wohnung von Michel Leiris unter Mitwirkung von Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre, Raymond Queneau, Dora Maar und Valentine Hugo szenisch gelesen. Seine Erstaufführung erlebte es 1950 im Londoner Watergate Theatre.
Paul Celan übersetzte dieses Drama unter dem Titel Wie man Wünsche beim Schwanz packt ins Deutsche. Seine deutschsprachige Erstaufführung fand 1956 im Kleintheater Bern unter der Regie von Daniel Spoerri und der Mitwirkung unter anderem von Meret Oppenheim (Bühnenbild und Kostüme) statt. Veit Relin bearbeitete das Stück 1971 für das ZDF. Der Deutschlandfunk schrieb anlässlich der vom SDR 1980 produzierten Hörspielversion dieser „dadaistischen, erotischen Komödie“: „Das vom Geist der Psychoanalyse inspirierte Stück ist eine (aber)witzige Collage absurder Szenen und surrealer Begegnungen eines Dichters, in der Traumbilder und Elemente der realen Welt zu einer befremdlichen Synthese verschmelzen.“
1948 schrieb Picasso ein weiteres Schauspiel Les quatre petites, das unter dem Titel Vier kleine Mädchen ins Deutsche übersetzt und 1981 in London uraufgeführt wurde.
Rezeption
Zeugnisse von Zeitgenossen
Picassos Landsmann Salvador Dalí reiste 1926 zum ersten Mal nach Paris und besuchte Picasso. „Als ich bei Picasso ankam, war ich so tief bewegt und voller Respekt, als hätte ich eine Audienz beim Papst“. Im Jahr 1934 lieh Picasso Dalí das Geld für eine Überfahrt in die USA, das Dalí nie zurückzahlen sollte. Die Wertschätzung sollte sich später ändern, sie wurden Konkurrenten und Dalí im Gegensatz zu Picasso ein Anhänger Francisco Francos. Bekannt wurde Dalís Ausspruch:
„Picasso es pintor, yo también; Picasso es español, yo también; Picasso es comunista, yo tampoco.“ („Picasso ist Maler, ich auch; Picasso ist Spanier, ich auch; Picasso ist Kommunist, ich auch nicht.“)
Der surrealistische Schriftsteller André Breton lobt in seiner Schrift Der Surrealismus und die Malerei aus dem Jahr 1928 den Künstler: „Man muß bar sein allen Vorstellungsvermögens von der außerordentlichen Prädestination Picassos, um auch nur zu wagen, ein Nachlassen bei ihm zu befürchten. O Picasso, der Du den Geist bis zu seinem höchsten Grade nicht des Widerspruchs, aber der Befreiung getrieben hast […].“
Valentine Hugo schuf ein surrealistisches Porträt Picassos, das seit 1951 als Geschenk der Künstlerin im Besitz des Centre Pompidou ist und dessen Entstehung mit den Jahren 1934 und 1948 angegeben wird.
Der Galerist Ambroise Vollard berichtet in seiner Schrift Erinnerungen eines Kunsthändlers 1936 über die Reaktion des Publikums anlässlich der Ausstellungen seiner Werke: „Jedes neue Werk Picassos entsetzt das Publikum, bis das Erstaunen sich in Bewunderung verwandelt.“
Maurice de Vlaminck äußert sich 1942 kritisch: „Er zieht keinen Strich, legt keine Farbe auf, ohne an ein Original zu erinnern. Giorgione, El Greco, Steinlen, Lautrec, griechische Masken und Figurinen: Er benutzt alles […] Das einzige, was Picasso nicht fertigbringt: einen ‚Picasso‘, der von Picasso stammt“ (Nachdruck in „Mein Testament“, 1959).
Max Ernst dagegen bewundert Picasso in einem Interview des Spiegel im Jahr 1970 mit den Worten: „Picasso, gegen den kann doch niemand ankommen, der ist doch das Genie.“
Beziehung zu Matisse
Die Beziehung zu Henri Matisse ist in folgendem Abschnitt dargestellt: → Matisse’ Beziehung zu Picasso
Der Mythos Picasso – „Picasso und die Mythen“
Kein anderer Künstler des 20. Jahrhunderts war so umstritten und keiner ist so berühmt geworden wie Picasso. Keiner war so früh schon, so lange und schließlich so übereinstimmend als der entscheidende Künstler seiner Epoche gedeutet worden. Keiner wurde so oft zum Thema in Dichtungen oder Filmen. Schon Picassos Vater soll dem Sohn die Ehre erwiesen haben wie das von Sabartés wiedergegebene Zitat Picassos zeigt: „Da gab er mir seine Farben und seine Pinsel und hat nie mehr gemalt“. Der Vater soll dies zu einem Zeitpunkt getan haben, als der junge Pablo von ihm nichts mehr lernen konnte.
Die Meinungen über Picasso zeigen alle Extreme der gängigen Auffassungen von der Moderne und steigerten sich ins Unübersehbare. Bereits die beachtliche Menge an biografischer Überlieferung stellt „nur einen Tropfen“ dar im Vergleich zu dem seit Jahrzehnten fließenden Strom von Stellungnahmen, Kritiken, Untersuchungen und Büchern zum Werk Picassos. Für Klaus Herding ist das Werk Picassos die Herausforderung der Avantgarde schlechthin, und in den Augen Werner Spies’ ist Picasso wiederum „fraglos der größte Zeichner“ des 20. Jahrhunderts. Nach William Rubin repräsentiert das Werk Picassos durch die „Vielfalt seiner Stile, dem Abwechslungsreichtum und seiner Schöpferkraft die Kunst des 20. Jahrhunderts als Ganzes.“
2002 zeigte das Bucerius Kunst Forum in Hamburg die Ausstellung „Picasso und die Mythen“. Petra Kipphoff rezensierte in der Zeit: „Picasso und die Frauen, Picasso und die Kinder, Picasso und der Tod, Picasso und der Krieg, Picasso, der Maler, der Plastiker, der Zeichner, der Grafiker: Kein anderer Künstler des 20. Jahrhunderts ist so viel ausgestellt, so extensiv publiziert und kommentiert worden. […] Für den Spanier und bekennenden Macho Pablo Picasso aber war der Stier der Fixpunkt der Mythen und die präferierte andere Identität. Der Minotaurus, Ergebnis eines sorgfältig vorbereiteten Seitensprungs der kretischen Königin Pasiphae mit einem Stier, ist der Anfang aller Männlichkeitssagen. Picasso hat ihn nicht nur immer wieder zitiert, sondern spielt selber auch mit der Doppelrolle von Mann und Stier, mal heiter, mal aggressiv. Und dass der Mythos der Vorzeit sich auch seine Bestätigung auf der Straße im 20. Jahrhundert holen kann, zeigt der berühmte Stierschädel von 1942, bei dem Picasso den Sattel und die Lenkstange eines Fahrrades so montierte, dass in der Tat die Silhouette eines Stierkopfes sichtbar wird.“
„Hommage à Picasso“
69 Exponate von zeitgenössischen Künstlern, die Picasso und sein Werk zitieren, präsentierte eine Ausstellung mit dem Titel „Hommage à Picasso“ anlässlich der 1000-Jahr-Feier der Stadt Kronach im Jahr 2003. Die Künstler hatten ihm ihre künstlerische Reverenz zu seinem 90. Geburtstag im Jahr 1971 erweisen wollen. Die präsentierten Linolschnitte, Radierungen und Lithografien stammen aus den Jahren 1971 bis 1974, und wurden 1973 und 1974 erstmals in einem Mappenwerk, herausgegeben vom Propyläen Verlag, Berlin, und der Pantheon Presse, Rom, publiziert. Die Mappe umfasst unter anderem Werke von Künstlern wie Henry Moore, Max Bill, Allen Jones, Robert Motherwell, Jacques Lipchitz, Giacomo Manzù, Pierre Alechinsky, Joseph Beuys, Roy Lichtenstein, Michelangelo Pistoletto, Richard Hamilton, Walter De Maria und Hans Hartung, die mit ihrer spezifischen künstlerischen Formensprache Picasso ehrten.
Dem im Jahr 1973 entstandenen Werk Joan Mirós unter dem Titel Hommage à Picasso gingen bereits im Jahr 1912 Juan Gris’ und 1914 Paul Klees gleichnamige Bilder voran.
Die Deutsche Guggenheim zeigte 2006 eine von der Konzeptkünstlerin Hanne Darboven als Auftragsarbeit aktualisierte und erweiterte Version ihrer Arbeit Hommage à Picasso aus den Jahren 1995/96. Darboven stellte 9720 Schriftblätter in 270 Rahmen in einer Rauminstallation eine Kopie von Picassos Gemälde Sitzende Frau im türkischen Kostüm gegenüber, – sein Original entstand 1955 – die durch eine Serie von Skulpturen, einer bronzenen Büste Picassos bis hin zu aus Birkenzweigen geflochtenen Eseln komplettiert wurde. Ein weiterer Teil der Arbeit war Opus 60, eine während der Ausstellung aufgeführte musikalische Komposition.
Neubewertung von Picassos Spätwerk
Nachdem bereits 1992/93 die Hamburger Kunsthalle, die Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München und die Neue Nationalgalerie, Berlin in der Ausstellung „Picasso, Die Zeit nach Guernica 1937–1973“ das Spätwerk des Künstlers zeigten, fand anlässlich von Picassos 125. Geburtstag in Ausstellungen der Albertina, Wien und der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, unter dem Titel „Picasso – Malen gegen die Zeit“ im Jahr 2006 eine Neubewertung von Picassos Spätwerk statt, das lange Zeit in der Kritik gestanden hatte. „Unzusammenhängende Schmierereien, ausgeführt von einem rasenden Greis im Vorzimmer des Todes“, urteilte beispielsweise der Sammler und Kunsthistoriker Douglas Cooper über das verstörende wilde Spätwerk Picassos.
Den Katalog zur Ausstellung gab Werner Spies heraus, der Picasso persönlich gekannt hatte und als ausgezeichneter Experte seines Werkes gilt. „Pablo Picasso hat die Kunst des 20. Jahrhunderts so nachhaltig geprägt wie kein zweiter. Unter den zahlreichen Phasen und Stilperioden in seinem Schaffen nimmt das Alterswerk eine besondere Stellung ein. Seine späten Bilder, die mit allen Fasern an Sinnlichkeit und Umarmung hängen, die Kuss und Kopulation in Großaufnahmen zeigen, sind geprägt von einer großen Rastlosigkeit, die darauf zielt, den Tod zu exorzieren. Den meisterhaft schnellen, ‚wilden‘ Gemälden stehen technisch akribisch ausgeführte Zeichnungen gegenüber, in denen eine einzigartige Erzählfreude vorherrscht. Anhand von fast 200 Werken – Gemälde, Zeichnungen, Druckgrafiken und Skulpturen – die besondere Arbeitsweise und Dialektik von Picassos später Kunst. Vor allem der spannungsvolle Dialog von Malerei und Zeichnung, entwickelt in den Jahren in Mougins, zeigt den größten Künstler des 20. Jahrhunderts im Wettlauf mit der ihm noch verbleibenden Zeit.“
Film, Theater, Video
Der französische Filmregisseur Henri-Georges Clouzot brachte 1956 unter dem Titel Picasso (Le Mystere Picasso) einen im Reportage-Stil hergestellten Dokumentarfilm über Pablo Picasso und dessen Arbeitsweise in die Kinos. In Jean Cocteaus Film aus dem Jahr 1960, Le Testament d’Orphée (Das Testament des Orpheus), hatte Picasso einen Cameo-Auftritt. 1978 wurde die schwedische Filmkomödie Die Abenteuer des Herrn Picasso (Picassos äventyr) gedreht, die Regie führte Tage Danielsson. Im Jahr 1996 entstand die Filmbiografie Mein Mann Picasso (Surviving Picasso), in der Sir Anthony Hopkins den Maler verkörperte. Der Film spielt in den zehn Jahren von 1943 bis 1953, als Gilot Picassos Lebensgefährtin war.
Picassos Bild Mädchen mit Taube spielt eine zentrale Rolle in der von Adolf Kabatek ersonnenen Disney-Geschichte Picasso-Raub in Barcelona (1985), ein Comic, in der Dagobert Duck mit seiner Verwandtschaft allerlei Abenteuer in und um Barcelona erleben. In dem 184-minütigen Dokumentarfilm 13 Tage im Leben von Pablo Picasso (Frankreich 1999, ARTE-Edition/absolut Medien), hergestellt von Pierre Daix, Pierre Philippe und Pierre-André Boutang, werden dreizehn Tage, die Wendepunkte in Picassos Leben darstellen, anhand von Kunstwerken, Skizzenbüchern, Gesprächen und Filmausschnitten dokumentiert.
1993 verfasste der amerikanische Schauspieler Steve Martin das Bühnenstück Picasso at the Lapin Agile. Es beschreibt ein imaginäres Treffen im Jahr 1904 von Pablo Picasso und Albert Einstein im Pariser Kabarett Lapin Agile.
Der anderthalbstündige Fernsehfilm Matisse & Picasso: A Gentle Rivalry entstand im Jahr 2000; er befasst sich mit den Porträts der zwei „Giganten“ in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Er zeigt selten veröffentlichte Fotografien ihrer Gemälde und Skulpturen sowie Fotos und Filme aus Archiven, die sie bei der Arbeit zeigen. Geneviève Bujold ist die Stimme von Françoise Gilot, Robert Clary ist Matisse und Miguel Ferrer Picasso. Die mit einem nationalen Emmy ausgestattete Produktion stammt von KERA-Dallas/Fort Worth/Denton in Zusammenarbeit mit dem Kimbell Art Museum, Fort Worth, Texas.
In dem Theaterstück des irischen Autors Brian McAvera Picassos Frauen (Picasso’s Women) erzählen acht Frauen im Rahmen einer fiktiven Pressekonferenz von ihrem Leben mit dem Künstler in der Reihenfolge der Bekanntschaft mit Picasso: Zunächst spricht Fernande Olivier, gefolgt von Eva Gouel, Gabrielle Lespinasse, Olga Chochlowa, Marie-Thérèse Walter, dann Dora Maar, Françoise Gilot und zuletzt Jacqueline Roque. Die Buchausgabe erschien 1998. Ab 2003 fanden Aufführungen in Form von Tourneen statt.
Der italienische Dramatiker und Maler Dario Fo verfasste das Bühnenstück Picasso desnudo, das 2012 uraufgeführt wurde. Die hierfür entstandenen Bilder empfand er selbst nach als „Falso Picasso“, da ihm die Bildrechte zu teuer erschienen. Sie wurden im November 2014 in einer Stuttgarter Galerie gezeigt.
Ebenfalls 2012 wurde der Film La banda Picasso unter der Regie des Spaniers Fernando Colomo gedreht. Er befasst sich mit dem spektakulären Raub des Gemäldes der Mona Lisa, der anfangs Guillaume Apollinaire und Picasso unter Verdacht geraten ließ.
Die 2013 entstandene Dokumentation von Hugues Nancy, Picasso, l’inventaire d’une vie (in der deutschen Fassung Looking for Picasso), zeigt chronologisch viele seiner Werke wie in einem Tagebuch, insbesondere auch bis dahin nicht gezeigte Werke aus dem persönlichen Nachlass. Seine Kernthese ist, Françoise Gilot zitierend, ebenso John Richardson, einem Wechsel in der Beziehung zu Frauen folgte bei Picasso ein Stilwechsel. Sie enthält Interviews mit Familienmitgliedern, Freunden, Anwälten und Biografen.
Eine Fernsehserie des National Geographic Channel zeigte ab April 2018 in der Reihe Genius in der deutschsprachigen Fassung unter dem Titel Genie: Picasso das Leben des Künstlers. Der Hauptdarsteller des älteren Picasso ist Antonio Banderas.
Im Fernsehen auf Arte wurde der Film Blow up – Picasso am 12. April 2021 gezeigt. Er ist abrufbar bis zum 14. April 2024.
Anlässlich des 50. Todestags Picassos sendete Deutschlandfunk Kultur am 1. April 2023 einen Beitrag von Susanne Luerweg und Sabine Oelze mit dem Titel Titan, Aktivist, Macho.
Am 26. Mai 2023 sendete der NDR einen Beitrag mit dem Titel Pablo Picasso: Maler und Macho.
Kunstmarkt
Unter den teuersten Gemälden der Welt befinden sich Werke von Picasso, darunter: Les femmes d’Alger (Version "O"), Akt mit grünen Blättern und Büste, Junge mit Pfeife sowie Dora Maar mit Katze. Am 13. Mai 2021 wurde das 1932 vollendete Werk Sitzende Frau am Fenster (Marie-Thérèse) auf einer Auktion bei Christie’s in New York veräußert. Innerhalb von 19 Minuten Auktionszeit erreichte das Bild einen Verkaufspreis von 90 Millionen Dollar. Inklusive der Kommission und Gebühren wurde die symbolisch wichtige Marke von 100 Millionen Dollar Auktionswert überboten, sodass das Werk insgesamt für 103,4 Millionen Dollar (umgerechnet etwa 85,4 Millionen Euro) den Besitzer wechselte.
Picassos Werke blieben auch nicht von Fälschungen verschont. Bereits im Jahr 1974 drehte Orson Welles die Dokumentation F for fake, in der er Kunstfälscher porträtierte; unter ihnen ist der ungarische Maler Elmyr de Hory, der serienweise „Picassos“ täuschend ähnlich kopierte.
„Picasso-Fund“ 2010
Bei Picassos früherem Elektriker Pierre Le Guennec und seiner Frau wurden 2010 271 bisher unbekannte Werke Picassos entdeckt, die angeblich in Guennecs Garage 40 Jahre lang lagerten und als Lohn für handwerkliche Arbeiten deklariert wurden. Ein sich anschließender Prozess wegen Hehlerei wurde im März 2015 mit einer Strafe von zwei Jahren auf Bewährung abgeschlossen. Näheres findet sich im Artikel zum Nachlassverwalter Claude Picasso.
Diebstähle
Der Wert des Gemäldes Buste de Femme aus 1938 wurde 2019 auf 25 Millionen Euro geschätzt. Unbekannte hatten es 1999 von einer Yacht, auf Anker vor Antibes, Frankreich gestohlen. Die Versicherung hatte damals eine Belohnung von 400.000 Euro ausgesetzt. Ein Kunstdetektiv hatte einen Hinweis aus der kriminellen Unterwelt erhalten und fand 2019 das Bild bei einem Geschäftsmann in Amsterdam. Der Diebstahl ist verjährt, das Bild wurde der Versicherung übergeben.
Vom 19. auf den 20. Mai 2010 wurde u. a. Taube mit Erbsen, 1911 oder Frühjahr 1912 kubistisch gemalt, aus dem Musée d’art moderne de la Ville de Paris gestohlen und aus dem Rahmen geschnitten. 2017 wird vom Prozess gegen drei Verdächtige berichtet, das Bild bleibt verschollen.
Im Juni 2021 wurden die Gemälde Frauenkopf von Picasso aus dem Jahr 1939 und ein beschädigtes Werk von Piet Mondrian in einem Lagerhaus 50 km entfernt von Athen gefunden, die 2012 aus der Nationalgalerie (Athen) geraubt worden waren. Ein Verdächtiger wurde ermittelt. Picassos Werk wird auf 16,5 Millionen Euro geschätzt. Er hatte das Bild Griechenland höchstpersönlich für den Widerstand gegen die Nationalsozialisten übergeben.
Tourismus
Die „Picasso Route“ in der katalanischen Stadt Barcelona führt zu seiner Ausbildungsstätte „La Llotja“, zum Künstlercafé Els Quatre Gats, dem Ort seiner ersten Ausstellung, zum Museu Picasso, und zeigt die drei Friese an der Fassade des Col·legi d’Arquitectes, die nach Picassos Zeichnungen von dem norwegischen Künstler Carl Nesjar (1920–2015) geschaffen wurden, sowie den Wohnort der Familie, das Gebäude Porxos d’en Xifré.
Seit 2009 gibt es die „Route Picasso“ in Südfrankreich, die von Avignon bis Antibes führt. Sie leitet den kunstinteressierten Touristen zu Lebens- und Wirkungsstätten des Künstlers.
Reaktionen zum 50. Todestag im April 2023
Im Jahr 2023 gibt es nicht nur weltweit viele Ausstellungen von Picassos Werken, sondern auch starke Kritik an seinem Verhalten Frauen gegenüber. Sprüche wie „Für mich gibt es nur zwei Arten von Frauen: Göttinnen und Fußabtreter“ lösen heute, im Zeitalter von #MeToo, einen Sturm der Entrüstung aus. Das Zitat stammt aus Françoise Gilots Buch Life with Picasso, das sie zusammen mit Carlton Lake 1964 verfasst hatte. Der Spruch lautet dort: „There are only two types of women: goddesses and doormats“. Sein machistischer und sexistischer Umgang mit Frauen wurden in zahlreichen Büchern und Artikeln veröffentlicht. Durch feministische Lesarten hat sich der Blick auf den spanischen Maler geändert. Man müsse sich fragen, wie man Picasso heute zeigen kann, meint beispielsweise Cécile Debray, die Direktorin des Pariser Musée Picasso. Als sie ihr Amt Ende 2021 antrat, stellte sie fest, dass Picassos Aura vor allem in akademischen Kreisen und bei der Jugend nachgelassen habe, sagte sie im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.
Ausstellungen (Auswahl)
Werke von Pablo Picasso wurden in der Galerie 291 (1911), der Armory Show (1913), der documenta 1 (1955), der documenta II (1959), der documenta III (1964), der documenta 6 (1977) und der documenta 8 im Jahr 1987 in Kassel ausgestellt.
1913: Pablo Picasso, Moderne Galerie Heinrich Thannhauser, München. Weltweit erste große Galerieausstellung
1925: Erste gemeinsame Ausstellung der Surrealisten in der Galerie Pierre, Paris
1932: Picasso, Kunsthaus Zürich. Weltweit erste Museumsretrospektive
1936: International Surrealist Exhibition, Burlington Galleries, London
1938: Exposition Internationale du Surréalisme, Galerie Beaux-Arts, Paris
1939: Retrospektive im Museum of Modern Art, New York
1971: Erste Retrospektive eines lebenden Künstlers im Louvre
1973/74: Hommage à Picasso, Kestner-Gesellschaft, Hannover
1986: Picasso – Pastelle, Zeichnungen, Aquarelle, Düsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Tübingen, Kunsthalle (Katalog von Werner Spies bei Hatje)
1993: Picasso. Die Zeit nach Guernica 1937–1973. München, Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung
1996/97: Picasso et le portrait. Galeries nationales, Grand Palais, Paris
2000/01: Picasso. Figur und Porträt, Hauptwerke aus der Sammlung Bernard Picasso im Bank Austria Kunstforum
2002/03: Matisse–Picasso. Tate Gallery of Modern Art, London (anschließend: Galeries nationales, Grand Palais, Paris; Museum of Modern Art, New York)
2006: Ausstellungen zum 125. Geburtstag
2007: Picasso – Malen gegen die Zeit, Alterswerk (Malereien, Grafiken). Albertina, Wien und Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf
2009: Picasso et les maîtres. Galeries nationales, Grand Palais, Paris
2010/11: Picasso: Peace and Freedom, Tate, Liverpool; Picasso: Frieden und Freiheit, Albertina, Wien
2010/11: Picasso (Hommage an die Ausstellung von 1932), Kunsthaus Zürich
2012: Frauen. Pablo Picasso, Max Beckmann, Willem de Kooning, Pinakothek der Moderne, München
2013: Becoming Picasso: Paris 1901, Courtauld Gallery, London
2014: Sylvette, Sylvette, Sylvette. Picasso und das Modell, Kunsthalle Bremen, 22. Februar bis 22. Juni 2014
2015/16: Picasso Sculpture, Museum of Modern Art, New York, 14. September 2015 bis 7. Februar 2016
2016: Picasso. Fenster zur Welt, Bucerius Kunst Forum, Hamburg, 6. Februar bis 16. Mai 2016
2016/17: Picasso. Sculptures, Palais des Beaux-Arts (BOZAR), Brüssel, 26. Oktober 2016 bis 5. März 2017
2017: Olga Picasso, Musée Picasso, Paris, 21. März bis 3. September 2017
2019: Der junge Picasso – Blaue und Rosa Periode, Fondation Beyeler, Riehen/Basel, 3. Februar 2019 bis 26. Mai 2019
2019/20: Magic Paintings. Musée Picasso, Paris, 1. Oktober 2019 bis 23. Februar 2020
2020: Pablo Picasso. Kriegsjahre 1939 bis 1945. K20/K21 – Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 15. Februar bis 14. Juni 2020
2021: Picasso & Les Femmes d’Alger. Museum Berggruen, Berlin. 21. Mai bis 29. August 2021
2022: Picasso. Keramik. Ostholstein-Museum Eutin, 23. August bis 13. November 2022
2023: Ausstellungen zum 50. Todesjahr Picassos
2023: Picasso: Künstler und Modell – Letzte Bilder, Fondation Beyeler Riehen, 19. Februar bis 1. Mai 2023
Werke (Auswahl)
Bildnerisches Werk
ab 1889: Einige Jugendwerke Picassos
1897: Wissenschaft und Barmherzigkeit, Öl auf Leinwand, 197 × 249,5 cm, Museu Picasso, Barcelona
1901: Evokation – Das Begräbnis Casagemas, Öl auf Leinwand, 150 × 90 cm, Musée Picasso, Paris.
1901: La Gommeuse, Öl auf Leinwand, 81,3 × 54 cm, Privatsammlung.
1902: Eingeschlafene Trinkerin (Buveuse assoupie), Öl auf Leinwand, 80 × 60,5 cm, Kunstmuseum Bern
1902: Die beiden Schwestern, Öl auf Leinwand, 152 × 100 cm, Eremitage, Sankt Petersburg
1902: Melancholie, Öl auf Leinwand, 100 × 69,2 cm, Detroit Institute of Arts, Detroit
1903: Familie Soler, Öl auf Leinwand, 150 × 200 cm, Le Musée d’Art moderne et d’Art contemporain, Liège (Lüttich)
1903: Das Leben (La Vie), Öl auf Leinwand, 197 × 127 cm, Cleveland Museum of Art
1904: Das karge Mahl, Radierung, 46,3 × 37,7 cm, Ulmer Museum, Ulm
1904: Die Büglerin, Öl auf Leinwand, 116 × 73 cm, The Solomon R. Guggenheim Museum, New York Abb.
1904: Frau mit Krähe, Holzkohle, Pastel und Aquarell auf Papier, 64,6 × 49,5 cm, Toledo Museum of Art
1905: Sitzender Harlekin, Aquarell und Tusche auf Karton 57,2 × 41,2 cm Sammlung Berggruen, Berlin
1905: Junge mit Pfeife, Öl auf Leinwand, 100 × 81,3 cm, Privatbesitz
1905: Die Gaukler (Les Saltimbanques), Öl auf Leinwand, 212 × 229 cm, National Gallery of Art, Washington
1906: Bildnis Allan Stein, Gouache auf Karton, 74 × 59,7 cm, Baltimore Museum of Art Abb.
1906: Bildnis Gertrude Stein, Öl auf Leinwand, 100 × 81 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York
1906: Selbstbildnis, Öl auf Leinwand, 93 × 73 cm, The Philadelphia Museum of Art
1907: Les Demoiselles d’Avignon, Öl auf Leinwand, 243,9 × 233,7 cm, Museum of Modern Art, New York
1908: Die große Dryade, Öl auf Leinwand, 185 × 108 cm, Eremitage, St. Petersburg
1910: Porträt Ambroise Vollard, Öl auf Leinwand, 92 × 65 cm, Puschkin-Museum, Moskau Abb.
1910: Bildnis Daniel-Henry Kahnweiler, Öl auf Leinwand, 101 × 73 cm, The Art Institute of Chikago
1910: Frau mit Senftopf, Öl auf Leinwand, etwa 29 × 24 cm, Gemeentmuseum, The Hague Abb.
1919: Schlafende Bauern, Tempera, Aquarell und Bleistift, 31,1 × 48,9 cm, Museum of Modern Art, New York
1920: Zwei sitzende Frauen, Öl auf Leinwand, 195 × 163 cm, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf
1921: Drei Musikanten, Öl auf Leinwand, 200,7 × 222,9 cm, Museum of Modern Art, New York
1921: Drei Frauen am Brunnen, Öl auf Leinwand, 203,9 × 1744 cm, Museum of Modern Art, New York
1923: Die Flöte des Pan, Öl auf Leinwand, 205 × 174,5 cm, Musée Picasso, Paris Abb.
1924: Paolo als Harlekin, Öl auf Leinwand, 130 × 97 cm, Musée Picasso, Paris
1925: Die Umarmung (Der Kuss), 130,5 × 97,7 cm, Musée Picasso, Paris Abb.
1925: Die drei Tänzerinnen (Les Trois Danseuses), Öl auf Leinwand, 215 × 142 cm, Tate Modern, London
1927: Sitzende Frau, Öl auf Holz, 130 × 97 cm, The Museum of Modern Art, New York
1930: Sitzende Badende am Meeresstrand, Öl auf Leinwand, 163,2 × 129,5 cm, The Museum of Modern Art, New York
1932: Akt mit grünen Blättern und Büste, Öl auf Leinwand, 162 × 130 cm, Privatbesitz
1932: Mädchen vor dem Spiegel, Öl auf Leinwand, 162,5 × 130 cm, The Museum of Modern Art, New York
1932: Le Rêve (Gemälde) (Der Traum), Öl auf Leinwand, 130 × 98 cm, Privatbesitz
1935: Interieur mit zeichnendem Mädchen, Öl auf Leinwand, 130 × 195 cm, Museum of Modern Art, New York
1937: Bildnis Dora Maar, Öl auf Leinwand, 92 × 65 cm, Musée Picasso, Paris Abb.
1937: Porträt Lee Millers als Arlésienne, Öl auf Leinwand, Museu Picasso, Barcelona Abb.
1937: Die weinende Frau, Tate Modern, London Abb.
1937: Guernica, Öl auf Leinwand, 349,3 × 776,6 cm, Museo Reina Sofia, Madrid
1939: Nächtlicher Fischfang in Antibes, Öl auf Leinwand, 205,7 × 345,4 cm, Museum of Modern Art, New York
1941: Dora Maar mit Katze (Dora Maar au Chat), Öl auf Leinwand, 130 × 97 cm, Privatbesitz
1942: Das Morgenständchen (L'aubade, Serenade), Öl auf Leinwand, 195 × 265 cm, Centre Pompidou
1945: Das Beinhaus, Öl auf Leinwand, 199,8 × 250,1 cm, Museum of Modern Art, New York
1946: La femme-fleur, Porträt von Francoise Gilot, Öl auf Leinwand, 146 × 89 cm, Collection Particuliére
1951: Massaker in Korea, Öl auf Sperrholz, 109,5 × 209,5 cm, Musée Picasso, Paris
1954: Porträt von Sylvette, Öl auf Leinwand, 81 × 65 cm, Privatbesitz Abb. Bildauswahl aus einer Porträtreihe Sylvette
1954/55: Les Femmes d’Alger (Die Frauen von Algier), 15 Versionen, inspiriert von Delacroix’ Die Frauen von Algier
1956: Das Atelier „La Californie“ in Cannes, Öl auf Leinwand, 89 × 116 cm, Musée Picasso, Paris
1957: Las Meninas nach Velazquez, Öl auf Leinwand, 194 × 260 cm, Museu Picasso, Barcelona Abb.
1958: Der Sturz des Ikarus, 800 × 1000 cm, Wandgemälde UNESCO, Delegates’ Lobby, Paris Abb.
1961: Frühstück im Freien nach Manet, Öl auf Leinwand, 60 × 73 cm, Museum Ludwig, Köln
1963: Frau mit Spiegel, Öl auf Leinwand, 116 × 89 cm, Privatbesitz
1964: Femme au chat assise dans un fauteuil, Öl auf Leinwand, 130 × 81 cm, Christie’s, New York an Dimitri Mavromatis
1965: Nackte Frau, Öl auf Leinwand, 115,8 × 88,5 cm, Christie’s, London
1969: Zwei Kämpfer III, roter Filzstift auf Papier, 11,7 × 18,4 cm, Sotheby’s, London
1961: Mann mit Pfeife, Öl auf Leinwand, 130,2 × 97,2 cm, Sotheby’s, London
1968: Frauenraub, Radierung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden
1972: Der junge Maler III, Öl auf Leinwand, 91 × 72,5 cm, Musée Picasso, Paris
1972: Selbstporträt, Wachsstift auf Papier, 65,7 × 50,5 cm, Fuji Television Gallery, Tokio Abb.
1973: Sitzender Mann, rote Kreide auf Papier, 33,7 × 26,7 cm, Sotheby’s, London
Bildhauerisches Werk
1905: Der Hofnarr, Bronze, 40 × 35 × 22 cm, Privatsammlung
1909: Kopf von Fernande, Bronze, 41,3 cm hoch, Musée Picasso, Paris Abb.
1928: Drahtkonstruktion (Denkmal für Guillaume Apollinaire), Metalldraht, 50,5 × 40,8 × 18,5 cm, Musée Picasso, Paris
1929–1930: Frau in einem Garten, Bronze, 210 × 117 × 82 cm, Sammlung Paloma Picasso Lopez, Paris
1932: Kopf einer Frau, Bronze, 128,5 × 54,5 × 62,5 cm, Musée Picasso, Paris
1934: Frau mit Blättern, Bronze, 38 × 18,7 × 25,8 cm, Musée Picasso, Paris
1942: Stierschädel, Assemblage aus Fahrradsitz und Fahrradgriff, 33,5 × 43,5 × 19 cm, Musée Picasso, Paris Abb.
1943: Totenkopf, Bronze, 25 × 21 × 31 cm, Musée Picasso, Paris
1944: Mann mit Schaf, Bronze, 220 × 78 × 72 cm, Philadelphia Museum of Art, Philadelphia
1950: Frau mit verschränkten Armen, Bronze, 34 × 10 × 10 cm, Sammlung Paloma Picasso Lopez, Paris
Frau mit Kinderwagen, diverse Materialien, 203 × 145 × 61 cm, Museum Ludwig, Köln,
1951: Pavian mit Jungem, Bronze, 53,3 × 33,7 × 42,7 cm, The Museum of Modern Art, New York
1952–1953: Lesende Frau, Bronze bemalt, 15,5 × 35,5 cm, Privatsammlung, Paris
1959: Der Arm, Bronze, 57,8 × 16,5 × 16 cm, Hirschhorn Museum and Sculpture Garden, Smithsonian Institution, Washington, D.C.
1962: Kopf, Eisen, Metall, 105 × 70 × 48 cm, The Art Institute of Chicago, Chicago
1964: Sitzender Faun, Glas, handgeblasen, 11,5 cm, Sotheby’s, London
1972: Monument, 395,3 × 149,2 × 319,3 cm, The Museum of Modern Art, New York
Sammlungen in Museen
Umfangreiche Werkgruppen zu Picasso sind in Deutschland im Museum Berggruen in Berlin, im Sprengel Museum Hannover, in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, im Museum Ludwig in Köln sowie in der Staatsgalerie Stuttgart ausgestellt. Sein grafisches Werk ist nahezu komplett im Kunstmuseum Pablo Picasso Münster zu sehen. In Österreich sind Werke des spanischen Malers in Dauerausstellungen im Albertina („Monet bis Picasso“. Die Sammlung Batliner) und im Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien (mumok) zu sehen. Bedeutende Sammlungen von Gemälden Picassos in der deutschsprachigen Schweiz werden im Kunstmuseum Basel, in der Fondation Beyeler in Riehen, in der Sammlung Rosengart in Luzern sowie im Kunstmuseum Bern gezeigt.
In Frankreich finden sich Sammlungen im Musée Picasso in Paris, im Musée national Picasso La Guerre et la Paix de Vallauris, im Lille Métropole Museum für Moderne Kunst, Zeitgenössische Kunst und Art Brut in Villeneuve-d’Ascq sowie im Musée Picasso Antibes im Chateâu Grimaldi. In Russland im Puschkin-Museum in Moskau und in der Eremitage, Sankt Petersburg. In Spanien im Museu Picasso, Barcelona, im Museo Reina Sofía, Madrid sowie im Museo Picasso in Málaga und in den USA im Museum of Modern Art, New York und im Art Institute of Chicago.
Ehrungen
1950 Ernennung zum Ehrenbürger von Vallauris
1962 Internationaler Lenin-Friedenspreis
1971 Ernennung zum Ehrenbürger von Paris
1990 wurde der Asteroid (4221) Picasso nach ihm benannt.
Literatur
Werkverzeichnisse und HilfsmittelLexika
Pierre Daix: Dictionaire Picasso. Robert Laffont, Paris 1995.
Johannes M. Fox: Picassos Welt. Ein Lexikon. Bd. 1–2. Projekte Verlag Cornelius, Halle 2008.
Werkübersichten
Pablo Picasso: Blaue u. rosa Periode, mit einer Einführung von Otto Benesch, Desch Verlag, München/Wien/Basel 1954. DNB-Link
Herschel Chipp, Alan Wofsy: Picasso-Project. Picasso’s Paintings, Watercolours, Drawings and Sculpture. A. Comprehensive Illustrated Catalogue 1885–1973, bisher 22 Bde. Alan Wofsy, San Francisco 1995 ff.
Juan-Eduardo Cirlot: Pablo Picasso. Das Jugendwerk eines Genies. DuMont, Köln 1972.
Christian Zervos: Catalogue Raisonné des Œuvres de Pablo Picasso. Éditions Cahiers d’Art, Paris, 1932–1978 (Werkverzeichnis, 33 Bände mit 16.000 S/W-Repros; Neuauflage, hrsg. von Staffan Ahrenberg, 2014)
Enrique Mallen: Pablo Picasso: The Aphrodite Period (1924–1936). Sussex Academic Press, Brighton 2020, ISBN 978-1-78976-008-8.
Grafik und Handzeichnung
Brigitte Baer, Bernhard Geiser: Picasso. Peintre-Graveur. Catalogue Raisonne de l’oeuvre grave et lithographie et des monotypes 1899–1972 Bd. I–VII [+ addendum zum Catalogue Raisonné 1969–1972]. Kornfeld, Bern 1984–1996.
Georges Bloch: Picasso. Catalogue de l’oeuvre gravé et lithographié. Bd. 1–2 und 4. Kornfeld, revidierte Aufl. Bern 1975, Bd. 2 und 4 in nochmals revidierter Auflage im Rahmen des Picasso-Project (s. Weblinks) Wofsy, San Francisco 2004; Bd. 3 Catalogue de l’oeuvre gravé ceramique. Kornfeld und Klipstein, Bern 1972.
Arnold Glimcher: Je suis le cahier. Die Skizzenbücher Pablo Picassos. Rowohlt, Reinbek 1986.
Ernst-Gerhard Güse, Bernhard Rau: Pablo Picasso. Die Lithographien. Gerd Hatje, Stuttgart 1988, ISBN 3-7757-0261-X.
Fernand Mourlot: Picasso, Lithograph. Sauret, Paris 1970, .
Das graphische Werk des Pablo Picasso. In: Das Werk, Architektur und Kunst
Angewandte Grafik
Christophe Czwiklitzer: Pablo Picasso. Plakate 1923–1973. Werkverzeichnis. Deutscher Taschenbuchverlag dtv, München 1981, ISBN 978-3-423-02875-2.
Sebastian Goeppert, Herma Goeppert-Frank, Patrick Cramer: Pablo Picasso. Die illustrierten Bücher. Hatje, Ostfildern 1995.
Keramik und Skulptur
Georges Ramié: Céramiques de Picasso. Fotografien von Edward Quinn. Cercle d’Art, Paris 1974.
Alain Ramié: Picasso de l’Œuvre Ceramique Édité 1947–1971. Madoura, Vallauris 1988.
Werner Spies (Hrsg.): Picasso: Skulpturen. Hatje Cantz, Ostfildern 2000, ISBN 3-7757-0908-8.
Selbstzeugnisse
Peter Schifferli (Hrsg.): Pablo Picasso. Wort und Bekenntnis. Die gesammelten Dichtungen und Zeugnisse. Übers. Elisabeth Schnack, Paul Celan. Ullstein, Frankfurt am Main 1957.
Biografien
Wilhelm Boeck: Pablo Picasso, mit einer Lebensbeschreibung von Jaime Sabartes. Kohlhammer, Stuttgart 1955
Mary Ann Caws: Pablo Picasso. „Malerei ist nie Prosa“. Ein Porträt. Piet Meyer, Bern 2010, ISBN 978-3-905799-06-4.
Siegfried Gohr: Pablo Picasso. Leben und Werk. Ich suche nicht, ich finde. DuMont, Köln 2006, ISBN 3-8321-7743-4.
Arianna Stassinopoulos Huffington: Picasso. Genie und Gewalt. Droemer Knaur, München 1988, ISBN 3-426-26399-8.
Norman Mailer: Picasso. Portrait des Künstlers als junger Mann. Piper, München Zürich 1996, ISBN 3-492-03878-6.
Patrick O’Brian: Pablo Picasso. Eine Biographie. Hoffmann und Campe, Hamburg 1979, ISBN 3-455-08890-2; Ullstein, Hamburg 1982.
Roland Penrose: Pablo Picasso. Sein Leben – sein Werk. Originalausgabe 1958, 2. Auflage. Heyne, München 1985, ISBN 3-453-55083-8 (, englisch).
John Richardson, Marilyn McCully: A Life of Picasso. New York 1996 ff. (bisher 3 Bde.; Bd. 1–2 auch auf deutsch bei Kindler, München 1991; 1997).
Wilfried Wiegand: Picasso. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 19. Auflage. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2002, ISBN 978-3-499-50205-7.
Darstellungen von Freunden und der Familie
Joe F. Bodenstein: Picasso in Arno Breker – une biographie. Èditions SÉGUIER Paris, französische Erstausgabe 2016, ISBN 978-2-84049-690-8.
Brassaï: Gespräche mit Picasso. Rowohlt, Reinbek 1966, 2. Aufl. 1985, ISBN 3-499-15593-1 (Original: Conversation avec Picasso, Paris 1964)
Ilja Ehrenburg: Memoiren. Menschen, Jahre, Leben. Bd. 1, 1891–1922. München 1962, wieder 1965, ISBN 3-463-00511-5, S. 296–311.
Françoise Gilot/Carlton Lake: Leben mit Picasso. Diogenes, Zürich 1987, ISBN 978-3-257-21584-7 (Original: Life with Picasso, New York 1964)
Daniel-Henry Kahnweiler: Meine Maler, meine Galerien. DuMont Schauberg, Köln 1961
Fernande Olivier: Picasso und seine Freunde. Erinnerungen aus den Jahren 1905–1913. Vorwort Paul Léautaud. Übers. Gertrud Droz-Rüegg. Diogenes, Zürich 1989, ISBN 978-3-257-21748-3 (Es gibt frühere Ausgaben.- Original Picasso et ses amis. 1933)
Geneviève Laporte: Si tard le soir le soleil brille. Éditions Plon, Paris 1973 (Weitere Bücher über Picasso folgten.)
Antony Penrose: Der Junge, der Picasso biss (Kinderbuch). Aus dem Englischen von Egbert Baqué, Knesebeck, München 2010, ISBN 978-3-86873-260-3.
Marina Picasso: Die vergessenen Kinder. Bastei-Lübbe, Bergisch Gladbach 1998, ISBN 3-404-61403-8.
Marina Picasso: Und trotzdem eine Picasso. Leben im Schatten meines Großvaters. List, München 2001, ISBN 3-471-78443-8.
Jaime Sabartés: Picasso. Gespräche und Erinnerungen. Mit 17 Porträts und Zeichnungen von Picasso. Arche, Zürich 1956.
Gertrude Stein: Picasso. Sämtliche Texte 1909–1938. Arche, Hamburg, Neuausgabe 2003, ISBN 978-3-7160-2314-3.
Olivier Widmaier Picasso (Sohn von Picassos Tochter Maya): Picasso – Porträt der Familie. Prestel, München 2003, ISBN 3-7913-2962-6.
Picasso und die Frauen
Rose-Maria Gropp: „Göttinnen und Fußabstreifer“. Die Frauen und Picasso. Piper, München 2023, ISBN 978-3-492-07073-7.
James Lord: Picasso und Dora Maar. Matthes und Seitz, 1994, ISBN 3-88221-797-9.
Ingrid Mössinger, Kerstin Dechsel, Beate Ritter: Picasso et les femmes – Picasso und die Frauen. DuMont, Köln 2005, ISBN 978-3-8321-7529-0.
Fernande Olivier: Picasso und seine Freunde. Erinnerungen aus den Jahren 1905–1913. Diogenes, Neuausgabe 1989, ISBN 978-3-257-21748-3. Die französische Originalausgabe erschien im Jahr 1933.
Zum Werk Picassos
Gereon Becht-Jördens, Peter M. Wehmeier: Picasso und die christliche Ikonographie. Mutterbeziehung und künstlerische Position. Dietrich Reimer, Berlin 2003, ISBN 3-496-01272-2.
John Berger: Glanz und Elend des Malers Pablo Picasso. Rowohlt, Reinbek 1973.
Elisabeth Cowling: Picasso. Style and meaning. Berlin, London 2002.
Pierre Daix: Picasso créateur. La vie intime et l’oeuvre. Paris 1987.
Mary Matthews Gedo: Picasso. Art as Autobiography. The University of Chicago Press, Chicago/London 1980, ISBN 0-226-28482-4.
Graphikmuseum Pablo Picasso Münster: Pablo Picasso – Im Atelier des Künstlers. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in Münster (28. August – 21. November 2010). Gesamtltg. von Ausst. u. Katalog: Markus Müller. Hirmer, München 2010, ISBN 978-3-7774-3281-6.
Klaus Herding: Pablo Picasso: Les Demoiselles d’Avignon. Die Herausforderung der Avantgarde. Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-596-10953-1.
Katja Herlach: Für den Tag gedruckt. Picassos Gebrauchsgraphik. Sammlung Margadant, Scheidegger & Spiess, Zürich 2005, ISBN 978-3-85881-160-8.
Kestner-Gesellschaft Hannover: Hommage à Picasso. Ausstellungskatalog, Ansprache von Wieland Schmied, Hannover 1973.
Reinhard Liess: Streifzüge durch die klassische Kunstgeschichte mit einer Kritik an Picasso hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Thomas Gädeke. 3 Bde., zusammen 1695 S. und 95 Farbtafeln, Schnell & Steiner, Regensburg 2021, ISBN 978-3-7954-3639-1.
Josep Palau i Fabre: Picasso. Kindheit und Jugend eines Genies. Könemann, Köln 1998.
Josep Palau i Fabre: Picasso. Der Kubismus. 1907–1917. Könemann, Köln 1998.
Josep Palau i Fabre: Picasso. Von den Balletts zu den Dramas. 1917–1926. Könemann, Köln 1999.
Roland Penrose: Picasso und seine Zeit – Ein Fotobuch. Zürich 1957.
Roland Penrose: The Sculpture of Picasso. The Museum of Modern Art, New York 1967, ohne ISBN.
Roland Penrose, John Golding (Hrsg.): Picasso in Retrospect. Praeger Publishers, New York/Washington 1973, Granada/London 1973.
Jane Fluegel, William Rubin (Hrsg.): Pablo Picasso. Retrospective im Museum of Modern Art, New York. Prestel, München 1980, ISBN 3-7913-0534-4.
Werner Spies (Hrsg.): Pablo Picasso: eine Ausstellung zum 100. Geburtstag; Werke aus der Sammlung Marina Picasso. München 1981, ISBN 3-7913-0523-9.
Werner Spies, Götz Adriani (Hrsg.): Picasso: Pastelle, Zeichnungen, Aquarelle. Gerd Hatje, Stuttgart 1986, ISBN 3-7757-0213-X.
Werner Spies (Hrsg.): Malen gegen die Zeit. Picassos Spätwerk. Hatje Cantz, Ostfildern 2006, ISBN 978-3-7757-1831-8.
Ulrich Weisner: Picasso. Kerber, Bielefeld 1997, ISBN 3-924639-78-7.
Ingo F. Walther: Picasso – das Genie des Jahrhunderts. 12. Auflage. Taschen, Köln 1999, ISBN 978-3-8228-6371-8.
Carsten-Peter Warncke: Pablo Picasso 1881–1973. Sonderauflage, Taschen, Köln 2006, ISBN 978-3-8228-5025-1.
Fotodokumentationen
David Douglas Duncan: Viva Picasso. Zu seinem 100. Geburtstag. Fritz Molden, Wien 1981, ISBN 3-217-01203-8.
Kunstmuseum Pablo Picasso Münster (Hrsg.): Picasso bei der Arbeit. Durch die Linse von David Douglas Duncan. Wienand, Köln 2011, ISBN 978-3-86832-080-0. Einblicke in Ateliers, Wohnhäuser und Familienleben.
Edward Quinn: Picasso – Mensch und Bild. Einleitung: Pierre Daix, Klett-Cotta, Stuttgart 1987, ISBN 3-608-76221-3.
Edward Quinn: Picasso – Werke + Tage. Einleitung und Text: Roland Penrose, Manesse, Conzett&Huber, Zürich 1965, ohne ISBN.
Helge Sobik: Picasso an der Riviera. Feymedia, Düsseldorf 2010, ISBN 978-3-941459-11-3.
Helge Sobik: Picassos Häuser. Feymedia, Düsseldorf 2009, ISBN 978-3-941459-00-7.
Kerstin Stremmel (Hrsg. für das Museum Ludwig, Köln): Ichundichundich – Picasso im Fotoporträt. HatjeCantz, Ostfildern 2011, ISBN 978-3-7757-3198-0 (deutsch), ISBN 978-3-7757-3199-7 (englisch), ISBN 978-3-7757-3248-2 (spanisch); Fotodokumentationskatalog zur gleichnamigen Ausstellung in Köln (24. September 2011 bis 15. Januar 2012), in Málaga (5. März – 10. Juni 2012) sowie im Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg (21. Juli bis 10. Oktober 2012).
Sonstiges
Marie-Laure Bernadac, Christine Piot (Hrsg.): Picasso. Collected Writings. Abbeville Press, New York 1989, ISBN 1-55859-045-5 (französisch: Paris 1989).
Elizabeth Cowling: Visiting Picasso – The Notebooks and Letters of Roland Penrose. Thames & Hudson, London 2006, ISBN 978-0-500-51293-7.
David Douglas Duncan: Picasso & Lump. Benteli, Zürich 2006, ISBN 3-7165-1435-7.
Boris Friedewald: Die Tiere von Picasso. Prestel, München 2014, ISBN 978-3-7913-4989-3.
Michael Carlo Klepsch: Picasso und der Nationalsozialismus. Patmos, Düsseldorf 2007, ISBN 978-3-491-35011-3.
Piet Meyer (Hrsg.): Pablo Picasso in Zürich 1932. Piet Meyer, Bern 2010, ISBN 978-3-905799-09-5.
Mariano Miguel Montanés: Pablo Picasso – The Last Years. Assouline Publishing, New York 2004, ISBN 2-84323-613-4.
Picasso – Sein Erbe Porträt des Bayerischen Rundfunks vom 10. Januar 2018 mit Zugang zu Familienarchiven und exklusiven Interviews mit Familienangehörigen, abrufbar bis 10. Januar 2023.
Weblinks
Pablo Picasso in Swisscovery, dem schweizerischen Suchportal der wissenschaftlichen Bibliotheken
Literatur von und über Pablo Picasso im Katalog der Bibliothek des Instituto Cervantes in Deutschland
Offizielle Webseite: Succession Picasso, Paris
pablo-ruiz-picasso.net: Biografie und Werke nach Jahren gelistet
Übersicht mit Fotos und Gemälden über Picassos Frauen (englisch)
Im Labyrinth des Minotaurus. Verena Ott über Schreiben als Übersetzen im schriftstellerischen Werk Picassos, ReLÜ, Rezensionszeitschrift, 13, 2012
Zum 50. Todestag: Picasso: Zehn Fakten über die Kunst und das Leben des berühmten Malers, auf dw.com, 8. April 2023, abgerufen am 8. April 2023
Abbildungen
Einzelnachweise
Maler (Spanien)
Bildhauer (Spanien)
Person (Málaga)
Radierer (Spanien)
Keramiker
Moderne Keramik
Künstler des Kubismus
Künstler in Ausstellungen „Entartete Kunst“
Künstler (documenta)
Maler (Paris)
Künstler im Beschlagnahmeinventar „Entartete Kunst“
Mitglied der Akademie der Künste (DDR)
Person als Namensgeber für einen Asteroiden
Träger des Internationalen Lenin-Friedenspreises
Ehrenbürger von Paris
PCF-Mitglied
Spanier
Geboren 1881
Gestorben 1973
Mann |
10693 | https://de.wikipedia.org/wiki/Rembrandt%20van%20Rijn | Rembrandt van Rijn | Rembrandt Harmenszoon van Rijn (* 15. Juli 1606 in Leiden; † 4. Oktober 1669 in Amsterdam), bekannt unter seinem Vornamen Rembrandt, gilt als einer der bedeutendsten und bekanntesten niederländischen Künstler des Barock. Sein Schaffen fiel in die Epoche des Goldenen Zeitalters, als die Niederlande eine politische, wirtschaftliche und künstlerische Blütezeit erlebten. Rembrandt studierte bei Pieter Lastman, eröffnete 1625 in Leiden sein erstes Atelier und zog bald Aufmerksamkeit auf sich. 1631 siedelte er nach Amsterdam um, wo er sich zu einem gefeierten Künstler entwickelte. Trotzdem litt er zeitweise unter erheblichen finanziellen Problemen, ging 1656 in Insolvenz und starb in Armut.
Rembrandt betätigte sich als Maler, Radierer und Zeichner, führte eine Werkstatt und bildete Künstler aus. Sein Gesamtwerk umfasst unter anderem Porträts, Landschaften sowie biblische und mythologische Themen. Zu seinen bekanntesten Arbeiten zählen Die Blendung Simsons, Die Nachtwache, Die Anatomie des Dr. Tulp und Das Hundertguldenblatt. In seinen Historiendarstellungen griff Rembrandt zahlreiche Motive auf, die bis dahin nicht künstlerisch bearbeitet worden waren, oder er suchte nach neuen Darstellungsmöglichkeiten traditioneller Motive. Viele dieser Werke zeichnen sich durch starke Hell-Dunkel-Kontraste aus, weshalb er als ein Meister des Chiaroscuro gilt.
Rembrandt wurde bereits zu Lebzeiten durch Nachstiche und Kopien seiner Bilder rezipiert. Nach seinem Tod wurde seine koloristische Malweise in der Kunstkritik und Kunstliteratur des Klassizismus negativ bewertet, während sich seine Werke bei Sammlern großer Beliebtheit erfreuten und hohe Preise erzielten. Im 18. Jahrhundert fand Rembrandt Nachfolger unter deutschen und englischen Künstlern. Sein Leben wurde in dieser Zeit mystifiziert und mit Legenden ausgeschmückt. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde aus diesem Rembrandt-Bild durch Quellenforschung seine reale Biographie extrahiert. Seit den 1970er Jahren erforscht das Rembrandt Research Project Rembrandts Werke und untersucht diese auf ihre Authentizität hin. Von einst über 700 Rembrandt zugeschriebenen Bildern, gelten heute nur noch etwa 350 tatsächlich als Werke von seiner Hand.
Leben
Kindheit und Ausbildung
Rembrandt wurde am 15. Juli 1606 in Leiden als achtes von neun Kindern geboren. Die Eltern waren der Müller Harmen Gerritszoon van Rijn und dessen Frau Neeltgen Willemsdochter van Zuytbrouck, eine Bäckerstochter. Wie viele andere Kinder der Stadt besuchte Rembrandt zwischen 1612 und 1616 die Grundschule und anschließend, von 1616 bis 1620, die streng calvinistische Lateinschule. Dort wurde er in Biblischer Geschichte und den Klassikern unterrichtet. Zudem erhielt Rembrandt Rhetorikunterricht, der möglicherweise seine Malerei beeinflusste. Nach der achtjährigen Schulzeit schrieb er sich an der philosophischen Fakultät der Universität Leiden ein.
Dieses Studium brach er nach kurzer Zeit ab, um eine Ausbildung zum Maler zu beginnen. Von 1620 bis 1624 war er Schüler von Jacob Isaacsz. van Swanenburgh. Der in Italien geschulte Lehrer hatte sich auf Architekturmalerei und die szenische Darstellung der Hölle spezialisiert und vermittelte seinem Schüler die Grundlagen der Malerei. Die Gestaltung des Feuers in den Bildnissen der Hölle hat möglicherweise Rembrandts Interesse an der Darstellung des Lichtes geweckt. Im Anschluss absolvierte er 1624 eine sechsmonatige Lehrzeit bei dem Historienmaler Pieter Lastman in Amsterdam, die ihn stärker prägte als die vorherige Ausbildung. Lastman führte ihn in die Historienmalerei ein, die in der damals gültigen Rangordnung der Malereigattungen die höchste Position innehatte. Die Ausbildung bei zwei Meistern war zu der damaligen Zeit nicht ungewöhnlich.
Beginn des Berufslebens
1625 kehrte Rembrandt nach Leiden zurück. Dort gründete er mit seinem Freund Jan Lievens eine eigene Werkstatt. Er widmete sich vor allem der Historienmalerei nach dem Vorbild seines Lehrers Lastman und physiognomischen Studien. Drei Jahre später fertigte er erstmals eine Radierung an und begann, Schüler aufzunehmen. Im selben Jahr zeigte der Sekretär des Statthalters Friedrich Heinrich, Constantijn Huygens, der im November 1628 Leiden besuchte, Interesse an der Kunst Rembrandts. In der Folge unterstützte er den Künstler und vermittelte ihm Aufträge. So konnte Rembrandt in den Jahren 1629 und 1630 zwei Bilder an die englische Krone veräußern. Die Auferweckung des Lazarus und Judas bringt die dreißig Silberlinge zurück wurden mehrmals durch andere Künstler kopiert. Am 27. April 1630 starb Rembrandts Vater.
Nach seinen ersten Erfolgen und angezogen von der steigenden Bedeutung der niederländischen Hauptstadt, gab Rembrandt 1631 das gemeinsam mit Lievens betriebene Leidener Atelier auf und zog nach Amsterdam. Dort kaufte er sich bei dem Kunsthändler Hendrick van Uylenburgh ein, der eine große Werkstatt besaß, in der Kopien hergestellt und Restaurierungen durchgeführt wurden. Schon nach kurzer Zeit erhielt Rembrandt von reichen Kaufleuten Porträtaufträge. Im folgenden Jahr kaufte Statthalter Friedrich Heinrich auf Vermittlung von Constantijn Huygens einige Gemälde Rembrandts und gab einen Passionszyklus in Auftrag. Ebenfalls im Jahr 1632 erhielt Rembrandt den Auftrag für das Bild Die Anatomie des Dr. Tulp, das er im selben Jahr fertigstellte. Insgesamt entstanden in diesem Jahr 30 Gemälde. Rembrandt arbeitete wohl als Werkstattleiter für Uylenburgh, denn vor der Aufnahme in die Amsterdamer Gilde und der damit verbundenen Selbständigkeit musste er zunächst bei einem anderen Meister oder in einer Werkstatt tätig gewesen sein.
Selbständigkeit und Ehe
Am 2. Juli 1634 heiratete Rembrandt Saskia van Uylenburgh, die Nichte seines Kunsthändlers und Tochter eines wohlhabenden Patriziers. Im selben Jahr trat er der Lukasgilde bei. Dies ermöglichte ihm, als selbstständiger Meister Lehrlinge und Schüler auszubilden. Im Jahr 1635 arbeitete er unter anderem an den Bildern Die Opferung Isaaks und Simson bedroht seinen Schwiegervater. Rembrandts erster Sohn, am 15. Dezember 1635 auf den Namen Rombertus (andere Schreibweise Rombartus) getauft, starb nach wenigen Monaten. 1636 zog das Ehepaar, das bis dahin immer noch beim Kunsthändler Uylenburgh gewohnt hatte, in die Nieuwe Doelenstraat um. Neben seiner künstlerischen Tätigkeit handelte Rembrandt dort mit Kunstwerken und baute eine Sammlung von historischen und wissenschaftlichen Objekten, Pflanzen und Tieren sowie Exotika (Gegenständen aus fernen Ländern wie Indien) auf. 1638 verklagte Rembrandt die Verwandten seiner Frau in einem Beleidigungsprozess, weil diese ihr Verschwendung vorgeworfen hatten. Diesen Vorwurf begründeten die Verwandten Saskias damit, dass ihr Erbe von etwa 40.000 Gulden nahezu aufgebraucht war. Ebenfalls in diesem Jahr wurde seine erste Tochter namens Cornelia geboren, die kurze Zeit später verstarb.
Rembrandt kaufte am 5. Januar 1639 ein neues Haus in der Breestraat, in dem sich heute das Museum Het Rembrandthuis befindet. Dazu nahm er einen Kredit auf, den er in fünf bis sechs Jahren abzahlen wollte. In das Jahr 1639 fiel auch die Fertigstellung des letzten Bildes des Passionszyklus. Das Jahr 1640 war für Rembrandt durch zwei Schicksalsschläge gekennzeichnet: Seine zweite Tochter, die am 29. Juli auf den Namen Cornelia getauft worden war, verstarb kurz darauf. Einen Monat später starb auch die Mutter Rembrandts.
Künstlerisch vollzog sich bei ihm eine Wende, als er begann, sich auch der Landschaftsmalerei und dem Radieren von Landschaften zu widmen. Sein zweiter Sohn Titus wurde am 22. September 1641 getauft. Im folgenden Jahr stellte Rembrandt das Bild Die Nachtwache fertig. Am 14. Juni 1642 verstarb seine Ehefrau Saskia. Dieses Ereignis bedeutete einen tiefen Einschnitt in Rembrandts Leben. Waren die Jahre zuvor von hoher Produktivität gekennzeichnet, ließ seine künstlerische Aktivität nun deutlich nach. Er schuf nur wenige Gemälde und Radierungen, wie das zu seinen bekanntesten Werken gehörende Hundertguldenblatt. Zudem identifizierte er sich stark mit seiner Vaterrolle und kümmerte sich in besonderem Maße um seinen Sohn Titus. Seine familiäre Situation griff Rembrandt auch in Kunstwerken auf, wie etwa in der Zeichnung, die einen Mann beim Füttern eines Kindes zeigt. Damit sie ihn im Haushalt entlastete, holte er Geertje Dircx zu sich, die ein besonders enges Verhältnis zu Titus entwickelte. So bedachte sie ihn als Haupterben in ihrem Testament, als sie 1648 schwer erkrankte. 1649 stellte Rembrandt die wesentlich jüngere Hendrickje Stoffels ein.
Finanzielle Probleme und letzte Lebensjahre
Nachdem Hendrickje Rembrandts neue Partnerin geworden war, kam es zum Streit mit Geertje Dircx. 1649 verklagte sie ihn vor Gericht auf Unterhalt und erreichte, dass Rembrandt zu einer höheren Zahlung verurteilt wurde. Als sie im darauffolgenden Jahr entgegen der vor Gericht getroffenen Absprache weiteren Schmuck verpfändete, den sie von Rembrandt bekommen hatte, sammelte dieser zusammen mit ihrem Bruder belastende Aussagen gegen sie und setzte durch, dass sie fünf Jahre in einer Besserungsanstalt (dem Spinhuis in Gouda) verbringen musste.
Von dem sizilianischen Mäzen Antonio Ruffo erhielt Rembrandt im Jahr 1652 den Auftrag, das Bild Aristoteles mit der Büste Homers zu malen. Trotz der guten Auftragslage, den Erlösen aus dem Verkauf von Radierungen und den Honoraren aus seiner Lehrtätigkeit konnte er seine Schulden nicht abtragen und musste sich weiterhin Geld leihen. 1654 wurde Hendrickje Stoffels vor den Amsterdamer Kirchenrat geladen, der sie wegen unzüchtigen Zusammenlebens mit Rembrandt rügte. Sie gebar die dritte Tochter Rembrandts, die ebenfalls Cornelia genannt und am 30. Oktober 1654 getauft wurde.
Rembrandt überschrieb am 17. Mai 1656 sein Haus auf seinen Sohn Titus, bevor er kurz darauf für zahlungsunfähig erklärt wurde. In den beiden darauffolgenden Jahren wurden das Haus und seine Sammlung versteigert. Mit dem Erlös konnten die Schulden nicht vollständig beglichen werden. Rembrandt zog daraufhin in die Rozengracht um, wo vor allem sozial schwächere Schichten wohnten. Dort führte er ein abgeschiedenes Leben unter mennonitischen und jüdischen Freunden. Die Vormundschaft für Titus wurde von Louys Crayers (1623–1688) übernommen, der in einem langen Prozess das Erbteil für Titus aus der Konkursmasse erstritt. 1660 stellten Titus und Hendrickje Stoffels Rembrandt in ihrer Kunsthandlung an. Dadurch hielt er Geschäftskontakte aufrecht, nahm weiterhin Aufträge an und unterrichtete Schüler. Ruffo erwarb 1661 das Bild Alexander der Große und bestellte ein Gemälde, das Homer zeigen sollte. 1663 verstarb Hendrickje Stoffels.
1665 wurde Titus volljährig und erhielt sein Erbe ausgezahlt. Zur selben Zeit arbeitete Rembrandt an dem Gemälde Die Judenbraut. Drei Jahre später starb sein Sohn, der ein halbes Jahr zuvor Magdalena van Loo geheiratet hatte, und wurde am 7. September 1668 beigesetzt. Rembrandt zog nach diesem Ereignis zu seiner Schwiegertochter. Diese gebar seinen Enkel, dessen Pate er am 22. März 1669 wurde. Am 4. Oktober selbigen Jahres verstarb Rembrandt. Das Bild Simeon im Tempel blieb unvollendet. Am 8. Oktober wurde Rembrandt in der Westerkerk beigesetzt.
Werke
Wurden Rembrandt in den 1920er-Jahren noch teilweise über 700 Gemälde zugeschrieben, geht die Fachwelt mittlerweile davon aus, dass sein Gesamtwerk etwa 350 Gemälde, 300 Radierungen und 1000 Zeichnungen umfasst.
Die Hauptthemen seiner Gemälde und Radierungen sind Historien und Porträts, einschließlich Selbstporträts. Viele der Historiengemälde und -radierungen zeigen hier erstmals künstlerisch verarbeitete biblische Szenen und Mythen oder setzen ein traditionelles Thema deutlich anders um, als es in Vorbildern geschehen war. Daneben war Rembrandt ein erfolgreicher Porträtmaler, dem es gelang, die Porträtierten glaubhaft in Handlungen einzubinden. Die Selbstporträts legen Zeugnis von seiner Selbstsicht ab und vermitteln seine Auseinandersetzung mit dem eigenen Altern. Vor allem die Radierungen zeigen ihn mit verschiedenen Gesichtsausdrücken und Gesten und dienten damit auch Studienzwecken. Rembrandt malte und radierte nur wenige Landschaften und Genreszenen. Mit dem Bild Tote Pfauen ist nur ein Stillleben bekannt. Viele der Zeichnungen fertigte Rembrandt ausschließlich zu Studienzwecken für seine Schüler an. In einigen hielt er auch kleine Begebenheiten aus seinem Privatleben und andere Eindrücke fest.
Rembrandt versah seine ersten Bilder mit dem Monogramm RH, später mit RHL, wobei das L für die Stadt Leiden steht. Im Alter von 26 Jahren begann er, seine Werke mit Rembrant zu signieren. Ab Anfang 1633 signierte er mit Rembrandt, der heute verbreiteten Schreibweise seines Namens.
Gemälde
Historiengemälde
Viele Gemälde Rembrandts lassen sich der Gattung der Historienmalerei zuordnen. Sie zeigen Szenen aus dem Alten und Neuen Testament, Mythen oder Porträts historischer Persönlichkeiten. Dabei entwickelte Rembrandt eine besonders verdichtete Darstellung der Handlung, so dass in der Abbildung eines bestimmten Augenblickes darüber hinausreichende erzählerische Zusammenhänge zum Ausdruck kommen. Der Fokus auf die Historie war auch eine Folge seiner Ausbildung bei dem berühmten Historienmaler Pieter Lastman, an dessen Themen und Kompositionen Rembrandt sich zunächst orientierte. Ein Beispiel dafür ist das Gemälde Steinigung des Heiligen Stephanus aus dem Jahr 1625, das zu den frühesten Werken Rembrandts zählt. Lange Zeit galt es als Gemälde Lastmans, dessen Werk es stilistisch stark ähnelt. Rembrandt verwendete die Komposition eines verschollenen Lastman-Gemäldes mit demselben Thema, nutzte aber bereits den für ihn typischen Einsatz von Licht und Schatten. Die Pharisäer und Ältesten im Bildhintergrund sind als treibende Kräfte hinter der Hinrichtung hell beleuchtet, die ausführenden Personen im Vordergrund verschattet. Dieses Mittel sollte er immer wieder zur Betonung von Personen und Handlungen einsetzen.
Zwischen 1632 und 1646 fertigte Rembrandt einen sieben Gemälde umfassenden Zyklus von Bildern aus der Kindheitsgeschichte Jesu und der Passion. Der Auftrag wurde vom Statthalter Friedrich Heinrich auf Vermittlung von Constantijn Huygens erteilt und umfasste ursprünglich die fünf Bilder Kreuzabnahme, Kreuzaufrichtung, Himmelfahrt, Grablegung und Auferstehung, weshalb sich die Bezeichnung als Passionszyklus in der Fachliteratur etabliert hat. Die beiden Gemälde Anbetung der Hirten und Beschneidung im Tempel, das heute nur über eine Kopie bekannt ist, malte Rembrandt erst später als Ergänzung dieses Zyklus. Rembrandt lieferte die Bilder in großen Abständen und teils mit Verspätung, weshalb er Huygens mit anderen Bildern zu „bestechen“ versuchte und in diesem Zusammenhang Die Blendung Simsons anfertigte. Der zeitliche Rahmen der Arbeit bedingte auch Unterschiede in den Maßen der Bilder, den Farben, der Größe der Figuren und dem Malstil insgesamt, so dass die Bilderserie keine homogene Arbeit ist. Beim Malen der Kreuzabnahme setzte Rembrandt sich mit einer Komposition von Peter Paul Rubens auseinander, die ihm über einen Stich bekannt war. Rubens hatte den Leichnam Christi bildparallel dargestellt und alle Helfer um diesen herum angeordnet. Diesen Aufbau veränderte Rembrandt grundlegend. Das Kreuz ist schräg gestellt und die Personen sind in Gruppen aufgeteilt, die entweder um Jesus trauern oder bei dessen Abnahme vom Kreuz helfen. Rechts des Leichnams stellte Rembrandt Nikodemus dar, wie es in vergleichbaren Historiengemälden üblich war, links von ihm zeigte er Maria, die von zwei Frauen gestützt wird. Ihre Anwesenheit geht nicht auf die Bibel zurück, sondern greift eine im Mittelalter entstandene Legende auf. Rembrandt legte bei der Darstellung den Schwerpunkt auf das Leiden des Gekreuzigten. So sind an den Balken des Kreuzes noch die blutigen Spuren der Dornenkrönung, der Annagelung und der Seitenwunde zu sehen. Der Kontrast zwischen Hell und Dunkel betont das Kreuz und den Leichnam sowie die Hände und Gesichter der Trauernden.
Das 205 Zentimeter hohe und 272 Zentimeter breite Gemälde Die Blendung Simsons gehört zu den bedeutendsten Bildern Rembrandts. Es zeigt eine Episode aus der Geschichte des Richters Simson, die Rembrandt in mehreren Bildern behandelte. Simson war ein Nasiräer, was ihm besondere Stärke verlieh, wenn er sich an drei Bedingungen, wie etwa das Verbot sich Bart und Haare zu schneiden, hielt. Die hier dargestellte Szene schließt sich an das Schneiden des Haares durch Delila an, die ihn an die Philister verriet. Dieser Aspekt der Handlung ist auch in diesem Gemälde aufgegriffen, da Delila im Hintergrund abgebildet ist, wie sie mit dem Haarschopf und der Schere in der Hand flieht. Auch mit den weiteren Personen stellte Rembrandt verschiedene Aspekte der Handlung dar. So musste Simson, nachdem ihm die Haare abgeschnitten worden waren, zu Boden gerungen und gefesselt werden, bevor ihm die Augen ausgestochen wurden. Dies vermittelte Rembrandt über die Kämpfer, von denen einer furchtsam den Schauplatz betritt, ein anderer Simson am Boden hält, einer ihn fesselt und einer die Augen aussticht. Dabei ist die unmittelbare Handlung des Gemäldes der Höhepunkt der Geschichte, das Blenden mit dem eindringenden Messer, wobei das Blut aufspritzt. Der Betrachter kann aber über das Bild die gesamte Handlung rekonstruieren.
Neben dem Streben, möglichst viel Handlung, auch über den dargestellten Moment hinaus, in seinen Bildern zu vermitteln und die Handlung auf ihrem Gipfelpunkt, wie etwa bei der Blendung Simsons, abzubilden, nahm Rembrandt auch äußere Einflüsse aus seiner näheren Umgebung in seine Historien auf. Dies wird am Beispiel der Judendarstellung besonders deutlich. So verwendete Rembrandt über lange Zeit den Juden zugeordnete körperliche Merkmale nur bei Darstellungen in negativen Zusammenhängen, wie etwa bei den Hohenpriestern, und verstärkte diese traditionell dargestellten Gesichtszüge noch. Nach seinem konkursbedingten Umzug studierte er erstmals direkt an jüdischen Modellen. Eine dieser Studien ist das Gemälde Ein Christus nach dem Leben, in dem er den Sohn Gottes, dessen Aussehen sonst dem niederländischer Modelle angeglichen wurde, mit jüdischen Gesichtszügen gestaltete.
1653 malte Rembrandt im Auftrag des sizilianischen Aristokraten Ruffo die historische Halbfigur Aristoteles, ein Bild, das zu den bedeutenden Spätwerken Rembrandts zählt. Es folgten später noch zwei weitere Bilder auf Bestellung Ruffos, die Alexander den Großen und Homer zeigen. Ruffo war mit dem Porträt von Aristoteles sehr zufrieden und erwähnte es lobend in einem Brief an den Maler Giovanni Francesco Barbieri, der ein Pendant dazu anfertigen sollte, weil Rembrandt die beiden weiteren bestellten Bilder erst mit großer Verzögerung zu Beginn der 1660er-Jahre lieferte. Auch das Bildnis Alexander des Großen wurde von Ruffo positiv aufgenommen, der aber nach einiger Zeit bemerkte, dass die Leinwand an drei Seiten vergrößert worden war und sich daraufhin beschwerte. Den Homer empfand Ruffo als unvollendet, weshalb er ihn zurückschickte und von Rembrandt Nachbearbeitungen forderte. Die Themen der Bilder scheint Rembrandt selbst gewählt zu haben, da er die beiden folgenden bereits im Aristoteles-Porträt angelegt hat. Der Philosoph ist in einem Moment des Sinnierens dargestellt. Seine rechte Hand hat er auf eine Büste gelegt, die Homer darstellt. Mit der linken Hand berührt er auf Hüfthöhe eine goldene Ehrenkette mit einem Bildnis Alexander des Großen. Darin kommt auch Rembrandts Kenntnis der historischen Zusammenhänge zum Ausdruck. Aristoteles war ein Kenner der Werke Homers und vermittelte sie seinem Schüler Alexander dem Großen.
Porträts und Gruppenbildnisse
Im Anschluss an seinen Umzug nach Amsterdam begann Rembrandt bei seiner Arbeit im Atelier Uylenburghs verstärkt Porträts zu malen und eroberte mit ihnen rasch den Markt für dieses Genre. Der Erfolg basierte auf Erfahrungen aus der Historienmalerei, mit denen Rembrandt die etablierten Bildnismaler überflügelte. Er band die Porträtierten in kleine Handlungen ein, wie etwa die Übergabe eines Briefes durch die Frau an ihren Mann in einem Doppelporträt, was den Bildern Lebendigkeit verleiht. Zudem gelang es Rembrandt, die menschliche Haut besonders realistisch wiederzugeben. Im Vergleich mit anderen Porträtmalern nahm sich Rembrandt mehr Freiheiten heraus, so dass seine Bilder im Vergleich mit anderen Porträts derselben Person geringere Übereinstimmungen der körperlichen Merkmale aufweisen. Der Zweizeiler „Das ist Rembrandts Hand, und das Gesicht von de Gheyn. Staune. Leser, das ist de Gheyn und ist es nicht.“ des Dichters Constantijn Huygens über das Porträt seines Freundes Jakob de Gheyn der Jüngere wird als Kritik an der Darstellung de Gheyns durch Rembrandt oder aber als Sinnieren darüber, dass ein Porträt nicht der Dargestellte selbst, sondern nur ein Abbild von ihm ist, gedeutet.
Das erste von Rembrandt gemalte Gruppenporträt, das seinen Durchbruch als Porträtmaler markierte, ist das 169,5 Zentimeter hohe und 216,5 Zentimeter breite Bild Die Anatomie des Dr. Tulp, das 1632 kurz nach seinem Umzug nach Amsterdam im Auftrag des Prälektors der Chirurgengilde, Nicolaes Tulp, entstand. Es zeigt eine öffentliche anatomische Vorlesung, die zu dieser Zeit alltäglich und populär war. Rembrandt bildete nicht die Porträtierten in einer Reihe ab, wie es Tradition war, sondern stellte sie um den Leichnam versammelt dar. Dessen Sehne am linken Unterarm ist freigelegt und wird vom Chirurgen mit der Zange angehoben, während er seinen Vortrag hält. Mit Ausnahme Tulps, der auf einem Sessel sitzt, stehen alle Figuren, die als Mitglieder der Gilde zu identifizieren sind, und werden in Posen abgebildet, die für das Verfolgen eines Vortrages typisch sind. So zeigt Rembrandt den konzentrierten Blick auf den Redner ebenso wie einen prüfenden in das Lehrbuch in der rechten unteren Bildecke oder das sachkundige Mustern des Präparates. Somit sind alle Figuren in einem gemeinsamen Geschehen vereinigt. Die einzelnen Gesichtszüge sind deutlicher herausgearbeitet, als es die Situation verlangt, was auf den heutigen Betrachter wie eine übertriebene Pose wirkt. Diese Übertreibung legte Rembrandt jedoch mit der Zeit ab.
Ein Beispiel der zu Beginn der Amsterdamer Zeit entstandenen Einzelporträts ist das 130 Zentimeter hohe und 103 Zentimeter breite Porträt des Predigers Johannes Uytenbogaert, das 1633 von Rembrandt im Auftrag der remonstrantischen Gemeinde gemalt wurde. Es zeigt den Pfarrer Johannes Uytenbogaert, der für kurze Zeit aus seiner Verbannung in die Niederlande zurückgekehrt war. Er hat für den 13. April 1633 in seinem Tagebuch vermerkt, dass er den ganzen Tag für Rembrandt Modell saß. Teile des Bildes, wie die Hände, stammen nicht von Rembrandt selbst, sondern wurden von einem Ateliermitarbeiter gemalt. Diese Praxis kam bei einigen Porträts Rembrandts vor, da es nicht ungewöhnlich war, dass in Porträtwerkstätten verschiedene Maler an einem Bild arbeiteten.
Eines der berühmtesten Gemälde Rembrandts ist das Gruppenporträt Die Nachtwache, das 1642 gemalt wurde. Das 363 Zentimeter hohe und 437 Zentimeter breite Bild wurde von der Gilde der Büchsenschützen in Auftrag gegeben, die ein neues Schützenhaus bezog und zum Schmuck des Festsaals mehrere Gruppenporträts bestellte. Rembrandt erfüllte diesen Auftrag wie schon bei der Anatomie des Dr. Tulp, indem er die Porträtierten in eine Handlung einband. Der Kapitän Frans Banning Cocq erteilt den Marschbefehl an Leutnant Willem van Ruytenburgh, der diesen nun weitergibt. Kapitän und Leutnant stehen als Ausgangspunkt der Bildhandlung mittig im Vordergrund. Einzelne Mitglieder der Kompanie haben den Befehl bemerkt und machen sich marschbereit. Die Tätigkeit der Gilde wird von drei Schützen symbolisiert, die verschiedene Phasen des Schusses zeigen. Im linken Vordergrund stopft einer die Büchse, hinter dem Leutnant ist das Mündungsfeuer eines feuernden Schützen zu sehen und rechts vom Leutnant pustet ein alter Mann abgebranntes Pulver von der Zündpfanne. In der linken Bildhälfte stellte Rembrandt zwei kleine Mädchen dar, die als Marketenderinnen auftreten und von denen nur die vordere als Allegorie zu erkennen ist. Sie trägt am Gürtel ein Huhn, dessen Kralle das Symbol der Büchsenschützengilde war, das Trinkhorn der Gilde und eine Pastete. So weist das Bild auf die Feier der Gildengemeinschaft mit einer gemeinsamen Mahlzeit hin. Rembrandt erweckt mit der Andeutung weiterer Figuren im Hintergrund den Anschein, dass die ganze Kompanie anwesend ist, zu der nicht nur Schützen, sondern auch Spieß- und Lanzenträger gehörten. Das Gemälde zeigt einen gewöhnlichen Aufmarsch der Gilde, weshalb über lange Zeit Titel wie Kapitän Frans Banningh Cocq gibt seinem Leutnant den Befehl zum Aufmarsch der Bürgerkompanie verbreitet waren. Erst als die Firnisschichten nachgedunkelt waren und das Bild deshalb wie eine nächtliche Szene erschien, bürgerte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts der Titel Die Nachtwache ein. Um das Bild ranken sich verschiedene Gerüchte und Anekdoten wie etwa, dass die Dargestellten Mitglieder einer Theatergruppe seien, oder dass sich Rembrandts Ruf als Porträtmaler durch die ungewöhnliche Komposition des Bildes verschlechtert hätte. Diese Spekulationen werden von der Forschung abgelehnt.
Das 99,5 Zentimeter hohe und 83 Zentimeter breite Porträt einer Dame mit Straußenfeder ist ein Beispiel für Rembrandts Frauenporträts und seine Porträts im letzten Jahrzehnt seines Lebens. Ab Beginn der 1660er-Jahre erlebte Rembrandt nach einer längeren Phase mit wenigen Porträtaufträgen einen Anstieg der Zahl dieser Aufträge. Diese Arbeiten sind alle von einem starken Hell-Dunkel und einer ruhigen Haltung der Dargestellten geprägt. Das Porträt der unbekannten Frau, die eine Pfauenfeder in der Hand hält, wird durch zwei helle Dreiecke geprägt. Das obere umfasst den Kopf und die Schulterpartie, das untere die Unterarme, Hände und die Feder. Beide werden von einem schwarzen Bereich der Kleidung getrennt. Diese hebt sich nur leicht vom ebenfalls dunklen Hintergrund ab.
Selbstporträts
Zeit seines Lebens fertigte Rembrandt Porträts an, die ihn selbst mit verschiedenen Gesten und unterschiedlichem Gesichtsausdruck sowie in verschiedenen Rollen zeigen. Er stellte sich „annähernd fünfzigmal in Farbe, zwanzigmal in Radierungen und ungefähr zehnmal in Zeichnungen“ selbst dar.
Das Studium an sich selbst nahm Rembrandt vor allem zu Beginn seiner Laufbahn vor, als er Radierungen anfertigte, die ihn in verschiedenen emotionalen Zuständen mit den dazugehörigen Haltungen und der entsprechenden Körpersprache darstellen. Im Spätwerk fertigte er stattdessen vermehrt Bildnisse an, die sein Alter zum Thema haben oder in denen er historische Rollen annimmt.
Das 102 Zentimeter hohe und 80 Zentimeter breite Selbstporträt aus dem Jahr 1640 zeigt Rembrandt vor einem hellen, neutralen Hintergrund, so dass die Figur besonders betont ist. Er trägt Kleidung aus Seide und Brokatstoff. Der Mantel ist mit einem Pelzkragen besetzt. Über dem auf einer Barriere aufgestützten Arm liegt eine schwere und kostbare Stola. Als Kopfbedeckung trägt Rembrandt ein Barett. Das Gesicht ist im Halbprofil mit einem melancholischen Ausdruck gemalt. Der Blick ist auf den Betrachter des Bildes gerichtet. In der rechten unteren Bildecke auf der Barriere ist die Signatur Rembrandt f. 1640 sichtbar. Mit der perfekten Malweise und der Darstellung des Porträtierten ähnelt dieses Bild Werken von Raffael oder Tizian.
Rembrandts Alterung ist in seinen Porträts nachvollziehbar. So zeigen die Bilder ihn mit schütterem Haar und stärker werdenden Falten. Er porträtierte sich jedoch nicht nur, sondern stellte sich zum Teil auch in einen größeren erzählerischen Zusammenhang, indem er historische Rollen einnahm. Ein Beispiel hierfür ist das Selbstporträt als Apostel Paulus aus dem Jahr 1661. Es zeigt den dunkel gekleideten Rembrandt vor einem überwiegend dunklen Hintergrund. Nur die linke obere Bildecke, in der auch die Signatur angebracht ist, ist heller. Der weiße Turban, den er als Kopfbedeckung trägt, ist der hellste Abschnitt des Bildes. In der Hand hält Rembrandt eine Ausgabe des Alten Testaments; die dargestellten Buchstaben sind der hebräischen Schrift nachempfunden. Das Schwert als typisches Attribut des Apostels Paulus von Tarsus, der mit einem solchen hingerichtet wurde, ist mit seinem Knauf nur angedeutet. Ein weiteres Gemälde aus dieser Schaffensphase ist das Selbstbildnis als Zeuxis um 1663/64, das lange Zeit als Darstellung des Demokrit galt. Demokrit galt in der Antike als der lachende Philosoph, aufgrund seiner Lehre von der Wohlgemutheit als höchstem Gut. Mit der Interpretation als Demokrit war auch die Deutung verbunden, dass Rembrandt sein Altern positiv betrachtete. Nach aktuellem Stand der Forschung stellt dieses Bild jedoch Zeuxis von Herakleia dar, der beim Malen eines Porträts einer hässlichen Frau an einem Lachanfall starb. Damit könnte das Bild auch die Erkenntnis Rembrandts über seine eigene Überheblichkeit und Sterblichkeit symbolisieren. Diese Interpretation gilt jedoch ebenfalls nicht als sicher. So wird angeführt, dass bei Röntgenuntersuchungen festgestellt wurde, dass Rembrandt in einer früheren Version des Bildes nur lächelte und nicht lachte.
Landschaften
Die Insolvenz-Inventarliste Rembrandts von 1656 führt zwölf Landschaftsgemälde von seiner Hand auf, von denen sich nach heutigem Wissensstand acht erhalten haben. Daneben werden ihm 32 Radierungen und zahlreiche Zeichnungen mit Landschaftsdarstellungen zugeschrieben. Landschaftsgemälde standen zu Lebzeiten Rembrandts in der traditionellen Hierarchie der Gattungen unter der Porträt- und Historienmalerei und waren dementsprechend preiswerter. Rembrandt selbst wird sich als Historienmaler gesehen haben. Landschaften zeichnete er bei Wanderungen in der Umgebung Amsterdams eher zu seinem persönlichen Vergnügen. Dies erklärt, warum er nur wenige Landschaftsgemälde schuf, die sich darüber hinaus deutlich von denen seiner Zeitgenossen unterscheiden.
Im Zeitraum zwischen 1636 und 1655 malte Rembrandt einige Landschaftsgemälde, was nicht notwendigerweise bedeutet, dass diese Bilder keine Figuren enthalten. Der Großteil von ihnen zeigt Phantasielandschaften, nur eine Minderheit ist von Rembrandt realistisch gemalt worden. Im Unterschied zu seinen Zeichnungen und Radierungen, die meist weite, offene und realistisch gehaltene Landschaften zeigen, wirken die Gemälde überwiegend bewegungslos und beengt. Im Gegensatz zu den Historien und Porträts unterschieden sich die Landschaftsgemälde Rembrandts stark von den traditionellen Gemälden dieser Gattung. Sie hatten begrenzten Einfluss auf nachfolgende Künstler im England um das Jahr 1800. Während viele italienische und den Italienern nacheifernde Künstler Landschaften der römischen oder griechischen Antike wählten, malte Rembrandt oftmals solche, die eher dem israelischen Raum zugeordnet werden können. Wie die Maler idealisierter Landschaften stellte Rembrandt in seinen Gemälden nicht die Realität dar. Er ging jedoch noch weiter, indem er auch auf die Basis des Studiums der Natur für das Malen des Bildes verzichtete.
Ein Beispiel für die fantastischen Landschaften ist das Gemälde Landschaft mit Gebäuden, das Rembrandt zwischen 1642 und 1646 schuf. Es ist die am meisten klassische Landschaftskomposition unter seinen Werken und orientierte sich vermutlich an der 1604 entstandenen Landschaft mit der Flucht nach Ägypten von Annibale Carracci, einem Gemälde, das Rembrandt als Kopie bekannt gewesen sein dürfte. In beiden Bildern dominiert eine Gruppe von Gebäuden den Horizont. Ein Teil von ihnen wird von der Sonne beleuchtet, der andere liegt im Schatten. Die Gebäude gliedern sich farblich und kompositorisch so in die Landschaft ein, dass sie wie natürlich zu ihr gehörend erscheinen. Im Vordergrund ist ein Fluss zu sehen, über den eine Brücke führt. Es ist möglich, dass Rembrandt das Gemälde nicht vollendete und deshalb keine Figuren in das Bild integriert sind.
Eine der realistischen Landschaften ist die 17 × 23 Zentimeter große Winterlandschaft aus dem Jahr 1646. Das kleine Format und die Ausführung lassen vermuten, dass sie auf einer Zeichnung basiert. Die Darstellung des Wetters und der Wolken ist der Realität nachempfunden. Der Vordergrund des Bildes ist relativ leer. In seiner linken Ecke sitzt ein Mann, in seiner rechten Hälfte befinden sich drei weitere Figuren. In der Ausführung ist diese Landschaft nicht so repräsentativ und prunkvoll wie viele andere Winterlandschaften, die im 17. Jahrhundert in den Niederlanden entstanden.
Zeichnungen
Von den zahlreichen Zeichnungen, die Rembrandt im Laufe seines Lebens anfertigte, sind heute etwa 1000 erhalten. Er verkaufte nur wenige dieser Zeichnungen, der Großteil diente Studienzwecken. Es handelte sich um Skizzen, Vorzeichnungen, Nachzeichnungen und Erinnerungsstützen, die seinen Schülern in der Werkstatt nach Themen geordnet zugänglich waren. Einige Zeichnungen legen Zeugnis davon ab, dass Rembrandt sich mit bestimmten Problemen stärker befasste. So widmete er sich in der zweiten Hälfte der 1630er-Jahre der Symmetrie und Asymmetrie im von Leonardo da Vinci angefertigten Werk Das letzte Abendmahl. Dieses war Rembrandt über einen Stich bekannt und veranlasste ihn, in verschiedenen Zeichnungen den Aufbau dieses Bildes zu studieren. Seine so gewonnenen Erkenntnisse übertrug Rembrandt in das Gemälde Simson an der Hochzeittafel, das Rätsel aufgebend, das sich in der Komposition an das Abendmahl anlehnt.
Im Laufe der Zeit befasste sich Rembrandt immer wieder mit der Darstellung bestimmter Themen, wie etwa der Geschichte von Susanna im Bade. Ein Beispiel der Umsetzung dieser biblischen Erzählung ist die mit roter Kreide angefertigte Zeichnung Susanna im Bade, die um 1637 entstand. Sie orientiert sich kompositorisch an einem Historiengemälde von Pieter Lastman, bei dem Rembrandt studiert hatte. Susanna wird nach der biblischen Erzählung von zwei alten Richtern bedrängt und vor die Wahl gestellt, ihnen zu Willen zu sein oder verleumdet zu werden. Rembrandt übernahm die große Anlage des Bildes, die Gruppierung der Figuren und wesentliche Bildelemente Lastmans in seine Kreidezeichnung. Der Hauptunterschied zum Original liegt in der weiteren Ausgestaltung der Szene, wobei Rembrandt den Dialogcharakter betont. Über die Körpersprache der beiden Alten transportiert er die Alternativen der Susanna: Der linke weist mit dem Daumen auf das Schloss als Drohung mit der Verleumdung und Anklage, der rechte lockt Susanna mit seinem Finger. Letzterer wird von Susanna mit einem abweisenden Blick bedacht, womit ihre Ablehnung des Ansinnens dargestellt wird.
Die neuere Rembrandt-Forschung sieht in einem Großteil der Zeichnungen seines Spätwerks nicht mehr primär den ursprünglich vermuteten "Vorzeichnungscharakter" – sie gelten inzwischen als autonome Kunstwerke. Eine der bevorzugten Techniken Rembrandts wurde die Rohrfeder, häufig auch in Bister laviert.
Radierungen
Rembrandt schuf etwa 300 Radierungen, von denen 80 Kupferplatten erhalten geblieben sind. Ihre Verbreitung über Reproduktionen trug zum Ruhm des Künstlers in ganz Europa bereits zu Lebzeiten bei. Die frühen Radierungen Rembrandts weisen deutliche Stilunterschiede zu seinen Zeitgenossen auf und legen nahe, dass er sich dieser Kunstgattung als Autodidakt näherte. Rembrandts Technik war freier als die anderer Künstler, die sich mit regelmäßigen Linien und Schraffierungen dem Kupferstich annäherten, so dass seine Radierungen lebendiger erscheinen. Mit dem Spiel von Hell und Dunkel und der über unterschiedliche Schraffuren erzeugten Perspektive verlieh er ihnen einen malerischen Charakter.
Die Landschaft mit den drei Bäumen aus dem Jahr 1643 gehört zu den ersten realistischen Landschaftsdarstellungen Rembrandts, nachdem er in seinen früheren Gemälden heroische Landschaften mit Obelisken, Wasserfällen und Burgen kreierte. Nun konzentrierte er sich auf die Weite der Landschaft und die Darstellung der Wolken. Die Radierung Die Landschaft mit den drei Bäumen zeigt die für die Niederlande typische flache Landschaft nach einem Gewitter.
Die 38,5 Zentimeter breite und 45 Zentimeter hohe Radierung Die drei Kreuze aus dem Jahr 1653 zeigt eine Interpretation der Kalvarienszene, eines traditionellen Themas von Bildern, dem sich Rembrandt von einem neuen Standpunkt aus näherte. Er fokussierte auf die Reaktionen der Anwesenden auf Jesu Tod und das nachfolgende Erdbeben sowie die drei Kreuze. Aus dem Himmel brechen Lichtstrahlen hervor, die in ihrer geometrischen Struktur den sakralen Charakter der Radierung herausstellen. Sie beleuchten Jesus und den guten Schächer, während der zweite Räuber im Dunkeln bleibt. Die Wirkung auf die anwesenden Personen stellte Rembrandt auf verschiedene Weise dar. So ist beispielsweise der Hauptmann auf die Knie gefallen, während am linken Bildrand im Vordergrund ein überwältigter Mann weggeführt wird. Die Gestaltung dieses Mannes wurde von Rembrandt einem Stich von Lucas van Leyden entlehnt, der die Erschütterung des Paulus nach seiner Bekehrung zeigt. Weiterhin sind Frauen zu Boden gestürzt, und die meisten der dargestellten Figuren zeigen auf irgendeine Art und Weise Gefühle von Verzweiflung, Angst und Schmerz. Darin rezipierte Rembrandt vor allem Darstellungen aus der Renaissance und der Antike.
Sammlung
Rembrandt begann wahrscheinlich schon in Leiden mit dem Aufbau seiner umfassenden Sammlung verschiedener Objekte und Kunstwerke. Ab 1628 finden sich präzise wiedergegebene exotische und ethnologische Gegenstände in den Werken Rembrandts, die nahelegen, dass die Sammlung auch Studienzwecken diente und Atelierrequisiten beinhaltete. Es könnte sich aber auch um einen Vorrat von wertvollen Gegenständen gehandelt haben, die zum Verkauf bestimmt waren, da Rembrandt sich auch als Kunsthändler betätigte. Mit dem enzyklopädischen Anspruch der Sammlung wollte sich Rembrandt möglicherweise auch in den höheren Kreisen der Gesellschaft profilieren.
Die Sammlung teilte sich in zwei Bereiche auf, zum einen in die Naturalia wie Steinkorallen und Muscheln, zum anderen in die Artificialia, die Gegenstände wie Münzen, Waffen, Musikinstrumente und Gipsabgüsse von Büsten griechischer Philosophen und römischer Kaiser umfassten. Rembrandt teilte die Kollektion von Kunstwerken in Gemälde, Papierkunst, Kupferstiche und Holzschnitte ein. Sie umfasste unter anderem Gemälde von Meistern, die ihn stark beeinflussten, wie Pieter Lastman und dessen Umkreis, von Hercules Seghers und von befreundeten oder stilistisch nahestehenden Künstlern wie Jan Lievens. Daneben besaß Rembrandt Werke von Palma Vecchio, Lucas van Leyden, Raffael und Peter Paul Rubens. Die Kupferstiche stammten zum Beispiel von Hans Holbein dem Jüngeren und Martin Schongauer. Ein ganzes Album war mit Stichen und Holzschnitten von Lucas Cranach dem Älteren gefüllt. Weiterhin waren Tizian, Mantegna, Michelangelo, Annibale und Agostino Carracci in der Sammlung vertreten.
Infolge seines Konkurses musste sich Rembrandt auch von seiner Sammlung trennen. Aufgrund der vor der Versteigerung erstellten Inventare sind heute noch der Umfang der Sammlung und die darin enthaltenen Werke und Objekte bekannt. Bereits kurze Zeit später, als er in eine kleine Wohnung gezogen war, erwarb er eine neue Sammlung. Dies legt den Schluss nahe, dass das Sammeln für Rembrandt eine Art von Obsession war. Das Museum Het Rembrandthuis in Amsterdam präsentiert eine Rekonstruktion der Sammlung um 1650. Dabei orientierte es sich an den Inventaren, welche die Exponate auch räumlich zuordneten.
Bedeutung und Nachwirkungen
Werkstatt und Schüler
Zwischen 1628 und 1663 bildete Rembrandt Schüler in seiner Werkstatt aus. In Leiden befand sich sein Atelier im Haus seiner Eltern, so dass zwischen Wohnung und Arbeitsplatz keine Trennung bestand. Als ersten Schüler nahm er dort im Februar 1628 Gerard Dou auf, der mit seinen Genrebildern und Porträts später Berühmtheit erlangen sollte. Im November desselben Jahres folgte Isaac Jouderville. In Amsterdam arbeitete Rembrandt erst in der Werkstatt des Kunsthändlers Hendrick van Uylenburgh, bis er 1634 in die Lukasgilde eintrat und damit das Recht erhielt, eine eigene Werkstatt zu führen und Schüler aufzunehmen. In seinem Haus richtete er sich im ersten Stock sein Atelier ein und im zweiten Obergeschoss, unter dem Dach, die Werkstatt, in der seine Schüler arbeiteten. Für die Schüler waren kleine Arbeitsräume durch bewegliche Trennwände abgeteilt. Ihnen waren Zeichnungen, Stiche und Gemälde ihres Meisters zugänglich, die sie kopierten oder in freien Varianten wiedergaben. Diese Arbeiten veräußerte Rembrandt, was die 100 Gulden, die von den Eltern für ein Jahr gezahlt wurden, aufbesserte. Das Lehrgeld war in Anbetracht dessen, dass Rembrandt den Schülern weder Wohnraum noch Verpflegung bot, sehr hoch. Einige Schüler blieben nach dem Ende ihrer Lehrzeit als Assistenten in Rembrandts Werkstatt.
Die genaue Zahl der Schüler ist nicht bekannt. Frühe Biographen Rembrandts haben die Namen von rund 20 von ihnen überliefert. Die Aufzeichnungen über Rembrandts Schüler bei den Gilden von Leiden und Amsterdam gingen verloren. So wird ihre Zahl heute auf rund 50 geschätzt. Vom deutschen Künstler Joachim von Sandrart, der von 1637 bis 1645 in Amsterdam gelebt hat, wurde überliefert, dass bei Rembrandt „unzählige“ junge Männer studierten und arbeiteten. Diese Aussage legt eine höhere Schülerzahl nahe. Zu den Schülern gehörten unter anderem Carel Fabritius, Ferdinand Bol, Willem Drost, Gerbrand van den Eeckhout, Govert Flinck, Arent de Gelder, Samuel van Hoogstraten, Nicolaes Maes, Jürgen Ovens, Lambert Doomer und Franz Wulfhagen.
Beachtung und Bekanntheit
Rembrandt erlangte schon früh überregionale Bekanntheit und Ruhm. So notierte der englische Reisende Peter Mundy, der sich 1640 in den Niederlanden aufhielt, in seinem Tagebuch, dass es „in diesem Land zahlreiche hervorragende Künstler gab, einige gibt es noch, beispielsweise Rembrandt“. Ein Jahr später schrieb der frühe Rembrandt-Biograph und Stadthistoriker von Leiden Jan Janszoon Orlers über Rembrandt, „dass er zu einem der gegenwärtigen renommiertesten Maler unseres Jahrhunderts geworden ist“. Bereits 1629 und 1630 erwarb die englische Krone zwei seiner Bilder und über Stiche verbreitete sich die Kenntnis seiner Werke in großen Teilen Europas. Drei Bilder verkaufte Rembrandt an den Sizilianer Antonio Ruffo, der sie auf eine Liste der hundert schönsten Gemälde seiner Sammlung setzen ließ.
Nach dem Tod Rembrandts war die Sicht auf seine Werke gespalten. Die klassizistische Kunstauffassung dominierte zwischen 1750 und 1850 in Italien, Frankreich, den Niederlanden und England und stand im Gegensatz zum Kolorismus, dem Künstler wie Caravaggio und Rembrandt zuzurechnen sind. In der 1675 erschienenen Teutschen Akademie warf der deutsche Maler Joachim von Sandrart Rembrandt vor, „die Regeln der Kunst – Anatomie, Proportion, Perspektive, die Norm der Antike und die Zeichenkunst Raffaels – nicht beachtet und die vernünftige Ausbildung in den Akademien bekämpft“ zu haben Sandrart bewertete Rembrandt zudem als ungebildet und tadelte dessen Kunstsammlung, die er zuvor in seiner Biographie noch gelobt hatte, so dass das Publikum sie nun für wertlos hielt. 1681 veröffentlichte Anries Pels das Lehrgedicht Gebruik en Misbruik des Toneels (Gebrauch und Missbrauch des Theaters), in dem er auch auf die Malerei einging und Rembrandt als „den ersten (namhaftesten) Ketzer in der Malerei“ bezeichnete, da er sich geweigert habe, seinen „berühmten Pinsel den Regeln zu unterstellen“. Der Kunstschriftsteller Arnold Houbraken ging in seinem Werk Groote Schouburgh aus dem Jahr 1718 noch weiter, indem er angebliche Zitate Rembrandts und unzutreffende biographische Informationen erfand sowie Legenden verbreitete. Zu diesem Zeitpunkt waren die Fakten über Rembrandts Leben zu großen Teilen in Vergessenheit geraten. Deshalb schloss man aus seinen Bildern auf einen niedrigen sozialen Stand und einen schlechten Charakter. Dies wurde auf seine künstlerische Auffassung übertragen. In dem rund 20 Seiten umfassenden Beitrag, an dem neben Houbraken mehrere Autoren beteiligt gewesen sein dürften, wurde Bezug auf viele der vorherigen Kritiker und Kritiken genommen. Der harschen Kritik steht die Tatsache entgegen, dass Rembrandts Kunstwerke bei Sammlern beliebt waren. Im Paris der zweiten Hälfte des 17. sowie des 18. Jahrhunderts, als die dort aktiven Künstler glatte Idealkompositionen schufen, gab es einen großen Markt für niederländische Realisten und vor allem Rembrandt. Aufgrund der gestiegenen Preise seiner Werke kamen zudem vermehrt Fälschungen auf den Kunstmarkt. Das bestehende Interesse veranlasste den französischen Kunsthändler Gersaint im Jahr 1751, einen ersten Katalog der Radierungen Rembrandts zu erstellen, was einer kunsthistorischen Pionierleistung gleichkam.
Auch in Deutschland und England fanden die Bilder Rembrandts Anklang und wurden sowohl vom Bürgertum als auch von Adeligen erworben. In England erzielten seine Werke so hohe Preise, dass der britische Kunsthändler John Smith 1836 den ersten Katalog der Gemälde erstellte. Die in ganz Europa in Sammlungen vertretenen Bilder von Rembrandt, seinen Schülern und Nachfolgern inspirierten im 18. Jahrhundert Rembrandt-Nachfolger. In Deutschland beschäftigte sich der Maler Januarius Zick mit den Kostümen der Figuren und der Helldunkel-Malerei in Rembrandts Gemälden, in England erwarb Joshua Reynolds Gemälde, die Rembrandt gemalt hatte, und orientierte sich an der Farbgebung, in Italien beschäftigte sich Giovanni Battista Tiepolo mit Kompositionen von Rembrandts Stichen, und die Dichter des Sturm und Drang, einer Strömung der deutschen Literatur in der Zeit von 1770 bis etwa 1785, lobten das Volkstümliche und Natürliche der Kunst Rembrandts.
Nach Errichtung von Denkmälern für Albrecht Dürer in Deutschland und Peter Paul Rubens in Belgien fand 1853 die Enthüllung eines Rembrandt-Denkmals in Amsterdam statt. Wenn dies auch vor allem aus patriotischen Motiven geschah, folgte doch als Ergebnis ein neues Interesse der Kunsthistoriker an Rembrandt. Erstmals wurde sein Leben gründlich erforscht, wobei Dokumente in Archiven gefunden wurden, die aufzeigten, dass die bisherigen Veröffentlichungen zahlreiche Fehlinformationen enthielten. 1854 erschien die erste kunstwissenschaftliche Monographie über Rembrandt, deren Autor Eduard Kolloff viele seiner Werke aus eigener Anschauung kannte. In diesen Entwicklungen liegt die Grundlage der eigentlichen Rembrandt-Forschung.
Bedeutende Kunsthistoriker wie Abraham Bredius und Wilhelm von Bode forschten zu Rembrandt und seinem Umfeld. Jan Emmens korrigierte das Bild von Rembrandt als Brecher der Regeln der Kunst seiner Zeit, zu dem ihn vor allem die klassizistische Kunstliteratur gemacht hatte, zeigte historische Bezüge auf und ging auf Rembrandts Atelierarbeit und dessen künstlerische Vorbilder ein. Christian Tümpel setzte sich mit fehlgedeuteten und noch gar nicht gedeuteten Historiendarstellungen Rembrandts auseinander und das Rembrandt Research Project arbeitete an der Klärung der Urheberschaft seiner Gemälde und der seines Umkreises.
Der Erfolg Rembrandts am Kunstmarkt ist ungebrochen. So konnten Werke von ihm in den letzten Jahren hohe Auktionsergebnisse erzielen. Am 13. Dezember 2000 wurde das 1632 gemalte Porträt Ältere Dame mit einer Haube bei Christie’s in London (Los-Nr.: 52) für 19.803.750 Pfund, umgerechnet 28.675.830 Dollar, versteigert. Das 1633 entstandene Porträt Ein Herr im roten Rock aus der Sammlung der Bellagio Gallery of Fine Art in Las Vegas wurde am 26. Januar 2001 bei Christie’s in New York (Los-Nr.: 81) aufgerufen und für 12.656.000 Dollar vom Kunsthändler Robert Noortmann erworben. Am 25. Januar 2007 wurden bei Sotheby’s in New York gleich zwei Bilder angeboten, von denen das Porträt Eine Frau mit schwarzer Kappe (Los-Nr.: 6) von 1632 für 9.000.000 Dollar und Der Apostel Jakobus (Los-Nr.: 74) aus dem Jahr 1661 für 25.800.000 Dollar versteigert wurden. Das am 8. Dezember 2009 bei Christie’s in London versteigerte Porträt Ein Mann mit den Armen in der Hüfte (Los-Nr.: 12) von 1658, das aus dem Besitz von Barbara Piasecka Johnson stammte, erzielte mit 20.201.250 Pfund, oder 33.210.855 Dollar den bisher höchsten jemals für ein Werk Rembrandts erzielten Preis.
Zuschreibungsproblematik und Arbeit des Rembrandt Research Project
Die Bestimmung der Eigenhändigkeit von Werken Rembrandts fiel bereits seinen Zeitgenossen schwer, da sie von denen anderer Künstler wie Govert Flinck, Jan Lievens oder Aert de Gelder zum Teil nur schwer zu unterscheiden sind. Zudem wurden in der Werkstatt Kopien und Varianten angefertigt, so dass zum Beispiel zehn Versionen des Reuigen Judas bekannt sind, die nicht eindeutig einem bestimmten Künstler zugeordnet werden können. Zum Teil können Archivalien, literarische Erwähnungen oder Reproduktionsstiche zur Bestimmung des Urhebers herangezogen werden, was aber nicht besonders zuverlässig ist. Hinzu kommen naturwissenschaftliche Untersuchungen der Werke und die Kennerschaft über spezifische Qualitäts- und Stileigenschaften des Künstlers, nach denen Übereinstimmungen und Abweichungen im Vergleich mit nicht dokumentierten Werken festgestellt werden können. Sie unterliegen jedoch subjektiven Gesichtspunkten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war eine optimistische Zuschreibungspraxis verbreitet, die stilistische Merkmale für die Bewertung eines Gemäldes als eigenhändiges Werk Rembrandts weit fasste. Seit 1968 nimmt eine im Rembrandt Research Project zusammengefasste Expertengruppe die Bewertung der Bilder, die Rembrandt zugeschrieben werden, vor. Sie teilten die Werke in drei Kategorien ein: Kategorie A umfasst Gemälde, deren Urheberschaft Rembrandts gesichert ist, Kategorie B solche, deren Urheberschaft Rembrandts nicht als sicher angesehen, aber auch nicht abgesprochen werden kann, und Kategorie C beinhaltet Werke, deren Urheberschaft Rembrandts nicht bestätigt werden kann und die seinem Umkreis zugeordnet werden. Dabei ist die Zuordnung einiger Werke in die jeweilige Kategorie nicht unumstritten gewesen. So wurde 1982 von den drei auf vergoldete Kupferplatten gemalten Bildern Lachender Soldat aus dem Mauritshuis, Betende alte Frau der Residenzgalerie und ein Selbstbildnis aus dem Schwedischen Nationalmuseum, die alle ein ähnliches kleines Format aufweisen, mit der Betenden alten Frau nur das am genauesten gemalte Bild als authentisch erklärt. Im Katalog der Ausstellung Der junge Rembrandt. Rätsel um seine Anfänge, die 2001 in Amsterdam und Kassel zu sehen war, wurden aber auch die beiden anderen Bilder zum sicheren Kern der authentischen Werke aus Rembrandts Schaffen der Jahre 1627 bis 1629 gezählt. Das Rembrandt Research Project verringerte die Zahl der als authentisch geltenden Werke Rembrandts auf rund 350 und publizierte seine Forschungsergebnisse in bisher vier Katalogen. Zu den prominentesten Abschreibungen zählt dabei das Porträt Der Mann mit dem Goldhelm der Berliner Gemäldegalerie. Es wurde nicht sicher nachgewiesen, aber es existiert die Hypothese, dass es von dem aus Augsburg stammenden Maler Johann Ulrich Mayr, der zeitweise in Rembrandts Werkstatt arbeitete, angefertigt wurde, da der Helm aus einer Augsburger Waffenschmiede stamme. Daneben besteht die Hypothese, dass der Urheber dieses Porträts nicht in der Werkstatt, sondern im weiteren Umkreis Rembrandts zu suchen ist. Ebenfalls von Abschreibungen in größerem Umfang waren die Zeichnungen betroffen, während die Radierungen schon weitgehend von Schulwerken und Nachahmungen befreit waren.
Neben der Frage der Authentizität der Werke Rembrandts hat das Rembrandt Research Project auch neue Erkenntnisse zur Werkstatt und zum Unterricht Rembrandts und Archivfunde zur Biographie des Künstlers, zu Modellen und frühen Provenienzen seiner Werke vorzuweisen. Weiterhin hat es viele naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu Werken Rembrandts in einer Datenbank zusammengetragen, so etwa zu den verwendeten Pigmenten, Bindemitteln und Malgründen. Zudem wurden mit Röntgenaufnahmen und Neutronenbestrahlung viele Hinweise zum Malprozess erzielt.
Rezeption
Malerei
Rembrandts Arbeiten dienten vielen Künstlern als Inspiration, sie wurden teils kopiert oder als Vorbild für eigene Arbeiten verwendet. Dies begann bereits zu Rembrandts Lebzeiten. Ein Beispiel ist der Maler Gerrit Lundens, der mehrere Kopien der Nachtwache anfertigte und deren Komposition auf eigene Werke übertrug. Insgesamt sind bisher zehn solcher Werke von Lundens bekannt. An seiner zwischen 1642 und 1649 entstandenen Kopie, die sich in der National Gallery in London befindet, ist zudem der ursprüngliche Zustand von Rembrandts Werk vor der Verkleinerung und dem Nachdunkeln nachvollziehbar. Eine weitere zeitgenössische Rezeption dieses Bildes stellt ein Aquarell im Familienalbum des Frans Banningh Cocq dar, das um 1650 entstand. Neben solchen Kopien waren auch viele Stiche von Werken Rembrandts im Umlauf, die ihn in ganz Europa bekannt machten. So übte Rembrandt in der Epoche des Barock beispielsweise Einfluss auf andere Porträtmaler wie Johann Kupetzky aus.
Nach dem Tod Rembrandts ließ sein Einfluss auf nachfolgende Künstlergenerationen nicht nach, so dass immer wieder von ihm inspirierte und an seinen Gemälden und Stichen orientierte Werke entstanden. Einer der Rembrandtnachfolger im 18. Jahrhundert war Christian Wilhelm Ernst Dietrich, der Rembrandt nicht nachahmte, sondern dessen Kompositionen erzählerischer darstellte und die Dramatik Rembrandts zurücknahm. Auch Max Liebermann war von Rembrandt beeinflusst. In seinem Frühwerk sind Einflüsse Rembrandts, der Liebermann durch seinen Lehrer Ferdinand Pauwels im Kasseler Fridericianum näher gebracht wurde, auszumachen. Bei seinem Aufenthalt in Amsterdam im Jahr 1876 ließ Liebermann sich im Rijksmuseum Radierungen Rembrandts vorlegen und kopierte diese in Federzeichnungen. Er kopierte unter anderem eine Radierung, die ein Porträt von Rembrandts Mutter zeigte.
Auf die Radierungen Rembrandts bezog sich auch der französische Graphiker Rodolphe Bresdin, der seinem Vorbild in der Darstellung von Helligkeit im Kontrast zur Schwärze nacheiferte. Ein weiterer Künstler, der von Rembrandts Werken beeindruckt war, war Vincent van Gogh, der besonders Die Judenbraut schätzte. Er malte einige Gemälde nach Werken Rembrandts. Auch Édouard Manet kopierte mit der Anatomie des Dr. Tulp ein Werk Rembrandts. Pablo Picasso nahm in einigen seiner Werke Bezug auf Rembrandt. Einfluss hatten Rembrandt und seine Werke auf viele weitere Künstler wie etwa Hans von Marées, Ilja Repin, Wilhelm Leibl, Franz von Lenbach, Max Slevogt, Eugène Delacroix und Gustave Courbet. Die Expressivität der Selbstporträts Rembrandts beeinflusste darüber hinaus eine Reihe von Künstlern wie Francisco de Goya und Anton Raphael Mengs bei ihrer eigenen Selbstdarstellung.
Bilder Rembrandts wurden auch von Glenn Brown verarbeitet, der in seinen Werken oftmals Gemälde berühmter Künstler rezipiert. Sein Werk Joseph Beuys (after Rembrandt) aus dem Jahr 2001 orientierte sich dabei an einem Porträt Rembrandts. Die Künstlerin Devorah Sperber bildete das Selbstporträt Rembrandts aus dem Jahr 1659, das in der National Gallery of Art in Washington hängt, in einer Installation After Rembrandt aus Garnspulen in einer verpixelten Detailansicht nach. Hiroshi Sugimoto fertigte 1999 einen Silbergelatineabzug Rembrandt van Rijn an, der eine Wachsfigur zeigt, die dem Selbstporträt von 1659 in der National Gallery in London nachempfunden ist.
Literatur
Die Person Rembrandts wurde zum Gegenstand verschiedener historischer Romane. 1934 veröffentlichte der in Russland geborene Autor Valerian Tornius Zwischen Hell und Dunkel. Der Fokus dieses Romans liegt auf dem Kontrast zwischen Rembrandts Erfolgen und seinem materiellen Abstieg bis zum Tod in Armut. Daneben spielt seine Huldigung als Genie eine zentrale Rolle. Eine Reihe von Romanen setzte sich mit Rembrandts Bezug zur Religion auseinander wie Die Sendung des Rembrandt, Harmenszoon van Rijn von Meta Scheele aus dem Jahr 1934 und Rembrandt und das große Geheimnis Gottes von Kurt Schuder aus dem Jahr 1952. Im Buch Licht auf dunklem Grund. Ein Rembrandt-Roman von Renate Krüger, das 1967 erschien, wird Rembrandts Umzug in das Judenviertel Amsterdams und seine Beziehung zu den dortigen Nachbarn behandelt.
Das von Alexandra Guggenheim verfasste Buch Der Gehilfe des Malers: Ein Rembrandt-Roman erschien im Jahr 2006 und beschäftigt sich mit dem fiktiven Schüler Rembrandts, Samuel Bol. Der Maler erhält den Auftrag, ein Porträt eines Anatomen bei der Arbeit zu erstellen, aber es ist kein Leichnam eines Hingerichteten vorhanden. Als die Vorlesung schließlich stattfindet, wird die Leiche eines kleinen Diebes seziert, was Bol misstrauisch stimmt. Trotz dieser Kriminalgeschichte liegt ein Hauptaugenmerk des Romans auf der Arbeit Rembrandts als Maler, dessen Stil und Motivwahl. Ebenfalls 2006 erschien der Roman Van Rijn von Sarah Emily Miano, in dem der alte und mittellose Rembrandt, dessen Atelier der junge Verleger Pieter Blaeu 1667 besucht, auftritt. In dem Roman werden zudem weitere Charaktere mit Bezug zu Rembrandt aufgegriffen.
In dem Roman Die Farbe Blau erzählt Jörg Kastner die Erlebnisse des Malers Cornelius Suythof bei der Aufklärung einer Verschwörung gegen die Niederlande im Jahr 1669. Suythof wird als Schüler Rembrandts beschrieben. Rembrandt selber spielt als Maler in der Geschichte eine wesentliche Rolle. Suythof heiratet am Ende Rembrandts Tochter Cornelia. Der Roman Der Maler und das Mädchen der niederländischen Schriftstellerin Margriet de Moor beleuchtet zwei fiktive Handlungsstränge von Elsje Christiaens und dem Künstler, der zeichnerisch die Tote am Kalvarienort festgehalten hat.
Film
Rembrandt van Rijn wurde in mehreren Filmen rezipiert. So entstand 1936 unter der Regie Alexander Kordas der Film Rembrandt, dessen Drehbuch Carl Zuckmayer und June Heart geschrieben hatten. Der Film versuchte die Maltechnik Rembrandts auf die Bildführung zu übertragen und setzt nach dem Tod seiner Ehefrau ein. Die Hauptrolle spielte Charles Laughton. 1942 folgte der von Hans Steinhoff inszenierte Film Ewiger Rembrandt, in dem der Maler von Ewald Balser verkörpert wurde. Er präsentiert zum Teil die nationalsozialistische Kulturauffassung und beschäftigt sich mit der Entstehung des Gemäldes Die Nachtwache, wobei er sich inhaltlich an dem Roman Zwischen Hell und Dunkel von Valerian Tornius orientierte. 1954 entstand der Oscar-nominierte Kurzfilm Rembrandt: A Self-Portrait.
In den 1970er und 1980er Jahren wurden einige Fernsehfilme produziert, die Rembrandt zum Thema hatten. Im Jahr 1999 folgte der Kinofilm Rembrandt, in dem Klaus Maria Brandauer unter der Regie Charles Mattons den Maler darstellte. Der Film geht auf viele biografische Aspekte Rembrandts ein und präsentiert seine Vision der Malerei. Die 55-minütige Dokumentation Die Rembrandt GmbH aus dem Jahr 2006 setzt sich mit der Arbeit des Rembrandt Research Projects und Rembrandts künstlerischer Leistung auseinander, während Peter Greenaway 2007 in seinem Film Nightwatching, in dem Martin Freeman Rembrandt spielte, eine nicht historisch korrekte Darstellung der Person wählte und sie viel mehr als Projektionsfläche für seine eigene filmische Kunst nutzte. So interpretiert Greenaway den abgefeuerten Schuss in der Nachtwache als Mord, die Schärpe des Gildemeisters als Schwanz des Teufels und das als Allegorie eingefügte Mädchen als uneheliche Tochter eines Mitglieds der Gilde. Der Darstellung, Greenaway habe eine neue Interpretation des Bildes gefunden, wurde von dem Rembrandt-Experten Ernst van de Wetering widersprochen.
Literatur
nach Autoren / Herausgebern alphabetisch geordnet
Eckbert Albers: Erkenntnismomente und Erkenntnisprozesse bei Rembrandt. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2008, ISBN 978-3-487-13831-2.
Svetlana Alpers: Rembrandt als Unternehmer. Sein Atelier und der Markt. DuMont Literatur und Kunst, Köln 2003, ISBN 3-8321-7297-1.
Kristin Bahre u. a. (Hrsg.): Rembrandt. Genie auf der Suche. DuMont Literatur und Kunst, Köln 2006, ISBN 3-8321-7694-2.
Renate Barth: Rembrandt. Radierungen. Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen, Weimar 1981, ISBN 3-929323-03-6.
Holm Bevers: Rembrandt. Die Zeichnungen im Berliner Kupferstichkabinett. Kritischer Katalog. Hatje Cantz, Ostfildern 2006, ISBN 3-7757-1817-6.
J. Bruyn, B. Haak u. a.: A Corpus of Rembrandt Paintings:
Band 1: 1625–1631. Kluwer Academic Publishers, 1982, ISBN 90-247-2614-X
Band 2: 1631–1634. Band 2, 1986, ISBN 90-247-3339-1
Band 3: 1635–1642. 1990, ISBN 90-247-3781-8
Nils Büttner: Rembrandt: Licht und Schatten. Eine Biographie. Reclam, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-15-010965-6.
H. Perry Chapman: Rembrandt’s self-portraits. University Press, Princeton NJ 1990, ISBN 0-691-04061-3.
Jean Genet: Rembrandt. Ein Fragment. Merlin-Verlag, Gifkendorf 1996, ISBN 3-926112-61-1.
Amy Golahny: Rembrandt’s Reading: The Artist’s Bookshelf of Ancient Poetry and History, Amsterdam University Press, 2003.
Michael Kitson: Rembrandt. Phaidon Press, New York City 2007, ISBN 978-0-7148-2743-8.
Maria Kreutzer: Rembrandt und die Bibel – Radierungen, Zeichnungen, Kommentare. Reclam-Verlag, Stuttgart 2003, ISBN 3-15-010539-0.
Jürgen Müller: Der sokratische Künstler. Studien zu Rembrandts Nachtwache. Brill, Leiden 2015, ISBN 978-90-04-28525-5.
Otto Pächt: Rembrandt. Hrsg. von Edwin Lachnit. Prestel, München 1991. (2. Auflage. 2005)
Simon Schama: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000, ISBN 3-88680-702-9.
Gary Schwartz: Das Rembrandt Buch. Leben und Werk eines Genies. C. H. Beck Verlag, München 2006, ISBN 3-406-54369-3.
Anna Seghers: Jude und Judentum im Werke Rembrandts. Dissertation 1924. Philipp Reclam, Leipzig 1981, ISBN 3-379-00608-4. (48 Reproduktionen (s/w))
Hans W. Singer, Jaro Springer (Hrsg.): Rembrandts sämtliche Radierungen. Holbein, München o. J. [1914]. (312 Reproduktionen)
Christian Tümpel: Rembrandt. Mythos und Methode. Langewiesche, Königstein/T. 1986, ISBN 3-7845-9290-2.
Christian Tümpel: Rembrandt. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2006, ISBN 3-499-50691-2.
Christian Tümpel: Rembrandt. Images and Metaphors. Haus Publishing, London 2006, ISBN 1-904950-92-2.
Anette Wauschkuhn: Georg Simmels Rembrandt-Bild: Ein lebensphilosophischer Beitrag zur Rembrandtrezeption im 20. Jahrhundert = Manuskripte für Kunstwissenschaft in der Wernerschen Verlagsgesellschaft 61. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 2002, ISBN 978-3-88462-960-4.
Walter Weichhardt: Rembrandt. Radierungen. Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin 1939.
Ernst van de Wetering, Karin Groen, u. a.: A Corpus of Rembrandt Paintings:
Band 4: Self-Portraits. Springer-Verlag, Dordrecht 2005, ISBN 1-4020-3280-3.
Band 5: The Small-Scale History Paintings. Springer-Verlag, Dordrecht 2011, ISBN 978-1-4020-4607-0.
Band 6: Rembrandt’s Paintings Revisited – A Complete Survey. Springer-Verlag, Dordrecht 2015, ISBN 978-94-017-9173-1.
Christopher White: Rembrandt as an etcher. Yale University Press, New Haven, Conn. 1999, ISBN 0-300-07953-2.
Christopher White (Hrsg.): Rembrandts Selbstbildnisse. Belser Verlag, Stuttgart 1999, ISBN 3-7630-2370-4.
Christopher Wright: Rembrandt. Self-portraits. Hirmer, München 2000, ISBN 3-7774-8580-2.
Falscher Goldhelm. In: Die Zeit. Nr. 29/2006; Interview mit dem Rembrandtforscher Ernst van de Wetering
Weblinks
The Rembrandt Database
Rijn, Rembrandt Harmensz. van Onlinedatenbank der Gemäldegalerie Alte Meister Kassel
Einzelnachweise
Maler (Niederlande)
Maler des Barock
Radierer (Niederlande)
Zeichner (Niederlande)
Reformierter
Person des evangelischen Namenkalenders
Person als Namensgeber für einen Asteroiden
Niederländer
Geboren 1606
Gestorben 1669
Mann |
18440 | https://de.wikipedia.org/wiki/Leer%20%28Ostfriesland%29 | Leer (Ostfriesland) | Leer (Ostfriesland) (ostfriesisch Læær oder Läär) ist die Kreisstadt des Landkreises Leer in Niedersachsen und eine selbständige Gemeinde. Mit Einwohnern ist sie nach Emden und Aurich die drittgrößte Stadt Ostfrieslands.
Durch ihren Seehafen ist die an Ems und Leda gelegene Stadt seit Jahrhunderten vom Handel und der Seefahrt geprägt. Sie ist einer der größten deutschen Reederei-Standorte. Leer gilt zudem als die wichtigste Einkaufsstadt Ostfrieslands und als Mittelzentrum. Sie bezeichnet sich als Tor Ostfrieslands und liegt an Kreuzungspunkten der Verkehrsträger Straße, Schiene und Fluss.
Die Altstadt gilt wegen des guten Erhaltungszustands ihrer historischen Häuser als die „wertvollste“ der Region. Vier Burgen, zahlreiche Bürgerhäuser und Kirchen aus mehreren Jahrhunderten sind in der Stadt zu finden.
Leer ist Sitz des Landeskirchenamtes der Evangelisch-reformierten Kirche, des Kommandos Schnelle Einsatzkräfte Sanitätsdienst der Bundeswehr und Unternehmenssitz der Bünting-Gruppe.
Durch die Hochschule Emden/Leer ist Leer seit dem Jahr 2000 Hochschulstadt. Weitere öffentliche Dienstleister haben in der Stadt ihren Sitz oder eine Niederlassung.
Im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert war Leer durch den Häuptling Focko Ukena ein politisches Zentrum Ostfrieslands. Zur Stadt erhoben wurde Leer aber erst 1823. Zuvor galt der Ort als Marktflecken, hatte aber schon lange vor der Verleihung des Stadtrechts städtische Züge angenommen.
Wahrscheinlich lässt sich der Name der Stadt Leer von dem urgermanischen Wort „hlér“ („Weideplatz“) ableiten.
Die Einwohner werden im Standarddeutschen und auf Plattdeutsch Leeraner genannt.
Das dazugehörige Adjektiv lautet ebenfalls so.
Geographie
Lage
Leer liegt im südlichen Ostfriesland an der Mündung der Leda in die Ems. Ursprünglich befand sich sein Stadtkern an einer Schleife der Leda in unmittelbarer Nähe der Mündung des Flusses; durch die Erweiterung ihres Gebiets und Eingemeindungen breitete sich die Stadt in Richtung Ems aus. Seit der Eingemeindung der Stadtteile Bingum und Nettelburg 1972 erstreckt sich das Stadtgebiet auch auf Bereiche westlich der Ems und südlich der Leda. Den Seehafen Leer erreichen Seeschiffe über die Ems und die Leda sowie eine Seeschleuse, die den Hafen schützt. Die Stadt befindet sich ungefähr auf halber Strecke zwischen Groningen und Oldenburg.
Geologie
Das Kerngebiet der Stadt befindet sich auf einem Ausläufer des Oldenburgisch-Ostfriesischen Geestrückens aus eiszeitlichen Sandern. Besonders im Gebiet der Kernstadt sowie in Teilen von Loga und Logabirum sind Sande und Geschiebelehm vorherrschend. Der Geestrücken wird im Westen, Süden und Südosten von den Flussmarschen von Ems und Leda umschlossen. Das Gebiet nahe den Flüssen besteht aus überschlickten Randmooren. Im nordöstlichsten Teil des Stadtgebiets, im Norden des Stadtteils Logabirum, gibt es auch Moorböden. Ursprünglich befanden sich im Norden der Stadt Sandhügel, die bis Anfang des 20. Jahrhunderts abgetragen wurden. Heute erstreckt sich das Stadtgebiet auf Höhen zwischen einem und sieben Meter über NN.
Klima
Leer liegt in der gemäßigten Klimazone, hauptsächlich im direkten Einfluss der Nordsee. Im Sommer sind die Tagestemperaturen tiefer, im Winter häufig höher als im weiteren Inland. Das Klima ist von der mitteleuropäischen Westwindzone geprägt.
Nach der Klimaklassifikation von Köppen befindet sich Leer in der Einteilung Cfb. (Klimazone C: warm-gemäßigtes Klima, Klimatyp f: feucht-gemäßigtes Klima, Untertyp b: warme Sommer)
Innerhalb der gemäßigten Zone wird es dem Klimabezirk Niedersächsisches Flachland Nordsee-Küste zugeordnet, der maritim geprägt ist und sich durch relativ kühle und regenreiche Sommer, verhältnismäßig milde, schneearme Winter, vorherrschende West- und Südwestwinde sowie hohe Jahresniederschlagsmengen auszeichnet.
Die Temperaturen liegen derzeit im Jahresmittel bei 9 °C mit Höchstwerten in den Monaten Juli und August um die 30 °C und mittleren Niedrigstwerten um −2 °C im Dezember und im Januar. Die durchschnittlich meisten Regentage gibt es mit jeweils 14 im November und Dezember, die wenigsten im März und Mai, wo im Schnitt an neun Tagen Niederschlag fällt. Die Zahl der durchschnittlichen Sonnenstunden pro Tag schwankt zwischen einer (Dezember/Januar) und sechs Stunden (Mai/Juni).
Die mittlere frostfreie Zeit wird mit 170 bis 187 Tagen angegeben. Die mittlere Niederschlagsmenge liegt bei 738 mm/Jahr, die mittlere jährliche Sonnenscheindauer bei 1550 bis 1600 Stunden. Die Nähe zu Ems und Leda erzeugt besonders in den kühleren Monaten eine höhere Luftfeuchtigkeit und verstärkt damit die Nebelbildung.
Die nächstgelegene Wetterstation befindet sich 27 Kilometer nordwestlich in Emden.
Nachbargemeinden
Die Stadt Leer liegt zentral innerhalb des Festlandsgebietes des gleichnamigen Landkreises. Sie grenzt an sieben der elf weiteren Kommunen des Kreises, namentlich (im Uhrzeigersinn, beginnend im Nordosten) die Samtgemeinden Hesel (darin die Gemeinden Holtland und Brinkum) und Jümme (darin die Gemeinden Nortmoor und Detern), die Gemeinden Rhauderfehn und Westoverledingen, die Stadt Weener sowie die Gemeinden Jemgum und Moormerland.
Stadtgliederung
Leer gliedert sich in die Kernstadt und acht weitere Stadtteile. Dies sind Bingum, Heisfelde, Hohegaste, Leerort, Loga, Logabirum, Nettelburg und Nüttermoor. Zwei Stadtteile sind durch Flüsse vom Rest des Stadtgebietes getrennt: Nettelburg liegt südlich der Leda im Overledingerland, Bingum westlich der Ems im Rheiderland. Hinzu kommen kleinere Ortschaften, die jedoch nicht als eigenständige Stadtteile gezählt werden, beispielsweise Siebenbergen, Logaerfeld und Eisinghausen.
Da sich die zirka 35.000 Einwohner auf rund 70,3 Quadratkilometern verteilen, hat Leer – nach Marienhafe – in Ostfriesland die zweithöchste Einwohnerdichte. Sie liegt mit 497 Einwohnern pro Quadratkilometer nicht nur über dem ostfriesischen Durchschnitt, sondern auch über jenem des Landes Niedersachsen (zirka 168 Einwohner pro km²) und des Bundes (etwa 233 Einwohner pro km²).
Dicht bebaut sind neben der Kernstadt die Stadtteile Leerort, Heisfelde und Teile von Loga. Die weiteren Stadtteile sind dünner besiedelt und teils deutlich von der Landwirtschaft geprägt. In hohem Maße trifft dies auf Hohegaste und Nettelburg zu, die nicht über einen Siedlungskern verfügen.
Geschichte
Ur- und Frühgeschichte (bis etwa 800)
Das im Mündungsgebiet der Leda in die Ems günstig gelegene Gebiet der heutigen Stadt Leer wurde schon früh besiedelt. Im nordwestlichen Stadtgebiet befinden sich in Logabirum die Reste eines Großsteingrabes, in dem bedeutende Funde aus der Zeit von 2900 bis 2700 v. Chr. entdeckt wurden. Dabei wurden 17 Körperbestattungen der Einzelgrabkultur und 26 steinzeitliche Brandgräber der Trichterbecherkultur (TBK) aufgedeckt. Aus der späten Steinzeit, der Bronze- und der frühen Eisenzeit sind einzelne Funde wie auch Siedlungsreste in Loga und Logabirum bekannt. Im 2. und 3. Jahrhundert lag auf dem Gebiet des heutigen Westerhammrich eine relativ wohlhabende Siedlung. Bei archäologischen Untersuchungen wurden hier mehrere Werk- und Vorratsgruben, fünf Brunnenanlagen und Pfostensetzungen entdeckt, die offensichtlich zu dreischiffigen Hallenhäusern mit Vorratsspeichern gehörten. Funde von überkuppelten Ofenanlagen sowie von Bronzeschmelzen lassen eine Buntmetallverarbeitung im größeren Umfang vermuten. Weitere Artefakte deuten auf eine frühe Eisenverhüttung hin, wofür aus dieser Zeit bis dato nur in Holtland Funde vorliegen. Die Siedlung wird als Handels- und Handwerksstandort gedeutet. Offenbar wurden dort Agrarprodukte aus dem Hinterland und Luxusgüter aus dem römischen Reich gehandelt und römische Ziffern genutzt. Dafür dient eine Ritzung auf einer einheimischen Keramikscherbe als Beleg. Sie gilt als das älteste erhaltene Schriftstück der Region. Diese Siedlung wurde offenbar im 4. Jahrhundert wieder aufgegeben.
Entwicklung der Handelssiedlung (ab etwa 800 bis 1430)
Der eigentliche Siedlungskern der heutigen Stadt Leer lag im Bereich des reformierten Friedhofs. Hier wurden vom 7. bis 8. Jahrhundert Plaggen zu einer Warft aufgeworfen. Im Jahr 791 missionierte der Friesenapostel Liudger die Leeraner nach der Integration in das Fränkische Reich und gründete die erste Kapelle im ostfriesischen Raum am Westrand der damaligen Siedlung, eine Holzkirche. Sie stellte einen der kirchlichen Mittelpunkte der in Friesland dominierenden Grundherrschaft des Klosters Werden dar. Später erwarben auch andere Klöster hier Besitz, wie etwa das Kloster Fulda.
Im 11. Jahrhundert wurde Leer Münzstätte. Sie wurde von Gottfried II. (Niederlothringen), dem Grafen von Friesland und von Gottfried I., der Vater von Gottfried von Cappenberg war, dem Grafen des Emsgaus, betrieben. Zwischen 1063 und 1066 ließ möglicherweise auch Adalbert von Bremen hier Münzen prägen.
Um das Jahr 1200 begann der Bau der romanischen St.-Liudger-Kirche, die einen älteren Vorgängerbau aus Holz ersetzte. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts wurde Leer Sitz einer Propstei und unterstand fortan in geistlicher und weltlicher Hinsicht dem Bistum Münster. Gehemmt wurde die wirtschaftliche Entwicklung vor allem des Hafens durch den Stapelzwang in Emden, der dort um 1400 von der örtlichen Familie der Abdena durchgesetzt wurde.
In der Zeit der Ostfriesischen Häuptlinge geriet Leer in den Machtbereich des aus Neermoor stammenden Häuptlings Focko Ukena, der sich fortan Häuptling von Leer nannte. Er baute den Ort zum Zentrum seines Machtbereichs aus und errichtete hier um 1421 die Fockenburg im Typus ostfriesischer Häuptlingsburgen, der noch heute am Steinhaus Bunderhee zu erkennen ist. Ukena war ursprünglich ein Verbündeter der Tom Brok gewesen, des mächtigsten Häuptlingsgeschlechts jener Zeit, das als erstes eine eigene Landesherrschaft in Ostfriesland begründet hatte. Als sich dagegen in Ostfriesland immer größerer Widerstand regte, stellte sich Focko Ukena an die Spitze der mit ihrer Abhängigkeit unzufriedenen Häuptlinge und wurde damit zur Leitfigur in deren Kampf zur Wiederherstellung der Friesischen Freiheit. 1427 besiegte Ukena die tom Brok mit Unterstützung verbündeter Seeräuber endgültig, ging fortan aber dazu über, eine eigene Landesherrschaft im Erbe der tom Brok zu gründen. Leer wurde so von 1427 bis 1430 Hauptort Ostfrieslands. Andere ostfriesische Häuptlinge und Bauern sahen sich zunehmend in ihrer Freiheit bedroht und begannen, sich gegen Ukena zur Wehr zu setzen. Um 1430 entstand im Brookmerland der Freiheitsbund der Sieben Ostfrieslande unter Führung der Cirksena, der ein Landesaufgebot aufstellte und im selben Jahr die Burg in Leer belagerte. Nachdem diese nicht mehr zu halten war, floh Focko Ukena nach Emden. Die Fockenburg wurde anschließend geschleift.
Leer unter den Cirksena (1430 bis 1744)
Die aufstrebenden Cirksena nutzten die Gelegenheit und verbanden sich 1433 selbstständig mit der Stadt Hamburg. Diese wollte der in Ostfriesland weit verbreiteten Duldung der Seeräuber ein für alle Mal ein Ende bereiten und setzte daher auf einen starken Souverän in Ostfriesland. Der Grundstein für die nun bald folgende Herrschaft der Cirksena in Ostfriesland war gelegt. Zur Absicherung der eigenen Interessen errichteten die Hamburger an strategisch günstigen Stellen in Ostfriesland Burgen, so in Stickhausen und ab 1435 im heutigen Stadtteil Leerort. Im Jahr 1453 ging der gesamte Hamburger Besitz in Ostfriesland einschließlich der Festung Leerort gegen Zahlung von 10.000 Mark an den Häuptling und späteren Grafen Ulrich Cirksena über. Die Burg wurde Sitz des gräflichen Drosten und Amtmannes und zur stärksten Festung in Ostfriesland ausgebaut. Das neu gebildete Amt Leerort umfasste Leer mit dem Moormerland, das westliche Overledingerland und das Oberrheiderland bis zur heutigen niederländischen Grenze.
Im 16. Jahrhundert begann der Aufstieg Leers zum Marktort. Um ein Gegengewicht zum Handelszentrum Groningen zu schaffen, das sich von 1506 bis 1514 im Machtbereich Graf Edzard I. befand, verlieh dieser dem Ort 1508 aus wirtschaftlichen und politischen Gründen das Marktrecht am Sankt-Gallus-Tag und schuf damit den noch heute begangenen Gallimarkt als Flachsmarkt. Damit wurde die Grundlage zur Entwicklung Leers zu einem bedeutenden Zentrum der Tuchproduktion gelegt, deren Grundstoff Flachs war.
Während der Sächsischen Fehde fiel Heinrich I. von Braunschweig-Wolfenbüttel mit einem Heer von 20.000 Mann in Ostfriesland ein und belagerte die nur durch wenige Bauern und Soldaten verteidigte Festung Leerort. Jedoch wurde er dort am 23. Juni 1514 durch einen gezielten Kanonenschuss getötet. Die dadurch führerlos gewordene Truppe zog sich daraufhin aus Ostfriesland zurück. Nach Beendigung der Sächsischen Fehde musste Graf Edzard I. seine Ansprüche auf Groningen aufgeben und sich auf Ostfriesland beschränken. Im Jahr 1528 gewährte er Leer die Erlaubnis, einen weiteren Markttag zum Fest der Kreuzerhöhung, den Kreuzmarkt, am 14. September sowie jeden Donnerstag einen Wochenmarkttag abzuhalten. Später kamen noch der Fastmarkt sowie Pferde- und Viehmärkte hinzu.
Die Reformation wurde durch den 1525 in Münster abgesetzten und von dort vertriebenen Prediger Lübbert Cansen (auch: Lübbert Kanz) in der Stadt eingeführt, der einen Bildersturm auslöste. Monstranzen, Kelche sowie alles Gold und Silber wurden aus den Kirchen entfernt und an den Mauern und Wänden befindliche lateinische Inschriften und Malereien übertüncht.
Zunächst lebten Lutheraner und Reformierte in Leer nebeneinander, dann setzten sich die Reformierten durch. Die reformierte Gemeinde übernahm die Verwaltung des Marktfleckens und wurde sehr wohlhabend. Sie richtete 1525 die erste Volksschule ein. Die Lutheraner wurden immer stärker aus dem Stadtleben herausgedrängt und wichen infolgedessen erst nach Esklum und dann nach Logabirum aus.
Während der Geldrischen Fehde wurde der Flecken 1533 nach der Schlacht bei Jemgum zweimal von den geldrischen Truppen des Balthasar von Esens geplündert und angezündet. Ein Jahr später ließen sich in dem Ort erstmals Mennoniten nieder. Niederländische Mennoniten verbesserten und vergrößerten ab Mitte des 16. Jahrhunderts die seit langem betriebene Leinenweberei und den Handel. Vor allem die Leinweberei profitierte davon. Wurde diese bisher nur als Hausweberei betrieben, erfolgte nun erstmals die Produktion in größeren Manufakturen. Leer gelangte infolgedessen durch seine Handwerker, besonders die Leinenweber, zu Wohlstand. Einen weiteren Schub in der Entwicklung erlebte der Ort durch den Zuzug niederländischer Glaubensflüchtlinge – vorwiegend Reformierte und Mennoniten – aus den Ommelanden und aus Groningen. Unter ihnen befanden sich auch reiche, adelige und einflussreiche Persönlichkeiten. Durch diesen Kapitalzufluss und eine stärkere Arbeitsteilung zwischen der Stadt und dem Umland erlebte Leer seit 1566 einen wirtschaftlichen Aufschwung und entwickelte ein weiträumiges Netzwerk von Beziehungen unter den Fernhändlern. Im Jahr 1580 waren etwa 160 Flüchtlinge in der Stadt. Sie weitete sich dadurch nach Osten auf das Ledaufer aus und hatte um 1600 zwischen 3000 und 3500 Einwohner, die in etwa 500 bis 550 Häusern lebten. Die niederländischen Flüchtlinge waren es auch, die die Möglichkeiten des Hafens erkannten und diesen als Standort für ihre Reedereien und den Leinenhandel ausbauten. Im Jahr 1570 wurde deshalb die Waage an die Leda verlegt.
Unter dem reformierten Grafen Graf Johann wurde 1584 eine Lateinschule in Leer gegründet, die 1588 bis 1594 von Ubbo Emmius geleitet wurde. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hatte der Ort etwa 3500 Einwohner. Unter ihnen waren viele Zugezogene. Neben den niederländischen Glaubensflüchtlingen zogen aus weiteren Orten wie Meppen, Münster, Oldenburg viele Menschen in den aufstrebenden Hafenort. Dass nur sehr wenige Zugang zu den zünftischen Berufen hatten, zeigt eine Aufzählung der entsprechenden Berufe: fünf Kuper, vier Schmiede, vier Schneider, vier Schuhmacher, drei Zimmerleute, zwei Kistenmacher, zwei Bäcker, zwei Kannegießer, zwei Brauer, zwei Schlachter, zwei Glaser sowie je ein Krämer, Blickschlager, Stellmacher und Korbmacher. In dieser Zeit – nachweislich ab 1611 – ließen sich Juden in Leer nieder. Ihre 1650 gegründete Gemeinde erlangte später im Viehhandel größte Bedeutung.
Während des Dreißigjährigen Krieges litt der Ort große Not unter den Truppen des protestantischen Heerführers Ernst von Mansfeld, die von 1622 bis 1624 in Ostfriesland weilten und die Stadt besetzten. Die dabei von den Einwohnern verlangten Kontributionen (November 1622: 5000 Reichsthaler, Februar 1623: 1000 Reichsthaler) stürzten viele in Armut, da die Mehrzahl auf Kredite zurückgreifen musste, um diese zu bezahlen. Nachdem Mansfeld am 19. August 1623 sein Quartier nach Aurich verlegt hatte, plünderten ihm unterstellte französische Truppen den Ort. Am 14. und 15. Januar 1624 entließ Graf Mansfeld seine Truppen, die daraufhin abzogen. Auf sie folgten 1629 Truppen der ligistischen Armee Tillys, die bis 1631 blieben. Danach begann eine kurze Phase der wirtschaftlichen Erholung, die endete, als hessische Truppen unter Führung des Landgrafen Wilhelm V. von Hessen-Kassel den Flecken 1637 erneut besetzten und hier ihr Hauptquartier aufschlugen. Die hessischen Truppen blieben bis August 1650 und beuteten den Ort und das Land durch hohe Kontributionen abermals aus.
Auch nach dem Krieg musste Leer Besatzungen erdulden. Die Auseinandersetzungen zwischen den mittlerweile gefürsteten ostfriesischen Landesherren aus dem Haus Cirksena und den ostfriesischen Ständen führten zunächst dazu, dass mit dem Fürsten verbündete münstersche Truppen 1676 bis 1678 in Leer Quartier nahmen. Von 1687 an sollten Truppen des Kaisers, die „Salve Garde“, den Frieden in Ostfriesland aufrechterhalten. Auch die Kaiserlichen wurden im Flecken Leer einquartiert. Mit ihnen kamen erstmals wieder katholische Geistliche in den Ort.
Um die Mitte des 17. Jahrhunderts ließen sich Lutheraner wieder im Ort nieder. Die Lutherkirche wurde 1675 errichtet. Daneben ging der Zuzug vertriebener reformierter Protestanten unvermindert weiter. Diese kamen nun auch aus der Pfalz und aus Süddeutschland nach Leer. Davon profitierte der Ort vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht. In der heimischen Leinenindustrie nahm die Zahl der Webereien erheblich zu.
Die kaiserliche „Salve Garde“ blieb bis zum Aussterben der Cirksena 1744 in Leer, konnte aber den Appell-Krieg zwischen Fürst Georg Albrecht und den Ständen nicht verhindern. Im Jahr 1726 kam es in Leer mehrfach zu schweren Kämpfen zwischen fürstlichen und Emder Truppen.
Preußen (1744 bis 1806)
Nach dem Tod des letzten Fürsten von Ostfriesland, Carl Edzard aus dem Hause Cirksena (Regierungszeit 1734–1744), fiel Ostfriesland, und damit auch Leer, im Zuge einer Exspektanz an Preußen. Wenige Jahre später drangen während des Siebenjährigen Krieges 1757 französische und österreichische Truppen in Ostfriesland ein und besetzten Leer. Plünderungen blieben aus, aber der Ort wurde durch die Einquartierungen und zu zahlende Kontributionen abermals schwer belastet. Vier Jahre später rückte ein Freikorps deutscher Hilfstruppen der französischen Armee unter dem Kommando des Louis Gabriel Marquis de Conflans in Ostfriesland ein und plünderte vor allem den Flecken Leer und die Evenburg. Insgesamt wurde der von der Söldnertruppe angerichtete Schaden für Ostfriesland auf 358.557 Reichsthaler beziffert. Fast zwei Drittel dieser Summe, 226.096 Reichsthaler, entfielen auf die Evenburg und den Flecken Leer. Nach dem Ende des Krieges wurde Leer von Friedrich dem Großen gefördert und nahm einen erneuten wirtschaftlichen Aufschwung. Vor allem die Textilwirtschaft florierte. Im Jahre 1763 waren unter den etwas mehr als 4000 Einwohnern 194 Leinenweber elf Weberinnen, sieben Altflicker, elf Leinenreeder, 66 Weberknechte, 25 Schneider, vier Hutmacher, vier Knopfmacher, ein Blaufärber und ein Buntdrucker. Innerhalb der jüdischen Gemeinde werden 14 Schlachtjuden, je fünf Handelsjuden sowie Lombard- und Wechseljuden genannt.
Von größter Bedeutung war auch der Abbau des Emder Stapelzwangs, der in mehreren Schritten 1749, 1765, 1808 bis 1842 abgeschafft wurde. Damit waren dem Hafen seine Schranken genommen und es entwickelte sich ein reger Butterhandel mit England. Zwischen 1766 und 1770 liefen 430 Schiffe den Hafen an, darunter 76 Leeraner Schiffe. Der Seehandel Leers holte den Emder ein und übertraf ihn sogar 1792 bis 1798.
Im Zuge der Proto-Industrialisierung siedelten sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehrere Fabriken an, darunter eine kleine Seifenfabrik, eine Strumpffabrik, eine Leimsiederei, eine Hutfabrik, eine Ölmühle, eine Lederfabrik und weitere kleinere Betriebe. Die Leeraner Leinenweber hingegen, die im Verlagssystem arbeiteten, hatten am Ende des Jahrhunderts bereits mit den neuen moderneren Produktionsweisen zu kämpfen, nachdem die Dampfmaschine in der Textilproduktion rasche Verbreitung gefunden hatte. 1782 hatte Leer 4.405 Einwohner.
Die um 1189 errichtete alte reformierte Kirche St. Liudger wurde 1787 wegen Baufälligkeit abgebrochen. Lediglich die Krypta blieb bis in die heutige Zeit erhalten. Die neue Kirche wurde am 16. September 1787 geweiht.
Napoleon (1806 bis 1813)
Elf Tage nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt zogen am 25. Oktober 1806 niederländische Truppen auf Befehl ihres Königs Louis Bonaparte, eines Bruders Napoleons, in Leer ein. Die Soldaten wurden, wie immer, in Privathäusern einquartiert. Während der Besatzungszeit bis 1813 gehörte Leer zunächst dem Königreich Holland (bis 1810) und schließlich als Teil des Départements Ems-Oriental Frankreich an. Während der Kontinentalsperre durften die Händler nur genau vorgeschriebene Wege benutzen. Erstmals wurden in Ostfriesland im März und April 1811 Soldaten ausgehoben. Dabei kam es in der lutherischen Kirche von Leer am 2. April 1811 zu Tumulten durch die dort versammelten Seeleute, die jedoch unterdrückt wurden. Am 12. November 1813 verließen die Franzosen die Stadt, ihre Einwohner bejubelten den Einzug der russischen Kosaken. Bis zum Wiener Kongress wurde die Stadt preußisch.
Königreich Hannover (1815 bis 1866)
Nach dem Wiener Kongress 1815 fiel die Stadt an das Königreich Hannover. Preußen richtete im Oktober 1816 in Leer und in Emden Konsulate ein. Durch König Georg IV. erhielt der Ort 1823 die Stadtrechte verliehen. Dabei spielte die Leinenindustrie eine immer geringere Rolle, auch die Bedeutung der Branntweinbrennereien und der Brauereien ging drastisch zurück. 1824 hatte die Stadt 5.908 Einwohner.
Im Revolutionsjahr 1848 war Leer die erste ostfriesische Stadt, deren Einwohner eine politische Petition an den Hannoverschen König einreichten. Darin wurden Forderungen nach politischer Gleichberechtigung aller Staatsbürger, Reform des Wahlrechts, Aufhebung der Zensur, Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerichtsverfahren sowie eines deutschen Nationalparlaments gestellt. In der Folge gab es in der Stadt bis 1849 Bürgerversammlungen, Bürgerwehr und Volksbewaffnung. In Hannover wirkte Ostfriesland insgesamt unruhig. Nirgends ist es schlimmer als in Ostfriesland, wovon ich ständig Petitionen bekomme, so König Ernst August am 24. April. Drei Tage später ließ er verlauten: Leider ist die Stimmung in Ostfriesland beinah die aller schlechteste im ganzen Land, révolutionaire au possible.
In das Frankfurter Paulskirchenparlament wurde der liberale Amtsassessor Carl Groß entsandt. Er gehörte zunächst der Casino-, später der Landsbergfraktion an. Nach dem Niedergang der Revolution galten die Leeraner Bürger als ausgesprochen königstreu.
Leer entwickelte sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zum wichtigsten Ausfuhrhafen Ostfrieslands für landwirtschaftliche Produkte, während der Emder Hafen gleichzeitig verschlammte. Im Jahr 1856 erhielt die Stadt mit einem Bahnhof an der Hannoverschen Westbahn von Emden nach Rheine eine erste Eisenbahnverbindung. Neben dem Bahnhof wurde bis 1861 das tideunabhängige Georgsdock angelegt. So wurde Leer allmählich zum wichtigsten Verkehrsknotenpunkt in Ostfriesland.
Am 6. August 1861 verlieh Georg V., König von Hannover, der Stadt ihr erstes Stadtwappen. Ostfriesland, und damit auch Leer, fiel 1866 mit dem Ende des hannoverschen Königreichs wieder an Preußen zurück.
Im Deutschen Kaiserreich (1871 bis 1918)
Unter preußischer Herrschaft wurde der Ausbau der Infrastruktur fortgesetzt. Von 1867 bis 1869 wurde die Bahnverbindung nach Oldenburg gebaut, 1876 diejenige an die niederländische Grenze nach Neuschanz. Leer wurde damit zum Eisenbahn-Knotenpunkt Ostfrieslands mit Verbindungen in alle vier Himmelsrichtungen.
Der wirtschaftliche Aufstieg Leers zeigte sich besonders deutlich in der Amtsperiode des Bürgermeisters August Dieckmann, die von 1888 bis 1913 währte. Im Jahr 1900 wurde die Kleinbahn Leer–Aurich–Wittmund eröffnet, die bis 1956 für den Personenverkehr und bis 1967 für den Güterverkehr genutzt wurde. In dieser Zeit verfügte Leer über eine zusätzliche fünfte Eisenbahnanbindung in nordöstliche Richtung. Zwischen 1900 und 1903 ergriff Leer verschiedene Baumaßnahmen, um den Hafen tidenfrei schiffbar zu machen. Die Ledaschleife wurde von dem Fluss abgetrennt und mit einer Seeschleuse mit der Leda verbunden. Mit einer großen Feier weihte die Stadt den neuen Hafen am 19. September 1903 ein. Finanziert wurde der Ausbau des Hafens durch Anleihen: Im Gegensatz zu Emden, wo der preußische Staat den Hafen und damit auch die Finanzierung des Ausbaus übernommen hatte, musste Leer die Finanzierung selbst tragen. Investiert wurde zudem in den Deichbau an Ems und Leda, so dass Überflutungen des Stadtgebiets, wie es sie noch bei Sturmfluten 1877, 1883 und 1901 gegeben hatte, nach 1901 der Vergangenheit angehörten. 1901–1903 baute Leer die erste Kanalisation in Ostfriesland, 1910 wurde es mit Strom versorgt.
Die jüdische Gemeinde baute von 1883 bis 1885 erstmals eine Synagoge in Leer. Im Jahr 1887 begann die Planung für das Rathaus der Stadt, da mit rund 160.000 Mark aus dem Nachlass des Leeraner Bürgers Schelten ein erheblicher Teil der Baukosten (etwa 40 Prozent) gedeckt war. Nach fünf Jahren Bauzeit wurde das Rathaus am 29. Oktober 1894 eingeweiht, es entstand nach Entwürfen des Architekten Karl Henrici, der als Hochschullehrer an der Technischen Hochschule Aachen lehrte.
Politisch waren in Leer im ersten Jahrzehnt des Kaiserreichs die Nationalliberalen die tonangebende Partei, wie in weiten Teilen des Reichstagswahlkreises Emden/Norden/Leer. Ab den 1880er Jahren hingegen wurden sie von den linksliberalen Freisinnigen überflügelt. Bis 1912 erreichten die beiden liberalen Parteien zusammengenommen stets die absolute Mehrheit der Stimmen bei den Reichstagswahlen in Leer. Im Jahr 1891 gründete der Korbmacher Georg Bartels in Leer einen sozialdemokratischen Arbeiterverein. Leer war damit die erste ostfriesische Stadt, in der es einen sozialdemokratischen Arbeiterverein gab. Ein Ortsverein der SPD bildete sich 1905. In Leer hatten die ostfriesischen Sozialdemokraten bis 1912 auch ihre besten Ergebnisse erzielt, erst dann wurden sie von den Emder Genossen darin abgelöst. Gelegentlich kam es in Leer zu Streiks, so etwa 1906, als die rund 900 Mitarbeiter der Leeraner Eisengießereien in den Ausstand traten, um die Weiterbeschäftigung von Kollegen herbeizuführen, denen wegen Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft gekündigt worden war. Bürgermeister Dieckmann, obgleich selbst nationalliberal geprägt, schlichtete den Streik, der mit der Wiederbeschäftigung der Gewerkschafter endete.
Bis zur Jahrhundertwende wurden in Leer eine Reihe von Industriebetrieben oder industriell geprägten größeren Handwerksbetrieben gegründet. Neben den Eisengießereien waren es zudem Tabak- und Seifenfabriken, Spirituosenhersteller, Maschinen- und Papierfabriken sowie eine Ölmühle. Größter Betrieb im gesamten Kreis Leer war eine Strohpappenfabrik mit zirka 400 Beschäftigten. Die Zunahme der Einwohnerzahl korrespondierte mit dem wirtschaftlichen Aufstieg, zwischen 1880 und 1912 nahm sie um 29 Prozent zu (von 9900 auf 12.000).
Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs bejubelte die Leeraner Bevölkerung ebenso sehr wie die in anderen Städten Deutschlands. Mit zunehmender Kriegsdauer wich die Euphorie jedoch der Ernüchterung. Im Hafen führte der Krieg zu einem spürbaren Umschlagrückgang, und die Versorgungslage wurde selbst in einer Stadt wie Leer mit einem fruchtbaren Umland schwieriger. So mussten bereits 1916 in den Straßen der Stadt aus städtischen Mitteln finanzierte „Gulaschkanonen“ die Versorgung von Bedürftigen sicherstellen.
Weimarer Republik (1919 bis 1933)
Nach der militärischen Niederlage im Ersten Weltkrieg übernahmen auch in Leer Arbeiter- und Soldatenräte vorübergehend die Macht in der Stadt. Am 9. November 1918 erschien eine Abordnung von 20 Marinesoldaten aus Wilhelmshaven in der Stadt und forderte die in Leer stationierten Soldaten auf, gemeinsam mit Arbeitern einen Arbeiter- und Soldatenrat einzurichten. In diesem war unter anderem der Garnisonskommandant vertreten, was sich in der Folgezeit positiv auf die Akzeptanz des Rates und die Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung auswirkte. Gemeinsam mit einem liberal orientierten Bürgerverein und Vertretern von Kaufleuten sowie dem Studienassessor (und späteren niedersächsischen Kultusminister) Adolf Grimme gingen die Mitglieder des Arbeiter- und Soldatenrates vor allem das drängende Ernährungsproblem an. Der Arbeiter- und Soldatenrat sicherte die öffentliche Ordnung und stellte die Zwangsbewirtschaftung im Agrarsektor und Handel sicher. Dazu zählten die Einrichtung einer Lebensmittelkommission unter dem Kaufmann Engelke Eimers und die Eindämmung des Schwarzmarktes. Im Übrigen verlangte der Arbeiter- und Soldatenrat die Einbeziehung der bisher unterprivilegierten Schichten in das politische Leben der Stadt.
Bei den Kommunalwahlen am 2. März 1919 wurden 30 Bürgervorsteher als Stadtparlament bestimmt – erstmals nach allgemeinen und gleichen Wahlen. Einmütigkeit zeigte sich darin, dass sich Parteien, Bürgerverein und Gewerkschaften bereits vor der Wahl auf eine gemeinsame Kandidatenliste geeinigt hatten, deren Grundlage die Leeraner Ergebnisse bei der Wahl zur Nationalversammlung im Januar war. So erhielt die SPD elf von 30 Sitzen. Im damaligen Magistrat, der in etwa dem heutigen Verwaltungsausschuss einer Kommune entspricht, war damit erstmals auch ein Sozialdemokrat vertreten. Der Arbeiter- und Soldatenrat löste sich in der Folgezeit auf.
Im November 1920 trat der aus Solingen stammende Erich vom Bruch sein Amt als Bürgermeister an. Er behielt es während der folgenden knapp 13 Jahre. Vom Bruch sicherte sich in den folgenden Jahren nicht nur den Rückhalt der bürgerlichen Parteien, sondern auch den der Sozialdemokraten. Der Einbruch der Wirtschaft während der Inflation bis 1923 wirkte in einer peripher gelegenen Stadt wie Leer noch lange nach, als sich in den Wirtschaftszentren Deutschlands bereits eine Erholung ankündigte. Mit der breiten Mehrheit der Bürgervorsteher wurde daher ab Mitte der 1920er Jahre städtische Wirtschaftspolitik betrieben. Auf der Halbinsel Nesse im Hafen entstand ein großer Viehmarkt. Außerdem wurden ein Wasserturm, eine neue Hafenumschlagstelle und die Rathausbrücke gebaut, die die Altstadt mit den Betrieben auf der Nesse-Halbinsel verband. Im Jahr 1926 siedelte sich auf der Nesse-Halbinsel ein Milchwerk der deutschen Libby an. Die Stadt verschuldete sich jedoch für diese Investitionen – ein Umstand, den die Nationalsozialisten später vom Bruch ankreideten.
Von der Weltwirtschaftskrise ab 1929 blieb auch Leer nicht verschont. Die Arbeitslosenquote stieg rasch. Im Arbeitsamtsbezirk Leer (Kreise Leer, Weener, Aschendorf und Hümmling) wurden am 1. Oktober 1928 lediglich 692 Arbeitssuchende registriert. Im Dezember 1929 waren es 2857, ein Jahr darauf 4643 und im Dezember 1932 schließlich mehr als 8200. In der Stadt, die 1930 etwa 13.000 Einwohner hatte, waren im September 1932 bereits knapp 2000 Menschen auf die Krisenunterstützung des Arbeitsamts und das Wohlfahrtsgeld der Stadt angewiesen.
Die Zustimmung zu den Parteien der Weimarer Koalition schwand in dem Maße, in dem die rechtsgerichtete DNVP und die Nationalsozialisten Zulauf gewannen. Noch am wenigsten lässt sich dies von der SPD sagen, die bei den Reichstagswahlen 1933 immerhin noch 28,3 Prozent der Stimmen erhielt. Die katholische Zentrumspartei spielte im evangelisch geprägten Leer ohnehin nur eine untergeordnete Rolle. Während sie 1919 7 Prozent der Stimmen erhielt, waren es 1933 noch 5,2 Prozent. Besonders deutlich hingegen verloren die liberalen Parteien, die in den 1920er Jahren noch die städtische Politik wesentlich mitbestimmt hatten. Im Jahr 1919 hatten sie zusammen noch die absolute Mehrheit der Stimmen in den Leeraner Wahllokalen für die Reichstagswahl geholt, bei den Märzwahlen 1933 waren es nur noch 4 Prozent. Die Nationalsozialisten waren erstmals bei der Reichstagswahl 1932 stärkste Partei und errangen im März 1933 rund 43 Prozent der Stimmen, was dem Wähleranteil im Reichsdurchschnitt entsprach. Im Leeraner Stadtparlament hingegen waren sie bis 1933 nicht vertreten.
Nationalsozialismus (1933 bis 1945)
Bei der Kommunalwahl am 12. März 1933 erhielt die NSDAP 50 Prozent der Stimmen. Da die Gewählten der KPD nach dem Verbot ihrer Partei ihre Sitze nicht mehr einnehmen konnten, ergab sich bereits rechnerisch eine absolute Mehrheit für die NSDAP. Verstärkt wurde diese durch die Abgeordneten der DNVP, die mit der NSDAP stimmten. Einzig verbliebene Oppositionspartei war die SPD, die acht Vertreter stellte. Die NSDAP/DNVP-Mehrheit nahm den Sozialdemokraten in der konstituierenden Sitzung das Rederecht, woraufhin die SPD-Abgeordneten die Versammlung verließen. Am 22. Juni wurde die SPD verboten. Der Bürgervorsteher und ehemalige Reichstagsabgeordnete Hermann Tempel floh in die Niederlande.
NSDAP-Politiker nahmen die Verschuldung der Stadt seit 1925 zum Anlass, gegen die vermeintliche Korruption und Misswirtschaft der früheren Stadtspitze zu wettern und Bürgermeister vom Bruch und weitere Verwaltungsbeamte in Schutzhaft zu nehmen. Er kam zwar nach einem Tag wieder frei, ihm wurde aber das Gehalt gesperrt. Das Landgericht Aurich entschied 1934 ein von der Staatsanwaltschaft initiiertes Verfahren wegen vermeintlicher Untreue zugunsten des Bürgermeisters. Das erlebte vom Bruch nicht mehr; er erschoss sich am 7. Mai in seiner Dienstwohnung im Rathaus. Sein Nachfolger wurde der NSDAP-Kreisleiter Erich Drescher. Um dies zu ermöglichen, musste das noch aus hannoverscher Zeit stammende Stadtstatut geändert werden, wonach der Bürgermeister „der Rechte kundig sein muss“.
Die Juden in Leer hatten unter Repressionen staatlicher Organe zu leiden. Bereits am 13. März 1933 wurden in einer öffentlichen Aktion die Schächtmesser der Juden verbrannt. Am 1. April 1933 begann der Boykott jüdischer Geschäfte. Die ersten Juden verließen Leer 1933 und 1934. Bei den Novemberpogromen 1938 wurde die Synagoge in Leer zerstört. 43 jüdische Männer aus Leer wurden daraufhin am 11. November ins KZ Sachsenhausen deportiert. Einige kamen erst 1939 wieder nach Leer. 1938/1939 verstärkte sich aufgrund der repressiven Politik die Auswanderung der jüdischen Leeraner. Ab März 1940 galt Leer als "judenfrei". Etwa 90 Prozent der jüdischen Leeraner (1925: 289 Personen) wurden im Holocaust ermordet; etwa 20 bis 30 von ihnen überlebten.
Innerhalb der Aktion Arbeitsscheu Reich wurden auch im Landkreis Leer insgesamt 19 Opfer in verschiedene KZs (vor allem ins KZ Buchenwald) deportiert. Dabei wurde auch gegen die Regelung Menschen deportiert, die einen festen Wohnsitz und eine feste Arbeitsstelle hatten. Wolfgang Kellner resümiert: "Die Behörden in Leer nutzten ihren Handlungsspielraum zu Lasten der aus ihrer Sicht auffälligen Personen voll aus, indem sie entgegen den Richtlinien auch geringfügig Vorbestrafte, beschäftigte Arbeitnehmer und ausnahmslos Bürger mit festem Wohnsitz für die "Juni-Aktion" meldeten."
In den ersten fünf Kriegsjahren wurde Leer kaum behelligt. Vereinzelte Bombenabwürfe richteten nur an wenigen Häusern Schäden an. Am Ende des Krieges jedoch wurde die Stadt verbissen verteidigt und entsprechend in Mitleidenschaft gezogen. So ließ der Stadtkommandant am 24. April 1945 die Brücken über Ems und Leda sprengen, woraufhin die am westlichen Ufer der Ems stehenden Kanadier mit Artillerie- und Fliegerangriffen antworteten. Die überlegenen alliierten Kräfte eroberten Leer am 28./29. April. Beim vorherigen Beschuss wurden 210 Häuser zerstört und 400 Zivilisten starben.
Der am Ende des Krieges von seiner Einheit getrennte Gefreite Willi Herold gab sich als Hauptmann aus und ließ am 25. April 1945 in Leer fünf niederländische Gefangene „wegen Spionage“ erschießen. Seit April 2014 erinnert eine Gedenktafel an die Tat.
Nachkriegsentwicklung
In den ersten Nachkriegsjahren wurden Stadt und Landkreis Leer von einem britischen Militärkommandanten regiert. Das politische Leben in Leer erwachte ab 1946 wieder: Im März erfolgte die Gründung der SPD, der im April CDU, KPD und FDP folgten. Bei den ersten freien Kommunalwahlen am 15. September 1946 erhielt die SPD die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Diese konnte sie zwei Jahre lang halten, ab 1948 kamen bürgerliche Parteien 16 Jahre lang zusammen auf die absolute Mehrheit.
Die Stadt nahm bald nach Kriegsende eine große Zahl von Vertriebenen und Flüchtlingen auf. Betrug die Einwohnerzahl bei Kriegsende 1945 noch rund 14.200, so lag sie fünf Jahre später bereits bei deutlich mehr als 20.000. Davon waren 5.578 Vertriebene, was einem Anteil von 27,1 Prozent entspricht. Massive Investitionen in den Wohnungsbau wurden nötig, wobei neben Wohnungsbaugenossenschaften auch die Stadt selbst Häuser errichten ließ. Auch Schulneubauten wurden erforderlich und umgesetzt.
In der Nachkriegszeit war der Landkreis Leer unter den drei ostfriesischen Landkreisen am stärksten mit Ostflüchtlingen belegt, weil er – anders als die Landkreise Aurich und Wittmund – nicht als Internierungsgebiet für kriegsgefangene deutsche Soldaten diente. Allerdings nahm der Landkreis Leer in der Folgezeit unter allen niedersächsischen Kreisen die meisten Personen auf, die schon in den Ostgebieten arbeits- oder berufslos waren. Auch der Anteil der über 65-Jährigen war höher als im Durchschnitt Niedersachsens. Hingegen verzeichnete der Landkreis Leer unter allen niedersächsischen Landkreisen den geringsten Anteil an männlichen Ostflüchtlingen im Alter von 20 bis 45 Jahren.
Der Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen und der Rückstrom der heimkehrenden Soldaten stellte die Stadt vor wirtschaftliche Probleme. Die Zahl der Arbeitsplätze reichte bei weitem nicht aus. Seit den späten 1940er-Jahren verfolgte die Stadt daher eine Ansiedlungspolitik für Firmen von außerhalb, die 1950 mit der Ansiedlung der Schiffswerft Martin Jansen einen ersten Erfolg zeitigte. Im Jahr 1957 wurde ein Zweigwerk des Büromaschinenherstellers Olympia errichtet, das sich zum größten Arbeitgeber Leers mit zeitweilig 2700, zuletzt zirka 1300 Beschäftigten entwickelte. Die Zahl der Industriebetriebe nahm zwischen 1948 und 1960 von 20 auf 36 zu, die Zahl der Großhandelsbetriebe von 80 auf 119.
1950 verlieh der niedersächsische Minister des Innern der Stadt Leer das Recht, ein neues Wappen zu führen. Das neue Stadtwappen basierte auf einem Siegelabdruck von 1639. Am 1. Oktober 1955 wurde Leer der Status einer selbstständigen Stadt verliehen. Im Jahr 1968 wurden Heisfelde und Loga Leeraner Stadtteile, Leerort wurde 1971 eingemeindet. Bingum, Hohegaste, Logabirum, Nettelburg und Nüttermoor folgten schließlich 1972, die Einwohnerzahl überschritt daraufhin erstmals in der Stadtgeschichte die 30.000er-Marke.
Politisch hatte die SPD seit 1964 die Oberhand im Rathaus. Sie stellte in den folgenden fast vier Jahrzehnten die Mehrheit im Stadtrat und auch den Bürgermeister. Der aus Niederschlesien stammende Horst Milde wurde 1968 zum Bürgermeister gewählt. Ihm folgte 1973 Günther Boekhoff, der dieses Amt bis 2001 innehatte und damit von allen Nachkriegsbürgermeistern mit Abstand am längsten.
Ab 1971 wurde die Leeraner Altstadt mit eigenen sowie Bundes- und Landesmitteln nach dem Städtebauförderungsgesetz erheblich saniert. War zunächst noch eine Flächensanierung ähnlich wie in Teilen der Norder Altstadt vorgesehen, so gelang es engagierten Bürgern, die Politiker zu einem Umdenken zu bewegen und auf Objekt- und Ensemblesanierung zu setzen. Zwischen 1971 und 1990 flossen etwa 60 Millionen D-Mark öffentliche Mittel (je ein Drittel Stadt, Land und Bund) und rund 70 Millionen D-Mark an privaten Investitionen in die Innenstadt. Dies hatte positive Auswirkungen auf den Tourismus und stärkte Leer als die bedeutendste Einkaufsstadt Ostfrieslands (s. Wirtschaft). 2001 wurden Teile der Oststadt Leer auf beiden Seiten der Bahnlinie in das Programm Soziale Stadt aufgenommen und werden seitdem städtebaulich saniert.
Die Schließung des Olympia-Werks trieb 1984 und 1985 die Arbeitslosigkeit in Leer auf Höhen um 23 Prozent. Die Insolvenz der Jansen-Werft 1987 kam hinzu.
Die Gründung der ersten Reedereien in den 1980er-Jahren erwies sich als Grundlage für einen heute erfolgreichen Wirtschaftszweig in der Stadt. In den folgenden Jahren kamen weitere Reedereien hinzu.
Eingemeindungen
Die Gemeinden Heisfelde und Loga wurden im Jahr 1968 eingegliedert. Am 1. Februar 1971 kam Leerort hinzu. Am 1. Januar 1973 folgten Bingum, Hohegaste, Logabirum, Nettelburg und Nüttermoor.
Einwohnerentwicklung
Relativ verlässliche Einwohnerzahlen für Ostfriesland liegen seit Beginn der ersten preußischen Herrschaft (1744) vor. Spätestens seit dieser Zeit war Leer der zweitgrößte Ort (seit 1823 die zweitgrößte Stadt) Ostfrieslands nach Emden. Durch umfangreiche Eingemeindungen 1972 wuchs Aurich allerdings beträchtlich und nimmt mittlerweile diesen Rang ein. Leer ist jetzt die drittgrößte Stadt der Region.
Leer wuchs während der industriellen Revolution deutlich, im Jahrhundert zwischen 1810 und 1910 nahm die Einwohnerzahl um mehr als 100 Prozent zu. Die im Zweiten Weltkrieg weitgehend unversehrt gebliebene Stadt nahm eine größere Zahl Heimatvertriebener auf, wodurch sich ein weiterer Schub in der Einwohnerzahl ergab. Eine weitere Zunahme der Einwohnerzahl bedeutete in den Jahren 1968 bis 1972 die Eingemeindung umliegender Kommunen. Seitdem liegt die Einwohnerzahl konstant über 30.000. Laut einer im Wegweiser Demographischer Wandel veröffentlichten Prognose der Bertelsmann Stiftung wird dies auch in den kommenden Jahren so bleiben. Die Autoren erwarten für die Jahre bis 2020 einen leichten Anstieg der Einwohnerzahl um 0,9 % auf dann 34.160 Einwohner.
Durch die demographische Entwicklung verschiebt sich allerdings die Verteilung der Bevölkerung auf einzelne Altersgruppen. Aufgrund der steigenden Lebenserwartung nimmt der Anteil Älterer zu. Zugleich führen die niedrigen Geburtenzahlen zu einem Rückgang bei den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Erwartet wird, dass dadurch das Medianalter von 41,6 Jahren (2006) auf 46,5 Jahre (2020) steigt.
Entwicklung des Ortsnamens
Leer ist einer der ersten namentlich bekannten Orte in Ostfriesland. Erstmals wurde die Stadt in einer wohl aus dem 9. Jahrhundert stammenden Lebensbeschreibung des heiligen Liudger genannt. Im 10. Jahrhundert tauchte der Name der Stadt in den Urbaren des Klosters Werden als hleri auf. Dies wird als Weideplatz gedeutet. Spätere Schreibweisen des Ortsnamens sind Lüer, Ler, Lheer und Lier.
Religionen
Leer ist seit dem 16. Jahrhundert protestantisch ausgerichtet, und so gibt es im Stadtgebiet vor allem lutherische und reformierte Kirchengemeinden. Die Evangelisch-reformierte Kirche Deutschlands hat ihren Hauptsitz in Leer. In Leer gibt es darüber hinaus Gemeinden der Katholiken, der Pfingstbewegung, Baptisten, Mennoniten, Methodisten, Adventisten, der Neuapostolischen Kirche, der Russisch-Orthodoxen Kirche, der Zeugen Jehovas und der Mormonen.
Auf dem Gebiet der heutigen Stadt Leer wurde der wohl früheste Kirchenbau Ostfrieslands errichtet. Dieser wurde vermutlich um 800 durch den Missionar Liudger initiiert. Um 1200 wurde diese durch eine Steinkirche ersetzt, die vor 1270 ein Dekanat besaß und zur Propsteikirche erhoben wurde. Diese hatte eine führende Rolle im Moormerland.
Um 1525 hielt die Reformation in reformierter Prägung Einzug in Leer. In der Folge gab es lange Zeit keine Katholiken und die Lutheraner wurden immer stärker verdrängt. Als die Lutheraner nach dem Dreißigjährigen Krieg stark zunahmen, entstand ein langer Rechtsstreit mit den Reformierten. Er entzündete sich an der Zulassung der Lutheraner und ihrem Kirchenbau (1675), wurde bei jedem Erweiterungsumbau der Kirche neu entfacht und endete 1766 vorläufig mit einer Abfindungssumme von 1000 Gulden an die Reformierten.
Evangelisch-reformierte Kirche
Die reformierte Gemeinde war die erste evangelische in Leer. Sie wurde um 1525 durch Lübbert Cantz (Cansen) gegründet, der hier das reformierte Bekenntnis und die dazugehörige Liturgie, Gemeindeordnung und Unterweisung einführte. Jahrhundertelang hatte die Gemeinde im Ort einen starken politischen und wirtschaftlichen Einfluss. Ihr oblag das Wiegerecht, das ihr große Einnahmen sicherte, mit denen sie Aufgaben der Daseinsvorsorge finanzierte und eine Latein- und Elementarschule sowie ein Armen- und ein Waisenhaus unterhielt. Bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde niederländisch gepredigt. In dieser Sprache wurden auch die Kirchenbücher und das Archiv geführt. Nachdem die ehemalige Propsteikirche St. Ludgeri wegen Baufälligkeit abgerissen worden war, wurde 1787 an zentraler Stelle des Ortes ein Neubau errichtet. Für alle reformierten Gemeinden der Provinz Hannover wurde 1882 eine gemeinsame Synodalordnung erlassen und durch Verfügung des Königs von Preußen in Aurich eine Kirchenbehörde mit kollegialer Verfassung, das Konsistorium, gebildet. Dieses wurde 1954 nach Leer verlegt, wo seither das Landeskirchenamt der Evangelisch-reformierten Kirche und das Bezirksrentamt beheimatet sind. Heute gibt es reformierte Kirchengemeinden in Nüttermoor, Loga und in der Kernstadt mit den Gemeindebezirken Große Kirche und Heisfelde.
Evangelisch-lutherische Kirche
Die Lutheraner besuchten nach der Reformation bis 1639 die benachbarten lutherischen Gemeinden, vor allem in Esklum. Danach wurden sie seelsorgerisch von der fünf Kilometer östlich gelegenen Gemeinde Logabirum betreut. Bis 1675 stieg die Zahl der Lutheraner in Leer auf etwa ein Viertel der Einwohnerschaft, die damals bei 3000–4000 Personen lag. Am 20. Dezember 1673 traten die Lutheraner Leers an Fürstin Christine Charlotte heran und baten um die Erlaubnis, ein eigenes Gotteshaus im Ort errichten zu dürfen. Die Fürstin gewährte den Lutheranern freie Religionsausübung und schenkte der Gemeinde zur Errichtung der Kirche, die am 2. Juni 1675 begann und im selben Jahr abgeschlossen wurde, Baumaterial vom ehemaligen Kloster Thedinga. Gegenwärtig bestehen sieben lutherische Kirchengemeinden: die Lutherkirchengemeinde und die Christuskirchengemeinde Leer, die Paulusgemeinde Heisfelde, die Petruskirchengemeinde und die Friedenskirchengemeinde Loga, die Matthäikirchengemeinde Bingum und die Kirchengemeinde Logabirum. Die lutherische Kirche unterhält in Leer das Kirchenkreisamt für den Landkreis.
Römisch-katholische Kirche
Mit den kaiserlichen Truppen kam 1676 der erste katholische Priester nach der Reformation als Feldpater in den Ort und bildete den Ausgangspunkt der Gemeinde, die dem Bistum Osnabrück zugeschlagen wurde. Sie baute 1728 zunächst eine kleine Kapelle und 1775 die Kirche St. Michael. Einen starken Wachstumsschub erlebte die Gemeinde nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Zuzug vieler Heimatvertriebener aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches. Für sie wurde 1955 eine zweite katholische Gemeinde gegründet, die mit der Marienkirche im selben Jahr ihr eigenes Gotteshaus erhielt. Seit den 1990er-Jahren schrumpfte die Zahl der Gemeindemitglieder stark. Im Jahr 2002 ging deshalb die St.-Michael-Gemeinde mit der katholischen Gemeinde Oldersum und mit der St.-Josefs-Gemeinde in Weener einen Gemeindeverbund ein, dem auch die St.-Marien-Gemeinde beitreten soll. Zur Förderung der weiteren Zusammenarbeit in der künftigen Pfarreiengemeinschaft entstand 2009 eine Steuerungsgruppe, in die jede der vier Gemeinden zwei Vertreter entsendet.
Russisch-orthodoxe Kirche
An der Ringstraße befindet sich die einzige Russisch-orthodoxe Kirche Ostfrieslands. Die Gottesdienste werden nach eigenen Angaben von etwa dreißig Gemeindegliedern regelmäßig besucht. Etwa hundert besuchen sie sporadisch. Das Einzugsgebiet der Gemeinde erstreckt sich über ganz Ostfriesland bis nach Vechta und Wilhelmshaven. Die ersten orthodoxen Gottesdienste wurden 2006 abgehalten. Die Gemeinde durfte dafür zunächst die Lutherkirche mitnutzen, später dann die katholische Kirche. 2008 erwarb ein Gemeindemitglied schließlich eine ehemalige Ballettschule. Diese wurde zu einem Gotteshaus umgebaut und an die Gemeinde vermietet. Die nächstgelegenen Gemeinden befinden sich in Groningen und Bremen.
Evangelische Freikirchen
Mennoniten lassen sich erstmals 1534 nachweisen. Die rasch anwachsende Gemeinde spaltete sich in zwei Richtungen, die im 18. Jahrhundert jeweils eine eigene Kirche unterhielten. 1825 errichteten die Mennoniten einen gemeinsamen Kirchenbau. Zu den bekannten Mitgliedern der Leeraner Mennonitengemeinde gehörte unter anderem die Schriftstellerin Wilhelmine Siefkes. Aufgrund der nationalsozialistischen Tendenzen der lutherischen Pastoren Leers war sie 1933 aus der Evangelisch-lutherischen Kirche ausgetreten und hatte sich wenig später der Leeraner Mennonitengemeinde angeschlossen. Heute bildet die Mennonitengemeinde Leer mit den Gemeinden in Gronau, Emden und Norden einen Pastoralverband.
Die Anfänge der Baptisten in Leer gehen auf Johann Gerhard Oncken, den Begründer der deutschen und kontinentaleuropäischen Baptisten, zurück. Am 11. Oktober 1845 ließen sich der Kaufmann Christian Bonk und der Weber Hinderk Coords von Oncken in einem Kolk bei Leer taufen. Dies wurde zum Stadtgespräch und rief den Widerstand sowohl der reformierten als auch der lutherischen Geistlichkeit hervor. Dessen ungeachtet begannen Bonk und Weber eine umfangreiche Missionsarbeit im Leeraner Umland, die 1846 zur Gründung der Baptistengemeinde Ihren führte und 1849 zur Gründung einer Leeraner Zweiggemeinde, die anfänglich aus zehn Mitgliedern bestand. Die geheimen gottesdienstlichen Versammlungen fanden zunächst in verschiedenen Privatwohnungen statt. Weitere Umzüge folgten, bis die Gemeinde am 13. April (Karfreitag) 1900 ihr erstes Gotteshaus an der Ubbo-Emmius-Straße einweihen konnte. An diesem Tag löste sich die Zweiggemeinde Leer von ihrer Muttergemeinde in Ihren und wurde als selbstständige Gemeinde im Bund der deutschen Baptistengemeinden aufgenommen. Einen Wachstumsschub erlebten die ostfriesischen Baptisten nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Zuzug von Flüchtlingen aus den Ostgebieten. 1983 erbaute die Gemeinde nach Abbruch des alten Gotteshauses auf dem angestammten Grundstück eine neue Kirche.
Die Anfänge der Methodisten in Leer liegen im Jahr 1891, als erstmals Bibelstunden abgehalten wurden. Vier Jahre später baute die Gemeinde ein Kirchengebäude an der Friesenstraße.
In Leer ist eine von zwei Gemeinden der ostfriesischen Adventisten beheimatet. Zusammen mit den Adventgemeinden in Norden und der emsländischen Adventgemeinde Papenburg bildet sie einen Bezirk.
Der Pfingstbewegung gehört die Freie Christengemeinde Leer e. V. (Moorweg) an. Sie betreibt seit den 1960er Jahren ein eigenes Sozialwerk mit zwei Kindergärten, einer Kinderkrippe sowie zwei Einrichtungen für Senioren. Charismatisch geprägt sind die Gemeinde am Mühlenweg und das eng mit dieser Gemeinde verbundene Missionswerk Christus für dich (Meierstraße, Leer-Loga). Die Gemeinde am Mühlenweg ist eine freie Gemeinde, die in den 1970er Jahren aus einer sozialdiakonischen Arbeit für Menschen in Krisensituationen entstanden und bis heute stetig gewachsen ist.
Weitere christliche Glaubensgemeinschaften
Seit 1929 gab es Bemühungen, in der Stadt eine Neuapostolische Gemeinde zu gründen, was 1933 umgesetzt werden konnte. Seit 1957 verfügt die Gemeinde über ein eigenes Gotteshaus in der Jahnstraße. Die Leeraner Gemeinde hatte Ende der 1980er Jahre etwa 260 Mitglieder.
Die Mormonen haben in Ostfriesland etwa 150 Mitglieder. Ungefähr 70 Gemeindemitglieder wohnen in Leer und Umgebung. Das Gemeindezentrum befindet sich an der Heisfelder Straße.
Weitere in Leer tätige christliche Religionsgemeinschaften sind die Katholisch-apostolische Gemeinde in der Annenstraße und die Zeugen Jehovas, deren Königreichssaal am Logaer Weg in Heisfelde steht.
Islam
Seit dem Zuzug von sogenannten Gastarbeitern und Flüchtlingen, vor allem im Zusammenhang mit dem Jugoslawien-Konflikt, gibt es Muslime in der Stadt, die jedoch nicht über ein eigenes Gotteshaus verfügen. Ihre Gottesdienste werden derzeit in privaten Gebetsräumen abgehalten. Die nächstgelegene Moschee befindet sich seit Oktober 2009 in Emden.
Judentum
Die jüdische Gemeinde bestand über einen Zeitraum von rund 300 Jahren von ihren Anfängen im 17. Jahrhundert bis zu ihrem Ende am 23. Oktober 1941. Die Stadt war vor 1933 ein Zentrum des deutschen Viehhandels und infolgedessen für die darin tätigen ostfriesischen Juden ein zentraler Ort, weshalb sich die Gemeinde bis 1925 mit 289 Mitgliedern zur drittgrößten in Ostfriesland entwickelte. Nach 1933 begann die Ausgrenzung und Verfolgung der Juden, die hier dennoch aufgrund ihrer Bedeutung für den Viehhandel erst ab Mitte der 1930er Jahre völlig aus dem Wirtschaftsleben entfernt wurden. Die 1883 bis 1885 erbaute Synagoge wurde in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 zerstört. Mindestens 236 Juden aus Leer sind während des Holocaust ermordet worden, drei starben durch Suizid und bei 61 ist das Schicksal ungeklärt. Die wenigen Überlebenden leben über die ganze Welt verstreut.
An die jüdischen Einwohner der Stadt wird heute mit einer Gedenktafel auf dem jüdischen Friedhof sowie in der Ehemaligen Jüdischen Schule Leer erinnert.
Eine Gedenkstätte für die zerstörte Synagoge an der Heisfelder Straße befindet sich seit 2002 direkt gegenüber dem einstigen Standort des Gotteshauses. Die Stätte wurde vollständig durch Spenden von Leeraner Bürgern finanziert. An der Stelle der alten Synagoge ist lediglich eine Gedenktafel angebracht, da auf dem Grundstück seit den 1960er Jahren eine Autowerkstatt stand. So konnte den Gerüchten über eventuell noch unversehrte Kellergewölbe der Synagoge lange nicht nachgegangen werden. Im September 2019 legte der neue Eigentümer der Fläche Pläne zur Bebauung der brachliegenden Flächen vor. Im Neubau soll laut Aussage der Planer ein Anbau mit einem Raum der Stille auf die Synagoge hinweisen. Der Archäologische Dienst der Ostfriesischen Landschaft führte im Vorfeld der Neubebauung eine archäologische Untersuchung durch. Im Zuge der Untersuchungen ließ sie im Juni 2020 zwei Baggerschnitte auf dem Gelände durchführen. Im ersten Schnitt entdeckten die Archäologen in zwei Metern Tiefe das Fundament der nördlichen Außenwand der Synagoge, deren genaue Lage auf dem Grundstück damit geklärt ist. Auf dem Fundamentboden fanden sich die Brandschicht des Feuers aus dem November 1938 sowie eine etwa 50 cm mächtige Lage aus Bau- und Brandschutt der Synagoge. Der Zweite Schnitt öffnete den Eingang in das Untergeschoss der ehemaligen Rabbinerwohnung. Dort führen drei Stufen hinab auf einen rötlichen Zementestrich. In diesem Bereich ist nach den Bauplänen der Eingangsbereich in den Heizungskeller und möglicherweise auch in das Tauchbad zu finden. Um die letzten Reste der Synagoge vor ihrer endgültigen Zerstörung zu dokumentieren, sollen in Abstimmung mit der Stadt Leer sowie der Bauherrengesellschaft weitere archäologische Untersuchungen stattfinden. Anschließend wird das Gelände neu bebaut.
Politik
Stadtrat
Der Rat von Leer besteht aus 38 Ratsfrauen und Ratsherren. Dies ist die festgelegte Anzahl für eine Gemeinde mit einer Einwohnerzahl zwischen 30.001 und 40.000 Einwohnern. Die 38 Ratsmitglieder werden durch eine Kommunalwahl für jeweils fünf Jahre gewählt. Die aktuelle Amtszeit begann am 1. November 2021 und endet am 31. Oktober 2026.
Stimmberechtigt im Stadtrat ist außerdem der hauptamtliche Bürgermeister Claus-Peter Horst.
Neben den Parteien SPD, CDU, FDP, Grüne und Linke sind auch die drei Wählergemeinschaften AWG, CDL und BfL im Rat vertreten. Von 1964 bis 2006 stellte die SPD-Fraktion ununterbrochen die Mehrheit im Rat der Stadt. In der aktuellen Wahlperiode (bis 2021) stellt sie die stärkste Fraktion, hat aber ihre Mehrheit im Rat verloren.
Die letzte Kommunalwahl vom 12. September 2021 ergab das folgende Ergebnis:
Die Wahlbeteiligung bei der Kommunalwahl 2021 lag mit 56,8 % nur leicht unter dem niedersächsischen Durchschnitt von 57,1 %.57,1 Prozent. Zum Vergleich – bei der vorherigen Kommunalwahl vom 11. September 2016 lag die Wahlbeteiligung bei 56,1 %.
Bürgermeister
Seit 1997 gibt es in Leer ein direkt gewähltes Stadtoberhaupt. In jenem Jahr wurde in Leer die Eingleisigkeit eingeführt und der Posten des Stadtdirektors als Chef der Verwaltung abgeschafft. Bei der letzten Bürgermeisterwahl am 15. Juni 2014 setzte sich Beatrix Kuhl von der CDU in einer Stichwahl mit 54,7 Prozent gegen den bisherigen Amtsinhaber, den parteilosen Wolfgang Kellner, durch. Sie trat ihr Amt zum 1. November 2014 an. Kuhl unterlag 2021 mit 26,87 % dem parteilosen Einzelbewerber Claus-Peter Horst, der 53,64 % der Stimmen auf sich vereinte und von den der SPD, den Grünen und der Leeraner Wählergemeinschaft unterstützt wurde. Der Einzelbewerber Jörg Penning erzielte 12,50 % und Sven Dirksen von der FDP 6,99 %.
Vertreter im Land- und Bundestag
Leer gehört zum Wahlkreis Leer. Er umfasst die Stadt Leer, die Gemeinden Ostrhauderfehn, Rhauderfehn, Uplengen und die Samtgemeinden Hesel und Jümme. Bei der letzten Landtagswahl in Niedersachsen vom 9. Oktober 2022 gewann Ulf Thiele (CDU) das Direktmandat mit 35,7 % der Stimmen. Er ist damit zum fünften Mal in Folge direkt gewählt worden.
Die Stadt gehört zum Bundestagswahlkreis Unterems (Wahlkreis 25), der aus dem Landkreis Leer und dem nördlichen Teil des Landkreises Emsland besteht. Der Wahlkreis wurde zur Bundestagswahl 1980 neu zugeschnitten und ist seitdem unverändert. Bislang setzten sich in diesem Wahlkreis ausschließlich CDU-Kandidaten durch. Während in fast allen Kommunen des Landkreises Leer die SPD vor der CDU lag, führte letztere in den Kommunen des nördlichen Emslandes sehr deutlich – viel deutlicher, als die SPD im Leeraner Raum vor der CDU lag. Bei der Bundestagswahl 2021 wurde die CDU-Abgeordneten Gitta Connemann aus Leer direkt wiedergewählt. Über Listenplätze der Parteien zogen Anja Troff-Schaffarzyk (SPD) und Julian Pahlke (Grüne) aus dem Wahlkreis in den Bundestag ein.
Wappen
Flagge
Städtepartnerschaften und Patenschaften
Leer unterhält Partnerschaften mit der britischen Stadt Trowbridge und der polnischen Stadt Elbląg (Elbing).Die Kontakte nach Trowbridge bestehen bereits seit den 1960er Jahren und gehen auf eine Initiative des Leeraner Akkordeonorchesters zurück. Die Partnerschaftsurkunde wurde 1989 unterzeichnet. Neben Schulen haben auch verschiedene Vereine enge Kontakte, besonders der Leeraner Schwimmverein Poseidon mit dem Amateur Swimming-Club Trowbridge.Mit Elbląg wurde 1992 eine Freundschafts- und 2001 eine Partnerschaftsurkunde unterzeichnet. Kontakte bestehen zwischen Schülern und Studenten sowie Tanzsportlern. Gegenseitige Messebesuche sind die Regel. Da Trowbridge und Elbing ebenfalls eine Partnerschaft eingegangen sind, ergibt sich eine Dreieck-Partnerschaft.
Leer hat zudem über das Schulhilfswerk Arabras eine Patenschaft über die Schule Stadt Leer in Araquacema (Brasilien) übernommen.
Kultur und Sehenswürdigkeiten
Museen und Theater
In Leer gibt es das Heimatmuseum, das Teemuseum der Bünting-Gruppe, das Haus Samson (ein Museum zur Wohnkultur im 18./19. Jahrhundert) sowie den Museumshafen mit historischen Schiffen. Das Schiff Prinz Heinrich aus dem Jahr 1909 wurde bis 2017 restauriert. Nach Abschluss der Arbeiten werden wieder Fahrten mit dem Schiff unternommen. Das Kunsthaus Leer versteht sich selbst als Archiv für Kunst aus Ostfriesland. Es wurde am 10. März 2012 eröffnet und zeigt drei bis vier Ausstellungen pro Jahr, die Themen der ostfriesischen Gegenwartskunst der letzten einhundert Jahre aufgreifen und sich meist mit dem Schaffen einzelner Künstler befassen. Die ehemalige jüdische Schule wird ebenfalls für Ausstellungen sowie kulturelle Veranstaltungen genutzt.
Leer ist Spielort der Landesbühne Niedersachsen Nord mit Sitz in Wilhelmshaven. Mehrere Laientheater und Heimatbühnen sind in der Stadt ansässig. Die der Emsschule angegliederte Aula mit 800 Sitzplätzen wird als Theatersaal benutzt. Durch Umbauarbeiten ist die Aula seit 2010 baulich stärker von der Schule abgekoppelt worden und erhielt zudem ein eigenes Foyer. Zugleich wurde der Theater- und Konzertsaal mit einem Aufwand von drei Millionen Euro saniert. Seither trägt der Bau den Namen „Theater an der Blinke“.
Stadtbibliothek
Die Stadtbibliothek ist im Hermann-Tempel-Haus in der historischen Altstadt untergebracht und hat einen Bestand von 52.000 Medien.
Kirchen und Orgeln
Zu den bekanntesten Kirchen der Stadt zählen die Lutherkirche und die Große Kirche. Nach Vorgängerkirchen aus Holz wurde um 1200 die älteste Steinkirche am Westende Leers in der Nähe des Plytenbergs erbaut und dem Friesenmissionar Liudger geweiht. Nach etwa 450 Jahren wurde die Kirche zunehmend baufälliger und drohte 1777 nach einem Sturm einzustürzen. Sie wurde 1787 bis zur Höhe des Fußbodens abgerissen und auktioniert, während die Krypta mit den ältesten Gewölben in Ostfriesland erhalten blieb. Nachfolgebau war die Große Kirche, die 1787 nach zwei Jahren Bauzeit durch den Leeraner Zimmermann-Meister Isaak Woortmann im Stil des Barock im Zentrum der Stadt fertiggestellt wurde. Der eigentümliche achteckige Grundriss des Neubaus in Form eines griechischen Doppelkreuzes fand Vorbilder in der Amsterdamer Noorderkerk und der Emder Neuen Kirche. Entsprechend reformierter Tradition sind Kirche und Ausstattung schlicht gehalten, ohne Kreuz und Altar. Der Abendmahlstisch stammt ebenfalls aus dem Jahr 1787. Hingegen datiert das Taufbecken um 1200 und wurde wahrscheinlich von der alten Kirche übernommen. Die Orgel der Großen Kirche ist in vier Jahrhunderten gewachsen und zählt damit zu den ältesten Orgeln Ostfrieslands. Einige Register stammen aus dem Kloster Thedinga und gehen auf das 16. Jahrhundert zurück. Erweiterungs- und Umbauten erfolgten 1763–1766 durch Albertus Antonius Hinsz, 1845–1850 durch Wilhelm Caspar Joseph Höffgen und 1953–1955 durch Paul Ott, auf den die Anlage mit zwei Rückpositiven zurückgeht. Nach der Restaurierung und Erweiterung 2014–2018 durch Hendrik Ahrend verfügt die Orgel über 48 Register auf drei Manualen und Pedal und ist damit die größte Orgel in Ostfriesland. Die Renaissance-Kanzel wurde 1609 von Andreas Kistemaker gefertigt. Auf vier freistehenden Säulen ruht das Dach der Kirche. Der Turm wurde erst 1805 errichtet und trägt als Windfahne einen Dreimaster, dem „Schepken Christi“, Symbol der reformierten Kirche.
Erst 1675 wurde den Lutheranern erlaubt, innerhalb der Stadt eine Kirche zu errichten. Das Kirchenschiff wurde in verschiedenen Bauabschnitten im 18. und 19. Jahrhundert in Form eines griechischen Kreuzes erweitert und 1766 der Glockenturm aufgesetzt. Die prächtige Innenausstattung ist vorwiegend barock gehalten, wie beispielsweise der Altar, der 1696 angefertigt wurde, und der Fürstenstuhl aus dem Jahr 1732. Wesentlich älter hingegen ist die Kanzel, die wohl aus dem Kloster Ihlow stammt und um 1500 datiert. Überregionale Bekanntheit hat die Orgel erlangt, die Jürgen Ahrend 2002 mit 39 Registern auf drei Manualen und Pedal hinter dem Prospekt von Hinrich Just Müller (1795) gebaut hat. Das hölzerne Tonnengewölbe aus dem Jahr 1793 erhielt seine Bemalung im Jahr 1910 unter Einbeziehung älterer Malereien, die man wiederentdeckte.
In Leer wurde auch der erste Kirchenneubau der Katholiken Ostfrieslands nach der Reformation errichtet: die 1776 geweihte Kirche St. Michael. Die Orgel wurde 1972 von der Firma Alfred Führer mit 14 Registern auf zwei Manualen eingebaut. 1825 wurde die klassizistische Mennonitenkirche Leer als schlichte Saalkirche ohne Turm gebaut. Die Orgel von Wilhelm Eilert Schmid (1826) besitzt neun Register und ist im Wesentlichen erhalten.
Weitere Bauwerke
Leer ist bekannt für seine historische Altstadt, die als die wertvollste Ostfrieslands gilt. In der Stadt gibt es 365 Gebäude, die als Einzeldenkmale unter Denkmalschutz stehen. Hinzu kommen 35 Ensembles mit zusammen 233 Bauten.
Das vom Aachener Architekten Karl Henrici entworfene Rathaus, dessen Stil sich an der Niederländischen Renaissance anlehnt, stammt aus dem Jahr 1894 und bildet zusammen mit der benachbarten Historischen Waage (1714) im Stil des niederländischen Hochbarocks ein Ensemble. Ebenfalls in barockem Stil gehalten ist das Amtsgericht von 1720, ein ehemaliges Palais.
Eine Vielzahl von Wohn- und Geschäftshäusern in der Innenstadt ist dem Klassizismus und dem Historismus zuzuordnen. Hervorzuheben sind unter anderem das Klasen’sche Haus (1806) und ein Dreier-Ensemble an der Brunnenstraße, das den ebenfalls 1806 errichteten Stammsitz der Firma Bünting einschließt. Das frühere Armenhaus der lutherischen Kirche in der Süderkreuzstraße stammt aus dem Jahr 1788 und wird heute als Jugendherberge genutzt; nur die alte Fassade ist erhalten. Weitere historische Häuser befinden sich an den Straßenzügen Brunnenstraße, Königstraße und Mühlenstraße.
In Leer gibt es vier sogenannte Burgen. Dabei handelt es sich bei den beiden ältesten um bewehrte Steinhäuser, während die beiden jüngeren Schlösser sind. Die Harderwykenburg ist die älteste von ihnen; sie stammt aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Die ab 1621 angelegte Haneburg ist Sitz der Kreisvolkshochschule. Um 1650 entstand die Evenburg, von der die Vorburg erhalten ist. Das Schloss wurde 1861 im neugotischen Stil umgebaut, im Zweiten Weltkrieg in Mitleidenschaft gezogen und von 2004 bis 2006 nach historischen Plänen rekonstruiert. Es ist umgeben von einem Landschaftspark. Bei der Philippsburg handelt es sich um ein Barockschloss aus der Zeit um 1730.
Die alte Weingroßhandlung Wolff, ansässig im Haus Samson, spielt in Gustav Freytags Roman Soll und Haben eine Rolle.
An bedeutenden technischen Bauwerken sind der Wasserturm, das Ledasperrwerk und die Jann-Berghaus-Brücke, eine der größten Klappbrücken Europas, zu nennen. Ihre Durchfahrtbreite wurde 2008/2009 für die Passage der Kreuzfahrtschiffe der Meyer Werft von 40 auf 56 Meter vergrößert.
Parks und Naherholung
In Leer befinden sich mehrere Parks, darunter der Schlosspark der Evenburg und der Philippsburger Park, der sich an die dortige Burg anschließt. Der größte ist der Julianenpark. Er wurde 1889 auf eine private Initiative des Grafen Carl Georg von Wedel angelegt und mit einem kleinen Teich versehen. Im Jahre 1929 kaufte die Stadt den Park von der Grafenfamilie.
Seit Juni 2011 existiert im Gewerbegebiet an der Konrad-Zuse-Straße die Modellbaulandschaft Leeraner Miniaturland. In einer 1200 m² großen Halle werden auf 520 m² über 1000 Häuser und andere Attraktionen Ostfrieslands im Maßstab 1:87 (H0) gezeigt. Im Umfeld der Halle ist eine parkartige Grünanlage entstanden.
Im Stadtteil Logabirumerfeld gibt es ausgedehnte Wallheckengebiete, im Stadtteil Logabirum auch Waldflächen.
Regelmäßige Veranstaltungen
In jedem Jahr findet im Herbst der seit 1508 bestehende Gallimarkt, einer der größten Jahrmärkte in Nordwestdeutschland, mit dem angeschlossenen Galliviehmarkt statt. Der Viehmarkt wird in der Ostfrieslandhalle (3000 Plätze) abgehalten. Alle zwei Jahre wird die Ostfrieslandschau, eine Messe für Unternehmen und Vereine aus der Region, ausgerichtet.
Der alljährlich stattfindende Ossiloop, eine Laufveranstaltung, beginnt im Julianenpark und endet in Bensersiel. Ein weiterer Bestandteil der Sportszene ist der karitative Citylauf Leer mit etwa 2000 Teilnehmern, der von der Polizeiinspektion Leer/Emden seit 1991 an jedem ersten Septembersonntag veranstaltet wird.
In den ungeraden Jahren findet die Veranstaltung Leer Maritim, ein internationales Tourenskippertreffen, statt. Sportlicher Höhepunkt ist dabei eine Drachenbootregatta.
Ebenso findet jedes Jahr im letzten August- bzw. ersten Septemberwochenende die traditionelle Leeraner Ruderregatta (DRV Regatta) statt. Besonderer Höhepunkt ist dabei der bundesweit einmalige Nachtsprint.
Im Kulturzentrum Zollhaus, einem denkmalgeschützten Backsteingebäude, werden vom Zollhausverein seit 15 Jahren regelmäßig Konzerte, Kabarettveranstaltungen, Ausstellungen und Kindertheater angeboten (jährlich etwa 8000 Besucher). Weiterer Spielort für Konzerte ist das städtische Jugendzentrum. Veranstaltungen finden auch im Kulturspeicher statt, einem 1778 errichteten ehemaligen Hafenspeicher.
Von Ende November bis zum 30. Dezember findet in Leer alljährlich ein Weihnachtsmarkt statt. In Gestalt großer, im Freien aufgestellter Räuchermännchen, einer vierstöckigen Weihnachtspyramide und einer Krippenszene im Erzgebirgsstil erweist Leer der erzgebirgischen Volkskunst in dieser Zeit seine Reverenz.
Kulinarisches
Leer ist als Firmensitz von Bünting eine der drei Städte Ostfrieslands, in denen Unternehmen ansässig sind, die den echten Ostfriesentee herstellen. Im Durchschnitt trank 2012 jeder Ostfriese rund 300 Liter Tee, das entsprach in etwa dem Zwölffachen des deutschen Durchschnittsverbrauchs und war damit der höchste der Welt. Im Jahre 1806 gegründet, ist Bünting das älteste noch existierende Teehandelshaus Ostfrieslands.
Leer ist zudem als Brennereistandort für mehrere lokale Spirituosen bekannt. Der bekannteste unter ihnen ist der Kruiden, ein 32-prozentiger Kräuterbitter.
Das bekannteste Hauptgericht ist zur Winterzeit der Grünkohl mit Pinkel und Kassler oder durchwachsenem Speck.
Sport
In Leer gibt es mehr als 40 Sportvereine mit über 11.000 Mitgliedern. Wie in anderen Orten Ostfrieslands werden die Friesensportarten Boßeln und Klootschießen betrieben.
Zu den größten Sportvereinen zählen VfL Germania Leer, Frisia Loga und VfR Heisfelde, die ein breites Spektrum an Sportarten anbieten. Über die Region hinaus bekannt ist vor allem der 1915 gegründete VfL Germania durch die Fußball- und die Leichtathletik-Abteilung. Die Fußballer spielten in den 1930er-Jahren in der Nordwestdeutschen Oberliga, der damals höchsten Spielklasse. In den 1950er-Jahren stieg die Germania in die Amateur-Oberliga Niedersachsen-West auf, seinerzeit die zweithöchste Spielklasse. Bei den Leeranern wurde Sepp Piontek entdeckt und vom SV Werder Bremen abgeworben. Bis zum November 2009 spielte Germania in der Oberliga Niedersachsen-West, zog das Team aber während der Saison aus finanziellen Gründen zurück. Nach der Konsolidierung und dem Wiederaufstieg im Jahr 2012 spielt der Verein in der Landesliga Weser/Ems. Die Sportler der Leichtathletik-Abteilung machten durch Erfolge bei überregionalen Meisterschaften auf sich aufmerksam. Die ehemalige Fünfkampf-Weltrekordhalterin Lena Stumpf wurde 1949 als bisher einzige Ostfriesin Sportlerin des Jahres, einem männlichen ostfriesischen Sportler gelang dies bislang nicht. Die Ruderin Christina Hennings, die 2006 Vizeweltmeisterin mit dem Frauenachter wurde, startet für den 1903 gegründeten Ruderverein Leer.
Leer verfügt über ein 2019 eröffnetes Hallenbad, dem Plytje. Der Vorgängerbau von 1964, bestehend aus Hallen- und Freibad, wurde ab Herbst 2016 abgebrochen. Größtes Stadion der Stadt ist das Hoheellern-Stadion des VfL Germania, das 5000 Zuschauer fasst.
Des Weiteren ist Leer jährlich Start oder Ziel des Ossiloops, der Start befindet sich im Julianenpark. Der Denkmalsplatz in der Mühlenstraße ist das Ziel.
Wirtschaft und Infrastruktur
Leer ist in erster Linie eine Dienstleistungsstadt und gilt als die Einkaufsstadt Ostfrieslands. Sie weist die höchste Einzelhandelszentralität unter den ostfriesischen Städten auf, die 2007 bei 170 Prozent lag. Aurich kam im selben Jahr auf 153 Prozent, Emden auf 116 Prozent.
Eine Reihe von Industrieunternehmen und Seereedereien hat ihren Sitz in Leer. Die Landwirtschaft spielt keine größere Rolle.
Daten zur Arbeitslosigkeit in der Stadt Leer selbst werden nicht erhoben. Im Geschäftsbereich Leer der Agentur für Arbeit, der den Landkreis Leer ohne Borkum umfasst, lag die Arbeitslosenquote im Februar 2018 bei 7,6 %. Sie lag damit 1,4 Prozentpunkte über dem niedersächsischen Durchschnitt.
Ansässige Unternehmen
Reedereien
Die Stadt Leer ist durch ihren Seehafen seit Jahrhunderten vom Handel geprägt. Traditionell waren jedoch nur wenige Reedereien in der Stadt ansässig. Dies änderte sich, als Mitte der 1980er Jahre Absolventen der Seefahrtsschule (als Institut für Seefahrt seit dem 1. Januar 2000 Teil der Hochschule Emden/Leer) den Einstieg ins Reedereigeschäft wagten. Weitere Unternehmensgründungen folgten, so dass bis zum Jahr 2007 16 Reedereibetriebe entstanden. Fast alle Reeder und viele ihrer leitenden Angestellten sind Absolventen des Instituts für Seefahrt und der angegliederten Fachschule für Seefahrt, das damit maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung hat. Weitere Faktoren, die das Wachstum begünstigten, waren die wirtschaftliche Expansion der globalen Warenverkehre sowie die enge Zusammenarbeit mit Banken und Finanzdienstleistern im Investitionsbereich. Inzwischen sind mehr als 390 Schiffe mit Heimathafen Leer im deutschen Schiffsregister eingetragen, so dass die Stadt als zweitgrößter deutscher Reederei-Standort gilt.
An Land werden bei den Reedereien sowie in deren Umfeld, etwa im Bereich der Schiffsfinanzierung, mehrere hundert Arbeitnehmer beschäftigt. Zu den größeren Reedereien zählen Briese (über 120 Schiffe) und Tochterfirma BBC Chartering (160 Schiffe), Buss (70 Schiffe), Hartmann (mehr als 40 Schiffe), Thien & Heyenga (34 Schiffe) und Triton (35 Schiffe). Alle genannten Reedereien operieren weltweit.
Kreditinstitute
In Leer befindet sich einer der beiden Hauptsitze der Sparkasse LeerWittmund (neben Wittmund) sowie der Hauptsitz der Ostfriesischen Volksbank. Bis 2006 gab es auch eine Niederlassung der Bundesbank. Die Filiale der Commerzbank wurde im November 2021 geschlossen. In Leer befinden sich ebenfalls Geschäftsstellen der Postbank, Deutschen Bank, Targobank und der Oldenburgischen Landesbank.
Weitere Unternehmen
In Leer gibt es IT-Dienstleister sowie Firmen, die sich auf den Betrieb von Windenergieanlagen spezialisiert haben.
Mit der Bünting-Gruppe hat ein großes deutsches Handelsunternehmen seinen Sitz in Leer und in der Nachbargemeinde Nortmoor direkt an der Stadtgrenze ein Verteilzentrum. Zu Bünting gehören unter anderem die Combi-Verbrauchermärkte, Famila Nordwest und Markant Nordwest. Das Unternehmen beschäftigt rund 9500 Mitarbeiter, davon jedoch nur einen Teil in Ostfriesland. Der Name Bünting ist in der Öffentlichkeit allerdings vor allem mit dem zugehörigen Teehandelshaus verknüpft, das als eines von dreien in Ostfriesland den echten Ostfriesentee herstellt. Gegründet wurde das Unternehmen im Jahr 1806.
Das Elektronik-Versandhaus ELV Elektronik hat seinen Sitz in Leer-Logabirum und beschäftigt zirka 350 Mitarbeiter. Das Software-Unternehmen Orgadata beschäftigt weltweit über 400 Mitarbeiter, davon etwa 215 am Leeraner Hauptsitz. Im Leeraner Hafen ist das Umschlag- und Logistikunternehmen Rhenus vertreten. Weitere im Hafen ansässige Industriebetriebe sind eine Werft und ein zur Interseroh-Gruppe gehörendes Rohstoff- und Recycling-Unternehmen und ein Naturstein-Unternehmen. Zu den weiteren Industrieunternehmen in Leer zählen die Firma Leda, die rund 200 Mitarbeiter beschäftigt und Kaminöfen, Heiz- und Kamineinsätze sowie gusseiserne Bauteile für die Industrie produziert, ein Hersteller von Kunststofffolien und -beuteln, Maschinenbauer, ein Autozulieferer und ein Unternehmen, das sich auf Anlagen zur Stromerzeugung spezialisiert hat. Der Oldenburger Energieversorger EWE unterhält südlich des Gewerbegebietes Nüttermoor einen Erdgasspeicher.
Öffentliche Einrichtungen
Leer ist Sitz der Kreisverwaltung des Landkreises Leer. Außerdem befinden sich in der Stadt ein Amtsgericht, ein Finanzamt und ein Katasteramt als Außenstelle des niedersächsischen Landesamtes für Geoinformation und Landesvermessung Niedersachsen (Bezirk Aurich). Alle drei sind für den Kreis Leer zuständig, mit Ausnahme Borkums, das von Emden aus betreut wird. Das Kommando Schnelle Einsatzkräfte Sanitätsdienst (Kdo SES) ist als Teil der Eingreifkräfte des Zentralen Sanitätsdienstes der Bundeswehr mit etwa 900 Soldaten in der Evenburg-Kaserne (bis Herbst 2010 Von-Lettow-Vorbeck-Kaserne) in Leer stationiert.
Die Polizei ist mit mehreren Dienststellen vertreten. Leer ist Sitz der Polizeiinspektion Leer/Emden, zuständig für den Landkreis Leer und die Stadt Emden. An der Autobahn-Anschlussstelle Leer-West befindet sich ein Kommissariat der Autobahnpolizei. Auch die Wasserschutzpolizei besitzt eine Dienststelle in der Stadt. Die Bezirksstelle Leer der Agentur für Arbeit ist für den Landkreis Leer mit Ausnahme Borkums sowie den nördlichen Landkreis Emsland zuständig. Das Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Emden hat in Leer eine Außenstelle.
Die Die Autobahn GmbH des Bundes betreibt ihre Autobahnmeisterei Leer an der Autobahn-Anschlussstelle Leer West. Von hier wird der Emstunnel überwacht, sowie ein Teilstück der Bundesautobahn 31, und der Bundesautobahn 28 betrieben.
Der Leda-Jümme-Verband, bestehend aus einer Deichacht und einem Entwässerungsverband, hat seinen Sitz in Leer. Der Verband ist zuständig für den südöstlichen Teil des Landkreises Leer sowie Teile der Nachbarkreise Ammerland, Cloppenburg und Emsland. In der Stadt gibt es auch Außenstellen der Landwirtschaftskammer Weser-Ems und des Landwirtschaftlichen Hauptvereins für Ostfriesland.
Das Kreiskrankenhaus in Leer (Klinikum Leer gGmbH) wird vom Landkreis Leer, das Borromäus Hospital von der katholischen Kirche getragen. Das DRK ist im Auftrag des Landkreises Leer für den Rettungsdienst zuständig. Ihm unterstehen sechs Rettungswachen in Leer (Hauptsitz), Borkum, Bunderhee, Hesel, Rhauderfehn und Weener.
Medien
In Leer ist die Ostfriesen-Zeitung ansässig, die in ganz Ostfriesland erscheint. Der im Rheiderland liegende Ortsteil Bingum befindet sich auch im Verbreitungsgebiet der Rheiderland-Zeitung. In der Stadt gibt es ein Studio des Bürgerrundfunksenders Radio Ostfriesland. Verschiedene anzeigenfinanzierte Blätter (Der Wecker am Sonntag, Sonntags-Report, Leer Aktuell, Der Leeraner u. a.) erscheinen wöchentlich beziehungsweise monatlich und ergänzen die lokale Berichterstattung. Einige kleine Verlage wie Schuster, Rautenberg und De Utrooper geben Literatur zu regionalen Themen heraus. Von Anfang 2011 bis August 2013 sendete der Internet-TV Sender Heimat Live von EWE TEL unter anderem in Leer produzierte Sendungen. Im Ortsteil Nüttermoor steht ein Fernmeldeturm mit einer Höhe von 160 Metern. Er ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.
Bildung
Leer ist Sitz der Volkshochschule des Landkreises, der Berufsakademie Ost-Friesland, der Kreismusikschule, des Studienseminars Leer, der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie und anderer privater Bildungseinrichtungen.
Schulen
In Leer gibt es sieben städtische Grundschulen und mehrere weiterführende Schulen. Dazu gehören das Teletta-Groß-Gymnasium und das Ubbo-Emmius-Gymnasium. Das Ubbo-Emmius-Gymnasium ist nach dem Johannes-Althusius-Gymnasium Emden und dem Ulrichsgymnasium Norden das drittälteste Gymnasium Ostfrieslands und zählt zu den ältesten Schulen im deutschsprachigen Raum (16. Jahrhundert). Die Berufsbildenden Schulen in Leer bieten mehrere gymnasiale Oberstufen mit fachlicher Ausrichtung an. In Leer gibt es sieben Grundschulen: je eine in den Ortsteilen Heisfelde, Loga, Logabirum und Bingum sowie drei in der Kernstadt. Weiterhin sind zwei Realschulen, eine Hauptschule und zwei Förderschulen in der Stadt zu finden. Die Gymnasien und Berufsbildenden Schulen befinden sich in Trägerschaft des Landkreises, für die übrigen Schulen ist die Stadt der Träger. An verschiedenen weiterführenden Schulen in Leer ist es möglich, Niederländisch als zweite verpflichtende oder fakultative Fremdsprache mit der Möglichkeit zur Ablegung der Abiturprüfung in diesem Fach zu wählen.
Hochschule
Die 1854 als Navigationsschule Leer gegründete, traditionsreiche Seefahrtschule Leer ging im Jahr 2000 in der Hochschule Emden/Leer auf und ist seit 2010 deren Fachbereich Seefahrt (heute: Fachbereich Seefahrt und Maritime Wissenschaften) zu dem die Fachschule Nautik gehört.
Verkehr
Leer befindet sich am Schnittpunkt der wichtigsten Ost-West- und der Nord-Süd-Verkehrsachsen in Ostfriesland, sowohl im Straßen- als auch im Schienenverkehr. Zudem liegt sie mit der Ems an einer Bundeswasserstraße.
Straßenverkehr
Leer ist an die beiden Bundesautobahnen A 28 (Bremen – Oldenburg – Leer) und A 31 (Emden – Leer – Bottrop) angeschlossen. Auf dem Gebiet der Stadt gibt es vier Autobahn-Anschlussstellen. Dies sind von West nach Ost: Jemgum (westlich der Ems), Leer-West, Leer-Nord und Leer-Ost. Im Norden der Stadt befindet sich das Autobahndreieck Leer mit der A 28 und der A 31. Im Nordwesten der Stadt liegt der Emstunnel im Zuge der A 31. Der Tunnel ist nach dem Elbtunnel in Hamburg der zweite im Mündungsbereich eines deutschen Stroms, der wegen der großen Höhe der den Fluss passierenden Seeschiffe angelegt wurde. Eine Brücke über die Ems hätte enorme Ausmaße annehmen müssen: Die bei der emsaufwärts gelegenen Meyer Werft in Papenburg gebauten Seeschiffe ragen mehr als 40 Meter aus dem Wasser.
Durch die Stadt führt in Nord-Süd-Richtung die B 70, die nördlich von Leer bei Neermoor beginnt und im Süden in Richtung Emsland führt. Sie kreuzt die A 28 an der Anschlussstelle Leer-Nord im Norden der Stadt. Südlich von Leer nimmt die B 70 die B 438 auf. Diese bindet das gesamte Overledingerland, den südöstlichen Teil des Landkreises Leer, an die Kreisstadt an und wird entsprechend stark befahren. Die von West nach (Nord-)Ost verlaufende B 436 führt ebenfalls durch Leer. Sie beginnt an der Anschlussstelle Weener der A 31 und erreicht südlich des Stadtteils Bingum das Leeraner Stadtgebiet. Auf der Jann-Berghaus-Brücke überquert sie die Ems. Halbkreisförmig führt die Bundesstraße nördlich um die Innenstadt herum; sie wurde in den späten 1960er Jahren teils vierspurig als Stadtring ausgebaut. Im Ortsteil Loga knickt sie in nordöstliche Richtung ab, kreuzt die A 31 an der Anschlussstelle Leer-Ost und führt weiter in Richtung Hesel bis nach Sande. Von Leer bis zur niederländischen Grenze sind es etwa 20 Kilometer. Vom Stadtteil Bingum aus führt die Landesstraße 15 bis nach Oldendorp in der Gemeinde Jemgum und erschließt damit das nördliche Rheiderland.
Von und nach Leer verkehren mehrere Buslinien. Von besonderer Bedeutung für die Nachbar-Kreisstadt Aurich ist die Schnellbuslinie, die beide Städte verbindet. Da nach Aurich keine Personenzüge mehr verkehren, sichert der Schnellbus die Anbindung ans Eisenbahnnetz in Leer. Regionalbusverbindungen gibt es auch nach Emden, Papenburg, Westerstede, Wiesmoor, Bunde und in alle Gemeinden des Landkreises. Im Stadtverkehr gibt es eine Buslinie in Ost-West-Richtung, die von Logabirum über die Innenstadt nach Bingum und zurück führt.
Im Jahr 2002 wurde die Stadt in einem landesweiten Wettbewerb wegen der großen Anzahl von Fahrradstraßen als fahrradfreundlichste Kommune Niedersachsens ausgezeichnet.
Eisenbahn
Der Leeraner Bahnhof ist ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt für Ostfriesland. Dort treffen drei Bahnstrecken aufeinander: die Emslandstrecke von Münster über Rheine nach Emden (– Norddeich Mole), die Bahnstrecke Oldenburg–Leer und die Bahnstrecke Leer–Groningen. Während die Emslandstrecke zweigleisig ausgebaut, elektrifiziert und wegen der früheren Transporte von Importeisenerz vom Emder Hafen ins Ruhrgebiet für den Schwerstlastverkehr ausgelegt ist, sind die anderen beiden Strecken lediglich eingleisig. Die Strecke nach Oldenburg ist elektrifiziert, die nach Groningen wird von dieselgetriebenen Fahrzeugen befahren.
Fernverkehr
Tägliche Intercity-Verbindungen bestehen, von Norddeich kommend, nach Köln bzw. nach Koblenz (IC/EC-Linie 35 über Münster und Köln) sowie nach Leipzig bzw. Berlin/Cottbus (IC-Linie 56, über Bremen und Hannover). Die Verbindung nach Leipzig wird zweistündlich bedient, wobei täglich ein Zug stattdessen ab Magdeburg einen veränderten Laufweg über Berlin nach Cottbus nimmt. Außerhalb des Taktverkehrs hält der IC „Bodensee“ nach Konstanz einmal täglich.
Nahverkehr
Der RE1 der DB Regio verkehrt auf dem Fahrtweg Hannover – Oldenburg – Leer – Emden – Norden – Norddeich Mole täglich im Zweistundentakt.
Der Emsland-Express, RE15, Emden Außenhafen – Emden – Papenburg – Münster (Westf) Hbf fährt täglich im Stundentakt.
Auch auf der vom Verkehrsunternehmen Arriva betriebenen Verbindung nach Groningen besteht ein Stundentakt. Die Bahnstrecke wird seit 2002 nach einer zwischenzeitlichen Einstellung des Verkehrs auf der deutschen Teilstrecke wieder in ihrer vollen Länge befahren. Bis 2006 mussten die Fahrgäste in Nieuweschans umsteigen, da in beiden Ländern unterschiedliche Signalanlagen existierten. Am 3. Dezember 2015 kam es zu einem folgenschweren Unfall als ein Schiff die Friesenbrücke rammte. Seitdem gibt es auf der Strecke Leer – Groningen einen Schienenersatzverkehr, da der Neubau der Friesenbrücke noch bis 2024 andauern soll:
Die 1898 gegründete Kleinbahn Leer–Aurich–Wittmund, die ein Jahr später den Fahrbetrieb aufgenommen hatte, stellte den Verkehr 1969 ein. Auf der Trasse wurde inzwischen der Ostfriesland-Wanderweg angelegt.
Fahrradverkehr
Die Stadt Leer hat Anschluss an mehrere Radfernwege. Die Dortmund-Ems-Kanal-Route ist ein rund 350 km langer und nahezu steigungsfreier Radfernweg, der das Ruhrgebiet mit der Nordseeküste verbindet. Die Deutsche Fehnroute ist ein 165 Kilometer langer Rundkurs durch Ostfriesland und das Emsland. Namensgebend sind die in dieser Gegend häufigen Fehnsiedlungen. Der Emsradweg beginnt an der Ems-Quelle in der Ortschaft Schloß Holte-Stukenbrock am Rande des Teutoburger Waldes und folgt der Ems über ihren gesamten Verlauf von rd. 375 Kilometern.
Flugverkehr
Im nördlichen Stadtteil Nüttermoor liegt der Flugplatz Leer-Papenburg. Mit nationalen und internationalen Charterflügen und dem Werksverkehr von Unternehmen aus der Region Leer/Papenburg nimmt der Flugplatz Leer mit rund 23.000 Flugbewegungen pro Jahr eine führende Position unter den Flugplätzen in Niedersachsen ein.
Gesellschafter der Betreiber-GmbH sind unter anderem die Landkreise Leer und Emsland, die Städte Leer und Papenburg sowie Unternehmen aus der Region. Außerdem wird der Flugplatz von Privatpiloten benutzt. Angeflogen werden auch die Ostfriesischen Inseln. Der Flugplatz verfügt über eine 1200 m lange asphaltierte Start- und Landebahn mit Nachtbefeuerung, Betankungsanlage sowie Zoll- und Grenzabfertigung. Der nächstgelegene internationale Verkehrsflughafen ist Bremen.
Hafen
Mit dem Ausbau des Hafens in Konkurrenz zu Emden wurde 1895 Georg Franzius befasst.
Der Hafen der Stadt Leer ist ein kommunaler See- und Binnenhafen, der von den Stadtwerken Leer, einem Tochterunternehmen der Stadt, betrieben wird. Er besteht aus zwei Hafenbecken, dem Handelshafen und dem Industriehafen. Für den Umschlag wird vorrangig der Industriehafen genutzt. Umgeschlagen werden Güter wie Biodiesel, Pflanzenöle, Getreide, Futtermittel, Dünger, Steine und Erden sowie Eisen und Stahl(-schrott). Der Hafen liegt 52 Seemeilen (knapp 97 Kilometer) von der Emsmündung bei Borkum entfernt. Durch eine Schleuse ist er von Leda und Ems getrennt. Die Seeschleuse Leer erlaubt die Einfahrt von Schiffen bis zu 140 Meter Länge. Das Hafenbecken kann Schiffe bis zu sechs Meter Tiefgang aufnehmen.
Der Hafen ist von einer kleinen Zahl von Kunden abhängig, ihr wirtschaftliches Auf und Ab beeinflusst den Hafenumschlag. Dieser lag im Jahr 2021 bei 313.328Tonnen Güter, davon 34.434 t im Seeverkehr. 2020 lag der Gesamtumschlag nur bei 294.023 t, 2019 waren es noch 332.180 t. Im Jahr 2000 verzeichnete er sein bislang bestes Umschlagsergebnis mit rund 1,12 Millionen t. Im Jahr 2006 wurden noch rund 612.000 t be- und entladen, 2010 waren es 587.821 t, davon 105.833 t im Seeverkehr. Zu den technischen Gründen für den Rückgang zählen eine zunehmende Verschlickung des Hafens und gelegentliche technische Probleme an der Seeschleuse. Im Jahr 2011 betrug der Umschlag 623.000 t (plus 6 Prozent), davon 115.291 t im Seegüterverkehr. Im Jahr 2012 wurden rund 46.100 t Seegüter umgeschlagen. 2013 sank der Seegüterumschlag weiter auf 45.664 t, mit Binnenschiffen wurden 468.647 t Güter umgeschlagen. 2014 betrug der Umschlag im Binnenschiffs-Güterverkehr 494.285 t und im Seegüterverkehr 24.291 t. 2015 lag der Umschlag im Seegüterverkehr bei 38.524 t, 2016 bei 254.822 t bei der Binnenschifffahrt und 42.698 t bei der Seeschifffahrt, 2017 waren es bei der Binnenschifffahrt 312.002 t und bei der Seeschifffahrt 58.594 t.
Im Hafen lag bis Januar 2013 das Ausbildungsschiff Emsstrom, das ehemalige Fischereischutzboot Frithjof. Ein Teil des Hafens ist Museumshafen, zudem Freizeithafen für die Sportschifffahrt.
Messstationen
In Leer befindet sich eine von rund 1800 Messstellen des Radioaktivitätsmessnetzes des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS). Die Messstation misst die Gamma-Ortsdosisleistung (ODL) am Messort und sendet die Daten an das Messnetz. Die über 24 Stunden gemittelten Daten können direkt im Internet abgerufen werden.
Personen und Persönlichkeiten
Söhne und Töchter der Stadt
Der Publizist und Historiker Onno Klopp (1822–1903) wurde vor allem als Historiograf des Welfenhauses bekannt. In Leer geboren wurden auch der Naturwissenschaftler und Naturphilosoph Bernhard Bavink (1879–1947) und der Prähistoriker Hermann Behrens (1915–2006).
Hermann Lange (1912–1943), Priester und NS-Opfer, wurde in der Stadt geboren. Er wurde 2011 seliggesprochen. Garrelt Duin (SPD) wurde 1968 in Leer geboren. Von 2012 bis Mitte 2017 war er Wirtschaftsminister in Nordrhein-Westfalen. Ebenfalls in Leer geboren wurde der frühere schleswig-holsteinische Umweltminister Rainder Steenblock (Bündnis 90/Die Grünen).
Der Theologe und Landessuperintendent des Sprengels Lüneburg der ev.-luth. Kirche Johann Feltrup wurde 1886 in Leer geboren. Auch der Kaufmann und Tuchfabrikant Christian Bonk (1807–1869) kam in Leer zur Welt. Er war der erste ostfriesische Baptist und Mitbegründer der Baptistengemeinde Ihren. Kurz nach seiner Auswanderung in die Vereinigten Staaten gründete er mit 36 weiteren Emigranten aus dem Leeraner Raum 1865 die First Eastfriesian Baptist Church in Baileyville (Illinois), die noch heute existiert.
Hermann Hoffmann war Rektor der Universität Tübingen. Gerrit Manssen ist Jurist und Professor an der Universität Regensburg. Die promovierte Volkswirtin Susanne Stürmer ist Präsidentin der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf.
Mehrere Künstler wurden in Leer geboren. Der Tischler, Bildschnitzer und Tafelmaler Tönnies Mahler (* um 1615– um 1663) wohnte zeitlebens in Leer. Unter den Schriftstellern sind Albrecht Janssen (1886–1972) und Wilhelmine Siefkes (1890–1984) zu nennen. Der Bildhauer und Plastiker Karl-Ludwig Böke (1927–1996) und der Maler und Grafiker Heiner Altmeppen (* 1951) wurden in Leer geboren, ebenso Peter Ehlebracht (* 1940), der – wie auch der in Leer aufgewachsene, aber in Emden geborene – Karl Dall Mitglied der Komikerband Insterburg & Co war und in Leer seine Lehre als Schriftsetzer absolvierte. H. P. Baxxter (bürgerlich: Hans Peter Geerdes; * 1964) ist Frontmann der Techno-Band Scooter. Auch Reinhard Hippen (1942–2010), Grafikdesigner und Gründer des Deutschen Kabarettarchivs, wurde in Leer geboren sowie der deutschsprachige Singer/Songwriter Enno Bunger.
Der Gewerkschafter und Publizist Christian Götz war lange in der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen und in der Friedensbewegung aktiv. Er hat als Journalist und Buchautor gearbeitet. Zusammen mit seiner Frau Irene kam er am 25. Juli 2000 beim Absturz der Concorde bei Paris ums Leben.
Im Bereich des Sports ist die Leichtathletin Lena Stumpf (1924–2012) zu nennen, die 1949 zur Sportlerin des Jahres gewählt wurde. In jüngerer Zeit sind die ehemalige Beachvolleyballerin Okka Rau (* 1977, war für den Hamburger SV aktiv) und die Ruderin Christina Hennings (* 1984) zu nennen, die 2006 Vizeweltmeisterin mit dem Frauenachter wurde.
Der Pharmakologe Heyo K. Kroemer ist Vorstandsvorsitzender der Charité.
Der in Loga (Leer) geborene Architekt Anton van Norden prägte das städtebauliche Gesicht von Peine.
Dem ermordeten Leeraner Mädchen Liesel Aussen (1936–Juli 1943) wurde im Jahre 2022 der Platz vor dem Zollhaus gewidmet und dort ein Denkmal aufgestellt.
Weitere Persönlichkeiten
Focko Ukena (1370–1436), ostfriesischer Häuptling, machte Leer zeitweise zur führenden Stadt Ostfrieslands.
Der evangelisch-reformierte Theologe, Historiker, Pädagoge und Gründungsrektor der heutigen Reichsuniversität Groningen Ubbo Emmius (1547–1625), geboren in Greetsiel, war mehrere Jahre lang an der Leeraner Lateinschule tätig.
Johann Ludwig Hinrichs (1818–1901), Mitbegründer der deutschen Baptistengemeinden, war von 1849 bis 1853 deren erster Pastor.
Adolf Grimme (1889–1963), Kulturpolitiker, Studienassessor in Leer.
Ernst Reuter (1889–1953), deutscher Politiker und Bürgermeister West-Berlins, war Einwohner von Leer.
Paul Oskar Schuster (1888–1971), von 1948 bis 1955 Oberkreisdirektor des Kreises Leer, dann bis 1963 Landtagsabgeordneter der CDU.
Carl Dietrich Büttner (1897–1970), Speditionskaufmann und Reeder.
Eta Linnemann (1926–2009), evangelische Theologin, wohnte im Ruhestand im Stadtteil Loga.
Fritz Klimmek (1905–1963), Studienrat und Naturforscher, lehrte nach 1945 als Gymnasiallehrer am Teletta-Groß-Gymnasium für Mädchen.
Ernst Pagels (1913–2007), von 1949 bis 2000 führte der Pflanzenzüchter in Leer eine bekannte Staudengärtnerei.
Gerd Constapel (* 1938), Plattdeutsch-Autor, lebt in Leer.
Marron Curtis Fort (1938–2019), Sprachwissenschaftler und Spezialist für Saterfriesisch und Plattdeutsch, lebte in Leer.
Josef Piontek (* 1940), Fußballspieler und Trainer, begann seine Karriere beim VfL Germania Leer.
Hip-Hop-Gruppe 102 Boyz kommt aus Leer.
Weblinks
Offizielle Website
Beschreibung von Leer in der Historischen Ortsdatenbank der Ostfriesischen Landschaft
Literatur über Leer in der Niedersächsischen Bibliographie
Literatur
Enno Eimers: Kleine Geschichte der Stadt Leer. Verlag Schuster, Leer 1993, ISBN 3-7963-0293-9.
Menna Hensmann, Günther Boekhoff: Dokumentation Leer 1933–1945. Verlag Risius, Weener 2001, ISBN 3-88761-073-3.
Norbert Fiks: Novemberrevolution. Leer unter dem Arbeiter- und Soldatenrat 1918/1919. Books on Demand, Norderstedt 2007, ISBN 3-8370-0123-7.
Stadt Leer (Hrsg.): Leer. Gestern – Heute – Morgen. Rautenberg, Leer 1973, ISBN 3-7921-0127-0.
Eva Requardt-Schohaus: Leer – Leda-Stadt mit bewegter Geschichte. Verlag SKN, Norden 2005, ISBN 3-928327-84-4.
Johannes Röskamp: Zur Geschichte der Juden in Leer. Stadtarchiv Leer, Leer 1985.
Henning Priet: Die Stadt Leer und das Dritte Reich. AVM-Verlag, 2012, ISBN 3-86924-292-2.
Detlef Suhr: Kunstreiseführer Landkreis Leer. Eigenverlag, Edewecht-Friedrichsfehn 2022, ISBN 978-3-00-071553-2.
Einzelnachweise und Anmerkungen
Ort im Landkreis Leer
Ort mit Seehafen
Ort an der Ems
Kreisstadt in Niedersachsen
Staatlich anerkannter Ausflugsort in Niedersachsen |
25091 | https://de.wikipedia.org/wiki/Korsetttierchen | Korsetttierchen | Als Korsetttierchen (Loricifera) bezeichnet man einen Tierstamm, der heute meist den Häutungstieren (Ecdysozoa) zugerechnet wird. Der wissenschaftliche Name des Taxons leitet sich von dem Lateinischen lorica („Panzer, Korsett“) und ferre („tragen“) ab, kann also mit „Korsettträger“ übersetzt werden. Ihre nächsten Verwandten sind wahrscheinlich die Hakenrüssler (Kinorhyncha) und Priapswürmer (Priapulida), mit denen sie in einem Taxon Scalidophora zusammengefasst werden.
Da sich die winzigen Tiere mit extremer Zähigkeit an Sandkörner oder andere Partikel heften, auf denen sie leben, können sie bis heute nur durch Eintauchen in Süßwasser isoliert werden. Der osmotische Schock bewirkt zwar eine Abtrennung vom Substrat, tötet die Tiere allerdings auch ab, so dass mit Ausnahme einer einzigen Larve bisher kein Tier lebend untersucht werden konnte. Über Physiologie, Ernährung, Fortbewegung, Verhalten oder Entwicklung der Tiere ist daher praktisch nichts bekannt. Auch molekulargenetische Daten liegen bisher noch nicht vor, zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde zum Beispiel noch kein einziges Gen sequenziert.
Durch die benannten Umstände und wegen der relativ geringen Populationsdichten wurden die Korsetttierchen, obwohl schon seit den 1970er Jahren von der französischen Atlantikküste her bekannt, erst 1983 wissenschaftlich beschrieben; die erste Art erhielt den Namen Nanaloricus mysticus. Seitdem sind sie kontinuierlich weiter erforscht worden, zudem wurden zwei weitere Gattungen entdeckt. Es gibt weltweit aber nur wenige Biologen, die sich auf diese Tiergruppe spezialisiert haben.
Aufbau
Mit einer Größe von nur 100 bis knapp 500 Mikrometern ähneln die spiegelsymmetrisch gebauten Korsetttierchen eher den Einzellern, sie besitzen aber bis zu 10.000 Zellen. Ihr Körper lässt sich einteilen in einen stachelbewehrten Kopf, der fachsprachlich Introvert genannt wird, einen kurzen Hals, einen Brustteil, der als Thorax bezeichnet wird, und einen Rumpf, der von einem Panzer aus zum Mundende spitz zulaufenden Platten, der namensgebenden Lorica, umgeben ist. In ihn können Kopf, Hals und ein Teil des Thorax sich ineinanderschiebend eingezogen werden.
Auf dem Kopf sitzt der vorstreckbare, spitz zulaufende Mundkegel, dahinter folgen bis zu 400 Scaliden genannte Stacheln, die mit eigener Muskulatur ausgestattet sind und wahrscheinlich der Sinneswahrnehmung und der Fortbewegung dienen. Sie sind meist in neun Ringen angeordnet, von denen der erste mit den Clavoscaliden nach vorne, die anderen acht mit den Spinoscaliden aber nach hinten gerichtet sind und erinnern etwas an das Gestänge eines Regenschirms.
Körperwand und Muskulatur
Die Körperwandung besteht aus einer einlagigen Zellschicht, der Epidermis und einer darüberliegenden zellenlosen Außenhaut, der Cuticula, die ihrerseits aus drei Schichten besteht, die man als Epicuticula, Intracuticula und Procuticula bezeichnet. Die Epicuticula ist an den meisten Stellen verhärtet (sklerotisiert) und bildet dadurch je nach Art entweder sechs oder zweiundzwanzig in Längsrichtung orientierte Platten, die sich als Korsett um den Rumpf legen; zwischen den Platten ist die Epicuticula dagegen sehr flexibel und wirkt dort funktionell als Scharnier. Auf den Loricaplatten befinden sich meist allerlei Poren und Leisten, zum Mundende hin laufen sie bei manchen Arten in nach vorn gerichtete Dornen aus.
Die Muskulatur ist quergestreift und besteht ausschließlich aus einzelnen Fasern, die in Längsrichtung (longitudinal), von der Bauch- zur Rückenseite (dorsoventral) oder diagonal orientiert sein können, daneben kommen auch Ringfasern vor; kontinuierliche Muskelschichten existieren dagegen nicht. Um Kopf und Hals in die Lorica einzuziehen, nutzen die Tiere zwei Gruppen von speziellen Introvert-Retraktor-Muskeln, das Ausstrecken geschieht dagegen durch hydrostatischen Druck.
Verdauungs-, Ausscheidungs- und Fortpflanzungsorgane
Spezielle Atmungs- oder Kreislauforgane sind bei den Korsetttierchen wegen der geringen Größe der Tiere nicht notwendig und auch nicht vorhanden. Der Verdauungstrakt beginnt mit dem an der Spitze des Mundkegels sitzenden Mund, auf den ein Buccalkanal folgt, der aus einer flexiblen Röhre besteht und in den die Speicheldrüsen münden. Der sich daran anschließende Schlund wird von Epithelmuskelzellen gebildet. Sein Innenraum oder Lumen hat einen dreistrahligen Querschnitt und ermöglicht damit effizientes Saugen. Durch einen kurzen "Zwölffingerdarm" oder Ösophagus verbunden, folgt der von zahlreichen Ein- und Ausstülpungen, den Microvilli, durchsetzte Mitteldarm, in dem wahrscheinlich die Nährstoffaufnahme erfolgt; Abfallstoffe werden durch einen kurzen Enddarm zum abschließend (terminal) am hinteren Körperende gelegenen After geleitet.
Die paarig angelegten Keimdrüsen sind sackartig mit den Ausscheidungsorganen, den Protonephridien, die aus einfach begeißelten Zellen, den Solenocyten bestehen, zusammengefasst und wie bei den Priapswürmern durch einen gemeinsamen Urogenitaltrakt, der neben oder im After mündet, mit der Außenwelt verbunden.
Nervensystem
Das Nervensystem der Korsetttierchen besteht aus einem relativ großen, im Introvert gelegenen Gehirn, von dem Nerven in die Scaliden ausgehen. Ein Ring aus zehn Ganglien ist der Ansatzpunkt für insgesamt zehn Nervenfasern, die in Längsrichtung nach hinten laufen; zwei davon, die in der Mitte der Bauchseite gelegen sind, sind bedeutend größer als die anderen und weisen in regelmäßigen Abständen ebenfalls Ganglien auf. Sie versorgen den Brustteil und vermutlich auch den Rumpf mit Nerven. Am Hinterende der Tiere befinden sich manchmal auf der rückwärtigen Seite rosettenartig angeordnete Sinnesborsten.
Verbreitung und Lebensraum
Korsetttierchen leben als Teil der Sandlückenfauna (Mesopsammon) im Meer, finden sich also angeheftet an kleine Sandkörner oder andere Partikel im Schlick und Schlamm des Meeresbodens. Sie wurden bisher meist etwa 350 bis 400 Meter unter der Wasseroberfläche gefunden, lassen sich aber auch in der Tiefsee nachweisen; eine Art ist aus mehr als 8000 Metern Tiefe bekannt. Die späte Entdeckung und schwierige Erforschung der Korsetttierchen ist vermutlich nicht auf ihre Seltenheit zurückzuführen: heute geht man davon aus, dass sie eine der dominanten Gruppen der Meiofauna darstellen. Die Larven mancher Arten leben im Meeresplankton.
Die Tiere sind vermutlich weltweit verbreitet. Funde wurden von der dänischen Küste, von der Bretagne, den Azoren, aus dem Nordatlantik vor Florida und North Carolina, dem arktischen Eismeer und dem Korallenmeer des Südpazifiks gemeldet.
Zudem wurden 2010 drei neue Arten (zwei aus den Gattungen Rugiloricus und Pliciloricus sowie Spinoloricus cinziae) entdeckt, die in sauerstofffreien salzreichen Milieus in Sedimenten des Mittelmeers leben. Diese sind neben Henneguya zschokkei (Myxozoa) die ersten bekannten Mehrzeller, die dauerhaft ohne Sauerstoff existieren können.
Lebensweise
Über die Lebensweise der Korsetttierchen liegen praktisch keine Erkenntnisse vor. Aus der Struktur des Mundkegels und dem Aufbau des Schlunds als Saugschlund wird manchmal geschlossen, dass die Tiere räuberisch oder als Ectoparasiten leben und die nährstoffreiche Körperflüssigkeit aus ihren Opfern saugen. Es ist ein Fund bekannt, bei dem ein Tier angeheftet an einem benthischen Ruderfußkrebs gefunden wurde, weitere Funde sind bisher nicht belegt. Auch eine Ernährung von Bakterien kann nicht ausgeschlossen werden.
Fortpflanzung und Entwicklung
Männliche und weibliche Keimdrüsen finden sich immer getrennt auf verschiedenen Individuen. Während sich bei manchen Arten die Geschlechter an der Struktur der vordersten Stachelreihe voneinander unterscheiden lassen, ist dies bei anderen nicht möglich. Die Bedeutung des Unterschieds in den Clavoscaliden ist unklar, hängt aber vielleicht mit dem Einsatz dieser Strukturen bei der Partnersuche zusammen.
In den weiblichen Keimdrüsen, den Ovarien, entwickelt sich immer nur ein einziges, sehr großes Ei. Da bei den Weibchen einer Art Samenspeicher gefunden wurden, nimmt man an, dass die Befruchtung intern stattfindet, über die weitere embryonale Entwicklung ist aber nichts bekannt.
Korsetttierchen durchleben ein Larvenstadium, das als Higginssche Larve bezeichnet wird. Dieses weist am Hinterende große, blattförmige "Zehen" auf, die entweder zusammen mit zwei bis drei auf der Bauchseite befindlichen Stacheln als Paddel zur Fortbewegung im Plankton eingesetzt werden oder aber Klebedrüsen tragen, mit denen sich die Tiere am Sediment anheften.
Auch die Larven besitzen bereits ein Introvert, der Mundkegel ist aber noch nicht wie bei den erwachsenen Tieren mit starren Stiletten bewehrt. Das Erwachsenenstadium wird nach mehreren Häutungen über eine Metamorphose erreicht, der manchmal die Bildung einer widerstandsfähigen Cyste vorausgeht.
Bei manchen Larven findet man das Phänomen der Neotenie, sie werden also noch im Larvenzustand geschlechtsreif und pflanzen sich parthenogenetisch, also ohne Befruchtungsvorgang, fort. Dazu bilden sie eine Cyste, in der sie sich häuten. Im Eierstock entwickeln sich nun mehrere Eier, aus denen vier bis zwölf Tochterlarven entstehen, die sich gestaltlich nicht von der auf sexuellem Wege entstandenen Larve unterscheiden lassen. Diese stirbt nun ab, worauf die Tochter-Larven aus der gehäuteten Hülle des Tieres freigesetzt werden. Sie sind ihrerseits zur eingeschlechtlichen Fortpflanzung in der Lage, weswegen man auch von einem parthenogenetischen Lebenszyklus spricht.
Stammesgeschichte
Bisher können den Korsetttierchen keine eindeutigen Fossilfunde zugeordnet werden. Vergleiche mit modernen Taxa sehen ihre nächsten Verwandten recht eindeutig in den Hakenrüsslern (Kinorhyncha) und Priapswürmern (Priapulida), mit denen sie das Taxon Scalidophora bilden. Die drei Gruppen teilen zahlreiche Merkmale, so die mit Chitin verstärkte Außenhaut, die darauf befindlichen chitinhaltigen Borsten oder Stacheln, der Sinneswahrnehmung dienende Grübchen (Flosculi) sowie zwei Gruppen von Introvert-Retraktor-Muskeln.
Welche der beiden Tierstämme die evolutionäre Schwestergruppe der Korsetttierchen darstellt, ist hingegen weitaus stärker umstritten; alle drei kombinatorisch möglichen Varianten sind von Zoologen vorgeschlagen und begründet worden. Für eine engere Verwandtschaft von Korsetttierchen und Priapswürmern spricht das Vorhandensein eines von der Cuticula gebildeten Korsetts, das bei den letzteren im Larvenstadium vorhanden ist, für eine enge Verwandtschaft von Korsetttierchen und Hakenrüsslern dagegen der ihnen gemeinsame ausstreck-, aber nicht ausstülpbare Mundkegel. Die dritte Alternative, ein Schwestertaxon-Verhältnis zwischen Hakenrüsslern und Priapswürmern mit den Korsetttierchen als Außengruppe, wird durch das bei den beiden ersteren Taxa vorkommende Schlundgewebe aus embryonalem Mesoderm begründet. Die These, dass die Korsetttierchen durch Pädomorphose, also durch Beibehaltung larvaler Merkmale im Erwachsenenstadium aus Priapswürmern entstanden sind, wurde erwogen, konnte sich bisher aber nicht durchsetzen.
Seit dem Jahr 2004 sind aus Hunan in Südchina Embryo-Fossilien der Art Markuelia hunanensis bekannt. Sie entstammen der erdgeschichtlichen Epoche des mittleren bis späten Kambriums vor etwa 500 Millionen Jahren und werden durch eine kladistische Analyse als Vertreter der Stammlinie der Scalidophora angesehen, lassen sich also keiner der modernen drei Gruppen zuordnen, aus denen dieses Taxon besteht. Durch die einmaligen Erhaltungsbedingungen in feinkörnigem Calciumphosphat ist die Embryonalentwicklung von Markelia hunanensis recht gut bekannt, wodurch sich die ungewöhnliche Situation ergibt, dass man über die frühe Entwicklung dieser seit einer halben Milliarde Jahre ausgestorbenen Art mehr weiß als über diejenige ihrer modernen Verwandten.
Markuelia hunanensis war möglicherweise segmentiert – falls sich dieser Befund und zugleich die kladistische Analyse bestätigen sollten, wäre der Verlust der Segmentierung wohl ein gemeinsames abgeleitetes Merkmal, eine Synapomorphie, der Priapswürmer und der Korsetttierchen und würde damit deren Schwestergruppenverhältnis unterstreichen.
In die weitere Verwandtschaft der Korsetttierchen gehören Faden- (Nematoda) und Saitenwürmer (Nematomorpha), mit denen die Scalidophora das Taxon Cycloneuralia bilden. Allesamt werden sie in die Häutungstiere (Ecdysozoa) eingeordnet, zu denen auch die Panarthropoda mit den Gliederfüßern (Arthropoda) als wichtigster Gruppe gehören.
Systematik
Es gilt heute als unumstritten, dass Korsetttierchen eine natürliche Verwandtschaftsgruppe bilden, also im Sinne der Kladistik ein monophyletisches Taxon sind und somit alle Nachkommen ihres gemeinsamen Vorfahren umfassen. Gemeinsame abgeleitete Merkmale der Gruppe, Synapomorphien, sind zum Beispiel die mit den Keimdrüsen sackartig zusammengefassten Protonephridien, die speziellen Spinoscaliden am Kopf, welche ihre eigene Muskulatur besitzen und die "Zehen" der Higgins-Larven.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind knapp einhundert Arten bekannt, von denen aber kaum mehr als zehn bisher wissenschaftlich beschrieben wurden. Man teilt sie in zwei Familien in einer Ordnung Nanoloricida ein:
Die Pliciloricidae zeichnen sich durch zweiundzwanzig nur leicht verhärtete (sklerotisierte) Lorica-Platten aus, auf denen sich keine Dornen befinden. After und Geschlechtsöffnung liegen bei ihnen bauchseitig. Männchen und Weibchen der Pliciloricidae lassen sich äußerlich nicht unterscheiden; ihre Larven verfügen über Zehen mit Klebedrüsen. Bisher wurden zwei Gattungen beschrieben, Pliciloricus und Rugiloricus.
Bei den Nanaloricidae besteht die stark verhärtete Lorica aus sechs Platten, von denen insgesamt fünfzehn hohle Dornen zur Vorderseite zeigen. Auch die rückseitige Lage von After und Geschlechtsöffnung, das unterschiedliche Aussehen von Männchen und Weibchen und die bei den Larven vorhandenen Paddelzehen setzen sie von den Pliciloricidae ab. Alle Nanaloricidae gehören zu einer Gattung Nanaloricus.
Für die noch nicht beschriebenen Arten sollen möglicherweise zwei neue Familien festgelegt werden.
Literatur
Richard C. Brusca, G. J. Brusca: Invertebrates. Sinauer Associates, Sunderland Ma 2003, S. 348. ISBN 0-87893-097-3
S. Lorenzen: Loricifera. in: Wilfried Westheide, R. Rieger: Spezielle Zoologie. Teil 1. Einzeller und Wirbellose Tiere. Gustav Fischer, Stuttgart 1996. ISBN 3-437-20515-3
Edward E. Ruppert, R. Fox s., R. D. Barnes: Invertebrate Zoology, A Functional Evolutionary Approach. Brooks/Cole, Pacific Grove 2004, S. 776. ISBN 0-03-025982-7
Fundstellen
Wissenschaftliche Literatur
X-P. Dong, P. C. J. Donoguhe, H. Cheng, J. B. Liu: Fossil embryos from the Middle and Late Cambrian period of Hunan, south China. in: Nature. London 427.2004, S. 237.
R. P. Higgins, R. M. Kristensen: Loricifera. in: Robert P. Higgins, H. Thiel (Hrsg.): Introduction to the Study of Meiofauna. Smithsonian Institution Press, Washington 1988, S. 319. ISBN 0-87474-488-1
R. M. Kristensen: Loricifera, a new phylum with Aschelminthes characters from the meiobenthos. in: Zeitschrift für zoologische Systematik und Evolutionsforschung. Parey, Hamburg 21.1983, S. 163.
R. M. Kristensen: Loricifera. In: F. W. Harrison, E. E. Ruppert (Hrsg.): Aschelminthes. Microscopic Anatomy of Invertebrates. Band 4. Wiley-Liss, New York 1991, ISBN 0-471-56103-7, S. 351.
R. M. Kristensen: An Introduction to Loricifera, Cycliophora, and Micrognathozoa. in: Integrative and Comparative Biology. Lawrence Kan 42.2002, S. 641.
Weblinks
Vielzellige Tiere |
25266 | https://de.wikipedia.org/wiki/Max%20Weber | Max Weber | Maximilian „Max“ Carl Emil Weber (* 21. April 1864 in Erfurt; † 14. Juni 1920 in München) war ein deutscher Soziologe und Nationalökonom. Obwohl seiner Ausbildung nach Jurist, gilt er als einer der Klassiker der Soziologie sowie der gesamten Kultur-, Sozial- und Geschichtswissenschaften.
Er lehrte als Privatdozent und außerordentlicher Professor an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin (1892–1894) und als ordentlicher Professor an den Universitäten Freiburg (1894–1896), Heidelberg (1897–1903), Wien (1918) und München (1919–1920). Krankheitsbedingt unterbrach er die universitäre Lehre in Heidelberg für viele Jahre, entfaltete aber in dieser Zeit eine außerordentlich produktive publizistische und journalistische Tätigkeit. Zudem versammelte er zum sonntäglichen Jour fixe namhafte Wissenschaftler, Politiker und Intellektuelle, deren Zusammentreffen den sogenannten „Mythos von Heidelberg“ als intellektuelles Zentrum begründeten.
Mit seinen Theorien und Begriffsprägungen hatte er insbesondere auf die Wirtschafts-, Herrschafts-, Rechts- und Religionssoziologie großen Einfluss. Auch wenn sein Werk fragmentarischen Charakter hat, wurde es dennoch aus der Einheit eines Leitmotivs entwickelt: des okzidentalen Rationalismus und der damit bewirkten Entzauberung der Welt. Eine Schlüsselstellung in diesem historischen Prozess wies er dem modernen Kapitalismus als der „schicksalsvollsten Macht unseres modernen Lebens“ zu. In der Wahl dieses Forschungsschwerpunktes zeigte sich eine Nähe zu seinem Antipoden Karl Marx, die ihm auch die Bezeichnung „der bürgerliche Marx“ eintrug.
Mit Webers Namen sind die Protestantismus-Kapitalismus-These, das Prinzip der Werturteilsfreiheit, der Begriff Charisma, das Gewaltmonopol des Staates sowie die Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik verknüpft. Aus seiner Beschäftigung mit dem „Erlösungsmedium Kunst“ ging eine gelehrte Abhandlung zur Musiksoziologie hervor. Politik war nicht nur sein Forschungsgebiet, sondern er äußerte sich auch als klassenbewusster Bürger und aus liberaler Überzeugung engagiert zu aktuellen politischen Streitfragen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Als früher Theoretiker der Bürokratie wurde er über den Umweg US-amerikanischer Rezeption zu einem der Gründungsväter der Organisationssoziologie gekürt.
Max Webers Ehefrau Marianne Weber engagierte sich politisch als Frauenrechtlerin, verfasste nach seinem Tod die erste und jahrzehntelang einzige Biographie ihres Mannes und gab einige seiner wichtigen Werke postum heraus.
Leben
Max Weber war ein selbstbewusstes Mitglied der bürgerlichen Klasse. In seiner Freiburger Antrittsrede 1895 stellte er sich seinen Zuhörern wie folgt vor: „Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen, fühle mich als solches und bin erzogen in ihren Anschauungen und Idealen“. Das war er nach Jürgen Kaube im Hinblick auf „Besitz, politischer Stellung, Gelehrtentum, Bildung und Lebensstil“. Wolfgang J. Mommsen bezeichnete ihn als „klassenbewußten Bourgeois“ und den „bürgerlichen Marx“, der wie kaum jemand anderes mit solcher Konsequenz bürgerliche Lebensideale verfochten habe „als dieser Nachfahre französischer Hugenotten“. Als Wissenschaftler konnte er sich laut Werner Gephart mit gutem Grund Jurist, Nationalökonom, Historiker, Soziologe und Kunstwissenschaftler nennen.
Jugendzeit und Studium
Max Weber wurde am 21. April 1864 in Erfurt als erstes von acht Kindern geboren, von denen sechs (vier Söhne und zwei Töchter) das Erwachsenenalter erreichten. Seine Eltern waren der Jurist und spätere Reichstagsabgeordnete der Nationalliberalen Partei Max Weber sen. (1836–1897) und Helene Weber, geb. Fallenstein (1844–1919), beide Protestanten mit hugenottischen Vorfahren; Helene Fallenstein war eine Enkelin des Kaufmanns Cornelius Carl Souchay. Sein 1868 geborener Bruder Alfred wurde ebenfalls Nationalökonom und Universitätsprofessor im Fach Soziologie, der 1870 geborene Bruder Karl wurde Architekt. Max Weber war über die mütterliche Linie Neffe von Hermann Baumgarten und Vetter von Fritz und Otto Baumgarten; sein Onkel väterlicherseits war der Textilfabrikant Carl David Weber.
Max Weber wuchs in einer relativ intakten Familie auf, „deren Zusammenhalt sich nicht zuletzt in Streitigkeiten manifestierte“. Er galt als Sorgenkind, das bereits im Alter von zwei Jahren an Meningitis erkrankt war. Das Recht des Erstgeborenen machte er früh geltend und fühlte sich in der Familie als Vermittler von Streitigkeiten zwischen Eltern und Kindern. Die schulischen Anforderungen bewältigte er „mühelos und mit Bravour“. Mit dreizehn las er Werke der Philosophen Arthur Schopenhauer, Baruch de Spinoza und Immanuel Kant, aber auch Belletristik wie Werke von Goethe.
Nach dem Abitur am Königlichen Kaiserin-Augusta-Gymnasium in Charlottenburg studierte Weber von 1882 bis 1886 Jura, Nationalökonomie, Philosophie, Theologie und Geschichte in Heidelberg, Straßburg, Göttingen und Berlin. In seinem Hauptfach Jura war einer seiner Studienschwerpunkte römisches Recht und die für die damalige Juristenausbildung in Deutschland vorgeschriebene Pandektenwissenschaft, eine auf der Sammlung von römischen Rechtstexten systematisierten Rechtswissenschaft, die auch die Grundlage für das 1900 verabschiedete Bürgerliche Gesetzbuch bildete. Nur teilweise war sein Studium von seinem Wehrdienst 1883/1884 als Einjährig-Freiwilliger in Straßburg unterbrochen, wo er die historischen Seminare seines Onkels Hermann Baumgarten besuchen konnte. Die Militärzeit erlebte er anfangs als „stumpfsinnig“ und beendete sie als Reserveoffizier. Während des Straßburger Militärdienstes verbrachte er viel Zeit in der Familie seines Onkels, „ein alter 48-er Liberaler“, der für ihn zu einer Art Ersatzvater und Mentor wurde. Sein studentischer Alltag war einerseits von harter Arbeit, ausgiebiger Lektüre und intellektuellen Kontakten, andererseits vom damaligen Studentenleben zwischen Mensuren und exzessiven Trinkgewohnheiten geprägt. Weber war Mitglied der Studentenverbindung Burschenschaft Allemannia (SK), aus der er per Brief vom 17. Oktober 1918 seinen Austritt erklärte. In seinem Austrittsbrief an den Vorsitzenden der Philisterkommission hob er die Verdienste der Verbindung für die „Pflege der Männlichkeit“ hervor, kritisierte aber die „geistige Inzucht“ und „Beschränkung des persönlichen Verkehrs“ des Verbindungswesens, die ihn zu dieser Entscheidung bewogen habe.
Nach bestandenem Ersten Juristischen Staatsexamen am 15. Mai 1886 am Oberlandesgericht Celle begann Max Weber ein vierjähriges Referendariat in Berlin, das er am 18. Oktober 1890 mit dem Zweiten Juristischen Staatsexamen abschloss. 1886 war er auch aus finanziellen Gründen in sein Berliner Elternhaus zurückgekehrt, wo er bis zu seiner Hochzeit 1893 wohnte. Noch während des Referendariats wurde Weber mit der Dissertation Die Entwickelung des Solidarhaftprinzips und des Sondervermögens der offenen Handelsgesellschaft aus den Haushalts- und Gewerbegemeinschaften in den italienischen Städten am 1. August 1889 an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin zum Dr. jur. (mit der Note magna cum laude) promoviert. Sein Doktorvater war der Jurist und Handelsrechtler Levin Goldschmidt. Bei der öffentlichen Disputation kam es zur berühmten Intervention von Theodor Mommsen: „Sohn, da hast Du meinen Speer, meinem Arm wird er zu schwer.“ Schon in dieser Erstlingsschrift entdeckt der Rechtshistoriker Gerhard Dilcher „spätere Grundfiguren des Weberschen soziologischen Denkens“, wie „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ sowie das „Erklärungsparadigma der Rationalisierung“.
Universitätslaufbahn und politische Positionen
Im Februar 1892 erfolgte die Habilitation für Handelsrecht und Römisches Recht bei August Meitzen in Berlin mit der unmittelbar anschließenden Ernennung zum Privatdozenten. Webers Habilitationsschrift trug den Titel Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht. Nach dieser „glänzenden Juristenkarriere“ wurde er im Oktober 1893, im Alter von 29 Jahren, zum außerordentlichen Professor für Handelsrecht und deutsches Recht an der juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität ernannt und weiterhin mit der Vertretung seines erkrankten Lehrers Levin Goldschmidt beauftragt. Im gleichen Jahr heiratete er in Oerlinghausen seine Cousine Marianne Schnitger, die später als Frauenrechtlerin, Schriftstellerin und Politikerin aktiv wurde. Die Ehe blieb kinderlos.
Ebenfalls 1893 wurde Max Weber erstmals in den Ausschuss des Vereins für Socialpolitik kooptiert. Vorangegangen war die große empirische Studie Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, die 1892 in der Schriftenreihe des Vereins erschienen war. Dem Verein war Weber bereits 1888 beigetreten und gehörte ihm bis zu seinem Lebensende an. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Alfred, der mit ihm an der Enquete des Vereins über Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie beteiligt war, gehörte er zur jüngeren linksliberalen Generation des Vereins, nicht zur älteren Generation der sogenannten Kathedersozialisten um Gustav Schmoller und Adolph Wagner. In den Debatten des Vereins traten sie beide „eloquent als streitbare Dioskuren“ auf.
Im Jahr 1893 trat Weber in den Alldeutschen Verband ein, der eine nationalistische Politik vertrat. In seiner Freiburger Antrittsvorlesung 1895 versuchte er die Verdrängung der seiner Ansicht nach rassisch höherwertigen deutschen Bevölkerung durch die slawisch-polnische im ostelbischen Preußen zu belegen Weber ging davon aus, dass „das Vordringen der Polen auf Kosten der Deutschen im Osten sich vollzog [...] infolge der größeren Kulturarmut der ersteren, die sich ausdrückte in geringeren Lohnforderungen der polnischen Arbeiter und geringerem Mindestbodenbedarf der polnischen Bauern“.
Als er sich 1899 in der sogenannten „Polenfrage“ mit der Forderung nach Schließung der Grenzen für polnische Wanderarbeiter nicht durchsetzen konnte, verließ er den Alldeutschen Verband. In seinem Austrittsschreiben vom 22. April 1899 gibt Max Weber ausdrücklich die Polenfrage als Grund seines Austritts an und beschwert sich, dass der Alldeutsche Verband den völligen Ausschluss der Polen nicht mit der gleichen Vehemenz gefordert habe, mit der er sich für die Ausweisung der Tschechen und Dänen eingesetzt hatte. Insofern scheiterte er daran, dass im Alldeutschen Verband die bäuerlichen Mitglieder, die die Überwindung des Landarbeitermangels in den Vordergrund stellten, ihre Interessen zunächst durchsetzen konnten, auch wenn der Verband später offen rassistische Positionen vertrat.
Bereits 1894 war Max Weber auf einen Lehrstuhl für Nationalökonomie an die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg berufen worden. Dort hielt er am 13. Mai 1895 die akademische Antrittsrede Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, die im selben Jahr veröffentlicht wurde. 1896 erhielt er den Ruf als Nachfolger seines akademischen Lehrers Karl Knies, eines der renommiertesten Wirtschaftswissenschaftler, auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaften an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Im Sommersemester 1897 nahm er die Lehre in Heidelberg auf. Beim Besuch seiner Mutter im Juni 1897 kam es zum Eklat mit dem Vater, der mitgereist war, weil er seine Frau nicht allein reisen ließ. Im Beisein der Mutter und Mariannes entlud der Sohn seinen lange aufgestauten Grimm über das autoritär-patriarchalische Verhalten des Vaters gegenüber der Mutter und erklärte, dass er mit dem Vater nichts mehr zu tun haben wolle. „Ein Sohn hält Gerichtstag über den Vater“, resümierte Marianne Weber die Auseinandersetzung. Nur wenige Wochen später starb der Vater, ohne dass es zu einer Versöhnung gekommen war.
In den 1890er Jahren war Max Weber Teilnehmer mehrerer Tagungen des Evangelisch-sozialen Kongresses und unterstützte Friedrich Naumann und den von ihm gegründeten Nationalsozialen Verein, dem er 1896 als Mitglied beigetreten war.
Aufgabe der Lehrtätigkeit und wissenschaftlichen Arbeit
Seine Lehrtätigkeit musste Weber 1898 wegen eines Nervenleidens einschränken, das der in Heidelberg lehrende Psychiater Emil Kraepelin als „Neurasthenie aus jahrelanger Überarbeitung“ diagnostiziert hatte. Zwischen 1898 und 1900 verbrachte er mehrere Monate in Heilstätten, doch blieben die Kuren ohne Erfolg. Seit 1900 unterrichtete er nicht mehr, 1903 gab er die Professur ganz auf. Bis 1918 lebte er als Privatgelehrter von den Zinserträgen des familiären Vermögens.
Erst mit der Begründung des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, dessen Redaktion er 1904 zusammen mit Edgar Jaffé und Werner Sombart übernahm, begann für ihn eine neue Tätigkeit, mit der er seine publizistische Arbeit mit großen Abhandlungen wieder aufnahm. Gleich in den ersten Heften erschienen Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904) und Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904 und 1905).
Zuvor hatte er im Herbst 1904 mit seiner Frau eine dreimonatige Reise in die USA unternommen, wo er protestantische Gemeinden, die Schlachthöfe von Chicago, Indianerschulen und das Tuskegee Institute besuchte und an Landauktionen und Gottesdiensten teilnahm. Auch traf er den von ihm sehr geschätzten schwarzen Wissenschaftler W. E. B. Du Bois, den er bereits in Berlin kennengelernt hatte. Kaum einen Aspekt der amerikanischen Gesellschaft ließ er unbesichtigt. Die Eindrücke führten bei Weber zu einer zunehmenden Ablehnung rassisch orientierter Erklärungsmuster für historische und gesellschaftliche Zusammenhänge. Sechs Jahre später erinnerte sich Weber öffentlich an die Begegnung mit dem „Gentleman“ Du Bois, um auf dem Frankfurter Soziologentag 1910 Ideologen des Rassebegriffs zu widersprechen. Darin spiegelt sich auch Webers Abwendung von den Werten einer rassisch definierten deutschen Nation hin zur europäisch-amerikanischen Kultur mit ihrem Prinzip der rationalen Lebensführung, an deren Siegeszug er seit seinen Protestantismusstudien glaubte, deren soziale und menschliche Kosten er aber nicht ignorierte, sondern in verschiedenen Werken immer wieder benannte („Versachlichung“, „Disziplinierung“, „Entzauberung“, „Säkularisierung“, „Entmenschlichung“ usw.).
Seit 1909 widmete sich Weber intensiv der Konzeption eines großangelegten neuen Handbuchs, des Grundriß der Sozialökonomik. Als sein eigener Beitrag dazu erschien 1922 postum Wirtschaft und Gesellschaft. 1909 gründete er zusammen mit Rudolf Goldscheid sowie Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Werner Sombart die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS), deren erster Präsident Ferdinand Tönnies wurde. Im Gegensatz zum Verein für Socialpolitik, der in die soziale Wirklichkeit eingreifen wollte, war mit der Neugründung eine entschiedene Hinwendung zu theoretischen Fragestellungen beabsichtigt. Marianne Weber vermerkte zur Gründung der Gesellschaft: „Die Soziologie war noch keine Spezialwissenschaft, sondern auf ein Ganzes der Erkenntnis gerichtet, deshalb mit fast allen Wissenschaften in Fühlung.“ Weber bezeichnete sich von da an endgültig als Soziologe. Doch die erbitterten Debatten über das Wertfreiheitspostulat auf den Soziologentagen 1910 und 1912 führten zu Enttäuschung und Resignation und seinem Ausscheiden aus der Gesellschaft.
Von großer Bedeutung für die Gestaltung Max Webers sozialen Umfeldes war der sogenannte „Sonntagskreis“ (Marianne Weber), ein Gesprächszirkel, der nach Webers Umzug nach Heidelberg 1910 in die großelterliche „Fallensteinvilla“ in der Ziegelhäuser Landstraße 17 stattfand. Am sonntäglichen Jour fixe waren Wissenschaftler, Politiker und Intellektuelle aus Heidelberg und von außerhalb beteiligt, unter ihnen: Ernst Troeltsch, Georg Jellinek, Friedrich Naumann, Emil Lask, Karl Jaspers, Friedrich Gundolf, Georg Simmel, Georg Lukács, Ernst Bloch, Gustav Radbruch, Theodor Heuss. Auch gebildete Frauen wie Gertrud Jaspers, Gertrud Simmel, die Frauenrechtlerin Camilla Jellinek und die erste Generation der Heidelberger Studentinnen (unter ihnen Else Jaffé) gehörten zu den regelmäßigen Gästen. Der sogenannte „Mythos von Heidelberg“ wurde nicht zuletzt durch diese Zusammentreffen als ein intellektuelles Zentrum begründet.
Im Frühjahr 1913 und 1914 verbrachte Weber jeweils einen Monat in Ascona am Monte Verità, um zu kuren, abzunehmen und zugleich als Anwalt einer Bekannten (Frieda Gross) in einem komplizierten und über Jahre erstreckenden Prozess beizustehen. Die bunte Welt der Lebensreformer, „Zauberweiber“ und Anarchisten, die sich am Monte Verità versammelten, empfand er als eine „Oase der Reinheit“, und als in „sonderbare Fabelwelten verschlagener Max“ grüßte er von dort seine Frau.
Im Jahre 1909 wurde Max Weber außerordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, ab 1918 auswärtiges Mitglied.
Erster Weltkrieg
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges war Max Weber ein Jahr lang Disziplinaroffizier der Lazarettkommission in Heidelberg. Er teilte die nationale Aufbruchstimmung des Spätsommers 1914 mit vollem Herzen („dieser Krieg ist groß und wunderbar“, schrieb er an Karl Oldenberg und Ferdinand Tönnies). Ende 1915 setzte Webers rege publizistische Tätigkeit ein, vornehmlich für die Frankfurter Zeitung, mit der er sich im weiteren Kriegsverlauf für einen Verständigungsfrieden ohne Annexionen sowie für eine Parlamentarisierung und Demokratisierung des Deutschen Reiches aussprach. 1917 nahm er an zwei Kulturtagungen auf Burg Lauenstein teil, die der Verleger Eugen Diederichs zur geistigen Neuorientierung nach dem Krieg organisiert hatte. Zur Pfingsttagung über „Sinn und Aufgabe unserer Zeit“ (29.–31. Mai 1917) ist sein heftiger Disput mit dem konservativen Publizisten Max Maurenbrecher überliefert. Zur Herbsttagung über das „Führerproblem im Staate und in der Kultur“ (29. September – 3. Oktober) hielt er den Eröffnungsvortrag Die Persönlichkeit und die Lebensordnungen.
Zum Sommersemester 1918 nahm Weber seine Lehrtätigkeit mit der probeweisen Annahme eines Rufes der Wiener Universität auf den Lehrstuhl für Politische Ökonomie wieder auf – „zur Erprobung meiner wiedererlangten Gesundheit“, wie er dem zuständigen Kultusministerium mitteilte. Schon Mitte des Semesters gab er zu erkennen, dass er seine Wiener Lehrtätigkeit auf drei Monate beschränken wollte. Seine Vorlesung trug den Titel Positive Kritik der materialistischen Geschichtsauffassung. Während dieser Zeit hielt er auf Einladung der Feindespropaganda-Abwehrstelle im Rahmen eines „vaterländischen Bildungsprogramms“ im Juni des letzten Kriegsjahres vor k.u.k.-Offizieren einen Vortrag über den Sozialismus. Im Mai 1918 erschien Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, eine politische „Streitschrift akademischen Charakters und Tonfalls“ als zeitdiagnostische Anwendung seiner politischen Soziologie.
Nach Kriegsende
Nach Kriegsende gehörte Weber zum Gründungskreis der links-liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), für die er zur Verfassunggebenden Nationalversammlung kandidieren wollte. Im Dezember 1918 war er sachverständiger Berater bei den Verfassungsberatungen im Reichsamt des Innern unter Leitung von Hugo Preuß und im Mai 1919 bei den Friedensverhandlungen von Versailles unter Leitung von Graf Brockdorff-Rantzau.
Zum 1. April 1919 wurde er als Nachfolger auf den Münchner Lehrstuhl von Lujo Brentano für die Professur für Gesellschaftswissenschaft, Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie berufen. Seine Lehrtätigkeit nahm er im Sommersemester wegen der politischen Verpflichtungen erst verspätet auf. Im Wintersemester 1919/1920 hielt er die Vorlesung Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Es sollte sein letztes Kolleg sein, das abzuschließen ihm vergönnt war. Im Juli 1919 wurde er zum ordentlichen Mitglied der Historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Webers Münchner Vorlesungen wurden als „universitäres Ereignis“ gehandelt; sogar Kollegen, unter ihnen Lujo Brentano und Carl Schmitt, nahmen daran teil. Schmitt nahm auch an Webers „Dozenten-Seminar“ teil, von dem er berichtet, dass er Weber als „Revanchisten“ wahrgenommen habe: „das Radikalste von allem Revanchismus gegenüber Versailles, was ich je erlebt habe.“ 1923 veröffentlichte Schmitt in dem zweibändigen Werk „Erinnerungsgabe für Max Weber“ einen Artikel mit dem Titel „Soziologie des Souveränitätsbegriffs und politische Theologie“. In der Erinnerungsgabe setzt er sich u. a. mit der Rechtssoziologie Max Webers auseinander und stellt fest, dass bisher noch nicht versucht worden sei, das „ungeheure soziologische Material der Schriften Max Webers für die juristische Begriffsbildung zu verwerten“.
Im Juli 1919 wurde Max Weber als Zeuge in den Prozessen gegen den Schriftsteller Ernst Toller und den Nationalökonomen Otto Neurath vernommen, die er beide von den Lauensteiner Kulturtagungen her kannte, und die führend an der Münchner Räterepublik beteiligt gewesen waren. Toller hatte schon in Heidelberg als Student bei Weber gehört. Webers positive Aussagen zur ethischen Grundhaltung der beiden Angeklagten trugen zu ihrer gemäßigten Verurteilung bei. Er attestierte Toller die „absolute Lauterkeit eines radikalen Gesinnungsethikers“.
Auf die nach Kriegsende weiter fortschreitende Radikalisierung der deutschen Rechten, die die Niederlage nicht akzeptieren wollte, reagierte Max Weber mit zunehmendem Befremden. Dabei wirkte sich auch der Umstand aus, dass nationalistische Studentengruppen seine Vorlesung störten. Grund war Webers Haltung im Fall des Anton Graf von Arco auf Valley, des Mörders von Kurt Eisner, dem bayerischen Ministerpräsidenten. Weber verteidigte zwar die „tapfere“ Tat des Grafen, meinte aber, „man hätte ihn erschießen sollen“, damit er und nicht Eisner als Märtyrer in der Erinnerung fortleben würde. Weber verabscheute, Joachim Radkau zufolge, die „Literaten“ an der Spitze der Münchner Räteregierung „aus ganzem Herzen“.
Erkrankung und Tod
Noch Ende Mai 1920 arbeitete Weber intensiv an den Korrekturen zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie. Nachdem er schon längere Zeit mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte, erkrankte er Anfang Juni an einer Lungenentzündung, möglicherweise ausgelöst durch die Spanische Grippe, und musste die gerade begonnenen Vorlesungen über Staatssoziologie und Sozialismus absagen. Er starb an deren Folgen am 14. Juni 1920 in München-Schwabing, Seestraße 3c (heute 16). Die Trauerfeier, bei der Marianne Weber eine Trauerrede hielt, fand auf dem Münchner Ostfriedhof statt, die spätere Urnenbeisetzung auf dem Heidelberger Bergfriedhof unter Teilnahme von etwa tausend Menschen. Die Grabstätte von Weber und seiner Frau befindet sich in der Abteilung E. Zum Tod von Weber wurden in verschiedenen Organen eine große Anzahl an geradezu hymnischen Nachrufen veröffentlicht, die der eindrucksvollen Persönlichkeit, dem patriotischen Deutschen und dem großen Intellektuellen nachtrauerten.
Sein Bruder Alfred, der mit dem älteren Bruder lebenslang gerungen hatte, überlebte ihn um 38 Jahre; wie er war er ein überzeugter Liberaler und Vertreter der Kultursoziologie, doch ihrer beider wissenschaftlichen Wege konnten kaum unterschiedlicher sein – der eine (Max) methodisch streng an einem asketischen und aufklärerischen Rationalismus orientiert, der andere (Alfred) für eine vitalistisch fundierte Kultursoziologie mit dem Verlangen nach Ganzheit und erschauter Synthese streitend. Schon in ihrer Jugendzeit hatte Weber 1887 seinem jüngeren Bruder einen Hang zur „künstlerischen und poetischen“ Verklärung seiner Doktrinen bescheinigt, während er aus den gleichen Philosophemen mit „schauderhafter Nüchternheit“ seine Konsequenzen bezog.
Politiker
Weber hatte nie ein politisches Amt inne. Gleichwohl engagierte er sich in politischen Organisationen wie dem Alldeutschen Verband und in den von Friedrich Naumann gegründeten liberalen Parteien (Nationalsozialer Verein, Deutsche Demokratische Partei). Mit seinen politischen Essays und Reden suchte Weber die politisch Verantwortlichen wie die öffentliche Meinung im späten Kaiserreich, im Ersten Weltkrieg und in der revolutionären Gründungsphase der Weimarer Republik zu beeinflussen. In einem Brief an Mina Tobler gestand er, dass Politik seine „Heimliche Liebe“ sei. In dieser Hinsicht befand der jüngere Philosoph und ehemals an Webers Heidelberger Gesprächskreis beteiligte Karl Jaspers: „Sein Denken war die Wirklichkeit eines in jeder Faser politischen Menschen, war ein dem geschichtlichen Augenblick dienender politischer Wirkungswille“.
Mit Wahlkampfreden, journalistischen Aufsätzen in der Tagespresse (unter anderem der Frankfurter Zeitung) und Vorträgen auf sozialpolitischen und evangelischen Kongressen nahm Weber als selbstbewusstes Mitglied der bürgerlichen Klasse Stellung zu wichtigen politischen Streitfragen seiner Epoche. Wolfgang Mommsen hat in seinem Buch Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920 dessen Wirken, Reden und Schriften als Politiker ausführlich nachverfolgt, aufgezeichnet und kritisch kommentiert. Bezugnehmend auf die Freiburger Antrittsrede 1895 folgert Mommsen, dass der „nationale Machtstaat“ Webers politisches Ideal gewesen sei. Die Rede diente als Initialzündung für das Entstehen eines liberalen Imperialismus im wilhelminischen Deutschland, und erst die liberalen Imperialisten machten in Deutschland den Imperialismus „gesellschaftsfähig“. Als „entschiedener Anhänger imperialistischer Ideale“ verteidigte er die expansive Flottenpolitik und befürwortete eine überseeische Kolonialpolitik.
Die Ethik der Bergpredigt hielt er nicht nur für unvereinbar mit politischem Handeln, sondern auch für eine „Ethik der Würdelosigkeit“. Vereint mit Nietzsche in der Ablehnung der christlichen Ethik, stellt er dieser „das Evangelium des Kampfes […] als einer Pflicht der Nation […], des einzigen Weges zur Größe“, entgegen. In seiner Rede Politik als Beruf postulierte er: „[...] man hat zu wählen zwischen der religiösen Würde, die diese Ethik bringt, und der Manneswürde, die etwas ganz anderes predigt: ‚Widerstehe dem Uebel, – sonst bist du für seine Uebergewalt mitverantwortlich‘.“ Dass eine Nation „vor allem Macht“ wollen müsse, empfand Weber als eine geschichtliche Notwendigkeit. Insbesondere vom deutschen Bürgertum, das beim Übergang von der feudalen Agrargesellschaft zur kapitalistischen Industriegesellschaft ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens gedrängt worden sei, sah er „die Zukunft Deutschlands als eines machtvollen Staates“ abhängig.
Im Kaiserreich und während des Ersten Weltkrieges
Während des Kaiserreichs war Weber 1893 dem nationalistischen Alldeutschen Verband beigetreten, dem er bis 1899 angehörte. Er sympathisierte mit dessen Bestreben, eine „aktive imperialistische Weltpolitik“ zu propagieren. In mehreren Ortsgruppen des Verbands hielt er Vorträge über die „Polenfrage“. Mit Vorbehalten trat er 1896 in den von Friedrich Naumann gegründeten Nationalsozialen Verein ein, eine politische Partei, die nationalistische, sozialreformerische und liberale Ziele verfolgte; 1903 fusionierte der Verein mit der Freisinnigen Vereinigung. Weber unterstützte Naumann, wo immer er konnte. Von dem Verein forderte er eine „konsequent bürgerliche Politik, den industriellen Fortschritt und den nationalen Machtstaat bejahende Ausrichtung“. Scharf ging er mit der „feudalen Reaktion“ ins Gericht („Ich gelte als ‚Feind der Junker‘“, bekannte er in einem Brief an den Vorsitzenden des Alldeutschen Verbands). Mit Naumann schwebte ihm – nach englischem Vorbild – ein politisches Bündnis des Bürgertums mit den aufsteigenden Schichten der Arbeiterklasse vor.
Äußerst kritisch betrachtete er Otto von Bismarcks Rolle in der deutschen Innen- und Außenpolitik. Als „entschiedener Anhänger imperialistischer Ideale“ erstrebte Weber weltpolitische Gleichberechtigung und ein angemessenes Kolonialreich. Bismarck habe die Möglichkeiten einer überseeischen Kolonialpolitik weitgehend übergangen und Deutschland in die fatale Lage gebracht, „die letzte in der Schlange der nach Kolonien strebenden Weltmächte zu sein“. In der 1918 erschienenen Schrift Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland rechnet er rigoros mit Bismarcks Erbe ab. Seine „cäsarische Herrschaft“ habe das Aufkommen politischer Führernaturen im Keim erstickt. Er habe die „politische Nichtigkeit des Parlaments und der Parteipolitiker […] gewollt und absichtsvoll herbeigeführt“. Sein Abgang habe ein Machtvakuum hinterlassen, das durch einen „theatralischen Kaiser“ und die preußische Beamtenschaft gefüllt wurde. Am Beispiel des britischen Premierministers William Ewart Gladstone wünschte er sich für die deutsche Politik ebenfalls eine „Führerdemokratie mit Maschine“ herbei, das heißt mit jener „lebenden Maschine, welche die bürokratische Organisation mit ihrer Spezialisierung der geschulten Facharbeit, ihrer Abgrenzung der Kompetenzen, ihren Reglements und hierarchisch abgestuften Gehorsamsverhältnissen darstellt“.
Während des Krieges stand Webers publizistische Tätigkeit unter dem „selbstgewählten Primat des deutschen nationalen Interesses“; so war er zwar anfänglich keineswegs prinzipiell gegen Annexionen, jedoch gegen die maßlosen Kriegszielprogramme der Rechten. In einer in der Frankfurter Zeitung im Sommer 1916 veröffentlichten Zuschrift wandte er sich gegen die „Quertreibereien einer kleinen Klique“ gegen den gemäßigten Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg mit den Worten: „[...] dass dieser Krieg nicht um abenteuerlicher Ziele willen geführt wird, sondern nur, weil und nur solange er für unsere Existenz notwendig ist“.
Während der Novemberrevolution und in der Weimarer Republik
Für Wolfgang Mommsen zählten die Jahre 1918 bis 1920 zu Webers „intensivsten unmittelbaren Engagement in der Tagespolitik“; doch zu einer von ihm „sehnlich erhofften amtlichen Verwendung“ bei der politischen Neuordnung Deutschlands ist es nicht gekommen.
Mommsen zufolge hatte Weber die Revolution kommen sehen und war darauf vorbereitet, dennoch erbitterte ihn der Ausbruch und er nahm trotz der Einsicht in die Zwangsläufigkeit des Geschehens „gesinnungspolitisch in maßlos scharfer Form dagegen Stellung“. So polemisierte er im Januar 1919 in einer Rede in Karlsruhe wie folgt: „Liebknecht gehört ins Irrenhaus und Rosa Luxemburg in den Zoologischen Garten“. Die wenige Tage später erfolgte Ermordung Liebknechts und Luxemburgs missbilligte er nach Marianne Webers Zeugnis mit den Worten: „Die Diktatur der Straße hat ein Ende gefunden, wie ich es nicht gewünscht habe. Liebknecht war zweifellos ein ehrlicher Mann. Er hat die Straße zum Kampf aufgerufen – die Straße hat ihn erschlagen“. Dass er andererseits „den zahlreichen, ökonomisch geschulten Mitgliedern der Sozialdemokratie, ohne Unterschied ob Mehrheits- oder unabhängige Sozialisten, bis zur Ununterscheidbarkeit“ nahestand, hatte er in einem Vortrag im Dezember 1918 öffentlich bekundet. Seine diversen Stellungnahmen zum Sozialismus blieben von einer Ambivalenz gekennzeichnet: Einerseits erwartete (und befürchtete) er von ihm die Fortführung, wenn nicht Beschleunigung der seine Zeit beherrschenden Tendenzen zur Spezialisierung und Bürokratisierung des politischen und wirtschaftlichen Betriebs, andererseits erhoffte er von den Sozialisten, dass sie diese Entwicklung umkehrten.
Als Mitglied des Preußischen Verfassungsausschusses, der vom 9. bis 12. Dezember 1918 in Berlin tagte, wirkte er am Entwurf der künftigen Weimarer Verfassung mit. Er wurde zur Teilnahme an der Versailler Friedensdelegation als Sachverständiger für die Kriegsschuldfrage eingeladen. Öffentliche Schuldbekenntnisse hielt er für „schlechthin würdelos und politisch verhängnisvoll“. Einen Tag vor Beginn der Friedenskonferenz veröffentlichte die Frankfurter Zeitung am 17. Januar 1919 von ihm den Artikel Zum Thema der „Kriegsschuld“, in dem er dem zaristischen Russland die Hauptschuld am Ersten Weltkrieg zuwies. An seine Frau schrieb er aus Versailles: „Jedenfalls mache ich bei der Schuld-Note nicht mit, wenn da Würdelosigkeiten beabsichtigt oder zugelassen werden“. Seiner Schwester Klara Mommsen schrieb er „Der Politiker muss Kompromisse machen […] – der Gelehrte darf sie nicht decken“.
Der 1918 von Friedrich Naumann mitgegründeten linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) trat Weber auf Drängen von Naumann und Alfred Weber bei und hielt für sie in großem Umfang Wahlkampfreden. Weber trat in nicht weniger als elf Wahlveranstaltungen als Hauptredner auf. Dabei trat er für eine politische Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie ein. Zeitweilig gehörte er dem Vorstand der DDP an. Von ihrer Frankfurter Untergliederung wurde er als Kandidat für die Nationalversammlung vorgeschlagen; der Vorschlag scheiterte indessen an parteiinternen Widerständen. Als die Partei ihn als Vertreter in die damals gebildete Sozialisierungskommission entsenden wollte, lehnte er, als Gegner der Sozialisierungspläne, das Angebot ab. Mit der Übernahme des Lehrstuhls von Lujo Brentano in München beendete er seine parteipolitische Tätigkeit.
Frauen
In ihrer biographischen Einleitung zum Max Weber-Handbuch skizzieren die Herausgeber Hans-Peter Müller und Steffen Sigmund vier Frauen, die für Webers Entwicklung maßgeblich waren: 1. seine Mutter, die er „als Heilige verehrt und geliebt“ habe, 2. seine Frau Marianne, mit der er eine „lebenslange unverbrüchliche Beziehung auf der Basis einer Gefährtenschaft einging“, 3. die Schweizer Pianistin Mina Tobler, zu der er sich erotisch sinnlich hingezogen fühlte, 4. Else Richthofen-Jaffé, mit der er 1917 ein leidenschaftliches Verhältnis begann, das in der berühmten Zwischenbemerkung zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie in Form einer geradezu hymnischen Eloge auf die körperliche Liebe ihren Niederschlag fand. Den drei Letztgenannten widmete er jeweils einen der drei Bände zur Religionssoziologie. Die Publikation Wirtschaft und Gesellschaft sollte nach seinem Willen die Widmung tragen: „Dem Andenken meiner Mutter Helene Weber, geb. Fallenstein 1844–1919“.
Werk
Nach eigenem Bekunden stand Webers wissenschaftliche Arbeit unter den Herausforderungen, die von den Schriften von Karl Marx und Friedrich Nietzsche ausgingen:
Bedeutsam für Weber war, wie von Marianne Weber zu erfahren ist, dass beide Denker, obwohl Gegenpole, in einem doch darin übereinstimmten: in dem Bestreben, die aus dem vielfältigen und widerspruchsvollen Gemisch „christlicher Kultur“ stammenden Wertungen aufzulösen.
Die Einflüsse von Nietzsche und Marx auf das Werk Webers sind zwar schwer fassbar, weil Weber selten Quellenhinweise zu ihnen gab, aber dennoch erheblich. Der Philosoph Wilhelm Hennis befand, dass „Nietzsches Genius im Werk Max Webers“ (so der Titel seines Aufsatzes) essentielle Spuren hinterlassen habe. Als elementare Berührungspunkte identifizierte er zum einen Webers Akzeptanz von Nietzsches Nihilismus-Diagnose („Gott ist tot“), aus der er die radikalsten wissenschaftlichen Konsequenzen gezogen habe, und zum anderen dessen Übernahme von Nietzsches Stilisierung des Christentums auf die Liebes- und Brüderlichkeitsreligion der Bergpredigt, die er im Widerspruch zu seinem Verständnis vom Leben als Kampf und als Wille zur Macht verstand. – Mit Marx teilte Weber als gemeinsames Forschungsgebiet „die ‚kapitalistische‘ Verfassung der modernen Wirtschaft und Gesellschaft“ und verarbeitete dabei, wie er, „ungeheure wissenschaftliche Stoffmassen“. Den Unterschied in der Interpretation des Kapitalismus sieht Karl Löwith darin, dass Weber ihn unter dem Gesichtspunkt einer universellen und unentrinnbaren Rationalisierung analysierte, Marx dagegen unter dem Gesichtspunkt einer universellen, aber umwälzbaren Selbstentfremdung. Nach Marianne Webers Aussage zollte Weber „Karl Marx' genialen Konstruktionen hohe Bewunderung“. So erklärte er Marx zum „weitaus wichtigsten Fall idealtypischer Konstruktionen“, seine „‚Gesetze‘ und Entwicklungskonstruktionen“ seien von einzigartiger heuristischer Bedeutung. In einem Vortrag über den Sozialismus vor k.u.k.-Offizieren im letzten Kriegsjahr 1918 nannte er das Kommunistische Manifest eine „wissenschaftliche Leistung ersten Ranges“, ein „prophetisches Dokument“, das „für die Wissenschaft sehr befruchtende Folgen gebracht hat“. Er übernahm von ihm (wie von anderen Autoren, deren Werke ihn beeindruckten) bestimmte Teile und Begriffe, die er für seine Zwecke bearbeitete, wie zum Beispiel den Begriff der Klasse. In anderer Hinsicht wird Weber als Antipode zu Marx wahrgenommen. Er kritisierte die materialistische Geschichtsauffassung aufs entschiedenste, da er grundsätzlich „jede Art von eindeutiger Deduktion“ an Stelle konkreter historischer Analyse ablehnte.
Universales Gesamtwerk
Max Weber ist der jüngste der drei Gründerväter der deutschen Soziologie (neben Tönnies und Simmel). Er wird als Begründer der Herrschaftssoziologie und neben Émile Durkheim als Begründer der Religionssoziologie betrachtet. Neben Karl Marx zählt er zu den bedeutenden Klassikern der Wirtschaftssoziologie. Für zahlreiche andere Teilgebiete der Soziologie, etwa die Rechts-, Organisations- und Musiksoziologie gab Weber ebenfalls wesentliche Anregungen. Obwohl er als habilitierter Jurist später in Forschung und Lehre zur Nationalökonomie und schließlich zur Verstehenden Soziologie als Kulturwissenschaft mit universalgeschichtlichem Anspruch wechselte, blieb sein Werk von der Jurisprudenz, insbesondere der Staatsrechtslehre stark geprägt. Neben seinen materialen historischen Analysen trug er Wesentliches zur Methodologie und Theorie einer modernen Geschichtswissenschaft bei. In seinem Vortrag Wissenschaft als Beruf nennt er als die ihm „nächstliegenden Disziplinen“: Soziologie, Geschichte, Nationalökonomie und Staatslehre und jene Arten von Kulturphilosophie, welche sich ihre Deutung zur Aufgabe machen. Für Wolfgang Schluchter besitzt das Werk Max Webers fragmentarischen Charakter, dennoch seien seine Texte aus der Einheit eines Leitmotivs entwickelt worden: der Besonderheit des okzidentalen Rationalismus mit der Konsequenz der „Entzauberung der Welt“ durch Berechenbarkeit. Thomas Schwinn verweist auf ein „dreigliedriges Forschungsprogramm“ Webers: Methodologie, Theorie, historisch-materiale Analyse.
Zu seinen bekanntesten und den weltweit verbreitetsten Werken der Soziologie zählt die 1904 und 1905 unter dem Titel Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus veröffentlichte Abhandlung sowie sein Monumentalwerk Wirtschaft und Gesellschaft. Die Abhandlung über die „protestantische Ethik“ ist in die Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie eingegangen, die 1920/21 in drei Bänden erschienen. Wirtschaft und Gesellschaft wurde erst 1921/22 nach seinem Tod von seiner Frau als 3. Abteilung des Grundrisses der Sozialökonomik veröffentlicht und enthält eine umfassende Darstellung seines Begriffs- und Denkhorizontes.
In der Fachliteratur finden sich unterschiedliche Gliederungsvorschläge für das vielseitige und umfangreiche Gesamtwerk. Raymond Aron gruppiert es nach vier Kategorien: Wissenschaftslehre, Wirtschaftsgeschichte, Religionssoziologie und Wirtschaft und Gesellschaft. Dirk Kaesler trennt die Darstellung der materialen Analysen von der „Methode“ (d. i. im engeren Sinn die Wissenschaftslehre). Keinen rechten Platz finden in dieser Gliederung zum einen seine beiden berühmten Vorträge (Wissenschaft als Beruf und Politik als Beruf) und zum anderen seine Abhandlung zur Musiksoziologie.
Wissenschaftslehre
Über den Status der Weberschen Wissenschaftslehre herrscht unter Weber-Experten kein Konsens. Was für das gesamte Webersche Werk charakteristisch ist, Vielschichtigkeit und „schillernde Vielfalt“, gilt auch für diese. Während der Philosoph Dieter Henrich von einer „Einheit der Wissenschaftslehre“ ausgeht, erkennt der Herausgeber mehrerer Weberscher Schriften, Johannes Winckelmann, darin lediglich eine methodologische „Sonntagsreiterei“. Die Methodologie sei „sowenig Voraussetzung fruchtbarer Arbeit wie die Kenntnis der Anatomie Voraussetzung richtigen Gehens“, schrieb Weber in einer seiner methodologischen Arbeiten.
Das Erscheinen eines von Weber seinem Verleger Paul Siebeck avisierten Sammelwerks seiner „methodologisch-logischen Aufsätze“ erlebte er nicht mehr. Erst 1922 brachte Marianne Weber einen diesem Gegenstandsbereich gewidmeten Band mit dem Titel Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre heraus. 1968 erschien eine von Johannes Winckelmann herausgegebene, textkritische und um einige Textteile erweiterte 3. Auflage, die bis zur Veröffentlichung der Bände I/7: Zur Logik und Methodik der Sozialwissenschaften und I/12: Verstehende Soziologie und Werturteilsfreiheit in der Max Weber-Gesamtausgabe als zentrales Referenzwerk für Webers wissenschaftstheoretische Schriften galt.
Kulturwissenschaften, Sozialökonomik
Die Verwendung von disziplinübergreifenden Begriffen wie „Kulturwissenschaft“ und „Sozialökonomik“ markieren Webers universales Erkenntnisinteresse. Mit dem Begriff „Kulturwissenschaften“ bezog er sich in gleicher Weise auf die Geschichts- wie auf die Sozialwissenschaften. Mit dem Begriff „Sozialökonomik“ bezeichnet er ein sozialwissenschaftliches Konzept, das Geschichte und Theorie, historische und theoretische Schule der Nationalökonomie mittels der „verstehenden Soziologie“ miteinander verknüpft. Der Begriff „Sozialökonomik“ wird heute auch als Sozialökonomie verwendet.
Methodischer Individualismus
Weber gilt als Begründer des methodischen Individualismus in den Sozialwissenschaften. Zwar hatte der Weber-Schüler Joseph Schumpeter den Begriff zuvor für die Nationalökonomie geprägt, aber theoretisch elaboriert wurde er von Weber, der ihn zum Grundprinzip der Soziologie erklärte. In seiner Arbeit Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie formuliert er: „Begriffe wie ‚Staat‘, ‚Genossenschaft‘ ‚Feudalismus‘ und ähnliche bezeichnen für die Soziologie, allgemein gesagt, Kategorien für bestimmte Arten menschlichen Zusammenhandelns und es ist also ihre Aufgabe, sie auf ‚verständliches‘ Handeln, und das heißt ausnahmslos: auf Handeln der beteiligten Einzelmenschen, zu reduzieren.“ Darin unterscheide sich die Soziologie von der Jurisprudenz, die unter Umständen den Staat als „Rechtspersönlichkeit“ ebenso wie den Einzelmenschen behandle.
Begriffsbildung und Idealtypus
Webers Begriffsbildungen werden bis heute vornehmlich in Soziologie und Politikwissenschaft als Grundlage weiterer Forschungen genutzt, beispielsweise seine Definitionen von Macht und Herrschaft oder Charisma. Auch der Idealtypus gehört dazu. Bernhard Quensel hat akribisch nachverfolgt und aufgezeigt, wie Weber für die soziologische Begriffsbildung bewusst auf die Art und Weise juristischer Begrifflichkeit zurückgreift. Von der Jurisprudenz zur Rechtsgeschichte und zur Soziologie fortschreitend, sei er bei jener Begriffsbildung angelangt und übernahm, ausgehend von Carl Mengers Forderung nach Realtypen, den von Georg Jellinek in seiner allgemeinen Staatslehre als „empirischen Typus“ beschriebenen, den Jellinek in demselben Sinn wie nach ihm Weber verwandte. Idealtypus ist ein theoretisches Konstrukt, das bestimmte, für relevant gehaltene Aspekte der sozialen Realität bewusst überzeichnet und in einen Zusammenhang bringt. Er ist stets auf logisch-gedankliche Schlüssigkeit hin angelegt und wird über Beobachtung sozialer Phänomene und Abstraktion auf der Grundlage von allgemeinen Erfahrungsregeln gewonnen. Ziel der idealtypischen Konstruktion sind trennscharfe Begriffe, mit denen empirische Phänomene unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung verstanden werden können. Weber spricht sich eindeutig gegen eine normative Betrachtung des Idealtypus aus, die Inbezugsetzung von Wirklichkeit und Idealtypus mit dem Ziel des Vergleichs dürfe nicht mit deren Bewertung verwechselt werden. Nach Dirk Kaesler ist der Idealtypus ein „heuristisches Mittel“ zur Anleitung empirischer Forschung, eine Konstruktion, die der „Systematisierung empirisch-historischer Wirklichkeit“ dient; er ist „keine Hypothese“, sondern will der Hypothesenbildung die Richtung weisen.
Postulat der Werturteilsfreiheit
In der Geschichte der Soziologie nimmt der „Werturteilsstreit“ vor dem Ersten Weltkrieg und namentlich zwischen Max Weber und Gustav Schmoller einen prominenten Platz ein, obwohl es sich dabei nicht allein um die Problematik einer bestimmten Disziplin, Soziologie oder Ökonomie, handelt, sondern um Fragen der „Grundbestimmung jedes wissenschaftlichen Erkennens“. Ausschlaggebende Bezugspunkte dieser Kontroverse waren nach Dirk Kaesler Webers Aufsätze Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904) und Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917) sowie seine Rede Wissenschaft als Beruf. Webers Postulat der Wert(urteils)freiheit ist nach Meinung vieler Autoren nur ein „methodisches Prinzip“, das auf Grundlage der Unterscheidung zwischen Seinsaussagen und Sollensaussagen (deskriptiven und normativen Aussagen) beruht. Die von Weber geforderte Werturteilsfreiheit ist jedoch nicht durch eine ausgearbeitete Theorie der Werte begründet. In seinem Werk selbst findet sich ein bunter Strauß von Wertbegriffen. Seine scharfe Kritik an Werturteilen in der Wissenschaft ist letztlich nicht nur methodologisch begründet, sondern hat einen normativen Fluchtpunkt: Wissenschaft solle „urteilskräftige Persönlichkeiten mit einer methodisch-rationalen Lebensführung begünstigen [...] Diese Auffassung, an der er zeit seines Lebens unbeirrt festhalten sollte, vermag sein Verständnis von Werten, Werturteilen, Wertfreiheit und Wertdiskussion zu erhellen.“
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Im Wintersemester 1919/20 hielt Weber an der Universität München die Vorlesung Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die nur in Mit- und Nachschriften überliefert ist. Weber versteht die Wirtschaftsgeschichte als einen „Unterbau [...], ohne deren Kenntnis allerdings die fruchtbare Erforschung irgendeines der großen Gebiete der Kultur nicht denkbar ist“. Sie enthält nach Stefan Breuer eine verdichtete Summe von Webers Studien über das Altertum, die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, die Entwicklung der Stadt sowie über die Herrschafts- und Rechtssoziologie und über den modernen Kapitalismus.
Agrarverfassung
Intensiv befasste sich Weber mit den „Agrarverhältnissen“ und der „Agrarverfassung“ in der Antike und im Mittelalter. Bereits seine frühen Aufsätze – Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht (1891) und Agrarverhältnisse im Altertum (1897, 3. Auflage 1909) – greifen diese Thematik auf. Den inhaltlichen Teil seiner Wirtschaftsgeschichte eröffnet er mit einem umfangreichen Kapitel über Haushalt, Sippe, Dorf und Grundherrschaft (Agrarverfassung). Webers wissenschaftliche Beschäftigung mit der Antike ist seit seinen frühesten Arbeiten für die meisten seiner Schaffensjahre von besonderer Bedeutung.
Okzidentaler Rationalismus
Webers zentrales Thema waren die Gründe und Erscheinungen des sich in der westlichen Welt als kulturelle Basis von Wirtschaft und Gesellschaft spätestens mit dem ausgehenden Mittelalter etablierenden „okzidentalen Rationalismus“. Man kann Webers ersten soziologischen Aufsatz, Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur von 1896, als Grundlegung für seine späteren Arbeiten ansehen. Die besondere Entwicklung des Okzidents zeigt sich in einer großen Zahl von gesellschaftlichen Bereichen. Er nennt die Entwicklung der okzidentalen Stadt, das rationale Recht, die rationale Betriebsgestaltung und Verwaltungsorganisation („Bürokratie“), nicht zuletzt auch die „methodische“ Gestaltung des Alltags der Gesellschaftsmitglieder („Lebensführung“). Weber spricht von „Wertsphären“, die jeweils einer Eigendynamik von Rationalitätsstandards und Werten folgen.
Rationaler Kapitalismus
Die im 19. Jahrhundert unter den Wirtschafts- und Althistorikern rege geführte Diskussion um den historischen Kapitalismus führte Weber zur Spezifizierung seines Kapitalismusbegriffs. Gegen Marx, der die Sklavenwirtschaft der Antike als wesentlichstes Unterscheidungsmerkmal zur feudal-kapitalistischen Moderne identifizierte, behaupteten Theodor Mommsen und Eduard Meyer eine Kontinuität von der Antike bis in die Moderne; immer habe es sich um Kapitalismus, das heißt Geldwirtschaft und Wettbewerb im Markt, gehandelt, Weber hingegen folgerte, dass die antike Wirtschaft in die politischen Institutionen eingebunden gewesen sei, während in der Neuzeit die politischen Institutionen von der Wirtschaft bestimmt würden. Die Wirtschaft habe sich in der Moderne erst aus der Politik heraus verselbständigt und sei autonom geworden. Sämtliche charakteristischen Institute des modernen Kapitalismus (Rentenbriefe, Schuldverschreibungen, Aktien, Wechsel, Hypotheken, Pfandbriefe) stammen nicht aus dem römischen Recht. England als Stammland des Kapitalismus hat das römische Recht niemals rezipiert.
Dem Soziologen Johannes Berger zufolge habe wahrscheinlich keine „Kulturerscheinung“ Weber mehr fasziniert als der moderne Kapitalismus; er war sein „Lebensthema“. In der Vormerkung zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie charakterisiert Weber den Kapitalismus „als schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens“. Am gleichen Ort beschreibt er den „spezifisch modernen okzidentalen Kapitalismus“ auch als „bürgerlichen Betriebskapitalismus“. Wie Berger vermerkt, finden sich an mehreren Stellen des Weberschen Werkes variierende Merkmals-Aufzählungen, aber im Zentrum stehe immer die „moderne kapitalistische Unternehmung“, die „rationale Organisation formell freier Arbeit“. Demnach sind es zwei Bestimmungen, die in der Definition der kapitalistischen Unternehmung zusammenfließen: (1) „Arbeit kraft formal beiderseits freiwilligen Kontraktes“ (Wirtschaft und Gesellschaft § 19), (2) Rationale Organisation vertraglicher Arbeit. Die Arbeit in einer kapitalistischen Unternehmung ist nur formell, aber nicht materiell frei, da die Ausführung der Arbeit dem Kommando des Kapitals untersteht. Wo Weber zwischen Unternehmung und Betrieb unterscheidet (nicht immer geschieht das trennscharf), versteht er den Betrieb „als eine technische Kategorie, die Unternehmung als eine in Kapitalrechnung gebundene“. „Erwerbsbetrieb“ verwendet er „für den Fall des Zusammenfallens der technischen Betriebseinheit mit der Unternehmungseinheit“ beziehungsweise wo „technische und ökonomische (Unternehmungs-)Einheit identisch sind“.
Gesellschaftlicher Wandel
Aus universalgeschichtlicher Perspektive erklärt Weber gesellschaftlichen Wandel, der gleichbedeutend ist mit geschichtlichem Wandel, nach einem „bi-polaren Modell“. Demnach beherrschen Interessen das Handeln der Menschen, aber Ideen, die sich zu Weltbildern kristallisieren, fungieren als „Weichensteller“ der Bahnen, in denen sich das Handeln bewegt. Weber unterscheidet dabei materielle und ideelle Interessen, korrespondierend mit seiner in Wirtschaft und Gesellschaft (Erstes Kapitel § 2) definierten Unterscheidung zwischen „zweckrationalem“ und „wertrationalem“ Handeln.
Reden: Wissenschaft als Beruf und Politik als Beruf
Im November 1917 hielt Weber auf Einladung des Freistudentischen Bundes im Rahmen einer Reihe „Geistige Arbeit als Beruf“ den Vortrag Wissenschaft als Beruf. Hier legte er in völlig freier Rede dar, was die „Wissenschaft“ für die „zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung“ der „okzidentalen Kultur“ gegenüber Religion, Ethik oder Politik zu einer eigenständigen „Wertsphäre“ machte. Neben den mit Leidenschaft gestellten Fragen mache systematische Arbeit und der auf dem Boden harter Arbeit vorbereitete Einfall die wissenschaftliche Tätigkeit aus. Zu ihr befähige nicht nur die notwendige „innere Berufung“, auch eine „strenge Spezialisierung“ werde dem (angehenden) Wissenschaftler abgefordert; in geradezu krasser Weise schilderte Weber das akademische Karrierewesen als ein „Glücksspiel“.
Im Januar 1919 hielt er im selben Rahmen den Vortrag über Politik als Beruf mit der abschließenden, vielzitierten Wendung: „Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“ und formulierte damit zwei der drei Grundanforderungen an den Politiker: Leidenschaft im Sinne von Sachlichkeit, Verantwortlichkeit im Interesse des Sachanliegens, „Augenmaß“ als notwendige persönliche Distanz zu Dingen und Menschen. In diesem Vortrag diskutierte Weber überdies das Verhältnis von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik.
Wolfgang Schluchter charakterisiert die beiden Reden als „Schlüsseltexte für seine Antworten auf zentrale Fragen der modernen Kultur“, gerichtet an die „akademische und demokratische Jugend“. Sie waren ihm zufolge Reden über „individuelle und politische Selbstbestimmung unter den Bedingungen der modernen Kultur“.
Soziologie (Wirtschaft und Gesellschaft)
Seit langem gilt Wirtschaft und Gesellschaft in der Zusammenstellung der Manuskripte durch Marianne Weber und Johannes Winckelmann als Webers soziologisches Hauptwerk. Die Herausgeber der Gesamtausgabe haben die ursprünglich in zwei Teile gegliederte Publikation wieder entflochten und den ersten aus vier Kapiteln bestehenden Teil als gesonderten Band (I/23) mit dem Titel Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet 1919–1920 herausgegeben. Er enthält die Kapitel „I. Soziologische Grundbegriffe“, „II. Soziologische Grundkategorien des Wirtschaftens“, „III. Die Typen der Herrschaft“ und „IV. Stände und Klassen“. Diese Kapitel hat Weber noch kurz vor seinem Tod für den Grundriß der Sozialökonomik in Satz gegeben. Sie enthalten die Kernstruktur seiner Soziologie, wenngleich das vierte Kapitel unvollendet blieb. Die ursprünglich den zweiten Teil bildenden Kapitel bestanden aus Webers Vorkriegsmanuskripten, die Marianne Weber hinzugefügt hatte, wobei sie den ersten Teil als „abstrakte Soziologie“, den zweiten Teil als „konkrete Soziologie“ bezeichnete. Der zweite Teil wurde in der Gesamtausgabe in gesonderten (Teil-)Bänden herausgegeben.
Soziales Handeln als soziologische Grundkategorie
Weber beschreibt die Soziologie als „Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“. Der Begriff des sozialen Handelns markiert in dieser Definition den zentralen (wenngleich nicht einzigen) Tatbestand, welcher für die Soziologie als Wissenschaft konstitutiv ist. Soziales Handeln wird von Weber dadurch definiert, dass es nach dem subjektiven Sinn der Handlung und faktisch, in dessen Ablauf, am Verhalten anderer orientiert ist. Er unterscheidet zudem vier Idealtypen sozialen Handelns, je nach Art der Gründe, die dafür geltend gemacht werden können: zweckrationales, wertrationales, affektuelles und traditionales Handeln. Für die beiden rationalen Handlungstypen gilt, dass die Gründe auch als Ursachen des Handelns aufgefasst werden können. Die Handlungstypen dienen schließlich der empirischen Forschung als kausale Hypothesen und als Kontrastfolien für die Beschreibung tatsächlichen Verhaltens.
Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung
Die Kategorien Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung sind, bei aller Differenz, von Ferdinand Tönnies’ erstmals 1897 erschienener Publikation Gemeinschaft und Gesellschaft beeinflusst, worauf Weber in Wirtschaft und Gesellschaft selbst hinweist. An anderer Stelle spricht er von „Tönnies' dauernd wichtigem Werk“.
Während Tönnies die Begriffe für eine realgeschichtliche Stufenfolge von der mittelalterlichen „organischen Gemeinschaft“ zur modernen „mechanischen Gesellschaft“ verwendet, bezieht Weber die Kategorien hauptsächlich auf das soziale Handeln; so spricht er von „Gemeinschaftshandeln“ bzw. „Vergemeinschaftung“ und von „Gesellschaftshandeln“ bzw. „Vergesellschaftung“, doch ohne diese immer trennscharf auseinanderzuhalten. Deutlich zeigen dies seine Abhandlungen über Gemeinschaften, etwa wenn er formuliert: In der Marktgemeinschaft trete uns „als der Typus alles rationalen Gesellschaftshandelns die Vergesellschaftung durch Tausch auf dem Markt gegenüber“. Weber versteht Gemeinschaft als Synonym für gesellschaftliche Einheiten von Menschen unter jeweils unterschiedlichen Aspekten und differenziert zwischen verschiedenen „Gemeinschaftsarten nach Struktur, Inhalt und Mitteln des Gemeinschaftshandelns“: Hausgemeinschaften (Oikos), ethnischen Gemeinschaften, Marktgemeinschaften, politischen Gemeinschaften und religiösen Gemeinschaften. Intensiv erforscht hat er insbesondere die letzteren. Auf das „Fehlen eines Gesellschaftsbegriffs – im Singular wie im Plural“, hat Hartmann Tyrell hingewiesen; das soziale Ganze sei in der Weberschen Soziologie kein Thema.
Herrschaftssoziologie
In Webers letztes Lebensjahrzehnt fällt die Ausarbeitung seiner Herrschaftssoziologie. Er unterscheidet zwischen Macht und Herrschaft. Macht definiert er als „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“, und Herrschaft als „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“.
Webers Herrschaftssoziologie wurde vornehmlich für das Konstruktionsprinzip des Geltungsgrundes, das heißt das Bestehen einer legitimen Ordnung berühmt. Mit seiner Herrschaftstypologie differenziert er zwischen drei reinen (Ideal-)Typen: traditionale, charismatische und legale Herrschaft. Sie unterscheiden sich nach zwei Kriterien: 1. Legitimitätsgrundlage und 2. Art des Verwaltungsstabes. Die legale Herrschaft beruht auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen; den Verwaltungsstab bildet die Bürokratie mit ihren Beamten. Die traditionale Herrschaft beruht auf dem Glauben an die Heiligkeit jeher geltender Traditionen; ihr Verwaltungsstab besteht aus der Dienerschaft. Die charismatische Herrschaft basiert auf der „außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Verbindlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen“; als ihr Verwaltungsstab ist die Gefolgschaft anzusehen.
Staatssoziologische Überlegungen Webers werden zumeist als Teil der Herrschaftssoziologie abgehandelt. Den Staat sieht er als eine neuzeitliche Form politischer Herrschaft. Den soziologischen Handlungsbegriff Staat unterscheidet er vom Rechtsbegriff Staat. Die Juristen verstünden ihn als handelnde Kollektivpersönlichkeit, er als Soziologe verstehe darunter „einen bestimmt gearteten Ablauf tatsächlichen, oder als möglich konstruierten sozialen Handelns Einzelner“. Schulbildend für die Politikwissenschaft wurde Webers Zentrierung des Gewaltmonopols auf den Staat. In Wirtschaft und Gesellschaft definiert er: „Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt.“ Konsequenzen hatte die Forderung für das Recht gleichwohl, denn mit der von Weber formulierten Zwangstheorie schuf er einen Rechtsbegriff. Mittels der – für industrielle Massengesellschaften entwickelten – Begrifflichkeit, ließen sich gewaltmonopolistischer Anspruch und dessen Vollzug durch Staatskräfte vereinen, soweit der Staat eine allgemein anerkannte Instanz in der Gesellschaft war. Als Keimzelle des Staates sieht er die Bürokratie, auf die der moderne Großstaat „technisch […] schlechthin angewiesen ist“.
Die Bürokratie nimmt in Webers Werk einen zentralen Stellenwert ein. Sie spielt für ihn, nach einem Wort von Talcott Parsons, die gleiche Rolle wie der Klassenkampf für Karl Marx. Jede Herrschaft äußert sich als Verwaltungsapparat. Die bürokratische Verwaltung ist als das rationalste Herrschaftsmittel auch die charakteristische Verwaltungsform der legalen Herrschaft. In der Bürokratisierung erkennt er „das spezifische Mittel, ‚Gemeinschaftshandeln‘ in rational geordnetes ‚Gesellschaftshandeln‘ zu überführen.“ Sie birgt indessen die Gefahr der Verselbständigung: Die Herrschaft mittels eines bürokratischen Verwaltungsstabes kann in eine Herrschaft des Verwaltungsstabes umschlagen. Ihre technische Effizienz mache sie zum Moloch, der in der modernen Staatsanstalt wie im kapitalistischen Unternehmen einen Sog ihrer „Unentrinnbarkeit“ und „Unzerbrechlichkeit“ entstehen ließe, durch den sie sich letztlich – in der vielzitierten Formulierung – zum „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“ verselbständigt.
Soziologie der Ungleichheit (Klassen und Stände)
Als „Spielarten sozialer Ungleichheit“ erschließt Hans-Peter Müller das letzte und kürzeste (als unvollendet geltende) Kapitel Stände und Klassen im ersten Teil der ursprünglich zusammengestellten Fassung von Wirtschaft und Gesellschaft. In der sozialen Ungleichheitsforschung habe es nur zwei große Ansätze zur Klassentheorie gegeben: die von Marx und Weber. Trotz mancher Ähnlichkeiten mit dem Marxschen, verwendet Weber ein „pluralistisches Klassenkonzept“. Demnach unterscheidet er zwischen „Besitzklassen“ und „Erwerbsklassen“: nach der Art des zum Erwerb verwertbaren Besitzes einerseits, der auf dem Markt anzubietenden Leistungen andererseits. Er unterteilt die „positiv privilegierten“ Klassenangehörigen somit in „Rentier“ und „Unternehmer“. Zwischen ihnen und den „negativ privilegierten“ Klassen platziert er noch die „Mittelstandsklassen“ (beispielsweise selbständige Bauern und Handwerker), die eine „Pufferrolle“ einnehmen und dadurch die konfliktuelle Gesellschaftsdynamik (von der Revolution zur Reform) dämpft. Nicht nur vermeidet er damit die Marxsche „antagonistische Klassenzweiteilung“ von Kapitalisten und Proletariat, er stellt auch dessen Annahme in Frage, dass eine gemeinsame Klassenlage zu gemeinsamem Klassenhandeln führt. Klassen seien normalerweise keine Gemeinschaften, im Gegensatz zu Ständen, die sich nicht aus der Marktlage ergeben, sondern aus der „sozialen Schätzung“ und der spezifisch gearteten, geburts- oder berufsständischen „Lebensführung“. Klassen gehörten der Wirtschaftsordnung beziehungsweise der Sphäre der Produktion an, Stände der sozialen Ordnung und der Sphäre des Konsums.
Rechtssoziologie
Weber befasste sich durchgängig mit dem wechselvollen Verhältnis von Recht und Sozialordnung. Mit ihrer „überbordenden Materialfülle“ und ihrer „Mischung von Generalisierungen und historischen Konkretismen“ haben seine Rechtstexte bei namhaften Juristen (wie Jean Carbonnier und Anthony T. Kronman) große Irritationen hinterlassen.
Weber unterscheidet zwischen der Rechtswissenschaft im normativen Sinn und der empirischen Rechtssoziologie. Eine „Soziologisierung der Jurisprudenz“ ist ihm zufolge wegen des „logischen Hiatus von Sein und Sollen“ zum Scheitern verurteilt. Die Herausgeber des Teilbandes Recht betonen in ihrem Nachwort, dass Weber „die hochselektive Sortierung des unendlichen Rechtsstoffes“ für die Fragestellung nach den rationalen Grundlagen des modernen Rechts im Okzident vornahm. Er spricht von theoretischen Rationalitätsstufen in der Entwicklung des Rechts: „von der charismatischen Rechtsoffenbarung durch Rechtspropheten zur empirischen Rechtsschöpfung und Rechtsfindung durch Rechtshonoratioren […] weiter zur Rechtsoktroyierung durch weltliches Imperium und theokratische Gewalten und endlich zur systematischen Rechtssatzung und zur fachmäßigen, auf Grund literarischer und formallogischer Schulung sich vollziehenden ‚Rechtspflege‘ durch Rechtsgebildete (Fachjuristen)“. Exemplarisch arbeitet er die relative Selbständigkeit der Rechtstechnik gegenüber den politischen Herrschaftsstrukturen durch den Vergleich des angelsächsischen mit dem kontinentalen Recht heraus. Er sieht Wahlverwandtschaften des Kapitalismus sowohl mit dem Common Law wie mit der kontinentalen Rechtskultur. Die dem Kapitalismus dienliche Berechenbarkeit des Rechts sei in England durch aus der Anwaltschaft rekrutierte Richter gewährt. Das auf praktische Bedürfnisse abgestellte „Fallrecht“ sei zudem anpassungsfähiger als ein „logischen Bedürfnissen unterworfenes systematisches Recht“.
Für Weber besteht Recht aus zwangsgarantierten Normen, die von einem Durchsetzungsstab zur Geltung gebracht werden. Es ist nicht an den „politischen Verband“, den Staat, gebunden, sondern kann vor Erscheinen des Staats in zahlreichen „Rechtsgemeinschaften“ der „anstaltsmäßigen Vergesellschaftung“ (beispielsweise Stadtgemeinde, Kirche) auftreten.
Geschichte und Soziologie der Stadt
Über die 1921 im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik postum veröffentlichte Abhandlung Die Stadt. Eine soziologische Untersuchung lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, für welchen Kontext Weber sie vorgesehen hatte, wie der Herausgeber des entsprechenden Teilbandes der Gesamtausgabe anmerkt. In der von Johannes Winckelmann herausgegebenen Ausgabe von Wirtschaft und Gesellschaft wurde sie unter dem Titel Die nichtlegitime Herrschaft (Typologie der Städte) als Unterkapitel der Soziologie der Herrschaft (9. Kapitel, 7. Abschnitt) publiziert. Die Abhandlung besteht aus vier Teilen: I. Begriff und Kategorien der Stadt, II. Die Stadt des Okzidents, III. Die Geschlechterstadt im Mittelalter und in der Antike, IV. Die Plebejerstadt. Das Kapitel Das Bürgertum in Webers Wirtschaftgeschichte. Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte liest sich nach Hinnerk Bruhns wie eine gedrängte Zusammenfassung. Inhaltlicher Fokus ist die Entstehung des „modernen Erwerbsbürgertums“. Bei der Ubiquität des Phänomens Stadt zeigt der Vergleich mit Städten des Orients (Ägypten, Vorderasien, China, Japan, Indien), dass sich nur im Okzident ein sich selbst verwaltendes Bürgertum herausgebildet hat. Zum innerokzidentalen Vergleich zieht Weber italienische Städte sowie englische und solche jenseits der Alpen heran. Beim zeitlichen Vergleich zwischen Altertum und Mittelalter zeigt sich, dass erst im Mittelalter wesentliche Voraussetzungen für die Entstehung des modernen Kapitalismus geschaffen wurden.
Organisationssoziologie
Die meisten Lehrbücher zur Organisationssoziologie behandeln Max Weber als einen ihrer Gründungsväter. Dies verdankt sich nach Renate Mayntz Missverständnissen der US-amerikanischen Rezeption seines Idealtypus Bürokratie, Veronika Tacke nennt es ein „produktives Missverständnis“. Der Begriff Organisation im modernen Sinne, als Gebildetyp, findet sich im Weberschen Werk kaum; meist ist bei ihm von Organisation im Sinne von „Organisieren“ die Rede (beispielsweise „Organisation der Produktion und des Absatzes“). Der von ihm verwendete Begriff des Verbands kommt dem modernen Begriff der Organisation nahe, ohne mit ihm deckungsgleich zu sein. Bürokratie ist für Weber die formal rationalste Form der Herrschaftsausübung, weil sie in ihrer Stetigkeit, Präzision, Straffheit und Verlässlichkeit allen anderen Verwaltungsformen „rein technisch überlegen ist“. Die kritische Rezeption missverstand Webers idealtypische Methode als „eine Art normatives Konzept des Organisationsdesigns“ und verwies auf bürokratische Dysfunktionen und nichtrationale Abweichungen.
Arbeits- und industriesoziologische Studien
Neben Marx zählt Weber zu den frühen Verfassern arbeitssoziologischer Studien. Seine erste diesbezügliche Arbeit trägt den Titel Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (1892). Sie erschien als Teil einer auf das gesamte Deutsche Reich ausgelegten Landarbeiter-Enquete des Vereins für Socialpolitik. Fachlich ausgewiesen hatte ihn für diese Aufgabe seine Habilitationsschrift über die Römische Agrargeschichte, mit der er sich die historischen Grundlagen für die Agrarverfassung erarbeitet hatte. Als säkulare Entwicklungstendenz konstatiert Weber die Auflösung der traditionell patriarchalischen Arbeitsverfassung in eine kapitalistische und damit eine „Proletarisierung der Landarbeiterschaft“. Die Beziehung zwischen Gutsherr und Arbeiter wandelte sich in der Tendenz von einem persönlichen Herrschaftsverhältnis, welches auf traditionaler Interessengemeinschaft beruhte, zu einem versachlichten Klassenverhältnis, das den Austausch auf Geldzahlungen reduziere. Die Untersuchung bildet eine weithin unterschätzte Grundlage für Webers späteres Werk, weil sie viele seiner Begriffe und Konzepte, wie Idealtypus, Herrschaftstypologie und kapitalistisches Unternehmertum, in ersten Ausformungen enthält.
Die spätere Studie Zur Psychophysik der industriellen Arbeit (1908/09) verfasste Weber im Zusammenhang mit der vom Verein für Socialpolitik initiierten Erhebung über Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft der Großindustrie, für die Weber auch um eine methodologische Einleitung gebeten worden war, die den an der Erhebung beteiligten Sozialforschern als Anleitung dienen sollte. Die
Psychophysik enthält die Ergebnisse einer von Weber selbst durchgeführten empirischen Erhebung in einem familieneigenen Betrieb der westfälischen Textilindustrie. Zu einer seiner wichtigsten Untersuchungsvariablen gehörte die Produktivität des individuellen Arbeiters. Daher diskutierte und überprüfte er viele Faktoren, die die Arbeitsleistung beeinflussen konnten, unter ihnen: Lohnhöhe, Feuchtigkeit und Lärm in der Arbeitsumgebung, Alkoholkonsum, sexuelle Aktivität, regionale Herkunft, religiöse Konfession, gewerkschaftliche Mitgliedschaft, Leistungsrestriktion ("Bremsen"). Der Industriesoziologe Gert Schmidt wertet diese Schrift und die methodologische Einleitung als Dokumente von Webers Bedeutung als Vorläufer und Mitbegründer der Industrie- und Betriebssoziologie. Als ergänzende und teilweise erweiternde Studie zu Webers Kapitalismusverständnis findet er sie auch heute noch lesenswert.
Religionssoziologische Werke
Einen erheblichen Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit widmete Weber den Religionen; Zeugnis davon legen die drei Bände Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie (1920–1921) ab, an denen er noch in seinem Todesjahr gearbeitet hat und zu denen er seine berühmte Vorbemerkung schrieb, eine „systematische Skizze seines gesamten Forschungsprogramms“ (Hans-Peter Müller). Dem Religionswissenschaftler Hans G. Kippenberg zufolge verwendet Weber einen „relationalen Religionsbegriff“; demnach lebt Religion aus der Übereinstimmung bzw. der Differenz mit den anderen Ordnungsmächten. Einen durchschlagenden Erfolg erzielte Weber mit der Erforschung der Kulturbedeutung des Protestantismus.
Protestantismus und Kapitalismus
Den Kern der Weberschen Analyse (Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus, 1904/05; überarbeitet 1920) bildet sein Nachweis, dass eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Entstehung des modernen, „bürgerlichen Betriebskapitalismus“ besteht, wenn bestimmte ökonomische Komponenten mit einem religiös „fundamentierten“, innerweltlich-asketischen Berufsethos zusammentreffen. Eine direkte Ableitbarkeit kapitalistischen Wirtschaftshandelns aus protestantischen Mentalitätsursprüngen behauptet Weber nicht.
Das besondere „Wahlverwandtschaftsverhältnis“ zwischen Protestantismus und Kapitalismus wird durch den Gedanken der Berufsethik vermittelt. Weber konstatiert, dass „durch die Kultursprachen hindurch […] die vorwiegend katholischen Völker für das, was wir ‚Beruf‘ (im Sinne von Lebensstellung, umgrenztes Arbeitsgebiet) nennen, einen Ausdruck ähnlicher Färbung ebensowenig kennen wie das klassische Altertum, während es bei allen vorwiegend protestantischen Völkern existiert“. Eine „prinzipielle und systematische ungebrochene Einheit von innerweltlicher Berufsethik und religiöser Heilsgewißheit hat in der ganzen Welt nur die Berufsethik des asketischen Protestantismus gebracht. […] Der rationale, nüchterne, nicht an die Welt hingegebene Zweckcharakter des Handelns und sein Erfolg ist das Merkmal dafür, dass Gottes Segen darauf ruht.“ Die Entwicklung des „Berufsmenschentums“, als einer Komponente des „kapitalistischen Geistes“ unter mehreren, war nach Weber durch einzelne, im 17., 18. und auch noch im 19. Jahrhundert hochwirksame religiöse Motive – Beruf als „Berufung“ und das daraus sich bildende Ethos „rationaler“, innerweltlich-asketischer Lebensführung – bedingt. Im von der Prädestinationslehre geprägten Calvinismus sowie bei weiteren protestantischen Richtungen, dem Methodismus, dem Quäkertum und dem täuferischen Sektenprotestantismus, daneben zum Teil auch im Pietismus, findet Weber eine Fassung des Motivs der Bewährung, die er für die Entstehung einer das ganze Leben strukturierenden Methodik verantwortlich macht.
Angesichts der Ungewissheit über den eigenen religiösen Status wurde hier der Gedanke von der Notwendigkeit einer dauerhaften und konsequenten Bewährung im Leben und speziell im Berufsleben zum wichtigsten Anhaltspunkt für die eigene Bestimmung zur Seligkeit. Es handelt sich dabei, wie Weber immer wieder gegen diverse Missverständnisse betont hat, nicht um einen „Realgrund“, sondern um einen „Erkenntnisgrund“, also um eine rein subjektive Verbürgung der Heilsgewissheit. Der Gläubige verdient sich seine „Seligkeit“ also nicht durch die Befolgung der Berufspflicht (und den sich dadurch einstellenden Erfolg), sondern er versichert sich ihrer für sich selbst durch sie. Das dadurch entstehende Konzept der rationalen Lebensführung ist nach Weber ein wesentlicher Faktor in der Entstehungsgeschichte des modernen okzidentalen Kapitalismus wie überhaupt der westlichen Kultur.
Die begrenzte Reichweite seiner Erörterungen hat Weber gleichfalls mehrfach hervorgehoben. Dass „der ‚kapitalistische Geist‘ […] nur als Ausfluss bestimmter Einflüsse der Reformation habe entstehen können oder wohl gar: daß der Kapitalismus als Wirtschaftssystem ein Erzeugnis der Reformation sei“, bezeichnete er als eine „töricht-doktrinäre These“. Der Unterstellung, er wolle eine konsequent „idealistische“ Gegenposition zum marxistischen Materialismus formulieren, entgegnete er: „[...] so kann es dennoch natürlich nicht die Absicht sein, an Stelle einer einseitig ‚materialistischen‘ eine ebenso einseitig spiritualistische kausale Kultur- und Geschichtsdeutung zu setzen. Beide sind gleich möglich, aber mit beiden ist, wenn sie nicht Vorarbeit, sondern Abschluss der Untersuchung zu sein beanspruchen, der historischen Wahrheit gleich wenig gedient.“
Der von Weber aufgewiesene Zusammenhang ist Gegenstand einer äußerst intensiv geführten Diskussion. Wahrscheinlich handelt es sich um die am meisten erörterte wissenschaftliche Einzelleistung im Bereich von Soziologie, Geschichts- und Kulturwissenschaft. Dabei lassen sich methodische, faktisch-historische und biographisch-zeitgeschichtliche Zugangsweisen unterscheiden. Einige Kritiker werfen Weber vor, seine These so formuliert zu haben, dass sie methodisch „unwiderlegbar“ sei. Eine umfangreiche Forschungsliteratur widmet sich der empirischen Überprüfung von Webers Befunden und den daraus gezogenen Schlussfolgerungen. Doch auch als Ausdruck des Selbstverständnisses, wie es im deutschen Bürgertum um 1900 bestanden hat, wird Webers Text gedeutet und problematisiert.
Jenseits der Kritik im Einzelnen ist der außerordentliche wissenschaftliche Rang der Schrift unbestritten: Webers Analyse der mentalitäts- (bzw. religions-)geschichtlichen Prägung der Moderne bietet einen substantiell fundierten Verstehensrahmen für wesentliche Aspekte der politischen, ökonomischen und kulturellen Gegenwart („Rationalisierung“, „Bürokratisierung“, Massengesellschaft unter anderem). Für viele soziologische, kulturwissenschaftliche, theologiegeschichtliche oder philosophische Ansätze der neuesten Zeit (etwa für Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns) bilden Webers „Protestantismus-Kapitalismus-These“ und die mit ihr verknüpfte Theorie des Rationalisierungsprozesses einen wichtigen Orientierungspunkt.
Wirtschaftsethik der Weltreligionen
Weber dehnte seine Religionssoziologie später erheblich weiter aus. Unter dem Obertitel Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen enthielt bereits der erste Band der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie das Kapitel über Konfuzianismus und Taoismus, der zweite Band dann Hinduismus und Buddhismus und schließlich der dritte Band Das antike Judentum. Nachtrag. Die Pharisäer. Die für die Sonderentwicklung im Okzident exemplarische Studie über die Protestantische Ethik wird in diesen Aufsätzen systematisch mit anderen Weltreligionen und -regionen verglichen. Auch in ihnen thematisierte er nicht nur den Einfluss religiöser Ideen auf das außerreligiöse Handeln, sondern auch den entgegengesetzten Einfluss. Zusammenfassend kommt Weber zum Schluss, dass die asiatischen Religionen eine Lebensführung beeinflussten, die „eine Entwicklung in Richtung Kapitalismus unmöglich machten“.
Typen religiöser Vergemeinschaftung
Im Kapitel Religionssoziologie (Typen religiöser Vergemeinschaftung) in Wirtschaft und Gesellschaft (1921/22) beschäftigte sich Weber nunmehr systematisch mit den Haltungen der Religionen gegenüber der „Welt“. Die Religionssystematik überschneidet sich inhaltlich teilweise mit der Einleitung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen, doch ist erstere eine „komplexe, komprimierte, abstrakte wie elaborierte begriffliche Klassifikation von Webers religionssoziologischem Ansatz“. Auch hier lautet sein Resümee, dass von den asiatischen Religionen kein Weg zur „rationalen Lebensmethodik“ führte, vor allem keine Entwicklung zu einem „‚kapitalistischen Geist‘, wie er dem asketischen Protestantismus eignete“. Axel Michaels wertete Webers Ausweitung seiner religionssoziologischen Forschungen primär aus dem Bestreben, seine ursprüngliche These zu fundieren: „Indien, China, Israel und der Vordere Orient waren für ihn das Experiment, das den Beweis seiner Protestantismus-These bringen sollte, nicht aber stand am Anfang die Beschäftigung mit den Weltreligionen, aus der diese Theorie erwuchs.“
Musiksoziologie
Aus Webers später Werkphase stammt die musiksoziologische Schrift Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik. Vermutlich in einem Zeitraum ab 1910 geschrieben, wurde sie als unabgeschlossene Arbeit aus dem Nachlass erstmals 1921 als eigenständige Publikation veröffentlicht. Ihre Abfassung erfolgte in einer Werkphase, als sich Weber intensiv für eine „Soziologie der Cultur-Inhalte“ interessierte. In diesen Jahren führte er lange Gespräche mit dem jungen Georg Lukács über die erlösende Kraft der Kunst. Biographisch sensibilisierte ihn für die Musik zudem seine intime Freundschaft mit der Pianistin Mina Tobler.
Bemerkenswert und für Weber erregend war die Entdeckung, dass sogar die Musik Teil des okzidentalen Rationalisierungsprozesses war, was ihn zu der Schlussfolgerung führte, dass „die rationale harmonische Musik ebenso wie den bürgerlichen Betriebskapitalismus […] nur die okzidentale Kultur hervorgebracht“ hat. Walther Müller-Jentsch vermutet mit Dirk Kaesler indessen, dass es sich hier um unterschiedliche Rationalitätsbegriffe handelt. Steffen Sigmund wertet die Schrift als „Gründungsdokument der (deutschen) Musiksoziologie“. Für Theodor W. Adorno ist sie der „bislang umfassendste und anspruchsvollste Entwurf einer Musiksoziologie“.
Rezeption
Die internationale Weber-Rezeption ist kaum noch überschaubar. Sie setzte schon kurz nach seinem Tod ein. 1923 erschien eine vom gebürtigen Ungarn Melchior Palyi herausgegebene Erinnerungsgabe für Max Weber. Marianne Weber veröffentlichte 1926 eine erste ausführliche Biographie. Von Alexander von Schelting erschien die wichtigste Arbeit über Webers Wissenschaftslehre vor dem Zweiten Weltkrieg. Zusammen mit Karl Löwith setzte er im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Akzente zu Webers wissenschaftlichem Denkstil. Befördert durch die emigrierten deutschen Sozialwissenschaftler, entwickelte sich eine nahezu kontinuierliche internationale Rezeption.
Nach dem Zweiten Weltkrieg büßte Max Weber als Soziologe, anders als Ferdinand Tönnies und Werner Sombart, nicht an Bedeutung ein. Seine Werke fanden weiterhin große Beachtung, wenngleich in den frühen Nachkriegsjahren Deutschlands im Fokus sozialwissenschaftlicher Forschung zunächst Untersuchungen zur nivellierten Mittelstandsgesellschaft Schelskys, die Konfliktsoziologie von Dahrendorf und das Gruppenexperiment des Frankfurter Instituts für Sozialforschung standen. Explizit auf Weber bezog sich damals als einer von Wenigen der neben Martin Heidegger bekannteste Philosoph Karl Jaspers, dem die längste Zeit seines Lebens Weber als Gelehrter und Forscher zentrales Vorbild war; unter seinem Einfluss habe er seit 1909 gestanden und sein Philosophieren sei „all die Jahre nicht ohne Denken an Max Weber“ geschehen. Im Manuskript einer Vorlesung, die er über „Philosophie der Gegenwart“ im Wintersemester 1960/61 hielt, bezeichnete er Weber zusammen mit Albert Einstein als bedeutendsten Philosophen der Gegenwart. Als angehender Philosoph von Rang postulierte Dieter Henrich bereits 1952 mit dem Titel seiner Dissertation die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers. Von dem Emigranten Reinhard Bendix erschien 1960 in den USA eine erste umfassende Werkbiographie, fokussiert auf die Soziologie, die 1964 ins Deutsche übersetzt wurde. In seinem Vorwort bezeichnete René König, ähnlich wie Jaspers, Weber sowohl als Philosophen wie als Politiker und Soziologen.
Eine erneute fachspezifische Beschäftigung mit dem Weberschen Werk begann in Deutschland mit dem Heidelberger Soziologentag 1964, auf dem den deutschen Soziologen zu Webers 100. Geburtstag durch Talcott Parsons, Herbert Marcuse, Reinhard Bendix, Raymond Aron, Ernst Topitsch und Pietro Rossi der Stand der internationalen Weber-Rezeption vor Augen geführt wurde. Danach wuchs die Sekundärliteratur zu Werk und Bedeutung Webers kontinuierlich an. Vornehmlich Friedrich Tenbruck und Johannes Weiß trugen in den 1970er Jahren zur Rezeption des Weberschen soziologischen Werkes bei. Die von der Heidelberger Universität seit 1981 veranstalteten Max-Weber-Vorlesungen wurden mit der Gastprofessur für Reinhard Bendix eröffnet.
Seit 1984 wird von der Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften die Max Weber-Gesamtausgabe herausgegeben. Sie umfasst insgesamt 47 Bände in drei Abteilungen (I. Schriften und Reden, 24 Bände und 5 Teilbände; II. Briefe, 11 Bände; III. Vorlesungen und Vorlesungsnachschriften, 7 Bände). Abgeschlossen wurde die eminente editorische Arbeit zu seinem 100. Todestag. Zwei ihrer Herausgeber, M. Rainer Lepsius und Wolfgang Schluchter, wurden für die deutsche Rezeption schon früh zu Fixpunkten einer beständigen Auseinandersetzung mit dem Weberschen Werk.
Die Aktualität des Weberschen Werkes zeigt sich in seiner Anschlussfähigkeit für die gesamten Kultur- und Sozialwissenschaften. Als wichtigstes soziologisches Lehrbuch gilt weltweit Wirtschaft und Gesellschaft (Economy and Society). In der politikwissenschaftlichen Weber-Rezeption wird er als Klassiker des politischen Denkens geführt. Dazu beigetragen hat insbesondere die in seinem Vortrag Politik als Beruf formulierte Definition vom Staat als dem „Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit“, dem Politikwissenschaftler Andreas Anter zufolge die „wirkungsmächtigste der letzten hundert Jahre“. In den Geschichtswissenschaften wurde vornehmlich Webers Konzeption der „Universalgeschichte“ rezipiert, wobei Wolfgang Mommsen zufolge Webers Frage nach den Antriebskräften des gesellschaftlichen Wandels keineswegs auf eine Gesellschaftsgeschichte des Okzidents beschränkt blieb. Eine bewusst „weberianische Schule der Geschichtsschreibung in Abgrenzung von einer marxistischen“ führt Eric Hobsbawm auf den Gesellschaftshistoriker Hans-Ulrich Wehler zurück. In der marxistischen Rezeption wird die Komplementarität der Weberschen Kapitalismusanalysen hervorgehoben: Mit der Bedeutung religiöser Ideen für die Entstehung des Kapitalismus habe Weber die „subjektive Seite“ der historischen Entwicklung erforscht, ohne die „materialistische“ zu leugnen. Auch habe er den im (dogmatisch) marxistischen Denken nachgeordneten Stellenwert der Kultur im geschichtlichen Prozess zurechtgerückt. George Lichtheim betonte, dass „der ganze Inhalt der Weberschen Religionssoziologie ohne Schwierigkeit in das marxistische Schema passt.“ Kritik fanden indes seine Konzeption vom Nationalstaat, dem er eine unabhängige (und teils imperiale) Rolle zuwies, und sein voluntaristischer Charismabegriff. Als marxistischer Historiker hält Eric Hobsbawm bei aller Hochschätzung von Webers nötiger Ergänzung zu und Berichtigung von Marx dessen „politische und ideologische Haltung“ für unakzeptabel.
In den USA wurde die Verbreitung der Ideen Webers durch den nach 1945 in der Soziologie vorherrschenden Strukturfunktionalismus Talcott Parsons’ und durch dessen Übersetzungen der Weberschen Werke Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus sowie Wirtschaft und Gesellschaft ins Englische maßgeblich vorangetrieben. Insbesondere Webers Schrift zur Bedeutung der protestantischen Ethik für die Entwicklung des modernen Kapitalismus wurde dort, aber auch in Deutschland, ausgesprochen häufig und kontrovers diskutiert. Webers Analyse der modernen Bürokratie, insbesondere sein Typus der „legalen Herrschaft mit bürokratischem Verwaltungsstab“ als die formal rationalste Herrschaftsform, benutzten amerikanische Organisationssoziologen in ihren Analysen der Verwaltung von staatlichen und wirtschaftlichen Organisationen. Für den Organisationstheoretiker Alfred Kieser haben Webers Analysen zur Bürokratie ihn zum „Wegbereiter der modernen Organisationstheorie“ gemacht. Obwohl Weber kein genuiner Organisationsforscher war, hat sein Bürokratiemodell „seine enorme Wirkung hauptsächlich in der Organisationsforschung gehabt und hat sie dort immer noch“. Seit Jahrzehnten gehört Webers Bürokratieansatz, neben Taylors und Fayols Managementlehren zum Kanon organisationssoziologischer Lehrbücher. Der schrittweisen Demontage seines „Maschinenmodells“ der bürokratischen Organisation verdankt die Organisationsforschung wichtige Erkenntnisfortschritte.
Die japanische Weber-Rezeption ging andere Wege als die westliche. Bereits zu Lebzeiten Webers wurden japanische Sozialwissenschaftler auf ihn aufmerksam. Ihnen verdankt sich eine außerordentlich umfangreiche Sekundärliteratur mit einer thematischen Spannweite, die sämtliche materialen Forschungsbereiche Webers abdeckte. Arnold Zingerle führt die intensive Rezeption auf eine vermutete Affinität der Weberschen Fragestellungen mit der geistig-kulturellen Lage Japans zurück, wie sie seine Sozialwissenschaftler interpretierten. Webers Werk trug zum Verständnis des japanischen Modernisierungsprozesses und des japanischen Kapitalismus bei.
Bis in die jüngste Zeit zählt Weber zu den am häufigsten zitierten Soziologen. In dieser Hinsicht stellt Klaus Feldmann fest: „Von den Klassikern erweist sich Weber als der dauerhafteste.“ Hans-Peter Müller will in ihm gar den „Klassiker der Klassiker“ sehen. So sind auch in den jüngeren Theorieangeboten der Soziologie vielfältige Bezüge zum Weberschen Werk enthalten. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu griff beispielsweise bei der Formulierung seiner Theorie der Praxis auf Max Weber zurück. Selbst die frühe Systemtheorie von Niklas Luhmann und nicht zuletzt die Theorie kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas grenzen sich zwar in zentralen Punkten von Weber ab, dennoch tritt gerade darin dessen anhaltende Bedeutung für die deutsche Soziologie zu Tage. Habermas zufolge begegnet das Abendland „anderen Kulturen heute in Gestalt der überwältigenden Infrastruktur einer durch Wissenschaft und Technik bestimmten kapitalistischen Weltzivilisation“. Umgekehrt begegneten den Menschen des Abendlands „andere Kulturen vor allem in der Eigenschaft ihres religiösen Kerns. In unseren Augen ist die fremde Religion die Quelle der Inspiration der anderen Kultur.“ Das erkläre „die Aktualität Max Webers“.
Die nach dem US-amerikanischen Soziologen Robert K. Merton benannte Merton-These besagt, dass die naturwissenschaftlich-technologische Revolution des 17. und 18. Jahrhunderts hauptsächlich von englischen Puritanern und deutschen Pietisten getragen worden sei. Den Grund sah Merton vor allem in der von Max Weber beschriebenen asketischen Einstellung von Protestanten. Der Soziologe Gerhard Lenski fand 1958 in einer breit angelegten empirischen Untersuchung im Großraum Detroit (US-Bundesstaat Michigan) eine Reihe von Webers Thesen zu konfessionellen Prägungen bestätigt. Gleichwohl wurde Webers These unzählige Male angefochten, viele historische und empirische Fehler wurden nachgewiesen, weswegen sie in der ursprünglichen Form kaum mehr vertreten wird. Beispielsweise wird zu Recht moniert, dass sich der „Geist des Kapitalismus“ bereits lange vor der Reformation in den italienischen Städten des Hochmittelalters manifestiert habe.
Im deutschen Sprachraum haben die Soziologen Wolfgang Schluchter und Stefan Breuer bedeutsame Interpretationsschriften über Webers Werk publiziert. Beispiele für „Max Webers Soziologie im Lichte aktueller Problemstellungen“ finden sich in den Beiträgen einer Tagung, die anlässlich des 150. Geburtstags Webers vom Max-Weber-Institut für Soziologie der Universität Heidelberg im April 2014 mit namhaften Weber-Experten veranstaltet wurde.
Die Biographien von Joachim Radkau (2005), Dirk Kaesler (2014) und Jürgen Kaube (2014) stützen sich auf das in der Max Weber-Gesamtausgabe zugänglich gemachte breite Dokumentenmaterial. Sie tragen zu Entmystifizierung der frühen Biographie von Marianne Weber bei. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln beschreiben sie das Zusammenspiel von Leben und Werk eines Universalgelehrten in jener ereignisreichen politischen Zeit an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert. Radkaus Biographie fokussiert auf Webers psychische Konstitution, deren Erlebens- und Leidensstadien – in den drei Hauptteilen mit „Vergewaltigung der Natur“, „Rache der Natur“, „Erlösung und Erleuchtung“ überschrieben – ausführlich zu seinem Werk in Beziehung gesetzt werden. Kaeslers Biographie thematisiert die kollektiven Traumata (fin de siècle, Erster Weltkrieg, Russische Revolutionen, Novemberrevolution und Gegenrevolution in Deutschland, Gründungsphase der Weimarer Republik), die auf Lebenslauf und Werk prägend eingewirkt hätten. Nach Kaubes Biographie habe Webers „Leben zwischen den Epochen“ (Untertitel) ihn zum politisch involvierten Chronisten der Zeitenwende vom preußisch-deutschen Traditionalismus zur imperialen Industrienation Deutschland gemacht.
Ehrungen
Die Universität Heidelberg übernahm die Fallensteinvilla, die ab 1910 der Wohnsitz Webers und Ernst Troeltschs war, in der die Sonntagsgespräche stattgefunden haben und in der seine Frau seit 1922 wieder lebte. Sie erhielt den Namen Max-Weber-Haus. Darin befindet sich heute das Internationale Studienzentrum der Universität Heidelberg (ISZ). Der Salon ist erhalten geblieben.
Der Max-Weber-Platz im Münchner Stadtteil Haidhausen war seit 1905 nach einem gleichnamigen Magistratsrat der bayerischen Hauptstadt benannt. Auf Initiative von Ulrich Beck wurde er 1998 zusätzlich auch dem Soziologen Max Weber gewidmet.
Das Max-Weber-Kolleg in seinem Geburtsort Erfurt, das eine Einrichtung der Universität Erfurt für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien ist, wurde ebenso nach ihm benannt, ferner das Max-Weber-Institut für Soziologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. 2012 wurde die Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland in Max Weber Stiftung umbenannt.
Mehrere Schulen in Deutschland sind nach Max Weber benannt sowie Straßen in Erfurt, Pforzheim und Quickborn.
Am Münchner Wohnhaus in der Seestraße 3c (heute: 16), seinem letzten Wohnort, befindet sich seit 1976 eine Gedenktafel. Zu Webers hundertstem Todestag wurde an seinem Charlottenburger Wohnort in der Leibnizstraße 19, der ehemaligen „Villa Helene“ (heute: 21), eine „Berliner Gedenktafel“ angebracht.
Schriften
Werkausgaben
Es liegen zwei Werkausgaben vor:
Die 47 Bände umfassende Max Weber-Gesamtausgabe (MWG) im Verlag Mohr Siebeck, herausgegeben von Horst Baier, Gangolf Hübinger, M. Rainer Lepsius, Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schluchter und Johannes Winckelmann, Sie gliedert sich in drei Abteilungen: I. Schriften und Reden, II. Briefe, III. Vorlesungen und Vorlesungsnachschriften.
Die älteren Werkausgaben: Wirtschaft und Gesellschaft (WuG) sowie 7 Bände der Gesammelten Aufsätze: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I–III (GARS), Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik (GASS), Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (GASW), Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (GAWL), Gesammelte Politische Schriften. (GPS). Mohr Siebeck, Tübingen .
Einzelschriften (Auswahl)
1889: Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter. Stuttgart 1889 (MWG I/1; GASW 312–443).
1891: Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht. Stuttgart 1891 (MWG I/2).
1891–1892: Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland. Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, geschildert auf Grund der vom Verein für Socialpolitik veranstalteten Erhebungen. Band 3, Leipzig 1892 (MWG I/3).
1895: Freiburger Antrittsvorlesung Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Akademische Verlagsbuchhandlung J.C.B Mohr, Freiburg i. Br. und Leipzig 1895 (MWG I/4, 535-574; GPS 1–25; Wikisource).
1896: Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur. In: Die Wahrheit. Band 3, H. 63, Fr. Frommanns Verlag, Stuttgart 1896, S. 57–77 (MWG I/6, 82-127; GASW 289–311).
1904: Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 19 1904, S. 22–87 (MWG I/7, 135-234; GAWL 146–214).
1904/05: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 20 1904, S. 1–54 und 21, 1905, S. 1–110 (MWG I/9 und MWG I/18; überarbeitet in GARS I 1–206).
1908/09: Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Band 28 (1908), Heft 1 und 3, Band 29 (1909), Heft 2 (MWG I/11).
1909: Agrarverhältnisse im Altertum. [3. Fassung], in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Band 1, Jena 1909 3. Auflage. 52–188 (MWG I/6, 128-227; GASW 1–288).
1910: Enquete über das Zeitungswesen (Rede auf dem 1. Deutschen Soziologentag vor der neugegründeten Deutschen Gesellschaft für Soziologie, 20. Oktober 1910 (MWG I/13, 256-286)).
1915–1919: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, 11 Aufsätze zu Konfuzianismus und Taoismus, Hinduismus und Buddhismus, antikes Judentum, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Jg. 41 (1915) – Jg. 46 (1919) (MWG I/19-21; GARS I-III).
1918: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens. München/Leipzig 1918 (MWG I/15, 421-596; GPS 306–443).
1918: Der Sozialismus, Wien 1918 (MWG I/15, 597-633; GASS 492-518).
1919: Wissenschaft als Beruf. München/Leipzig 1919 (MWG I/17, 49-111; GAWL 582-613), ; Separatveröffentlichungen: Stuttgart 1995, ISBN 3-15-009388-0, Schutterwald/Baden 1994, ISBN 3-928640-05-4; textlog.de; Matthes & Seitz, Berlin 2017, ISBN 978-3-95757-518-0.
1919: Politik als Beruf. München/Leipzig 1919 (MWG I/17, 113-252; GPS 505–560), ; Separatveröffentlichungen: Stuttgart 1992, ISBN 3-15-008833-X und Schutterwald/Baden 1994, ISBN 3-928640-06-2; textlog.de.
1920/1921: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I–III. Mohr (Siebeck), Tübingen.
1921 (postum): Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik. München 1921 (MWG I/14).
1921/1922 (postum): Wirtschaft und Gesellschaft (in 4 Lieferungen). Tübingen 1921/22; 5. revidierte Auflage, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1976 (MWG I/22-1 – I/22-5; MWG I/23).
1923 (postum): Wirtschaftsgeschichte. Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Aus den nachgelassenen Vorlesungen hrsg. von Siegmund Hellmann und Melchior Palyi. München/Leipzig 1923 (MWG III/6).
1924 (postum): Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. [Hrsg. Marianne Weber] Tübingen, J.C.B.Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1924.
Weitere Ausgaben
Max Weber. Werk und Person. Dokumente. Dokumente ausgewählt und kommentiert von Eduard Baumgarten. Mohr, Tübingen 1964.
Max Weber: Jugendbriefe. Mit einer Einführung von Marianne Weber. Mohr, Tübingen ohne Jahr [1936].
Max Weber: Schriften 1894–1922 (= Kröners Taschenausgabe. Band 233). Herausgegeben von Dirk Kaesler. Kröner, Stuttgart 2002, ISBN 3-520-23301-0 (Auswahlausgabe mit zum Teil gekürzten Texten).
Max Weber, gesammelte Werke [Elektronische Ressource, CD-ROM]: mit einem Lebensbild von Marianne Weber. Directmedia Publishing, Berlin 2004, ISBN 3-89853-458-8.
Sekundärliteratur
Biographien
Reinhard Bendix: Max Weber. An intellectual portrait. Doubleday, Garden City 1960 (4. Auflage mit einer Einleitung von Bryan S. Turner), Routledge, London/New York 1998, ISBN 0-415-17453-8.
Reinhard Bendix: Max Weber – Das Werk. Darstellung. Analyse. Ergebnisse. Mit einem Vorwort von René König. Aus dem Amerikanischen von Renate Rausch. Piper, München 1964.
Hans Norbert Fügen: Max Weber. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt, Reinbek 2000, ISBN 3-499-50216-X.
Gangolf Hübinger: Max Weber. Stationen und Impulse einer intellektuellen Biographie, Mohr Siebeck 2019, ISBN 978-3-16-155724-8. (Rezension von Dirk Kaesler)
Dirk Kaesler: Max Weber (= C. H. Beck Wissen. Band 2726). C.H. Beck Verlag, München 2011, ISBN 978-3-406-62249-6.
Dirk Kaesler: Max Weber: Preuße, Denker, Muttersohn. C.H. Beck Verlag, München 2014, ISBN 978-3-406-66075-7.
Jürgen Kaube: Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen. Rowohlt, Berlin 2014, ISBN 978-3-87134-575-3.
Christa Krüger: Max und Marianne Weber. Tag- und Nachtansichten einer Ehe. Pendo, München/Zürich 2001, ISBN 978-3-85842-423-5.
M. Rainer Lepsius: Max Weber und seine Kreise. Essays. Mohr Siebeck, Tübingen 2016, ISBN 978-3-16-154738-6. (Rezension von Dirk Kaesler)
Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. Hanser, München 2005, ISBN 3-446-20675-2.
Fritz K. Ringer: Max Weber. An intellectual biography. University of Chicago Press, Chicago 2004, ISBN 0-226-72004-7.
Guenther Roth: Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800–1950, mit Briefen und Dokumenten. Mohr Siebeck, Tübingen 2001, ISBN 3-16-147557-7. (Rezension von Wilfried Nippel, Rezension von Rolf Löchel)
Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild. Piper, München 1989, ISBN 3-492-10984-5. (Erstausgabe 1926)
Einführungen und Gesamtbetrachtungen
Karl-Ludwig Ay, Knut Borchardt (Hrsg.): Das Faszinosum Max Weber. Die Geschichte seiner Geltung. UVK, Konstanz 2006, ISBN 3-89669-605-X.
Michael Bayer und Gabriele Mordt: Einführung in das Werk Max Webers. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-531-15392-6.
Gregor Fitzi: Max Weber. Campus-Verlag, Frankfurt am Main/New York 2008, ISBN 978-3-593-38124-4.
Edith Hanke, Lawrence Scaff, Sam Whimster (Hrsg.): The Oxford Handbook of Max Weber. Oxford University Press, New York 2019, ISBN 978-0-19-067954-5.
Volker Heins: Max Weber zur Einführung. 3., vollständig überarbeitete Auflage, Junius, Hamburg 2004, ISBN 3-88506-390-5.
Wolfgang Hellmich: Aufklärende Rationalisierung. Ein Versuch, Max Weber neu zu interpretieren (= Erfahrung und Denken. Bd. 107). Duncker & Humblot, Berlin 2013, ISBN 978-3-428-13906-4.
Wilhelm Hennis: Max Webers Fragestellung: Studien zur Biographie des Werks. Tübingen 1987, ISBN 978-3-16-345150-6.
Karl Jaspers: Max Weber. Gesammelte Schriften. Piper Verlag, München 1988, ISBN 3-492-10799-0.
Dirk Kaesler: Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung. 4., aktualisierte Auflage. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-593-50114-7.
Michael Kaiser (Hrsg.): Max Weber in der Welt. Rezeption und Wirkung, Mohr Siebeck, Tübingen 2014, ISBN 978-3-16-152469-1.
Stephen Kalberg: Einführung in die historisch-vergleichende Soziologie Max Webers. Aus dem Amerikanischen übertragen von Thomas Schwietring. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2001, ISBN 978-3-531-13308-9.
Stephen Kalberg: Max Weber lesen. Übersetzt von Ursel Schäfer. transcript Verlag, Bielefeld 2015, ISBN 978-3-89942-445-4.
Volker Kruse, Uwe Barrelmeyer: Max Weber. Eine Einführung. UVK/UTB, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8252-3637-3. (Rezension)
Klaus Lichtblau: Max Webers Grundbegriffe. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-14810-9.
Klaus Lichtblau: Zur Aktualität von Max Weber. Einführung in sein Werk, Springer VS, Wiesbaden 2020, ISBN 978-3-658-28946-1.
Hans-Peter Müller: Max Weber. Böhlau, Köln u. a. 2007, ISBN 978-3-8252-2952-8.
Hans-Peter Müller, Steffen Sigmund (Hrsg.): Max Weber-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage. Metzler/Springer, Berlin 2020, ISBN 978-3-476-05141-7 (zuerst 2014).
Hans-Peter Müller: Max Weber: Eine Spurensuche. Suhrkamp, Berlin 2020, ISBN 978-3-518-29917-3.
Wolfgang Schluchter: Die Entzauberung der Welt. Sechs Studien zu Max Weber. Mohr Siebeck, Tübingen 2009, ISBN 978-3-16-150139-5.
Wolfgang Schluchter: Max Webers späte Soziologie. Mohr Siebeck, Tübingen 2016; ISBN 978-3-16-153383-9.
Gregor Schöllgen: Max Weber. Beck, München 1998, ISBN 3-406-41944-5.
Michael Sukale: Max Weber – Leidenschaft und Disziplin. Leben, Werk, Zeitgenossen. Mohr Siebeck, Tübingen 2002, ISBN 978-3-16-147203-9.
Richard Swedberg, Ola Agevall: The Max Weber Dictionary. Key Words and Central Concepts. Second Edition. Stanford University Press, Stanford, California 2016.
Friedrich H. Tenbruck: Das Werk Max Webers. Gesammelte Aufsätze zu Max Weber. Mohr Siebeck, Tübingen 2002, ISBN 978-3-16-147757-7.
Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Saur, München/London/New York/Paris 1992, ISBN 978-3-598-11092-4.
Einzelne Fragestellungen
Gert Albert, Agathe Bienfait, Steffen Sigmund, Claus Wendt (Hrsg.): Das Weber-Paradigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm. Tübingen, Mohr (Siebeck) 2003, ISBN 978-3-16-148826-9
Andreas Anter: Max Weber und die Staatsrechtslehre. Mohr Siebeck, Tübingen 2016, ISBN 978-3-16-154732-4.
Andreas Anter, Stefan Breuer (Hrsg.): Max Webers Staatssoziologie. Positionen und Perspektiven. 2. Auflage. Nomos, Baden-Baden 2016, ISBN 978-3-8487-2730-8.
Stefan Breuer: Max Webers Herrschaftssoziologie. Campus, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-593-34458-0.
Stefan Breuer: Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994, ISBN 3-534-12336-0.
Rogers Brubaker: The limits of rationality. An essay on the social and moral thought of Max Weber (= Controversies in sociology. Bd. 16). George Allen & Unwin, Boston/London 1984, ISBN 0-04-301172-1.
Hinnerk Bruhns: Max Weber und der Erste Weltkrieg. Mohr Siebeck, Tübingen 2017, ISBN 978-3-16-152542-1.
Catherine Colliot-Thélène: La sociologie de Max Weber. Paris, Éditions La Découverte 2014, ISBN 978-2-7071-7825-1.
Gregor Fitzi: Max Webers politisches Denken. UVK, Konstanz 2004, ISBN 978-3-8252-2570-4.
Benedikt Giesing: Religion und Gemeinschaftsbildung. Max Webers kulturvergleichende Theorie. Leske und Budrich, Opladen 2002, ISBN 3-8100-3673-0.
Peter Ghosh: Max Weber and the Protestant Ethic. Twin Histories. Oxford University Press, Oxford u. a. 2014, ISBN 978-0-19-870252-8.
Edith Hanke, Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Max Webers Herrschaftssoziologie. Mohr (Siebeck), Tübingen 2001, ISBN 3-16-147649-2.
Heike Hawicks, Ingo Runde (Hrsg.): Max Weber in Heidelberg. Beiträge zur digitalen Vortragsreihe an der Universität Heidelberg im Sommersemester 2020 anlässlich des 100. Todestages am 14. Juni 2020 (= Heidelberger Schriften zur Universitätsgeschichte. Bd. 11). Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2022, ISBN 978-3-8253-4933-2.
Wilhelm Hennis: Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Neue Studien zur Biographie des Werks. Mohr (Siebeck), Tübingen 1996, ISBN 978-3-16-148247-2.
Wilhelm Hennis: Max Weber und Thukydides. Nachträge zur Biographie des Werks. Mohr (Siebeck), Tübingen 2003, ISBN 3-16-147973-4.
Paul Honigsheim: On Max Weber. Free Press, New York 1968, ISBN 978-0-02-914910-2.
Stephen Kalberg: Deutschland und Amerika aus der Sicht Max Webers. Übersetzt von Christiane Goldmann und Ursel Schäfer. Springer VS, Wiesbaden 2013, ISBN 978-3-658-02839-8.
Hans G. Kippenberg, Martin Riesebrodt (Hrsg.): Max Webers „Religionssystematik“. Mohr (Siebeck), Tübingen 2001, ISBN 978-3-16-147501-6.
Jürgen Kocka (Hrsg.): Max Weber, der Historiker. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1986, ISBH 3-525.35734-6.
René König, Johannes Winckelmann (Hrsg.): Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit. Westdeutscher Verlag, Opladen, Köln 1963.
Karl Löwith: Max Weber und Karl Marx. In: Ders.: Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz. Kohlhammer, Stuttgart 1960, S. 1–67.
Bärbel Meurer (Hrsg.): Marianne Weber. Beiträge zu Werk und Person. Mohr (Siebeck) Tübingen 2004, ISBN 3-16-148162-3.
Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920. 1. Auflage 1959; 2. Auflage 1974; 3. Auflage 2004. Mohr (Siebeck), Tübingen 2004, ISBN 978-3-16-148480-3.
Wolfgang Mommsen: Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974, ISBN 978-3-518-27653-2.
Claus Offe: Selbstbetrachtung aus der Ferne. Tocqueville, Weber und Adorno in den Vereinigten Staaten. Adorno-Vorlesungen 2003. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-518-58399-9.
Talcott Parsons: Kapitalismus bei Max Weber – zur Rekonstruktion eines fast vergessenen Themas. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Uta Gerhardt, Springer VS, Wiesbaden 2019, ISBN 978-3-658-10110-7.
Jan Rehmann: Max Weber. Modernisierung als passive Revolution. Kontextstudien zu Politik, Philosophie und Religion im Übergang zum Fordismus. Argument-Verlag, Berlin/Hamburg 1998, ISBN 978-3-88619-253-3.
Lawrence A. Scaff: Max Weber in Amerika. Aus dem Englischen übersetzt von Axel Walter, mit einem Geleitwort von Hans-Peter Müller. Duncker & Humblot, Berlin 2013, ISBN 978-3-428-13891-3
Alexander von Schelting: Max Webers Wissenschaftslehre. Das logische Problem der historischen Kulturerkenntnis. Die Grenzen der Soziologie des Wissens. Mohr (Siebeck), Tübingen 1934.
Wolfgang Schluchter: Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-518-07922-0.
Wolfgang Schluchter: Religion und Lebensführung. Band 1: Studien zu Max Webers Kultur- und Werttheorie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-518-28561-0; Band 2: Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-518-28562-9.
Wolfgang Schluchter, Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Asketischer Protestantismus und der „Geist“ des modernen Kapitalismus. Mohr (Siebeck), Tübingen, 2005, ISBN 978-3-16-148546-6.
Wolfgang Schwentker: Max Weber in Japan. Eine Untersuchung zur Wirkungsgeschichte 1905–1995. Mohr (Siebeck), Tübingen 1998, ISBN 978-3-16-146806-3.
Thomas Schwinn, Gert Albert (Hrsg.): Alte Begriffe – Neue Probleme. Max Webers Soziologie im Lichte aktueller Problemstellungen. Mohr Siebeck, Tübingen 2016, ISBN 978-3-16-154194-0.
Heinz Steinert: Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-593-39310-0.
Hubert Treiber: Max Webers Rechtssoziologie – eine Einladung zur Lektüre. Harrassowitz, Wiesbaden 2017. ISBN 978-3-447-10843-0.
Gerhard Wagner, Heinz Zipprian (Hrsg.): Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-518-28718-4.
Johannes Weiß: Das Werk Max Webers in der marxistischen Rezeption und Kritik (= Studienbücher zur Sozialwissenschaft. Bd. 42). Westdeutscher Verlag, Opladen 1981, ISBN 3-531-21543-4.
Zur Rezeptionsgeschichte
Max Weber Stiftung (Hrsg.): Max Weber in der Welt. Rezeption und Wirkung. Bearbeitet von Michael Kaiser und Harald Rosenbach. Mohr Siebeck, Tübingen 2014, ISBN 978-3-16-152469-1.
Wolfgang Schwentker: Max Weber in Japan. Eine Untersuchung zur Wirkungsgeschichte 1905–1995. Mohr (Siebeck), Tübingen 1998, ISBN 978-3-16-146806-3.
Constans Seyfarth, Gert Schmidt: Max Weber Bibliographie. Eine Dokumentation der Sekundärliteratur. 2. Auflage. Enke, Stuttgart 1982, ISBN 3-432-89192-X.
Arnold Zingerle: Max Webers historische Soziologie. Aspekte und Materialien zur Wirkungsgeschichte. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1981, ISBN 3-534-06520-4.
Zeitschrift
Max Weber Studies, hrsg. von Sam Whimster, London 2000 ff.
Film
Max Weber – Die Entzauberung der Welt. Dokumentarfilm, Deutschland, 2006, 29 Min., Buch und Regie: Anette Kolb, Produktion: BR-alpha, Reihe: München leuchtet für die Wissenschaft – Berühmte Forscher und Gelehrte, Erstsendung: 10. Februar 2006 bei BR-alpha, Inhaltsangabe und online-Video von BR-alpha, mit M. Rainer Lepsius.
Weblinks
Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt
Werke von Max Weber im Projekt Gutenberg-DE
Gangolf Hübinger: Max Weber und die Zeitgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 4. Dezember 2019
Biographien
Bildergalerie von Dirk Kaesler
Max Weber in der Welt. Internationale Konferenz veranstaltet von der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland (4./5. Juli 2012, Bonn, Universitätsclub) – Audiobeiträge der Konferenz
Schriften
Website der Kritischen Gesamtausgabe aller Werke (MWG)
Übersicht zur Max Weber-Gesamtausgabe bei Mohr Siebeck
Max Weber – Ausgewählte Schriften, Potsdamer Internet-Ausgabe (PIA)
Weber, Max, 1864–1920. auf archive.org
Vorlesungsmitschnitt
Anmerkungen
Mitglied im Alldeutschen Verband
Mitglied des Nationalsozialen Vereins
Mitglied der Fortschrittlichen Volkspartei
DDP-Mitglied
Politiker (20. Jahrhundert)
Politiker (21. Jahrhundert)
Mitglied des Verbandes für internationale Verständigung
Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
Hochschullehrer (Ludwig-Maximilians-Universität München)
Hochschullehrer (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg)
Hochschullehrer (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)
Vertreter von Imperialimustheorien
Rechtssoziologe (19. Jahrhundert)
Rechtssoziologe (20. Jahrhundert)
Religionswissenschaftler (20. Jahrhundert)
Soziologe (19. Jahrhundert)
Soziologe (20. Jahrhundert)
Sozialökonom
Ökonom (19. Jahrhundert)
Ökonom (20. Jahrhundert)
Politischer Philosoph
Neukantianer
Hauptmann (Preußen)
Person im Ersten Weltkrieg (Deutsches Reich)
Burschenschafter (19. Jahrhundert)
Absolvent der Humboldt-Universität zu Berlin
Preuße
Deutscher
Geboren 1864
Gestorben 1920
Mann |
38238 | https://de.wikipedia.org/wiki/Elster | Elster | Die Elster (Pica pica) ist eine Vogelart aus der Familie der Rabenvögel. Sie besiedelt weite Teile Europas und Asiens sowie das nördliche Nordafrika. In Europa ist sie vor allem im Siedlungsraum häufig. Aufgrund ihres charakteristischen schwarz-weißen Gefieders mit den auffallend langen Schwanzfedern ist sie auch für den vogelkundlichen Laien unverwechselbar.
Elstern gehören zu den intelligentesten Vögeln, und es wird angenommen, dass sie eines der intelligentesten nichtmenschlichen Lebewesen überhaupt sind. Relativ zu ihrer Größe hat das Nidopallium caudolaterale der Elster ungefähr die gleiche Größe wie der funktional entsprechende präfrontale Cortex von Schimpansen, Gorillas, Orang-Utans und Menschen. Die Elster ist einer der wenigen bekannten Vögel, die den Spiegeltest bestehen, zusammen mit sehr wenigen anderen Nicht-Vogel-Arten.
Im von der nordischen Mythologie geprägten Volksglauben galt die Elster als Bote der Todesgöttin Hel, so dass sie in Europa den Ruf des Unheilsboten bekam. Als „diebische“ Elster war sie auch im Mittelalter als Hexentier und Galgenvogel unbeliebt. Im Gegensatz dazu gilt sie in Asien traditionell als Glücksbringer und die lange Zeit als Unterart geführte nordamerikanische Hudsonelster (Pica hudsonia) ist bei den Indianern ein Geistwesen, das mit den Menschen befreundet ist.
Beschreibung
Die Grundfarben von Elstern der Nominatform sind Schwarz und Weiß. Der Schwanz ist gestuft und häufig so lang wie der gesamte Rest des Körpers, auf jeden Fall aber länger als die Flügel. Bauch, Flanken und Schultern sind weiß, auch die Handschwingen sind überwiegend weiß. Das restliche Gefieder ist schwarz mit irisierendem Glanz: Die Schwanzfedern und die Außenfahnen der Schwungfedern schimmern je nach Reflexionswinkeln – meist nur aus der Nähe erkennbar – metallisch grün, blau oder purpurfarben. Im Frühling werden die Farben matter und weniger schillernd. Auf den Außenfahnen der Handschwingen gehen sie fast ganz verloren. Am schillerndsten sind mehrere Jahre alte Vögel, insbesondere die Männchen, kurz nach der Mauser. Die männlichen und weiblichen Elstern unterscheiden sich äußerlich nicht voneinander, Männchen sind mit im Mittel 233 g jedoch etwas schwerer als Weibchen (im Mittel 203 g). Elstern können eine Körperlänge von etwa 46 cm erreichen, die Flügelspannweite beträgt etwa 48–53 cm.
Junge Elstern, die einen leuchtend roten Rachen haben, sind fast ebenso gefärbt wie Altvögel, die Unterschiede sind sehr gering. Der Schwanz ist glanzlos und kürzer. Die äußeren Schulterfedern sind oft nicht reinweiß, sondern etwas grau. Die weißen Bereiche auf den Innenfahnen der äußeren Handschwingen reichen nicht so weit zur Federspitze wie bei den adulten Elstern. Die Armschwingen zeigen nur im mittleren Bereich blauen Glanz. Die äußerste Armschwinge trägt fast immer einen weißen Fleck, manchmal auch die zweite oder die dritte darauf folgende Feder.
Ihre Mauser beginnen einjährige Elstern etwas früher als mehrjährige Vögel. Sie wechseln das ganze Gefieder. In Europa beginnen ein- und mehrjährige Vögel im Juni, flügge Vögel frühestens im Juli, spätestens Ende August zu mausern.
Die Fortbewegung der Elster auf dem Boden erfolgt meist hüpfend. Sie ist aber auch in der Lage zu gehen. Die Elster bewegt sich sehr geschickt im Geäst von Bäumen. Sie hat einen wellenförmigen Flatterflug.
Stimme
Am häufigsten lässt die Elster das „Schackern“ oder „Schäckern“ hören. Es besteht aus mehr oder weniger schnell aufeinander folgenden Rufreihen mit leicht krächzendem „schäck-schäck-schäck“. Das Schäckern ist ein Warn- und Alarmruf und dient der Verteidigung des Reviers. Nichtbrütende Elstern gebrauchen ihn nur, wenn Gefahr droht. Die Erregung der Tiere ist besonders groß, wenn das Schäckern schnell und abgehackt ist. So stellen sie sich bei langsamem Schäckern der Gefahr, fliehen aber bei schnellem Rufen.
Zur Festigung der Partnerschaft lassen Paare einen leisen Plaudergesang hören. Dieser variiert zeitlich und individuell sehr stark. Er kann sowohl rhythmisch als auch arhythmisch sein. Oft sind weiche Trillerlaute und hohes Pfeifen darin enthalten. Einzelne Vögel imitieren andere Tiere. Meist besteht der Gesang jedoch aus einem gurgelnden, bauchrednerischen Schwätzen mit Pfeiflauten.
Zur Reviermarkierung lassen Paare einen nach „kia“, „kjää“ oder „kik“ klingenden Ruf hören. Oft zeigen sie sich dabei in der Mitte des Reviers auf den höchsten Zweigen eines Baumes.
Nestlinge betteln mit einem hohen kreischenden „twiit“. Drei bis vier Wochen alte Jungvögel melden sich bei den Altvögeln durch einen zweisilbigen Ruf. Er klingt wie „jschiejäk“, „tschjuk“ oder „tschjuk-juk“. Der Kontaktruf des Weibchens ähnelt dem Standortruf der Jungvögel.
Häufig gibt die Elster auch ein lang gezogenes „tschark“ „tschirk“ „tschirrl“ oder „tschara“ von sich. Je nach Intonation (weich, hart, lang, kurz) hat dieser Ruf verschiedene Bedeutungen. Daneben kann die Elster auch nasale und gedehnte Laute wie „gräh“ hören lassen.
Dass freilebende Elstern fremde Vogelarten mitunter imitieren, schließt Urs N. Glutz von Blotzheim nicht aus, ist jedoch weder die Regel, noch vollends gesichert; Glutz von Blotzheim formuliert vage: „Manche Individuen bauen auch Lautäußerungen ein, die wie Imitationen (z. B. Star, Singdrossel, Heuschreckenzirpen) klingen“.
Verbreitung
Die Elster besiedelt weite Teile von Europa und Asien sowie Nordafrika. In Europa ist die Verbreitung flächendeckend und reicht vom Nordkap in Skandinavien bis zu den Südspitzen von Spanien und Griechenland. Sie fehlt nur auf einigen Mittelmeerinseln. Darüber hinaus sind im Norden Afrikas Teile der küstennahen Bereiche von Marokko, Algerien, Tunesien besiedelt. Die Elster ist ein Standvogel, in Skandinavien jedoch auch ein Strichvogel.
Im Osten Europas ist die Elster bis etwa 65° N verbreitet, im Nahen Osten erstreckt sich ihr Lebensraum über die Türkei und Teile des Irans bis fast an die Küste des Persischen Golfs. In Fernost weicht die Nordgrenze der Verbreitung nach Süden bis zum Japanischen Meer bis auf etwa 50° N zurück. In Asien besiedelt die Elster Gebiete bis nach Nordvietnam. Auch der Nordwesten der Mongolei wird von Elstern besiedelt. Eine isolierte Population befindet sich auf der Kamtschatka-Halbinsel. Außerdem wird auf Nordwest-Kyushu eine kleine Population als Naturdenkmal geschützt.
Systematik
Externe Systematik
Im Allgemeinen gehen Ornithologen davon aus, dass die Gattung Pica ihren Ursprung in der Alten Welt hat und den nordamerikanischen Kontinent im späten Pleistozän vermutlich über die Beringstraße erreichte. Da in Texas aber ein Fossil gefunden wurde, das mehr Ähnlichkeit mit Pica pica als mit der Gelbschnabelelster (Pica nuttallii) hat, ist es auch möglich, dass P. pica im Pliozän entstanden ist.
Nach neueren DNA-Untersuchungen wird die ehemals als Unterart angesehene, in Kalifornien vorkommende Gelbschnabelelster (Pica nuttallii) als eigene Art behandelt. Die früher als Unterart angesehene, in Alaska und dem mittleren Nordamerika vorkommende Hudsonelster (Pica hudsonia) hat sich wahrscheinlich im Pleistozän aus der in Asien vorkommenden Pica pica entwickelt. Andere Ornithologen vermuten jedoch, dass Pica hudsonia nicht aus Eurasien stammt. Neuere DNA-Analysen weisen darauf hin, dass Pica hudsonia ebenfalls eine eigene Art ist und mehr genetische Ähnlichkeiten mit Pica nuttallii aufweist als mit den eurasischen Unterarten.
Interne Systematik
Die Unterarten unterscheiden sich in Größe und Gewicht, in der Größe und Zeichnung der Flügelfedern und in der Färbung der Unterrückenzone. Zudem differieren einige Teile des Skeletts und auch die Pigmentierung der Schwanzfedern, die zwischen blau, violett, kupfern, messing, purpurn und grün schwanken kann. Die dunkelsten Unterarten sind im Süden verbreitet, die hellsten im Nordosten Eurasiens. Dies betrifft besonders die Färbung des unteren Rückens. In der Regel sind die südlichen Formen größer und haben kürzere Schwanzfedern als die nordöstlichen. Es wird vermutet, dass die Aufspaltung der Art in eine gelb- und eine schwarzschnabelige Variante deutlich früher erfolgte als die Ausdifferenzierung der schwarzschnäbeligen Unterarten.
Pica p. pica ist die Nominatform.
P. p. galliae hat einen dunkleren Unterrücken als P. p. germanica und die skandinavischen Elstern. Der Flügelsaum ist an den Handschwingen breiter. Ihr Verbreitungsgebiet liegt in Frankreich, in Belgien und in Rheinland-Pfalz. In der Schweiz ist sie teilweise seit 1915 ausgerottet.
P. p. melanotos hat einen schwarzen Unterrücken mit gelegentlich angedeutetem Bürzelband. Der Schwanz ist gelblichgrün schillernd. Die Flügellänge bei Männchen beträgt 181–197 mm. Sie lebt auf der iberischen Halbinsel.
P. p. mauritanica ist die kleinste und dunkelste Unterart (Flügellänge bei Männchen 152–172 mm). Die Flügel schillern dunkel grün und purpurn. Der Bürzel ist immer schwarz. Hinter den Augen befindet sich ein gut sichtbarer nackter cobaltblauer Hautfleck. Sie besiedelt Nordwestafrika (Marokko, Algerien, Tunesien). Manche Forscher halten sie für eine eigene Art.
P. p. germanica ist kleiner und kurzflügeliger als die Nominatform. Sie lebt im Gebiet von Thüringen bis zur Niederlausitz. Da die meisten Ornithologen sie zur Nominatform rechnen, ist die Stellung dieser Unterart umstritten.
P. p. fennorum hat längere Flügel (Flügellänge bei Männchen 190–221 mm) als die Nominatform und einen hellgrauen Bürzel, der heller ist als bei der Nominatform. Sie besiedelt Nordost-Skandinavien, Finnland und die nördlichen europäischen Teile Russlands.
P. p. bactriana ist heller als die Nominatform. Sie hat einen schmaleren Flügelsaum und einen intensiveren grünlichen Glanz auf den inneren Armschwingen. Zudem ist sie durch große Flügeldecken und einen bronzefarbenen, nicht blau schillernden Schwanz gekennzeichnet. Ihr Verbreitungsgebiet liegt in der mittleren bis östlichen ehemaligen UdSSR, in den Stromgebieten von Wolga und Don und in der Ostukraine. Zudem lebt sie am Ufer des Asowschen Meeres östlich bis Astrachan, im Nordkaukasus, in Transkaukasien und in Transkaspien sowie in Westturkestan. Sie besiedelt aber auch die mittlere Kirgisensteppe, Semei, Afghanistan und Belutschistan.
P. p. asirensis hat einen schwarzen Rücken und dunkelblaue Armschwingen. Zudem sind die Spitzen der innersten Federn grünlich gefärbt. Sie ist im Asir-Gebirge verbreitet. Ob sie auch in Südarabien lebt, ist umstritten. Manche Forscher halten sie für eine eigene Art.
P. p. hemileucoptera ist größer als P. p. bactriana und hat grünere Armschwingen. Der Schwanz schillert gelblich und grünlich. Die erste Handschwinge hat keinen schwarzen Endfleck. Sie besiedelt Mittelsibirien, Altai, das Sajangebirge, die Nordwestmongolei, Ostturkestan, Sowjetisch-Turkestan, den westlichen Tian-Schan, Talas-Alatau und das Altaigebirge.
P. p. leucoptera ist größer als P. p. hemileucoptera und hat noch mehr Weiß in den Schwingen. Ihr Unterrücken ist weiß. Ihr Verbreitungsgebiet liegt südlich des Baikalsees, in der Nordostmongolei und in der Nordwestmandschurei.
P. p. jankowskii hat einen grünen Schwanz mit bläulich irisierenden Tönen. Das Blau der Armschwingen ist reiner und weniger violettstichig als bei P. p. sericea. Ihr Verbreitungsgebiet liegt in Südussurien, in Sidemi und in der östlichen Mandschurei.
P. p. kamtschatica ist die hellste und grünschillerndste Unterart. Die Handschwingen sind auf der gesamten Innenfahne weiß. Auf der ersten Armschwinge befindet sich ein ausgedehnter weißer Fleck. Armschwingen und Schwanz sind grünschillernd. Sie besiedelt das Anadyrgebiet und Kamtschatka.
P. p. japonica ist durch Armschwingen und Flügeldecken mit violettblauem Schiller gekennzeichnet. Der Schnabel ist kurz und dick. Sie lebt in Kyushu, nördlich der Ariakibucht in Japan.
P. p. sericea hat einen kürzeren Schwanz als die Nominatform. Flügel und Schwanz haben zudem ein stärkeres violett-purpurnes Schillern. Der Unterrücken ist grau und nicht weiß. Sie besiedelt das Amurgebiet und das Ussuriland, Korea, im Osten der Volksrepublik China, Alan-schan, das nördliche Ningxia und Gansu sowie Annam, Taiwan und Hainan.
P. p. bottanensis ist die größte Elster mit dem relativ kürzesten Schwanz und hat einen schwarzen Unterrücken. Sie ist in Bhutan, Sikkim und in den benachbarten Gebiete Osttibets verbreitet.
DNA-Untersuchungen haben gezeigt, dass P. p. sericea große genetische Unterschiede zu den eurasischen Formen aufweist, so dass sie eine eigene Art sein könnte. Die Unterarten P. p. mauretanica und P. p. asirensis werden von einigen Forschern ebenfalls als eigene Arten betrachtet.
Lebensraum
Die Elster kommt sowohl im Flachland wie im Gebirge vor. Sie ist weltweit in Höhen bis 2500 m zu finden. Die Unterarten P. p. asirensis, P. p. bottanensis, P. p. hemileucoptera bilden Ausnahmen. So lebt P. p. bottanensis bis in 4000 Meter Höhe und sucht ihre Nahrung noch bis in über 5500 Meter Höhe.
Die Elster besiedelt vor allem gut strukturierte, teilweise offene Landschaften mit Wiesen, Hecken, Büschen und einzelnen Baumgruppen. Sie lebt auch an Waldrändern, in der Nähe von Gewässern und in Sümpfen mit Röhricht, Weidengebüschen und Gestrüpp. Selten ist sie in schmalen Waldstreifen, kleinen Waldparzellen, ausgedehnten Wäldern und in gehölzfreien Wiesen- und Ackerlandschaften zu finden. Auch Steilhänge, schmale, tief eingeschnittene Täler sowie fels- und schneereiche Regionen werden gemieden. Nur die oben genannten Ausnahmen leben im Gebirge, teilweise auch jenseits der Schneegrenze.
Mehr als die Hälfte des Bestandes in Europa brütet heute Schätzungen zufolge in und am Rand von bebauten Bereichen. Sie besiedelt insbesondere Einfamilienhausbereiche mit kurz geschnittenen Rasenflächen, daneben Parkanlagen, Alleen, Friedhöfe und große Hausgärten. Früher war sie dagegen auch in Europa ein charakteristischer Vogel der Agrarlandschaft mit Hecken und Feldgehölzen, Alleen oder alten Obstgärten.
Nahrung und Nahrungserwerb
Grundsätzliches
Elstern nehmen das ganze Jahr über sowohl tierische als auch pflanzliche Nahrung auf. Die Nahrung besteht aus Insekten sowie deren Larven, Würmern, Spinnen und Schnecken. Darüber hinaus gehören kleine Wirbeltiere bis zu der Größe einer Feldmaus, beispielsweise Amphibien, Echsen, Kleinsäuger, Nestlinge und Eier sowie kleinere Vögel zu ihrer Speise. Außerdem fressen sie das ganze Jahr über Aas. Früchte, Sämereien und Pilze bilden insbesondere im Herbst und im Frühling Bestandteile ihrer Nahrung. Unverdauliches wird in Form von Speiballen ausgeschieden.
Die Hälfte der Nahrung europäischer Elstern ist tierischen Ursprungs. In der Brutzeit decken sie damit 95 Prozent ihres Nahrungsbedarfs. Im Frühjahr und Sommerhalbjahr leben die Vögel in Europa vorwiegend oder ausschließlich von tierischer Nahrung. Im Herbst und Winter besteht die Nahrung dort zunehmend aus pflanzlichen Bestandteilen. In Europa befinden sich in den Speiballen zu einem Anteil von fünf bis zehn Prozent auch Reste von Wirbeltieren.
Die Elster sucht ihre Nahrung meistens auf dem Boden. Bei Insekten- und Spinnenjagd in niedrigem Bewuchs läuft sie ein Stück, bleibt stehen, reckt sich hoch auf und hält Umschau. Ist eine Beute entdeckt, läuft oder hüpft sie rasch darauf zu und packt mit dem Schnabel zu. Ist die Elster in höherem Bewuchs auf Nahrungssuche, schreitet sie ohne Pausen umher und rennt auf das Beutetier zu. Kleintiere werden auf ähnliche Art erbeutet. Um Insekten einzusammeln, springt sie an hohen Grasähren oder Kräutern hoch. Weitere Techniken sind das Herumstochern im Boden und das Scharren, bei dem sie Laub oder Erde mit dem Schnabel beiseite wirft. Besonders raffiniert ist das Umdrehen kleiner Steine (bis ca. 10 cm Größe) oder Grasbüschel. Die Elster pflückt auch Beeren ab. Vor allem in Amerika pickt sie häufig Parasiten von Schafen oder Rindern. Auch Fische werden gelegentlich erbeutet.
Zumeist verschlingt die Elster Insekten als Ganzes, Wespen werden jedoch vorher gründlich mit dem Schnabel zerquetscht. Größere Tiere hält sie meist mit den Füßen am Boden fest. Die Tötung erfolgt durch Schnabelhiebe, in der Regel gegen den Rumpf oder durch das Schleudern der Beute gegen harte Gegenstände. Kleinvögel rupft die Elster vor dem Fressen säuberlich.
Elstern legen das ganze Jahr über Nahrungsdepots an, die meist innerhalb von zehn Tagen geleert werden. Um plündernden Krähen zuvorzukommen, deponieren sie die Vorräte abwechselnd an verschiedenen Orten. Vor allem im Herbst sammeln sie Sämereien oder Aas. An einem geeigneten Ort schlagen sie mit dem Schnabel ein kleines Loch in den Boden, legen die Nahrung dort hinein und decken das Loch dann wieder mit Erde und Pflanzen zu. Wenn die Nahrung im Winter knapper wird, können gefüllte Nahrungsspeicher vor allem im Gebirge überlebenswichtig sein.
Ernährung im urbanen Bereich
In besiedelten Gebieten durchsuchen Stadtelstern Kompost- und Abfallhaufen und fressen Fleischreste, Brot, Teigwaren, Käse, Eierschalen und Ähnliches. Sie bestreiten damit rund die Hälfte ihres Nahrungsbedarfs. In der Innenstadt beträgt der Anteil an Kleinvögeln in der Nahrung lediglich fünf bis acht Prozent. Häufig suchen Stadtelstern Straßen, Bahnstrecken und Stand- und Randstreifen von Autobahnen nach tierischen Unfallopfern ab, ebenfalls Ufer von Gewässern sowie alle sonstigen Orte, an denen Menschen Verwertbares für sie hinterlassen haben könnten. Stadtelstern verstecken vor allem Objekte aus dem Umfeld des Menschen (Tierfutter, Kompost und Abfälle, Hundekot, Pflanzenzwiebeln), seltener Eicheln oder Aas. Auch Lücken unter Dachziegeln können ihnen als Depots dienen.
Lebensweise
Der Aktivitätsbeginn der Art liegt in der Regel etwa eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang, variiert aber je nach Jahreszeit. Während der Stunde vor Sonnenuntergang nähern sich Elstern immer mehr ihrem Schlafplatz, den sie kurz darauf einnehmen.
Die Elster lebt in zwei verschiedenen Sozialformen. In der Brutzeit leben Brutpaare allein in ihren Revieren, während sich Nichtbrüter zu Gruppen zusammenschließen. Im Winter bilden Elstern Scharen von einem Dutzend bis zu einigen hundert Vögeln.
Fortpflanzung
Die Elster wird im ersten Herbst ihres Lebens geschlechtsreif. Sie wird dann Mitglied einer Gemeinschaft aus anderen Nichtbrütern. Im darauf folgenden Frühling brüten nur knapp die Hälfte der Männchen und gut die Hälfte der Weibchen.
Paarbildung und Nistplatzwahl
Die Elster lebt in lebenslanger Monogamie, stirbt einer der Partner, ersetzt ihn der andere meistens schnell durch einen einjährigen Vogel. Wiederholen sich erfolglose Bruten zu häufig, trennen sich Paare in der Regel auch. Im Herbst verbringt ein zukünftiges Paar zunehmend mehr Zeit miteinander, bis sich beide aneinander gebunden fühlen (Umpaarungen). Sie gehen aber nach wie vor allein auf Nahrungssuche. Hat ein junges Elsternpaar ein Revier erobert, finden manchmal balzartige Handlungen statt.
Die Inspektion der möglichen Nistplätze durch Herumstochern findet von Oktober bis Januar statt, in Mitteleuropa bis Februar. Männchen scheinen insbesondere durch Trockenheit und Temperaturen unter −4 °C aktiviert zu werden. Das Weibchen zeigt mögliche Nistplätze häufig durch Flügelzittern („Betteln“) an. Beide Vögel bekunden ihr Interesse an einem Nest manchmal durch Schackern oder einen speziellen Nestruf, durch Schwanzzittern, Blinken oder Flaggen.
Als Nistplätze werden zwei Bereiche bevorzugt: Einerseits werden die Nester häufig in die obersten Zweige von hohen Bäumen in einer Höhe von 12 bis 30 m gebaut, wo die Vögel schwer zu erreichen sind und sie die Umgebung gut überblicken können. Dabei wird die Nesthöhe so gewählt, dass sie im Optimum zwischen dem Sicherheitsbedürfnis und der für die Jungenaufzucht aufzuwendenden Energie liegt. Mit steigender Höhe des Nestes wächst die Sicherheit, aber auch der Energieaufwand nimmt zu. Andererseits bauen Elstern auch Nester in einer Höhe von drei bis vier Metern in dichtem dornigem Gebüsch oder in dornigen Hecken. Stadtelstern nutzen selten auch Standorte wie Stahlgitterkonstruktionen oder Eisenbahn-Leitungsmasten als Brutplatz.
Der häufigste Nesträuber ist die Aaskrähe. Wird ein Paar beim Nestbau durch Aaskrähen zu stark belästigt, legt es an anderer Stelle ein neues Nest an.
Das Nest
Bereits im Januar kann mit dem eigentlichen Nestbau angefangen werden. In Mitteleuropa beginnt er aber erst im Februar oder März. Während neue Paare den Nestbau mit ausgedehntem Balzen beginnen, fangen alte Paare nach einem verkürzten Balzritual mit dem Bau des Nestes an. Das Nest ist ein kugelförmiger, recht großer Bau aus Zweigwerk. Der Außenbau ist 35 bis 75 cm breit und besteht aus sperrigen, trockenen, sich oft kreuzenden, nach außen abstehenden Zweigen. Der Unterbau der Nistmulde ist aus feiner Erde und feinen Reisern gefertigt. Die Nistmulde wird in der Regel aus feinem Wurzelwerk gebaut, welches zu einem einheitlichen Geflecht verarbeitet wird. Ihr Durchmesser beträgt circa 135 mm, und sie hat eine Tiefe von etwa 100 mm. Die meisten Nester besitzen einen haubenartigen, aus sperrigen Zweigen bestehenden Überbau mit einem, oft auch zwei seitlichen Ausgängen. Ein Fehlen der Haube geht auf Mangel an passendem Baumaterial oder auf die Unerfahrenheit des Paares zurück. Der Überbau dient dazu, das Gelege vor Krähen oder Greifvögeln zu schützen.
Beide Vögel beteiligen sich etwa in gleicher Weise am Bau des Nestes. Die Gesamtzeit für den Nestbau beträgt im Schnitt 40 Tage. Ein Paar beginnt häufig an mehreren Stellen zu bauen, gibt jedoch die Nestansätze zugunsten des zur Brut bestimmten Platzes wieder auf. Dieses Verhalten tritt besonders dann auf, wenn beim Bau eines Nestes Störungen auftreten. Solange verpaarte Vögel zusammen sind, vollenden sie oft viele Nester, selbst wenn sie zum Brüten häufig alte Nester ausbessern.
Alte Nester werden von Waldohreulen, Turm- und Baumfalken benutzt, die selbst keine Nester bauen. Das Zerstören von Elsternestern betrifft somit auch diese Vogelarten.
Balz und Paarung
Einige Paare kopulieren schon während des Nestbaus. Wenn in der zweiten Aprilhälfte (bei einer normalen Brut) die Eier gelegt werden, kommt es zu deutlich mehr Paarungen. Besonders in dieser Zeit bettelt das Weibchen laut und auffällig.
Zur Balz nähert sich das Männchen dem Weibchen mit teilweise gespreiztem Gefieder. Nach Bährmann wird dabei das Rückengefieder abgespreizt, nach Glutz jedoch das weiße Unterseitengefieder. Häufig erfolgt die Annäherung von hinten oder kreisförmig mit hochgehaltenem oder vorgestrecktem Kopf. Zudem singt das Männchen dabei manchmal leise.
Das Männchen balzt auch, indem es den Kopf senkt und die geschlossenen Flügel schräg vom Rücken abhebt, während es mit den Flügelfedern fächert. Gleichzeitig schlägt es den Schwanz ruckartig nach oben und unten oder nach links und rechts und ruft ein weiches „tscha(r)k“ aus. Soll damit gehemmte Aggression ausgedrückt werden, ist die Schwanzbewegung stärker ausgeprägt, die Flügelbewegung schwächer und das Scheitelgefieder angelegt. Zusätzlich werden Kopf und Rumpf angehoben. Auch das Weibchen kann so balzen. Beide können auch synchron einen wellenartigen Paarflug ausführen.
Das Weibchen leitet die Paarung manchmal durch Betteln ein. Dabei stellt es sich geduckt oder hoch aufgerichtet vor das Männchen, streckt die angewinkelten Flügel ab und zittert damit. Es stößt sehr hohe Bettelrufe aus und sperrt den Schnabel auf. Häufig legt das Männchen dann das Scheitelgefieder an. Wenn das Weibchen paarungsbereit ist, duckt es sich gestreckt an den Boden und bettelt mit zitternden Flügeln. Die Anzahl der Begattungen während der Brutzeit ist umstritten. Die Angaben schwanken zwischen insgesamt nur etwa dreimal in der Saison und mehrmals täglich.
Eiablage und Bebrütung
Der Legebeginn schwankt selbst innerhalb Europas beträchtlich. In Mitteleuropa liegt der durchschnittliche Legebeginn (März bis Mai) für Erstgelege am achten April. Wird ein Gelege vernichtet, kann das Paar ein Nachgelege (Ersatzgelege) erstellen. Wird dieses ebenfalls vernichtet, kann es ein weiteres Nachgelege aufbieten. In Ausnahmefällen kommt es zu einem vierten Brutversuch.
Das Weibchen bebrütet das Gelege, nachdem einige Eier gelegt wurden. Manchmal beginnt es das Brüten aber schon nach dem Legen des ersten Eies oder erst nach dem Legen aller Eier. In der Zeit davor hält sich das Weibchen noch lange außerhalb des Nests auf. Etwa jeden Tag legt es ein Ei. Die Eier sind oval, manchmal aber auch kurzoval, langoval oder spitzoval. Sie sind in der Regel blassgrünlich bis lehmfarben gefärbt und zeigen eine dichte, bräunlichgraue bis olivgrüne Fleckung. Farbe und Zeichnung können in weiten Grenzen variieren. Die Eier sind circa 33 bis 34 mm lang und circa 23 bis 24 mm breit. Das Vollgewicht eines frisch gelegten Eies beträgt acht bis zwölf Gramm. Typische Gelegegrößen sind vier bis sieben Eier, bei sehr gutem Nahrungsangebot können aber auch bis zu zwölf Eier gelegt werden. Nachgelege sind in der Regel kleiner als Erstgelege.
Es wird ausschließlich vom Weibchen gebrütet, während das Männchen das Revier verteidigt und den Großteil der Versorgung des Weibchens übernimmt. Die Fütterung erfolgt dabei unter dem Überbau des Nests, selten im Freien. Das Verhalten der Vögel während der Brutzeit unterliegt erheblichen individuellen Schwankungen. Einige Männchen bewachen den Nistbereich gründlich und melden jeden Eindringling durch sofortiges Schackern. Andere Männchen verteidigen ihn erst, wenn der Eindringling dem Horst zu nahe kommt. Insgesamt scheinen die Vögel in Horstnähe auffallend still zu sein. Krähen werden grundsätzlich attackiert. Teilweise werden kleine Vögel und Tauben im Revier geduldet.
In Europa schlüpfen die Jungen im Schnitt 17 bis 22 Tage nach Legebeginn und innerhalb von zwei bis vier Tagen. Etwa die Hälfte aller Bruten ist erfolglos, da das Nest von Krähen, Habichten, Katzen oder Mardern geplündert wird. Einige Nester werden auch vom Menschen zerstört.
Entwicklung der Jungen
Die Jungen sind bei der Geburt nackt und in den ersten vier bis acht Tagen blind. Sie werden bis zum elften oder zwölften Tag gehudert. In dieser Zeit füttert das Männchen mit aus dem Kropf gewürgter Nahrung, später beide Partner. Das Gewicht der Nestlinge steigt in den ersten knapp 20 Tagen ungefähr linear auf rund 180 g.
Nach etwa 24 bis 30 Tagen verlassen die Jungen das erste Mal das Nest. Vor dem ersten Ausfliegen klettern die Jungvögel abwechselnd ein und aus und turnen unbeholfen auf dem Dach des Nestes und in den umliegenden Zweigen herum. Sie werden jedoch von den Altvögeln immer noch im Nest gefüttert und im Revier weiterhin betreut. Noch nicht flugfähige Junge bleiben in Deckung und können vom Boden aus selbst an relativ glatten Baumstämmen flügelschlagend hochklettern.
Bei der Aufzucht von Jungen stellen Insekten auf Grund ihres hohen Eiweißgehalts eine wichtige Nahrungsquelle dar. Im Laufe der Aufzuchtphase ändert sich jedoch das Nahrungsangebot. Im ersten Drittel der Nestlingszeit wird – proportional vermehrt – kleineres und leichter verdauliches Material (Fliegen, Raupen, Spinnen) gefüttert. In der Mitte und im letzten Drittel der Nestlingszeit besteht die Nahrung zu gleichen Anteilen aus großen und kleinen Bestandteilen (Würmer, Hautflügler, Käfer, Wirbeltierstücke).
Mit etwa 45 Tagen beginnen die Jungvögel selbst am Boden Nahrung zu suchen, bleiben aber nach dem Ausfliegen noch sechs bis acht Wochen von den Altvögeln abhängig. Nach einiger Zeit beginnen sie zudem, allein Ausflüge in die nähere Umgebung zu unternehmen, kehren jedoch immer wieder in das Revier ihrer Eltern zurück. Sobald die Jungen ausreichend gut fliegen können, werden sie zum gemeinsamen Schlafplatz geführt. Manchmal ergreift auch der Nachwuchs die Initiative. Mit Beginn der Selbstständigkeit schließen sich die Jungvögel der Gemeinschaft nichtbrütender Artgenossen an. Elstern, die weit im Norden leben, fliegen als Strichvogel im Winter so weit nach Süden, wie es nötig ist.
Die Elster kann bis zu 16 Jahre alt werden, wird in der Natur jedoch aufgrund ihrer natürlichen Feinde im Durchschnitt nur circa zweieinhalb Jahre alt.
Territorialverhalten
Elstern sind standorttreue Vögel. Die Brutpaare überwachen ihr Revier ganzjährig, selbst dann wenn sie sich im Winter zum Schlafen teilweise den Nichtbrütergemeinschaften anschließen. Die Größe der Reviere kann erheblich schwanken. Im Durchschnitt liegt sie zwischen vier und sechs Hektar. Während der Zeit der Eiablage und im Spätherbst werden Eindringlinge besonders intensiv abgewehrt. Gegen Aaskrähen werden die Nester ganzjährig verteidigt.
Um das Revier zu markieren, präsentieren sich Männchen oder Weibchen, meistens beide gemeinsam, in einem gut sichtbaren Baumwipfel. Dazu sitzen die Vögel aufrecht mit hängendem Schwanz und plustern die weißen Gefiederbereiche auf. Dasselbe Verhalten zeigen sie bei Revierstreitigkeiten mit benachbarten Pärchen, aber auch gegenüber artfremden Tieren. Zur Revierverteidigung bettelt und schäckert das Weibchen demonstrativ. Männchen kämpfen sowohl gegen Artgenossen als auch Aaskrähen vehement am Boden und auch in Luftkämpfen. In Sicht- oder Hörweite des Partners vertreibt das Männchen fremde Weibchen, die es andernfalls umwirbt.
Im Spätherbst versuchen neue Vogelpaare, sich ein Revier zu erobern. Um ein Revier zu besetzen, kann ein Jungvogel entweder einen verstorbenen Brutvogel ersetzen oder sich zwischen zwei bestehenden Revieren ein eigenes sichern oder aber ein Revier durch Kämpfen erobern. Dazu verbündet sich eine kleine Gruppe von Nichtbrütern und dringt in ein bestehendes Revier ein. Normalerweise gelingt es dem revierbesitzenden Männchen, die Eindringlinge zu vertreiben. Scheitert es jedoch, so übernimmt der dominanteste Jungvogel, der meist auch Initiator des Einfalls ist, das Revier.
Nichtbrüter- und Schlafgemeinschaften
Elstern, die nicht brüten, bilden abends Schlafgemeinschaften. Im Herbst und Winter schließen sich ihnen auch die verpaarten, revierbesitzenden Vögel an. Schlafplätze sind häufig schwer zugängliche Stellen und werden über mehrere Jahre genutzt. Die Schlafplätze befinden sich beispielsweise auf Weiden in Sumpfgebieten oder auf kleinen Inseln.
Im Winter sammeln sich an den Schlafplätzen meist 20 bis 50 Elstern. Manchmal bilden sich dort auch Gemeinschaften von einigen Hundert Vögeln. Im Sommer befinden sich jedoch meist nur ein oder einige Dutzend Vögel in den Schlafgemeinschaften. Es wird vermutet, dass dies hauptsächlich einjährige Vögel sind. Tagsüber streifen die Nichtbrüter in kleinen Gruppen umher und suchen nach Nahrung. Bei gemeinsamen Ortwechseln kleiner bis größerer Gruppen, beispielsweise von ein bis drei Dutzend Elstern auf dem Flug zum gemeinsamen Schlafplatz über größere Freiflächen hinweg, fällt auf, dass die Tiere – anders als Krähen oder Kolkraben – praktisch nie nebeneinander, sondern immer mit einer Art „Sicherheitsabstand“ hintereinander her fliegen, so als würde weiterhin gelegentlich auf diese Vögel geschossen.
In den Schlafgemeinschaften gibt es eine nicht sehr ausgeprägte Hierarchie. Im Allgemeinen dominieren Brutvögel über Nichtbrüter und Männchen über Weibchen. Auch mit dem Aufenthaltsort vertraute Tiere sind meist dominanter. Konkurrieren Elstern ungefähr gleichen sozialen Ranges um Nahrung, kommt es zunächst zum Drohen. Dabei wird der Körper meist steil aufgerichtet und der Schnabel nach oben gestreckt („Aufrechtdrohen“), manchmal auch flach waagerecht gestreckt („Vorwärtsdrohen“). Weicht keiner der beiden zurück, kommt es zu einem Kampf mit Zerren des Schwanzes, Tritten, Verfolgungsflügen, Anspringen und Schnabelhieben, bei dem es auch zu Verletzungen kommen kann (Beschädigungskampf). Die Auseinandersetzungen sind jedoch weniger heftig als bei Revierkämpfen. Flügelblinken ist dabei ein Ausdruck gehemmter Aggression. Verpaarte Vögel konkurrieren nicht um Nahrung und teilen sie manchmal.
Die Schwarmbildung dient vermutlich dazu, sich beim Nahrungserwerb vor allem gegen die Aaskrähe durchzusetzen. Größere Nichtbrütergemeinschaften können Nahrungsquellen länger verteidigen. Zudem können größere Vögel wie große Möwen, Raben, Eulen, Mäusebussarde oder auch Eichhörnchen durch Schwanzzerren und Ähnliches von Schlafgemeinschaften, nicht aber von einzelnen Vögeln vertrieben werden.
Intelligenz
Das Gehirn der Elster zählt zu den höchstentwickelten unter den Singvögeln. Die Fähigkeit zur Objektpermanenz, die sich relativ schnell entwickelt, ist sehr ausgeprägt, was im Zusammenhang mit der Entwicklung des Futterhortens steht. Sie können also die Ortsverlagerung eines Objekts nachvollziehen, das vorher nicht zu sehen war. Die Fähigkeit, selbstverstecktes Futter wiederzufinden, entwickelt sich bei jungen Elstern genau dann, wenn sich ihre Fähigkeit zur Objektpermanenz entwickelt. Nach etwa zehn Wochen beherrschen sie diese Aufgabe vollständig. Folglich verfügen Elstern über hohe Repräsentationsleistungen. Zudem zeigen sie ein komplexes Sozialverhalten und erkennen ihre Artgenossen individuell.
Vor dem Spiegel zeigen Elstern ein neugieriges Verhalten: Sie gehen vor dem Spiegel auf und ab, werfen vorsichtige Blicke hinter den Spiegel. Zudem zeigen sie gute Diskriminationsleistungen, indem sie sich im Versuch in der überwiegenden Zahl der Fälle nach dem Blick in den Spiegel nur auf die gespiegelte Schachtel zubewegen, wenn sie den für sie interessanten Inhalt hat (den Ring, das Futter). Markierte Elstern zeigen vor dem Spiegel selbstbezogenes Verhalten. In einigen Fällen kämpfen sie jedoch gegen das eigene Spiegelbild. Somit reagieren Elstern vor dem Spiegel ähnlich wie Schimpansen und Orang-Utans in vergleichbaren Tests, die bei diesen Menschenaffen als Hinweis auf Selbsterkenntnis interpretiert wurden.
Das Unterscheidungsvermögen von Mengen reicht bei Elstern laut Otto Koehler bis zur oberen Grenze von Sieben.
Bestand und Gefährdung
Bestandsentwicklung
Die IUCN schätzt die in Deutschland lebenden Brutpaare auf 180.000 bis 500.000. Andere Quellen geben genauere Zahlen an, beispielsweise 210.000 bis 280.000 Paare. Vor 1850 wurden keine Daten erhoben. Von 1850 bis 1910 wurde ein Rückgang festgestellt, der auf die intensive und effektive Bejagung zurückgeführt wurde. Von 1920 bis 1950 nahm die Population wieder zu. Seit 1950 wird eine Abnahme der Populationen auf dem Land mit einer gleichzeitigen Zunahme in den Städten verzeichnet, welche mit der Intensivierung der Landwirtschaft begründet wird. Seit 1989 bleibt der Bestand insgesamt konstant, auch wenn weiterhin eine anhaltende Verstädterung festzustellen ist. Die Daten aus Revierkartierungen (RK) zeigen wegen der geringen Datendichte und lokal sehr verschiedenen Bestandsänderungen extrem breite Streubereiche bei insgesamt ungefähr gleich bleibendem Trend. Die Streuungen bei den Daten aus Punkt-Stopp-Zählungen (PS) sind dagegen gering. Nach 1994 ist der PS-Index in Siedlungen weiterhin positiv, in der freien Landschaft dagegen stark negativ.
Die IUCN schätzt die europäischen Brutpopulationen der Elster auf mehr als 7.500.000 Brutpaare, die weniger als die Hälfte der Gesamtpopulation ausmachen. Nachdem die Populationen in Frankreich und Russland von 1970 bis 1990 zugenommen hatten, nahmen sie von 1990 bis 2000 wieder ab. Trotzdem wird der derzeitige Rückgang durch die frühere Zunahme überwogen, so dass die Elster in Europa als sicher (Secure) geführt wird. Im gesamten etwa 32.100.000 km² großen Verbreitungsgebiet wird die Elster mit einer Population von ungefähr 30.000.000 bis 100.000.000 Individuen als nicht gefährdet (LC) eingestuft.
Bejagung als Schädling
Traditionell wird die Elster in Europa bejagt, da sie Schäden an Nutztieren oder Populationen von kleinen Singvögeln und Niederwild verursachen soll. Bei wissenschaftlichen Untersuchungen wurde bisher jedoch ein solcher Einfluss nicht festgestellt.
In Deutschland war sie bis 1976 ohne Einschränkung jagdbar, da sie in den älteren Jagdgesetzen unter Ausnahmen geführt wird. Das Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) vom 20. Dezember 1976 garantierte diesem Rabenvogel erstmals gesetzlichen Mindestschutz, jedoch blieb es weiterhin Praxis, selbst brütende Elstern aus den Nestern zu schießen (das sogenannte „Ausschießen von Nestern“). Am 2. April 1979 stellte der Europarat mit der Richtlinie 79/409/EWG („EG-Vogelschutzrichtlinie“) alle europäischen Wildvogelarten unter besonderen Schutz (Vollschutz). Dabei lässt Art. 9 Ausnahmen mit Nachweispflicht zu, wenn dies notwendig ist. Dies trifft laut Jagdverbänden unter anderem auf die Elster zu. Am 1. Januar 1987 wurde das BNatSchG zur Anpassung an die Vogelschutzrichtlinie novelliert, so dass es einen Mindestschutz für alle Tiere garantiert. Zudem wurde die Bundesartenschutzverordnung dahingehend geändert, dass die nicht im Gesetz genannte Elster nach Abs. 2 Bundesjagdgesetz in Beachtung der Einschränkungen aus Art. 7c unter das Landesjagdrecht gestellt wurde. Viele Bundesländer machen davon Gebrauch. Schließlich wurde die Vogelschutzrichtlinie am 8. Juni 1994 auf das Drängen vieler EG-Staaten hin dahingehend in Anhang II,2 geändert, dass bestimmte Arten in festgelegten Staaten bejagt werden dürfen, in Deutschland ist dort unter anderem die Elster aufgeführt. Laut Anhang II Teil B der aktuellen EU-Vogelschutzrichtlinie 2009/147/EG vom 30. November 2009 ist die Jagd auf Elstern nur noch in wenigen EU-Staaten verboten.
In Europa werden nach offiziellen Angaben jährlich 980.630 Elstern getötet.
Elster und Mensch
Etymologie und Benennung
In der Antike verwendeten sowohl Aristoteles als auch Plinius der Ältere und Claudius Aelianus für die Elster und den Eichelhäher dieselbe Bezeichnung. So nannten sie ersteren Vogel wegen des langen Schwanzes Pica varia longa cauda (insignis) und letzteren wegen seines bunten Gefieders Pica varia (insignis). Im Jahre 1758 gab Carl von Linné der Elster den lateinischen Namen Corvus pica.
Der Name Elster geht über das mittelhochdeutsche agelster, egelster auf das althochdeutsche agalstra zurück. Im Laufe der Zeit haben sich viele Varianten entwickelt: Agerist, Ägerste, Agelaster, Agelhetsch, Agerluster, Aglaster, Algarte, Alster, Schagaster, Schalaster, Schalester, Scholaster, Schulaster. Aus dem Niederdeutschen sind die Formen abgeleitet: Egester, Häster, Heste, Heister. Aus der ahd. Nebenform agaza stammt mundartliches Atzel, Hatz, Hatzel, Hätzel, Hatzen, Hetz, Hetze, Hutsche. Krückelelster (oder Krückelster) ist als Name für den Neuntöter überliefert. Aber auch die Namen „Gartenkrähe“ und „Diebsch“ waren in Gebrauch. Auf ihre Stimme bezogene Namen waren Gackerhätzel, Kekersch, Schäkerhex, Schetterhätze, Schetterhex, Schreddarex oder Tratschkatel.
Im Englischen wird sie magpie genannt. Dabei ist die Vorsilbe mag- als die Kurzform für Margaret zu verstehen, die als Spitzname für eine geschwätzige Person verwendet wird, und spielt sicher auf das Schäckern (eng. „mag-mag-mag“) des Vogels an. Der zweite Wortteil stammt von der lateinischen Bezeichnung pica ab und ist auch im französischen Namen der Elster, pie bavarde, zu finden.
Den Beinamen „diebisch“ tragen die Vögel wegen der Vorstellung, Elstern trügen gerne glänzende Gegenstände in ihre Nester ein. Rossini hat 1817 sogar eine Oper La gazza ladra („Die diebische Elster“) zur Aufführung gebracht. Besonders interessant sollen für sie rundliche, silbrig glänzende Gegenstände sein, die sie einzeln unter ein wenig Laub oder Gras versteckt. Einer unbestätigten Hypothese zufolge wird durch dieses Verhalten die Handlungsweise des Futtersammelns und -hortens aus Neugier und Spieltrieb erhalten oder trainiert. Eine Untersuchung zu dem Thema kommt jedoch zu dem Schluss, dass Elstern keine generelle Vorliebe für glänzende Objekte haben. Den Ruf, bestimmte Objekte auch zu stehlen, verdanken sie vermutlich dem Umstand, dass sie manchmal beim Verstecken von Nahrungsvorräten beobachtet werden können, oder der Tatsache, dass sie Nesträuber sind.
Mythologie und Kult
Im von der nordischen Mythologie geprägten Volksglauben galt die Elster als Bote der Todesgöttin Hel. Man assoziierte sie mit Unheil, Leid und Not. Im europäischen Mittelalter und zur Zeit der Hexenverfolgung galt sie – wie Krähen, Raben und schwarze Katzen auch – als Hexentier oder gar als Hexe selbst. Sie war zeitweise auch als Seelenräuberin in Verbindung mit dem Satan bekannt. Zudem wurde sie als „Galgenvogel“ mit dem Tod in persona assoziiert. Seit dieser Zeit trägt sie in Europa den Ruf, „diebisch“ zu sein. In der griechischen Mythologie war sie ein Vogel des Gottes Dionysos. Auch Ovid berichtet in seinen Metamorphosen von Elstern: Sie sind die neun Töchter des Pierus (die sogenannten Pieriden), die sich auf einen musikalischen Wettstreit gegen die Musen höchstpersönlich einließen. Nach ihrer Niederlage wurden sie von ihnen in Elstern verwandelt. In Iranischen Erzählungen war die Elster der Feind der Heuschrecke, die sie zerstört hatte.
Im Allgemeinen gilt die Elster in Westeuropa und auf den Britischen Inseln als ein Vogel übler Omen. Dort gilt es als Unglück, diesen „Pechvogel“ zu sehen, besonders wenn er alleine auftritt. So bringt ein bekannter Abzählreim in bestimmter Anzahl auftretende Elstern mit verschiedenen Vorzeichen in Verbindung:
One for sorrow,
Two for joy,
Three for a girl,
Four for a boy.
Five for silver,
Six for gold,
Seven for a secret never to be told.
Eight for a wish,
Nine for a kiss,
Ten for a bird,
You must not miss.
Auf den Britischen Inseln gibt es noch immer Beweise für Animalismus und Tierverehrung in Bezug auf die Elster. Sie gilt auch als orakelhafter Vogel. So stellt in Irland eine ans Fenster klopfende Elster eine Todeswarnung dar. Das Töten dieses Vogels brachte auch im Nordosten Schottlands Unglück. In Teilen von Nordengland gilt es als schlechtes Omen, wenn eine Elster den Pfad vor einem von links nach rechts überquert, jedoch als gutes Omen, wenn sie ihn von rechts nach links kreuzt. Im Nordosten Schottlands gilt das Sehen dieses Vogels in einigen Dörfern als Glückszeichen, in anderen als Unglückszeichen. Der Glaube, dass die Elster die Macht habe, sich in einen Menschen zu verwandeln, wurde in Clunie und Perthshire bis zum Ende des 18. Jahrhunderts überliefert. Nach der Christianisierung entstand in England eine Erzählung, nach der die Elster als verflucht gilt, weil sie als einziger Vogel bei Jesu Kreuzigung keine Klagelieder und Trauergesänge angestimmt habe. In der schottischen Überlieferung verdächtigte man sie lange Zeit, einen Tropfen von Satans Blut unter der Zunge zu tragen.
In Frankreich und Deutschland glaubten die Menschen auch, dass es Unglück brächte, eine Elster zu töten. Man sagte ihnen nach, dass sie ihre menschlichen Nachbarn vor der Anwesenheit von Füchsen, Wölfen und bewaffneten Menschen warnten. In Poitou wurden ihr zu Ehren kleine Gestecke von Heiden- und Lorbeerzweigen in die Büsche gesteckt. In Bengalen und anderen Teilen Indiens werden auch keine Elstern getötet.
In der chinesischen Kultur (鹊 què) und Japan gilt die Elster als Glücksbotin, die insbesondere ein freudiges Ereignis, meist eine Geburt oder einen Besuch, ankündigt. Der Ursprung dieses Glaubens ist wahrscheinlich in den Legenden der Mandschurei zu finden. Dort wird erzählt, wie die Elster als heiliges Tier Fanscha, einen der Vorfahren der Mandschuren, vor den bedrohlichen Nachbarstämmen gerettet hat. Als die Nordchinesen zusammen mit den Mandschuren das Kaiserreich China eroberten, verbreitete sich der Glaube in ganz China. Zur Zeit der Qing-Dynastie (1644–1911) stellten die Mandschuren die Kaiser, so dass ihre Kultur teilweise mit der Han-Kultur verschmelzen konnte, so dass die Elster in der heutigen Form verehrt wird. Einer anderen Erklärung zufolge gelten Elstern deshalb als Freudenbringer, weil sie im Mythos Die Weberin und der Kuhhirt am siebten Tag des siebten Mondmonats eine Brücke über die Milchstraße bilden und so den getrennten Liebenden ein Zusammenkommen ermöglichen (Qixi-Fest). In Korea wird die Elster als Nationaltier und als Glücksbringer verehrt. In Erzählungen repräsentiert sie die Schwachen und Wehrlosen. Tritt sie metaphorisch als Gegenstück zum Tiger (Erde, Naturgewalten) auf, so steht sie für den Himmel und die göttliche Gewalt.
Bei den nordamerikanischen Indianern ist die Elster ein Geistwesen, das mit den Menschen befreundet ist. Dies zeigt sich in der „Buffalo-Race“-Geschichte der Sioux, in der die Elster für die Menschen ein Wettrennen gegen die Büffel gewinnt, so dass sie diese fortan jagen dürfen. Auch bei den Blackfoot tritt die Elster als Verbündeter des Menschen in Konflikt mit den Büffeln auf. In der Legende vom Büffeltanz ermöglicht sie, dass eine Frau aus dem Ehegelübde mit einem Büffel befreit wird, ihr Vater ins Leben zurückgeholt werden kann und dass über einen Tanz und ein Lied die Harmonie wiederhergestellt wird. Auch bei den Hopi und den südwestlichen Stämmen ist sie ein Totemtier. Die Pueblo-Indianer verehrten diesen Vogel ebenfalls in ihren Mythen.
Heraldik
Die Elster ist eine gemeine Figur in der Heraldik und ein Wappentier mit einigen Merkmalen, die im Wappen recht sicher dargestellt werden können. So wird der Schwanz recht lang und in der Regel aufstellt gezeigt. Die Seitenpartie des Vogels ist farblich in weiß vom übrigen schwarzen Körper abgesetzt, wie es der Realität entspricht. Die Hauptblickrichtung ist nach heraldisch rechts. In Deutschland wird die Elster für einige Wappen zur redenden Wappenfigur. Beispiele sind Elsterwerda, Bad Elster, Elsterberg, Elstra, Algermissen und Aglasterhausen.
Kunst und Literatur
Ein künstlerisches Denkmal in der Musik setzte ihr 1817 Rossini mit der Oper La gazza ladra (Die diebische Elster). In der bildenden Kunst beschäftigte sich Claude Monet in La Pie damit und in Pieter Brueghels Die Elster auf dem Galgen sitzen zwei dieser Vögel auf einer Hinrichtungsstätte. Goya zeigt auf einem Porträt den Sohn des Grafen von Altamira, wie dieser eine zahme Elster an einem Band führt.
Äsop erzählt in einer Fabel davon, wie die Elster der Taube, die schon alles zu wissen glaubt, zeigt, wie man ein Nest baut. In der Einleitung von Wolfram von Eschenbachs Parzival (1200–1210), einem mittelhochdeutschen Text, erscheint das Elsterngleichnis, in dem die Farbe der Elster (agelstern varwe) als Sinnbild für den Widerstreit zwischen dem Guten und dem Bösen im Menschen, aber auch für die Vieldeutigkeit des vorliegenden Romans steht.
Ist zwîvel herzen nâchgebûr,
daz muoz der sêle werden sûr.
gesmæhet unde gezieret
ist, swâ sich parrieret
unverzaget mannes muot,
als agelstern varwe tuot.
der mac dennoch wesen geil:
wand an im sint beidiu teil,
des himels und der helle.
der unstæte geselle
hât die swarzen varwe gar,
und wirt och nâch der vinster var:
sô habet sich an die blanken
der mit stæten gedanken.
diz vliegende bîspel
ist tumben liuten gar ze snel,
sine mugens niht erdenken:
wand ez kan vor in wenken
rehte alsam ein schellec hase. (Wenn Zweifel nah beim Herzen wohnt, das muss der Seele bitter aufstoßen. Wo sich ein klarer Charakter wie die Farbe der Elster mischt, dort ist Lob und Schande zugleich. Derjenige kann dennoch zuversichtlich sein: weil er an beidem Anteil hat, am Himmel und an der Hölle. Der Unbeständige ist gänzlich schwarz und wird auch in die Finsternis reisen. Der Beständige hält sich an das Weiße. Dieses fliegende Beispiel ist zu flink für dumme Menschen, sie können es nicht erfassen: weil es vor ihnen genau wie ein aufgescheuchter Hase Haken schlagen kann. Übers. Anonymus Nr.: 217.184.25.67)
In der Rübezahl-Sage (Wie Rübezahl zu seinem Namen kam.) verwandelt die Königstochter Emma eine Rübe in eine Elster, die als Botin ihren Geliebten Ratibor benachrichtigt. Sebastian Brant bezieht sich im Narrenschiff auf die Geschichte von den in Elstern verwandelten Piereiden aus Ovids Metamorphosen als er „Von bösen Weibern“ erzählt. Die Elster steht hier für die schlechte Rede, die vergiftete Zunge. Auf Grundlage von Äsops Fabel über den Fuchs und die Elster hat Christian Fürchtegott Gellert ein Gedicht verfasst, in dem sie als Sinnbild für den Menschen steht, der sich am liebsten selbst reden hört und meint, alles besser zu wissen und zu können, aber eigentlich keine Ahnung hat. In der Fabel Die Elster. Der Uhu lässt Johann Wilhelm Ludwig Gleim sie sich beim Uhu über die Faulheit von Lerche und Nachtigall beschweren, obwohl sie selbst besser den Mund hielte. In Heinrich Seidels Der Hexenmeister bringt ebendieser Wendelin und die Elster Schackerack in seine Gewalt, die sich durch gegenseitige Hilfe befreien. Auch Christian Morgenstern beschäftigt sich in dem Gedicht Die Elster mit dem Bach und dem Vogel. Einen Auftritt in der Popmusik hat die Elster in Patrick Wolfs Song Magpie (2007), und in der Handlung des Konzeptalbums Misplaced Childhood (1985) der britischen Band Marillion tritt sie als Symbolfigur auf.
Trivia
Die deutsche Finanzverwaltung hat die Online-Steuer-Software Elektronische Steuererklärung mit dem Namen dieses Vogels als ELSTER abgekürzt. Das dazugehörige Programm ElsterFormular trägt den Dateinamen pica entsprechend dem wissenschaftlichen Gattungsnamen der Echten Elstern.
Literatur
Udo Bährmann: Die Elster (Pica pica). Neue Brehm-Bücherei. Bd. 393. Westarp Wissenschaften/Spektrum Akademischer Verlag, Magdeburg 1995, ISBN 3-89432-208-X.
T. R. Birkhead: The Magpies. The Ecology and Behaviour of Black-Billed and Yellow-Billed Magpies. T & AD Poyser, London 2002, ISBN 0-85661-067-4.
Gisela Deckert: Siedlungsdichte und Nahrungssuche bei Elster Pica p. pica und Nebelkrähe Corvus c. cornix (L.). In: Beiträge zur Vogelkunde. Jena 26.1980, 305–334, .
H. Ellenberg, F. Gast, J. Dietrich: Elster, Krähe und Habicht – ein Beziehungsgefüge aus Territorialität, Konkurrenz und Prädation. in: Verhandlungen der Gesellschaft für Ökologie. Göttingen 12.1984, 319–329, .
Wolfgang Epple: Rabenvögel. Göttervögel-Galgenvögel. Ein Plädoyer im Rabenvogel-Streit. G. Braun Verlag, Karlsruhe 1997, ISBN 3-7650-8135-3.
Urs N. Glutz von Blotzheim: Handbuch der Vögel Mitteleuropas. 13/3: Passeriformes. 3. Teil: Corvidae und Sturnidae. Aula, Wiesbaden 1993, ISBN 3-89104-542-5.
F. A. Kipp: Zeremonielle Frühlingsversammlungen bei Eichelhäher, Elster, Tannenhäher und Rabenkrähe. In: Die Vogelwelt. Wiebelsheim 99.1978, 185–190, .
Gerhard Kooiker, Claudia Verena Buckow: Die Elster. Ein Rabenvogel im Visier. Aula Verlag, Wiesbaden 1999, ISBN 3-89104-633-2.
Sang-im Lee u. a.: Phylogeny of magpies (genus Pica) inferred from mtDNA data. In: Molecular phylogenetics and evolution. San Diego Cal Bd. 29.2003, 250–257, .
Problematik der Regulierung
J. Bellebaum, K. Nottmeyer-Linden: Gibt es Überpopulationen von Elster, Rabenkrähe und Eichelhäher in Nordrhein-Westfalen? in: LÖBF-Mitteilungen. Recklinghausen 1998, Heft 1, 29–34, .
R. Dreifke: Ursachen für Verteilung und Häufigkeit von Elstern (Pica pica). Eine Untersuchung auf zwei Probeflächen in Schleswig-Holstein. Dipl. Arb. Univ. Göttingen, Göttingen 1990.
Wolfgang Epple: Zum Schutz der Rabenvögel. Informationsdienst Naturschutz Niedersachsen. Hannover 1997, Heft 5, .
G. Erlinger: Die Bestandsentwicklung von Rabenkrähe Corvus corone und Elster Pica pica nach Einstellung der Jagd im NSG Hagenauer Bucht am unteren Inn. in: Anzeiger der Ornithologischen Gesellschaft in Bayern. München 13.1974 2, 245–247, .
H.-W. Helb: Wissenschaftliche Begleituntersuchungen an Elster (Pica pica) und Rabenkrähe (Corvus c. corone) in Rheinland-Pfalz. in: Pollichia-Kurier. Bad Dürkheim 15.1999,1, 6–10, .
W. Knief, P. Borkenhagen: Ist eine Bestandsregulierung von Rabenkrähen und Elstern erforderlich? Ein Untersuchungsbeispiel aus Schleswig-Holstein. in: Natur und Landschaft. Kohlhammer, Stuttgart 68.1993, 102–107, .
Gerhard Kooiker: Untersuchungen zum Einfluss der Elster Pica pica auf ausgewählte Stadtvogelarten in Osnabrück. In: Die Vogelwelt. Wiebelsheim 112.1991, 225–236, .
Gerhard Kooiker: Weitere Ergebnisse zum Einfluss der Elster Pica pica auf Stadtvogelarten in Osnabrück. In: Die Vogelwelt. Wiebelsheim 115.1994, 39–44, .
T. Langgemach, E. Discherlein: Zum aktuellen Stand der Bejagung der Aaskrähe (Corvus corone), Elster (Pica pica) und Eichelhäher (Garrulus glandarius) in Deutschland. In: Berichte zum Vogelschutz. Münster 41.2004, 17–44, .
U. Mäck: Populationsbiologie und Raumnutzung der Elster in einem urbanen Raum. In: Ökologie der Vögel. Stuttgart 20.1998, Heft 1, .
U. Mäck, U., M.-E. Jürgens, P. Boye, H. Haupt: Aaskrähe (Corvus corone), Elster (Pica pica) und Eichelhäher (Garrulus glandarius) in Deutschland. Betrachtungen zu ihrer Rolle im Naturhaushalt sowie zur Notwendigkeit eines Bestandsmanagements. In: Natur und Landschaft. Kohlhammer, Stuttgart 74.1999, 485–493, .
U. Mäck, M.-E. Jürgens: Aaskrähe, Elster und Eichelhäher in Deutschland. Bericht über den Kenntnisstand und die Diskussionen zur Rolle von Aaskrähe (Corvus corone), Elster (Pica pica) und Eichelhäher (Garrulus glandarius) im Naturhaushalt sowie die Notwendigkeit eines Bestandsmanagements. BfN-Schriftenreihe. Bundesamt für Naturschutz, Münster 1999, ISBN 3-7843-3804-6.
R. Mulsow, W. Schroeter: Zur Biologie der Elster (Pica pica L.) im Hamburger Raum. Stellungnahme zur Frage Soll die Elster bejagt werden oder nicht? In: Hamb. avifaun. Beitr. 20.1985, 97–106.
K. Witt: Haben Elstern (Pica pica) einen Einfluß auf die Kleinvogelwelt einer Großstadt? In: Die Vogelwelt. Wiebelsheim 110.1989,142–150, .
M. Würfels: Siedlungsdichte und Beziehungsgefüge von Elster, Rabenkrähe und Habicht 1992 im Stadtgebiet von Köln. In: Charadrius. Bonn 30.1994, 94–103, .
Weblinks
Die Elster bei NABU mit Klangbeispiel
Die Elster bei der Schweizerischen Vogelwarte
Steckbrief zur Elster bei BTO BirdFacts
Javier Blasco-Zumeta, Gerd-Michael Heinze: Geschlechts- und Altersbestimmung (PDF-Datei, englisch)
Federn der Elster
Einzelnachweise
Rabenvögel |
47017 | https://de.wikipedia.org/wiki/Internationale%20Organisation%20%28V%C3%B6lkerrecht%29 | Internationale Organisation (Völkerrecht) | Eine Internationale Organisation oder zwischenstaatliche Organisation (englisch intergovernmental organization, IGO) im völkerrechtlichen Sinne ist ein Zusammenschluss von mindestens zwei Staaten oder anderen Völkerrechtssubjekten, der auf Dauer angelegt ist, sich in der Regel über nationale Grenzen hinweg betätigt und überstaatliche Aufgaben erfüllt. Wesentliches Merkmal einer solchen Organisation ist, dass sie mindestens ein Organ hat, durch das sie handelt. Im Jahr 2006 waren weltweit etwa 38.000 Organisationen tätig, jährlich kommen ca. 1.200 neue hinzu. Prominente Beispiele sind die Vereinten Nationen und die Europäische Union.
Von den internationalen bzw. zwischenstaatlichen Organisationen im Sinne des Völkerrechts sind die internationalen Nichtregierungsorganisationen (INGO) abzugrenzen, die in den Sozialwissenschaften ebenfalls als Internationale Organisationen bezeichnet werden. Im Unterschied zu den IGOs besteht hier nur ein Zusammenschluss nationaler Vereine, nicht von Staaten.
Geschichte
Das Konzept der Internationalen Organisationen in ihrer heutigen Gestalt hat sich insbesondere nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entwickelt. Mit dem rasanten zivilisatorischen Fortschritt in den Folgejahren stieg das zwingende Bedürfnis der Staaten zu einer immer engeren und komplexeren Zusammenarbeit auf nahezu allen Gebieten menschlichen Wirkens. Internationale Organisationen übernehmen hierbei fundamentale und vielfältige Aufgaben.
Die Anfänge dieser Zusammenarbeit reichen bis auf den Wiener Kongress von 1815 zurück. Die restaurativen Bestrebungen der teilnehmenden Staaten fanden ihren Ausdruck auch und insbesondere in der Erkenntnis, gemeinsame Interessen nur durch gemeinsames Handeln effizient durchsetzen zu können. Eines der bedeutendsten Ergebnisse des Kongresses in dieser Hinsicht war die Gründung der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt, die – wenn auch mit mehrfacher Änderung ihrer Rechtsgrundlage – bis heute arbeitet. Sie ist damit nicht nur die erste, sondern auch die älteste Internationale Organisation der Geschichte.
Eine erste Blütezeit erfuhren Internationale Organisationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Gründung zahlreicher Verwaltungsunionen. Zu den bedeutendsten dieser sog. Internationalen Ämter zählen die Internationale Fernmeldeunion von 1865 und der Weltpostverein von 1874. Auch diese beiden Organisationen existieren bis heute weitgehend unverändert fort.
Bis zum Ersten Weltkrieg beschränkten sich die Internationalen Organisationen in der Regel auf eine Überwachung der vertraglichen Verpflichtungen ihrer Mitgliedstaaten sowie eine Koordination der Zusammenarbeit der jeweiligen nationalen Verwaltungen. Mit dem 1919 gegründeten Völkerbund gingen die Staaten einen entscheidenden Schritt weiter, indem sie eine Organisation schufen, die über Zuständigkeiten verfügte, die weit umfassender waren als bei jeder anderen damaligen Einrichtung. Diese beschränkten sich nicht auf schlichte Verwaltungsaufgaben der Staaten, sondern beinhalteten insbesondere Mechanismen zur Friedenssicherung und Konfliktlösung. Auch wenn diese Mechanismen nach heutigen Maßstäben vergleichsweise schwach ausgeprägt waren und auch schon damals Organisationen existierten, die sich mit Einzelaspekten der Friedenssicherung beschäftigten – wie zum Beispiel der Ständige Schiedshof (PCA) von 1899 –, so war die Kumulation der Zuständigkeiten in einer einzigen Organisation ein Novum.
Die 1945 gegründeten Vereinten Nationen (UN) setzten den Gedanken des Völkerbunds fort. Ihre Gründungsstaaten vertraten den Anspruch, den Schwächen des Völkerbunds in Struktur und Befugnissen – die nach vielfach geäußerter Sicht nicht geeignet waren, den Zweiten Weltkrieg zu verhindern – Rechnung getragen zu haben. Ob diese Einschätzung zutrifft, wird sich wohl kaum jemals abschließend beurteilen lassen. Heute stellen die Vereinten Nationen den Prototyp einer jeden Internationalen Organisation dar.
Gründung
Internationale Organisationen werden durch mindestens zwei Völkerrechtssubjekte ins Leben gerufen. Diese sind überwiegend Staaten, können aber auch z. B. andere Organisationen sein.
Regelmäßig beruhen sie auf völkerrechtlichen Verträgen. Diese Gründungsverträge – häufig als Charta oder Satzung bezeichnet – werden in der überwiegenden Zahl der Fälle auf Staatenkonferenzen erarbeitet, an denen eigens hierfür berufene Staatenvertreter teilnehmen. Sie legen insbesondere Namen und Sitz der Organisationen, ihre Aufgaben, die ihr zu ihrer Aufgabenerfüllung zustehenden Kompetenzen, ihre inneren Organstrukturen, die Arbeitsweise, die Finanzierung, die Vorrechte und Immunitäten ihrer Mitarbeiter, das Inkrafttreten der Gründungsverträge sowie die Möglichkeiten des Austritts der Mitglieder, der Änderung der Verträge und der Auflösung der Organisationen fest.
Neben dem Vertragsschluss existieren noch andere Formen der Gründung einer Internationalen Organisation. So können sie sich auch aus einer Staatenpraxis heraus entwickeln. Als Beispiel ist hier insbesondere die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu nennen. Und auch die Europäische Union (EU) wurde bereits vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon von einem Teil des Schrifttums als Internationale Organisation anerkannt.
Als eine weitere Variante der Gründungsmöglichkeiten ist Interpol zu nennen. Diese Organisation wurde 1956 durch eine Änderung der Statuten ihrer Vorgängerorganisation – der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission – gegründet. Beschließende Mitglieder waren hierbei die Polizeidienststellen ihrer Heimatstaaten. Schließlich ist noch auf den Nordischen Rat hinzuweisen, der 1952 durch Beschlüsse der Parlamente seiner Mitgliedstaaten entstanden ist.
Gemeinsames Moment aller Gründungsakte ist eine übereinstimmende Willensäußerung von Völkerrechtssubjekten, also insbesondere von Staaten. Welches staatliche Organ diesen Willen nach außen betätigt, ist unerheblich, solange sich der Wille auf ein völkerrechtlich vertretungsbefugtes Organ zurückführen lässt. Sowohl spezielle Staatenvertreter als auch Parlamente und Polizeidienststellen sind insoweit geeignet, als entsprechend bevollmächtigte Organe aufzutreten.
Da an der Entstehung der Internationalen Organisationen immer auch Völkerrechtssubjekte beteiligt sind, handelt es sich bei dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) um keine solche Organisation. Das IKRK wurde von Privatpersonen als Verein nach Schweizer Recht gegründet. Es gilt allerdings als ein nichtstaatliches Völkerrechtssubjekt; insoweit ist es den meisten Internationalen Organisationen zumindest ähnlich, wenngleich sein diesbezüglicher Status ganz ausnahmsweise originärer und nicht gekorener Natur ist. Ähnlich verhält es sich mit dem Malteserorden, der ebenfalls als Völkerrechtssubjekt gilt, ohne von Völkerrechtssubjekten gegründet worden zu sein; sein diesbezüglicher Status ist allein historisch bedingt.
Aufgaben, Wirkungskreis und Befugnisse
In der Völkerrechtswissenschaft haben sich drei Klassifizierungen der Internationalen Organisationen durchgesetzt: nach Aufgaben, nach Wirkungskreis und nach ihren Befugnissen.
Klassifizierung nach Aufgaben
Eine generelle Zuständigkeit ist eher selten. Die Vereinten Nationen sind derzeit die wohl einzige derartige Organisation, wenngleich z. B. die Europäische Union (EU) und der Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) ebenfalls über umfassende Zuständigkeiten verfügen.
Sicherheitspolitische Organisationen widmen sich der Verhinderung von Krieg und damit der Gewährleistung der Grundvoraussetzung für Frieden. Sie verfolgen hierbei eine umfassende und langfristige Strategie. Daneben übernehmen sie aber in erheblichem Maße weitergehende Funktionen wie die Bekämpfung der Armut, Förderung der Menschenrechte, langfristige Stabilisierung von Regionen nach Konflikten und Neu- bzw. Wiederaufbau lokaler Verwaltungsstrukturen. Die Vereinten Nationen, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und die Afrikanische Union (AU) sind solche Friedensorganisationen. Ebenfalls hier zu nennen sind solche Organisationen, die sich der Abrüstung verschrieben haben, so z. B. die Vorbereitungskommission für die Organisation des Vertrags über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen (CTBTO Preparatory Commission) und die Organisation für das Verbot chemischer Waffen.
Verteidigungsbündnisse wie die Organisation des Nordatlantikvertrags und die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit garantieren ihren Mitgliedern militärische Sicherheit, z. B. durch gegenseitige Beistandsverpflichtungen oder spezielle Mechanismen zur Konfliktlösung.
Organisationen mit wirtschaftspolitischen Aufgaben stellen die größte Zahl der Internationalen Organisationen. Die wohl bedeutendste von ihnen ist die Welthandelsorganisation. Auf allen Kontinenten haben die Staaten überdies regionale Wirtschaftsorganisationen geschaffen, in Europa z. B. die EU, in Südamerika den Mercosur und in Afrika die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS). Hierzu zählen auch die Organisationen der Weltbankgruppe und die regionalen Finanzinstitutionen sowie die internationalen Rohstoffkartelle.
Organisationen mit sozialen, wissenschaftlichen und kulturellen Aufgaben sind z. B. die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur, die European Organisation for the Safety of Air Navigation (EUROCONTROL), das Europäische Laboratorium für Molekularbiologie, die Europäische Organisation für Kernforschung und die Internationale ITER-Fusionsenergieorganisation für die gemeinsame Durchführung des ITER-Projekts.
Zunehmende Bedeutung erlangen solche Organisationen, die allein mit rechtsprechenden Aufgaben betraut sind. Dies sind insbesondere der Internationale Seegerichtshof (ISGH) und der Internationale Strafgerichtshof. Der Internationale Gerichtshof ist keine solche Organisation, da er ein Hauptorgan und damit einen integralen Bestandteil der Vereinten Nationen darstellt; die beiden Tribunale für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und für Ruanda (ICTR) sind Nebenorgane des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen.
Klassifizierung nach Wirkungskreis
Organisationen mit einem räumlich nicht begrenzten Wirkungsbereich agieren potentiell weltweit. Solche universellen Organisationen stehen allen Staaten offen. Dies sind insbesondere die Vereinten Nationen und alle ihre Sonderorganisationen.
In der Regel sind die Mitgliedschaften der Organisationen jedoch regional begrenzt. So sind sie wie im Falle der Afrikanischen Union und der Organisation Amerikanischer Staaten häufig auf Kontinente zugeschnitten, beschränken sich aber auch auf kleinere Gebiete, wie z. B. die Europäische Freihandelsassoziation. Es sind auch Organisationen denkbar, die allein innerhalb nationaler Grenzen tätig sind, z. B. als Verwaltungsorganisationen für ein von einer Grenze umschlossenes Territorium, einen Flusslauf bzw. Kanal oder ein Hafenbecken. Die zahlreichen regionalen Fischereiorganisationen agieren überwiegend auch außerhalb der nationalen Hoheitsgebiete.
Klassifizierung nach Befugnissen
Weiterhin lassen sich die Internationalen Organisationen nach der Art der ihnen gegenüber ihren Mitgliedstaaten zustehenden Befugnisse unterscheiden:
Der weitaus größte Teil der Organisationen übt eine allein koordinierende Funktion zwischen den Mitgliedern aus. Solche Organisationen sind damit letztlich nur eine institutionalisierte Form der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit, die auch im Konferenzwege bewältigt werden könnte.
Manche Organisationen sind berechtigt, ihre Mitglieder ihnen gegenüber und untereinander zu verpflichten, so z. B. die Vereinten Nationen aufgrund der Pflicht ihrer Mitgliedstaaten, die Resolutionen des Sicherheitsrats umzusetzen.
Einige wenige Organisationen sind jedoch auch imstande, unmittelbar in ihren Mitgliedstaaten geltendes Recht zu erzeugen. Solche subordinierenden Organisationen werden auch als supranationale Organisationen bezeichnet. Prominentestes Beispiel ist hier die Europäische Union, aber auch andere Organisationen wie die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft, der Europäische Wirtschaftsraum und die Andengemeinschaft sind – wenn auch in weit geringerem Umfang – zu solchen Maßnahmen befugt.
Darüber hinaus impliziert der Begriff der Internationalen Nichtregierungsorganisation eine Unterscheidung zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Internationalen Organisationen.
Organisationsstruktur
So verschiedenartig die Aufgabenbereiche der Internationalen Organisationen auch sein mögen, verfügen sie doch über einen weitestgehend vergleichbaren strukturellen Aufbau. Strukturbildend ist hierbei die Gliederung in Organe. Zwar ist rechtlich ein einzelnes Organ ausreichend, aber regelmäßig sind mindestens zwei Organe vorgesehen: eine Versammlung, in der die Mitglieder der Organisation vertreten sind, sowie ein Sekretariat zur Erledigung der administrativen Tätigkeiten.
Die Versammlung fungiert als Hauptbeschlussorgan und legt die Maßnahmen zur Umsetzung der Organisationsziele fest; das Sekretariat führt diese Maßnahmen dann aus. Dem Sekretariat steht in der Regel ein Direktor oder Generalsekretär vor, der intern die oberste Weisungsbefugnis innehat und die Organisation nach außen vertritt. Um die Versammlung zu entlasten und eine Spezialisierung zu ermöglichen, werden bestimmte Themenbereiche häufig von Spezialorganen behandelt. Entweder werden diese bereits durch die Gründungsverträge errichtet oder von den Hauptorganen der Organisation später als Nebenorgane einem bestimmten Organisationsbereich zugewiesen. Viele Internationale Organisationen verfügen darüber hinaus über ein rechtsprechendes Organ, das in Dienstrechtsangelegenheiten oder bei Streitigkeiten zwischen Mitgliedern oder Organen über Auslegung oder Anwendung des Gründungsvertrags entscheidet.
Eine in struktureller Hinsicht besondere Internationale Organisation ist die Nordatlantikpakt-Organisation. Der Nordatlantikvertrag sieht in seinem Artikel 9 die Errichtung eines Nordatlantikrats vor, sodass insofern eine Organisation mit dem Namen NATO gar nicht existiert. Doch schon von Beginn der Arbeit des Rats an wurde großzügig von einer Organisation mit dem Rat an der Spitze gesprochen. Im Laufe der Jahre gründete der Rat eine Vielzahl von Unterorganen, und es wurde ihm ein Sekretariat beigeordnet, was zur heutigen organisatorischen Erscheinung der NATO führte.
Rechtsstellung
Rechtsfähigkeit
Internationale Organisationen sind körperschaftliche Gebilde und als solche von ihren Gründungssubjekten verschieden und ihnen gegenüber rechtlich verselbständigt. Sie sind Träger von eigenen Rechten und Pflichten und damit Rechtssubjekte. Einfache Kooperationen zwischen den Staaten – wie etwa in Form der G7 oder der G 77 – erfüllen diese Voraussetzung nicht, wenngleich sie häufig ebenfalls als Internationale Organisationen bezeichnet werden, da auch sie über einen institutionellen Rahmen verfügen können.
Die Rechtssubjektivität der Internationalen Organisationen haftet ihnen weder im nationalen Recht noch im Völkerrecht von sich aus an. Voraussetzung ist eine Verleihung der Rechtssubjektivität durch die Mitglieder. Diese Verleihung erfolgt entweder explizit durch Statusklauseln im Gründungsvertrag oder implizit durch die Anerkennung entsprechender Implied Powers, die in den Vertrag hineingelesen werden.
Die überwiegende Zahl der Gründungsverträge verpflichtet die Mitgliedstaaten, der jeweiligen Organisation die nationale Rechtspersönlichkeit zuzuerkennen, die für ihre Aufgabenwahrnehmung erforderlich ist. Z. B. lautet Artikel 104 der Charta der Vereinten Nationen: „Die Organisation genießt im Hoheitsgebiet jedes Mitglieds die Rechts- und Geschäftsfähigkeit, die zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben und zur Verwirklichung ihrer Ziele erforderlich ist“. Aufgrund der Beschränkung der Rechtspersönlichkeit auf die Funktionen der Organisationen spricht man hier von einer funktionellen Rechtspersönlichkeit. Vereinzelt wird Internationalen Organisationen auch eine unbeschränkte absolute Rechtspersönlichkeit verliehen. In ihren Mitgliedstaaten werden die Organisationen regelmäßig als Körperschaften des öffentlichen Rechts oder einem vergleichbaren Status entsprechend behandelt.
Von der nationalen Rechtspersönlichkeit der Organisationen verschieden ist ihre Rechtsfähigkeit auf internationaler Ebene, also die Völkerrechtssubjektivität. Ob es sich hierbei um ein konstitutives Element der Internationalen Organisationen handelt, ob es also völkerrechtliche Internationale Organisationen ohne Völkerrechtssubjektivität geben kann, ist umstritten. Die jeweiligen Gründungsverträge verleihen den Organisationen bisweilen explizit – wie z. B. im Falle der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit – die Völkerrechtspersönlichkeit, treffen ganz überwiegend jedoch gar keine Aussage hierzu. Hieraus e contrario den Schluss zu ziehen, eine solche Rechtspersönlichkeit käme der Organisation nicht zu, ist indes unzulässig; vielmehr bedarf es einer entsprechenden Würdigung der Gesamtheit der Organisationsaufgaben. Die UN-Charta beispielsweise enthält keine Aussage über die Völkerrechtsfähigkeit der Vereinten Nationen, und dennoch hat der Internationale Gerichtshof diese in seinem Reparation-Gutachten vom 11. April 1949 als notwendige Voraussetzung für eine effektive Aufgabenwahrnehmung der UNO angesehen. Überwiegend kommt Internationalen Organisationen Völkerrechtssubjektivität zu. Bisweilen wird sie aber auch verneint. So sollte z. B. bei der früheren Benelux-Wirtschaftsunion die nationale Rechtsfähigkeit zur Verwirklichung der Organisationsziele ausreichen.
Anerkennung durch Nichtmitglieder
Die nationale und internationale Rechtspersönlichkeit wirkt zunächst nur in den und gegen die Mitgliedstaaten. Für Nichtmitglieder stellen Statusklauseln und Implied Powers ihnen gegenüber nicht wirksame und damit gegenstandslose Vereinbarungen Dritter (res inter alios acta) dar. Insofern kann kein Nichtmitglied verpflichtet werden, z. B. die Übertragung von Handelskompetenzen auf eine Organisation anzuerkennen und sich in Handelsfragen fortan nicht mehr an die Mitgliedstaaten zu wenden oder z. B. einer Organisation den Erwerb von Grund und Boden im eigenen Land zu gestatten.
Die Rechtspersönlichkeit der Internationalen Organisationen wird gegenüber Nichtmitgliedern erst dann wirksam, wenn diese die Organisationen rechtlich anerkennen. Hierbei ist erneut zwischen nationaler und internationaler Rechtspersönlichkeit der Organisationen zu unterscheiden. Die völkerrechtliche Anerkennung hat – anders als die Anerkennung der Staaten – konstitutive Wirkung. Insbesondere für Staaten, die sich einer Organisation gegenüber neutral verhalten, bietet sich durch die Anerkennung die Möglichkeit, in gewisse Beziehungen zu der Organisation zu treten, ohne sich jedoch an ihre internen Regeln binden zu müssen. Die Anerkennung als Rechtssubjekt einer fremden nationalen Rechtsordnung erfolgt in der Regel gemäß den jeweiligen nationalen Vorschriften über das Internationale Privatrecht. Der Akt der Anerkennung kann ausdrücklich (z. B. durch entsprechende Note) oder konkludent (z. B. durch Vertragsschluss) erfolgen.
Nach einer wohl im Vordringen befindlichen Meinung kommt nicht nur den Vereinten Nationen, sondern auch zahlreichen anderen – wenn nicht sogar allen – Internationalen Organisationen eine objektive Rechtspersönlichkeit zu, ohne dass es einer gesonderten Anerkennung durch Nichtmitglieder bedarf.
Besondere Vorrechte
Internationale Organisationen genießen in der Regel eine Vielzahl von Vorrechten und Immunitäten in ihren Mitgliedstaaten, insbesondere Befreiung von Steuern und Abgaben, Befreiung von der Gerichtsbarkeit und Befreiung von jeder Form der Vollstreckung in ihr Vermögen. Dies betrifft sowohl die Organisation selbst als auch ihre Bediensteten und meist auch ihre Sachverständigen. Vorrechte und Immunitäten werden regelmäßig in den Gründungsverträgen der Organisationen nur kurz erwähnt und dann in separaten Abkommen ausführlich geregelt. Mitunter fehlt aber auch jeglicher Hinweis auf diese Sonderrechte. Der Vertrag über die Energiecharta bspw. erteilt der Konferenz der Vertragsparteien lediglich das Mandat, Regelungen über Vorrechte und Immunitäten des Sekretariats zu treffen, ohne aber auf diese selbst einzugehen. Bisher ist es zu solchen Regelungen für das Energiecharta-Sekretariat noch nicht gekommen, sodass es an einer expliziten Behandlung der Materie mangelt. Es findet daher entsprechendes – wenn auch nur schwer feststellbares – Völkergewohnheitsrecht Anwendung.
Die Jurisdiktionsimmunität beschränkt sich überwiegend auf solche Immunitäten, die erforderlich sind, um der Organisation die Wahrnehmung ihrer Funktionen zu ermöglichen. Es handelt sich um funktionelle Immunitäten. Handlungen der Bediensteten sind folglich nur dann geschützt, wenn sie offizieller Natur sind. Allerdings sind für die Spitze der Organisationen, also z. B. den Direktor bzw. Generalsekretär und die oberste Führungsriege, häufig weitergehende Immunitäten vorgesehen, die neben den offiziellen Handlungen auch private Handlungen der betreffenden Personen und ihrer engsten Familienmitglieder umfassen; diese Immunitäten entsprechen sodann den Immunitäten, die den Diplomaten im zwischenstaatlichen Verkehr zukommen.
Haftung
Als Rechtssubjekte sind Internationale Organisationen grundsätzlich den jeweiligen Rechtsordnungen unterworfen, in denen sie verkehren. Dies betrifft zum einen das nationale Recht der Staaten und zum anderen das Völkerrecht. Werden sie von diesen Rechtsordnungen verpflichtet, so haben sie diesen Verpflichtungen – wie alle anderen Rechtssubjekte auch – materiellrechtlich nachzukommen.
Eine völkerrechtliche Haftung der Internationalen Organisationen wird durch ein entsprechendes Delikt begründet. Dies kann z. B. eine Nichterfüllung ihrer völkervertraglichen Verpflichtungen sein. Auf der Ebene der nationalen Rechtsordnungen hingegen können sich Haftungsgründe insbesondere aus den privatrechtlichen Aktivitäten der Organisationen ergeben, also z. B. aus der Anmietung von Räumlichkeiten, dem Kauf von Büromaterialien, der Verursachung eines Verkehrsunfalls usw. Insoweit stellen sich im Zusammenhang mit Internationalen Organisationen keine besonderen haftungsrechtlichen Probleme.
Ob sich eine haftungsrechtliche Verpflichtung der Organisationen aber auch tatsächlich durchsetzen lässt, ist eine von der Haftungsbegründung unabhängige und mithin separat zu beantwortende Frage. Auf der Ebene des Völkerrechts besteht in der Regel keine Möglichkeit, Internationale Organisationen gerichtlich haftbar zu machen, da es ihnen zumeist an der Parteifähigkeit vor internationalen Gerichten fehlt. So ist es z. B. allein den Staaten möglich, vor dem Internationalen Gerichtshof als Partei aufzutreten.
Auf der Ebene der nationalen Rechtsordnungen scheitert eine Haftbarmachung regelmäßig an den Immunitäten, die die Internationalen Organisationen genießen. Hierdurch ist z. B. privaten Gläubigern der Organisationen der Gang zum Gericht verwehrt, da die Immunitäten ein von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis darstellen. Zwar können die Organisationen auf ihre Immunität auch verzichten, doch wird von dieser Möglichkeit nur sehr restriktiv Gebrauch gemacht. Halten sie ihre Immunität aufrecht, so sind sie allerdings verpflichtet, ihren Gläubigern auf andere Weise als durch ein Verfahren vor einem nationalen Gericht zu ihrem Recht zu verhelfen. Wichtigste Instrumente sind hierbei die Verhandlung mit dem Gläubiger sowie die Unterwerfung unter Schiedsgerichte, welche überwiegend die UNCITRAL-Regeln anwenden.
Dass sich die Gläubiger nicht an nationale Gerichte wenden können, wird mitunter als eine Verletzung des völkerrechtlich geschützten Justizgewähranspruchs angesehen. Zahlreiche nationale Gerichte sind daher inzwischen dazu übergegangen, die Immunitätsregeln dann nicht anzuwenden, wenn die Organisation keine andere Form des Rechtsschutzes bereitstellt, der elementare Anforderungen an Fairness, Transparenz und Effektivität erfüllt.
Eine der am heftigsten umstrittenen Fragen des Rechts der Internationalen Organisationen ist, ob und inwieweit die Mitgliedstaaten der Organisationen für deren Verpflichtungen einzustehen haben. Diese Frage wird insbesondere dann relevant, wenn eine Internationale Organisation über keine ausreichenden Finanzmittel verfügt, um ihren finanziellen Verbindlichkeiten nachzukommen. Entscheidend geprägt hat den wissenschaftlichen Diskurs der Zusammenbruch des Internationalen Zinnrats (ITC) am 24. Oktober 1985. In Ermangelung einer hinreichenden Zahl entsprechender Präzedenzfälle und aufgrund sich zum Teil erheblich widersprechender Urteile nationaler Gerichte harrt diese Problematik nach wie vor einer Lösung.
Gesandtschaftsrecht
Internationale Organisationen genießen als Völkerrechtssubjekte – vorbehaltlich einer anders lautenden Bestimmung ihrer Gründungsverträge – das aktive und passive Gesandtschaftsrecht, das heißt, sie können Vertreter zu anderen Völkerrechtssubjekten entsenden und auch deren Vertreter akkreditieren. So unterhält die Europäische Union (EU) diplomatische Beziehungen mit allen Staaten und zahlreichen anderen Internationalen Organisationen. Die Aufgaben und Befugnisse der Vertreter von und bei Internationalen Organisationen entsprechen weitgehend denjenigen, die für den diplomatischen Verkehr zwischen den Staaten entwickelt wurden. Auch genießen sie in der Regel die gleichen protokollarischen Ehren.
Auflösung
Internationale Organisationen werden überwiegend durch entsprechenden Beschluss ihrer Mitglieder aufgelöst. Dabei können die Organisationsaufgaben in einer neuen Organisation unmittelbar fortgesetzt werden, wie dies z. B. mit der Auflösung der Europäischen Gemeinschaft (EG) infolge des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon und dem Übergang ihrer Befugnisse auf ihre Nachfolgeorganisation (EU) erfolgte. Eine nur schrittweise Übertragung von Aufgaben lässt hingegen beide Organisationen zeitweise parallel bestehen. Z. B. hat sich der Völkerbund im April 1946 aufgelöst, doch nahmen die UN mit dem Inkrafttreten der Charta im Oktober 1945 bereits ein halbes Jahr vorher ihre Arbeit auf. Im Rahmen des Übergangs von der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) zur Afrikanischen Union (AU) sah der Gründungsvertrag der AU die parallele Existenz beider Organisationen für ein Jahr vor, um der OAU ausreichende Zeit zur Übertragung ihrer Angelegenheiten auf die AU zu geben. Auch der ersatzlose Wegfall der Organisation und ihrer Aufgaben ist denkbar. So sind die auf den Warschauer Pakt übertragenen Kompetenzen nach Auflösung der Organisation im Jahr 1991 vollständig an seine Mitglieder zurückgefallen.
Die Möglichkeit der Auflösung im Wege eines Beschlusses muss nicht zwingend im Gründungsvertrag erwähnt sein. Die EG beispielsweise war – formal betrachtet – auf ewig angelegt, und doch wurde sie im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon aufgelöst.
Ferner werden Organisationen durch einen entsprechenden Automatismus in ihren Gründungsverträgen oder zusätzlichen Abkommen der Mitgliedstaaten beendet. Diese können z. B. das Erreichen eines bestimmten Termins als Beendigungstatbestand festlegen. Ein Beispiel hierfür ist die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die mit Ablauf des 23. Juli 2002 aufhörte zu existieren – exakt fünfzig Jahre nach dem Inkrafttreten ihres Gründungsvertrags. Ferner können die Verträge die Beendigung der Organisation bei Unterschreiten einer Mindestzahl an Mitgliedern vorsehen. Dementsprechend löst sich die Europäische Weltraumorganisation (ESA) bei einem Mitgliederbestand von weniger als fünf auf, wenngleich sie für die Dauer des Liquidationsvorgangs noch bestehen bleibt.
Weiterhin kann sich eine Internationale Organisation durch langfristige Inaktivität auflösen. Erforderlich ist hierfür der Wille der Mitgliedstaaten, an den entsprechenden Gründungsvertrag nicht länger gebunden zu sein. Auch der Wegfall aller Mitglieder durch Austritt, Ausschluss oder Untergang beendet die von ihnen gegründete Organisation, doch hat dieser Tatbestand bisher noch keine praktische Anwendung erfahren.
Politische Dimension
Eine politische Bilanz der Internationalen Organisationen zu ziehen, ist so unmöglich, wie ihr Aufgabenspektrum vielfältig ist. Insoweit erfordern definitive Aussagen eine Untersuchung jeder einzelnen Organisation für sich. Aber dennoch lassen sich zwei divergierende Strömungen innerhalb des Gesamtphänomens der Internationalen Organisationen ausmachen. Hierfür gilt es, zwischen den technisch-administrativen und den politisch-wirtschaftlichen Aufgaben der Organisationen zu unterscheiden, mag die Grenze bisweilen auch mitten durch einzelne Organisationen hindurchgehen.
Technisch-administrative Organisationen spielen auf der Bühne der Weltpolitik kaum eine signifikante Rolle. Zwar sind ihre Tätigkeiten eng verzahnt mit den jeweils zuständigen nationalen Stellen, doch können sie ihre Aufgaben in der Regel ideologiefrei bewältigen. Im Gegensatz hierzu stehen die politisch-wirtschaftlichen Organisationen. Von jeher sind sie Schauplatz diplomatischer Scharmützel. Die Staaten begreifen diese Organisationen oftmals als Mittel zur Durchsetzung einzelstaatlicher Interessen und scheuen nicht davor zurück, sich über den multilateralen Charakter der Organisationen hinwegzusetzen.
Die Arbeit gerade der politischen Organisationen wird oftmals als langsam und ineffektiv wahrgenommen. Auch wird ihnen zunehmend vorgeworfen, die Handlungsfreiheiten der Staaten in nicht hinnehmbarer Weise einzuschränken, sich in interne Angelegenheiten einzumischen und durch die anfallenden Beitragszahlungen die nationalstaatlichen Haushalte übermäßig zu belasten.
Die zumeist formale Gleichstellung der Mitgliedstaaten in den Organen der Organisationen spiegelt zum einen zwar die völkerrechtliche Gleichrangigkeit der Staaten wider und bedeutet damit einen gewaltigen Schritt weg vom überkommenen Recht des Stärkeren, macht die Organisationen aber gleichzeitig anfällig für einzelstaatliche Missbräuche. So können Beschlüsse, die Einstimmigkeit erfordern, nach Belieben verhindert werden, wodurch die Organisationen Angriffsfläche für den Vorwurf der Beschlussunfähigkeit bieten. Auch können sich wirtschaftlich starke Staaten die Stimmen schwacher Staaten erkaufen oder gar erpressen und so eine Entscheidung in ihrem Sinne herbeiführen. Taktische Wechsel der Staatenvertreter erschweren den Aufbau einer für einen reibungslosen Arbeitsablauf unentbehrlichen Vertrauensbasis. Sitzstaaten nehmen durch die Androhung der Besteuerung der Gehälter, der Begrenzung des Schutzes diplomatischer Kuriersendungen oder durch vorgeschobene Sicherheitsmaßnahmen oftmals gezielten Einfluss auf das Sekretariatspersonal, das allein der Organisation verpflichtet ist.
Derlei Verhalten untergräbt die Wirksamkeit und Autorität der Organisationen und konterkariert ihre Ziele. Letztlich ist dies aber keine Schwäche der Internationalen Organisationen an sich, sondern des internationalen Systems als Ganzem. Machtstreben und Geltungssucht sind Eigenschaften von Staaten, solange Menschen Staaten regieren. Gerade in den beiden Regionen der Erde, die die höchste Dichte an organisatorischer Verbindung hervorgebracht haben, nämlich Europa und Nordamerika, ist seit dem Ende des Ost-West-Konflikts eine zunehmende Rückorientierung auf staatliche Handlungsinstrumentarien als Mittel der internationalen Politik zu beobachten. Dies muss nicht notwendigerweise einen Rückzug aus Internationalen Organisationen bedeuten, sondern kann sich z. B. in strukturellen Veränderungen der Organisationen, durch die den einzelstaatlichen Interessen wieder größeres Gewicht zukommt, manifestieren. Die Gründe hierfür sind vielfältig, doch scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass zum gegenwärtigen Stand staatlicher Interaktion eine sich stetig steigernde Anspruchshaltung gegenüber politischen und wirtschaftlichen Organisationen diese überfrachtet und letztlich zum Scheitern verurteilt. Nur die ausgewogene Verteilung von Aufgaben und Verantwortung zwischen Staaten und Internationalen Organisationen ist eine für die internationale Gemeinschaft auf Dauer befriedigende Lösung.
Symbolik
Fast alle Internationalen Organisationen identifizieren sich mit Symbolen. Dies sind regelmäßig Flaggen und Logos, aber auch Hymnen; so ist z. B. eine Instrumentalversion des Hauptthemas des letzten Satzes aus Beethovens 9. Sinfonie die Hymne des Europarats und der Europäischen Union.
Nur sehr selten legen die Gründungsdokumente der Organisationen ihre Symbole fest. Ein Beispiel hierfür ist die ASEAN-Charta, die Identität, Motto, Flagge, Emblem, Feiertag und Hymne der Organisation bestimmt. Ganz überwiegend jedoch entscheidet das Sekretariat oder ein Exekutivorgan über Annahme und Gestaltung der Symbole. Die Befugnis hierfür folgt entweder aus einer vertraglichen Bestimmung oder aus der Anerkennung entsprechender Implied Powers.
Abgrenzung zu internationalen nichtstaatlichen Organisationen
Auch die internationalen nichtstaatlichen Organisationen werden als Internationale Organisationen bezeichnet. Um Verwechslungen zu vermeiden, wird regelmäßig gesondert auf deren Status als INGOs (englisch: International Nongovernmental Organizations) hingewiesen. Die entsprechende Abkürzung IGOs (englisch: Intergovernmental Organizations) für die staatlichen Internationalen Organisationen hat sich nicht in dem gleichen Maße etabliert und wird zumeist nur in Abgrenzung zu den INGOs verwendet.
Im Unterschied zu den staatlichen Internationalen Organisationen handelt es sich bei den internationalen nichtstaatlichen Organisationen um private Vereinigungen, die allein dem nationalen Recht ihres Heimatstaats unterworfen sind. Ihre Rechtsform ist in der Regel die eines privatrechtlichen Vereins. Sie genießen keinerlei Vorrechte und Immunitäten in ihren Heimatstaaten, und ihre mit Völkerrechtssubjekten geschlossenen Verträge unterliegen nicht dem Völkervertragsrecht. Überwiegend verfolgen INGOs humanitäre und sonstige nichtwirtschaftliche Ziele. Zahlreiche staatliche Internationale Organisationen verleihen nationalen wie internationalen NGOs einen Beraterstatus und gewähren ihnen damit Zugang zu ihren Gremien, um sich ihre oftmals hoch spezialisierten und aktuellen Sachkenntnisse zu Nutze zu machen.
Bislang ist es nahezu einhellige Ansicht, dass es den nichtstaatlichen Internationalen Organisationen grundsätzlich nicht möglich ist, den Status eines Völkerrechtssubjekts zu erlangen. In der jüngeren Völkerrechtsentwicklung sind jedoch Tendenzen zu beobachten, die ein Aufweichen dieser klassischen Unterscheidung zu den staatlichen Internationalen Organisationen bedeuten könnten. So hat der IGH in seinem LaGrand-Urteil vom 27. Juni 2001 Individuen ausdrücklich eine partielle Völkerrechtssubjektivität zugebilligt. Nach Auffassung des Special Rapporteurs der International Law Commission (ILC), Giorgio Gaja, sind keine sachlichen Gründe gegen einen vergleichbaren Status der INGOs ersichtlich. Widerstände hiergegen sind in erster Linie von den Staaten zu erwarten, die befürchten, dass ein Völkerrechtsstatus der INGOs mit einem Kontrollverlust gegenüber diesen einhergeht.
Bedeutende zwischenstaatliche Organisationen
Vereinte Nationen
Weltgesundheitsorganisation (WHO)
Internationaler Währungsfonds
Internationale Atomenergie-Organisation
Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF)
Welthandelsorganisation
Europäische Union
Afrikanische Union
Weltbank
Europäische Weltraumorganisation (ESA)
NATO
OECD
Siehe auch
Intergouvernementalismus
Liste internationaler Wirtschaftsorganisationen
Literatur
Union of International Associations (Hrsg.): Yearbook of International Organizations. https://uia.org/yearbook.(behandelt auch nichtstaatliche Internationale Organisationen)
Bd. 1A und 1B: Organization Descriptions and Cross-References, 2 Bde., ISBN 978-90-04-25513-5.Bd. 2: Geographical Index – A Country Directory of Secretariats and Memberships, ISBN 978-90-04-25514-2.Bd. 3: Global Action Networks – A Subject Directory and Index, ISBN 978-90-04-25515-9.Bd. 4: International Organization Bibliography and Resources, ISBN 978-90-04-25516-6.Bd. 5: Statistics, Visualizations and Patterns, ISBN 978-90-04-25517-3.Bd. 6: Who's Who in International Organizations, ISBN 978-90-04-25518-0.
Rechtswissenschaftliche Literatur
Chittharanjan Felix Amerasinghe: Principles of the Institutional Law of International Organizations. 2. Auflage, Cambridge University Press, Cambridge 2005, ISBN 0-521-83714-6.
C. Wilfred Jenks: The proper law of international organisations. Stevens/Oceana, London/New York 1962.
Jan Klabbers: An Introduction to International Institutional Law. 2. Auflage, Cambridge University Press, Cambridge 2009, ISBN 978-0-521-81774-5.
Matthias Ruffert, Christian Walter: Institutionalisiertes Völkerrecht. C.H. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-59530-1.
Henry G. Schermers, Niels M. Blokker: International Institutional Law – Unity Within Diversity. 5. Auflage, Martinus Nijhoff, Leiden/Boston 2011, ISBN 978-90-04-18798-6.
Ignaz Seidl-Hohenveldern, Gerhard Loibl: Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften. 7. Auflage, Carl Heymanns, Köln/Berlin/Bonn/München 2000, ISBN 3-452-24650-7.
Robin van der Hout: Die völkerrechtliche Stellung der Internationalen Organisationen unter besonderer Berücksichtigung der Europäischen Union. Nomos, Baden-Baden 2006, ISBN 3-8329-2248-2.
Nigel D. White: The Law of International Organisations. 2. Auflage, Manchester University Press, Manchester 2005, ISBN 0-7190-5953-4.
Politikwissenschaftliche Literatur
A. LeRoy Bennett, James K. Oliver: International Organizations: Principles and Issues. 7. Auflage, Prentice Hall, Upper Saddle River 2002, ISBN 0-13-032185-0.
Katja Freistein, Julia Leininger: Handbuch internationale Organisationen: Theoretische Grundlagen und Akteure. Oldenbourg, München 2012, ISBN 978-3-486-58310-6.
Margaret P. Karns, Karen A. Mingst: International Organizations: The Politics and Processes of Global Governance. 2. Auflage, Lynne Rienner, Boulder/London 2010, ISBN 978-1-588-26698-9.
Volker Rittberger, Bernhard Zangl, Andreas Kruck: Internationale Organisationen. 4. Auflage, Springer VS, Wiesbaden 2013, ISBN 978-3-531-19513-1.
Geschichtswissenschaftliche Literatur
Volker Barth: Internationale Organisationen und Kongresse, in: Europäische Geschichte Online, hrsg. vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, 2012.
Arbeiten der International Law Commission
UN Doc. A/CN.4/532 vom 26. März 2003 (First report on responsibility of international organizations; PDF)
UN Doc. A/CN.4/541 vom 2. April 2004 (Second report on responsibility of international organizations; PDF)
UN Doc. A/CN.4/553 vom 13. Mai 2005 (Third report on responsibility of international organizations; PDF)
UN Doc. A/CN.4/564 vom 28. Februar 2006 (Fourth report on responsibility of international organizations; PDF)
UN Doc. A/CN.4/564/Add.1 vom 12. April 2006 (Fourth report on responsibility of international organizations, Add. 1; PDF)
UN Doc. A/CN.4/564/Add.2 vom 20. April 2006 (Fourth report on responsibility of international organizations, Add. 2; PDF)
UN Doc. A/CN.4/583 vom 2. Mai 2007 (Fifth report on responsibility of international organizations; PDF)
UN Doc. A/CN.4/597 vom 1. April 2008 (Sixth report on responsibility of international organizations; PDF)
UN Doc. A/CN.4/L.725 vom 30. Mai 2008 (Responsibility of international organizations: Draft Articles; PDF)
UN Doc. A/CN.4/L.725/Add.1 vom 16. Juli 2008 (Responsibility of international organizations: Draft Articles, Add. 1; PDF)
UN Doc. A/CN.4/610 vom 27. März 2009 (Seventh report on responsibility of international organizations; PDF)
UN Doc. A/CN.4/640 vom 14. März 2011 (Eighth report on responsibility of international organizations; PDF)
Schriftenreihen und Zeitschriften
Legal Aspects of International Organization. Schriftenreihe. Martinus Nijhoff, Leiden/Boston 1983 ff., .
International Organization. Zeitschrift. Cambridge University Press, Cambridge 1947 ff., .
International Organizations Law Review. Zeitschrift. Martinus Nijhoff, Leiden/Boston 2004 ff., .
Review of International Organizations. Zeitschrift. Springer, Norwell 2006 ff., .
Weblinks
Das System der Vereinten Nationen (PDF; 43 kB)
Union des Associations Internationales
Weblinks zu zahlreichen Internationalen Organisationen
Einzelnachweise
Außenpolitik
Diplomatie
Internationale Beziehungen
Institution der Diplomatie
Organisationsform
Politikwissenschaft
Staatenverbindung
Völkerrecht |
57847 | https://de.wikipedia.org/wiki/Futurama | Futurama | Futurama ist eine Science-Fiction-Zeichentrickserie von Matt Groening und David X. Cohen, die zu Beginn des 31. Jahrhunderts spielt und von Alltag und Abenteuern der befreundeten Mitarbeiter des interstellaren Lieferunternehmens Planet Express mit Sitz in Neu New York erzählt.
Die erste Folge wurde von dem US-amerikanischen Fernsehsender Fox am 28. März 1999 ausgestrahlt, die erste Folge der deutschen Synchronfassung am 4. September 2000 von ProSieben. 2003 wurde die Serie abgesetzt. Nachdem Wiederholungen gute Einschaltquoten erzielten, erlebte sie 2007 ein Comeback in Form von vier Direct-to-Video-Produktionen in Spielfilmlänge. Aufgeteilt in jeweils vier Episoden wurden diese ab 2008 als neue Staffel bei Comedy Central ausgestrahlt. Mit der Ausstrahlung von zwei weiteren Staffeln begann der Sender im Juni 2010, danach wurde die Serie erneut eingestellt. Am 4. September 2013 wurde die letzte von insgesamt 140 Episoden veröffentlicht.
Am 9. Februar 2022 kündigte der Streaminganbieter Hulu an, eine weitere 20 Folgen umfassende Staffel zu produzieren. Die Veröffentlichung wurde für die USA auf Hulu und für Deutschland auf Disney+ für den 24. Juli 2023 angekündigt.
Kritiker lobten das Werk vor allem wegen seines Humors. Es wurde unter anderem mit sechs Emmy- und sieben Annie-Awards ausgezeichnet.
Inhalt
Die Handlung der Serie beginnt Silvester 1999, als der New Yorker Pizzabote Philip J. Fry um Mitternacht – scheinbar versehentlich – in einen kryostatischen Tiefschlaf versetzt wird, aus dem er eintausend Jahre später Silvester 2999 wieder erwacht. Bei Planet Express, einem interplanetaren Lieferdienst, der von seinem entfernten Nachfahren Professor Farnsworth geleitet wird, nimmt er eine Anstellung an. In seinen Mitarbeitern findet er Freunde. Die nachfolgenden Episoden stürzen die Kollegen in skurrile Abenteuer, die etwa durch Lieferaufträge zu entfernten Planeten oder Erfindungen des Professors ausgelöst werden. Dabei werden Themen junger Erwachsener behandelt, die sich eher über ihre Arbeit und ihr soziales Netzwerk als über eine Familie definieren: Erwerbstätigkeit, Freundschaft, Liebe, Sex.
Die einzelnen Folgen sind in sich geschlossen und kehren an ihrem Ende im Wesentlichen zur Ausgangssituation zurück. Gleichzeitig bauen sie aufeinander auf, und die Charaktere entwickeln sich im Laufe der Serie weiter. Soweit dagegen Details für die Serie nebensächlich bleiben, werden Anschlussfehler in Kauf genommen, um Themen der Gegenwart und Klischees des Science-Fiction-Genres zu persiflieren.
Figuren
Die Belegschaft von Planet Express stellt die Hauptfiguren von Futurama: eine kleine Gruppe von Individualisten, die sich nicht in die Gleichförmigkeit ihrer Zukunftsgesellschaft einfügen. Das zentrale Trio, bestehend aus Fry, Leela und dem Roboter Bender, taucht in jeder Episode auf, wenngleich der Fokus einzelner Geschichten bisweilen auch auf einer der anderen Haupt- oder Nebenfiguren liegt.
Philip J. Fry
Protagonist der Serie ist der Mittzwanziger Philip J. Fry, der bei seinem Nachnamen gerufen wird. Der Antiheld wird als unreif, einfältig, faul und antriebslos charakterisiert, ein Couch-Potato und College-Abbrecher ohne besondere Begabungen oder Ambitionen. Mit seinem Leben am Ende des 20. Jahrhunderts war Fry, der als Pizzabote jobbte, unzufrieden; tausend Jahre später gilt er zwar noch immer als Versager, sein neues Leben als Lieferjunge bei Planet Express gefällt ihm aber besser. Seine lange Zeit unerwiderte Liebe gilt seiner Kollegin Leela.
Turanga Leela
Leela ist die kompetente und verantwortungsvolle, bisweilen aber ihre Aggressionen nicht unter Kontrolle habende Pilotin des Lieferraumschiffs von Planet Express. Sie ist in Frys Alter und trotz ihres sexy Äußeren frustrierter Single. Kurz nach der Geburt von ihren Eltern ausgesetzt, wuchs die einäugige Leela in einem Waisenhaus in dem Glauben auf, eine Außerirdische unbekannter Herkunft zu sein, möglicherweise die Letzte ihrer Art. Erst im Laufe der Serie erfährt sie, dass sie ein Kind menschlicher Mutanten ist. Dank ausgereifter Kampfsport-Fähigkeiten besiegt sie ihre Gegner in körperlichen Auseinandersetzungen regelmäßig.
Bender Bending Rodriguez
Frys bester Freund und Mitbewohner ist Bender, ein humanoider Roboter. Ursprünglich zum Biegen von Stahlträgern gebaut, führt er ein egozentrisches und nach menschlichen Maßstäben lasterhaftes Leben: Er flucht, trinkt, raucht Zigarren, ist faul, mag das Glücksspiel, konsumiert Roboter-Pornografie, besucht Roboter-Prostituierte, bestiehlt sogar seine Freunde regelmäßig und wünscht sich nicht selten, die gesamte Menschheit zu töten.
Professor Hubert J. Farnsworth
Der einzige noch lebende Verwandte von Fry ist der 160-jährige Professor Farnsworth, Gründer und Chef von Planet Express. Zugleich lehrt der schrullige, zerstreute Wissenschaftler als Physik-Professor an der Mars-Universität. Er hat keine Skrupel, seine Mannschaft immer wieder auf lebensgefährliche Missionen zu schicken. Trotz seiner fortgeschrittenen Demenz gelingt ihm immer wieder die Erfindung neuer Gerätschaften. Neben seiner immer wieder auftretenden geistigen Schwäche leidet er auch an diversen anderen Altersgebrechen wie Inkontinenz, seniler Bettflucht und starker Kurzsichtigkeit, weshalb er eine extrem starke Brille tragen muss. Er hat einen dreizehnjährigen Klon-Sohn, Cubert Farnsworth.
Hermes Conrad
Hermes erledigt die Verwaltung und Buchhaltung bei Planet Express. Stets bemüht, die Produktivität des Unternehmens zu steigern, ermahnt er seine Kollegen regelmäßig, sich bei der Arbeit mehr zu bemühen. Der Jamaikaner ist ein gewissenhafter und akribischer Bürokrat aus Überzeugung, aber auch treuer Familienmensch und früherer Olympiateilnehmer in der Disziplin Limbo. Seine Frau LaBarbara ist ungleich attraktiver. Ihr gemeinsamer Sohn Dwight ist etwa im selben Alter wie der Klon des Professors, Cubert. Beide sind eng befreundet und besuchen gemeinsam ein Internat.
Dr. John Zoidberg
Dr. Zoidberg ist ein menschengroßer, krabbenartiger Außerirdischer. Obwohl er kaum etwas über die menschliche Anatomie weiß, arbeitet er als Belegschaftsarzt bei Planet Express und es gelingen ihm mitunter erstaunlich komplexe Eingriffe. Trotz dieses Berufs lebt er in Armut und sucht verzweifelt nach Freundschaft und Anerkennung. Wie sich in einer Folge herausstellt, ist Zoidberg nicht einmal Mediziner, sondern hat seinen Doktortitel in Kunstgeschichte erworben. Er und der Professor sind schon lange befreundet.
Amy Wong
Amy, die jüngste der Hauptfiguren, studierte zunächst Ingenieurwesen an der Mars-Universität und ist Praktikantin bei Planet Express. Sie ist zwar oberflächlich, tollpatschig und gelegentlich naiv, gilt aber wegen ihres niedlich-hübschen Aussehens als besonders attraktiv. Andererseits stellt sie auch immer wieder ihr Wissen, Integrität und bisweilen auch Tiefgang unter Beweis. Das verwöhnte Einzelkind äußerst reicher Eltern chinesischer Abstammung geht gerne aus und flirtet gern. Sie spricht dementsprechend auch Chinesisch und verfällt vor allem beim Fluchen ab und an in ihre Muttersprache. Des Weiteren beherrscht sie Marsianisch. Die Eltern, denen eine Hälfte des Planeten Mars gehört, haben keinen größeren Wunsch, als dass ihnen ihre Tochter endlich Enkelkinder schenkt. Dabei ist ihnen letztlich egal, wer der Vater ist, sie versuchen indes dennoch, Amy immer wieder mit Männern zu verkuppeln. Im Laufe der Serie beginnt sie eine romantische Beziehung zu Kif Kroker und erlangt ihren Doktortitel.
Weitere Figuren
Außerdem gehört eine Reihe wiederkehrender Nebenfiguren zum Ensemble der Serie. Zu den wichtigsten, die bisweilen zu den zentralen Figuren einzelner Episoden avancieren, zählen der Raumschiffflotten-Kapitän Zapp Brannigan, sein außerirdischer Erster Offizier Kif Kroker, Leelas vermeintliches Haustier Nibbler, die Monopolistin Mom und deren drei minderbemittelte Söhne oder auch der Roboterteufel und der Schauspiel-Roboter Calculon. Auch Figuren, die für die Handlung ohne Bedeutung bleiben, tauchen in unregelmäßigen Abständen auf, beispielsweise der Arbeiter Sal und der Planet-Express-Hausmeister Scruffy. Hinter der hohen Figurendichte steht die Absicht, den treuen Zuschauer für seine Aufmerksamkeit zu belohnen.
Fester Bestandteil von Futurama ist die Idee, dass es künftig möglich sein wird, menschliche Köpfe in übergroßen Einmachgläsern am Leben zu halten. Dadurch können Prominente der Gegenwart und historische Persönlichkeiten in die Serie eingebaut werden, entweder in Form eines Gastauftritts oder einer Parodie. Größere Gastauftritte als Köpfe in Einmachgläsern haben unter anderem die Beastie Boys, Stephen W. Hawking, Beck, Lucy Liu, Al Gore, Conan O’Brien und die Brückencrew aus der Science-Fiction-Serie Raumschiff Enterprise (William Shatner, Leonard Nimoy, Nichelle Nichols, Walter Koenig und George Takei). Dagegen wird der ehemalige US-Präsident Richard Nixon bei zahlreichen Auftritten mit grundsätzlich unsympathischer Färbung parodiert.
Schauplatz
Neu New York
Futurama ist zu Beginn des 31. Jahrhunderts angesiedelt, einer Zeit voller technologischer Wunder. Den Hauptschauplatz der Serie bildet das futuristische Neu New York, wo Planet Express seinen Sitz hat. Die Metropole wurde über dem zerstörten New York erbaut. Dessen Ruinen liegen, nun als „altes New York“ bezeichnet, wie in einer Katakombe im Abwassersystem der neuen Stadt und dienen einer Gruppe von der Oberfläche verbannter Mutanten als Wohnstätte. Neu New York ist eine Stadt der Extreme, voller Kriminalität, Armut und Prostitution, und ein Schmelztiegel der Kulturen. Viele Orte in der Stadt stellen eine Referenz zu Orten des gegenwärtigen New York dar, präsentieren sich aber als deren Weiterentwicklung – so tritt beispielsweise anstelle des Madison Square Garden der Madison Cube Garden. Das Automobil wurde vom schwebenden Hovercar abgelöst und die herkömmlichen öffentlichen Verkehrsmittel durch ein System aus Röhren ersetzt, das die Passagiere rohrpostartig ansaugt und zum Zielort transportiert.
Gesellschaft und Kultur
Futurama führt die Zukunft einer kapitalistischen Gesellschaft vor. Entgegen anderen Science-Fiction-Werken lässt sich die Serie dabei nicht in die Kategorien Utopie oder Dystopie einteilen; die Zukunft dient hier vielmehr als Kulisse für eine übertreibende Darstellung der heutigen Gesellschaft. Deren Probleme dauern fort (wie die Spaltung in Arm und Reich) oder haben sich verschlimmert (beispielsweise Monopolismus, Drogenmissbrauch, Bürokratismus und Korruption, Organhandel). Im Kontrast zum heute verbreiteten Glauben an den self-made man und dessen Fähigkeit, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, wurde Futuramas Gesellschaftsbild nach deterministischen Grundsätzen entworfen. Berufe werden vom Staat nach Befähigung zugewiesen, einen Karrierewechsel sieht das System nicht vor. Selbstmordzellen bieten gegen eine kleine Gebühr je nach Wunsch eine schnelle, schmerzlose oder eine langsame, qualvolle Möglichkeit zum Suizid. Das Alltagsleben wird durch eine Unzahl kleiner Erfindungen erleichtert. Roboter mit einem Selbstbewusstsein sind ein gängiger Anblick. Sie erledigen einen Großteil der körperlichen Arbeit, ihr Alkoholantrieb ist die Hauptursache der globalen Erwärmung.
In Futurama ist die Erde vollständig globalisiert, das gesamte Universum erforscht und die Weltbevölkerung in eine multikulturelle, interplanetare Gesellschaft eingegliedert. Die Menschheit hat verschiedene Planeten terraformt und kolonialisiert und beispielsweise 2636 auf dem Mars eine Universität gegründet. Politisch ist die gesamte Erdbevölkerung unter einer Weltregierung vereint, die stark US-amerikanisch geprägt ist. Beispielsweise weicht die Flagge der Erde Old Freebie von der Flagge der Vereinigten Staaten allein dadurch ab, dass sie einen Globus anstelle der Sterne zeigt. Die Hauptstadt der Erde ist Washington, D.C., ihr Präsident ab der zweiten Staffel Richard Nixons Kopf. Roboter haben sowohl aktives als auch passives Wahlrecht. Die Erde ist Mitglied im Demokratischen Orden der Planeten, kurz: DOOP (Democratic Order of Planets), einer interstellaren Organisation, die in der Serie mit der UNO und zugleich mit der Föderation aus dem Star-Trek-Universum verglichen wird.
In Futurama wird die Gesellschaft von kommerziellen Interessen bestimmt. Schier unendlich scheinen die wirtschaftliche Machtstellung und der Reichtum von Mom. Sie dominiert mehrere Märkte, unter anderem hat sie ein Quasi-Monopol auf die Herstellung von Robotern. Dagegen wird der Markt für Erfrischungsgetränke beherrscht von Slurm, einer Anspielung auf Coca-Cola. Der Softdrink wird in der Serie unter anderem damit beworben, dass er in höchstem Maße süchtig macht. Auch viele andere Marken erinnern an real existierende, beispielsweise wurde das Magazin National Geographic zum Pornoheftchen National Pornographic reduziert. Werbung ist allgegenwärtig: Reklametafeln bestimmen das Straßenbild, Werbung erscheint in Fernsehspots und wird sogar in die Träume der Menschen gesendet.
Religion ist immer noch ein bedeutendes gesellschaftliches Thema, obwohl die heute großen Glaubensrichtungen in der jetzigen Form nicht mehr existieren. Aus einer Fusion der Weltreligionen ging die First Amalgamated Church (zu Deutsch etwa: Erste Vereinigte Kirche) hervor, an deren Spitze ein außerirdischer Weltraumpapst steht. Voodoo ist eine anerkannte Religion. Zur Vielzahl der neuen Glaubensgemeinschaften gehören Oprahism (wohl nach Oprah Winfrey), die Roboter-Religion Robotology, die einen Roboter-Teufel und eine Roboter-Hölle kennt, und die verbannte Religion der Star-Trek-Fangemeinde.
Das Fernsehen erfüllt wie heute die Funktion eines primären Massenmediums. Zu den beliebtesten Sendungen zählen die Roboter-Seifenoper Alle meine Schaltkreise und die Kochsendung des Starkochs Elzar vom Neptun. Die höchsten Einschaltquoten erreicht die Show der Hypnose-Kröte, die die Zuschauer hypnotisiert, damit sie Gefallen an ihrer sonst ereignislosen Sendung finden. Das Internet kann sowohl auf Bildschirmen dargestellt als auch als virtuelle Realität – ähnlich wie Tron oder die Matrix – betreten werden. Es ist langsam und besteht hauptsächlich aus pornografischen Angeboten, Chaträumen und Pop-up-Werbung.
Schriften und Sprachen
In verschiedenen Teilen der Welt werden weiterhin verschiedene Sprachen gesprochen. Französisch allerdings wurde zur toten Sprache. In der französischen Synchronfassung der Serie übernimmt die deutsche Sprache diese Rolle.
Für die Serie wurden zwei verschiedene Alphabete entwickelt, um außerirdische Schrift darzustellen. Diese finden häufig im Hintergrund als Graffiti, auf Werbetafeln oder Hinweisschildern Verwendung. Beide lassen sich direkt ins Englische umwandeln. Beim häufiger verwendeten handelt es sich um eine monoalphabetische Substitution des lateinischen Alphabets; diese wird in der Serie einfach als „Außerirdisch“ bezeichnet. Hinter den außerirdischen Texten verbirgt sich oft makaberer schwarzer Humor. In der Eröffnungssequenz kommt beispielsweise eine Werbetafel vor, auf der in Außerirdisch „“ ( für „Leckere Menschen-Burger“) steht.
Episoden
Futurama besteht derzeit aus 146+ Episoden. Die ersten 72 Episoden wurden in vier Staffeln für den Fernsehsender Fox produziert. Jede Episode erzählt in rund 22 Minuten eine in sich abgeschlossene Geschichte, sodass sie sich mit Werbeunterbrechungen zur halbstündigen Ausstrahlung eignen. Für die Erstveröffentlichung änderte Fox die Reihenfolge der Episoden und teilte sie in fünf Sendestaffeln ein.
2007 erschien mit Bender’s Big Score die erste Futurama-Produktion in Spielfilmlänge. 2008 folgten Die Ära des Tentakels und Bender’s Game, 2009 schließlich Leela und die Enzyklopoden. Als sogenannte Direct-to-DVD-Produktion wurden die vier Filme für den Heimkinomarkt erstellt und zuerst auf DVD veröffentlicht. Anschließend liefen sie, aufgeteilt in jeweils vier Episoden, als sechste Sendestaffel beim Kabelfernsehkanal Comedy Central, gelten jedoch als fünfte Produktionsstaffel.
Auf die Filme folgten zwei weitere Staffeln aus jeweils 26 Episoden, Staffeln sechs und sieben. Diese haben wieder das Fernsehformat der ersten Staffeln. Für die Erstausstrahlung halbierte Comedy Central die Produktionsstaffeln jeweils in zwei Sendestaffeln à 13 Episoden, womit diese zu den Sendestaffeln sieben bis zehn wurden.
Die neuen von Hulu produzierten Folgen ab 2023 sind somit die achte Produktionsstaffel. Hulu teilt eine Produktionsstaffel in zwei Sendestaffeln à 10 Episoden auf, womit die erste Hälfte der achten Produktionsstaffel die elfte Sendestaffel ist.
Gestaltungselemente
Zeichenstil
Der Zeichenstil von Futurama erinnert stark an Die Simpsons. In beiden Serien weisen die Figuren ähnliche anatomische Merkmale auf: Der Unterkiefer ist sehr kurz, die Augen sind groß und hervorstehend, menschliche Hände haben nur vier Finger. Während letzteres für Zeichentrickfiguren nicht untypisch ist, führt Matt Groening, der als Schöpfer beider Serien deren Erscheinungsbild grundlegend geprägt hat, die anderen Eigenheiten auf sich selbst zurück: Selbst das Planet-Express-Raumschiff habe einen Überbiss.
Die optische Ästhetik der Serie kann als retro-futuristisch klassifiziert werden. Sie wird mit den Zukunftsvisionen der 1950er-Jahre verglichen, aber auch das Science-Fiction-Universum der 1930er diente der Inspiration. Die Gestaltung der Gebäude, Vehikel und anderer Objekte erinnert stark an das Googie-Design der 1950er- und 1960er-Jahre. Für Entwürfe wurde der bekannte Produktdesigner Syd Mead konsultiert, dessen Arbeiten für Science-Fiction-Filme wie Blade Runner und Tron stilprägend waren.
Futurama verwendet eine Mischung aus handgezeichneten und computergenerierten Bildern. Letztere kommen vor allem bei schnellen oder komplexen Einstellungen zum Einsatz, beispielsweise bei aufwendigen Kamerafahrten, wenn sich ein Raumschiff bewegt, für Explosionen oder wenn ein Hologramm gezeigt wird. Raumwirkung und Bewegungen lassen sich so naturgetreu und gleichzeitig kostengünstig darstellen. Damit die dreidimensional erstellten Computeranimationen neben den zweidimensionalen Handzeichnungen nicht „zu realistisch aussehen“, so Scott Vanzo vom verantwortlichen Animationsstudio Rough Draft, wurden die 3-D-Modelle mit Unvollkommenheiten versehen, die Wirkung von Lichtquellen eingeschränkt und beim Rendern der Bilder mit sogenanntem Cel Shading gearbeitet. Bei dieser Technik werden die Umrisslinien dreidimensionaler Computermodelle verstärkt und Farbenverläufe durch wenige flächige Farbfelder ersetzt, was dem Bild ein handgemaltes, comichaftes Aussehen verleiht. Der so erzeugte Stil wurde als „innovativ“ und „markant“ bezeichnet, die unterschiedlich hergestellten Bilder fügten sich nahtlos ineinander.
Vorspann
Der Vorspann, mit dem jede Episode beginnt, enthält – ähnlich wie die Eröffnungssequenz der Simpsons – variable Elemente: Zu Beginn füllen blaue Lichtstrahlen den Bildschirm und der Schriftzug „Futurama“ wird gezeigt. Darunter wird oft ein humoristischer Untertitel eingeblendet, zum Beispiel „In Farbe“, „Am Originalschauplatz gedreht“, „Voller Stolz auf der Erde hergestellt“ oder „Von den Machern von Futurama“. Dann fliegt das Planet-Express-Raumschiff durch den Titel und die Neu New Yorker Innenstadt, vorbei an diversen wiederkehrenden Figuren bis zu einem großen Bildschirm, der jeweils eine Sequenz aus einem klassischen Zeichentrickfilm zeigt, beispielsweise von den Looney Tunes und aus Betty Boop. Schließlich stürzt das Raumschiff in den Bildschirm, zerstört diesen und bleibt darin stecken. Für die Filme wurde der Vorspann jeweils variiert und ausgebaut.
Die meisten Episoden der ersten und einige der zweiten Staffel beginnen mit einem sogenannten cold open, das heißt, vor dem Vorspann wird ein Prolog gezeigt.
Die Titelmusik wurde von Christopher Tyng komponiert und beruht auf dem Titel Psyche Rock von Pierre Henry aus dem Jahr 1967.
Humor
Der Humor von Futurama beruht hauptsächlich auf der satirischen Darstellung des Alltagslebens in der Zukunft und dem parodistischen Vergleich zu dem der Gegenwart sowie der Persiflage einzelner Science-Fiction-Werke und des Genres als solchem. Dabei deckt er ein breites Spektrum von Erscheinungsformen ab: Zum einen bedient sich die Serie typischer Elemente des kindlichen Humors; sie verwendet beispielsweise Albernheit, Absurdität, einfache Situationskomik und Slapstick. Zum anderen spricht der Witz der Serie – in einer für Groening-Schöpfungen typischen Weise – ebenso den „reiferen“ Humor an, indem er Kritik an der (US-amerikanischen) Gesellschaft der Gegenwart übt oder auf Filme, Fernsehserien, literarische Werke, historische Ereignisse oder wissenschaftliche Erkenntnisse anspielt.
Darüber hinaus enthält die Serie eine Reihe von Running Gags. Zum Beispiel wird der Planet-Express-Hausmeister Scruffy bei jedem seiner Auftritte von seinen Arbeitskollegen nicht erkannt, obwohl er schon viele Jahre dort arbeitet. Eulen werden regelmäßig als die Schädlingsplage des 31. Jahrhunderts dargestellt, ähnlich wie heute Ratten oder Tauben. Zusätzlich haben viele der Figuren einen charakteristischen Satz, eine sogenannte Catchphrase. So beleidigt Bender sein Gegenüber immer wieder mit der Aufforderung: „Du kannst mich an meinem blanken Metallarsch lecken!“ (im englischen Original: ), und Professor Farnsworth begrüßt seine Crew fast in jeder Folge mit dem Satz: „Eine gute Nachricht, Freunde!“ (im englischen Original: ) oder einer leichten Variation davon, um ihr dann oft im direkten Widerspruch schlechte Neuigkeiten mitzuteilen.
Die Serie verwendet außerdem wissenschaftliche Witze und spielt damit auf die Bedeutung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts für Science-Fiction an. So verkauft ein Supermarkt beispielsweise Bier der Marke Klein’s in Kleinschen Flaschen, und zwei nebeneinander aufgestellte Bücher mit den Titeln P und NP spielen auf das P-NP-Problem der Mathematik und theoretischen Informatik an. An anderer Stelle beschwert sich Professor Farnsworth, dass das Ergebnis eines „Quantumfinishs“ beim Pferderennen „durch die Messung verfälscht wurde,“ eine Anspielung auf die Quantenmechanik, insbesondere die Probleme bei der Quantenmechanischen Messung. Und weil die Lichtgeschwindigkeit aus physikalischen Gründen eine absolute Obergrenze für die Geschwindigkeit von Objekten darstellt, „haben die Wissenschaftler die Lichtgeschwindigkeit erhöht,“ um schnelleres Reisen zu ermöglichen. In einem Interview gab David X. Cohen an, dass solche Witze die Treue der Zuschauer fördern sollen:
Einige Witze in Futurama bleiben den meisten Zuschauern verborgen, weil sie durch Umwandlungen oder Verschlüsselungen „versteckt“ wurden. Dabei handelt es sich meist um Kombinationen von Buchstaben und/oder Zahlen, die auf den ersten Blick keinen Sinn ergeben, aber in sinnvolle Ausdrücke umgeformt werden können. Beispielsweise wohnt Bender in Robot Arms Apts. im Apartment Nr. 00100100, was umgewandelt in ASCII dem Dollarzeichen entspricht – eine Anspielung auf Benders Geldgier. Wohl das häufigste Beispiel sind Texte in der erdachten Schrift „Außerirdisch“. Die meisten davon, so David Cohen, drehen sich darum, dass Aliens Menschen essen. Cohen faszinieren seit seiner Arbeit an den Simpsons die sogenannten freeze framers, besessene Fans, die Sendungen auf Video aufzeichnen, damit sie das Bild anhalten und nach Gags suchen können, die nur einen Sekundenbruchteil dauern. Er begann, in seinen Arbeiten Easter Eggs zu verstecken, und beobachtete die Fan-Reaktionen im Internet. Wie der wissenschaftliche Humor sollen auch die kryptischen Witze der Zuschauerbindung dienen. Gegenüber einem Reporter des Wired sagte Cohen in Bezug auf diese:
Produktion und Veröffentlichung
Entstehung
Mitte der 1990er-Jahre hatte Simpsons-Schöpfer Matt Groening die ersten Ideen zu Futurama. Auslöser hierfür war nach seiner Aussage der Song Robot Blues der Incredible String Band. Groening, von Kindesbeinen an ein Science-Fiction-Fan, sammelte zunächst über mehrere Jahre Material, indem er sich mit der einschlägigen Literatur – von Genre-Klassikern aus der Feder von H. G. Wells bis hin zu neueren Werken von Neal Stephenson oder Rudy Rucker – vertraut machte. Nachdem er auf diese Weise einige hundert Seiten an Notizen und Ideen zusammengetragen hatte, gewann er 1997 David X. Cohen, einen weiteren Science-Fiction-Liebhaber mit breiter Kenntnis von Wissenschaft und Mathematik, den er als Produzenten und Drehbuchautor von den Simpsons kannte, für das Projekt. Gemeinsam recherchierten sie aus Filmen, Fernsehserien und Büchern weiteren Stoff für eine Science-Fiction-Zeichentrickserie. Als sie im April 1998 das Konzept für Futurama bei Fox vorlegten, hatten sie schon mehr Charaktere und Handlungen ausgearbeitet, als sie beim ersten Treffen präsentieren konnten. Die Entscheidungsträger bei Fox hatten zunächst Bedenken gegen einige Details der Serie, wie etwa Selbstmordzellen oder den Umgang mit Stereotypen. Gegen ihren anfänglichen Widerstand stellte Groening sicher, dass der Sender keinen Einfluss auf den Inhalt der Serie nehmen würde.
Der Name „Futurama“ geht zurück auf den gleichnamigen General-Motors-Pavillon der Weltausstellung 1939 in New York, der darstellen sollte, wie die Welt 20 Jahre später aussehen könnte. Auf der Weltausstellung wurde unter anderem das Fernsehen zum ersten Mal der US-amerikanischen Öffentlichkeit vorgestellt.
Besetzung
Futurama hat eine Stammbesetzung aus acht Sprechern. Gleich vier der größeren Rollen, namentlich Fry, Professor Farnsworth, Dr. Zoidberg und Zapp Brannigan, sowie eine Reihe von Nebenfiguren teilen sich im englischen Original die Stimme von Billy West, einem der bekanntesten Sprecher für Zeichentrickfiguren in den USA, der schon Bugs Bunny und Elmer Fudd, Ren und Stimpy sowie Doug aus den gleichnamigen Serien vertont hatte. Nachdem er ursprünglich für vorgesprochen hatte, wurden West zunächst Professor Farnsworth und Dr. Zoidberg zugeteilt. Fry sollte anfangs von Charlie Schlatter gesprochen werden; nach einem Besetzungswechsel erhielt West auch diese Rolle. Er spricht sie in erhöhter Tonlage, um den jugendlich-naiven Klang eines 25-Jährigen zu erreichen, ansonsten mit fast unverstellter Stimme, damit es für andere schwieriger ist, sie nachzuahmen. Dagegen hat er die Stimmen von Professor Farnsworth und Dr. Zoidberg comichaft-übertrieben angelegt. Zapp Brannigan war Phil Hartman auf den Leib geschrieben worden. Nach einem Vorlesen bekam der Schauspieler die Sprechrolle, aber er verstarb 1998. Daraufhin übernahm West auch diesen Part. Nach Wests Angaben ist seine Interpretation beeinflusst von Hartman und den , die Hartman und West gerne nachmachten. Unterhielten sich zwei der von West gesprochenen Figuren in Futurama miteinander, sprach er während der Aufzeichnung in Echtzeit mit sich selbst.
Leelas Stimme stammt von Katey Sagal, die vor allem als Schauspielerin durch ihre Rolle als Peggy Bundy in der Sitcom Eine schrecklich nette Familie bekannt ist. Sagal ist die einzige Sprecherin der Kernbesetzung, die nur eine Rolle spricht. Diese war zunächst Nicole Sullivan zugesprochen, wurde dann aber zugunsten Sagals neu besetzt. Sagal verstellt ihre Stimme für die Aufnahmen kaum, sie spricht lediglich in einer etwas höheren Tonlage.
Benders Sprecher John DiMaggio hatte zuvor hauptsächlich Stand-up-Comedy und einige kleinere Sprechrollen gemacht, erst durch seine Arbeit an Futurama erlangte er größere Berühmtheit. DiMaggio beschrieb seine Interpretation von Benders Stimme als einen verlotterten Betrunkenen mit Einflüssen von Slim Pickens und einer Rolle, die ein Schulfreund erfunden hatte. Damit hatte er ursprünglich für den Part des Professors vorgesprochen. Nachdem viele Sprecher ergebnislos für Benders Rolle angehört worden waren, kam ein Produzent auf die Idee, DiMaggio mit dieser Stimme nochmals für Bender vorsprechen zu lassen.
Zur Hauptbesetzung zählen außerdem David Herman (Scruffy u. a.), Maurice LaMarche (Kif Kroker u. a.), Phil LaMarr (Hermes Conrad u. a.), Tress MacNeille (Mom u. a.) sowie Lauren Tom (Amy Wong u. a.). Obwohl sie in fast allen Episoden vorkommen, wurden Tom, LaMarche, LaMarr und Herman im Abspann anfangs als Gastrollen (Guest Starring) aufgeführt. LaMarche wurde ab der zweiten Staffel als Nebenrolle (Also Starring) eingeordnet, seit der fünften zählt er zur Hauptbesetzung (Starring). Tom, LaMarr und Herman wurden mit Beginn der sechsten Staffel in diesen Status erhoben.
Neben der Hauptbesetzung sind in wiederkehrenden Gastrollen beispielsweise Frank Welker als Nibbler oder Kath Soucie und Danny Jacobs in diversen kleineren Rollen zu hören.
Produktionsprozess
Von der ersten Idee bis zur fertigen Episode dauerte die Produktion einer Futurama-Folge rund sechs bis neun Monate. Die Produktionskosten je Episode wurden mit über 500.000 US-Dollar beziffert. Wegen der langen Gesamtdauer des Herstellungsprozesses wurde bei 20th Century Fox jeweils an mehreren Episoden parallel gearbeitet.
Davon wurden etwa zwei Monate für die Erstellung des Skripts verwendet. Die Drehbuchautoren entwarfen dieses zunächst relativ detailliert in Gruppenarbeit. Der Entwurf wurde vom verantwortlichen Autor ausformuliert und daraufhin – wiederum in Gruppenarbeit – überarbeitet und verfeinert. Anschließend trafen sich die Autoren und Produzenten mit den Sprechern zu einer Leseprobe, nach der die Autoren das Skript nochmals gemeinsam überarbeiteten. Der Anteil der Arbeit, die im Team geleistet wird, war so groß, dass Produzent und Chefautor David X. Cohen der Meinung war, Danach gaben die Autoren das Skript aus der Hand, und die Aufzeichnung der Stimmen begann.
Weitere zwei bis drei Monate dauerte die Ausarbeitung des Animatics, einer Rohfassung aus schwarz-weißen Bleistiftzeichnungen mit niedriger Bildrate (etwa einem Bild pro Sekunde). Sie gab einen Eindruck von der fertigen Episode und bot so die Gelegenheit, nochmals Nachbesserungen vorzunehmen. Die Ausarbeitung des Animatics übernahm das kalifornische Animationsstudio Rough Draft Studios; dessen südkoreanisches Schwesterunternehmen Rough Draft Korea animierte die endgültige Version, die aus etwa 20.000 bis 25.000 handgezeichneten Einzelbildern pro Episode besteht. Matt Groening hatte darauf bestanden, Rough Draft zu beauftragen, nachdem deren Arbeit an den Simpsons mit Auszeichnungen bedacht worden war. Das Studio im kalifornischen Glendale beschäftigte während der Produktion der ersten vier Staffeln 130 Trickfilmzeichner; als die Serie abgesetzt wurde, verblieben davon 30.
Erstausstrahlung
Futurama wurde erstmals beim US-amerikanischen Sender Fox, einem Schwesterunternehmen von 20th Century Fox, ausgestrahlt. Den Anfang machte am 28. März 1999 die Pilotfolge Zeit und Raum 3000, die zugleich die einzige Episode der ersten fünf Staffeln ist, die von Matt Groening und David X. Cohen geschrieben wurde. Obwohl für die erste Staffel insgesamt dreizehn Episoden produziert worden waren, strahlte Fox bis zum 18. Mai 1999 lediglich neun als zusammenhängende erste Staffel aus, die übrigen wurden in die zweite Sendestaffel verlegt. Diese wurde dadurch mit insgesamt 20 Folgen, ausgestrahlt zwischen dem 26. September 1999 und dem 21. Mai 2000, die längste der fünf Sendestaffeln. Die dritte Staffel lief am 5. November 2000 an, allerdings wurden in den folgenden drei Monaten nur vier Episoden gesendet. Fox entschied sich, die Staffel erneut früher als geplant zu beenden, und zeigte die letzte Episode am 13. Mai 2001. Die eigentliche Finalepisode, Geschichten von Interesse Nr. 2, wurde in die vierte Staffel verlegt. Deren Ausstrahlung begann am 9. Dezember 2001 mit der Episode Roswell gut – alles gut und endete am 21. April 2002 nach zwölf Episoden, von denen neun aus der dritten Produktionsstaffel stammen. Anfang 2002 wurde Fox’ Entscheidung bekannt, keine weiteren Episoden mehr anfertigen zu lassen. Die insgesamt 16 bisher nicht gesendeten Episoden, die für die dritte und vierte Staffel produziert worden waren, sendete Fox als fünfte Staffel in loser Folge zwischen dem 10. November 2002 und 10. August 2003.
Die Reihenfolge der Episoden wurde für die Ausstrahlung teilweise geändert, offenbar damit die Inhalte der jeweiligen Episoden zu kalendarischen Ereignissen an den Sendeterminen passten. So wurde beispielsweise die Episode Muttertag vorgezogen, sodass der Sendetermin auf Muttertag fiel. Die Reihenfolge, in der die synchronisierte deutsche Fassung erstmals ab dem 4. September 2000 beim Sender ProSieben lief, entspricht weder der Erstausstrahlung bei Fox noch der Produktion.
Die Serie wurde in über 20 Ländern ausgestrahlt; neben den Vereinigten Staaten und Kanada zählen dazu europäische, mittel- und südamerikanische Staaten, Israel, Russland, Australien, Neuseeland und Japan.
Senderwechsel
Ende 2002 erwarb Cartoon Network für 10 Millionen US-Dollar die exklusiven Ausstrahlungsrechte an Futurama für fünf Jahre, beginnend im Januar 2003. Der Sender nahm die Serie in sein Adult-Swim-Programm auf, das sich speziell an Erwachsene richtete. Adult Swim wurde im Frühjahr 2005 rechtlich in einen selbständigen Sender umgewandelt, teilte sich aber weiterhin einen Kanal mit Cartoon Network.
Die Wiederholungen bei Cartoon Network und Adult Swim erreichten gute Einschaltquoten, auch die mittlerweile veröffentlichten DVDs der ersten Staffeln verkauften sich gut. Und so sicherte sich Comedy Central bereits im Oktober 2005 die Rechte, Futurama ab 2008 für fünf Jahre wiederholen zu dürfen. Mit rund 400.000 US-Dollar für jede der bis dato produzierten 72 Episoden soll dies der teuerste Einkauf in der Geschichte des Senders gewesen sein.
Filme
Wegen der stabilen Einschaltquoten und guten DVD-Absatzzahlen hatte Comedy Central auch Interesse an neuen Episoden bekundet. 20th Century Fox kam auf einen Vorschlag zurück, den Matt Groening und David X. Cohen bereits Jahre zuvor unterbreitet hatten: die Serie durch sogenannte Direct-to-DVD-Produktionen fortzusetzen, also Material, das nicht erst im Fernsehen, sondern direkt für den Heimvideomarkt auf DVD veröffentlicht wird. Anders als von Groening und Cohen ursprünglich vorgeschlagen, sollte es jedoch nicht nur eine DVD, sondern mehrere geben, um kostendeckend arbeiten zu können. Comedy Central sicherte sich die Rechte, neues Material ausstrahlen zu dürfen, falls welches produziert werden sollte. Am 22. Juni 2006 gaben Matt Groening und 20th Century Fox Television bekannt, dass mindestens 13 neue Episoden erstellt werden, die zusammen mit den bisherigen Staffeln ab 2008 auf Comedy Central zu sehen sein sollten. Das Comeback von Futurama erfolgte schließlich in Form von vier Filmen in Spielfilmlänge und im 16:9-Format, die zunächst als Direct-to-DVD-Produktion veröffentlicht wurden und dann – aufgeteilt in insgesamt 16 jeweils rund halbstündige Folgen – als Fortsetzung der Fernsehserie in den USA auf Comedy Central ausgestrahlt wurden. Mit dieser Zahl war die Wiederaufnahme der Produktion finanziell aussichtsreich. Für einen Teil der Kosten kam Comedy Central auf, der Rest sollte durch den Verkauf der DVDs wieder eingenommen werden. Alle bisherigen englischen Synchronsprecher wurden für die neue Serie verpflichtet, sodass in den neuen Folgen die gewohnten Stimmen zu hören sind.
Bender’s Big Score
Der erste Film, Bender’s Big Score, wurde in den USA am 27. November 2007 und in Deutschland am 28. März 2008 auf DVD veröffentlicht. Aufgeteilt in vier Episoden war er am 30. März 2008 zum ersten Mal im Fernsehen zu sehen. Das Drehbuch verfasste Ken Keeler nach einer Geschichte von Keeler und David X. Cohen; diese hat ein offenes Ende und wird durch den nächsten Film weitererzählt. Das Werk ist die erste CO2-neutrale Produktion von 20th Century Fox. Es wurde mit einem Annie Award in der Kategorie Best Home Entertainment Production ausgezeichnet.
Die Ära des Tentakels
Der zweite der Filme, Die Ära des Tentakels, knüpft unmittelbar an die Ereignisse seines Vorgängers an. Er erschien am 24. Juni 2008 in den USA und am 12. September 2008 in Deutschland auf DVD. Die Fernseh-Premiere fand am 19. Oktober 2008 statt. Der englische Titel lautet The Beast with a Billion Backs und spielt auf die Redensart (wörtlich: „das Tier mit zwei Rücken“) an, die Geschlechtsverkehr umschreibt. Der Film gewann den Annie Award als Best Animated Home Entertainment Production.
Bender’s Game
Der dritte Film, Bender’s Game, wurde am 4. November 2008 in den USA gleichzeitig auf DVD und als hochauflösende Fassung auf Blu-ray veröffentlicht. In Deutschland kann die DVD seit dem 30. Januar 2009 gekauft werden; im Verleih ist der Film bereits seit dem 5. Dezember 2008.
Leela und die Enzyklopoden
Der vierte Film mit dem Originaltitel Into the Wild Green Yonder wurde erstmals am 6. Februar 2009 auf der New York Comic Con, einer sogenannten Convention für Comic-Fans, vorgestellt. Am 23. Februar 2009 erschien er in Großbritannien und tags darauf in den USA auf DVD und Blu-ray-Disc. In Deutschland ist er unter dem Titel Leela und die Enzyklopoden seit dem 27. März 2009 als Verleih-DVD und seit dem 9. April 2009 als Kauf-DVD erhältlich. Er gewann den Annie 2009 in der Kategorie Best Home Entertainment Production.
Wiederaufnahme der Serienproduktion
Nach Leela und die Enzyklopoden war die Zukunft von Futurama erneut ungewiss. Groening hatte mehrfach den Wunsch geäußert, die Serie in irgendeiner Form fortzusetzen, beispielsweise als Kinofilm. Am 9. Juni 2009 gab 20th Century Fox bekannt, dass Comedy Central die Serienproduktion für 26 neue Episoden wiederaufgenommen hat. Beide Unternehmen nennen die guten Verkaufszahlen der DVDs als einen
Grund für diese Entscheidung.
Am 24. Juni 2010 liefen schließlich die ersten beiden Folgen der sechsten Staffel bei Comedy Central. Der Zuschauerdurchschnitt lag bei 2,9 Millionen; hinter South Park war dies der beste Staffelauftakt einer eigenen Serie für Comedy Central.
Die Serie soll in Zukunft günstiger produziert werden, indem unter anderem das Autorenteam verkleinert wurde. Nach längeren Gehaltsverhandlungen und der Überlegung, neue Sprecher zu engagieren, konnten die Originalsprecher aller Hauptrollen wieder verpflichtet werden.
Im März 2011 gab Comedy Central bekannt, 26 weitere Episoden in Auftrag gegeben zu haben. Seiner Pressemeldung zufolge will der Sender je 13 Episoden im Sommer 2012 und im Sommer 2013 ausstrahlen.
Im April 2013 wurde schließlich erneut die Einstellung der Serie nach der Ausstrahlung der siebten Staffel bekanntgegeben. Die Zuschauerzahlen der Serie waren erneut gefallen: von durchschnittlich 2,6 Millionen Zuschauern im Jahr 2010, auf 2,3 Millionen ein Jahr später und 1,7 Millionen im Jahr 2012. Die Erstausstrahlung der letzten von insgesamt 140 Futurama-Episoden war in den USA am 4. September 2013 und in Deutschland am 20. Dezember 2014.
Im Jahr 2023 wurde die 11. Staffel veröffentlicht, die in deutscher Synchronisation auf Disney+ verfügbar ist.
Deutsche Synchronfassung
Die deutschsprachige Synchronfassung der ersten 72 Episoden entstand unter der Leitung von Ivar Combrinck beim Münchner Unternehmen Taurus Media Synchron. Dieses gehörte zur Kirch-Gruppe, der zu dieser Zeit auch der Sender ProSieben angehörte, bei dem die Synchronfassung erstmals zu sehen war. Ivar Combrinck war für die Übersetzung verantwortlich, führte Regie und sprach einige Rollen selbst. Seine Arbeit an Futurama stand unter erheblicher Kritik, vgl. Abschnitt Kritik an der deutschen Synchronfassung.
Nach dem Tode Combrincks während der zwischenzeitlichen Einstellung der Serie übernahm Dubbing Brothers Germany die Synchronisation der Direct-to-DVD-Produktionen. Die Synchronsprecher der wichtigsten Hauptrollen liehen den Figuren erneut ihre Stimme. Die Dialogbücher der ersten beiden Filme stammen von Hans-Peter Kaufmann, der bei Bender’s Big Score auch Regie führte und diese Aufgabe danach an Christian Schmidt-Golm weitergab. Die deutschen Dialoge zu Bender’s Game schrieb Carina Krause.
Von der sechsten bis zur siebten Staffel wurde die Serie bei der Arena Synchron in München vertont. Matthias von Stegmann verfasste die Dialogbücher und war auch für die Dialogregie verantwortlich.
Heimkino-Veröffentlichung
Für den Heimkinomarkt veröffentlichte 20th Century Fox Home Entertainment die Serie auf DVD, teilweise auch auf VHS, Blu-ray oder anderen Trägermedien.
Die einzelnen Staffeln der Serie erschienen in Boxsets. Bis zur vierten Staffel entsprechen die Boxen den Produktionsstaffeln, sie tragen im deutschen Sprachraum die Titel Season 1 bis Season 4. Die vier Filme sind – neben den Einzelveröffentlichungen – in einer Box mit dem Titel Futurama – The collected Epics erhältlich. Die Fernsehversion der Filme wurde für den Heimkinomarkt nicht als Staffel zusammengefasst, sodass die Zählung der DVD-Veröffentlichung danach mit Season 5 fortgesetzt wird. Gleichzeitig werden die Produktionsstaffeln wie bei der Erstausstrahlung in zwei kleinere aufgeteilt. Die sechste Produktionsstaffel wird damit beispielsweise in DVD-Boxen als Season 5 und Season 6 vertrieben.
Anmerkung
Am 17. Juni 2012 erschienen Neuausgaben der Boxsets der ersten vier Staffeln. Das geänderte Design der DVD-Boxen wurde angepasst an die DVD-Boxen ab Season 5.
Neben den Boxen mit einzelnen Staffeln wurden verschiedene Zusammenstellungen auf den Markt gebracht, die alle bis dahin ausgestrahlten Staffeln vereinen. Beispielsweise erschien am 20. Mai 2005 in Deutschland eine Box mit allen Folgen der ersten vier Produktionsstaffeln auf 15 DVDs. Dieselbe Zusammenstellung wurde in geänderter Verpackung ab dem 28. Januar 2009 als Die komplette Serie vermarktet. Unter demselben Titel bot 20th Century Fox in Deutschland ab dem 29. Oktober 2010 ein Set aus 19 DVDs an, das um die vier Filme erweitert war und wie Benders Kopf gestaltet ist.
Rezeption
Entwicklung der Zuschauerzahlen
Als die erste Futurama-Folge am 28. März 1999, einem Sonntag, ab 20:30 Uhr zwischen den Simpsons und Akte X bei Fox ausgestrahlt wurde, wurde sie von 19 Millionen Zuschauern gesehen. Damit lag die Einschaltquote vor der der Simpsons, was bis dahin keiner Fernsehsendung gelungen war. In der darauffolgenden Woche wurde die zweite Sendung von über 14 Millionen Zuschauern gesehen. Dann wurde die Serie von dem bisherigen Sendeplatz auf den Dienstagabend verlegt, woraufhin die Zuschauerzahlen auf 8,85 Millionen zurückgingen. Damit lag sie in den Nielsen Ratings zwar deutlich hinter den Simpsons, aber immer noch vor konkurrierenden Zeichentrickserien wie King of the Hill, Family Guy und South Park.
Im weiteren Verlauf wurde der Sendeplatz der Serie immer wieder verlegt; zusätzlich fielen Sendungen wegen der Übertragung von Sport-Ereignissen aus. Die Futurama-Macher Groening und Cohen sowie auch Kritiker sehen darin einen Hauptgrund für das Nachlassen der Zuschauerzahlen. Als Fox während der vierten Sendestaffel aufgrund der schlechten Quoten beschloss, keine weiteren Episoden in Auftrag zu geben, waren die Zuschauerzahlen auf 6,4 Millionen pro Folge gefallen.
Die Wiederholungen beim Sender Cartoon Network ab 2003 erzielten dagegen überraschend gute Einschaltquoten. Rund 2,1 Millionen Zuschauer je Episode wurden registriert.
In Deutschland entwickelten sich die Zuschauerzahlen stabil: Die Erstausstrahlung bei ProSieben erreichte, zusammen mit neuen Simpsons-Episoden, montags abends zwischen 21:15 und 22:15 Uhr einen Marktanteil von rund 13 Prozent, ein bei der Zielgruppe zufriedenstellender Wert. waren dagegen die Quoten des Comebacks mit der fünften Staffel. Als ProSieben am Sonntag, dem 19. September 2010, kurz nach 17 Uhr rund sechs Jahre nach der letzten Erstausstrahlung die erste neue Episode zeigte, schalteten nur 650.000 Zuschauer ein, was einem Marktanteil von 8,9 Prozent entspricht. Als direkt im Anschluss die erste Folge der Serie wiederholt wurde, stieg die Zuschauerzahl auf 820.000 an; der Marktanteil erreichte damit 11,0 Prozent.
Deutungen
Futurama wird in etlichen Analysen und Kritiken nicht als Entwurf einer möglichen oder erträumten Zukunft verstanden, sondern als satirisch verzerrte Darstellung der gegenwärtigen Verhältnisse. Science-Fiction sei nicht die Botschaft der Serie, sondern vielmehr das Medium, mithilfe dessen die Nachricht übermittelt werde. Deshalb würden die Bezüge auf die Jetztzeit des Zuschauers offen und mit hoher Deutlichkeit hergestellt; Institutionen, Orte und Personen des 20. und 21. Jahrhunderts seien für jeden Zuschauer ebenso leicht zu erkennen wie gesellschaftliche und politische Konzeptionen und Standpunkte. Die Serie wurde außerdem nach Aussage David X. Cohens anders als viele Science-Fiction-Werke nicht als trostlose Dystopie wie Blade Runner oder beschauliche Utopie wie Die Jetsons angelegt, sie sollte „irgendwo dazwischen sein, wie die echte Welt“. Soweit die Serie mit den Ängsten der Zuschauer spielt, wird sie in der Tradition großer Science-Fiction-Autoren wie H. G. Wells, Aldous Huxley, George Orwell und Isaac Asimov gesehen. Dennoch blieben dystopische Handlungselemente Randerscheinungen. Selbstmordzellen, Karriere-Chips und Mutanten spielten eine untergeordnete Rolle und das laut Matt Groening ganz bewusst: Es solle eine Alternative angeboten werden, Dementsprechend kommt auch das Wired Magazine zu dem Schluss, die hier entworfene Zukunft sei . So entsteht nach Analyse der New York Times ein Zukunftsbild aus dem Spannungsverhältnis zwischen . Damit ist der Grundstein gelegt für eine Sozialkritik, die die Themenbereiche Familie, Kommerz, Politik, Medien und Umweltverschmutzung umfasst.
Der Hauptfigur Fry, angelegt als Identifikationsfigur, wird dabei eine doppelte Sonderrolle zugeschrieben. Zum einen fungiere er, da ihm die Zukunft wie dem Zuschauer unbekannt sei, als erklärendes Element: Wenn dem Publikum ein neues Konzept vorgestellt werden müsse, könne es Fry erläutert werden, ohne den Fluss der Erzählung zu unterbrechen. Zum anderen amtiere er als Repräsentant des zwanzigsten Jahrhunderts, der die Wertvorstellungen der Gegenwart kritisiere, indem er sie am Zukunftsbild Futuramas misst.
Dem Werk wird zugeschrieben, das fortschreitende Aufbrechen klassischer Familienstrukturen zu thematisieren. Zentraler Handlungsort der Geschichte sei kein Kernfamilienhaushalt, sondern der Arbeitsplatz. Nachdem sich der traditionelle Familienbund der 1960er-Jahre-Sitcoms aufgelöst habe, bildeten die separierten Mitglieder hier eine Ersatzgemeinschaft. Besonders Frys Beziehung zu seinem einzigen noch lebenden Verwandten stelle herkömmliche Familienbilder auf den Kopf: Der alte Nachfahre werde zum Chef des jungen Vorfahren, und sie seien eher durch den Arbeitsplatz als durch ein Familiengefühl miteinander verbunden. Auch Leela und Bender fehlten familiäre Bindungen. Zwar würden Leelas Eltern ab der vierten Staffel gezeigt, sie hätten aber kaum Kontakt zur Tochter und lebten von ihr getrennt. Die Arbeit für einen Lieferservice erschwere es den Hauptfiguren zusätzlich, persönliche Beziehungen außerhalb der Arbeitswelt zu knüpfen, indem sie sie häufig auf weite Reisen schicke.
In Futurama wird eine schonungslose Kritik an der Kommerzialisierung des zwanzigsten Jahrhunderts und der Verquickung US-amerikanischer Politik mit der kapitalistischen Wirtschaft erkannt. Die Serie mache das Verschwinden radikaler politischer Ideen und die zunehmende Homogenisierung der etablierten Parteien für die stärker werdende Politikverdrossenheit verantwortlich. Als Beispiel wird die Episode Getrennt von Kopf und Körper angeführt, in der die Klone Jack Johnson und John Jackson mit einem identischen Wahlprogramm für die Präsidentschaft der Erde kandidieren. Futurama kritisiere außerdem die Rolle der Massenmedien innerhalb dieses Systems, allen voran das Fernsehen. Dieses übe einen größeren Einfluss aus als in der realen Welt, weil sich die Charaktere der Serie allein auf das Fernsehen als kompetenten Informationsvermittler verließen, anstatt beispielsweise zusätzlich Zeitungen zu lesen. Die Fernsehberichterstattung sei jedoch oberflächlich, reißerisch und tendenziös, ihre primären Interessen seien hohe Einschaltquoten und Manipulation. Durch Ähnlichkeiten mit real existierenden Formaten lasse sich die Kritik an Sendungen aus Futurama leicht auf die Gegenwart des Zuschauers beziehen. Dass Futurama selbst eine Fernsehsendung ist, werde dabei nicht außen vorgelassen. In beiden Welten nähmen Filme und Fernsehserien inzwischen den Stellenwert von Religionen ein. Einen Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum und kindlichem Fehlverhalten deute Futurama zwar an, stelle aber eine strikte Schuldzuweisung an das Medium in Frage. In diesem Zusammenhang wird auf die Episode Wer ist hier cool? verwiesen, in der die Kinder zwar Zeit mit Bender verbringen dürfen, ihm aber im Fernsehen wegen seiner Vorbildfunktion nicht zusehen sollen. Dies stelle eine Doppelmoral der Erwachsenen bloß, die zusätzlich kritisiert würden, zu wenig Zeit mit den Kindern zu verbringen.
Auch Fragen des Umweltschutzes räume die Serie eine besondere Bedeutung ein, neben Leela und die Enzyklopoden beschäftigen sich drei Folgen im Kern damit. In Müll macht erfinderisch und Die stinkende Medaille der Umweltverschmutzung werde gezeigt, dass die gegenwärtige Produktion von Abfall und Schadstoffemissionen langfristige Auswirkungen auf die Zukunft haben werde. Ein utopisches Element gebe dieser Kritik zusätzliches Gewicht: Durch umfassendes Recycling vermeidet Futuramas Zukunftsgesellschaft jeglichen Abfall. In Müll macht erfinderisch lässt sich die Zerstörung Neu New Yorks durch Müll aus dem zwanzigsten Jahrhundert jedoch nur verhindern, indem gezielt wieder Abfall erzeugt, der erreichte Fortschritt also gerade wieder aufgegeben wird. Als die Episoden geschrieben wurden, seien Umweltpolitik und Klimaschutz noch Themen gewesen, die in der öffentlichen Wahrnehmung nur einen geringen Stellenwert erreichten. Futurama wird zu den ersten Fernsehsendungen gezählt, die in den USA zur Hauptsendezeit Umweltverschmutzung und mangelhafte Umweltpolitik offen verurteilten.
Kritiken
Einige Kritikerstimmen
Kritiker im deutsch- und englischsprachigen Raum loben an Futurama häufig den bissigen, gesellschaftskritischen Humor und den intelligenten Witz. So nennt die US-amerikanische Fernsehzeitschrift TV Guide die Serie , der Nachrichtensender MSNBC bezeichnet sie als „intelligente Satire.“ Auch Der Spiegel bescheinigt ihr in seiner Online-Ausgabe, sie „war immer bekannt dafür, auf die leichten Kalauer zu verzichten und sich lieber dem feinen und hintergründigen Humor zu verschreiben.“
Besonders die hohe Dichte an Gags wird immer wieder erwähnt. Beispielsweise stellt das Kritiker-Magazin Entertainment Weekly nicht ohne rhetorische Übertreibung fest, . Gleiches gilt für die reichlich vorhandenen Referenzen in die Gegenwarts- und Medienkultur. Eine Autorin der Wochenzeitung Die Zeit schreibt hierzu: „Bis in die zeichnerischen Details hinein strotzt die Serie vor Anspielungen und Parodien auf die US-Kultur und Science-Fiction.“ Dabei stellen die Kritiker des Öfteren heraus, dass es sich dabei nicht nur um eine bloße Aneinanderreihung von Pointen in schneller Abfolge handelt, sondern dass sich der Humor auf mehreren Ebenen abspielt – augenscheinlich, unauffällig im Hintergrund oder gar verschlüsselt – und gerade daraus seinen besonderen Reiz gewinnt. Bereits der Pilotfilm, schreibt das Internet-Magazin Salon.com, sei , und in einem Artikel des Time Magazines wird Bender’s Big Score bezüglich des Detailreichtums mit Brueghel-Gemälden und MAD-Comics verglichen.
Weil beide Zeichentrickserien aus der Feder von Matt Groening stammen, werden oft Die Simpsons zum Vergleich herangezogen. So wird Futurama in der Online-Ausgabe der Zeit als „Nachfolgeserie“ der Simpsons bezeichnet. Eine Autorin der Welt kommt bei der Gegenüberstellung zu dem Schluss, Futurama sei „besser […] als die Simpsons“, und führt zur Begründung unter anderem die für Zeichentrickserien untypische Entwicklung der Figuren im Laufe der Episoden an; Futurama zeige „[…] eine Reihe von liebenswerten Charakteren, die sich im Laufe der Serie weiter entwickeln. Anders als bei den Simpsons bauen die einzelnen ‚Futurama‘-Folgen stärker aufeinander auf.“
Als Schwäche der Serie wird regelmäßig die starke Konzentration auf das Science-Fiction-Thema angeführt. Beispielsweise schreiben zwei andere Autoren der Tageszeitung Die Welt, ebenfalls im Vergleich mit den Simpsons: „Schließlich ist ‚Futurama‘ zwar die noch bessere Serie mit aufwendiger Computeranimation, digitalen Grafiken, extremen Kamerafahrten und dreidimensionaler Technik, aber Science-Fiction ist jedermanns Sache nicht.“ Der Spiegel schreibt in seiner Online-Ausgabe zu diesem Thema: „Eine intelligente, lustige Show – wie geschaffen für jeden Science-fiction-Nerd mit Affinität zum Comic. Die breite Masse zeigte sich jedoch ziemlich gleichgültig.“ In ähnlicher Weise urteilt das US-amerikanische Wired Magazine:
Kritik an der deutschen Synchronfassung
Einige Kritiker merken an, Futurama verliere in der deutschen Synchronfassung an Qualität, weil Übersetzungen fehlerhaft seien und weil Wortspiele aus dem Englischen nicht ins Deutsche übertragen werden könnten. Die Synchronisation steht über diese generelle Problematik der Synchronisation hinaus in der Kritik, weil manche Übersetzungsfehler so schwerwiegend und zugleich häufig unnötig seien, dass die Bedeutung der Aussagen im Deutschen vollständig verloren gehe. So wurde beispielsweise „Debugger“ mit „Entwanzer“ und „Cryogenics“ mit „Genetik“ übersetzt. Die Dialoge würden zudem oft streng Wort für Wort, aber nicht sinnerhaltend übersetzt. Einige Episodentitel enthielten im Englischen eine Anspielung auf bekannte Film- oder Buchtitel, die in den deutschen Titeln verloren gingen.
Zusätzlich würden einige Anspielungen, die im Original durch Akzentuierung ausgedrückt worden seien, in der deutschen Fassung nicht nachvollzogen. So fehlt in der deutschen Synchronisation beispielsweise Hermes Conrads jamaikanischer Akzent. Bei der Synchronisation der Filme wurde dies inzwischen berücksichtigt.
Auszeichnungen
Futurama war für eine Vielzahl von Preisen nominiert und hat einige Auszeichnungen erhalten.
Emmy
Für den Emmy wurde die Serie bisher zwölfmal nominiert, sechsmal davon erfolgreich. Mit sieben der Nominierungen war Futurama als beste Animationsserie (Outstanding Animated Program, ehemals Outstanding Animated Program (For Programming One Hour or Less)) vorgeschlagen; in dieser Kategorie wurde sie zweimal ausgezeichnet.
Annie
Futurama hat bisher sieben Annie Awards erhalten und war für 13 weitere nominiert. Abgesehen von je einer Auszeichnung für die Filme Bender’s Big Score, Die Ära des Tentakels und Leela und die Enzyklopoden wurde der Annie bisher nur für individuelle Leistungen an Einzelpersonen vergeben, obwohl die Serie bereits mehrfach als Gesamtwerk nominiert war, zuletzt als beste Animationsserie (Best Animated Television Production) im Jahr 2011 (Stand: 2012).
Außerdem wurde Matt Groening 2011 für sein Lebenswerk mit dem Winsor McCay Lifetime Achievement Award geehrt.
WGA
Die Writers Guild of America zeichnete Ken Keeler 2003 für sein Drehbuch zur Episode Der göttliche Bender mit dem WGA Award in der Kategorie Animation aus. Im Folgejahr blieb es für seinen Kollegen Patric M. Verrone und die Episode Der Stich bei einer Nominierung in derselben Kategorie. 2011 waren sowohl Keeler als auch Verrone nominiert; mit dem Drehbuch zur Episode Im Körper des Freundes gewann Keeler die Auszeichnung ein zweites Mal. 2012 war Eric Rogers für das Drehbuch zur Episode Das Schweigen der Klemmen nominiert, der Preis ging allerdings an die vierfach nominierten Die Simpsons.
Weitere Ehrungen
2004 war Autor David A. Goodman mit der Episode Der letzte Trekki für einen Nebula Award für das beste Drehbuch nominiert, die Ehrung wurde jedoch an die Drehbuchautoren von Der Herr der Ringe: Die zwei Türme vergeben.
Für die Aufarbeitung von ökologischen Themen wurde Futurama bereits zweimal mit dem Environmental Media Award geehrt, den die US-amerikanische Environmental Media Association seit 1991 für Filme oder Fernsehsendungen vergibt, die das Umweltbewusstsein fördern. Im Jahr 2000 wurde die Episode Kennen Sie die Popplers? ausgezeichnet, im Jahr 2012 die Folge Das Feiertagsspektakel.
Die britische Ausgabe des Internet-Bewertungsportals IGN wählte Futurama im Januar 2008 auf Platz 8 der Top 100 Animated TV-Series.
Wegen der vielen Auszeichnungen, die Futurama bislang erhalten hat, zeichnete das Guinness-Buch der Rekorde Futurama auf der San Diego Comic-Con International 2010 als gegenwärtig von Kritikern am besten bewertete Zeichentrickserie (Current Most Critically-Acclaimed Animated Series) aus.
Resonanz in der Gegenwartskultur
Matt Groenings Hauptwerk Die Simpsons – das sich kein Serienuniversum mit Futurama teilt – enthält einige Referenzen auf Futurama. In der Episode Der große Nachrichtenschwindel springt ein Teenager offensichtlich in Selbstmordabsicht einen Abgrund hinunter, wobei er schreit: Bender hat mehrere Gastauftritte in der Serie, den wohl markantesten in der Episode Future-Drama, deren Titel schon auf Futurama anspielt. Als Matt Groening in der Episode Hochzeit auf Klingonisch auftritt, wird er als der Schöpfer von Futurama vorgestellt; in der gleichen Rolle wird er von Homer Simpson in der Episode Die wilden 90er erwähnt. Die Episode Der unerschrockene Leibwächter zeigt ein Futurama-T-Shirt bei einer Science-Fiction-Convention.
Al Gores zweifach oscar-prämierter Umwelt-Dokumentarfilm Eine unbequeme Wahrheit verwendet einen Ausschnitt der Futurama-Episode Die stinkende Medaille der Umweltverschmutzung, um auf ungewöhnliche Weise zu erklären, was globale Erwärmung ist. Der Film wurde außerdem mit einem Zeichentrick-Spot namens A Terrifying Message from Al Gore beworben, in dem sich Bender mit dem Futurama-Alter-Ego Al Gores unterhält. Das Futurama-Team revanchierte sich damit bei Gore für mehrere Gastauftritte. Während die Stimmen der meisten Politiker in Futurama von der Stammbesetzung imitiert werden, hatte Gore, dessen Tochter Kristin Gore Cusack für Futurama arbeitete, sogar während seiner Amtszeit als Vizepräsident der Vereinigten Staaten seiner gezeichneten Version selbst die Stimme geliehen. Dies war das erste Mal, dass ein prominenter Politiker tatsächlich seinem Cartoon-Alter-Ego die Stimme geliehen hatte.
In Anspielung auf Frys Verschwinden im zwanzigsten Jahrhundert zeigt die animierte Stop-Motion-Serie The PJs Fry als vermisste Person auf einem Milchkarton – eine in den USA gängige Methode, die Suche nach vermissten Kindern zu unterstützen. Damit zeigten sich die Macher der PJs dafür erkenntlich, dass eine Werbung für ihre Serie auf den Kanaldeckeln in Futurama zu sehen ist.
In Comics und im Zeichentrick werden Futurama-Charaktere immer wieder durch kleine Gastauftritte geehrt. Beispielsweise ist Bender in der Family-Guy-Episode Blue Harvest, einer Hommage an Star Wars, trinkend in einer Bar zu sehen, und Dr. Zoidberg hat Gastrollen bei Daffy Duck in Looney Tunes sowie in einer Ausgabe der Action Comics. Auch das Magazin MAD hat Futurama mehrfach parodiert. Der oscar-prämierte animinerte Kurzfilm Logorama, der aus Logos zusammengesetzt ist, zeigt neben den Zeichen von rund 2500 Marken aus der echten Welt auch das Logo des Futurama-Softdrinks Slurm.
Ein Easter Egg im Webbrowser Firefox (ab Version 3) enthält eine Anspielung auf Benders Catchphrase (wörtlich: „Beiß in meinen glänzenden Metallarsch“): Wird in die Adresszeile about:robots eingegeben, wird eine scheinbare System-Meldung mit Anspielungen auf verschiedene Roboter in der Popkultur angezeigt. Die letzte lautet: (Deutsch wörtlich: „Roboter haben glänzende Metall-Hinterteile, die nicht gebissen werden sollten.“)
Adaptionen
Comics
Am 22. November 2000 erschien in den USA die erste Ausgabe der Futurama Comics bei Matt Groenings Comic-Verlag Bongo Comics. Mit Bill Morrison als Creative Director und Nathan Kane als Art Director fand Groening zwei bewährte Verantwortliche für die Comicreihe: Beide arbeiteten in dieser Aufgabenteilung schon für die Simpsons Comics, Morrison war außerdem als Art Director für den Erfolg der Futurama-Fernsehserie verantwortlich. Die Inhalte der Comics rankten sich um die Protagonisten der Fernsehserie. Sie erzählten neue Geschichten, die nicht von der Fernsehserie übernommen werden. Im Februar 2017 wurde der Comic eingestellt.
In Deutschland erschienen die Comics ab Oktober 2001 zunächst beim Dino Verlag. Anfang 2003 wurde dieser vom Panini Verlag übernommen, der die Serie fortsetzte. Die Bände erschienen vierteljährlich im Vierfarbdruck im Format 17,0 × 26,0 cm und sind 36 Seiten stark. Panini stellte die deutschsprachige Comic-Version im September 2015 mit Heft #59 ein. Ab Oktober 2002 war die Serie auch in Großbritannien, Irland und Australien erhältlich.
Videospiele
Unique Development Studios erwarb 2000 die Lizenz, Futurama-Videospiele für Computer, Konsolen und Handhelds zu entwickeln. Die Spiele sollten in Nordamerika von Fox Interactive und andernorts von Unique Development Studios vertrieben werden, letztlich übernahmen aber Sierra Entertainment und SCi Entertainment den Vertrieb des Spiels, das im August 2003 veröffentlicht wurde und als Name schlicht „Futurama“ trägt. Es ist für PlayStation 2 und Xbox erhältlich. Kritiker reagierten auf beide Versionen verhalten. Die Pläne für eine GameCube-Version wurden nicht realisiert. Für die grafische Darstellung des Spiels wird Cel Shading verwendet, um dem Aussehen der Fernsehserie nahezukommen. Die Figuren wurden – im englischen Original, wie in den deutschen, französischen, italienischen und spanischen Synchronfassungen – von den Sprechern der Fernseh-Pendants vertont. Der Spieler schlüpft am Schauplatz der Fernsehserie in die Rollen von Fry, Bender, Leela und Dr. Zoidberg. Ziel des Third-Person-Shooters ist, den Verkauf von Planet Express an die Monopolistin Mom zu verhindern, die andernfalls die Erde versklavt und zu einem gigantischen Schlachtschiff umbaut, um das Universum zu erobern. Die Zwischensequenzen des Spiels wurden von J. Stewart Burns verfasst, einem Autor der Serie, dessen Drehbuch für die Episode Roswell gut – alles gut mit dem Emmy ausgezeichnet wurde. Wer alle Zwischensequenzen freigespielt hat, kann sie sich hintereinander ansehen. Zusammengenommen entsprechen sie in Länge und Dramaturgie einer Futurama-Episode. Sie zählt unter dem Titel Futurama: The Lost Adventure als „73. Episode der Originalserie“, so David X. Cohen, zum Bonusmaterial der DVD Die Ära des Tentakels.
Im Sommer 2017 wurde für Android und IOS die App Futurama: Worlds of Tomorrow veröffentlicht.
Merchandise
Neben den Umsetzungen in verschiedenen Medien wurde eine Vielzahl unterschiedlicher Lizenzartikel zu Futurama veröffentlicht. Darunter finden sich Kleidungsstücke, Poster, Blechschilder, Kühlschrankmagneten, Kalender, Karten-, Würfel- und Brettspiele und diverse Sammel- und Spielfiguren. Erhältlich ist auch ein Energy-Drink mit dem Namen und Logo von Slurm.
Trivia
In der Folge Im Körper des Freundes der Episode 10 von Staffel 6 wird ein mathematischer Beweis geführt, der vormalig nicht publiziert war.
Literatur
Wissenschaftliche Arbeiten
Presse-Artikel (Auswahl)
Jörg Petersen/Thomas Höhl: Mit Futurama zurück in die Zukunft: Die Zeichentrickserie feiert Jubiläum, in: Alfonz 2/2014. S. 26–29.
Weblinks
Futurama bei Comedy Central (englisch)
Futurama bei ProSieben MAXX
Futurama-Area.de (deutsch) Fan-Portal mit aktuellen Informationen und einem angeschlossenen Wiki, der FuturamaPedia
The Infosphere (englisch) Umfangreiches Fan-Wiki, das aktuelle Informationen und z. B. Transkripte der einzelnen Episoden und Zusammenfassungen der Audiokommentare bereithält
Anmerkungen
Einzelnachweise
Fernsehserie (Vereinigte Staaten)
Comedy-Fernsehserie
Science-Fiction-Fernsehserie
Zeichentrickserie
Fernsehserie der 1990er Jahre
Fernsehserie der 2000er Jahre
Fernsehserie der 2010er Jahre
Fernsehserie der 2020er Jahre
Science-Fiction-Welt
Fernsehserie (Fox Broadcasting Company)
Comedy Central
Dystopie im Film |
63443 | https://de.wikipedia.org/wiki/Elsterwerda-Gr%C3%B6del-Flo%C3%9Fkanal | Elsterwerda-Grödel-Floßkanal | Der Elsterwerda-Grödel-Floßkanal ist eine im 18. Jahrhundert angelegte Wasserstraße, die die Pulsnitz in Elsterwerda mit der Elbe bei Grödel verbindet.
Ursprünglicher Zweck des in der Gegenwart vor allem zu Naherholungszwecken genutzten Kanals war es, den hohen Bedarf an Holz im Raum Dresden/Meißen aus den Wäldern in der Umgebung des damals noch zu Sachsen gehörenden Elsterwerda (heute brandenburgisch) zu decken. Sein Bau erfolgte auf persönliche Anordnung des sächsischen Kurfürsten. Später diente er bis zur Einstellung der Schifffahrt im Jahre 1942 in erster Linie als Transportweg für das Gröditzer Eisenwerk. Zum Transport wurden von Bomätschern gezogene Kähne eingesetzt. Ab den 1960er Jahren bis zur Wende wurde er als Bewässerungskanal genutzt.
Geografische Lage, Naturraum, Flora und Fauna
Der Elsterwerda-Grödel-Floßkanal befindet sich im östlichen Elbe-Elster-Gebiet. Beginnend an einem unmittelbar bei der Elbe gelegenen künstlich angelegten Bassin im sächsischen Grödel, verläuft der Kanal in nordöstliche Richtung durch die westliche Großenhainer Pflege bis in den Schraden zum Holzhof im brandenburgischen Elsterwerda.
Zwischen Pulsen und Gröditz kreuzt der Kanal die drei Mündungsarme der Großen Röder, von denen er gespeist wird. Im Bereich der Stadt Gröditz wurde der Kanal inzwischen auf etwa einem Kilometer Länge verfüllt, wodurch er sich heute in zwei Teilstücke gliedert. Während das südliche Teilstück in Gröditz über eine Rohrleitung in die Große Röder mündet, wird der nördliche Teil über eine weitere Rohrleitung aus der Großen Röder mit Wasser versorgt. In Elsterwerda gibt es eine Verbindung in die Pulsnitz, kurz bevor diese wenig später in die Schwarze Elster fließt.
Seine Breite liegt durchschnittlich bei etwa 7 bis 9 Metern. Die Länge beträgt 21,4 Kilometer, wovon 15,45 Kilometer auf sächsischen Territorium liegen. Auf der gesamten Strecke wurden sechs verbreiterte Ausweichstellen angelegt, an denen sich Lastkähne begegnen konnten. Er berührt in seinem Verlauf die Orte Glaubitz, Radewitz, Marksiedlitz, Streumen, Wülknitz, Koselitz, Tiefenau, Pulsen, Gröditz, Prösen und schließlich Elsterwerda. Dabei unterquert er unter anderem die Bahnstrecke Riesa–Dresden und die Bundesstraße 98 in Glaubitz, die Bundesstraße 169 in Prösen sowie in Elsterwerda die Bahnstrecke Berlin–Dresden.
In Elsterwerda befindet sich ein kleiner Abschnitt des Floßkanals im Gebiet des 484 Quadratkilometer umfassenden Naturparks Niederlausitzer Heidelandschaft, dessen Kernstück, das Naturschutzgebiet Forsthaus Prösa, einen der größten zusammenhängenden Traubeneichenwälder Mitteleuropas beherbergt. Der Kanal selbst besitzt einen reichen Fischbestand. Außerdem gibt es am Kanal Vorkommen des vom Aussterben bedrohten Elbebibers, einer seltenen Unterart des Europäischen Bibers. Des Weiteren bildet er Lebensraum und Brutgebiet verschiedener Wasservögel.
An Flora sind im Wasser zahlreiche Schwimm- und Tauchpflanzen, wie unter anderem Hornblatt, Tausendblatt, Wasser- und Teichlinsen, Teichrosen und Laichkräuter zu finden. In den Uferzonen konnten bisher neben dem stellenweise sehr reichlich vorhandenen Schilf auch Busch-Nelken, Alpen-Vermeinkraut und Lungenenzian nachgewiesen werden.
Name
Der Name des im Volksmund der Anliegergemeinden umgangssprachlich meist einfach nur Kanal genannten Gewässers war in der Vergangenheit und ist in der Gegenwart sehr variantenreich. In historischen Kartenwerken, Schriften und Dokumenten gibt es neben der Bezeichnung Elsterwerda-Grödel-Floßkanal eine ganze Reihe verschiedener Bezeichnungen für das Bauwerk.
Während der 1997 erschienene Jubiläumsband der Heimatvereine Elsterwerda und Gröditz unter dem Namen 250 Jahre Floßkanal Grödel-Elsterwerda herausgegeben wurde, nannte man das Gewässer 1912 im Neuen Archiv für sächsische Geschichte und Altertumskunde, einer Fachzeitschrift für sächsische Landesgeschichte, wiederum Floßkanal Elsterwerda – Grödel. In der im Jahre 1907 bei Perthes in Gotha erschienenen Karte des Deutschen Reiches und im Wiener Friedensvertrag von 1815 (Artikel 17) wird der Kanal als Elsterwerdaer-Floßgraben bezeichnet. Alfred Hettners Geographische Zeitschrift aus dem Jahre 1898 nennt ihn Grödel-Elsterwerdaer Floßkanal. Unter diesem Namen wird er auch im 2001 erschienenen Band 63 Der Schraden der Publikationsreihe Werte der deutschen Heimat beschrieben. Die Flussmeisterei Riesa nennt den Kanal noch in der Gegenwart so. Meyers Konversations-Lexikon von 1885 und die 1902 erschienenen Petermanns Geographische Mitteilungen beschrieben ihn mit Grödel-Elsterwerdaer Kanal.
Weitere gebräuchliche Varianten waren und sind unter anderem Floßkanal Grödel-Elsterwerda, Elsterwerda-Grödeler Floßkanal, Elbe-Elster-Floßkanal, Elster-Elbe-Canal, Elbe-Elster-Kanal und auch Floßkanal.
Historische Entwicklung und Nutzung des Floßkanals
Eine Residenzstadt braucht Holz
Unter dem sächsischen Kurfürsten Friedrich August I., auch August der Starke genannt, war im Raum Dresden/Meißen eine rege Bautätigkeit in Gang gekommen. August ließ seine Residenzstadt an der Elbe zu einer der prächtigsten Europas ausbauen. Neben der Dresdner Neustadt entstanden zahlreiche weitere Bauten und in Meißen die Porzellanmanufaktur. Des Weiteren verzeichnete die Stadt Dresden ein starkes Bevölkerungswachstum. Allein in den Jahren von 1648 bis 1699 stieg die Einwohnerzahl von 16.000 um ein Drittel auf 21.298. Bis zum Jahr 1755 sollte sie sich auf dann 63.209 Einwohnern noch einmal verdreifachen. Es gab deshalb einen stetig steigenden Bedarf an Holz. Da das Erzgebirge bereits weitgehend ausgebeutet und das böhmische Holz teuer war, besann man sich auf die riesigen Waldgebiete im Norden des Kurfürstentums. Hier lagen der südlich von Finsterwalde gelegene Grünhauser Forst, die Liebenwerdaer Heide, die Plessaer Heide und der Schradenwald. Diese befanden sich zwar zu einem Großteil in staatlichem Besitz, wurden bisher aber hauptsächlich zur Jagd genutzt und waren zu diesem Zeitpunkt deshalb weitgehend unberührt.
Durch dieses Gebiet flossen als größte Gewässer die Schwarze Elster und die Pulsnitz. Zwar war die Pulsnitz durch die Anlage des neuen Pulsnitzgrabens schon seit dem 16. Jahrhundert im unteren Verlauf zu Meliorationszwecken weitgehend begradigt worden, die Schwarze Elster aber floss in zahlreichen kleinen kurvenreichen Nebenarmen durch die Niederung. Ein geregelter Flößereibetrieb war hier deshalb erst unterhalb der Stadt Liebenwerda möglich, was es wiederum notwendig machte, das Holz mit insgesamt hohem Aufwand erst bis zur Elstermündung bei Jessen zu flößen und anschließend wieder die Elbe stromaufwärts zu transportieren.
Am besten geeignet, den begehrten Rohstoff auf kürzestem Weg in die Residenzstadt zu bringen, schien eine noch anzulegende Verbindung zwischen der Schwarzen Elster und der Elbe. Erste Planungen für das Projekt, die beiden Flüsse zu verbinden, wurden auf den persönlichen Befehl des Kurfürsten hin bereits im Jahre 1702 unternommen. Jedoch sollten die Vorplanungen und Untersuchungen noch mehrere Jahrzehnte in Anspruch nehmen.
Nach ersten Bauprüfungen eines Floßgrabens wurde einige Zeit später der sogenannte Hauptfloßgraben mit einer Länge von 26 Kilometern realisiert. Der Hauptfloßgraben wurde von drei Zuflüssen gespeist. Sie begannen in den südlich von Finsterwalde gelegenen Wäldern, beim inzwischen devastierten Ort Gohra, südlich von Lichterfeld und am Mahlenzteich bei Nehesdorf. Die Zuflüsse vereinigten sich anschließend bei Sorno. Von hier aus verlief der Hauptfloßgraben über Oppelhain quer durch die östliche Liebenwerdaer und die Plessaer Heide bis an die Schwarze Elster bei Plessa und weiter bis Elsterwerda. Dieses Bauvorhaben verlief relativ unkompliziert, denn die Baumeister hatten in der Vergangenheit schon bei ähnlichen Projekten in Sachsen Erfahrungen gesammelt. Der Floßgraben wurde schließlich bereits 1743 fertig gestellt und im darauf folgenden Jahr in Betrieb genommen.
Heikler wurde das Projekt im Abschnitt zwischen der Schwarzen Elster und Elbe. Der Wasserspiegel am geplanten Ausmündungsbereich in der Elbe lag höher als in Elsterwerda. In einfachen Floßgräben wurde das Holz aber in der Fließrichtung des Gewässers bewegt beziehungsweise getriftet. Deshalb musste stattdessen ein Kanal angelegt werden, der die Höhenunterschiede mittels Schleusen überwand. Erste Entwürfe dafür legte Ingenieur Johannes Müller, der mit den Voruntersuchungen beauftragt war, im Jahre 1727 vor. Wegen der zahlreichen Untersuchungen, Berechnungen und Prüfungen verschob sich der Baubeginn letztlich wieder um über ein Jahrzehnt, weil der Bau rentabel werden sollte. Außerdem gab es heftige Diskussionen über die Streckenführung; eine Linie von Prieschka nach Stehla war ebenfalls erwogen worden, stieß aber auf heftige Gegenwehr seitens nicht näher genannter einflussreicher Persönlichkeiten, die diese Strecke unter anderem für zu kostspielig hielten. Auch wurde die Streckenführung zwischen Elsterwerda und Grödel mehrmals verändert. Der Bau des Kanals begann schließlich erst, nachdem August der Starke im Jahre 1733 verstorben war, im Jahre 1742 unter dem Kurfürsten Friedrich August II.
Mit der Durchführung des Baus wurde Müller selbst beauftragt, der zuvor schon mit dem Bau des Hauptfloßgrabens betraut worden war. Die Fertigstellung des Kanals war für das Jahr 1744 vorgesehen. Die Ausführung stieß allerdings auf zahlreiche Hindernisse. Die Aushubarbeiten waren sehr aufwendig, ausreichend zuverlässige Arbeitskräfte zu finden erwies sich als schwierig, die Anbindung zur Elbe und die Prösener Schleuse machten Probleme. Wegen des ungünstigen Baugrundes – die Konstrukteure hatten dort vor allem mit Schwemmsand zu kämpfen – musste diese Schleuse mehrfach erneuert werden und erst im Jahre 1767 funktionierte sie zufriedenstellend. Auf die direkte Anbindung an die Elbe verzichtete man letztlich.
Nach sechs Jahren Bauzeit und nachdem er kurz zuvor geflutet worden war, passierten schließlich am 2. Dezember 1748 die zwei ersten von Bomätschern gezogenen Kähne in einer Probefahrt den fertiggestellten Kanal. Sie fand im Beisein einer staatlichen Kanalkommission und des inzwischen eingesetzten Floßmeisters Schubert statt und dauerte, mit einer Unterbrechung in Prösen, zwölf Stunden lang. Die Kosten für das Projekt beliefen sich auf insgesamt 65.437 Taler, merklich mehr als die ursprünglich für den Bau bewilligten 52.610 Taler. Hinzu kamen noch 5800 Taler für den Floßgraben.
Teilung des Kanals
Die Probleme an der Prösener Schleuse hielten an und der Kanal musste deshalb mehrmals außer Betrieb genommen werden. Doch die Versorgung mit Holz im Absatzgebiet verbesserte sich nach der Errichtung, weil auch das böhmische Holz nun billiger wurde.
Eine ganz andere Bedeutung bekam der Kanal zwei Jahrzehnte nach seiner Eröffnung. Bereits 1725 war unter Wirkung der Freifrau Benedicta Margaretha von Löwendal im Mückenberger Herrschaftsbereich ein Eisenwerk entstanden, das sogenannte Lauchhammerwerk. Damit legte sie den Grundstein für einen der ersten Industriebetriebe in der Region, der diese in der Folgezeit ganz erheblich prägen sollte. Die 1776 ohne direkte Nachkommen verstorbene Adlige vererbte ihren Besitz an ihr Patenkind Detlev Carl von Einsiedel, dem die etwa 20 Kilometer westlich gelegene Herrschaft Saathain gehörte. Dieser erkannte das wirtschaftliche Potential des Floßkanals und eröffnete 1779 im zu Saathain gehörigen Dorf Gröditz an der Röder ein weiteres Hammerwerk. Das für dessen Betrieb notwendige Wasser lieferte reichlich die Gröditz passierende Große Röder und das Werk erhielt dann auch bald die Konzession, den Kanal für den Transport von Gütern mitzunutzen.
Anfang des 19. Jahrhunderts erfassten die Napoleonischen Kriege Europa. Das seit 1806 bestehende Königreich Sachsen hatte an der Seite des Verlierers Napoleon gestanden. Infolge des Wiener Kongresses kam es deshalb 1815 zur Teilung Sachsens, es musste große Teile seines Staatsgebietes abtreten. Die neue Grenze verlief in der Region entlang der Straße von Mühlberg nach Ortrand. Die an der Straße gelegenen Gemeinden fielen dabei an Preußen. Nördlich von Gröditz querte sie den Verlauf des Floßkanals und teilte ihn in einen preußischen Abschnitt im Norden und einen etwas größeren sächsischen Abschnitt im Süden. Das Eisenwerk in Gröditz war nun von seinem Stammwerk in Mückenberg durch eine Staatsgrenze getrennt und Sachsen hatte keinen Zugriff mehr auf die Wälder nördlich des Kanals. Der für das Land verhandelnde Staatssekretär Detlev von Einsiedel erreichte zwar, dass im Wiener Friedensvertrag die freie Schifffahrt und das Flößen auf dem Kanal schriftlich vereinbart wurde, aber vor allem im kleineren preußischen Abschnitt verlor der Transportweg daraufhin weitgehend seine Bedeutung für den Gütertransport. Und bei der Einrichtung der den Kanal kreuzenden Preußischen Staatschaussee Nr. 62, die als Poststraße von Berlin nach Dresden dienen sollte, wurde dieser am Holzhof in Elsterwerda kurzerhand zugeschüttet. Im Jahre 1833 wurden die Holztransporte dann ganz eingestellt.
Erneuerung des Kanals und seiner Bauwerke
Bereits 1827 hatte der Graf von Einsiedel auf sächsischer Seite eine neue Konzession in Form eines Privilegs für die Nutzung des Kanals erwirken können. Als dieses Vorrecht reichlich dreißig Jahre später auslief, wurde der Kanal im Abschnitt Gröditz–Grödel 1861 für den allgemeinen Verkehr geöffnet. Inzwischen waren zahlreiche Reparatur- und Erneuerungsarbeiten notwendig geworden. Die politische Lage erlaubte es aber inzwischen, auch den nördlichen Abschnitt wieder in Betrieb zu nehmen, und so wurden von 1865 bis 1869 die Schleusen am Kanal erneuert beziehungsweise umgebaut, so dass er schließlich auf ganzer Länge wieder schiffbar wurde.
Nach dieser Wiederherstellung wurde der Kanal in Preußen ebenfalls für den allgemeinen Verkehr geöffnet. Am 8. April 1869 trat auf beiden Abschnitten eine neue Kanalordnung in Kraft. Zunächst brachte das auch den erwünschten Effekt und der auf dem Kanal erfolgende Gütertransport steigerte sich spürbar. Doch inzwischen hatte sich die Region stärker industrialisiert. Vor allem die zahlreichen neu entstehenden Braunkohlegruben brauchten schnelle und leistungsfähige Verkehrsverbindungen. Im Jahre 1875 wurden die Eisenbahnstrecken Berlin–Dresden und Elsterwerda–Riesa errichtet, die dem nachkamen. Während die Erstere den Kanal in Elsterwerda kreuzt, verläuft die Strecke in Richtung Riesa weitgehend parallel zum Kanal. Die Eisenbahn machte dem bisherigen Gütertransport auf dem Floßkanal erheblich Konkurrenz, und er büßte daraufhin bald deutlich an Bedeutung ein.
Als Hauptfunktion des Kanals verblieb letztlich die Bewirtschaftung des Gröditzer Stahlwerkes. Es wurde fast nur noch der sächsische Abschnitt befahren. Aus dem Stahlwerk kamen Bauschutt und Schlacke. Auf dem Rückweg erfolgten Sand- und Lehmtransporte. Diese Rohstoffe kamen meist aus zwischen Koselitz und Radewitz gelegenen Gruben, wofür eigens Feldbahnstrecken zum Kanal angelegt wurden, auf denen Kipploren verkehrten. Außerdem diente der Kanal noch als Sammelbassin für das im Werk benötigte Kühlwasser. Schon 1912 berichtete K. Mende in einem Aufsatz, der in der heimatkundlichen Beilage „Die Schwarze Elster“ zum „Liebenwerdaer Kreisblatt“ erschien: „Durch die Gröditzer Schleuse ist ein Querdamm gezogen, der das Röderwasser im elbwärtsgelegenen Kanalstück festhält.“ Während die Pulsener Schleuse zu diesem Zeitpunkt noch in Betrieb war, wurde der nördliche Abschnitt bereits kaum mehr genutzt. Zwischen Gröditz und Prösen war er fast ganz mit Schilf überwachsen.
Die Vision eines Elbe-Oder-Kanals
Trotz der Konkurrenz durch die Eisenbahn blieben Wasserstraßen als Transportwege auch weiterhin im Blickfeld. Schon kurz nach der Errichtung des Floßkanals wurden Pläne verfolgt, ihn bis zur Spree zu verlängern. Motiv dieser Gedankenspiele war wiederum die Holzbeschaffung. Die Behörden beauftragten deshalb 1754 abermals den bestens bewährten Johann Müller zu ersten Voruntersuchungen für das Vorhaben. Noch im selben Jahr reichte er seine ersten Pläne und Kartenskizzen für das Projekt ein. Allerdings lag den Plänen die Bemerkung „Ist ein weitausstehendes Projekt, das viel Gulden kosten wird.“ des Dresdner Oberfloßinspektors Fink bei, woraufhin sie nicht weiter verfolgt wurden.
Anfang des 20. Jahrhunderts griffen Fachleute die einstigen Ideen wieder auf. Es gab Pläne, einen Großschifffahrtskanal zu bauen, der die Elbe über die Schwarze Elster und die Spree mit der Oder verbinden sollte. Dieser war für Lastschiffe bis zu 1000 Tonnen, einer Länge von 80 Metern, einer Breite von 9,2 Metern und einem Tiefgang von 1,75 bis 2,00 Meter und darüber vorgesehen. In den in Erwägung gezogenen Varianten sollten auch Abschnitte des Elsterwerda-Grödel-Floßkanals und das Gebiet des Schradens mit einbezogen werden. Zwar wurde im Januar 1928 in Senftenberg, dessen Braunkohlenrevier vom Kanal mit am meisten profitiert hätte, ein Kanalbauamt eingerichtet, der Bau des Schifffahrtsweges kam aber letztlich nicht zustande und die Projekte kamen über das Planungsstadium bis zum Zweiten Weltkrieg nicht hinaus.
Das Ende als Verkehrsweg und der wirtschaftlichen Nutzung
Anfang der 1930er Jahre war das Stahlwerk so weit angewachsen, dass es notwendig wurde, seine Produktionsstätten über den Kanal hinweg zu erweitern. Deshalb wurde der ohnehin kaum genutzte Kanal im Werksbereich im Zeitraum 1934/35 kurzerhand verfüllt. In den Jahren 1940/41 erfolgte dies abermals. Und der letzte Lastkahn passierte den Kanal kurze Zeit später am 24. Juli 1942.
Damit endete die Nutzung als Verkehrsweg. Fortan führte er hauptsächlich den am Kanal gelegenen Industriebetrieben Wasser zu. Zwar gab es in den 1950er Jahren noch einmal sehr konkrete Pläne, einen Schifffahrtsweg unter Nutzung des Floßkanals bis zur Elbe zu errichten, die unter anderem auch vorsahen, am Gröditzer Stahlwerk einen Hafen anzulegen, jedoch wurde auch dieses Projekt zu den Akten gelegt.
Zur bisher letzten stärkeren Nutzung des Kanals kam es ab Ende der 1960er Jahre. Mit der Intensivierung der Landwirtschaft auf dem Gebiet der damaligen DDR diente der Kanal von der Elbe bis zum an der Kleinen Röder gelegenen Wehr noch einmal zur Bewässerung der angrenzenden Felder und Wiesen. Vom Kanal aus wurde das Wasser über riesige Beregnungsanlagen auf die umliegenden Felder ausgebracht. Die Rohrsysteme hatten insgesamt eine Länge von über 178 Kilometer. Gespeist wurden diese über am Kanal errichtete Pumpstationen. Über ein Grabensystem kam das Wasser außerdem bis in das westlich von Gröditz gelegene Spansberg, wo sich neben einem Speicherbecken weitere Pumpstationen befanden. In Grödel wurde das Wasser mit einer auf der Elbe schwimmenden, aus ungarischer Produktion stammender Pumpstation in das Bassin des Kanals gehoben. Es konnten bis zu 2,4 Kubikmeter pro Sekunde gefördert werden. Insgesamt wurden 5176 Hektar beregnet. 1989 wurden 6,2 Millionen Kubikmeter Wasser der Elbe entnommen; die maximale Tagesleistung betrug 113.200 Kubikmeter.
Mit dem wirtschaftlichen Umbruch in der Wendezeit fand am Anfang der 1990er Jahre auch diese Nutzung ein Ende, denn die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften lösten sich auf und für den mit hohem Aufwand an Arbeitskräften verbundenen Betrieb der riesigen Anlage fand sich kein Betreiber mehr.
Auswirkungen des Kanalbaus auf die Region
Der Bau des Kanals verbesserte die Verkehrsanbindung der Region erheblich. Auch wenn das Projekt ursprünglich kaum dafür gedacht war und es in sommerlichen Trockenzeiten des Öfteren Streit um das dann knappe Wasser der Röder gab, so profitierten doch am Ende auch die Anliegergemeinden und die gesamte Region. Denn für die Bewirtschaftung des Kanals wurden Arbeitskräfte benötigt und größere Mengen Material oder Kaufmannsgut konnten durch den nun vorhandenen Wasserweg schnell und einigermaßen kostengünstig transportiert werden. Von der Bevölkerung wurde der Kanal bald als Fischgewässer genutzt. Nachdem die Transporte auf dem Kanal zurückgegangen waren, wurde eine Fischereigenossenschaft gegründet, die ihn streckenweise parzellierte und verpachtete. Darüber hinaus diente er unter anderem auch noch als Pferdeschwemme, zur Eisernte und als Badestelle.
In Gröditz leitete die Anlage des Floßkanals die industrielle Entwicklung des Ortes ein. Die vormals nur aus einigen Häusern bestehende Gemeinde wuchs wie auch einige umliegende Gemeinden in erster Linie durch das sich hier ansiedelnde Stahlwerk, was weitere Industrieansiedlungen nach sich zog. Besaß Gröditz im Jahre 1836 erst 150 Einwohner, so waren es kurz vor der Errichtung der Eisenbahnstrecke Elsterwerda–Riesa schon 545. Das Wachstum der Gemeinde hielt weiter an und sie erhielt schließlich im Jahre 1967 das Stadtrecht. Für das darauf folgende Jahr 1968 sind in Gröditz 8100 Einwohner verzeichnet und die Bevölkerungszahl wuchs weiter bis zum Ende der 1980er Jahre bis auf über 10.000 Einwohner.
Nach dem Kanalbau entstanden der Ort Langenberg und der Ort Marksiedlitz wieder, welcher zuvor wüst gefallen war.
Die historische Infrastruktur des Kanals
Das am Floßkanal tätige Personal, wie zum Beispiel die auf den Holzhöfen Elsterwerda und Grödel beschäftigten Holzanweiser und -verwalter, die Schleusenzieher und die Bomätscher, unterstand dem Floßmeister. Diesem wiederum waren der Oberfloßkommissar, der Oberfloßinspektor und der Floßdirektor übergeordnet. Nach der Teilung Sachsens beziehungsweise nach Inkrafttreten der neuen Kanalordnung am 1. Mai 1869 oblag die Oberaufsicht im sächsischen Abschnitt dem Wasserbauinspektor in Riesa und im preußischen Bereich dem Bauinspektor in Herzberg. Diese hatten zudem für die Einhaltung der Kanalordnung zu sorgen, die unter anderem Kanalzins, Schleusengebühren, Schiffsabmessungen festlegte.
Das Stammholz kam hauptsächlich über verschiedene Gräben, wie den Hauptfloßgraben, die Pulsnitz sowie über die Schwarze Elster durch den Schraden zunächst zum Holzhof in Elsterwerda. Hier wurde es zwischengelagert, in Scheite gespalten und auf die Kähne geladen, die anschließend bis zu ihrem Bestimmungsort, zunächst meist dem Holzhof in Grödel, getreidelt wurden. Auf dem Grödeler Holzhof wurde die Fracht abermals zwischengelagert oder auf die auf der Elbe verkehrenden Schiffe und Kähne umgeladen.
Die eigens für den Holztransport gebauten Kähne wurden von einer fünfköpfigen Mannschaft, einem Steuermann und vier Schiffsziehern, auf dem Kanal getreidelt. Sie besaßen ein Fassungsvermögen von etwa 200 Raummetern Holz, waren 26 Meter lang und etwa 3,25 Meter breit. Ihr Tiefgang lag bei 0,95 Metern. Bei der späteren Nutzung des Wasserweges für Stück- und Schüttgut kamen andere Bauformen zum Einsatz, die ein Fassungsvermögen von etwa 25 Tonnen besaßen. Diese waren nur etwa 19 Meter lang. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden für die Transporte auch Motorschiffe genutzt.
Den Kanal, für dessen Betrieb eine Wassertiefe von etwa 1,50 Meter notwendig war, speisten die drei Mündungsarme der Großen Röder – die Große Röder selbst, die Kleine Röder und die Geißlitz. Die Kleine Röder mit dem höchsten Wasserspiegel unter den dreien versorgte die Scheitelhaltung des Kanals.
Im nördlichen Teil übernahm diese Funktion zunächst auch die Pulsnitz, was allerdings weitere Probleme bei der Entwässerung der ohnehin schon sumpfigen Pulsnitzniederung im Schraden bereitete, so dass hier bald die Errichtung einer vierten Schleuse notwendig wurde. Diese Probleme gab es auch in dem Bereich, in dem der Kanal die Röder kreuzte. Hier behalf man sich ursprünglich mit drei Entwässerungsgräben für das Gelände, die mittels Düker unter dem Kanal hindurch geführt wurden, so dass keine Pumpen erforderlich waren.
Die Höhenunterschiede zwischen der Pulsnitz beziehungsweise der Schwarzen Elster und der Elbe wurden zunächst mittels dreier in Holzbauweise errichteter Kammerschleusen überwunden, der Schleuse Prösen (2,80 m), der Schleuse Gröditz (2,25 m) und der Schleuse Pulsen (0,65 m) angelegt wurden. Infolge der andauernden Probleme an der Schleuse in Prösen wurde diese 1755 in Stein ausgeführt und in den Jahren 1766/67 abermals erneuert. Eine vierte Schleuse, die Schleuse Elsterwerda kam 1766 hinzu. Die Kammerschleusen besaßen eine nutzbare Länge von 42,70 Meter. Sie waren 8,70 Meter breit, die Schleusenöffnungen an beiden Seiten 5,70 Meter. Eine Schleusung dauerte in der Regel 12 Minuten.
Ursprünglich war geplant, den Kanal mittels einer Doppelschleuse zur Elbe hin anzubinden, so dass die Kanalkähne als Kähne auf der Elbe hätten weiterfahren können. Gegner der Strecke Prieschka–Stehla hatten unter anderem befürchtet, dass die Schleusen bei den regelmäßig auftretenden Überschwemmungen des Flusses stark in Mitleidenschaft gezogen würden. Tatsächlich trat an der Baustelle in Grödel das vorhergesagte Problem auf. Ungewöhnlich starke Eisfahrten und ein Dammbruch bei Nünchritz richteten in der Erbauungszeit große Schäden an und sorgten für Mehrkosten. Letztlich erschienen die bautechnischen Schwierigkeiten derart gravierend, dass man den Schleusenbau nicht ausführte; stattdessen legte man unmittelbar an der Elbe ein Bassin an.
Gegenwärtige Nutzung zu Naherholungszwecken
Der Floßkanal besitzt seit 1978 den Status eines Baudenkmals. Wasserwirtschaftlich ist er kaum noch von Bedeutung. Er dient heute meist der Naherholung und als Angelgewässer. Für die Gewässerunterhaltung des Kanals ist in Sachsen die Flussmeisterei Riesa verantwortlich, die im Bereich der Pulsener Schleuse auch einen Betriebshof unterhält. Hier ist er ein Gewässer I. Ordnung. In Brandenburg, wo er zur II. Ordnung gehört, ist der Gewässerverband Kleine Elster – Pulsnitz zuständig.
Auf dem Gelände des Elsterwerdaer Holzhofes befindet sich inzwischen die traditionsreichste Sportstätte der Kleinstadt. Nachdem er bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum beliebten Ausflugsziel wurde, entstanden hier im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts mehrere Sportanlagen, die in der Folgezeit umfangreich erweitert und ausgebaut wurden.
Um einen historischen Einblick in die Geschichte des Kanals zu erhalten, wurden 1993 an der Schleuse in Prösen Rekonstruktionsarbeiten durchgeführt und die hölzernen Schleusentore wieder errichtet. Sie waren zuvor wie bei allen anderen schon lange nicht mehr vorhanden. In unmittelbarer Nähe lag einst das 1954 wegen Baufälligkeit abgerissene Prösener Schleusenwärterhaus. An seinem ursprünglichen Standort befindet sich heute eine gastronomische Einrichtung. 2001 entstand deshalb unweit der Schleuse der Nachbau des hiesigen Schleusenwärterhäuschens, in dessen Nachbarschaft für längere Zeit eine Ausstellung zur Historie des „Floßkanals“ mit zwei Nachbauten der hier verkehrenden Lastkähne sowie einigen Schautafeln zu sehen war.
Parallel zum Kanal verlaufen mehrere streckenweise unterbrochene Radwege, zum Teil auf dem Damm. Touristisch erschlossen sind die Wege mit der Floßkanalroute, einem Radwanderweg, der den Elberadweg von Grödel aus mit dem Schwarze-Elster-Radweg verbindet. Auf einigen Uferkilometern des Gewässers ist noch der frühere Treidelpfad zu erkennen. Weitere noch wahrnehmbare Relikte der Kanalgeschichte sind verbreiterte Teilstücke für die Begegnung von Kähnen, die Überreste der Schleusen in Elsterwerda und Pulsen sowie in Grödel zwei Gewölbebrücken aus der Entstehungszeit des Kanals. Stellenweise sind auch noch die Fundamente der einst am Kanal entlangführenden Überlandleitung zu sehen, die als erste Hochspannungsleitung mit einer Betriebsspannung von über 100 kV in Europa gilt. An der sächsisch-brandenburgischen Grenze steht ein historischer Grenzstein.
Weitere Sehenswürdigkeiten in der Umgebung sind unter anderem das Elsterwerdaer Schloss, die Koselitzer Teiche, der Barockgarten Tiefenau mit einer erhaltenen Schlosskirche und der Gutspark in Grödel. Außerdem sind bei Glaubitz, Streumen und Zeithain vier landschaftsprägende Obelisken aus Sandstein erhalten geblieben, die im 18. Jahrhundert das Terrain des Zeithainer Lustlagers markierten.
Siehe auch
Liste der Kulturdenkmale des Grödel-Elsterwerdaer Floßkanals
Veröffentlichungen und Medien
Literatur (Auswahl)
Arbeitsgemeinschaft für Heimatkunde e. V. Bad Liebenwerda (Hrsg.): Heimatkalender-Für das Land zwischen Elbe und Elster. Nr. 54, Gräser Verlag, Großenhain 2001, ISBN 3-932913-22-1 (Beitrag von Werner Galle und Ottmar Gottschlich: Der Elsterwerdaer Holzhof, S. 83–88)
Herbert Flügel: Zur Baugeschichte des Floßkanals Elsterwerda – Grödel in: Sächsische Heimatblätter, Heft 2/1987, S. 72–77
Heimatverein Elsterwerda und Umgebung e. V., Heimatverein zur Erforschung der sächsischen Stahlwerke-Gröditzer Stahlwerke GmbH (Hrsg.): 250 Jahre Floßkanal Grödel-Elsterwerda 1748–1998, Lampertswalde 1997.
Institut für Länderkunde Leipzig, Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig (Hrsg.): Der Schraden. Eine landeskundliche Bestandsaufnahme im Raum Elsterwerda, Lauchhammer, Hirschfeld und Ortrand, Landschaften in Deutschland – Werte der deutschen Heimat Bd. 63, Böhlau, Köln u. a. 2001, ISBN 3-412-10900-2.
Eberhard Matthes, Werner Galle: Elsterwerda in alten Ansichten. 2. Aufl., Europäische Bibliothek, Zaltbommel (Niederlande) 1993, ISBN 90-288-5344-8
Gerhard Richter: 250 Jahre Floßkanal Grödel–Elsterwerda in: Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz e. V., Heft 3/1997, S. 49–54.
Günter Krieg: Streifzüge durch die Niederlausitz und das Elbe-Elsterland., Band 19. Der Grödel-Elsterwerdaer-Floßkanal zwischen Elbe und Elster. Selbstverlag Günter Krieg, Doberlug-Kirchhain 2003, .
Dokumentationen (Film)
Hans-Georg Wosseng: Die Regenmacher von Wülknitz – Leute verändern ihr Land – das Land verändert seine Leute, Fernsehdokumentation im Auftrag des DFF über das Meliorationsobjekt im Riesaer Kanalgebiet, Produktion: DEFA-Studio für Kurzfilme, Babelsberg, 1977
Weblinks
Internetauftritt des Elbe-Röder-Dreieck e. V, Verein zur Förderung der regionalen Entwicklung in der Region Elbe-Röder-Dreieck.
Internetauftritt der Stadt Elsterwerda
Internetauftritt der Gemeinde Röderland
Fußnoten und Einzelnachweise
Kanal in Brandenburg
Kanal in Europa
Gewässer im Landkreis Elbe-Elster
Gewässer im Landkreis Meißen
Baudenkmal in Elsterwerda
Schraden (Landschaft)
Landschaftsschutzgebiet in Sachsen
Kanal in Sachsen
KElsterwerdaGrodelFlosskanal
Erbaut in den 1740er Jahren
Geographie (Elbe-Elster-Land)
Floßgraben
Verkehrsbauwerk im Landkreis Elbe-Elster
Bauwerk im Elbe-Elster-Land
Verkehrsbauwerk im Landkreis Meißen
Geographie (Nünchritz)
Geographie (Elsterwerda)
Bauwerk in Elsterwerda
Schutzgebiet (Umwelt- und Naturschutz) in Europa
Geographie (Röderland)
Bauwerk in Röderland
Verkehrsbauwerk in Europa |
73513 | https://de.wikipedia.org/wiki/Warenhaus%20GUM | Warenhaus GUM | Das Warenhaus GUM (, Transkription Torgowy Dom GUM; abgekürzt von , Glawny uniwersalny magasin, zu Deutsch Hauptwarenhaus) ist ein ehemaliges Warenhaus und heute ein Einkaufszentrum in der russischen Hauptstadt Moskau. Mit einer Fläche von rund 75.000 m² und einer über 100-jährigen Geschichte ist es eines der bekanntesten Handelsunternehmen und war nach alter Konzeption das größte Warenhaus Europas.
Das Gebäude des GUM befindet sich im Herzen Moskaus am Roten Platz, gegenüber dem Lenin-Mausoleum und dem Kreml. Es wurde 1893 nach Entwürfen von Alexander Pomeranzew und Wladimir Schuchow als Obere Handelsreihen (Верхние торговые ряды, Werchnije torgowyje rjady) errichtet und stellt heute ein wichtiges Denkmal der historistischen russischen Architektur des späten 19. Jahrhunderts dar. Zu Sowjetzeiten jahrzehntelang geschlossen und später als Staatliches Warenhaus (Государственный универсальный магазин, Gossudarstwenny uniwersalny magasin) geführt, weist das GUM zudem eine recht wechselvolle Geschichte auf.
Allgemeines
Das Warenhaus GUM befindet sich am westlichen Rand des alten Geschäftsviertels Kitai-Gorod im Zentralen Verwaltungsbezirk Moskaus, unmittelbar im historischen Kern der Stadt. Das Gebäude des Warenhauses nimmt ein annähernd rechteckiges Areal zwischen dem Roten Platz, der Nikolskaja-Straße, der Wetoschny-Gasse und der Iljinka-Straße ein und verfügt über zehn Eingänge an allen vier Seiten des Gebäudes. In unmittelbarer Nähe des GUM befinden sich unter anderem die Basilius-Kathedrale, die Metro-Station Ploschtschad Rewoljuzii sowie die Moskworezki-Brücke über die Moskwa.
Der 250 Meter lange und 88 Meter breite Innenraum des Gebäudes beherbergt auf drei Etagen rund 200 separate, unterschiedlich große Ladenlokale entlang dreier glasbedachter Längspassagen (auch Linien genannt) und dreier Querpassagen sowie der über ihnen beidseitig gelegenen, durch Brücken miteinander verbundenen Galerien in den beiden Obergeschossen. Von der Funktionsweise her ist das GUM daher kein typisches Warenhaus mehr, sondern vielmehr ein Einkaufszentrum. Dennoch wird es auch heute noch üblicherweise Warenhaus genannt, da sich diese Bezeichnung seit den Sowjetzeiten, wo der Handel einheitlich in staatlicher Hand war, fest eingebürgert hat. Insgesamt beträgt die Verkaufsfläche des GUM etwa 35.000 m² bei einer Gesamtfläche von 75.000 m². Die durchschnittliche Besucherzahl beläuft sich gegenwärtig auf etwa 30.000 Kunden täglich.
Das GUM-Gebäude befindet sich im Eigentum der Stadt Moskau und wird seit 1990 von der im selben Jahr gegründeten Aktiengesellschaft Warenhaus GUM betrieben, die Pachtrechte am Gebäude bis 2042 besitzt. 75 Prozent der GUM-Aktien werden gegenwärtig von der russischen Modehaus-Kette Bosco di Ciliegi gehalten, der Rest befindet sich im Streubesitz. Bis 2005 betrieb die Gesellschaft neben dem GUM zusätzlich die Warenhauskette Stilny Gorod sowie einige ehemals staatliche Geschäfte in Moskau. Der Reingewinn der Betreibergesellschaft betrug im Jahre 2006 rund 27,7 Millionen US-Dollar bei einem Umsatz von 97,2 Millionen Dollar.
Aufgrund der zentralen Lage des Hauses und der daraus resultierenden hohen Mieten für die Lokale richtet sich das Angebot der meisten Geschäfte heute vorwiegend an zahlungskräftige Kunden. Dies gilt insbesondere für die Läden in den Passagen des Erdgeschosses, bei denen es sich meist um vornehme Boutiquen und Fachgeschäfte für teure Markenkleidung und -schuhe sowie Juweliersalons handelt. Auch mehrere namhafte deutsche Hersteller sind mit ihren Firmengeschäften im GUM vertreten, darunter adidas, Hugo Boss, Puma und Salamander. Etwas preiswerter ist die dritte Etage des Hauses, die neben einigen Geschäften mittlerer Preisklasse auch mehrere Gastronomiebetriebe, darunter ein russisches Fastfood-Restaurant, beherbergt. Darüber hinaus finden sich im GUM heute unter anderem Parfümeriehandlungen, Souvenir-, Spielzeug- und Haushaltswarenläden sowie Computer- und Multimediahandlungen.
Architektur
Das GUM-Gebäude wurde in den Jahren 1890 bis 1893 nach einem Entwurf des Architekten Alexander Pomeranzew (1849–1918) unter Mitwirkung des Ingenieurs Wladimir Schuchow (1853–1939) erbaut. Insgesamt wird das Gebäude dem sogenannten neo- oder pseudorussischen Stil zugeordnet, einer Stilrichtung des Historismus, für die eine Mischung aus russisch-traditionalistischer Baukunst des 15. und 16. Jahrhunderts mit neoklassizistischen, westeuropäischen Elementen typisch ist.
Der altrussische Einfluss ist vor allem an den Fassaden des Gebäudes zu sehen, die Pomeranzew in Anknüpfung an die Architektur der umliegenden Viertel, darunter die des Kremls und des benachbarten Historischen Museums, entwarf. Hierfür typisch sind insbesondere die großen, stilistisch an russisch-orthodoxe Kirchengebäude angelehnten Bogenfenster, die beiden spitzen Türme im Mittelbereich des Gebäudes, die an einige der Kreml-Türme erinnern, sowie im Stile des Terem-Palastes und ähnlicher vornehmer Wohngebäude des 16. Jahrhunderts geformte Dachabschnitte. Allerdings lassen sich an den GUM-Fassaden zusätzlich einige Elemente der europäischen Renaissance erkennen, wie etwa die zahlreichen Ornamente im Bereich der Fenster sowie arkadenähnliche Portale an den Eingängen. Auch dies ist für Pomeranzews Schaffen charakteristisch, da er von 1879 bis 1887 im europäischen Ausland – darunter in Italien – lebte und praktizierte und sich dabei von der dortigen Architektur inspirieren ließ. Für das gesamte Gebäude wurden bei dessen Errichtung etwa 40 Millionen Backsteine verwendet. Die Außenwände erhielten eine Verkleidung aus Granit, Marmor und Kalkstein. Am aufwändigsten wurde die Fassade zum Roten Platz hin gestaltet, in deren Mitte sich der zentrale Warenhauseingang befindet: Die erste Etage ist hier mit Marmor aus Tarussa verkleidet, wodurch die Fassade in ihrem unteren Bereich heller erscheint als im mittleren und im oberen, und mit einem massiven Gesims von den beiden Obergeschossen abgegrenzt.
Im Gegensatz zu den Fassaden, die vornehmlich an die Traditionen altrussischer Baukunst anknüpfen, wurde der Innenraum des GUM in einem für Ende des 19. Jahrhunderts sehr modernen, an die europäische Architektur angelehnten Stil geschaffen und mit zahlreichen Stahl- und Glaselementen versehen. Für die damalige Zeit einzigartig und auch heute noch markant sind die transparenten, konkav geformten Dachkonstruktionen über den drei Längspassagen mit jeweils 15 m Spannweite und 250 m Länge. Sie entstanden nach dem Entwurf Wladimir Schuchows, der hierfür rund 60.000 Glasscheiben verwendete, die von Metallelementen mit einem Gesamtgewicht von 833 Tonnen getragen werden. Eine ähnliche Konstruktion konzipierte Schuchow einige Jahre später auch für den Kiewer Bahnhof und eine Reihe anderer öffentlicher Gebäude in Moskau.
Die Etagen des Gebäudes wurden durch seitlich angelegte Treppenhäuser verbunden, die erst Anfang der 2000er-Jahre im Zuge der Gebäudesanierungsarbeiten durch Fahrtreppen an den Querpassagen ergänzt wurden. Die Galerien an den beiden Obergeschossen sind durch Stahlbetonbrücken miteinander verbunden, die nach einem Entwurf des Ingenieurs Arthur Loleit (1868–1933) beim Bau des Warenhauses errichtet worden sind. Im Kellergeschoss des Gebäudes befinden sich unter anderem Lagerräume sowie Besuchertoiletten.
Ein weiteres markantes Bauwerk im Inneren des GUM ist der Springbrunnen, der sich im Mittelpunkt des Gebäudes, am Kreuzungspunkt der beiden mittleren Längs- und Querpassagen befindet. Er wurde dort wenige Jahre nach der Eröffnung des Warenhauses aufgestellt und besaß ursprünglich ein kreisförmiges Becken, das jedoch im Zuge des Umbaus 1953 durch ein achteckiges Becken aus rotem Quarzit ersetzt wurde. Den Mittelpunkt des Brunnens bildet eine pilzförmige bronzene Konstruktion, deren Spitze bis auf das Höhenniveau des ersten Obergeschosses reicht. Gestützt wird der Springbrunnen durch spezielle Metallpfeiler, die sich genau unter ihm im Untergeschoss befinden. Genau über dem Gebäudemittelpunkt mit dem Springbrunnen nimmt die Glasdachkonstruktion eine Kuppelform an. Der Springbrunnen dient bis heute vielen Moskauern als Treffpunkt für Verabredungen.
Geschichte
Die Oberen Handelsreihen bis zum 19. Jahrhundert
Wie aus diversen Urkunden der damaligen Zeit hervorgeht, waren die Viertel unmittelbar östlich des Roten Platzes bereits vor dem 17. Jahrhundert vom Handel geprägt. Auch auf dem Platz selbst, der schon damals den zentralen Platz der Stadt darstellte, waren vielfach Verkaufsstände aufgestellt. Stellenweise reichten sie bis an die Mauern des Kreml, welcher noch bis Anfang des 18. Jahrhunderts Zarenresidenz war. Mit der Bevölkerungszunahme Moskaus im späten 18. Jahrhundert dehnte sich auch der Straßenhandel im Herzen der Stadt immer weiter aus; in der zweiten Jahrhunderthälfte glich bereits das gesamte Gelände zwischen dem Roten Platz und den östlich hieran angrenzenden Straßen einem riesigen Marktplatz. Dabei hatte sich für das unmittelbar an den Roten Platz angrenzende, auf einer Anhöhe liegende Areal die Bezeichnung Obere Handelsreihen (russisch , Werchnije torgowyje rjady) eingebürgert, während die Marktplätze der beiden am Hang zum Moskwa-Ufer hinunter gelegenen Viertel östlich der Basilius-Kathedrale dementsprechend Mittlere bzw. Untere Handelsreihen genannt wurden. Einige Straßennamen – so die Fischgasse (russ. , Rybnyi pereulok) oder die Bleikristallgasse (, Chrustalnyi pereulok) – erinnern bis heute an die Zeit, als im Bereich des Roten Platzes ausschließlich Straßenhandel betrieben wurde und sich für bestimmte Waren – neben Fisch und Bleikristall beispielsweise Gemüse, Butter, Gold, Silber oder Seide – eigene Marktreihen bildeten.
Erste Bestrebungen, die ungeordneten Handelsaktivitäten rund um den Roten Platz unter ein Dach zu bringen, gab es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In den 1780er-Jahren gelang es einigen besonders einflussreichen Moskauer Kaufleuten, eine Genehmigung des Zaren für die Errichtung eines zweistöckigen backsteinernen Bauwerkes östlich des Roten Platzes zu erwirken, damit dieser vom regen Handelstreiben, das auch die Zufahrt in den Kreml behinderte, entlastet werden konnte. Einige Jahre später entstand mit dem Handelsgebäude, das unverändert die Bezeichnung Obere Handelsreihen erhielt und hinter seiner Fassade unzählige Verkaufsbuden vereinigte, der erste Vorläufer des heutigen GUM. Ungefähr zeitgleich ließen die Händler auch an den Mittleren Handelsreihen einen ähnlichen Komplex errichten. Die Konzeption beider Häuser wird dem renommierten Architekten Giacomo Quarenghi zugeschrieben, einem Exil-Italiener, der vor allem in Sankt Petersburg mehrere bis heute bekannte Bauwerke, darunter das Smolny-Institut, entwarf.
Die neu errichteten Handelshäuser überdauerten jedoch nicht lange. Obwohl sie nicht aus Holz, wie im damaligen Moskau üblich, sondern aus Backstein errichtet worden waren, brannten sie 1812 fast vollständig aus, als einige Stadtbewohner große Teile Moskaus beim Anrücken französischer Truppen im Krieg gegen Napoléon in Brand gesetzt hatten. Nach dem Krieg blühte der Handel jedoch schnell wieder auf und die Handelsreihen mussten wieder neu errichtet werden. Mit dem Wiederaufbau war der Architekt Joseph Bové beauftragt, der, wie sein Vorgänger, italienische Wurzeln hatte und vor allem durch seine entscheidende Rolle beim Wiederaufbau Moskaus nach dem Großbrand 1812 Bekanntheit erlangte. In den Jahren 1814 bis 1815 wurden die Oberen Handelsreihen nach seinem Entwurf im Empire-Stil an ihrem alten Standort wieder hergerichtet und sollten von nun an für die nächsten Jahrzehnte den Mittelpunkt des Moskauer Handels darstellen. Auch dieser zweite GUM-Vorläufer bestand im Wesentlichen aus den repräsentativen Fassaden, die in ihrem Inneren sehr zahlreiche und größtenteils recht chaotisch angeordnete Ladenhäuschen beherbergte. Wie die Oberen Handelsreihen damals von außen ausgesehen haben müssen, kann man bis heute an dem sehr ähnlich konzipierten ehemaligen Gebäude der Mittleren Handelsreihen relativ gut nachvollziehen, das schräg gegenüber dem heutigen GUM an der Iljinka-Straße steht (Lage: ) und heutzutage als Ausstellungshalle genutzt wird. Die arkadenähnlichen Portale, die sich entlang aller vier Fassaden des Gebäudes reihenweise erstrecken, dienten im 19. Jahrhundert als Eingänge zu den einzelnen Läden, die sich dahinter befanden.
Weder die nunmehr massive Bauweise der Oberen Handelsreihen noch das Renommee ihres Architekten konnten allerdings darüber hinwegtäuschen, dass das Gebäude bereits wenige Jahre nach seiner Fertigstellung bauliche Mängel aufwies. Diese führten immer öfter dazu, dass bei starken Regenfällen Wasser in das Hausinnere eindrang und unzureichend abgedeckte Ware beschädigte. Da die einzelnen Verkaufsstände verschiedensten Eigentümern gehörten, war es äußerst schwierig, eine grundlegende Sanierung des Gebäudes zu koordinieren. Bereits gegen Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Reihen in einem derart schlechten Zustand, dass eine Renovierung zwecklos erschien und das Gebäude nur noch notdürftig instand gehalten werden konnte. Die Rufe nach einem Abriss wurden in der Bevölkerung immer lauter, so dass schließlich 1869 auch der Moskauer Generalgouverneur einen Neubau forderte.
Allerdings war es zunächst sehr schwierig, die Eigentümer der Läden von der Notwendigkeit des Abrisses zu überzeugen; viele von ihnen fürchteten um ihre Existenz und leisteten zunächst massiven Widerstand gegen die Schließungspläne. Erst in den 1880er-Jahren bahnte sich ein Fortschritt an, nachdem ein angesehener Kaufmann vorgeschlagen hatte, an der Stelle der alten Reihen einen neuen, dreistöckigen Gebäudekomplex nach zeitgemäßen baulichen Standards errichten zu lassen, von dessen Bau auch die Alteigentümer profitieren würden. Da sich der Handel im Herzen Moskaus schon seit längerem als eine sehr lukrative Angelegenheit erwies, sollte es laut Plänen auch kein Problem darstellen, ausreichend Geldgeber, sprich Aktionäre, für das Bauvorhaben zu finden. Und so wurde am 10. Mai 1888 eine neue Aktiengesellschaft gegründet, die den Namen Gesellschaft der Oberen Handelsreihen am Roten Platz in Moskau erhielt.
Von der Ausschreibung bis zur Eröffnung
In den ersten Monaten nach der Gründung der Gesellschaft wurden die Aktien ausgegeben, wobei ein bestimmter Teil davon an die Alteigentümer der Handelsreihen gemäß ihrem jeweiligen Anteil am alten Gebäude verteilt wurde. Die übrigen Aktien gab es zu einem Stückpreis von 100 Rubel zu erwerben. Der Verkauf ging ausgesprochen gut voran: Bereits in den ersten Tagen konnten rund zehn Millionen Rubel gesammelt werden. Nachdem genügend Kapital zur Verfügung stand, schrieb die Gesellschaft am 15. November 1888 einen Architekturwettbewerb um die neuen Handelsreihen aus. Nahezu zeitgleich wurde das alte Handelshaus geschlossen und alsbald mit den Abrissarbeiten begonnen.
Bei der Ausschreibung legte die Handelsreihengesellschaft besonders großen Wert auf einen fairen und neutralen Wettbewerb. Um Absprachen, Bevorteilungen und ähnliche Vorkommnisse zu verhindern, wurde der Wettbewerb anonym durchgeführt; die Namen der teilnehmenden Architekten blieben bis zur Verkündung des Ergebnisses streng geheim und waren der Jury nicht zugänglich. Insgesamt wurden 23 Entwürfe eingereicht. Nach deren Begutachtung durch die Jury gab diese am 21. Februar 1889 ihre Entscheidung bekannt: Den mit 6000 Rubeln dotierten ersten Preis erhielt der von Alexander Pomeranzew und Wladimir Schuchow eingesandte Entwurf. Pomeranzew war Architekturprofessor an der Petersburger Kunstakademie und damit schon damals eine durchaus angesehene Person in russischen Architekturkreisen, während der junge Ingenieur Schuchow zu der Zeit noch völlig unbekannt war – seine berühmtesten Bauwerke wie der Moskauer Radioturm entstanden erst Jahrzehnte später. Die Experten lobten das Projekt Pomeranzews und Schuchows als, so wörtlich, „rational und wirtschaftlich“ und gleichzeitig architektonisch sehr gut harmonierend mit dem altrussischen Ensemble rund um den Moskauer Kreml. Den an der Gesellschaft beteiligten Kaufleuten gefiel an dem Entwurf insbesondere die von Wladimir Schuchow konzipierte gläserne Überdachung der Passagen, die an ähnliche, damals gerade in Mode kommende Handelspassagen in europäischen Metropolen wie Mailand, Paris oder Wien stilistisch anknüpfte. In Russland war eine solche Konstruktion bis dahin noch völlig unbekannt.
Die drei prämierten Entwürfe gingen schließlich nach Sankt Petersburg zur Begutachtung durch den Zaren Alexander III. Dieser lobte die Entscheidung der Jury und erließ daraufhin die Baugenehmigung für die neuen Handelsreihen. Die feierliche Grundsteinlegung, der nahezu die gesamte Moskauer Prominenz einschließlich des Generalgouverneurs beiwohnte, erfolgte am 21. Mai 1890. Schon in seinem Entwurf hatte Pomeranzew die Kosten und Dauer der Bauarbeiten punktgenau errechnet. Eine speziell für diesen Zweck eingerichtete Kommission überwachte die Bauarbeiten während ihres gesamten dreijährigen Verlaufs, insbesondere die Einhaltung des vorgegebenen Zeit- und Kostenrahmens sowie die statische Beschaffenheit des entstehenden Gebäudes und die Qualität der verwendeten Baumaterialien, die von namhaften russischen Herstellern geliefert wurden. Auch auf die Qualität der Arbeitskräfte wurde viel Wert gelegt: Bei der Anwerbung von Handwerkern aus anderen Regionen des Russischen Reichs fand stets der Ruf des jeweiligen Berufsstandes in der Region Berücksichtigung. Die Moskauer Öffentlichkeit verfolgte indes die Bauarbeiten aufmerksam; die Zeitungen berichteten fast täglich vom Bau, und selbst im europäischen Ausland fand die Moskauer Baustelle mit ihren riesigen Ausmaßen Erwähnung in den Printmedien. Rund zwei Jahre nach dem Baubeginn war das Gebäude bis auf die Innenausstattung fertig und konnte von seinen Anteilseignern betreten und besichtigt werden. Im Herbst 1893 wurden schließlich die Handelsreihen fertiggestellt und am 2. Dezember desselben Jahres mit einer feierlichen Zeremonie eingeweiht.
Die Blütezeit
Die Eröffnung des neuen Handelshauses im Herzen Moskaus war ein Großereignis, das auch über die Grenzen des Russischen Reichs hinaus auf Resonanz stieß. Neben dem neuartigen Glasdach, durch das viel Tageslicht in den Innenraum des Gebäudes eindrang, verfügten die neuen Handelsreihen über eine für die damalige Zeit sehr moderne Innenausstattung, die unter anderem eine Zentralheizung, mehrere elektrisch betriebene Lastenaufzüge – zu jener Zeit ebenfalls ein absolutes Novum – und sogar ein hausinternes Kraftwerk zur Stromversorgung im Kellergeschoss beinhaltete. Nach Sonnenuntergang beleuchteten rund 7000 elektrische Glühlampen die Passagen.
Binnen weniger Tage wurden die Oberen Handelsreihen zu einem Publikumsmagneten und einer touristischen Attraktion des damals bereits fast eine Million Einwohner zählenden Moskaus. Selbst wer sich einen Einkauf dort nicht leisten konnte, kam dorthin, um sich das neue Warenhaus der Superlative anzuschauen. Die Passagen im Erdgeschoss waren wie eine überdachte Flaniermeile, an der es auch im Winter sommerlich warm war.
Vor allem aber kamen hier wohlhabende Bürger auf ihre Kosten. Die Angebotspalette der ursprünglich fast 350 Läden, die sich auf vier Ebenen einschließlich des Kellergeschosses verteilten, reichte von Süßigkeiten und Feinkost über diverse in- und ausländische Parfümerieerzeugnisse, Modeartikel, Pelze, Armbanduhren und edlen Schmuck bis hin zu Möbeln und Sanitärtechnik. Erstmals in Russland kamen in den Handelsreihen Preisschilder zum Einsatz und leiteten damit den Übergang zu einer völlig neuen Handelskultur ein, die sich vom bis dahin üblichen Feilschen im Straßenhandel und kleineren Läden abhob. Die namhaftesten russischen und ausländischen Erzeuger präsentierten hier ihre Waren und boten sie mit viel Werbeaufwand zum Verkauf an, was sich trotz extrem hoher Mieten für die Ladenlokale (insbesondere für jene im Erdgeschoss) letztlich auszahlte. Neben fast allen möglichen Waren konnten die Kunden der Handelsreihen auf ein breites Angebot an begleitenden Dienstleistungen zurückgreifen, darunter Gepäckträger für den Transport gekaufter Ware, mehrere Gastronomiebetriebe, eine Bankfiliale, ein Postamt, einen Friseursalon und sogar eine Zahnarztpraxis. Das Obergeschoss des Warenhauses beherbergte zudem eine Veranstaltungshalle, in der gelegentlich Konzerte und Kunstausstellungen stattfanden.
Über zwanzig Jahre lang, von ihrer Eröffnung bis zum Ende des Zarenreiches, waren die Oberen Handelsreihen Mittelpunkt des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens Moskaus und galten aufgrund ihres umfassenden, qualitativ hochwertigen Sortiments und des für die damalige Zeit vorbildlichen Services als eines der besten Warenhäuser weltweit. Aus diesem Grund waren sie Anziehungspunkt für Millionen Besucher aus Russland und von außerhalb.
Nach der Revolution
Wenige Monate nach der Oktoberrevolution 1917 und der Machtergreifung der Bolschewiki begannen die neuen Machthaber, die Oberen Handelsreihen zu nationalisieren. Die Läden im Gebäude schlossen einer nach dem anderen, da selbst für kleinere Ladenbesitzer, die von der Zwangsenteignung zunächst verschont blieben, der Handel in den zunehmend leer werdenden Reihen nicht mehr lohnend war. Eine Vielzahl frei gewordener Ladenlokale nutzte die Staatsmacht indes als Räumlichkeiten für neu gebildete Ministerien und andere staatliche Einrichtungen; so wurde eine ehemals vornehme Parfümeriehandlung zum Sitz des Volkskommissariates für Nahrungsmittelverteilung.
1921 lebte der bis dahin fast vollständig zum Erliegen gekommene Handel in den Oberen Reihen für einige Jahre wieder auf, als die von Lenin initiierte Neue Ökonomische Politik privat betriebenen Handel erlaubte. Zur gleichen Zeit erhielt das Warenhaus seinen heutigen Namen GUM, der allerdings damals und während der gesamten Zeit des Sozialismus für Gosudarstwenny Uniwersalny Magasin (), also Staatliches Warenhaus, stand. Auch war das Sortiment des GUM in den 1920er-Jahren bei weitem nicht so reichhaltig und vornehm wie vor der Revolution; es beschränkte sich im Wesentlichen auf Alltagsgegenstände sowie propagandistischen Bedarf wie etwa rote Fahnen oder Porträts der sowjetischen Staatsmänner.
Mit dem Ende der Neuen Ökonomischen Politik Anfang der 1930er Jahre war jedoch endgültig Schluss mit dem Handel im GUM. Die Läden wurden geräumt und durch eine Reihe weiterer Staatsorganisationen belegt; zu diesem Zweck wurden viele ehemalige Ladenlokale umgebaut und zusammengelegt, um größere Räumlichkeiten zu schaffen. So entstanden in den 1930er Jahren im Gebäude unter anderem eine Kantine, eine Druckerei und sogar mehrere Gemeinschaftswohnungen (sogenannte Kommunalkas), wobei letztere dort noch bis in die 1960er-Jahre überdauerten. Den Namen GUM behielt das Gebäude auch in dieser Zeit, obwohl es offiziell gar kein Warenhaus mehr war.
Von den deutschen Bombardements Moskaus im Zweiten Weltkrieg weitgehend verschont geblieben, war das GUM Ende der 1940er-Jahre dennoch einige Jahre lang vom Abriss bedroht, nachdem führende sowjetische Architekten jener Zeit im Auftrag Stalins einen Plan für eine riesige Skulptur zum Gedenken an den Sieg über Deutschland erarbeitet hatten. Da diese unmittelbar im Herzen der Hauptstadt stehen sollte, also am Roten Platz, der Platz selbst aber für Militärparaden und feierliche Demonstrationen frei bleiben sollte, war in diesem Plan die endgültige Schließung und der Abriss des Warenhauses vorgesehen. Kurz nach Stalins Tod 1953 wurde jedoch nicht nur der Abrissplan verworfen, sondern auch vom Ministerrat der UdSSR beschlossen, das GUM als Warenhaus wieder zu eröffnen. Dies geschah mündlichen Überlieferungen zufolge auf Initiative des Parteifunktionärs und späteren Staatschefs Nikita Chruschtschow, der das GUM als Vorzeige-Warenhaus wiederbeleben wollte. Sogleich begann die Renovierung des Gebäudes und der Umbau des Innenraums, bei dem unter anderem eine Vielzahl kleinerer Ladenzellen zu großen Hallen zusammengelegt wurde. Die Umbauarbeiten gingen recht schnell voran, so dass bereits am 24. Dezember 1953 die Wiedereröffnung des Hauses erfolgen konnte.
Von der Wiedereröffnung bis heute
Seinen Ruf als das Vorzeigewarenhaus des Landes behielt das GUM von der Wiedereröffnung bis zum Zerfall der Sowjetunion praktisch unangefochten. Während der für sozialistische Staaten typische Warenmangel noch bis Anfang der 1990er-Jahre dafür sorgte, dass in gewöhnlichen Läden, Kaufhallen und Warenhäusern des Sowjetreichs nur ein äußerst dürftiges Angebot an Konsumgütern vorzufinden war, existierte im GUM zur gleichen Zeit eine geheime, für die Öffentlichkeit nicht zugängliche Abteilung, in der sich hochrangige Staatsbedienstete und ihre Angehörigen mit hochwertiger, teilweise aus dem Westen importierter Kleidung und anderen sogenannten Defizitwaren versorgen konnten. Überschüssige Bestände kamen dabei immer wieder, zur Freude der einfachen Konsumenten, in die allgemein zugänglichen Abteilungen. Dies wiederum führte dazu, dass sich jeden Morgen, noch Stunden vor der Öffnung, vor den GUM-Eingängen lange Warteschlangen bildeten, da sich viele einfache Bürger – oft aus anderen Städten der Sowjetunion extra angereist – dabei erhofften, die eine oder andere Mangelware zu ergattern. Dass sich solche Szenen ausgerechnet im Herzen der sowjetischen Hauptstadt abspielten, gleich gegenüber dem Kreml und dem Lenin-Mausoleum, war insbesondere konservativ gesinnten Staatsmännern immer wieder ein Dorn im Auge und führte in den späten 1970er-Jahren sogar erneut zu Schließungs- und Abrissplänen für das Warenhaus. Laut einer modernen Sage hat das GUM damals seinen Erhalt nur der persönlichen Einmischung des Staatschefs Leonid Breschnew zu verdanken, dessen Ehefrau Viktoria Stammkundin einer dortigen Schneiderei war.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die darauffolgende Privatisierung des Staatseigentums in Russland leiteten für das GUM neue Zeiten ein. Bereits im Dezember 1990, zur Zeit der Perestroika, erfolgte die Gründung der Betreiber-Aktiengesellschaft Warenhaus GUM. Die vormals staatlich betriebene Verkaufsfläche des Warenhauses wurde nach und nach an diverse private Einzelhandelsunternehmen vermietet. Der Name wurde den neuen Gegebenheiten angepasst: Die alte, gewohnte Abkürzung GUM blieb zwar, steht seit 1990 jedoch für Glawny Uniwersalny Magasin (russ. ), also Hauptwarenhaus statt bisher Staatliches Warenhaus. Im Juni 1993 feierte das nunmehr privatisierte Warenhaus sein 100-jähriges Bestehen mit einem mehrtägigen Volksfest und einem im Stil des späten 19. Jahrhunderts inszenierten feierlichen Umzug am Roten Platz. Wenig später wurde der zentrale GUM-Eingang vom Roten Platz aus nach rund 40 Jahren wiedereröffnet. Zu Sowjetzeiten war er für die Öffentlichkeit geschlossen, da die Staatsmacht damit verhindern wollte, dass sich Gedränge und Warteschlangen direkt am Roten Platz bildeten und das Erscheinungsbild des sowjetischen Staates in den Augen ausländischer Touristen verschlechterten.
Im darauffolgenden Jahrzehnt machte das GUM eine Entwicklung vom ehemals sozialistisch geprägten Warenhaus zu einem vornehmen Einkaufstempel durch. Auch das Gebäude selbst wurde von Ende der 1990er- bis Mitte der 2000er-Jahre umfassend renoviert und seine Innenausstattung erneuert. Neben der Installation von Fahrtreppen und Behindertenaufzügen sowie der Sanierung des Springbrunnens entstanden im zuvor ausschließlich für Büroräume genutzten zweiten Obergeschoss Ladenpassagen. Geplant ist außerdem ein Umbau des Kellergeschosses für dessen künftige Nutzung als Verkaufsfläche.
Das GUM in der Kunst
Das Warenhaus GUM war 1963 einer der Schauplätze und Drehorte des bekannten sowjetischen Spielfilms Zwischenlandung in Moskau (auch: Ich schreite durch Moskau, russ. ) mit dem damals 18-jährigen Nikita Michalkow. In einer Szene sucht er dort als junger Arbeiter Kolja zusammen mit seinem Freund Sascha, der demnächst heiratet, ein neues Jackett für ihn aus. Auch in einem Lied des berühmten sowjetischen Dichters Wladimir Wyssozki findet das GUM Erwähnung: Ein Kolchosbauer, der in Moskau auf Dienstreise ist, schreibt seiner Frau im Dorf, er gehe nun ins GUM – „das ist wie bei uns die Scheune, nur mit Glas“ – um ein Kleid für sie zu kaufen, „… denn du kannst mir zu langweilig werden, mit deinem Schafspelz und dem grauen Kleid mit verblichenen Mustern“.
Film
Die großen Traumkaufhäuser – GUM, Moskau. Dokumentarfilm, Deutschland, 2017, 52:30 Min., Buch und Regie: Inga Wolfram, Produktion: Telekult, rbb, arte, Reihe: Die großen Traumkaufhäuser, Erstsendung: 11. Juni 2017 bei arte, Inhaltsangabe von ARD, mit vielen Archivaufnahmen.
Literatur
Rainer Graefe: Vladimir G. Šuchov 1853–1939. Die Kunst der sparsamen Konstruktion. DVA, Stuttgart 1990, ISBN 3-421-02984-9, S. 154.
William Craft Brumfield: The Origins of Modernism in Russian Architecture. University of California Press, Berkeley 1991, ISBN 0-585-32903-6, S. 20–28.
Polina Efimovych: . In: Portfelnyj Investor, Nr. 1 / 2007, S. 42–46.
Irina Paltusova: Krupnejšij passaž Rossii. In: Mir Muzeja, Nr. 6 / 1993, , S. 14–20.
Anatoli Rubinow: Istorija trëch moskovskich magazinov. Magazin na Krasnoj ploščadi. Nowoe Literaturnoe Obozrenie, Moskau 2007, ISBN 5-86793-519-1, S. 103–243.
Weblinks
GUM.ru – Offizielle Seite (russisch, chinesisch, englisch)
(russisch)
Deutsche Seiten zum GUM
GUM–Warenhaus in Moskau. In: poezdka.de
Ein Stück russische Geschichte. Das GUM in Moskau. In: arte, 11. Juni 2017.
Bilder, Videos
Fotogalerie auf Russland aktuell
Video: Über die Dachkonstruktionen des GUM von Wladimir Schuchow
Einzelnachweise
Einkaufszentrum in Russland
Kaufhaus
Einzelhandelsunternehmen (Russland)
Bauwerk des Historismus in Moskau
Unternehmen (Moskau)
Roter Platz
Erbaut in den 1890er Jahren |
76424 | https://de.wikipedia.org/wiki/Haager%20Landkriegsordnung | Haager Landkriegsordnung | Die Haager Landkriegsordnung (HLKO) ist die Anlage zu dem während der ersten Friedenskonferenz in Den Haag beschlossenen zweiten Haager Abkommen von 1899 „betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“, das 1907 im Rahmen der Nachfolgekonferenz als viertes Haager Abkommen in leicht geänderter Fassung erneut angenommen wurde. Sie ist das wichtigste der im Rahmen dieser Konferenzen entstandenen Haager Abkommen und damit neben den Genfer Konventionen ein wesentlicher Teil des humanitären Völkerrechts. Die Haager Landkriegsordnung enthält für den Kriegsfall Festlegungen zur Definition von Kombattanten, zum Umgang mit Kriegsgefangenen, zu Beschränkungen bei der Wahl der Mittel zur Kriegsführung, zur Verschonung bestimmter Gebäude und Einrichtungen von sozialer und gesellschaftlicher Bedeutung, zum Umgang mit Spionen, für Kapitulationen und Waffenstillstandsvereinbarungen sowie zum Verhalten einer Besatzungsmacht in einem besetzten Territorium. Zum Umgang mit verletzten und erkrankten Soldaten verweist die Haager Landkriegsordnung auf die erste Genfer Konvention in den Fassungen von 1864 beziehungsweise 1906.
Der Haupttext des zugehörigen Abkommens umfasst fünf (1899) beziehungsweise neun (1907) Artikel, in denen neben anderen verfahrensrechtlichen Aspekten die Anwendbarkeit sowie die Umsetzung reguliert sind. Die Haager Landkriegsordnung als Anlage dazu ist mit 60 (1899) beziehungsweise 56 (1907) Artikeln deutlich umfangreicher und enthält die Festlegungen zu den Gesetzen und Gebräuchen des Landkrieges. Vertragspartei der Fassung von 1899 wurden 51 Staaten, der Fassung von 1907 traten 38 Staaten bei. Insgesamt sind 53 Länder mindestens einer der beiden Fassungen beigetreten. Depositar aller Haager Abkommen sind die Niederlande.
Die Haager Landkriegsordnung ist für die Vertragsparteien und ihre Nachfolgestaaten in den Beziehungen untereinander weiterhin gültiges Vertragsrecht. Ihre Prinzipien gelten darüber hinaus seit einigen Jahrzehnten als Völkergewohnheitsrecht. Sie sind damit auch für Staaten und nichtstaatliche Konfliktparteien bindend, die dem Abkommen nicht explizit beigetreten sind. Darüber hinaus sind wesentliche Teile der Haager Landkriegsordnung in den später abgeschlossenen vier Genfer Abkommen von 1949, ihren zwei Zusatzprotokollen von 1977 sowie der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten von 1954 erweitert und präzisiert worden. Die Haager Landkriegsordnung ist damit neben ihrer gewohnheitsrechtlichen Bedeutung auch der historische Ausgangspunkt wesentlicher vertragsrechtlicher Teile des gegenwärtigen humanitären Völkerrechts.
Rechtshistorische Entwicklung
Die Brüsseler Konferenz von 1874
Der erste Versuch, Regeln zur Kriegführung in Form eines völkerrechtlichen Vertrages festzulegen, war die Brüsseler Konferenz von 1874. Zehn Jahre zuvor war mit der Genfer Konvention von 1864 erstmals ein verbindliches Abkommen abgeschlossen worden, das kriegführende Staaten zur Behandlung und Versorgung von verwundeten Soldaten verpflichtete. Krieg wurde zur damaligen Zeit beim Vorliegen eines Kriegsgrundes noch als gerechtfertigtes Mittel zur Lösung von zwischenstaatlichen Konflikten angesehen, ein als „ius ad bellum“ bezeichnetes Recht zum Kriege galt als unbestritten. Darüber hinaus herrschte allgemein die Auffassung, dass die nähere Zukunft eine Reihe von unvermeidbaren Kriegen bringen würde. Aus dem Erfolg der Genfer Konferenz von 1864 resultierte bei vielen führenden Persönlichkeiten in Politik und Militär in Europa aber auch die Haltung, dass – auch unter militärischen Gesichtspunkten – eine Regulierung und „Humanisierung“ des Krieges durch ein „ius in bello“, ein Recht im Kriege, sinnvoll wäre.
Vom 27. Juli bis zum 27. August 1874 fand dann auf Initiative des russischen Zaren Alexander II. in Brüssel eine Konferenz statt, an der Vertreter von insgesamt 15 Staaten Europas teilnahmen. Der russische Völkerrechtsexperte Friedrich Fromhold Martens hatte für diese Konferenz einen aus 71 Artikeln bestehenden Entwurf für eine Konvention ausgearbeitet. Die auf der Konferenz anwesenden Delegierten nahmen schließlich eine auf diesem Vorschlag basierende Deklaration „über die Gesetze und Gebräuche des Krieges“ an, die aus 56 Artikeln bestand. Sie wurde jedoch in den folgenden Jahren von keinem Land ratifiziert und erlangte damit nie den Status eines völkerrechtlichen Vertrages. Dies lag zum einen am Charakter und der Bewertung der Konferenz selbst. Diese war von der russischen Regierung einseitig und ohne vorherige Konsultationen mit anderen Staaten organisiert worden und hatte letztendlich mehr der Selbstdarstellung der europäischen Königshäuser gedient als dem ernsthaften Unterfangen, eine völkerrechtlich verbindliche Vereinbarung abzuschließen. Sinn und Zweck der Konferenz waren deshalb zum Teil unklar geblieben, so dass auch die teilnehmenden Länder der Konferenz aus verschiedenen Gründen mehrheitlich skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Zum anderen befürchteten die meisten kleineren Länder, dass die in der Deklaration von Brüssel enthaltenen Regeln einseitig den Interessen der Großmächte dienen würden.
Das ein Jahr vor der Brüsseler Konferenz gegründete Institut de Droit international (Institut für Völkerrecht) versuchte diese Probleme zu lösen, indem es 1880 unter dem Titel „Manuel des lois de la guerre sur terre“ ein als Oxford Manual bezeichnetes Handbuch zu den Regeln des Landkrieges veröffentlichte, das vom Genfer Juristen Gustave Moynier ausgearbeitet worden war. Es war im Wesentlichen eine Zusammenfassung der Brüsseler Deklaration von 1874, der Genfer Konvention von 1864 sowie einiger weiterer gewohnheitsrechtlicher Regelungen. Das Handbuch sollte als Vorlage dienen für entsprechende gesetzliche Regelungen im nationalen Recht der einzelnen Staaten, wurde jedoch diesbezüglich nahezu vollständig ignoriert.
Die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907
Vom 18. Mai 1899 bis zum 29. Juli 1899 fand dann auf Einladung der niederländischen Königin Wilhelmina in Den Haag die erste Haager Friedenskonferenz statt, an der 108 Vertreter von insgesamt 29 Staaten teilnahmen. Den Anstoß zu dieser Konferenz hatte der russische Zar Nikolaus II. gegeben. Die russische Wirtschaft war durch den Rüstungswettlauf mit dem Deutschen Reich und dem Vereinigten Königreich immens belastet; wahrscheinlich erhoffte sich der Zar von erfolgreichen Verhandlungen, diese Belastung abmildern zu können. Die Öffentlichkeit in den europäischen Ländern zeigte im Vorfeld der Konferenz ein erhebliches Interesse. Dies galt insbesondere für die in verschiedenen Gesellschaften und Initiativen organisierte Friedensbewegung unter der Führung von Bertha von Suttner, aber auch für diverse religiöse Gruppen und in einigen Fällen auch einfache Volksinitiativen auf der Ebene von Gemeinden und Städten, die sich in unzähligen Resolutionen und Aufrufen an ihre Regierungen wandten und die Einberufung der Konferenz befürworteten. Den Teilnehmern der Konferenz wurden Sammlungen von rund 100.000 Unterschriften aus Belgien und rund 200.000 Unterschriften aus den Niederlanden vorgelegt, die das Anliegen der Konferenz im Bereich der Rüstungsbegrenzung und gewaltfreien Konfliktlösung unterstützten.
Ein Rundschreiben der russischen Regierung von Dezember 1898 nannte die Revision und die Annahme der Deklaration von Brüssel ausdrücklich als Ziele der Konferenz. Friedrich Fromhold Martens war an der Organisation der Haager Friedenskonferenz wesentlich beteiligt und während der Konferenz Präsident des Komitees zu den Regeln und Gebräuchen des Krieges. Da die später von der Konferenz verabschiedete Konvention „betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“, die in ihrer Anlage die Haager Landkriegsordnung enthielt, nahezu vollständig auf der Brüsseler Deklaration von 1874 und damit auf dem Entwurf von Martens basierte, gilt er als geistiger Vater der Haager Landkriegsordnung und damit als Begründer des Haager Zweiges des humanitären Völkerrechts.
Ein zweites wichtiges Abkommen neben der Konvention „betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“, das in diesem Rahmen abgeschlossen wurde, war eine Konvention „betreffend die Anwendung der Grundsätze der Genfer Konvention vom 22. August 1864 auf den Seekrieg“. Drei weitere Beschlüsse der Konferenz betrafen ein auf fünf Jahre befristetes Verbot des Einsatzes von Geschossen und Sprengstoffen aus der Luft, ein Verbot der Verwendung von erstickenden oder giftigen Gasen, sowie ein Verbot des Gebrauchs von Deformationsgeschossen. Der Konvention „betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“, bestehend aus fünf Artikeln im Haupttext und 60 Artikeln zu den Durchführungsbestimmungen im Anhang, traten nach und nach 51 Staaten als Vertragsparteien bei, davon 25 als Unterzeichnerstaaten des Abkommens am 29. Juli 1899. Neben Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Russland und den USA gehörten auch das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn zu den Unterzeichnerstaaten. Beide wurden am 4. September 1900 Vertragspartei, die Schweiz trat dem Abkommen am 20. Juni 1907 bei. Das Inkrafttreten der Haager Landkriegsordnung etablierte im humanitären Völkerrecht drei grundlegende Prinzipien:
auch in einem bewaffneten Konflikt existiert zu keinem Zeitpunkt ein völlig rechtsfreier Raum oder eine Situation ohne jegliche Gesetze,
es existieren Beschränkungen bei der Wahl der Mittel zur Kriegführung und
Zivilpersonen, andere Nichtkombattanten und zivile Einrichtungen sind so weit wie möglich zu verschonen.
Die Initiative zur Zweiten Haager Friedenskonferenz ging 1903 von einer Petition der Amerikanischen Friedensgesellschaft aus. Der Petition folgte eine Resolution des Senats und des Repräsentantenhauses des Staates Massachusetts. Diese enthielt eine Aufforderung an den US-Kongress, den amerikanischen Präsidenten zu beauftragen, die Regierungen der Welt zur Etablierung eines regelmäßig stattfindenden Kongresses zu verschiedenen Fragen des Allgemeinwohls einzuladen. Auf der Tagung der Interparlamentarischen Union 1904 in St. Louis wurde diese Idee aufgegriffen in Form einer Empfehlung, die auf der Konferenz von 1899 nicht gelösten Probleme zum Thema einer Folgekonferenz zu machen. Diese kam dann drei Jahre später auf Initiative des damaligen US-Präsidenten Theodore Roosevelt zustande, obgleich sie offiziell wieder vom russischen Zaren formal einberufen wurde. Im Gegensatz zu den Vorstellungen der Vereinigten Staaten, die im Rahmen der Konferenz erneut Verhandlungen zur Abrüstung beziehungsweise Rüstungsbegrenzung vorsahen, beschränkten sich die Vorschläge der russischen Seite auf Verbesserungen im Bereich der friedlichen Lösung von internationalen Streitfällen und des humanitären Völkerrechts.
Während der zweiten Haager Friedenskonferenz vom 15. Juni bis zum 18. Oktober 1907 wurde die Konvention „betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“ nur geringfügig überarbeitet. Siebzehn Vertragsparteien der Fassung von 1899 – Argentinien, Bulgarien, Chile, Kolumbien, Ecuador, Griechenland, Italien, Korea, Montenegro, das Osmanische Reich, Paraguay, Persien, Peru, Serbien, Spanien, Uruguay und Venezuela – unterzeichneten die überarbeitete Version allerdings nicht. Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn zählten, wie die Schweiz, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA am 18. Oktober 1907 zu den Unterzeichnerstaaten. Für das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn trat das Abkommen am 26. Januar 1910 in Kraft, für die Schweiz am 11. Juli 1910.
Die Weiterentwicklung nach 1907
Die Haager Landkriegsordnung blieb in der 1907 beschlossenen Fassung unverändert. Die Mehrzahl der Vertragsparteien trat ihr bereits vor dem Ersten Weltkrieg bei. Zwischen den beiden Weltkriegen wurden nur noch Finnland (1918), Polen (1925) und Äthiopien (1935) Vertragspartei, nach dem Zweiten Weltkrieg noch die Dominikanische Republik (1958), Belarus (1962), die Fidschi-Inseln (1973) und Südafrika (1978). Neben Finnland, Äthiopien, und Polen zählt noch Liberia (1914) zu den Ländern, die als Vertragspartei der Fassung von 1907 nicht der Fassung von 1899 beigetreten waren. Hauptgrund für die zögerliche Akzeptanz in der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg war die Tatsache, dass sich die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung in beiden Weltkriegen als äußerst unzulänglich erwiesen. Dies galt während des Ersten Weltkrieges insbesondere für das Schicksal der Kriegsgefangenen, während im Zweiten Weltkrieg vor allem die Zivilbevölkerung unter der rücksichtslosen Kriegführung zu leiden hatte. Darüber hinaus schränkte die sogenannte Allbeteiligungsklausel, welche die Gültigkeit der Haager Landkriegsordnung regulierte, deren Akzeptanz bei den kriegführenden Mächten deutlich ein.
Aufgrund der genannten Unzulänglichkeiten wurde eine Reihe der in der Haager Landkriegsordnung enthaltenen Bestimmungen in neu abgeschlossenen Abkommen oder in überarbeiteten Fassungen der Genfer Konventionen erweitert und präzisiert. Vom 11. Dezember 1922 bis zum 6. Februar 1923 diskutierte eine international besetzte Juristenkommission aus 52 Sachverständigen über die völkerrechtliche Regelung der seit dem Ersten Weltkrieg relevanten Gebiete des Fernmeldewesens und des Luftkrieges. Ein 62 Artikel umfassender Entwurf zum Luftkriegsrecht („Haager Luftkriegsregeln“) erlangte mangels Ratifizierungen jedoch keine Rechtskraft. Keine der adressierten Regierungen folgte der Empfehlung, das Abkommen zu unterzeichnen. Gründe hierfür lagen wahrscheinlich in der mangelnden Bereitschaft, sich in einem entscheidenden Sektor der Verteidigung gesetzliche Grenzen setzen zu lassen, sowie der Überzeugung, dass entsprechende Inhalte bereits durch die Landkriegsordnung abgedeckt seien.
Mit dem Genfer Protokoll von 1925 wurde das in Artikel 23 der Haager Landkriegsordnung enthaltene Verbot des Gebrauchs von giftigen Substanzen explizit bekräftigt und auf bakteriologische Waffen ausgeweitet. Im Jahr 1929 wurde mit dem Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen ein separates Abkommen zur Behandlung der Kriegsgefangenen verabschiedet, das 1949 überarbeitet und erweitert wurde. Trotz dieser neuen Konvention kam der Haager Landkriegsordnung während des Zweiten Weltkrieges eine besondere Bedeutung hinsichtlich der Behandlung der Kriegsgefangenen zu. Mit der Sowjetunion und Japan waren zwei Hauptmächte des Krieges nicht der Genfer Kriegsgefangenen-Konvention von 1929 beigetreten, jedoch Vertragsparteien der Haager Landkriegsordnung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1949 mit dem Genfer Abkommen „über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten“ auch für die Behandlung der Zivilpersonen durch die Besatzungsmacht für die Dauer der Okkupation ein eigenständiges Regelwerk geschaffen, das in vielen Bereichen weit über die Vorgaben der Haager Landkriegsordnung hinausgeht. Insbesondere die Einschränkung, dass die in der Haager Landkriegsordnung enthaltenen Regeln zum Umgang mit Zivilpersonen nur für eine Besatzungsmacht in einem besetzten Gebiet galten, entfiel mit dem Genfer Abkommen. Die Allbeteiligungsklausel war in den Genfer Abkommen von 1929 und 1949 nicht mehr enthalten. Wesentliche Teile aus der Haager Landkriegsordnung, die Beschränkungen hinsichtlich der Wahl der Mittel zur Kriegführung enthielten, gelangten schließlich mit dem Zusatzprotokoll I von 1977 „über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte“ ebenfalls in den Rechtsrahmen der Genfer Abkommen. Der Aspekt des Schutzes von Kulturgütern in bewaffneten Konflikten, der in der Haager Landkriegsordnung lediglich in zwei Artikeln ansatzweise enthalten ist, wurde 1954 in wesentlich erweiterter Form in der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten umgesetzt.
Ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der Haager Landkriegsordnung war darüber hinaus die Akzeptanz der Gültigkeit der in ihr formulierten Prinzipien als Völkergewohnheitsrecht. Auch wenn hierfür kein exaktes Datum ausgemacht werden kann, wurde diese Rechtsauffassung erstmals 1946 in einer Entscheidung des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg explizit bestätigt. Dies bedeutet, dass die Prinzipien der Haager Landkriegsordnung auch für Staaten und nichtstaatliche Konfliktparteien bindend sind, die dem Abkommen selbst nicht beigetreten sind. Das am 17. Juli 1998 verabschiedete und am 1. Juli 2002 in Kraft getretene Rom-Statut für den Internationalen Strafgerichtshof definiert in Artikel 8 Kriegsverbrechen in internationalen Konflikten als „schwere Verletzungen der Genfer Abkommen vom 12. August 1949“ sowie „schwere Verstöße gegen die innerhalb des feststehenden Rahmens des Völkerrechts im internationalen bewaffneten Konflikt anwendbaren Gesetze und Gebräuche“. Hierzu zählen unter anderem Verletzungen von wichtigen Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung.
Inhalt
Bestimmungen des Abkommens
Der Haupttext der Haager Konvention „betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“ umfasst in den Fassungen von 1899 und 1907 in fünf beziehungsweise neun Artikeln einige allgemeine Formulierungen und Ausführungsbestimmungen.
Bereits in der Präambel enthält die Konvention einen als Martens’sche Klausel bezeichneten Grundsatz. Dieser gibt für Situationen in bewaffneten Konflikten, die nicht ausdrücklich durch geschriebenes internationales Recht geregelt sind, die Maßstäbe Brauch, Gewissen und Menschlichkeit zur Bewertung von Handlungen und Entscheidungen vor. Diese Klausel wurde von Friedrich Fromhold Martens während der Haager Friedenskonferenz von 1899 vorgeschlagen als Kompromisslösung für die Frage der Behandlung von Zivilisten, die an Kampfhandlungen teilnehmen. Sie ist seitdem jedoch in eine Reihe von weiteren Abkommen aufgenommen worden und gilt heute als wichtiger Grundsatz des humanitären Völkerrechts.
Der Artikel 1 verpflichtet die Vertragsparteien, die in der Anlage enthaltenen Bestimmungen ihren Landheeren als Verhaltensmaßregeln zu geben. Die in Artikel 2 enthaltene und auch als Allbeteiligungsklausel bezeichnete Festlegung zur Gültigkeit besagt, dass die Bestimmungen der Konvention im Falle eines Krieges zwischen zwei oder mehr Vertragsparteien gelten und nur bindend sind, solange alle beteiligten Konfliktparteien dem Abkommen beigetreten sind. Der Kriegseintritt eines Landes, das nicht Vertragspartei der Konvention ist, setzt also deren Gültigkeit für alle beteiligten Staaten außer Kraft. Ziel der Aufnahme einer solchen Klausel war es, eine zweigeteilte Rechtslage hinsichtlich der Verpflichtungen der Konvention zu verhindern. Diese könnte entstehen durch die Beteiligung eines kleineren Landes, das nicht Vertragspartei der Konvention wäre. Basierend auf den Erfahrungen mit den Kriegen der damaligen Zeit, an denen in der Regel zwei Konfliktparteien mit nur wenigen Staaten auf beiden Seiten teilnahmen, galt eine solche Regelung als sinnvoll. Vor allem in den beiden Weltkriegen erwies sie sich jedoch als äußerst problematisch hinsichtlich der Akzeptanz der Haager Landkriegsordnung.
Der Artikel 3 beziehungsweise 5 in den Fassungen von 1899 beziehungsweise 1907 bestimmt die Niederlande zur Depositarmacht des Abkommens. In den Artikeln 5 beziehungsweise 8 sind Regelungen zur Kündigung des Abkommens durch eine Vertragspartei enthalten.
Anlage: Ordnung der Gesetze und Gebräuche des Landkriegs
Die Anlage zur Haager Konvention „betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“ enthält in den Fassungen von 1899 und 1907 in 60 beziehungsweise 56 Artikeln die eigentlichen Festlegungen zu den Regeln und Gebräuchen des Landkrieges.
Der Artikel 1 legt die Gültigkeit der Gesetze, der Rechte und Pflichten des Krieges für die Angehörigen des Heeres, von Milizen und von Freiwilligenkorps unter den Bedingungen fest, dass (1) an ihrer Spitze jemand steht, der für seine Untergebenen verantwortlich ist, (2) sie ein festes und erkennbares Abzeichen tragen, (3) sie ihre Waffen offen führen und (4) sie die Gesetze und Gebräuche des Krieges beachten. Der Artikel enthielt somit erstmals in der Militärgeschichte eine international verbindliche Definition von Kombattanten. Im Artikel 2 wird darüber hinaus auch der Bevölkerung von nicht besetzten Gebieten der Kombattantenstatus zugestanden, sofern ihr keine Zeit geblieben ist, sich entsprechend den Vorgaben des Artikels 1 zu organisieren. Darüber hinaus müssen kriegführende Zivilpersonen die Gesetze und Gebräuche des Krieges beachten und laut der Fassung von 1907 ihre Waffen offen führen.
Die Artikel 4 bis 20 legen verschiedene Grundsätze zur Behandlung von Kriegsgefangenen fest. Diese sind entsprechend Artikel 4 menschlich zu behandeln. Kriegsgefangene dürfen zur Arbeit herangezogen werden (in der Fassung von 1907 mit Ausnahme der Offiziere). Die gefangennehmende Partei hat für den Unterhalt der Kriegsgefangenen zu sorgen (Artikel 7) und dabei die Kriegsgefangenen in Bezug auf Nahrung, Kleidung und Unterbringung wie die eigenen Truppen zu behandeln. Kriegsgefangene unterstehen den Gesetzen, Vorschriften und Befehlen des Staates, in dessen Gewalt sie sich befinden (Artikel 8). Sie können für einen misslungenen Fluchtversuch disziplinarisch bestraft werden, nicht jedoch bei erneuter Gefangennahme nach einer vorherigen erfolgreichen Flucht. Entsprechend Artikel 9 sind Kriegsgefangene verpflichtet, auf Nachfrage ihren Namen und Dienstgrad zu nennen.
Kriegskorrespondenten, Journalisten, Marketender, Lieferanten sowie andere nicht unmittelbar zum Heer gehörende Personen haben Anspruch auf eine Behandlung als Kriegsgefangene, wenn sie sich durch einen Ausweis der Militärbehörde ihres Heimatlandes entsprechend legitimieren können (Artikel 13). Jede am Konflikt beteiligte Partei ist verpflichtet, eine Auskunftsstelle über die Kriegsgefangenen einzurichten (Artikel 14). Kriegsgefangene Offiziere haben Anspruch auf Zahlung ihres Soldes (Artikel 17), und zwar in der Fassung von 1899 in einer Höhe entsprechend den Vorgaben ihres Heimatlandes, in der Fassung von 1907 analog zu den Offizieren gleichen Ranges des Landes, in dem sie gefangen gehalten werden. Die Regierung des Heimatlandes ist zur Erstattung der entsprechenden Kosten verpflichtet. Nach einem Friedensschluss sind die Kriegsgefangenen „binnen kürzester Frist“ zu entlassen (Artikel 20).
Der Artikel 21 verweist für die Behandlung von Kranken und Verwundeten auf die Genfer Konvention. Artikel 23 verbietet eine Reihe von Mitteln zur Kriegführung. Zu diesen Festlegungen zählt beispielsweise ein Verbot der Verwendung von giftigen Substanzen, ein Verbot der meuchlerischen Tötung oder Verwundung, ein Verbot der Tötung oder Verwundung eines Feindes, der sich ergeben hat, sowie ein Verbot des Befehls, kein Pardon zu geben, und ein Verbot von Waffen und Geschossen, die unnötiges Leid verursachen. Ebenso verboten sind der Missbrauch der Parlamentärsflagge, der Nationalflagge und Uniformen des Gegners sowie der Schutzzeichen der Genfer Konvention. Die Fassung von 1907 enthält darüber hinaus ein Verbot, Angehörige der Gegenpartei zu Kriegshandlungen gegen ihr eigenes Land zu zwingen.
Unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnungen oder Gebäude dürfen nicht angegriffen werden (Artikel 25). Bei Belagerungen und Angriffen sind religiöse und wissenschaftliche Einrichtungen sowie Gebäude, die der Kunst oder der Wohltätigkeit dienen, ebenso wie historische Denkmäler und Krankenhäuser, so weit wie möglich zu schonen (Artikel 27). Die Belagerten sind verpflichtet, solche Einrichtungen entsprechend zu kennzeichnen. Städte und Siedlungen dürfen nicht geplündert werden (Artikel 28). Die Artikel 29 bis 31 regeln den Umgang mit Spionen, die Artikel 32 bis 34 den besonderen Status und Schutz von Parlamentären. Nähere Bestimmungen zur Kapitulation und zu einem Waffenstillstand sind in den Artikeln 35 bis 41 enthalten.
In den Artikeln 42 bis 56 sind Regelungen zum Verhalten einer Besatzungsmacht auf besetztem feindlichen Gebiet festgelegt. Ein Besatzer ist unter anderem verpflichtet, die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten (Artikel 43). Die Bevölkerung eines besetzten Gebietes darf nicht zu Kriegshandlungen gegen ihr eigenes Land gezwungen werden (Artikel 44 beziehungsweise 45 in den Fassungen von 1899 beziehungsweise 1907). Entsprechend Artikel 44 der Fassung von 1907 ist es darüber hinaus verboten, die Bevölkerung eines besetzten Territoriums zu Herausgabe von Informationen über das eigene Heer oder über dessen Verteidigungsmittel zu zwingen. Die Einziehung von Privateigentum ist ebenso verboten wie Plünderungen (Artikel 46 und 47). Kollektivstrafen an der Bevölkerung für die Taten Einzelner sind verboten (Artikel 50).
Die Artikel 57 bis 60 der Fassung von 1899 regeln die Behandlung von Internierten und Verwundeten durch neutrale Staaten. Sie sind in der Fassung von 1907 nicht enthalten.
Umsetzung in der Praxis
Ahndung von Verstößen
Die Haager Landkriegsordnung enthält für Verstöße gegen die in ihr enthaltenen Regeln keine Festlegungen zu Sanktionen für Personen oder Personengruppen. Lediglich der Art. 3 des zugehörigen Abkommens in der Fassung von 1907 schreibt für den Fall der Verletzung durch eine Vertragspartei eine allgemein formulierte Verpflichtung zur Leistung von Schadensersatz vor. Schwerwiegende Verstöße sind in Deutschland jedoch seit dem Jahr 2002 auf der Basis des Völkerstrafgesetzbuchs strafbar, insbesondere durch die bis VStGB. In der Schweiz sind entsprechende Regelungen im 1927 verabschiedeten Militärstrafgesetz, derzeit in der Fassung von 2004, enthalten. In Österreich bilden des Bundes-Verfassungsgesetzes sowie Strafgesetzbuch die rechtliche Grundlage für die Strafbarkeit von Verletzungen der Regeln der Haager Landkriegsordnung. In der DDR regelte § 93 Strafgesetzbuch vom 12. Januar 1968 die Strafbarkeit von Kriegsverbrechen und § 84 StGB einen entsprechenden Ausschluss der Verjährung.
Nach dem Ersten Weltkrieg erließ die Deutsche Nationalversammlung am 18. Dezember 1919 ein Gesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen zur Verfolgung von Straftaten, „die ein Deutscher im In- und Ausland während des Krieges bis zum 28. Juni 1919 gegen feindliche Staatsangehörige oder feindliches Vermögen begangen hat“. Für insgesamt rund 900 Personen, die von Seiten der Alliierten eines Kriegsverbrechens beschuldigt wurden, verpflichtete sich die Reichsregierung, diese statt einer Auslieferung selbst vor Gericht zu stellen. Insgesamt wurde bis 1927 in rund 1.500 Fällen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Zu Gerichtsverfahren vor dem Reichsgericht in Leipzig kam es jedoch in lediglich 17 Fällen, davon endeten zehn mit einer Verurteilung und sieben mit einem Freispruch. Die höchste ausgesprochene Strafe von fünf Jahren gab es für eine Verurteilung wegen Plünderung. Ein Fall, in dem es um die Erschießung gefangengenommener französischer Soldaten ging, endete mit einer Verurteilung eines Majors wegen fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren. Für Körperverletzung beziehungsweise schwere Körperverletzung gab es Urteile zwischen sechs und zehn Monaten. Die Bilanz der Leipziger Prozesse wird im Allgemeinen als Scheitern einer effektiven Strafverfolgung von Kriegsverbrechen nach dem Ersten Weltkrieg angesehen. Den Einsatz von chemischen Kampfstoffen zur Gaskriegsführung rechtfertigten die Konfliktparteien durch entsprechende Interpretationen der in Art. 23 der Haager Landkriegsordnung enthaltenen Verbote. So würde das Verbot von giftigen Substanzen in Art. 23a nach dieser Sichtweise nicht für Geschosse gelten, die Gift freisetzten, sondern nur für das Vergiften beispielsweise von Wasser, Lebensmitteln oder Böden. Dem in Art. 23e formulierten Verbot von Waffen, Geschossen oder Stoffen, die unnötige Leiden verursachen, wurde die Notwendigkeit chemischer Kampfstoffe zur Erlangung von potentiellen militärischen Vorteilen entgegengehalten.
Rechtsgrundlage einer Verurteilung von Verstößen im Rahmen des Zweiten Weltkrieges bildete vor allem das am 8. August 1945 beschlossene Londoner Statut des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg. Dieses definierte in Art. 6 Kriegsverbrechen als Verletzungen der Gesetze und Gebräuche des Krieges und nannte unter anderem die Ermordung oder Misshandlung von Zivilisten und ihre Deportation zur Zwangsarbeit, die Ermordung und Misshandlung von Kriegsgefangenen, die Tötung von Geiseln, Plünderung von gemeinnützigem und privatem Eigentum und Maßnahmen, die nicht durch die militärische Notwendigkeit gerechtfertigt waren. Im Gegensatz zu den Leipziger Prozessen nach dem Ersten Weltkrieg diente der Internationale Militärgerichtshof von Nürnberg vor allem der Verfolgung ranghoher Verantwortlicher aus Politik, Militär und Wirtschaft. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, als dem ersten und wichtigsten der Nürnberger Prozesse, wurden von den 24 Angeklagten insgesamt 16 im Anklagepunkt Kriegsverbrechen schuldig gesprochen. In allen diesen Fällen erfolgte jedoch der Schuldspruch in Einheit mit anderen Anklagepunkten wie Verbrechen gegen den Frieden oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Keiner der Angeklagten wurde allein wegen Kriegsverbrechen angeklagt oder entsprechend nur in diesem Punkt verurteilt. Das Gesamtstrafmaß lag in den betreffenden Fällen zwischen Todesurteilen und Freiheitsstrafen von 15 beziehungsweise 20 Jahren, für Rudolf Heß jedoch lebenslänglich, die auch vollstreckt wurde. Eine genaue Gewichtung entsprechend den einzelnen Anklagepunkten ist jedoch nur schwer möglich.
Internationale Akzeptanz und beteiligte Organisationen
Der Internationale Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag hat durch das Inkrafttreten des Rom-Statuts als seiner völkerrechtlichen Grundlage seit dem 1. Juli 2002 unter bestimmten Umständen die Möglichkeit, Kriegsverbrechen strafrechtlich zu verfolgen. Der Art. 8 des Rom-Statutes enthält in der Definition von Kriegsverbrechen auch entsprechende Bezüge auf „schwere Verstöße gegen die innerhalb des feststehenden Rahmens des Völkerrechts im internationalen bewaffneten Konflikt anwendbaren Gesetze und Gebräuche“, wozu unter anderem Verletzungen von wichtigen Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung zählen. Der Internationale Strafgerichtshof wird aber hinsichtlich einer Strafverfolgung nur aktiv, wenn keine angemessene nationale Gerichtsbarkeit existiert oder diese nicht fähig oder willens ist, die Strafverfolgung für die betreffenden Straftaten selbst auszuüben. Aus verschiedenen Gründen wird der Internationale Strafgerichtshof jedoch von einer Reihe von Ländern nicht anerkannt. Hierzu zählen unter anderem die USA, Russland, die Volksrepublik China, Indien, Pakistan und Israel.
Beziehungen zu den Genfer Konventionen
Innerhalb des humanitären Völkerrechts entwickelte sich neben dem Haager Recht, dessen zentrale Komponente die Haager Landkriegsordnung ist, noch das in den Genfer Konventionen formulierte Genfer Recht. Dieses regelt, ausgehend von seinen historischen Ursprüngen, vor allem den Umgang mit den sogenannten Nichtkombattanten, also Personen, die im Fall eines bewaffneten Konflikts nicht an den Kampfhandlungen beteiligt sind. Dabei handelt es sich um verwundete, erkrankte und gefangengenommene Soldaten sowie Zivilpersonen. Demgegenüber enthält das Haager Recht überwiegend Festlegungen zu zulässigen Mitteln und Methoden der Kriegführung und damit vor allem Regeln für den Umgang mit den an den Kampfhandlungen beteiligten Personen, den Kombattanten. Wesentliche Teile des Haager Rechts sind jedoch im Rahmen der Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts in das Genfer Recht integriert worden. Darüber hinaus war die Trennung dieser beiden Bereiche in Bezug auf die Behandlung von Kombattanten und Nichtkombattanten von Beginn an nicht strikt und konsistent.
Die Genfer Abkommen III und IV legen in den Artikeln 135 beziehungsweise 154 fest, dass die in ihnen enthaltenen Regeln die entsprechenden Abschnitte der Haager Landkriegsordnung ergänzen sollen. Eine analoge Festlegung war auch in Artikel 89 der Genfer Kriegsgefangenen-Konvention von 1929 enthalten. Wie dies im Einzelfall anhand von allgemein gültigen Auslegungsgrundsätzen wie lex posterior derogat legi priori („das spätere Gesetz geht dem früheren vor“) und lex specialis derogat legi generali („die Spezialnorm geht dem allgemeinen Gesetz vor“) zu erfolgen hätte, bleibt jedoch offen.
Einzelnachweise
Literatur
Deutschsprachige Bücher
Deutsches Rotes Kreuz (Hrsg.): Die Genfer Rotkreuz-Abkommen vom 12. August 1949 und die beiden Zusatzprotokolle vom 10. Juni 1977 sowie das Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges vom 18. Oktober 1907 und Anlage (Haager Landkriegsordnung). (= Schriften des Deutschen Roten Kreuzes). 8. Auflage. Bonn 1988.
Dieter Fleck (Hrsg.): Handbuch des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten. Verlag C. H. Beck, München 1994, ISBN 3-406-38139-1.
Jana Hasse, Erwin Müller, Patricia Schneider: Humanitäres Völkerrecht: politische, rechtliche und strafgerichtliche Dimensionen. Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2001, ISBN 3-7890-7174-9.
Hans-Peter Gasser: Humanitäres Völkerrecht. Eine Einführung. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2007, ISBN 978-3-8329-2802-5.
Rudolf Laun: Die Haager Landkriegsordnung. Textausgabe mit Einführung. 5. Auflage. Hannover 1950, .
Englischsprachige Bücher
Geoffrey Best: Humanity in Warfare: The Modern History of the International Law of Armed Conflicts. Columbia University Press, New York 1980, ISBN 0-231-05158-1.
Dietrich Schindler, Jiří Toman (Hrsg.): The laws of armed conflicts: a collection of conventions, resolutions, and other documents. Sijthoff & Noordhoff International Publishers, Alphen aan den Rijn 1984, ISBN 90-286-0199-6.
Frédéric de Mulinen: Handbook on the Law of War for Armed Forces. IKRK, Genf 1987, ISBN 2-88145-009-1.
Michael Reisman: The Laws of War: A Comprehensive Collection of Primary Documents on International Laws Governing Armed Conflict. Vintage Books/ Random House, New York 1994, ISBN 0-679-73712-X.
Adam Roberts, Richard Guelff: Documents on the Laws of War. 3. Auflage. Oxford University Press, Oxford/ New York 2000, ISBN 0-19-876390-5.
Frits Kalshoven, Liesbeth Zegveld: Constraints on the waging of war: an introduction to international humanitarian law. 3. Auflage. IKRK, Genf 2001, ISBN 2-88145-115-2.
International Committee of the Red Cross (Hrsg.): Rules of international humanitarian law and other rules relating to the conduct of hostilities. Collection of treaties and other instruments. IKRK, Genf 2005, ISBN 2-88145-014-8.
Artikel
Karma Nabulsi: The Modern Laws of War from 1874 to 1949. In: Traditions of War. Occupation, Resistance and The Law. Oxford University Press, Oxford/ New York 1999, ISBN 0-19-829407-7, S. 4–19.
Weblinks
Internationale Übereinkunft vom 29. Juli 1899 betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (mit Reglement) in der amtlichen Schweizer Übersetzung
International Humanitarian Law – Hague Convention II 1899 englische Fassung, mit Liste der Vertragsparteien
Abkommen vom 18. Oktober 1907 betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (mit Ordnung) in der amtlichen Schweizer Übersetzung
International Humanitarian Law – Hague Convention IV 1907 englische Fassung, mit Liste der Vertragsparteien
Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (Haager Landkriegsordnung), 18. Oktober 1907, in: 1000dokumente.de
Suche nach Haager Landkriegsordnung im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Völkerrechtlicher Vertrag
Rechtsquelle (19. Jahrhundert)
Rechtsquelle (20. Jahrhundert)
Kriegsvölkerrecht
Geschichte (Den Haag)
Asymmetrische Kriegführung
Politik 1899
Politik 1907 |
97886 | https://de.wikipedia.org/wiki/Flagge%20Indiens | Flagge Indiens | Die Flagge Indiens wird auch als Tiranga (hindi: तिरंगा; dt.: Trikolore) bezeichnet.
Beschreibung
Die Flagge Indiens besteht aus drei horizontalen Streifen gleicher Breite, oben safranfarben, in der Mitte weiß und unten grün. Im Zentrum befindet sich ein marineblaues Chakra (चक्र, dt.: Rad) mit 24 Speichen. Der Durchmesser des Rads beträgt 3/4 der Höhe des weißen Streifens, allerdings ist es inzwischen gängige Praxis, dass das Rad bis zu 98 % der Höhe des weißen Streifens einnimmt. Die Flagge wurde offiziell bei einer Sitzung der Verfassunggebenden Versammlung Indiens am 22. Juli 1947, kurz vor der Unabhängigkeit Indiens am 15. August 1947, angenommen. Die Benutzung der Flagge, die von Pingali Venkayya entworfen wurde, unterliegt einem sorgsam erarbeiteten Kodex. Zum Beispiel muss die offizielle Flagge aus Khadi, einem von Hand gesponnenen Garn, gefertigt sein.
Die Farben der indischen Flagge entsprechen in verschiedenen Farbmodellen (HTML-RGB-Webfarben (hexadezimale Schreibweise), CMYK-Entsprechung, Farbstoffe und die entsprechende Pantone-Nummer) ungefähr:
Symbolik
Der Indische Nationalkongress (INC), Indiens größte politische Partei vor der Unabhängigkeit, nahm 1921 eine weiß-grün-rote Flagge als seine inoffizielle Flagge an. Das Rot stand ursprünglich für den Hinduismus, das Grün für den Islam und das Weiß für andere Minderheitsreligionen. Jedoch dachten manche auch, dass das Weiß wie ein Friedenspuffer zwischen den beiden Religionen steht, wie z. B. in der Flagge Irlands. Diese diente wahrscheinlich als Vorbild, da auch Irland um die Unabhängigkeit vom Britischen Weltreich kämpfte. Im Zentrum war ein Carkhā (चरखा, dt.: Spinnrad) in blau abgebildet, das Symbol des Strebens nach wirtschaftlicher und später auch politischer Unabhängigkeit. 1931 nahm der Kongress eine andere safrangelb-weiß-grüne Flagge, ebenfalls mit Carkhā in der Mitte, offiziell an, die jedoch keine religiöse Bedeutung hatte: es wurde erklärt, dass Safrangelb für Mut, Weiß für Wahrheit und Frieden und Grün für Glauben, Wohlstand und Treue stehe.
In der 1947, kurz vor der Erlangung der vollständigen Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich, von der verfassunggebenden Versammlung angenommenen Flagge Indiens wurde das Spinnrad durch ein Rad, das Dharmachakra (Rad des Gesetzes), ersetzt. Das Dharmachakra war bereits von König Ashoka (Maurya-Dynastie, regierte ca. 268 v. Chr. – 232 v. Chr.), dem Begründer des frühesten indischen Großreiches, als Symbol der Herrschaft des Gesetzes in seinem ganzen Reich verbreitet worden (siehe auch Edikte des Ashoka). Aus diesem Grund wird es auch als „Ashoka Chakra“ bezeichnet. Zu jener Zeit war es im ursprünglichen Sinn das Symbol für die Lehren des Buddha (das Buddha-Dharma), die für Ashoka Grundlage seiner Gesetzgebung waren. Während das buddhistische Dharmachakra acht Speichen aufweist, hat das Rad der Flagge 24 Speichen, welche die Stunden des Tages symbolisieren.
Von S. Radhakrishnan (1888–1975), dem späteren zweiten Präsidenten Indiens, stammt folgende Interpretation der Flagge:
Dienstflaggen
Die indischen Dienstflaggen sind nach dem Vorbild des britischen Flaggensystems (Blue Ensign, Red Ensign und White Ensign) gestaltet.
Im Gegensatz zum britischen Original wird seit der Unabhängigkeit Indiens kein Union Jack mehr benutzt.
Geschichte
Als die Briten die Herrschaft über Indien übernahmen, lösten sie das Mogulreich ab, das 1526 bis 1858 den Großteil des indischen Subkontinents umfasste. Die bekannteste Flagge des Mogulreichs war der Alam, der Überlieferung nach die Fahne des Kriegers Hussain.
Mit der Gründung Britisch-Indiens 1858, durch die Großbritannien seine Herrschaft über die heutigen Staaten Indien, Pakistan, Bangladesch und Birma errichtete, wurde der Union Jack zur Staatsflagge erklärt. Ab 1880 verwendeten zahlreiche Vereinigungen bei Veranstaltungen auch eine halboffizielle Landesflagge mit dem Union Jack, dem auf der Flugseite auf rotem Grund der Stern des von Königin Victoria gegründeten Ritterordens Star of India gegenüberstand.
Am Anfang des 20. Jahrhunderts, als die indische Unabhängigkeitsbewegung Freiheit von der britischen Herrschaft suchte und erste Anhänger fand, stand auch die Frage nach einer Nationalflagge im Raum. Schwester Nivedita, eine irische Jüngerin von Swami Vivekananda, hatte die Idee zur ersten Flagge Indiens, die auch als Sister Nivedita’s Flag bekannt ist. Es war eine rote, rechteckige Flagge mit einem gelben Vajra Chinha (Blitz) und einem weißen Lotus in der Mitte. Die Inschrift lautete বন্দে মাতরম (Bande Mataram, bengalisch für: Heil der Mutter![dem Mutterland!]). Rot drückte den Wunsch nach Freiheit, gelb den Sieg aus und der weiße Lotus stand für Reinheit.
Die erste Trikolore wurde am 7. August 1906 bei einem Protestmarsch gegen die Teilung Bengalens von Sachindra Prasad Bose im Parsi Bagan Square in Kalkutta entrollt. Diese Flagge wurde als die Kalkutta-Flagge, Flagge der Unabhängigkeit, bekannt und zeigte drei horizontale Streifen gleicher Höhe: oben orange, in der Mitte gelb und unten grün. Auf dem oberen Streifen sind acht Lotosblüten als Symbol der acht Provinzen Britisch-Indiens abgebildet, auf dem unteren eine Sonne und eine Mondsichel mit Stern. Vande Mataram, Ich verbeuge mich vor dir, Mutter, in Hindi (वन्दे मातरम्) ist die Inschrift auf dem mittleren Streifen. Es handelt sich um ein Zitat aus einem dichterischen Loblied auf die Göttin Durga, die in allen Bevölkerungsschichten als die Personifizierung Indiens gilt.
Am 22. August 1907 entrollte Madam Bhikhaji Rustom Cama eine andere Trikolore in Stuttgart. Diese war oben grün, in der Mitte gelb und unten rot. Auf dem oberen Streifen waren acht Lotosblüten, die die acht Provinzen Britisch-Indiens repräsentierten. Auf dem mittleren Streifen stand auch hier Vande Mataram. Auf dem unteren Streifen war zum Mast hin eine Mondsichel und auf der anderen Seite eine Sonne abgebildet. Die Farben standen für Islam, Hinduismus und Buddhismus sowie Sikhismus. Die Flagge wurde zusammen von Madam Cama, Vinayak Damodar Savarkar und Shyamji Krishna Varma entworfen. Nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs wurde diese Flagge unter dem Namen Berliner-Komitee-Flagge bekannt, da sie von indischen Revolutionären in Berlin (Berliner Komitee) angenommen wurde. Die Flagge wurde während des Krieges aktiv in Mesopotamien genutzt.
Die Flagge der Ghadar-Partei wurde auch in den Vereinigten Staaten von Amerika für eine kurze Zeit als Symbol für Indien benutzt.
1916 versucht Pingley Venkayya aus Masulipatnam in Andhra Pradesh, eine gemeinsame Nationalflagge zu entwerfen. Umar Sobani und S. B. Bomanji bemerkten seine Bemühungen und gründeten zusammen die „Indische Nationalflaggen-Mission“. Venkayya versuchte, Mahatma Gandhi zur Annahme der Flagge zu bewegen, aber sie gefiel ihm nicht. Er schlug vor, dass Venkayya eine neue Flagge mit einem Spinnrad (Charkha) darauf entwerfen solle. Das Charkha sei „die Verkörperung Indiens“ und symbolisiere „die Erlösung von all seinem Übel“. Der erneute Entwurf mit einem roten und einem grünen Streifen und einem Charkha gefiel Gandhi jedoch ebenfalls nicht, da er nicht alle indischen Religionen wiedergab.
Die so genannte Home-Rule-Bewegung wurde von Bal Gangadhar Tilak und Annie Besant 1917 gegründet. Ihre Flagge bestand aus fünf roten und vier grünen horizontalen Streifen und hatte in der oberen linken Ecke den Union Jack, der den Dominion-Status symbolisierte, den die Bewegung für Indien anstrebte. Eine Mondsichel und ein Stern befanden sich oben rechts auf der Flagge. Die sieben weißen Sterne waren wie in dem für Hindus heiligen Sternbild Saptarishi (Sieben Weise, der indische Name für das Sternbild Großer Bär) angeordnet. Diese Flagge war jedoch wegen des Union Jack nicht sehr beliebt.
1921 entwarf Mohandas Karamchand Gandhi eine Nationalflagge für ein unabhängiges Indien. Sie zeigte das Emblem des Spinnrads, ein Symbol der Hoffnung auf wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit. Die Farben standen für die großen Glaubensgemeinschaften Indiens: Rot für den Hinduismus, Grün für den Islam und Weiß für die Minderheitsreligionen.
Die neue weiß-grün-rote Flagge (zur Bedeutung der Farben siehe Symbolik) wurde zum ersten Mal auf einem Parteitreffen in Ahmedabad entrollt. Obwohl diese Flagge vom Indischen Nationalkongress nicht offiziell angenommen wurde, war sie doch unter der Freiheitsbewegung weit verbreitet. Jedoch waren nicht alle mit den unterschiedlichen Interpretationen der Flagge zufrieden. Der All India Sanskrit Congress schlug 1924 in Kalkutta vor, Safrangelb oder Ocker und das gada (Labyrinth) des Vishnus als Symbol für die Hindus einzubinden. Im gleichen Jahr wurde Geru (eine erdrote Farbe) vorgeschlagen, da sie „für den Geist des Verzichts“ stehe und „das ideale gemeinsame Symbol sowohl für die hinduistischen Yogis und Sannyasins, als auch für die muslimischen Fakire und Derwische“ sei. Die Sikhs forderten die Farbe gelb, die ihre Religion repräsentierte, oder den Verzicht einer religiösen Bedeutung.
Auf Grund dieser Entwicklungen ernannte das Kongressarbeitskomitee am 2. April 1931 eine siebenköpfige Flaggenkommission, die die Vorschläge überdenken sollte. In einer Resolution wurden die drei Farben verworfen, da sie auf religiöser Grundlage ersonnen wurden. Daher wurde eine einfarbige Flagge entworfen und für kurze Zeit auch verwendet. Obwohl das Komitee diese Flagge vorschlug, nahm der INC sie nicht an, da es so aussah, als ob die Flagge eine kommunalistische oder eine kommunistische Ideologie vertrat. Später im selben Jahr wurde die abschließende Resolution bei einem Treffen des Komitees in Karatschi verabschiedet, in der erklärt wurde, dass Safrangelb für Mut, Weiß für Wahrheit und Frieden und Grün für Glauben, Wohlstand und Treue stand. Ein blaues Spinnrad (Charkha) wurde in der Mitte platziert. Die Swaraj war eine Weiterentwicklung von Gandhis Flagge.
Zur selben Zeit benutzte die Indian National Army (eine anti-britische indische Hilfstruppe der Kaiserlichen Japanischen Armee) eine andere Version dieser Flagge mit den Worten „Azad Hind“ und einem springenden Tiger statt des Chakras, der für den gewaltvollen Unabhängigkeitskampf ihres Führers (Netaji) Subhash Chandra Bose – im Gegensatz zu Mahatma Gandhis Keine-Gewalt-Politik – stand. Die indische Trikolore dieser Variante wurde 1944 in Manipur von Subhash Chandra Bose das erste Mal auf indischem Boden gehisst.
Einige Tage, bevor Indien im August 1947 die Unabhängigkeit erlangte, wurde die Verfassunggebende Versammlung einberufen, um über die Flagge Indiens zu beraten. Sie berief ein Ad-hoc-Komitee unter Vorsitz von Rajendra Prasad ein, das aus folgenden Personen bestand: Abul Kalam Azad, K. M. Panikar, Sarojini Naidu, C. Rajagopalachari, K. M. Munshi und B. R. Ambedkar. Nach drei Wochen Überlegungen (23. Juni bis 14. Juli 1947) kamen sie zu dem Schluss, dass die Flagge des INC, die Swaraj, als Nationalflagge angenommen werden sollte. Jedoch wurden einige Einzelheiten verändert, um sie für alle Parteien und Gemeinschaften annehmbar zu gestalten und um religiöse Untertöne zu vermeiden. Das Dharmachakra, das auf dem Abakus von Sarnath erscheint, wurde an Stelle des Charkha als Emblem der Nationalflagge angenommen. Die Flagge wurde am 18. Mai 1947 zum ersten Mal als die eines unabhängigen Staates entrollt. Ihre drei Farben stehen für Grundlagen und Werte der Nation: Orange für den Hinduismus, Mut und Opferbereitschaft, Weiß für die Hoffnung auf Frieden und Grün für Edelmut, Glauben und Islam. Das Chakrarad stellt die Unvermeidlichkeit des Daseins dar. Sein Blau symbolisiert die Meere und den Himmel, die 24 Radspeichen verkörpern die 24 Stunden des Tages.
Vor 2002 konnte die indische Bevölkerung die Flagge nur an Nationalfeiertagen frei wehen lassen. Nur die Regierungsgebäude und höheren Einrichtungen der Regierung durften dauerhaft beflaggt werden. Ein Industrieller aus Madhya Pradesh, Navin Jindal, richtete eine Petition an den High Court in Neu-Delhi, diese Beschränkung im öffentlichen Interesse fallen zu lassen. Jindal hatte früher eine Flagge auf seinem Büro gehisst, aber sie war konfisziert worden, da dies ein Verstoß gegen das nationale Flaggengesetz war. Jindal begründete seine Anfrage damit, dass es sein fundamentales Recht sei und er damit seine Liebe zu Indien ausdrücken wolle. Der Fall wurde an das oberste Gericht Indiens (Supreme Court) weitergegeben, welches der indischen Regierung empfahl, eine Kommission zu diesem Thema zu gründen. Das indische Unionskabinett veränderte das nationale Flaggengesetz mit Wirkung vom 26. Januar 2002. Es erlaubt nun der Allgemeinheit, die Flagge an allen Tagen zu hissen, wenn die Würde, die Ehre und der Respekt für die Flagge zu jeder Zeit sichergestellt sind.
Größere Universitäten in Indien wurden im Februar 2016 von der indischen Regierung angewiesen, die indische Flagge sichtbar und in über 60 Metern Höhe anzubringen. 46 Universitäten kamen dem Wunsch anschließend nach. Kritiker behaupteten, dass es sich dabei um eine Reaktion auf die Studentenproteste gegen die Festnahme eines Anführers der Studentenbewegung handeln würde.
Im Januar 2017 wurden Fußmatten mit dem Aufdruck der indischen Flagge auf der kanadischen Amazon-Webseite zum Verkauf angeboten. Die Verwendung der indischen Flagge auf diese Weise wurde in Indien als Verstoß gegen den indischen Flaggencode betrachtet und als Beleidigung aufgefasst, sodass die indische Außenministerin Sushma Swaraj mit einem Visumsembargo für Angestellte von Amazon drohte, wenn Amazon nicht alle derartigen Produkte zurückziehen würde und sich entschuldigte.
Herstellungsprozess
Nachdem Indien 1950 eine Republik wurde, gab das Bureau of Indian Standards (BIS) 1951 erstmals Bestimmungen zur Herstellung der Flagge heraus. Sie wurden 1964 an das Metrische System angepasst, das von diesem Zeitpunkt an in Indien gültig war. Am 17. August 1968 wurden die Bestimmungen nochmals verändert. Sie decken alle wichtigen Bereiche bei der Herstellung der Flagge einschließlich Größe, Färbemittel, chromatische Werte, Helligkeit, Fadenmaß und Hanfkordel ab. Diese Richtlinien sind sehr streng, da jeder Fehler in der Herstellung der Flaggen als ernste Straftat gesehen wird und mit einem Bußgeld oder einem Gefängnisaufenthalt (oder beidem) geahndet werden kann.
Khadi oder „handgesponnener Stoff“ ist das einzige Material, das für die Herstellung erlaubt ist. Rohmaterialien für Khadi dürfen nur Baumwolle, Seide und Wolle sein. Es gibt zwei Arten von Khadi: die eine für das Fahnentuch und die andere für den beigefarbenen Stoff, der die Flagge am Mast hält. Letzterer ist ein unübliches Gewebe, das drei Fäden miteinander verwebt, im Gegensatz zu zwei Fäden im Normalfall. Diese Webart ist extrem selten, und in Indien gibt es nur weniger als ein Dutzend Weber, die sie beherrschen. Die Richtlinien schreiben außerdem vor, dass es exakt 150 Fäden pro Quadratzentimeter und vier Fäden pro Masche sein sollen.
Das gewobene Khadi kommt aus zwei Handarbeitsbetrieben in den Distrikten Dharwad und Bagalkot des nördlichen Karnataka. Momentan gibt es nur einen zur Flaggenproduktion lizenzierten Betrieb, der sich in Hubballi befindet. Die Erlaubnis, in Indien eine Flaggenmanufaktur zu eröffnen, wird von der Khadi Development and Village Industries Commission (KVIC) vergeben. Jedoch hat das BIS die Möglichkeit, Lizenzen zu kündigen, wenn Betriebe gegen die Richtlinien verstoßen.
Wenn der Stoff gewoben ist, wird er an die BIS-Labore gesendet, um dort getestet zu werden. Besteht die Flagge die strengen Qualitätskontrollen, wird sie zur Fabrik zurückgeschickt. Sie wird dann gebleicht und in den richtigen Farben gefärbt. In der Mitte wird das Ashoka-Chakra mit dem Siebdruck-Verfahren aufgedruckt, mit einer Schablone aufgebracht oder passend gestickt. Dabei muss darauf geachtet werden, dass das Chakra auf beiden Seiten gut sichtbar und deckungsgleich ist. Das BIS überprüft noch einmal die Farben, bevor die Flagge verkauft werden darf.
Jedes Jahr werden 40 Millionen Flaggen in Indien verkauft. Die größte Flagge Indiens (6,3 m × 4,2 m) wird von der Regierung Maharashtras auf dem Mantralaya-Gebäude, dem Regierungsgebäude des Staates, gehisst.
Ordnungsgemäße Verwendung der Flagge
Respekt vor der Flagge
Erst seit 2002 dürfen auch Privatleute die Flagge Indiens verwenden. Indische Gesetze besagen, dass die Flagge jederzeit mit Würde, Loyalität und Respekt behandelt werden muss. Der „Flag Code of India – 2002“, der das Gesetz „The Emblems and Names (Prevention of Improper Use) Act, 1950“ ersetzte, befasst sich mit der Benutzung der Flagge. Die offiziellen Regeln schreiben vor, dass die Flagge niemals den Boden oder Wasser berühren, als Tischdecke benutzt, vor eine Plattform (Rednertribüne) drapiert werden oder eine Statue, einen Grundstein etc. bedecken darf. Bis 2005 durfte die Flagge auch nicht als Kleidungsstück, Uniform oder Kostüm verwendet werden. Am 5. Juli 2005 veränderte die indische Regierung das Gesetz und erlaubte den Gebrauch der Flagge als Kleidungsstück oder Uniform. Jedoch darf sie nicht unterhalb der Taille, auf Taschentüchern, Unterwäsche oder Kopfkissen benutzt werden.
Die Flagge darf nicht absichtlich verkehrt herum aufgehängt oder in etwas eingetaucht werden. Sie darf, im aufgerollten Zustand, nichts anderes enthalten als Blütenblätter, bevor sie entfaltet wird. Es sind keine Inschriften auf der Flagge erlaubt.
Handhabung der Flagge
Es gibt viele traditionelle Regeln des Respekts, die beachtet werden sollten, wenn man mit der Flagge zu tun hat. Außerhalb von Gebäuden sollte die Flagge immer bei Sonnenaufgang gehisst werden und bei Sonnenuntergang eingeholt werden, dies unabhängig von den Wetterbedingungen. Die Flagge kann, sofern sie beleuchtet ist, auch bei Nacht auf öffentlichen Gebäuden wehen.
Die Flagge sollte nie kopfüber gehisst, gezeigt oder abgebildet werden. Die Tradition schreibt dazu auch vor, dass die Flagge bei vertikaler Drapierung nicht um mehr als 90 Grad gedreht werden sollte. Die Flagge sollte wie ein Buch von oben nach unten und von links nach rechts „gelesen“ werden können. Es ist außerdem beleidigend, die Flagge ausgefranst oder beschmutzt zu zeigen. Ebenso sollten der Flaggenmast und die zum Hissen und Einholen benutzten Leinen in einem guten Zustand sein.
Korrekte Darstellung
Die Regeln, die sich mit den korrekten Methoden zur Darstellung der Flaggen befassen, schreiben vor, dass zwei Flaggen, die horizontal hinter einem Podium aufgestellt werden, mit ihren Halterungen zueinander, die safranfarbenen Streifen zuoberst gestellt werden. Wenn die Flagge auf einem kurzen Flaggenmast gezeigt wird, sollte dieser in einem Winkel zur Wand angebracht werden, damit die Flagge geschmackvoll drapiert werden kann. Wenn zwei Nationalflaggen mit gekreuzten Stäben aufgestellt werden, sollten die Halterungen zueinander zeigen und die Flaggen vollkommen ausgebreitet sein.
Zusammen mit anderen Ländern
Wenn die Nationalflagge zusammen mit Nationalflaggen anderer Staaten gehisst wird, gibt es einige Regeln. Am wichtigsten ist, dass sie immer an der Ehrenposition weht, das heißt, sie muss die Flagge am weitesten rechts (links vom Betrachter) sein. Daneben kommen, alphabetisch sortiert nach den englischen Namen der Staaten, die anderen Flaggen. Alle Flaggen sollten etwa gleich groß sein, jedoch keine größer als die indische, und auf separaten Masten gehisst werden. Keine Nationalflagge sollte am selben Mast über einer anderen wehen.
Es ist sowohl zulässig, die Reihe mit einer indischen Flagge anzufangen und zu beenden, als auch, sie in die alphabetische Reihenfolge einzuordnen. Sollten die Flaggen in einem geschlossenen Kreis angeordnet sein, markiert die indische Flagge den Beginn des Kreises, die anderen Flaggen folgen im Uhrzeigersinn. Die indische Flagge muss immer zuerst gehisst und zuletzt eingeholt werden. Die Flagge der Vereinten Nationen kann sich sowohl links als auch rechts von der indischen Flagge befinden. Üblicherweise befindet sie sich ganz rechts (vom Zuschauer aus ganz links).
Mit nicht-nationalen Flaggen
Wenn die indische Flagge zusammen mit Firmenflaggen oder Werbebannern gezeigt wird und auf einem eigenen Stab steht, sollte sie entweder in der Mitte oder vom Betrachter am weitesten links oder zumindest eine Flaggenbreite höher als die anderen Flaggen platziert werden. Der Flaggenmast der indischen Flagge muss vor den anderen Masten stehen; sollten alle Flaggen an einem Mast wehen, ist die indische die oberste.
Verwendung in Innenräumen
Wenn die Flagge bei Versammlungen aller Art in Innenräumen gezeigt wird, muss sie sich immer in der rechten Position befinden. Sie steht also zur rechten Hand eines Rednerpultes (vom Publikum aus gesehen links). Wird sie an anderer Stelle in der Halle gezeigt, steht sie rechts zum Publikum.
Die Flagge sollte vollkommen ausgebreitet gezeigt werden, der safranfarbene Streifen zuoberst. Wenn sie vertikal an der Wand hinter dem Podium befestigt wird, sollte sich der safranfarbene Streifen links vom der Flagge zugewandten Publikum befinden.
Paraden und Zeremonien
Die Flagge sollte bei Prozessionen oder Paraden rechts (in Bewegungsrichtung) getragen werden oder einzeln mittig und an der Spitze der Prozession. Die Flagge darf eine wichtige Rolle bei der Enthüllung von Statuen, Monumenten oder Plaketten spielen, jedoch niemals dazu dienen, diese zu bedecken. Aus Respekt vor der Flagge sollte sie niemals vor einer Person oder einem Objekt gesenkt werden. Flaggen von Regimentern, Organisationen oder Institutionen können aber als Ehrbezeugung gesenkt werden.
Während der Zeremonie des Hissens oder Einholens der Flagge oder wenn die Flagge in einer Parade getragen wird, sollten alle Personen zur Flagge schauen und sich in Hab-Acht-Stellung befinden, während die Flagge vorbei getragen wird. Anwesende Uniformträger sollten salutieren. Würdenträger dürfen auch ohne Kopfbedeckung salutieren. Nach dem Salut für die Flagge sollte die indische Nationalhymne gespielt werden.
Darstellung auf Fahrzeugen
Das Privileg, die Flagge auf einem Fahrzeug zu zeigen, ist einem ausgewählten Personenkreis vorbehalten, nämlich dem Präsidenten Indiens, dem Vizepräsidenten und dem Premierminister, Gouverneuren, stellvertretenden Gouverneuren und Ministerpräsidenten indischer Staaten, Kabinett-Ministern und Junior-Kabinett-Ministern des indischen Parlaments oder der Parlamente der indischen Staaten, den Sprechern der Lok Sabha (Unterhaus des indischen Parlaments) und der Staatsparlamente, Vorsitzenden der Rajya Sabha (Oberhaus des indischen Parlaments) und der Legislativräte (Parlamentsoberhäuser einiger indischer Staaten), Richtern des Supreme Courts und der High Courts sowie hochrangigen Offizieren des indischen Heeres, der Marine oder der Luftwaffe.
Sie können die Flagge an ihrem Fahrzeug anbringen, wenn sie es für nötig oder angebracht halten. Die Flagge sollte dabei auf einem Stab mittig vorn auf der Motorhaube oder ganz rechts befestigt sein. Wenn ein ausländischer Würdenträger mit einem Auto reist, das von der indischen Regierung bereitgestellt wurde, befindet sich die indische Flagge auf der rechten Seite des Autos und die ausländische Flagge auf der linken Seite.
Die Flagge sollte auf einem Flugzeug zusammen mit der Flagge des Besuchslands wehen, wenn der Präsident, der Vizepräsident oder der Premierminister damit zu einem Besuch in ein ausländisches Land reist. Neben der indischen Flagge wird auch die Flagge des besuchten Landes gezeigt, jedoch wird bei Zwischenlandungen in anderen Ländern als Zeichen des guten Willens und der Höflichkeit stattdessen die Flagge des jeweiligen Landes gezeigt.
Wenn der Präsident eine Reise innerhalb Indiens unternimmt, wird die Flagge auf der Seite des Flugzeugs gezeigt, an der er ein- oder aussteigt. Auch wenn der Präsident mit einem Sonderzug reist, wird die Flagge auf der Seite der Fahrerkabine angebracht, die dem Abfahrtsbahnsteig zugewandt ist. Die Flagge weht jedoch nur, wenn der Sonderzug steht oder in seinen Zielbahnhof einfährt.
Halbmast
Die Flagge weht als Zeichen der Trauer nur dann auf halbmast, wenn der Präsident die Anweisung dazu gibt. Er bestimmt auch die Dauer der Trauer. Zuerst wird die Flagge ganz gehisst und dann langsam auf halbmast gesenkt. Soll sie abends wieder eingeholt werden, wird sie bis ganz oben gezogen, dann komplett gesenkt. Nur die indische Flagge weht auf halbmast, alle anderen Flaggen wehen in normaler Höhe.
Die Flagge weht in ganz Indien auf halbmast im Falle des Todes des Präsidenten, des Vizepräsidenten oder des Premierministers. Für den Sprecher der Lok Sabha, einen Staatsminister oder den Vorsitzenden Richter des Obersten Gerichtshofes wird sie in Delhi, für einen Minister des Unionskabinetts in Delhi und den Staatshauptstädten auf halbmast gehisst. Beim Tode eines Gouverneurs, Stellvertretenden Gouverneurs oder Regierungschefs eines Bundesstaates oder Unionsterritoriums weht die Flagge im betroffenen Staat auf halbmast.
Falls die Nachricht vom Tode eines der oben genannten Würdenträger erst am Nachmittag ankommt, sollte die Flagge erst am nächsten Tag auf halbmast gesenkt werden, sofern das Begräbnis nicht bereits vor Sonnenaufgang an diesem Tag stattgefunden hat. Am Tag des Begräbnisses wehen die Flaggen am Ort des Begräbnisses auf halbmast.
Fällt ein Halbmasttag mit dem Tag der Republik, dem Unabhängigkeitstag, Mahatma Gandhis Geburtstag, der Nationalwoche (6. bis 13. April) oder einem anderen Tag nationalen Jubels, wie beispielsweise dem Gründungsjubiläum eines indischen Staates, zusammen, ist es verboten, die Flagge auf halbmast zu senken, außer auf dem Gebäude, in dem der Leichnam liegt, bis er entfernt wurde. Die Flagge ist dann wieder nach oben zu ziehen.
Staatstrauer beim Tod eines ausländischen Würdenträgers wird vom indischen Innenministerium in speziellen Fällen bekannt gegeben. Im Falle des Todes des Staatsoberhaupts oder Regierungschefs eines fremden Staates kann die indische Botschaft in diesem Land die indische Nationalflagge auf halbmast senken, auch dann, wenn der Todestag auf einen indischen Nationalfeiertag fällt. Beim Tod anderer Würdenträger dieses Landes soll die indische Flagge nicht auf halbmast gesenkt werden, außer wenn das diplomatische Protokoll oder die Gebräuche des jeweiligen Landes dies verlangen.
Bei einem Staatsbegräbnis oder militärischen Begräbnis soll die Flagge mit dem safranfarbenen Streifen zum Kopf des Toten auf den Sarg oder die Totenbahre gelegt werden. Die Flagge darf jedoch nicht ins Grab gesenkt oder mit dem Toten verbrannt werden.
Vernichtung
Wenn die Flagge in einem unbrauchbaren Zustand ist, sollte sie auf einem ehrbaren Weg vernichtet werden, am besten durch Verbrennung.
Literatur
Uma Prasad Thapliyal: The Dhvaja: Standards and Flags of India – A Study. Apt Books, BR Publishing Corporation, Delhi 1983.
Our Flag. Ministry of Information and Broad Casting, Publications Division, Indien 1963 (englisch).
Naval Ensign, Distinguishing Flags and Pendants, Design and Proportions. (PDF) Indian Navy, 2004 (englisch)
Nicki Grihault: India: A Quick Guide to Customs & Etiquette. Graphic Arts Center Publishing Company, Portland OR 2003, ISBN 1-55868-705-X. (englisch)
Dorling Kindersley: Complete Flags of the World. Dorling Kindersley, London 2005, ISBN 1-4053-1170-3. (Informationen zu Symbolik und Geschichte, englisch)
Eva Grieger: Flaggen-ABC. 196 Nationalflaggen. Delius Klasing Verlag, Hamburg 2001, ISBN 3-89225-441-9.
Dietmar Rothermund: Geschichte Indiens. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. C. H. Beck Verlag, München 2002, ISBN 3-406-47994-4.
Weblinks
The Flag Code of India. Ministry of Home Affairs India (Das indische Flaggengesetz, englisch)
The National Flag. Indian National Congress (Die Nationalflagge, englisch)
Flag Code of India, 2002. Press Information Bureau (Das indische Flaggengesetz von 2002, englisch)
Tiranga. Liveindia (englisch)
India. Flags of the World (Überblick mit Abbildungen, englisch)
Indische Nationalflagge (englisch)
Einzelnachweise
Indien
Nationales Symbol (Indien)
Indien |
103551 | https://de.wikipedia.org/wiki/Arnolf%20von%20K%C3%A4rnten | Arnolf von Kärnten | Arnolf von Kärnten (auch Arnulf, Arnold; * um 850; † 8. Dezember 899 in Regensburg) aus dem Adelsgeschlecht der Karolinger war ab 887 König des Ostfrankenreiches und von 896 bis 899 römischer Kaiser.
Arnolfs Vorgänger Karl III. („der Dicke“) vereinte für kurze Zeit alle drei Teilreiche und damit das Reich Karls des Großen unter seiner Herrschaft. Angesichts der sich abzeichnenden Regierungsunfähigkeit Karls konnte ihn Arnolf mit Hilfe der Bayern, Franken, Sachsen, Thüringer und Alemannen stürzen und selbst die Königswürde übernehmen. Arnolf beschränkte sich auf das Ostreich seines Großvaters, Ludwigs des Deutschen, während in den übrigen Teilen des Frankenreiches andere Große die Königswürde beanspruchten. Ab 888 konnte Arnolf seine Herrschaft über Lothringen wie auch Reichsitalien festigen. Mit seinem Sieg an der Dijle bei Löwen 891 fanden die Normannenüberfälle auf das Ostfrankenreich ein Ende. Die dadurch im Norden erreichte Stabilität förderte den Aufstieg der Liudolfinger, die wenige Jahrzehnte später die Königsfamilie im Reich stellten. Arnolfs Pakt mit den Ungarn, die im 10. Jahrhundert zur größten Bedrohung für das Ostfrankenreich werden sollten, verdüsterte sein Bild in der Nachwelt. In Rom ließ sich Arnolf 896 zum Kaiser krönen. Zu seiner Zeit erreichte Regensburg den Höhepunkt seiner Bedeutung als Herrschaftszentrum im Ostfrankenreich.
Leben
Herkunft
Arnolf entstammte dem Geschlecht der Karolinger, die seit 751 die fränkische Königswürde innehatten. Er war ein außerehelicher Sohn des ostfränkischen Königs Karlmann mit einer Adligen namens Liutswind, deren Herkunft ungewiss ist. Damit war er ein Ururenkel Karls des Großen und Enkel Ludwigs des Deutschen. Seine Mutter ist als „nobilissima femina“ (hochedle Frau) bei Regino von Prüm und Notker I. bezeugt, was in der Forschung zu einer Einordnung bei den Luitpoldingern geführt hat. Man hat sie aber auch den Ebersbergern und Sighardingern zugeordnet. Später wandte sich Karlmann von Liutswind ab; vor 861 heiratete er eine namentlich unbekannte Tochter des Markgrafen Ernst. Diese Ehe blieb kinderlos.
Nach Brigitte Kasten war eine uneheliche Abkunft in der Karolingerzeit nicht von Nachteil und kein Ausschlusskriterium für die Königsherrschaft. Das „Rechtsargument der Illegitimität“ sei bei der Herrschaftsnachfolge „weniger eine Generationen übergreifende Normbildung als in erster Linie eine variabel gehandhabte Strategie des Machterhalts“ gewesen. Nach einer neueren Forschungsmeinung beruhte die monarchische Autorität eines unehelich geborenen Herrschers weniger auf seiner väterlichen Abstammung als auf seiner Fähigkeit, sich in die Adelsgesellschaft zu integrieren. Bei den Geschichtsschreibern trat Arnolfs uneheliche Geburt in den Hintergrund. Dagegen versucht Matthias Becher nachzuweisen, dass Arnolf ehelich geboren war. Becher vermutet, „dass Arnulf vielleicht nur zu einem Zeitpunkt geboren wurde, zu dem Ludwig der Deutsche als Vater Karlmanns dessen Ehe mit der Tochter des aufständischen Markgrafen Ernst nicht anerkannt hatte – vielleicht auch nur rückwirkend“.
Ludwig der Deutsche schickte 856 seinen Sohn Karlmann in die bairischen Marken, um diese wichtige Region unter seine Kontrolle zu bringen. Karlmann betrieb jedoch eine so eigenständige Politik, dass Ludwig dies als Aufstand auffasste. Eigenmächtig schloss Karlmann 858 Frieden mit dem von den Ostfranken seit Jahren bekämpften Rastislav von Mähren. Die folgenden Jahre waren von Rebellion und Ausgleich zwischen Vater und Sohn geprägt. Erst 865 söhnte sich Ludwig dauerhaft mit Karlmann aus. Nach Ludwigs Tod erhielt Karlmann 876 Bayern, Pannonien und Karantanien sowie die Reiche der Slawen, worauf er vermutlich im selben Jahr seinem Sohn Arnolf einen Herrschaftsraum in Karantanien und Pannonien zuwies. Zu diesem gehörte nach Regino von Prüm auch die Moosburg. Darauf beruht die Hypothese, dass Moosburg Arnolfs Geburtsort sei. Heinz Dopsch vermutet jedoch angesichts der bayerischen Herkunft von Arnolfs Mutter, dass er wohl eher in Bayern, vielleicht in Regensburg geboren wurde.
Entmachtung Karls III. und Königserhebung Arnolfs
Die Herrschaftszeit Ludwigs des Deutschen war mit 50 Jahren ungewöhnlich lang. Dies hatte zur Folge, dass seine Söhne erst in relativ hohem Alter an die Macht kamen. Mit seinem Tod setzte 876 eine rasche Folge von Herrscherwechseln im Ostreich ein. Ähnlich wie im Westreich reduzierte sich durch mehrere unerwartete Todesfälle die Anzahl der karolingischen Könige und Königssöhne. Die älteren Söhne Ludwigs des Deutschen, Karlmann und Ludwig der Jüngere, starben bereits 880 bzw. 882. Ludwig der Jüngere hatte zuvor schon seine beiden Söhne Ludwig († 879) und Hugo († 880) verloren. Dadurch konnte Karl III. „der Dicke“, der jüngste Sohn Ludwigs des Deutschen, für kurze Zeit alle drei Teilreiche und damit noch einmal das gesamte Frankenreich unter seiner Herrschaft vereinen. Die raschen Herrscherwechsel sowie Karls lange Aufenthalte in Italien und im Westreich beeinträchtigten aus der Sicht der ostfränkischen Großen die Kontinuität der Herrschaftsausübung im Osten. Karls Ehe mit der Alemannin Richgardis blieb kinderlos, so dass mit Arnolf und Bernhard aus der Linie Ludwigs des Deutschen nur zwei uneheliche Königssöhne verblieben. Karl sah offenbar strikt von einer Favorisierung Arnolfs als Nachfolger ab, da er ihn in keiner seiner Urkunden erwähnte. Im Mai 887 adoptierte er den höchstens sechsjährigen Ludwig, den Sohn des im Januar verstorbenen Boso von der Provence. Damals litt er schon seit einiger Zeit unter heftigen Krankheitsattacken und zunehmendem Siechtum. Er ahnte offenbar, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, denn ab etwa 885 finden sich in seinen Diplomen in auffälliger Form zahlreiche Bestimmungen für sein Seelengedächtnis. Die Krankheit, die Bedrohungen durch Normannen, Slawen und Mährer sowie die ungelöste Nachfolgefrage erschütterten Karls Autorität im Reich.
Als im November 887 in Tribur eine Reichsversammlung zusammentreten sollte, war Karls Regierungsunfähigkeit den Großen bereits deutlich geworden. Sie blieben der Versammlung fern und verweigerten damit ihre Zustimmung. Ein Boykott solchen Ausmaßes kam einer Herrscherverlassung – der faktischen Aufkündigung der Loyalität – gleich. Den Grund dafür sieht man traditionell in der gängigen Einschätzung Karls „des Dicken“ als schwacher und lethargischer Herrscher. Nach Simon MacLean (2003) hingegen war nicht ein persönliches Versagen Karls oder seine Krankheit für seinen Sturz entscheidend, vielmehr lag die Ursache in strukturellen Mängeln eines zu wenig institutionalisierten Herrschaftsapparates; eine in den Quellen teils suggerierte lange vorbereitete Verschwörung von Adelskreisen sei ebenso unzutreffend. Achim Thomas Hack untersuchte 2009 das Itinerar des Königs, seine Bereitschaft zur konsensualen Herrschaft mit den Großen und die überlieferten Urkunden der letzten 13 Monate vor dem Sturz; dabei konnte er keine Beeinträchtigung der Herrschaftsausübung Karls feststellen.
Die ostfränkischen Großen brachten Arnolf aufgrund seines Alters und seiner politischen und militärischen Qualifikation größeres Vertrauen entgegen als dem um 876 geborenen Bernhard. Daher huldigten sie ihm als ihrem neuen König. Zeitgenössische Geschichtsschreiber sahen diesen Schritt als Zäsur an. Die bairische Fortsetzung der Fuldaer Annalen notierte, dass in „Europa“ viele Kleinkönige (reguli) hervortraten. Im Jahr 888 griffen gleich sechs nichtkarolingische Prätendenten nach dem Königtum: im Westfrankenreich der Robertiner Odo, in Hochburgund der Welfe Rudolf, in Italien Berengar von Friaul und Wido von Spoleto, in der Provence Ludwig III., in Aquitanien Ramnulf von Poitiers. Sie alle außer Wido huldigten Arnolf, der sie seinerseits in ihren Machtbereichen anerkannte. Er erhob keine über das ostfränkische Reich hinausgehenden Herrschaftsansprüche.
Die verbliebenen Anhänger des Kaisers musste Arnolf teils gewaltsam unterwerfen, teils durch Drohungen, Ehrungen oder Zugeständnisse für sich gewinnen. Karls letzte Urkunde datiert vom 17. November, Arnolfs erste vom 27. November 887. Nach Hagen Keller fand die eigentliche Wahl Arnolfs erst Mitte Dezember 887 in Forchheim statt. Mit seiner Wahl in Forchheim begründete Arnolf die Tradition eines festen Orts der Königswahl. Er urkundete dort am 11. und 12. Dezember. Der gestürzte Karl starb allein und verlassen bereits am 13. Januar 888 im alemannischen Neudingen. Mit seiner faktischen Beschränkung auf das Ostfrankenreich machte Arnolf den Weg für die Etablierung nichtkarolingischer Herrschergeschlechter in den anderen Teilen des fränkischen Gesamtreichs frei. Anfang 888 empfing er in Regensburg die Großen aus Bayern, Ostfranken, Sachsen, Thüringen und Alemannien sowie zahlreiche Slawen. In der zweiten Jahreshälfte begann er allmählich, sich als unumstrittener Oberherr des Gesamtreichs zu inszenieren. Die von ihm akzeptierten reguli sollten seine eher formale Oberhoheit respektieren. Dadurch schaffte er es, „als anerkanntes Oberhaupt der Deszendenten Karls des Großen auf der Basis eines gesicherten Teilreichs […] eine lockere Suprematie über die anderen zu wahren, die sich nun ebenfalls Könige nannten“.
Bernhard, der uneheliche Sohn Karls des Dicken, lehnte sich 890 von Alemannien aus mit geistlichen und weltlichen Großen gegen Arnolf auf. Namentlich bekannte Teilnehmer dieses Aufstands sind Abt Bernhard von St. Gallen, ein Priester Isanrich und ein Udalrich, der Inhaber mehrerer alemannischer Grafschaften und Sohn eines nepos (Neffen) Ludwigs des Deutschen war. Die Erhebung wurde niedergeschlagen, Bernhards Anhänger verloren Ämter und teilweise ihren Besitz. Bernhard selbst konnte über Rätien nach Italien entkommen. Dort wurde er 891 vom rätischen Markgrafen Rudolf umgebracht.
Herrschaftsstruktur und Herrschaftspraxis
Politik gegenüber weltlichen und geistlichen Großen
Die ältere verfassungsgeschichtliche Forschung sah seit dem 19. Jahrhundert die Karolinger an der Spitze eines hierarchisch auf die Person des Königs ausgerichteten Herrschaftsverbandes. Darin liegt aus heutiger Sicht eine Überschätzung der Macht des Königs, der nicht der allein dominierende Herrschaftsträger war. Vielmehr war es seine Aufgabe, durch Verfügungen und deren Umsetzung Ordnung in das komplizierte Herrschaftsgefüge zu bringen. Dem karolingischen König fehlte weitgehend ein institutioneller Herrschaftsapparat. Er musste die anderen Herrschaftsträger im Konsens zur Mitwirkung gewinnen („konsensuale Herrschaft“). Trotz regem schriftlichem und mündlichem Austausch über Boten konnten angesichts der Größe des Reichs und der schlechten Verkehrsbedingungen Probleme nur im persönlichen Zusammentreffen mit Beteiligung aller wichtigen Personen geklärt werden. In vertraulichen Gesprächen mit einer beschränkten Teilnehmerzahl wurde der Konsens erzeugt. Durch Geschenke, Versprechungen und Drohungen konnte der König diese Verhandlungen in seinem Sinne beeinflussen. Seine Anhänger musste er für treue Dienste belohnen. So ist von Arnolf eine hohe Anzahl an Schenkungsurkunden für bayerische Adlige überliefert. Mit der Herstellung von Konsens demonstrierte der Herrscher seine Integrationsfähigkeit. Die Gruppe von Adligen, die seine Entscheidungen mitbestimmte, war relativ klein. Von den 150 bis 200 geistlichen und weltlichen Amtsträgern des ostfränkischen Reiches war nur ein Bruchteil an wichtigen politischen Entscheidungen beteiligt. Die Beziehungsnetzwerke zum König waren dabei ständigen Wandlungen unterzogen. Ein dominierender Berater ist bei Arnolf nicht auszumachen. Liutward von Vercelli, der unter Karl III. eine außerordentliche Vertrauensstellung eingenommen hatte, spielte nach dessen Sturz keine Rolle mehr. Nur ein einziges Mal – im Sommer 888 – ist er bei Arnolf nachzuweisen, und dies in völlig unbedeutender Position. Der wohl engste Vertraute unter den weltlichen Großen war Luitpold von Bayern. Er wurde 893 zunächst Graf von Karantanien und übernahm dann eine führende Stellung im gesamten bayerischen Markengebiet.
Das Ostfränkische Reich bildete zwar den Machtbereich des Königs, war aber ebenso wie das Westreich nicht durch den Bezug auf seine Person oder auf das Karolingergeschlecht bestimmt. Nach dem Verständnis der Großen stellte ein Reich eine eigenständige Einheit dar, die letztlich der Verfügung der adligen Führungsschicht unterstand. Dieser stand es grundsätzlich zu, nicht nur einen Herrschersturz, sondern auch einen Dynastiewechsel herbeizuführen. Herrscherverlassungen und „Einladungen“ zur Herrschaftsübernahme kamen in spätkarolingischer Zeit nicht nur vereinzelt vor. Als im Jahr 888 westfränkische Große Arnolf die dortige Herrschaft anboten, da sie den karolingischen Thronerben wegen seiner Unmündigkeit nicht akzeptieren wollten, lehnte er ab. Stattdessen lud er den nichtkarolingischen Prätendenten Odo zu einer Zusammenkunft ein und schloss im August 888 ein Freundschaftsbündnis mit ihm. Im November 888 ließ sich Odo in Reims mit einer Krone, die er von Arnolf erhalten hatte, zum zweiten Mal zum westfränkischen König krönen, nachdem er schon im Februar im Anschluss an seine Königswahl gekrönt worden war.
Von Arnolfs 176 überlieferten Urkunden wurden 72 in den ersten beiden Regierungsjahren vom 27. November 887 bis zum 8. Dezember 889 ausgestellt. Bereits aus den ersten hundert Tagen (27. November 887 bis 23. Februar 888) sind 18 Königsurkunden überliefert. Von keinem anderen frühmittelalterlichen Herrscher ist eine so hohe Anzahl an Urkunden aus den ersten drei Monaten erhalten. Geoffrey Koziol meint, die bisherige Forschung habe die Bedeutung des karolingischen Urkundenwesens unterschätzt. Die Karolingerurkunden seien nicht als bloße Rechtsakte im Verwaltungshandeln zu betrachten, vielmehr seien sie als wichtige Akte der Herrschaftsrepräsentation und zentrale Medien der Machtsicherung zu würdigen. Bei der Herrschaftsnachfolge seien sie als Mittel der Legitimation bedeutsam gewesen. Sie hätten dem Aufbau von Beziehungen zu den Großen und den Klöstern des Reiches gedient. Insbesondere die ersten und die letzten Urkunden eines Königs seien für Legitimationsstiftung und -verlust wichtig gewesen.
Mit 27 Prozent ist der Anteil der weltlichen Empfänger deutlich höher als bei Ludwig dem Deutschen, Ludwig dem Jüngeren oder Karl III. Der durch Rebellion an die Herrschaft gekommene Arnolf versuchte, mit Hilfe zahlreicher Diplome für weltliche Empfänger deren Gunst zu erwerben. Besonders im Südosten des Reiches ist eine hohe Anzahl an Schenkungen für geistliche und weltliche Große aus seinem ersten Jahr überliefert. Dabei ist in den Arengen, den Einleitungen seiner Urkunden, ausdrücklich vom erwiesenen crebrum servicium (zahlreiche Dienste) oder obsequium (Gehorsam) der Begünstigten zu lesen.
Unter den Empfängern sind 130 Geistliche auszumachen. 53 Urkunden wurden für Klöster ausgestellt. Besonders begünstigt wurde St. Gallen mit sechs Urkunden; Reichenau und Fulda erhielten jeweils vier, Lorsch und Metten je drei. Corvey, Gandersheim, Prüm, St. Maximin bei Trier, St. Arnolf in Metz, Ötting und Kremsmünster wurden mit jeweils zwei Urkunden bedacht. Die Bischofskirchen und Bistümer bilden mit 37 Urkunden die zweite große Empfängergruppe. Zehn Urkunden gingen an Erzbischöfe und Bischöfe, 22 an einzelne Kirchen oder Kapellen. Arnolf stattete besonders kirchliche Institutionen außerhalb Bayerns aus, um sich ihre Unterstützung zu sichern. Ein Schwerpunkt lag hierbei auf Alemannien (St. Gallen und Reichenau) und Lothringen.
Arnolf war um ein Kräftegleichgewicht zwischen den einzelnen Interessengruppen im Reich bemüht. Zu Beginn seiner Herrschaft stützte er sich vor allem auf die Konradiner, die im östlichen Franken und Lothringen begütert waren. Höhepunkt dieser Politik, mit der Arnolf den Einfluss der Babenberger zurückdrängen wollte, war die Besetzung des Bistums Würzburg mit dem jüngsten Konradiner Rudolf. Dadurch stiegen die Konradiner zum mächtigsten Adelsgeschlecht des Reiches auf. Ihre massive Begünstigung seit 892 machte Arnolf allerdings ab etwa 895 teilweise rückgängig; sie mussten ihre nach Osten gerichteten Ambitionen zurückstellen.
Für eine enge Zusammenarbeit des Königs mit den Bischöfen waren die Synoden von besonderer Bedeutung. Zwischen 873 und 887 war trotz vielfältiger Bemühungen keine Bischofsversammlung zustande gekommen. Unter Arnolf stieg die Anzahl der Synoden und ihrer Beschlüsse; zu seiner Zeit tagten von 888 bis 895 sechs Synoden. Bei der Einberufung dieser Bischofsversammlungen kam dem König eine wichtige Rolle zu. Arnolf konnte sie zur Herrschaftsrepräsentation nutzen. Nach Wilfried Hartmann bemühten sich die Bischöfe spätestens ab 888 um ein gutes Verhältnis zu ihm. Den Höhepunkt seiner Autorität erreichte Arnolf im Jahr 895 auf der Synode von Tribur, auf der er den Vorsitz führte. Die Bischöfe feierten ihn als Herrscher von Gottes Gnaden.
Itinerar und Zentralorte
Die Effizienz der Herrschaft hing wesentlich von der persönlichen Präsenz des Königs bei einer sehr kleinen Gruppe herausgehobener Herrschaftsträger ab. Um den für die Konsensbildung notwendigen Kontakt herzustellen, musste der König so oft wie möglich die persönliche Begegnung mit den Großen suchen. Bei einer zu langen Verweildauer an einem Ort drohte eine Entfremdung zwischen dem Herrscher und den Großen entfernter Regionen. So vermerkte der Regensburger Fortsetzer der Fuldaer Annalen kritisch, Arnolf habe sich zu lange in Regensburg aufgehalten. Die karolingischen Könige reisten vornehmlich von Pfalz zu Pfalz. Neben den aktuellen politischen Erfordernissen bestimmte auch der jeweilige Gesundheitszustand des Herrschers das Itinerar. Anders als seine Vorgänger verließ Arnolf das ostfränkische Reich nur für zwei Feldzüge gegen die Mährer (892 und 893) und seine beiden Italienzüge (894 und 895/96).
Unter Arnolf verschoben sich ab 888 die räumlichen Schwerpunkte im ostfränkischen Reich. Im von Karl III. bevorzugten Alemannien war Arnolf lediglich in den Anfangsjahren seiner Regierung anzutreffen. Nur auf dem Rückweg von Burgund im Frühjahr 894 hielt sich Arnolf noch einmal in Alemannien auf. Zentrale Bedeutung erhielt vor allem Bayern, der Herrschaftsschwerpunkt seines Vaters. Regensburg entwickelte sich unter Arnolf zu einem herausragenden Herrschaftszentrum. Dort wurde etwa ein Drittel seiner Urkunden ausgestellt. Als Versammlungsort trat es neben Rheinfranken. In Regensburg fanden vier Reichsversammlungen statt (887/888, 895, 897 und 899). In unmittelbarer Nähe zur Regensburger Abtei St. Emmeram begann Arnolf mit dem Bau einer neuen Königspfalz. Nach Peter Schmid hat Arnolf mit der Königspfalz, der Verehrung des heiligen Emmeram als Reichspatron und dem Bestreben, die Kirche des Heiligen als karolingische Grablege zu begründen, in Regensburg „einen ideellen Mittelpunkt seines Reichs schaffen wollen“. In Regensburg weilte er mit 22 Aufenthalten am häufigsten; er ist dort in jedem Jahr seiner Regierungszeit nachweisbar und machte die Stadt zum bevorzugten Ort seiner Herrschaft. Dreimal verbrachte er den Winter dort und sechsmal beging er dort das Osterfest. Mit deutlichem Abstand folgt Frankfurt mit 11 Aufenthalten. Im Gegensatz zu seinem Großvater Ludwig, dem als König neben Regensburg das Rhein-Main-Gebiet mit dem Zentrum Frankfurt gleich wichtig gewesen war, konzentrierte sich Arnolf vornehmlich auf Bayern. Allerdings titulierte er sich anders als sein Vater Karlmann nicht als rex Baiuvorum (König der Bayern).
Ein Vergleich der Urkundenpraxis des ostfränkischen Königs mit seinem Itinerar zeigt, dass sein Wirkensbereich im Hinblick auf seine persönlichen Kontakte keineswegs auf die politischen Zentrallandschaften begrenzt blieb. So besuchte er Sachsen lediglich einmal, doch kamen von dort kontinuierlich Bittsteller mit ihren Wünschen zu ihm nach Rheinfranken.
Zusammensetzung von Kanzlei und Hofkapelle
Mit dem Sturz Karls III. verschwand auch dessen Kanzlei. Nach Mark Mersiowsky gab es „kaum Kontinuitäten von ihm zu Arnolf“. Arnolf konnte beim Sturz seines Vorgängers nicht auf eine eigene Kanzlei zurückgreifen. Ein Großteil der bei der Urkundenausstellung anfallenden Arbeit wurde daher an die Empfänger delegiert. Als Kanzleileiter nahm der Regensburger Diakon Aspert von 888 bis 891 großen Einfluss auf die Kanzleigeschäfte. Nach Asperts Ernennung zum Regensburger Bischof im Juli 891 erlangte der Notar Engilpero bis März 893 größere Bedeutung im Urkundenwesen. Das eigentliche Urkundengeschäft wurde in der Kanzlei von zahlreichen Gelegenheitsschreibern besorgt. Daher fiel die Gestaltung der Urkunden unterschiedlich aus. Die nach Arnolfs Kaiserkrönung ausgestellten Urkunden zeigen eine „imperiale Stilisierung“. Infolge seines Schlaganfalls 896 und seiner eiligen Rückkehr vom Romzug blieben die Änderungen allerdings langfristig gering.
Die Hofkapelle am Königshof war für die Seelsorge und für die Abhaltung von Gottesdiensten zuständig. Von Karl III. hatte Arnolf zahlreiche Hofgeistliche übernommen. Mehrere Angehörige der Hofkapelle wurden auf ostfränkische Bischofssitze befördert. Salomo wurde 890 Bischof von Konstanz und Abt von St. Gallen. Der Hofkapellan Hatto wurde 888 Abt von Reichenau und 891 Erzbischof von Mainz. Arnolf hob Personen in Führungspositionen, die ihm am Beginn seiner Herrschaft ferngestanden hatten. Dem Freisinger Bischof Waldo, dem Bruder Salomos, wurde 889 die schwäbische Abtei Kempten übertragen. Von solchen Erhebungen in geistliche Ämter versprach sich Arnolf Loyalität der Amtsträger und eine Bindung ihrer Familien an ihn als Herrscher. Hatto von Mainz und Waldo von Freising sind häufig in der Umgebung des Herrschers nachgewiesen. Sie begleiteten Arnolf bei seinem Italienzug Anfang 894 und auch bei dem zweiten Italienzug 895/96 zur Kaiserkrönung.
Normannen
Im Verlauf des 9. Jahrhunderts fielen wiederholt Normannen in das Frankenreich ein. So wurden 881 Maastricht, Tongern und Lüttich geplündert. Die wenigen Abwehrerfolge wurden vor allem von regionalen Kräften unter der Führung von Adligen und Bischöfen errungen, während Karl III. gegen die Normannen militärisch erfolglos blieb. Den Abzug der Invasoren von ihrem Stützpunkt Asselt (nördlich von Roermond) im Sommer 882 konnte Karl nur durch reiche Geschenke erreichen. Die Geschenke deuteten Zeitgenossen als Tributzahlungen und als Beweis für seine geringe Befähigung als Herrscher. An einem Feldzug Karls im Sommer 882 gegen die Normannen hatte Arnolf teilgenommen.
Im Sommer 891 zog Arnolf mit einem Heer zuerst nach Arras und anschließend nach Löwen und konnte mit seinem Sieg an der Dijle die Normannenüberfälle auf das Ostfrankenreich beenden. Die Normannen wandten sich daraufhin endgültig von seinem Teilreich ab und konzentrierten sich fortan auf das Westfrankenreich. Dadurch konnte sich der Norden von Arnolfs Reich festigen.
Feldzüge gegen die Mährer und Pakt mit den Ungarn
Die Mährer gehörten zu den gefährlichsten Gegnern des ostfränkischen Reiches in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts. Über Jahrzehnte versuchten die mährischen Herrscher Moimir, Rastislav und Svatopluk I. (Zwentibald), sich aus der fränkischen Oberherrschaft zu lösen und ein Königreich aufzubauen. Zu Konflikten kam es, da sich beide Seiten für Unterpannonien interessierten. In Forchheim konnte 874 ein Frieden des Ostfrankenreichs mit den Mährern geschlossen werden, der anscheinend zehn Jahre Bestand hatte; jedenfalls sind für diese Zeitspanne keine Kampfhandlungen überliefert. Bei seinem Herrschaftsantritt 876 in Karantanien und Pannonien unterhielt Arnolf gute Beziehungen zu dem Mährerfürsten Svatopluk, der schon um 870/71 die Taufpatenschaft von Arnolfs Sohn Zwentibold übernommen hatte. Nach seiner Königswahl war Arnolf zunächst an einem Frieden mit Svatopluk gelegen. Im Frühjahr 890 trat er ihm deshalb die Oberhoheit über Böhmen ab. Der 891 erneuerte Friedensvertrag hielt aber nur kurze Zeit. Arnolfs ruhmreicher Sieg über die Normannen ermöglichte es ihm, seine Königsherrschaft im ostfränkischen Reich zu konsolidieren und den Kampf gegen Svatopluk aufzunehmen. Er wollte seine Position im Osten stärken und verlorene Gebiete zurückerobern. Gegen das Mährerreich unternahm Arnolf im Sommer 892 und 893 Feldzüge. Nach Svatopluks Tod 894 konnte er mit dessen Söhnen Frieden schließen.
Bei den Kämpfen gegen die Mährer und auch im weit entfernten Italien griff Arnolf auf die Ungarn als Verbündete zurück. Man warf ihm daher später vor, er habe die Ungarn ins Frankenreich geholt und ganz Europa den ungarischen Plünderungszügen ausgeliefert. Diese Vorwürfe finden sich bei zeitgenössischen Autoren nicht, sie wurden erst mehrere Jahrzehnte später rückblickend erhoben. Heinz Dopsch konnte zeigen, dass die Ungarn beim Bündnisschluss 892 noch keine Nachbarn des Ostfränkischen Reiches waren und somit keine unmittelbare Gefahr bedeuteten. Bis zu Arnolfs Tod hielten sie sich an ihre Bündnisverpflichtungen, erst danach begannen ihre Plünderungszüge nördlich und südlich der Alpen.
Sachsen
Sachsen gehörte auch unter Arnolf zu den königsfernen Gebieten des Ostfrankenreiches. Arnolf hielt sich nur ein einziges Mal dort auf, als er es 889 zum Ausgangspunkt seines ersten größeren, aber glücklosen Feldzuges gegen die Abodriten machte. Auch Arnolfs Urkundentätigkeit kennzeichnet Sachsen als Peripherie. Von 176 ausgestellten Urkunden richtete Arnolf nur 12,5 Prozent an sächsische Empfänger. Das bedeute zwar bereits eine erhebliche Steigerung gegenüber den Verhältnissen unter Karl dem Großen oder Ludwig dem Frommen, unter deren Herrschaft Sachsen mit 0,91 bzw. 3,2 Prozent nur geringfügig bedacht worden war, blieb aber gleichwohl noch weit hinter den Beurkundungen für Adressaten in seinen Kernzonen Baiern und Franken zurück.
Dennoch blieb Sachsen auch im ausgehenden 9. Jahrhundert ein fester Bestandteil des Reiches. Adel und Episkopat in Sachsen erkannten Arnolfs Herrschaft an und suchten die Nähe des Königs. Die Bischöfe wurden vom König eingesetzt, erschienen auf den Reichsversammlungen und beteiligten sich an seinen Kriegszügen. Arnolf wiederum belohnte diese Treue. Dabei wurde kein anderer weltlicher Großer im Reich so üppig begünstigt wie der Graf Ekbert.
Nach den Forschungen Matthias Bechers lässt sich unter dem ostfränkischen König Arnolf in Sachsen noch keine Vormachtstellung des späteren Königshauses der Liudolfinger nachweisen. Stattdessen kämpften im 9. und zu Beginn des 10. Jahrhunderts noch verschiedene Adelsfamilien um die Vorherrschaft im östlichen Franken, in Sachsen und in Thüringen. Erst um das Jahr 900 setzte sich mit Otto dem Erlauchten ein Liudolfinger durch. Die Familie verfügte unter Arnolf im südöstlichen Sachsen und im nördlichen Thüringen bereits über hohes Ansehen und eine starke Position, was Arnolf dazu bewogen haben wird, seinen Sohn Zwentibold mit Ottos Tochter Oda zu verheiraten. Trotzdem war das Verhältnis Arnolfs zu Otto großen Schwankungen zwischen Distanz und Nähe unterworfen, denn der karolingische König förderte zeitweilig das Vordringen der mit den Babenbergern und Liudolfingern verfeindeten Konradiner nach Thüringen.
Lothringen
Lothringen war seit vielen Jahren herrschaftlich zersplittert. Den Sturz Karls III. versuchte der Welfe Rudolf zu nutzen, um dort die Herrschaft zu übernehmen. Daraufhin zog Arnolf von Rheinfranken ins Elsass. Die Kämpfe übernahm für ihn eine alemannische Heeresabteilung. Arnolf konnte sich Lothringen sichern, Rudolf wurde als König von Hochburgund anerkannt und bekam die westlichen Alpen und ihr Vorland als Herrschaftsgebiet zugesprochen. Von 895 bis 900 wurde Lothringen mit Arnolfs Sohn Zwentibold einem eigenen König unterstellt. Damit stand erstmals wieder ein Einzelner dem gesamten Regnum vor. In Lothringen erschien Arnolf seitdem nicht mehr. Angesichts des Fehlens von Urkunden für lothringische Empfänger nach Zwentibolds Herrschaftsantritt geht Johannes Fried von einem Desinteresse Arnolfs am Mittelreich aus.
Italien
In Italien kämpften ursprünglich fränkische, aber mittlerweile in Italien verwurzelte Familien mit den Karolingern um die Königswürde. Berengar von Friaul ließ sich Anfang 888 zum König von Italien krönen. Mit ihm konnte Arnolf eine Abmachung erzielen, doch ein anderer Prätendent, Wido von Spoleto, lehnte einen solchen Ausgleich ab. Der Einladung Papst Stephans V. zum Romzug kam Arnolf nicht nach. Daraufhin krönte der Papst Wido als ersten Nichtkarolinger zum Kaiser, und zu Ostern wurde Widos Sohn Lambert zum Mitkaiser erhoben.
Im Herbst 893 bat der Papst Arnolf um Hilfe gegen den Gewaltherrscher Wido. Daraufhin zog Arnolf Anfang 894 nach Italien. Er eroberte Bergamo und Pavia. Bei der Eroberung Bergamos erbeutete er einen „großen Schatz“. Zwar verschaffte er sich in ganz Oberitalien Ansehen, doch Ende April 894 verließ er Italien über Burgund schon wieder.
Im Oktober 895 zog Arnolf erneut über die Alpen. Angesichts des großen Heeres verzichtete König Berengar kampflos auf sein Reich und unterwarf sich bedingungslos. Doch im Februar 896 blieben Arnolf die Stadttore Roms verschlossen. Wegen der unerwarteten militärischen Herausforderung kam er mit dem ganzen Heer zu gemeinsamer Beratung zusammen. Das Heer legte daraufhin ein Treuegelöbnis ab und stimmte sich mit dem Ablegen der öffentlichen Beichte auf den Sturm der Stadtmauern ein. Noch am selben Tag begann die Eroberung. Nach heftigen Auseinandersetzungen um St. Peter konnte Arnolf in der zweiten Februarhälfte 896 von Papst Formosus zum Kaiser gekrönt werden. Der Widerstand gegen seine Herrschaft war jedoch noch nicht gebrochen. Arnolf befand sich auf dem Weg nach Spoleto, als er krankheitsbedingt Italien verlassen musste. Er reiste über Piacenza und den Brenner noch im Mai nach Bayern zurück. Seinen Sohn Ratold ließ er als Stellvertreter in Mailand zurück. Ratold fand jedoch keine Unterstützung und folgte Arnolf sehr bald nach Bayern. Arnolfs Rückzug und der Tod des Papstes im April 896 machten die begonnene Neugestaltung der Machtverhältnisse in Italien hinfällig.
Familie
Arnolf hatte mit Zwentibold und Ratold zwei voreheliche Söhne, die vor 889 geboren waren. Außerdem hatte er von einer Frau namens Ellinrat eine gleichnamige Tochter. Der Name einer weiteren Tochter ist unbekannt. Anscheinend hatte er mindestens drei Konkubinen. Seine Heirat mit Oda wird nach allgemeiner Einschätzung der Forschung in das Jahr 888 oder kurze Zeit nach seiner Königserhebung datiert. Oda wird vielfach zu den Konradinern gezählt, da Arnolf und Ludwig das Kind in ihren Diplomen die Konradiner Konrad den Älteren, Konrad den Jüngeren und Eberhard als nepotes (Neffen) bezeichneten und Oda über den Hof Lahnstein verfügt hatte. Die Konradiner waren neben den Babenbergern eine der einflussreichsten ostfränkischen Familien. Diese Ehe sollte Arnolfs Herrschaft stärken. Aus ihr ging im Herbst 893 als einziger legitimer Sohn Ludwig das Kind hervor. Ludwig galt seit seiner Geburt als der zukünftige Thronfolger. Die Benennung mit einem karolingischen Taufnamen im Unterschied zu seinen Brüdern macht dies deutlich. Trotz Ludwigs Geburt sollten aber auch Arnolfs uneheliche Söhne mit Königsherrschaften versehen werden. Zwentibold wurde König in Lothringen, für Ratold war anscheinend Italien als Herrschaftsbereich vorgesehen. Arnolf stattete seine Gemahlin Oda mit zahlreichen Fiskalgütern (aus dem eigentlichen Reichsbesitz) aus: Er schenkte ihr den Königshof in Velden an der Vils und ein weiteres Fiskalgut in Nierstein im Wormsgau. Auch Ellinrat beschenkte er mit Fiskalgut.
Arnolf feierte mit seiner Gemahlin das erste gemeinsame Weihnachten als wichtigen Akt königlicher Repräsentation und Herrschaftsausübung in Kärnten, und sie begleitete ihn auf den Romzug 895/96. Eine Krönung zur Kaiserin ist jedoch nicht ausdrücklich überliefert. An Arnolfs Feldzügen nach Mähren 893 und Italien 894 nahm sie nicht teil. Mit lediglich sechs Nennungen in den Urkunden Arnolfs hatte Oda offenbar keinen besonderen Einfluss auf die Herrschaft ausgeübt.
Arnolfs Söhne Ratold und Ludwig das Kind blieben unverheiratet. Zwentibold ehelichte zu Ostern 897 die Liudolfingerin Oda, die sein Vater für ihn ausgesucht hatte. Die Gründe dafür sind nicht bekannt. Möglicherweise wollte Arnolf durch die Verbindung mit dieser einflussreichen Adelsfamilie das königsferne Sachsen enger an sich binden.
Regelung der Nachfolge
Bereits kurz nach seinem Herrschaftsantritt hielt Arnolf Ende Mai 889 in Forchheim eine Versammlung ab, auf der über den Zustand des Reiches (de statu regni) beraten wurde. Dort wollte der König seine beiden illegitimen Söhne Zwentibold und Ratold als seine Nachfolger anerkennen lassen. Dies stieß aber bei den fränkischen und bayerischen Großen auf Bedenken. Nach den Fuldaer Annalen leisteten einige Franken den Schwur mit dem Vorbehalt, dass er nur gelten sollte, falls dem König kein legitimer Sohn geboren würde. Infolge der Geburt Ludwigs des Kindes scheiterte Arnolfs Versuch, im Juni 894 in Worms seinen erstgeborenen Sohn Zwentibold zum König von Lothringen zu machen. Die Gründe für diesen Fehlschlag sind nicht näher bekannt. Im Mai 895 hatte die Erhebung Zwentibolds zum König von „Burgund und dem ganzen lotharischen Reich“ (in Burgundia et omni Hlotharico) hingegen Erfolg. Ratold tritt in den Quellen neben der Nachfolgeregelung von 889 nur noch bei Arnolfs Rückreise von der Kaiserkrönung 896 hervor.
Krankheit
Im Sommer 896 erlitt Arnolf kurz nach der Kaiserkrönung einen Schlaganfall, worauf er nach Bayern zurückkehrte; im August nahm er an einer Reichsversammlung in Forchheim teil. Dabei wäre er fast von einem einstürzenden Balkon erschlagen worden; bei frühmittelalterlichen Herrschern waren Unfälle durch einstürzende Gebäude keine Seltenheit. Wohl im November 896 empfing er in Regensburg eine Gesandtschaft des byzantinischen Kaisers Leo VI. In Altötting feierte er das Weihnachtsfest.
Sein gesundheitlicher Zustand scheint sich dann wieder verschlechtert zu haben. Den Winter 896/97 musste er in Bayern verbringen, nach einer Bemerkung der Fuldaer Annalen teils „an abgeschiedenen Orten“ (secretis locis). Ein solches Verhalten war für einen karolingischen Herrscher singulär. Möglicherweise wollte er seine Krankheit verbergen oder suchte die Ruhe zur Genesung. Am 8. Juni 897 sprach er in einer Urkunde für die Wormser Kirche das eigene Wohlergehen an. In der Urkunde drückte er seine Hoffnung aus, dass derartige Schenkungen auch „für die Gesundung unseres Körpers“ hilfreich seien.
Arnolfs Krankheit machte aktives Regierungshandeln zunehmend unmöglich. In Italien ließ man sich von seinen Rivalen Lambert und Berengar Urkunden ausstellen, nördlich der Alpen ging das Vertrauen in den Herrscher spürbar zurück. Die Anzahl der ausgestellten Königsdiplome nahm deutlich ab. Zugleich wuchs die Zahl der Urkundenintervenienten in dieser Phase erheblich. Traten in der Zeit vor Arnolfs Krankheit nur in etwa einem Drittel adlige Herrschaftsträger als Intervenienten auf, so war dies nach 896 in rund zwei Dritteln der Fall. Die Forschung hat daraus geschlossen, dass die Großen des Reiches in dieser Zeit ihre Machtposition erheblich ausbauen konnten. Timothy Reuter hat aus den Quellen eine gewisse Erholung des Kaisers für das Frühjahr 897 ausgemacht. Die Beschränkung im Itinerar und auch bei den Urkundenempfängern auf Bayern erklärt Reuter mit der damaligen militärischen Situation. Angesichts der angespannten Lage ließ Arnolf 897 die ostfränkischen Großen den Treueid auf seinen kleinen Sohn Ludwig schwören.
Ein zweiter Schlaganfall ereilte Arnolf im Frühjahr 899. Er wurde so bewegungsunfähig, dass er die Donaustrecke nur noch per Schiff und nicht zu Pferd zurücklegen konnte. Gegen seine Frau Oda wurde 899 der Vorwurf der Untreue erhoben. Die Ehebruchanklage konnte im Juni 899 in Regensburg durch 72 Eideshelfer entkräftet werden. Nach Johannes Fried konnten die Vorwürfe nicht ohne Zustimmung Arnolfs öffentlich verhandelt werden. Mit der öffentlichen Demütigung sollte, so Thilo Offergeld, Oda als Mutter des minderjährigen Königs für die künftigen Gespräche über die Thronfolge politisch aus der Verantwortung ausgeschlossen werden. Timothy Reuter hingegen erklärt die Ehebruchsanklage nicht mit der „politischen Ausschaltung“ der Königin, sondern sieht darin eine „ziemlich hysterische Abwehrmaßnahme angesichts der erneuten Gesundheitsverschlechterung Arnolfs“. Oda wurde anscheinend nicht verstoßen, denn sie intervenierte noch in der letzten Urkunde Arnolfs für das Stift Ötting. Etwa gleichzeitig mit dem Prozess gegen Oda erkrankte der Kaiser erneut. Man führte dies darauf zurück, dass ihm „etwas Schädliches“ (nocuum quoddam) gegeben worden sei. Drei der angeblichen Täter wurden verurteilt; Graman wurde in Ötting enthauptet, ein anderer Beschuldigter, der in den Quellen anonym bleibt, entkam nach Italien. Radpurc, die als führender Kopf des Komplotts galt, starb in Aibling am Galgen. Timothy Reuter sieht dahinter eine Anklage „mit Untertönen von Hexerei und schwarzer Magie“. Giftmischerei und Zauberei waren Vergehen, die man im mittelalterlichen Europa vor allem Frauen anlastete.
Anfang 899 versuchte die konradinische Sippe unter Führung Erzbischof Hattos von Mainz ohne den todkranken Kaiser in geheimen Verhandlungen in St. Goar die Anerkennung von Arnolfs minderjährigem Sohn Ludwig zu erreichen. Ziel war die Absetzung König Zwentibolds, denn dieser hätte als handlungsfähiger Herrscher den Einfluss der Konradiner auf den minderjährigen König Ludwig vermindert. Insgeheim einigte man sich auf ein Vorgehen gegen Zwentibold.
Der schwerkranke Kaiser belagerte in Mautern im Sommer 899 von einem Schiff aus den aufständischen Isanrich, den Sohn des Markgrafen Aribo. Isanrich hatte mit den Mährern paktiert und so das Eingreifen Arnolfs veranlasst. Zunächst konnte er gefangen genommen werden, jedoch entkam er und floh zu den Mährern. Von Mautern aus kehrte Arnolf nach Regensburg zurück. Die Stadt hat er bis zu seinem Tod nicht mehr verlassen.
Tod und Nachfolge
Arnolf starb im Alter von etwa 50 Jahren nach mehreren Schlaganfällen am 8. Dezember 899. Die vor 1945 aufgestellte These einer Erbkrankheit der Karolinger, die für den Untergang der Dynastie verantwortlich sei, wurde von Achim Thomas Hack widerlegt. Der Todestag des Kaisers und seine Begräbnisstätte werden sehr unterschiedlich überliefert. Das Sterbedatum hat hohe Bedeutung für das liturgische Totengedächtnis. Auf der Reichenau galt der 14. Juli als Sterbetag Arnolfs, was Franz Fuchs auf eine Verwechslung mit dem gleichnamigen Bayernherzog zurückführt. Im Totenbuch von St. Maximin in Trier wurde des Kaisers am 17. August gedacht. Nach dem Bericht Reginos von Prüm zum Jahr 899 starb Arnolf am 29. November und wurde in Ötting (Altötting) begraben. Die meisten süddeutschen Nekrologien nennen den 8. Dezember; dieser Datierung schließt sich Franz Fuchs an. In St. Emmeram wurde vom Spätmittelalter bis zur Auflösung des Klosters der 27. November als Todestag Arnolfs begangen. Fuchs begründet dies damit, dass im entsprechenden Nekrolog das ursprüngliche Datum, der 8. Dezember, nachweislich durch Rasur getilgt und im 14. Jahrhundert an seiner Stelle der 27. November als der Todestag eingefügt wurde. Die Neuordnung der Arnolf-Memoria gehe auf Abt Albert von Schmidmühlen (1324–1358) zurück. Fuchs meint, Arnolf sei in St. Emmeram begraben worden, denn die gleichzeitige Aussage des bairischen Fortsetzers der Fuldaer Annalen sei aufgrund ihrer räumlichen Nähe glaubwürdiger. Außerdem wurde in Altötting nie auf den letzten ostfränkischen Kaiser und sein Grab Anspruch erhoben. Demnach wurde Arnolf wie andere ostfränkische Karolinger im nächstgelegenen altehrwürdigen Kloster beigesetzt.
Arnolfs Witwe Oda blieb offenbar ohne größeren Einfluss. Nach seinem Tod intervenierte sie nur einziges Mal in Ludwigs Diplomen. Mit Ötting ist nur einer ihrer Aufenthaltsorte nach Arnolfs Tod bekannt. Ihr Grab ist unbekannt geblieben.
Acht Wochen nach Arnolfs Tod wurde der sechsjährige Ludwig am 4. Februar 900 in Forchheim zum König gewählt und gekrönt. In Lothringen sagte sich 899/900 der Adel von Zwentibold los und schloss sich König Ludwig an. Im August 900 wurde Zwentibold in einer Schlacht an der Maas getötet. Ludwig das Kind stand unter dem Einfluss einer Adelsfraktion um Hatto von Mainz. Thilo Offergeld konnte in seiner Untersuchung über das Kinderkönigtum kein Anzeichen einer selbstständigen Herrschaftstätigkeit bei Ludwig ausmachen. Mit Ludwigs Tod am 24. September 911 endete die Herrschaft der Karolinger im Ostfrankenreich.
Name
Arnolf wird heute durch den Beinamen „von Kärnten“ gekennzeichnet, weil sich sein Aufstieg in Karantanien vollzog und der Herrscher zeitlebens eine enge Bindung zu dieser Region hatte. Die Namensform Kärnten hat es im 9. und 10. Jahrhundert nicht gegeben. Das Gebiet hieß damals Karantanien. Im Verlauf des Hochmittelalters wandelte sich dieser Name zu Kärnten. In zeitgenössischen Quellen wird Arnolf mehrmals als Herzog von Karantanien bezeichnet. Die Salzburger Annalen nennen ihn auch Arnolf von Karantanien.
Der Name „Arnolf/Arnulf“ ist seit dem 5. Jahrhundert überliefert und bedeutet „Adlerwolf“. Der erste Namensträger bei den Karolingern, der heiliggesprochene Bischof Arnulf von Metz, war zugleich der Stammvater des Geschlechts.
In 90 Prozent der Urkunden des Königs kommt die Namensform „Arnolf“ vor, die Variante „Arnulf“ lediglich in sechs Prozent. Die anderen vier Prozent verwenden die Form „Arnolf“ in der Intitulatio und die Variante „Arnulf“ in der Subscriptio in der Signumzeile oder in der Datierung. Ein ähnlicher Befund ist auch in der Historiographie festzustellen. Bei Notker von St. Gallen findet sich die Namensform „Arnold“.
Die Diplomatiker Theodor Sickel, Engelbert Mühlbacher und Paul Fridolin Kehr bevorzugten das urkundengerechtere Arnolf. In der Mitte des 20. Jahrhunderts war die Form „Arnulf“ vorherrschend. Seit dem Erscheinen von Rudolf Schieffers Karolingerbuch im Jahr 1992 und den seither erschienenen Untersuchungen überwiegt die Form „Arnolf“.
Wirkung
Frühmittelalter
Nach einer traditionellen Forschungsmeinung verliert die Schriftlichkeit seit Ludwig dem Deutschen generell an Bedeutung für die Herrschaftspraxis und als Kommunikationsmittel. Die Kapitularien als wichtige Dokumente für die Herrschaftsorganisation verschwinden aus dem ostfränkischen Reich und werden nicht anderweitig ersetzt. Entgegen dieser gängigen Sichtweise haben David Steward Bachrach und Bernard S. Bachrach in einer jüngeren Untersuchung gezeigt, dass sich die späten karolingischen Herrscher im Ostfrankenreich insbesondere zum Zwecke der Besteuerung intensiv auf schriftliche Dokumente stützten.
Von den ostfränkischen Karolingern sind kaum Selbstaussagen überliefert. Als eine der wenigen Quellenarten können die Diplome über ihr Selbstverständnis Auskunft geben. Diese sind allerdings von Kanzlisten, nicht von den Königen selbst formuliert. Dennoch bringen sie am ehesten das Selbstverständnis ihrer Aussteller zum Ausdruck. In den Einleitungen der Urkunden (Arengen) werden die Sorge für die Untergebenen und Getreuen sowie die Pflicht zur Großzügigkeit ihnen gegenüber hervorgehoben. Anders als Karl der Große und Ludwig der Fromme hatte Arnolf keinen zeitgenössischen Biografen.
Aus den zwölf Jahren von Arnolfs Herrschaftszeit sind 176 Urkunden überliefert. Das ergibt einen Durchschnitt von 14,8 Urkunden pro Jahr. Der Ausstoß ist damit für einen Karolinger relativ groß. So sind von Ludwig dem Deutschen aus 50 Regierungsjahren wenig mehr als vier Urkunden pro Jahr überliefert, von Karl dem Kahlen immerhin zwölf. Unter Arnolfs Nachfolger Ludwig dem Kind nimmt die Zahl der Diplome stark ab: Aus seinen zwölf Jahren liegen nur 77 Urkunden vor.
Das Jahr 887 wurde von der zeitgenössischen Historiographie als tiefer Einschnitt wahrgenommen. Der Hauptstrang der Fuldaer Annalen stellte mit dem Herrschaftsantritt Arnolfs die Berichterstattung ein. Der Tod Karls III. nur wenige Monate später wurde schon nicht mehr verzeichnet. Als wesentliche Informationsgrundlage für die Herrschaftszeit Arnolfs gilt aufgrund ihrer bayerischen Herkunft die sogenannte „Regensburger Fortsetzung“ der Fuldaer Annalen, die über die Zeit von 882 bis 897 bzw. 901/02 berichtet. Die Chronik Reginos von Prüm reicht von der Geburt Christi bis in das Jahr 906. Bei den Angaben dieses lothringischen Chronisten zur Herrschaft Arnolfs ist allerdings die räumliche Ferne und die mehr nach Westen ausgerichtete Darstellung zu berücksichtigen. Am Anfang der Herrschaftszeit Arnolfs entstand 888/89 das historiographische Gedicht eines unbekannten sächsischen Autors, der als Poeta Saxo bekannt ist. Dieser Dichter sprach Arnolf aufgrund der Namensgleichheit mit dem Ahnherrn des karolingischen Geschlechtes, Bischof Arnulf von Metz, besondere Herrscherqualitäten zu. Er hoffte auf eine lange Regierungszeit und erinnerte an Karl den Großen, der die Größe des Reiches verdoppelt habe.
Das Arnulf-Ziborium ist der einzige erhaltene frühmittelalterliche „Reisealtar“. Es gehört zu den bedeutenden Zeugnissen der spätkarolingischen Goldschmiedekunst. Eine Inschrift, die Arnolf als rex (König) bezeichnet, deutet auf Entstehung vor seiner Kaiserkrönung, also zwischen 887 und 896. Aufgrund der stilistischen Ausstattung wurde von der kunsthistorischen Forschung auch eine frühere Datierung um 870 diskutiert. Statt Arnolf wurde Karl der Kahle als Auftraggeber vermutet. Zweifelhaft bleibt weiterhin, ob die Stiftung dem Regensburger Emmeramskloster galt. Im frühen 11. Jahrhundert nahm die Memoria des Stifters einen Aufschwung. Das Ziborium wurde im so genannten Uta-Codex, einem für das Regensburger Damenstift Niedermünster gefertigten Evangelistar, zur Darstellung gebracht.
Etwa fünfzig Jahre nach Arnolfs Tod verfasste der italienische Geschichtsschreiber Liudprand von Cremona sein „Buch der Vergeltung“ (Liber antapodoseos). Das Werk führt bis in die achtziger Jahre des 9. Jahrhunderts zurück und behandelt damit auch ausführlich den letzten karolingischen Herrscher Arnolf von Kärnten. Für Liudprand ist Arnolf der typische Tyrann. Er vergewaltigt Nonnen, schändet Ehefrauen, profaniert Kirchen. In seiner Antapodosis widmet der Geschichtsschreiber Arnolfs Tod, den er für schändlich hält, ein eigenes Kapitel. Die schwere Krankheit des Kaisers wird als gerechte Vergeltung des himmlischen Richters für gottloses Handeln gedeutet. Arnolf sei durch Ungeziefer umgekommen; das sei die Strafe Gottes für die Herbeirufung der Ungarn.
Hoch- und Spätmittelalter
Liudprands Erzählung über Arnolfs schändlichen Tod durch Ungeziefer wurde in der spätmittelalterlichen Geschichtsschreibung durch Martin von Troppau, Vinzenz von Beauvais und Thomas Ebendorfer die gängige Sichtweise über seinen Tod. Nach dem 1387 vollendeten Liber Augustalis des Benvenuto da Imola wurde Arnolf bei lebendigem Leib von Läusen zerbissen. In St. Emmeram konnte man nicht an ein so furchtbares Ableben des frommen Kaisers glauben. Seit dem frühen 11. Jahrhundert wurde er von den dortigen Mönchen geradezu als zweiter Stifter ihres Klosters gefeiert. Dies führte dazu, dass der Verfasser der in der Mitte des 12. Jahrhunderts entstandenen mittelhochdeutschen Kaiserchronik Arnolf für einen Zeitgenossen des heiligen Emmeram hielt. Noch im frühen 17. Jahrhundert setzte sich der Kartäusermönch Franz Jeremias Grienewaldt mit großem Aufwand an Gelehrsamkeit mit Liudprands Schilderung von Arnolfs Tod auseinander. In St. Emmeram gedachte man Arnolfs jahrhundertelang an seinem Todestag. Die Totenfeiern endeten 1810 mit der Auflösung des Klosters.
Im ausgehenden 15. Jahrhundert hatte Andreas von Regensburg Arnolf zum „berühmtesten Herrscher Europas“ (Arnolfus regum Europe famoissimus) stilisiert. Das Urteil fand Anklang in der folgenden bayerischen Historiographie.
Moderne
Forschungsgeschichte
Die Karolingerherrschaft im Ostfränkischen Reich wurde in der älteren Mittelalterforschung kaum als eigenständige Epoche wahrgenommen. Arnolfs Herrschaftszeit galt lange entweder als Verfallsepoche gegenüber der Zeit Karls des Großen oder als Vorgeschichte der Entstehung des „deutschen“ Reiches. Die erste biographische Darstellung veröffentlichte Maximilian von Gagern 1837 unter dem Titel Arnulfi imperatoris vita ex annalibus et diplomatis conscripta. Aufgrund ihres Detailreichtums ist die dreibändige Geschichte des Ostfränkischen Reiches (1887/88) von Ernst Dümmler nach wie vor unersetzt. Dümmler ging strikt chronologisch vor und wertete für jedes Jahr die schriftlichen Quellen umfassend aus. Die Ausführlichkeit seiner Darstellung mag ein Grund dafür gewesen sein, dass danach die Geschichtswissenschaft über hundert Jahre die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts kaum weiter erforscht hat. Dümmler hatte zuvor bereits seine Berliner Dissertation (De Arnulfo Francorum rege commentatio historica) aus dem Jahr 1853 Arnolf gewidmet.
Die deutsche Geschichtswissenschaft machte in der Zusammensetzung und Herkunft der Umstürzler von 887 ein deutsches Nationalgefühl aus. Martin Lintzel maß dem Jahr 887 große Bedeutung für die Anfänge der deutschen Geschichte zu. Lange wurde darüber diskutiert, ob die Initiative zur Absetzung Karls III. von Arnolf selbst oder vom Adel der ostfränkischen Stämme ausging. Walter Schlesinger wies 1941 in seinem Leipziger Habilitationsvortrag Kaiser Arnulf und die Entstehung des deutschen Staates dem Karolinger auf dem Weg von der fränkischen zur deutschen Geschichte eine wichtige Rolle zu. Nach Schlesinger konnte Arnolf auf der Basis seiner bescheidenen Ausgangsposition in Karantanien kaum von sich aus König werden. Die Großen werden in den Quellen deutlich als „Franken, Sachsen und Thüringer, dazu Bayern und Alemannen“ beschrieben. In Arnolfs Abwendung vom westfränkischen Reich und in der räumlichen Beschränkung der Macht sah Schlesinger „ein deutsches Volksbewusstsein“ entstehen. Die damalige Situation beschrieb er mit den Worten: „Ein deutsches Volksbewußtsein schickt sich an, einen deutschen Staat zu gestalten.“ Schlesinger wandte sich ausdrücklich gegen Gerd Tellenbach, der kurz zuvor eine andere Sichtweise von den Triebkräften vertreten hatte und nun auf Schlesingers Vortrag in der Historischen Zeitschrift reagierte. Auch Tellenbach sah im 9. Jahrhundert bereits „den deutschen Gedanken […] im Werden“. Er fasste Arnolf jedoch nicht als chancenlosen Außenseiter, sondern als erfolgreichen militärischen Anführer auf. Die Großen habe Arnolf erst durch seinen Vormarsch an den Rhein zur Abkehr von Karl III. bewegen können. Den Sachsen, Franken und Alemannen traute Tellenbach noch keine einheitliche oder gar gemeinsame Willensbildung zu; vielmehr ging er von einer nach und nach erfolgten Anerkennung Arnolfs „durch die Stämme oder Stammesangehörigen“ aus. In der weiteren Diskussion tendierte die Forschung eher zur Sichtweise Tellenbachs.
Seit den 1970er Jahren hat sich durch die Studien von Joachim Ehlers, Bernd Schneidmüller und Carlrichard Brühl über die Anfänge der deutschen und französischen Geschichte immer stärker die Sichtweise durchgesetzt, dass das „Deutsche Reich“ nicht durch ein einzelnes herausragendes Ereignis entstanden ist, sondern als Resultat einer im 9. Jahrhundert einsetzenden längerfristigen Entwicklung, die teilweise selbst im 11. und 12. Jahrhundert noch nicht abgeschlossen war. Damit ist zugleich Schlesingers These von der seit dem Ende des 9. Jahrhunderts wirkenden Dynamik eines frühen deutschen Volkstums überholt.
Am 8. Dezember 1999 jährte sich Arnolfs Todestag zum 1100. Mal. Zu diesem Anlass fand vom 9. bis 11. Dezember 1999 das wissenschaftliche Kolloquium Kaiser Arnolf und das ostfränkische Reich in Regensburg statt. Die 14 Tagungsbeiträge wurden mit zwei weiteren Aufsätzen von Franz Fuchs und Peter Schmid 2002 herausgegeben. Nach Rudolf Schieffer (2002) stand Arnolf nicht am Beginn der deutschen Geschichte und ist auch nicht „zu deren bewußten Wegbereitern“ zu zählen.
Nachleben in Kärnten
Die Kärntner Geschichtsschreibung führt den Herzogstuhl auf die Zeit Arnolfs von Kärnten zurück. Dieses bekannteste Denkmal des Landes steht noch heute auf dem Zollfeld. In der Kärntner Lokaltradition gilt Moosburg als der Geburtsort des karolingischen Herrschers. Dort richtete 1988 Robert Svetina ein Karolinger-Museum ein; 1992 wurde mit den Moosburger Heften eine „Zeitschrift für die Pflege der Erinnerung an Kaiser Arnulf von Kärnten“ begründet, und dort findet alljährlich im Juli das Kaiser-Arnulfs-Fest statt. In Klagenfurt führt der Platz vor dem Gebäude des Amts der Kärntner Landesregierung den Namen Arnulfplatz.
Quellen
Paul Kehr (Bearbeiter): Die Urkunden der deutschen Karolinger 3. Die Urkunden Arnolfs (= MGH Diplomata regum Germaniae ex stirpe Karolinorum. Bd. 3). Weidmann, Berlin 1940 (Digitalisat).
Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte. Teil 3: Jahrbücher von Fulda, Regino: Chronik, Notker: Taten Karls (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe. Bd. 7). Neu bearbeitet von Reinhold Rau. 4., gegenüber der 3. um einen Nachtrag erweiterte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, ISBN 3-534-06965-X (lateinischer Text und deutsche Übersetzung).
Literatur
Matthias Becher: Arnulf von Kärnten – Name und Abstammung eines (illegitimen?) Karolingers. In: Uwe Ludwig, Thomas Schilp (Hrsg.): Nomen et Fraternitas (= Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Bd. 62). de Gruyter, Berlin u. a. 2008, ISBN 978-3-11-020238-0, S. 665–682.
Roman Deutinger: Königsherrschaft im ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späten Karolingerzeit (= Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters. Bd. 20). Thorbecke, Ostfildern 2006, ISBN 978-3-7995-5720-7.
Ernst Dümmler: Geschichte des Ostfränkischen Reiches. Dritter Band. Die letzten Karolinger, Konrad I. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1960, S. 297ff. (Nachdruck der 2. Auflage, Leipzig 1888; Digitalisat).
Franz Fuchs und Peter Schmid (Hrsg.): Kaiser Arnolf. Das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts. Regensburger Kolloquium 9.–11.12.1999 (= Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Beiheft Bd. 19). Beck, München 2002, ISBN 3-406-10660-9 (Rezension bei H-Soz-u-Kult) und (Rezension bei Sehepunkte).
Achim Thomas Hack: Alter, Krankheit, Tod und Herrschaft im frühen Mittelalter. Das Beispiel der Karolinger (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters. Bd. 56). Hiersemann, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-7772-0908-1.
Hagen Keller: Zum Sturz Karls III. Über die Rolle Liutwards von Vercelli und Liutberts von Mainz, Arnulfs von Kärnten und der ostfränkischen Großen bei der Absetzung des Kaisers. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters. Bd. 22, 1966, S. 333–384 (Digitalisat). Wiederabdruck in: Eduard Hlawitschka (Hrsg.): Königswahl und Thronfolge in fränkisch-karolingischer Zeit (= Wege der Forschung. Bd. 247). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1975, S. 432–494.
Rudolf Schieffer: Die Karolinger. 5. aktualisierte Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-17-023383-6, S. 187ff.
Lexikonartikel
Weblinks
Veröffentlichungen zu Arnulf von Kärnten im Opac der Regesta Imperii
Abbildungen von Diplomen Arnolfs in den Kaiserurkunden in Abbildungen: 889 für Fulda (Original 1; Original 2); 890 für den Grafen Choppo; 897 für Kloster Corvey; 898 für das Bistum Passau und den Bischof Wolfhelm von Münster.
Anmerkungen
Familienmitglied der Karolinger
König (Franken)
Kaiser (HRR)
Markgraf (Kärnten)
Person (Regensburg)
Walhalla
Ostfrankenreich
Herrscher (9. Jahrhundert)
König (Italien)
Geboren im 9. Jahrhundert
Gestorben 899
Mann |
107416 | https://de.wikipedia.org/wiki/Buchmalerei | Buchmalerei | Die Buchmalerei ist eine Kunstgattung, die sich mit der malerischen Gestaltung von Büchern und anderen Schriftwerken befasst. Der Begriff Buchmalerei umfasst im engeren Sinne alle Malereien in einem Buch, wird aber auch für zeichnerische Illustrationen verwendet. Die Gesamtheit an malerischem Buchschmuck, insbesondere bei einer Ergänzung der Malereien durch Vergoldungen, wird auch Illumination genannt.
Die Buchillustration der Antike kam zwischen dem 2. und dem 4. nachchristlichen Jahrhundert mit der Erfindung des gebundenen Codex auf, konnte jedoch auf eine bis ins 2. Jahrtausend v. Chr. reichende Tradition bemalter Schriftrollen zurückgreifen. Nach dem Untergang des Römischen Reiches führte die byzantinische Buchmalerei das antike Erbe zwar mit Stilwandeln, im Wesentlichen jedoch in ungebrochener Tradition bis an das Ende des byzantinischen Reiches im 15. Jahrhundert weiter. Zum Einflussgebiet der byzantinischen Kunst zählten im Mittelalter große Teile Vorderasiens, der Balkan, Russland und, mit Abstrichen, die Koptische Kunst.
Im Abendland, also dem westlichen, lateinischen Europa, war die Buchmalerei hingegen von einem stetigen Stilwandel geprägt. Im Frühen Mittelalter traten zunächst die merowingische sowie die insulare Buchmalerei Irlands und Englands in Erscheinung. In der Karolingischen Kunst stand die Buchmalerei unter starkem byzantinischem Einfluss und ging anschließend in die ottonische Buchmalerei über. Die Romanik war die erste Epoche, die regionale Malschulen durch verbindende Merkmale zu einem europäischen Stil vereinigte. Die Gotik setzte in Frankreich und England um 1160/1170 ein, während in Deutschland noch bis um 1300 romanische Formen dominant blieben. Während der gesamten gotischen Epoche blieb Frankreich als führende Kunstnation bestimmend für die stilistischen Entwicklungen der Buchmalerei. In der Renaissance verlor die Buchmalerei aufgrund der Durchsetzung des Buchdrucks und druckgraphischer Verfahren an Bedeutung. Bis dahin stand sie gleichberechtigt neben der Tafel- und Wandmalerei. Moderne malerisch gestaltete Bücher werden üblicherweise nicht der Buchmalerei zugerechnet.
Die islamische Buchkunst setzte im 11. Jahrhundert ein und wurde von zwei gegensätzlichen Grundpositionen bestimmt: Einerseits ist der Islam eine Buchreligion, andererseits untersagt ein Bilderverbot figürliche Darstellungen, wenn auch der Koran das Verbot nicht direkt formuliert. Religiöse Werke beschränken sich deshalb auf prachtvolle Ornamentik und Kalligraphie. Obwohl das Verbot nach streng orthodoxer Sicht nicht auf die religiöse Sphäre beschränkt ist, findet sich im weltlichen Bereich äußerst phantasiereiche figurale Malerei. Von Arabien ausgehend breitete sich die islamische Buchkunst nach Persien, Indien, in das Osmanische Reich und nach Spanien aus.
Im präkolumbischen Amerika gab es eine eigene Buchmalereitradition, die nach der Eroberung Süd- und Mittelamerikas durch die Spanier noch eine Weile unter den Vorzeichen der christlichen Kolonisation weiterlebte. Heute sind nur noch wenige Azteken- und Maya-Codices erhalten.
Abendländische Buchmalerei
Formen und Funktionen
Die Buchmalerei ist ein Forschungsgegenstand der Kunstgeschichte. Mit allen materiellen Aspekten des Buches beschäftigt sich die Kodikologie, Fragen nach den Bedingungen der Künstler berühren die historische Kunstsoziologie. Die Aufnahme und Verarbeitung der Buchmalerei durch ein Publikum, zu dem auch nachfolgende Künstler gehören, wird als Rezeption bezeichnet. Die Fragen nach den ursprünglichen Entstehungssituationen bzw. Funktionen eines mittelalterlichen Kunstwerks werden häufig als die nach seinem „Sitz im Leben“ zusammengefasst.
Im mittelalterlichen Kunstsystem nahm das Buch durch zwei Eigenschaften eine wichtige Position ein, die es vor allem vom Fresko und vom Mosaik, aber auch vom Tafelbild unterscheidet: Einerseits durch die Verbindung von Bild und Text, andererseits durch seine Mobilität, die weite Verbreitung und Kopien unmittelbar vom Original ermöglichte.
Materialien und Techniken
Der Codex aus Pergament löste zwischen dem 2. und dem 4. nachchristlichen Jahrhundert die Papyrusrolle ab und markiert den Beginn der eigentlichen Buchmalerei. Für die Miniaturmalerei bedeutete das Buch vor allem, dass mit den einzelnen Seiten nun eine abgeschlossene Fläche den Rahmen für die Illustrationen vorgab. Die Möglichkeit, vor- und zurückzublättern, begünstigte eine textgliedernde Funktion der Buchmalerei. Bis dahin hatte sich das Prinzip erhalten, Bilder in die fortlaufende Textkolumne einzufügen. Durch den planen, nicht mehr aufgerollten Malgrund konnten darüber hinaus dickere Farbschichten auf das Pergament aufgetragen werden, so dass sich mit dem Buch auch die repräsentative Deckfarbenmalerei etablierte. Das Format der gefalteten Blätter hatte durch die Abmessungen der verwendeten Tierhäute eine natürliche Obergrenze. Die größte bekannte Pergamenthandschrift ist der um 1229 in Böhmen beschriebene Codex Gigas, der bei 92 cm Höhe, 50 cm Breite und 22 cm Dicke 75 kg wiegt.
Gemalt wurde mit dünnen Pinseln und Wasser- oder Deckfarben, gezeichnet mit Tusche und Gänsekiel. Als rote Farbmittel fanden Roter Ocker, Zinnober, Mennige, Karmin, Vermiculum, Folium, Drachenblut, Krapp und später auch Brasilholz Verwendung. Das kostbare Purpur diente in der Antike und im frühen Mittelalter zum Einfärben einiger besonders prächtiger Pergamentmanuskripte, die dann mit Gold- oder Silbertinte beschrieben wurden. Für gelbe Farbtöne standen Gelber Ocker, Auripigment, Bleigelb, Safran und Wau zur Verfügung, für grüne Farbtöne Grünerde, Malachitgrün und Grünspan sowie Ultramarin, Azurit und Indigo als blaue Farbmittel. Für Weiß- und Schwarztöne wurden Blei- und Knochenweiß beziehungsweise Rußschwarz benutzt. Als Bindemittel wurden im Mittelalter Fischleim, Eiklar oder Gummi verwendet. In Prachthandschriften kann die farbige Unterlegung eines Bildes durch Goldgrund ersetzt sein. Im späten Mittelalter setzte sich für Manuskripte mit geringerem Ausstattungsanspruch die lasierte Federzeichnung durch, während die Deckfarbenmalerei repräsentativen Codices vorbehalten blieb.
Die rasche Ausbreitung des Buchdrucks und der zunächst meist nachträglich handkolorierten Druckgraphik in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bedeutete den Untergang der Buchmalerei. Um 1450 war der Holzschnitt, insbesondere in der Form des Blockbuchs, in Konkurrenz zur aufwendigen Buchmalerei getreten. Bereits gegen Ende des 15. Jahrhunderts hatte der Kupferstich die Buchmalerei nicht nur in rationeller Hinsicht überflügelt, sondern auch in künstlerischer: Große Renaissancekünstler wie der Meister E. S., Martin Schongauer, Albrecht Dürer oder Hans Burgkmair der Ältere widmeten den graphischen Techniken und nicht der Buchmalerei ihre größte Aufmerksamkeit. Mit den drucktechnischen Verfahren hatte sich das Buch vom individuellen Kunstwerk zum Massenmedium gewandelt.
Neben dem Buchdruck revolutionierte die Einführung von Papier als Beschreibstoff das Buchwesen grundlegend. Das Papier war bereits im 8. Jahrhundert in China erfunden worden, hatte sich im 12. Jahrhundert in Arabien durchgesetzt und gelangte im 13. und 14. Jahrhundert nach Europa. Im 15. Jahrhundert verdrängte es das Pergament nahezu vollständig und verbilligte die Herstellung des Buches stark. Die Verbreitung des Buchdrucks und des Papiers bewirkten in Kombination gewaltige Steigerungen der Buchproduktion und sorgten dafür, dass das Buch für das städtische Bürgertum als neue Käuferschicht erschwinglich wurde.
Die Gliederung der Textseite und Schmuckelemente
Als Illumination wird die Gesamtheit der in einem Buch verwendeten Schmuckelemente bezeichnet, dem meist ein planerisches Konzept, das Programm der Handschrift, zugrunde liegt. Zur Illumination gehören neben den textbezogenen Illustrationen alle Auszeichnungen des Textes sowie die Gestaltung der Seitenränder.
Die Miniatur wurde entweder auf dafür ausgespartem Raum in den häufig in zwei Spalten geschriebenen Text integriert oder nahm ein ganzes Blatt, die Bildseite, ein. Miniaturen, die die gesamte Breite und maximal die halbe Höhe des Schriftraumes einnehmen, heißen Streifenbilder. Mehrere horizontale Bildstreifen (Register) übereinander können ein Registerbild bilden.
Die Initiale, der durch Zierrat hervorgehobene Buchstabe am Beginn eines Textes oder Textabschnitts, entstand seit dem 4. Jahrhundert aus der Gepflogenheit, den ersten Buchstaben einer jeden Seite zu vergrößern. In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts tauchen erstmals mit geometrischen und ab dem 6. Jahrhundert mit zoomorphen Elementen gefüllte Initialen auf. Zunehmend erfüllte diese nun textgliedernde Funktion.
Von den Initialen sind die einfacheren Majuskeln oder Versalien zu unterscheiden, gliedernde Großbuchstaben, die wie die Kapitelüberschriften in roter Schrift vom üblicherweise schwarz geschriebenen Text abgehoben wurden. In der Gotik kamen blaue Auszeichnungsschriften hinzu.
Die freien Flächen an den Rändern eines Blattes – Bundsteg innen, Kopfsteg oben, Außen- oder Schnittsteg sowie Fuß- oder Schwanzsteg unten – stehen meist in einem Verhältnis von etwa 3:5:5:8, der untere Rand ließ also den größten Raum für Randillustrationen. Häufig lag der Einteilung der Seite der Goldene Schnitt zugrunde. Rankenausläufer der Initialen konnten weit in die unbeschriebenen Ränder des Blattes hinausragen und in gotischer Zeit Bordüren bilden, die das gesamte Blatt ausfüllten. Figürliche Darstellungen außerhalb der Schriftkolumne werden als Randillustration bezeichnet, wenn sie textbezogen sind, andernfalls handelt es sich um autonome Randzeichnungen. Bei gerahmten Bildern in Deckfarbenmalerei in der Größe einer kompletten Kolumne handelt es sich um Randminiaturen.
Texttypen illustrierter Handschriften
Grundlage der religiösen Literatur war die im Bereich der Römischen Kirche meist lateinisch geschriebene Bibel, deren genaue Zusammensetzung keineswegs unumstritten feststand. So wurde etwa die Apokalypse bis ins 9. Jahrhundert als Teil der Heiligen Schrift abgelehnt, nach der Kanonisierung war der Text jedoch ein bevorzugter Gegenstand der Buchillustration. Andere häufig illustrierte Bücher waren die Genesis, das Evangeliar und der Psalter, die oft mit theologischen Kommentaren verbunden wurden. Diejenigen Bücher, die zeitweise der Bibel zugerechnet, letztlich aber nicht kanonisiert wurden, werden als Apokryphen bezeichnet und haben häufig starken Einfluss auf die Ikonographie biblischer Themen ausgeübt. Die Ausstattung der verschiedenen biblischen Bücher mit Illustrationen ist sehr ungleichmäßig, was mit der Tatsache zusammenhängt, dass die spätantiken und frühmittelalterlichen Bildzyklen die Funktion hatten, die typologische Exegese, also die Auffindung des mehrfachen Schriftsinns im Sinne der spätantiken Symboltheorie, zu unterstützen. Die Bücher der Bibel wurden zunächst meist einzeln aufgeschrieben, nur wenige großformatige und oft prächtig ausgestattete Vollbibeln dienten der Lesung in den Klöstern. Erst seit dem hohen Mittelalter kam vor allem im Umfeld der Pariser Universität die einbändige Vollbibel im Oktavformat für den privaten Gebrauch auf, die im 13. Jahrhundert als handliche „Taschenbibel“ in so großer Zahl hergestellt wurde, dass der Bedarf bis zum Aufkommen des Buchdrucks weitgehend gedeckt war. Besondere interpretierende Typen der Bibelillustration waren die um 1220/1230 am französischen Hof entstandenen Bibles moralisées, die Biblia pauperum, die in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Süddeutschland verbreitet war, oder die Historienbibel des Spätmittelalters.
Das Evangeliar war der Ausgangspunkt der liturgischen Bücher und wurde – vor allem in frühmittelalterlicher und romanischer Zeit – besonders häufig als Prachthandschrift illustriert. Die bedeutendsten liturgischen Texte sind daneben der Psalter, das Antiphonar, das Graduale Romanum, das Lektionar, das Perikopenbuch, das Prozessionale, das Plenar, das Rituale, das Sakramentar und das Missale, die alle ihrer gottesdienstlichen Bedeutung entsprechend bevorzugt illuminiert wurden. Die wichtigsten Ausstattungselemente dieser Bücher waren Zierinitialen und das Evangelistenbild, daneben auch das Motiv der Maiestas Domini oder ein Leben-Jesu-Zyklus. In scholastischer Zeit nahm der Ausstattungsgrad liturgischer Bücher in dem Maße ab, wie die Zahl der produzierten Codices geradezu explodierte.
Theologische Traktate und Predigten wurden als Studientexte seltener illustriert, häufiger wurden Legendare bebildert. Bereits in karolingischer Zeit finden sich erste illustrierte Heiligenleben und Biographien kirchlicher Amtsträger. Im Spätmittelalter kam das private Gebet-, Andachts- und Erbauungsbuch für Laien auf, das – besonders in Form des Stundenbuches – zu dem am häufigsten und prächtigsten illuminierten Buchtypus wurde.
Unter den nichttheologischen Wissenschaften wurden vor allem Werke der Naturlehre illustriert. Seit der Antike gehörte der Physiologus zu den reich ausgeschmückten Standardwerken. Tierbücher überschnitten sich häufig mit Reiseberichten und vermischten in Bestiarien Naturbeobachtung mit der Darstellung von Fabelwesen. Daneben waren astronomisch-astrologische Werke mit Monatsbildern und Tierkreiszeichen durchgehend beliebte Gegenstände der Buchmalerei, in etwas geringerem Maße auch alchimistische Texte. Ebenfalls von der Antike bis zum Ende der Buchmalerei waren illustrierte medizinische Abhandlungen und Herbarien verbreitet. Eine illustrierte Enzyklopädie ist De rerum naturis des Hrabanus Maurus. Die Ikonographie war bei all diesen Typen im Mittelalter von der Position der Autoritäten bestimmt, die empirische Naturbeobachtung rückte nach der Antike erst wieder in der Spätgotik in den Mittelpunkt. Ein herausragendes Beispiel ist das Falkenbuch (De arte venandi cum avibus) des Stauferkaisers Friedrichs II., das nicht nur eine große Zahl ornithologisch identifizierbarer Vogelarten in naturgetreuer Wiedergabe, sondern auch präzise technische Zeichnungen zur Falknerei bietet. Neben der Naturlehre stellte die Rechtskunde den zweiten Bereich reich geschmückter Fachliteratur dar. Meist waren es kaiserliche oder päpstliche Bullen, die als Prachtausgaben hergestellt wurden, aber auch Sammlungen des Volksrechts wie im 13. Jahrhundert der Sachsenspiegel, sind mit bescheideneren Mitteln vielfach illustriert worden.
Insgesamt wurden weltliche Stoffe sehr viel seltener und mit vergleichsweise geringem künstlerischen und materiellen Anspruch ausgeschmückt als religiöse Themen. Eine Gattung sticht darunter durch ihr Ausstattungsniveau heraus: Nur in der Chronistik konnten unter Umständen wie bei liturgischen Texten die Bilder mit Goldgrund versehen werden. Die meisten Welt-, Stadt-, Kloster- oder Familienchroniken wurden jedoch sehr viel bescheidener, wenn auch häufig bilderreich ausgestattet. Das erste illustrierte Geschichtswerk mit zeitgeschichtlicher Thematik ist der reich illustrierte Liber ad honorem Augusti des Petrus de Ebulo über die Eroberung Süditaliens und Siziliens durch den Stauferkaiser Heinrich VI. Zwischen Geschichtsschreibung und fiktiver Literatur stand die Chanson de geste um die Taten Karls des Großen, so dass dieser Themenkreis mit Deckfarbenmalerei anspruchsvoller illustriert wurde, als andere literarische Gattungen. Auffallend ist, dass im deutschsprachigen Raum Texte der Heldenepik fast überhaupt keine Illustrationen erfuhren. Prächtiger sind die Bilderhandschriften mit Werken aus dem Kreis der Artusepik und einzelne Liederbücher, unter denen der Codex Manesse hervorsticht. Im Spätmittelalter stieg die Zahl der Illustrationen höfischer Dichtungen, allerdings nur in dem Maße, wie die Buchproduktion im Ganzen stieg. Dabei setzte sich für das Epos beziehungsweise den Roman die kolorierte Federzeichnung durch. Im Spätmittelalter entstanden freie dichterische Schöpfungen, wie der Rosenroman des Guillaume de Lorris oder Dantes Divina Commedia, deren Illustrationen auch Höhepunkte der Buchmalerei darstellten. Zu beachten ist, dass sich die mittelalterliche Buchillustration erst allmählich aus der Abhängigkeit von der ikonographischen Tradition der spätantiken Bildzyklen zu lösen vermochte. Entsprechend spät und zögerlich setzt die Illustration der eigenen literarischen Produktion, also nachantiker Werke, ein, für die entsprechende Vorlagen naturgemäß fehlten. Auffällig dabei ist das Vorherrschen illustrierter poetischer Literatur.
Künstler, Auftraggeber und Publikum
Das Monopol der Buchherstellung lag bis in die romanische Epoche bei den Klöstern. Schon in karolingischer und ottonischer Zeit scheinen bedeutende Malermönche mobil und nicht unbedingt an ein Skriptorium gebunden gewesen zu sein. Während sich die Schreiber oft in Kolophonen erwähnten, blieb die große Mehrzahl der Buchmaler anonym und ist meist nur indirekt zu ermitteln. Trotzdem sind seit der Antike Namen von Künstlern überliefert. Namentlich bekannte Maler sind zunehmend seit dem 13. Jahrhundert, in großer Zahl in der Spätgotik und der Renaissance greifbar. Im 15. Jahrhundert waren berühmte Künstler, die auch als Tafelmaler hervortraten, wie Jan van Eyck, Jean Fouquet, Jean Colombe, Stefan Lochner oder Mantegna Leiter großer, leistungsfähiger Werkstätten.
Etwa um 1200 kamen besonders im Umfeld der frühen Universitäten in Paris und Bologna weltliche, kommerzielle Schreibstuben auf, Künstlerateliers folgten wenig später. Die Erstellung eines Codex verlief arbeitsteilig, Schreiber und Maler waren nur in seltenen Fällen identisch. Der Schreiber setzte meistens an die vom Maler auszugestaltenden Felder Anweisungen in feiner Schrift, die anschließend übermalt wurden. Bei der Gestaltung der Werke folgten die Illuminatoren häufig den Vorlagen oder verwendeten Musterbücher. Im Laufe der Zeit nahm die Arbeitsteilung stetig zu, bis in der Gotik in großen Ateliers einzelne Lehrlinge oder Gesellen nur noch für die Hintergründe oder bestimmte Bildgegenstände verantwortlich waren, während der Meister die Figuren gestaltete.
Der Pergamentcodex war ein überaus kostbarer Gegenstand, den sich nur sehr wohlhabende Auftraggeber leisten konnten. Schon das Ausgangsmaterial war teuer – bei zwei Doppelblättern pro Tierhaut waren für eine Großfolio-Handschrift mit 300 Blättern 75 Kälber nötig. Die Felle mussten aufwendig bearbeitet werden. Auch die oft Jahre andauernden Schreib- und gegebenenfalls Illustrationsarbeiten waren überaus mühsam und arbeitsintensiv. Sie taten ein Übriges, um eine Handschrift zu einem Luxusartikel zu machen. Teuer waren auch die oft aus seltenen, mitunter importierten Mineralien hergestellten Farben. Blattgoldverzierungen konnten sich in größerem Umfang nur Fürsten, Bischöfe und reiche Klöster leisten. In Byzanz waren den Kaisern purpur gefärbte Codices vorbehalten, die mit auch im Abendland benutzten Gold- oder Silbertinten beschriftet wurden.
Waren Könige und Fürsten die wichtigsten Auftraggeber der karolingischen und ottonischen Prachtcodices, entstanden die bedeutendsten romanischen Buchmalereien bis auf wenige Ausnahmen, wie das Evangeliar Heinrichs des Löwen, für den hohen Klerus und für Klostergemeinschaften. Nicht zuletzt durch die Gründung der Reformorden kam es im 12. Jahrhundert zu einem verstärkten Austausch von Künstlern und von Handschriften sowie zu einem stark anwachsenden Bedarf an liturgischen Büchern. Produziert wurden Bücher jahrhundertelang für den eigenen Bedarf oder als repräsentatives Geschenk. Als Vorlagen dienten Manuskripte, die als Tausch- oder Leihgaben zirkulierten. Im 13. Jahrhundert tauchten, besonders im Umfeld der Universitäten, Händler gebrauchter Codices auf. Erst im 15. Jahrhundert setzten sich freie Werkstätten durch, die manufakturhaft ohne konkreten Auftrag Handschriften auf Vorrat herstellten und ihr Verlagsprogramm anschließend bewarben. Der bekannteste Schreiber und Illustrator dieser Art ist Diebold Lauber, der zwischen 1427 und 1467 in Hagenau nachweisbar ist.
Stilgeschichte
Alle Epocheneinteilungen der Kunstgeschichte sind problematisch und umstritten. So wird die räumlich auf das römische Reich begrenzte und durch Dynastien definierte ottonische – und selbst die vorangehende karolingische – Kunst mitunter der Romanik zugerechnet. Hinzu kommt, dass sich kunsthistorische Entwicklungen immer mit teilweise erheblichen regionalen Verzögerungen durchsetzen. So setzte die Gotik in Frankreich bereits im 12. Jahrhundert ein, während in Deutschland noch bis etwa 1250 an romanischer Formensprache festgehalten wurde – wiederum mit erheblichen zeitlichen Unterschieden in den verschiedenen Kunstlandschaften. Häufig sind auch die Zuschreibungen einer Bilderhandschrift an ein bestimmtes Skriptorium oder die genaue Datierung umstritten. Die wissenschaftlichen Debatten können hier nur verkürzt dargestellt werden.
Spätantike
Bei den ältesten erhaltenen Illustrationen handelt es sich um reiche Bebilderungen ägyptischer Totenbuchrollen aus Papyrus, die nach der Entwicklung der hieratischen Schrift zur Aufteilung des Textes in Kolumnen dienten. Besonders zahlreich sind solche Totenrollen aus dem Neuen Reich (etwa 1550–1080 v. Chr.) erhalten. Wahrscheinlich gab es schon im antiken Griechenland Künstler, die sich auf das Bemalen von Buchrollen spezialisiert hatten. Bemalte Schriftrollen zählen jedoch im engeren Sinn nicht zur Buchmalerei – diese setzt erst zwischen dem 2. und 4. nachchristlichen Jahrhundert mit der Ablösung des nicht sonderlich reißfesten Papyrus durch das stabilere Pergament ein.
Die spätantike Buchmalerei ist äußerst lückenhaft überliefert und kaum zuverlässig zu rekonstruieren. Wichtige Beispiele antiker Buchillustrationen sind fragmentarisch in Handschriftenmakulaturen des Mittelalters überliefert, etwa die als Einband für Quedlinburger Archivalien verwendeten ältesten bekannten Bibelillustrationen. Eine Vorstellung des verlorenen Reichtums spätantiker illustrierter Codices geben auch sehr getreue frühmittelalterliche Kopien, so zwei karolingische Aratus-Handschriften, einem astronomisch-astrologischen Text, oder eine Terenzhandschrift.
Ein wichtiges Thema der spätrömischen Buchmalerei war das Herrscherbild.
Epenillustrationen sind aus dem 4. und 5. Jahrhundert mehrfach überliefert, etwa Vergilhandschriften. Ein Kalender des Philocalus aus dem Jahr 354, das in Kopien des 16. und 17. Jahrhunderts erhalten ist, ist das älteste Beispiel für ganzseitige Textillustrationen.
In der römischen Buchmalerei wurde das Bild zunehmend durch gemalte Schmuckrahmen vom Text getrennt, seine Aufgabe der Veranschaulichung von Texten blieb jedoch weiter bestehen. Stilistisch orientierte sich die Buchmalerei stark an der Wandmalerei. Die Farben wurden flächig aufgetragen, ohne sie miteinander zu vermischen. Die Miniatoren verwendeten in der Regel Vorlagen, wodurch sich standardisierte Formen entwickelten.
Die antike Buchmalerei erreichte noch im 7. Jahrhundert mit in Nordafrika oder Spanien entstandenen alttestamentlichen Bibelillustrationen einen Höhepunkt, ehe sie – zumindest auf dem Gebiet des weströmischen Reiches – mit dem Ende der Antike unter- bzw. in die frühmittelalterliche Kunst überging. Am ehesten wurde das antike Erbe in oberitalienischen Klosterskriptorien bewahrt.
Im oströmischen Reich lebte die spätantike Buchmalerei dagegen unmittelbar in der (früh-)byzantinischen Kunst fort. Im 6. Jahrhundert entstand wahrscheinlich an der berühmten Bibliothek von Alexandria der überreich illustrierte, nur noch fragmentarisch erhaltene Cotton-Genesis. Wahrscheinlich in Konstantinopel entstanden Ende des 5. Jahrhunderts eine Ilias-Handschrift, die Ilias Ambrosiana, Anfang des 6. Jahrhunderts der Wiener Dioskurides, die Wiener Genesis und zwei Purpurcodices, der Codex Rossano und das Fragmentum Sinopense.
Insulare Buchmalerei
Während im Zentrum des untergehenden Weströmischen Reiches die antike Buchmalerei auf bescheidenem Niveau fortlebte und in die merowingische Kunst überging, entwickelte sich an der äußersten Peripherie Europas, fernab der Wirren der Völkerwanderungszeit und außerhalb der früheren römischen Zivilisation, in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts ein unverwechselbarer, eigenständiger Illustrationsstil. In Irland, wo sich seit der Christianisierung im 6. Jahrhundert eine ausgeprägte monastische Kultur entwickelt hatte und in dem von Irland aus missionierten Northumbrien bildete sich im 7. und 8. Jahrhundert ein Stil, der unter dem Begriff Insulare Buchmalerei zusammengefasst wird.
Diese verband besonders in der Ausgestaltung der Initialen den germanischen Tierstil und die Ornamentik des einheimischen keltischen Kunsthandwerks, wie das Knotenmuster, mit der Halbunziale und dem Flechtband der Antike. Die hochkomplexen, vielfach verschlungenen und die gesamte Seite ausfüllenden Ornamente vereinnahmten die kalligraphisch ebenfalls meisterliche Schrift bis zur Unlesbarkeit und dominierten auch die relativ seltenen figürlichen Darstellungen, bei denen es sich meist um die Evangelisten handelt. Diese fixieren fast immer frontal und streng symmetrisch den Betrachter, ihre Gewänder sind hochabstrahierte Geflechte. Bei fast allen insularen Handschriften handelt es sich um Evangeliare.
Durch die Perfektion der im Gegensatz zur merowingischen Kunst frei gezeichneten Ornamentik zählen die erhaltenen insularen Prachthandschriften zu Höhepunkten der Buchmalerei aller Zeiten. Eine andere Schule in dem Doppelkloster Wearmouth-Jarrow tradierte dagegen vorlagengetreu spätantike Vorbilder. Im Süden Englands war Canterbury das Zentrum der römischen Mission.
Weniger anspruchsvoll waren die für wandernde Missionare gefertigten kleinformatigen sogenannten „Taschenevangeliare“, die wahrscheinlich manufakturhaft in großer Zahl hergestellt wurden. Der europäische Kontinent wurde in besonderem Maße von Irland und Südengland aus missioniert. In ganz Frankreich, Deutschland und sogar in Italien entstanden im 6. und 7. Jahrhundert Klöster mit irischen Mönchen, die sogenannten Schottenklöster. Zu diesen zählten Annegray, Luxeuil, St. Gallen, Fulda, Würzburg, Regensburg, Echternach und Bobbio. Über diesen Weg gelangten zahlreiche illuminierte Handschriften auf das Festland und hatten besonders in Schrift und Ornamentik starken Einfluss auf die jeweiligen regionalen Formensprachen. Während in Irland wegen der Überfälle der Wikinger gegen 800 die Buchproduktion weitgehend zum Erliegen kam, entstanden auf dem Festland noch einige Jahrzehnte illuminierte Handschriften in irischer Tradition. In ottonischer Zeit sollte die insular geprägte Buchmalerei als Inspirationsquelle erneut rezipiert werden.
Merowingische Buchmalerei
Die kontinentale, fränkische Illustrationskunst der zweiten Hälfte des 7. und des 8. Jahrhunderts wird als merowingische Buchmalerei bezeichnet. Ornamental gestaltete, an die Antike anknüpfende Initialen, die mit Lineal und Zirkel konstruiert wurden, und Titelbilder mit Arkaden und eingestelltem Kreuz sind fast die einzige Illustrationsform, figürliche Darstellungen fehlen beinahe völlig. Seit dem 8. Jahrhundert treten zunehmend zoomorphe Ornamente auf, die so dominant werden, dass etwa in Handschriften aus dem Frauenkloster Chelles ganze Zeilen ausschließlich aus Buchstaben bestehen, die aus Tieren gebildet sind. Im Gegensatz zur gleichzeitigen insularen Buchmalerei mit dessen wuchernder Ornamentik strebte die merowingische nach einer klaren Ordnung des Blattes.
Eines der ältesten und produktivsten Skriptorien war das des 590 von dem irischen Mönch Columban gegründeten Klosters Luxeuil, das 732 zerstört wurde. Das 662 gegründete Kloster Corbie entwickelte einen ausgeprägten eigenen Illustrationsstil, Chelles und Laon waren weitere Zentren der merowingischen Buchillustration. Ab der Mitte des 8. Jahrhunderts wurde diese stark von der insularen Buchmalerei beeinflusst. Kloster Echternach, eine Gründung Willibrords, beeinflusste die kontinentale Buchmalerei stark und trug die irische Kultur in das Merowingerreich.
Karolingische Buchmalerei
Die Grenze der nach fränkischen Dynastien benannten merowingischen und karolingischen Kunst ist fließend. Gleichermaßen das kaiserliche Repräsentationsbedürfnis, als auch die religiöse Aura wurden schon durch die exklusive Ausführung vieler karolingischer Handschriften in Goldtinte auf purpur gefärbtem Pergament deutlich gemacht. Waren zu merowingischer Zeit ausschließlich Klöster für die Buchproduktion verantwortlich, ging die karolingische Renaissance maßgeblich vom Aachener Hof Karls des Großen aus, wo seit etwa 780 Prachthandschriften entstanden. Den Handschriften der so genannten „Hofschule Karls des Großen“ oder „Ada-Gruppe“ sind die bewusste Auseinandersetzung mit dem antiken Erbe, ein übereinstimmendes Bildprogramm und einheitliche Formate gemeinsam. Neben prachtvollen Arkaden, gerahmten Kanontafeln und insular beeinflussten Initialen gehören großflächige Evangelistenbilder mit klar konturierter Binnenzeichnung zur Ausstattung, denen zum ersten Mal seit der Spätantike wieder Körperlichkeit und Dreidimensionalität zurückgegeben wurde. Teil der Bildprogrammatik waren die kostbaren Buchdeckel, von denen sich einige mit Elfenbeinschnitzereien erhalten haben.
Eine zweite, wohl ebenfalls um 800 in Aachen entstandene, aber deutlich von den Illustrationen der Hofschule abweichende Handschriftengruppe steht eher in hellenistischer Tradition und wurde wahrscheinlich von italobyzantinischen Künstlern geschaffen. Diese Malschule wird „Palastschule“ oder „Gruppe des Wiener Krönungsevangeliars“ genannt. Im Vergleich mit der sogenannten Ada-Gruppe fehlt ihnen insbesondere der Horror vacui, die Angst vor der Leere.
Unter Ludwig dem Frommen und Karl dem Kahlen verlagerte sich die Hofkunst nach Reims, wo besonders die dynamisch bewegte Bildauffassung des Wiener Krönungsevangeliars rezipiert wurde. Hier entstanden unter Erzbischof Ebo außergewöhnliche Handschriften, die alle eine expressive Lebendigkeit auszeichnet.
Neben dem Kaiserhof traten allmählich auch die großen Reichsklöster und Bischofsresidenzen mit leistungsstarken Skriptorien in Erscheinung. Unter den Klöstern hatte St. Martin in Tours eine Führungsrolle inne, bis es in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts von Normannen zerstört wurde.
Die Metzer Schule knüpfte an die Manuskripte der Hofschule Karls an. Im Norden und Osten des westfränkischen Reiches entwickelte sich seit der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts die sogenannte franko-sächsische (das heißt angelsächsische) Schule, deren Buchschmuck weitgehend auf Ornamentik beschränkt blieb und wieder auf die insulare Buchmalerei zurückgriff.
Ottonische und vorromanische Buchmalerei
Die ottonische Buchmalerei setzte mit dem Übergang der ostfränkischen Königswürde 919 an das sächsische Geschlecht der Ottonen ein, das ab 962 auch die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches stellte. Damit verlagerte sich der kulturelle Schwerpunkt des Reiches stärker in den sächsischen Raum. Mit der Ostexpansion des Reiches und der Gründung des Bistums Magdeburg wuchs besonders im Nordosten der Bedarf an prächtigen liturgischen Büchern. Stilistisch reicht die Epoche um einiges über die Regierungszeit des letzten ottonischen Kaisers, Heinrich II. bis gegen Ende des 11. Jahrhunderts hinaus. Da eine Epochenbezeichnung nach einer Herrscherdynastie neben der zeitlichen auch eine räumliche Eingrenzung bedeutet, spricht die Kunstwissenschaft außerhalb des Reiches von vorromanischer oder auch frühromanischer Kunst. Neben den Kaisern trat besonders der hohe Klerus als Auftraggeber von Prachthandschriften auf, dessen Stellung durch das Reichskirchensystem gestärkt war.
Die frühen ottonischen Handschriften stehen noch deutlich in der karolingischen Tradition. Wie diesen liegt den ottonischen Prachthandschriften eine programmatische Bezugnahme auf die antike Tradition zugrunde, so dass diese Epoche in Anlehnung an die Karolingische Renaissance als Ottonische Renaissance bezeichnet wird. Gleichwohl wurde der antike Naturalismus und Illusionismus, der in karolingischer Zeit noch in einigen Handschriften adaptiert worden war, nun ganz einer stilisierten Formensprache geopfert. Die wichtigsten Bindeglieder zwischen karolingischer und ottonischer Buchmalerei waren St. Gallen, das Kloster Fulda sowie das Kloster Corvey an der Weser, das 815/822 als karolingische Gründung auf sächsischem Gebiet entstand und die franko-sächsische Schule fortführte. Eine Hofschule wie in karolingischer Zeit scheint es nicht mehr gegeben zu haben. Die wichtigsten Kunstzentren zur Zeit Ottos I. waren Köln, wo sich ein unverwechselbarer malerischer Stil mit byzantinischem Einfluss entwickelte. Ihn zeichnen weich-fließende Saumlinien, die Abwesenheit der Symbole in Evangelistenbildern und die Tatsache aus, dass jeder oder zumindest fast jeder Bildseite eine Textseite gegenübersteht. Eine bedeutende Kölner Werkstatt war in St. Pantaleon ansässig. Daneben sind von großer Bedeutung die Entstehungsorte: Trier, Regensburg, vor allem das Kloster Reichenau, sowie die Skriptorien in Mainz, Prüm, Echternach und auch andernorts. Im 11. Jahrhundert kamen im bairisch-österreichischen Raum Tegernsee, Niederalteich, Freising und Salzburg hinzu.
Ein wichtiger Wegbereiter der ottonischen Buchmalerei war ein anonymer Künstler, der, teilweise im Auftrag König Ottos II., in Lorsch, Reichenau, Fulda und Trier wirkte.
In Fulda entwickelte sich eine eigene Malerschule, die den karolingischen Stil der Ada-Gruppe besonders stark konservierte. Ende des 10. Jahrhunderts trat das unter Bischof Bernward aufblühende Hildesheim als Kunstzentrum in Erscheinung. Ein weiteres Zentrum der Buchkunst war Köln. Etwa von 990 bis 1020 erreichte die ottonische Buchmalerei ihren Höhepunkt mit den wahrscheinlich auf der Reichenau entstandenen Werken der Liuthar-Gruppe. Die Reichenauer Manuskripte wurden 2004 von der UNESCO in die Liste des Weltdokumentenerbes aufgenommen.
Während der gesamten ottonischen Zeit war das Evangelistenbild ein zentrales Bildmotiv, daneben ragen das der Selbstdarstellung der Auftraggeber dienende Herrscherbild – häufig in Form eines Dedikationsbildes – und die Majestas Domini hervor. Dominierende Stilelemente sind symmetrische, flächige Darstellungen mit monumentalem Charakter. Viele der ottonischen Illustrationen sind ganzseitig, teilweise in zwei Bildfelder unterteilt. Große, überlange und ausdrucksvolle Figuren mit ekstatisch-suggestiver Gebärdensprache und der Mut zu leeren, einfarbigen Flächen – meist Goldgrund – kennzeichnen den charakteristischen Stil dieser Manuskripte, die im 20. Jahrhundert den Expressionismus stark beeinflusst haben. Räumliche Tiefe fehlt den Illustrationen völlig, insgesamt ist der Formenapparat der ottonischen Malerei stark reduziert.
Die frühe salische Zeit steht noch in der Kontinuität der ottonischen Epoche. Unter Kaiser Heinrich III. stieg die Echternacher Malschule zum führenden Skriptorium auf.
Im Westfrankenreich, wo im 10. Jahrhundert mit den Ottonen vergleichbare Auftraggeber fehlten, litt die Buchmalerei stark unter dem Verfall der Königsmacht und der karolingischen Kirche. Die französische Kunstlandschaft wies starke regionale Unterschiede auf. Zentren waren im Südwesten Limoges und im Loiregebiet Fleury. Im Norden dominierte das Klosterskriptorium von St. Bertin unter Abt Odbert (986–1007), der englische Maler an seine Werkstatt holte, die dortige Buchmalerei. Wenig später treten auch die Klöster von Saint-Denis und Saint-Germain-des-Prés bei Paris, Saint-Vaast bei Arras, Saint-Amand sowie Saint-Germain-des-Prés mit reich illuminierten Manuskripten hervor.
In England beförderte der singuläre, aus Aachen stammende Utrecht-Psalter, der sich zwischen Ende des 10. Jahrhunderts und 1200 in Canterbury befand, die Rezeption der karolingischen Kunst der Metzer Schule. In der Abtei Winchester entwickelte sich seit dem 10. Jahrhundert ein eigenwilliger illusionistischer Zeichenstil, der in England lange bestimmend blieb. Hauptwerke dieser Schule sind das um 980 geschriebene Benedictionale des Æthelwold und das Pontifikale des Erzbischofs Robert mit kleinteiliger Gewandfaltung und starker Betonung der Bewegungen. In den folgenden Jahrzehnten nahm der englische Zeichenstil mit überlangen Figuren und noch größerer Bewegtheit an Stilisierung zu, bis sie sich nach der Jahrhundertmitte dem romanischen Figurenstil annäherte.
Weitgehend isoliert von den stilistischen Entwicklungen im übrigen Europa, aber in unmittelbarer Auseinandersetzung mit der islamischen Kultur, die seit dem 8. Jahrhundert auf der iberischen Halbinsel Fuß gefasst hatte, bildete sich im christlichen Spanien ein ganz eigener, mozarabischer Stil mit sehr schematisierter Formensprache heraus. Intensive, großflächig aufgetragene Farben und die völlige Negation des Raumes kennzeichnen die illustrierten Handschriften aus den christlichen Landesteilen León, Kastilien und Asturien.
Das wichtigste Buch Spaniens wurde ein Apokalypsenkommentar des asturischen Mönchs Beatus von Liébana aus dem Jahr 776, von dem vor allem aus dem 10. und 11. Jahrhundert 32 meist illustrierte Exemplare überliefert sind. Daneben war die Bibel das am häufigsten illuminierte Buch. Die katalanische Buchmalerei wurde stärker von Frankreich beeinflusst und war so durch eine andere Formensprache geprägt.
Ein Zentrum der italienischen Buchmalerei war Mailand. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts wurden in Rom und in Umbrien die sogenannten Riesenbibeln hergestellt, die sich an der karolingischen Buchmalerei orientierten und für die romanische Buchmalerei Mittelitaliens bestimmend werden sollten.
Romanik
Etwa ab dem späten 11. Jahrhundert fasst man, ausgehend von der Architektur, die bis dahin auch regional unterschiedenen europäischen Kunststile als Romanik zusammen. Einerseits nahm die Zahl der produzierten Handschriften beträchtlich zu, gleichzeitig verwischten die landschaftlichen Unterschiede zugunsten eines relativ einheitlichen Formenvokabulars, wenn dieses auch stark von der jeweiligen Künstlerpersönlichkeit des Buchmalers individuell ausgestaltet war. Der charakteristische Buchtyp der Romanik war die große illustrierte Bibel. Besonders nördlich der Alpen war sie vorwiegend mit historisierten, das heißt mit figürlich gestalteten Initialen ausgeschmückt, die unabhängig vom illustrierten Text mit Fabelwesen, Chimären, zoomorphen Gestalten oder auch Alltagsszenen bevölkert wurden, die in der repräsentativen Kunst noch keinen Platz hatten. Charakteristische Stilelemente der Romanik sind feste Umrisslinien, eine klare Gewichtsverteilung der Figuren und ornamentale Symmetrie. Wahrscheinlich beruht ein Großteil der romanischen Miniaturen – ausgenommen die typischen Zierbuchstaben – auf der monumentalen Wandmalerei. Diese Abhängigkeitsverhältnisse sind heute kaum noch nachzuzeichnen, da sich nur sehr wenige romanische Fresken erhalten haben.
Als wichtigste Auftraggeber traten nun vor allem Bischöfe, Äbte und andere hohe Kleriker in Erscheinung, während Könige und Fürsten in der romanischen Epoche kaum noch als Stifter tätig waren. Als Ausnahme muss hier Heinrich der Löwe genannt werden. Auf die zahlreichen Klostergründungen der Reformorden im 11. und vor allem im 12. Jahrhundert geht der sprunghafte Anstieg der Buchproduktion zurück. Besonders einflussreich wurde die zisterziensische Buchmalerei, bis die bilderfeindliche Einstellung Bernhards von Clairvaux in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts Illustrationen und historisierte Initialen weitgehend unterband. Wichtige Impulse gingen für die Buchmalerei von den Reformklöstern Cluny und Cîteaux aus. Förderlich für den Austausch von Büchern war die straffe Organisation zwischen Mutter- und Tochterklöstern.
Die italienischen Zentren der Buchmalerei waren Rom und Monte Cassino, wo die Rezeption byzantinischer Stilelemente maßgeblichen Einfluss auf die romanische Buchmalerei des Abendlandes ausüben sollte. Abt Desiderius, der spätere Papst Viktor III. holte byzantinische Maler an das Skriptorium des Klosters von Monte Cassino, die hier einen Stil entwickelten, der sich bald über ganz Europa verbreiten sollte. Gegen 1100 war im ganzen Abendland ein byzantinischer Einfluss zu spüren, den etwa in Köln dort tätige italienische Künstler vermittelten. Die norditalienischen Skriptorien standen den mitteleuropäischen näher: Ivrea, Vercelli, Mailand, Piacenza, Modena, Polirone und Bobbio.
Hatte die französische Buchmalerei seit karolingischer Zeit stark an Ausstrahlungskraft verloren, so gewann sie in romanischer Zeit eine Hegemonialstellung in Europa, die wesentlich von den Klöstern Cluny und Cîteaux ausging. Während sich für Cîteaux die Stilentwicklung des Skriptoriums nachzeichnen lässt, ist dies für Cluny nicht möglich, da die Klosterbibliothek während der französischen Revolution zerstört wurde. Im Süden blieben die seit karolingischer Zeit produktiven Klöster bestimmend: Neben Limoges vor allem Albi und Saint-Gilles. Mehr und mehr rückte der Schwerpunkt der französischen Kunst in die Île de France, nach Chartres, Laon und Paris, wo die Universität von Paris ein bestimmender Faktor für die Buchproduktion war.
Das Maasland mit der Lütticher Kathedrale St. Lambertus und verschiedenen Klöstern im Umland war ein besonders einflussreiches Zentrum der romanischen Buchmalerei, das auch die Malschulen des Rheinlandes stark prägte: Köln, Siegburg, Prüm, Mainz, Maria Laach, Trier und Arnstein. Die rheinisch-thüringische Schule stand ebenso unter starkem byzantinischem Einfluss wie diejenige Salzburgs, die vornehmlich auf Sankt Florian, Admont und Mondsee einwirkte. In Süddeutschland, besonders in Schwaben, blühte die Buchmalerei unter anderem im cluniazensischen Reformkloster Hirsau, im welfischen Hauskloster Weingarten, dem elsässischen Frauenkloster Odilienberg und in den Klöstern Murbach, Zwiefalten, Regensburg, Würzburg sowie Bamberg. Die sächsisch-westfälische Buchmalerei wurde in Corvey, Hildesheim, Halberstadt, Helmarshausen und Goslar geprägt.
Der nach den eckig gebrochenen Faltenwürfen benannte Zackenstil leitet in Deutschland von der Romanik zur Gotik über, die sich hier regional unterschiedlich etwa zwischen 1260 und 1300 durchsetzte.
In England dominierte zunächst weiterhin der Zeichenstil, der die angelsächsische Buchmalerei unter dem Einfluss des Utrechter Psalters in der Vorromanik geprägt hatte. Winchester und Canterbury blieben die bestimmenden Skriptorien, zu denen sich St. Albans, Rochester, Malmesbury, Hereford, Sherborne, Winchcombe und London gesellten. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bildete sich dann aber auch hier eine raffinierte Deckfarbenmalerei heraus. Begünstigt wurde das Eindringen romanischer Stilelemente durch die Verbindungen zu Frankreich seit der Eroberung Englands durch die Normannen 1066.
Gotik
In Frankreich und England setzte die Gotik in der Buchmalerei um 1160/70 ein, während in Deutschland noch bis um 1300 romanische Formen dominant blieben. Während der gesamten gotischen Epoche blieb Frankreich als führende Kunstnation bestimmend für die stilistischen Entwicklungen der Buchmalerei. Zeitgleich mit dem Übergang von der Spätgotik zur Renaissance verlor die Buchmalerei ihre Rolle als eine der bedeutendsten Kunstgattungen infolge der Verbreitung des Buchdrucks in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts.
An der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert trat die kommerzielle Buchherstellung an die Seite der monastischen Buchproduktion. Ausgangspunkt für diesen gravierenden Einschnitt waren die Universitäten, für die Buchmalerei war jedoch der hohe Adel bedeutsamer, der wenig später als Auftraggeber weltlicher höfischer Literatur hinzukam. Der meistillustrierte Buchtyp war das für den privaten Gebrauch bestimmte Stundenbuch. Mit der Herausbildung kommerzieller Ateliers treten in der Gotik immer mehr Künstlerpersönlichkeiten namentlich in Erscheinung. Ab dem 14. Jahrhundert wurde der Meister typisch, der eine Werkstatt leitete, mit der er sowohl in der Tafel-, als auch in der Buchmalerei tätig war.
Stilistische Charakteristika, die während der gesamten Gotik gültig blieben, waren ein weicher, durchschwungener Figurenstil mit geschmeidigem, kurvig linearem Duktus, höfische Eleganz, überlängte Figuren und fließende Faltenwürfe. Weitere Kennzeichen waren die Verwendung zeitgenössischer architektonischer Elemente zur dekorativen Gliederung der Bildfelder. Ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts fanden in ganz Europa meist rote und blaue Fleuronné-Initialen als typische Dekorform der Manuskripte des unteren und mittleren Ausstattungsniveaus Verwendung. Selbständige Szenen boten als historisierte Initialen und Drolerien am unteren Bildrand Raum für phantasievolle, vom illustrierten Text unabhängige Darstellungen und trugen wesentlich zur Individualisierung der Malerei und zur Abkehr von erstarrten Bildformeln bei. Ein naturalistischer Realismus mit Perspektive, räumliche Tiefenwirkung, Lichteffekte und realistische Anatomie der dargestellten Personen setzte sich, ausgehend vom Realismus der Kunst der südlichen Niederlande, im Laufe des 15. Jahrhunderts zunehmend durch und weist auf die Renaissance.
Renaissance
Die Buchmalerei der Renaissance verlor ihre Bedeutung als eine der großen Gattungen der bildenden Kunst, die innerhalb der Malerei gleichberechtigt neben der Tafel- beziehungsweise Leinwand- und der Wandmalerei stand, mit dem Aufkommen des Buchdrucks, der untrennbar mit dem Zeitalter der Renaissance verknüpft ist. Durch drucktechnische Verfahren – zunächst der Holzschnitt, dann der Kupferstich – entwickelte sich auch die Buchillustration vom individuellen Kunstwerk zu einem für breite Schichten erschwinglichen Massenmedium, das die Buchmalerei sehr schnell fast völlig verdrängte.
Nur wo Texte lediglich für Einzelausgaben gedacht waren und sich ein Druck deshalb nicht lohnte, lebte die Buchmalerei in der Frühen Neuzeit noch fort. Zu den illustrierten Buchtypen gehörte besonders das Hausbuch, wie es beispielhaft in einem Exemplar von Schloss Wolfegg überliefert ist, oder Familienchroniken, wie die Zimmerische Chronik aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, in denen besonders heraldische Malereien zu finden sind. Auch lokale Privilegien und Statuten entstanden in illustrierten Einzelexemplaren. Eine besondere Form des illustrierten Buches waren riesige Antiphonare, Chorbücher, die für den gesamten Chor lesbar sein mussten und deren Buchschmuck vor allem in historisierten Initialen bestand. Die prächtigsten ausgeschmückten Buchtypen des 15. und 16. Jahrhunderts waren die für die private Andacht bestimmten Gebets- und Stundenbücher, in Italien kamen Schriften der Humanistenliteratur hinzu. Viele dieser frühneuzeitlichen Bücher sind nicht mit Deckfarbenmalerei, sondern mit teilweise kolorierten Federzeichnungen illustriert.
Ein besonderes Feld der frühneuzeitlichen Buchmalerei waren exklusive Werke für Bibliophile, die auf Unikate nicht verzichten wollten. Mitunter wurden auch Drucke nachträglich mit Illustrationen versehen.
An der Schwelle von der Gotik zur Renaissance stehen unter anderem Jean Fouquet, Barthélemy d’Eyck, während Giulio Clovio oder Albrecht Altdorfer bereits eindeutig der Renaissance zuzurechnen sind. Unter den Buchmalern des 16. Jahrhunderts sind die Familie Glockendon in Nürnberg, Hans Mielich in München, Jörg Kölderer in Tirol, Jean Bourdichon in Frankreich, Attavante degli Attavanti in Florenz, die Familie Bening in Brügge und Georg Hoefnagel in Antwerpen und Wien zu nennen, die unter anderem für die Kaiser Friedrich III., Maximilian I., Karl V. und Rudolf II. sowie für Lorenzo di Medici, den ungarischen König Matthias Corvinus und Erzherzog Ferdinand von Tirol arbeiteten.
Charakteristisch für die Renaissancekünstler ist eine Annäherung der Buchillustration an das autonome Kunstwerk, das Tafelbild. Alle Errungenschaften der Renaissance-Kunst, besonders die malerische Beherrschung der Perspektive und Räumlichkeit, fanden aus Italien kommend auch Eingang in die Buchmalerei. Gleichzeitig entwickelten sich die historisierten Initialen zu Bilderrahmen der Miniaturen, die eigentliche Zierinitiale dagegen verschwand. Ein anderes wesentliches Merkmal war die Auseinandersetzung mit antiken Buchillustrationen, die sich nicht zuletzt in antikisierenden Dekorationselementen wie architektonischen Rahmen, Reliefs, Medaillons oder Putten niederschlug. Typischerweise wurde der zu illustrierende Text mehr und mehr Teil des Bildes und häufig auf Schrifttafeln in die Komposition integriert.
Byzantinische Buchmalerei
Historische Bedingungen
Das christlich und seit dem 7. Jahrhundert griechisch geprägte Staatswesen Byzanz wurde kulturell wie politisch völlig von seiner 324/330 gegründeten Metropole Konstantinopel dominiert, wo der kaiserliche Hof der wichtigste Auftraggeber war.
Anders als in West- und Mitteleuropa führte die byzantinische Kunst das antike Erbe des ehemaligen Oströmischen Reichs bis zu seinem Ende im 15. Jahrhundert ohne Unterbrechung traditionsbewusst fort, wenn auch mit Wellen der Erneuerung. Einen wichtigen Einschnitt für die Kunst bedeutete der byzantinische Bilderstreit, der zwischen 726 und 843 den religiösen Bilderkult unterband, ehe die byzantinische Kunst vom 9. bis ins 11. Jahrhundert eine neue Blüte erlebte. Verglichen mit der Vielzahl der Stile und Epochen der westlichen Buchmalerei ist die byzantinische trotz dieses vorübergehenden Bruchs von außerordentlicher Homogenität, Kontinuität und dem Beharren auf der antiken Bildsprache geprägt.
Alle Renaissancen der abendländischen Kunst, seien es die karolingische, die ottonische oder die der Frühen Neuzeit, verdanken der byzantinischen Kunst deshalb wesentliche Impulse. Der Buchmalerei kam dabei eine wesentliche Mittlerrolle zu, denn nur das Medium Buch gelangte unmittelbar in den Westen und konnte dort in den Skriptorien kopiert werden. Teilweise waren byzantinische Künstler auch in den abendländischen Ateliers tätig. Mit dem Exarchat von Ravenna und dem Katepanat Italien besaß Byzanz noch bis in das 8. Jahrhundert wichtige Brückenköpfe im Westen. Später war die Republik Venedig ein bedeutender Verbündeter und Handelspartner, über den der kulturelle Austausch lief. Erst mit der Zerschlagung des byzantinischen Reichs durch den vierten Kreuzzug, bei dem gegen den Protest des Papstes Innozenz III. Konstantinopel 1204 eingenommen und geplündert wurde und durch den die byzantinische Kunst einen erheblichen Einbruch erlebte, brachen die Kontakte weitgehend ab.
Während die Slawen im Norden und Osten im 9. und 10. Jahrhundert christianisiert und unter den Einfluss Konstantinopels gebracht werden konnten, stellten im Osten und Süden Angriffe zunächst der Perser, dann der Araber sowie der Bulgaren, Mongolen und Türken eine ständige Bedrohung dar. Nach Jahrhunderten des Existenzkampfes ging das Byzantinische Reich 1453 mit dem Fall Konstantinopels schließlich unter. Viele byzantinische Gelehrte flohen in der Folge nach Italien und brachten zahlreiche antike und byzantinische Bücher mit. In Konstantinopel fiel ein Großteil der Kunstwerke den Plünderungen und Zerstörungen der Eroberer zum Opfer.
Konstantinopel und das byzantinische Reich
Stilistisch sind antike und byzantinische Kunst nicht deutlich voneinander zu trennen. Üblicherweise wird die Epoche Justinians I. (527–565) als Beginn und erster Höhepunkt der byzantinischen Kunst betrachtet, da nun Konstantinopel das bestimmende Sammelbecken für alle künstlerischen Kräfte des gesamten Reiches wurde, die in dem Kaiser ihren bedeutendsten Auftraggeber hatten. Die als Justinianische Renaissance bezeichnete Epoche war von einer produktiven renovatio der klassischen Formensprache gekennzeichnet, die die verschiedenen Strömungen der nachantiken Kunst zu einer Einheit verschmolz. Der ästhetische Charakter der justinianischen Kunst blieb für die byzantinische Kunst für Jahrhunderte vorbildhaft.
In der Zeit des byzantinischen Bilderstreits im 8. und 9. Jahrhundert beschränkte sich die liturgische Buchmalerei auf Kreuze und Ornamente, nur vereinzelt sind religiöse illustrierte Handschriften überliefert. Die Illustration weltlicher Themen war dagegen vom Ikonoklasmus anscheinend nicht betroffen. Dennoch riss die Tradition so weit ab, dass Illustrationen kirchlicher Bücher nach 843 mit steifen Figuren, maskenhaften Gesichtern und linearem Faltenstil zunächst nicht an die frühere Qualität anschließen konnten.
Nach dem Bilderstreit griffen die Illustratoren wieder auf den Fundus illustrierter Bücher aus der spätantik-frühchristlichen Zeit zurück. Neuen Auftrieb erfasste die Buchmalerei seit Basileios I. aus der makedonischen Dynastie, nach der diese Kunstepoche die Bezeichnung „Makedonische Renaissance“ erhielt. Das 10. Jahrhundert brachte Meisterwerke hervor, deren Merkmale Landschaftsdarstellungen mit Atmosphäre, ausdrucksvolle, malerisch durchgestaltete Gesichter und ein klassischer Figurenkanon waren. Den individuell gestalteten Illustrationen gelang es dabei, eigene Schöpfungen im Geist der Antike zu schaffen, ohne überkommene Vorlagen sklavisch zu kopieren.
Um das Jahr 1000 verließ die byzantinische Buchmalerei den aus der Antike übernommenen naturalistischen und eleganten Stil der makedonischen Renaissance. Der sich nun durchsetzende Modus ist von scharf konturierten Gesichtern und Gewändern, manierierten Bewegungen, unorganischen, überlangen Gestalten, wirklichkeitsferne Landschaften und Architekturen sowie einem weitgehenden Verzicht auf Körperlichkeit und Raumtiefe geprägt.
Einflussbereiche der byzantinischen Kunst
Die byzantinische Tradition wird bis heute vor allem durch die orthodoxen und altorientalischen Kirchen verkörpert, die unmittelbar auf dem byzantinischen Ritus beruhen.
Vorderasien
Die vorislamische syrische Buchmalerei des 6. Jahrhunderts war zunächst von stilistischer Kontinuität der antiken Tradition geprägt. Bestimmend für die nachfolgende Buchmalerei waren Kanontafeln, bis im 11. Jahrhundert wieder figürliche Illustrationen einsetzten, die im Wesentlichen von Byzanz, daneben aber auch von der islamischen Buchkunst und der Kunst der Kreuzfahrerstaaten beeinflusst waren. Die Entwicklung eines einheitlichen syrischen Stils verhinderte die Aufsplitterung der christlichen Minderheiten in Jakobiten, Maroniten, Melchiten und Nestorianer.
Auch die frühe Armenische Buchmalerei ist eine orientalische Variante der byzantinischen Kunst, die von der syrischen aber auch von der koptischen und vereinzelt von der westlichen Malerei beeinflusst worden ist. In stärkerem Umfang setzt die Überlieferung im 10. Jahrhundert ein. Im 11. Jahrhundert bildeten sich Buchmalerschulen unter anderem in Turuberan, Sebaste und möglicherweise eine Hofschule in Kars heraus. Aus dem 12. Jahrhundert sind wenige Bilderhandschriften erhalten, deren sehr linearer Stil einen schwindenden Einfluss Byzanz' zeigt. Die Manuskripte des 13. Jahrhunderts weisen sehr starke Differenzen und die unterschiedlichsten Einflüsse auf. Im 13. und 14. Jahrhundert folgte diesem Höhepunkt eine Aufsplitterung in die unterschiedlichsten Stilformen.
In Georgien, das nominell unter byzantinischer Oberhoheit stand, war der byzantinische Einfluss besonders dominant. Erste illuminierte Handschriften stammen aus dem 9. und 10. Jahrhundert. Mit dem Niedergang Byzanz' sank auch die georgische Buchmalerei auf ein bescheidenes, provinzielles Niveau ab.
Balkan und Altrussland
Die überlieferte serbische Buchmalerei setzt gegen Ende des 12. Jahrhunderts ein und mischte die Kultureinflüsse Byzanz' und des lateinischen Westens. Im 14. Jahrhundert wandte sich die Kunst Serbiens ganz Byzanz zu und erreichte gleichzeitig ihre höchste Blüte.
Die bulgarische Buchmalerei erlebte unter dem Zaren Iwan Alexander im 14. Jahrhundert eine plötzliche Blüte in einem sehr stark byzantinisierenden Stil, nachdem bis dahin nur wenig anspruchsvolle und zumeist rein ornamental gestaltete Illuminationen geschaffen worden waren. Im 15. Jahrhundert verschwindet die figürliche Malerei erneut aus der bulgarischen Buchmalerei und die Illuminationen beschränken sich bis in das 16. Jahrhundert wieder auf kunstvolle Ornamentik.
Rumänische Illuminationen tauchen erst um 1400 auf und sind ganz der spätbyzantinischen Kunst zuzurechnen. Unter Stefan dem Großen entstanden um 1500 die Meisterwerke der rumänischen Buchkunst.
In Altrussland entstand aus der Rezeption byzantinischer Buchmalerei ein eigener Stil. Wichtige Kunstzentren der frühen russischen Buchmalerei waren Nowgorod und Kiew. Ansätze einer Rezeption westlicher Buchmalerei konnten sich aufgrund von Mongoleneinfällen und von Annexionen durch Litauen im 13. und 14. Jahrhundert nicht entfalten. Um 1200 traten Produktionszentren in Rostow, Jaroslawl, Susdal und andernorts in Erscheinung.
Kopten
Aus ägyptischer Tradition entwickelte sich in Nubien und Äthiopien die christliche Kunst der Kopten und der Äthiopier. Von der byzantinischen Malerei beeinflusst, blieb sie durch ihre Rand- oder Inselposition, zumal nach der Invasion der Araber 641, im Wesentlichen doch isoliert und abgeschottet.
In Stilkontinuität zu vereinzelten weltlichen Papyrusfragmenten des 5. Jahrhunderts ist aus dem 7. Jahrhundert die erste christliche Buchmalerei überliefert. Oberägyptischen sahidischen Manuskripten des 8. bis 10. Jahrhunderts sind strenge Frontalität, reine Flächigkeit, linearer Faltenstil und Gesichter mit großen, starren Augen gemeinsam. Ein häufiges ikonographisches Motiv dieser Handschriften ist die Maria lactans. Diese fehlt den späteren bohairischen Manuskripten aus Unterägypten völlig. Diese Buchmalerei erlebte ihre Blüte, als sie vom späten 12. bis Ende des 13. Jahrhunderts von der byzantinischen Kunst beeinflusst wurde.
Islamische Buchmalerei
Überlieferung
In der islamischen Welt werden Manuskripte seit Jahrhunderten sehr häufig zerlegt und die Einzelblätter anschließend mit Malereien völlig anderer Provenienz zu neuen Alben, sogenannten Muraqqas, zusammengefügt. Aus dieser Gewohnheit resultiert eine nur sehr bruchstückhafte Überlieferungs- und vergleichsweise schlechte Forschungslage der islamischen Buchmalerei. Die älteste datierbare Textillustration ist eine astronomische Abhandlung aus dem Jahr 1009, in größerer Zahl sind islamische Buchmalereien erst ab dem 13. Jahrhundert überliefert. Dass es neben rein kalligrafischen und ornamentalen Textauszeichnungen zuvor eine Maltradition gab, die lediglich aufgrund der großen Verluste nicht greifbar sei, wurde früher als unwahrscheinlich angesehen, erscheint inzwischen aufgrund neuerer Fragmentfunde jedoch möglich. Um Mitte des 16. Jahrhunderts ging die Produktion von illuminierten Handschriften zurück und Einzelblattzeichnungen und -malereien traten an ihre Stelle.
Gestaltungsprinzipien und Funktionen
Die islamische Buchmalerei wird von zwei gegensätzlichen Grundpositionen bestimmt: Einerseits ist der Islam – wie Christen- und Judentum – Buchreligion, andererseits untersagt ein Bilderverbot figürliche Darstellungen, wenn auch der Koran dieses Verbot nicht direkt formuliert. Religiöse Werke beschränken sich deshalb auf prachtvolle Ornamentik und Kalligraphie, doch auch darüber hinaus ist die islamische Buchkunst besonders durch abstrakte geometrische Muster gekennzeichnet. Besonders die aus griechischen und römischen Akanthusranken entwickelten komplexen Arabesken entwickelten die arabischen Illuminatoren zu differenzierten und variationsreichen dekorativen Mustern.
Obwohl das Bilderverbot nach streng orthodoxer Sicht nicht auf die religiöse Sphäre beschränkt ist, findet sich im weltlichen Bereich äußerst phantasiereiche figurale Malerei.
Die islamische Buchmalerei kannte keine Linearperspektive, sondern ausschließlich die Bedeutungsperspektive. Erst als seit dem 17. Jahrhundert die europäische Kunst einen zunehmenden Einfluss auf die persische Malerei ausübte, drangen die Zentralperspektive und Kontrastierungen mittels Licht und Schatten ein. Auch Modellierungen mittels farblicher Abstufungen waren wenig genutzte Stilmittel. Stattdessen bevorzugten die Maler reine Farben und deuteten etwa Faltenwürfe eher durch Linien an. Die symbolische Bedeutung einzelner Farben konnte in unterschiedlichen Regionen und zu verschiedenen Zeiten erheblich voneinander abweichen und sogar gegensätzliche Konnotationen annehmen.
Gattungen illuminierter Handschriften
Möglicherweise fand die figürliche Illustration über wissenschaftliche Werke, die häufig an hellenistisch-byzantinische Traditionen anknüpften, Eingang in die islamische Buchkunst. Das älteste illustrierte Buch der islamischen Welt, das Kitab Suwar al-Kawakib al-Thabita aus dem Jahr 1009, blieb lange das einzige derartige Werk, die Zahl illustrierter Sachtexte übertrifft in späteren Jahrhunderten jedoch alle anderen Gattungen deutlich. Auffallend ist, dass die Illustrationen auch von Sachtexten weniger praktischen Nutzen, als dekorative Zwecke erfüllten.
Die beiden meistillustrierten Dichtungen waren das Fabelbuch Kalīla wa Dimna und die Makamen des Hariri. Die älteste illustrierte Handschrift der Kalīla wa Dimna wurde um 1200–1220 illuminiert, die Ikonologie der Fabeln könnte aber bis in vorislamische Zeit zurückreichen und auf indische Traditionen hinweisen. Besonders prächtig wurde seit dem frühen 14. Jahrhundert das 50.000 Verse umfassende persische Epos Schahname illustriert.
Materialien und Technik
Beschreibstoff der islamischen Buchmalerei war fast ausschließlich das aus Ostasien stammende Papier, das im 8. Jahrhundert die Arabische Halbinsel erreicht hatte und sich seit Mitte des 10. Jahrhunderts durchsetzte. Die Vorliebe für verschiedene Papiersorten schwankte von hauchdünnen, aus Seidenfasern hergestellten Papieren bis zu dicken Pappen. Spezialisierte Papiermacher tönten die Bögen, schnitten sie zurecht und marmorierten sie bei Bedarf oder sprenkelten sie mit Gold.
Die meisten der deckenden Wasserfarben waren mineralischer Natur und wurden aus Lapislazuli, Malachit und ähnlichen Steinen hergestellt, die pulverisiert und mit Gold oder Silber gemischt wurden. Daneben kamen organische Farbmittel zum Einsatz. Die Malerei wurde zum Schluss mit goldenen Glanzlichtern versehen und durch eine Politur mit Achat oder Kristall gehärtet.
Die Pinsel bestanden häufig aus Vogelfedern, die mit Haaren junger Ziegen oder Eichhörnchen verstärkt wurden.
Künstler
Höher als die Illustration war in der arabischen Welt die Kalligrafie angesehen, die zur überragenden islamischen Kunstform wurde. Die höchstbezahlten Buchmaler standen im Dienst eines großen Herrn und waren angesehene Mitglieder des Hofstaates. Etliche Fürsten und Sultane übten sich selbst erfolgreich in der Buchmalerei. Andere Illuminatoren waren gleichzeitig hohe Beamte, aber auch Sklaven konnten in der islamischen Buchmalerei zu angesehenen Meistern aufsteigen.
Neben den Malern an den Höfen gab es städtisch-kommerzielle Ateliers, deren Künstler in Gilden organisiert waren und die zahllose Manuskripte von bescheidenem Niveau für Kaufleute oder Bruderschaften herstellten.
Über die Hintergründe der islamischen Buchmalerei sind wir am besten im Bereich der Persischen Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts unterrichtet.
Stilgeschichte und regionale Ausprägungen
Arabische Buchmalerei
Die arabische Welt dehnte sich seit dem 7. Jahrhundert im Zuge der Islamische Expansion im Westen bis nach Spanien und im Osten über Persien hinaus nach Indien aus. Im arabischen Raum waren besonders das syrische Damaskus, Regierungssitz unter den Omaijaden, und unter den Abbasiden Bagdad im heutigen Irak die politisch-kulturellen Zentren. Auf der arabischen Halbinsel und in Ägypten blühte die Miniaturkunst unter den Mamluken noch, bis sie Ende des 14. Jahrhunderts an Bedeutung verlor.
Die frühe islamische Buchillustration stand noch in spätantik-hellenistischer und byzantinischer Tradition, löste sich aber bald davon und entwickelte einen eigenen Stil, der das abstrakte Ornament und die Flächendekoration betonte.
Maurische Buchmalerei
Die Iberische Halbinsel war bis zum Erfolg der christlichen Reconquista Mitte des 13. Jahrhunderts islamisch geprägt, das Emirat von Granada blieb noch bis 1492 unter muslimischer Kontrolle. Seit Ende des 15. Jahrhunderts blieb die Kunst der Mauren auf Nordafrika beschränkt. Weniger aufgrund der christlichen Eroberung, als wegen des religiösen Rigorismus malekitischer Ulema hat sich nur eine illustrierte maurische Handschrift in der Vatikanischen Bibliothek erhalten. Dabei handelt es sich um ein mit 14 Miniaturen versehenes Manuskript der Liebesgeschichte Bayâd wa Riyâd aus dem 12. oder 13. Jahrhundert. Der Stil der Bilder ist flächig-zweidimensional und weist Ähnlichkeiten zu Fresken der normannisch-sizilianischen Kunst auf.
Christliche Buchmalereien Spaniens beweisen trotz der mangelhaften Überlieferungslage durch erkennbare Einflüsse der Kunst der Mudéjares die Existenz einer maurischen Malschule.
Zahlreich sind dagegen Handschriften mit einem ausgeprägten kalligraphischen Stil: Im 10. Jahrhundert bildete sich im Maghreb eine eigene Schriftart, der Maghrebi-Duktus, heraus.
Persische Buchmalerei
Nach der Eroberung Bagdads durch die Mongolen 1258 verlagerte sich der geistige Mittelpunkt der islamischen Welt nach Persien, besonders nach Täbris, den Sitz der mongolischen Ilchane. Hier entfaltete sich auf sassanidischer Tradition ab etwa 1300 eine eigene persische Miniaturkunst, die sich unter dem Eindruck der von den Mongolen mitgebrachten buddhistischen Bildrollen aus Indien und China allmählich vom arabischen Erbe löste. Es entwickelte sich ein neuer, die Naturwirklichkeit abbildender Realismus, der die Landschaftsmalerei als neue Bildgattung in die islamische Kunst einführte.
Nach dem Ende der Ilchane und einem neuerlichen, zunächst von Gewalt und Kulturvandalismus begleiteten Mongoleneinfall entfaltete auch die wiederum zum Islam übergetretene neue Herrscherdynastie der Timuriden neue Pracht in der jetzigen Residenz Herat. Die Buchmalerei illustrierte mit höchster dekorativer Eleganz nun besonders historische Werke in einem kontrollierten, aber poetischen Stil. Die persische Buchkunst erreichte in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt, als sie infolge enger Handelsbeziehungen nach China durch Impulse der Kunst der Ming-Dynastie verfeinert wurde.
Der Stil der persischen Miniaturmalerei wandelte sich nach der Eroberung durch Qara Qoyunlu-Turkmenen 1452 erneut und nahm nun belebte, geradezu ekstatische Ausdrucksformen an. In die Ikonographie fanden ostasiatische Drachen und Tiere Eingang, die Flächen werden mit irrealen Effekten gestaltet.
Auch unter der Dynastie der Safawiden, die ab 1501 das Schiitentum anstelle des Sunnitentums als Staatsreligion etablierte, erlebte die Buchmalerei neue Höhepunkte. Diese übte einen starken Einfluss auf die indische Mogulmalerei aus, bis sie im 17. Jahrhundert einen langsamen, aber stetigen Niedergang erlebte. Der berühmteste persische Miniaturmaler der späten Timuriden- und der frühen Safawidendynastie war Behzād, der im Auftrag des Sultans Hussein Bāyqarā in Herat und des Schahs Ismail I. in Täbris große Ateliers leitete und ein Meister in der Darstellung von Genreszenen war.
In der späten safawidischen Zeit im 16. und 17. Jahrhundert blühte die Isfahaner Schule, als deren größter Vertreter Reza Abbasi gilt.
Indische Mogulmalerei
Anfang des 16. Jahrhunderts errichteten die Mongolen, in der arabisierten Form Moguln genannt, ein ausgedehntes Reich in Indien, wo es zuvor nur vereinzelte islamische Herrschaften gegeben hatte. Die höfische Malschule der Moguln entstand unter Humayun, der bei seiner Rückkehr aus dem persischen Exil im Jahre 1555 erstmals zwei persische Maler, Mir Sayyid Ali und Chwadscha Abd as-Samad, am indischen Mogulhof eingeführt hatte. Der dominierende kulturelle Einfluss der persischen Höfe verschmolz etwa seit Mitte des 16. Jahrhunderts mit der indischen, insbesondere hinduistischen Kunst zu einem eigenständigen Mogulstil. Am kosmopolitischen Hof Akbars, an den sogar Europäer strömten, arbeiteten in der von persischen Künstlern geleiteten Malschule fast ausschließlich Hindus.
Die Themen sind überwiegend weltlich, illustriert wurden besonders dichterische und historische Werke. Übliche Motive sind Darstellungen des Hofes, Jagdszenen, Abbildungen von Tieren und Pflanzen. Einen hohen Stellenwert in der Kunst der Akbar-Zeit genießen die Miniaturen des „Papageienbuches“ (Tutinama). Als neues Thema finden Porträts führender Persönlichkeiten des Staates einschließlich der Herrscher selbst Eingang in die indische Kunst. Akbar ließ nicht nur seine eigene Biografie, sondern auch die Chroniken Baburs und Timurs reich bebildern. Bekannte Künstler der Epoche waren Daswanth, Basawan und dessen Sohn Manohar.
Die hochformatigen Miniaturen des Mogulstils zeichnen sich unter anderem durch die Verwendung der Kavaliersperspektive, überwiegend punktsymmetrische Kompositionen und durch Binnenzeichnungen aufgelockerte Farbflächen aus. Eines der frühesten datierbaren Werke ist eine zwischen 1558 und 1573 während der Regierungszeit Akbars verfasste Handschrift des Hamzanama, das ursprünglich etwa 1400 Miniaturen enthielt. Während einige der rund 150 erhaltenen Illustrationen mit in die Textzeilen integrierten flächigen, eher statischen wirkenden Abbildungen der persischen Maltradition folgen, weisen die meisten deutliche indische Einflüsse auf: Die Bildkomposition ist weitaus flexibler, die Figurenanordnung dynamischer, Bild und Text sind meist nebeneinander gestellt. Anders als frühere jainistische und hinduistische Manuskripte ist jedes Folio mit einer Abbildung versehen.
Neue Impulse erhielt die Mogulkunst in der Regierungszeit Jahangirs 1605 bis 1627. Die Miniaturen dieser Zeit legten wenig Wert auf Massendarstellungen, wie sie unter Akbar üblich waren, und zeichnen sich stattdessen durch möglichst naturalistische Darstellungen von Personen, Tieren, Pflanzen und Gegenständen aus. Typisch sind detailgetreue Porträts, die in Alben gesammelt wurden, und indische Landschaften, die die vorher üblichen stilisierten persischen Bildhintergründe ersetzten.
Die Farbgebung blieb dagegen mit leuchtenden Farben und Gold der persischen Kunst verpflichtet. Hatten in der Malschule Akbars oft mehrere Künstler an einem Gemälde gearbeitet, so waren die meisten Malereien der Jahangir-Zeit Einzelwerke. Dadurch entstanden zwar weniger Kunstwerke, die dafür ein höheres künstlerisches Niveau erreichten. Insgesamt gilt die Epoche Jahangirs als Blütezeit der Mogulmalerei. Aus jener Zeit sind viele Namen berühmter Künstler überliefert, darunter Abu al-Hasan, Mansur, Bichitr und Bishandas. Jahangir ordnete seine Hofmaler an, europäische Kupferstiche, die seit 1580 durch portugiesische Jesuiten an den Hof Akbars gelangt waren, zu studieren und im Stil zu kopieren. In der Folge fanden Miniaturporträts nach europäischem Vorbild ebenso Eingang in die Mogulkunst wie die Zentralperspektive und der Heiligenschein der christlichen Ikonographie, der das Haupt des Herrschers schmückte.
Unter Shah Jahan und Aurangzeb verlor die Buchmalerei im Laufe des 17. Jahrhunderts an Bedeutung und erlosch schließlich gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Viele Künstler verließen den Hof, trugen andernorts aber zum Aufblühen der Regionalschulen des 18. Jahrhunderts bei, etwa in Rajasthan, wo sich bereits im 16. Jahrhundert parallel zum Mogulstil der Rajputenstil herausgebildet hatte.
Osmanische Buchmalerei
Unter dem kulturellen Einfluss der persischen Kunst entwickelte sich diejenige des Osmanischen Reichs, das seit dem 14. Jahrhundert stark expandierte, zu einem eigenständigen und unverkennbaren Stil. Residenz der Osmanen war zunächst Bursa, dann Adrianopel bis die Hauptstadt in das 1453 eroberte Konstantinopel verlegt wurde, das später in Istanbul umbenannt wurde. Die Blütezeit der osmanischen Miniaturmalerei war das 16. Jahrhundert, in dem die Mehrzahl der illustrierten Manuskripte entstand.
Die Förderung der weltlichen Hofkunst war das traditionelle Privileg der Sultane. Deshalb dominierten Darstellungen aus der osmanischen Geschichte und illustrierte Stammbäume der osmanischen Dynastien, deren Genealogien häufig mit Adam und Eva begannen sowie berühmte, legendäre und historische Gestalten einbezogen. Besonders wichtige politische, kriegerische oder offizielle Ereignisse der Zeitgeschichte wurden dokumentiert, daneben war das höfische Alltagsleben ein häufiger Gegenstand der Illustrationen. Bei all diesen Illustrationen standen der Sultan als bildbeherrschende Gestalt und sein Hofstaat im Mittelpunkt des künstlerischen Interesses. So war die osmanische Miniaturmalerei ein wichtiges Medium der herrscherlichen Repräsentation des Padischahs.
Die erste große illustrierte Chronik dieser Art war das unter Süleyman I. Mitte des 16. Jahrhunderts entstandene Süleymanname. Berühmte Maler Surname genannter Festbücher waren Ende des 16. Jahrhunderts Nakkaş Osman sowie ein herausragender Maler von Levni zu Beginn des 18. Jahrhunderts.
Unter der Zielsetzung der Verherrlichung des Sultans entwickelte sich am Hof auch die Porträtmalerei, die sich neben dem Herrscherporträt auf die gelegentliche Abbildung hoher Würdenträger beschränkte. Schon um 1500 luden osmanische Sultane auch europäische Künstler, etwa den Renaissancemaler Gentile Bellini, an ihren Hof, so dass Elemente der abendländischen Kunst Eingang in die osmanische Porträtkunst fanden. Über die Hintergründe der Historienmalerei und der Porträtkunst entwickelte sich auch die Landschaftsmalerei in Ansätzen. In den Panoramen schilderten die Maler oft mit dokumentarischer Genauigkeit Festungsanlagen und Stadtansichten, die an die lange Tradition detaillierter Kartografie anknüpften.
Die türkische Malerei war insgesamt von größerer Sachlichkeit geprägt, als die persische und auch die arabische. Sie zeichnete sich besonders durch akribischen Detailreichtum aus, blieb aber dennoch formelhaft und wenig realistisch. Erkenntnisse der europäischen Kunst blieben auf wenige Elemente wie das Brustbild im Profil oder Dreiviertelprofil beschränkt, während Proportionen, Perspektive oder eine Modellierung mit Licht und Schatten ignoriert wurden und die Darstellung zweidimensional-flächenhaft und unkörperlich blieb. Erst im 17. Jahrhundert zeigten sich in Architekturdarstellungen Ansätze perspektivischer Konstruktionen. Ihre Ausdruckskraft bezogen die osmanischen Malereien durch die intensiven Kontraste der häufig irrealen Farben sowie durch ihren Detailreichtum.
Der Buchdruck gelangte erst Anfang des 18. Jahrhunderts ins Osmanische Reich und konnte sich nie richtig durchsetzen, so dass Handschriften bis ins 19. Jahrhundert das bedeutendste schriftliche Medium blieben. Die Miniatur blieb deshalb bis ins 18. Jahrhundert die dominierende Kunstgattung, bevor sich unter dem Eindruck der abendländischen Malerei eine Umorientierung vollzog.
Jüdische Buchmalerei
Die liturgischen, in der Synagoge verwendeten jüdischen Bibeln hatten grundsätzlich die Form von Schriftrollen und waren immer schmucklos. Eine weitere Besonderheit war, dass das Pergament für jüdische Bücher von koscheren Tieren stammen musste. Die illustrierten religiösen Bücher waren für den privaten Gebrauch bestimmt, wobei es sich in erster Linie um die hebräische Bibel mit der Tora, dem Pentateuch, den Propheten und den Ketuvim handelte. Andere jüdische Texte, die häufig illustriert wurden, waren die Haggada, der Ehevertrag Ketubba sowie die Schriften des Maimonides und des Raschi.
Auch wenn jüdische Buchmalereien erst aus dem 9. bis 10. Jahrhundert im orientalischen Kulturraum überliefert sind, geht die jüdische Illustrationskunst wahrscheinlich auf die Antike zurück. Die Blattornamentik der ältesten erhaltenen jüdischen Buchmalerei unterschied sich nicht von den illustrierten Koranmanuskripten des 9. Jahrhunderts aus Persien, Syrien und Ägypten. Im 14. Jahrhundert erlebte die jüdische Buchmalerei im Orient ihren Niedergang – nur im Jemen blühte sie noch im 15. und 16. Jahrhundert. Hier nahm die Illustration meistens die Form ganzseitiger ornamentaler Teppichseiten an, mit Mikrographie in geometrischen Mustern.
In Europa ist jüdische Buchmalerei erst im 13. Jahrhundert nachweisbar. Die Buchkunst der Sepharden in Spanien und der Juden in der Provence wurde stark von orientalischen Dekorationssystemen geprägt und erreichte ihren Gipfel im 14. Jahrhundert. Charakteristisch waren ganzseitige Illustrationen und die Darstellung der Kultgeräte des Stiftszeltes in Goldfarbe. Typisch für die wenigen erhaltenen jüdischen Bibeln von der iberischen Halbinsel ist die Verbindung der europäischen Gotik mit muslimischer Ornamentik. Dies gilt zum Beispiel für die besonders prächtige katalanische Farchi-Bibel (1366–1382) des Elischa ben Abraham Crescas. Mit der Ausweisung der Juden aus Frankreich 1394 sowie 1492 aus Spanien, wo bereits 1391 viele jüdische Gemeinden zerschlagen worden waren, und anschließend aus Portugal, endete diese kulturelle Blüte in diesen Ländern abrupt.
Die deutsche jüdische Buchmalerei war vor allem entlang des Rheins vertreten, wobei die meisten Handschriften aus dem süddeutschen Oberrheingebiet stammen. Sie unterschied sich stark von der orientalischen und spanischen Buchkunst: Statt der Teppichseiten dominierten hier Mikrographie und Federzeichnungen, die Kultgeräte des Stiftszeltes, die in kaum einer spanischen Bibel fehlten, wurden selten illustriert.
Das Zentrum der jüdischen Buchmalereien in Italien lag zu Beginn, im 13. Jahrhundert, in Rom und Mittelitalien, verlagerte sich aber in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts nach Bologna. Im 15. Jahrhundert wurde Florenz zum wichtigsten Zentrum, daneben gab es aber auch andere mittel- und norditalienische Schulen in Mantua, Ferrara, Venedig und Padua. In Süditalien blühte die hebräische Buchmalerei vor allem in Neapel. Ihren Zenit erreichte die jüdische Buchkunst in der italienischen Renaissance.
Gründe für die insgesamt schlechte Überlieferungslage jüdischer Buchmalerei sind neben der Vertreibung der Juden aus verschiedenen Ländern antisemitische Bilderstürme sowie das bilderfeindliche Umfeld im islamischen Arabien und während des Ikonoklasmus in Byzanz, dem sich auch das Judentum nur schwer entziehen konnte. Wie die übrige europäische Buchmalerei, erlebte auch die jüdische ihren Niedergang infolge des Buchdrucks. 1475 wurde in Reggio das erste datierte hebräische Buch gedruckt, noch im 15. Jahrhundert gab es jüdische Druckereien in Spanien und Portugal, spätestens 1526 in Prag und 1527 in Konstantinopel.
Buddhistische Buchmalerei
Heilige Bücher des Buddhismus wurden in Indien und Tibet auf Palmenpapier sparsam illustriert und zwischen Buchdeckeln aufbewahrt.
In China dominierte die Tuschezeichnung die Textillustration, die meist jedoch als (Hänge-)Rolle vorkam und somit keine Buchmalerei im engeren Sinn darstellt. Die Illustrationen waren meist nah am autonomen Bild und illustrierten bzw. gliederten den Text weniger, als etwa in der europäischen Buchmalerei. Wegen der technischen Nähe der Kalligraphie und der Tuschezeichnung war die Grenze beider Künste weitgehend aufgehoben. Daneben war schon seit dem 9. Jahrhundert der Holzschnitt bekannt.
Die Technik der japanischen Illustrationskunst unterschied sich kaum von der chinesischen. Tuschezeichnungen dominierten.
Altamerikanische Buchmalerei
Azteken
Die präkolumbischen Bilderhandschriften der Azteken illustrierten ausschließlich durch Piktogramme und Ideogramme hauptsächlich historische und mythische Ereignisse, aber auch Kalender und Informationen über Tribute und Abstammungen. Erst nach der spanischen Kolonialisierung trat eine alphabetisierte Form der Sprache der Azteken – des Nahuatl – an die Seite der Bilderschrift. Die Codices dienen heute als beste Primärquellen für die Kultur und das Leben der Azteken. Gemalt wurden sie entweder auf speziell dafür präparierten Tierhäuten (zum Beispiel Hirschleder), auf der Rinde des Feigenbaums oder auf Leinwänden aus Baumwolltüchern. Für die Beschriftung bzw. Bemalung wurden natürliche Farben verwendet. Die beidseitig bemalten Seiten wurden nach der Fertigstellung wie ein Leporello zu Büchern gefaltet.
Bereits unmittelbar nach der Ankunft der Spanier wurde von ihnen ein Großteil der präkolumbischen Codices vernichtet und nur ein kleiner Teil gelangte als Sammlergut in europäische Museen und Bibliotheken. Erst nach der vollständigen Unterwerfung und Christianisierung der Azteken begann sich das Interesse der europäischen Eroberer für die aztekische Kultur langsam zu entwickeln und so konnte die Tradition der Codexmaler in der Kolonialzeit fortgesetzt werden. Aus dieser Zeit stammt ein Großteil der heute bekannten Aztekencodices sowie Kopien bzw. Nachschriften bereits zerstörter präkolumbischer Codices.
Maya
Die Maya besaßen spanischen Quellen zufolge wissenschaftliche Bücher, Kalender und Verzeichnisse ihrer Feste und Tempelzeremonien in großer Zahl, von denen die meisten als heidnische Objekte schon kurz nach der spanischen Eroberung Mexikos durch die Konquistadoren zerstört worden waren. Lediglich vier Handschriften haben sich erhalten: Der Madrider Codex oder Codex Tro-Cortesianus, der Codex Dresdensis, der Codex Peresianus und der Codex Grolier.
Moderne Rezeption
Durch die Möglichkeiten der fotomechanischen Reproduktion sind viele Buchmalereien heute allgemein zugänglich und haben maßgeblichen Anteil am Bild vom Mittelalter in der Öffentlichkeit. Ausschnitte aus mittelalterlichen Buchillustrationen sind bevorzugte Motive sowohl von fach- und populärwissenschaftlichen Büchern als auch von historischen Romanen.
Für die wissenschaftliche Forschung sowie für Bibliophile sind die besonders aufwendig hergestellten Vollfaksimiles maßgeblich, die häufig fünfstellige Eurobeträge kosten. Im Versuch, dem Original so nah wie möglich zu kommen, werden in den kostbaren Exemplaren etwaige Wurmfraßlöcher ausgeschnitten und sogar echtes Blattgold aufgetragen. Daneben gibt es auch einfachere und kostengünstigere Faksimiles, die auf ein handelsübliches Buchformat verkleinert sein können. Schwarz-weiß-Faksimiles sind seit den 1980er Jahren allenfalls noch für Handschriften üblich, an denen nicht die kunsthistorische, sondern eine philologische Wissenschaft Interesse hat.
Seit den 1990er Jahren hat die digitale Reproduktion mittelalterlicher Handschriften Einzug in die Kunstwissenschaft gehalten.
Literatur
Albert Boeckler, Paul Buberl, Hans Wegener: Buchmalerei, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 2, 1950, Sp. 1420–1524
Jacques Dalarun (Hrsg.): Le Moyen Âge en lumière. Manuscrits enluminés des bibliothèques de France. Fayard impr., Paris 2002, ISBN 2-213-61397-4 (Deutsch: Das leuchtende Mittelalter (aus dem Französischen von Birgit Lamerz-Beckschäfer). Primus, Darmstadt 2011, ISBN 978-3-89678-748-4; auch Lizenzausgabe: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006, ISBN 978-3-534-19004-1).
Johann Konrad Eberlein: Miniatur und Arbeit. Das Medium Buchmalerei. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995, ISBN 3-518-58201-1, (Zugleich: Kassel, Gesamthochsch., Habil.-Schr., 1992).
Ernst Günther Grimme: Die Geschichte der abendländischen Buchmalerei. 3. Auflage. DuMont, Köln 1988, ISBN 3-7701-1076-5.
Christine Jakobi-Mirwald: Buchmalerei. Ihre Terminologie in der Kunstgeschichte. 3. überarbeitete und erweiterte Auflage unter Mitarbeit von Martin Roland. Reimer, Berlin 2008. ISBN 978-3-496-01375-4, (Kunstwissenschaften); 4., überarbeitete Auflage 2014, ISBN 978-3-496-01499-7.
Christine Jakobi-Mirwald: Das mittelalterliche Buch. Funktion und Ausstattung. Reclam, Stuttgart 2004, ISBN 978-3-15-018315-1, (Reclams Universal-Bibliothek 18315), (Besonders Kapitel Geschichte der europäischen Buchmalerei S. 222–278).
Margit Krenn, Christoph Winterer: Mit Pinsel und Federkiel. Geschichte der mittelalterlichen Buchmalerei. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2009. ISBN 978-3-534-22804-1.
Otto Pächt: Buchmalerei des Mittelalters. Eine Einführung. Hrsg. von Dagmar Thoss. 5. Auflage. Prestel, München 2004, ISBN 978-3-7913-2455-5.
Heinz Roosen-Runge: Farbgebung und Technik frühmittelalterlicher Buchmalerei. Studien zu den Traktaten „Mappae Clavicula“ und „Heraclius“. 2 Bände, München 1967 (= Kunstwissenschaftliche Studien, 38).
Heinz Roosen-Runge: Farbe, Farbmittel der abendländischen mittelalterlichen Buchmalerei, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 6, 1974, Sp. 1463–1492
Heinz Roosen-Runge: Buchmalerei. In: Hermann Kühn u. a.: Farbmittel. Buchmalerei. Tafel- und Leinwandmalerei. (= Reclams Handbuch der künstlerischen Techniken. Band 1). 2. Auflage. Reclam, Stuttgart 1997, ISBN 3-15-030015-0, S. 25–124.
Karl Klaus Walther (Hrsg.): Lexikon der Buchkunst und der Bibliophilie. Genehmigte Lizenzausgabe. Nikol, Hamburg 2006, ISBN 3-937872-27-2.
Ingo F. Walther, Norbert Wolf: Meisterwerke der Buchmalerei. Die schönsten illuminierten Handschriften der Welt von 400 bis 1600. Taschen, 2. Auflage, Köln 2011, ISBN 978-3-8228-4747-3.
Christoph Winterer, Margit Krenn: Mit Pinsel und Federkiel. Geschichte der mittelalterlichen Buchmalerei. Primus, Darmstadt 2009, ISBN 978-3-89678-648-7.
Norbert Wolf: Buchmalerei verstehen. Primus, Darmstadt 2014, ISBN 978-3-86312-375-8.
Wege zum illuminierten Buch. Herstellungsbedingungen für Buchmalerei in Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. von Christine Beier und Evelyn Theresia Kubina, Wien 2014, ISBN 978-3-205-79491-2, Online: https://e-book.fwf.ac.at/detail_object/o:521
Weblinks
Manuscripta Mediaevalia
British Library, Catalogue of Illuminated Manuscripts
Initiale – Catalogue de manuscrits enluminés
Kurzinventar illuminierter Handschriften in Stift Herzogenburg
Kurzinventar der illuminierten Handschriften in Stift Stams
Einzelnachweise und Signaturen der erwähnten Handschriften
Kodikologie
Maltechnik |
108190 | https://de.wikipedia.org/wiki/Walross | Walross | Das Walross (Odobenus rosmarus; frühere Synonyme: Trichechus rosmarus und Rosmarus arcticus) ist eine Robbenart, die in den kalten Meeren der Nordhalbkugel vorkommt.
Zwei Unterarten, das Atlantische (O. r. rosmarus) und das etwas größere Pazifische Walross (O. r. divergens), werden unterschieden. Das Walross gehört zur Ordnung der Raubtiere und ist die einzige Art in der Familie der Walrosse (Odobenidae).
Der zoologische Name Odobenus ist aus , und , abgeleitet und rührt von der Beobachtung her, dass Walrosse sich an Land mit ihren Stoßzähnen vorwärts ziehen. Er wurde 1762 von Mathurin-Jacques Brisson in seinem Werk Le regnum animale vergeben, während der ursprüngliche Artname Phoca rosmarus auf den schwedischen Naturforscher Carl von Linné zurückgeht, der Walrosse in seinem Werk Systema naturae noch zu den Echten Hundsrobben zählte.
Das Epitheton der pazifischen Unterart divergens (auseinanderlaufend) kommt aus dem lateinischen und bezieht sich auf die Stoßzähne.
Merkmale
Walrossbullen werden etwa dreieinhalb Meter lang, die Kühe hingegen drei Meter; das Gewicht eines Männchens kann 1200 Kilogramm übertreffen, Weibchen wiegen je nach Unterart zwischen 600 und 800 Kilogramm. Walrosse können bis zu 40 Jahre alt werden.
Der plumpe Körper der Walrosse wirkt zwar aus der Entfernung kahl, ist aber von einem etwa einen Zentimeter kurzen, stoppeligen Haarkleid bedeckt, das mit zunehmendem Alter dünner wird. Die Haut ist mit etwa vier Zentimetern extrem dick und faltig; darunter befindet sich eine fünf bis acht Zentimeter dicke Fettschicht. Sie schützt die Tiere vor Kälte und Verletzungen durch scharfe Eiskanten oder spitze Steine. Bei erwachsenen Männchen ist sie an Nacken und Schultern nochmals verstärkt und dient hier wohl zusätzlich dem Schutz vor Verletzungen bei Rangkämpfen unter den Männchen. Bei der Geburt haben Walrosse eine kräftig rotbraune Farbe, im Alter werden sie immer blasser und sind schließlich gelblich-braun. An der Farbe eines Walrosses kann man daher sein Alter abschätzen. Brust- und Bauchregion sind in der Regel dunkler als die Rückengegend; die Flossen sind bei den Neugeborenen dunkelgrau, nehmen aber mit der Zeit eine bleichere Farbe an.
Gebiss
Das auffälligste Merkmal des Walrosses sind die zu langen Stoßzähnen ausgebildeten oberen Eckzähne, die auch als Hauer bezeichnet werden. Sie sind bei beiden Geschlechtern vorhanden, bei den Männchen aber in der Regel länger, stämmiger, von eckigerem Querschnitt und auch geradliniger, während die Stoßzähne der Weibchen meist im Querschnitt rund sind und eine stärkere Krümmung aufweisen. Im Schnitt werden sie 50 Zentimeter lang; ausnahmsweise werden Rekordlängen von 1 Meter beobachtet. Bei jungen Walrossen sind die Eckzähne noch nicht entwickelt, sie brechen erst im Alter von sechs bis acht Monaten durch und sind wegen der voluminösen, in Falten geworfenen Lippe meist erst nach anderthalb Jahren sichtbar. Der zunächst noch vorhandene Zahnschmelz nutzt sich bei den erwachsenen Tieren mit der Zeit ab und geht früher oder später ganz verloren. Bei älteren Tieren sind die Hauer oft vom langen Gebrauch stark abgestumpft und gelegentlich sogar gebrochen.
Die wichtigste Funktion der Stoßzähne neben zahlreichen anderen Funktionen, etwa zur Verteidigung gegen Fressfeinde, als Kopfstütze, zum Aufbrechen von Atemlöchern im Eis oder als Hilfsmittel beim Verlassen des Wassers, besteht darin, Geschlecht, Alter und sozialen Status ihrer Träger zu demonstrieren. Durch einfaches Vorzeigen ihrer imposanten Hauer sind dominante Tiere beiderlei Geschlechts zum Beispiel regelmäßig in der Lage, untergeordnete Individuen von günstigen Ruheplätzen zu verdrängen. Dadurch kommt es nur dann zum Kampf, wenn zwei Träger annähernd gleich langer Hauer aufeinandertreffen.
Während Jungtiere zunächst noch eine vollständige Bezahnung haben, fallen ihre unteren Schneidezähne aus, sobald die beiden Stoßzähne durchbrechen; die hinter den 3 bis 4 Vormahlzähnen gelegenen Backenzähne sind ohnehin verkümmert. Die Gesamtzahl der Zähne variiert zwischen 18 und 24 und kann durch die Zahnformel 1–2/0 1/1 3–4/3–4 0/0 ausgedrückt werden.
Kopf und Sinnesorgane
Das bezeichnendste Merkmal des grob quaderförmigen Schädels ist der große Warzenvorsprung (Processus mastoideus) jedes Schläfenbeins (Os temporale), an dem die kräftige Nackenmuskulatur ansetzt. Im Gegensatz zu den Ohrenrobben besitzen Walrosse an ihrem Stirnbein (Os frontale) keine Vorsprünge an den Augenhöhlen (Orbita) und weisen auch keinen Scheitelkamm auf. Das Rostrum, die Schnauze, ist stumpf, die Haut der Oberseite stark verhornt.
Charakteristisch ist der aus bis zu 450 Tasthaaren bestehende Borstenbart, der reusenartig von der Oberlippe herabhängt und zur Erkennung und Unterscheidung verschiedener Beutearten dient. Jedoch wird er in freier Wildbahn weitgehend abgenutzt und ist nur bei im Zoo gehaltenen Tieren so prominent.
Die Augen der Walrosse sind im Vergleich zur Schädelgröße sehr klein; äußerlich sichtbare Ohren besitzen sie, anders als die Ohrenrobben, nicht. Die Mittelohrknochen sind vergleichsweise dünn.
Flossen
Wie die wahrscheinlich verwandten Ohrenrobben haben Walrosse sehr bewegliche Flossen, mit denen sie nahezu jeden Punkt ihres Körpers erreichen können. Sie ermöglichen an Land eine größere Behändigkeit als beispielsweise die Gliedmaßen der Seehunde, auch wenn Walrosse nicht so geschickt sind wie Ohrenrobben. Die Flossen sind meist dreieckig geformt, wobei die obere Flossenseite leicht behaart ist, während die Unterseite keine Behaarung aufweist. Die je fünf Zehen laufen in knorpeligen Spitzen aus, auf denen sich etwas von den Zehenenden entfernt die eigentlichen Nägel befinden.
Innere Anatomie
Männchen besitzen zwei Luftsäcke im Rachen, die sie aufblasen können, um damit verschiedene Laute hervorzubringen. Sie besitzen wahrscheinlich eine zweite Funktion als Luftkissen, mit dem im Wasser das spezifische Gewicht herabgesetzt wird, so dass die Tiere ohne größeren Aufwand an der Oberfläche schwimmen können.
Über die gesamte Körperoberfläche sind arteriovenöse Anastomosen verteilt, Querverbindungen zwischen Arterien und Venen, die einen schnellen Wärmeaustausch ermöglichen. Walrosse ähneln darin den Hundsrobben.
Der Penisknochen des Bullen ist mit einer Länge von über 60 Zentimeter der längste im Tierreich, sowohl in absoluter Länge als auch in Relation zur Körpergröße; die Hoden liegen im Körperinneren. Die Weibchen besitzen zweimal vier Milchdrüsen.
Verbreitung und Lebensraum
Meistens leben Walrosse auf dem Treibeis der Arktis. Im Winter ziehen sie südwärts, um dem Packeis auszuweichen, verlassen aber die polaren Breiten in der Regel nicht. Es gibt vier voneinander getrennte Populationen:
Das Pazifische Walross hält sich im Winter im Beringmeer auf; im Sommer durchqueren die Populationen die Beringstraße in Richtung Norden und suchen den Packeisrand in der Tschuktschensee auf.
Die westlichen Populationen des Atlantischen Walrosses leben zwischen der Hudson Bay und der Westküste Grönlands.
Die östlichen Populationen des Atlantischen Walrosses leben an der Ostküste Grönlands sowie im Bereich zwischen Spitzbergen und der Nordwestküste Sibiriens. Seltener finden sich die Tiere weiter südwärts; aus historischer Zeit sind mehr als 20 Aufzeichnungen von Walross-Fängen vor den Küsten der britischen Inseln bekannt. Auch aus neuerer Zeit gibt es Sichtungen von Walrossen beispielsweise auf den Shetlandinseln, an der Küste Islands, vor den Niederlanden, an der französischen und spanischen Küste sowie auf Rügen.
An der Nordküste Sibiriens lebt eine weitere Population, die gelegentlich als eine dritte Unterart (Laptewsee-Walross, O. r. laptevi) eingestuft wird.
Eine ursprünglich auf Island vorkommende Walross-Population wurde durch die Wikinger ausgerottet.
Die atlantischen Walrosse zeichnen sich durch kürzere Stoßzähne und einen etwas anders proportionierten Kopf mit breiterem Hinterhaupt und schmalerem Gesichtsschädel aus.
Fast immer bleiben die Tiere in flachen Küstengewässern, nahe an den Kontinentalabhängen oder an Packeisflächen. Obwohl sie sich meist nicht tiefer als etwa 80 Meter begeben, sind in Einzelfällen Tauchtiefen von bis zu 180 Metern nachgewiesen.
Lebensweise
Ernährung
Walrosse ernähren sich unter Wasser und können bis zu 30 Minuten lang tauchen. Sie fangen gelegentlich Fische, leben aber vorwiegend von Muscheln, besonders der Gattungen Mya, Cardium und Clinocardium, von Schnecken, Krebstieren wie Garnelen oder Krabben, Tintenfischen, Seegurken, Manteltieren und Würmern wie Vielborstern (Polychaeta) oder Priapswürmern (Priapulida). Bei der Suche nach im Meeresboden lebenden Organismen müssen sie ihn aufwühlen. Dazu setzen sie hauptsächlich ihre rechte Flosse ein (66 %), die linke weitaus seltener (4 %). Sie machen auch von ihrer Schnauze (29 %) und in manchen Fällen von einem selbsterzeugten Wasserstrahl, den sie auf den Meeresboden richten, Gebrauch (1 %). Die Stoßzähne kommen bei der Nahrungssuche nicht zum Einsatz.
Muscheln und Schnecken werden entweder zwischen den Vorderflossen oder durch festes Aufeinanderdrücken der Lippen geknackt. Aus Mageninhalten lässt sich schließen, dass ein Walross mehr als 50 Kilogramm Nahrung zu sich nehmen kann.
Obwohl Kleintiere die Hauptnahrung ausmachen, überwältigt das Walross manchmal auch sehr große Beute. Vor allem andere Robben fallen gelegentlich einem Walross zum Opfer, aber auch Angriffe auf Seevögel wurden schon in seltenen Fällen beobachtet; dazu kommt frisches Aas. Jagd auf Robben machen fast ausschließlich männliche Tiere, die einzelgängerisch leben. In manchen Fällen kam es auch zu Kannibalismus, wobei ein altes Tier neugeborene Walrosse fraß.
Fortbewegung
Im Wasser nutzen Walrosse ihre muskulösen Hinterflossen zum Vortrieb, während die Vorderflossen als Steuerruder eingesetzt werden. An Land bewegen sie sich oft mit allen vier Gliedmaßen voran. Das Gewicht ruht dabei auf den „Handflächen“ der Vorderflossen und den „Hacken“ der Hinterflossen. Sowohl „Finger“ als auch Zehen sind nach außen gerichtet; erstere zeigen nach hinten, letztere nach vorne. Manchmal werden aber auch nur die Vorderflossen eingesetzt, während die Hinterflossen wie bei den Hundsrobben nachgezogen werden.
Fressfeinde, Parasiten und Krankheitserreger
Feinde hat das Walross kaum zu fürchten. Der Eisbär versucht gelegentlich eine Herde in Flucht zu versetzen, um zurückbleibende Einzel- oder Jungtiere zu erbeuten. Ausgewachsene Walrosse, die sich mit Hilfe ihrer Stoßzähne gut verteidigen können, werden dabei wohl nicht angegriffen. Gelegentlich werden jedoch Angriffe von Schwertwalen auf Walrosse beobachtet.
Die Haut der Walrosse ist ein vielfältiger Lebensraum für zahlreiche Arten blutsaugender Läuse (Anoplura); Kratz- (Acanthocephala) und Fadenwürmer (Nematoda) sind die am häufigsten auftretenden inneren Parasiten.
Gebrochene Stoßzähne und bakterielle Infektionen der Flossen oder Augen führen schnell zu Gewichtsverlust und Tod; häufig nachgewiesen ist besonders die Gattung Brucella. Die Auswirkungen viraler Infektionen durch Caliciviren und Morbilliviren sind noch weitgehend unerforscht.
Sozialverhalten
Die Hälfte ihres Lebens halten sich Walrosse an Küsten arktischer Inseln oder am Packeisrand auf, wo sie sich in großen Herden versammeln. Außerhalb der Paarungszeit sind diese Herden meist nach Geschlechtern getrennt; Ausnahmen von dieser Regel existieren in einigen nordkanadischen Populationen, in denen Männchen und Weibchen das ganze Jahr über zusammenbleiben.
Zur Kommunikation innerhalb der Gruppen steht Walrossen ein großes Repertoire zur Verfügung, das Grunz-, Brüll- und Kreischlaute umfasst. Oft liegen die Tiere dicht bei- oder sogar aufeinander und reiben ihre Körper aneinander oder kratzen sich, ein Verhalten, das vermutlich dazu dient, Parasiten zu entfernen. Es gibt eine feste Rangordnung, die sich nach der Größe der Stoßzähne und der Körpergröße richtet. Vor allem zwischen den Bullen kommt es auch außerhalb der Paarungszeit zu Auseinandersetzungen, deren Grund ein bevorzugter Ruheplatz an Land sein kann. Haben Drohgebärden keinen Erfolg, kommt es zu Kämpfen, bei denen die Stoßzähne eingesetzt werden und die mit blutigen Wunden enden können.
Die Sozialstruktur der Herden zur Paarungszeit und das Fortpflanzungssystem selbst unterscheidet sich etwas zwischen den Unterarten. Walrosse der pazifischen Unterart sammeln sich zu mittelgroßen Gruppen, die aus zahlreichen Weibchen mitsamt ihrem Nachwuchs und einigen begleitenden Bullen bestehen. Diese können sich, wo die Bejagung durch den Menschen noch keine gravierenden Folgen hatte, zeitweilig oder beständig zu noch größeren Herden vereinigen, die dann mehrere tausend Tiere umfassen. Küstenlinien von 100 Kilometern und mehr werden dann von den Kolonien eingenommen. Die Männchen verbringen den größten Teil der Zeit im Wasser und stehen in starker Konkurrenz zueinander. Anders als bei der atlantischen Unterart sind sie jedoch nicht in der Lage, individuelle Weibchen zu verteidigen oder einen Harem zu führen. Als Folge haben sich aufwendige Rituale der Partnerwerbung herausgebildet: Die Männchen erzeugen unter Wasser Folgen von Klicks und glockenähnlichen Lauten, die sie durch Aufblasen ihrer Luftsäcke hervorrufen, an der Oberfläche dagegen diverse Pfeiftöne; insbesondere die Glockenlaute werden nur während der Paarungszeit dargeboten. Man geht heute davon aus, dass diese reiche Lautpalette und ihre unaufhörliche Darbietung in der Funktion dem Vogelgesang entspricht, also die Aufmerksamkeit von Konkurrenten und möglichen Partnerinnen erringen soll. Eine wichtige Grundlage dieses Systems ist die von den Weibchen ausgehende Partnerwahl. Bullen, die noch nicht die Geschlechtsreife erreicht haben, sammeln sich meist außerhalb der Paarungsgebiete in separaten eingeschlechtlichen Gruppen.
Die stabileren Verhältnisse im Atlantik und die im Allgemeinen kleineren Gruppen haben vermutlich dazu geführt, dass die dortige Unterart stattdessen ein Haremssystem hat. Auch wenn sich ähnliche Lautäußerungen registrieren lassen, spielen sie vermutlich bei der Partnerwahl nur eine untergeordnete Rolle: Anders als bei den pazifischen Walrossen sind die Männchen hier durch die Herausbildung stabiler Hierarchien in der Lage, größere Gruppen von Weibchen zu monopolisieren. So kommt in manchen Kolonien auf zwanzig Kühe ein kräftiger Bulle, während jüngere und schwächere Männchen im Konkurrenzkampf keine Chance haben und an Randplätze der Kolonie gedrängt werden. Zwischen etwa gleich starken Bullen kann es dagegen zu heftigen Kämpfen kommen.
Fortpflanzung
Die Paarung findet zwischen Januar und Februar wahrscheinlich im Wasser statt. Nach der Befruchtung bleibt das Ei zuerst über vier bis fünf Monate dormant (Eiruhe, d. h., es entwickelt sich nicht weiter), bevor die elfmonatige eigentliche Tragzeit beginnt. Die Geburt findet in der Regel also im Mai des übernächsten Jahres statt, so dass sich ein zweijähriger Fortpflanzungsrhythmus ergibt, der sich bei älteren Kühen zunehmend verlängern kann. Jede trächtige Kuh bringt nur ein Kalb zur Welt; Zwillingsgeburten sind extrem selten. Die geringe Geburten- und Nachkommenzahl führt dazu, dass Walrosse eine selbst für Säugetiere extrem niedrige Fortpflanzungsrate haben und daher Populationsrückgänge nur über lange Zeiträume hinweg wieder ausgleichen können.
Die Kälber sind bei der Geburt knapp einen Meter lang, wiegen etwa 50 Kilogramm und können sofort schwimmen. Die ersten sechs Monate werden sie nur durch die Muttermilch ernährt, danach wird die Nahrung zunehmend durch andere Bestandteile ergänzt. Nach zwei Jahren werden die Jungtiere entwöhnt, bleiben aber noch ein bis drei weitere Jahre bei dem Muttertier. Weibchen werden mit vier bis zehn, durchschnittlich aber etwa sechs Jahren geschlechtsreif, Männchen erreichen die physiologische Geschlechtsreife mit neun bis zehn Jahren. Sie sind aber erst mit etwa fünfzehn Jahren in der Lage, sich im Konkurrenzkampf gegen Artgenossen durchzusetzen und tatsächlich Zugang zu Weibchen zu erhalten; diesen Zustand bezeichnet man als soziale Geschlechtsreife.
Stammesgeschichte
Die Walrossfamilie ist fossil seit dem Miozän nachgewiesen und stammt vermutlich wie die Ohrenrobben aus dem nördlichen Pazifik.
Im Miozän und im darauffolgenden Pliozän gab es noch mehrere Walross-Arten, die äußerlich noch sehr stark heutigen Seelöwen ähnelten. Im späten Miozän, vor etwa fünf bis zehn Millionen Jahren, waren sie anscheinend die dominante und zugleich vielfältigste Robbengruppe des Pazifiks. Zu dieser Zeit fand auch bei einigen Arten eine Umstellung von mehrheitlich fischbasierter Nahrung auf ein von der Fauna des Meeresbodens (Benthos) dominiertes Beutespektrum statt, die auch mit morphologischen Änderungen einherging. Dazu zählte etwa die Umstellung des Vortriebs im Wasser auf die Hinterflossen und die Vergrößerung der Eckzähne.
Zur Besiedelung des Atlantiks, die vor etwa fünf bis acht Millionen Jahren stattfand, gibt es zwei Hypothesen. Nach der einen fand sie entlang der nordamerikanischen oder sibirischen Küsten des arktischen Ozeans statt, nach der zweiten wanderten die Vorfahren des heutigen Walrosses vor der Entstehung der Landbrücke zwischen Nord- und Südamerika in die Karibik ein und gelangten von dort nach Norden in die polaren Gewässer des Atlantiks.
Ob die pazifischen Populationen zwischenzeitlich ausstarben und der Pazifik erst im Pleistozän vor etwa einer Million Jahren sekundär, von entlang den Küsten des arktischen Ozeans einwandernden atlantischen Populationen, wiederbesiedelt wurde, oder ob die Vorfahren der pazifischen Unterart auf die ursprünglichen Bewohner des Pazifiks zurückgehen, ist gegenwärtig noch unklar.
Sicher ist, dass die Walrosskolonien im Pleistozän wegen der günstigen eiszeitlichen Bedingungen sehr viel weiter südlich lebten als heute und selbst an den Küsten Mitteleuropas und Kaliforniens zu finden waren.
Mensch und Walross
Indigene Völker
Im Leben und in der Kultur arktischer Völker, insbesondere der Eskimo, Tschuktschen und Korjaken, hat das Walross immer eine bedeutende Rolle gespielt. Sie verwendeten praktisch alle Körperteile: Das Walross lieferte Nahrung (Fleisch, Gedärm und Innereien), Heizmaterial (z. B. Tran), Baumaterial (Walrosshaut, Magenhaut, Knochen und Stoßzähne) für Erdsodenhäuser und Boote (Baidarka, Kajak und Umiak) sowie Material für Kleidung (Walrosshaut, Magenhaut). Walrossfleisch und sogar -flossen, monatelang in der Erde fermentiert, gelten noch heute als Delikatesse. Auch in der Mythologie und der Folklore der indigenen Völker spielt das Walross eine wichtige Rolle.
Einige Volksgruppen, vor allem die Küsten-Tschuktschen und die Yupik an der Beringsee, decken zum Teil noch heute bis zur Hälfte ihres Proteinbedarfs mit Walrossfleisch, im Übrigen mit dem Fleisch von Bartrobben, Ringelrobben und Walen. Schnitzereien aus Walrosselfenbein haben in der Arktis eine weit zurück reichende künstlerische Tradition. Bis heute trägt vielerorts in der Arktis das Gestalten von Kunstwerken aus Walrosselfenbein zur Wertschöpfung bei, so in vielen Dörfern in Tschukotka (vor allem Uelen) und Alaska (z. B. Shishmaref) sowie Nunavut (u. a. Iglulik), obwohl der internationale Handel mit Walrosselfenbein durch das Washingtoner Artenschutz-Übereinkommen beschränkt wird.
In Alaska und Russland gibt es eine regulierte Subsistenzjagd von vier- bis siebentausend Pazifik-Walrossen jährlich, worunter auch ein hoher Anteil (etwa 42 %) verletzter Tiere fällt. In Grönland und Kanada, wo die zahlenmäßig niedrigeren atlantischen Populationen noch bedroht sind, werden nur einige hundert im Jahr erlegt. Ein Ermitteln, welche Gefährdung der Bestände von solcher Jagd ausgeht, erweist sich als schwierig, da noch erhebliche Ungewissheit hinsichtlich Bestandsabschätzung und Populationsparameter wie Fertilität und Mortalität herrscht.
Walrossjagd durch Nicht-Ureinwohner
Mit dem Vordringen weißer Jäger in die arktischen Meere entwickelte sich für die Walrosskolonien eine fatale Situation. Walrosse wurden nun intensiv bejagt, vor allem wegen des Elfenbeins ihrer Stoßzähne, das qualitativ nur hinter dem von Elefanten zurücksteht. Entlang der Ostküste Nordamerikas kamen Walrosse bis nach Cape Cod und im Sankt-Lorenz-Golf vor. Dort wurden im 16. und 17. Jahrhundert jährlich mehrere tausend Walrosse erlegt. Im 19. Jahrhundert waren südlich von Labrador sämtliche Walrosse ausgerottet. Auf der Suche nach noch nicht erloschenen Kolonien drangen die Jäger in immer entlegenere Regionen vor. Welche Dimension das Hinschlachten von Walrossen annahm, zeigt die Schätzung, dass zwischen 1925 und 1931 allein an den Küsten der kanadischen Baffininsel etwa 175.000 Walrosse getötet wurden. Das Atlantische Walross war dadurch zeitweilig fast ausgestorben. Heute schätzt man den Bestand an Atlantik-Walrossen auf etwa 15.000 Tiere; aus unbekannten Gründen ist eine Erholung bis heute trotz Schutzmaßnahmen bei weitem noch nicht eingetreten.
Das Pazifische Walross wurde zwar vergleichbar dezimiert, obwohl das Jagen erst viel später begann. Aufgrund von Schutzmaßnahmen durch die USA und Russland hat sich der Bestand jedoch wieder erholt, so dass die Zahl der Pazifik-Walrosse heute wieder etwa 200.000 beträgt und die Art als nicht mehr bedroht gilt.
Verschmutzung
Hinsichtlich der Verschmutzung ihres Lebensraumes sind Walrosse in erster Linie von Ölunglücken betroffen, da sich hochmolekulare Kohlenwasserstoffe auf dem Grund des Meeres und damit in den Nahrungsgründen der Walrosse ansammeln und die Zahl ihrer Beutetiere reduzieren können. Aufgrund des geringen Fettgehalts ihrer Nahrung ist dagegen die Belastung durch organische Chlorverbindungen und auch Schwermetalle wie Quecksilber geringer als bei anderen Meeressäugern (Robben jagende Walrosse bilden eine Ausnahme, da sie über diese Nahrungsquelle Schadstoffe aufnehmen). Regelmäßiger Lärm, wie er in der Nähe menschlicher Siedlungen etwa mit Flugplätzen verbunden ist, kann dazu führen, dass nahegelegene Paarungsplätze aufgegeben werden.
Wie sich die globale Erwärmung auswirken wird, ist noch ungewiss. Einerseits ist bekannt, dass Walrosse einst in wesentlich wärmeren Meeresgegenden lebten; andererseits zeigen Untersuchungen pazifischer Populationen, dass ein Rückgang der Fortpflanzungsrate in engem Zusammenhang mit dem Verlust großer zusammenhängender Packeisflächen steht. Dazu kommt, dass die Auswirkungen steigender Meerestemperaturen auf die Beute der Walrosse unvorhersehbar sind.
Verhalten gegenüber dem Menschen
Bleibt der Mensch außerhalb der Fluchtdistanz des Walrosses, beobachtet es ihn zwar neugierig, ist für gewöhnlich aber wenig beunruhigt. Kommt ihm der Mensch (z. B. im Boot) allerdings zu nahe, zieht sich das Walross in der Regel von der Lagerstatt auf der Eisscholle ins schützende Wasser zurück und taucht für kurze Zeit unter. In Einzelfällen kann es allerdings auch zu Angriffen auf den Menschen kommen. Vor allem kleinere Boote wie Kajaks werden gelegentlich von aggressiven Bullen umgestoßen und die Insassen (nicht selten mit Todesfolge) attackiert. Der Ethnologe und Anthropologe Barry Lopez erzählt sogar von einem Walrossbullen, der einen Menschen auf einer Eisscholle angegriffen habe. Eine Walross-Kuh zerstörte ein Landeboot der russischen Marine, vermutlich um ihre Jungen zu schützen.
Als 2022 ein Walrossweibchen namens Freya ungewöhnlich weit südlich im Oslofjord vor der Hauptstadt Norwegens auftauchte, legte es sich mitunter auf Schiffe und verfolgte Paddler. Trotz Warnung hielten Schaulustige gefährlich wenig Abstand. Das etwa 5 Jahre alte, 600 kg schwere, gestresst wirkende Walross wurde von der norwegischen Fischereibehörde am 14. August 2022 getötet, was Kritik seitens Tierschutzorganisationen auslöste.
Zoos
Gelegentlich werden Walrosse in Zoos gehalten. Als Maskottchen des Norddeutschen Rundfunks erlangte etwa das Walross Antje Popularität. In Deutschland wurde 5 Jahre lang kein Walross in Gefangenschaft gehalten, nachdem Tanja, ein 33-jähriges Walrossweibchen, im Zoo von Hannover 2007 wegen Altersbeschwerden eingeschläfert worden war. Im Juli 2012 eröffnete das neue Eismeer im Tierpark Hagenbeck. Im Juni 2014 wurde ein Walrossbulle (Thor) im Tierpark Hagenbeck geboren und ist damit das erste in Menschenobhut geborene Walrosskalb Deutschlands. Am 5. Juni 2015 wurde, ebenfalls in Hagenbeck, Loki, ein weibliches Walrosskalb mit einer Missbildung geboren, es starb am 21. August 2017. Seitdem wurden zwei Jungtiere geboren. Gegenwärtig (2. August 2023) leben in Hamburg vier Walrosse.
Der Europäische Zooverband betreibt ein Zuchtprogramm für Walrosse, das im Tierpark Hagenbeck organisiert wird. Gegenwärtig nimmt daneben nur der Zoo Pairi Daiza im belgischen Brugelette an dem Programm teil. Dort lebten 2022 sieben Walrosse.
Das Walross in der Lyrik
Das Walross und der Zimmermann (engl. The Walrus and the Carpenter) ist ein Gedicht, das dem Mädchen Alice in Lewis Carrolls Buch Alice hinter den Spiegeln von Zwiddeldum und Zwiddeldei vorgetragen wird. Es umfasst 18 Strophen und enthält surreale Nonsens-Elemente, die während des Strandspaziergangs des Walrosses und des Zimmermannes in deren Gespräch thematisiert werden. Dabei folgen ihnen auf Einladung erst wenige, dann immer mehr Austern. Das Gedicht endet mit dem beiläufigen Verzehr dieser Schalentiere durch die Protagonisten, was bei Alice einen Konflikt auslöst, wen von beiden sie weniger mag. Eine Antwort auf diese Frage erfolgt nicht.
Auch das von diesem Gedicht inspirierte I Am the Walrus der Beatles aus dem Jahr 1967 verwendet absurde und psychedelische Wortkonstrukte und Metaphern.
Film
Walrösser sind nicht nur Gegenstand zahlreicher Dokumentarfilme; ein fiktives Walross tritt im animierten französischen Kurzfilm Opi, das Walross auf.
Im Film Tusk wird ein Mann in ein Walross verwandelt. Der Film erwähnt Rangkämpfe und anatomische Eigenheiten, wie das Baculum, welches als Requisite gezeigt wird.
Literatur
Ronald M. Nowak: Walker's Mammals of the World. Johns Hopkins University Press, Baltimore 61999, ISBN 0-8018-5789-9
Barry Lopez: Arktische Träume. Btb Bei Goldmann, München 2000, ISBN 3-442-72642-5
Weblinks
Walrus Projects at the Alaska Science Center (englisch)
Einzelnachweise
Robben
Wikipedia:Artikel mit Video |
113978 | https://de.wikipedia.org/wiki/ACE-Hemmer | ACE-Hemmer | ACE-Hemmer (kurz für Angiotensin-Converting-Enzyme-Hemmer) sind gefäßerweiternde, damit den Gefäßwiderstand senkende, und die Freisetzung der blutdrucksteigernden Katecholamine Noradrenalin und Adrenalin hemmende Arzneistoffe, die insbesondere in der Therapie des Bluthochdruckes (arterielle Hypertonie) und der chronischen Herzinsuffizienz Anwendung finden. Sie sind Hemmstoffe (Inhibitoren) des Angiotensin-konvertierenden Enzyms (Angiotensin Converting Enzyme), das im Wesentlichen die Umwandlung von inaktivem Angiotensin-I in aktives Angiotensin-II bewirkt und ein Teil einer den Blutdruck steuernden Kaskade ist (Renin-Angiotensin-Aldosteron-System). ACE-hemmende Inhaltsstoffe wurden zuerst in Schlangengiften gefunden. Die wichtigsten in der Therapie verwendeten Wirkstoffe dieser Kategorie sind Captopril, Enalapril, Lisinopril, Perindopril und Ramipril.
Chemie
ACE-Hemmer, wie Captopril, Enalapril und ihre Nachfolgersubstanzen, sind strukturverwandt mit dem aus dem Schlangengift der brasilianischen Jararaca-Lanzenotter (Bothrops jararaca) isolierten Pentapeptid BPP5a (von „Bradykinin potenzierendes Peptid“; Sequenz DKWAP, siehe Abbildung). Die in BPP5a vorkommende Tripeptidsequenz Tryptophan-Alanin-Prolin wurde als wirksame Komponente erkannt (in Abbildung rot dargestellt).
Da BPP5a und das Tripeptid im Körper sehr schnell abgebaut werden, wurden zahlreiche Modifikationen am Molekül vorgenommen, um die Wirkdauer zu verlängern. Dazu wurde die WAP-Sequenz gegen eine ähnliche aber stabilere FAP-Sequenz ausgetauscht. Die Einbringung einer bernsteinsäure- oder glutarsäureanalogen Struktur (in Abbildung grün dargestellt) brachte weitere Stabilität und eine Verstärkung der Hemmwirkung am Angiotensin Converting Enzyme.
Darüber hinaus sind bis auf Captopril und Lisinopril alle therapeutisch genutzten ACE-Hemmer Prodrugs, die erst im Körper aktiviert werden. Im Falle von Enalapril und Ramipril geschieht dies durch Abspaltung der Ethylgruppe durch Esterasen, wodurch die Wirkform, das Enalaprilat bzw. Ramiprilat, mit einer freien Carboxygruppe entsteht, die das Zink des ACE komplexieren kann.
Pharmakologie
Anwendungsgebiete
ACE-Hemmer werden überwiegend zur Therapie des Bluthochdrucks eingesetzt. Hierfür gelten sie einzeln (Monotherapie) und in Kombination mit anderen Blutdrucksenkern (Kombinationstherapie, insbesondere mit Diuretika oder Calciumantagonisten) als Mittel der ersten Wahl. Bei Bluthochdruckformen, die mit einem erniedrigten Renin-Spiegel im Blutplasma einhergehen (z. B. Conn-Syndrom) zeigen ACE-Hemmer hingegen nur unzureichende Wirksamkeit.
Daneben haben sich einige ACE-Hemmer in zahlreichen großen klinischen Studien auch bei der chronischen Herzinsuffizienz als lebensverlängernd erwiesen. Dies beruht wahrscheinlich auf der Senkung der Nachlast und Verminderung der Wandspannung des Herzmuskels durch die Abnahme von Angiotensin II.
Auch nach Herzinfarkten und bei einer Herzmuskelentzündung werden ACE-Hemmer eingesetzt.
Eine weitere Indikation der ACE-Hemmer ist die diabetische Nephropathie.
Die kanadische ONTARGET-Studie weist aber darauf hin, dass ACE-Hemmer auf keinen Fall in Kombination mit Angiotensin-II-Rezeptorblockern eingenommen werden dürfen. Während beide Medikamente für sich genommen nephroprotektiv wirken, kam es bei der Kombinationstherapie zu einer signifikant verschlechterten Nierenfunktion. Ferner zeichnete sich ein Trend in Richtung eines Anstiegs der Dialysepflicht ab. Untersucht wurden u. a. Ramipril und Telmisartan.
Wirkmechanismus
Der Wirkungsmechanismus der ACE-Hemmer beruht auf einer Hemmung des Angiotensin-I-umsetzenden Enzyms ACE. Dieses Enzym hat im Organismus zwei Hauptaufgaben: Einerseits ist es für die Synthese des gefäßverengend wirksamen Octapeptids (Peptid aus acht Aminosäuren) Angiotensin II aus seiner inaktiven Vorstufe, dem Decapeptid (zehn Aminosäuren) Angiotensin I unter Abspaltung der zwei C-terminalen Aminosäuren zuständig. Andererseits katalysiert es den Abbau des Mediators Bradykinin in inaktive Produkte.
Die Hemmung des Angiotensin Converting Enzyme hat eine Abnahme der Angiotensin-II-Konzentration an den Angiotensinrezeptoren (AT1 und AT2) zur Folge. Primär sinkt dadurch der Blutgefäßtonus, und der Blutdruck nimmt ab. Es kommt also hämodynamisch zu einer Senkung der Vorlast und der Nachlast. Sekundär führt die Abnahme des Angiotensin-II-Spiegels zu einer Verringerung der Aldosteron-Freisetzung aus der Nebennierenrinde und somit zu einer Beeinflussung des Wasserhaushalts (siehe auch Renin-Angiotensin-Aldosteron-System, RAAS). Auf zellulärer Ebene kann ein Rückgang der durch Angiotensin II vermittelten mitogenen Effekte an Fibroblasten und Myozyten des Herzens, die insbesondere nach einem Herzinfarkt zu ungünstigen Veränderungen (Remodeling) führen, beobachtet werden.
In welchem Ausmaß die Blutdrucksenkung erfolgt, hängt davon ab, wie hoch die Aktivität des RAA-Systems ist. Bei der Herzinsuffizienz ist die Aktivität des RAAS sehr hoch, sodass man auf jeden Fall nur einschleichend dosieren sollte, um eine zu starke Blutdrucksenkung zu vermeiden.
Bei Nierenerkrankungen wie der diabetischen Nephropathie führen ACE-Hemmer zu einer verminderten Proteinausscheidung und verhindern ein Fortschreiten der Erkrankung (Nephroprotektion).
Die Hemmung des Abbaus von Bradykinin führt hingegen zu dessen Kumulation und damit verbundenen Nebenwirkungen.
Molekularer Wirkmechanismus
Auch der molekulare Wirkmechanismus der ACE-Hemmer konnte aufgeklärt werden. Er beruht auf der Ähnlichkeit der ACE-Hemmer zu einem Peptidkettenende des Angiotensin I. Dadurch werden ACE-Hemmer vom Angiotensin Converting Enzyme fälschlich für das physiologische Substrat Angiotensin I gehalten. Im Gegensatz zum physiologischen Substrat werden sie aber nicht vom Enzym umgesetzt, sondern blockieren es.
Wichtig für die Bindung des Liganden sind drei Wechselwirkungen:
eine Komplexierung des Zink-Ions des ACE. Dies ist in der Regel eine Carboxygruppe oder beim Captopril eine Thiolgruppe
eine elektrostatische Wechselwirkung zwischen dem K511 des ACE und der Carboxylatfunktion des Prolins des Liganden
eine Wasserstoffbrückenbindung zwischen H353 des ACE und dem Carbonyl des Alanins bzw. Lysins des Liganden
Pharmakokinetik
Entsprechend ihrer chemischen Differenzen unterscheiden sich die ACE-Hemmer in ihrer Pharmakokinetik. Die Mehrzahl der derzeit verfügbaren ACE-Hemmer sind Prodrugs. Das heißt, dass sie nach einer 20%igen (Ramipril) bis fast 100%igen Aufnahme (Resorption) durch Enzyme im Körper aktiviert werden müssen (siehe Chemie). Lediglich Captopril und Lisinopril benötigen diesen Aktivierungsschritt nicht. Maximale Plasmaspiegel der Wirkformen werden nach 1 bis 8 Stunden erreicht. Die Plasmahalbwertszeiten schwanken zwischen 2 (Captopril) und 40 Stunden (Spirapril). Entsprechend variiert auch die Wirkdauer (8 bis 48 Stunden). Alle ACE-Hemmer werden überwiegend über die Niere ausgeschieden. Fosinopril, Moexipril und Spirapril zeigen darüber hinaus eine relevante biliäre Exkretion (Ausscheidung über die Galle).
Nebenwirkungen
Die wichtigsten Nebenwirkungen sind trockener Husten, Hypotonie, akutes Nierenversagen, Hyperkaliämie und Probleme während der Schwangerschaft (unten einzeln erklärt). Diese Nebenwirkungen sind allen ACE-Hemmern gemeinsam. Bei einer 2018 veröffentlichten Kohortenstudie mit fast einer Million Patienten war die Verwendung von ACE-Hemmern, nach fünf Jahren der Anwendung, mit einem insgesamt um 14 % erhöhten Risiko für Lungenkrebs verbunden. Bei Patienten, die ACE-Hemmer mehr als zehn Jahre lang verwendeten, lag ein um 31 % erhöhtes Risiko vor.
Die meisten Nebenwirkungen von ACE-Hemmern werden mit einem verlangsamten Abbau und einer Anreicherung von Bradykinin durch ACE-Hemmer in Verbindung gebracht. Dazu zählen Hautreaktionen wie z. B. Exantheme (0,1–1 %) und Nesselsucht (0,01–0,1 %). Schwere allergische Hautreaktionen werden hingegen nur sehr selten beobachtet (< 0,01 %). Die als charakteristisch für ACE-Hemmer geltende Nebenwirkung, das Auftreten von Angioödemen, kann ebenfalls nur selten beobachtet werden (0,01–0,1 %).
Auch die Mehrzahl der die Atemwege betreffenden Nebenwirkungen kann mit einer Kumulation von Bradykinin in Verbindung gebracht werden. Dazu zählt in erster Linie ein trockener Husten, der in den ersten drei Monaten bei 5–35 % der Patienten auftritt. Diese Nebenwirkung ist nicht dosisabhängig. Bei trockenem Husten sollte der ACE-Hemmer abgesetzt bzw. gegen ein anderes Medikament entsprechend der Indikation ausgetauscht werden.
Auch Heiserkeit und Halsschmerz (0,1–1 %) treten auf. Asthmaanfälle und Atemnot können ebenfalls, wenn auch selten, auftreten (0,01–0,1 %).
Unter der Therapie mit ACE-Hemmern kann es bradykininunabhängig zu einer Hypotonie, d. h. zu einer zu starken Blutdrucksenkung kommen. Infolgedessen können gelegentlich Schwindel, Kopfschmerz und Benommenheit beobachtet werden (0,1–1 %). Von schweren Herz-Kreislauf-Ereignissen, wie Angina Pectoris, Herzinfarkt und Synkope, wurde nur in Einzelfällen berichtet. Dieser Nebenwirkung (die bevorzugt bei Patienten mit Herzinsuffizienz auftritt) kann man mit Vorsichtsmaßnahmen vorbeugen: bei Flüssigkeitsmangel zuerst Flüssigkeitsgabe und Absetzen von Diuretika (falls der Patient diese einnimmt), dann mit der Einnahme von ACE-Hemmern beginnen; bei Patienten mit Herzinsuffizienz mit einer geringeren Dosierung als anvisiert anfangen, dann die Dosis steigern.
Durch Eingriff in den Wasser- und Elektrolythaushalt können gelegentlich funktionelle Nierenfunktionsstörungen beobachtet werden (0,1–1 %). Eine Proteinurie (vermehrte Ausscheidung von Proteinen im Harn) bis hin zu akutem Nierenversagen wurde hingegen nur selten beobachtet (0,01–0,1 %). Zum akuten Nierenversagen kommt es fast nur bei Risikopatienten, d. h. bei Menschen oder Tieren mit bilateraler Nierenarterienstenose, mit einer hypertonischen Nephrosklerose, mit einer Herzinsuffizienz, mit einer polyzystischen Nierenerkrankung oder mit einem vorher existierenden chronischen Nierenversagen. Das Nierenversagen ist oft reversibel.
Eine klinisch relevante Hyperkaliämie kommt bei < 10 % vor, bei fast allen Patienten kann eine geringe, klinisch nicht relevante Erhöhung des Kalium-Spiegels beobachtet werden. Die klinisch relevante Hyperkaliämie entsteht sehr oft bei Patienten mit bereits vorhandenem Nierenversagen, gleichzeitiger Einnahme von kaliumsparenden Diuretika (z. B. Triamteren), NSAR (nichtsteroidale Antirheumatika), schwerer Herzinsuffizienz und bei älteren Patienten. Niedrige Dosen von ACE-Hemmern führen nicht zu dieser Nebenwirkung.
Durch die Wirkungen auf das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System mit Abnahme der Aldosteron-Ausschüttung lässt sich diese weitere unerwünschte Wirkung von ACE-Hemmern erklären: Aldosteron verstärkt die Natrium- und Wasser-Wiederaufnahme in der Niere, während es die Kalium-Ausscheidung fördert. Bei verminderter Konzentration von Aldosteron kommt es zum gegenteiligen Effekt: erhöhte Natrium- und Wasser-Ausscheidung der Niere, während Kalium vermehrt im Körper verbleibt. So kann es zu einer vor allem für das Herz gefährlichen Hyperkaliämie kommen. Selten kommt es auch zu einer Hyponatriämie.
Kontraindiziert in der Schwangerschaft: Da ACE-Hemmer in der Schwangerschaft u. a. Wachstums- und Knochenbildungsstörungen beim Kind, verbunden mit einer erhöhten Sterblichkeit hervorrufen können, dürfen ACE-Hemmer in dieser Zeit nicht eingenommen werden und sollten durch andere therapeutische Maßnahmen ersetzt werden. Siehe z. B. die Aplasia cutis congenita.
Wechselwirkungen
ACE-Hemmer verstärken die Blutbild verändernden Nebenwirkungen immunsuppressiv wirkender Arzneistoffe (Immunsuppressiva, Zytostatika und Glucocorticoid). Ebenso verstärken ACE-Hemmer die blutzuckersenkende Wirkung oraler Antidiabetika und von Insulin.
Durch Eingriff in den Wasser- und Elektrolythaushalt kann die Ausscheidung von Lithium verlangsamt werden. Ebenso kann eine Verstärkung des Anstiegs des Kaliumspiegels bei kombinierter Anwendung mit kaliumsparenden Diuretika beobachtet werden.
Bei Kombination mit anderen blutdrucksenkenden Arzneimitteln sollte eine verstärkte Blutdrucksenkung berücksichtigt werden. Synergistische Effekte, die auch therapeutisch ausgenutzt werden, treten insbesondere mit Diuretika und mit Calciumkanalhemmern auf. Eine verringerte blutdrucksenkende Wirkung der ACE-Hemmer konnte vereinzelt nach Einnahme kochsalzreicher Kost beobachtet werden.
Arzneistoffe
Die internationalen Freinamen der einzelnen ACE-Hemmer enden auf -pril. Derzeit sind in Deutschland folgende ACE-Hemmer als Arzneistoff (Substanz bzw. Prodrug) zugelassen:
Benazepril
Captopril
Cilazapril (Wirkmetabolit: Cilazaprilat)
Enalapril
Fosinopril
Imidapril
Lisinopril
Moexipril
Perindopril (Wirkmetabolit: Perindoprilat)
Quinapril (Wirkmetabolit: Quinaprilat)
Ramipril (Wirkmetabolit: Ramiprilat)
Spirapril
Trandolapril
Zofenopril
Geschichte
Seit 1980 spielen die ACE-Hemmer eine wichtige Rolle für die Behandlung von koronaren Herzkrankheiten. Dafür mussten zuerst Erkenntnisse über das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System (RAAS) gewonnen werden. Dessen Erforschung startete 1898 durch die Isolierung des Renins, ermöglicht durch Robert Tigerstedt und den Medizinstudenten Per Gustav Bergman. Harry Goldblatt postulierte die Beteiligung des Enzyms an der Blutdruckregulation. Diese Hypothese konnte allerdings erst 1939 bewiesen werden. 1946 folgten dann Berichte, die aufzeigten, dass Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz eine erhöhte Reninaktivität aufweisen. Aus diesem Grund verstärkte man ab den 1950er Jahren die Erforschung des RAAS bei Hypertonie.
Der Grundstein für die Entwicklung der ACE-Hemmer wurde 1956 mit der Aufklärung der Funktion des Angiotensin Converting Enzyme (ACE) durch Leonard T. Skeggs und Joe Kahn gelegt. Die Bedeutung dieses Enzyms für die Blutdruckregulation wurde anfangs noch unterschätzt.
14 Jahre nach der Entdeckung des Angiotensin Converting Enzyme fand der Pharmakologe Sérgio Henrique Ferreira 1965 heraus, dass das Gift der Jararaca-Lanzenotter in vitro zu einer Hemmung dieses Enzyms führt. 1970 isolierten er sowie, unabhängig von ihm, Miguel Ondetti das Pentapeptid BPP5a aus dem Schlangengift, welches die Angiotensin-I-Konversion hochspezifisch hemmt.
Da BPP5a im Körper sehr instabil ist, startete fast gleichzeitig eine Suche nach potenteren und stabileren Inhibitoren des Enzyms. Ein erster Erfolg gelang 1971 mit der Entdeckung der ACE-hemmenden Wirkung des Nonapeptids Teprotid. Die Hersteller stellten die klinische Weiterentwicklung von Teprotid jedoch zwei Jahre später wegen mangelnden kommerziellen Interesses ein. Zudem musste Teprotid intravenös verabreicht werden, wodurch es sich für chronische Erkrankungen wie die Hypertonie als ungeeignet erwies.
Die erste Synthese eines oralen ACE-Hemmers gelang David Cushman und Ondetti: Mithilfe des Wissens über die Strukturähnlichkeit des ACE mit der im Pankreas vorkommende Carboxypeptidase A konnte die Verbindung Succinylprolin hergestellt werden, welche bei weitem nicht so wirksam wie Teprotid war.
Anfangs der 1970er-Jahre konnte die wirksame Teilstruktur der ACE-hemmenden Peptide BPP5a und Teprotid aufgeklärt werden. Aufgrund dieser Entdeckungen wurden neue nichtpeptidische ACE-Hemmer entwickelt. 1974 wurde erstmals der ACE-Hemmer Captopril als Produkt einer groß angelegten Wirkstoffsuche (Screening) der Pharmafirma Squibb beschrieben. 1981 wurde er als erster ACE-Hemmer unter dem Handelsnamen Lopirin in die Therapie eingeführt. Captopril ist in der Wirkstärke mit der von Teprotid gleichzusetzen.
In den folgenden Jahren versuchte man strukturähnliche Verbindungen zu Captopril zu entwickeln. Dadurch stieß man auf Verbindungen mit SH-Gruppen, welche eine höhere Lipophilie besitzen. Da Captopril anfangs bei klinischen Studien in relativ hohen Dosen verwendet wurde, traten zahlreiche, teilweise auch schwerwiegende Nebenwirkungen auf, die man u. a. dem Sulfyhydrylanteil im Molekül zuschreiben konnte. Aus diesem Grund verringerte man die Dosen, wodurch auch Auftreten der Nebenwirkungen deutlich abnahm. Dennoch bemühte man sich weiter um die Synthese eines ACE-Hemmers ohne Sulfylhydrylanteil. Dieses Ziel wurde 1980 erreicht, indem Arthur A. Patchett und Charles S. Sweet den sulfylhydrylfreien ACE-Hemmer Enalapril bzw. Enalaprilat synthetisierten und vorstellten. Letzteres hatte allerdings nur eine geringe Bioverfügbarkeit, weshalb es in Form des Ethylesters als Prodrug unter den Handelsnamen Pres und Xanef auf den Markt gelangte. Das Enalapril galt nun als „Prototyp“ für andere strukturähnliche ACE-Inhibitoren. Aufgrund des großen therapeutischen und wirtschaftlichen Erfolges der Arzneistoffe Captopril und Enalapril wurde eine zweite Generation der ACE-Hemmer entwickelt, die seit Anfang der 1990er Jahre erhältlich sind.
Ökonomische Bedeutung
In Deutschland nehmen etwa 20 % der Bevölkerung und jeder zweite über 55 Jahre Arzneimittel zur Behandlung des Bluthochdrucks ein. ACE-Hemmer sind mit einem Anteil von über 50 % die meistverordneten Antihypertensiva. Etwa 80 % der mit einem ACE-Hemmer behandelten Bluthochdruckpatienten verwenden ein Monotherapeutikum, der Rest nutzt ein Kombinationspräparat. Die Verordnungszahlen, die in Deutschland im Jahr 2009 etwa 5 Milliarden definierte Tagesdosen (DDD) erreichten, nahmen in den letzten zehn Jahren linear um etwa 200 % zu. Auf dem von Generika geprägten deutschen Markt dominiert der Arzneistoff Ramipril (68 %) deutlich vor Enalapril (18 %) und Lisinopril (10 %).
Alternativen
Neuere Substanzen aus der Gruppe der AT1-Antagonisten (Sartane) hemmen nicht mehr das Angiotensin Converting Enzyme, sondern wirken antagonistisch auf den Angiotensin-II-Rezeptor-1-Subtyp, sodass Nebenwirkungen seltener auftreten. Ihre bessere Verträglichkeit beruht darauf, dass sie nicht auf das Bradykinin-System einwirken. AT1-Antagonisten sind seit einigen Jahren ebenfalls als Generika auf dem Markt (z. B. 2008 Eprosartan, 2010 Losartan), jedoch noch immer teurer als ACE-Hemmer.
Ein anderer Angriffspunkt ist die Hemmung des in der Niere gebildeten Enzyms Renin, das für die Synthese von Angiotensin I verantwortlich ist. Mit Aliskiren ist im Jahr 2007 ein selektiver Hemmer dieses Enzyms zugelassen worden, weitere Reninhemmer wie z. B. Remikiren und Zankiren befinden sich in der klinischen Erprobung.
Vasopeptidaseinhibitoren wie Omapatrilat sind von den klassischen ACE-Hemmern abgeleitet und standen 2010 noch vor der Zulassung durch die Gesundheitsbehörden, da es in Studien zu schweren Angioödemen kam. Zusätzlich zur Hemmung des Angiotensin Converting Enzyme hemmen die Vasopeptidaseinhibitoren die neutrale Endopeptidase, ein Enzym, das für die Inaktivierung des blutgefäßrelaxierenden atrialen natriuretischen Peptids (ANP) verantwortlich ist.
Intensivmedizinischer Aspekt
In der Intensivmedizin hat sich gezeigt, dass Patienten, die vor dem Intensivstationsaufenthalt mit ACE-Hemmern therapiert wurden, oftmals einen höheren Verbrauch an Katecholaminen aufweisen, um den mittleren arteriellen Druck zu stabilisieren. Grund dafür dürfte ein Vasopressinmangel sein, der auf die vorhergehende Therapie mit ACE-Hemmern zurückzuführen wäre.
Durch die Substitution von Vasopressin (ADH) kann häufig der Katecholaminbedarf (soweit keine weiteren Gründe für niedrigen Blutdruck vorliegen) rasch reduziert werden und danach das Vasopressin binnen 12–24 Stunden ausgeschlichen werden.
Literatur
D. W. Cusham, M. A. Ondetti: History of the design of captopril and related inhibitors of angiotensin converting enzyme. In: Hypertension. Baltimore, 17.1991, S. 589–592. PMID 2013486.
E. Mutschler, G. Geisslinger, H. K. Kroemer, M. Schäfer-Korting: Therapie der Hypertonie. In: E. Mutschler (Hrsg.): Arzneimittelwirkungen. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2001, ISBN 3-8047-1118-9, S. 571–587.
Weblinks
Werner Kellner: ACE-Hemmer (Prilate), Angiotensin-I-Konversionsenzymhemmer (auch: Hemmer des Angiotensin Converting Enzyms)
Lecturio: Antihypertensiva: ACE-Hemmer und Sartane
Einzelnachweise
Peptidmimetikum |
119797 | https://de.wikipedia.org/wiki/Doom%20Metal | Doom Metal | Doom Metal (doom englisch für ‚Verhängnis‘ oder ‚Unheil‘) ist eine zu Beginn der 1970er-Jahre aus dem Hard Rock entstandene Stilrichtung des Metal, aus der sich seit den 1980er-Jahren ein breites Musik-Genre mit vielfältigen Subgenres entwickelte.
Als wegweisend für die auf Bluesrock, Psychedelic Rock und Hard Rock aufbauende Musik gilt die Reduzierung des Tempos und das stark verzerrte, tief gestimmte Gitarrenspiel. Die weiteren Grundzüge dieser Musik sind ein dem Bluesrock entlehnter Klargesang, eine als erdig warm, zugleich aber schwer und düster wahrgenommene Atmosphäre und eine zugängliche, aus dem Bluesrock entlehnte Struktur der Musik. Inhaltlich blieb der Doom Metal dabei von Texten geprägt, die von Trauer, Angst und Hoffnungslosigkeit handelten.
Das später als Proto-Doom von weiteren Entwicklungen des Doom Metal abgegrenzte Ur-Genre wurde ab dem Jahr 1970 durch die Gruppe Black Sabbath geprägt. Ihre ersten vier Studioalben werden als musikalische Ursprungswerke des Doom Metal und des Metal insgesamt bezeichnet. Neben Black Sabbath wird der American Doom Trinity aus Saint Vitus, Pentagram und Trouble sowie der Band Candlemass besondere Bedeutung für die Verbreitung des Doom Metal als eigenständiges Genre zugesprochen. Infolge der Debütveröffentlichungen dieser vier Gruppen in den Jahren von 1984 bis 1986 erfuhr die Musik erhöhte Aufmerksamkeit und wurde zunehmend als zusammenhängendes Genre rezipiert. In Abgrenzung zum Proto-Doom prägte das US-amerikanische Dreigespann später das Subgenre Traditional Doom und Candlemass den Epic Doom. Ab dem Ende der 1980er Jahre entstanden weitere Folge- und Crossover-Stile, die die Wahrnehmung des Doom Metal nachhaltig prägten und das Verständnis der Stilrichtung als breit gefächertes Musikspektrum erweiterten. Viele neue und bereits aktive Interpreten des Doom Metal wurden nachkommend populärer.
Das Doom-Metal-Spektrum zeichnet sich durch Gemeinsamkeiten in Publikum, Vergemeinschaftung, Spielweise, Inhalt und Ästhetik aus. In der Anhängerschaft des Genres entstand in dieser Zeit eine kulturelle Gemeinschaft als Teilströmung der Metal-Szene mit Überschneidungen zum Punk. Dabei entwickelten sich in der Doom-Metal-Anhängerschaft eigene Unternehmen, Veranstaltungen und Modeaspekte, die den Doom Metal und seine Fans von der allgemeinen Metal-Szene separieren.
Geschichte
Doom Metal weist als Stil, Genre und Kultur eine jahrzehntelange Historie auf. Dabei blieb der Stil in den frühen Jahren eine unbenannte Teilmenge des Hard Rock und Heavy Metal und konnte sich nach ersten Erfolgen, Namensgebung und internationaler Verbreitung in den 1980er-Jahren nur langsam als eigenständiges Genre und autarke Szene etablieren.
Vor- und Frühgeschichte seit den späten 1960er-Jahren
Seit den 1960er-Jahren gab es erste Aktivitäten von Bands, deren Musik sich für den Doom Metal als wegweisend erwies. Die Musik- und Szene-Strömung um den Doom Metal formierte sich aber erst Jahre später. In den 1980er-Jahren wurden rückblickend Interpreten wie Blue Cheer, Iron Butterfly und Arzachel als Vorläufer benannt. Als frühe Vertreter des damals noch unbenannten Genres werden seither Black Widow, Bedemon und Pentagram gewertet.
Musikjournalisten und Genrechronisten wie der britische Garry Sharpe-Young, der amerikanische J. J. Anselmi oder der russische Aleksey Evdokimov heben einheitlich Black Sabbath als zentralen Wendepunkt in der Entstehung des Doom Metal hervor. Die ersten vier Alben der Band gelten als initiale Veröffentlichungen des prototypischen Doom Metal sowie als musikalischer Grundstein des gesamten Genrespektrums. Mit den Alben Black Sabbath, Paranoid, Master of Reality und Black Sabbath Vol. 4 gestaltete die Band gemäß Sharpe-Young in ihrer Urbesetzung, bestehend aus Tony Iommi, Geezer Butler, Ozzy Osbourne und Bill Ward, von 1970 bis 1972 die wesentlichen Züge des Doom Metal. Anselmi führte aus, dass Black Sabbath „Pionierarbeit im Genre“ leisteten, indem sie eine auf Blues basierende Musik im „Schneckentempo und durch donnernde Verstärker“ schickten. Anfangs nicht als eigenständiger Stil wahrgenommen, sondern als Hard Rock tituliert, entstand der Doom Metal in der Ur-Phase des Metal. Während rückblickend Interpreten des gleichen Zeitraums, wie Deep Purple, Led Zeppelin, Alice Cooper, Kiss oder Motörhead als maßgeblich für die Entwicklung von Stilen wie New Wave of British Heavy Metal, Speed Metal, Glam Metal und Power Metal gelten, legte Black Sabbath besonders den Grundstein für den Doom Metal. Als weitere, für den Doom Metal wegweisende Veröffentlichung, nach den ersten vier Alben von Black Sabbath, gelten die von Pentagram zu Beginn der 1970er-Jahre veröffentlichten Singles. Frank „Skip“ Groff, später eine der zentralen Persönlichkeiten der Hardcore-Punk-Szene von Washington, D.C., gründete eigens die Label Boffo Socko Records für die Veröffentlichung Hurricane/Earth Flight und Gemini Records für Under My Thumb/When the Screams Come. In der Zeit von Kritikern kaum beachtet und ohne kommerziellen Erfolg, beeinflussten die Singles wichtige Szene-Akteure wie Scott Weinrich, der The Obsessed gründete und später für Saint Vitus sang, oder Lee Dorrian, der Ende der 1980er-Jahre Cathedral gründete und das Label Rise Above Records initiierte.
Als weiterer Meilenstein in der Entwicklung zum Genre wird das Album Death Penalty von Witchfinder General aus dem Jahr 1982 betrachtet. „Musikalisch war die Platte deutlich hörbar von Black Sabbath beeinflusst, kombinierte den Sound der Altmeister jedoch mit dem härteren und seinerzeit frischeren Sound der NWoBHM.“ Gelegentlich gilt das Album damit als „[e]rstes wirkliches Doom-Metal-Album“. Rückblickend wird diese Phase gelegentlich als Proto-Doom beschrieben und die Vertreter des Genres in diesem Zeitraum als Proto-Doom-Bands kategorisiert.
Etablierung als Genre und Szene ab der Mitte der 1980er-Jahre
Den finalen Anstoß zur Werdung eines eigenständigen Genres und einer Szene setzten vier Interpreten in der Mitte der 1980er-Jahre. Musikjournalisten prägten für die Gruppen Trouble, Pentagram und Saint Vitus Bezeichnungen wie die heilige Dreifaltigkeit des amerikanischen Doom Metals oder American Doom Trinity. Mit ihren 1984/1985 erschienenen Debütalben Trouble, Saint Vitus und Pentagram wird diesen Bands und Alben der Erfolg des Doom Metals und damit einhergehend die Etablierung einer ersten Doom-Metal-Szene im Verlauf der 1980er-Jahre zugesprochen – allerdings zumeist gemeinsam mit den Anfängen der schwedischen Band Candlemass und deren ersten Alben Epicus Doomicus Metallicus und Nightfall.
In den folgenden Jahren konnte Doom Metal kaum Mainstream-Erfolge erzielen, wirkte sich jedoch kontinuierlich auf die Entwicklung des Metals und der Metal-Szene aus. In der Wahrnehmung als Pendant des Speed und Thrash Metal festigte sich die Vorstellung von Doom Metal als Genre. Aufgrund einer oft lose antiautoritären und gegenkulturellen bis linksliberalen Attitüde der Anhänger und der gemeinsamen Nutzung von Auftrittsmöglichkeiten und Labeln stand die kleine, um den Doom Metal existierende Szene kulturell und ökonomisch der Punk–, Hardcore- und Crust-Punk-Szene nahe und begünstigte so nachfolgende kulturelle und musikalische Überschneidungen wie Sludge oder Post-Metal. Innerhalb der Metal-Szene erlangten in den 1980er- und 1990er-Jahren nur relativ wenige Doom-Bands größere Bekanntheit.
Fortlaufende Stilvermengungen in den 1990er-Jahren
In den frühen 1990er-Jahren etablierten sich weitere Independent-Label wie Rise Above Records oder das Berliner Unternehmen Hellhound Records, die sich auf Künstler des Doom Metals spezialisiert hatten und zum Underground-Erfolg des Genres beitrugen. Das, laut Eigenbeschreibung „härteste Label der Welt“, Hellhound Records wurde durch den Verlag bekannter Doom-Bands wie Saint Vitus und The Obsessed populär, prägte jedoch zugleich in den frühen 1990er-Jahren die Wahrnehmung von Interpreten aus dem Bundesstaat Maryland und machte damit regionale Künstler wie Internal Void, Iron Man, Revelation, Wretched und Unorthodox international bekannt. Hyperbolisch schrieb Garry Sharpe-Young über das Label, dass jede Band mit einer dem Bundesstaat zugehörigen Gruppe einen Vertrag von Hellhound bekam. Im Resultat sei eine Reihe Klassiker des Genres über das Label veröffentlicht worden. Über Rise Above Records debütierten indes international anerkannte Interpreten wie Electric Wizard, Penance und Revelation.
Zugleich beeinflusste der Doom Metal ab dem Ende der 1980er- und Beginn der 1990er-Jahre eine Vielzahl neu entstehender Crossover-Stile und Folgeerscheinungen, welche wie Gothic Metal oder Stoner Doom mitunter kommerzielle Erfolge erzielen konnten. Schlüsselrollen dieser anfänglich als Doomcore zusammengefassten Entwicklung nahmen neben Black Flag unkonventionelle Interpreten wie The Melvins, Godflesh und Boris ein. Aus dieser Entwicklung nahm der Doom Metal neben Thrash Metal und Black Metal eine Rolle als Katalysator der Entwicklung der Metal-Szene dieser Zeit wahr. Zur Abgrenzung der neuen Spielformen wurden in dieser Phase auch Begrifflichkeiten für den originären Doom Metal geprägt. Der Einfluss des Doom Metal setzte sich in den 1990er-Jahren in der Entwicklung von unter anderem Grunge, Alternative Metal, Sludge, Stoner Rock und Stoner Doom fort und konnte mit Interpreten wie Soundgarden, The Gathering, Kyuss, Queens of the Stone Age oder Type O Negative in abgewandelter Form Chart- und Mainstream-Erfolge verbuchen. Zugleich bestand der originäre Doom Metal mit Bands wie Dawn of Winter aus Deutschland, Electric Wizard aus Großbritannien, Church of Misery aus Japan, Count Raven aus Schweden oder Spiritus Mortis aus Finnland international fortwährend als Underground-Phänomen weiter.
Breitere Wahrnehmung und Vergemeinschaftungspraktiken nach der Jahrtausendwende
Nach der Jahrtausendwende entstanden mit Doom Shall Rise, den Dutch Doom Days oder dem Malta Doom Metal Fest speziell auf den Doom Metal und seine Subströmungen hin ausgerichtete Festivals, die der kleinen Szeneströmung als Anlaufpunkte dienten. Seither wurden diese ersten Festivals mit dem Roadburn Festival, dem Hammer of Doom und diversen weiteren Veranstaltungen ergänzt. Mit Doom-Metal.com existiert seit den frühen 2000ern neben den Veranstaltungen und den diversen Labeln ein langlebiges Webzine, das sich ausschließlich dem Spektrum des Doom Metal widmet. Fanzines wie das Doom Metal Front trugen ebenfalls zur breiten Vernetzung der Szene bei. Zeitnah zu den ersten Festivals und der Etablierung des Webzines kam es mit Interpreten wie Reverend Bizarre, Witchcraft und Blood Ceremony zu einem Revival des Genres. Insbesondere Reverend Bizarre gilt rückblickend als Initiator des Revivals. Dieses Revival führte zu einer Fülle neuer Interpreten und einer erhöhten Aufmerksamkeit innerhalb der Metal-Szene. Szenemagazine wie das Decibel und das Deaf Forever widmeten sich in den 2000er- und 2010er-Jahren dem Genre mit Specials. Auch erste Sachbücher zum Doom Metal entstanden.
Neben weiteren Hybridisierungen zum Beispiel durch Orthodox und Messa mit Jazz-Variationen, durch Baroness und Oceans of Slumber mit Progressive Rock, durch Exulansis und Blóð mit unterschiedlichen Facetten des Post-Black-Metal oder durch Sinistro mit dem portugiesischen Fado, blieb der originäre Stil mit Gruppen wie The Gates of Slumber, Beelzefuzz und Mandibulla nach der Jahrtausendwende fortwährend beständig. Indes trugen Interpreten wie Pallbearer, Ghost und Lucifer zum Teil massenkompatible Varianten eines auf Doom Metal aufbauenden Stils erneut in den Mainstream.
Stilistische Einordnung
Unter dem Einfluss des Hard- und Psychedelic-Rock und dem gemeinsamen Interessen an Okkultismus, Horrorliteratur und Horrorfilmen, Cannabis sowie psychedelischer Kunst und Außenseitertum weisen viele der dem Genre zugerechneten Interpreten neben der obligatorisch ähnlichen Musik thematische und ästhetische Gemeinsamkeiten auf.
Musik
Durch genretypische Elemente wie Reduzierung des Tempos und stark verzerrtes und tief gestimmtes Gitarrenspiel hebt sich der Doom Metal von anderen populäreren Metal-Genres ab. Orientiert an den ersten vier Alben von Black Sabbath entstand Doom Metal parallel zum Heavy Metal als düstere und langsame Variante des frühen Hard Rock mit schweren und langsamen Gitarrenriffs. Entsprechend der ikonischen Genre-Vorlage durch die frühen Black Sabbath sind Elemente aus Psychedelic-, Blues- und Hard Rock für den Doom Metal wesentlich. Ein „warmes und breites Klangbild“ mit „erdigen Gitarren“ und klarem Gesang gilt als genretypisch. Virtuosität ist gegenüber Groove und Rhythmusgefühl nachrangig. Das zur Beschreibung des Gesangs und der Musik oft bemühte Bild vom „erdigen Klang“ steht dabei synonym für ein natürliches und warmes, sowie düsteres, kraftvolles und atmosphärisches Klangbild von überwiegend tiefen Frequenzen. So definierten frühe Interpreten und Vorreiter mit der Verwendung stark verzerrter E-Gitarren, extremer Lautstärke, langsamen Tempi, Moll-Kompositionen und des Tritonus-Mustern die Grundmuster des prototypischen und traditionellen Doom Metal. Der Aufbau der Songs blieb dabei meist in einem klassischen und leicht zugänglichen Strophen-Refrain-Schema der Pop- und Rockmusik bei einem als einfach geltendem 4/4-Takt gehalten.
Doom-Gitarristen nutzten dabei überwiegend Röhrenverstärker, wobei Modelle aus der Entstehungszeit des Genres besonders beliebt sind, da ihr Klang als weich, voll und warm gilt. Bi-Amping, das Koppeln von Verstärkern, sowie die Nutzung von Bassverstärkern ist im Genre zur Verdichtung des Klangs gebräuchlich. In Länge gezogene Sustain, Ausschwingen der klangerzeugenden Gitarrensaiten, werden ebenso im Doom Metal genutzt. Der Gesang wird häufig in stilistischer Anlehnung an Hard- und Bluesrock als einfach gehaltener Klargesang dargebracht. Typische und prägende Vertreter waren dabei Ozzy Osbourne, Scott Weinrich, Eric Wagner, Bobby Liebling (Pentagram) und Scott Reagers (Saint Vitus).
Von dem sonst als aggressiv und energiegeladen geltenden Metal, unterscheidet sich der Doom Metal hinzukommend durch seine vornehmlich schwermütige Stimmung. Über die musikalischen Eigenheiten als Metal-Genre ist Doom Metal atmosphärisch von „Schwere, Dunkelheit, Traurigkeit, Depression und Melancholie“ geprägt, wodurch das Genre „eine dunkle und grüblerische Atmosphäre“ ausstrahlt, die in dieser Intensität in keinem anderen Genre des Metal liegt.
Inhalt
Trotz der Wahrnehmung als zusammenhängender Stil wurde mit dem Doom Metal kein enges und geschlossenes lyrisches Themenfeld verbunden, wohl aber häufige inhaltliche Gemeinsamkeiten, über die sich vage Kernmotive herleiten lassen. In dem divergenten Themenfundus des Doom Metal werden so häufig Topoi wie melancholische Geschichten, Lebensberichte, speziell Außenseitergeschichten, Drogenerfahrungen, Okkultismus und Horror bemüht. Die Emotionen Hoffnungslosigkeit, Angst und Trauer werden dabei als oft mitschwingende inhaltliche Kernmotive des Genres betrachtet. Der Musikjournalist und Sachbuchautor Jon Wiederhorn führte in einem für Bandcamp verfassten historischen Abriss der Stilentwicklung den Themenfundus des Doom Metal, über die Entwicklung des gesamten Doom-Metal-Spektrums aus.
Ursächlich für die inhaltliche Gewichtung gilt eine Reaktion ausgehend von der Desillusionierung hinsichtlich der Hippie-Szene in der Entstehungsphase des Genres. In Bezug auf spirituelle Einflüsse, Vorstellungen von Gemeinschaft und Frieden fand eine dialektische Abkehr von den Idealen der Hippie-Szene statt, woraufhin bereits früh Lieder entstanden, die den Konsum und Missbrauch von Drogen behandelten sowie besonders pessimistische Stücke über Krieg und Gewalt.
Auch religiöse Themen werden als potentielle Quelle für Texte und Ideen angesehen. Missionarische oder dogmatische Texte sind dabei kaum gegeben. So sind trotz des thematischen Hangs zum Okkultismus mit Gruppen wie Trouble und Place of Skulls Interpreten mit christlichen Inhalten Teil des Doom-Spektrums. Doch auch die religiösen Texte sind überwiegend persönlich und auf Erfahrungen von Liebe, Schmerz, Trauer, Glaubensverlust und Ähnliches gerichtet.
Verweise auf Horrorliteratur und -filme, Okkultismus und Hexerei sind bereit vielfach Teil der Namensgebung im Doom Metal und werden hinzukommend gestalterisch häufig aufgenommen. Eine besondere Rolle im Horror-Interesse im Doom Metal nehmen Hammer-Filme ebenso wie das Werk von H. P. Lovecraft ein. Sein Werk und der Cthulhu-Mythos gelten als gängiger lyrischer Themenfundus des Genres.
Gestaltung
Namensschriftzüge nehmen, wie im Metal insgesamt, eine bedeutende Rolle in der Vergemeinschaftungspraxis der Kultur um den Doom Metal ein. Dabei ist die Gestaltung solcher Schriftzüge gegenüber anderen Stilen des Metal-Spektrums weniger aufwendig und fußt wie die gesamte Szene auf dem Hard- und Psychedelic-Rock. In den Folgeerscheinungen des traditionellen Doom Metal kann dieses Stereotyp aufgehoben sein. Stilprägend für die schriftbildliche Darstellung der Interpretennamen waren erneut die frühen und ursprünglichen Vertreter des Genres Saint Vitus, Pentagram, Trouble, Candlemass und Black Sabbath. Insbesondere die als ikonisch geltenden Namenszüge von Black Sabbath und Pentagram wurden häufig variierend adaptiert.
Neben den Schriftzügen sind Bezüge zu den lyrischen Schwerpunktthemen weiterführend in der Gestaltung der Tonträger und der Merchandising-Artikel wiederzufinden. Gräber, Pentagramme und Schädelknochen sind ebenso wie positive lyrische und gestalterische Bezüge zum Konsum von Drogen, insbesondere Haschisch, gelegentlich weitere psychotrope Substanzen in Teilbereichen des Doom Metal üblich. Neben psychedelischen Motiven und Anspielungen werden in diesem Komplex häufig direkte Verweise auf Drogen wie stilisierte Hanfblätter, Bongs und Rauch dargestellt. Weiter werden häufig grobkörnige Bilder in „Schwarz-Weiß oder fahlen Grautönen“ mit Abbildungen von „Kreuze[n], Kirchen oder Engel[n] gesenkten Blickes“ genutzt.
Adaptionen aus der Kunst, insbesondere aus dem Klassizismus, der Romantik, dem Symbolismus und dem Jugendstil, werden im Doom Metal ebenfalls häufig genutzt. Dabei sind Kunstwerke von Arnold Böcklin, Caspar David Friedrich, Gustave Doré oder Francisco de Goya ebenso wie Illustrationen zu John Miltons Paradise Lost, den Geschichten von Edgar Allan Poe oder zur Göttlichen Kömodie von Dante Alighieri üblich.
Crossover-Stile, Differenzierung und Folgeerscheinungen
Zur Etablierung des Genres trugen bis zum Anfang der 1990er-Jahre die ersten Vermengungen des „Proto-Doom“ oder „Traditional Doom“ bei, die später als Epic Doom, Death Doom und Sludge bekannt wurden. Weitere Kombinationen und Weiterentwicklungen schlossen sich diesen an. In Rezensionen werden Interpreten aus dem Spektrum des Genres häufig ohne Differenzierung der Subspielformen dem Doom Metal zugerechnet. Innerhalb kurzer Zeit nahm die Fülle der auf den Doom Metal zurückzuführenden Musikstile exponentiell zu.
Die seit den 1980er-Jahren entstandenen Folgeerscheinungen des Proto-Doom-Metal kombinierten die Grundzüge des Doom Metal mit Formen des gutturalen Gesangs und Variationen des instrumentalen Spiels aus anderen Spielweisen des Metal sowie aus genrefremden Musikstilen. Dabei blieb auch die Musik dieser Nachfolger und Subgenres in ihrem konzeptionellen Wesen eine düstere und langsame Variante des Metal, die auf die Ursprünge des Genres zurückzuführen ist. Selbst wenn die Spielformen die instrumentalen oder spielerischen Grenzen des Metal überschritten wie im Atmospheric Doom, Drone Doom oder Dark Jazz, blieb die konzeptionelle Basis das von Black Sabbath ausgehende Spektrum des Doom Metal.
Proto-Doom, Traditional Doom und Doomcore
Ab der zweiten Hälfte der 1980er erschienen Veröffentlichungen, welche auf Stilideen des Doom Metals zurückgriffen und diese mit Ideen aus dem Extreme Metal und Hardcore Punk kombinierten. Diese Entwicklungen legte den Grundstein für die Entstehung von unterschiedlichen Subgenres des Doom Metal und der zunehmenden begrifflichen Differenzierung im gesamten Doom-Spektrum. Dabei wurden diese Stilhybride anfangs als Doomcore für neue Varianten, Traditional Doom für die Interpreten, die der Grundform des Genres weiterverfolgten, und Epic Doom für Candlemass und ähnliche Interpreten, voneinander abgegrenzt. In der Phase der Ausdifferenzierung des Doom-Metal-Spektrums wurden Begriffe wie Traditional Doom, für neue Interpreten, oder Proto-Doom, für die Vertreter der ersten Generation, gebräuchlich. Vollends etablieren konnten sich diese Bezeichnungen nicht, so dass der Stil gemeinhin weiter unter der Dachbezeichnung Doom Metal benannt wird. Zur besseren Abgrenzung kommen diese Stilbegriffe jedoch in Fanzines und Webzines zur Anwendung.
Der Terminus Proto-Doom benennt dabei die Phase, in der ab dem Ende der 1960er der damals ungewöhnlich langsam, düster und verzerrte Hard Rock entstand. Mit der Verwendung massiv verzerrter E-Gitarren, extremer Lautstärke, langsamen Tempi, Moll-Kompositionen und der Verwendung von Tritonus-Mustern wurden neue und düstere Wege beschritten. Das Gitarrenspiel, das reduzierte Tempo und die tiefe Atmosphäre sind weiterhin Kennzeichen des Traditional Doom. Damit beginnt die Phase des Proto-Doom spätestens mit dem Debüt von Black Sabbath und reicht höchstens bis zu den Debüts der Doom Trinity. Diese gelten seit den 1990er-Jahren als Anfang des Traditional Doom. Dieser hob sich musikalisch nicht vom Proto-Doom ab. Der Begriff beschreibt rückblickend jedoch die Unterscheidung zwischen den Phasen der Genre-Anfänge als Proto-Doom, der kulturellen Etablierung als Traditional Doom und Epic Doom für die Musik von Candlemass und der Phase der zunehmenden Differenzierung als Doomcore und seiner Aufschlüsselung in Substilbegriffe. Allerdings wurden die unter der Bezeichnung Doomcore zusammengefassten Hybride vielfältig und differenzierten sich, überwiegend im Verlauf der 1990er-Jahre, zu eigenen Stilvarianten, woraufhin der Terminus Doomcore seine Bedeutung verlor.
Epic Doom
Die Veröffentlichungen von Candlemass Epicus Doomicus Metallicus und Nightfall sowie die ersten Alben von Solitude Aeturnus Into the Depths of Sorrow und Beyond the Crimson Horizon begründeten den Epic Doom. Als Grundlage und Vorbote galt dabei erneut Black Sabbath, diesmal mit dem 1980 veröffentlichten Album Heaven and Hell. Das Genre behielt das reduzierte Tempo und tiefe Riffing bei, kombinierte diese allerdings mit einer stärkeren Betonung epischer Momente, manchmal durch den Einsatz eines Keyboards, gelegentlich synthetische Orchesterklänge, häufig durch eine präsentere Leadgitarre, klarere Produktion und einen klaren und hohen von Ronnie James Dio und Messiah Marcolin geprägten Gesang.
Post-Metal und Sludge
Noch bevor die Musiker des Doom Metal auf die Idee kamen, Hardcore-Elemente in ihre Musik zu integrieren, näherten sich 1984 die Hardcore-Mitbegründer Black Flag mit My War dem Doom Metal an. Die kulturelle Nähe wurde von Firmen wie SST Records mit getragen und trug unter anderem in den Szenen um Maryland, Palm Desert, Washington, D.C. und New Orleans bedeutsam Früchte. The Melvins folgten mit Six Songs und Gluey Porch Treatments der Idee, Hardcore Punk mit Doom Metal zu verbinden, Godflesh initiierten mit der EP Godflesh nicht nur mit den vom Doom unabhängigen Industrial Metal, sondern präsentierten hinzukommend einen Vorläufer des Post-Metal.
So bildeten sich aufbauend auf dem Werk von Interpreten wie Black Flag, The Melvins und Godflesh durch die Veröffentlichungen Souls at Zero von Neurosis aus dem Jahr 1992 und In the Name of Suffering von EyeHateGod aus dem Jahr 1990 die Substile Post-Metal und Sludge als eigenständige Genres.
Post-Metal ist dabei eine Musik, die sich im reduzierten Tempo einer anhaltenden Dynamik, „von leise zu laut und laut zu leise“, verschrieben hat. Diese Dynamik gilt als eines der wesentlichen Merkmale des Genres und erstreckt sich über Rhythmus, Riffing und Gesang auf annähernd alle Facetten der präsentierten Musik. Die Dynamik beinhaltet den Einsatz von folkloristischen Instrumenten und Rhythmen, die die Dynamik transportieren.
Sludge orientiert sich hingegen im Gitarrenspiel am ursprünglichen Doom Metal von Black Sabbath und der American Doom Trinity, kombiniert diesen jedoch mit einem dem Hardcore Punk entlehnten gutturalen Schrei- oder Brüllgesang und gelegentlichen Tempoausbrüchen, sowie Sampling zu einem „Mahlstrom aus trägen Riffs, gequältem Geschrei und D-Beat-Drumming“.
Gruppen, die sich in der zweiten und dritten Generation auf den Sludge beriefen und dessen Anteile am Doom Metal mit Progressive Rock kombinierten, wurden als Progressive Sludge tituliert. Insbesondere Interpreten aus dem US-Bundesstaat Georgia wie Mastodon, Baroness und Kylesa wurden mit dem Titel bedacht. Die Musik wird als besonders „dynamisch und mitreißend“ wahrgenommen. Technische Instrumentalpassagen werden dabei mit Groove und dem Riffing des Doom Metal kombiniert.
Unbemannt gestaltete sich die Kombinationen des Doom Metal mit Progressive Rock durch Bands wie Oceans of Slumber oder den Veröffentlichungen von Giant Squid seit dem Album The Ichthyologist im Jahr 2009. Auch die Gruppe Sinistro verband einen modernen und progressiv klingenden Doom Metal mit dem portugiesischen Fado.
Death Doom
Dream Death wiesen 1987 mit ihrem Album Journey into Misery erste Fingerzeige auf den Death Doom. Analogien zum Ursprung des Death Doom, einer Verlangsamung des Death Metal, waren ebenso in Stücken von Morbid Angel zu finden. Ein Genre, das in den Jahren 1990 bis 1992 mit Veröffentlichungen vom Bands wie Disembowelment, Cathedral, Asphyx, Winter und Paradise Lost konkreter Form annahm.
Im Death Doom vermengten die Interpreten das Riffing von Candlemass und Black Sabbath mit der Aggressivität und dem Growling des Death Metal. Einige der frühen Vertreter spielten dabei primär einen verlangsamten Death Metal.
Atmospheric Doom, Gothic Metal und Funeral Doom
Aus dem Death Doom wuchsen in kurzer Zeit die vom Post-Industrial und Dark Wave beeinflussten Stile Funeral Doom, der 1994 mit Stream from the Heavens von Thergothon Form annahm, und Gothic Metal, der bereits 1991 über Paradise Losts Album Gothic definiert wurde.
Die musikalische Grundidee des Death Doom, eines verlangsamten Death Metal, entwickelte sich weiter. Im Gothic Metal griffen, zum Teil die gleichen Interpreten, die den Death Doom initiierten, Elemente der Neoklassik, wie Geigenspiel und hellen Frauengesang, auf. Als zentrale Veröffentlichungen gelten zwischen 1991 und 1993 erschienene Alben und EPs von Paradise Lost, My Dying Bride und Anathema, die als „Big Three of British Doom“ oder „Peaceville Three“ eine populäre Phase des modernen Doom Metal mit bestimmten, sowie der schwedischen Gruppe Tiamat.
Funeral Doom wird als ein Crossover-Stil, der Elemente des Death Doom mit Dark Ambient kombiniert, wahrgenommen. Unter der Hinzunahme von sakralen Elementen wie dem Spiel einer Orgel, wird Dynamik meist ausgespart. Besonders tief gestimmte Gitarren und kaum mehr erkennbarer gegrowlter Gesang gelten als Radikalisierung des Death Doom. Die Kombination mit den synthetischen Klangflächen des Ambient oder Dark Ambient unterstützt die angestrebte Atmosphäre. „Trotz dieser Einschränkungen gibt es eine breite klangliche Vielfalt, die von kompromissloser Rohheit bis hin zu atmosphärischen oder sogar majestätischen Ansätzen reicht.“
Parallel zur Entstehung von Gothic Metal und Funeral Doom entstand mit Atmospheric Doom ein Musikstil, der das Gitarrenspiel des Death Doom und seiner Folgeerscheinungen mit weitreichenden Facetten der Neoklassik verband. Interpreten wie Fallen, Omit oder Lethian Dreams nutzen klaren oft ätherisch oder sakral anmutendem Gesang und ausladende ätherische, mittelalterlich oder folkloristisch anmutende Klangflächen. Die Musik mancher Interpreten weist kaum mehr Bezug zum Metal auf. Als wegweisend für diese Spielform erwiesen sich insbesondere The 3rd and the Mortal mit der EP Sorrow und dem Album Tears Laid in Earth. Dabei wird der Terminus Atmospheric Doom uneinheitlich genutzt und umfasst ein breites Spektrum, das sich vielfach mit angrenzenden Stilen überschneidet.
Grunge und Stoner Doom
Zeitnah vermengten in Seattle Bands wie Green River und Soundgarden Doom Metal und Hardcore zu einem eigenständigen, als Grunge bekannten Genre, welches über die inhärente Entwicklung und die nicht auf Doom Metal fixierte Stilausprägung, nicht zu den engen Subgenres des Stils gehört. Auch im Großraum Kalifornien war der Einfluss von The Melvins prägend und führte Interpreten wie Sleep, OM und Earth zwischen 1991 und 1993 zu einer eigenen psychedelisch angelegten Spielweise des Doom Metal, dem Stoner Doom. Dieser liegt oft nahe beim originären Doom Metal, weist dabei allerdings „vermehrt psychedelische Elemente auf.“ Flanger-, Fuzz- sowie Wah-Wah-Effekte in langen hypnotischen Songpassagen werden mit einprägsamen Rhythmusstrukturen und einem basslastigen Klang gepaart.
Stoner Rock und Drone Doom
Aus dem Stoner Doom entstand nicht nur die populäre und erfolgreiche Spielweise des sich zunehmend vom Doom Metal emanzipiertem Stoner Rock. Mit Earth 2 von Earth entwickelte sich ebenso das, mit durch die The-Melvins-Veröffentlichungen Joe Preston und Lysol angeregte und von der Minimal Music beeinflusste Extrem-Doom-Genre Drone Doom, das mit Sunn O))) einen Feuilleton-populären Interpreten hervorbrachte. Songstrukturen des Rock- und Metal-Spektrums sind im Drone Doom häufig obsolet. Zentral im Genre steht der Klang und die physische Erfahrung des gestreckten verzerrten Gitarrenklangs. „Rhythmus, Riffs und Melodieläufe“ werden dazu im Drone Doom zunehmend „aufgelöst und sind nahezu non-existent.“
Black Doom, Dark Metal und Depressive Black Metal
In Europa entwickelte sich zu Beginn der 1990er-Jahre, neben dem britisch geprägtem Gothic Metal, der Black Doom von Bands wie Unholy und Barathrum. Dieser entstand im Zuge der zweiten Welle des Black Metals aus der Verlangsamung des bekannten skandinavischen Stils. Ähnlich dem Death Doom ist Black Doom somit ein Stil der Verlangsamung seines Vorläufer, inklusive des radikalen und oft rohen Klangs der Musik mit Tremoloriffing, Blastbeat und krächzendem Schreigesang bis hin zu gequälten und weinenden Schreien. Als gewichtiger Einfluss auf frühe Vertreter gelten dabei Hellhammer und Celtic Frost.
Als analoge Entwicklung, deren Bezeichnung ein heterogenes Spektrum umreißt, werden der Dark Metal und dessen Folgeerscheinungen der Depressive Black Metal, ausgehend von Bethlehem, Deinonychus und Katatonia, als Bindeglied zwischen Black Doom und Gothic Metal beurteilt. Die Grund-Einflüsse seien ähnlich, mitunter wird Dark Metal als fortlaufende Entwicklung aus dem Black Metal und Gothic Metal betrachtet, ohne dem satanistischen Überbau des Black Metal zu folgen. Im Ergebnis stünde eine „düster oder selbstmörderisch klingende“ Musik, die Doom Metal mit Black Metal zu einem Stil aus Schreigesang und schnellere Passagen mit der Musik des Death- beziehungsweise Black Doom kombiniert. Trotz solcher Einordnungen beschreibt der Begriff ein heterogenes Spektrum, wodurch Dark Metal sich nicht in seiner Gesamtheit dem Doom Metal unterordnen lässt.
Dark Jazz und Jazz-Hybride
Mitunter auf den extremen Spielformen des Doom Metal aufbauend, entstand in Europa vornehmlich von Bohren & der Club of Gore – die Mitte der 1990er-Jahre ihr Debütalbum Gore Motel veröffentlichten – der Ambient- beziehungsweise Lounge-Stil Dark Jazz. Der Stil nahm mit Veröffentlichungen von weiteren Gruppen die in den frühen 2000er-Jahren debütierenden Form an. Dazu zählten Bands wie The Kilimanjaro Darkjazz Ensemble, The Mount Fuji Doomjazz Corporation und Dale Cooper Quartet & the Dictaphones. Dark Jazz gilt als Musikstil, der auf ein Metal-Instrumentarium weitestgehend verzichtet und typische Jazz-Klänge von Piano, Bass, Saxophon und Schlagzeug mit dem düster schwerem Klang des Doom Metal, surrealer Atmosphäre und Ambient verbindet.
Darüber hinaus fanden weitere Kombinationen mit dem Spektrum des Jazz statt. Das Bandprojekt Trevor Dunn’s Trio-Convulsant spielt einen von The Melvins beeinflussten Free Jazz. Die Musik der aus dem Post-Metal-Umfeld stammenden Band Ehnahre wurde als düstere freie Improvisation besprochen. Orthodox beriefen sich mit ihrem von Jazz durchzogenem Traditional Doom besonders auf John Coltrane. Messa nahm indes Elemente des Dark Jazz auf. Eine gemeinsame Ausrichtung weisen diese Gruppen nicht aus. Ein Genrebegriff für solche Verbindungen von Jazz und Doom Metal existiert ebenfalls nicht.
Kultur
Die sich ab der Mitte der 1980er-Jahre ausgestaltende Kultur um den Doom Metal blieb vornehmlich eine Teilströmung der Metal-Szene, nutzte wenn möglich deren Vergemeinschaftungsorte sowie Medien und unterschied sich für Außenstehende kaum erkennbar von dieser in modischen Belangen.
Szeneleben
Als zentrale Anlaufstellen der Vergemeinschaftung der Doom-Metal-Szene gelten auf das Spektrum des Doom Metal spezialisierte Konzerte und Festivals, in welchen sich die Doom-Metal-Anhängerschaft separat von der übergeordneten Metal-Szene treffen kann. Da Doom Metal als „äußerst kleine, aber umso verschworenere Gemeinschaft“ gilt, sind die meisten Veranstaltungen klein und aus dem Kreis der Anhänger gestaltet. Veranstaltungen dienen neben dem Erleben von Musik dem Knüpfen von Kontakten, dem Kauf neuer Musik und Merchandise-Artikel sowie dem Kennenlernen neuer Interpreten. Besonders populär hierzu war das Festival Doom Shall Rise. Weitere, mit der Szene assoziierte europäische Veranstaltungen sind die Dutch Doom Days, das Hammer of Doom und das Festival Stoned From the Underground. Durch die geringe Größe des Genres und der Szene behalten viele Veranstaltungen eine „familiäre Atmosphäre“ und bieten bei geringen Eintrittspreisen oft mehrstündige Konzerterlebnisse mit mehreren Interpreten.
Unterschiede zu anderen Teilen der Metal-Szene liegen in den präferierten Musikgruppen und damit in den schriftbildlichen Verweisen auf die eigenen musikalischen Vorlieben. Zugleich zeichnet sich die Doom-Metal-Szene durch einen ausgeprägten Do-it-yourself-Aktivismus aus, der Parallelen zur Punk-Szene besitzt. „Produkte wie Album-Cover, Poster, Flyer und Merchandise entstehen in Eigenregie mit Hilfe von Siebdruck und vergleichbaren Techniken.“ Auch viele Unternehmen und Organisationen wie Konzert- und Festivalveranstalter, Label und Promotions-Agenturen, die sich dem Doom-Metal-Spektrum widmen, entstanden innerhalb der Szene.
Erscheinungsbild
Wie in der gesamten Metal-Szene ist die schriftbildliche Darstellung individuell präferierter Musik in Form von Kutten oder Band-Shirts vorherrschend. Da solche Kleidungsstücke nicht von der gesamten Szene getragen werden, gelten sie neben langen Haaren als wesentliches Szene-Stereotyp. Neben dem üblichen Auftreten der Metal-Szene, behielt die Doom-Metal-Strömung gelegentlich Aspekte der Hippie-Kultur bei, wie von manchen Anhängern getragene Schlaghosen und Backenbärte. Während die Kutten der Metal- und Rocker-Szene entlehnt sind, sind die lang getragenen Haare aus der Hippie-Kultur verblieben. Leder und Jeans sind damit im Doom Metal wie in der klassischen Metal-Szene typisch, entsprechend dominieren die Farben Schwarz und Blau den Kleidungsstil. Schmuck wird in Form von Silberringen oder Anhängern getragen.
Literatur
Weblinks
www.doom-metal.com: Doom-Metal.com, eine auf das Genre und seine Subgenres ausgerichtete Website.
Einzelnachweise
Stilrichtung des Metal |
127258 | https://de.wikipedia.org/wiki/Zeppelin%20NT | Zeppelin NT | Zeppelin NT (Zeppelin Neue Technologie) ist eine Luftschiff-Baureihe, die seit den 1990er Jahren in Friedrichshafen gefertigt und seit den 2000er Jahren vornehmlich für Tourismuszwecke sowie Forschungs- und Überwachungsaufgaben eingesetzt wird. Die Luftschiffe des NT-Typs gehören nach dem Airlander-Luftschiff zu den größten aktiven Luftschiffen und sind als halbstarre Luftschiffe die einzigen mit einem starren inneren Gerüst.
Luftschiffe dieser Bauart werden von der Zeppelin Luftschifftechnik GmbH & Co. KG (ZLT) konstruiert, die Teil des Zeppelin-Konzerns ist und die Tradition der unter dem Namen von Ferdinand Graf von Zeppelin gegründeten Gesellschaften fortsetzt. Das historische Zeppelinunternehmen konstruierte, baute und betrieb bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts die weltberühmten Zeppelin-Starrluftschiffe.
Geschichte
Entstehungsgeschichte
Die Ära der historischen Zeppeline endete 1940, nachdem die beiden letzten Starrluftschiffe LZ 127 „Graf Zeppelin“ und LZ 130 „Graf Zeppelin II“ auf Befehl Hermann Görings abgewrackt und die letzten verbliebenen Luftschiffhallen auf dem Frankfurter Flughafen gesprengt worden waren.
Im Verlauf der Jahre entstanden immer wieder Anregungen innerhalb des Zeppelin-Konzerns, die Konstruktion und Produktion von Luftschiffen erneut aufzunehmen. Beispielsweise wurde schon in den 1950er Jahren ein neuartiges Luftschiff namens LZ 132 vorgeschlagen, das für den Lastentransport hätte eingesetzt werden sollen. Die Konzepte kamen aber bis in die späten 1980er Jahre nie über anfängliche Überlegungen hinaus.
Erst 1989 wurden detailliertere Studien, welche die Machbarkeit für einen neuen Zeppelin aufzeigen sollten, angefertigt. Eine treibende Person hinter dem Vorhaben war der damalige Friedrichshafener Bürgermeister Bernd Wiedmann, der Kraft seines Amtes auch Aufsichtsratsvorsitzender der ZF Friedrichshafen war. Daneben setzte sich auch der Unternehmer Max Mugler (1931–2013) zentral für die Erstellung der Studien ein, der damals die Geschäftsführung der immer noch existierenden, schon 1908 von Graf Ferdinand gegründeten Luftschiffbau Zeppelin GmbH innehatte. Am Ende des folgenden Jahres zeigte eine Marktstudie ein Absatzpotenzial von damals bis zu 80 Zeppelinen auf. Der Autor dieser Marktstudie, Franz Neubauer, hatte jedoch gleichermaßen unterstrichen, dass eine Verkürzung des geplanten Entwicklungszeitraums zwingend nötig sei. Zudem müssten aus ökonomischen Gründen größere Typen des Luftschiffs entwickelt werden, insbesondere um mit den wesentlich preisgünstigeren Luftschiffen der American Blimp Corporation konkurrieren zu können. Ebenfalls im Jahr 1993 wurde bereits ein Patent auf ein „halbstarres Luftschiff mit Druck gestützter Hülle“ angemeldet. Im September 1993 wurde die Zeppelin Luftschifftechnik GmbH & Co. KG (ZLT) gegründet, welche die Entwicklung, die Konstruktion und den Bau der Luftschiffe übernehmen sollte. Mit der Geschäftsführung wurde auch hier Max Mugler betraut, für die technische Geschäftsführung wurde der Ingenieur Klaus Hagenlocher bestellt. Beide Personen hatten bis dahin noch keine Erfahrungen mit der Entwicklung und dem operativen Betrieb von Luftschiffen. Hauptanteilseigner waren und sind bis heute die Luftschiffbau Zeppelin GmbH und die ZF Friedrichshafen AG. Die anfänglichen Studien, Unternehmensgründung und der Bau einer notwendigen Luftschiffhalle wurden initial mit 60 Millionen DM finanziert.
Entwicklungsphase und Testflugbetrieb
1993–1996
Noch vor der Gründung der Zeppelin Luftschifftechnik und damit weit vor dem Baubeginn erhielt das Unternehmen Kritik aus Fachkreisen. Im April 1993 wandte sich der Chefkonstrukteur der WDL Luftschiffgesellschaft, Richard Gründer, schriftlich an den Förderverein Zeppelintourismus e. V., welcher den Brief an die Geschäftsführung der Zeppelin Luftschifftechnik weiterleitete. Kritisiert wurde von dem Autor des Schreibens vor allem das geplante technische Vorgehen, da die geplante erste Version des Zeppelin NT mit 65 m zu kurz sei. Es würde mit 7250 m³ Traggas zu wenig Volumen für die geplante Tragfähigkeit aufweisen.
Im Jahr 1995 wurde mit dem Bau des ersten Prototyps begonnen. Die technische Entwicklung blieb zu dieser Zeit schon hinter den ursprünglichen Projektplänen zurück. Insbesondere wurden innerhalb des Unternehmens mangelnde technische Kompetenzen entdeckt. Im Juli 1996 wurde daher Wolfgang von Zeppelin als technischer Direktor angeworben, ein entfernter Verwandter von Ferdinand Graf von Zeppelin, der bis dahin vor allem im Förderverein Zeppelintourismus tätig gewesen war. Dennoch verzögerte sich die technische Entwicklung weiterhin, und Max Mugler gab offen zu, dass seine damalige Personalentscheidung mit Wolfgang von Zeppelin eine Fehlbesetzung gewesen sei.
Erst Ende des Jahres 1996 und damit wenige Monate vor dem geplanten Erstflug stellte das Unternehmen Zeppelin Luftschifftechnik fest, dass der statische Auftrieb des Luftschiffs falsch berechnet worden war. Dies wurde von der Presse als grandioser Rechenfehler bezeichnet. Die ursprüngliche Kritik der WDL Luftschiffgesellschaft hatte sich also als wahr herausgestellt. Das Unternehmen vergrößerte nun die Länge des Luftschiffs auf 75 m und sein Volumen auf 8250 m³.
1997
Auf der Aero Luftfahrtmesse im April 1997 wurde der Zeppelin NT innerhalb der Messehalle 10 der Öffentlichkeit erstmals im zusammengebauten Zustand vorgestellt. Zu dieser Zeit verkündete die Zeppelin Luftschifftechnik zudem bereits erste Verkaufserfolge für ihr Luftschiff.
Das erste Serienluftschiff, dessen Verkaufspreis damals innerhalb der Presse mit 11,5 Millionen DM oder 12,5 Millionen DM angegeben wurde, sollte bereits im Jahr 1998 an die neu gegründete schweizerische Skyship Cruise Ltd. verkauft werden. Ende April 1997 gab zudem durch die Zeppelin Luftschifftechnik bekannt, dass bereits Vorverträge mit vier Kunden über den Kauf von fünf Luftschiffen abgeschlossen seien und 15 weitere ernsthafte Kaufanfragen vorlägen. Im August 1997 folgten die Erstbefüllung und sich daran anschließende erste Freiluft- und Bodentests.
Bereits im Sommer 1997 hatte das Luftfahrt-Bundesamt dem Zeppelin-NT eine vorläufige Fluggenehmigung erteilt. Ab dem 8. August lag der Prototyp dann am mobilen Luftschiffmast auf einem Parkplatz auf dem Friedrichshafener Messegelände. Der Jungfernflug des Prototyps fand aber erst am 18. September 1997 statt. Kapitän auf diesem Erstflug war der Amerikaner Scott Danneker, der lediglich von dem Kopiloten Stefan Unzicker und dem Avionik-Ingenieur Jürgen Fecher begleitet wurde. Die Bodenmannschaft umfasste bei diesem Testflug acht Personen. Während ursprünglich um 17 Uhr gestartet werden sollte, entschied die Testmannschaft, erst um 19 Uhr zu starten, um günstigere thermische Bedingungen und zudem ein Abkühlen des Helium-Traggases abzuwarten. Wegen der Einschränkungen der vorläufigen Flugzulassung durch das Luftfahrt-Bundesamt durfte der Zeppelin-NT während des 45-minütigen Flugs nur auf 1000 Fuß (330 Meter) Flughöhe bei einer Maximalgeschwindigkeit von 80 km/h steigen. Der Flug wurde nicht nur als Test-, sondern auch als Überführungsflug durchgeführt. Der Prototyp wurde während des Fluges von seinem bisherigen Standort auf dem Messegelände zu der zwei Kilometer entfernten Luftschiffhalle überführt. Technisch verlief der Testflug ohne Komplikationen. Laut Polizeiangaben verfolgten 30.000 Zuschauer den Start und die Landung des Luftfahrtgeräts auf dem nördlichen Friedrichshafener Messegelände, unter ihnen der Oberbürgermeister Bernd Wiedmann und auch Überlebende der Hindenburg-Katastrophe von 1937, wie der Maschinist Eugen Bentele.
1998
Nach dem Erstflug waren die kommenden Monate weiteren Erprobungen des Prototyps gewidmet. Ende März 1998 ließ das Unternehmen in einer Pressemitteilung verlauten, dass die erste Erprobungsphase erfolgreich abgeschlossen worden sei und der Prototyp rund 100 Stunden Flugerprobungen und Belastungsmanövern in der Luft sowie am Boden absolviert habe. Zudem wurde bekanntgegeben, dass ab Mai 1998 mit dem Bau des ersten Serienluftschiffs, welches in die Schweiz verkauft werden sollte, begonnen werde. Dass der technische Fortschritt weit weniger positiv verlaufen war, als diese PR-Mitteilung suggerierte, zeigte ein Anfang April 1998 in der NZZ erschienener Artikel drastisch auf. In dieser äußerst kritischen Auseinandersetzung mit dem Unternehmen und dem Luftschiffprojekt stellte der Luftfahrtjournalist den zeitlichen Entwicklungsrahmen des Luftschiffprojekts fundamental in Frage. Nach dem Erstflug traten nach Recherchen des Journalisten schon im Spätherbst 1997 technisch-elektronische Probleme mit der Fly-by-wire-Flugsteuerung auf, sodass die Erprobung des Luftschiffs über Wochen hinweg ausgesetzt werden musste. Obgleich der Januar 1998 ein für die Flugerprobung ideales Wetter geboten hätte, fanden selbst in diesem Monat keine Testflüge statt.
Erst Anfang Februar 1998 wurden diese wiederaufgenommen. Darüber hinaus zeigte der Journalist in seinem Artikel, dass Zeppelin in der Pressemitteilung nicht bekanntgegeben habe, wie viele der 100 Erprobungstunden tatsächliche Flugstunden waren. Auf Rückfrage hätte selbst der Pressesprecher des Unternehmens nicht beziffern können, wie viele operative Flugstunden tatsächlich geleistet worden waren. Auch die Zulassung des Luftschiffs sei nach Angaben des Unternehmenssprecher nicht vor August 1999 zu erwarten. Der Luftfahrtjournalist zog auf Basis dieser Recherchen die Schlussfolgerung, dass der Prototyp des Zeppelin NT vermutlich bisher nur rund fünf Prozent der bis zur Zulassung notwendigen 600 Flugstunden geflogen sei, sodass die LBA-Zulassung nicht vor dem Jahr 2000 zu erwarten sei. Nicht nur die Entwicklungskosten, sondern auch die geplante Erprobungszeit werde sich nach Berechnung des Luftfahrtjournalisten damit verdoppeln. Als Gründe für diese Planüberschreitungen zeigte der Artikel fernerhin auf, dass die technische Kompetenz innerhalb des Unternehmens wegen mangelnder Erfahrung der jungen Mannschaft und zwei nicht mit der Luftschiffentwicklung vertrauten Geschäftsführern nicht stark genug ausgeprägt sei. Zum Zeitpunkt der Recherchen waren sogar immer noch fundamental wichtige technische Felder, wie Kundendienst und Reparatur („Product Support“), die Logistik und die Wartung des Luftschiffs nicht ausreichend genug adressiert.
Dass der Luftfahrtjournalist der NZZ mit seiner fundamentalen Kritik am Projekt recht behielt, zeigte ein nur wenige Wochen später, Anfang Mai 1998, erschienener Artikel im Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Erstaunlicherweise berichtete dieser Artikel nämlich über ein Ereignis, welches schon mehr als ein halbes Jahr zurücklag: Am 8. Oktober 1997, während des vierten Testflugs, entkam der Prototyp des Zeppelin NT nur knapp einer Havarie, und der Testpilot Dominique Manière hatte eine Notlandung durchführen müssen. Am Nachmittag war das Luftschiff zu dem Testflug aufgebrochen und hatte neben den Piloten noch einen Techniker sowie den Chefkonstrukteur Hagenlocher an Bord. Nach 30 Minuten Flugzeit, über Immenstaad am Bodensee, tauchten plötzlich erste technische Probleme auf. Der Bug des Schiffes neigte sich nach vorne, wodurch die Manövrierbarkeit stark eingeschränkt wurde. Selbst mit dem Heckpropeller konnte das Luftschiff nicht mehr stabil in der Luft gehalten werden, da die Motoren nur noch im Leerlauf liefen. Das Luftschiff sackte in dieser Zeit von 300 auf nur noch 150 Meter Flughöhe ab. Erst nachdem der Testpilot 400 Liter Ballastwasser über dem Bodensee abgelassen hatte und die Seitenpropeller in Vertikalposition gebracht worden waren und der Chefkonstrukteur Hagenlocher zudem fünf 20-Liter Wasserkanister über Bord geworfen hatte, konnte die bedrohliche Situation in den Griff gebracht werden, und das Luftschiff konnte zum Flughafen zurückkehren. Nach rund zwei Stunden Flugzeit, gegen 16 Uhr und fünf Kilometer vor dem Friedrichshafener Flughafen, blieb das rechte Höhenruder abgesenkt stehen, da der Steuerungsmotor des Höhenruders versagte. Der Testpilot bereitete daraufhin die Bodenmannschaft auf eine Notlandung vor. Kurz vor der Landebahn des Flughafens versagte zudem die Hydraulik des rechten Propellers, sodass dieser in einer vertikalen Position stecken blieb. Der erfahrenere Luftschiffkapitän und Kopilot auf diesem Flug, Dominique Manière, übernahm daraufhin die Steuerung von Scott Danneker. Ihm gelang es mit nur einem funktionsfähigen Propeller am mobilen Luftschiffmast anzudocken. Die beiden Testpiloten analysierten später diesen Vorfall und waren äußerst dankbar, doch die fünf zusätzlichen Wasserkanister an Bord genommen zu haben, obgleich der Chefkonstrukteur Hagenlocher auf diese kurz vor Beginn des Fluges verzichten wollte. Nur durch diesen zusätzlichen Ballast, welcher nach dem abrupten Absacken des Luftschiff über dem Bodensee bei Immenstaad abgeworfen wurde, konnte die Havarie verhindert werden.
Nach diesem Vorfall wurde die Konstruktion des Zeppelin NT über Wochen hinweg grundlegend überarbeitet. Insbesondere mussten innere Verstrebungen und Träger des halbstarren Luftschiffs verstärkt werden. Auch die hydraulischen Systeme wurden leistungsstärker ausgelegt und Ballonette vergrößert. In der Branche sorgte dieser Vorfall der Beinahehavarie teils für Besorgnis. Andererseits machte sich bei manchen Unternehmen eine deutliche Häme und Schadenfreude breit, wie sich anhand interner Unterlagen des Unternehmens CargoLifter retrospektiv feststellen ließ.
Das Unternehmen versuchte Mitte des Jahres 1998 noch in der Außenkommunikation zu vermitteln, dass sich die technischen Probleme nicht in großen Zeitverzögerungen des Projektes niedergeschlagen hätten. Ursprünglich sollte bereits 1998 die Musterzulassung vorliegen, nun wurde bekanntgegeben, dass diese für das zweite Halbjahr 1999 angepeilt sei. Organisationsintern wurde das bisherige Vorgehen jedoch grundsätzlich in Frage gestellt. In der zweiten Jahreshälfte wurde dann die Unternehmensberatung McKinsey & Company beauftragt, die Zeit- und Kostenplanungen, das technische Vorgehen sowie die Marktchancen des Projektes grundlegend zu untersuchen.
1999
Anfang des Jahres 1999 waren dann auch erst 150 der notwendigen 600 Flugerprobungsstunden abgeleistet, sodass bekanntgegeben wurde, dass die Zulassung vermutlich erst gegen Ende des Jahres 2000 erfolgen würde. Auch die Projektkosten waren derweil um 15 Millionen auf dann 50 Millionen DM angestiegen, und der Geschäftsführer der ZLT, Max Mugler, gab offen zu, dass sich das Unternehmen und die Entscheidungsträger „absolut verschätzt“ hätten. Erschwerend kam hinzu, dass Mitte Februar 1999 der Zeppelin NT beim Aushallen aus dem Luftschiffhangar beschädigt wurde. Bei Glatteis sollte der NT aus der Halle gezogen werden, als er durch einen Windstoß erfasst wurde und das Haltefahrzeug wegrutschte. Hierdurch verzögerte sich der Zeitplan des Entwicklungsvorhabens durch notwendige Reparaturarbeiten um weitere zwei Monate.
Anfang 1999 wurde begonnen für das Unternehmen nach einer neuen Führungsmannschaft zu suchen, die, im Gegensatz zu der bisherigen, intensive Erfahrungen in der Luftfahrtindustrie haben sollte. Zum 1. April trat daraufhin der Luftfahrtingenieur Dr. Bernd Sträter, welcher zuvor Managementpositionen in der Luftfahrtindustrie bei Dornier, DASA und Daimler-Benz Aerospace bekleidet hatte, als neuer Geschäftsführer der ZLT an. Sträter sollte daraufhin insbesondere für die nun anstehende Realisierung von Maßnahmen zur Beschleunigung der Musterzulassung verantwortlich werden und den Entwicklungsprozess damit systematisch weiterführen. Neben Sträter, welcher sich auf die technische Geschäftsführung konzentrieren sollte, wurde mit Günter Schwenk ein weiterer neuer Geschäftsführer berufen, der sich insbesondere um den kaufmännischen Aspekt kümmern sollte. Der bisherige Vorsitzende der Geschäftsführung, Max Mugler, wechselte zum Amtsantritt von Bernd Sträter in einen neu geschaffenen Beirat des Unternehmens. Klaus Hagenlocher blieb weiterhin Geschäftsführer. Wolfgang von Zeppelin wurde von seinen Ämtern entbunden.
Zur Aero Messe in Friedrichshafen Mitte April 1999 war der Prototyp des Zeppelin NT nach dem Unfall beim Aushallen noch nicht wieder flugtauglich. Als der Flugbetrieb jedoch Mitte des Jahres wiederaufgenommen wurde, kamen die Testflüge und Erprobungsmaßnahmen auf dem Weg zur Serienzulassung gut voran. Ende Juni 1999 hatte der Prototyp bereits 230 Gesamtflugstunden absolviert, von denen 180 reinen Erprobungszwecken dienten. Zu diesem Zeitpunkt fehlten nur noch 80 weitere Erprobungsstunden, bis dass die Erprobungsflüge gemeinsam mit dem Luftfahrt-Bundesamt beginnen würden, die auf 400 Stunden angesetzt wurden. Von technischer Seite beschäftigten sich die Erprobungsflüge zu diesem Zeitpunkt mit dem Ausfall von Systemen während des Fluges, d. h., der Zeppelin wurde testweise ohne laufende Motoren in der Luft betrieben. Im August des Jahres 1999 wurden erste Testflüge für die Eignung des Luftschiffs zum Passagiertransport durchgeführt. Auf Test-Rundflügen wurden sogar vom Flughafen abgelegene Landeplätze, wie das Schloss Salem, als Außenlandungen angeflogen. Zudem konnte gezeigt werden, dass der Zeppelin NT ganz ohne Bodenmannschaft starten und landen kann. Erreicht waren zu diesem Zeitpunkt bereits 300 Flugstunden. Zudem fanden sogenannten „Ankermast-Wochen“ statt, bei denen der Prototyp ganztägig und über eine Woche hinweg im Freien am mobilen Luftschiffmast befestigt worden war. Die von ZLT entwickelte Sensorik, mit welcher das Ballastmanagementsystem und der Druckausgleich des Luftschiffs bei sich ändernden Wetterbedingungen automatisch durchgeführt wird, konnte damit erstmals auf ihre Tauglichkeit hin untersucht werden.
Anfang Oktober 1999 führte der Prototyp des Zeppelin NT seinen bis dahin längsten Flug durch. Um 9:30 Uhr gestartet, flog das Luftschiff zunächst über den Hochrhein, ließ kurz hinter der Schweizer Grenze gar einen Postsack mit 3000 Postkarten herab fallen, wendete über der Schweizer Hauptstadt Bern und kam nach 680 geflogenen Kilometern um 18 Uhr wieder in Friedrichshafen an. Die beförderte Luftpost in Form der Postkarten war hierbei mit einem Bild des historischen Zeppelin-Luftschiffes LZ 126 bestückt, das im Oktober 1924 als erstes Zeppelin-Luftschiff den Atlantik überquert hatte.
Mitte November 1999 hatte der Prototyp auf 124 Flügen bereits 400 Flugstunden abgeleistet.
2000
Während der Wintersaison 1999/2000 setzte der Prototyp des Zeppelin NT über mehrere Wochen den Testflugbetrieb aus, da eine intensive Jahresinspektion anstand und Verschleißteile inspiziert wurden. Bekanntgegeben wurde im Frühjahr 2000, dass der Heck-Antrieb technische Modifikationen erhalten hatte und die Wartungsfreundlichkeit der Antriebseinheiten verbessert wurde. Zum Jahreswechsel wurde darüber hinaus die Montage der Trägerstruktur des zweiten zu bauenden Luftschiffs abgeschlossen, welches zu dem Zeitpunkt noch für den Kunden Skyship Cruise Ltd. vorgesehen war. Auch die Hülle für das zweite mit der Seriennummer „S/N 02“ bezeichnete Luftschiff wurde im Februar 2000 bereits im Hangar erstmals gefüllt und auf ihre Dichtigkeit hin überprüft.
Nachdem der Prototyp seinen Flugbetrieb wiederaufgenommen hatte, waren Mitte des Jahres 2000 500 Flugstunden absolviert.
Vom 30. Juni bis zum 8. Juli 2000 fand in Friedrichshafen die lange vorbereitete und von einer breiten Öffentlichkeit begleitete „Zeppelin-Jubiläumswoche“ statt, welche das hundertjährige Jubiläum des ersten Aufstiegs von Graf Ferdinand von Zeppelin mit seinem Luftschiff Zeppelin 1 feierte. In die Feierlichkeiten wurde auch der Prototyp des Zeppelin NT umfangreich eingebunden. Am 2. Juli 2000 um 14 Uhr wurde der erste Prototyp durch Elisabeth Veil, die damals 80-jährige Enkelin Graf Zeppelins, im Luftschiffhangar auf den Namen „D-LZFN Friedrichshafen“ getauft.
Am späteren Nachmittag fand über dem Bodensee eine Luftschiffparade statt, an welcher neben dem Zeppelin NT auch das SkyShip 600 der Cargolifter AG und zwei weitere Blimps des Unternehmens The Lightship Group teilnahmen.
Rasch nach der Zeppelin-Jubiläumswoche startete der Zeppelin NT zu einer mehrwöchigen Testflugtour nach Nord- und Ostdeutschland. Vom 13. Juli bis zum 1. August 2000 legte der Prototyp während weiterer 75 Flugstunden über 3600 Kilometer zurück. Neben dem Flughafen Bonn-Hangelar, wurde der Nürburgring und auch das Gelände der Expo 2000 in Hannover überflogen. Ein wesentlicher Zielort war während dieser Testflugtour Nordholz bei Cuxhaven, wo das Luftschiff unter speziellen Wind- und Luftdruckverhältnissen getestet wurde. Insbesondere wurden hier Starts und Landungen sowie die Manövrierfähigkeit bei starkem Wind bis 25 Knoten durchgeführt. Später überflog der Zeppelin NT noch Berlin und Magdeburg, wo die Lärmemissionen des Luftschiffs getestet wurden. Am Ende dieser Testflugtour hatte der Prototyp rund 630 Flugstunden absolviert.
Gegen Ende des Jahres 2000, im August, ging der technische „Gründungsvater“ des Zeppelin NTs, Klaus Hagenlocher, in den Ruhestand, der mit dem Projekt seit dessen Anbeginn im Jahr 1989 verbunden war. Obgleich zwar die technische Entwicklung gute Fortschritte machte und die Zulassung kurz vor Abschluss stand, musste die ZLT im Herbst 2000 ökonomisch unerfreuliche Neuigkeiten herausgeben. Im Oktober wurde so bekanntgegeben, dass keiner der bisherigen fünf Vorvertragskunden, welche Interesse an dem Kauf eines NTs geäußert hatten, ein gesichertes Finanzierungskonzept für den Kauf vorlegen konnten. Die ZLT entschied daher, zusätzlich als eine eigene Zeppelin-Betreibergesellschaft aufzutreten, wofür die Deutsche Zeppelin-Reederei (DZR) gegründet werden sollte und dann ab Mai 2001 mit dem Betrieb des ersten Serienluftschiffs beginnen solle.
2001
Zu Beginn des Jahres 2001 gab es wenige Neuigkeiten über die technische Flugerprobung des Zeppelin NT und sonstige mit dem Unternehmen verbundene Ereignisse. Im Februar stattete der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder dem Unternehmen ZF Friedrichshafen einen Besuch ab und besuchte dabei auch die ZLT. Einen Flug mit dem Zeppelin NT konnte er jedoch durch böiges Wetter und Schneestürme nicht erleben.
Am 26. April 2001 erhielt der Zeppelin NT nach knapp 1000 Flugstunden und 3600 Flugkilometern im Rahmen der Luftfahrtmesse „AERO 2001“ in Friedrichshafen die Musterzulassung vom Luftfahrt-Bundesamt. Gleichzeitig wurde die Zeppelin Luftschifftechnik GmbH als Luftfahrt-Herstellbetrieb zertifiziert. Die Entwicklungsphase und der Testflugbetrieb waren zu dem Zeitpunkt damit abgeschlossen. Das Unternehmen hatte bis zu diesem Zeitpunkt rund 75 Millionen DM in Entwicklung, Konstruktion und den Unternehmensaufbau investiert. Um mit dem Passagiertransport beginnen zu können, fehlte der ZLT zu diesem Zeitpunkt lediglich die Anerkennung als Luftfahrtbetrieb. Obgleich zu diesem Zeitpunkt der Verkauf der Flugtickets noch nicht offiziell begonnen hatte, waren schon über 5000 Interessenten für einen Flug auf einer Warteliste registriert.
2020
Im März 2020 unternahm ein neuer Zeppelin NT seinen Erstflug. Er hat 75 Meter Länge, Platz für 16 Passagiere und Heckantrieb mit einem 200 PS starken Motor und zwei Propellern. Elektromotoren bewegen die Ruder am Leitwerk entsprechend der Stellung des Steuer-Joysticks durch den Piloten. Das Innengerüst besteht aus Karbon-Strängen, die Hülle aus dreischichtigem Laminat.
Meilensteine des Flugbetriebs und weitere Ereignisse seit der Indienststellung
Das erste Serienluftschiff (SN 02) wurde am 10. August 2001 auf den Namen D-LZZR „Bodensee“ getauft. Bereits in den 1920er Jahren trug der Zeppelin LZ 120 diesen Namen. Der Passagierflugbetrieb wurde am 15. August aufgenommen, nachdem das Luftfahrt-Bundesamt der Deutschen Zeppelin-Reederei die Betriebsgenehmigung für den offiziellen Flugbetrieb erteilt hatte. Der Prototyp des Zeppelin NT, „Friedrichshafen“, diente weiterhin vor allem der Pilotenausbildung, dem Einsatz auf Sonderflügen und als „Vorführmodell“. Touristen wurden mit diesem nicht befördert, da die „Friedrichshafen“ nicht für Passagierflüge zugelassen ist.
Wie auch bei den historischen Zeppelinen, wurden mit dem Zeppelin NT Postflüge durchgeführt, deren Sonderstempel bei Philatelisten beliebt sind. Beispielsweise führte ein solcher Flug am 1. August 2001 nach Luzern.
Anfang Mai 2002 landete ein NT mit Passagieren in Konstanz. Erstmals in der Geschichte landete damit ein Luftschiff in der Geburtsstadt von Ferdinand Graf von Zeppelin. Ende August 2002 wurde dann der 10.000 Fluggast an Bord eines Zeppelin NT befördert.
Am 9. Februar 2003 startete das zweite Serienluftschiff, mit dem Kennzeichen D-LZZF „Baden-Württemberg“, (SN 03) zu seinem Erstflug. Wenige Wochen vorher hatte das Unternehmen bereits bekanntgegeben, dass nach Abschluss der Konstruktion dieses dritten Zeppelins ein Baustopp verhängt würde. Ein weiterer, dann vierter, Zeppelin solle erst auf Auftrag eines externen Kunden gebaut werden. Die ZLT verfügte zu diesem Zeitpunkt über rund 100 Mitarbeiter, die von diesem Produktionsstopp vorerst nicht betroffen seien. Mit dem ZF-Konzern wurde dahin eine Finanzierung für drei weitere Jahre sichergestellt. Die „Baden-Württemberg“ ist weitestgehend baugleich mit der „Friedrichshafen“ und der „Bodensee“. Statt zwölf kann die Passagiergondel nun jedoch maximal 13 Fluggäste aufnehmen. Anstatt des zusätzlichen dreizehnten Sitzes kann jedoch auch eine Bordtoilette eingebaut werden.
Im Mai des Jahres 2003 erhielt der Zeppelin NT die Zulassung für Nachtflüge unter Sichtflugregelung (NVFR), sodass fortan auch Flüge zum Sonnenuntergang und Nachtflüge angeboten wurden.
Im Mai 2004 startete die D-LZFN „Friedrichshafen“ im Auftrag eines großen deutschen Automobilkonzerns zu einer 10.000 Kilometer langen Osteuropa-Werbetour. Sie führte auf 19 Etappen unter anderem nach Prag und daran anschließend über südeuropäische Staaten bis nach Istanbul und kehrte über eine nördliche Route über Odessa und Kiew Ende Juli nach Friedrichshafen zurück.
Ebenfalls im Juli 2004 wurde die D-LZFN „Friedrichshafen“ durch eine Windhose am Fahrwerk beschädigt. Am späten Nachmittag flog das Luftschiff über den Bodensee nach Zürich und sollte dort auf einer Freifläche in der Nähe des Zürichsees am mobilen Ankermast andocken. Nach dem Landemanöver zogen starke Winde mit Turbulenzen auf, durch die das Luftschiff mit dem Heck mehrmals in die Höhe gerissen wurde und mehrmals auf dem Boden aufprallte. Nach Abklingen der schlechten Wetterbedingungen und einer ersten Inspektion wurde der Zeppelin zurück in die Werft geflogen, woraufhin in den kommenden Tagen das beschädigte Fahrwerk ausgetauscht werden musste.
Ende Oktober 2004 legte der amerikanische Milliardär und Flugpionier Steve Fossett erfolgreich die Prüfung für die Zeppelin NT Pilotenlizenz ab. Schon in den Wochen davor war das Privatflugzeug Fossetts mehrfach am Friedrichshafener Flughafen gesehen worden. Da Fossett durch spektakuläre Rekorde breite Bekanntheit hatte, nährten diese Besuche Spekulationen, was genau dieser mit dem Zeppelin NT vorhabe.
Am 27. Oktober 2004 stellte Fossett dann mit dem Schiff SN01 „Friedrichshafen“ einen neuen Geschwindigkeitsweltrekord für Luftschiffe auf. Er durchfuhr eine 1000-m-Messstrecke in beiden Richtungen mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 111,8 km/h. Der Rekord wurde später von der Fédération Aéronautique Internationale (FAI) mit 115 km/h offiziell anerkannt. Der bisherige Rekord war am 19. Januar 2000 durch zwei Briten, Jim Dexter und Mike Kendrick, aufgestellt worden, welche mit einem Lightship A-60 93 km/h schnell geflogen waren.
Im Frühjahr 2005 gab ZLT bekannt, einen Generationswechsel der Geschäftsführung vorzunehmen. Günter Schwenk war bereits im Jahr 2004 aus dem Unternehmen ausgeschieden. Im Sommer 2005 sollte dann Thomas Brandt als neuer Geschäftsführer ernannt werden, der bis dahin noch Geschäftsführer bei dem insolventen Flugzeugbauer Fairchild-Dornier war. Bernd Sträter sollte Brandt noch einige Monate einarbeiten, bevor auch dieser zum 30. Juni aus der Geschäftsführung ausschied und in den Ruhestand eintrat, der ZLT jedoch noch einige Jahre als Berater zur Seite stand.
Im Juni 2005 war ein NT auf der Luftfahrtmesse in Le Bourget stationiert, wo dieser auch Rundflüge anbot. An einem dieser Rundflüge nahm David Scott, Astronaut und Kommandant von Apollo 15 teil, welcher im Jahr 1971 auf dem Mond gelandet war. Dieser bezeichnete seinen Rundflug mit dem Zeppelin daraufhin mit den Worten: Just the walk on the moon was nicer.
Im Jahr 2007 war ein Zeppelin NT Teil des Kunstprojekts Insel Mainau: Szczesny 2007: Ein Traum vom irdischen Paradies, bei welchem der Künstler Stefan Szczesny die Bodensee-Insel zum künstlerischen Gesamtkunstwerk umgestaltete. Teil des Kunstwerkes war auch ein Zeppelin NT, welches mit zwei Frauenakten nach Szczesnys Vorgaben beklebt worden war.
Ein Zeppelin NT wurde im Jahr 2008 zu den Feierlichkeiten des hundertsten Jahrestags des Unglücks von Echterdingen eingesetzt. Bei diesem historischen Ereignis musste Ferdinand Graf von Zeppelin am 5. August 1908 in Echterdingen bei Stuttgart wegen technischen Problemen mit seinem Luftschiff LZ 4 notlanden, wobei sich dieses nach einigen Stunden losriss, es havarierte und durch Feuer vollkommen zerstört wurde. Durch eine Welle der Hilfsbereitschaft Tausender Schaulustiger entstand eine hohe Solidarität mit dem Grafen, welche in der Zeppelinspende des deutschen Volkes mündete. In Gedenken an dieses Ereignis flog ein NT am letzten Juliwochenende über der Unglücksstelle von Echterdingen.
Ebenfalls im Jahr 2008, im Mai, sprang der Extremsportler Mike Küng mit einem Gleitschirm von einem fliegenden Zeppelin NT ab. Bekanntheit hatte Küng bereits zuvor erlangt, als er innerhalb der ehemaligen Luftschiffhalle der Cargolifter AG abgesprungen war.
Im Sommer 2008 wurde ein NT erstmals für sechs Wochen über der englischen Hauptstadt London eingesetzt. Es handelte sich hierbei um das vierte produzierte Luftschiff (SN 04), welches Station in England machte, bevor dieses auf einem Dockschiff nach Amerika überführt wurde. Ebenfalls im Sommer 2008 begann die Ausbildung der Engländerin Katharine Board zur Zeppelin-Pilotin, welche nach erfolgreicher Flugprüfung die erste weibliche Zeppelin-Pilotin in der Luftfahrtgeschichte wurde.
Im März 2010 absolvierte der Zeppelin NT erstmals eine 24-Stunden-Fahrt. Bis dato verfügte das Luftschiff über ein Tankvolumen von 1100 Litern, was die Reichweite auf nur 900 Kilometer beschränkte. Um eine Reichweiten- und Flugzeitverlängerung durchführen zu können, wurde der Zeppelin NT mit einem sogenannten „Range Extender Kit“ ausgestattet. Hierbei werden innerhalb der Luftschiffgondel zwei Zusatztanks mit jeweils 700 l zusätzlichem Treibstoffvolumen installiert. Der erste Test mit diesem Zusatztanksystem führte über München, Nürnberg, Frankfurt zurück nach Friedrichshafen. Innerhalb von 24 Stunden und 40 Minuten wurden so 1450 Kilometer zurückgelegt. Auf Basis dieses neuen Tanksystems können zukünftig gar Missionen durchgeführt werden, welche eine Einsatzdauer bis zu 35 Stunden umfassen können.
Einsatz und Verbleib der gebauten Luftschiffe
Verkauf der „Bodensee“ nach Japan und Rückkehr nach Friedrichshafen
Am 2. März 2004 wurde erstmals ein Zeppelin NT verkauft. Käufer war das japanische Unternehmen Nippon Airship Corporation, ein Tochterunternehmen der Reederei Nippon Yusen Kaisha. Die Nippon Airship Corporation verfügte zum Zeitpunkt des Kaufs über 20 Mitarbeiter und hatte bis dahin in Japan vor allem Blimps des Typs SkyShip 600 eingesetzt. Nach dem Verkauf begann die Ausbildung der zukünftigen Piloten, nachdem die Deutsche Zeppelin-Reederei als erstes Unternehmen weltweit die Zulassung als Luftschiffflugschule erhalten hatte. Die Schulung der ersten drei Japanischen Mechaniker und drei Luftschiffpiloten war Anfang März 2004 abgeschlossen. Die Piloten hatten dabei 77 Flugstunden und 140 Starts und Landungen absolviert. Deren Fähigkeiten und Kenntnisse wurden abschließend sowohl von Vertretern der japanischen Zulassungsbehörde als auch vom deutschen Luftfahrt-Bundesamt geprüft. SN 02 D-LZZR „Bodensee“ wurde am 12. April 2004 an den Käufer übergeben. Dabei waren mehr als 300 Gäste anwesend. Der Schiffsname wurde von „Bodensee“ in JA101Z „Yokoso! Japan“ geändert, wobei Yokoso mit „Gastfreundschaft“ übersetzt werden kann. Der Verkaufspreis für das gebrauchte Luftschiff wurde der Öffentlichkeit zunächst nicht bekannt gegeben, später wurde ein Kaufpreis von knapp sieben Millionen Euro in der Presse genannt, wobei die Kosten für die Überführung vom Käufer zu tragen gewesen seien.
Ursprünglich war vorgesehen, die 15.000 Kilometer lange Überführung von Friedrichshafen nach Japan auf dem Luftweg durchzuführen. Der Zeppelin NT sollte dabei zunächst über verschiedenen europäischen Metropolen für die im Jahr 2005 in Japan stattfindende Weltausstellung werben und Ende Juni für finale Wartungsarbeiten nach Friedrichshafen zurückkehren. Anschließend sollte der NT der Weltfahrt-Route folgen, die das Luftschiff LZ 127 „Graf Zeppelin“ bereits 1929 während seiner Weltumrundung genommen hatte. Eingeplant waren ursprünglich 45 Zwischenstopps auf dem Weg nach Japan, wobei der Zeppelin NT am 19. August nahe Tokio landen sollte – auf den Tag genau 75 Jahre nachdem das Luftschiff LZ 127 „Graf Zeppelin“ dort 1929 vor hunderttausend Japanern landete.
Der NT startete schließlich am 4. Juli 2004 nach zweitägiger Verspätung infolge schlechten Wetters zur Überführung nach Japan. Schon Ende Juli war der Zeitplan jedoch vollkommen hinfällig geworden, indem das Luftschiff längst Moskau hätte überfliegen müssen, jedoch zu diesem Zeitpunkt wegen fehlenden Überflugsrechten für Russland längerfristig in Helsinki am Boden blieb. Zwar erhielt das Luftschiff nach fast fünfwöchiger Wartezeit in Nordeuropa eine Überfluggenehmigung. Jedoch stand der Einbruch des sibirischen Winters bevor, was den japanischen Besitzern als Flugbedingung zu unsicher erschien, sodass entschieden wurde, das Luftschiff zurück nach Friedrichshafen fliegen zu lassen. Am 19. September kehrte der NT nach Friedrichshafen zurück.
Mitte Oktober 2004 wurden durch die ZLT und den japanischen Käufer die Pläne für den zweiten Versuch der Überführung verkündet. Statt auf dem Flugweg wurde nun ein Transport per Hochseeschiff angekündigt. Am 11. November verließ das Luftschiff dann erneut die Werft in Friedrichshafen, um über Frankreich nach Süditalien zu fliegen. Der Zeppelin NT wurde am 7. Dezember im italienischen Containerhafen Gioia Tauro auf ein Dockschiff verladen, welches zwei Tage später in Richtung Japan aufbrach. Um auf das Transportschiff zu gelangen, wurde der Zeppelin an seinem Mastfahrzeug angekoppelt, auf das Schiff gezogen und dort mit diesem zusammen vertäut. Zuvor waren die Leitwerke und die seitlichen Luftschrauben abmontiert worden. Auf dem Schiff wurden auch die seitlichen Triebwerke des NT demontiert. Um das Luftschiff vor dem Seewetter, insbesondere dem Wind und der salzhaltigen Luft, zu schützen, wurden links und rechts vom Auftriebskörper vierstöckige Containerwände aufgestapelt. Die innere Tragstruktur wurde über Streben mit dem Schiff verbunden. Zwei Mechaniker der ZLT begleiteten den mehrwöchigen Transport an Bord des Frachtschiffes.
Das Schiff traf am 8. Januar 2005 in der japanischen Hafenstadt Kōbe ein. Am 14. Januar stieg der NT nach der Komplettierung zu einem Werkstattflug auf und wurde noch am selben Tag in die 240 Kilometer entfernte Stadt Nagoya überführt, in welcher das Luftschiff LZ 127 auf der Weltfahrt im Jahr 1930 ebenfalls bereits Station gemacht hatte. Gemäß den in Japan im Januar herrschenden Winterbedingungen wurden zum Zeitpunkt des Überführungsflug durch Meteorologen Schneefälle angesagt. Als das Luftschiff in Nagoya angekommen war und am Ankermast lag, standen permanent Tanks mit angewärmten Wasser bereit, um das Luftschiff bei einsetzendem Schneefall von diesem zu befreien.
Nachdem der NT einige Tage später von Nagoya nach Tokio überführt worden war, wurde das Luftschiff dort zunächst für Werbezwecke für den Hauptaktionär der Nippon Airship Corporation, der Reederei NYK-Lines, eingesetzt. Mitte März hatte das Luftschiff in Japan bereits 100 Flugstunden absolviert. Ab Mai 2005 wurden dann auch Werbeflüge und Flüge mit geladenen Gästen der Expo 2005 in der Präfektur Aichi durchgeführt. Obgleich der NT in Deutschland Ein-Mann-Betrieb zugelassen ist, wurde durch die japanische Luftfahrtbehörde festgelegt, dass der NT in Japan immer von zwei Piloten geflogen werden muss.
Erst am 29. Juni 2007 wurde für den NT die Genehmigung für den kommerziellen Passagierbetrieb in Japan erteilt. Ab Ende des Jahres 2007 wurden von der NAC erste Passagier-Rundflüge über Tokio angeboten.
Unter anderem die geringen Passagierzahlen auf Grund der abgelegenen Lage des Landeplatzes eine Stunde außerhalb Tokios sowie die zuletzt fehlenden Werbepartner in der weltweiten Wirtschaftskrise veranlassten den zuletzt in Zahlungsschwierigkeiten geratenen Betreiber im Mai 2010 zur Einstellung des Flugbetriebs. In Japan wurde das Luftschiff schließlich durch ZLT-Techniker demontiert und nach Aussage von Thomas Brandt, dem ZLT-Geschäftsführer, „zu einem Bruchteil des Preises“ zurückgekauft.
Im zweiten Halbjahr 2010 wurde der NT in Frachtcontainern nach Friedrichshafen zurückgebracht. Anfang des Jahres 2011 wurden die Antriebseinheiten und Heliumventile überholt sowie die Passagiergondel aufgearbeitet. Im Verlauf des Jahres und in der ersten Bauphase wurde die Innenstruktur neu zusammengesetzt. Später wurden in das Luftschiff auch jene technische Verbesserungen eingebaut, welche in die Produktion des Luftschiffs mit der Seriennummer SN04 eingeflossen sind. Das Aufziehen der neuen Luftschiffhülle, welche aus Amerika bezogen wurde, begann im Dezember 2011 und dauerte ungefähr vier Wochen. Ende Februar 2012 waren die drei Leitwerke sowie die seitlichen Triebwerke installiert, worauf hin die Ingenieure an der elektrischen Verkabelung sowie an der Montage des Hecktriebwerks arbeiteten.
Am 2. Mai 2012 erfolgte der erste Werkstattflug des Zeppelin NT unter seinem alten Taufnamen „Bodensee“. Im Verlauf des Jahres wurde dieser mit verschiedensten Messinstrumenten bestückt und seither hauptsächlich für wissenschaftliche Einsätze verwendet. Da es sich bei dem „Bodensee“-Luftschiff nicht um einen Neubau, sondern um einen Wiederaufbau des Luftschiffs handelt, trägt das Luftschiff seit Abschluss der Rekonstruktionsphase die Seriennummer SN02R, wobei das „R“ für „Rebuild“ steht.
Vom 15. April 2013 an war der Zeppelin NT Bodensee für 11 Wochen für das Forschungszentrum Jülich von Friedrichshafen über Mainz-Finthen, Hildesheim, Lübeck, Schweden bis nach Jämijärvi in Finnland und wieder zurück nach Friedrichshafen unterwegs. Er sammelte in einer Luftschicht von 100 bis 1000 Meter Höhe Messdaten photochemischer Prozesse für das EU-Klimaforschungsprojekt Pegasos.
Diamantensuche in Afrika – letzter Einsatz der „Friedrichshafen“
Im Juli 2005 wurde durch die ZLT ein Vertragsabschluss mit Diamanten-Konzern De Beers bekanntgegeben. Bereits am 1. August 2005 brach der Zeppelin „Friedrichshafen“ in den Süden Afrikas auf, um für den Konzern De Beers geologische Formationen in Südafrika, Namibia und Botswana nach bisher unbekannten Rohstoffen und Diamanten zu überprüfen. De Beers hatte dafür mit der Zeppelin Luftschifftechnik GmbH (ZLT) einen Zweijahresvertrag für rund 5,5 Millionen Euro unterschrieben. Nachdem die Friedrichshafen mit Messgeräten bestückt worden war, welche anhand einer Messung der Anziehungskraft und des Magnetfelds geologischen Formationen unter der Erdoberfläche bestimmen können und damit Rückschlüsse auf Diamantenvorkommen zulassen, wurden die neu entwickelten Verfahren an Salzstöcken in Niedersachsen getestet. Um die Messgeräte überhaupt aufnehmen zu können, wurde das Luftschiff um rund 700 kg erleichtert, indem Teile der Kabine und auch zwei Ballonets ausgebaut wurden.
De Beers versprach sich durch die Arbeit mit dem Zeppelin NT insbesondere eine bessere Qualität der Daten, die durch die besonderen Eigenschaften von Luftschiffen ermöglicht wird. Diese können länger und vor allem vibrationsärmer in geringer Höhe (unter 100 m) schweben und sind dabei besser manövrierfähig als Flugzeuge, Hubschrauber oder Ballons. Bis dahin hatte der Konzern mit Cessna Flugzeugen und Hubschraubern die Gelände nach Edelsteinvorkommen abgesucht.
Die ZLT betrat durch diesen Einsatz ein neues Geschäftsfeld in der Erdbeobachtung. Schon vor dem Beginn des Einsatzes in Afrika wurde innerhalb der ZLT überlegt, das Luftschiff nach Ende der Vertragslaufzeit mit De Beers in Afrika zu belassen und dort für Rundflüge einzusetzen.
Die Reise nach Afrika verlief ähnlich wie die des Zeppelins, der nach Japan verkauft worden war. Das mit dem Schriftzug „Diamonds for Development in Africa“ versehene Luftschiff hob am 1. August 2005 in Friedrichshafen zu einem Überführungsflug nach Amsterdam ab. Dort traf es nach einem Tankstopp in Bonn am selben Tag ein und wurde auf das 160 m lange Dockschiff „Enterprise“ mit Ziel Südafrika verladen. Nach einer 22-tägigen Schiffsfahrt traf das Luftschiff in Kapstadt ein, konnte jedoch wegen des schlechten Wetters erst am 31. August entladen werden. Nach dem Zusammenbau wurde ein 50-minütiger Testflug durchgeführt. Anschließend wurde der Zeppelin mit den Messinstrumenten ausgestattet und begann seine Arbeit in Jwaneng, einer Minenstadt im Süden Botswanas. Die Erkundung erfolgte vor allem nachts, um den hohen Temperaturen und der starken Sonneneinstrahlung tagsüber zu entgehen. Nach Ablauf der ersten Einsatzmonate war De Beers hochzufrieden mit den Messergebnissen, welche qualitativ 200 Prozent besser als bisherige Daten gewesen seien.
Zu Beginn des Jahres 2006 war durch De Beers noch nicht entschieden, ob der Ende 2007 auslaufende Vertrag um die vorhandene Vertragsoption eines weiteren Jahres verlängert würde. Unternehmensvertreter gaben jedoch an, dass die mit dem Zeppelin gewonnenen Messdaten mittlerweile eine 7-fach bessere Qualität als vorherige Daten liefern würden. Durch den ZLT Geschäftsführer Brandt wurde jedoch zu diesem Zeitpunkt aus wirtschaftlichen Gründen kategorisch ausgeschlossen, dass der Zeppelin bei einem Vertragsende mit De Beers Ende 2007 zurück nach Deutschland überführt würde. Der in Afrika stationierte NT war zu diesem Zeitpunkt schon relativ nah an der maximalen Betriebsdauer von 12.000 Flugstunden angekommen, sodass der NT Tourismusflüge durchführen solle und am Ende seiner Einsatzzeit vor Ort demontiert würde. Mitte des Jahres 2006 war der NT in der Region der Kalahari-Wüste stationiert. Der Zeppelin hatte bis dahin bereits 800 Flugstunden in Afrika abgeleistet, wobei die Einsätze nach wie vor überwiegend nachts in Achtstundeneinsätzen an sieben Tagen in der Woche stattfanden. Da die Temperatur in der Wüste in der Wintersaison im südlichen Afrika auf bis zu null Grad Celsius sinken kann, wurde in der Kabine des NT eine Heizung installiert.
Im Januar 2007 flog der Zeppelin nach Gaborone/Botswana, um sich in einer eigens errichteten Halle der fälligen Jahresinspektion zu unterziehen. Bis dato war der NT 15 Monate fast ununterbrochen im Einsatz. Während der Wartungsarbeiten mussten an den Tragstrukturen des NT insbesondere zwei Träger ausgetauscht werden. Gleichzeitig wurde bekannt, dass De Beers Interesse an dem im Bau befindlichen vierten NT bekundete, um das Luftschiff für Diamantensucheinsätze in Kanada einzusetzen. Ähnlich wie die „Friedrichshafen“ wollte der Konzern das vierte Schiff jedoch erneut nur für drei Jahre leasen, anstatt das Schiff käuflich zu erwerben. Innerhalb der ZLT wurde diese Anfrage eher kritisch beurteilt, da durch den Abschluss eines Leasingvertrages die notwendigen liquiden Mittel für die Konstruktion des fünften Luftschiffs fehlen würden.
Am 20. September 2007 wurde der Zeppelin in Sekoma/Botswana mittags am Ankermast im geparkten Zustand durch eine Windhose schwer beschädigt – genau zehn Jahre und zwei Tage nach dem Erstflug dieses ersten Zeppelin NT, und zwei Monate vor Ende des Vertrages mit De Beers. Die Windhose hatte das Schiff über den Ankermast gehoben und anschließend das Heck auf den Boden geschleudert. Das vorschriftsmäßig an Bord befindliche Mitglied der Mannschaft kam mit leichten Verletzungen davon. Nachdem ein Expertenteam die Beschädigungen am Zeppelin NT „Friedrichshafen“ begutachtet und für irreparabel befunden hatte, wurde die Demontage des Zeppelins beschlossen. Einige nicht beschädigte Teile wurden per Schiff zurück nach Deutschland transportiert und später als Ersatzteile verwendet. Bis zu dem Unfall hatte das Luftschiff insgesamt 3.306 Flugstunden absolviert.
Verkauf eines Luftschiffs in die USA und Rückkehr nach Friedrichshafen
Am 23. Januar 2006 gab die ZLT bekannt, dass die Baufreigabe für ein viertes Luftschiff vom Typ NT 07 erteilt worden sei, welches ab Ende des Jahres produziert werden solle. Den Ausschlag für die Bauentscheidung gegeben hatte zu diesem Zeitpunkt eine hohe Nachfrage nach Zeppelin-Rundflügen über der Bodenseeregion, welche mit nur noch einem von der DZR betriebenen Luftschiff nicht mehr bedient werden konnten. Bekanntgegeben wurde durch die ZLT auch, dass durch technische Weiterentwicklungen die maximale Lebensdauer des NT mehr als verdoppelt werden konnte. Die ersten drei Modelle waren ursprünglich für maximal 12.000 Betriebsstunden ausgelegt. Der neue vierte Typ wurde dann für maximal 25.000 Betriebsstunden ausgelegt. Ursprünglich vorgesehen war, diesen vierten Zeppelin ab der Flugsaison 2008 von der hauseigenen DZR für Flüge über dem Bodensee einzusetzen.
Entgegen diesen ersten Planungen wurde der vierte Zeppelin im Juni 2007 von dem neu gegründeten US-amerikanischen Unternehmen Airship Ventures, Inc. gegen Zahlung einer Anzahlung reserviert. Als Kaufpreis für das Luftschiff, die erste Heliumfüllung, das Mastfahrzeug sowie die Pilotenausbildung wurden 10 Millionen Euro genannt. Nachdem Airship Ventures in der Folge sechs Investoren gewinnen konnte, welche genügend Eigenkapital zur Unternehmensgründung zur Verfügung stellten, wurde der Kaufvertrag Anfang Mai 2008 von der ZLT und Airship Ventures unterzeichnet.
Von produktionstechnischer Seite waren bereits Mitte April 2008 die Motoren an das Luftschiff montiert. Die erste Füllung des Luftschiffs mit Helium fand Mitte Mai statt. Der Jungfernflug dieses vierten Schiffs fand dann am 21. Mai 2008 mit dem Kennzeichen D-LZNT statt. Nach rund 30 Testflugstunden erfolgte wenig später auch die Musterzulassung durch die US-Luftfahrtbehörde (FAA).
Die Überführung des Luftschiffes nach Amerika erfolgte, wie schon bei der „Bodensee“ nach Japan und der „Friedrichshafen“ nach Afrika, auf einem sogenannten Dockschiff. Zunächst flog SN 04 nach England und wurde für sechs Wochen über London für Werbezwecke und zu Tourismusrundfahrten eingesetzt. Nach der Verschiffung auf der Combi Dock I in Hamburg traf der Zeppelin nach einer 15-tägigen Seereise am 14. Oktober 2008 in Beaumont (Texas) in USA ein, von wo aus er später nach Kalifornien überführt wurde.
Bis November 2012 wurde das Luftschiff in Kalifornien unter dem Namen „Eureka“ mit dem Kennzeichen N-704LZ vom Moffett-Flugfeld aus für Passagierrundflüge eingesetzt. Im Passagierbetrieb wurde er häufig für Rundflüge über die San Francisco Bay, Monterey Bay sowie für Fahrten ins nordkalifornische Napa Valley, über das Silicon Valley sowie entlang der kalifornischen Küste verwendet. Daneben wurde Eureka auch für Forschungszwecke eingesetzt, wie beispielsweise im Mai 2012, als Wissenschaftler mit dem Zeppelin NT nach Stücken eines Meteoriten suchten, welcher am 22. April 2012 südwestlich von Reno mit einer deutlich wahrnehmbaren Lautstärke und grellen Lichterscheinung die Sierra Nevada erschütterte.
Nachdem im November 2012 ein Werbevertrag mit einem großen Versicherungskonzern ausgelaufen war, musste Airship Ventures den Geschäftsbetrieb aufgrund mangelnder Wirtschaftlichkeit einstellen. Erschwerend kam hinzu, dass der Preis für das Traggas Helium seit der Aufnahme des Geschäftsbetriebs binnen vier Jahren auf das Elffache angestiegen war. Bis zur Einstellung des Betriebs hatte das Luftschiff etwa 4000 Flugstunden absolviert und dabei über 20.000 Passagiere befördert. Mitglieder der Zeppelin Luftschifftechnik Geschäftsführung, welche kurz vor Bekanntgabe der Geschäftseinstellung nach Kalifornien reisten, teilten der Presse mit, dass das Luftschiff nun demontiert und zurück nach Friedrichshafen transportiert werden solle. Interessanterweise war der Presse zu diesem Zeitpunkt erstmals zu entnehmen, dass das Eureka-Luftschiff niemals verkauft, sondern nur verleast worden war. Entgegen früheren Ankündigungen von Airship Ventures und ZLT wurde das Luftschiff dabei für einen Systempreis von 8,5 Millionen Euro geleast.
Verkauf von drei NT-Luftschiffen Version LZ N07-101 an Goodyear
Anfang 2011 bestellte die Goodyear Tire & Rubber Company für rund 44 Millionen Euro drei Zeppelin NT LZ N07 in der Version LZ N07-101, so dass die Produktionsnummern 5 bis 7 an Goodyear geliefert wurden. Gegenüber der bisherigen Version LZ N07-100 wurde ein neues Displaysystem im Cockpit und eine LED-Leuchtwerbung entwickelt, welche später auch in allen weiteren Luftschiffen zum Einsatz kommen sollte. Die Endmontage erfolgte in Goodyears Luftschiffstützpunkt am Wingfoot Lake bei Akron. Am 17. März 2014 um 09:55 Uhr fand der Erstflug statt. Die weiteren Luftschiffe wurden bis zum Jahr 2017 gebaut und in Dienst gestellt. Goodyear plante, die Luftschiffe zu Werbezwecken und zur Übertragung von Fernsignalen bei Großveranstaltungen einzusetzen. Auch die ZLT verwies in Pressemitteilung darauf, dass der Zeppelin NT für bis zu 15 Personen zugelassen ist.
Im Juli 2012 zertifizierte die europäische Flugsicherheitsbehörde EASA die Produktionsstätte und geplanten Produktionsprozesse Goodyears am Standort Wingfoot Lake. Diese Begutachtung war nötig geworden, da die ZLT zwar einen zertifizierten Herstellerbetrieb darstellt, jedoch die Endmontage zukünftig an einem neuen Standort durchgeführt werden soll.
Die ersten technischen Elemente in Form von 21 Längsträgern und Aluminium-Track Strukturteilen wurde Mitte August 2012 in Friedrichshafen in Container verladen und dann von Bremerhaven nach New York verschifft.
Die Hülle des ersten für Goodyear bestimmten Luftschiffs war Mitte März 2013 bereits montiert. Parallel kündigte Goodyear an, in Akron mit der Endmontage des ersten Luftschiffs zu beginnen. Nach aktuellem Planungsstand soll die reine Montage und Installation von Avionik und Flugkontrollsystemen sieben Monate Zeit in Anspruch nehmen. Der Erstflug erfolgte Mitte März 2014, die Typzertifizierung mit der amerikanischen Flugsicherheitsbehörde FAA sowie die Ausbildung von Piloten erfolgen nun nach und nach.
Verkauf an Airship Paris
Mitte Oktober 2012 wurden die Pläne des neu gegründeten Unternehmens Airship Paris der Öffentlichkeit bekanntgegeben. Das in Frankreich ansässige Unternehmen beabsichtigte, ein Zeppelin-NT-Luftschiff zu bestellen und anschließend über Paris einzusetzen. Zur öffentlichen Bekanntgabe hatte das Unternehmen jedoch erst eine Anzahlung in Höhe von 250.000 Euro auf den System-Kaufpreis von 16,8 Millionen Euro geleistet, da das Unternehmen die Finanzierung noch nicht abgeschlossen hatte. Wäre die Finanzierung durch Investoren vollständig gewesen und hätte das Unternehmen den Neubau eines NT in Auftrag geben, wäre nach Angaben der ZLT die Lieferung erst im Jahr 2015 erfolgt.
Damit Airship Paris schon ab dem Jahr 2013 Tourismusflüge hätte anbieten können, wäre das Luftschiff „Bodensee“ nach Frankreich ausgeliehen worden, das zu der Zeit für das Forschungszentrum Jülich diverse Forschungsaufträge durchführte.
Wirtschaftlichkeit
Der operative Zeppelinbetrieb ist nach Aussage des ZLT-Vorstands Brandt nur im tatsächlichen Flugbetrieb wirtschaftlich rentabel. Der Bau und die Entwicklung des Luftschiffes als solches lassen sich über den Flugbetrieb jedoch nicht amortisieren, sodass das Zeppelin-NT-Projekt bei integrierter Betrachtung von Entwicklung und Betrieb nicht alleine wirtschaftlich tragfähig wäre. Die Finanzierung war also nur über die Zeppelin-Stiftung möglich.
Saisonbilanzen
15. August 2001 erster Passagierflug. Bis Jahresende 2001 wurden mit den beiden ersten Schiffen 3222 Passagiere befördert.
Bis Mitte April 2003 waren insgesamt 12.500 Passagiere befördert; Am 3. Dezember 2003 endete offiziell die Flugsaison des Jahres 2003. Während dieser wurden knapp 17.000 Passagiere befördert, womit seit Aufnahme des Flugbetriebs gut 29.000 Personen befördert worden waren.
Bis zu ihrem Verkauf im März 2003 hatte die „Bodensee“ 2.600 Flugstunden absolviert.
2005 wurden 10.400 Passagiere befördert, fünf Prozent mehr als im Jahr 2004.
In der Saison 2006 wurden mit dem verbliebenen Luftschiff SN03 von der Deutschen Zeppelin-Reederei 8991 Passagiere befördert. Das Schiff leistete 1050 Flugstunden. Die Gesamtpassagierzahl seit 2001 betrug 58.741. Das in Afrika eingesetzte Luftschiff „Friedrichshafen“ leistete 2006 901 Flugstunden.
Zum Ende der Flugsaison 2007 betrug die Gesamtflugdauer aller drei Zeppeline 8179 Stunden, und es waren 73.000 Passagiere befördert worden. SN01 Friedrichshafen leistete 2007 bis zu seinem Ende 326 Stunden. SN02 in Japan war 350 Stunden in der Luft. Die am Bodensee stationierte SN03 leistete 1.174 Flugstunden und beförderte dabei 12.050 Passagiere.
Bis Ende Juli 2008 wurden durch die DZR 14.000 Flugstunden absolviert, und bis Ende August sind über 85.000 Passagiere transportiert worden. 12.000 davon allein im Jahr 2008.
Im Jahr 2009 beförderte die DZR 12.600 Passagiere, zudem gab das Unternehmen an, seit Aufnahme des Flugbetriebes über 95.000 Passagiere transportiert zu haben.
Im Juni 2010 wurde der 100.000 Passagier bei der DZR befördert. Während des gesamten Jahres 2010 wurden insgesamt 12.333 Passagiere befördert. Seit dem Jahr 2001 wurden durch die DZR damit 108.069 Passagiere empfangen.
Bis Mitte August 2011 wurden insgesamt 117.500 Passagiere durch die DZR befördert. Während der Saison 2011 wurden 12.435 Passagiere über dem Bodensee transportiert.
Saisonbilanz 2012: 11.000 Passagiere
Saisonbilanz 2013: mehr als 12.000 Passagiere
Saisonbilanz 2014: 16.000 Passagiere
Saisonbilanz 2015: 22.500 Passagiere
Saisonbilanz 2016: 20.000 Passagiere
Saisonbilanz 2017: 24.000 Passagiere
Saisonbilanz 2018: 24.700 Passagiere, zwei Zeppeline NT, Rundflüge ab Friedrichshafen, in Prag, München, Hannover und im Rheinland. Flugsaison vom 9. März bis 11. November 2018.
Technik
Technische Daten
Flugleistungen
In der Regel startet der Zeppelin NT mit etwa 350 kg „Übergewicht“, d. h. der aerostatische Auftrieb ist etwas geringer als die Masse des Luftschiffs. Er kombiniert wie fast alle modernen Luftschiffe die „Leichter-als-Luft“- und „Schwerer-als-Luft“-Technik, indem er den fehlenden Auftrieb durch Motorkraft erzeugt. Das Abwerfen von Ballast entfällt.
Bei leichter Beladung und teilentleerten Kraftstofftanks kann der statische Auftrieb größer als das Gewicht des Schiffes werden. Wegen der Verwendung der Motorkraft zum Auftriebsausgleich und des geringen Betrages der Auftriebsänderung muss jedoch meist kein teures Helium aus der Hülle abgelassen werden.
Der Zeppelin NT 07 erreicht theoretisch Geschwindigkeiten von bis zu 125 km/h, fliegt üblicherweise in einer Höhe von etwa 300 Metern und kann auf maximal 2600 Meter steigen. Er hat in der Standardkonfiguration eine Reichweite von etwa 900 Kilometern. Start und Landung können senkrecht und mit geringem Einsatz von nur drei Personen am Boden erfolgen. Dazu wird ein Ankermast verwendet, der sich in der Regel auf einem LKW befindet. Das Luftschiff kann mit diesem mobilen Landemast auch geschleppt werden.
Die für Touristenflüge übliche Geschwindigkeit von etwa 70 km/h kann allein durch den Einsatz des Heckmotors erreicht werden.
Um nach einem erfolgreichen Flug den Prozess des Anmastens zu starten, muss der NT mit eigenem Schub der Propeller in die gewünschte Position zum mobilen Mastfahrzeug manövrieren. Bei dem semi-automatischen Anmasten wird die am Luftschiff angebrachte Bugleine mit der Ankermastleine gekoppelt, woraufhin der NT durch das Mastfahrzeug an den Mast herangezogen wird.
Tragstruktur
Das Modell NT 07 verfügt innerhalb der Hülle auf der gesamten Länge des Schiffes über eine aus zwölf Kohlenstofffaser-Dreiecken bestehende Trägerstruktur, die mit drei Aluminium-Längsträgern verbunden sind. An ihr sind Triebwerke, Gondel und Leitwerk befestigt. Die Tragstruktur wiegt nur etwa 1000 kg und ist zusätzlich durch Aramid-Seile verspannt.
Hülle
Bei den historischen Zeppelinen waren die Gaszellen und die Hülle getrennt. Beim Zeppelin NT bildet die Hülle auch gleichzeitig die einzige Gaszelle. Ihr Volumen beträgt beim NT 07 8425 m³ bei einer Länge von 75 Metern und einem Durchmesser von 14,2 Metern. Sie besteht aus einem dreischichtigen Laminat und ist mit Helium gefüllt. Die erste Schicht aus Tedlar (PVF) ist gasdicht, während die zweite Schicht aus Polyestergewebe der Hülle die notwendige Festigkeit verleiht. Die dritte Schicht besteht aus Polyurethan, ist thermisch schweißbar und dient zum Verbinden der einzelnen Hüllen-Laminat-Bahnen. Zum Erhalt der äußeren Form steht die Hülle unter einem leichten Überdruck des Traggases von etwa 5 mbar. Dieser Überdruck wird wie bei Prallluftschiffen durch Ballonetts mit einem Gesamtvolumen von bis zu 2200 m³ konstant gehalten.
Im Gegensatz zu einem Prall- oder Kielluftschiff, bei welchem die Nutzlast fast vollständig von der Hülle getragen wird, wird bei dem Zeppelin NT als halbstarres Luftschiff 95 Prozent der Last von der Aluminiumstruktur im Inneren des Luftschiffes und nur fünf Prozent von der Hülle getragen.
Die Hülle wurde bei allen bisher gefertigten NTs von der US-amerikanischen ILC Dover gefertigt, welche auch die ursprüngliche Entwicklung für diesen Luftschifftyp übernommen hat. Der Stückpreis pro Hülle betrug nach Medieninformationen im März 2013 12 Millionen US$.
Trotz der Tedlar-Schicht diffundiert immer noch ein geringer Anteil des Heliums durch den Hüllenstoff. Die Klebefolien, mit denen die Schiffe farblich gestaltet werden und die je nach Wunsch des Werbekunden aufgebracht werden, sind daher perforiert, um Blasenbildung unter den Folien und deren Ablösung zu verhindern. Die Werbung kann auch in Form großer Banner an der Hülle angebracht werden.
Antrieb und Steuerung
Mit seinen drei 5,9-Liter-Vierzylinder-Boxermotoren vom Typ Textron Lycoming IO-360 mit einer Leistung von je 147 kW und den schwenkbaren Luftschrauben hat der Zeppelin NT sehr gute Manövriereigenschaften. Die Motoren sind nicht mehr wie bei früheren Zeppelinen umsteuerbar (vorwärts und rückwärts laufend), sondern verfügen über Verstellpropeller zur Schubregelung und -umkehr.
Die beiden seitlichen Motoren sind mit Zugpropellern ausgerüstet, die um 120 Grad von der Horizontalen nach oben und weiter leicht nach hinten geschwenkt werden können. Der Heckmotor arbeitet mit einem Druckpropeller, welcher um 90 Grad nach unten schwenkbar ist. Zusätzlich verfügt er über einen seitlich wirkenden Lenkpropeller, der ähnlich wie ein Heckrotor bei einem Hubschrauber funktioniert. Seine Blätter haben keine Steigung, so dass sie eine Neutralstellung annehmen können. Der Anstellwinkel der Blätter lässt sich nach beiden Seiten verändern, so dass mit diesem Propeller das Seitenruder unterstützt oder bei geringer Fahrt und damit fehlender Anströmung der Ruderflächen noch eine Giersteuerung ermöglicht wird.
Das Heckleitwerk besteht im Gegensatz zu früheren Zeppelinen nur noch aus drei Flossen, die in einem Winkel von je 120 Grad zueinander angeordnet sind. Die daran angebrachten Ruder werden durch das Flugsteuerungssystem entsprechend der geforderten Höhen- und Seitenruderfunktion angesteuert. Der Pilot steuert den Zeppelin NT über Fly-by-wire-Technik mit einem Joystick, der Bewegungen in alle drei Raumrichtungen ermöglicht.
Für die Propellerantriebe des Luftschiffs konstruierte ZF Friedrichshafen, welche auch Teilhaber an der Luftschiffbau Zeppelin sind, ein neuartiges Getriebe. Die drei schwenkbaren Schubpropeller haben einen Durchmesser von jeweils 2,7 m. Der Propeller am Heck 2,2 m.
Bodenbetrieb
Um den Bodenbetrieb (sog. Ground Operations) für ein Zeppelin NT Luftschiff durchführen zu können, werden ein mobiles Landemastfahrzeug, ein Tanklastwagen, Ballastvorkehrungen, Service- und Wartungsplattformen, Heliumreinigungs und -auffüllanlagen sowie weitere technische Anlagen benötigt.
Wenn das Luftschiff am mobilen Landemast angedockt ist, ist das vordere Landefahrwerk ausgefahren, jedoch ohne Bodenkontakt. Das hintere Landegestell hat Bodenkontakt und bewegt sich kreisförmig mit dem Luftschiff und der Windrichtung. Bei höheren Windstärken wird das Schiff, durch Umpumpen von Kraftstoff vom hinteren Tank in die vorderen Tanks und durch Umfüllen von Luft in das vordere Ballonett, am Heck leicht gemacht. Das Schiff hebt hinten ab und wird von einem Crewmitglied, um ein hartes Aufschlagen des Landerades zu vermeiden und damit die Luftschiffstruktur zu schonen, am Mast „geflogen“.
Der Liegeplatz darf keine Hindernisse aufweisen, muss einen Radius von mindestens 150 m aufweisen und wird als Landezone bezeichnet. Sowohl Landezone als auch die Zufahrtswege müssen für mindestens 32 t Belastung ausgelegt sein, damit das mobile Mastfahrzeug zu dem Luftschiff fahren kann.
Schrittweise Design- und Produktionsverbesserungen
Das Design und die Produktion des vierten Luftschiffs (SN 04) wurde im Vergleich zu SN 03 an einigen Stellen verbessert. Insgesamt wurden 86 technische Änderungen vorgenommen, welche alle durch die Zulassungsbehörden genehmigt werden mussten. Insbesondere konnte durch ein geändertes Herstellverfahren die Lebensdauer der Längsträger auf 25 Jahre angehoben werden. Auch das Eigengewicht des vierten NTs wurde um 2000 kg reduziert, wodurch sich eine Nutzlaststeigerung ergibt.
Die im Frühjahr 2011 durch Goodyear bestellten drei Zeppeline basieren laut Interview-Aussagen der Geschäftsführung von ZLT zu 80 Prozent auf dem existierenden Modell. Goodyear würde nach Aussage von Brandt nur „ein Standard-Luftschiff mit ein paar Optionen“ kaufen.
Vergleich des NT mit Zeppelinen historischer Bauart
Es gibt mehrere markante Unterschiede zwischen der Zeppelin-NT-Bauweise und Zeppelinen vor 1940:
Im Gegensatz zu seinen Vorgängern ist der Zeppelin NT kein Starrluftschiff, sondern ein halbstarres Luftschiff.
Der Zeppelin NT dient vorwiegend für touristische Rundflüge und als Werbeträger. Eine Verwendung als Verkehrsluftschiff im Liniendienst oder Militärluftschiff ist derzeit nicht vorgesehen.
Die bisher gebauten Luftschiffe vom Typ Zeppelin NT sind bei einer Länge von 75 m und mit ihrem Hüllenvolumen von 8.425 m³ um den Volumenfaktor 10 bis 20 kleiner als die alten Zeppeline mit bis zu 200.000 m³, die Reichweite ist zudem deutlich geringer.
Die äußere Hülle mit der inneren dreieckigen Tragstruktur ist gleichzeitig die einzige Gaszelle. Wie bei halbstarren Luftschiffen üblich, herrscht innerhalb der Hülle leichter Überdruck im Vergleich zum Luftdruck, sodass die Hülle auch die äußere Form bestimmt. Früher waren mehrere, innerhalb der vieleckigen Struktur aufgehängte Gaszellen mit über dem Gerüst gespannten Stoff verkleidet.
Als Traggas kommt statt des entzündlichen Wasserstoffs ausschließlich das mittlerweile problemlos verfügbare und auch bei allen anderen aktuellen Luftschiffen eingesetzte Helium zum Einsatz. Helium ist als Edelgas nicht brennbar, jedoch im Vergleich zum Wasserstoff deutlich teurer, und etwa doppelt so schwer, wodurch sich die Tragkraft bei gleichem Volumen um ca. acht Prozent verringert.
Moderne Luftschiffe starten in aller Regel etwas schwerer als Luft, verbrauchen im Betrieb Kraftstoff und werden dadurch leichter, eventuell sogar leichter als Luft. Der aerostatische Auftrieb reicht zumindest beim Start nicht aus, um das Schiff allein in der Luft zu halten. Die fehlende Auftriebskraft wird durch die Motoren über Luftschrauben und in Fahrt durch den gegenüber der Flugrichtung in positivem Winkel angestellten Rumpf erzeugt (dynamischer Auftrieb). Der Zeppelin NT ist dementsprechend dauerhaft auf Motorleistung zur Erzeugung des dynamischen Auftriebs angewiesen, um sich in der Luft zu halten, d. h., er „fliegt“. Dem gegenüber stehen Luftfahrzeuge, wie Ballone oder die historischen „Zeppeline“, welche allein unter statischem Auftrieb aufsteigen, d. h., sie „fahren“.
Rekorde
Der Zeppelin NT 07 war seit seinem Erstflug bis zum Jahr 2012 in Bezug auf sein Volumen das größte aktive Luftschiff der Welt. Im August 2012 fand der Erstflug des Hybridluftschiffs Long Endurance Multi-Intelligence Vehicle (LEMV) statt, welches mit einem Hüllenvolumen mit 38.000 m³ mehr als das vierfache des Volumens beinhaltet. Die Hülle des LEMV wurde später bemannt als Airlander (Erstflug 2016) weiterverwendet, das damit den Größenrekord vor dem Zeppelin NT übernahm.
Am 27. Oktober 2004 stellte der amerikanische Milliardär und Abenteurer Steve Fossett, nachdem er im Herbst 2004 als 14. Pilot die Lizenz zum Führen eines Zeppelin NT erworben hatte, mit dem ersten gebauten Schiff D-LZFN „Friedrichshafen“ einen neuen FAI-Geschwindigkeitsweltrekord für alle Luftschiffklassen auf (die meisten wirklichen älteren Rekorde sind nicht von der FAI anerkannt). Er durchflog eine 1000-m-Messstrecke in beiden Richtungen mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 111,8 Kilometern in der Stunde. Der alte Rekord eines Lightship A-60+ vom 19. Januar 2000 lag bei 92,8 Kilometern in der Stunde.
Einsatzgebiete
Die Luftschiffe werden neben touristischen Rundflügen ebenfalls als Beobachtungsplattform für die Bild- und Fernsehmedien, beispielsweise bei Großereignissen, eingesetzt. Durch die lange mögliche Einsatzdauer und den vibrationsarmen Flug sind die Schiffe auch für Forschungsmissionen, etwa Umweltbeobachtungen, Troposphärenforschung oder die Erkundung von Bodenschätzen, gut geeignet.
Rundflüge über dem Bodensee und Hinterland
Seit August 2001 bietet die Deutsche Zeppelin-Reederei (DZR) Rundflüge mit den Zeppelin-NT-Luftschiffen an. Die Hüllen werden dabei als Werbefläche vermarktet. Die Schiffe können auch für ganze Werbekampagnen gemietet und gestaltet werden. Das stellt ihre Hauptverwendung dar.
Unter optimalen Wetterbedingungen kann ein Zeppelin NT täglich zehn bis zu zwölf Flüge mit jeweils 12 Passagieren durchführen. Die Flugsaison am Bodensee währt insgesamt sieben Monate von April bis Oktober. Ein Flug dauert streckenabhängig 30 Minuten bis zwei Stunden.
Ein Rundflug ab Friedrichshafen, Messestraße, dem Heimatflughafen der Zeppeline, dauert etwa 40 bis 80 Minuten. Es gibt eine Ost-Route über Lindau – Bregenz – Rorschach sowie eine West-Route in Richtung Meersburg – Überlingen – Insel Mainau – Konstanz. Außerdem gibt es Routen unter anderem über Ravensburg (Friedrichshafen – Waldburg – Tettnang – Ravensburg – Weingarten – Friedrichshafen), zum Schloss Salem (Salem – Markdorf – Meersburg) und zum Rheinfall-Schaffhausen (Insel Mainau – Meersburg – Konstanz – Schaffhausen). Gelegentlich werden auch andere Routen ab Friedrichshafen sowie von anderen Start- und Landeplätzen bedient. Daneben sind die Zeppeline auch an anderen Orten für Rundflüge im Einsatz.
Forschung
Seit Indienststellung wurde der NT für verschiedenartige Forschungsvorhaben eingesetzt. 15 bis 25 Prozent des Umsatzes erwirtschaftet die DZR mit diesen speziellen Einsätzen. Die Luftschiffe eignen sich als Forschungsplattformen insbesondere, da sie als einzige Fluggeräte dafür geeignet sind, in niedrigen Höhen ungestörte Luftmassen mithilfe schwerer Messanlagen zu untersuchen. Weitere Vorteile der Zeppelin NT für Forschungsvorhaben: Sie sind extrem manövrierfähig, können z. B. vertikal auf- und absteigen.
Sie können langsam mit einer Luftmasse mitfliegen, um chemische Reaktionen innerhalb der Luftmasse aufzuzeichnen. Sie können große Lasten oben auf dem Luftschiff tragen, um chemische Reaktionen, die durch Sonnenlicht beeinflusst werden, zu registrieren. Für die Messflüge wird eine sogenannte Top-Plattform mit Messgeräten oben auf den Zeppelin montiert, die Kabine enthält die Analysegeräte. Einige weitere Forschungseinsätze waren:
Der Zeppelin NT half, als er anlässlich des Oktoberfestes 2002 über München unterwegs war, dem DLR und der ESA bei der Entwicklung des europäischen Navigationssystems Galileo, indem er Messfahrten über der Stadt unternahm, bei denen er einen Satelliten simulierte. Die Signale wurden von einem am Boden fahrenden Messwagen empfangen. Damit trat er in die Fußstapfen der früheren Luftschiffe LZ 126 und LZ 130, die bereits in den 1920er und -30er Jahren Funk- und Funkpeilversuche, damals teilweise für militärische Zwecke, über dem Atlantik, Deutschland und der Nordsee durchführten.
Im Sommer 2004 führte ein Zeppelin NT bei Rundflügen über dem Bodensee eine nach unten gerichtete Kamera mit, welche Bilder zur Langzeitbeobachtung der Uferzone durch das Seenforschungsinstitut lieferte.
Seit einigen Jahren wird der Zeppelin NT für die Atmosphärenforschung eingesetzt. In den Jahren 2007 und 2008 gab es erste große Messkampagnen des Forschungszentrums Jülich, wobei die Konzentrationen von Spurengasen und Partikel in der unteren Troposphäre gemessen wurden. Ab Mai 2012 startet ein Zeppelin NT zu Messflügen in Norditalien, Deutschland, den Niederlanden, Schweden und Finnland im Rahmen des EU-Projekts PEGASOS.
Im Oktober 2010 wurde mit dem Zeppelin NT über dem Bodensee eine neuartige Methode zur Fernbeobachtung von Wasseroberflächen getestet. Die von dem Deutschen GeoForschungsZentrum Potsdam sowie dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt entwickelten und im Zeppelin NT untergebrachten Anlagen empfangen GPS-Strahlen, welche von Wasseroberflächen reflektiert werden. Durch eine Analyse dieser Rückstrahlung sind Aussagen über die Eigenschaften der Wasseroberfläche möglich, wie beispielsweise deren geometrischer Höhe oder die Wellenhöhe. Zukünftig soll mit einem derartigen Messemodell auch eine Tsunami-Früherkennung möglich sein.
Im Mai 2012 wurde das in Amerika stationierte Luftschiff mit der Seriennummer SN04 „Eureka“ zur Suche nach Stücken eines Meteoriten eingesetzt. Dieser Meteorit war am 22. April 2012 südwestlich von Reno auf die Erde mit einer deutlich wahrnehmbaren Lautstärke und grellen Lichterscheinung auf die Erde in der Sierra Nevada niedergegangen.
Im April – Juni 2013 erforschte der Zeppelin NT im Rahmen des EU-Projekts PEGASOS auf einer Fahrt Richtung Finnland die Zusammensetzung und die chemischen Prozesse in der Atmosphäre.
2013 nahm der Zeppelin NT in Südfrankreich am EU-Gemeinschaftsprojekt I2C (Integrated System for Interoperable sensors & Information sources for Common abnormal vessel behaviour detection & Collaborative identification of threat) teil. Ziel war es ein integriertes Überwachungssystem für den Grenz- und Küstenschutz zu entwickeln. Der Zeppelin als Sensorplattform wurde mit Radar, Kamerasystem mit optischen sowie Infrarot- und Restlicht-Sensoren, AIS und einem Datenlink zur Bodenstation ausgestattet.
Im Juni 2016 startete eine Expedition mit dem Namen „Uhrwerk Ozean“ über der Ostsee.
Veranstaltungs- und Verkehrsüberwachung
Wie auch schon die „Friedrichshafen“ auf der Pariser Luftfahrtausstellung 2005, wurde der Zeppelin NT SN 03 auch mit Überwachungstechnik bestückt und beispielsweise für den Weltjugendtag 2005 über Köln sowie CHIO-Reitturnier 2005 in Aachen eingesetzt. Vor seinem Aufbruch zum Weltjugendtag war SN 03 in Friedrichshafen am 14. August 2005 von einem Pfarrer gesegnet worden.
Während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 führte der Zeppelin NT erneut Überwachungs- und Forschungsaufgaben im Rheinland durch, um das System einer effizienteren Verkehrslenkung zu testen. Im Rahmen des von dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) initiierten Forschungsprojekts „Soccer“ flog ein Zeppelin während der fünf in Köln stattfindenden Fußballspiele in 600 Metern Höhe über dem Stadtgebiet. An der Bodenseite des Luftschiffs wurde vorher ein spezielles Kamera-System installiert, welches Echtzeitbilder der Verkehrslage erstellen kann, womit der Polizei eine Kurzfristprognose der Verkehrssituation von bis zu 60 Minuten möglich ist.
Weiterentwicklung des NT und Ausblick
Schon bei der Erstellung der ersten Markt- und Konzeptstudien im Jahr 1993 wurde herausgearbeitet, dass eine längere und kapazitätsmäßig größere Version des NT ökonomisch sinnvoll wäre. Unmittelbar zum Zeitpunkt der Aufnahme des Passagierflugbetriebs wurde dann auch erstmals öffentlich über mögliche zukünftige Ausbaupläne Auskunft gegeben. Im August 2001 wurde so bekanntgegeben, dass bis Mitte des Jahres 2002 eine Konzeptstudie erarbeitet werden würde, welche eine 100 m lange und bis zu 30 Passagiere fassende Version des NT thematisieren würde.
Im März 2003 wurde bekannt, dass die Idee, eine 100 Meter lange Version zu konstruieren, vorerst nicht weiter verfolgt werde. Stattdessen würden Szenarien erstellt, um zu erfahren, ob sich eine um sechs auf dann 18 Sitzplätze erweiterte Version lohnen würde.
Überrascht wurde die Öffentlichkeit im April 2003 durch den Förderverein Zeppelin-Tourismus e. V., welcher unter seinem Vorsitzenden und ehemaligen Geschäftsführer der ZLT, Wolfgang von Zeppelin, das Konzept eines größeren Tourismus-Luftschiffs vorstellte. Auf Basis der Zeppelin-NT-Technik solle ein 125 m langes Luftschiff konstruiert werden, welches bis zu 40 Passagiere transportieren könne. Die vorgestellte Projektstudie plante fernerhin, mit diesen Luftschiffen zehn europäische Städte in sechs Ländern anzufliegen und damit für gut betuchte Touristen ein luxuriöses Reiseerlebnis zu bieten.
Die Konzeptstudie kam niemals über erste Überlegungen hinaus. Zwischenzeitlich führten die Vorstellungen des Fördervereins zu einem öffentlich geführten Streit mit der Geschäftsführung der ZLT. Die grundsätzliche Idee wird jedoch bis heute weiter protegiert.
Ende Juli 2004 unterzeichneten die ZLT und das Wiesbadener Unternehmen LTA Technologie AG, welche von ehemaligen Aktionären und leitenden Mitarbeitern der insolventen Cargolifter AG gegründet worden war, eine Absichtserklärung über den Kauf eines 19-sitzigen Luftschiffs, welches auf der Technik des Zeppelin NT aufbauen sollte. Vorgesehen war, den NT auf eine Länge von 88 m auszubauen, womit ein Traggasvolumen von 13.000 m³ erreicht würde. Mit dieser Idee hatte sich ein sechsköpfiges Team der ZLT bereits mehrere Monate beschäftigt. Angekündigt wurde, dass bis zum September 2004 erste Zwischenergebnisse und bis zum Jahresende 2004 detaillierte Kosten- und Zeitplanung vorgelegt werden würden. Gegen Ende des Jahres wurden schließlich weniger die Ergebnisse der Studie publiziert, als dass ein Streit zwischen dem Förderverein Zeppelin-Tourismus und der ZLT öffentlich wahrgenommen wurde. Der Förderverein verfolgte nach wie vor die Idee eines 125 m langen und 45 Passagiere fassenden Luftschiffs. Unklar blieb jedoch, von wem die dafür notwendigen 356 Millionen Euro Entwicklungskosten hätten aufgebracht werden können. Die ZLT protegierte daher nach wie vor nur eine minimale Vergrößerung des NT auf 19 Passagiere. Die wesentlich größere 45 Passagiere fassende Version wäre allenfalls ein auf die 19 Passagierversion folgende Variante.
Anfang des Jahres 2005 wurden erneut Pläne zur Vergrößerung des NT der Öffentlichkeit bekanntgegeben. Neben der japanischen Nippon Airship Corporation meldete auch die LTA Technologie AG erneut Interesse an einem größeren NT an. Im Februar gab die ZLT bekannt, dass die Freigabe für die Entwicklung einer 19-sitzigen Version des NT innerhalb des Unternehmens erteilt worden sei. Konzeptionell stellte sich das Unternehmen vor, den 19-Sitzer auf der Musterzulassung des 12-Sitzers aufzubauen. Von Vorteil wäre zudem gewesen, dass die neue Version in derselben Zulassungsklasse aufgeführt wäre, was den Zulassungsaufwand minimieren würde. Um genügend Tragkraft herzustellen wurde geplant, das Luftschiff von 75 auf 85 Meter zu verlängern und den Hüllendurchmesser von 14,2 auf 16 Meter zu erweitern. Dadurch wäre insgesamt eine Volumensteigerung von 8.200 auf 14.000 m³ möglich gewesen, weshalb diese Planungsversion unternehmensintern auch mit dem Typ NT14 Bezeichnung fand. Weil zentrale Luftschiffsysteme wie Triebwerke, Cockpit, Flugsteuerung und Bodengeräte nur minimal angepasst werden müssten, wurde bei Verkündung der Pläne im Jahr 2005 angekündigt, den 19-Sitzer Mitte 2007 erstmals zu fliegen und Ende des Jahres 2008 im kommerziellen Betrieb einzusetzen. Über die Entwicklungsfreigabe hinaus wurde zu dem Zeitpunkt auch der Bau eines ersten Serienloses beschlossen, ohne dass jedoch angekündigt wurde, wie viele Exemplare dieses umfassen würde. Auch die Höhe der veranschlagten Entwicklungskosten des NT14 wurden durch die ZLT nicht genannt. Das vom Förderverein Zeppelin-Tourismus stark protegierte 45-Personen Luftschiff wurde im April 2005 durch die ZLT Geschäftsführung auf einer Pressekonferenz als der nächste logische Schritt in der Entwicklung bezeichnet.
Die Kosten für Forschung und Entwicklung eines Lastenluftschiffs, welches einige Jahre zuvor die Cargolifter AG versucht hatte zu realisieren, bezifferte die ZLT Führung zu diesem Zeitpunkt zudem mit über 2 Milliarden Euro.
Als das Luftschiff „Friedrichshafen“ Mitte des Jahres 2005 nach Südafrika an den Konzern De Beers zur Diamantensuche verchartert wurde, wurden innerhalb der ZLT Überlegungen über Alternativen zur schnellen Schaffung eines Ersatzluftschiffes angestellt. Statt eines 19-Sitzers wurde vorgeschlagen, einen 12-Sitzer zu konstruieren, welcher vor allem sehr zeitnah auf Basis vorhandener Ersatzteile hätte konstruiert werden können. Im Oktober 2005 wurde dafür organisationsintern eine Studie in Auftrag gegeben, welche die Chancen eines solchen verkleinerten Typs untersuchen sollte. Parallel wurde bekanntgegeben, dass sich der Baubeginn der 19-Sitzer-Version verzögern werde.
Nachdem Anfang des Jahres 2006 der Entschluss zum Bau eines vierten NT bekanntgegeben worden war, wurde parallel kundgetan, dass sich die Entwicklung des 19-Sitzers dadurch nicht weiter verzögern werde. Ursprünglich sollte die verlängerte Version des NT bereits im Jahr 2008 fliegen. Im Jahr 2006 wurde von der Geschäftsführung jedoch geplant, dass diese Version frühestens im Jahr 2010 ihren Erstflug haben werde.
Nachdem die im Jahr 2005 beschlossenen Pläne zur Vergrößerung des NTs nicht verwirklicht worden waren, wurde im Mai 2009 erneut bekanntgegeben, dass der fünfte Zeppelin NT mit einer etwas verlängerten Gondel und einer erhöhten Anzahl von Sitzplätzen von 12 auf 14 in Planung sei, welcher jedoch vorerst nicht realisiert wurde.
Parallel zu der Verkündung des 100.000. Fluggastes der DZR wurde im Juni 2010 bekanntgegeben, dass bis zum Jahresende unternehmensintern darüber entschieden werden solle, ob ein fünfter Zeppelin gebaut und ob dieser von 12 auf 15 Passagierplätze vergrößert werden soll. Anfang 2011 bestellte die Goodyear Tire & Rubber Company für rund 44 Millionen Euro drei Zeppelin NT LZ N07 in der Version LZ N07-101, sodass tatsächlich eine Baufreigabe für ein fünftes Zeppelin-NT-Luftschiff erteilt wurde. Informationen darüber, ob dieses Luftschiff tatsächlich vergrößert wird, liegen bisher nicht vor.
Luftschiffhalle in Friedrichshafen
Im Jahr 1978 wurde die letzte in Friedrichshafen befindliche Luftschiffhalle abgerissen. Für das Zeppelin-NT-Projekt musste dementsprechend eine neue Werfthalle entworfen und konstruiert werden. Diese für die Konstruktion des Luftschiffs erbaute Luftschiffhalle befindet sich auf dem nördlichen Gelände des Flughafens Friedrichshafen. Nach einer ersten Ausschreibung im Jahr 1996 erhielt die Hofkammer Projektentwicklung GmbH den Zuschlag für den Bau der Halle, welche vom Architekten Roland Wallischeck konzipiert wurde. Die Baukosten betrugen 10 Millionen DM.
Das Gebäude hat eine Länge von 109 Metern, eine Breite von 69 Metern und ist 32 Meter hoch. Mit diesen Ausmaßen gehört der Hangar zu den größten Hallen Süddeutschlands.
Von den Dimensionen her ist die Halle so ausgelegt, dass theoretisch drei Zeppelin NT pro Jahr produziert werden könnten. Die Halle kann zwei Luftschiffe gleichzeitig aufnehmen, wobei zudem die Konstruktion eines dritten Exemplars parallel vorbereitet werden könnte.
Die Halle wurde in geführten Werftbesichtigungen auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
An der nordöstlichen Innenseite des Hallentors sind die Unfallspuren und Beschädigungen des Hangars, welche sich nach einer Kollision des Prototyps im Februar 1999 ergeben hatten, noch bis heute sichtbar.
Siehe auch
Liste Zeppelin LZ N07 „NT“ (ab 1997)
Literatur
Manfred Bauer: Luftschiffhallen in Friedrichshafen. 2. erweiterte Auflage, Friedrichshafen 2001, ISBN 3-86136-069-1.
Jürgen K. Bock, Berthold Knauer: Leichter als Luft: Transport- und Trägersysteme. Verlag Frankenschwelle, Hildburghausen 2003, ISBN 3-86180-139-6.
Klaus Hagenlocher: Experience in the development and manufacturing of the Zeppelin New Technology Airship. In: Airship. No. 110, December 1995, S. 22–32.
Willi Hallmann: Ballone und Luftschiffe im Wandel der Zeit. Heel Verlag, Königswinter 2002, ISBN 3-89880-013-X, S. 98 ff.
Philipp Hermanns: Organizational Hubris – Aufstieg und Fall einer Celebrity Firm am Beispiel der CargoLifter AG. Kölner Wissenschaftsverlag, Köln 2012, ISBN 978-3-942720-33-5. Zudem als Open-Access-Version verfügbar unter: FU Berlin: Dissertationen Online.
Wolfgang Meighörner: Giganten der Lüfte. K. Müller, Erlangen 1996, ISBN 3-86070-595-4.
Bernd Sträter: Zeppelin NT. In: G.A. Khoury: Airship Technology. 2. Auflage. Cambridge 2012, ISBN 978-1-107-01970-6, S. 547–576.
Rolf Zimmermann: Aufsteigen mit dem neuen Zeppelin NT. Stadler, Konstanz 2003, ISBN 3-7977-0488-7.
Weblinks
Zeppelin Luftschifftechnik GmbH – der Hersteller
Deutsche Zeppelin-Reederei – bietet unter anderem Rundflüge mit dem Zeppelin NT an.
Luftschiffseiten.de – viele Bilder und aktuelle Informationen
Zeppelin-Europe-Tours.com – ein Konzept für eine größere Variante und dessen Verwendung
Zeppelin-Museum.de – Zeppelin-Museum in Friedrichshafen
Zeppelin-Museum.com – Zeppelin-Museum in Meersburg (Bodensee)
Kennblatt der EASA (TCDS EASA.AS.001)
Einzelnachweise
Zeppelin
Luftschiff
Erstflug 1997 |
141078 | https://de.wikipedia.org/wiki/Megatherium | Megatherium | Megatherium ist eine Gattung aus der ausgestorbenen Familie der Megatheriidae, einer Gruppe von teils riesigen Faultieren. Vor allem das elefantengroße M. americanum gehört zu den bekanntesten und am besten untersuchten Formen und stellt neben Eremotherium den größten bekannten Vertreter der großen Bodenfaultiere dar. Die Gattung trat vom frühen Pliozän vor rund 5 Millionen Jahren bis zum Übergang vom Oberen Pleistozän zum Unteren Holozän vor etwa 8.000, eventuell auch nur bis vor etwa 11.000 Jahren auf. Dabei sind innerhalb der Gattung zwei Entwicklungslinien zu unterscheiden. Die eine bildet die Tieflandform M. americanum, die die zentralen bis teils südlichen, unter temperiertem Klimaeinfluss stehenden Gebiete von Südamerika bewohnte, vornehmlich die Pamparegion im heutigen Argentinien, die andere trat überwiegend in den Hochgebirgslagen der Anden auf und schloss mehrere Arten ein. Beide Entwicklungslinien lassen sich anhand von Merkmalen am Skelett unterscheiden.
Als weitgehender Pflanzenfresser ernährte sich Megatherium von hauptsächlich weicher Pflanzenkost. Zur Nahrungsaufnahme vermochte es sich auf die Hinterbeine aufzurichten, wobei der kräftige Schwanz als Stütze am Boden diente. Die massigen Arme wurden zum Heranziehen von Ästen und Zweigen eingesetzt. Teilweise wird aber auch eine deutlich fleischhaltigere Ernährungsweise diskutiert. Ebenfalls im Zentrum einer wissenschaftlichen Debatte steht die Frage, ob Megatherium sich nicht nur zu Nahrungszwecken aufrichtete, sondern auch dauerhaft zu einer zweibeinigen Fortbewegung (Bipedie) imstande war, wobei es dann das größte bekannte Säugetier mit einer derartigen Bewegungsweise wäre. Sowohl die Ansicht einer räuberischen Lebensweise als auch eines dauerhaften zweibeinigen Ganges ist sehr umstritten.
Die Entdeckung von Fossilresten von Megatherium geht bis in das ausgehende 18. Jahrhundert zurück. Ein Skelett aus Luján im heutigen Argentinien führte 1796 zur wissenschaftlichen Erstbeschreibung der Gattung durch Georges Cuvier. Weitere bedeutende Funde wurden 1832 von Charles Darwin auf seiner historischen Reise mit der HMS Beagle um Südamerika in den Pampagebieten gesammelt. Megatherium spielte eine bedeutende Rolle in der Entwicklung und Etablierung der Paläontologie als Wissenschaftszweig im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Die frühe Forschungsgeschichte der Gattung ist dabei nicht nur geprägt von zahlreichen neuen Erkenntnissen, sondern auch von einzelnen entscheidenden Irrtümern.
Merkmale
Körpergröße
Megatherium umfasst mittelgroße bis sehr große Vertreter der Bodenfaultiere. Die kleinste Art, M. altiplanicum, wog schätzungsweise zwischen 1,0 und 1,7 t, M. americanum erreichte als größter Vertreter bei einer Gesamtlänge von 6 m und einer Schulterhöhe von 2 m vermutlich ein Körpergewicht von 3,8 bis 6,0 t (basierend auf verschiedenen Bestimmungsmethoden). Damit besaß Megatherium ähnliche Dimensionen wie das verwandte und etwa zeitgleich lebende Eremotherium. Die Variabilität der Größe innerhalb der Gattung zeichnet sich unter anderem am charakteristischen Oberschenkelknochen ab. Dieser wies bei M. altiplanicum eine Länge von 39 cm auf, M. urbinai, M. sundti und M. tarijense repräsentieren mit 46 bis 53 cm langen Femora mittelgroße Arten, während am oberen Ende des Größenspektrums der Oberschenkelknochen von M. americanum zwischen 57 und 78 cm lang wurde. Damit gehört Megatherium neben Eremotherium zu den größten bekannten Faultieren. Allgemein war Megatherium nicht ganz so robust gebaut wie sein Verwandter Eremotherium und hatte vergleichsweise kürzere Gliedmaßen, aber einen längeren Schädel. Wie bei allen Bodenfaultieren waren Arme und Beine bezogen auf die Körperlänge aber deutlich kürzer als bei den heutigen Baumfaultieren. Weiterhin besaß Megatherium analog zu anderen bodenbewohnenden Faultieren einen kräftigen, langen Schwanz.
Schädel- und Gebissmerkmale
Der Schädel der großen Arten wurde 72 bis 87 cm lang, an den Jochbögen erreichte er eine Breite von 36 bis 46 cm, am Hinterhauptsbein von 27 bis 31 cm. Insgesamt war er röhrenförmig langgestreckt und schmal in der Aufsicht. Die Stirnlinie zeigte in der Seitenansicht ein markant sinusartig geschwungenes bis leicht domartiges Profil. Der paarige Mittelkieferknochen hatte eine Y- oder X- bis rechteckige Form, wobei die beiden Knochen fest miteinander verwachsen waren, ebenso wie eine feste Fusion mit dem Oberkiefer bestand. Allerdings war bei einigen kleineren Arten die Verbindung nicht sehr fest, so dass der Mittelkieferknochen teilweise getrennt vom Schädel aufgefunden wird oder mitunter auch unbekannt ist. Der Oberkiefer war sehr hoch, um die extrem hochkronigen Zähne zu fassen. Ein Charakteristikum stellten die Jochbögen dar, die besonders massiv ausfielen und im Gegensatz zu den heutigen Baumfaultieren und zahlreichen fossilen Formen vollständig ausgebildet waren, so dass sich die beiden Bogenansätze des Joch- und des Schläfenbeins berührten. Weiterhin bestand ein kräftiger, abwärts gerichteter Knochenauswuchs am vorderen Jochbogenansatz, der als Muskelansatzstelle diente. Das Scheitelbein wies einen kräftigen Scheitelkamm auf, der sich vorn teilte und jeweils über das Schläfenbein als scharfe Linie führte. Das Hinterhauptsbein besaß in der Seitenansicht eine rechtwinklige Form. Vor allem bei den kleineren Arten aus dem Andengebiet waren die Gelenkansätze für die Halswirbelsäule stark nach hinten verlängert und so sehr prominent.
Der Unterkiefer zeigte einen massiven Bau und maß bei großen Arten zwischen 62 und 74 cm in der Länge. Die Symphyse war ebenfalls kräftig, relativ flach und wie bei den meisten Faultieren vollständig verwachsen. Sie endete auf der Höhe des ersten oder zweiten Backenzahns. Nach vorn war sie deutlich verlängert und bildete so einen schmalen Knochenauswuchs, dessen Länge die der gesamten Zahnreihe in einigen Fällen übertraf. Sehr auffällig war der für Megatherien typische, nach unten gewölbte Rand des Unterkiefers. Hier erreichte der Knochenkörper teils bis zu 25 cm Höhe, was der höchste Wert für alle Megatherien ist, allerdings ist bei Megatherium die Ausbuchtung auch verglichen mit der Größe des Unterkiefers am deutlichsten. In der Ausbuchtung lagen die Alveolen der Unterkieferzähne. Weiterhin ragten die Gelenkäste sehr weit nach oben. Das Gebiss bestand analog zu allen Megatherien aus fünf Zähnen je Oberkiefer- und vier je Unterkieferhälfte, insgesamt waren also 18 Zähne ausgebildet. Die Zähne waren homodont und molarenartig gestaltet, von quadratischer Form und besaßen auf der Kaufläche zwei quergestellte Leisten (bilophodont). Typischerweise besaßen die Zähne keinen Zahnschmelz und standen geschlossen in einer Reihe. Die Länge der unteren Zahnreihe variierte und lag beim großen M. americanum zwischen 18,6 und 25,9 cm, bei mittelgroßen Formen wie M. tarijense zwischen 15,2 und 20,4 cm oder bei M. medinae zwischen 13,0 und 17,2 cm und beim kleinen M. altiplanicum bei 14,4 cm.
Körperskelett
Das Körperskelett ist aufgrund zahlreicher Funde weitgehend bekannt. Die Wirbelsäule umfasste 7 Hals-, 16 Brust-, 3 Lenden-, 3 Kreuzbein- und 17 bis 18 Schwanzwirbel. Im Gegensatz zu Eremotherium waren bei Megatherium die drei Gelenkflächen, die die Halswirbel Atlas und Axis miteinander verbinden, nicht untereinander fusioniert. Die Gliedmaßen waren bei Megatherium generell durchschnittlich kürzer als bei Eremotherium. Der Oberarmknochen bestand als ein röhrenförmiger Knochen von bis zu 80 cm Länge, dessen unteres Gelenk wuchtig auslud und dabei bis zu 37 cm breit wurde. Generell zeigte sich der Humerus der Megatherien als länger, graziler und flacher als bei anderen Bodenfaultieren. Die Elle besaß mit 69 cm Länge einen langen und schlanken Bau mit seitlich verschmälerten Gelenkenden. Das obere Gelenkende, das Olecranon, konnte bei den meisten kleineren Arten länglich und schmal gestaltet sein, bei den größten war es breit und sperrig. Der Oberschenkelknochen stellte wie bei allen Megatherien einen breiten und massiven Knochen dar, der aber vorn und hinten starke Verschmälerungen aufwies, so dass die Breite des Knochens die Tiefe um das Vierfache übertraf. Der längste bekannte Knochen war 78 cm lang und gut 42 cm breit, der kleinste nur 39 cm lang und 20 cm breit. Teilweise war der Schaft deutlich gedreht. Der dritte Trochanter als Muskelansatzstelle am Schaft, der charakteristisch für Nebengelenktiere ist, fehlte wie bei allen Megatherien. Die Gelenkflächen standen deutlich hervor, wodurch der Knochen in der Gesamtansicht nicht so rechtwinklig wirkte wie bei Eremotherium. Schien- und Wadenbein waren an beiden Enden miteinander verwachsen und nicht wie beim verwandten Eremotherium nur an einem. Die Länge des Schienbeins lag bei rund 54 cm.
Die Hand war prinzipiell vierstrahlig aufgebaut (Strahlen II bis V) und wich damit von seinem nahen Verwandten Eremotherium mit einer dreistrahligen Hand (bei späten Vertretern) ab. Wie bei Eremotherium waren aber auch bei Megatherium die Mittelhandknochen der beiden äußeren Strahlen am stärksten entwickelt und erreichten Längen von 25 beziehungsweise 23 cm. Sie übertrafen die beiden inneren Strahlen deutlich. Der Mittelhandknochen des ersten Strahles und einzelne Handwurzelknochen wie das Große Vieleckbein waren zum sogenannten Metacarpal-Carpal-Komplex (MCC) verwachsen (bei Eremotherium zusätzlich noch der zweite Metacarpus). Insgesamt besaßen nur der zweite, dritte und vierte Finger jeweils drei Phalangen, am dritten waren allerdings die beiden hintersten Phalangen zu einer Einheit verschmolzen. Die jeweiligen Endphalangen trugen Klauen und wiesen meist eine dreieckige Form im Querschnitt auf. Aufgrund der massigen Ausbildung des letzten Fingerglieds am dritten Strahl war hier wohl ursprünglich die größte Kralle ausgebildet. Am fünften Finger bestanden nur zwei Phalangen, das Endglied fehlte. Der Fuß wies analog zu dem der anderen Megatherien drei Strahlen auf (Strahlen III bis V), wobei der Mittelfußknochen am dritten Strahl deutlich kürzer war. Dies war auch der einzige Zehenstrahl, der drei Phalangen umfasste – wie bei der Hand waren aber die ersten beiden Glieder miteinander verwachsen – und somit eine Kralle trug. Die beiden anderen, äußeren Strahlen hatten nur zwei, stark in der Länge reduzierte Zehenglieder und demzufolge keine Krallen ausgebildet.
Verbreitung und bedeutende Fossilfunde
Megatherium war vom Pliozän bis zum frühen Holozän vor allem im mittleren und teils südlichen Bereich von Südamerika verbreitet, nur in den Hochgebirgslagen der Anden drang es weiter nach Norden vor. Funde sind überwiegend aus Argentinien, Uruguay, Chile, Bolivien, Peru und Ecuador bekannt. Die nördlicheren und eher tropisch geprägten Tieflandregionen wurden dagegen von der nahe verwandten Gattung Eremotherium bewohnt, die im Gegensatz zu Megatherium auch Nordamerika erreichte. Eines der bisher wenigen gemeinsamen Vorkommen der beiden riesigen Bodenfaultiere ließ sich in der mittel- bis oberpleistozänen Santa-Vitória-Formation an den Ufern des Arroio Chuí und weiterer Flüsse im brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul belegen. Megatherium ist hier mit einem Teilschädel und einzelnen Elementen des Körperskeletts überliefert. Der Großteil der Funde stammt jedoch aus der Pamparegion in Argentinien und sie sind nach Auffassung vieler Forscher allesamt zu der sehr großen Art M. americanum zu stellen, die dieser Meinung nach auch den einzigen Vertreter im Tiefland östlich der Anden darstellte. Bedeutend sind unter anderem Punta Alta bei Bahía Blanca in der Provinz Buenos Aires, wo bereits Charles Darwin während seiner Reise mit der HMS Beagle im Jahr 1832 Funde sammelte, oder Luján, eine der fossilreichsten Fundstellen Argentiniens in der gleichen Provinz, woher das Skelett stammte, das Georges Cuvier zur Erstbeschreibung von Megatherium diente. Stellvertretend für die zahlreichen weiteren Funde in der Pampa sei hier der nahezu vollständige Unterkiefer von M. americanum von La Chumbiada am Río Salado im Norden der Provinz Buenos Aires genannt, der rund 12.000 Jahre alt ist und vergesellschaftet mit der Raubkatze Smilodon und dem Pferd Hippidion aufgefunden wurde. Insgesamt stellt M. americanum nicht nur den größten Vertreter von Megatherium dar, sondern auch den am häufigsten dokumentierten und am besten untersuchten. Allerdings sind vereinzelt auch Funde kleinerer Formen wie M. filholi aus den Pampagebieten bekannt, so dass die Gattung Megatherium vermutlich eine komplexere Verbreitungsgeschichte in der Region besaß. Hervorzuheben sind etwa die Fundstelle Rocas Negras bei Mar del Sur im Süden und Carmen de Areco sowie verschiedene weitere Plätze im Norden der Provinz Buenos Aires.
Ansonsten sind zumeist kleinere Arten von Megatherium aus den Anden beschrieben worden. Von ihnen existiert aber in der Regel nur sehr geringes Fundmaterial und sie traten offensichtlich weniger häufig auf als ihr großer Verwandter in den Pampa-Tiefländern. Dadurch sind diese Arten aber auch meist weniger gut erforscht, wodurch beispielsweise kaum Aussagen zur innerartlichen Variabilität getroffen werden können. Aus Chile ist M. medinae bekannt, eine mittelgroße und grazile Form, die unter Verwendung eines Gebissrestes und einzelner Hinterbeinknochen aus der Pampa del Tamarugal beschrieben wurde. Weitere Funde, so ein Unterkiefer, Wirbel und Rippen, stammen aus der Nähe von Santiago de Chile. Die kleinste und älteste Art stellt M. altiplanicum dar, die über einige Schädelreste und postcraniale Skelettelemente aus der unterpliozänen Umala-Formation nahe Ayo Ayo im Departamento La Paz im westlichen Bolivien nachgewiesen ist. In geographischer Nähe ebenfalls im nördlichen Teil des Altiplano ist weiterhin aus der Ulloma-Formation des frühen Mittelpleistozäns nahe Ulloma am Río Desaguadero die mittelgroße Art M. sundti belegt. Ihr Fundmaterial umfasst neben zwei Schädeln, davon einer mit Unterkiefer, die 1893 zur Beschreibung der Art dienten, unter anderem ein Teilskelett eines nicht ausgewachsenen Individuums. Aus der Tarija-Formation nahe Tarija im südlichen Bolivien stammt hingegen das etwa ähnlich große M. tarijense in Form eines vollständigen Skeletts, welches bereits in den 1920er Jahren geborgen wurde. Der gleichen Art kann auch ein Teilskelett aus Yuntac in Peru zugewiesen werden. Dieses gehört mit einer Lage in 4500 m über dem Meeresspiegel zu den höchstgelegenen Funden von Megatherium. Ein Oberschenkelknochen ist weiterhin aus dem Cuzco-Tal überliefert. Ein unvollständiges Skelett aus der Santa-Rosa-Höhle bei Celendin in der peruanischen Provinz Cajamarca diente zur Beschreibung von M. celendinense, dem bisher größten Vertreter der andinischen Arten, der fast so groß wie M. americanum selbst war. Deutlich kleiner und sehr grazil war dagegen M. urbinai. Von ihm sind ein Teilskelett aus Sacaco im Küstengebiet des südwestlichen Peru und ein weiteres aus der Tres-Vantanas-Höhle 70 km südöstlich von Lima in rund 4000 m Höhe geborgen worden. Von einem dritten Skelett – einem Jungtier, in äolischen Sedimenten nahe Uyujalla ebenfalls im Küstengebiet gelegen – wurde ebenfalls berichtet, dieses ging aber noch vor der Bergung verloren. In La Brea bei Talara im nordwestlichen Küstenland Perus wurde ein Teilskelett von M. elenense gefunden, ebenso wie bei Cerro de Pasco in der Region Pasco in 4300 m Höhe. Dieser kleinere Vertreter von Megatherium war zuerst von Robert Hoffstetter im Jahr 1952 anhand einiger Funde von der Halbinsel Santa Elena in Ecuador eingeführt worden, allerdings unter dem Gattungsnamen Eremotherium. Von der gleichen Halbinsel stammt auch das Typusmaterial von Eremotherium, das 1948 von Franz Spillmann beschrieben worden war.
Paläobiologie
Fortbewegung
Im Gegensatz zu heutigen Faultieren und vergleichbar mit zahlreichen anderen ausgestorbenen Riesenfaultieren war Megatherium ein reiner Bodenbewohner, der sich hauptsächlich vierfüßig fortbewegte. Besonderes Kennzeichen sind die nach innen gedrehten Füße, so dass Megatherium sein Gewicht weitgehend auf den beiden äußersten Strahlen (IV und V) der Hinterfüße trug (pedolateral). Die Fußsohle zeigte so nach innen und hob sich in einem 35°-Winkel vom Boden ab. Der pedolaterale Gang stellt eine Besonderheit dar, die sich innerhalb der Faultiere mehrfach entwickelte und vor allem massive Umbauten am Sprungbein erforderte. Auch die Hand wies eine vergleichbare Drehung auf. Beim Aufsetzen auf den Boden lag diese gleichfalls auf dem äußeren Strahl, wobei die Position Ähnlichkeiten zu den krallenbewehrten Chalicotheriidae besitzt, die aber zu den Unpaarhufern zu stellen sind. Die Drehung vor allem der Vorderfüße schränkte eine Manipulation von Objekten stark ein, sie konnten aber für das Heranziehen von Zweigen eingesetzt werden. Zudem wird aus der Stellung der Hände und Füße auf eine insgesamt langsame Fortbewegung geschlossen.
Es ist aber möglich, dass Megatherium trotzdem markant agiler war als die heutigen baumbewohnenden Faultiere. Das wird aus Untersuchungen am Innenohr geschlossen, wobei die Größe der Bogengänge in direkter Beziehung zur Flinkheit eines Tieres steht. Den Ergebnissen zufolge sollte Megatherium über eine bis zu dreimal höhere Agilität als heutige Faultiere verfügt haben. Allgemein ließen sich die deutlich gebogenen Krallen wohl auch gut zum Graben einsetzen und widerstanden durch ihre symmetrische Form den dabei auftretenden Zug- und Kompressionskräften, wie Belastungsanalysen aufzeigten, doch spricht der Bau des gesamten Unterarms weitgehend gegen eine bodenwühlende Lebensweise. So ist bei Megatherium unter anderem der obere Gelenkfortsatz der Elle (Olecranon) deutlich zu kurz und konnte dadurch die für das Aufbrechen des Bodensubstrats notwendigen Hebelbewegungen nicht erzeugen. Für andere sehr große Bodenfaultiere aus der Gruppe der Mylodontidae wie etwa Glossotherium lässt sich eine teils im Erdreich grabende Lebensweise aber gut belegen.
Eine intensive Debatte wurde darüber geführt, ob Megatherium sich auch in aufrechter Position fortbewegte. Das Aufrichten auf die Hinterbeine, um in höheren Baumkronen nach Nahrung zu suchen, kann aufgrund der Konfiguration des Beckens und der Hinterbeine als wahrscheinlich angesehen werden, ebenso wie die Tatsache, dass der Schwerpunkt des Körpers sehr weit hinten lag, so dass rund 70 % des Gewichtes von den Hinterbeinen getragen wurden, und dadurch ein Aufrichten erleichterte. Die Idee einer bipeden Fortbewegung kam schon Anfang des 20. Jahrhunderts auf und es wurde auch versucht, diese mit Hilfe von Ichnofossilien zu belegen. Solche Spurenfossilien von Megatherium liegen unter anderem vom Monte Hermosa und aus Pehuén-Có vor, beide Fundstellen liegen in der argentinischen Provinz Buenos Aires. Eine zentrale Rolle nehmen hier aber die Spuren von Pehuén-Có nahe Bahía Blanca ein. Diese 1986 entdeckte Fundstelle stellt eine der weltweit bedeutendsten von Ichnofossilien dar. Die Spuren verteilen sich auf einer Fläche von 1,5 km² und sind in einem ursprünglich weichen Substrat eingedrückt. Sie umfassen zahlreiche Säugetiere, etwa des Kamelartigen Megalamaichnum (Hemiauchenia), des südamerikanischen Huftiers Eumacrauchenichnus (Macrauchenia) oder des großen Gürteltierverwandten Glyptodontichnus (Glyptodon), und Vögel, etwa Aramayoichnus aus der Gruppe der Nandus. Ihr Alter wurde auf 12.000 Jahre datiert.
Unter den Spurenfossilien befinden sich auch Abdrücke eines riesigen Faultiers, die der Ichnospezies Neomegatherichnum zugewiesen werden. Die Größe der einzelnen Trittsiegel liegt bei durchschnittlich 88 cm Länge und 48 cm Weite, sie entspricht in etwa den Maßen des aufsetzenden Hinterfußes vom M. americanum. Die Tiefe beträgt etwa 26 cm. Insgesamt sind von Megatherium rund 80 Fährten mit jeweils wenigstens fünf Einzelspuren überliefert, was die Faultiergattung zu einem der am häufigsten nachgewiesenen Tiere der Fundstelle macht. An einigen Trittsiegeln lassen sich noch die Krallen der Mittelzehe als separater Abdruck erkennen. Dieser steht zumeist in einem Winkel von 50 bis 90° zur Längsachse des Fußes und wird bis zu 15 cm lang. Eine der längsten Fährten verläuft über circa 35 m Länge und setzt sich aus insgesamt 35 Einzelspuren zusammen. Der Abstand zueinander misst etwa 1,5 bis 1,8 m, was als Schrittlänge angenommen wird. Da die Größe der Eindrücke relativ einheitlich ist, wurde geschlussfolgert, dass sich Megatherium überwiegend auf den Hinterbeinen fortbewegt habe. Nur etwa in der Mitte der Spurenfolge sind einzelne kleinere, nur 33 cm lange und 27 cm breite sowie 14 cm tiefe Abdrücke zu erkennen, wo sich das Tier offensichtlich kurz in eine vierfüßige Position begab. Die angenommene Geschwindigkeit liegt bei 1,2 bis 1,4 m/s, was etwas mehr als 4 km/h entspricht, die Höchstgeschwindigkeit wurde mit 1,7 m/s angesetzt. Biomechanische Untersuchungen zeigten weiterhin, dass die besondere Form des Oberschenkelknochens – hier vor allem der langschmale Querschnitt – seitlich auftretenden Beanspruchungen, die beim zweifüßigen Gang stärker wirken als beim vierfüßigen, besonders gut widerstehen konnte.
Diese Interpretation wird aber zumeist abgelehnt, da aus funktionsmorphologischer Sicht eine vollständige Bipedie von Megatherium eher unwahrscheinlich ist. Eine alternative Erklärung der Spuren von Pehuén-Có wäre, dass die größeren Hinterfüße die Spuren der kleineren Vorderfüße jeweils überdecken, wie es auch an Spurenfossilien von Paramylodon aus Nevada beobachtet wurde. Die Diskussion über die Bipedie von Megatherium beschränkt sich meist auf das große, in der Pamparegion verbreitete M. americanum. Für die Arten aus der Andenregion wird hingegen als Anpassung an das Gelände des Hochgebirges eine mehr oder weniger dauerhafte vierfüßige Fortbewegung angenommen. Dies lässt sich unter anderem an den nach oben verschobenen und prominenter herausragenden Gelenkflächen des Hinterhauptsbeins, an dem nur relativ flachen Oberschenkelknochen und an den teils stärker eingedrehten Hinterfüßen bei einigen Arten sowie an der Gestaltung der Hand belegen. So sind die beiden äußeren Mittelhandknochen, also diejenigen, die beim vierfüßigen Gang von Megatherium den Boden berühren, nahezu gleich lang und besitzen oberflächliche Aufrauungen, was auf einen häufigen Kontakt mit dem Untergrund hinweist.
Ernährung
Megatherium gilt allgemein als Pflanzenfresser. Die hochkronigen Zähne würden eine Spezialisierung auf harte Grasnahrung indizieren, wie es bei zahlreichen heutigen Huftieren mit derartigen Zähnen der Fall ist. Aufgrund des Fehlens des Zahnschmelzes lassen sich detaillierte Studien zu Abnutzungsspuren nicht durchführen. Der Bau des Kauapparates widerspricht aber einer stärkeren Spezialisierung auf Gräser. So befürworten etwa die sehr hohen Gelenkfortsätze des Unterkiefers, die deutlich nach hinten versetzte Zahnreihe, aber auch der abwärts führende Knochenauswuchs am vorderen Jochbogen, an dem der Musculus masseter ansetzt, starke vertikale Kaubewegungen. Die bilophodonten Zähne mit ihren beiden querstehenden, scharfen Leisten lassen weiterhin vermuten, dass die Nahrung eher zerschnitten als aufwendig zerkaut wurde. Im Vergleich zu anderen Faultieren und in Bezug auf seine Körpergröße besaß Megatherium eine große Gesamtkaufläche aller Backenzähne, die etwa 10.500 bis 11.100 mm² umfasste. Das entspricht etwa dem zehnfachen Wert an Fläche, die das nahezu gleich große Lestodon aus der Gruppe der Mylodontidae aufwies, und liegt im Bereich heutiger Elefanten. Die effektive Vergrößerung der Kaufläche war dabei hauptsächlich das Resultat der Ausbildung der Querleisten auf den Backenzähnen. Die schneidende Wirkweise der Zähne führte aber gegenüber der mahlenden dazu, dass beim Kauen die Zellwände nicht immer aufgebrochen wurden und so weniger Nährstoffe direkt zur Verfügung standen. Jedoch konnte Megatherium aufgrund der großen Gesamtkaufläche mehr Nahrung gleichzeitig im Mundraum verarbeiten.
Ob bei der Nahrungsaufnahme eine lange, bewegliche Zunge eingesetzt wurde, wie häufig angenommen, ist zweifelhaft. Der Bau des Zungenbeins ist bei Megatherium hochmodifiziert, der dort ansetzende Musculus geniohyoideus muss aufgrund der kurzen Distanz zur lang nach hinten gezogenen Symphyse des Unterkiefers sehr kurz gewesen sein, was beides gegen eine sehr mobile Zunge spricht. Allerdings zeigen Rekonstruktionen der insgesamt schmalen Schnauze, dass höchstwahrscheinlich eine bewegliche Oberlippe ausgebildet war, ähnlich wie beim heutigen Spitzmaulnashorn. Diese bewegliche Lippe fungierte als Greiforgan bei der Nahrungsaufnahme und wird durch mehrere aufgeraute Flächen als Muskelansatzstellen nahe dem Augenfenster und dem Foramen infraorbitale sowie im Bereich des Oberkiefers und des Mittelkieferknochens angezeigt.
Der Bau des Gebisses und der Kaumuskulatur von Megatherium sprechen für eine Ernährung von eher weicher Pflanzenkost. Dies bestätigen auch Funde von Koprolithen von Megatherium, die neben Resten von Meerträubel auch solche von Fabiana, Acantholippia, Junellia und Chuquiraga enthielten. Allerdings ergaben Isotopenuntersuchungen an Gebissresten aus der westargentinischen Provinz Mendoza, die in die Spätphase des Pleistozäns datieren, eine eher gemischte Pflanzenkost bestehend aus Blättern und Gräsern. Hier wird angenommen, dass die Tiere sich möglicherweise in ihrem Ernährungsverhalten den ökologischen Bedingungen der Region anpassten. Diese unterlag im Ausgang der letzten Kaltzeit größeren Veränderungen und war durch einen stärkeren montanen Einfluss geprägt. Ähnliche Ergebnisse erbrachte eine Studie an Fossilresten aus der argentinischen Pamparegion, bei der auch Vergleichsmaterial von heutigen Säugetieren herangezogen wurden. Die entsprechenden Daten der Kohlenstoffisotope (δ13C) sprechen hier von einer rein pflanzlichen Ernährung, die recht hohen Werte bei den Stickstoffisotopen werden auf das trockene Klima zurückgeführt. Untersuchungen von Abrasionsspuren an den Zähnen von Individuen aus dem nördlichen Argentinien ergaben bisher kein eindeutiges Bild zum Ernährungsverhalten von Megatherium in Bezug auf eine stärkere Bevorzugung von harter oder weicher Pflanzenkost. Die dabei bemerkte hohe Anzahl an Schliffspuren, die eigentlich typisch für Tiere mit Anpassung an eine eher härtere Pflanzenkost ist, wird ebenfalls auf das trockene Klima und der daraus resultierenden stärkeren Staubentwicklung in der Pamparegion zurückgeführt, was zu einer schnelleren Abnutzung der Zähne führte.
Entgegen den oben genannten Analysen wurde vor allem im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert auch die Ansicht vertreten, dass Megatherium sich von Fleisch ernährte und als Kleptoparasit lebte, der großen Raubtieren ihre Beute streitig machte oder als Aasfresser frisch verendete Kadaver nutzte. Erklärt wurde dies damit, dass das Vorderbein aufgrund der Beschaffenheit des Olecranon nicht zum Graben geeignet war, dafür allerdings für hohe und kraftvolle Geschwindigkeiten. Demnach konnte ein Tier mit einer Bewegung des Arms, dessen Gewicht mit etwa 115 kg veranschlagt wird, etwa 2700 J. freisetzen (vergleichbar mit der Energie, die beim Aufprall eines 10 kg schweren Objekts aus 20 m Höhe entsteht). Die so erreichte Kraft war ausreichend, um große Kadaver zu öffnen. Zudem besaß Megatherium lange scharfe Krallen an den drei mittleren Fingern (II bis IV), die außerdem seitlich verschmälert waren, und so das Abreißen von Fleisch befördert haben könnten. Demnach wäre es möglich, dass die Krallen neben einem Einsatz bei innerartlichen Rivalenkämpfen auch zum Erbeuten von Fleisch dienten. Als Hinweis auf eine teils fleischliche Ernährung gilt auch eine Rippe eines großen Faultiers oder Rüsseltiers, auf der sich Nagespuren befinden, die typische Marken der bilophodonten Zähne von Megatherium zeigen. In der Regel gelten die Faultiere als weitgehend pflanzenfresserisch, doch ernähren sich auch heutige Pflanzenfresser gelegentlich von Fleisch.
Weichteilmorphologie und Pathologien
In zahlreichen Lebendrekonstruktionen wird Megatherium mit einem dichten Fell dargestellt. Begünstigt wird diese Vorstellung dadurch, dass einerseits die heutigen Baumfaultiere ebenfalls über Fell verfügen, andererseits von ausgestorbenen Faultieren wie Mylodon oder Nothrotheriops fossilisierte Fellreste vorliegen. Die enorme Größe der Tiere mit bis zu 6 t Körpergewicht und ihre Verbreitung in eher temperierten Regionen Südamerikas macht dies zumindest für die größten Vertreter wie M. americanum eher unwahrscheinlich. Hier spricht die notwendige Thermoregulation eines derartig großen Körpers zur besseren Ableitung von Wärme und Vermeidung von deutlicher Überhitzung eher für eine mehr oder weniger nackte Haut wie es auch bei anderen großen Säugetieren wie Elefanten, Nashörnern oder Flusspferden der Fall ist. Eine dichte Fellbedeckung würde eine enorme Menge an Trinkwasser voraussetzen, um den Wärmehaushalt auszugleichen, was aber in der gebietsweise semiariden Pamparegion Südamerikas nur schwer zur Verfügung gestanden haben dürfte.
Ungeklärt ist die Frage, ob Megatherium ähnlich den großen Vertretern der Mylodontidae über Osteoderme in der Haut verfügte. Die Knochenplättchen sind bei den Mylodonten regellos verteilt, ähneln etwa denen der knöchernen Panzer der Gürteltiere und Glyptodontidae, haben aber eine einfachere Struktur. Gelegentlich werden solche Bildungen auch für Megatherium (und für das verwandte Eremotherium) beschrieben, für ersteres etwa von der Fundstelle Campo Laborde in der Pampasregion Argentiniens. Da an den meisten Fundstellen mit Resten von Megatherium auch verschiedene Mylodonten vergesellschaftet sind und zudem auch Glyptodonten relativ häufig vorkommen, fehlt bisher ein eindeutiger anatomischer Beweis dafür.
Krankheitsbedingte Knochenveränderungen sind bei Megatherium wie bei zahlreichen anderen Megatherien häufig zu finden. Sie betreffen meist die Wirbelsäule. Häufig treten sie an Schwanz und Becken auf. Dabei ist unter anderem das Typusskelett von M. celendinense von zahlreichen pathologischen Veränderungen überprägt, die nicht nur beide genannten Skelettabschnitte betreffen, sondern auch den Schädel und Rippen. Bei einem Fund von M. urbinai tritt weiterhin noch eine auf Osteoarthrose zurückzuführende Knochenschwellung auf, die möglicherweise auf einer Fraktur beruht.
Systematik
Megatherium ist eine Gattung aus der ausgestorbenen Familie der Megatheriidae. Diese umfassen mittelgroße bis sehr große Vertreter aus der Unterordnung der Faultiere (Folivora). Innerhalb der Faultiere bilden die Megatheriidae wiederum zusammen mit den Megalonychidae und den Nothrotheriidae eine enger verwandte Gruppe, die Überfamilie Megatherioidea. In einer klassischen Auffassung, gestützt durch skelettanatomische Studien formen die Megatherioidea eine der beiden großen Faultierlinien, die andere findet sich in den Mylodontoidea. Molekulargenetische Analysen und Untersuchungen zur Proteinstruktur etablieren mit den Megalocnoidea eine dritte Linie. Den Ergebnissen der letzteren Studien zufolge gehören mit den Dreifinger-Faultieren (Bradypus) auch eine der beiden heute noch bestehenden Faultiergattungen zu den Megatherioidea. Zu den nächsten Verwandten von Megatherium innerhalb der Megatheriidae zählt das ähnlich große Eremotherium, welches das Schwestertaxon darstellt, im Gegensatz zu Megatherium aber eher die tropisch geprägten Tieflandgebiete Südamerikas bewohnte und auch nach Nordamerika vordrang. Gleichfalls in eine nähere Verwandtschaft gehören die stammesgeschichtlich älteren Vertreter Pyramiodontherium und Megatheriops. Alle diese Formen bilden die Unterfamilie der Megatheriinae, die die entwickelten großen Bodenfaultiere innerhalb der Megatheriidae stellen.
Die Gattung gliedert sich in zwei Untergattungen mit heute insgesamt neun bekannten Arten:
Untergattung Megatherium Cuvier, 1796
M. americanum Cuvier, 1796
M. altiplanicum Saint-André & De Iuliis, 2001
Untergattung Pseudomegatherium Kraglievich, 1931
M. sundti Philippi, 1893
M. urbinai Pujos & Salas, 2004
M. celendinense Pujos, 2006
M. elenense Hoffstetter, 1952
M. medinae Philippi, 1893
M. tarijense Gervais & Ameghino, 1880
M. filholi Moreno, 1888
Bis auf M. americanum, die bekannteste und am besten untersuchte Art, sind alle anderen Vertreter bisher nur von wenig Fundmaterial bekannt. Die Untergattung Pseudomegatherium umfasst die weitgehend in den Anden oder im schmalen Küstenstreifen zum Pazifik nachgewiesene Arten. Sie unterscheidet sich von Megatherium, und da vor allem von dem bisher bekannten hauptsächlichen Vertreter M. americanum, durch eine Reduktion der Körpergröße um 20 bis 60 % – allerdings ist mit M. celendinense auch eine Art bekannt, die fast die Größe von M. americanum erreichte. Weitere Unterschiede sind die etwas abweichende Gestaltung der Gelenkflächen am Hinterhauptsbein für den Ansatz der Halswirbelsäule (höher gelegen und prominenter herausragend), kürzere Schnauzen, eine etwas andere Gestaltung der Hand mit zwei gleich langen, äußeren Mittelhandknochen, flachere Oberschenkelknochen und bestimmte Merkmale am Sprungbein. Ein Teil dieser Eigenschaften, so die Form und Lage der Hinterhauptscondylen sowie die Gestaltung des Femurs oder der Hand, werden mit besonderen Anpassungen an die geographischen Verhältnisse der Anden in Verbindung gebracht, etwa einer stärkeren bis dauerhaft vierfüßigen Bewegung.
Neben den heute anerkannten Arten wurden noch weitere benannt beziehungsweise beschrieben, etwa M. lundii, M. gaudryi, M. cuvieri oder M. parodii, sie gelten aber meist als synonym zu M. americanum. Uneinigkeit herrscht bei M. gallardoi, einem sehr großen Vertreter von Megatherium, der 1921 von Carlos Ameghino und Lucas Kraglievich anhand eines in das Mittelpleistozän datierenden, 83 cm langen, allerdings zahnlosen Schädels aus Buenos Aires beschrieben worden war. Hier sehen einige Autoren die Art als valide an und heben unter anderem den kaum mit dem Oberkiefer verwachsenen Mittelkieferknochen und die geringere Höhe des Unterkieferkörpers resultierend aus einer geringeren Hypsodontie der Backenzähne als besondere Kennzeichen hervor. Andere Wissenschaftler führen diese Merkmale wiederum auf die innerartliche Variabilität von M. americanum zurück, womit nach dieser Auffassung die Art der einzige Vertreter seiner Gattung in der Pamparegion wäre. Problematisch ist die aus dem Unterpliozän stammende Art M. antiquum, die 1885 von Florentino Ameghino mit Hilfe isolierter Zähne eingerichtet wurde. Die Zähne ähneln denen von M. americanum, erreichen aber nur ein Drittel der Größe. Die Eigenständigkeit der Art wird angezweifelt, da das nur wenige Stücke umfassende Fundmaterial kaum diagnostische Merkmale erkennen lässt.
Stammesgeschichte
Ursprünge
Über den Ursprung der Gattung Megatherium gibt es mehrere Theorien. Einerseits wird eine Entstehung allgemein im südlichen Teil Südamerikas angenommen. Von dort breitete sich die Gattung weiter nach Westen aus und erreichte später im Pleistozän im Andenraum ihre höchste Diversität. Diese Annahme ist kongruent zu den häufigen und mit rund einem halben Dutzend Gattungen recht vielfältigen Nachweisen pliozäner und obermiozäner Megatherien im zentralen und südlichen Südamerika. So treten allein im obermiozänen Conglomerado osífero im unteren Abschnitt der Ituzaingó-Formation, die an den Uferbänken des Unterlaufs des Río Paraná nahe der argentinischen Stadt Paraná aufgeschlossen ist, mit Eomegatherium, Pliomegatherium, Pyramiodontherium und Promegatherium vier Gattungen auf. Unterstützend zu dieser eher südlichen Herkunft datiert ein nur 28 cm langer Schädel eines Jungtiers von Megatherium aus der Chapadmalal-Formation bei San Eduardo del Mar in der argentinischen Pamparegion auf ein Alter von 3,58 Millionen Jahren und damit in die zweite Hälfte des Pliozäns. Eine weit nördlichere Entstehung kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, allerdings fehlen häufig Aufschlüsse aus dieser Zeit im nördlichen Südamerika. Die dort seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts aufgefundenen Vertreter der späten Megatherien aus dem Übergang vom Miozän zum Pliozän, etwa Urumaquia und Proeremotherium, lassen dabei nicht zwingend annehmen, dass die taxonomische Vielfalt hier geringer war als in den südlicheren Regionen. Als dritte Möglichkeit besteht ein Ursprung von Megatherium im Andengebiet, was wiederum übereinstimmend wäre mit der höchsten hier nachgewiesenen Artenvielfalt. Zudem ist mit M. altiplanicum auch einer der ältesten Nachweise der Gattung in dieser Region überliefert, der in den Beginn des Pliozäns datiert, wobei radiometrische Daten ein Alter zwischen 5,4 und 2,8 Millionen Jahren angeben.
Im Pleistozän sind dann rund ein halbes Dutzend Arten aus der Andenregion überliefert, ihre zeitliche Einordnung ist aufgrund der wenigen Funde teilweise nur ungenau möglich. Aus der Pamparegion wiederum stammt die bedeutendste und häufigste Art, M. americanum. Diese war dort weit verbreitet und trat wenigstens seit dem frühen Mittelpleistozän auf. Ihr Vorkommen wird in der lokalen Stratigraphie durch die Faunenstufe der Megatherium americanum biozone angezeigt, welche mit dem Beginn des Mittelpleistozäns vor rund 780.000 Jahren zusammenfällt und die die vorhergehende Tolypeutes pampaeus biozone ablöste, benannt nach einem heute ausgestorbenen Kugelgürteltier.
Aussterben und Einfluss des Menschen
Der überwiegende Teil der Funde stammt aber aus dem Oberen Pleistozän. Ihr können auch die jüngsten Funde zugeschrieben werden, die in den Ausgang des Pleistozäns und in das frühe Holozän datieren. Sie gehören damit in die Zeit der Ankunft der ersten menschlichen Bewohner Südamerikas, die erstmals um etwa 14.800 vor heute nachweisbar sind, und zugleich in die Phase der quartären Aussterbewelle, der zahlreiche Großsäugetiere weltweit zum Opfer fielen. Inwiefern die frühen Besiedler Amerikas direkt am Aussterben der riesigen Faultiergattung beteiligt waren, ist in der Forschung umstritten. Hinweise auf Interaktionen zwischen Mensch und Megatherium liegen bisher nur wenige vor. Bedeutend in diesem Zusammenhang sind unter anderem die Funde von Arroyo Seco, einer mehrphasigen Freilandfundstelle in der Provinz Buenos Aires in Argentinien. In den unteren Fundhorizonten, die Radiocarbondatierungen zufolge zwischen 10.500 und 12.240 Jahren vor heute datieren, wurden neben Hinterlassenschaften von menschlichen Jäger-Sammler-Gruppen auch Reste von Megatherium gefunden, was die Jagd auf oder die Verwendung der Reste des riesigen Bodenfaultiers annehmen lässt. Der archäologische Fundplatz Paso Otero 5 in der gleichen Provinz barg auf knapp 100 m² gut 80.000, zum großen Teil stark zerschlagene Knochenreste. Ihr dadurch fragmentierter Zustand lässt eine genaue Bestimmung nur eingeschränkt zu, jedoch wurden insgesamt 29 Exemplare Megatherium zugeordnet. Assoziiert waren die Faunenreste mit über 80 Steinartefakten aus Quarzit, darunter auch einzelne Fischschwanz-Spitzen (fish tail points). Das Alter des Fundplatzes wurde mit Hilfe der Radiokarbonmethode auf 10.440 bis 9.400 Jahre BP bestimmt. Als Besonderheit erwies sich ein Fersenbein von Megatherium, das von zahlreichen gebrannten Knochen umgeben war; sie werden als Brennmaterial interpretiert.
In den Übergangszeitraum vom Oberen Pleistozän zum Unteren Holozän wird Campo Laborde eingeordnet, ebenfalls in der argentinischen Provinz Buenos Aires gelegen. Neben über 100 Abschlägen aus Quarzit als menschliche Relikte wurden bisher auch mehr als 99.000 Knochenfunde gemacht, darunter 108 zu zählende Reste von Megatherium, die einem Teilskelett ohne Schädel eines einzelnen Individuums angehören. Die Knochen insgesamt sind teilweise stark zerschlagen. Einzelne Rippen von Megatherium besitzen Schnittmarken und wurden teilweise auch zu Werkzeugen modifiziert. Insgesamt zeigt der Befund, dass das Skelett eindeutig von Menschen zerlegt wurde. Radiocarbonmessungen an einzelnen Knochen des Faultiers ergaben ursprünglich ein Alter von 7750 bis 8700 Jahre vor heute. Sie ließen somit ein Überleben von Megatherium bis in das Untere Holozän vermuten, womit die Faultiergattung im Gegensatz zu zahlreichen anderen großen Bodenfaultieren sowohl die erste Ankunft des Menschen in Südamerika als auch die rapiden Klimaänderungen zum Ausgang der letzten Kaltzeit um mehrere Tausend Jahre überlebt hätte. Neuere Datierungen aus dem Jahr 2019 erbrachten allerdings mit 10.250 bis 12.730 Jahren vor heute deutlich höhere Alterswerte.
Zu den wenigen Spuren der Manipulation von Knochen von Megatherium durch den Menschen gesellt sich noch ein erster Halswirbel, der einzelne Schnittmarken von Steinartefakten aufweist. Er wurde in der Pampasregion entdeckt und gelangte Mitte des 19. Jahrhunderts in das Museo di Storia Naturale in Florenz. Es fehlen allerdings Hinweise zur genauen stratigraphischen Fundposition und somit zum Fundkontext, wodurch der Knochenrest als problematisch zu erachten ist.
Forschungsgeschichte
Cuvier und das Megatherium
Der nachweislich früheste Fund von Megatherium ist ein nahezu vollständiges Skelett, welches nach unterschiedlichen Angaben zwischen 1787 und 1789 von Manuel Torres, einem Dominikaner, in Luján an den Ufern des Río Luján in der heutigen argentinischen Provinz Buenos Aires entdeckt worden war. Nicolás del Campo, damaliger Vizekönig von Río de la Plata, verschiffte das Skelett verpackt in sieben Kisten nach Spanien an das Real Gabinete de Historia Natural de Madrid, wo es am 29. September 1789 ankam. Dort nahm es Juan Bautista Bru de Ramón (1740–1799) in Empfang. Dieser arbeitete dort als Präparator und erstellte Skelettrekonstruktionen von verendeten Tieren für das naturhistorische Kabinett, so zum Beispiel von Elefanten. Er begann unmittelbar mit der Arbeit und beendete die Rekonstruktion vier Jahre später mit der Stellung des Skeletts in einer aus heutiger Sicht eher unnatürlichen Pose. Allerdings handelte es sich bei Brus Skelettrekonstruktion von Megatherium aus einer naturhistorischen Betrachtung heraus um die erste eines ausgestorbenen Wirbeltiers weltweit. Neben der Aufstellung des Skeletts fertigte Bru auch eine Monographie mit Beschreibung des Skelettes an, die auch 22 Abbildungen enthielt, eine von der Rekonstruktion und die restlichen über einzelne Knochen, die von Manuel Navarro gezeichnet worden waren. Allerdings wurde die Beschreibung nicht öffentlich publiziert, jedoch übergab man noch im Jahr 1793 einige Kopien der Zeichnungen einem französischen Repräsentanten.
Die Kopien gelangten in die Hände des französischen Anatomen Georges Cuvier (1769–1832), der damals am Muséum national d’histoire naturelle in Paris arbeitete und über den Fund einen Bericht anfertigen sollte. Dieser erschien 1796 in der Zeitschrift Magasin encyclopédique, worin er dem riesigen Tier die wissenschaftliche Bezeichnung Megatherium americanum gab. Der Bericht gilt somit als Erstbeschreibung von Gattung und Art. Der Gattungsname leitet sich von den griechischen Wörtern μέγας (mégas „groß“) und θηρίον (thērion „Tier“) her und bezieht sich auf die Größe des Faultiers. Cuvier nutzte bei seiner Beschreibung die für seine Zeit neue Methodik der vergleichenden Anatomie, wobei er die Zeichnungen als Grundlage nahm, das spanische Skelett hatte Cuvier selbst nie persönlich in Augenschein genommen. In seinem Bericht bezeichnete er die Herkunft des Skelettes fälschlicherweise mit „Paraguay“, doch ist Cuviers Artikel insofern bedeutend, als dass es sich um seine erste Arbeit über ausgestorbene Tiere handelt. Auch bemerkte Cuvier, dass ähnliche Tiere wie Megatherium heute nicht mehr existierten und damit ausgestorben waren, was damals eine revolutionäre Ansicht darstellte.
Cuviers Bericht wurde von José Garriga nach Spanien gebracht, der ihn dort übersetzen wollte. Dabei fand er heraus, dass Bru bereits einen Aufsatz angefertigt hatte und publizierte ihn zusammen mit Cuvier im gleichen Jahr unter seiner Herausgeberschaft und auf eigene Kosten. Dieses Buch bereitete den Weg für eine weitere Publikation von Georges Cuvier, die 1804 unter dem Titel Sur le Megatherium erschien und in dem er die Verwandtschaft mit den Faultieren weiter herausarbeitete. Für Cuvier sprachen primär die Merkmale des Schädels, so der Bau der Jochbögen, und der Schulterregion, wie das ausgebildete Schlüsselbein, für eine Beziehung zu den heutigen baumbewohnenden Faultieren, sekundär die Struktur des Gebisses und die Gestaltung der Gliedmaßen. Bei den Gliedmaßen bemerkte Cuvier, dass diese eher den heutigen Ameisenbären und Gürteltieren ähnelten und deutlich kürzer waren als bei den rezenten Faultieren. Später, im Jahr 1812, fügte er seinen zweiten Aufsatz und Brus Abbildungen in sein Werk Recherches sur les ossemens fossiles ein, das zu den Grundlagenwerken zur Entwicklung der Paläontologie als wissenschaftliche Disziplin gehört.
Darwin und Owen
Seit der Bergung des ersten Skeletts von Megatherium bei Luján sollte dies über mehr als vier Dekaden der einzige Fund dieses riesigen Bodenfaultiers bleiben. Zu Beginn der 1830er Jahre kam bei Villanueva am Río Salado, der die Pampaebenen südlich von Buenos Aires durchfließt, ein weiteres Teilskelett zu Tage, das bei Niedrigwasser nach einer ausgesprochen langen Trockenphase aus dem Fluss ragte. Die Fossilreste wurden geborgen und vom hochrangigen britischen Diplomaten Woodbine Parish nach England verschickt, wo sie nach eingehender Präparation William Clift am Royal College of Surgeons vorstellte und 1835 publizierte. Da Parish davon ausging, dass in der Pamparegion noch weitere Skelette aufzufinden seien, bat er den damaligen Gouverneur von Argentinien, Juan Manuel de Rosas, um Beihilfe bei der Suche, was in der Folgezeit zur Entdeckung zweier weiterer Skelette führte. Von hoher Bedeutung für die Erforschung von Megatherium ist die Reise von Charles Darwin (1809–1882), die er mit der HMS Beagle zwischen 1831 und 1837 unternahm. Er entdeckte Ende August 1832 in felsigen Aufschlüssen an der Küste bei Punta Alta nahe Bahía Blanca im heutigen Argentinien zahlreiche neue Funde der Gattung. Da die Bordbibliothek der Beagle auch einen übersetzten Text mit Abbildung von Cuviers Beschreibung enthielt, war Darwin vertraut mit Megatherium, allerdings bezeichnete er in seinen Tagebüchern der Reise zahlreiche unterschiedliche Fossilien als zu Megatherium gehörig. Darwin besuchte die Region erneut im Oktober 1833 und erreichte auch Luján, von wo das erste Megatherium-Skelett stammte.
Die Funde, die während der Reise gemacht worden waren, wurden nach England ins Royal College of Surgeons in London geschickt, wo sich ab 1836 der bedeutende Anatom Richard Owen (1804–1892) mit diesen zu beschäftigen begann. Im Jahr 1840 veröffentlichte Owen seine erste Abhandlung über das Riesenfaultier, das er als M. cuvieri bezeichnete (ein Name, der 1822 von Anselme Gaëtan Desmarest als Alternativname für M. americanum eingeführt wurde, aber als nomen illegitimum gilt). Zwischen 1851 und 1860 veröffentlichte Owen eine Serie von Monographien über Megatherium, betitelt jeweils mit On the Megatherium (Megatherium americanum, Cuvier and Blumenbach), die sich jeweils unterschiedlichen Skelettpartien widmeten. Sein Abschlusswerk erschien 1861 und nannte sich Memoir on the Megatherium or giant Ground-sloth of America (Megatherium americanum, Cuvier). So erkannte Owen, dass Megatherium aufgrund seiner Größe terrestrisch lebte und sein Gewicht auf die Außenstrahlen der Hände und Füße legte (pedolateral). Er rekonstruierte auch, dass das Tier befähigt war, sich auf den Hinterbeinen aufzurichten, wobei es sich dabei mit dem Schwanz abstützte, um mit den Vorderbeinen nach Nahrung zu suchen. Aufgrund der präzisen Darstellungen und Zeichnungen gelten diese Abhandlungen noch heute als Standardwerke über Bodenfaultiere. Das dadurch entstandene Bild über Megatherium prägte nachhaltig die Öffentlichkeit. Aufgrund des Enthusiasmus, den Owen für das Faultier an den Tag legte, wurde er mehrfach auch karikiert.
Larrañaga und das gepanzerte Riesenfaultier
Eine weitere Episode, die das Bild über Megatherium zumindest im Verlauf des 19. Jahrhunderts nachhaltig prägte, war die Entdeckung eines Rücken- und Schwanzpanzers sowie eines Oberschenkelknochens, die nach heutiger Sicht zu einem Vertreter der Glyptodontidae, stark gepanzerten Verwandten der Gürteltiere, gehören; die Gruppe war damals aber noch nicht bekannt. Dàmaso Antonio Larrañaga (1771–1848), einer der damals führenden Naturforscher in den spanischen Kolonien, fertigte darüber im Jahr 1814 eine wissenschaftliche Beschreibung in seiner Schrift Diario de Historia Natural an und fügte dieser die Bezeichnung Dasypus (Megatherium Cuv) bei. Die Angabe von Megatherium als Untergattung für die heutigen Langnasengürteltiere führte dazu, dass in der Folgezeit die Vorstellung über gepanzerte Riesenfaultiere entstand. Cuvier persönlich gab Larrañagas taxonomische Bezeichnung 1824 Anlass, diese auch in der zweiten Auflage seines Werkes Recherches sur les ossemens fossiles einzufügen. Die Idee über gepanzerte Riesenfaultiere war weit verbreitet, so hatte Clift 1835 bei der Beschreibung des zweiten Skelettfundes von Megatherium die mit den Resten assoziierten Panzerteile dem Faultier zugewiesen. Selbst Darwin notierte auf seiner Beagle-Reise mehrfach Funde von Panzerfragmenten von Megatherium, teilweise ordnete er bestimmte Reste nur aufgrund von Beifunden von Knochenplättchen der Faultiergattung zu.
Zwar wurden bereits in den 1830er Jahren Einwände gegen die Panzerung von Megatherium erhoben, so unter anderem 1833 von Joseph Eduard d’Alton anhand von Panzer- und Knochenfunden aus Uruguay und Brasilien, die er nach intensiven anatomischen Vergleichen mit riesigen Gürteltieren in Verbindung brachte. Die Beschreibung von Hoplophorus durch Peter Wilhelm Lund im Jahr 1838 und von Glyptodon durch Owen im Jahr darauf, beide zeigten als Vertreter der Glyptodontidae starke Ähnlichkeiten zu Larrañagas Dasypus (Megatherium Cuv), bewiesen aber letztendlich, dass die bisher bekannten Panzerfunde ganz anderen, aber ebenfalls riesigen Tieren angehörten. Owen revidierte in einer umfangreichen Beschreibung von Glyptodon im Jahr 1841 noch einmal die mit Megatherium verbundenen Panzerreste und korrigierte ihre tatsächliche Zugehörigkeit. Im Jahr 1865 wies der englische Paläontologe Thomas Henry Huxley (1825–1895) in einer Schrift über die Skelettanatomie von Glyptodon noch einmal auf die eindeutigen Belege der unterschiedlichen Herkunft beider Fossilgruppen hin. Anzumerken ist hierbei, dass es jedoch tatsächlich große Bodenfaultiere gab, in deren Haut Knochenplättchen ausgebildet waren, doch formten diese nie einen festen Panzer. Zudem gehören Faultiere allesamt einer anderen Linie an (Mylodontidae), die mit den Megatheriidae eher entfernt verwandt ist. Die Existenz von ähnlich locker gestreuten Osteodermen in der Haut bei Megatherium ist darüber hinaus umstritten.
Die Wende zum 20. Jahrhundert
Zum Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren vor allem die italienischstämmigen Gebrüder Florentino (1854–1911) und Carlos Ameghino (1865–1936) bedeutend für die paläontologische Forschung in Südamerika. Sie beschrieben meist unabhängig voneinander mehrere Arten von Megatherium, von denen aber nur M. tarijense aus dem Jahr 1880 bis heute gültig ist. Die Beschreibung der Art erfolgte weit nach der Entdeckung und Erstpublikation der Funde im Jahr 1855 durch Paul Gervais, sie zeigte aber auf, dass es auch Vertreter des Riesenfaultiers gab, die deutlich kleiner als M. americanum waren. Damit war zudem der erste Nachweis der Untergattung Pseudomegatherium erbracht. Gut ein Dutzend Jahre später folgten dann mit M. sundti und M. medinae durch Rudolph Amandus Philippi zwei weitere Arten. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten dann Lucas Kraglievich (1886–1932) und Robert Hoffstetter (1908–1999) die Forschung nachhaltig.
Literatur
Paul S. Martin und Richard G. Klein (Hrsg.): Quaternary Extinctions. A Prehistoric Revolution. The University of Arizona Press, Tucson AZ 1984, ISBN 0-8165-1100-4.
Richard A. Fariña, Sergio F. Vizcaíno und Gerardo De Iuliis: Megafauna. Giant beasts of Pleistocene South America. Indiana University Press, 2013, ISBN 978-0-253-00230-3, S. 254–256.
Einzelnachweise
Weblinks
Zahnarme
Ausgestorbenes Nebengelenktier
Pilosa |
141371 | https://de.wikipedia.org/wiki/Albulabahn | Albulabahn | |}
Die Albulabahn, auch Albulalinie oder Albulastrecke genannt, liegt im Schweizer Kanton Graubünden und verbindet Thusis () am Hinterrhein mit dem Kurort St. Moritz () im Engadin. Die 61,67 Kilometer lange Strecke, die mit ihren 144 Brücken mit einer Spannweite über zwei Metern und 42 Tunnels und Galerien zu den spektakulärsten Schmalspurbahnen der Welt gehört, ist Bestandteil des sogenannten Stammnetzes der Rhätischen Bahn (RhB).
Der Bau der Albulalinie wurde im September 1898 begonnen, die Eröffnung fand am 1. Juli 1903 statt. Die Verlängerung bis St. Moritz ging zum 10. Juli 1904 in Betrieb.
Am 7. Juli 2008 wurden die Albula- und die Berninabahn in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen.
Strecke
Die Albulalinie beginnt in Thusis, wo sie an die 1896 erstellte Bahnstrecke Landquart–Thusis anschliesst und deren Kilometrierung fortführt. Hinter dem Bahnhof Thusis überquert die Strecke den Hinterrhein sowie die Autobahn A13 und tritt in die Schinschlucht ein, wo sie zahlreiche Brücken und Tunnel passiert. Nach der Station Solis, acht Kilometer von Thusis entfernt, wird die Albula ein erstes Mal auf dem 89 Meter hohen Soliser Viadukt überquert. Sie ist die höchste Brücke der Rhätischen Bahn und der am weitesten gespannte Viadukt der Albulabahn.
Zwischen Tiefencastel und Filisur führt die Strecke über den 35 Meter hohen und 137 Meter langen Schmittentobelviadukt, bis sie kurz vor Filisur den 65 Meter hohen Landwasserviadukt erreicht. Sie verläuft in einem Kreisbogen von nur 100 Metern Radius und führt an der gegenüberliegenden Felswand direkt in einen Tunnel.
Im Bahnhof Filisur mündet die Zubringerstrecke von Davos Platz in die Albulabahn. Zwischen Filisur und Bergün/Bravuogn überwindet die Strecke 292 Höhenmeter und führt durch den ersten Kehrtunnel. Zwischen Bergün/Bravuogn und Preda folgt der technisch anspruchsvollste Abschnitt der Albulabahn: Um die Höhendifferenz von 417 Metern zwischen Bergün/Bravuogn und Preda – bei nur 6,5 Kilometern Luftlinie – zu überwinden ohne zu starke Steigungen oder zu enge Radien zu erzwingen, wurde die Strecke durch Kunstbauten auf zwölf Kilometer verlängert. Dies geschieht unter anderem mit Hilfe von drei Spiraltunneln, zwei Kehrtunneln und vier talquerenden Viadukten. Unmittelbar nach Verlassen des Bahnhofs Bergün/Bravuogn steigt die Strecke wieder mit 35 Promille an. Durch die genannten Kunstbauten überquert die Strecke mehrfach sich selbst. Der Abschnitt Preda–Bergün/Bravuogn wird dem bahntechnisch interessierten Publikum zudem durch einen Bahnerlebnisweg (Lehrpfad) näher gebracht.
Beim Weiler Naz bei Preda verläuft die Strecke auf einer kurzen Hochebene, wo seit Ende der 1990er-Jahre ein etwa ein Kilometer langes Doppelspurstück existiert. Gleich nach der Station Preda, mit 1789 Metern über Meeresspiegel die höchste Station der Albulabahn, liegt das Nordportal des Albulatunnels. Nach dessen Durchquerung und der Station Spinas erreicht die Strecke im Val Bever über ein Gefälle von bis zu 32 Promille bei Bever das Oberengadin. Hier mündet die Engadinerlinie aus Scuol-Tarasp ein. Im Bahnhof Samedan zweigt die Strecke nach Pontresina ab, die dort auf die Berninabahn nach Tirano trifft. Die Albulastrecke führt über Celerina nach St. Moritz, dem Endpunkt.
Ursprünglich war geplant, die Strecke über den Malojapass bis nach Italien zu verlängern, dort sollte sie Anschluss an die Bahnstrecke Colico–Chiavenna erhalten. Der Bahnhof St. Moritz ist deshalb als Durchgangsbahnhof angelegt. Während auf der Schweizer Seite die Planungen für die Strecke durch das Bergell weit fortgeschritten waren, gab es auf der italienischen Seite ab der Grenze bei Castasegna nur vage Absichtserklärungen. Der Erste Weltkrieg und die darauf folgende wirtschaftliche Rezession verhinderten das Vorhaben. Heute verkehrt auf dieser Route eine grenzüberschreitende Postautolinie.
Geschichte
Vorgeschichte
Bis 1890 war der Südosten der Schweiz von Eisenbahnen nur schlecht erschlossen. Den Transitverkehr zog die Gotthardbahn an sich, so dass der Bau von transalpinen Strecken in Graubünden nicht wirtschaftlich erschien. Erst der Erfolg der 1890 von der Schmalspurbahn Landquart–Davos AG (LD) eröffneten Bahnstrecke Landquart–Davos Platz brachte die Wende. Die LD änderte 1895 ihren Namen in Rhätische Bahn (RhB), und zwei Jahre später entschied das Bündner Volk bei einem Urnengang, die RhB zur Bahn des Kantons zu machen. Dies schuf die Voraussetzungen für den schnellen Bau weiterer Strecken, die grosse Teile Graubündens erschliessen sollten.
1890 stellte der Davoser Hotelier Willem Jan Holsboer Gutachten vor, die eine sogenannte Scalettabahn von Chur über Davos und durch einen Tunnel unter dem Scalettapass nach St. Moritz und weiter über den Malojapass ins italienische Chiavenna vorsahen. Zu Gunsten der Trassenführung durch den Albulatunnel musste Holsboer später auf die Planung der Scalettabahn verzichten. Der Zürcher Bahnpionier Adolf Guyer-Zeller präsentierte 1895 die Idee einer Engadin-Orient-Bahn, die Chur via Thusis und das Engadin über den Ofenpass mit dem Vinschgau und Triest verbinden sollte. Guyer-Zeller liess sie als Normalspurbahn projektieren, die die Unterquerung der Albula-Alpen durch einen zwölf Kilometer langen Tunnel von der Einmündung des Val Tisch bis ins Inn-Tal unterhalb von Bever vorsah. Als Ofenbergbahn hätte die Engadin-Orient-Bahn die Verbindung ins Val Müstair schlagen sollen. Erst am 30. Juni 1898 entschloss sich die Schweizer Bundesversammlung endgültig für den Bau der Albulabahn und damit gegen eine Normalspur-Transitbahn und eine ebenfalls in Erwägung gezogene Strecke über den Julierpass.
Bau
Nach dem Bau der Bahnstrecke Landquart–Thusis begann die Rhätische Bahn am 15. Oktober 1898 mit der Trassierung der Albulabahn. Anders als die gut zehn Jahre später von St. Moritz nach Tirano gebaute und schon bei der Eröffnung durchgehend elektrifizierte Berninabahn wurde die Albulabahn noch für Dampftraktion konzipiert und sollte, anders als die Berninabahn, für Gütertransporte nutzbar sein. Die damaligen Dampflokomotiven waren noch nicht sehr leistungsstark und daher wurde, um möglichst hohe Geschwindigkeiten erreichen zu können, die maximale Steigung auf 35 Promille begrenzt und der Kurvenradius möglichst gross gehalten. So reizt die Albulabahn zugunsten einer grösseren Effizienz die technischen Möglichkeiten einer Adhäsionsbahn nicht aus.
Ein solcher Baustil erforderte eine Vielzahl von Kunstbauten. Dabei wurden die Viadukte ausschliesslich in Massivbauweise errichtet. Als besonders problematisch erwies sich die Steigung zwischen Bergün/Bravuogn und Preda, wo auf fünf Kilometer Luftlinie über 400 Meter Höhendifferenz zu überwinden sind. Um die maximal festgelegte Steigung einzuhalten, ersann der Bauleiter Friedrich Hennings eine verschlungene Linienführung, die das Trassee auf zwölf Kilometer verlängerte. Zwei Wende- und drei Spiraltunnel sowie eine Anzahl Brücken bewältigten diese Aufgabe, indem sie die Strecke wie eine Schraube in die Höhe drehten. Besonders der Bau des 660 Meter langen Rugnux-Spiraltunnels bereitete auf diesem Streckenabschnitt Probleme, denn das vier Grad kalte Bergwasser erschwerte die Tätigkeit der Arbeiter. Eine weitere Schwierigkeit war die Sicherung der Strecke vor Lawinen und Steinschlag – insbesondere im oberen Albulatal zwischen Bergün/Bravuogn und Naz. Dazu wurden mehrere Galerien und Lawinenverbauungen errichtet. Schwerpunkt war dabei die vollständige Sicherung des Steilhangs (von circa 1500 Metern Seehöhe bis hinauf auf circa 2500 Meter, Breite circa 1,5 Kilometer) am Piz Muot (2670 Meter), dessen Hang drei breite, gefährliche Lawinen und Steinschlagzüge aufweist. Zur Absicherung wurden Trockenmauern, Metall-/Holzverbauungen, eine Galerie und ein Tunnel errichtet sowie eine grossflächige Aufforstung vorgenommen. Allein die Trockenmauern haben eine Gesamtlänge von rund elf Kilometern. Der Lawinenschutz am Piz Muot war bei seiner Errichtung die grösste Lawinenverbauung der Schweiz.
Hinter Preda entstand das Herzstück der Strecke, der 5866 Meter lange Albulatunnel, der die Wasserscheide zwischen Rhein und Donau einige Kilometer westlich des Albulapasses unterquert. Mit einem Kulminationspunkt von 1820 Metern über Meeresspiegel ist er der zweithöchste Alpendurchstich der Schweiz. Die Erstellung des Tunnels bereitete durch einbrechendes Wasser aussergewöhnliche Probleme, die zum Konkurs der Bauunternehmung führten. Beim Bau des Albulatunnels waren insgesamt 1316 Personen beschäftigt. Insgesamt gab es 16 tödliche Arbeitsunfälle. Am 29. Mai 1902, um 3:30 Uhr, erfolgte der Durchschlag der beiden Richtstollen mitten im Berg.
Am 1. Juli 1903 wurde der Abschnitt von Thusis nach Celerina eröffnet. Weil sich die RhB und die Gemeinde St. Moritz noch über den Standort des dortigen Bahnhofs einigen mussten, verzögerte sich die Einweihung des knapp drei Kilometer langen Reststücks bis zum 10. Juli 1904. Der Mangel an Kohle während des Ersten Weltkrieges veranlasste die RhB, die Elektrifizierung in Angriff zu nehmen. Am 20. April 1919 wurde mit dem Abschnitt Filisur–Bever das erste Teilstück der Strecke mit der auf der Engadinerlinie bewährten Wechselspannung von 11 kV 16 2/3 Hz elektrifiziert. Am 15. Oktober folgte der Restabschnitt Thusis–Filisur.
Weitere Entwicklung
Seit 1930 fährt der Glacier-Express über die Albulabahn, nach dem Zweiten Weltkrieg kam der Bernina-Express hinzu. Beide Züge begründeten als Aushängeschild der Rhätischen Bahn den legendären Ruf der Bahngesellschaft bei Eisenbahnfreunden in aller Welt.
Seitdem 1969 die Linie mit Streckenblock ausgerüstet wurde, kann der Zugbetrieb auf den meisten Stationen fernüberwacht werden. 2005 übernahm das Rail Control Center Landquart die Aufgaben des Fernsteuerzentrums Filisur.
Das Unterwerk Bever wurde 1973 modernisiert. 1980 wurde zwischen Surava und Alvaneu die 32 Meter lange Unterführung Pro Quarta erstellt, über die die Kantonsstrasse führt. Die sukzessive erweiterten Ausweichgleise der Stationen weisen heute sämtlich Längen über 260 Meter auf, was einem lokomotivbespannten Zug mit 13 vierachsigen Wagen entspricht. 1985 wurde die zwischen der Station Muot und Naz errichtete Maliera-Galerie erheblich erweitert. Die Verlängerung Richtung Bergün/Bravuogn war erforderlich, um die Bahntrasse besser vor Lawinen und Steinschlag zu schützen. Seitdem besteht der obere alte Teil der Maliera-Galerie aus Mauerwerk, der untere neue aus Beton. Seit Ende der 1990er-Jahre erstellte die RhB drei kurze Doppelspurabschnitte – bei Thusis, bei Filisur und unterhalb von Preda – um die stündlichen Zugkreuzungen flüssiger abwickeln zu können. Die übrige Strecke ist nach wie vor eingleisig trassiert und immer noch weitgehend im Zustand von 1904.
In den letzten Jahren investierte die Rhätische Bahn einen hohen Millionenbetrag in die Sanierung der Strecke, insbesondere der Bauwerke. So wurden 1997 das Soliser Viadukt, 2009 das Landwasserviadukt und das Albula-III-Viadukt saniert und modernisiert. 2010 wurden der Tunnel Argentieri vor St. Moritz und das Clix-Viadukt saniert. 2010 wurde der kultur- und industriehistorische Wanderweg Via Albula/Bernina eröffnet.
Auf der Strecke nach St. Moritz wurde gleich nach dem Bahnhof Samedan ein Bahnübergang aufgehoben, in dem das Gleis tiefergelegt wurde. Der neue, 100 Meter lange Tunnel wurde im Dezember 2011 eingeweiht; gleichzeitig wurde der Bahnhof Samedan saniert. 2010 bis 2012 wurde der Bahnhof Bergün/Bravuogn mitsamt den Gleisanlagen und Bahnsteigen umfassend umgebaut. Die Arbeiten erfolgten in mehreren Bauabschnitten. Die Bahnsteige wurden 2010 erneuert, ebenso wurde das Gleis 1 abgebaut und Gleis 2 verschwenkt. Neu wurde ein Abstellgleis mit Bahnsteig für den Schlittelzug und den Güterverlad gebaut. 2012 wurde das Bahnmuseum Albula im ehemaligen Zeughaus von Bergün/Bravuogn eröffnet. Vorgängig war die Erstellung eines Anschlussgleises nötig.
Von Sommer 2011 bis Ende 2012 wurde der Charnadüra-Tunnel bei St. Moritz saniert. Dabei wurde die Tunnelsohle abgesenkt und ein neuer Stahlbetonschottertrog eingebaut, um das Lichtraumprofil zu erhöhen. 2011 wurde das Rugnux-Viadukt komplett saniert. Alle Mauerwerksfugen wurden instand gesetzt, neue Gleise und ein neuer Stahlbetonschottertrog eingebaut. Die Arbeiten wurden bei laufendem Betrieb durchgeführt, so dass oft nachts gearbeitet wurde. Da der Viadukt nicht per Strasse oder Fahrweg erreichbar ist, mussten das meiste Material und alle grossen Maschinen über die Schiene herangeschafft werden.
Das grösste Projekt ist die Sanierung des Albulatunnels. 2009 prüfte die Rhätische Bahn, ob es wirtschaftlicher ist, den Tunnel aufwendig zu sanieren oder durch einen Neubau zu ersetzen. Im Frühjahr 2010 teilte die Gesellschaft mit, dass ein Neubau geplant ist. Die Kosten werden mit 260 Millionen Schweizer Franken beziffert. Nach Angaben der RhB sei der Neubau zwar 20 Millionen teurer als die Instandsetzung, durch den Neubau können jedoch Vorteile bei der Sicherheit, dem Betrieb, der Terminplanung und der Bautechnik erreicht werden. Der grösste Vorteil ist, dass der Zugbetrieb während der Bauarbeiten durchgehend aufrechterhalten werden kann. Der neue Tunnel wurde am 31. August 2015 angeschlagen, es wird mit einer Bauzeit von sechseinhalb Jahren gerechnet. Der Neubau soll mit dem Welterbe-Status vereinbar sein. Die Inbetriebnahme des neuen Albulatunnels ist für 2024 geplant, der alte Tunnel soll anschliessend saniert und als Sicherheitsstollen (Fluchtweg) umgebaut werden.
In den Jahren 2018 und 2019 wurde der Abschnitt von Thusis nach Sils im Domleschg saniert, zweigleisig ausgebaut und an die 1993 erneuerte Bogenbrücke über den Hinterrhein, die bereits mit Doppelspur versehen war, angebunden. Zwischen den Bahnhöfen Stugl/Stuls und Bergün/Bravuogn wurde ab 2016 eine vollständige Sanierung des Tunnel Glatscheras vorgenommen und anschliessend 2020 mit der Sanierung des Tunnel Bergüner Stein begonnen, die im Sommerhalbjahr 2021 fortgeführt wird. Die Sanierung des Tunnels Glatscheras war ein Pilotprojekt, bei dem die Normalbauweise für Tunnelsanierungen der Rhätischen Bahn zum ersten Mal angewendet wurde. Diese sieht die Sanierung von Tunneln bei laufendem Zugbetrieb vor, in dem die Arbeiten jeweils tagsüber hinter einer mobilen Stahlschutzkonstruktion für die Züge (insbesondere Vorbereitung der Sprengungen) und die Hauptarbeiten mit Sprengungen und schwerem Gerät für Ausbrucharbeiten nachts ausgeführt werden, das Gleisbett tiefer gelegt wird und der Tunnelquerschnitt vergrössert wird, damit die Tunnelwände durch den Einbau von vorgefertigten Tübbings langfristig saniert werden können.
Unfälle
Am 1. August 1952 entgleiste ein Zug mit der Ge 4/4 I 602 bei Bever wegen überhöhter Geschwindigkeit und stürzte auf die Kantonsstrasse. Im Zug wurden zwei Personen getötet, auf der Strasse eine. Vier Personen wurden schwer verletzt.
Am 13. August 2014 wurde der mit etwa 140 Personen besetzte Zug 1136 Samedan–Chur zwischen Tiefencastel und Solis von einem Erdrutsch erfasst, wobei drei Personenwagen entgleisten. Eine Person wurde getötet und vier schwer verletzt, es entstand grosser Sachschaden.
Zugbetrieb
Zwischen Chur und St. Moritz verkehren täglich Schnellzüge – seit Dezember 2004 RegioExpress, seit Dezember 2017 InterRegio genannt – im Stundentakt. Für den Abschnitt Thusis–St. Moritz benötigen sie eine Stunde 34 Minuten, fahren also mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 39 km/h. Es werden nur noch die grösseren Stationen bedient, an den kleineren halten seit den 1990er-Jahren keine Züge mehr, Surava und Alvaneu haben nur noch in den Randstunden vereinzelt Zugsverkehr. In der Sommer-Hochsaison verkehren zudem für touristische Zwecke besondere reservierungs- und zuschlagpflichtige Züge mit Panoramawagen, so der Glacier-Express von Zermatt nach St. Moritz und der Bernina-Express von Chur via Samedan – Pontresina nach Tirano. Ganzjährig führen zudem bestimmte reguläre Züge Kurswagen Richtung Zermatt und Tirano.
Zum Einsatz kommen mehrheitlich Elektrolokomotiven der Reihe Ge 4/4 III, die zusätzlich auf der Vereinastrecke eingesetzt werden, sowie Allegra-Kompositionen. Die Albulabahn war einst Haupteinsatzgebiet der RhB-Krokodile (Ge 6/6 I). Die verbliebenen Lokomotiven dieser Serie und die historischen Ge 4/6 verkehren heute noch vor Sonderzügen.
Fast alle Bahnhöfe der Strecke werden mit Güterzügen bedient; die grösseren verfügen über mindestens eine eigene Rangierlokomotive. Die wichtigsten Transportgüter sind Holz, Zement und andere Baustoffe, Mineralölprodukte und Lebensmittel.
Auf dem Abschnitt Bergün/Bravuogn–Preda verkehren im Winter Schlittelzüge. Es handelt sich dabei um einen Pendelzug, der Schlittler von Bergün/Bravuogn nach Preda bringt, die auf der für den Verkehr gesperrten Albulapassstrasse nach Bergün/Bravuogn schlitteln.
Weltrekordversuch
Die Rhätische Bahn führte am 29. Oktober 2022 mit 25 vierteiligen Capricorn-Triebzügen den längsten Reisezug der Welt. Die 1910 Meter lange Komposition bestand aus hundert Wagen.
→ siehe Abschnitt Weltrekord im Artikel RhB ABe 4/16 3111–3166
Literatur
Gian Brüngger, Tibert Keller, Renato Mengotti: Abenteuer Albulabahn. Verlags-Gemeinschaft Desertina - Terra Grischuna, Chur 2003, ISBN 3-85637-279-2.
Gion Caprez, Peter Pfeiffer: Albulabahn. Harmonie von Landschaft und Technik. AS-Verlag, Zürich 2003, ISBN 3-905111-89-6.
Hubertus von Salis Soglio: Bahnhistorischer Lehrpfad Preda–Bergün. 5. Auflage. Herausgegeben vom Verkehrsverein Bergün. Thusis 1997 (Bezug beim RhB-Bahnladen oder am Bahnhof Bergün).
Henning Wall: Albula – Schlagader Graubündens. Schweers und Wall, Aachen 1984, ISBN 3-921679-33-8.
Eisenbahn Journal. Sonderausgabe Rhätische Bahn (I). Hermann Merker Verlag, Fürstenfeldbruck 1.1988, S. 34–102.
Friedrich Hennings: Projekt und Bau der Albulabahn. Chur 1908.
Hennings: Die neuen Linien der Rhätischen Bahn. In: Schweizerische Bauzeitung. Band 37/38, 1901, , S. 5–7 (PDF; 2,3 MB).
Film
Die schönste Alpenbahn, NZZ Format 2009
Weblinks
Fahrplan der Albulabahn 2012 (PDF; 302 kB)
UNESCO Albulabahn (HD) Film und Fotos der Albulabahn: Fahrt in einer alpinen Naturlandschaft von spektakulärer Schönheit
Albulabahn auf www.eisenbahnen.at Umfangreiche Fotosammlung sowie Streckenkarte
Website des im Juni 2012 eröffneten Bahnmuseums Albula
Einzelnachweise
Bahnstrecke im Kanton Graubünden
Albulatal
Wikipedia:Artikel mit Video |
156591 | https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%BCrteltiere | Gürteltiere | Die Gürteltiere (Dasypoda) bilden die einzige überlebende Säugetiergruppe der Gepanzerten Nebengelenktiere (Cingulata). Sie werden heute in zwei Familien mit insgesamt rund 20 gegenwärtig vorkommenden Arten unterschieden, darüber hinaus sind zahlreiche weitere, ausgestorbene Vertreter bekannt. Die Gruppe ist über den südamerikanischen Kontinent und die südöstlichen Teile Nordamerikas verbreitet; ein Großteil der heutigen Arten konzentriert sich im zentralen und nördlichen Südamerika.
Als einzige bekannte Säugetiergruppe der heutigen Zeit verfügen die Gürteltiere über eine knöcherne äußere Panzerbildung. Die mit Hornschuppen gepanzerten Schuppentiere galten früher irrtümlich als mit ihnen nahe verwandt. Gürteltiere treten weitgehend einzelgängerisch auf und leben in unterschiedlichem Maße unterirdisch in Erdbauen, wobei sie an diese grabende Lebensweise durch mehrere Skelettmodifikationen angepasst sind. Als Hauptnahrung werden verschiedenste Insekten konsumiert, einige Arten verzehren aber auch pflanzliche Nahrung oder vertilgen kleinere Wirbeltiere. Die Lebensgewohnheiten der Gürteltiere sind nicht in allen Fällen gut untersucht, vor allem was die Fortpflanzung betrifft.
Das Fleisch wird von Menschen teilweise als Nahrungsressource genutzt, manche Skelettteile werden lokal auch als handwerkliche Rohstoffe verwendet. Einige Arten gelten aufgrund ihrer bodenwühlenden Aktivitäten als Landplage. In Europa bekannt wurden die Gürteltiere erstmals am Anfang des 16. Jahrhunderts, die heute anerkannte Erstbeschreibung der Gruppe der Dasypoda stammt aus dem Jahr 1885/1886.
Die über Fossilfunde belegte stammesgeschichtliche Entwicklung kann bis in das Paläozän vor mehr als 56 Millionen Jahren zurückverfolgt werden. Die gegenwärtig bestehenden Arten traten jedoch erst relativ spät in Erscheinung. Die nächsten Verwandten der Gürteltiere sind die Ameisenbären und Faultiere. Alle drei Gruppen weisen besondere Skelettbildungen an der Wirbelsäule auf, die sie gemeinsam die Überordnung der Nebengelenktiere (Xenarthra) formen lassen, einer der vier großen Hauptlinien der Höheren Säugetiere.
Körperbau
Habitus
Gürteltiere sind überwiegend kleine bis selten mittelgroße Säugetiere mit einer Kopf-Rumpf-Länge von 11 bis 100 cm. Hinzu kommt ein Schwanz, der mit Ausnahme der Kugelgürteltiere (Tolypeutes) und der Gürtelmulle häufig etwa die Hälfte der Körperlänge ausmacht, manchmal jedoch deutlich länger ist. Das Gewicht variiert ähnlich der Körpergröße sehr stark und reicht von 100 g beim Gürtelmull (Chlamyphorus truncatus) bis zu 45 kg beim Riesengürteltier (Priodontes giganteus). Ausgestorbene Gürteltiere konnten allerdings auch erheblich größer werden und erreichten mit Macroeuphractus, das schätzungsweise zwischen 90 und 120 kg wog, das Gewicht heutiger kleinerer Hausschweine. Ein Großteil der bekannten Arten verblieb aber in der Größenvariabilität der rezenten Vertreter.
Der Kopf hat eine schmale, spitz zulaufende Form, die Ohren stehen mausartig nach oben ab, die Augen sind sehr klein. Bei einigen Arten ist die Schnauze röhrenartig verlängert. Auf der Oberseite ist der Kopf mit Knochenplättchen besetzt, die einen Kopfpanzer formen. Charakteristisch ist der meist kräftig gewölbte Rückenpanzer, der fast die gesamte Körperoberfläche der Tiere bedeckt. An Vorder- und Hinterleib ist er häufig zu starren Rückenschilden verwachsen (Schulter- und Beckenschild, auch Buckler genannt), dazwischen befindet sich eine variierende Anzahl an zur Bauchseite offenen, querverlaufenden Ringen, die Gürtel oder Bänder, nach denen die Gruppe ihren deutschen Trivialnamen erhielt. Verbindungen mit überlappenden Hautfalten gewährleisten eine hohe Flexibilität des Panzers im Bereich der Bänder. Der spitz endende Schwanz ist bei den meisten Arten ebenfalls von Knochenringen umgeben. Auf dem Bauch dagegen findet sich keine Panzerung, manchmal aber einzelne Knochenplättchen. Eine Körperbehaarung ist nicht bei allen Arten ausgebildet, sofern sie vorhanden ist, sprießt sie in borstigen Haaren aus den Rückenschildchen oder an den Körperseiten und ist wollig dicht am Bauch.
Die kurzen Beine haben hinten immer fünf, vorne jedoch vier bis fünf, selten auch drei Zehen, die stark gebogene Krallen tragen, wobei jene der Hinterfüße bei allen Arten deutlich kleiner als jene der vorderen sind. Dabei halten die Krallen an den mittleren Zehen der Vorderfüße des Riesengürteltiers mit bis zu 20 cm Länge den Rekord der größten Krallen im gesamten heutigen Tierreich.
Schädel- und Gebissmerkmale
Die verschiedenen Gürteltierarten besitzen variierende Schädelformen, die zumeist die Ernährungsweise widerspiegeln. Arten, die sich überwiegend von Insekten ernähren, besitzen meist einen leichter gebauten Schädel und Unterkiefer mit geringer entwickelten Muskelansatzstellen. Jene aber, die weitgehend als Allesfresser leben und zum Teil auch Pflanzen verzehren, sind durch massivere Schädel mit deutlich entwickelter Kaumuskulatur charakterisiert. Neben dem generellen Aufbau des Schädels der Säugetiere weisen die Gürteltiere zwei anatomische Besonderheiten auf. Im vorderen Bereich der Nasenhöhle tritt eine als Septomaxilla (Os nariale) bezeichnete Knochenbildung auf, die sonst nur bei stammesgeschichtlich älteren Säugetieren und Reptilien ausgebildet ist. Die Funktion dieses Knochens bei den Gürteltieren ist weitgehend unbekannt, wahrscheinlich dient er zum Verschließen der Nasenlöcher während des Grabens, damit kein Staub eingeatmet wird. Bei zahlreichen, aber nicht allen Gürteltierarten ist am Gehörgang anstatt einer Paukenblase ein tympanischer Ring ausgebildet.
Der Unterkiefer ist bei vielen Arten zumeist lang, schmal und am Knochenkörper niedrig gebaut. Auffallend ist die nicht fest verknöcherte Symphyse, die die beiden Unterkieferhälften im vorderen Bereich verbindet. Im Zahnbau zeichnen sich ebenfalls die Unterschiede in der Ernährungsweise ab mit kleinen Zähnen bei den Insektenfressern und großen bei den Allesfressern. Zudem weichen die Zähne von denen der anderen Säugetiere ab: Sie sind homodont gestaltet, Schneide- oder Eckzähne beziehungsweise Prämolaren werden nicht ausgebildet. Das gesamte Gebiss besteht aus stiftartig einfachen, an Molaren erinnernde Zahnbildungen. Diese weisen dabei keinerlei Zahnschmelz auf – nur die Langnasengürteltiere (Dasypus) und einige ausgestorbene Gattungen besitzen eine sehr dünne Zahnschmelzschicht, die sehr schnell abgekaut wird – und bestehen fast nur aus Zahnbein, hauptsächlich Orthodentin, dem härtesten Bestandteil des Zahnbeins. Einige Arten besitzen anstelle des Zahnschmelzes eine sehr dünne äußere Schicht an Zahnzement, was etwa beim Riesengürteltier oder beim Zwerggürteltier (Zaedyus pichiy) der Fall ist. Die Anzahl der Zähne variiert von Art zu Art und häufig auch innerhalb der Arten und reicht insgesamt von 7 bis 25 je Kieferbogen. Die Zähne wachsen in der Regel ein Leben lang, lediglich bei den Langnasengürteltieren ist ein Zahnwechsel vom Milch- zum Dauergebiss nachgewiesen. Dieser kann mitunter sehr spät erfolgen, teilweise erst im ausgewachsenen Alter und variiert offensichtlich individuell.
Panzerung
Die Ausbildung eines äußeren, knöchernen Körperpanzers, der den Kopf (Kopfschild) sowie den Rücken (Carapax) und mit Ausnahme der Nacktschwanzgürteltiere (Cabassous) auch den Schwanz (Schwanzpanzer) sowie Teile der Beine bedeckt, ist einzigartig unter den Säugetieren und gibt den Gürteltieren und ihren ausgestorbenen Verwandten dadurch eine besondere Stellung innerhalb dieser Tierklasse. Er besteht aus Knochenplättchen, sogenannte Osteoderme, die in der Haut gebildet werden. Sie sind sowohl am Rückenpanzer als auch am Schwanz in Reihen angeordnet. Je nach Art variiert die Anzahl der panzerbildenden Osteoderme. Bei den Kugelgürteltieren liegt sie bei über 660, beim Zwerggürteltier bei rund 950 und bei den Borstengürteltieren (Chaetophractus) bei über 1040. Die Osteoderme werden von Hornschildchen überzogen, die in zwei unterschiedlichen Weisen angeordnet sind: Einerseits bedeckt ein Hornschildchen mehrere, teilweise bis zu vier benachbarte Osteoderme gleichzeitig, andererseits nur ein oder maximal zwei. Erstere Variante wird als eher urtümlich für die Gürteltiere angesehen und ist fast ausschließlich nur bei den Langnasengürteltieren ausgebildet, letztere trifft auf die meisten anderen Arten zu.
Die Osteoderme der starren Teile des Rückenpanzers besitzen häufig eine quadratische, vier- bis vieleckige Form. An den beweglichen Bändern sind sie dagegen zumeist länglich-rechteckig gestaltet und verfügen am vorderen Ende über eine Gelenkfläche, die sie mit dem entsprechenden Element der benachbarten Reihe verbindet. Ein einzelnes Osteoderm eines beweglichen Bandes unterlagert dadurch mit der Gelenkfläche sein Gegenstück der vorhergehenden Reihe und überdeckt im hinteren Abschnitt die jeweilige Gelenkfläche des nachfolgenden Knochenplättchens. Die Oberfläche der Osteoderme ist in der Regel ornamentiert. Dabei umfasst diese Oberflächenzeichnung in der Regel eine größere, zentrale Musterung, um die herum kleinere Muster konzentrisch oder seitlich angeordnet sind. Form und Oberflächengestaltung der Knochenplättchen variieren zwischen den Arten, beide Merkmale haben somit taxonomischen Wert. Die Hornschildchen sind zumeist rundlich in ihrer Gestalt und überlagern die Knochenplättchen. Bei den Langnasengürteltieren, deren Hornschildchen mehrere Osteoderme bedecken, entsteht so am Schulter- und Beckenschild mitunter ein irreguläres Muster, bei den anderen Gürteltieren hingegen paust sich der linear angeordnete Aufbau des Panzers durch.
Die Knochenplättchen sind im Querschnitt mehrlagig aufgebaut, mit einer festen Knochenschicht oben und unten sowie weicherem Material innen, in dem sich Hohlräume für Schweiß- und Talgdrüsen sowie Knochenmark und bei behaarten Arten auch für Haarfollikel befinden. Generell haben die einzelnen Hohlräume je nach Funktion einen eigenen Charakter und können so auch bei fossilen Formen relativ sicher zugewiesen werden. Solche Haarfollikel sind zumeist langgestreckt und gruppieren sich am Rand des Osteoderms, Drüsen haben häufig eine kugelige Form und sitzen in der Mitte, während die für Knochenmark in der Regel keine Öffnung zur Oberfläche aufweisen. Die knöcherne Substanz setzt sich aus hartem, stark mineralisiertem Material und kollagenreichen, faserigen Strukturen (Sharpeysche Fasern) zusammen, die den einzelnen Knochenplättchen eine hohe Elastizität geben. Im Innern wird der Panzer durch meist 11 Paare an sehr breiten Rippen abgestützt.
Die Anlage des Panzers beginnt bereits in der Fetalphase im Mutterleib. Neugeborene besitzen allerdings einen weichen, ledrigen Panzer, der nach und nach durch Verknöcherung der Lederhaut aushärtet. Dabei bilden sich die typischen, je nach Art unterschiedlich geformten, mehreckigen bis runden Knochenplättchen, auf denen die Hornplättchen sitzen und sich zu den festen Panzerteilen und Gürteln sortieren. Die Aushärtung des Panzers erfolgt aber je nach Art unterschiedlich während des Jugendwachstums, was als Anpassung an die jeweiligen Umweltbedingungen interpretiert wird.
Ob sich der Panzer als Schutz vor Fressfeinden bildete, ist wissenschaftlich nicht vollständig geklärt. Allerdings schützt er gut vor der dornigen Vegetation trockener Landschaften, in denen zahlreiche Gürteltierarten leben. Gleichzeitig vermindert er den Befall mit äußeren Parasiten.
Körperskelett
Spezielle, von anderen Säugetieren abweichende Skelettmerkmale finden sich vor allem im Bereich der Wirbelsäule. Die sogenannten xenarthrischen Gelenke (Nebengelenke), die der Überordnung Xenarthra ihren Namen gaben, sind vor allem an den hinteren Brustwirbeln und den Lendenwirbeln ausgebildet. Diese zusätzlichen Gelenke finden sich an den seitlichen Fortsätzen der Wirbel und verbinden den vorhergehenden mit dem nachfolgenden (genauer den Processus accessorius mit dem Processus transversus und dem Processus mammillaris), allerdings ist ihre Funktion weitgehend unklar. Auch die Gelenkflächen der Schwanzwirbel sind kräftig ausgebildet und greifen tief ineinander, was die Gürteltiere befähigt, den Schwanz beim Aufrichten auf die Hinterbeine als Stütze zu benutzen. Im Bereich der Halswirbelsäule gibt es bei einigen Arten Verwachsungen der hinteren Hals- mit den vorderen Brustwirbeln, was als postcervicaler Knochen bezeichnet wird und höchstwahrscheinlich mit der grabenden Lebensweise der Tiere in Verbindung steht. Darüber hinaus besitzen Gürteltiere nur durchschnittlich 11 Brustwirbel und meist zwischen 3 und 4 Lendenwirbel, was deutlich geringer ist als bei ihren nächsten Verwandten, den Ameisenbären und Faultieren und vor allem im Fall der geringeren Anzahl an Lendenwirbeln dem Rücken mehr Stabilität beim Aufrichten verleiht. Eine derartige Reduktion der Anzahl aller Rückenwirbel im Vergleich zu nahe verwandten Gruppen scheint zudem typisch für panzertragende Wirbeltiere zu sein, da ähnliches bei Schildkröten und einigen ausgestorbenen Parareptilien mit Panzerbildung ebenfalls nachgewiesen ist.
Auch der sonstige Bewegungsapparat zeigt einige Besonderheiten. Die kräftigen Vorderbeine mit den großen Klauen sind eine hervorragende Anpassung an eine grabende Lebensweise. Im Knochenbau zeigt dies vor allem die Ulna, deren proximaler (= rumpfnaher) Gelenkfortsatz (das Olecranon) stark ausgeprägt ist; seine Länge macht zwischen 37 (Riesengürteltier) und 54 % (Gürtelmull) der gesamten Knochenlänge aus. Der prozentuale Anteil des Olecranons an der Ulna ist umso größer, je stärker die einzelnen Arten an eine grabende Lebensweise angepasst sind. Proximales wie distales (= rumpffernes) Ende des Oberarmknochens zeigen bei grabenden Arten ebenfalls Verstärkungen, die dem Ansatz entsprechender Muskulatur dienen.
Die Hintergliedmaßen sind dagegen nicht übermäßig kräftig ausgebildet, was daran liegt, dass diese nicht zum Graben verwendet werden, sondern vornehmlich der Fortbewegung bei der Futtersuche dienen. Der Große Rollhügel (Trochanter major) des Oberschenkelknochens befindet sich etwa auf der Höhe des Oberschenkelkopfes, was die Streckung des Beins im Hüftgelenk begünstigt. Dies geschieht unter anderem in den Bauen beim Festkrallen in den Boden, wenn ein Tier von einem Fressfeind attackiert wird. Neben dem Großen und dem Kleinen Rollhügel (Trochanter minor) besitzt der Oberschenkelknochen typischerweise einen Dritten Rollhügel (Trochanter tertius); letzterer ist bei Säugetieren nicht regelhaft zu finden, stellt aber ein charakteristisches Merkmal der Nebengelenktiere dar. Bei Gürteltierarten mit höherer Körpermasse liegt der Trochanter tertius weiter distal (zum Kniegelenk hin) als bei solchen mit geringerer.
Innere Organe und Sinnesleistung
Die Nahrungsaufnahme erfolgt mit Hilfe der langen, weit ausstreckbaren Zunge, die zudem bei den meisten untersuchten Gürteltierarten eine durch pilz-, kreis- oder fadenförmige Papillen aufgeraute Oberfläche besitzt. Die Verdauung wird dabei durch einen sialinsäurehaltigen Speichel unterstützt, der in drei unterschiedlichen Hauptgruppen von Speicheldrüsen gebildet wird (Ohr-, Unterzungen- und Unterkieferspeicheldrüsen). Ein Großteil der Nahrungszersetzung findet im Magen statt, dessen Pylorus stark von Muskeln durchsetzt ist. Der Magen ist zumeist sackartig einfach gestaltet, bei einigen Gürteltierarten, etwa dem Südlichen Siebenbinden-Gürteltier, wirkt er aber durch eine Einziehung fast zweilappig. Überdies ist er recht groß und kann beim Neunbinden-Gürteltier rund 150 cm³ umfassen. Die Milz erreicht zwischen 0,21 und 0,38 % des Körpergewichtes und hat über die gesamte Lebenszeit eines Tieres eine blutzellenbildende Funktion.
Die Gebärmutter ist bei den Langnasen- und den Kugelgürteltieren einfach gestaltet und trapezförmig, womit sie jener der Primaten gleicht. Alle anderen Gürteltiere verfügen über eine zweihörnige Gebärmutter. Weibliche Tiere besitzen ein einzelnes Paar Milchdrüsen, mit Ausnahme der Langnasengürteltiere, die zwei Paare aufweisen. Der Penis ist im Vergleich zur Körpergröße einer der längsten unter allen Säugetieren und erreicht bei einigen Arten im erigierten Zustand bis zu 50 % der Körperlänge. Wegen des Körperpanzers wäre die Begattung ohne einen derart großen Penis gar nicht möglich.
Vor allem der Geruchssinn ist stark ausgeprägt und wird häufig bei der Nahrungssuche eingesetzt. Dies spiegelt sich auch am Gehirn wider, das ein großes Riechhirn besitzt. Der Sehsinn ist dagegen unterentwickelt, was ebenfalls durch eine weniger ausgeprägte Area optica am Gehirn diagnostiziert werden kann.
Verbreitung und Lebensraum
Gürteltiere leben ausschließlich auf dem amerikanischen Doppelkontinent. Das Vorkommen der meisten Arten ist auf Südamerika beschränkt, wo sie aber über den größten Teil der Landfläche verbreitet sind. Hier ist auch der Ursprung der Gürteltiere anzusiedeln, der bis in das ausgehende Paläozän vor rund 58 Millionen Jahre zurückreicht. In Mittelamerika finden sich lediglich zwei Arten, darunter die bekannteste Gürteltierart, das Neunbinden-Gürteltier (Dasypus novemcinctus), das große Teile von Süd- und Mittelamerika bis einschließlich der südöstlichen USA bewohnt. Die Vorfahren der nord- und mittelamerikanischen Arten sind vermutlich erst nach dem Entstehen der Landbrücke zwischen Nord- und Südamerika am Isthmus von Panama und dem damit verbundenen Großen Amerikanischen Faunenaustausch im Pliozän vor rund 3 Millionen Jahren aus Südamerika eingewandert.
Zahlreiche Gürteltierarten bevorzugen trockene und offene Lebensräume wie Halbwüsten, Savannen und Steppen mit dorniger Gebüschvegetation oder Trockenwäldern und benötigen zudem einen lockeren Untergrund zum Anlegen ihrer Baue. Dadurch sind viele Vertreter im Gran Chaco, aber auch in den Pampa-Gebieten des zentralen Südamerikas vom südlichen Brasilien über Bolivien und Paraguay bis ins nördliche Argentinien anzutreffen; allein in Paraguay sind 12 der 21 heute noch lebenden Arten nachgewiesen. Einige Arten leben aber auch im tropischen Regenwald, in den Yungas-Wäldern der Hochgebirgsflanken oder in Feuchtgebieten wie dem Pantanal. Die direkten Hochlagen der Anden haben aber nur einzelne Gürteltierarten erschlossen, etwa das Kleine Borstengürteltier („Andenborstengürteltier“; Chaetophractus vellerosus).
Lebensweise
Territorialverhalten
Die Lebensweise der meisten Gürteltierarten ist nur wenig erforscht. Verlässliche Daten beziehen sich in der Regel auf die weiter verbreiteten und häufigeren Arten, etwa das Neunbinden- oder das Sechsbinden-Gürteltier (Euphractus sexcinctus). Gürteltiere sind überwiegend nachtaktive Einzelgänger; einige Arten erscheinen jedoch auch tagsüber. Insgesamt können drei Lebensmodelle unterschieden werden:
überwiegende Bodenbewohner, die nur selten unterirdische Baue graben, etwa die Kugelgürteltiere (Tolypeutes);
überwiegend grabende Tiere, die aber oberflächlich auf Nahrungssuche gehen, etwa die Langnasengürteltiere (Dasypus) und Borstengürteltiere (Chaetophractus);
generell grabende Tiere, die auch unterirdisch Nahrung aufnehmen, etwa die Nacktschwanzgürteltiere (Cabassous) und beide Vertreter der Gürtelmulle (Chlamyphorus und Calyptophractus).
Einen Großteil der Wachphase verbringen Gürteltiere mit der Nahrungssuche, meist behände und permanent, wobei der bestens entwickelte Geruchssinn die Beute bis zu 20 cm tief im Erdboden aufspürt, die daraufhin meist ausgegraben wird. Dabei sind einige Vertreter der Gürteltiere in der Lage, bis zu sechs Minuten lang die Luft anzuhalten, um die Atemwege freizuhalten. Trotz des plumpen und scheinbar starren Körperbaus können sich die Gürteltiere zudem erstaunlich flink fortbewegen. Einige Arten sind sogar gute Schwimmer; damit sie in ihrer Panzerung nicht untergehen, pumpen sie vorher Luft in Magen und Darm. Zum Schlafen graben sie sich im Boden ein oder suchen einen bereits vorhandenen Bau auf, die Wiedernutzung von derartigen Bauen ist aber von Art zu Art deutlich unterschiedlich. Die Wohnhöhlen selbst sind ebenfalls je nach Art unterschiedlich und können klein sein, aber auch verzweigt und mehrere Meter lang im Untergrund verlaufen. Zum Teil werden am Ende der Gänge auch vergrößerte Nistplätze angelegt.
Ernährung
Die Gürteltiere haben ein weites Nahrungsspektrum, allerdings werden Insekten je nach Menge mehr oder weniger von allen Vertretern gefressen. Es können hier jedoch verschiedene, artabhängige Ernährungsstrategien unterschieden werden:
überwiegende Carnivoren und Omnivoren, etwa das Sechsbinden-Gürteltier (Euphractus), das Zwerggürteltier (Zaedyus) und die Borstengürteltiere (Chaetophractus); diese vertilgen neben Insekten auch kleine Wirbeltiere wie Eidechsen und Mäuse, seltener Aas und Pflanzenkost;
opportunistische Insektenfresser, etwa die Kugelgürteltiere (Tolypeutes), die Langnasengürteltiere (Dasypus) und der Gürtelmull (Chlamyphorus); diese ernähren sich von den verschiedensten Insekten wie Ameisen, Termiten, aber auch Käfer und deren Larven sowie Heuschrecken und Spinnen;
spezialisierte Insektenfresser, etwa das Riesengürteltier (Priodontes) und die Nacktschwanzgürteltiere (Cabassous); deren Nahrung umfasst weitgehend Ameisen und Termiten.
Ebenso ernährten sich die ausgestorbenen Gürteltiere anhand untersuchter Zähne weitgehend omnivor oder insektivor, allerdings gibt es auch Hinweise auf eine deutlich fleischhaltigere Nahrung, etwa beim großen Macroeuphractus, dessen zweiter Zahn markant an einen Eckzahn erinnerte und der möglicherweise bis zu hasengroße Tiere erbeutete. Vertreter aus der Gruppe der Eutatini, etwa Eutatus, wiederum waren mehr auf pflanzliche Nahrung spezialisiert, was anhand des Baus des Unterkiefers und der Abrasionsspuren der Zähne ermittelt werden konnte.
Die Nahrungsaufnahme erfolgt in der Regel mit der langen, klebrigen Zunge. Die langen Krallen der Vordergliedmaße dienen zum Aufreißen der Ameisen- und Termitenhügel, die mitunter sehr hart sein können, oder zum Graben von Löchern, in denen nach Nahrung gesucht wird. Bei der Nahrungssuche richten sich Gürteltiere häufig auf die Hinterbeine auf, um eine Duftspur zu verfolgen.
Energiehaushalt und Konsequenzen des Panzers
Generell haben die Gürteltiere eine sehr niedrige Stoffwechselrate; sie liegt bei etwa 40 bis 60 % derer, die bei gleich großen Säugetieren zu erwarten wäre. Neben der der Kloakentiere gehört sie zu der niedrigsten unter den Säugetieren. Dabei ist der Metabolismus umso geringer, je stärker die Tiere an Ameisen und Termiten als primäre Nahrungsressourcen angepasst sind. Verursacht wird der langsame Stoffwechsel durch die geringe Energiedichte der Nahrung, durch das zusätzlich aufgenommene Erdmaterial beim Herumwühlen in den Insektennestern vermindert sich diese zusätzlich. Der Effekt wirkt sich bei größeren Arten mitunter stärker aus als bei kleineren, da unter anderem beim Riesengürteltier die Stoffwechselrate teils nur 29 % erreicht. Der sich je nach Aktivität unter Umständen ergebende höhere Sauerstoffbedarf wird anders als bei den meisten Säugetieren nicht durch tiefere, sondern durch schnellere Atemzüge gedeckt. Die Notwendigkeit dieses Verhaltens ergibt sich aus der Ausbildung des Panzers, der den Brustkorb einengt und so dessen Bewegungsspielraum beschränkt.
Die langsame Stoffwechselrate geht des Weiteren mit einer niedrigen sowie schwankenden Körpertemperatur und einer hohen Wärmeleitfähigkeit einher. Die durchschnittliche Körpertemperatur liegt bei tropisch verbreiteten Formen bei etwa 33 bis 34,5 °C, sie ist etwas niedriger als bei Tieren aus kühleren Regionen. Die hohe Wärmeleitfähigkeit wird durch die Ausbildung des Panzers und das Fehlen eines dichten Fells begünstigt, sie fördert die Abgabe der Körperwärme an die Umgebung und verhindert dadurch eine zu starke Aufheizung unter warmklimatischen Bedingungen. Zur Verhinderung einer zu schnellen Körperwärmeabgabe ziehen sich die Tiere bei lokalen starken Temperaturschwankungen in ihre unterirdischen Baue mit deutlich ausgeglicheneren Umgebungsbedingungen zurück. In kälteren Regionen auftretende Arten wie das Zwerggürteltier reagieren auf unwirtliche Phasen mit einem Torpor oder begegnen diesen wie beim Neunbinden-Gürteltier mit verminderter Aktivität. Teilweise kommt es bei diesen kälteresistenteren Vertretern auch zum Ansammeln eines Fettpolsters. Eine derartige Speicherstrategie der Nahrung ist bei vielen tropisch verbreiteten Arten kaum belegt. So würde ein zusätzliches Fettpolster etwa die Kugelgürteltiere nicht mehr befähigen, sich vollständig in ihren Panzer einzurollen.
Die generelle Konstitution und der Energiehaushalt bedingen, dass Gürteltiere häufiger in warmklimatischen Landschaften verbreitet sind und verhindern eine stärkere Ausbreitung in kühlklimatische Breiten. Als weiterer limitierender Faktor kommt die Verfügbarkeit der Ameisen und Termiten zur Deckung des Nahrungsbedarfs hinzu. Die staatenbildenden Insekten gedeihen unter winterkalten Bedingungen schlecht. Dies alles begrenzt beispielsweise die weitere Nordexpansion des Neunbinden-Gürteltiers erheblich. Des Weiteren haben die Ernährung und der daraus resultierende Stoffwechsel unmittelbaren Einfluss auf die Lebensstrategien verschiedener Tiergruppen. Bei den Gürteltieren führen die energiearme Kost und der niedrige Metabolismus zu einer unterirdischen Lebensweise. Der ausgebildete Panzer bietet wiederum einen gewissen Schutz vor sowohl Beutegreifern als auch einstürzenden Tunneln und ähnlichem. Sie behielten dadurch auch eine mehr oder weniger „urtümliche“ Fortbewegung mit Sohlengang und kurzen Gliedmaßen bei, die zwar eine prinzipiell schnelle, durch kurze Schritte aber weniger effektive Fortbewegung zulassen. Ähnliches ist auch von anderen insektenfressenden Säugetieren mit äußeren Schutzbildungen bekannt, seien es die Schuppentiere oder die vielfältigen, mit stacheligem Fellkleid ausgestatteten Tiere wie die Igel oder verschiedene Vertreter der Tenreks. Dagegen bildete sich bei den zu den Gürteltieren vergleichbar großen Hasenartigen durch ihre energiereiche Ernährung und ihrer hohen Stoffwechselrate ein hochmobiler Bewegungsapparat heraus, der durch lange Gliedmaßen charakterisiert ist. Sie stellen mit ihren hohen Geschwindigkeiten und großen Schrittlängen effektive Fluchttiere dar, so dass hier eine Körperpanzerung nicht erforderlich wurde.
Fortpflanzung
Die Fortpflanzung ist nur bei den wenigsten und vor allem am weitesten verbreiteten Arten gut erforscht. Generell ist die Brunftzeit die einzige Phase, in der mehrere Individuen der Gürteltiere zusammenkommen. Die Tragzeit ist recht unterschiedlich und kann bei den bekannteren Arten zwischen zwei und vier Monaten variieren. Beim Neunbinden-Gürteltier ist nachgewiesen, dass die befruchteten Eizellen mehrere Monate im Körper aufbewahrt werden, bevor deren Nidation stattfindet und die weitere Entwicklung folgt. Dadurch wird verhindert, dass die Weibchen in ungünstigen Zeiten chancenlose Nachkommen gebären. Darüber hinaus ist beim Neunbinden-Gürteltier und zusätzlich beim Südlichen Siebenbinden-Gürteltier Polyembryonie bekannt, so dass diese genetisch identische Nachkommen erzeugen, deren Anzahl bei zwei bis zwölf pro Wurf liegt. Für alle anderen Vertreter der Langnasengürteltiere wird diese Form der Reproduktion ebenfalls vermutet. Es ist allerdings bisher unklar, ob die Polyembryonie mit der Entwicklung der einfach gebauten Gebärmutter bei diesen Gürteltiervertretern zusammenhängt. Bei vier weiteren Gattungen ist die Geburt von nicht identischen Zwillingen bezeugt, die restlichen Arten bringen jeweils nur einen Nachkommen pro Wurf zur Welt. Die Jungen haben anfangs noch eine weiche, ledrige Haut, die nach und nach zum Panzer aushärtet, zudem werden sie meist nur wenige Wochen gesäugt. Die Lebenserwartung der Gürteltiere beträgt in freier Wildbahn bis zu 18 Jahre, in menschlicher Obhut erreichen einige Arten sogar mehr als 30 Jahre, allerdings konnte bisher nicht bei allen Arten ein Zuchterfolg verzeichnet werden.
Fressfeinde und Feindverhalten
Bei Gefahr suchen Gürteltiere meist den nächstgelegenen Bau auf oder graben sich ein, wo sie sich dann mit den Krallen in den Boden rammen sowie die Knochenplatten abspreizen und in die Tunnelröhre pressen und sich so fest im Erdboden verankern. Im Freien werden ebenfalls die Krallen in den Untergrund gedrückt, zusätzlich pressen sich die Tiere dabei fest an den Boden, so dass nur die Panzerung attackiert werden kann und der weiche Bauch geschützt ist. Allerdings bietet dann der Panzer keinen vollständigen Schutz, da er bei einigen Vertretern nur 2 bis 3 mm dick ist und von einigen größeren Raubtieren leicht geknackt werden kann. Zu einer rundum geschützten Kugel können sich nur die Kugelgürteltiere zusammenrollen; dabei ist der Panzer so lückenlos verzahnt und der Muskelschluss so fest, dass kaum ein Fressfeind diese Schale zerbeißen kann. Die Krallen lassen sich zudem gut zur Verteidigung einsetzen. Zu den potenziellen Fressfeinden gehören die größeren Raubkatzen wie Jaguar und Puma, aber auch kleinere Beutegreifer, etwa Kojote und Ozelot oder Vögel, so der Aguja und der Zaunadler. Ebenfalls stellen freilebende Hunde und Katzen Gürteltieren nach. Jungtiere können auch von zahlreichen weiteren Beutegreifern erlegt werden.
Ökologische Bedeutung
Gürteltiere üben einen großen Einfluss auf ihr jeweiliges lokales Habitat aus. Die grabenden Vertreter leisten einen Beitrag zur Bioturbation und damit zur Durchlüftung und Auflockerung von Bodensubstraten. Die dabei bewegte Erdmenge beträgt, abhängig von der Größe des Verursachers, je Bau zwischen 0,002 und 0,6 m³. Für eine untersuchte Region in Kolumbien ergab dies bei 157 registrierten Bauen des Riesengürteltiers ein Volumen von schätzungsweise rund 99 m³. Die Baue dienen aber nicht nur den Gürteltieren als Unterschlupf, sondern werden nachfolgend auch von zahlreichen anderen Tieren genutzt. Da die Gürteltiere somit Lebensraum für diverse Lebewesen schaffen, stufen Wissenschaftler sie als ecosystem engineers ein. Besonders gut ist dies beim Riesengürteltier untersucht, dessen Baue teils mehr als zwei Dutzend verschiedenen Arten als Lebensraum dienen. Ebenso haben Gürteltiere durch ihre grabende und wandernde Lebensweise einen Anteil am Nährstoffkreislauf. Dies betrifft nicht nur beispielsweise den Stickstoffgehalt, der bei entsprechender Populationsdichte durch Defäkation lokal deutlich ansteigen kann. Zusätzlich nehmen Gürteltiere durch ihre Ernährungsweise nennenswerte Mengen an Erde auf, die dann andernorts wieder ausgeschieden werden. Einige Arten, die mitunter pflanzenfressend leben, fungieren darüber hinaus als Verbreiter von Samen. Dies schließt mehr als drei Dutzend Pflanzengattungen ein, deren Früchte nachweislich zum Nahrungsspektrum der Gürteltiere gehören. Weitere Aspekte betreffen die Kontrolle der Ausbreitung von Krankheiten durch das Vertilgen zahlreicher unterschiedlicher Insektenarten. Allerdings sind Gürteltiere auch Träger mehrerer Krankheitserreger, die dem Menschen gefährlich werden können. Zu nennen wären hier unter anderem die Lepra und die Chagas-Krankheit. Nicht zuletzt bilden Gürteltiere einen Teil des Nahrungsnetzes, da sie nicht nur selbst im gewissen Maße räuberisch leben, sondern auch von anderen Predatoren erbeutet werden.
Systematik
Äußere Systematik
Die Gürteltiere (Dasypoda) sind eine Gruppe aus der Ordnung der Gepanzerten Nebengelenktiere (Cingulata) und der Überordnung der Nebengelenktiere (Xenarthra). Als gemeinsames Merkmal der ansonsten sehr vielgestaltigen Nebengelenktiere gelten die xenarthrischen Gelenke an der Wirbelsäule. Ebenfalls zu den Xenarthra zu stellen sind die Faultiere (Folivora) und die Ameisenbären (Vermilingua), die beide eine enger verwandte Gruppe darstellen und als Ordnung der Zahnarmen (Pilosa) den Gürteltieren gegenüberstehen. Molekulargenetische Analysen zeigten auf, dass die Trennung der gemeinsamen Linie der Faultiere und Ameisenbären von der der Gürteltiere bereits zu Beginn des Paläozäns vor rund 65 Millionen Jahren erfolgt war. Die Xenarthra, deren Ursprung bis in die Oberkreide zurückreicht, bilden eine der vier großen Überordnungen der Höheren Säugetiere, die drei anderen werden teilweise in einem übergeordneten Taxon zusammengefasst, den Epitheria, das den Xenarthra als Schwestergruppe gegenübersteht. Alle drei rezenten Ordnungen sind heute auf Amerika begrenzt.
Die Zusammensetzung und systematische Gliederung der Gepanzerten Nebengelenktiere ist komplex und in Diskussion. Allgemein können neben den Gürteltieren einige andere größere, nur fossil überlieferte Linien unterschieden werden. Von Bedeutung sind hier unter anderem die Pampatheriidae und Glyptodontidae, die gemäß phylogenetischen Untersuchungen als sehr nah miteinander verwandt gelten und daher in der höheren taxonomischen Einheit der Glyptodonta zusammengefasst werden. Die Pampatherien traten erstmals im Mittleren Miozän auf und verfügen ebenfalls über einen starren Schulter- und Beckenpanzer, zwischen denen sich einzelne, zumeist drei, bewegliche Bänder befinden. Allerdings waren die Vertreter vor allem in der Spätphase ihrer Stammesgeschichte wesentlich größer als die heutigen Gürteltiere. So erreichte die nordamerikanische Gattung Holmesina, die erst am Ende des Pleistozän vor rund 10.000 Jahren ausstarb, eine Länge von zwei 2 m und ein Körpergewicht von bis zu 220 kg; ähnliche Ausmaße besaß das zur gleichen Zeit in Südamerika verbreitete Pampatherium. Ursprünglich hielt man die Pampatherien als nahe verwandt mit den Gürteltieren, teilweise wurden sie auch als Unterfamilie innerhalb dieser geführt. Die nähere Beziehung der Pampatherien und Glyptodonten zueinander ergibt sich jedoch unter anderem aus der Struktur des Gehörganges und dem Bau des Kauapparates, wie der hohe Unterkiefer sowie die komplexer gestalteten Zähne. Die Glyptodonten wiederum bilden eine der umfangreichsten Gruppen innerhalb der Cingulata. Sie sind durch einen starren Panzer und durch das Fehlen der xenarthrischen Gelenke gekennzeichnet, aufgrund ihrer hochkronigen Zähne verfolgten sie wohl ähnlich wie die Pampatherien eine eher grasfressende Lebensweise. Glyptodonten traten erstmals im Mittleren Eozän auf und waren anfänglich noch recht klein, so wog das aus dem Unteren Miozän stammende Propalaehoplophorus nur rund 74 kg. Sie erreichten aber im Pleistozän riesige Ausmaße mit einem Gewicht von über 2 t wie bei Doedicurus.
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts sahen die meisten Wissenschaftler die Glyptodonten- und die Gürteltierverwandtschaft als zwei getrennte Entwicklungslinien an. Skelettanatomische Untersuchungen aus dem Jahr 2006, durchgeführt von Timothy J. Gaudin und John R. Wible, verwiesen die Glyptodonta jedoch in eine verwandtschaftliche Nähe der Gürteltiere. Hier erwies sich vor allem das unmittelbare Umfeld des Sechsbinden-Gürteltiers (Euphractus) und der Borstengürteltiere (Chaetophractus) als bedeutend. Allerdings ergaben sich dadurch erste Hinweise auf einen paraphyletischen Ursprung der Gürteltiere. Dies wurde durch weitere anatomische Studien im Jahr 2011 untermauert, die die Glyptodonta noch tiefer in die Gürteltierverwandtschaft hineinrückten. Neuere genetischen Analysen aus dem Jahr 2016 an fossilem Erbgut der Glyptodontidae, namentlich von Doedicurus, kamen zu einem vergleichbaren Ergebnis. Demnach gruppieren sich zumindest die Glyptodonten innerhalb der Chlamyphoridae, anders als bei den anatomischen Studien ist hier aber eine engere Bindung an die Verwandtschaftsgruppe um die Kugelgürteltiere (Tolypeutes) und die Gürtelmulle wahrscheinlicher. Dadurch bestätigte sich einerseits die paraphyletische Herkunft der Gürteltiere als gesamte Einheit unter Einbeziehung ausgestorbener Gruppen, sie zeigten aber auch auf, dass die Glyptodonten keine eigenständige Entwicklungslinie innerhalb der Gepanzerten Nebengelenktiere darstellen. Inwiefern eine ähnliche Stellung auch für die Pampatherien zutrifft, ist momentan aus genetischer Sicht unklar, da noch kein DNA-Material sequenziert wurde.
Des Weiteren bestehen innerhalb der Cingulata noch einige andere ausgestorbene Gruppen. Hierzu gehören die Peltephilidae, die Palaeopeltidae und die Pachyarmatheriidae. Ihre Verwandtschaftsverhältnisse zu den Gürteltieren sind nicht ganz eindeutig geklärt. Erstere könnten sehr basal im Stammbaum der Gepanzerten Nebengelenktiere stehen, letztere formen eventuell die Schwestergruppe der Glyptodonten und Pampatherien.
Innere Systematik
Die heutigen Gürteltiere werden nach molekulargenetischen Untersuchungen aus dem Jahr 2015 in zwei Familien untergliedert, die sich aus neun Gattungen und 20 Arten zusammensetzen. Die eine Familie umfasst mit den Dasypodidae die Langnasengürteltiere (Dasypus), die andere, Chlamyphoridae genannt, schließt alle anderen bekannten Gattungen ein. Die Aufspaltung der heutigen Gürteltiere in diese beiden Entwicklungslinien begann laut den genetischen Daten bereits sehr früh und fand im Verlauf des Mittleren Eozäns vor rund 45 Millionen Jahren statt. Die gegenwärtigen Gürteltiere bilden allerdings nur einen Teil der einstigen Artenvielfalt ab. Es bestehen innerhalb der beiden Familien insgesamt vier Hauptlinien (Unterfamilien), zu denen auch ein nennenswerter Teil der fossil überlieferten Vertreter zugeordnet wird. Die vier Hauptlinien sind sowohl genetisch als auch anatomisch gut abgrenzbar. Die älteste Linie stellen dabei die Dasypodinae mit den Langnasengürteltieren (Dasypus) dar. Sie bilden außerdem die Tribus der Dasypodini. Weiterhin sind hier noch die ausgestorbenen Linien der Stegotheriini und der Astegotheriini hinzuzufügen, letztere umfassen die ursprünglichste Gruppe der Gürteltiere, die bereits im ausgehenden Paläozän fossil belegt ist.
Die drei anderen Linien erschienen relativ schnell hintereinander. Noch im Oberen Eozän vor 37 Millionen Jahren formten sich die Euphractinae heraus, fossil sind diese aber seit mindestens 42 Millionen Jahren nachgewiesen. Ihr gehören neben dem namensgebenden Sechsbinden-Gürteltier (Euphractus) auch das Zwerggürteltier (Zaedyus) und die Borstengürteltiere (Chaetophractus) an. Sie werden zusammen in der Tribus der Euphractini vereint, denen auch mehrere ausgestorbene Vertreter angehören. Ihnen gegenüber stehen die Eutatini, eine erloschene Linie mit zahlreichen Gattungen. Die Eutatini gehörten zu den formenreichsten Vertretern der Gürteltiere, sie lebten allerdings ausschließlich im südlichen Südamerika, wo sie anhand teilweise gut erhaltener Fossilfunde nachgewiesen sind, die zudem die Feststellung erlauben, dass ein äußerst dichtes Haarkleid als Adaption an kühles Klima ausgebildet war.
Im Oligozän vor rund 33 Millionen Jahren spalteten sich dann die Chlamyphorinae und die Tolypeutinae voneinander ab, die beiden letzten großen Linien. Den Chlamyphorinae werden die beiden Vertreter der Gürtelmulle (Chlamyphorus und Calyptophractus) zugeordnet. Von beiden Arten liegt kein nennenswertes Fossilmaterial vor; eine ausgestorbene Gattung ist mit Chlamydophractus aus dem Oberen Miozän belegt. Die Tolypeutinae führen die Kugelgürteltiere (Tolypeutes), das Riesengürteltier (Priodontes) und die Nacktschwanzgürteltiere (Cabassous) zusammen. Dabei formen die letzten beiden die Tribus der Priodontini, ersteres steht dagegen in der Tribus der Tolypeutini. Ausgestorbene Linien werden hier nicht unterschieden, doch ist mit Kuntinaru ein sehr basaler Vertreter der Tolypeutinae aus dem Oligozän dokumentiert.
Überblick über die rezenten und fossilen Gattungen der Gürteltiere
Innerhalb der Gürteltiere werden rund 60 Gattungen unterschieden, einige dieser Gattungen, etwa Dasypus, Chasicotatus, Eutatus oder Stegotherium, sind sehr formenreich und umfassen teils über ein halbes Dutzend Arten. Die Gliederung basiert auf dem Überblick von Malcolm C. McKenna und Susan K. Bell aus dem Jahr 1997, berücksichtigt aber auch neuere Entwicklungen zur höheren Systematik der Gürteltiere ebenso wie danach neu eingeführte Gattungen:
Dasypoda Quenstedt, 1885 (Hoernes, 1886)
? Yuruatherium Ciancio, Carlini, Campbell & Scillato-Yané, 2013
? Proeocoleophorus Sedor, Oliveira, Silva, Fernandes, Cunha, Ribeiro & Dias, 2017
? Saltatherium Fernicola, Zimicz, Chornogubsky, Cruz, Bond, Arnal, Cárdenas & Fernández, 2021
Lumbreratherium Herrera, Powell, Esteban & del Papa, 2017
Pucatherium Herrera, Powell & del Papa, 2012
Punatherium Ciancio, Herrera, Aramayo, Payrola & Babot, 2016
Noatherium Fernicola, Zimicz, Chornogubsky, Ducea, Cruz, Bond, Arnal, Cárdenas & Fernández, 2021
Eocoleophorus Oliveira, Ribeiro & Bergqvist, 1997
Familie Dasypodidae Gray, 1821
Unterfamilie Dasypodinae Gray, 1821
Tribus Astegotheriini Ameghino, 1906
Riostegotherium Oliveira & Bergqvist, 1998
Prostegotherium Ameghino, 1902
Astegotherium Ameghino, 1902
Pseudostegotherium Ameghino, 1902
Parastegosimpsonia Ciancio, Carlini, Campbell & Scillato-Yané, 2013
Nanoastegotherium Carlini, Vizcaíno & Scillato-Yané, 1997
Stegosimpsonia Oliveira & Vizcaíno, 1994
Tribus Stegotheriini Gray, 1821
Stegotherium Ameghino, 1887
Tribus Dasypodini Gray, 1821
Plesiodasypus Barasoain, González-Ruiz, Zurita & Villarroel, 2021
Anadasypus Carlini, Vizcáıno & Scillato-Yané, 1997
Propraopus Ameghino, 1881
Pliodasypus Castro, Carlini, Sánchez & Sánchez-Villagra, 2014
Dasypus Linnaeus, 1758 (Langnasengürteltiere; einschließlich sieben rezenter Arten)
Familie Chlamyphoridae Bonaparte, 1850
Unterfamilie Tolypeutinae Gray, 1865
Kuntinaru Billet, Hautier, de Muizon & Valentin, 2011
Tribus Tolypeutini Gray, 1865
Pedrolypeutes Carlini, Vizcaíno. & Scillato-Yané, 1997
Tolypeutes Illiger, 1811 (Kugelgürteltiere; einschließlich zwei rezenter Arten)
Tribus Priodontini Gray, 1873
Vetelia Ameghino, 1891
Priodontes Cuvier, 1825 (Riesengürteltier; einschließlich einer rezenten Art)
Cabassous McMurtrie, 1831 (Nacktschwanzgürteltiere; einschließlich vier rezenter Arten)
Unterfamilie Chlamyphorinae Bonaparte, 1850
Chlamydophractus Barasoain, Tomassini, Zurita, Montalvo & Superina, 2019
Chlamyphorus Harlan, 1825 (Gürtelmull; einschließlich einer rezenten Art)
Calyptophractus Fitzinger, 1871 (Burmeister-Gürtelmull; einschließlich einer rezenten Art)
Unterfamilie Euphractinae Winge, 1923
Coelutaetus Ameghino, 1902
Dasypodon Castellani, 1925
Tribus Utaetini Simpson, 1945
Utaetus Ameghino, 1902
Tribus Eutatini Bordas, 1933
Meteutatus Ameghino, 1902
Barrancatatus Carlini, Ciancio & Scillato-Yané, 2010
Paraeutatus Scott, 1933
Sadypus Ameghino, 1902
Stenotatus Ameghino, 1891
Pseudeutatus Ameghino, 1891
Ringueletia Reig, 1958
Chasicotatus Scillato-Yané, 1979
Doellotatus Bordas, 1932
Proeutatus Ameghino, 1891
Eutatus Gervais, 1867
Tribus Euphractini Winge, 1923
Parutaetus Ameghino, 1902
Orthutaetus Ameghino, 1902
Archaeutatus Ameghino, 1902
Anteutatus Ameghino, 1902
Mazzoniphractus Carlini, Ciancio & Scillato-Yané, 2010
Paleuphractus Kraglievich, 1934
Archeuphractus Kraglievich, 1934
Paraeuphractus Scillato-Yané, 1980
Prozaedyus Ameghino, 1891
Chorobates Reig, 1958
Macrochorobates Scillato-Yané, 1980
Amblytatus Ameghino 1902
Paraeuphractus Scillato-Yané, 1980
Anutaetus Ameghino 1902
Eodasypus Ameghino 1894
Hemiutaetus Ameghino 1902
Isutaetus Ameghino 1902
Macroeuphractus Ameghino, 1887
Proeuphractus Ameghino, 1886
Zaedyus Ameghino, 1889 (Zwerggürteltier; einschließlich einer rezenten Art)
Euphractus Wagler, 1830 (Sechsbinden-Gürteltier; einschließlich einer rezenten Art)
Chaetophractus Fitzinger, 1871 (Borstengürteltiere; einschließlich zwei rezenter Arten)
Taxonomie
Gürteltiere wurden in Europa erstmals Anfang des 16. Jahrhunderts mit der Eroberung Amerikas durch die spanischen Conquistadoren bekannt. Francisco Hernández de Córdoba, der 1517 die Halbinsel Yucatán entdeckte, benutzte als Bezeichnung für das Neunbinden-Gürteltier den lokalen aztekischen Namen Azotochtli, was übersetzt so viel wie „Schildkrötenhase“ bedeutet und sich auf das Aussehen des Tieres bezieht. Im Jahr 1553 veröffentlichte Pierre Belon eine der ältesten bekannten Zeichnungen eines Gürteltiers und benannte die Tiere als Tatou. Er stellte die Tiere dabei an die Seite der Igel. Mehr als 200 Jahre später, 1763, gab Georges-Louis Leclerc de Buffon in seinem mehrbändigen Werk Histoire naturelle, générale et particuliére einen umfassenden Überblick über die damals bekannten Arten. Nur fünf Jahre zuvor hatte aber Linnaeus in der 10. Ausgabe des Systema Naturae die wissenschaftliche Bezeichnung Dasypus für das Neunbinden-Gürteltier eingeführt. Dabei verwies er für die Wortherkunft auf Hernández. Es wird angenommen, dass Linnaeus den aztekischen Namen Azotochtli als ungeeignet für eine Latinisierung und damit für eine Verwendung in der binären Nomenklatur erachtete und daher Dasypus verwendete (das Wort dasypus ist griechischer Herkunft (δασύπους) und bedeutet direkt übersetzt „Rauhfuß“, wurde aber teilweise auch auf den Hasen bezogen). Gleichzeitig belegte er das Siebenbinden-Gürteltier (Dasypus septemcinctus), das Sechsbinden-Gürteltier (Euphractus sexcinctus), das Nördliche Kugelgürteltier (Tolypeutes tricinctus) und das Südliche Nacktschwanzgürteltier (Cabassous unicinctus) ebenfalls mit dem Gattungsnamen Dasypus. Die einzelnen Arten unterschied er anhand der Anzahl der beweglichen Gürtel.
Einen von Dasypus abgeleiteten Familiennamen führte John Edward Gray im Jahr 1821 ein, womit er heute als Erstbeschreiber der Familie angesehen wird. Er wählte damals Dasipidae als Name der Familie und erkannte als einzige Gattung Dasypus an. Seine kurze Beschreibung lautete:
Die heute korrekte Namensform Dasypodidae wurde erstmals 1838 von Charles Lucien Jules Laurent Bonaparte verwendet, er galt teilweise auch als Erstbeschreiber der Familie. Die Bezeichnung wurde lange Zeit für die gesamte Gruppe der Gürteltiere verwendet. Die Aufteilung der Gürteltiere in zwei Familien (Dasypodidae und Chlamyphoridae), die aufgrund der Ergebnisse molekulargenetischer Untersuchungen im Jahr 2015 erfolgte, erforderte eine neue Bezeichnung für die übergeordnete Gruppe. Gewählt wurde der Name „Dasypoda“. Die Erstverwendung des Namens ist nicht eindeutig. Friedrich August Quenstedt nutzte ihn im Jahr 1885 in seinem Handbuch der Petrefaktenkunde. Allerdings gebrauchte ihn Rudolf Hoernes im selben Zeitraum. Dabei wird häufig auf das Werk Manuel de paléontologie verwiesen, das 1886 in Paris erschien. Die Bezeichnung Dasypoda findet sich jedoch bereits im zwei Jahre zuvor verlegten deutschsprachigen Original Elemente der Paläontologie. Beide Autoren schlossen die Glyptodonten in die Dasypoda mit ein, aufgrund dessen galt die Bezeichnung zumeist als synonym zu Cingulata. Ende der 1970er Jahre verwendete George F. Engelmann die Bezeichnung Dasypoda, um die Gürteltiere von den Glyptodonta zu trennen, in letzteren fasste er die Glyptodontidae und die Pampatheriidae zusammen. Dieser Ansatz hatte vorerst aber nur kurze Zeit Bestand, unter anderem auch dadurch, dass Engelmann nur wenige trennende Merkmale zwischen den beiden Großgruppen aufführen konnte. Dass die Dasypoda und die Glyptodonta im Sinne Engelmanns eine Entwicklungslinie bilden, konnte später dann durch die skelettanatomischen Untersuchungen von Gaudin und Wible aus dem Jahr 2006 aufgezeigt werden. Unterstützung fand dies auch durch die bereits erwähnten genetischen Untersuchungen an fossiler DNA der Glyptodonten aus dem Jahr 2016.
Dasypoda ist außerdem ein höherrangiges Homonym zur Gattung der Hosenbienen (Dasypoda), welche von Pierre André Latreille bereits 1802 eingeführt worden war. Die Etablierung von Dasypoda als Überbegriff für die Gürteltiere stieß später aufgrund der wechselhaften Verwendung in der Vergangenheit auf Kritik. Stattdessen wurde die Bezeichnung Dasypodoidea vorgeschlagen, die wiederum auf Gray zurückgeht.
Etymologie
Der deutsche Trivialname „Gürteltier“ bezieht sich auf die beweglichen Bänder oder Gürtel zwischen den beiden festen Panzerteilen. Die im englischen Sprachraum genutzte Bezeichnung armadillo leitet sich vom spanischen Wort armado ab und bedeutet „kleiner Gepanzerter“. Im spanisch sprechenden Raum, vor allem in Südamerika, wird allerdings überwiegend das Guaraní-Wort tatu als Bezeichnung für das Gürteltier genutzt.
Stammesgeschichte
Ursprung und Adaptive Radiation
Insgesamt ist die Stammesgeschichte der Gürteltiere nur wenig erforscht und es bestehen noch zahlreiche Lücken. Umfangreichere Funde liegen hauptsächlich aus dem Eozän, dem Miozän und dem Oberpleistozän vor. Das überwiegende Fossilmaterial beschränkt sich auf die Reste der Panzerung, weitaus rarer sind Schädel- und Skelettreste erhalten. Insgesamt treten Vertreter der Gruppe vergleichsweise eher selten im Fossilbericht auf, dies betrifft auch zahlreiche der heutigen Gürteltierarten, deren Nachweise in geologischer Vergangenheit nur vereinzelt gelang.
Die frühesten Gürteltiere zeigen einige bedeutende Unterschiede zu den heutigen Arten. Ein auffallendes Merkmal ist die abweichende Panzergestaltung. Der Rückenpanzer bestand häufig nur aus einem festen Teil, der im Beckenbereich ausgebildet war, während sich der gesamte vordere Abschnitt aus beweglichen Bändern zusammensetzte. Einige Formen wiesen auch einen Panzer nur aus beweglichen Bändern auf. Der heutige Panzer der Gürteltiere mit einem festen vorderen und hinteren Abschnitt getrennt durch bewegliche Bänder entstand damit erst im Verlauf der Stammesgeschichte. Sofern fossil erhalten, war bei manchen frühen Formen im Gebiss noch Zahnschmelz ausgebildet. Dieser reduzierte sich im Verlauf der Evolutionsgeschichte. Heute kommt eine extrem dünne und schnell abgekaute Zahnschmelzschicht nur noch bei einigen Langnasengürteltieren vor. Ebenso waren die Zähne nicht typisch nagelartig geformt, wie heute bekannt, sondern hatten teils eine flache, eher lappige (lobate) Kauoberfläche. Dies gilt als ursprünglich bei den Nebengelenktieren und findet sich ebenfalls bei den Glyptodontidae, den Pampatheriidae und einigen der ausgestorbenen großen Bodenfaultiere.
Fossil fassbar werden die ersten Gürteltiere im Oberen Paläozän vor rund 58 Millionen Jahren. Bedeutend sind hier vor allem die Funde aus einer Spaltenfüllung der Itaboraí-Formation nahe São José de Itaboraí in Itaboraí im südöstlichen Brasilien, die einige Knochenplättchen und weniges postcraniales Skelettmaterial umfassen. Diese werden heute zur Gattung Riostegotherium gestellt, die in die systematische Nähe der Langnasengürteltiere (Dasypus) gehört. Die Tiere besaßen bereits einen Panzer, der sich aus einem festen und einem beweglichen Teil zusammensetzte.
Eozän
Im Unteren Eozän verblieben die Gürteltiere vorerst im zentralen und südlichen Südamerika, das zu dieser Zeit unter tropischen Klimaeinfluss stand. Aus jener Phase sind hauptsächlich Vertreter der Astegotheriini nachgewiesen. Im heutigen Patagonien Argentiniens liegen zwei Fundstellen, Laguna Fría und La Barda am Mittellauf des Río Chubut. Hier treten vor allem Prostegotherium und Stegosimpsonia auf, zwei eher kleine Vertreter der frühen Gürteltiere. Möglicherweise im Mittleren Eozän sind erstmals Angehörige der Euphractinae nachgewiesen. Von herausragender Bedeutung ist hier Gran Barranca im zentralen Patagonien. Die überaus komplexe Fundstelle barg unter anderem Reste bisher seltener Vertreter wie Mazzoniphractus und Orthutaetus, aber auch häufiger dokumentierte Formen wie Meteutatus, Parutaetus und Utaetus. Letzteres kann zahlreiche Reste des Körperskeletts vorweisen, die ein rund 2 bis 3 kg schweres Tier rekonstruieren lassen, das noch Zähne mit Zahnschmelz besaß. Sein Panzer verfügte darüber hinaus lediglich im Beckenbereich über eine feste Struktur, während der gesamte vordere Abschnitt aus beweglichen Bändern bestand. Sowohl Utaetus als auch Meteutatus, Parutaetus fanden sich auch in der zu den unteren Abschnitten von Gran Barranca gleich alten Guabirotuba-Formation im brasilianischen Bundesstaat Paraná. Dort verweisen auch mehrere atypische Osteoderme auf Proeocoleophorus, dessen verwandtschaftliche Verhältnisse aber unklar sind.
In der Lumbrera-Formation im nordwestlichen Argentinien, die in das Untere und Mittlere Eozän datiert, fehlen hingegen die aus Patagonien bekannten Gürteltierformen bisher weitgehend. Dafür stammt von dort Noatherium, dessen Verwandtschaftsverhältnis innerhalb der Gürteltiere noch nicht eindeutig ist. Als Besonderheit wurde des Weiteren ein für die frühen Gürteltiere sehr seltener Schädel von Lumbreratherium aufgefunden. Dessen Gebiss war heterodont mit einem vorderen eckzahnähnlichen Zahn, der von den restlichen molarenartigen Zähnen durch eine große Lücke (Diastema) getrennt war. Die Gesteinseinheit barg zudem auch ein Teilskelett von Pucatherium, das aus dem Körperpanzer und darin eingebetteten Teilen des Bewegungsapparates besteht. Sowohl bei Lumbrerartherium als auch bei Pucatherium wurde der Panzer nur aus beweglichen Bändern gebildet, während er bei Noatherium übereinstimmend mit Utaetus im hinteren Abschnitt, am Becken, einen fest verwachsenen Bereich besaß. Dadurch lassen sich im Verlauf des Eozän verschiedene Konstruktionstypen des Panzers nachweisen. Pucatherium wurde in der Region des Weiteren auch aus der Casa-Grande-, der Quebrada-de-los-Colorados- und der Geste-Formation beschrieben. Letztere erbrachte unter anderem zusätzlich Punatherium. In der Regel sind aber aus den genannten Fundlokalitäten nur Knochenplättchen überliefert. Zeitlich können sie etwas jünger angesetzt werden als die Lumbrera-Formation.
Zu jener Zeit kam es auch zu den ersten Ausbreitungen in weiter nördlich gelegene Teile Südamerikas. So sind aus der Nähe von Santa Rosa am Río Yurúa im Osten Perus mehrere Arten nachgewiesen, etwa Yuruatherium und Parastegosimpsonia, die in das späte Eozän datieren, letzteres gehört den Astegotheriini an, ersteres ist noch nicht genau zuordenbar.
Oligozän
Abkühlende Klimaverhältnisse im Übergang vom Eozän zum Oligozän führten zu einem deutlichen Anstieg euphractiner Gürteltiere, die offensichtlich mit den vorherrschenden Temperaturen besser zurecht kamen. Im frühen Abschnitt der Zeitphase traten in Termas del Flaco im zentralen Chile unter anderem zwei Gattungen auf, Parutaetus und Meteutatus, die dort anhand der Panzerplättchen der Rückenschilde, aber auch durch zahlreiches Schädel- und postcraniales Skelettmaterial nachgewiesen wurden, darunter auch ein nahezu vollständiger Panzer. Eine vergleichbare Gürteltier-Gemeinschaft bestand in Quebrada Fiera im westlichen Argentinien, wo unter anderem neben Meteutatus zusätzlich auch Stenotatus dokumentiert ist. Die weiterfolgende Sukzession in Gran Barranca im zentralen Patagonien zeigt wiederum eine hohe Vielfalt an Gürteltieren. Dies schließt unter anderem Sadypus, Meteutatus und Barrancatatus aus der Gruppe der Eutatini sowie Parutaetus und Archaeutatus aus der Gruppe der Euphractini ein. Aus dem Oberen Oligozän ist Kuntinaru überliefert, ein basales Mitglied der Tolypeutinae ohne spezielle Gruppenzuweisung, das mit Hilfe eines Schädelfundes aus den Salla Beds von Salla-Luribay in Bolivien in der Nähe von La Paz beschrieben werden konnte und rund 26 Millionen Jahre alt ist. Mit Eocoleophorus ist weiterhin ein früher Repräsentant der Dasypodini im Tabauté-Becken Brasiliens entdeckt worden, so dass zu jener Zeit drei der vier Hauptlinien der Gürteltiere fassbar sind.
Miozän
Für das Untere und Mittlere Miozän ist die sehr fossilreiche Santa-Cruz-Formation im südlichsten Teil Südamerikas von großer Bedeutung. Die dort damals vorherrschenden Landschaften unterlagen einem feuchten subtropischen Klima und bestanden aus einer Mixtur aus offenen Savannen und teils geschlossenen Wäldern, was eine formenreiche Gürteltierfauna hervorrief. Recht häufig belegt ist Stegotherium aus der Gruppe der Stegotheriini und deren einziger Vertreter, der hier einen seiner frühesten Nachweise hat, möglicherweise aber schon im Oligozän vorkam. Er ist unter anderem in mehreren Fundstellen nahe dem Lago Argentino aufgefunden worden, aber auch aus den küstennahen Fundgebieten entlang des Atlantiks dokumentiert. Die markant verlängerte Schnauze und die in ihrer Größe deutlich reduzierten Zähne zeichnen Stegotherium als eine stark spezialisierte Form aus, die überwiegend Ameisen und Termiten als Nahrungsgrundlage nutzte. Es handelt sich um den bisher am deutlichsten an diese Ernährungsweise angepassten Vertreter der Gürteltiere. Die Gesteinseinheit barg darüber hinaus ein hervorragend erhaltenes Skelett von Prozaedyus, das etwa die Größe des heutigen Zwerggürteltiers erreichte. Auch Proeutatus und Stenotatus sind von hier bekannt, ersteres wurde dabei bis zu 15 kg schwer. Alle drei Vertreter gehören den Euphractinae an, wobei Prozaedyus die Euphractini repräsentiert, die beiden anderen aber die Eutatini. Hervorzuheben ist hierbei, dass es innerhalb der Euphractinae zu Beginn des Miozäns einen Austausch gab, da fast alle älteren Formen verschwanden und durch neue ersetzt wurden. Die Gattung Vetelia, von der einzelne Knochenplättchen vorliegen, repräsentierte ein großes Gürteltier vergleichbar mit dem heutigen Riesengürteltier. Ursprünglich ebenfalls zu den Euphractinae gezählt, verweist seine kurze und robuste Schnauze und die Ornamentierung der Osteoderme eher auf eine Beziehung zu den Tolypeutinae mit einer engeren Bindung an das erwähnte Riesengürteltier und die Nacktschwanzgürteltiere. Als lang andauernde Form ist Vetelia noch bis in das Obere Miozän präsent.
Die aus der Santa-Cruz-Formation belegten Gürteltiere bilden auch Bestandteil der Faunen anderer, gleich alter Gesteinseinheiten in Südamerika, so der Chucal-Formation im nördlichen und der Río-Zeballos-Formation im südlichen Chile. Sie sind dann noch bis ins Mittlere Miozän nachgewiesen, wo Funde aus den Cerdas Beds im südlichen Bolivien stammen. Einige Formen des frühen Miozäns überlebten jedoch bis in jüngere Zeitphasen. Dies betrifft etwa Prozaedyus, das mit einem sehr kleinen Angehörigen aus der Loma-de-Las-Tapias-Formation im nordwestlichen Argentinien dokumentiert ist. Diese entstand im beginnenden Oberen Miozän. Der aufgefundene nahezu vollständige Schädel zeigt mit seiner kurzen Schnauze einen Allesfresser an. Eine herausragende Fundstelle bildet La Venta am Mittellauf des Río Magdalena in Kolumbien. Die hier aufgeschlossene Honda-Gruppe umfasst mehrere Gesteinseinheiten, die in der Spätphase des Mittleren Miozäns entstanden waren. Mit Plesiodasypus, aufgefunden in der La-Victoria-Formation, tritt unter anderem ein erster früher Vertreter der Dasypodini auf. Belegt ist die Form über einen Schädel und mehrere Panzerfragmente. Das Alter der Funde beträgt etwa 13,3 Millionen Jahre. Rund 12,5 Millionen Jahre alt und damit nur unwesentlich jünger ist Anadasypus aus der gleichen Verwandtschaftsgemeinschaft. Dessen Reste in Form eines Rückenpanzers wurden aus der auflagernden Villavieja-Formation zu Tage gefördert. Gleiches ist für Nanoastegotherium aus der Gruppe der Astegotheriini anzugeben, von dem weitgehend nur isolierte Knochenplättchen vorliegen. Eine Besonderheit bilden Panzerreste und Teile des Körperskelettes von Pedrolypeutes. Dieser Vorläufer der Kugelgürteltiere kam noch in den obersten Abschnitten der La-Victoria-Formation zum Vorschein. Somit ließ sich erstmals im nördlichen Südamerika ein Angehöriger der Tolypeutinae dokumentieren.
Das ausgehende Mittlere und das Obere Miozän ist vor allem durch das Vorkommen zahlreicher neuer Mitglieder der Eutatini und Euphractini gekennzeichnet. So erscheinen hier Macroeuphractus, Proeuphractus und Chasicotatus. Alle drei Gattungen sind vom Conglomerado osifero nachgewiesen, einer äußerst fossilreichen Lagerstätte im Nordosten Argentiniens, ebenso wie von der Cerro-Azul-Formation in der Pampa-Region. Die rund 5200 Gürteltierfragmente aus dieser Gesteinseinheit erbrachten zusätzlich Reste von Doellotatus, Ringueletia, Chorobates und Macrochorobates ebenso wie von Vetelia als Vertreter einer überlieferten älteren Linie. Von Chasicotatus und Macrochorobates stammen einzelne Knochenplättchen auch von der Salicas-Formation im Nordwesten Argentiniens. Auf Chasicotatus wiederum geht unter anderem ein nahezu vollständiger Rückenpanzer aus der Arroyo-Chasicó-Formation in der argentinischen Provinz Buenos Aires zurück. Die gleiche Gesteinseinheit barg mit Chlamydophractus auch den bisher einzigen Nachweis eines fossilen Gürtelmulls, von dem neben Panzerfragmenten ein Unterkiefer und verschiedene Elemente des Bewegungsapparates überliefert sind. Neben diesen stammesgeschichtlich jüngeren Formen sind zusätzlich noch einzelne ältere gefunden worden, so etwa Vetelia. Ihr können mehrere Unterkiefer zugesprochen werden. Zudem gibt es aus der Arroyo-Chasicó-Formation einen der frühesten Hinweise auf Parasitismus von Flöhen an Gürteltieren. Dabei handelt es sich um Fraßspuren der Insekten, die sich im Panzer der damals lebenden Tiere einnisteten. Die meisten Linien der frühen Gürteltiere starben weitgehend zum Ende des Miozäns oder im Verlauf des folgenden Pliozäns wieder aus.
Plio- und Pleistozän
Im Pliozän schloss sich der Isthmus von Panama, wodurch eine Landbrücke nach Nordamerika entstand. Daraufhin setzte der Große Amerikanische Faunenaustausch ein. Zunächst trat im Pliozän weiterhin mit Macroeuphractus einer der größten Gürteltiervertreter auf, der die Größe eines heutigen Hausschweins erreichte. Dieser ist unter anderem aus dem nördlichen Argentinien nahe Buenos Aires nachgewiesen. Zudem sind aus dieser Zeit die ersten Belege heutiger Gürteltiere bekannt. So war Tolypeutes mit der ausgestorbenen Art Tolypeutes pampaeus in der Pampa-Region noch bis in das ausgehende Unterpleistozän verbreitet, in der gleichen Region entwickelte sich Chaetophractus mit dem Braunborsten-Gürteltier. Diese Gattung erreichte erst sehr spät ihr heute weit südliches Auftreten. Auch der Ursprung von Dasypus fällt in das Pliozän, wobei der nördliche Teil Südamerikas aufgrund der Verbreitung zahlreicher nahe verwandter Gattungen dort zu jener Zeit als Herkunftsgebiet angenommen wird. Zuerst entstand die fossilen Art Dasypus bellus, die bereits im ausgehenden Pliozän in Nordamerika anzutreffen war und dort recht häufig belegt ist, etwa in Florida, starb aber zum Ende des Pleistozäns dort wieder aus. Dieses Schicksal traf auch zahlreiche andere Gürteltiervertreter in Südamerika wie Propraopus, einem nahen Verwandten von Dasypus, oder Eutatus aus der Linie der Eutatini, einem großen Tier, dass die Ausmaße des heutigen Riesengürteltiers erreichte. Erst im 19. Jahrhundert erreichte Dasypus mit dem Neunbinden-Gürteltier wieder Nordamerika.
Gürteltiere und Menschen
In Südamerika werden Gürteltiere oft wegen ihres wohlschmeckenden Fleisches gejagt, was neben der Lebensraumvernichtung durch den Menschen bei einigen Arten bereits zur bedrohlichen Dezimierung geführt hat. Dagegen vermehrt sich beispielsweise das Neunbinden-Gürteltier beständig und breitet sich weiter nach Nordamerika aus. Mancherorts werden die Tiere zur Schädlingsbekämpfung angesiedelt oder als Heimtiere gehalten. Einige Arten gelten als Landplage; sie richten durch Wühlen nach Nahrung oder Anlegen von Erdbauen Schäden in landwirtschaftlich genutzten Gebieten an oder rufen bei großen Weidetieren Verletzungen hervor, wenn diese in die Baue einbrechen. Die Panzer der toten Tiere werden teils als Körbe an Touristen verkauft. Auch traditionelle Musikinstrumente wie die Charangos bestehen aus Panzerteilen einiger Gürteltierarten; deren Export aus den Herkunftsländern Bolivien und Peru ist jedoch verboten.
Laut IUCN ist nur knapp die Hälfte aller Arten im Bestand nicht gefährdet. Als gefährdet gelten vor allem das Pelzgürteltier (Dasypus pilosus), das Riesengürteltier (Priodontes maximus) und das Nördliche Kugelgürteltier (Tolypeutes tricinctus). Drei weitere Arten – der Gürtelmull (Chlamyphorus retusus), der Burmeister-Gürtelmull (Calyptophractus truncatus) und das Yungas-Gürteltier (Dasypus mazzai) – können aufgrund fehlender Daten in ihrer Bestandsbedrohung nicht eingestuft werden.
Neben dem Menschen sind Gürteltiere eine der wenigen Säugetiergruppen, die das Bakterium der Leprakrankheit in sich tragen können. Ein Zusammenhang zwischen ihrer ungewöhnlich niedrigen Körpertemperatur und der Vermehrung der Mykobakterien gilt als wahrscheinlich. Das macht sie bei der Erforschung von Impfstoffen und neuen Antibiotikakombinationen unentbehrlich. Es bedeutet aber auch, dass Menschen, die Gürteltiere essen, Gefahr laufen, sich mit dieser Krankheit zu infizieren. Zumindest ein Teil der Leprafälle in den Vereinigten Staaten von Amerika wird auf den Kontakt zu Gürteltieren zurückgeführt. Weiterhin sind einige Gürteltierarten auch Träger des Einzellers Trypanosoma cruzi, der die in Südamerika häufige Chagas-Krankheit verursacht und ebenfalls beim Menschen auftreten kann.
Das Gürteltier Fuleco war Maskottchen der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien. Der Name setzt sich aus den portugiesischen Wörtern futebol („Fußball“) und ecologia („Ökologie“) zusammen und sollte symbolisch für den Schutz der Gürteltiere stehen. Ein damit verbundener Aufruf von Wissenschaftlern zum besseren Erhalt der lokalen und überregionalen Biodiversität ist weitgehend verhallt.
Literatur
Alfred L. Gardner (Hrsg.): Mammals of South America, Volume 1: Marsupials, Xenarthrans, Shrews, and Bats. University of Chicago Press, 2008, S. 128–157, ISBN 0-226-28240-6
C. M. McDonough und W. J. Laughry: Dasypodidae (Long-nosed armadillos). In: Don E. Wilson und Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Volume 8: Insectivores, Sloths and Colugos. Lynx Edicions, Barcelona 2018, S. 30–47 ISBN 978-84-16728-08-4
Ronald M. Nowak: Walker’s Mammals of the World. Johns Hopkins University Press, 1999, ISBN 0-8018-5789-9
Mariella Superina und Agustín Manuel Abba: Chlamyphoridae (Chlamyphorid armadillos). In: Don E. Wilson und Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Volume 8: Insectivores, Sloths and Colugos. Lynx Edicions, Barcelona 2018, S. 48–71 ISBN 978-84-16728-08-4
Sergio F. Vizcaíno und W. J. Loughry (Hrsg.): The Biology of the Xenarthra. University Press of Florida, 2008, S. 1–370, ISBN 978-0-8130-3165-1
Einzelnachweise
Weblinks
Armadillo Online – englischsprachige Seite, u. a. mit Artbeschreibungen und Fotos
Katharina Hübel: Das Gürteltier – Gepanzerter Sonderling und Superheld des Tierreichs Bayern 2 Radiowissen, Ausstrahlung am 15. Januar 2021 (Podcast) |
180311 | https://de.wikipedia.org/wiki/Ilja%20Grigorjewitsch%20Ehrenburg | Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg | Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg (gelegentlich auch als Erenburg transkribiert; ; * 14. Januar (Julianischer Kalender)/26. Januar (Gregorianischer Kalender) 1891 in Kiew, Russisches Kaiserreich; † 31. August 1967 in Moskau, Sowjetunion) war ein russischer Schriftsteller und Journalist.
Er gehört zu den produktivsten und profiliertesten Autoren der Sowjetunion und veröffentlichte rund hundert Bücher. Ehrenburg ist in erster Linie als Autor von Romanen sowie als Journalist bekannt geworden, insbesondere als Berichterstatter und teilweise auch Propagandist in drei Kriegen (Erster Weltkrieg, Spanischer Bürgerkrieg und vor allem Zweiter Weltkrieg). Seine Propagandaartikel im Zweiten Weltkrieg haben nachträglich in der Bundesrepublik Deutschland, vor allem in den 1960er Jahren, heftige und kontroverse Debatten ausgelöst. Der Roman Tauwetter gab der Tauwetter-Periode, der Phase der Lockerungen nach Stalins Tod, ihren Namen. Auch Ehrenburgs Reiseberichte fanden große Resonanz, vor allem aber seine Autobiografie Menschen Jahre Leben, die als sein bekanntestes und am meisten diskutiertes Werk gelten kann. Besondere Bedeutung hatte das von ihm gemeinsam mit Wassili Grossman herausgegebene Schwarzbuch über den Völkermord an den sowjetischen Juden, die erste große Dokumentation der Shoah. Zudem veröffentlichte Ehrenburg eine Reihe von Gedichtbänden.
Leben
Jüdische Herkunft, revolutionäre Jugend
Ehrenburg wurde in eine bürgerliche jüdische Familie geboren; sein Vater Grigori war Ingenieur. Die Familie hielt keine Religionsvorschriften ein, Ehrenburg lernte die religiösen Bräuche allerdings bei seinem Großvater mütterlicherseits kennen. Ilja Ehrenburg schloss sich niemals einer Religionsgemeinschaft an und lernte auch nie Jiddisch; er verstand sich zeitlebens als Russe und später als Sowjetbürger und schrieb auf Russisch, auch in seinen vielen Exiljahren. Doch er legte großen Wert auf seine Herkunft und verleugnete nie sein Jüdischsein. Noch in einer Radiorede zu seinem 70. Geburtstag erklärte er: „Ich bin ein russischer Schriftsteller. Und solange auf der Welt auch nur ein einziger Antisemit existiert, werde ich auf die Frage nach der Nationalität stolz antworten: ‚Jude‘.“
1895 zog die Familie nach Moskau, wo Grigori Ehrenburg eine Stelle als Direktor einer Brauerei bekommen hatte. Ilja Ehrenburg besuchte das renommierte Erste Moskauer Gymnasium und lernte Nikolai Bucharin kennen, der eine Klasse zwei Jahrgänge über ihm besuchte; die beiden blieben bis zu Bucharins Tod während des Großen Terrors 1938 befreundet.
Im Jahre 1905 erfasste die Russische Revolution auch die Schulen; die Gymnasiasten Ehrenburg und Bucharin nahmen an Massenversammlungen teil und erlebten die gewaltsame Niederschlagung der Revolution. Im folgenden Jahr schlossen sie sich einer bolschewistischen Untergrundgruppe an. Ehrenburg verteilte illegal Parteizeitungen und hielt Reden in Fabriken und Kasernen. 1907 wurde er von der Schule verwiesen, 1908 verhaftete ihn die zaristische Geheimpolizei, die Ochrana. Er verbrachte fünf Monate im Gefängnis, wo er geschlagen wurde (einige seiner Zähne brachen dabei ab). Nach seiner Freilassung musste er sich in wechselnden Provinzorten aufhalten und versuchte dort, erneut bolschewistische Kontakte zu knüpfen. Schließlich gelang es seinem Vater 1908, wegen Ilja Ehrenburgs angeschlagener Gesundheit einen „Kuraufenthalt“ im Ausland zu erwirken; er hinterlegte dafür eine Kaution, die später verfiel. Ehrenburg wählte Paris als Exilort, nach eigenen Angaben, weil Lenin sich damals dort aufhielt. Seine Schulbildung hat er nie abgeschlossen.
La Rotonde – das Leben der Bohème
In Paris suchte Ehrenburg Lenin auf und beteiligte sich zunächst an der politischen Arbeit der Bolschewiki. Doch er nahm bald Anstoß an den zahlreichen Streitigkeiten der Fraktionen und Grüppchen, vor allem aber dem mangelnden Interesse der exilrussischen Gemeinde für das Pariser Leben. Seine Geliebte und Parteigenossin, die Dichterin Jelisaweta Polonskaja, vermittelte ihm einen Kontakt zu Leo Trotzki, der sich zu dieser Zeit in Wien aufhielt. Doch Ehrenburg war von Trotzki tief enttäuscht. In seinen Memoiren berichtet er, dass dieser die Werke von Ehrenburgs damaligen literarischen Vorbildern, den russischen Symbolisten Waleri Brjussow, Alexander Blok, Konstantin Balmont als dekadent aburteilte und ihm gegenüber die Kunst generell als sekundär und der Politik untergeordnet bezeichnete. (Allerdings verzichtet Ehrenburg darauf, Trotzki beim Namen zu nennen, dieser taucht lediglich als „der bekannte Sozialdemokrat Ch.“ auf.) Er war tief enttäuscht und kehrte nach Paris zurück. Dort produzierte er gemeinsam mit Polonskaja eine Zeitschrift unter dem Titel Leute von gestern, die satirische Karikaturen Lenins und anderer führender Sozialisten enthielt, und machte sich auf diese Weise gründlich unbeliebt. Bald darauf verließ er die bolschewistische Organisation und blieb seitdem bis an sein Lebensende parteilos.
Ehrenburg begann Gedichte zu schreiben und veröffentlichte bereits 1910 seinen ersten Gedichtband in der Tradition der russischen Symbolisten. Sein Lebenszentrum in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurden die Cafés im Quartier de Montparnasse, damals weithin bekannte Künstlertreffpunkte: die „Closerie des Lilas“, besonders aber „La Rotonde“. Dort lernte Ehrenburg die großen Künstler der Moderne kennen, mit denen er lebenslange Freundschaften begann. Die Maler Amedeo Modigliani, Pablo Picasso, Diego Rivera und Fernand Léger gehörten zu seinen engsten Freunden; er wurde mehrmals von ihnen porträtiert. Unter den Schriftstellern waren Maximilian Woloschin und Max Jacob seine engsten Vertrauten.
Ehrenburg lebte in dieser Zeit von väterlichen Zahlungen und Gelegenheitsjobs, u. a. als Fremdenführer für andere Exilrussen; mit Schreiben konnte er kein Geld verdienen, obwohl er mehrere Gedichtbände sowie Übersetzungen französischer Lyrik (Guillaume Apollinaire, Paul Verlaine, François Villon) erstellte. Seine Lyrik fand zunehmend positive Kritiken, u. a. von Brjussow und Nikolai Gumiljow, doch ließ sie sich nicht verkaufen – im Gegenteil, er gab Geld aus, um sie im Selbstverlag zu veröffentlichen. Nach seinem vorläufigen Abschied von der Politik neigte er zeitweise stark dem Katholizismus zu, bewunderte den katholischen Dichter Francis Jammes, dessen Gedichte er ins Russische übersetzte, und schrieb auch selbst katholische Gedichte, etwa auf die Jungfrau Maria oder Papst Innozenz XI., doch konvertierte er nie.
Ende 1909 hatte er die Medizinstudentin Jekaterina Schmidt aus Sankt Petersburg kennengelernt. Die beiden lebten in Paris zusammen und bekamen im März 1911 eine Tochter, Ilja Ehrenburgs einziges Kind, Irina. 1913 trennten sie sich wieder, wobei Irina bei Jekaterina Schmidt blieb; doch scheinen sie sich auch später gut vertragen zu haben und brachten noch nach der Trennung gemeinsam eine Gedichtanthologie heraus.
Krieg, Revolution, Bürgerkrieg
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs meldete sich Ehrenburg freiwillig zum Kampf für Frankreich, wurde aber als untauglich abgewiesen. Da keine Geldanweisungen aus Russland mehr möglich waren, verschlechterte sich seine ökonomische Lage, er hielt sich mit Verladearbeiten am Bahnhof und Schreiben über Wasser. 1915 begann er als Kriegskorrespondent für russische Zeitungen, insbesondere für die Petersburger Börsenzeitung zu schreiben. Seine Reportagen von der Front, u. a. aus Verdun, beschrieben den mechanisierten Krieg in seiner ganzen Entsetzlichkeit. Er berichtete auch über Kolonialsoldaten aus dem Senegal, die zum Kriegsdienst gezwungen wurden, und handelte sich damit Probleme mit der französischen Zensur ein.
Die Nachricht von der Februarrevolution 1917 bewog Ehrenburg, wie viele andere Emigranten, nach Russland zurückzukehren. Über England, Norwegen, Schweden und Finnland erreichte er im Juli Petrograd, wie St. Petersburg nun hieß. Die dramatischen Ereignisse der Jahre 1917 und 1918 erlebte er zuerst dort, dann in Moskau. Ehrenburg schrieb unablässig, Gedichte, Essays und Zeitungsartikel. Die andauernde Atmosphäre der Gewalt schockierte ihn; vor allem hielt er nicht viel von den Bolschewiki und spottete wiederholt über „Gott“ Lenin und seine „Hohepriester“ Sinowjew und Kamenew. Ein Gedichtband Gebet für Russland machte ihn bekannt, in dem er den Sturm auf das Winterpalais, den entscheidenden Schlag der Oktoberrevolution, mit einer Vergewaltigung verglich.
Ehrenburg lernte die Futuristen und Suprematisten kennen, die das kulturelle Leben der ersten Sowjetjahre beherrschten, vor allem den Dichter Wladimir Majakowski. Freundschaft aber schloss er mit Boris Pasternak, dessen Lyrik er sein Leben lang bewunderte. Mit zahlreichen Dichterlesungen in Moskauer Cafés und Kneipen machte er sich in dieser Zeit einen Namen; Alexander Blok gibt in einer Tagebuchnotiz eine Äußerung wieder, dass Ehrenburg den ätzendsten Spott mit sich selbst treibe und daher bei der Jugend der letzte Schrei sei.
Im Herbst 1918 reiste Ehrenburg auf abenteuerlichen Wegen nach Kiew und blieb dort ein ganzes Jahr. In dieser Zeit wechselte die Stadt mehrfach den Besitzer: Die Deutschen, Symon Petljuras „Direktorium der Ukrainischen Volksrepublik“, die Rote Armee und die Weiße Armee Denikins lösten sich als Herren ab. Während der Herrschaft der Bolschewiki publizierte Ehrenburg einen Gedichtband und arbeitete als Beauftragter für die ästhetische Erziehung krimineller Jugendlicher, denen er mit sozialpädagogischen Maßnahmen, Alphabetisierung, Theatergruppen usw. zu helfen versuchte. Er schloss sich zudem einer Dichtergruppe an, deren wichtigstes Mitglied Ossip Mandelstam war. Zu dieser Zeit lernte er die Kunststudentin Ljuba Michailowna Kosinzewa kennen und heiratete sie bald darauf; fast zugleich begann er eine Liebesbeziehung mit der Literaturstudentin Jadwiga Sommer. Zeitlebens hatte Ehrenburg während seiner langen Ehe ganz offene Liebesgeschichten mit anderen Frauen. Die Herrschaft Denikins sah er zunächst eher optimistisch; er hielt Dichterlesungen mit dem Gebet für Russland und schrieb eine Serie antibolschewistischer Artikel in der Zeitschrift Kiewer Leben (Kiewskaja Schisn), die stark von einem mystischen russischen Patriotismus geprägt waren. Doch in dieser Phase erlebte der russische Antisemitismus bald einen Höhepunkt. Ehrenburg schrieb auch darüber und entkam nur mit knapper Not einem Pogrom. Die antisemitischen Ausschreitungen haben ihn stark geprägt und dauerhaften Einfluss auf seine Stellung zur Sowjetunion und der Revolution gehabt.
1919 zogen sich die Ehrenburgs mit Jadwiga Sommer und Ossip und Nadeschda Mandelstam, wiederum auf abenteuerlichen Wegen und mehrfach antisemitischen Attacken ausgesetzt, nach Koktebel auf der Krim zurück, wo Ehrenburgs alter Freund aus Paris, Maximilian Woloschin, ein Haus hatte. Mandelstam, den Ehrenburg sehr bewunderte, wurde sein enger Freund. Sie hungerten – nur Jadwiga Sommer hatte eine bezahlte Arbeit, die anderen konnten gelegentlich Lebensmittel beisteuern. In Koktebel versuchte Ehrenburg, wie er in seiner Autobiografie schreibt, die Erfahrungen der stürmischen letzten Jahre zu verarbeiten. Er hielt nun die Revolution für ein notwendiges Ereignis, wenn er auch von ihrer Gewalt und ihrer Dekreteherrschaft abgestoßen war.
Schließlich kehrten die Ehrenburgs 1920 auf einem Umweg über Georgien nach Moskau zurück. Nach wenigen Tagen wurde Ehrenburg von der Tscheka verhaftet und der Spionage für den weißen General Wrangel beschuldigt. Wahrscheinlich war es eine Intervention Bucharins, die zu seiner Freilassung führte. Nun arbeitete er für Wsewolod Meyerhold, den großen Theatermann der Revolution, und betreute die Sektion Kinder- und Jugendtheater. In Menschen Jahre Leben beschrieb er später seine Zusammenarbeit mit dem Clown Wladimir Leonidowitsch Durow und die Tierfabeln, die dieser mit dressierten Kaninchen und anderen Tieren auf die Bühne stellte. Die Ehrenburgs erlebten diese Zeit unter dem Kriegskommunismus in großer Armut, Essen und Kleidung waren nur unter größten Schwierigkeiten zu erhalten. Endlich gelang es ihnen 1921, einen sowjetischen Reisepass zu bekommen, und Ilja und Ljuba Ehrenburg kehrten über Riga, Kopenhagen und London nach Paris zurück.
Der unabhängige Romanschriftsteller
Nach 14 Tagen Aufenthalt wurde Ehrenburg jedoch schon wieder als unerwünschter Ausländer nach Belgien abgeschoben. Das Ehepaar Ehrenburg verbrachte einen Monat in dem Seebad La Panne. In dieser Zeit schrieb Ehrenburg seinen ersten Roman, dessen barocker Titel so beginnt: Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito […]. Er verarbeitete in dieser grotesken Erzählung seine Erfahrungen mit Krieg und Revolution und setzte sich mit seiner beißenden Satire auf alle kriegführenden Mächte und Völker, aber auch auf die Bolschewiki zwischen alle Stühle. Das Buch wurde 1922 in Berlin gedruckt und konnte Anfang 1923 mit einer Einführung Bucharins auch in Moskau erscheinen; bald wurde es in mehrere Sprachen übersetzt. Es war zugleich Ehrenburgs erstes Werk, das er bis an sein Lebensende hochschätzte und in seine diversen Werkausgaben aufnahm.
Da ihm Paris versperrt war, zog Ehrenburg nun nach Berlin, wo zu dieser Zeit mehrere Hunderttausend Russen aller politischen Schattierungen lebten und russischsprachige Verlage und kulturelle Institutionen blühten. Er verbrachte dort gut zwei Jahre. In dieser Zeit war er außerordentlich produktiv: Er schrieb drei weitere Romane, Trust D. E., Leben und Tod des Nikolai Kurbow und Die Liebe der Jeanne Ney, die sämtlich sowohl in Berlin als auch, jeweils mit Verzögerung, in der Sowjetunion erschienen, obwohl sie, ähnlich dem Julio Jurenito, keineswegs einen Parteistandpunkt abbildeten, ferner eine Reihe von Erzählungsbänden (13 Pfeifen, Unwahrscheinliche Geschichten u. a.). Sein bevorzugtes Verlagshaus war damals Gelikon, geleitet von Abram und Wera Wischnjak – Ehrenburg erlebte 1922 auch eine kurze Liebesaffäre mit Wera Wischnjak, während seine Frau mit Abram Wischnjak flirtete.
Ehrenburg veröffentlichte in Berlin zudem eine Reihe von Essaybänden und begann zusammen mit El Lissitzky ein ambitioniertes dreisprachiges Zeitschriftenprojekt, das in Inhalt wie Gestaltung konstruktivistische und suprematistische Ideen realisierte, aber nur von kurzer Lebensdauer war. Er schrieb über Kasimir Malewitsch und Ljubow Popowa, Wladimir Tatlin und Alexander Rodtschenko; Le Corbusier, Léger und Majakowski unterstützten die Zeitschrift. Schließlich entfaltete er eine ausgedehnte literaturkritische Tätigkeit. In der russischsprachigen Berliner Zeitschrift Neues Russisches Buch rezensierte er neue Literatur aus der Sowjetunion und veröffentlichte dort und in Büchern Porträts zeitgenössischer Autoren (Anna Achmatowa, Andrei Bely, Alexander Blok, Boris Pasternak, Sergei Jessenin, Ossip Mandelstam, Wladimir Majakowski, Marina Zwetajewa, Isaak Babel usw.). Seine „Brückenfunktion“ zwischen der Sowjetunion und dem westlichen Ausland spiegelten auch die Besuche von Bucharin, Majakowski, Pasternak und Zwetajewa bei Ehrenburg in Berlin wider; er arrangierte Visumangelegenheiten und Publikationsmöglichkeiten für seine Kollegen im westlichen Ausland.
Anfang 1924 besuchte Ehrenburg mit seiner Frau für einige Monate die Sowjetunion. Er adoptierte seine Tochter, die mittlerweile dreizehnjährige Irina, die mit ihrer Mutter und deren Mann Tichon Sorokin in Moskau lebte, und arrangierte für sie eine schulische und universitäre Ausbildung in Paris; auch für seine drei älteren Schwestern besorgte er Frankreich-Visa. Bei diesem und seinem nächsten Aufenthalt 1926 erlebte er die Folgen der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP), der er höchst skeptisch gegenüberstand. Im Frühling 1924 kehrten die Ehrenburgs über Italien nach Paris zurück, wo mittlerweile keine Einwände der Ausländerpolizei mehr gegen Ilja Ehrenburg bestanden.
In Paris verarbeitete er die sozialen Verwerfungen der NÖP in den Romanen Der Raffer (deutsch auch: Michail Lykow) und In der Prototschni-Gasse (deutsch: Die Gasse am Moskaufluss bzw. Die Abflussgasse). Es gestaltete sich sehr schwierig, diese Bücher in der Sowjetunion zu publizieren. Bereits seine ersten Romane hatten dort neben positiven auch eine Reihe sehr negativer Rezensionen erhalten, vor allem in der Zeitschrift der „proletarischen“ Schriftsteller Auf dem Posten („Na Postu“), die ihn als heimatlosen, antirevolutionären Intellektuellen abstempelte. Diese Probleme erreichten ihren Höhepunkt mit dem Roman Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz, dessen Veröffentlichung die sowjetischen Medien rundweg ablehnten.
Eine weitere Romanserie entstand Ende der zwanziger Jahre: halbdokumentarische Erzählungen über die Interessenkämpfe im Kapitalismus, für die Ehrenburg umfangreiche Recherchen anstellte. Er veröffentlichte sie unter dem Reihentitel Chronik unserer Tage. Im Mittelpunkt standen bekannte Geschäftsleute wie André Citroën, Henri Deterding, Ivar Kreuger, Tomáš Baťa und George Eastman, die in den meisten Fällen namentlich genannt und mit biografischen Details ausgestattet wurden. Doch auch diese Romane konnten nur in stark gekürzter Form in der Sowjetunion erscheinen und verwickelten Ehrenburg zudem in Prozesse. Es gelang ihm trotz seines enormen Ausstoßes nicht, einen halbwegs stabilen Lebensunterhalt zu verdienen; Tantiemen flossen spärlich, die Prozesse kosteten Geld, auch die Verfilmung der Jeanne Ney brachte wenig ein.
Erfolgreicher war eine Artikelserie, die nach Reisen durch Polen und die Slowakei in der sowjetischen Zeitschrift Krasnaja Now erschien. Diese und andere Reiseberichte aus den letzten Jahren fasste Ehrenburg in dem Band Visum der Zeit zusammen, den Kurt Tucholsky in seiner Weltbühne-Kolumne „Auf dem Nachttisch“ enthusiastisch besprach. Ferner setzte er seine kulturellen Vermittlungsbemühungen fort: 1926 hielt er in Moskau Vorträge über den französischen Film und konnte dort auch ein Filmbuch (mit Coverdesign von Rodtschenko) veröffentlichen; ein Bildband mit eigenen Schnappschüssen aus Paris, von El Lissitzky gestaltet, erschien dort 1933. Einer ambitionierten Anthologie französischer und russischer Literatur, zusammengestellt mit seinem Freund Owadi Sawitsch, unter dem Titel Wir und sie wurde die Veröffentlichung in der Sowjetunion hingegen verwehrt – nach Rubensteins Vermutung, weil sie auch einige harmlose Beiträge des bereits in Ungnade gefallenen Trotzki enthielt.
Parteinahme: Aufbauliteratur, Antifaschismus
Im Jahre 1931 besuchte Ehrenburg zweimal Deutschland und verfasste danach eine Reihe von Artikeln für die sowjetische Presse, in der er tiefe Besorgnis über den Aufstieg des Nationalsozialismus ausdrückte. Im Angesicht dieser Bedrohung glaubte er, Partei nehmen zu müssen: für die Sowjetunion, gegen den Faschismus. Dies schloss für ihn einen Verzicht auf grundsätzliche öffentliche Kritik am politischen Kurs der Sowjetunion ein. In seiner Autobiografie schrieb er: „1931 hatte ich begriffen, dass das Los des Soldaten nicht das des Träumers ist und dass es Zeit sei, seinen Platz in den Reihen der Kämpfenden einzunehmen. Was mir teuer war, gab ich nicht auf, ich rückte von nichts ab, doch ich wusste: Es heißt mit zusammengebissenen Zähnen leben und eine der schwersten Wissenschaften erlernen: das Schweigen.“
Bald erhielt Ehrenburg das Angebot, als Sonderkorrespondent für die sowjetische Regierungszeitung Iswestija zu schreiben. Nach Erscheinen der ersten Artikel bereiste er 1932 die Sowjetunion. Er suchte die großen Baustellen des ersten Fünfjahresplans auf, vor allem Nowokusnezk, wo damals unter extrem schwierigen Bedingungen ein gewaltiges Stahlwerk errichtet wurde; für die Kosten der Reise kam diesmal Iswestija auf, die ihm auch die Anstellung einer eigenen Sekretärin in Moskau, Walentina Milman, ermöglichte. Zurück in Paris, verfasste Ehrenburg den Roman Der zweite Tag, in dem er die Aufbauleistung von Nowokusnezk feierte; dennoch hatte er große Schwierigkeiten, das Buch in der Sowjetunion zu veröffentlichen – es wurde von den Medien nach wie vor als nicht positiv genug empfunden. Erst nachdem er einige hundert auf eigene Kosten gedruckte, nummerierte Exemplare an das Politbüro und andere wichtige Personen gesandt hatte, fand der Roman 1934 Akzeptanz, allerdings mit zahlreichen Streichungen.
In den nächsten Jahren verfasste Ehrenburg eine große Zahl von Artikeln für Iswestija, deren Chefredaktion 1934 sein Freund Bucharin übernahm. Aktuelle Berichte diktierte er meist am Telefon oder übermittelte sie per Fernschreiber. Er berichtete über den Putschversuch vom 6. Februar 1934 und die Volksfront in Frankreich, den Österreichischen Bürgerkrieg, die Volksabstimmung im Saargebiet. Tenor dieser Aktivitäten war immer wieder die Warnung vor der Gefahr des aufsteigenden Faschismus. Dazu kamen zahlreiche literaturkritische und kulturpolitische Artikel, in denen Ehrenburg nach wie vor Babel, Meyerhold, Pasternak, Zwetajewa usw. gegen den zunehmenden Beschuss von Seiten der späteren Anhänger des Sozialistischen Realismus verteidigte.
Die literarische Moderne und ihre Vertreter in der Sowjetunion nahm er auch beim Ersten Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller 1934 in Moskau in Schutz, zu dem er gemeinsam mit André Malraux anreiste. Obwohl dieser Kongress die Doktrin des Sozialistischen Realismus für verbindlich erklärte, leitete Ehrenburg beträchtliche Hoffnungen von den Auftritten Bucharins, Babels und Malraux’ auf dem Kongress ab. Er verfasste danach, vermutlich gemeinsam mit Bucharin, einen Brief an Stalin, in dem er vorschlug, eine internationale Schriftstellerorganisation zum Kampf gegen den Faschismus zu gründen, die auf strikte Abgrenzung verzichten und alle bedeutenden Schriftsteller vereinen sollte – also eine Art literarische Volksfrontpolitik.
1935 bereitete Ehrenburg, gemeinsam mit Malraux, André Gide, Jean-Richard Bloch und Paul Nizan, einen großen internationalen Schriftstellerkongress vor, der dieser Vorstellung entsprach: den Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur im Juni 1935 in Paris. Zu den Teilnehmern zählten neben den Genannten u. a. Tristan Tzara, Louis Aragon, Aldous Huxley, Edward Morgan Forster, Bertolt Brecht, Heinrich Mann, Ernst Toller und Anna Seghers; aus der Sowjetunion kamen Pasternak und Babel (es waren ihre letzten Auslandsreisen). Der eindrucksvolle Kongress wurde allerdings von zwei Ereignissen überschattet: Nachdem André Breton – in Reaktion auf einen höchst polemischen Artikel Ehrenburgs gegen die französischen Surrealisten – Ehrenburg auf der Straße ins Gesicht geschlagen hatte, bestand dieser darauf, Breton vom Kongress auszuschließen; der schwerkranke René Crevel versuchte zu vermitteln und beging nach dem Scheitern des Versuches Selbstmord. Und durch „Kongressregie“ versuchten Malraux und Ehrenburg zu verhindern, dass der Fall des in der Sowjetunion verhafteten Victor Serge behandelt wurde, freilich nur mit begrenztem Erfolg.
Spanischer Bürgerkrieg, Großer Terror, Hitler-Stalin-Pakt
Zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs zögerte Iswestija zunächst, Ehrenburg nach Spanien zu schicken – bis er Ende August 1936 auf eigene Faust abreiste. Zunächst hielt er sich vor allem in Katalonien auf und übermittelte bis Ende 1936 ca. 50 Artikel. Doch beschränkte er sich nicht auf die Rolle des Kriegsberichterstatters; er besorgte einen Lastwagen, einen Filmprojektor und eine Druckerpresse, sprach auf Versammlungen, zeigte Filme (u. a. Tschapajew) und schrieb und druckte mehrsprachige Zeitungen und Flugblätter. Dabei kam ihm sein freundschaftliches Verhältnis zu dem führenden Anarchisten Buenaventura Durruti zugute, den er bereits auf einer Spanienreise 1931 kennengelernt hatte. Ehrenburg hat Durruti und die Anarchisten, trotz ihrer divergierenden politischen Ansichten und Loyalitäten, sowohl damals als auch in seiner Autobiografie immer mit großer Sympathie dargestellt.
1937 reiste Ehrenburg viel in Spanien, zu allen Frontabschnitten. Im Februar lernte er Ernest Hemingway kennen und schloss mit ihm Freundschaft. Ehrenburg gehörte auch zu den Organisatoren des Zweiten Internationalen Schriftstellerkongresses zur Verteidigung der Kultur, der im Juli als „Wanderzirkus“ (Ehrenburg) zuerst in Valencia, dann in Madrid und schließlich in Paris tagte – Teilnehmer waren u. a. Malraux, Octavio Paz und Pablo Neruda. Er berichtete weiterhin über den Krieg, schrieb aber nichts über die zunehmenden blutigen Säuberungen der Kommunisten, etwa gegen den POUM. Seine Biografen nehmen an, dass Ehrenburg bewusst vermied, sich zu diesem Thema öffentlich zu positionieren, auch unter dem Eindruck der beunruhigenden Nachrichten von den ersten Moskauer Prozessen.
Im selben Jahr kam es zum Bruch mit André Gide. Ehrenburg hatte erfolglos versucht, ihn zum Verzicht auf die Veröffentlichung seines kritischen Berichts über seine Sowjetunionreise (Retour de l'U.R.S.S.) zu bewegen – Gides Kritik sei zwar sachlich berechtigt, aber politisch unangebracht, weil sie den einzigen Alliierten der Spanischen Republik attackiere. Als Gide schließlich einen offenen Brief an die spanische Republik wegen des Schicksals verhafteter politischer Gefangener in Barcelona unterzeichnete, griff ihn Ehrenburg öffentlich scharf an: Er schweige zum Morden der spanischen Faschisten und zur Untätigkeit der französischen Volksfrontregierung, aber klage die ums Überleben kämpfende spanische Republik an.
Direkt von den Kämpfen um Teruel reiste Ehrenburg Weihnachten 1937 mit seiner Frau nach Moskau und besuchte seine Tochter Irina, die seit 1933 mit ihrem Mann Boris Lapin dort lebte. Er geriet mitten in die Hochphase des Großen Terrors. Ehrenburg bekam einen Besucherschein für den Prozess gegen seinen Freund Bucharin, bei dem dieser zum Tode verurteilt wurde. Er schrieb später: „Alles kam mir vor wie ein unerträglich schwerer Traum […]. Auch jetzt verstehe ich nichts, und Kafkas Prozess erscheint mir als realistisches, durchaus nüchternes Werk.“ Wie nah er selbst dem „Verschwinden“ war, stellte sich später heraus: Karl Radek hatte ihn unter der Folter als trotzkistischen Mitverschwörer bezeichnet, Babel und Meyerhold sollten dasselbe ein Jahr später tun. Ein Appell Ehrenburgs an Stalin, ihn nach Spanien ausreisen zu lassen, wurde abschlägig beschieden; gegen den Rat all seiner Freunde schrieb er noch einen zweiten persönlichen Brief an Stalin – und durfte überraschend im Mai 1938 mit seiner Frau die Sowjetunion verlassen.
In den folgenden Monaten berichtete Ehrenburg für Iswestija von der letzten Offensive der Spanischen Republik am Ebro, vom Exodus der Spanienflüchtlinge und von den Zuständen in den Internierungslagern, in die sie in Frankreich eingewiesen wurden. Es gelang ihm auch, mit Hilfe Malraux’ und anderer Kollegen Schriftsteller, Künstler und Bekannte aus den Lagern herauszubekommen. Zugleich attackierte er in schärfsten Tönen die französische Politik, vor allem die wachsende Neigung zur Kooperation mit dem nationalsozialistischen Deutschland, die im Münchner Abkommen gipfelte, und den zunehmenden Antisemitismus in Frankreich selbst.
Ab Mai 1939 wurden seine Artikel für Iswestija plötzlich nicht mehr gedruckt, obwohl sein Gehalt weiterbezahlt wurde. Der Grund dürfte darin liegen, dass die Sowjetunion einen Politikwechsel erwog – von der antifaschistischen Volksfrontpolitik hin zum Bündnis mit Deutschland. Als im August der Hitler-Stalin-Pakt gemeldet wurde, erlitt Ehrenburg einen Zusammenbruch. Er konnte nichts mehr essen, monatelang nur mehr flüssige Nahrung zu sich nehmen und magerte stark ab; Freunde und Bekannte befürchteten, dass er sich umbringen werde. Beim deutschen Einmarsch 1940 waren die Ehrenburgs immer noch in Paris – Frankreich hatte sie aufgrund von Steuerstreitigkeiten nicht ausreisen lassen. Sechs Wochen wohnten sie in einem Zimmer der sowjetischen Botschaft, dann konnten sie nach Moskau abreisen.
Auch dort war Ehrenburg nicht willkommen; die Iswestija druckte ihn nicht. Anfang 1941 erschien der erste Teil seines Romans Der Fall von Paris in der Literaturzeitschrift Snamja („Banner“), freilich unter großen Schwierigkeiten, da jede Anspielung auf „Faschisten“ der Zensur zum Opfer fiel (und durch „Reaktionäre“ ersetzt werden musste). Der zweite Teil wurde monatelang blockiert; erst nachdem der deutsche Überfall auf die Sowjetunion begonnen hatte, konnte der dritte Teil erscheinen. 1942 erhielt Ehrenburg, unter gänzlich veränderten politischen Umständen, für das Werk den Stalinpreis.
Kriegspropagandist und Chronist der Shoa
Wenige Tage nach dem Einmarsch der deutschen Armee wurde Ehrenburg in die Redaktion des sowjetischen Armeeblatts Krasnaja Swesda („Roter Stern“) gerufen. In den knapp vier Jahren des Krieges schrieb er ca. 1.500 Artikel, davon fast 450 für Krasnaja Swesda. Auch in einer großen Zahl anderer sowjetischer Medien wurden seine Texte veröffentlicht (der erste nach zweijähriger Pause erschienene Artikel in Iswestija war Paris unter faschistischem Stiefel betitelt). Doch er schrieb auch für United Press, La Marseillaise (das Organ des Freien Frankreich), britische, schwedische und zahlreiche andere Printmedien und sprach im sowjetischen wie im amerikanischen und britischen Rundfunk. Immer wieder machte er Besuche an den Kriegsfronten, teilweise zusammen mit amerikanischen Kriegsberichterstattern (etwa Leland Stowe).
Ehrenburg und seine Artikel genossen ungeheure Popularität, besonders bei den sowjetischen Soldaten, aber auch bei vielen Alliierten der Sowjetunion. Charles de Gaulle gratulierte ihm zum Leninorden, den er 1944 für seine Kriegsartikel erhalten hatte, und verlieh ihm 1945 das Offizierskreuz der Ehrenlegion.
Eine besondere Rolle in Ehrenburgs Tätigkeit während des Zweiten Weltkriegs spielte die Dokumentation der Shoa und des Kampfes der Juden. Im August 1941 fand in Moskau eine große Versammlung prominenter jüdischer Sowjetbürger statt: Solomon Michoels, Perez Markisch, Ilja Ehrenburg und andere appellierten über den Rundfunk an die Juden der Welt, die sowjetischen Juden in ihrem Kampf zu unterstützen. Dies waren die Anfänge des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, das im April 1942 gegründet wurde.
Gemeinsam mit Wassili Grossman begann Ehrenburg Berichte über die deutschen Massaker an Juden zu sammeln, die in die weltweit erste umfassende Dokumentation der Shoa münden sollten: das Schwarzbuch über den Genozid an den sowjetischen Juden, das mit Unterstützung amerikanischer jüdischer Organisationen (u. a. unter wesentlicher Beteiligung von Albert Einstein) konzipiert wurde und für ein gleichzeitiges Erscheinen in den USA und der Sowjetunion vorgesehen war. Ehrenburg und Grossman fungierten als Herausgeber und trugen selbst Berichte bei. Zu den Mitarbeitern gehörten Margarita Aliger, Abraham Sutzkever, Solomon Michoels und Owadi Sawitsch. Besonders wichtig war Ehrenburg eine Veröffentlichung in der Sowjetunion, weil er über den „heimischen“ Antisemitismus sehr gut Bescheid wusste. Teile des Materials konnten in Snamja und der jiddischsprachigen Sammlung Merder fun Felker erscheinen, doch es gab zunehmend Probleme mit der sowjetischen Zensur, die Berichte über jüdische Opfer und Kämpfer als nationalistische Verirrung ansah. Schließlich wurde der bereits fertige Satz 1948 im Zuge von Stalins antisemitischen Kampagnen zerstört. Das Schwarzbuch ist in der Sowjetunion nie erschienen.
Ehrenburgs letzter Kriegsartikel „Es reicht!“, veröffentlicht am 11. April 1945, führte dazu, dass er in der Prawda abgekanzelt wurde und einen Monat lang keine Artikel mehr veröffentlichen konnte. (siehe #„Es reicht!“). Auch eine Teilnahme an der Siegesfeier der Roten Armee in Berlin wurde ihm von Stalin untersagt.
Im Kalten Krieg
1945 reiste Ehrenburg durch Osteuropa und zu den Nürnberger Prozessen und veröffentlichte Berichte darüber. Er verband große Hoffnungen mit dem Kriegsende, die sich jedoch als illusionär erwiesen, da bald die ersten Anzeichen des Kalten Kriegs einsetzten. Gemeinsam mit Konstantin Simonow und einem weiteren Journalisten unternahm Ehrenburg 1946, kurz nach Winston Churchills berühmter Rede über den Eisernen Vorhang, eine USA-Reise als Korrespondent der Iswestija. Da er im Umgang mit westlichen Medien bei weitem der erfahrenste Sowjetjournalist war, wurde er dabei zu einer Art Botschafter der sowjetischen Politik. Er nutzte die Gelegenheit, Albert Einstein aufzusuchen und mit ihm über die Herausgabe des Schwarzbuchs zu reden, und schockierte seine Gastgeber mit dem Wunsch, die Südstaaten aufzusuchen, um über die dortige Rassendiskriminierung zu berichten – was ihm gewährt wurde. Auch später verteidigte er immer wieder auf Pressekonferenzen, etwa in Großbritannien, und in Zeitungsartikeln die sowjetische Außenpolitik. 1946 war Ehrenburg ebenso wie Simonow in Versuche der Sowjetunion eingebunden, bei russischen Emigranten in Paris, die nach dem Sieg der Roten Armee im russischen Bürgerkrieg ihre Heimat verlassen hatten, für die Rückkehr nach Moskau zu werben.
1947 erschien Ehrenburgs großer Kriegsroman Sturm, der zunächst wegen der darin geschilderten Liebe einer französischen Widerstandskämpferin zu einem Sowjetbürger in der Sowjetunion auf Kritik stieß, dann aber 1948 mit dem Stalinpreis ausgezeichnet wurde. Ein Kalter-Kriegs-Roman Die neunte Woge erschien 1951 – es war das einzige Buch, von dem sich Ehrenburg wenig später vollständig lossagte, da es künstlerisch komplett misslungen sei. 1951 begannen auch die Arbeiten an einer (unvollständigen) Werkausgabe Ehrenburgs, allerdings unter erbitterten Kämpfen um die Zensur vieler Bücher (bis hin zu der Forderung, die jüdisch klingenden Namen von Helden zu streichen). Vom Erlös konnte Ehrenburg sich eine Datscha in Nowy Ierusalim (Istra) bei Moskau kaufen.
Seit 1948 spielte Ehrenburg zudem, gemeinsam mit dem französischen Physiker Frédéric Joliot-Curie, eine führende Rolle bei den „Partisanen des Friedens“ (später: Weltfriedensrat), für die sein alter Freund Picasso die berühmte Friedenstaube zeichnete. Ehrenburg gehörte u. a. zu den Autoren des Stockholmer Appells von 1950 für ein Verbot von Atomwaffen, der Millionen von Unterschriften in aller Welt erhielt. In Stockholm lernte er seine letzte Geliebte kennen, die mit einem schwedischen Politiker verheiratete Liselotte Mehr, die später eine bedeutende Rolle für den Entschluss spielte, den Roman Tauwetter und seine Memoiren zu schreiben. 1952 bekam er für seine Arbeit in der Friedensbewegung den Stalin-Friedenspreis.
In der Sowjetunion hatten bald nach Kriegsende neue Repressionswellen begonnen, eingeleitet 1946 durch Schdanows Kampagne gegen die „Speichellecker des Westens“, die sich zunächst gegen Schriftsteller wie Anna Achmatowa richtete. Ehrenburg hielt Kontakt zu Achmatowa und Pasternak und half Nadeschda Mandelstam, der Witwe seines Freundes Ossip Mandelstam, trat aber nicht öffentlich gegen die Kampagne auf. Bald nahm die sowjetische Innenpolitik eine antisemitische Wendung, die sich bereits im Verbot des Schwarzbuchs abgezeichnet hatte und mit der durch einen Autounfall kaschierten Ermordung von Solomon Michoels fortsetzte. Außenpolitisch trat die Sowjetunion aber zunächst für die Gründung des neuen Staats Israel ein, den sie als zweiter Staat der Welt (nach der Tschechoslowakei) anerkannte.
Ehrenburg rühmte 1948 bei der Trauerfeier zu Michoels’ Tod dessen inspirierende Wirkung auf das Judentum und auch auf die jüdischen Kämpfer in Palästina. Doch wenig später, am 21. September 1948, verfasste er einen ganzseitigen Artikel für die Prawda, aufgemacht als Antwort auf einen (wahrscheinlich fiktiven) Brief eines Münchner Juden, der ihm die Frage gestellt haben soll, ob er ihm rate, nach Palästina auszuwandern. Ehrenburg schrieb, die Hoffnung des Judentums liege nicht in Palästina, sondern in der Sowjetunion. Was die Juden verbinde, sei nicht das Blut, das in ihren Adern fließe, sondern das Blut, das die Judenmörder vergossen hätten und noch vergössen; die jüdische Solidarität könne daher keine nationale sein, sie sei vielmehr die „Solidarität der Erniedrigten und Beleidigten“. Der Artikel wurde allgemein als Signal einer sowjetischen Kehrtwende verstanden: Ein prominenter sowjetischer Jude wandte sich in der Prawda gegen den Zionismus. Zwar war der Artikel offenbar von Stalin in Auftrag gegeben worden, doch sein Inhalt entsprach durchaus Auffassungen, wie sie Ehrenburg schon früher vertreten hatte. Andererseits wusste Ehrenburg sehr wohl über den wachsenden Antisemitismus in der Sowjetunion und vor allem über Stalins zunehmende Verfolgung von Juden Bescheid, was er in seinem Text zu erwähnen vermied. Der Artikel wird deshalb etwa von Arno Lustiger und Joshua Rubenstein als Warnung interpretiert, als ein Versuch Ehrenburgs, die Euphorie der sowjetischen Juden bezüglich Israel zu bremsen; er sorgte aber auch für erhebliche Verwirrung und Bestürzung. Ewa Bérard zitiert eine Äußerung des israelischen Botschafters dazu: „Man wird nie so gut verraten wie von den eigenen Leuten.“
1949 folgte die Kampagne gegen die wurzellosen Kosmopoliten, in deren Zuge fast alle führenden Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees verhaftet und ermordet wurden, und 1952 schließlich der Prozess gegen die Ärzteverschwörung. Im Februar 1949 wurden Ehrenburgs Texte plötzlich nicht mehr gedruckt, auf einer Massenversammlung verkündete Fjodor Michailowitsch Golowentschenko, Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU, wahrheitswidrig die Verhaftung des „Kosmopoliten Ehrenburg“. Mit einem persönlichen Appell an Stalin erreichte Ehrenburg jedoch nach zwei Monaten die Aufhebung der Publikationssperre. Als 1952/1953 ein Offener Brief unter jüdischen Schriftstellern kursierte, der die Maßnahmen gegen die „Mörderärzte“ billigte und möglicherweise auch zur Deportation der sowjetischen Juden nach Birobidschan aufrief, verweigerte Ehrenburg trotz erheblichen Drucks die Unterschrift. Er hat sich trotz mehrfacher Aufforderung niemals bereit erklärt, die antisemitischen Kampagnen zu unterstützen, äußerte sich aber auch nicht zur Verfolgung von Juden und Oppositionellen in der Sowjetunion, sondern schrieb die üblichen Lobeshymnen auf Stalin.
Ehrenburg war in diesen Jahren zu einer sehr bekannten Person geworden, einerseits aufgrund seiner Propagandatätigkeit im Krieg, die ihm große Popularität verschafft hatte, andererseits aufgrund seiner zahlreichen internationalen Kontakte und Auftritte. Das so erworbene Ansehen hat ihn vor der stalinistischen Verfolgung bewahrt und zugleich seiner Stimme in den folgenden Jahren erhebliches Gewicht verliehen.
Tauwetter
Stalin starb am 5. März 1953, im April wurden die Beschuldigten der „Ärzteverschwörung“ freigesprochen, im Juni wurde Lawrenti Beria verhaftet. Es folgte eine Zeit der Unsicherheit, wohin sich die sowjetische Gesellschaft entwickeln würde. Im Winter dieses Jahres schrieb Ehrenburg seinen letzten Roman, Tauwetter. Mit gedämpfter Euphorie erzählte er vom Frühlingsbeginn in einer Provinzstadt und parallel dazu vom Sturz eines bürokratischen Fabrikleiters und der Liebesgeschichte seiner Frau mit einem Ingenieur. Stalins Name kommt nicht vor, beiläufig werden aber erstmals in der Sowjetliteratur die Ärzteverschwörung und die Verbannung in Arbeitslager erwähnt.
Der Text erschien im April 1954 zunächst in Snamja und stieß sofort auf starke Reaktionen. Schon der Titel galt als bedenklich, da er die Stalinzeit als Frostperiode zu negativ erscheinen ließ; die Redaktion des Blattes hätte lieber „Erneuerung“ oder „Eine neue Phase“ gesehen. In den Literaturzeitschriften erschienen vernichtende Kritiken, u. a. von Konstantin Simonow, die Ehrenburg vorhielten, ein düsteres Bild der sozialistischen Gesellschaft gezeichnet zu haben. Beim Zweiten Schriftstellerkongress der Sowjetunion im Dezember attackierten Michail Scholochow und Alexei Surkow den Roman in den schärfsten Tönen (und mit antisemitischen Untertönen). Die Publikation als Buch wurde um zwei Jahre verzögert. Noch 1963 verwarf Nikita Chruschtschow persönlich Tauwetter als eines der Werke, die „die mit dem Personenkult zusammenhängenden Ereignisse […] falsch oder einseitig beleuchten“. Doch trotz der erbitterten Kritik wurde das Buch ein großer Erfolg sowohl in der Sowjetunion als auch im Ausland, es erschienen zahlreiche Übersetzungen. Das sprachliche Bild des Romantitels setzte sich durch; Ehrenburgs Buch signalisierte den Beginn der Tauwetter-Periode, einer Phase der Liberalisierung der sowjetischen Kulturpolitik und der Rehabilitation von Opfern der stalinistischen Verfolgungen.
In den folgenden Jahren setzte sich Ehrenburg intensiv für die Rehabilitation der im Stalinismus verfolgten und getöteten Schriftsteller ein. Er schrieb eine Reihe von Vorworten, u. a. für einen Erzählungsband von Isaak Babel und einen Gedichtband von Marina Zwetajewa; im Falle von Babels Buch gelang es ihm, die Veröffentlichung mit dem Hinweis zu erreichen, seine Freunde im Westen warteten dringend auf das angekündigte und versprochene Manuskript. Zudem sprach er auf Gedenkveranstaltungen, etwa für den ermordeten Perez Markisch. Ambivalent war seine Reaktion auf den Nobelpreis, den sein Freund Boris Pasternak 1958 für den Roman Doktor Schiwago erhielt: Er weigerte sich, an Maßnahmen gegen Pasternak teilzunehmen (etwa dessen Ausschluss aus dem Schriftstellerverband), und betonte öffentlich seine Wertschätzung für Pasternak, dessen Lyrik und Teile seines Romans, äußerte jedoch auch Kritik an dem Buch und klagte den Westen an, es für seine Ziele im Kalten Krieg zu nutzen.
Gleichzeitig kämpfte Ehrenburg für die Publikation westlicher Kunst und Literatur in der Sowjetunion. So geht die erste dortige Picasso-Ausstellung 1956 wesentlich auf Ehrenburgs Arbeit zurück; auch die Veröffentlichung eines Buches über Picasso, zu dem er das Vorwort schrieb, konnte er durchsetzen. Zur Publikation russischer Übersetzungen von Ernest Hemingway, Alberto Moravia, Paul Éluard und Jean-Paul Sartre trug er ebenfalls bei. Schließlich erreichte er 1960, dass das Tagebuch der Anne Frank auf Russisch erschien, wiederum mit einem Vorwort von seiner Hand.
Neben Vorworten und Zeitungsartikeln verfasste Ehrenburg eine Reihe von literarischen Essays, von denen insbesondere Die Lehren Stendhals (1957) und Tschechow, nochmals gelesen (1959) große Wirkung entfalteten. Diese Aufsätze über große Autoren des 19. Jahrhunderts wurden als Kommentare zur aktuellen Kulturpolitik verstanden und riefen daher scharfe Kritik hervor – insbesondere die Absage an jede Form der Tyrannei, sei sie auch noch so wohlmeinend motiviert, und die historisch verpackte Kritik am Dogma der Parteilichkeit der Literatur erregten Anstoß.
Ehrenburg unternahm weiterhin ausgedehnte Reisen: In Chile traf er Pablo Neruda, in Indien Jawaharlal Nehru, auch Griechenland und Japan besuchte er. Sein fortgesetztes Engagement in der Friedensbewegung ermöglichte ihm ebenfalls zahlreiche Auslandsreisen, die er nutzen konnte, um sich mit Liselotte Mehr zu treffen. Als es 1956 wegen der Revolution und des russischen Einmarschs in Ungarn zum Bruch zwischen westlichen und östlichen Teilnehmern an den Friedenskongressen kam, reagierte Ehrenburg mit einem Aufruf zum Pluralismus innerhalb des Friedenslagers.
Menschen Jahre Leben
1958 begann Ilja Ehrenburg mit der Arbeit an seiner Autobiografie Menschen Jahre Leben. Dieses groß angelegte Werk von weit über 1.000 Seiten umfasst sechs Bücher. Es enthält unter anderem eine Serie von literarischen Porträts aller seiner Weggenossen, darunter viele, deren Bücher bzw. Bilder in der Sowjetunion nach wie vor nicht gedruckt bzw. gezeigt wurden; Beispiele sind etwa Ossip Mandelstam, Wsewolod Meyerhold und der Maler Robert Rafailowitsch Falk. Es berichtet darüber hinaus von seinen eigenen Haltungen und Gefühlen zu den großen Ereignissen der Zeit, unter anderem auch zu den Säuberungen Stalins. Das Privatleben bleibt weitgehend ausgeklammert.
Im April 1960 bot Ehrenburg das Manuskript des ersten Bandes der Nowy Mir („Neue Welt“) an, einer von Alexander Twardowski geleiteten liberalen Literaturzeitschrift. Es begann ein langer Kampf mit der Zensur um zahlreiche Stellen im Text. Immer wieder wurde der Abdruck gestoppt. Zunächst ging es vor allem um Nikolai Bucharin, dessen Porträt Ehrenburg trotz eines persönlichen Appells an Chruschtschow nicht in den Band einbauen konnte; es gelang ihm lediglich, den Namen Bucharins in ein Zitat eines Ochrana-Berichts von 1907 einzuschmuggeln, der eine Liste der bolschewistischen Agitatoren enthielt. Das Bucharin-Kapitel wurde erst 1990 veröffentlicht. Die Schwierigkeiten nahmen mit dem Fortschreiten der Memoiren noch zu. Das Kapitel über Pasternak wurde zunächst gestrichen und erst nach heftigen Protesten Ehrenburgs nachgeholt.
Buch vier enthielt die Schilderung der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs und des Großen Terrors unter Stalin. Besondere Verärgerung erregte hier bei der politischen Führung ein rückblickender Satz: „Vieles konnten wir nicht einmal den Angehörigen eingestehen; nur von Zeit zu Zeit drückten wir besonders fest die Hand eines Freundes, nahmen wir doch alle teil an der großen Verschwörung des Schweigens.“ Dies implizierte, dass viele wie Ehrenburg von Stalins Verfolgung unschuldiger Menschen gewusst und dennoch nichts dagegen unternommen hatten. Die „Theorie des Schweigens“, wie sie alsbald genannt wurde, stieß auf heftigste Kritik, zunächst in der Iswestija, dann bei einem großen Schriftstellertreffen, schließlich, am 10. März 1963, in einer langen Rede von Chruschtschow selbst, die vollständig in der Prawda abgedruckt wurde. Buch sechs über die Nachkriegszeit bis 1953 konnte zunächst gar nicht veröffentlicht werden, da es in die Ereignisse um Chruschtschows Sturz geriet; doch ausgerechnet als der konservativ-repressiv orientierte Leonid Breschnew seine Macht gefestigt hatte, erschien 1965 tatsächlich auch das letzte Buch, das Breschnew sich nun leisten konnte.
1966 begann Ehrenburg mit einem siebten, unvollständig gebliebenen Buch von Menschen Jahre Leben, an dem er bis zu seinem Tod schrieb. Versuche von Ilja und Ljuba Ehrenburg, die fertiggestellten Kapitel in offiziellen sowjetischen Zeitschriften zu publizieren, waren erfolglos. Auszüge erschienen 1969 in der Samisdat-Veröffentlichung „Politisches Tagebuch“ von Roi Medwedew und viele Jahre später, 1987, im Zuge von Glasnost, in der Zeitschrift Ogonjok („Flämmchen“); erst 1990 konnte der komplette Text publiziert werden.
Nicht nur in seiner Autobiografie, sondern auch sonst bemühte sich Ehrenburg weiterhin um die Rehabilitierung von im Stalinismus verfolgten Schriftstellern und versuchte einer repressiven Kulturpolitik entgegenzuarbeiten. So sprang er Jewgeni Jewtuschenko bei, als dessen Gedicht über Babi Jar 1961 wegen Hervorhebung der jüdischen Opfer heftig kritisiert wurde; 1965 leitete er die erste Gedenkveranstaltung für Ossip Mandelstams Werk in Moskau; und er unterschrieb 1966 eine Petition, die sich gegen die Verurteilung der Schriftsteller Andrei Sinjawski und Juli Daniel zu sieben bzw. fünf Jahren Arbeitslager richtete.
Bereits 1958 waren bei Ehrenburg Symptome von Prostatakrebs aufgetreten, später kam Blasenkrebs hinzu. Am 7. August 1967 erlitt er im Garten seiner Datscha einen Herzinfarkt. Trotz dringender Bitten sowohl seiner Frau als auch seiner Geliebten Liselotte Mehr weigerte er sich, ins Krankenhaus zu gehen. Am 31. August starb der Schriftsteller in Moskau. Er ist auf dem Nowodewitschi-Friedhof begraben.
Literarisches Werk
Ehrenburgs Lyrik aus den Jahren vor und während des Ersten Weltkriegs ist heute fast vergessen. Während die ersten Gedichtbände auch zur Zeit ihrer Publikation nur in Kreisen der Symbolisten Beachtung fanden, gilt das nicht für den Band „Gedichte über Vorabende“ oder das „Gebet für Russland“. Hier zeichnete sich bereits in der Thematik eine Hinwendung zur Gegenwart und unmittelbaren Vergangenheit (Krieg und Revolution), in der Form ein Wandel zum Diskursiven, zur Ironie, teilweise auch zum Journalistischen ab. Diese Züge prägen auch Ehrenburgs Romanschaffen, das sein künstlerisches Werk dominiert und ihm zum Durchbruch verholfen hat.
Ehrenburgs zahlreiche Romane befassen sich fast durchweg mit aktuellen Themen, sie können als literarische Beiträge zu politischen und kulturpolitischen Auseinandersetzungen verstanden werden und sind auch weithin so verstanden worden. Er schrieb ausgesprochen schnell und legte großen Wert auf ein zeitnahes Erscheinen; seine Manuskripte schloss er gewöhnlich mit einem Vermerk zu Ort und Zeit der Entstehung ab.
Die Romane gehorchen im Allgemeinen nicht den Normen einer klassizistischen oder realistischen Romantheorie, sondern nehmen häufig ältere Modelle auf, wie sie etwa für die Epik der Aufklärung typisch sind. Vor allem in den satirischen Romanen der zwanziger Jahre mischen sich journalistische Partien, philosophische und satirische Exkursionen in die Erzählung; der Julio Jurenito etwa ist in seiner Anlage mit Voltaires Candide oder der Optimismus verglichen worden. Zudem werden archaische Formen des Erzählens aufgegriffen: Märchen, Evangelium, Legende, Schelmenroman. Die Figuren sind häufig stark typisiert, die Psychologie spielt keine große Rolle. Das eindrucksvollste Beispiel dafür bietet Ehrenburgs erster Roman, der heute (neben dem Lasik Roitschwantz) als sein künstlerisch gelungenstes Buch betrachtet wird und bis in die Gegenwart Beachtung gefunden hat.
Julio Jurenito
Der satirische Roman, der in den Jahren 1913–1921 spielt, beschreibt die Abenteuer eines mysteriösen Mexikaners, Julio Jurenito, der sieben Jünger um sich sammelt, mit ihnen durch das Europa des Ersten Weltkriegs, der Russischen Revolution und des Russischen Bürgerkrieges zieht und schließlich freiwillig in den Tod geht, indem er mit teuren Lederstiefeln in einem dunklen Park spazieren geht und programmgemäß überfallen wird. Der Ich-Erzähler Ilja Ehrenburg, sein erster Jünger, ist zugleich sein Biograf.
Der Julio Jurenito ist eine Parodie auf den Evangeliumsbericht, zugleich aber auch ein Abenteuer- und Schelmenroman und erinnert an aufklärerische Vorbilder wie Voltaires Candide. Sein Protagonist verfolgt den Plan einer Zerstörung aller Glaubens- und Überzeugungssysteme im Dienste einer umfassenden Selbstbefreiung der Menschheit und scheitert damit. Zur Langzeitwirkung des Werks haben nicht nur der anarchistische Grundton und die zahlreichen satirischen Vignetten beigetragen, die etwa den Internationalen Schiedsgerichtshof in Den Haag, den Papst, die sozialistischen Parteien und die Kommunistische Partei Russlands aufs Korn nehmen. Einzelne Szenen des Werkes verlassen die Satire und nehmen einen pathosgeladenen, geradezu prophetischen Ton an. So lässt Jurenito im elften Kapitel ein Plakat drucken, dessen Text so beginnt:
In der nächsten Zeit findet statt die feierliche Ausrottung des jüdischen Volkes zu Budapest, Kiew, Jaffa, Algier und an vielen anderen Orten. Das Programm umfasst neben den beim verehrten Publikum beliebten Pogromen im Geiste der Zeit restaurierte Judenverbrennungen, Einscharren der Juden bei lebendigem Leibe in die Erde, Besprengungen der Felder mit jüdischem Blute und allerlei neue Methoden der „Säuberung der Länder von verdächtigen Elementen“ usw. usw. usw.
Prophetisch wie diese Prognose erscheint auch die Rede eines anonymen Kommunisten, leicht als Lenin erkennbar, in einem Kapitel, das explizit auf Dostojewskis Legende vom Großinquisitor anspielt:
Wir führen die Menschheit einer besseren Zukunft entgegen. Die einen, deren Interessen dadurch geschädigt werden, stören uns auf jede Weise […]. Diese müssen wir beseitigen und oft einen zur Rettung von Tausenden töten. Die anderen widerstreben, da sie nicht begreifen, dass man sie ihrem eigenen Glück entgegenführt; sie fürchten den schweren Weg und klammern sich an den elenden Schatten der gestrigen Heimstätte. Wir treiben sie vorwärts, wir treiben sie mit eisernen Ruten ins Paradies …
Diese Passage spielte eine erhebliche Rolle dabei, dass der Julio Jurenito nach 1928 nicht mehr in der Sowjetunion erscheinen konnte – und selbst 1962 nur ohne das Großinquisitor-Kapitel.
Satirische Prosa – „Ich ging immer wieder in die Irre“
In den folgenden Jahren experimentierte Ehrenburg mit diversen epischen Formen. In seiner Autobiografie kommentierte er diesen Suchprozess: „Nach dem Julio Jurenito hatte ich den Eindruck, ich hätte mich schon gefunden, meinen Weg, meine Thematik, meine Sprache. In Wirklichkeit ging ich immer wieder in die Irre, und jedes neue Buch negierte alle vorausgegangenen.“
Zunächst schrieb er eine Art Fortsetzung des Julio Jurenito, den satirischen Roman Trust D.E., der die physische Zerstörung Europas beschreibt und den Jurenito damit noch zu überbieten sucht; ferner eine Serie von Kurzgeschichten, die sich an den eigenwilligen Stil Remisows anlehnten. Das nächste Experiment war ein Kriminal- und Kolportageroman, Die Liebe der Jeanne Ney, in enger Anlehnung an Charles Dickens’ große realistische Romane, mit verwickelter Fabel und von „unglaublicher Sentimentalität“, wie Ehrenburg rückblickend meinte. Hier trat an die Stelle der Revolution und des Krieges, die als unerhörtes Ereignis das Zentrum der ersten Romane bildeten, die große Liebe, die das Leben der Helden völlig umstürzt und zugleich veredelt; freilich ist der Liebende Andrej zugleich Bolschewik und Revolutionär, und der Umsturz durch die Liebe und die Revolution hängen bei ihm eng zusammen. Der Roman wurde unter Regie von Georg Wilhelm Pabst verfilmt, allerdings mit einem Happy End anstelle des tragischen Schlusses von Ehrenburg – sein Protest als Drehbuch-Koautor war vergebens.
Auf diesen Versuch im „Romantismus“, wie Ehrenburg es nannte, folgte ein groß angelegter Roman über Revolution, Bürgerkrieg und Neue Ökonomische Politik (NÖP) im Stil des französischen Realismus, etwa Balzac und Stendhal: Der Raffer. Ein auktorialer, allwissender Erzähler, der zahlreiche Kommentare und Einordnungen unternimmt, hat es hier mit einem nicht sehr sympathischen Helden zu tun, dessen Charakter viele Defizite aufweist: dem Kellnerssohn Michail Lykow aus Kiew, dem „Raffer“, der in den Wirren der NÖP aus Gier nach Größe auf die schiefe Bahn gerät, Unterschlagungen verübt, ins Gefängnis kommt und dort Selbstmord begeht. Die Taten, Gedanken und Gefühle des Protagonisten werden mit hoher epischer Objektivität geschildert: wie er seinem Bruder, dem überzeugten Kommunisten Artjom, das Leben rettet, indem er sich bei einer weißgardistischen Razzia für ihn ausgibt; doch ebenso wie er einen Kiewer Bürger ermordet, weil dieser sich über den Abzug der Roten Armee freut. Durch seine oft satirisch gefärbten Kommentare hält der Erzähler
Distanz zur Hauptfigur und konfrontiert deren grandiose Selbstrechtfertigungen mit seinem Einblick in die Psychologie Michail Lykows. Artjom hingegen erscheint geradlinig, aber blass und uninteressant – selbst sein Sohn, der im letzten Kapitel geboren wird, ist in Wahrheit von Michail. Ein zentrales Thema des Romans ist die Demobilisierung der sowjetischen Gesellschaft nach den Jahren des permanenten Bürgerkriegs – und die Frage, was mit den überschießenden Emotionen und der Gewaltbereitschaft aus dieser Phase in den Friedensjahren der NÖP geschieht. Den Abschluss des Romans bildet ein großes Tableau der Trauerfeiern zum Tode Lenins und damit des Endes der heroischen Phase der Revolution.
Sommer 1925 spielt in Paris. Wie im Julio Jurenito tritt Ehrenburg als mit vielen autobiografischen Zügen ausgestatteter Ich-Erzähler auf. Doch die Geschichte handelt von Trauer und Verlust: Während eines Kuraufenthalts seiner Frau stürzt der Erzähler in die Obdachlosigkeit ab. Antriebslos, mittellos und handlungsunfähig durchwandert er das Panoptikum der Großstadt, die Elendsviertel, Bars und Straßen. Ein italienischer Barbesitzer, ein farcenhafter Wiedergänger des Julio Jurenito, wirbt ihn für einen Auftragsmord an einem Industriefunktionär an, doch Ehrenburg kann sich nicht zum Abdrücken überwinden. Dazu kommt eine triviale Romanze mit der Freundin des Barbesitzers. Die Erzählung verläuft in harten filmischen Schnitten und Sprüngen. Die Realität wird dem Erzähler ungewiss: Alle Figuren geraten ihm zu literarischen Schatten, alle Handlungen zu Posen, worüber er ausgiebig reflektiert. Endlich treibt der Roman einem eigentümlichen kathartischen Schluss zu: Der letzte Mensch, der dem Protagonisten Authentizität von Gefühlen verbürgt hat, ein kleines Mädchen, stirbt im beschädigten südfranzösischen Idyll. Doch gerade dies ermöglicht ihm den Aufbruch:
Eine leere Welt, bevölkert von Ideen und Kleidungsstücken, ist schaurig. Doch es gibt eine Rettung, die kaum sichtbare Kontur einer fernen Küste – deine Hand, ein wenig Wärme und schlichte Liebe. Versuchen wir, damit die Küste zu erreichen. Ja, wir versuchen es …
In der Prototschni-Gasse, Ehrenburgs nächster Roman, kombiniert Sozialreportage und Romantismus. Die Handlung spielt in einem übel beleumdeten Stadtviertel Moskaus an der Moskwa, wo verwahrloste Kinder im Keller eines Hauses leben. Der Hausbesitzer, eine Negativgestalt des Romans, versucht sie im tiefsten Winter durch Verstopfen der Zugänge zu ersticken, was nur aus Zufall fehlschlägt. Über weite Strecken handelt das Buch jedoch von den wechselvollen Schicksalen verschiedener Bewohner der Prototschni-Gasse, ihren Lebensverhältnissen, Liebesgeschichten und Einstellungen. Der Erzähler tritt gegenüber dem „Raffer“ zurück, die Erzählweise nähert sich deutlich einer personalen Perspektive. Die Satire verschwindet aus der Erzählerrede, manifestiert sich aber in der Handlungskonstruktion, die die genährten Erwartungen an ein tragisches Ende enttäuscht. So läuft das mit großer Geste vorgebrachte Bekenntnis einer Romanfigur, bei der Ermordung der Kinder mitgeholfen zu haben, ins Leere – die Polizei räumt einen leeren Keller aus. Eine lange Zeit vermisste Protagonistin ist nicht, wie zunächst angedeutet wird, aus enttäuschter Liebe ins Wasser gegangen, sondern zu ihrer Schwester gereist und hat einen Funktionär geheiratet, den sie zwar nicht liebt, der ihr aber immerhin mit Achtung begegnet. Schließlich wird eine Positivfigur eingeführt, der bucklige Jude und Kinomusiker Jusik, der kaum mehr auf eigenes Glück hofft, jedoch den Romanfiguren helfen will, glücklich zu sein.
Diese Figur ist ein Vorschein des Protagonisten von Ehrenburgs folgendem Roman, Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz. Ehrenburg nahm hier Motive und Erzählformen des Julio Jurenito wieder auf, insbesondere das Muster des Schelmenromans. Roitschwantz ist eine dem Schwejk verwandte Figur, ein philosophierender jüdischer Herrenschneider aus Homel, der nach einer Denunziation sein Geschäft verliert und eine Odyssee durch ganz Europa antritt. Er übt eine Reihe von zweifelhaften Beschäftigungen aus, um zu überleben – vom Erfinden günstiger Planberichte über die Vermehrung inexistenter Kaninchen in der Sowjetunion bis zum Reklamestehen als Muster schlechter Ernährung bei einem Apotheker in Ostpreußen. Vor allem aber lernt er den Antisemitismus, Prügel und Gefängnisse in vielen Ländern kennen, von der Sowjetunion über Polen, Deutschland, Frankreich und England bis nach Palästina.
Auch formal ist dieses Werk in mancher Hinsicht dem Jurenito nahe, insbesondere durch eine Zweiteilung der Erzählhaltung. Denn neben den Handlungsbericht des auktorialen Erzählers tritt die direkte und teilweise auch erlebte Rede der Hauptfigur. Ehrenburg hatte damals chassidische Geschichten kennengelernt, und in ihrem Stil philosophiert Lasik Roitschwantz fortwährend. Der deutsche Übersetzer des Buchs, Waldemar Jollos, lenkte den Blick auf die „Sprachseltsamkeiten“ der direkten Rede des Protagonisten: Jiddisch, Russisch und der Jargon des Bolschewismus mischen sich mit weiteren Einflüssen. „Es ergibt sich ein Tohuwabohu der Sprache, aus allen Erinnerungen und Eindrücken dieses rasenden Lebens unzerteilbar gemischt. Aber Ehrenburg handhabt den Dadaismus, zu dem sich Lasiks Sprache allmählich hinaufschraubt, natürlich mit einer außerordentlichen Bewusstheit.“
Zwischen „Faktografie“ und Roman
Ende der 1920er Jahre wandte sich Ehrenburg neuen Prosaformen zu, die durch die Integration von empirischen Daten und Fakten gekennzeichnet waren: Statistiken, historische Dokumente, Beobachtungen usw. Diese Wendung hatte starke Auswirkungen auf die Romanform selbst. Die Werke dieser Phase zielten darauf, aus Elementen der Dokumentation, der Reportage, der argumentierenden Rhetorik, mythologischen Verweisen, kulturellen und politischen Anspielungen sowie den bisher erprobten Erzählformen ein neuartiges Ganzes zu schaffen. Beeinflusst war Ehrenburg dabei von der „Faktografie“, wie sie in den späten 1920er Jahren in der Zeitschrift Nowy LEF („Neue Linke Front der Künste“) um Majakowski propagiert wurde.
Einen ersten Versuch auf diesem Gebiet bildete die Verschwörung der Gleichen, eine belletristische Biografie von Gracchus Babeuf. Fast alle handelnden Figuren sind historisch belegt; Quellen werden im Roman zitiert oder gar – zumindest in der deutschen Ausgabe – im Faksimile abgedruckt. Dessen ungeachtet dominiert ein Wechsel von auktorialer und personaler Erzählsituation die Darstellung. Große historische Überblicke wechseln mit der Innenperspektive Babeufs oder auch seiner Gegenspieler Barras und Carnot; die Erzählperspektive kann sich einem Polizeispitzel anheften oder einem Demonstrationszug. Immer wieder gestaltet Ehrenburg Schlüsselereignisse szenisch aus, etwa das Erschrecken Babeufs bei der ersten Konfrontation mit der grausamen Lynchjustiz der „Straße“. Den thematischen Schwerpunkt bildet die Erschöpfungs- und Verfallsphase der Französischen Revolution – und Babeufs Reaktion darauf: Ablehnung der Terrorherrschaft und stattdessen der Versuch, den sozialen Inhalt der Revolution handstreichartig zur Geltung zu bringen. Die intendierten Parallelen zur russischen Revolution liegen auf der Hand, bleiben aber implizit.
Viel weiter reichen die Konsequenzen für die Romanform bei 10 PS (der Titel bezieht sich auf das in Massenproduktion hergestellte und damals sehr breit beworbene Automodell Citroën 10 CV). Hier schreibt Ehrenburg bereits im Vorwort: „Dieses Buch ist kein Roman, sondern eine Chronik unserer Zeit.“ Das Werk folgte einem Montageprinzip: In sieben Kapiteln, unter anderem Das laufende Band, Reifen, Benzin, Börse, Fahrten betitelt, wird der Gegenstand, das Automobil, eingekreist. In die eindringliche, kritische Darstellung der tayloristischen Fließbandproduktion und der ökonomisch-politischen Kämpfe um Kautschuk und Erdöl sind biografische Passagen eingelassen, die immer wieder aufgenommen werden und keineswegs auf die Innenperspektive der Figuren verzichten: von den real existierenden Kapitalisten André Citroën und Henri Deterding bis zum fiktiven Arbeiter Pierre Chardain und zum namenlosen Kautschukkuli in Malaya. In der Erzählerrede gewinnt jedoch die „Hauptfigur“ des Werkes, das Automobil, ungeachtet allen dokumentarischen Materials mythische Züge. Es verkörpert die zerstörerische Tendenz der kapitalistischen Gesellschaft, und zwar nicht nur in Produktion und Börse, sondern auch in Konsum und Wunscherfüllung.
Das Auto arbeitet rechtschaffen. Noch lange vor seiner Geburt, da es aus noch nichts weiter als Metallschichten und einem Stoß von Zeichnungen besteht, tötet es bereits sorgfältig malaiische Kulis und mexikanische Arbeiter. Seine Geburtswehen sind qualvoll. Es zerstückelt Fleisch, macht Augen blind, zerfrisst Lungen, nimmt die Vernunft. Schließlich rollt es zum Tore in jene Welt hinaus, die man vor seinem Dasein die „schöne“ nannte. Sofort nimmt es seinem vermeintlichen Beherrscher seine altväterliche Ruhe. […] Das Auto überfährt lakonisch die Fußgänger. […] Es erfüllt nur seine Bestimmung: es ist berufen, die Menschen auszurotten.
Ein Eingangskapitel verortet die Geburt des Autos in den Plänen eines fiktiven Erfinders, der die sozialen Versprechungen der Französischen Revolution mit den technischen Mitteln des Autos realisieren will. So gewinnt die Erzählung eine Struktur: Die Hoffnung auf die Technik wird von Kapitel zu Kapitel weiter durchkreuzt und dementiert; die soziale und ökonomische Realität lässt den Traum von Philippe Lebon in einer Katastrophe enden. Ein retardierendes Moment bildet allein das zentrale vierte Kapitel mit dem sprechenden Titel Eine dichterische Abschweifung, das vom Scheitern eines hilflosen Streikversuchs französischer Automobilarbeiter erzählt. In der Sowjetunion konnte das Buch vor allem wegen seiner zugespitzten technikkritischen Tendenz nur in Auszügen erscheinen.
10 PS war der erste Beitrag einer ganzen Serie, die unter dem Reihentitel Chronik unserer Tage stand. Mit wechselnden formalen Lösungen, die vom Schlüsselroman (Die Einheitsfront, über die Kämpfe um Ivar Kreugers Zündholzmonopol) bis zur Reportage reichten (Der Schuhkönig, über Tomáš Baťa), versuchte Ehrenburg seine eigenwillige Variante der „Faktografie“ in literarische Werke umzusetzen.
Sozialistischer Realismus
Der zweite Tag (1933) war der erste Roman Ehrenburgs, der den Normen des Sozialistischen Realismus entsprach. Er gehörte wie eine ganze Reihe anderer Romane dieser Jahre zum Genre des Aufbau- und Produktionsromans (ähnlich wie etwa Marietta Schaginjans Wasserkraftwerk), weist aber auch Züge des Erziehungsromans auf (ein anderes Beispiel ist Nikolai Ostrowskis Wie der Stahl gehärtet wurde). Der Titel spielt auf den zweiten Schöpfungstag der Bibel an, als Land und Meer getrennt wurden – damit vergleicht Ehrenburg den zweiten Tag des sozialistischen Aufbaus, konkret den Bau eines gewaltigen Stahlwerks in Nowokusnezk. Die Erzählweise nutzt wie in früheren Werken Ehrenburgs Filmtechniken: ständige Schnitte von der Totale auf die Großbaustelle zur Nahaufnahme einer Person und zurück, immer wieder unterbrochen von Rückblenden auf das Leben einzelner Personen. Ein Großteil des Buches ist der Beschreibung des Baus und der Lebenswege aller möglichen Beteiligten gewidmet, wobei es dem Erzähler besonders auf die Vielfältigkeit des Prozesses ankommt – Idealismus und Zwang, Glorifizierung der Arbeit und die zahlreichen Arbeitsunfälle stehen nebeneinander.
Erst allmählich schält sich so etwas wie eine Handlung heraus: Wolodja Safonow, der viele Züge eines Selbstporträts von Ehrenburg aufweist, ist ein orientierungsloser Arztsohn und Intellektueller, der in Tomsk Mathematik studiert. Er verliert seine Freundin Irina an Kolja Rschanow, einen Stoßarbeiter in Nowokusnezk, und bringt sich schließlich um. Der philosophische Konflikt zwischen den beiden Hauptfiguren ist der zwischen dem bürgerlichen, pessimistischen Intellektuellen und dem neuen Menschen des Sozialismus. Mit zahlreichen Anspielungen auf Dostojewski malt Ehrenburg den Niedergang von Safonow aus – die Romanfigur Safonow führt selbst eine Schlüsselszene ganz bewusst als farcenhafte Kopie einer Szene aus den Brüdern Karamasow herbei. Die Sichtweisen und Argumente Safonows und Rschanows stehen in bemerkenswerter Objektivität und aus je eigenem Recht nebeneinander, doch in der Handlung wird Safonow für den Sieg des neuen Menschen geopfert. Ein Beispiel für Safonows Perspektive:
Er glaubt zum Beispiel nicht, dass ein Hochofen schöner ist als eine Venusstatue. Er ist nicht einmal überzeugt, dass ein Hochofen wichtiger ist als dieses Stück gelb gewordenen Marmors. […] Er erklärt den Überdruss des Doktor Faust nicht aus den Besonderheiten der Periode der ursprünglichen Akkumulation. Hält der Frühling seinen Einzug und in den alten Gärten von Tomsk blüht der Flieder, so zitiert er nicht Marx. Er weiß, den Frühling hat es schon vor der Revolution gegeben. Folglich weiß er gar nichts.
Mit Ohne Atempause schob Ehrenburg einen weiteren Aufbau-Roman nach, der im hohen Norden der Sowjetunion spielt. Hier verzichtete er allerdings auf formale Innovationen und benutzte, wie bereits in der Liebe der Jeanne Ney, Muster des Kolportageromans. Einer der positiven Romanhelden, der Botaniker Ljass, ist deutlich als Anspielung auf Trofim Denissowitsch Lyssenko zu erkennen. Immerhin spielen auch hier skeptische Figuren eine Rolle; so kommt ein Kritiker des Abrisses wertvoller alter Holzkirchen zu Wort. Während der Zweite Tag aus formalen wie inhaltlichen Gründen (insbesondere der eindringlichen Beschreibung von widrigen Bedingungen, Konflikten und Arbeitsunfällen) in der Sowjetunion heftig umstritten war, kam Ohne Atempause gut an. Ehrenburgs Biograf Joshua Rubenstein meint, das Buch sei Stalins Vorliebe für „industrial soap opera“ entgegengekommen. Ehrenburg hielt nicht viel von diesem Werk, wie er in seinen Memoiren schreibt; er bezeichnete es als eine Art Resteverwertung für Motive, die ihm vom Zweiten Tag übriggeblieben seien.
Der Fall von Paris (1942) hat dagegen nicht Aufbau, sondern Verfall zum Thema. Es geht um den Untergang „des altmodischen provinziellen Frankreich mit seinen Anglern, seinen ländlichen Tanzvergnügen und seinen Radikalsozialisten“ – nicht erst unter dem Ansturm der deutschen Truppen. Ausgangspunkt der Handlung sind die Erlebnisse dreier ehemaliger Schulfreunde: des Malers André, des Schriftstellers Julien und des Ingenieurs Pierre. Doch die Geschichte weitet sich, ganz im Sinn der „Roman-Epopöe“ des Sozialistischen Realismus, schnell auf weitere Figuren und deren Perspektiven aus, u. a. den korrupten radikalsozialistischen Politiker Tessat – Juliens Vater – und den liberalen Industriellen Desser. So entwirft Ehrenburg ein Panorama der französischen Gesellschaft von 1936 bis 1940. Neben zahlreichen „gemischten“ Charakteren gibt es eine reine Positivfigur, den Kommunisten Michaud, in den sich Tessats Tochter Denise verliebt. Häufig ist er entfernt vom Schauplatz, sein Vorname fällt, ganz im Gegensatz zu denen der Hauptfiguren, erst weit hinten im Buch – in einem Brief aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Typischer als diese unwirkliche, blass erscheinende Idealgestalt erscheinen andere Personen, etwa Legré, der sich nicht mehr zu orientieren vermag, seitdem die Parti communiste français und die kommunistische Tageszeitung L’Humanité verboten sind, und wie blind im Nebel der „drôle de guerre“ umherstolpert.
Eindrucksvoll sind die Schilderungen der großen Streiks von 1936 und des allgemeinen Exodus aus Paris 1940. Andererseits erscheint „der Pakt“ [der Hitler-Stalin-Pakt] nur in wenigen Anmerkungen und wird weder vorgestellt noch diskutiert. Das „Breitwandepos“ erreichte „schwindelerregende Auflagen“ im sowjetischen Machtbereich. Lilly Marcou betrachtet es als „mühselige Lektüre“ mit „literarischen Schwächen“, insbesondere klischeehaften Romanfiguren, das freilich seinen dokumentarischen Wert nicht eingebüßt habe. Sie kann sich dabei auf Ehrenburg selbst berufen, der rückblickend schrieb: „Ich fand nicht genügend Zwischentöne, trug nur schwarz und weiß auf.“
Tauwetter
Mit seinem letzten Roman Tauwetter (1954) kehrte Ehrenburg zu Themen der sowjetischen Gesellschaft zurück. Tauwetter spielt im Winter 1953/1954 in einer russischen Provinzstadt „an der Wolga“. An die Stelle der großen historischen Themen tritt ein Plot, der an Tolstois Anna Karenina erinnert (dieser Roman wird übrigens auch in der Einleitung erwähnt). Im Zentrum steht die Ehe des Werkleiters Iwan Schurawljow, eines gefühlskalten Bürokraten, mit der Lehrerin Jelena Borissowna. Sie verliebt sich in den Ingenieur Dmitri Korotenko; der Liebesgeschichte ist ein Happy End beschieden. Schurawljow, der zugunsten von Investitionen ins Werk zur Planerfüllung ein ums andere Mal den Bau von Arbeiterwohnungen aufgeschoben hatte, wird als Werkleiter abgesetzt, nachdem ein Frühlingssturm die alten Wohnbaracken zerstört hat. Wie bei Anna Karenina wird diese Haupthandlung mit Liebesgeschichten anderer Personen kontrastiert: der Elektrotechnikstudentin Sonja Puchowa und des Ingenieurs Sawtschenko sowie der Ärztin Wera Scherer und des Chefkonstrukteurs Sokolowski. Was den Roman antreibt, sind jedoch die großen Ereignisse im fernen Moskau, die sich jenseits des Romangeschehens abspielen und nur in ihren Fernwirkungen in die Handlung einbezogen werden. Der Sturz Schurawljows ist parallelisiert mit dem Ende des Stalinismus; Wera Scherer hat unter den Verdächtigungen im Zusammenhang der Ärzteverschwörung zu leiden; Korotenkos Stiefvater wurde in den Jahren des Großen Terrors verhaftet und ins Arbeitslager deportiert, im zweiten Teil des Romans kehrt er als ausgesprochene Positivfigur zurück; Sokolowskis Tochter lebt in Belgien und dies verwendet Schurawljow bei seinen Intrigen gegen ihn.
Die Figuren des Buches sind (von wenigen Ausnahmen abgesehen) „realistische Mixturen“. Sie werden durchweg sowohl aus der Außenperspektive (Erzählerbericht) als auch aus der Innenperspektive (innerer Monolog) gezeigt, und so sehr das Buch gegen den stalinistischen Bürokraten Schurawljow Partei ergreift, so wenig ist er als Bösewicht gezeichnet. Er erscheint als ausgezeichneter Ingenieur, der bei einem Brand im Werk engagiert eingreift, als Werkleiter aber fehl am Platz ist und charakterliche Defizite aufweist.
In die recht schlichte Geschichte sind jedoch drei „symbolische Kontrapunkte“ eingebaut, die ein dichtes Netz von Verweisen ergeben: Der strenge Frost lockert sich parallel mit dem Auftauen der erstarrten politischen und persönlichen Beziehungen; in der Zeitungslektüre und den Diskussionen der Figuren sind die politischen Wandlungen der Entstalinisierung und die Ereignisse des Kalten Kriegs permanent anwesend; und schließlich durchzieht den Roman eine aktuelle Kunst- und Literaturdebatte. Ihre wichtigsten Protagonisten sind zwei Maler: Wladimir Puchow, frustriert, orientierungslos und oft mit zynischen Sprüchen hervortretend, fertigt ohne Überzeugung, aber erfolgreich Auftragsarbeiten im Stil des Sozialistischen Realismus; der verarmte Saburow malt Landschaften und Porträts aus innerer Überzeugung, bekommt aber keine Aufträge. Anspielungen auf zahlreiche aktuelle Romane kommen permanent vor, das Buch wird gleich mit einer „Leserdebatte“ im Werk eröffnet. Der Höhepunkt der Handlung ist jedoch gerade Puchow zugedacht, also eben dem Protagonisten, dem keine günstige Prognose gestellt werden kann: An einem Frühlingstag im Stadtpark erlebt er sinnlich das Auftauen der Gefühle und Strukturen und findet Schneeglöckchen unter dem Eis für die Schauspielerin, die sich eben von ihm getrennt hat.
Es ist dieses Verweisnetz zwischen Jahreszeit, Liebe, Politik und Kunst, das dem Roman seine außerordentliche Wirkung ermöglicht hat.
Publizistisches Werk
Reisebilder
Ehrenburg ist zeit seines Lebens sehr viel gereist, und ein bedeutender Teil seiner journalistischen Arbeit bestand in Reiseberichten und Reisefeuilletons. Diese erschienen meist zuerst in Zeitschriften, wurden aber oft danach gesammelt als Bücher herausgegeben.
In der bekanntesten Sammlung, Visum der Zeit (1929), sind über die 1920er Jahre verteilte Beobachtungen aus Frankreich, Deutschland, Polen, der Slowakei u. a. zusammengetragen. Ehrenburg entwirft ein Bild der Besonderheit der jeweiligen Orte, Gesellschaften und Kulturen – was ihm in der sowjetischen Kritik den Vorwurf des bürgerlichen Nationalismus eintrug. Doch wie Ehrenburg im Vorwort sagt, geht es ihm eher um Momentaufnahmen seiner Zeit und ihre Spiegelung in den Orten, also um Chronotope, Zeit-Orte:
Der räumliche Patriotismus war gestern. Aber es blieb ein leerer Platz, und da es sich schwer leben lässt außerhalb der „Blindheit der Leidenschaften“, wurde der Begriff „Heimat“ schleunigst durch „Gegenwart“ ersetzt. Wir liebten sie mit nicht weniger „seltsamer Liebe“ als unsere Vorgänger das „Vaterland.“
An die lebhaften Beschreibungen und Geschichten, die nicht selten ins Literarische hinüberlappen, knüpft Ehrenburg Betrachtungen zu kulturellen und politischen Fragen. So bewegt sich sein Bretagne-Bericht von der Natur des Landes und den Sitten der Bewohner zu einem Streik der Sardellenfischer in Penmarc’h. Der Titel Zwei Kämpfe spielt auf den Kampf der Fischer mit der Natur und mit den Fabrikanten an – mit dem ersten könne man leben, mit dem zweiten nicht. Aus Magdeburg erzählt Ehrenburg mit einigem Entsetzen von den bunten Anstrichen der Häuser und Straßenbahnen, die der vom Bauhaus beeinflusste Bauamtsleiter Bruno Taut gefördert hatte, und nimmt dies zum Anlass einer Kritik an konstruktivistischen Konzepten, die er kurz zuvor noch selbst vertreten hatte:
Aber die Kunst verletzt uns, sobald sie ins Leben eintritt. […] Das ist kein, wenn auch schlechter, Stil, sondern ein Überfall oder eine feindliche Okkupation.
In seinen Berichten aus Polen schrieb Ehrenburg über das chassidische Judentum, das eben noch seinen Roman Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz inspiriert hatte. Der Ton hat sich allerdings sehr geändert: Ehrenburg beschreibt nun den Chassidismus als im Verfall begriffen und kritisiert scharf die „rückständige“ Erziehung der jüdischen Jugend im Cheder. Als größte Hoffnung für die polnisch-jüdische Jugend bezeichnet er die Öffnung hin zu einer großen Sprache und Literatur – und dafür biete sich die russische an. Ewa Bérard urteilt, dass Ehrenburg hier antisemitische Klischees bestätigte, und bescheinigt diesen Beiträgen eher (sowjet-)propagandistischen als literarischen Wert – im Gegensatz zu Ehrenburgs „brillanten“ Artikeln über Deutschland.
Immer wieder spielt in Visum der Zeit das Moment der Ungleichzeitigkeit eine entscheidende Rolle, nicht nur in den Polenberichten, sondern auch in den Texten über die Slowakei, wo Ehrenburg – mit Sympathie für beide Seiten – die offene und gastfreundliche Bauernkultur und die konstruktivistische Intelligenz, die ihre Jugend noch selbst in rauchfanglosen Hütten zugebracht hatte, nebeneinander stellt.
Ungleichzeitigkeit ist erst recht ein beherrschendes Thema in Ehrenburgs Buch Spanien (1931):
Interessiert man sich in Spanien nicht bloß für Kathedralen, sondern auch für das Leben der Lebenden, dann erblickt man bald Chaos, Wirrwarr, eine Schaustellung von Widersprüchen. Eine herrliche Chaussee, auf ihr ein Hispano-Suiza, – werden doch die elegantesten Automobile Europas, der Traum der ausgehaltenen Frauen in Paris, in Spanien hergestellt. – Dem Hispano-Suiza entgegen kommt ein Esel, auf dem Esel eine Bäuerin im Kopftuch. Der Esel ist nicht ihr Eigen, ihr gehört nur ein Viertel des Esels: ihre Mitgift.
Breiten Raum nimmt hier die Darstellung der extremen sozialen Gegensätze in Spanien ein: etwa die Bauern- und Landarbeiterarmut in quasi-feudalen Strukturen und der ohne Gegenleistung erzielte Reichtum der Grundbesitzer. Ehrenburgs Interesse richtet sich besonders auf den politischen Umgang mit diesen Gegensätzen. So findet sich in dem Spanien-Buch eine mit viel Sympathie verfasste Kurzbiografie des anarchistischen Aktivisten Buenaventura Durruti und ein Gespräch des Autors mit ihm.
Doch auch in diesem Werk werden vor allem die Besonderheiten der spanischen Kultur und Gesellschaft angesprochen. So illustriert Ehrenburg die „adlige Armut“ in Spanien mit dieser griffigen Beobachtung aus einem noblen Café in Madrid:
Ein dunkelhäutiges, volles Weib bietet Lotterielose an: „Morgen ist Ziehung!“ Ein anderes Weib bringt ihr einen Säugling. Seelenruhig rückt jetzt die Frau einen Sessel zu sich heran, knöpft sich die Bluse auf und beginnt das Kleine zu stillen. Es ist eine Bettlerin. An den Tischen sitzen die elegantesten Caballeros. Die „Garçons“ der Pariser Cafés würden wie eine Meute über das Bettelweib herstürzen, in Berlin erschiene ihre Handlungsweise so unerklärlich, dass man sie womöglich auf ihren Geisteszustand hin beobachten ließe. Hier findet man es ganz natürlich.
Ehrenburgs Reisebilder aus den zwanziger und dreißiger Jahren beziehen eine besondere Spannung aus der immer wieder angesprochenen Gewissheit, dass die beschriebene Welt auf Dauer nicht bleiben könne. Sie schwanken zwischen Vorahnungen von Untergang und Hoffnung. Ein elegischer Grundton der Vergänglichkeit dominiert die Stimmung vieler Beschreibungen.
Das Schwarzbuch
Auf Anregung von Albert Einstein begann das Jüdische Antifaschistische Komitee seit Sommer 1943, Dokumente über die Ermordung der Juden auf dem Gebiet der besetzten Sowjetunion zu sammeln, die in einem Schwarzbuch veröffentlicht werden sollten. Vorsitzender der zu diesem Zweck gebildeten Literarischen Kommission wurde Ehrenburg. Nach Aufrufen u. a. in der jiddischsprachigen Zeitung Ejnikejt traf ein nicht abreißender Strom von Zeugenberichten ein. Sie wurden teilweise von der Literarischen Kommission, teilweise vom Komitee selbst gesichtet, und eine Auswahl wurde für den Druck vorbereitet. Dabei kam es zu Kontroversen: Das Komitee leitete ohne Wissen Ehrenburgs eine Anzahl von Dokumenten in die USA weiter, was die gleichzeitige Herausgabe in den USA, Großbritannien und der Sowjetunion erheblich erschwerte. Im Zuge dieses Konflikts zog sich Ehrenburg 1945 aus der Redaktion zurück und stellte die von ihm fertiggestellten Teile dem Komitee zur Verfügung. Zugleich war auch das Vorgehen bei der Vorbereitung zum Druck strittig. Bei einer Sitzung der Literarischen Kommission am 13. Oktober 1944 vertrat Ehrenburg das Prinzip der Dokumentation:
Wenn Sie zum Beispiel einen Briefbericht erhalten, lassen Sie alles stehen, was der Autor zum Ausdruck bringen wollte; vielleicht kürzen Sie ihn etwas in der Länge, und allein darauf beschränkt sich die Bearbeitung, die ich an den Dokumenten vorgenommen habe. […] Ist ein Dokument von Interesse, dann muss man es unverändert lassen, ist es weniger interessant, soll man es beiseite legen und sich den anderen zuwenden …
Wassili Grossman, der später von Ehrenburg die Redaktion des Schwarzbuches übernahm, sah die Aufgabe des Buches hingegen darin, stellvertretend für die Opfer zu sprechen: „im Namen der Menschen …, die unter der Erde liegen und nicht mehr selbst reden können“.
Politische Instanzen der Sowjetunion brachten jedoch immer mehr Einwände gegen das Projekt vor; der wichtigste lautete, dass das Schicksal der Juden unverhältnismäßig gegenüber dem anderer Völker hervorgehoben werde. 1947 gelang es Grossman, den Satz des Buches fertigzustellen. Doch nach dem Ausdruck von 33 der 42 Druckbogen verhinderte die Zensurbehörde Glawlit die Fortsetzung des Drucks und ließ schließlich den fertigen Satz zerstören. In der Folge diente das Manuskript des Schwarzbuchs als Material für Prozesse gegen die Funktionäre des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (nicht jedoch gegen die Redakteure Ehrenburg und Grossman) wegen nationalistischer Tendenzen. Es konnte nie in der Sowjetunion und erst 1980 in einem israelischen Verlag erscheinen (hier fehlten allerdings die Berichte aus Litauen). Die erste vollständige Ausgabe wurde in deutscher Sprache 1994 publiziert. Sie stützte sich vor allem auf die Korrekturfahnen Grossmans von 1946 und 1947, die Irina Ehrenburg zur Verfügung stellen konnte.
Das Schwarzbuch enthält insgesamt 118 Dokumente, von denen 37 von Ehrenburg zum Druck vorbereitet worden waren. Sie reichen von einfachen Briefen und Tagebüchern von Augenzeugen und Überlebenden bis zu umfassenden Berichten von Schriftstellern, die auf der Basis von Interviews und anderen Materialien erstellt wurden. Zu den ersteren gehört ein Großteil von Ehrenburgs Material, zu den letzteren etwa Oserows großer Bericht über Babi Jar oder Grossmans Text über das Vernichtungslager Treblinka. Größter Wert wurde auf die Nennung möglichst exakter Daten, Namen und Adressen gelegt – die Namen der deutschen Täter konnten 1994 fast durchweg verifiziert werden, ebenso fast alle Angaben über die Daten und Zahlen der Ausrottungsaktionen, wie aus den Fußnoten der Übersetzer hervorgeht. Das Material ist nach den Republiken der UdSSR gegliedert: Ukraine, Belorussland, Russland, Litauen, Lettland. Abschließend folgen ein Bericht über Sowjetbürger, die Juden geholfen hatten, ein Abschnitt über die auf polnischem Boden befindlichen Vernichtungslager (der auch einen Bericht über den Kampf des Warschauer Gettos enthält) sowie ein Kapitel mit Aussagen der gefangen genommenen „Henker“ (so die Kapitelüberschrift).
Die Berichte erfassen an immer neuen Orten die Stadien des nationalsozialistischen Terrors: von der Registrierung über den alltäglichen Sadismus besonders gefürchteter SS- oder Gestapo-Männer bis zu den durchorganisierten „Aktionen“, die auf totale Vernichtung zielten. Die grausamen Taten lettischer, ukrainischer oder baltendeutscher Hilfspolizeitruppen oder der rumänischen Behörden in Transnistrien werden ebenfalls festgehalten – und von der Zensur in den Korrekturfassungen weitgehend wegredigiert, weil sie die „Kraft der Hauptanklage, die sich gegen die Deutschen richtet“, schwächten. Bei den Berichterstattern sind viele Haltungen vertreten: Manche konnten lange nicht glauben, dass die Nationalsozialisten die Juden tatsächlich ausrotten wollten, andere wussten dies frühzeitig; manche sind von lähmendem Entsetzen erfasst, manche fassen den Entschluss zum gewaltsamen Widerstand.
Ein Großteil der Dokumente, auf denen das Schwarzbuch beruht, ist heute wieder zugänglich: teilweise in Yad Vashem, wohin Ehrenburgs Tochter einige Mappen bringen lassen konnte, teilweise in Irina Ehrenburgs Privatarchiv, teilweise mittlerweile auch in Moskauer Archiven. Sie bestätigen den Inhalt des Schwarzbuchs. So stellt das so verspätet erschienene Werk „eine der wichtigsten Primärquellen“ zur Shoa dar.
Die Autobiografie
Menschen Jahre Leben sind die in sechs Büchern erschienenen Memoiren Ehrenburgs von 1891 bis 1954, also bis zum Erscheinen von Tauwetter. Es handelt sich nicht um eine Nacherzählung von Ehrenburgs Leben, den Kern des Buches bilden vielmehr Porträts von Ehrenburgs Weggefährten (worauf das erste Wort des Titels anspielt). Im Wesentlichen hat Ehrenburg dabei nur Personen berücksichtigt, an denen ihm gelegen war, nicht jedoch seine Gegner. Seine Intention beschreibt er so: „In manchen Museen stehen die steinernen Statuen reihenweise; viele sind schön, alle sind kalt. Doch zuweilen wärmt, belebt sie der Blick eines Beschauers. Ich möchte mit verliebten Augen einige Versteinerungen zu neuem Leben erwecken …“ Mit Blick auf die heftigen Debatten um die Entstalinisierung gelesen, zielen diese Sätze auch auf eine Rehabilitation der in den Stalinschen Säuberungen getöteten Schriftsteller, Künstler und Politiker.
Ein zweites Thema sind die Zeitereignisse („Jahre“), an denen Ehrenburg beteiligt war. Ehrenburg bemüht sich um nüchterne Darstellung, lässt allerdings manches weg (so etwa seine Stellungnahmen gegen die Bolschewiki aus den Jahren 1917–1921; sie erscheinen nur in der allgemeinen Formel „Ich begriff nichts“). Drittens durchziehen Versuche, die eigenen früheren Haltungen von heute aus zu verstehen und zu bewerten, alle Bände des Werks.
Ehrenburg legte sehr großen Wert auf dokumentarische Belege. Im ersten Kapitel kündigt er an: „Ich will mich bemühen, nichts zu entstellen, das Handwerk des Romanciers zu vergessen.“ Frühere autobiografische Versuche, Briefe, alte Zeitungen, Archive usw. gehören zu den Quellen, die Ehrenburg im Interesse einer nicht-fiktionalen Autobiografie heranzieht.
Menschen Jahre Leben ist, wie Marcel Reich-Ranicki in der Zeit vom 10. August 1962 schrieb, „ein wichtiges, aufschlussreiches Kulturdokument“. Es bietet Einblick in das Künstlerleben in Montparnasse vor dem Ersten Weltkrieg, in das Erleben des Russischen Bürgerkriegs, in das Berlin der zwanziger wie das Paris der dreißiger Jahre und nicht zuletzt in die Debatten in der Sowjetunion von 1917 bis 1953. Das hungernde Moskau des Kriegskommunismus mit seinen suprematistischen Wandbildern wird ebenso anschaulich gemacht wie die beklemmende Stimmung im Moskau des Großen Terrors.
Auch in der Bundesrepublik wurde das Werk viel beachtet und großenteils positiv rezensiert. Heinz Ungureit schrieb in der Frankfurter Rundschau vom 25. August 1962: „Die Porträts Picassos, Légers, Braques, die anderen von Italo Svevo, Joyce und Toller und besonders die seiner (z. T. verfemten) sowjetischen Künstler-Kollegen Majakowski, A. Tolstoi, Pasternak und vieler anderer gehören zum Besten des Buches und vielleicht zum Besten, was über viele von ihnen überhaupt geschrieben wurde.“
Das Erscheinen der deutschen Übersetzung in der Bundesrepublik Deutschland löste zugleich aber eine massive Boykottkampagne aus, die vor allem von der Deutschen National- und Soldatenzeitung geschürt wurde. Der Verleger Helmut Kindler erhielt zahlreiche Drohungen, Buchhandlungen, die das Buch verkauften, wurden mit Hetzplakaten versehen, der Verlag erhielt zahlreiche Zuschriften antisemitischen Inhalts. Anlass war ein angeblicher Aufruf Ehrenburgs zur Vergewaltigung deutscher Frauen im Zweiten Weltkrieg.
Kriegspropaganda im Zweiten Weltkrieg
Ehrenburgs Kriegsartikel standen „in der Tradition französischer Pamphlete“, wie sein Biograf Rubenstein bemerkt: „emotional direkt und ohne den pompösen, klischeebeladenen Stil der meisten sowjetischen Artikel“. Anders als die meisten seiner Kollegen berichtete Ehrenburg offen über die Niederlagen der Roten Armee – als Erster schrieb er über den Fall von Kiew und die Bedrohung von Moskau, als solche Meldungen eigentlich noch strikt untersagt waren.
Hass
Vor allem in den ersten eineinhalb Kriegsjahren, bis zur Schlacht von Stalingrad, waren seine Texte zugleich extrem emotionsgeladen – sie zielten darauf, den seiner Meinung nach fürs Durchhalten notwendigen Hass zu schüren. Die riesigen Verluste an Menschen und Gebieten, die die Sowjetunion 1941 in den ersten Monaten des deutschen Überfalls hinnehmen musste, hatten demoralisierende Wirkung auf die Rote Armee. Und der in der sowjetischen Propaganda vertretene Faschismusbegriff, nach dem der Nationalsozialismus allein als Projekt des Finanzkapitals, keineswegs aber der Masse der Bevölkerung erschien, hatte bei vielen Rotarmisten ein unrealistisches Bild der Wehrmacht erzeugt. Die Vorstellung, die einfachen Soldaten der Wehrmacht würden sich bei einem Krieg auf die Seite der russischen Revolution schlagen, war verbreitet. Dazu kamen die abrupten Politikwechsel im Zusammenhang des Hitler-Stalin-Pakts. In dieser verzweifelten Situation erschien den sowjetischen Schriftstellern und Propagandisten, von Alexei Tolstoi über Michail Scholochow und Konstantin Simonow bis zu Ehrenburg, die Parole des Hasses auf die deutschen Invasoren als das einzige Mittel, die Kampfkraft der Truppen zu stärken.
Ehrenburgs flammende Propagandaartikel begannen oft mit Zitaten aus Fronttagebüchern und Briefen gefallener oder gefangengenommener deutscher Soldaten. Danach folgte meist ein kommentierender Teil, der schließlich in Kampfaufrufe gegen „die Hitleristen“ oder auch „den Deutschen“ mündete. Ein häufig zitiertes extremes Beispiel ist der Aufruf „Töte!“ () in der Krasnaja Swesda vom 24. Juli 1942. Der leicht gekürzte Text lautet in deutscher Übersetzung:
Hier sind Auszüge aus drei Briefen, die bei getöteten Deutschen gefunden worden sind:
Der Inspektor Reinhardt schreibt an den Leutnant Otto Schirach: „[…] Ich habe sechs Russen aus dem Gebiet ausgesucht. Sie halten bei weitem mehr aus als die Franzosen. Nur einer von ihnen ist gestorben. […] Ihr Unterhalt kostet nichts und wir müssen nicht darunter leiden, dass diese Tiere, deren Kinder möglicherweise gerade unsere Soldaten töten, deutsches Brot essen. Gestern habe ich zwei russische Bestien leicht gezüchtigt, die heimlich Magermilch gesoffen haben, die für die Sauen bestimmt war …“
Irgendein Otto Essmann schreibt an den Leutnant Helmut Wiegand: „Wir haben jetzt russische Kriegsgefangene. Diese Typen fressen auf dem Flugplatz Regenwürmer und stürzen sich auf den Eimer mit Abwaschwasser. Ich habe gesehen, dass sie Unkraut gegessen haben. Kaum zu glauben, dass das Menschen sind …“
Sklavenhalter; sie möchten unser Volk versklaven. Sie schleppen die Russen zu sich nach Hause, misshandeln sie, bringen sie mit Hunger um den Verstand, bis dahin, dass sie Gras und Würmer essen, und dann philosophiert der widerwärtige Deutsche mit seiner stinkenden Zigarre: „Sind das vielleicht Menschen?“
Wir wissen alles. Wir erinnern uns an alles. Wir haben verstanden: Die Deutschen sind keine Menschen. Von nun an ist das Wort „Deutscher“ für uns wie ein entsetzlicher Fluch. Von jetzt an lässt das Wort „Deutscher“ das Gewehr von allein losgehen. Wir werden nichts sagen. Wir werden uns nicht empören. Wir werden töten. Wenn du nicht pro Tag wenigstens einen Deutschen getötet hast, war es ein verlorener Tag. […] Wenn du den Deutschen nicht tötest, tötet er dich. Er nimmt deine Nächsten und quält sie in seinem verfluchten Deutschland. […] Wenn du den Deutschen leben lässt, hängt er den russischen Mann auf und schändet die russische Frau. Wenn du einen Deutschen getötet hast, töte einen zweiten – nichts stimmt uns froher als deutsche Leichen. Zähle nicht die Tage. Zähle nicht die Werste. Zähle nur eins: die von dir getöteten Deutschen. Töte den Deutschen! bittet dich die alte Mutter. Töte den Deutschen! fleht dich das Kind an. Töte den Deutschen! schreit die Heimaterde. Ziel nicht vorbei. Triff nicht daneben. Töte!
Derartige Pamphlete waren bei Ehrenburg im Sommer 1942 nicht selten. Sie richteten sich allerdings eindeutig gegen die kämpfenden Truppen; von einem Zusammentreffen mit der deutschen Zivilbevölkerung konnte zu dieser Zeit noch keine Rede sein, da die Front tief im Inneren der Sowjetunion verlief. Oft enthielten Ehrenburgs Texte Tiermetaphern für die deutschen Invasoren: Von „tollwütigen Wölfen“, „Reptilien“ und „Skorpionen“ war die Rede. Zugleich richtete sich sein Blick auf eine spezifische Gestalt, die er keineswegs als animalisch beschrieb: den gebildeten deutschen SS-Mann oder Offizier, der methodisch-systematisch die Folterung und Ermordung der russischen und speziell der jüdischen Bevölkerung betreibt, den „faschistischen Soldaten, der mit seinem auserlesenen Füller in seinem hübschen Büchlein blutrünstig fanatischen Unfug über seine rassische Überlegenheit vermerkte, schamlos grausame Dinge, über die sich jeder Wilde entsetzt hätte“.
Gerechtigkeit
Bei aller Hasspropaganda unterschied Ehrenburg zwischen „Abrechnung“ und „Gerechtigkeit“ und abzulehnender Rache oder Vergeltung. Bereits am 5. Mai 1942 schrieb er: „Der deutsche Soldat mit dem Gewehr in der Hand ist für uns kein Mensch, sondern ein Faschist. Wir hassen ihn. […] Wenn der deutsche Soldat seine Waffe loslässt und sich in Gefangenschaft begibt, werden wir ihn mit keinem Finger anrühren – er wird leben.“ Noch deutlicher wird diese Haltung im Artikel Rechtfertigung des Hasses vom 26. Mai 1942:
Doch unser Volk lechzt nicht nach Rache. Nicht dazu haben wir unsere jungen Männer erzogen, dass sie auf das Niveau hitlerscher Vergeltungsmaßnahmen herabsinken. Niemals werden Rotarmisten deutsche Kinder ermorden, das Goethehaus in Weimar oder die Bibliothek von Marburg in Brand stecken. Rache ist Zahlung in gleicher Münze, Rede in gleicher Sprache. Aber wir haben keine gemeinsame Sprache mit den Faschisten. […] Für alle wird sich auf der Erde Platz finden. Auch das deutsche Volk, geläutert von den grauenhaften Missetaten des Hitlerschen Jahrzehnts, wird leben. Aber jede Großzügigkeit hat eine Grenze: Im Moment möchte ich über das Glück, das ein von Hitler befreites Deutschland erwartet, weder sprechen noch nachdenken. Solche Gedanken und Worte sind fehl am Platz, sie könnten auch nicht aufrichtig sein, solange Millionen Deutsche auf unserem Boden ihr Unwesen treiben.
Nach der Schlacht von Stalingrad schrieb Ehrenburg nicht mehr „Töte den Deutschen“, doch der Hass spielte in seinen Artikeln nach wie vor eine große Rolle. Das galt auch für die Zeit ab 1944, als die Rote Armee den Boden des Deutschen Reichs erreichte und auf deutsche Zivilbevölkerung traf. Kennzeichnend war die folgende Episode: Lady Gibb, eine englische Adlige, hatte Ehrenburg 1944 einen Brief geschrieben, in dem sie ihn mit einem Blake-Zitat zu „Gnade, Mitleid, Wahrhaftigkeit und Liebe“ mahnte: „Das sind die richtigen Waffen für die Bestrafung von grausamen Menschen.“ Ehrenburg ließ diesen Brief in der Krasnaja Swesda drucken und schrieb eine Antwort unter dem Titel „Gerechtigkeit, nicht Vergeltung“. Er betonte, die Rote Armee werde die Betreiber von Angriffskrieg und Völkermord vor Gericht stellen, nicht aber Zivilisten ermorden: „Die Männer der Roten Armee wollen die Kinderschlächter töten, nicht die Kinder der Kinderschlächter.“ Andererseits sei Mitleid mit den Deutschen unangebracht, denn man könne nicht zugleich mit dem Lamm und dem Wolf Mitleid haben. Kurz darauf veröffentlichte er an gleicher Stelle Briefe von Frontsoldaten unter dem Titel „Die Richter sprechen. Rotarmisten antworten Lady Gibb.“ Am 14. März 1945 schließlich erschien in Krasnaja Swesda ein Artikel Ehrenburgs, „Ritter der Gerechtigkeit“, der auch als Flugblatt in der Roten Armee verteilt wurde. Dort hieß es erneut: „Der sowjetische Soldat wird keine Frauen belästigen. Der sowjetische Soldat wird keine deutsche Frau misshandeln, noch wird er irgendeine intime Beziehung mit ihr unterhalten. Er ist über sie erhaben. Er verachtet sie dafür, dass sie die Frau eines Schlächters ist. […] Der sowjetische Soldat wird an der deutschen Frau schweigend vorbeigehen.“
Widersprüche
Die emotionale Durchschlagskraft von Ehrenburgs Aufrufen zu Hass und „Abrechnung“ einerseits, seine über die Jahre stets wiederholten Appelle, keine Rache zu üben und Zivilisten und Gefangene unbehelligt zu lassen, andererseits – dies wurde bereits zu Kriegszeiten teilweise als widersprüchlich empfunden. Im letzten Kriegsjahr erhielt Ehrenburg kritische Briefe von Frontsoldaten, die ihm vorhielten, er habe sich gewandelt und trete nun plötzlich für Mildtätigkeit gegenüber den Deutschen ein. Am 7. April 1945 antwortete Ehrenburg in der Krasnaja Swesda, er habe bereits 1942 für „Gerechtigkeit, nicht Rache“ plädiert.
Doch das änderte nichts daran, dass die alte Parole „Töte den Deutschen!“ mit Ehrenburgs Namen verbunden blieb. Vor allem Propagandisten, die mit der an die Deutschen gerichteten Gegenpropaganda befasst waren, hielten Ehrenburgs Artikel für strategisch unklug. So schrieb etwa der Leningrader Dramaturg und Kriegspropagandist Dmitri Schtschegulow in seinen Memoiren, die Artikel Ehrenburgs „enthielten noch immer den Stil der ersten Kriegsjahre“, verbreiteten eine Anti-Deutschen-Stimmung und störten bei der Agitation, die die sowjetische Feindpropaganda betreiben sollte. Bereits früher hatten Ehrenburgs Freund und Mitherausgeber des Schwarzbuches, Wassili Grossman, sowie der junge Germanist und Propagandist Lew Kopelew ihm gegenüber kritisiert, dass er zu wenig zwischen Deutschen und Faschisten unterscheide. Kopelews autobiografischer Bericht über seine Kriegserlebnisse in Ostpreußen 1945 zeigt deutlich, dass Ehrenburgs Name damals zumindest von Kopelew selbst als Synonym für gnadenlose Rache verstanden wurde: „[…] und wir alle – Generäle und Offiziere – verhalten uns nach Ehrenburgs Rezept. Welche Rache lehren wir: Deutsche Weiber aufs Kreuz legen, Koffer, Klamotten wegschleppen …“ Als Kopelew 1945 vom sowjetischen NKWD wegen Mitleids mit dem Feind und Beleidigung der Roten Armee verhaftet wurde, hielt man ihm u. a. auch „Kritik an den Artikeln des Genossen Ehrenburg“ vor. Er wurde zunächst freigesprochen, dann erneut verhaftet und in Lagern des GULAG inhaftiert.
„Es reicht!“
Am 11. April 1945 erschien Ehrenburgs letzter Kriegsartikel in Krasnaja Swesda unter dem Titel (chwatit – „Es reicht!“). Er stellte darin die Frage, wer in Deutschland eigentlich kapitulieren wolle, wo es doch gar kein Deutschland mehr gebe – nur noch eine „kolossale Gangsterbande“, die auseinanderlaufe, sobald es um die Verantwortung für Krieg und Massenmord gehe. Und er formulierte den Verdacht, die Deutschen seien bereit, gegenüber den Westalliierten zu kapitulieren, weil sie so einer gerichtlichen Verantwortung zu entgehen hofften, während sie gegen die Rote Armee erbitterten Widerstand leisteten. Drei Tage später brachte die Prawda einen Text mit dem Titel „Genosse Ehrenburg vereinfacht“, gezeichnet von Georgi Fjodorowitsch Alexandrow, dem Leiter der Abteilung Agitation und Propaganda des Zentralkomitees der KPdSU. Darin wurde Ehrenburg schwer getadelt: „Genosse Ehrenburg macht den Lesern weis, dass alle Deutschen gleich seien und dass sie sich alle gleichermaßen für die Verbrechen der Nazis zu verantworten hätten. […] Es muss nicht gesagt werden, dass der Genosse Ehrenburg hierin nicht die sowjetische öffentliche Meinung spiegelt. Die Rote Armee […] hat sich nie zum Ziel gesetzt, das deutsche Volk auszurotten […].“ Ehrenburg verwahrte sich in einem Brief an Stalin gegen diese Unterstellung, jedoch erfolglos. Er konnte einen Monat lang keine Artikel mehr veröffentlichen. Erst danach druckte die Prawda seinen Artikel „Der Morgen des Friedens“.
Für die Attacke Alexandrows, die offensichtlich von Stalin selbst angeordnet worden war und vor allem bei den Westalliierten großes Echo fand, werden zwei unterschiedliche Erklärungen angeführt. Ehrenburg hatte Anfang 1945 das bereits eroberte Ostpreußen bereist. Nach seiner Rückkehr wurde er von Wiktor Semjonowitsch Abakumow, dem Leiter der Spionageabwehr SMERSCH und späteren Minister für Staatssicherheit, denunziert: Er habe in Vorträgen vor der Redaktion der Krasnaja Swesda und vor Offizieren der Frunse-Militärakademie Fälle von Plünderungen, Tötungen und Vergewaltigungen seitens der Roten Armee angeprangert und damit deren Ansehen geschädigt. Verschiedene Autoren vermuten, dass Ehrenburgs Maßregelung auf diesen Bericht Abakumows zurückging. Carola Tischler hält diese Erklärung allerdings für fragwürdig, zumal Kopelew auf vergleichbare Denunziationen hin zu mehrjähriger Lagerhaft verurteilt wurde, und nimmt an, dass es sich in erster Linie um ein außenpolitisches Signal an die Westalliierten handelte. Auf Kosten des weithin bekannten Ehrenburg habe Stalin auf diese Weise deutlich gemacht, dass er an der Geschlossenheit der Allianz festhalte, auch was die Nachkriegsbehandlung Deutschlands angehe.
Ein unauffindbares Flugblatt
Ehrenburg wird bis heute – ohne jeglichen Beleg – unterstellt, einen Aufruf zur Vergewaltigung deutscher Frauen verfasst zu haben. Die älteste Spur dieser Behauptung findet sich in einem Artikel Ehrenburgs vom 25. November 1944. Dort berichtet er, dass der Oberkommandierende der Heeresgruppe Nord der Wehrmacht derartige Anwürfe gegen ihn in der Truppe zirkulieren lasse, bezeichnet sie als Fälschung und verwahrt sich strikt dagegen: „Vergeblich beteuert der General, dass wir wegen der deutschen Weibchen nach Deutschland kommen. Uns zieht nicht Gretchen an, sondern jene Fritzen, die unseren Frauen Kränkungen zugefügt haben.“
Die deutsche Kriegspropaganda hatte sich früh auf Ilja Ehrenburg eingeschossen, den Adolf Hitler zum „Hausjuden Stalins“ erklärt hatte. Immer wieder wurde im Völkischen Beobachter und in Das Reich Ehrenburg als Propagandist der Ausrottung der Deutschen dargestellt. Dabei spielte der angebliche Vergewaltigungsaufruf bald eine große Rolle. Dies setzte sich nach dem Krieg fort. Bernhard Fisch hat eine materialreiche Studie darüber vorgelegt. So wird der Text in wechselndem Wortlaut, aber stets ohne Quellenangabe etwa in den Erinnerungen von Karl Dönitz und des letzten Befehlshabers der Festung Königsberg, Otto Lasch, zitiert und taucht in zahlreichen weiteren Büchern und Medien auf. In den 1960er Jahren diente er als Aufhänger für eine Kampagne der Deutschen Nationalzeitung gegen die Herausgabe von Ehrenburgs Memoiren in der Bundesrepublik. Es gab bis heute zahlreiche Versuche, das mysteriöse Flugblatt zu finden, die jedoch sämtlich erfolglos verliefen. Selbst in der unmittelbaren Gegenwart hat es in diesem Zusammenhang noch Auseinandersetzungen gegeben. So wurde ein „Café Ehrenburg“ auf der Karl-Marx-Allee in Berlin von Rechtsextremisten mit Verweis darauf attackiert, und der Aufruf wurde noch 2001 als Grund für eine rechtsextreme Demonstration zur Umbenennung der Ilja-Ehrenburg-Straße im Rostocker Ortsteil Toitenwinkel angegeben. 2005 verbreitete die Welt am Sonntag wieder einmal eine Variante von Ehrenburgs angeblichem Vergewaltigungsaufruf, und noch 2009 tat es ihr der FPÖ-Politiker und ehemalige österreichische Justizminister Harald Ofner in der Wiener Zeitung gleich.
Die Forschung ist sich seit langem einig, dass es sich um ein Gerücht der deutschen Propaganda handelt. Der Zeitzeuge Lew Kopelew bestätigte, dass ein solches Flugblatt Ehrenburgs nie existiert habe und weder sprachlich noch inhaltlich in Ehrenburgs Produktion passe. „Es scheint nur bei den deutschen Truppen bekannt gewesen zu sein und war wohl ein Versuch der Goebbels-Kader, auf diese Art den Widerstandswillen der Wehrmacht zu stärken.“
Ähnliches gilt für die gelegentlich aufgestellte Behauptung, Ehrenburg habe die Ausrottung aller Deutschen gefordert. Dafür gibt es in der sehr umfangreichen Kriegsproduktion Ehrenburgs keinen Beleg. Es trifft freilich zu, dass die Unterscheidung zwischen Deutschen und „Faschisten“ bzw. „Hitleristen“ bei Ehrenburg oft fließend ist und die Parole „Töte den Deutschen!“ von 1942 daher auch auf Nichtkämpfer bezogen werden konnte.
Bewertungen
Starke Wertungen von Ehrenburgs Kriegspropaganda finden sich speziell bei dem Militärhistoriker Joachim Hoffmann, der diese Propaganda als Beleg für die von ihm unterstellten Vernichtungsabsichten Stalins gegenüber der deutschen Bevölkerung anführt. Hoffmanns Werk Stalins Vernichtungskrieg ist dem Umfeld der so genannten Präventivkriegsthese zuzuordnen. Er macht Ehrenburg zum psychiatrischen Fall und spricht von den „Hassgefühlen seines verdorbenen Gehirns und schlechten Herzens“, von „unverkennbaren Zügen moralischen Irrsinns“, vom „Ausdruck eines pathologischen, anomalen Gehirnzustandes“. Für ihn ist die Kausalität eindeutig: Es sei „die verbrecherische Wirksamkeit Ehrenburgs während der Kriegszeit, die doch gerade für unzählige deutsche Männer, Frauen und Kinder so entsetzliche Konsequenzen gehabt hatte“.
Eveline Passet, Peter Jahn und Hans Goldenbaum haben derartige Wertungen näher untersucht. Sie identifizieren deutliche antisemitische Züge und analysieren diese vor dem Hintergrund deutscher Schuldabwehr und Verdrängung. Als Sowjetbürger, Intellektueller und Jude sei Ehrenburg ideal geeignete Projektionsfläche für die Täter, die sich durch die Betonung seiner Taten als Opfer fühlen könnten. Zudem sei der Umgang mit Ehrenburg-Zitaten äußerst bedenklich: Nicht nur stütze sich etwa Hoffmann in seinen Schriften ausschließlich auf englische Übersetzungen, er gebe auch durchweg aus dem Zusammenhang gerissene Stellen, ja einzelne Wörter als Belege an, ganz abgesehen von der tendenziösen Auswahl.
Doch auch jenseits extremer Wertungen wird diskutiert, ob Ehrenburgs Kriegsartikel aufgrund ihrer enormen emotionalen Durchschlagskraft zur Enthemmung der Roten Armee beigetragen haben könnten, die sich 1944/1945 in zahlreichen Tötungen, Plünderungen und Vergewaltigungen manifestierte – auch dann, wenn er keine Aufrufe zur Gewalt gegen Zivilisten verfasst hat. Derartige Andeutungen finden sich beispielsweise bei Norman Naimark, Hubertus Knabe und Antony Beevor. Und Thomas Urban meint, Ehrenburgs Hasspredigten hätten durchaus „den Eindruck“ erwecken können, „dass die Regeln des Kriegsvölkerrechts und der Genfer Konvention aufgehoben seien“.
Andererseits gibt Bernhard Fisch zu bedenken, dass es ohnehin sehr fraglich ist, wie sehr das Handeln von Soldaten von Flugblättern beeinflusst wird, zumal diese im Allgemeinen, wie er an Stichproben zeigt, die Zivilbevölkerung kaum oder gar nicht thematisieren. Und Carola Tischler bezweifelt, dass speziell Ehrenburgs Propaganda gegen die Deutschen für Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung verantwortlich gemacht werden könne, weil massive Übergriffe der Roten Armee auch in Jugoslawien und Ungarn registriert wurden.
Vor allem aber liegt es nahe, dass der Hass der sowjetischen Soldaten in erster Linie auf die Taten der SS und der Wehrmacht zurückzuführen sei, wie der britische Kriegsberichterstatter Alexander Werth schreibt:
Was Alexej Tolstoj und Scholochow und Ehrenburg über die Deutschen geschrieben haben, war nichts im Gegensatz zu dem, was die russischen Soldaten mit ihren eigenen Ohren hören, mit ihren eigenen Augen sehen – und mit ihrer eigenen Nase riechen konnten. Denn wo auch immer die Deutschen gewesen waren, hing der Geruch verwesender Leichen in der Luft. […] Es gab den „gewöhnlichen Fritz“ des Jahres 1944, und es gab Tausende von Himmlers Berufsmördern – aber konnte man zwischen ihnen eine klare Trennungslinie ziehen?
Und auch Lew Kopelew sagt:
Und komischerweise wurde ich hier irgendwo darauf angesprochen, ob es nicht Ehrenburg war, der diesen Hass erzeugte, im ausgehungerten Leningrad, in ausgebrannten Städten und Dörfern. Das stimmt nicht, das ist ja wirklich naiv – denn Ehrenburg war wohl einer von den eifrigsten hasserfüllten Journalisten. Aber nicht er hat diesen Hass gesät, der kam durch diese Kriegsereignisse.
Ilja Ehrenburg selbst resümierte in seinen Memoiren zwanzig Jahre später:
Rezeption
In den 1920er Jahren galt Ehrenburg in der Sowjetunion als der Modeschriftsteller, und auch im Westen wurde er viel gelesen. Allein die deutsche Malik-Ausgabe der Jeanne Ney verkaufte sich 21.000mal, wozu sicherlich auch die Verfilmung des Werks beigetragen hat. Die Kritik äußerte sich ambivalent. Bemerkt wurde immer wieder die Abweichung der Romane Ehrenburgs von den Mustern des klassischen realistischen Romans. So kritisierte Juri Tynjanow, ein bekannter Vertreter des russischen Formalismus, Ehrenburgs „Schattenromane“, die statt psychologischer Motivierungen der handelnden Figuren die „Schatten“ philosophischer Ideen in den Mittelpunkt stellten und daher das Genre des modernen Zeitromans verfehlten. Aus einer ganz anderen Position kam der große marxistische Literaturtheoretiker Georg Lukács 1930 zu ähnlichen Schlüssen: Bei allem technischen Geschick in der Detaildarstellung werde Ehrenburg in der Romanform den Anforderungen des Chronisten der Revolution nicht gerecht. „Er sieht seine Details. Aber nur seine Details und sieht sie darum mit Lakaienaugen.“ Auf der anderen Seite sah Jewgeni Samjatin gerade die Stärke von Ehrenburgs Romankonzeption in der Vielstimmigkeit, der Mischung von Zeitungsjournalismus und den unterschiedlichen nationalen Literaturtraditionen; ihm galt Ehrenburg als der echte Internationalist, ja der „Esperantist“ unter den zeitgenössischen Schriftstellern. Und André Gide fühlte sich von der Integration fremdartiger, exotischer Elemente im Raffer angezogen.
Ein gängiger Kritikpunkt an Ehrenburgs literarischer Tätigkeit war sein enormer Ausstoß und damit auch die Hast, in der er seine Texte verfasste. Am schärfsten hat dies wohl der exilrussische Kritiker Ne-Bukwa formuliert, der 1922 in Berlin den „Graphomanen“, „Pornographen“, „Megalomanen“ und „Plagiator“ Ehrenburg als psychiatrischen Fall abhandelte. Doch auch mit Ehrenburg sympathisierenden Schriftstellern fiel dieser Zug ins Auge. Kurt Tucholsky und Georg Lukács prägten unabhängig voneinander die Formel vom „höchst begabten Schriftsteller“, dessen Romane u. a. aufgrund ihrer Orientierung an der jeweiligen Tagesaktualität unausgereift seien. Diese Kritik erstreckte sich allerdings gewöhnlich nicht auf die journalistischen Texte Ehrenburgs der zwanziger und dreißiger Jahre, die im Allgemeinen hoch gelobt wurden. Die ungeheure Bedeutung des Schreibens und vor allem des Gelesenwerdens für Ehrenburg haben in der Gegenwart Ewa Bérard und Hélène Mèlat herausgearbeitet: Es wird als seine Form der aktiven Teilnahme an den aktuellen politischen und kulturellen Kämpfen beschrieben, also als littérature engagée. Dabei versuchte Ehrenburg stets eine Mittlerrolle zu spielen: dem Westen die Sowjetunion zu erklären und den Sowjetbürgern Fenster in den Westen zu öffnen. Dieses Verdienst wird etwa von Marcou, Rubenstein und Bérard selbst den sozialistisch-realistischen Romanwälzern der 1940er Jahre attestiert, die in der nichtsowjetischen Kritik durchweg verrissen wurden.
Für Ehrenburgs Schaffen ist ein rascher, oft abrupter Wechsel politischer und kultureller Orientierungen kennzeichnend, ohne dass er jedoch jeweils seinen „alten“ Grundsätzen und Leitlinien abgeschworen hätte. Schon früh hat das Wiktor Schklowski, prominenter Vertreter des russischen Formalismus, auf eine griffige Formel gebracht, nämlich die des „Paul Saulowitsch“: „Früher war ich böse auf Ehrenburg, weil er, vom jüdischen Katholiken oder Slawophilen zum europäischen Konstruktivisten konvertiert, die Vergangenheit nicht ruhen ließ. Er wurde nicht vom Saulus zum Paulus. Er ist ein Paul Saulowitsch, der es versteht, fremde Gedanken zu einem Roman zu bündeln …“ Weniger freundlich ist dieser Zug häufig als Opportunismus gebrandmarkt worden, vor allem für die Zeit des Stalinismus. Immer wieder musste sich Ehrenburg Vorwürfen erwehren, er habe seine Ideen und Ideale verraten, nach Stalins Diktat geschrieben und die stalinistischen Verfolgungen verschwiegen. Ein besonders markantes Beispiel für diese Kritik stammt von Jean Améry, der sogar den Verdacht äußerte, Ehrenburg habe seine Kollegen aus dem Jüdischen Antifaschistischen Komitee verraten – ein Vorwurf, der heute nicht mehr haltbar ist, da die Prozessakten zugänglich sind. Zugleich stand sein Werk in der Sowjetunion ein ums andere Mal in dem Verdacht der Abweichung: sei es westfreundlich, jüdisch-national, subjektivistisch, objektivistisch oder formalistisch. Doch wird dem „homme louvoyant“, dem lavierenden Menschen Ehrenburg von allen Seiten attestiert, dass er seinen Freunden treu geblieben sei und weder seinen früheren Auffassungen abgeschworen noch Repressionsmaßnahmen des Regimes in seinen Artikeln unterstützt habe. Bis zu einem gewissen Grad sei es ihm gelungen, seine moralische Integrität zu wahren. So schrieb Nadeschda Mandelstam, die Witwe des im sibirischen Lager umgekommenen Lyrikers Ossip Mandelstam: „Unter den sowjetischen Schriftstellern war er ein weißer Rabe und ist es geblieben. Schutzlos und schwach wie alle, hat er doch versucht, etwas für die Menschen zu tun. […] Es war vielleicht Ehrenburg, der genau die aufgeweckt hat, die später die Leser des Samisdat wurden.“
Eveline Passet und Raimund Petschner fassen zusammen:
Auf Leben und Werk Ilja Ehrenburgs angewandt, sind hauptsächlich zwei verschiedene Plausibilisierungsstrategien zu beobachten. Die eine behauptet einen opportunistischen Kern, von dem aus die wundersamen Wandlungen und Wendungen des Ilja Ehrenburg zu verstehen seien; diese Sicht, im rechten Spektrum, aber auch bis hin zu liberalen Konservativen noch heute verbreitet, möchte in Ilja Ehrenburg nichts anderes erkennen als den Opportunisten und Zyniker, den „Gesinnungslump“. Die andere Sichtweise besteht darin, Ehrenburgs Selbstauskunft, sein Leben lang habe er Schönheit und Gerechtigkeit zu vereinen gesucht, für gültig zu nehmen und als Kern einzusetzen. So wären die Wendungen, die Farbveränderungen und Gewichtsverschiebungen im Leben und Werk Ehrenburgs als eine komplexe individuelle Reaktion auf das Jahrhundert und dessen chaotische Zuckungen zu verstehen. […] Im Gegensatz zum eindimensionalen Deutungsschema des „Opportunismus-Modells“ erscheint Ehrenburg hier als ambivalente Person: jemand, der im Kern das Gute wollte, jedoch auch typische Irrtümer und Verblendungen des Jahrhunderts repräsentiert.
Auf Kosten des literarischen Werks steht in der heutigen Rezeption Ehrenburgs exemplarisches Leben im Mittelpunkt der Deutungsanstrengungen. Gerade sein außergewöhnlicher Lebenslauf gilt etwa dem Literaturwissenschaftler Efim Etkind als charakteristisch für seine Epoche:
Ilja Ehrenburg ist ein mäßiger Romanschriftsteller und ein schwacher Dichter […]. Und doch ist Ilja Ehrenburg der Mensch des Jahrhunderts. Es wäre schwer, einen anderen zu nennen, der zu einem solchen Grad die Inkarnation seiner Epoche war. […] Überall war er vom Heimweh geplagt: Russe in Frankreich, Franzose in Russland, Jude in Russland wie in Frankreich oder Deutschland, Katholik unter den Juden, Häretiker unter den Christen, Kommunist für die Bürger des Westens, ausländischer Bourgeois für die Moskauer Proletarier, die kommunistischen Funktionäre und seine Kollegen, die sowjetischen Schriftsteller. Das war eine der Facetten seines Lebens: überall und immer im Exil. […] Der Fall Ehrenburg ist außergewöhnlich: Die Zugehörigkeit zu verschiedenen Kulturen, bisweilen einander entgegengesetzt, und die Fähigkeit, die eine durch das Medium der anderen zu sehen, grenzen an ein Wunder. Doch das ist das Eigentümliche unseres Jahrhunderts: Exil und Emigration sind allgemeines Schicksal geworden. […] Ilja Ehrenburg, der Mensch dreier geistiger Kulturen – Jude in Russland, Russe in Frankreich, Franzose in Russland – er ist ganz das Kind des Jahrhunderts.
Publikationen (Auswahl)
Genannt sind die Daten der Erstveröffentlichung sowie der ersten deutschen Übersetzung.
Romane
Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito und seiner Jünger: Monsieur Delhaye, Karl Schmidt, Mister Cool, Alexei Tischin, Ercole Bambucci, Ilja Ehrenburg und des Negers Ayscha in den Tagen des Friedens, des Krieges und der Revolution in Paris, Mexiko, Rom, am Senegal, in Moskau, Kineschma und an anderen Orten, ebenso verschiedene Urteile des Meisters über Pfeifen, über den Tod, über die Liebe, über die Freiheit, über das Schachspiel, das Volk der Juden, Konstruktionen und einige andere Dinge. Gelikon, Berlin und Moskau 1922. Deutsche Übersetzung von Alexander Eliasberg: Welt-Verlag, Berlin 1923.
Leben und Tod des Nikolai Kurbow. Gelikon, Berlin 1923.
Trust D. E. Die Geschichte der Zerstörung Europas. Semlja i Fabrika, Moskau 1923; Gelikon, Berlin 1923. Deutsche Übersetzung von Lia Calmann: Welt-Verlag, Berlin 1925.
Die Liebe der Jeanne Ney. Gelikon, Berlin 1924. Deutsche Übersetzung von Waldemar Jollos: Rhein Verlag, Basel 1926. Verfilmt von Georg Wilhelm Pabst 1927.
Der Raffer. Navarre, Paris 1925. Deutsche Übersetzung von Hans Ruoff unter dem Titel Michail Lykow: Malik, Berlin 1927. Digitalisat bei Hathitrust
Sommer 1925. Artel Pisatelei „Krug“, Moskau 1926. Deutsche Übersetzung von Hilde Angarowa: Volk und Welt, Berlin 1981.
In der Prototschni-Gasse. Semlja i Fabrika, Moskau 1927. Deutsche Übersetzung von Wolfgang E. Groeger unter dem Titel Die Gasse am Moskaufluss: List, Leipzig 1928; unter dem Titel Die Abflußgasse: Volk und Welt, Berlin 1981.
Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz. Petropolis, Berlin 1928. Deutsche Übersetzung von Waldemar Jollos: Rhein-Verlag, Basel o. J. (wohl 1929). Nachgedruckt im Verlag Die Andere Bibliothek, Berlin 2016, ISBN 978-3-8477-0375-4.
Die Verschwörung der Gleichen. Petropolis, Berlin 1928 (teilweise vorabgedruckt in Krasnaja Now, 1928). Deutsche Übersetzung von Hans Ruoff: Malik, Berlin 1929.
Chronik unserer Tage:
10 PS. Chronik unserer Zeit. Petropolis, Berlin 1929 (teilweise vorabgedruckt in Krasnaja Now, 1929). Deutsche Übersetzung von Hans Ruoff unter dem Titel Das Leben der Autos: Malik, Berlin 1930.
Die Einheitsfront. Petropolis, Berlin 1930. Deutsche Übersetzung unter dem Titel Die heiligsten Güter. Roman der großen Interessen: Malik, Berlin 1931.
Die Traumfabrik. Petropolis, Berlin 1931. Deutsche Übersetzung: Malik, Berlin 1931.
Moskau glaubt nicht an Tränen. Sowjetskaja Literatura, Moskau 1933; Gelikon, Paris 1933. Deutsche Übersetzung: Malik, Berlin 1932 (Die Übersetzung trägt den Vermerk: Übersetzung aus dem MS. Offenbar ist der Titel zuerst auf Deutsch, dann auf Russisch erschienen.)
Der zweite Tag. Pascal, Paris 1933. Deutsche Übersetzung: Malik, Prag 1933.
Ohne Atempause. Sowjetski Pisatel, Moskau 1935. Deutsche Übersetzung: Malik, London 1936.
Der Fall von Paris. Gosisdat, Moskau 1942. Deutsche Übersetzung: Steinberg, Zürich 1945.
Sturm. Sowjetski Pisatel, Moskau 1948 (in Fortsetzungen vorabgedruckt in: Nowy Mir, 1947). Deutsche Übersetzung: Volk und Welt, Berlin 1948.
Die neunte Woge. Sowjetski Pisatel, Moskau 1953. Deutsche Übersetzung: Volk und Welt, Berlin 1953.
Tauwetter. Sowjetski Pisatel, Moskau 1956 (vorabveröffentlicht in: Snamja, Nr. 5, 1954 und Nr. 4, 1956). Deutsche Übersetzung: Kultur und Fortschritt, Berlin 1957.
Kurzprosa
Unwahrscheinliche Geschichten. S. Efron, Berlin 1922. Deutsche Übersetzung: Volk und Welt, Berlin 1984.
6 Novellen mit glücklichem Ausgang. Gelikon, Berlin 1922.
13 Pfeifen. Gelikon, Berlin 1923. Deutsche Übersetzung: Malik, Berlin 1930.
Die relativen Leiden eines Café-Süchtigen. Nowaja Schisn, Moskau 1926.
Gedichtbände
Verse. Paris 1910.
Verse über Vorabende. Serna, Moskau 1916.
Gebet für Russland. Sewernje Dni, Moskau 1918.
Reflexionen. Riga 1921.
Der Baum. Moskau 1946.
Über Kunst, Literatur und Film
Porträts russischer Dichter. Argonawty, Berlin 1922.
Und sie bewegt sich doch. Gelikon, Berlin 1922. Deutsche Übersetzung: Lit, Basel 1986. Ehrenburgs konstruktivistisches Manifest.
– Objet – Gegenstand (dreisprachige Zeitschrift, russisch, französisch und deutsch, herausgegeben von Ehrenburg und El Lissitzky). Berlin 1922.
Die Materialisierung des Phantastischen. Kinopetschat, Leningrad 1927. Ehrenburgs Filmbuch. Cover von Alexander Michailowitsch Rodtschenko.
Weiße Kohle oder Werthers Tränen. Priboi, Leningrad 1928. Beiträge daraus ins Deutsche übersetzt in: Ilja Ehrenburg: Über Literatur. Volk und Welt, Berlin 1986. Aufsatzband, der poetologische Reflexionen, Berichte über die Verfilmung der Jeanne Ney und Reiseberichte Ehrenburgs versammelt.
Wir und sie: Frankreich. Mit Owadi Sawitsch. Petropolis, Berlin 1931. Anthologie russischer und französischer Literatur.
Französische Hefte. Sowjetski pisatel, Moskau 1958. Deutsche Übersetzung: VEB Verlag der Kunst, Dresden 1962 (Fundus-Reihe 5). Enthält unter anderem Die Lehren von Stendhal, .
Journalistisches, Zeitgeschichtliches und Politisches
Das Gesicht des Krieges. Russko-Bolgarskoje Knigoisdatelstwo, Sofia 1920. Sammlung von Ehrenburgs Kriegsreportagen aus dem Ersten Weltkrieg.
Visum der Zeit. Petropolis, Berlin 1929 (teilweise vorabgedruckt in Krasnaja Now, 1928–1929). Deutsche Übersetzung von Hans Ruoff. List, Leipzig 1929. Digitalisat im Hathitrust
Spanien. Federazija, Moskau 1932. Deutsche Übersetzung unter dem Titel Spanien heute: Malik, Berlin 1932.
Mein Paris. Mit El Lissitzky. Isogis, Moskau 1933. Nachdruck: Steidl, Göttingen 2005. Bildband mit Schnappschüssen und Text von Ehrenburg.
Der Bürgerkrieg in Österreich. Sowjetskaja Literatura, Moskau 1934. Deutsche Übersetzung: Malik, Prag 1934.
Das Schwarzbuch über die verbrecherische Massenvernichtung der Juden durch die faschistischen deutschen Eroberer in den zeitweilig okkupierten Gebieten der Sowjetunion und in den faschistischen Vernichtungslagern Polens während des Krieges 1941–1945. Mit Wassili Grossman. Russischsprachige Erstveröffentlichung: Tarbut, Jerusalem 1980 (es fehlen die litauischen Berichte). Deutsche Übersetzung der vollständigen Fassung, herausgegeben von Arno Lustiger: Rowohlt, Reinbek 1994. ISBN 3-498-01655-5.
Der Krieg. 3 Bände: Juli 1941–April 1942. April 1942–März 1943. April 1943–März 1944. Gosisdat, Moskau 1942–1944. Sammlung der Artikel von 1941 bis 1945 in Band 5 der Gesammelten Werke. Chudoschostwennaja Literatura, Moskau 1996.
Autobiografie
Menschen – Jahre – Leben. Sechs Bücher. Sowjetski Pisatel, Moskau 1961–1966 (vorabgedruckt in: Nowy Mir, 1960–1965). Vollständige Ausgabe (mit Ergänzung zensierter Kapitel und dem unbeendeten siebten Buch): Sowjetski Pisatel, Moskau 1990. Deutsche Übersetzung (von Alexander Kaempfe): Kindler, München 1962–1965; vollständige Ausgabe (inkl. zensierte Kapitel und siebtes Buch, übersetzt von Harry Burck und Fritz Mierau): Volk und Welt, Berlin (DDR) 1978–1990.
Literatur
Biografien
Ewa Bérard: La vie tumultueuse d’Ilya Ehrenbourg. Juif, russe et soviétique. Ramsay, Paris 1991 (= Documents et essais), ISBN 2-85956-921-9. (französisch).
Anatol Goldberg: Ilya Ehrenburg. Revolutionary, Novelist, Poet, War Correspondent, propagandist: The Extraordinary Epic of a Russian Survivor. Viking, New York 1982, ISBN 0-670-39354-1. (englisch).
Lilly Marcou: Wir größten Akrobaten der Welt. Ilja Ehrenburg – eine Biographie. 1. Aufl., Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1996, ISBN 3-7466-1259-4. (dt. Übers.; französische Originalausgabe: Ilya Ehrenbourg – un homme dans son siècle. Plon, Paris 1992.)
Joshua Rubenstein: Tangled Loyalties. The Life and Times of Ilya Ehrenburg. 1st Paperback Ed., University of Alabama Press, Tuscaloosa (Alabama/USA) 1999 (= Judaic Studies Series), ISBN 0-8173-0963-2. (englisch; Erstveröffentlichung: Basic Books, New York 1996.)
Zum literarischen Werk
Simone Barck: Ehrenburgs Memoiren – ein Buch mit sieben Siegeln. In: Simone Barck, Siegfried Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk & Welt. 2. Auflage. Christoph Links, Berlin 2005, ISBN 3-86153-300-6, S. 262–265. (Ausstellungskatalog; herausgegeben im Auftrag des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt).
Boris Fresinski: Das Phänomen Ilja Ehrenburg (in den 1920er Jahren). In: Ilja Ehrenburg: . Ungewöhnliche Abenteuer. Kristall, St. Petersburg 2001, S. 5–31, ISBN 5-306-00066-5.
Rahel-Roni Hammermann: Die satirischen Werke von Ilja Erenburg. VWGÖ, Wien 1978, ISBN 3-85369-382-2 (= Dissertationen der Universität Wien, Band 139, zugleich Dissertation an der Universität Wien 1968).
Gudrun Heidemann: Das schreibende Ich in der Fremde. Il’ja Ėrenburgs und Vladimir Nabokovs Berliner Prosa der 1920er Jahre. Aisthesis, Bielefeld 2005, ISBN 3-89528-488-2.
Reinhard Lauer: Ilja Erenburg und die russische Tauwetter-Literatur. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1975, ISBN 3-525-82818-7.
Hélène Mélat: Ilya Ehrenbourg ou la griserie de l’écriture performative. In: Études littéraires, vol. 36, no.1, été 2004 (erudit.org).
Ralf Schröder: Roman der Seele, Roman der Geschichte. Aufsätze. Zur ästhetischen Selbstfindung von Tynjanow, Ehrenburg, Bulgakow, Aitmatow, Trifonow, Okudshawa. Reclam, Leipzig 1986.
Holger Siegel: Ästhetische Theorie und künstlerische Praxis bei Il'ja Ėrenburg 1921–1932. Studien zum Verhältnis von Kunst und Revolution. Gunter Narr, Tübingen 1979, ISBN 3-87808-517-6.
Erika Ujvary-Maier: Studien zum Frühwerk Ilja Erenburgs. Der Roman „Chulio Churenito“. Juris, Zürich 1970 (Zugleich Diss. phil. Universität Zürich 1970)
Zum Thema: Ehrenburg und Deutschland
Boris Fresinski: Ilja Ehrenburg und Deutschland. In: Karl Eimermacher, Astrid Volpert (Hrsg.): Stürmische Aufbrüche und enttäuschte Hoffnungen. Russen und Deutsche in der Zwischenkriegszeit. Fink, München 2006, ISBN 3-7705-4091-3, S. 291–327.
Peter Jahn (Hrsg.): Ilja Ehrenburg und die Deutschen. Katalog zur Ausstellung im Museum Berlin-Karlshorst 27. November 1997 bis 8. Februar 1998. Berlin 1997.
Eveline Passet: Im Zerrspiegel der Geschichte. Deutsche Bilder von Ilja Ehrenburg. In: Manfred Sapper, Volker Weichsel (Hrsg.): Das Ich und die Macht. Skizzen zum Homo heroicus und Homo sovieticus. Osteuropa, 12, 2007. Berliner Wissenschafts-Verlag BWV, Berlin 2007, ISBN 978-3-8305-1254-7, S. 17–48.
Ewa Bérard: Il'ja Érenburgs Berliner Zeit 1921–1923, in Karl Schlögel Hg.: Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941. Leben im europäischen Bürgerkrieg. Oldenbourg Akademie, München 1995, ISBN 3-05-002801-7, S. 323–332.
Zum Thema: Ehrenburg als Kriegspropagandist
Bernhard Fisch: Ubej! Töte! Zur Rolle von Ilja Ehrenburgs Flugblättern in den Jahren 1944/45. In: Geschichte, Erziehung, Politik, 8. Jahrgang (1997), Heft 1, S. 22–27.
Hans Goldenbaum: Nicht Täter, sondern Opfer? Ilja Ehrenburg und der Fall Nemmersdorf im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. In: Hallische Beiträge zur Zeitgeschichte, 1/2007, S. 5–38, histdata.uni-halle.de (PDF; 713 kB).
Eveline Passet: Der Feind im Bild im Spiegel. Die Deutschen und Ilja Ehrenburg. In: neue literatur – Zeitschrift für Querverbindungen, 2/1995, S. 5–14.
Carola Tischler: Die Vereinfachungen des Genossen Erenburg. Eine Endkriegs- und eine Nachkriegskontroverse. In: Elke Scherstjanoi (Hrsg.): Rotarmisten schreiben aus Deutschland. Briefe von der Front (1945) und historische Analysen. Texte und Materialien zur Zeitgeschichte, Bd. 14. K.G. Saur, München 2004, S. 326–339, ISBN 3-598-11656-X.
Thomas Urban: Ilja Ehrenburg als Kriegspropagandist. In: Karl Eimermacher, Astrid Volpert (Hrsg.): Tauwetter, Eiszeit und gelenkte Dialoge. West-östliche Spiegelungen, Band 3: Russen und Deutsche nach 1945. Fink, München 2006, S. 455–488, ISBN 978-3-7705-4088-4.
Manfred Zeidler: Die Rolle der Militärpresse innerhalb der politischen Agitationsarbeit: Der Fall Il'ja Erenburg. In: Manfred Zeidler: Kriegsende im Osten. Die Rote Armee und die Besetzung Deutschlands östlich von Oder und Neiße 1944/1945. Oldenbourg, München 1996, S. 113–124, ISBN 3-486-56187-1.
Luca Bublik: Keine Schreibmaschine tötet wie die Mauser. In: Luca Bublik, Johannes Spohr, Valerie Waldow: Isolation und Ausgrenzung als post/sowjetische Erfahrung. Trauerarbeit. Störung. Fluchtlinien. Münster 2016, S. 80–89, ISBN 978-3-96042-005-7.
Zum Thema: Ehrenburg im Kalten Krieg
Jan C. Behrends: Völkerfreundschaft und Amerikafeindschaft. Ilja Ehrenburgs Publizistik und das Europabild des Stalinismus. In: José Maria Faraldo et al. (Hrsg.): Europa im Ostblock. Vorstellungen und Diskurse (1945–1991) / Europe in the Eastern Bloc. Imaginations and Discourses (1945–1991). Böhlau, Köln 2008, S. 125–144, ISBN 978-3-412-20029-9.
Weblinks
Rezension der Steidl-Ausgabe von Mein Paris auf Perlentaucher.de
The Art of Fiction Nr. 26 (PDF; 214 kB) In: The Paris Review 26, Sommer/Herbst 1961. (Volltext eines Interviews von Olga Carlisle mit Ehrenburg 1961, englisch)
Open Society Archive, Hintergrundberichte von Radio Free Europe mit ins Englische übersetzten Beiträgen von Gerd Ruge (deutsch in: Gespräche in Moskau, Köln 1961), darunter ein langes Interview mit Ehrenburg aus dem Oktober 1958 (S. 41–45) (englisch)
Nachruf: Death of a Survivor TIME, 8. September 1967
M.L. Raina: Moral allegory of early Soviet writing Rezension von 10 PS in der indischen Tribune (2003)
Karl-Heinz Janßen: Im Kampf mit sich. In: Die Zeit, Nr. 51/1997
Simone Barck: Fluch des Schweigens. In: Berliner Zeitung, 29. September 2004, Kolumne „Unterm Strich: Zensurspiele“. Thematisiert die hindernisreiche Veröffentlichung von Menschen Jahre Leben in der DDR
Biografie. AZ-Library (russisch)
Biografie, Region Twer (russisch)
Texte Ehrenburgs im Internet
Russische Bücher Ehrenburgs lib.ru – Enthält Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito, Tauwetter und 13 Pfeifen
Biografie und zahlreiche Texte Ehrenburgs (russisch)
Vollständige Fassung des Julio Jurenito (russisch)
Sammlung von Ehrenburgs Kriegsartikeln mit Quellennachweisen, Kommentar und Einleitung (russisch)
Ein Kapitel aus Ehrenburgs konstruktivistischem Manifest „Und sie bewegt sich doch“
„Nicht vergessen“ – Ehrenburg-Artikel aus der Prawda vom 17. Dezember 1944
Einzelnachweise
Autor
Literatur (20. Jahrhundert)
Literatur (Sowjetunion)
Literatur (Russisch)
Roman, Epik
Journalist (Sowjetunion)
Auslandskorrespondent
Kriegsberichterstatter (Zweiter Weltkrieg)
Journalist bei den Nürnberger Prozessen
Person im Spanischen Bürgerkrieg (Sowjetunion)
Mitglied des Weltfriedensrates
Träger des Leninordens
Träger des Stalinpreises
Träger des Internationalen Stalin-Friedenspreises
Mitglied der Ehrenlegion (Offizier)
Russischer Emigrant
Schriftsteller (Moskau)
Schriftsteller (Paris)
Sowjetbürger
Geboren 1891
Gestorben 1967
Mann |
183504 | https://de.wikipedia.org/wiki/U-Bahn%20M%C3%BCnchen | U-Bahn München | Die U-Bahn München ist das wichtigste Verkehrsmittel des öffentlichen Personennahverkehrs in München. Seit der Eröffnung der ersten Strecke am 19. Oktober 1971 wurde ein Netz mit 103,1 km Streckenlänge und 96 Haltestellen errichtet, an das auch die Nachbarstadt Garching bei München angeschlossen ist und in Zukunft auch der Planegger Ortsteil Martinsried (beide Landkreis München).
Die Münchner U-Bahn wird von der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) betrieben und ist in den Münchner Verkehrs- und Tarifverbund (MVV) integriert. Im Jahr 2019 beförderte sie 429 Millionen Fahrgäste.
Liniennetz
Das Netz der Münchner U-Bahn hat eine Gesamtlänge von 103,1 km mit insgesamt 100 U-Bahnhöfen. Dabei werden die vier Kreuzungsbahnhöfe Olympia-Einkaufszentrum, Hauptbahnhof, Sendlinger Tor und Odeonsplatz mit ihren zwei Ebenen doppelt gezählt. Der kürzeste Abstand zwischen zwei Haltestellen beträgt 513 m zwischen Josephsplatz und Theresienstraße, der größte beträgt 4208 m zwischen Fröttmaning und Garching-Hochbrück. Im gesamten Netz beträgt die Streckenhöchstgeschwindigkeit 80 km/h. Im Gegensatz zu anderen Netzen gibt es keinen durchgängigen Nachtbetrieb, außer in der Nacht von Silvester auf Neujahr und den Faschingstagen; Betriebsruhe herrscht von ca. 1 bis 4 Uhr, in den Nächten von Freitag auf Samstag und von Samstag auf Sonntag von ca. 2 bis 4 Uhr.
Bis auf die Linien U5 und U6 verkehren alle Linien komplett in Tunneln. Die Linie U5 tritt kurz vor dem südlichen Linienende in Neuperlach Süd an die Oberfläche, die U6 im nördlichen Abschnitt zwischen Studentenstadt und Garching-Hochbrück sowie auf einem kurzen Stück zwischen Garching und Garching-Forschungszentrum. Auf allen Linien verkehren die Züge in der Regel im 10-Minuten-Takt, zur Hauptverkehrszeit auch im 5-Minuten-Takt, teilweise jedoch nicht auf dem kompletten Linienlauf. Zu Betriebsbeginn und im Spätverkehr nach Mitternacht verkehren die Züge meist nur im 20-Minuten-Takt oder seltener. Bis auf den Früh- und Spätverkehr verkehren die meisten Linien mit Langzügen (6-Wagen-Züge), lediglich die Linie U4 und die Verstärkerlinie U7 zwischen Neuperlach Zentrum und Olympia-Einkaufszentrum werden überwiegend mit Vollzügen (4-Wagen-Züge) bedient.
Stammstrecken
Es existieren drei Stammstrecken durch die Innenstadt, die von jeweils zwei Linien befahren werden. Auf den gemeinsamen Abschnitten der Linien sind die Fahrpläne so abgestimmt, dass sich durch die sich überlagernden Takte in der Regel eine gleichmäßige Zugfolge ergibt.
Die älteste Stammstrecke wird von den Linien U3 und U6 befahren (Abschnitt Münchner Freiheit bis Implerstraße), die Kennfarbe der Haltestellenbeschilderung hierfür ist blau. Die U1 und U2 befahren zwischen Hauptbahnhof und Kolumbusplatz die mit rotem Linienband ausgestattete zweite Stammstrecke. Die zuletzt gebaute Stammstrecke, die Stammstrecke 3, wird zwischen Westendstraße und Max-Weber-Platz von der U4 und der U5 befahren und ist mit einem gelben Linienband versehen. Die meisten anderen Bahnhöfe der jeweiligen Linienfamilien sind ebenfalls mit dieser Kennfarbe an den Bahnhofswänden versehen.
Abweichungen gibt es durch Veränderungen im Streckenkonzept. Bei den Eröffnungen bis 1980 erhielt das Linienband die Farbe der Linie, die bei der Eröffnung des entsprechenden U-Bahnhofes dort verkehrte. Mit Eröffnung der Strecke der U1 zum Rotkreuzplatz änderte man das Konzept und bildete die Liniengruppen der Stammstrecken. Die U-Bahnhöfe sollten nun ein Linienband mit der Kennfarbe der entsprechenden Liniengruppe erhalten. Mit der Verlängerung der Linie U2 zur Messestadt erfolgte ein Tausch der Linien U2 und U5 hinsichtlich der ursprünglich geplanten Liniengruppen ab Bahnhof Innsbrucker Ring. Die südlichen Bahnhöfe der Strecke nach Neuperlach Süd besaßen bis zur Renovierung im Jahr 2022 mit Ausnahme des Endbahnhofes Neuperlach Süd noch das rote Linienband, obwohl sie nun von einer gelben Linie befahren werden. Seit der Eröffnung des Bahnhofs Georg-Brauchle-Ring im Jahr 2003 wurden die Kennfarben nur noch bei einzelnen Bahnhöfen verwendet, außerdem sind sie bei einigen älteren Bahnhöfen durch Austauschen der Bahnhofsbeschilderung verschwunden.
Nummerierung
Die Nummerierung der Linien ist nicht in der Reihenfolge ihrer Eröffnung erfolgt, vielmehr wurden ursprünglich die Nummern der jeweiligen verkehrenden Straßenbahnlinien übernommen. So hat die zuerst eröffnete Linie U6 ihre Bezeichnung von der Tramlinie 6 übernommen, die auf einer Trasse mit ähnlichem Einzugsgebiet die Stadt von Nord nach Süd durchquerte. Um Lücken zu vermeiden, wurde ab 1988 aber mit der Umnummerierung der U8 in U2 und der bis zur Inbetriebnahme in Planungen als U9 (Ersatz für Trambahnlinien 9, 19, 29) bezeichneten Linie in U4 davon abgewichen.
Die MVG betreibt acht U-Bahn-Linien, davon zwei nur zeitweise verkehrende Verstärkerlinien (Signets mit zweifarbigen Hintergrund). In der folgenden Tabelle wird unter „Abstand“ der durchschnittliche Haltestellenabstand der betreffenden Linie angegeben.
Linie U1
Die U1 beginnt seit 2004 am Olympia-Einkaufszentrum im Stadtteil Moosach, wo auch die U3 unter dem Bahnhof der U1 eine Haltestelle hat. Hier existiert auch die in München einmalige Einrichtung eines unterirdischen „Bike-and-Ride“-Parkhauses, also eines Fahrrad-Parkhauses direkt im U-Bahnhof.
Auf dem Weg zum Westfriedhof folgt die U1 der Hanauer Straße, an der Kreuzung zum Georg-Brauchle-Ring befindet sich der 2003 eröffnete und vom Künstler Franz Ackermann gestaltete gleichnamige Bahnhof. Der Bahnhof Westfriedhof ist wegen seiner von Ingo Maurer entworfenen Beleuchtung ein beliebtes Fotomotiv auch für Werbeagenturen. Weiter führt die U1 über Gern, wo die Stadtteilgeschichte auf großen Glasflächen in der Hintergleiswand nachzulesen ist, zum Rotkreuzplatz, zwischen 1983 und 1998 der nördliche Endpunkt der U1. Unter der Nymphenburger Straße führt die Linie nun über die Maillingerstraße zum Stiglmaierplatz, um schließlich am viergleisigen Hauptbahnhof mit der U2 in die gemeinsame Innenstadt-Stammstrecke zu münden.
Auf dem dicht befahrenen Innenstadtabschnitt verkehren U1 und U2 gegeneinander so versetzt, dass sich ein 3–7-Min.-Takt ergibt. Von Montag bis Freitag ergibt sich durch Verdichterzüge zu bestimmten Tageszeiten ein gleichmäßigerer Takt. Am Hauptbahnhof unterqueren sie zudem die Stammstrecke der S-Bahn sowie die U4 und U5. Gleich am nächsten Bahnhof Sendlinger Tor unterquert die U1 die Gleise der U3 und U6 in einem Bahnhof mit zwei weit auseinander liegenden Einzelröhren, die durch einen Querbahnsteig verbunden sind.
Der folgende Bahnhof Fraunhoferstraße ist wegen seiner Nähe zur Isar im Schildvortrieb in zwei Einzelröhren aufgefahren, die jedoch im Bahnhofsbereich verbunden sind. Aus diesem Grund ist der Bahnhof durch dicke Säulen geprägt. Der folgende Bahnhof Kolumbusplatz ist als dreigleisiger Verzweigungsbahnhof ausgeführt, hier trennen sich nun die Linienwege von U1 und U2 wieder.
Die 1997 eröffnete Strecke der U1 biegt hier Richtung Süden ab, durchquert den bunt gestalteten Bahnhof Candidplatz und erreicht schließlich den Wettersteinplatz. Der folgende Bahnhof St.-Quirin-Platz ist architektonisch einzigartig und für die Münchner U-Bahn ebenso ungewöhnlich, da er zur Seite mit einem großen „Auge“ geöffnet ist und sich über ihm eine muschelförmige Dachkonstruktion aus Glas wölbt. Als einziger Bahnhof ist er mit zwei unmittelbar nebeneinander liegenden Aufzügen ausgestattet, da sich in der Nähe eine Einrichtung der Behindertenbetreuung befindet, was diese ungewöhnliche Maßnahme rechtfertigt. Ursprünglich geplant war hier lediglich ein Aufzug, die Aussparung hierfür kann man an der Decke des Bahnsteiggeschosses erkennen.
Unter der Naupliastraße befindet sich schließlich der Endbahnhof Mangfallplatz, an den sich eine große unterirdische Park-and-Ride-Anlage anschließt. Vom Wettersteinplatz aus war hier ursprünglich eine Trambahnstrecke vorgesehen, doch wurde die U-Bahn favorisiert.
Pläne über eine Verlängerung der U1 im Süden weiter bis zum Krankenhaus Harlaching oder gar zur Großhesseloher Brücke sind aus Kostengründen und wegen zweifelhaftem verkehrlichen Nutzen zurückgestellt worden. Ursprünglich sollte hier die Trambahnlinie 25 ersetzt werden, da bis Mitte der 1980er Jahre die Tram vollständig durch die U-Bahn ersetzt werden sollte. Eine Verlängerung im Norden Richtung Fasanerie ist mittelfristig ebenfalls nicht zu erwarten.
Linie U2
Die U2 dürfte die Linie mit den am häufigsten gewechselten Linienenden sein. Auch änderte sie ihre Bezeichnung, da sie anfangs als Linie U8 bezeichnet wurde. Sie ist die einzige Linie (U2- und U8-Geschichte zusammengenommen), die auf allen drei Linienfamilien (U1/2, U3/6, U4/5) fährt bzw. gefahren ist. Die U2 hat heute eine Betriebslänge von ca. 24,4 km.
Heute beginnt die U2 im Norden unter dem S-Bahnhof Feldmoching, wo Anschluss zur S-Bahn-Linie S1 nach Freising und zum Flughafen und – zeitweise – auch zum Regionalzugverkehr nach Landshut besteht. Nach dem Bahnhof Milbertshofen trifft die U2 am viergleisigen Bahnhof Scheidplatz auf die U3, wo am selben Bahnsteig ein direktes Umsteigen möglich ist, der Anschluss wird in der Regel abgewartet. Bis zur Eröffnung der Strecke zur Dülferstraße im Jahr 1993 verkehrte die U2 ab Scheidplatz wie die U3 zum Olympiazentrum. Durch Schwabing und die Maxvorstadt geht es schließlich weiter in Richtung Innenstadt durch die Bahnhöfe Hohenzollernplatz, Josephsplatz, Theresienstraße und Königsplatz.
Am Hauptbahnhof trifft die U2 nun auf die gemeinsame Stammstrecke mit der U1 durch die Innenstadt bis Kolumbusplatz, genauere Informationen siehe U1. Ab dem Kolumbusplatz führt die U2 über Silberhornstraße und Untersbergstraße zum Bahnhof Giesing, wo eine Umsteigemöglichkeit zur S3 und S7 an der Oberfläche besteht. Über Karl-Preis-Platz verläuft die U2 weiter zum Innsbrucker Ring, wo – ebenso wie am Scheidplatz – in der Regel ein direkter Anschluss am selben Bahnsteig zu einer kreuzenden Linie besteht, hier zur U5. Bis zur Eröffnung des Streckenastes zur Messestadt im Jahr 1999 verkehrte die U2 hier ebenso wie die U5 nach Neuperlach Süd. Nun durchquert sie die Stadtteile Berg am Laim und Trudering, wo am Bahnhof Trudering eine weitere Verknüpfung mit der S-Bahn besteht.
Nach dem Bahnhof Moosfeld folgen nun noch die beiden Bahnhöfe Messestadt West und Messestadt Ost. Unmittelbar angrenzend zu den U-Bahnhöfen befindet sich nördlich das Messegelände und südlich ein Neubaugebiet, das Einkaufszentrum Riem Arcaden sowie die Flächen des Riemer Parks, in dem im Jahr 2005 die Bundesgartenschau stattfand.
Linie U3
Der Bau der Linie U3 wurde drastisch beschleunigt, nachdem am 26. April 1966 die Olympischen Sommerspiele 1972 an München vergeben wurden. Der erst ein Jahr zuvor verabschiedete Liniennetzplan wurde geändert und die U3 als Zubringer zum Olympiagelände geplant, da die ursprüngliche Streckenführung über den Hauptbahnhof in der Kürze der Zeit nicht realisiert werden konnte. Außerdem wurde der Betrieb ohne Anbindung an die in Fröttmaning gelegene Technische Basis als zu riskant eingeschätzt. Die U3 hat eine Streckenlänge von 19 km.
Im Norden beginnt die U3 seit dem 11. Dezember 2010 am Bahnhof Moosach. Vorher begann sie am Bahnhof Olympia-Einkaufszentrum, wo die U1 beginnt. Über den Bahnhof Oberwiesenfeld, der den nördlichen Teil des Olympiaparks erschließt, wird der viergleisige Bahnhof Olympiazentrum erreicht, wo die U3 von 1972 bis 2007 ihren nördlichen Endpunkt hatte. Schon der jetzige Bahnhof Olympiazentrum hätte eigentlich bereits Oberwiesenfeld heißen sollen, weswegen im Linienband bis zu dessen Erneuerung 2014 jeweils einmal Olympiazentrum (Oberwiesenfeld) zu lesen war. Um den ursprünglichen Namen des Stadtteils im Stadtbild zu bewahren, heißt daher die provisorisch als Olympiapark Nord benannte neue Station nördlich von der Station Olympiazentrum Oberwiesenfeld.
Über den Bahnhof Petuelring wird der Scheidplatz erreicht, wo man am selben Bahnsteig gegenüber zeitgleich zur U2 Anschluss findet. Über Bonner Platz wird schließlich der Bahnhof Münchner Freiheit erreicht, wo die Strecke in die gemeinsame U3/U6-Stammstrecke einmündet. Über Giselastraße und Universität trifft die U3 am Odeonsplatz auf die kreuzenden Linien U4 und U5, die dort überquert werden. Ursprünglich war diese Umsteigemöglichkeit nicht vorgesehen, deswegen musste der Südkopf des Bahnhofs aufwändig umgebaut werden. Die Wege zwischen den beiden Stammstrecken sind daher auch nicht in der für München gewohnten Großzügigkeit angelegt.
Am von Alexander von Branca entworfenen Bahnhof Marienplatz werden die S-Bahn-Linien S1–S8 gekreuzt, hier kommt es vor allem im Berufs- und im Stadionverkehr häufig zu Überlastungen. Der Bahnhof ist der am stärksten frequentierte im gesamten U-Bahn-Netz, weswegen man sich nach der Entscheidung zum Neubau eines Fußballstadions in Fröttmaning dazu entschloss, hier durch zusätzliche Fußgängertunnel für Entlastung zu sorgen.
Am Sendlinger Tor werden schließlich die Linien U1 und U2 gekreuzt, deren Verlauf überquert wird. Über den bereits 35 Jahre zuvor errichteten Lindwurmtunnel wird der ebenfalls im Rohbau vor 1941 gebaute Bahnhof Goetheplatz erreicht. In diesem Tunnelabschnitt sind die Wandausbuchtungen für die ursprünglich vorgesehenen Oberleitungsmasten ebenso wie die Kennzeichnungen an den Wänden als Luftschutzraum im Zweiten Weltkrieg noch erkennbar. Der folgende Bahnhof Poccistraße (nahe dem ehemaligen Nahverkehrsbahnhof München Süd) wurde nachträglich zwischen den bereits bestehenden und in Betrieb befindlichen Tunneln eingebaut und am 28. Mai 1978, also knapp drei Jahre nach dem Rest der Strecke, eröffnet. Am Bahnhof Implerstraße trennen sich die Linienwege von U3 und U6 wieder, hier besteht außerdem in Gegenrichtung ein eingleisiger Abzweig zur Betriebsanlage Theresienwiese, über die die Strecke der U4/U5 erreicht wird.
Vom dreigleisigen Verzweigungsbahnhof Implerstraße aus führt die U3 fast genau Richtung Süden. Der nächste Bahnhof Brudermühlstraße wurde zusammen mit dem darüberliegenden Brudermühltunnel des Mittleren Rings gebaut, weswegen er vergleichsweise tief im Grundwasser liegt. Ein alter Mühlstein im Sperrengeschoss erinnert an die Tradition der Straße. Im folgenden Bahnhof Thalkirchen (Tierpark) erinnern Tiermotive an den von Ricarda Dietz gestalteten Hintergleiswänden an den nahegelegenen Tierpark Hellabrunn.
Von Thalkirchen führt die Linie erst in westlicher Richtung über die Stationen Obersendling (mit Anschluss an die S- und Regionalbahnstation Siemenswerke), Aidenbachstraße, Machtlfinger Straße, Forstenrieder Allee zur Station Basler Straße.
Der Endbahnhof Fürstenried West liegt bereits unmittelbar an der Stadtgrenze, eine weitere Verlängerung nach Neuried ist allerdings denkbar.
Linie U4
Die U4 ist mit 9,247 km die kürzeste Münchner U-Bahn-Linie mit nur 13 Stationen. Sie wurde ursprünglich als U9 geplant und verkehrte bis zum Fahrplanwechsel 2006 als einzige Linie in der Regel nur mit Kurzzügen (4-Wagen-Züge). Ausnahmen bilden die Freitagnachmittage und die Zeit des Oktoberfests, seit dem Fahrplanwechsel am 10. Dezember 2006 verkehrt die U4 in den Ferien unter der Woche täglich zur Hauptverkehrszeit mit Langzügen mit sechs Wagen, dafür dann aber nur noch alle zehn Minuten statt bisher fünf.
Im Westen (betrieblich gesehen im Norden, obwohl das Südende der U4 als einziger Münchner Linie nördlicher liegt als das betriebliche Nordende) beginnt die U4 an der Westendstraße, wo auch die U5 verkehrt. Anfangs verkehrte die U4 wie die U5 bis zum Laimer Platz, wurde dann aber wegen mangelnder Auslastung um zwei Stationen zurückgenommen. U4 und U5 haben als einziges Linienpaar nur an einem Ende eine Aufgabelung der gemeinsamen Stammstrecke in zwei Strecken.
Am Heimeranplatz besteht Anschluss zu den S-Bahn-Linien S7 und S20. Der folgende Bahnhof Schwanthalerhöhe hieß bis 1998 (Umzug der Münchner Messe nach Riem) Messegelände. Kurz nach dem Bahnhof zweigt die einzige Betriebsstrecke der Münchner U-Bahn in die dreigleisige Betriebsanlage Theresienwiese ab, diese ist am südlichen Ende an den U-Bahnhof Implerstraße angeschlossen. In den ersten Betriebsjahren war dies die einzige Verbindung zum Restnetz der U-Bahn, und damit zur Technischen Basis in Fröttmaning. Heute besteht am Innsbrucker Ring eine weitere Verbindung.
Der Bahnhof Theresienwiese ist mit einer Aufsichtskanzel ausgestattet, um die Fahrgastmengen während des Oktoberfestes bewältigen zu können – bis zum Umbau des Bahnhofs in Fröttmaning war dies einzigartig im Münchner U-Bahn-Netz. Der südliche Ausgang des Bahnhofs endet auch direkt auf der Festwiese. Während der Wiesn wird hier auch grundsätzlich vom örtlichen Aufsichtspersonal und nicht vom Fahrer abgefertigt, wie es ansonsten der Fall ist. Tagsüber außerhalb der Hauptverkehrszeit beginnt die U4 an der Westendstraße, in der Hauptverkehrszeit und an Wochenenden (ausgenommen am frühen Morgen) erst an der Theresienwiese, da im westlichen Abschnitt die Fahrgastzahlen keine derartige Bedienung rechtfertigen.
Am Hauptbahnhof besteht Anschluss zu allen S-Bahnlinien und zur Stammstrecke der U1 und U2, die dort überquert wird. Nach Unterqueren der S-Bahn-Stammstrecke wird der Bahnhof Karlsplatz (Stachus) erreicht, bei dem erneut Anschluss zur S-Bahn besteht. Der U-Bahnhof hier ist der tiefste im Münchner U-Bahn-Netz, die Fahrtreppe am Ausgang Lenbachplatz ist mit 247 Stufen, 56,5 Metern Länge und 20,63 Metern Förderhöhe die längste in München. Im weiteren Verlauf zum Odeonsplatz, wo Anschluss zur U3 und U6 besteht, wird mit etwa 36 Metern auch die tiefste Stelle des gesamten Netzes erreicht. Am Odeonsplatz befindet sich mit 52,8 Metern Länge die zweitlängste Fahrtreppe Münchens. Zum Vergleich: Der tiefste U-Bahnhof Deutschlands (26 m) gleichzeitig der mit der Fahrtreppe mit der größten Förderhöhe (22 m) befindet sich in Hamburg (U-Bahnhof Messehallen).
Wie der Odeonsplatz ist auch der folgende Bahnhof Lehel ein bergmännisch aufgefahrener Bahnhof mit zwei Einzelröhren, die durch Querschläge verbunden sind. Die Strecke unterquert nun die Isar, um im dreigleisigen Verzweigungsbahnhof Max-Weber-Platz beim Maximilianeum die gemeinsame U4-/U5-Stammstrecke wieder zu verlassen. Einer der Ausgänge des U-Bahnhofs am Max-Weber-Platz ist in einem unter Denkmalschutz stehenden Trambahnpavillon untergebracht, der im Rahmen des U-Bahn-Baus den Verkehrsträger gewechselt hat.
Über den wie Marienplatz durch Alexander Freiherr von Branca entworfenen Bahnhof Prinzregentenplatz und dem in seiner grünen Gestaltung an seinen Namensgeber erinnernden Bahnhof Böhmerwaldplatz erreicht die U4 den Bahnhof Richard-Strauss-Straße, der bedingt durch die Lage als einziger auf dieser Strecke mit Seitenbahnsteigen ausgestattet ist. Am Böhmerwaldplatz wird auch direkt ein Straßentunnel des Mittleren Rings unterquert, der wie auch die U-Bahn unter der Richard-Strauss-Straße liegt. Am Bahnhof Arabellapark endet die U4, die Abstellanlage führt jedoch noch 600 Meter fast bis zum ursprünglich geplanten Bahnhof Cosimapark weiter.
Eine Weiterführung der U4 über Cosimapark und Fideliopark Richtung Englschalking ist im 3. Mittelfristprogramm für den U-Bahn-Bau der Landeshauptstadt München zwar enthalten, aufgrund der ohnehin schon relativ geringen Auslastung der U4 jedoch mittelfristig nicht zu erwarten.
Linie U5
Die U5 beginnt derzeit am Laimer Platz (eine Verlängerung nach Pasing ist mit Stand Oktober 2021 konkret geplant, siehe unten). Die derzeitige Betriebslänge beträgt 15,4 km.
Die U5 führt über den ebenfalls sehr hell gestalteten Bahnhof Friedenheimer Straße zur Westendstraße, wo sie dann über Heimeranplatz, Schwanthalerhöhe, Theresienwiese, Hauptbahnhof, Karlsplatz (Stachus), Odeonsplatz und Lehel bis Max-Weber-Platz denselben Verlauf wie die U4 hat, siehe U4.
Am Max-Weber-Platz trennt sich die Stammstrecke der U4/U5 schließlich, die U5 biegt in einer Rechtskurve nach Süden zum in starkem weiß-roten Kontrast gestalteten Ostbahnhof ab. Dort besteht Anschluss zur S-Bahn-Stammstrecke, die hier auch unterquert wird. Nach dem mit 1602 Metern drittlängsten innerstädtischen Abstand zwischen zwei Bahnhöfen folgt am Bahnhof Innsbrucker Ring direkte Anschlussmöglichkeit zur U2 Richtung Messestadt am selben Bahnsteig gegenüber.
Nach dem Bahnhof Michaelibad folgt mit 1708 Metern der längste innerstädtische Abschnitt zwischen zwei Bahnhöfen. Dabei verläuft die Strecke am Rande des Ostparks und erreicht den Bahnhof Quiddestraße. Als nächster Bahnhof folgt Neuperlach Zentrum, in der seit den 1960er Jahren erbauten Neubaugroßsiedlung Neuperlach. Nach dem Bahnhof Therese-Giehse-Allee kommt die U5 schließlich an die Oberfläche, um im Bahnhof Neuperlach Süd zu enden. Den ähnlich den Berliner Hochbahnstrecken auf einer Brücke gelegenen Bahnhof erkennt man schon von weitem durch seine gezackte Dachstruktur. Diese Strecke wurde ursprünglich von der U8, ab 1988 gemeinsam von der U2 und U5 und wird seit 1999 nur noch von der U5 bedient. Der Bahnhof Neuperlach Süd wurde im Rahmen einer Renovierung von 2007 bis 2008 auf der Bahnsteigebene teilweise umgestaltet. So wurde die für diese Linie ungewohnte Farbe Orange an den Säulen der Bedachung verwendet. Ebenso wurde hier das neue Wegweisersystem der Stationen, das teilweise zuvor schon beim Umbau der Station Marienplatz bzw. an der Haltestelle Odeonsplatz verwendet und seither in weiteren Stationen eingeführt wurde, installiert. Die Zugangsebene des Bahnhofs wurde nur mit zusätzlichen Verkaufsflächen ausgestattet und nicht wesentlich renoviert.
In Neuperlach Süd gibt es die Besonderheit, dass sich S-Bahn und U-Bahn einen Bahnsteig teilen – auf Gleis 3 verkehrt die S7, auf Gleis 2 an der anderen Seite des Bahnsteigs kommen die Züge der U5 an. Es besteht also ein direkter Übergang von der U-Bahn zur S-Bahn am selben Bahnsteig. In Neuperlach Süd befindet sich außerdem eine größere Abstellanlage (Betriebsanlage Süd), in der zu Schwachlastzeiten und nachts viele Züge abgestellt werden, die nicht in Fröttmaning oder in Abstellanlagen im Netz verteilt abgestellt werden können.
Zu Anfang des Regelbetriebs der Münchner U-Bahn gab es eine kurzlebige Verstärkerlinie U5 zwischen Münchner Freiheit und Goetheplatz, nach nur gut einem Jahr wurde diese Linie zum 2. Juli 1973 wieder eingestellt und die Fahrten in die Linie U6 eingegliedert.
Linie U6
Die U6 hat 26 Stationen und ist mit 27,4 km die längste Münchner U-Bahn-Linie und verfügt als einzige Linie über längere oberirdische Strecken. Sie wurde als erste Linie in Betrieb genommen. Der Lindwurmtunnel (Abschnitt zwischen Sendlinger Tor und einschließlich Bahnhof Goetheplatz) wurde bereits 1938–1941 als Teil einer Nord-Süd-S-Bahn-Strecke erbaut. Sie ähnelt weitgehend dem heutigen Verlauf der U6, sollte aber am Karlsplatz/Stachus die Ost-West-S-Bahn kreuzen.
Als einzige Linie verlässt sie das Münchner Stadtgebiet. So beginnt sie unter dem Hochschul- und Forschungszentrum der Stadt Garching bei München am Bahnhof Garching-Forschungszentrum. Von dort aus unterquert die Strecke Garching selber und bindet die Stadt mit einem U-Bahnhof an, ehe sie kurz vor dem Bahnhof Garching-Hochbrück im gleichnamigen Garchinger Stadtteil an die Oberfläche kommt. Anschließend fahren die U-Bahnen 4208 Meter ohne Halt bis nach München. Die erste Station in München selber heißt Fröttmaning und bindet die Allianz Arena an. Mit dem Bau der Arena musste die Station viergleisig neu gebaut werden, um die hohen Fahrgastzahlen bei Fußballspielen bewältigen zu können. Der folgende Bahnhof Kieferngarten, Endstation der ersten Münchner U-Bahn-Strecke, ist ein viergleisiger Verzweigungsbahnhof, hier befindet sich in Gegenrichtung der Abzweig zur Technischen Basis. Weiter an der Oberfläche führt die Strecke über Freimann zur Studentenstadt. Danach fahren die U-Bahnen wieder unterirdisch. Die Strecke folgt nun der Ungererstraße mit den Stationen Alte Heide, Nordfriedhof und Dietlindenstraße bis zur Münchner Freiheit. Ab hier fährt die U6 den gleichen Weg wie die U3 südwärts unter der Innenstadt hindurch nach Sendling, wo sich die Wege der beiden Linien am Bahnhof Implerstraße wieder trennen.
Hinter der Implerstraße biegt die Strecke nach Westen zum Harras ab, an dem man zur S-Bahnlinie S7 umsteigen kann. Anschließend unterquert sie den Stadtbezirk Sendling-Westpark in Ost-West-Richtung. Dieser Streckenabschnitt mit seinen Stationen Partnachplatz, Westpark und Holzapfelkreuth wurde mit der Internationalen Gartenausstellung im Westpark eröffnet. Schließlich erreichen die U-Bahnen über die Bahnhöfe Haderner Stern und Großhadern das Südende der U6 beim Klinikum Großhadern. Aktuell finden die Bauarbeiten zur Verlängerung bis nach Martinsried statt, um das Biozentrum und die LMU besser an den Münchner Nahverkehr anzuschließen. Stand Anfang 2023 war die Eröffnung 2027 geplant.
Linie U7
Die U7 ist eine Verstärkerlinie und verkehrt nur während der Hauptverkehrszeiten auf der gesamten Streckenlänge, ausgenommen Freitagnachmittag und während Schulferien. Sie besitzt 19 Stationen und bedient zwei Stammstrecken. Die U7 beginnt am Olympia-Einkaufszentrum und fährt parallel zur U1 auf der Stammstrecke 2 zum Hauptbahnhof. Zusammen mit U1 und U2 führt die Linie über das Sendlinger Tor zum Kolumbusplatz und zusammen mit der U2 weiter über Giesing zum Innsbrucker Ring. Dort fährt die U7 auf dem Gleis ein, auf dem sonst die U2 abgefertigt wird. Bei Ausfahrt aus dem Bahnhof biegt die U7 auf die Stammstrecke 3 ab und fährt parallel zur U5 zu ihrem Endpunkt Neuperlach Zentrum.
Die U7 wurde zum Fahrplanwechsel am 12. Dezember 2011 eingeführt. Sie ersetzte die bisherigen Verstärkerfahrten der U1 zwischen Westfriedhof und Sendlinger Tor. Im Betrieb werden auf der U7 in der Regel sogenannte Kurzzüge mit vier Wagen eingesetzt, weswegen nur die Wagentypen A und B verkehren. Bis zum 14. Dezember 2013 fuhr die Linie nur in der morgendlichen Hauptverkehrszeit an Schultagen auf der gesamten Streckenlänge, während nachmittags und in den Ferien nur der Abschnitt zwischen Westfriedhof und Sendlinger Tor bedient wurde. Seit dem 15. Dezember 2013 fahren die Züge an Schultagen auch nachmittags bis Neuperlach Zentrum, während sie in den Ferien weiterhin nur bis Sendlinger Tor verkehren.
Im Zuge von Bauarbeiten an der U3 zwischen den Bahnhöfen Scheidplatz und Münchner Freiheit im Jahr 2017, bei denen die Strecke für mehrere Monate gesperrt werden musste, wurde die U7 zunächst temporär zum Olympia-Einkaufszentrum verlängert. Die MVG hat sich entschieden, die U7 auch weiterhin bis zum Olympia-Einkaufszentrum zu führen.
Linie U8
Die U8 ist eine Verstärkerlinie und verkehrt nur am Samstagnachmittag. Mit dem Fahrplanwechsel am 15. Dezember 2013 erhielten die bereits seit einiger Zeit samstags durchgeführten Fahrten zwischen Olympiazentrum und Sendlinger Tor über den Hauptbahnhof eine eigene Liniennummer. Seit dem 9. Dezember 2018 fahren die Züge weiter bis Neuperlach Zentrum. Die U8 bedient 19 Stationen an allen drei Stammstrecken. Zwischen Olympiazentrum und Scheidplatz fährt sie parallel zur U3 auf der Stammstrecke 1, im weiteren Verlauf bis Innsbrucker Ring parallel zur U2 auf der Stammstrecke 2, ehe sie dort auf die Stammstrecke 3 wechselt und dem Verlauf der U5 bis Neuperlach Zentrum folgt. Damit fährt sie auf einer Teilstrecke der bereits von 1980 bis 1988 von Olympiazentrum über Sendlinger Tor nach Neuperlach Süd verkehrenden U8 (heute U2).
Bahnhöfe
Aufbau und Ausstattung
Bis auf die ebenerdig gelegenen Bahnhöfe Studentenstadt, Freimann, Kieferngarten, Fröttmaning, Garching-Hochbrück (alle U6) sowie den in Hochlage errichteten Bahnhof Neuperlach Süd (U5) sind alle Bahnhöfe als Tunnelbahnhöfe in mindestens einfacher Tiefenlage ausgeführt. Die Bahnsteige sind in der Regel etwa 120 Meter lang. Alle Bahnhöfe wurden mit einem taktilen Rillenband vor der Bahnsteigkante ausgestattet, neuere Bahnhöfe verfügen über ein komplettes taktiles Leitsystem von den Liften und Treppen zum Bahnsteig. Dafür wurde den Stadtwerken 1996 der Integrationspreis des Bayerischen Blindenbundes verliehen.
Die meisten Bahnhöfe sind zweigleisig und mit einem Mittelbahnsteig ausgestattet, zweigleisig mit Seitenbahnsteigen sind lediglich die Bahnhöfe Olympia-Einkaufszentrum (U1), Richard-Strauss-Straße (U4), Neuperlach Süd (U5), Garching-Hochbrück und Nordfriedhof (beide U6). Vier Gleise besitzen die beiden Kreuzungsbahnhöfe Scheidplatz und Innsbrucker Ring, die Verzweigungsbahnhöfe Hauptbahnhof (U1 und U2) Münchner Freiheit und Kieferngarten sowie die Bahnhöfe Olympiazentrum und Fröttmaning, in deren Umgebung regelmäßig Großveranstaltungen stattfinden. Die Verzweigungsbahnhöfe Implerstraße, Max-Weber-Platz und Kolumbusplatz sind dreigleisig ausgeführt; im Unterschied zu den viergleisigen Verzweigungsbahnhöfen besitzen die Linien stadtauswärts hier ein gemeinsames Gleis und trennen sich erst hinter dem Bahnhof.
Im Bahnsteigbereich aller Bahnhöfe ist an den Wänden, teilweise auch in der Bahnsteigmitte und gegebenenfalls zwischen den Gleisen wiederholt der Stationsname ausgeschildert, entweder auf einem durchgängigen Linienband in der Farbe der jeweiligen Liniengruppe, oder auf Tafeln in der gleichen Farbe. Hiervon weichen lediglich die beiden 2006 eröffneten Bahnhöfe der U6 in Garching ab: Am Forschungszentrum wurde auf den Stationsnamen an den Wänden verzichtet, und in Garching wurde der Name im Stil des Logos der Stadt Garching ohne weitere Hervorhebung an die Wandverkleidung gezeichnet. Bei Neubeschriftungen mit dem neuen Leitsystem, wie zum Beispiel an den U4/U5-Stationen Lehel, Odeonsplatz und Karlsplatz (Stachus), wird der Stationsname auf der Bahnsteigseite auf Tafeln über dem Linienband angebracht.
Die Mehrzahl der Bahnhöfe verfügt über zwei voneinander getrennte Zugänge, alle Bahnhöfe sind mit Rolltreppen und Aufzügen barrierefrei erreichbar. Die Bahnsteighöhe beträgt 100 beziehungsweise 105 Zentimeter über Schienenoberkante, was ein rasches Zusteigen in die Züge mit ebenso hohen Fußböden ermöglicht. Die Mehrzahl der Bahnhöfe verfügt über einen Kiosk oder andere Verkaufsstände, meistens sind auch Toiletten vorhanden. In weiteren Betriebsräumen sind technische Betriebsanlagen untergebracht, etwa Gleichrichterwerke zur Stromversorgung oder Stellwerkstechnik.
Die meisten U-Bahnhöfe haben ein oder mehrere Zwischengeschosse, die als Sperrengeschosse bezeichnet werden. Sie verbinden mehrere Stationseingänge mit den Gleisen. Bis zum Sommer 2019 war der Zutritt zu den Bahnsteigen nur Personen mit einer Fahrkarte oder einer Bahnsteigkarte erlaubt, die nur zum Betreten der Plattform, aber nicht zur Fahrt mit der U-Bahn berechtigt. Die Bahnsteigkarte wurde mittlerweile abgeschafft. Derartige Bahnsteigbeschränkungen gibt es nur noch im Hamburger Verkehrsverbund. Einige U-Bahnhöfe haben von ihren Sperrengeschossen auch direkten Zugang zu angrenzenden Kaufhäusern: Marienplatz, Münchner Freiheit, Hauptbahnhof, Dülferstraße, Karlsplatz (Stachus) und Olympia-Einkaufszentrum.
Fahrgastinformation am Bahnsteig
Ab der Eröffnung waren zuerst Lichtkastenanzeiger an den Bahnsteigen angebracht. Diese bestanden aus einem Metallgehäuse mit Hinterglas bedruckten Tafeln. Für die entsprechende Anzeige, leuchtete eine Leuchtstofflampe im Gehäuse auf und beleuchtete die Tafeln von hinten. So wurde das Zugziel bzw. die Information wie "nicht einsteigen" für den Fahrgast sichtbar. Etwas später, Anfang der 1970er Jahre, wurden die Lichtkastenanzeiger durch Fallblattanzeiger der Firma Solari di Udine durch AEG-Telefunken ersetzt. Die Firma stattete auch die A-Wagen sowie die ersten Serien der B-Wagen mit Zugzielanzeigen aus. Diese älteren Fallblattanzeiger basierten auf einem rein analogen Kommunikationssystem. Die Codierung erfolgte über zwei Schleifkontakte am Fallblattmodul selbst, welche 40 Stromlaufmöglichkeiten einstellen konnten. Daraus ergibt sich auch die maximal mögliche Blattzahl – nämlich 40 Fallblätter. Vorhanden waren pro Seite je zwei Module. Das obere, kürzere, zeigte die Linie sowie Anzahl und Position der Traktionen am Bahnsteig an. Das untere, längere Modul zeigte das Zugziel und Informationen wie "Einrückfahrt", "Bitte auf Lautsprecherdurchsage achten" oder "nicht einsteigen" an. Im Gegensatz zu den Anzeigen der U-Bahn Nürnberg enthielten die Anzeigen der Münchner U-Bahn keinen Zuglauf.
Anfang 1980 wurde damit begonnen die alten Solari-Anzeiger durch modernere Anzeiger der Firma Krone-Informationssysteme zu ersetzen und neue Bahnhöfe mit Krone-Anzeigen auszustatten. Deren Ansteuerung basiert eigentlich auf einem RS-485 System, jedoch wurden sie für die Münchner U-Bahn modifiziert geliefert. Um das vorhandene System von AEG-Telefunken und die Leitungen nicht ersetzen zu müssen, wurde in die Anzeiger ein digitaler Wandler mit Mikrocontroller montiert, welcher die analogen Signale des alten Zentralrechners in modernere TTL-Signale für die Fallblattmodule umwandelt. Somit waren die Fallblattanzeiger der Münchner U-Bahn technisch einzigartig im Vergleich zu den sonstigen Anzeigern, die Krone beispielsweise für die Deutsche Bahn hergestellt hat.
Auch die neueren Krone-Anzeiger enthielten nur jeweils 40 Blätter im Ziel- und Linienmodul.
2004 wurde damit begonnen die bestehenden Fallblattanzeigen durch Anzeiger in TFT-Technik auszutauschen. Zuvor wurden an einigen Bahnhöfen testweise Anzeiger auf LCD-Technik installiert.
Am 10. Juni 2013 wurde der letzte Fallblattanzeiger am Bahnhof Harthof demontiert. Damit endete die Ära der Fallblattanzeigen bei der Münchner U-Bahn. Viele Anzeiger überlebten bis heute nicht, da sie durch die SWM mit Verschrottungsnachweis entsorgt werden mussten. Es gibt nachweislich drei Krone-Anzeiger in Privatsammlungen (zwei Voranzeiger vom Bahnhof Marienplatz und einen doppelseitigen Bahnsteiganzeiger) und einen Solari-Anzeiger im MVG-Museum München.
Architektur
Als die ersten U-Bahnhöfe Mitte der 1960er Jahre ausgeschrieben wurden, war das Interesse vieler Architekten an deren Bau mitzuwirken eher gering. Die von Schlichtheit und Funktionalität geprägte Untergrundarchitektur galt als wenig interessant und einträglich. Im Laufe der 1980er Jahre stiegen allmählich die Ansprüche an eine ansprechenden Gestaltung der U-Bahnhöfe. Helle lichte Räume sollten dem Gefühl der Beklemmung unter der Erde entgegenwirken. Gerade Linien, welche die Geometrie in den Anfangsjahren prägten, wichen allmählich geschwungenen Linienformen. Auch der Charakter der Oberfläche wurde bei der Gestaltung der Bahnhöfe zunehmend mit berücksichtigt. Der Bau vieler Bahnhöfe wurden von den eigenen Architekten des U-Bahn- und später Baureferats, darunter Garabede Chahbasian, Hans-Alfred Schaller und Paul Kramer, geplant und durchgeführt.
Auf der zuerst gebauten Linie U6 zeichnete Paolo Nestler für die Mehrzahl der Regelbahnhöfe zwischen Alte Heide und Harras verantwortlich. Die eher schlichten, fast an Bauhaus-Ideale erinnernden Bahnhofsbauten sind durch gerade Linien und funktionale Raumgestaltung gekennzeichnet. Unterscheidbar sind die Bahnhöfe durch verschiedene Farben und Formen der mit Keramikplatten verkleideten Bahnsteigsäulen und durch leicht unterschiedliche Farbtöne der Wandpaneele aus Faserzementtafeln. An der Münchner Freiheit durchbricht ein von Jürgen Reipka gestaltetes Wandfries die ansonsten monotone Gestaltung. Von Mai 2008 bis Ende 2009 wurde der Bahnhof Münchner Freiheit saniert und bekam durch das Lichtkonzept von Ingo Maurer ein neues Gesicht.
Der zentrale Umsteigebahnhof am Marienplatz sticht aus dem Design der Regelbahnhöfe heraus. Hier gewann das Büro des renommierten Architekten Alexander Freiherr von Branca den Wettbewerb und gestaltete den Bahnhof in kräftigen Orange-, Dunkelblau- und Dunkelgrün-Tönen. Für den Bahnhofsumbau von 2004 bis 2006 war von Branca ebenfalls verantwortlich: Behutsam integrierte er die Erweiterungsbauten in das bestehende Konzept.
Die nur wenige Jahre später geplanten und ausgeführten Bahnhöfe der U3 zum Olympiapark wurden ganz anders als die Nestler’schen Regelbahnhöfe in Sichtbeton mit Wandreliefs von Christine Stadler und Waki Zöllner ausgeführt. Die erfolgreiche Olympia-Bewerbung ermöglichte hier ein neues Selbstbewusstsein in der Gestaltung.
Die 1980 eröffneten Bahnhöfe der damaligen Linie U8 zwischen Scheidplatz und Neuperlach Süd (heute bis Innsbrucker Ring U2, anschließend U5) gleichen sich in der Gestaltung stark. In Anlehnung an die U6 wurde hier dasselbe Grundkonzept für fast alle Bahnhöfe verwendet. Lediglich die Farbgebung und die Art der Zugangsanlagen unterscheidet die meisten Bahnhöfe. Hervorzuheben ist auf dieser Strecke der von Josef Wiedemann gestaltete U-Bahnhof Königsplatz: Hier wurden Repliken, allerdings erst 1988, und Faksimiles der auf dem darüber liegenden Kunstareal ausgestellten Kunstwerke direkt auf dem Bahnsteig und an den Hintergleiswänden platziert. Über dem Bahnsteig befindet sich seit 1994 in einem bis dahin weitgehend ungenutzten Hohlraum ein Ausstellungsraum (Kunstbau). Die Umsteigebahnhöfe Sendlinger Tor und Hauptbahnhof wurden ebenfalls anders gestaltet, um ihre Bedeutung hervorzuheben.
Ab Anfang der 1980er Jahre legte man zunehmend Wert auf die Gestaltung. Die in Brauntönen gehaltenen Bahnhöfe der Linie U1 zum Rotkreuzplatz machten den Anfang, konnten die Fachwelt jedoch nicht überzeugen. Die zur Internationalen Gartenbauausstellung 1983 eröffneten Bahnhöfe der als Blumenlinie bezeichneten Verlängerung der Linie U6 mit den Stationen Partnachplatz, Westpark und Holzapfelkreuth gefielen mit ihrer Gestaltung in abgestuften Grün- und Gelbtönen schon besser. Die kurz darauf eröffneten Bahnhöfe der Linien U4 und U5 waren gestalterisch noch detailreicher. Erstmals wurde jeder Bahnhof individuell gestaltet und auch – wie schon am Königsplatz vier Jahre zuvor – die Oberfläche in die Gestaltung mit einbezogen. Der Bahnhof Theresienwiese lehnt sich in der Gestaltung an einen Brauereikeller an. Unter dem Stachus erinnern von Volker Sander gestaltete Bilder vergangener Straßenbahnfahrzeuge an die Tradition als Umsteigeknoten im öffentlichen Nahverkehr. Im Bahnhof Messegelände (heute Schwanthalerhöhe) verbreiten Fahnen und Silhouetten von Messebesuchern an den Wänden internationalen Flair. Auch bei den Materialien gab es Änderungen: waren anfangs Kunststein, Faserzementtafeln und Beton beliebte Elemente, gewannen später Stahl, Aluminium und Glas an Bedeutung.
Teilweise aufwendige Gestaltungen der Bahnsteige und vor allem der Hintergleiswände zeichnen die Mehrzahl der jüngeren Bahnhöfe aus. Durch hohe, säulenlose Bahnhofshallen konnte meist ein heller und freundlicher Raumeindruck vermittelt werden. Bei Bahnhöfen in geringer Tieflage, wie Oberwiesenfeld, Machtlfinger Straße (beide U3), Messestadt West (U2) und St.-Quirin-Platz (U1), wurde auch das Tageslicht bei der Raumgestaltung und Innenbeleuchtung genutzt. Die zuletzt genannte an einem Hang liegende Station wurde mit einer aufwändigen Dachkonstruktion überspannt. St.-Quirin-Platz ist somit der einzige unterirdisch gelegene Bahnhof in München, in dem durchfahrende Fahrgäste einen kurzen Blick „nach draußen“ (in die Grünanlage Am Hohen Weg) werfen können. Wo kein Tageslicht verfügbar war, wurden aus indirekter künstlicher Beleuchtung mittels reflektierender Wand- und Deckenelemente bestehende Lichtkonzepte realisiert und so der aus lang gezogenen Leuchtstoffröhrenreihen bestehende „Einheitsbrei“ bei der Beleuchtung früherer Stationen vermieden.
Geschichte
Frühe Planungen 1905–1928
Bereits 1905 gab es Pläne, eine unterirdische Gleistrasse in etwa auf der Trasse der heutigen S-Bahn-Stammstrecke zwischen Haupt- und Ostbahnhof sowie eine Ringbahn, die die Altstadt umrundet, zu bauen. Da diese Planungen für das damalige Verkehrsaufkommen aber deutlich überdimensioniert waren, wurden sie nicht umgesetzt. Das Straßenbahnnetz konnte die Verkehrsströme in der damaligen Halbmillionenstadt noch abdecken.
1928 gab es erneut Pläne, die Straßenbahnen in München durch ein U-Bahn-Netz zu ersetzen, jedoch vereitelte die Weltwirtschaftskrise alle Pläne. Es sollte ein Netz von fünf U-Bahn-Strecken, die mit der heutigen Streckenverteilung einige Gemeinsamkeiten hatten, verwirklicht werden.
Post-U-Bahn (1910–1988)
Ab 1910 verband die nur 450 m lange, automatisierte Post-U-Bahn München den Hauptbahnhof mit dem Bahnpostamt an der Hopfenstraße. Sie diente nur dem Transport von Briefpost. Sie stand mit der eigentlichen (für Personenverkehr bestimmten) U-Bahn weder konzeptionell noch bautechnisch in Zusammenhang.
Planungen und unvollendete Bauten 1936–1941
In der Zeit des Nationalsozialismus plante man ab 1936 ein Netz elektrischer unterirdischer Bahnen für die „Hauptstadt der Bewegung“ und es wurde auch schon mit dem Bau begonnen, doch der Zweite Weltkrieg setzte dem ein Ende. Der Tunnel der heutigen U6 zwischen Sendlinger Tor und Goetheplatz – einschließlich des dortigen Bahnhofs – wurde bereits im Rohbau fertiggestellt, allerdings noch als Teil einer S-Bahn-Trasse. So erklärt sich auch die relative Großzügigkeit des Goetheplatzes (insbesondere im Sperrengeschoss Eingang Goetheplatz passt die Architektur nicht zur heutigen Nutzung) und die Enge des jetzigen Umsteigebahnhofs Sendlinger Tor auf dem Bahnsteig der U3/U6 (siehe unten „Planungen nach dem Zweiten Weltkrieg“: Kreuzungspunkt der Linien C und D).
In der Lindwurmstraße erfolgte am 22. Mai 1938 der erste Spatenstich für diesen Tunnel, der den Anfang vom Ende der Trambahn einläuten sollte. Zwischen dem Goetheplatz und der Reisingerstraße wurde ein Tunnel von 590 Meter Länge gegraben, der bis 1941 im Rohbau fertiggestellt war. Erste Triebwagen sollten im selben Jahr geliefert werden. Die kriegsbedingte Verknappung der Ressourcen führte zur Einstellung dieser Arbeiten. Der Rohbau diente während des Krieges als Luftschutzkeller, wovon heute noch Beschriftungen an den Tunnelwänden zeugen.
Teile des Tunnels wurden nach dem Krieg mit Trümmerschutt verfüllt, andere dienten noch eine Weile als Zuchtstätte für Pilze, ehe eindringendes Grundwasser das kurze Stück früher U-Bahn-Geschichte unbenutzbar machte.
Planungen nach dem Zweiten Weltkrieg
Schon kurz nach dem Krieg gab es in der Stadtverwaltung München Stimmen, die sich für die Planung eines Schnellbahnsystems in München starkmachten, jedoch begann erst 1953 mit der Bildung der „Studiengesellschaft für den Bau einer Münchner Hoch- und Untergrundbahn“ eine neue Planungsphase. Zunächst war es jedoch vordringlich, dass das Straßenbahnnetz wieder instand gesetzt wurde, so dass kein Geld für eine U-Bahn vorhanden war. Die Planungen für eine U-Bahn in München dümpelten dahin, während der Verkehrsraum für den Oberflächenverkehr immer mehr ausgelastet war und die Straßenbahnen in der Innenstadt immer häufiger im Verkehrsgetümmel stecken blieben. Die Durchschnittsgeschwindigkeit der Trambahnen lag teilweise bei nur noch 4–13 km/h, zwischen Karlsplatz und Marienplatz verkehrten pro Stunde 62 Straßenbahnzüge. Der starke Bevölkerungsanstieg um jährlich etwa 50.000 Einwohner in den späten 1950er Jahren – 1958 zählte München bereits eine Million Einwohner – und die zunehmende Motorisierung trugen ihren Teil zum Verkehrschaos bei. Etwa 130 000 Pendler strömten tagtäglich in die Landeshauptstadt, im Stadtgebiet waren täglich 400 000 Münchner unterwegs.
Zunächst war strittig, ob auf der Ost-West-Trasse zwischen dem Ostbahnhof und dem Hauptbahnhof die S-Bahn oder die Tiefbahn verkehren sollte. Die Stadt München favorisierte eine in eine in den Boden verlegte Trambahn mit Oberleitung, die Bundesbahn wollte mit einer unterirdisch verlegten S-Bahn den Hauptbahnhof mit dem Ostbahnhof verbinden. Erst 1963 gab es eine Einigung im Trassenstreit, die „klassische Trasse“ wurde der S-Bahn zugeschlagen, die S-Bahn-Stammstrecke konnte gebaut werden. Auch war lange Zeit strittig, ob sich die Nord-Süd-U-Bahn mit der S-Bahn am Stachus, also dem modernen verkehrlichen Zentrum der Stadt, oder am Marienplatz, dem historischen Zentrum, treffen sollten. Die Wahl fiel schließlich auf den Marienplatz, um in der Stadtgestaltung der kommenden Jahrzehnte eine Fokussierung auf das historische Zentrum vornehmen zu können.
Mitte der 1950er Jahre sah die Arbeitsgemeinschaft für die Verkehrsplanung München vier Durchmesserlinien (Bezeichnung A, B, C, D) vor, welche die Stadt in acht Sektoren aufteilt und wesentliche Elemente des heutigen Liniennetzes enthält.
Linie „A“ (Ost-West-Linie): Pasing – Laim – Westend – Stachus (Umstieg in Linie „B“) – Marienplatz (Umstieg in Linie „C“) – Ostbahnhof – Berg-am-Laim;
Linie „B“: Moosach – Gern – Rotkreuzplatz – Stiglmaierplatz – Stachus (Umstieg in Linie „A“) – Odeonsplatz – Max-Weber-Platz – Bogenhausen – Zamdorf – Riem;
Linie „C“ (Nord-Süd-Linie): Freimann – Münchner-Freiheit – Marienplatz (Umstieg in Linie „A“) – Goetheplatz (bereits 1938–1941 erbauter Umsteigebahnhof zur Linie „D“) – Harras – Waldfriedhof;
Linie „D“ (weitere Nord-Süd-Linie): Siedlung am Hart – Scheidplatz – Elisabethplatz – Hauptbahnhof – Goetheplatz (Umstieg in Linie „C“) – Giesing.
Verschiedene Planungsszenarien wurden zwischen 1955 und 1959 ausgearbeitet, unter anderem auch für eine Unterpflasterbahn, bei der die Straßenbahnlinien weitgehend erhalten bleiben sollten, jedoch mit einer unterirdischen Streckenführung in der Innenstadt. Am 15. Dezember 1959 beschloss der Stadtrat dieses U-Straßenbahn-Netz, das mit Tunnelanlagen über insgesamt 17 km Länge in den kommenden Jahren die Straßenbahn in der Innenstadt sukzessive ablösen sollte, während in den Außenbezirken weiterhin auf bestehenden oberirdischen Trassen gefahren werden sollte, ähnlich dem Stadtbahnkonzept.
1963 billigte der Stadtrat ferner einen Gesamtverkehrsplan, der neben dem Bau der V-Bahn (heute S-Bahn-Stammstrecke) vier unterirdische Tunnelstrecken in der Innenstadt mit insgesamt 35 km Länge vorsah, die erst ab 1990 zur eigentlichen U-Bahn ausgebaut werden sollten. Bis dahin sollte der Betrieb mit Straßenbahnwagen durchgeführt werden. 1963 gründeten der Freistaat Bayern, die Landeshauptstadt München und die Deutsche Bundesbahn eine GbR mit dem Ziel, eine Bau- und Finanzierungsgesellschaft für die U-Bahn zu gründen, einen Finanzplan zu erstellen, die Bundesregierung als Partner für das Vorhaben zu gewinnen sowie die U-Bahn gemeinsam zu planen.
Am 15. Januar 1964 wurde das Amt zur Förderung des Baues unterirdischer Massenverkehrsanlagen, das direkt dem Oberbürgermeister unterstand, gegründet und schon zwei Jahre später in ein städtisches Referat umgewandelt. Ebenfalls 1964 entschied man sich, die Linie 6 zwischen Harras und Freimann sofort als U-Bahn zu bauen und überprüfte auch nochmals das Konzept der anderen Strecken. Der zunehmende Autoverkehr in der Stadt zwang schließlich zur Verabschiedung des ersten U-Bahn-Liniennetzes am 16. Juni 1965 durch den Münchner Stadtrat. Der Planungsentwurf sah noch vier Stammstrecken vor, die sich in den Außenbezirken aufspalten sollten. Auch weite Teile des Netzes stimmten noch nicht mit dem heute tatsächlich verwirklichten Netz überein. Die damals geplanten Linien:
U1: Moosach Bf – (Dachauer Str.) – Hbf – Goetheplatz – Kolumbusplatz – Giesing Bf – Neuperlach Zentrum
U2: Amalienburgstr. – Rotkreuzplatz – Hbf – Goetheplatz – Kolumbusplatz – KH Harlaching – Großhesseloher Brücke
U3: Heidemannstr. – Scheidplatz – Münchener Freiheit – Marienplatz – Goetheplatz – Fürstenrieder Str. – Blumenau
U4: Pasing – Laimer Pl. – Heimeranplatz – Hbf – Theatinerstr. (Marienplatz Nord) – Max-Weber-Pl. – Arabellapark – St. Emmeram
U5: Pasing – wie U4 – Max-Weber-Pl. – Leuchtenbergring – St.-Veit-Str. – Waldtrudering
U6: Kieferngarten – Münchner Freiheit – Marienplatz – Goetheplatz – Harras – Waldfriedhof – Großhadern
U8: Hasenbergl – Am Hart – Scheidplatz – Theresienstr. – Karlsplatz (Stachus) – Sendlinger Tor (4. Stammstrecke) – Kapuzinerstr. (Kreuzungsbf mit U1/2) – Thalkirchen – Aidenbachstr. – Fürstenried West
Pläne für eine Ringlinie der U-Bahn wurden zwar bald verworfen, da hierzu das tangentiale Fahrgastaufkommen zu niedrig war, jedoch nahm man beim Bau der S-Bahn-Stammstrecke am Bahnhof Rosenheimer Platz darauf Rücksicht, dass hier nicht die Möglichkeit eines Kreuzungsbahnhofes verbaut werden sollte. Heute nimmt die Tram die meisten tangentialen Verkehrsströme auf, vom Konzept einer Ring-U-Bahn hat man sich verabschiedet.
Bau und Eröffnung der ersten Strecken
Am 1. Februar 1965 gründeten die Stadt München und die Bayerische Staatsregierung die Münchner Tunnel-Gesellschaft mbH, welche die Finanzierung der U-Bahn sowie des S-Bahn-Stammstreckentunnels koordinieren sollte. Verantwortlich für die Planung und den Bau der U-Bahn wurde das neu geschaffene U-Bahn-Referat, dessen Leiter und treibende Kraft zu Beginn Klaus Zimniok war.
Bauarbeiten von 1965 bis 1972
Der Bau der Münchner U-Bahn begann ebenfalls am 1. Februar 1965 mit dem ersten Spatenstich durch den Bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel sowie den Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel auf der Baustelle des U-Bahnhofs am Nordfriedhof, der damals noch den Namen „Schenkendorfstraße“ erhalten sollte. Die erste 13,2 Kilometer lange U-Bahn-Strecke zwischen Kieferngarten und Harras mit zwölf unterirdischen und drei oberirdischen Bahnhöfen sollte 1974 fertiggestellt werden.
Die Vergabe der Olympischen Sommerspiele 1972 nach München am 26. April 1966 beschleunigte die Realisierung der U-Bahn-Pläne. In kürzester Zeit musste ein leistungsfähiges Verkehrsnetz aufgebaut werden. Der Stadtrat änderte durch seinen Beschluss vom 16. Juni 1966 die bisherigen Planungen und räumte der U-Bahn-Strecke zum Olympiagelände den Vorrang ein, so dass hier die Bauarbeiten bereits am 10. Mai 1967 begannen. Der Bau eines 2,7 Kilometer langen Abschnittes mit den U-Bahnhöfen Implerstraße und Harras wurde dagegen zurückgestellt.
Bereits im Sommer 1967 konnten die ersten Tests mit den gelieferten Prototypen der U-Bahn-Wagen auf der Strecke zwischen Alte Heide und Studentenstadt fahren. Werkstattarbeiten wurden provisorisch im Abstellgleis nördlich des U-Bahnhofs Alte Heide ausgeführt. Die drei Prototypen der künftigen Fahrzeuge drehten ihre ersten Runden noch in einem Straßenbahnbetriebshof, ehe sie 1967 auf U-Bahn-Gleise gestellt wurden. 1969 konnte bereits die Strecke zum Betriebshof Nord in Fröttmaning befahren werden. Südlich des Bahnhofs Freimann wurde ein Gleisanschluss zum Netz der Deutschen Bundesbahn gebaut, über die alle künftigen U-Bahn-Fahrzeuge angeliefert werden konnten.
Die ersten Züge fahren
Am 19. Oktober 1971 – rund drei Jahre früher als zunächst geplant – startete auf der 10,5 Kilometer langen Strecke zwischen Kieferngarten und Goetheplatz der Fahrgastbetrieb der ersten Münchner U-Bahn-Linie U6. Damit war der Anfang für das dritte U-Bahn-Netz Deutschlands nach Berlin (seit 18. Februar 1902) und Hamburg (seit 15. Februar 1912) gemacht. Die U-Bahn Nürnberg war allerdings nahezu zeitgleich zu München beschlossen worden, und bereits in Bau (Inbetriebnahme 1. März 1972), wobei man sich sehr nah an das für München vorgesehene System hielt. Dadurch wurde es möglich, dass München und Nürnberg sich in den Anfangsjahren immer wieder gegenseitig Fahrzeuge bei eigener Wagenknappheit "ausliehen". Spätere, für den jeweils individuellen Bedarf vorgenommene Umbauten verhindern inzwischen aber einen weiteren reibungslosen Austausch von Fahrzeugen.
Am 8. Mai 1972 wurde der vier Kilometer lange Abzweig Münchner Freiheit – Olympiazentrum („Olympialinie“) zum Olympiapark eröffnet und von der zweiten Münchener U-Bahn-Linie U3 (ebenfalls ab Goetheplatz) bedient. In Verbindung mit der S-Bahn, die zehn Tage zuvor ihren Betrieb aufgenommen hatte, war München für den Besucherandrang anlässlich der Olympischen Spiele gerüstet. Vom 26. August bis zum 11. September 1972 verkehrte die Linie U3 stets im 5-Minuten-Takt, bei größeren olympischen Veranstaltungen sogar alle 2½ Minuten. In 17 Tagen wurden etwa vier Millionen Besucher befördert. Für den verstärkten Betrieb wurden von der VAG aus Nürnberg vier DT1-Züge ausgeliehen, die zu den Münchner Wagen vom Typ A weitestgehend baugleich waren.
Erweiterungen 1975 und 1978
Am 22. November 1975 wurde die Verlängerung der Linien U3 und U6 vom Goetheplatz nach Harras dem Verkehr übergeben. Ein im U-Bahnhof Implerstraße gebautes drittes Gleis konnte 14 Jahre nicht genutzt werden. Diese Bauvorleistung wird erst seit 1989 benötigt, um die über einen eigenen südlichen Ast der Linie U3 verkehrenden Züge auf die gemeinsame Strecke von U3 und U6 zu führen. Vorbereitet wurde auch der Abzweig eines Verbindungstunnels zur geplanten dritten Stammstrecke (heute U4/U5).
Am 28. Mai 1978 wurde auf dem Streckenabschnitt zwischen Goetheplatz und Implerstraße der nachträglich gebaute Bahnhof Poccistraße eröffnet. Sein Bau verzögerte sich aufgrund einer geplanten Stadtautobahn, die schließlich doch nicht gebaut wurde, und musste unter laufendem Betrieb der Linien U3 und U6 erfolgen, weshalb der Bahnhof stark von den tragenden Säulen geprägt ist.
Hauptphase des Netzausbaus
Am 7. Oktober 1970 fiel der Entschluss, nur drei statt vier Stammstrecken durch das Zentrum zu bauen und in jeder Stammstrecke zwei Linienäste aus den Außenbezirken zu bündeln. Die Gründe waren einerseits die hohen Kosten der unterirdischen Bauwerke in der eng bebauten historischen Innenstadt, andererseits eine bessere Netzwirkung durch weniger Umsteigeverbindungen. Auch sollte eine Übererschließung durch zu viele Strecken vermieden werden. Die Verringerung der Anzahl an Stammstrecken erhöhte nach einer Studie des U-Bahn-Referates die Wirtschaftlichkeit der Strecken stark, auch die Umsteigebeziehungen in der Innenstadt konnten durch Bündelung entlastet werden. Etwa eine halbe Milliarde DM sollte damit eingespart werden.
Das damals geplante Liniennetz ist in seinen Grundzügen in den folgenden zwei Jahrzehnten komplett verwirklicht worden, lediglich in den Außenbezirken gab es Änderungen. Der Kern des Netzes war ein innerstädtisches Dreieck aus Hauptbahnhof, Odeonsplatz und Sendlinger Tor, das an den erwähnten, sowie an den eingeschlossenen Bahnhöfen Karlsplatz (Stachus) sowie Marienplatz, optimale Umsteigebeziehungen zwischen allen Linien und der S-Bahn-Stammstrecke ermöglichen sollte. Die Kernziele wurden damals in drei Mittelfristprogrammen festgelegt, die im Jahre 2006 nahezu erfüllt waren.
→ Tabellen: U-Bahn München – Mittelfristprogramme von 1970
Schon seit Anfang der 1970er Jahre wurde aber auch an anderen Stellen der Innenstadt und darüber hinaus gebaut. Der Bahnhofplatz war jahrelang eine Großbaustelle, da hier ein vierstöckiges Kreuzungsbauwerk der S-Bahn-Stammstrecke, der U8/U1-Stammstrecke (heute U1/U2) sowie der zukünftigen U5/U9-Stammstrecke (heute U4/U5) entstand. Die Breite und Tiefe des Bauwerks machten hier eine Schlitzwand-Deckelbauweise erforderlich, bei der zuerst die Seitenwände und der Deckel des Bauwerks erstellt werden und erst danach die einzelnen Etagen von oben nach unten. Zwischen Scheidplatz, wo die neue Strecke in die Olympialinie einfädelte (sich mittlerweile mit ihr kreuzt), und der neuen Großsiedlung in Neuperlach wühlten sich die Baumaschinen über Hauptbahnhof, Sendlinger Tor, Giesing und Michaelibad schließlich bis Neuperlach Süd, wo eine zweite große Abstellanlage entstand. Am 18. Oktober 1980 wurde dieser Abschnitt eröffnet, er ist mit etwa 16 km der bisher längste in einem Stück eröffnete Abschnitt der Münchner U-Bahn.
Die Anbindung der neuen Großsiedlung in Neuperlach mit der U-Bahn war nicht unumstritten, die Deutsche Bundesbahn favorisierte eine Anbindung durch ihre S-Bahn-Tunnelstrecke, weswegen sogar eine Aufweitung des Tunnels für eine spätere Einfädelung dieser Strecke zwischen Rosenheimer Platz und Ostbahnhof mitgebaut wurde. Dieser Streit, der schließlich zugunsten der U-Bahn ausging, verzögerte die Planung und die Bauarbeiten zur zweiten U-Bahn-Stammstrecke um mehrere Jahre und ermöglichte erst 1980 eine Eröffnung.
Zur Internationalen Gartenbauausstellung 1983 im Westpark wurden am 16. April 1983 die U3 und U6 um drei Bahnhöfe bis Holzapfelkreuth verlängert („Blumenlinie“), nur wenige Wochen später am 28. Mai ging der Abzweig der U1 zum Rotkreuzplatz in Betrieb. Mit gut 40 km und zwei Stammstrecken mit insgesamt vier Linien waren nur zwölf Jahre nach Betriebsaufnahme die Innenstadt und einzelne Außenbezirke schon gut erschlossen, dennoch ging der Ausbau weiter.
Schon am 10. März 1984 wurde das erste Teilstück der U5/U9-Stammstrecke (heute U4/U5) von der Westendstraße bis zum Karlsplatz (Stachus) eröffnet. Da sonst keine Verbindung zum restlichen Netz und vor allem zur Technischen Basis in Fröttmaning bestand, wurde unter der Theresienwiese ein Tunnel mit einer zweigleisigen Abstellanlage gebaut, der die Stummelstrecke mit dem Bahnhof Implerstraße und damit dem Restnetz verbindet. Fahrten mit Fahrgästen fanden auf diesem Abschnitt bisher nur als Baustellenumleitungen statt.
Die U5 wuchs rasch, am 1. März 1986 wurde mit dem Odeonsplatz auch die Stammstrecke der U3 und U6 erreicht, am 24. März 1988 wurde die Linie im Westen um zwei Bahnhöfe bis zum Laimer Platz verlängert. Am 27. Oktober desselben Jahres eröffnete man schließlich die beiden Linienäste über Max-Weber-Platz zum Innsbrucker Ring bzw. zum Arabellapark. Die U5 teilte sich von nun an bis 1999 die Strecke nach Neuperlach Süd mit der U2. Diese Eröffnung sollte für die U4 und U5 bis heute die letzte sein. Erweiterungen sind im Westen nach Pasing beziehungsweise in die Blumenau angedacht, im Osten soll die U4 bis Englschalking verlängert werden. Beide Baumaßnahmen sind angesichts der engen Haushaltslage und des vergleichsweise geringen Nutzens aber mittelfristig nicht zu erwarten. Die Relation Pasing–Hauptbahnhof wird außerdem bereits von vier S-Bahn-Linien und einer Straßenbahnlinie bedient.
Weiterer Ausbau zum heutigen Netz
Etwa ein Jahr später, am 27. Oktober 1989, wurde der Südast der U3 von der Implerstraße bis zur Forstenrieder Allee eröffnet, die U6 bediente den Abschnitt bis Holzapfelkreuth nun alleine. Am 1. Juni 1991 folgte die Verlängerung bis Fürstenried West, wo auch heute der südliche Endpunkt der U3 ist.
1993 wurden die beiden Hauptlinien U2 und U6 verlängert: Seit 22. Mai fährt die U6 im Süden bis zu ihrem aktuellen Endpunkt am Klinikum Großhadern, seit 20. November zweigte die U2 am Scheidplatz ab und fand an der Dülferstraße ihre vorläufige Endstation. Die U6 wurde schon am 30. Juni 1994 abermals verlängert, dieses Mal im Norden um eine Station nach Fröttmaning. Der Bahnhof entstand neben der Technischen Basis, sodass kein Streckenneubau nötig war. Er erschließt kein Wohngebiet, stattdessen wurde zwischen U-Bahnhof und Autobahn A 9 ein großes Park-and-Ride-Parkhaus errichtet, welches Autofahrer dazu bewegen soll, nicht mit dem Kfz in die Innenstadt zu fahren, sondern hier in die U-Bahn umzusteigen. Außerdem wurden die Abfahrten vieler internationaler Fernbuslinien aus der Innenstadt hierher verlegt. Zwischen 2002 und 2005 wurde der Bahnhof um etwa 150 Meter verlegt, sodass der bisherige Nord- zum neuen Südzugang wurde, und auf vier Gleise erweitert. Dadurch wird die 2005 eröffnete Allianz Arena besser erschlossen, und die zu erwartenden Fahrgastmengen werden entzerrt.
Da nördlich der Nachbargemeinde Garching seit den 1980er Jahren eine Konzentration von Forschungsinstituten geplant war, gab es seither auch Pläne, die U6 bis dorthin zu verlängern. In einem ersten Schritt fuhr die U6 erstmals am 28. Oktober 1995 bis Garching-Hochbrück, die erste und bisher einzige Strecke, die die Stadtgrenze überquert. Die weitere Strecke bis Garching Forschungszentrum wurde im Oktober 2006 eröffnet (siehe unten).
Am 26. Oktober 1996 wurde die U2 im Norden um zwei Bahnhöfe bis zum S-Bahnhof Feldmoching verlängert, am 9. November 1997 folgte der südliche Ast der U1 bis zum Mangfallplatz. Ein halbes Jahr später, am 23. Mai 1998, wurde auch der Nordast der U1 um zwei Bahnhöfe bis zum Westfriedhof verlängert. Bei diesen sowie auch bei den meisten Eröffnungen seit Anfang der 1990er Jahre hatte sich das U-Bahn-Referat verstärkt auch um die Gestaltung der Bahnhöfe Gedanken gemacht und jeden Bahnhof mit einem eigenen Charakter versehen bzw. versehen lassen. So spiegelt zum Beispiel die Wandverkleidung im Bahnhof Feldmoching das dörfliche Leben dort wider, die Bahnhöfe Dülferstraße und Candidplatz sind farbenfroher als die meisten anderen Bahnhöfe.
Mit diesen Netzerweiterungen einher ging die Stilllegung zahlreicher Tramstrecken, darunter des gesamten Südwest-Netzes und der stadtbahnartig ausgebauten Trasse ins Hasenbergl. Bis in die 1980er Jahre hinein herrschte in der Politik noch die Absicht vor, das Trambahnnetz komplett durch U-Bahnen zu ersetzen, erst Anfang der 1990er Jahre setzte hier ein Umdenken ein. Dies verhalf der Trambahn zu einer Renaissance, als Ergänzung zur U-Bahn.
Am 29. Mai 1999 wurde wieder ein Linienast eröffnet, als die U2 ab Innsbrucker Ring über Trudering bis zur Neuen Messe in Riem verlängert wurde. Die Bauarbeiten für diesen knapp 8 km langen Abschnitt hatten sich 1994 durch einen schweren Unfall in Trudering verzögert. Dort war ein Linienbus in einen Stollen des künftigen U-Bahnhofs eingebrochen, mehrere Fahrgäste fanden im Krater den Tod. Dieser Zwischenfall verlängerte die Bauzeit und erhöhte die Baukosten für diese Strecke signifikant, so dass zur Eröffnung des neuen Messegeländes nur ein massiver Bus-Pendelverkehr als ÖPNV-Anbindung angeboten wurde. Um die Baukosten in Grenzen zu halten, wurden die Bahnhöfe im Stil „veredelter Rohbau“ realisiert.
Die Verlängerung der U6 nach Garching Forschungszentrum zum 14. Oktober 2006 band die Stadt Garching sowie die Hochschul- und Forschungsinstitute im Forschungsgelände Garching verkehrstechnisch deutlich besser an, als es die vorherige Bus-Anbindung ab Ismaning beziehungsweise Garching-Hochbrück zuließ. Diese Verlängerung wurde notwendig, da sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr Institute im Forschungsgelände ansiedelten, darunter besonders viele der TU München. Inzwischen arbeiten hier mehr als 10.000 Studenten und Angestellte, sodass die Erschließung mittels Bus- und Individualverkehr an ihre Kapazitätsgrenzen stieß.
Direkt nach dem Bahnhof Garching-Hochbrück beginnt die Tunnelrampe unter der Stadt Garching, wo in 17 Metern Tiefe in bergmännischer Bauweise zwei mit Querschlägen verbundene Bahnsteige gebaut wurden, ähnlich wie in Trudering. Nach dem Stadtgebiet taucht die Strecke nach ca. drei Kilometern wieder aus dem Untergrund auf und führt bis kurz vor dem unterirdischen Bahnhof Forschungsgelände ca. 1000 Meter weit oberirdisch über Felder. Unter Garching selbst sowie unter dem Forschungsgelände wurden die Gleise in elastisch gelagerten Gleiströgen verlegt, um Anwohner und empfindliche Messeinrichtungen in den Instituten nicht durch Erschütterungen zu beeinträchtigen. Im Abschnitt zwischen Hochbrück und Garching wurden Unterschottermatten verwendet, die nur eine geringere Dämpfung ermöglichen. Der oberirdische Abschnitt hat keine Dämpfung.
Die Aktivitäten der Abteilung U-Bahn-Bau des Baureferats konzentrierten sich nun auf den Stadtteil Moosach: hier sollten sowohl die U3 als auch die U1 noch weiter verlängert werden. Den Anfang machte die Verlängerung der U1 zum Georg-Brauchle-Ring am 18. Oktober 2003, ein Jahr später am 31. Oktober 2004 erreichte sie schließlich das Olympia-Einkaufszentrum (OEZ), wo darunter der Kreuzungsbahnhof der U3 bereits im Rohbau fertiggestellt war. Die U3 führte seit dem 28. Oktober 2007 bis zum Olympia-Einkaufszentrum, seit dem 11. Dezember 2010 führt sie bis zum S-Bahnhof Moosach.
Die lange Verzögerung der Strecken nach Moosach rührt daher, dass lange Uneinigkeit darüber herrschte, ob die U1 oder die U3 zum Moosacher Bahnhof führen sollte. Auch die Streckenführung und die Lage der Bahnhöfe führten zu vielen Diskussionen, die erst spät ausgeräumt werden konnten. Der Kreuzungsbahnhof am Olympia-Einkaufszentrum war die teuerste vorgeschlagene Lösung, aber auch die mit dem größten verkehrlichen Nutzen.
Mittelfristig dürften noch einige Linienverlängerungen um einzelne Bahnhöfe zu erwarten sein, die meisten Linien müssten dazu allerdings die Stadtgrenze überqueren und weiter ins Umland vordringen.
Sanierung älterer Anlagen
Die teilweise mittlerweile 50-jährigen Bauwerke benötigen aber auch optische wie funktionelle Auffrischungen. Betonsanierungen und Austausch der Technik (wie z. B. von Rolltreppen in größerer Stückzahl) beschäftigen die Mitarbeiter der Münchner Verkehrsgesellschaft und des Baureferates auch weiterhin. Umbauten wie die nachträglich erstellten zusätzlichen Bahnsteigtunnel am Marienplatz erfordern ähnlichen Aufwand wie ein gänzlicher Bahnhofsneubau, zumal sie unter laufendem Betrieb stattfinden müssen. Bis Ende 2008 fand eine grundlegende Sanierung und Modernisierung des Bahnhofs Neuperlach Süd statt, durch die auch der Linienverkehr etwas beeinträchtigt wurde. Des Weiteren wurde auch der U-Bahnhof Freimann saniert. Dabei erhielt er eine neue Dachkonstruktion und – als letzter Bahnhof der Münchner U-Bahn – einen rollstuhlgerechten Zugang mittels Fahrstühlen. Ab Mai 2008 bis Ende 2009 wurde ebenfalls der U-Bahnhof Münchner Freiheit komplett saniert und modernisiert.
Nach einer Modernisierung des Sperrengeschosses am Karlsplatz (Stachus) erfolgte ab Mitte 2011 die Modernisierung des Zwischengeschosses des Hauptbahnhofes. Wegen Schäden der Bausubstanz durch Feuchtigkeit und vor allem durch aggressive Streusalzrückstände wurden die Gebäudehülle und die Bewehrung während des laufenden Betriebes erneuert. Im Februar 2014 wurde das modernisierte Zwischengeschoss eröffnet.
Seit 2017 wird der Bahnhof Sendlinger Tor umfangreich umgebaut und saniert. Es werden zusätzliche Zugänge und erweiterte Wegeführungen gebaut. Die Gestaltung des umgebauten U-Bahnhofes wird in den Farben gelb und blau ausgeführt. Die Zugangsbereiche und die unterste Ebene mit den Bahnsteigen der U1/U2/U7/U8 werden in gelb und die der U3/U6 in blau gestaltet. Die Arbeiten sollen 2023 abgeschlossen werden.
Ehemalige Linien
U1 (1980)
Am 19. Oktober 1980 wurde die U1 zu den Hauptverkehrszeiten als Verstärkerlinie der neugebauten U8 (jetzt U2) zwischen Hauptbahnhof und Innsbrucker Ring eingeführt. Schon nach wenigen Wochen wurde sie aber wegen Fahrplanproblemen (zu kurze Wendezeit am Hbf) eingestellt. Einige deutsche Zeitungen vermeldeten damals sogar die Einstellung einer neugebauten U-Bahn-Linie.
U5 (1972/1973)
Zu Anfang des Linienbetriebs der Münchner U-Bahn gab es eine kurzlebige Verstärkerlinie U5 zwischen Münchner Freiheit und Goetheplatz, nach nur gut einem Jahr wurde diese Linie zum 2. Juli 1973 wieder eingestellt und die Fahrten in die Linie U6 eingegliedert.
U7 (1999–2006)
Die Verstärkerlinie verkehrte nur montags bis freitags in der Hauptverkehrszeit von Rotkreuzplatz bis Kolumbusplatz (gesamter Linienweg in der U1 enthalten, in der Regel nur Kurzzüge) sowie bei Großmessen zusätzlich nach Messestadt Ost (ab Kolumbusplatz Linienweg der U2, in der Regel Langzüge). Sie wurde 1999 mit der Eröffnung der U2 zur Messestadt Ost eingeführt.
Am 8. Dezember 2006 entfiel die U7, stattdessen wurde die U1 in der Hauptverkehrszeit zwischen Westfriedhof und Sendlinger Tor auf einen 5-Minuten-Takt verstärkt.
Zum Fahrplanwechsel am 12. Dezember 2011 wurde die U7 zwischen Westfriedhof und Neuperlach Zentrum wieder eingeführt.
U8 (1980–1988)
Zwischen 1980 und 1988 trug die heutige U2 die Bezeichnung U8. Sie verkehrte damals vom Olympiazentrum nach Neuperlach Süd.
U8 (1999–2006)
Bis zum 9. Dezember 2006 war die U8 die Bezeichnung für die Verstärkerlinie zwischen Harthof und Neuperlach Zentrum, die zur Eröffnung der U2 zur Messestadt Ost im Mai 1999 eingeführt wurde. Sie verkehrte von Feldmoching bis Innsbrucker Ring über den Linienweg der U2 und ab dort auf dem Weg der U5 bis Neuperlach Zentrum. Sie fuhr montags bis freitags jeweils zu den Hauptverkehrszeiten, freitags jedoch nur vormittags. Damit sollte der Wegfall der U2 zwischen Innsbrucker Ring und Neuperlach Süd kompensiert werden.
Am Freitagnachmittag (sowie zu einzelnen Ausrückfahrten an anderen Wochentagen) verkehrte die U8 ab Olympiazentrum. Sie befuhr dann als einzige Linie alle drei Stammstrecken: Olympiazentrum bis Scheidplatz über den Linienweg der U3, anschließend bis Innsbrucker Ring auf dem Weg der U2 und von dort aus bis Neuperlach Zentrum auf dem Weg der U5.
Am 8. Dezember 2005 wurde die U8 an ihrem Nordende verkürzt, der Abschnitt Feldmoching – Harthof wurde seitdem von der U8 nicht mehr fahrplanmäßig befahren. Am Nordende der U2 ergab sich deshalb auch in den Hauptverkehrszeiten ein 10-Minuten-Takt.
Am 8. Dezember 2006 wurde die Linie U8, die bis dahin zwischen Harthof und Neuperlach Zentrum verkehrte, eingestellt. Stattdessen bedient die U2 den Streckenabschnitt zwischen Harthof und Messestadt Ost im 5-Minuten-Takt während der Hauptverkehrszeiten.
U2E/U8 (2006–2010)
Seit Dezember 2006 verkehrte an Freitagen außerhalb der Schulferien nachmittags eine Verstärkerlinie zwischen Harthof und Neuperlach Zentrum, an Ferienfreitagen zwischen Milbertshofen und Kolumbusplatz. In der Online-Fahrplanauskunft des MVV wurde diese als U2E bezeichnet. An den Fahrzeugen und in den Stationen wurde sie teilweise als U8 ausgeschildert. Durch die Linienführung hielten diese Züge am Bahnhof Innsbrucker Ring auf dem Gleis der U2 und fuhren von dort in Richtung Neuperlach weiter. Zum Fahrplanwechsel am 12. Dezember 2010 wurden die Verstärkerfahrten bis Innsbrucker Ring verkürzt und in den Fahrplan der U2 integriert.
Strecken- und Linienchronik
Änderungen im Liniennetz, bei denen bestehende Streckenabschnitte von anderen Linien befahren werden, sind kursiv dargestellt. Bei grau unterlegten Zellen wurde die Linie von dem Abschnitt zurückgezogen.
Quelle: Landeshauptstadt München, Baureferat
Fahrbetrieb
Die U-Bahn in München fährt auf Normalspurgleisen mit der Spurweite 1435 mm, die Stromversorgung der Triebzüge erfolgt über eine außen seitlich angebrachte Stromschiene. Die Betriebsspannung beträgt 750 V Gleichspannung, etwa alle zwei Streckenkilometer befinden sich Gleichrichterwerke zur Speisung der Stromschienen, die ihre Energie aus dem 10-kV-Drehstromnetz der Stadtwerke München beziehen. Die Steuerung und Überwachung der Gleichrichterwerke erfolgt über die Schaltwarte in der Stadtwerkezentrale.
Das Profil der Bahnsteige ist für eine Fahrzeugbreite von 2900 mm und eine Fußbodenhöhe von 1100 mm über Schienenoberkante (SOK) ausgelegt, die Bahnsteighöhe beträgt 1000 mm und ab 1987 1050 mm über SOK. Zwillingsbahnsteige, die getrenntes Ein- und Aussteigen ermöglichen (Spanische Lösung), wurden im Gegensatz zur Münchner S-Bahn-Stammstrecke bei der U-Bahn nicht errichtet.
U-Bahn-Betriebszentrale
Der gesamte Fahrbetrieb wird über die Münchner U-Bahn-Betriebszentrale (UBZ) in der Emmy-Noether-Straße überwacht und gesteuert. Von dort werden unter anderem die Streckenstellwerke, die über das U-Bahn-Netz verteilt liegen, ferngesteuert. Dies geschieht im Regelfall automatisch und wird von den Stellwerkern überwacht, die nur im Ausnahmefall, zum Beispiel bei Störungen, eingreifen. Für die Zugeinsätze, die Pünktlichkeit und Umleitungen im Störungsfall sind die Disponenten verantwortlich, die ebenfalls in der U-Bahn-Betriebszentrale untergebracht sind. Auch die Fernsehbilder der Überwachungskameras und die Verbindungen der Notrufeinrichtungen in den U-Bahnhöfen laufen in der UBZ zusammen.
Über das sogenannte VIP-Net („Video-, Informations- und Prozessnetz“) können sämtliche Anlagen wie Kameras, Rolltreppen, Aufzüge und Fahrkartenautomaten überwacht und teilweise ferngesteuert werden.
Fahrzeuge
Die Münchner U-Bahn setzt elektrische Triebfahrzeuge aus drei Fahrzeuggenerationen ein, die als Baureihe A, B und C bezeichnet werden.
Typ A
Die zwischen 1967 (drei Prototypen) und 1983 hergestellten Züge vom Typ A sind als Doppeltriebwagen (DT) ausgeführt, deren Nord- und Südteil im Normalbetrieb immer kurzgekuppelt sind. Über den Kupplungen sind die Triebwagen jeweils 37,15 Meter lang, 3,55 Meter hoch und 2,9 Meter breit. Jeder DT hat auf beiden Seiten sechs zweiflügelige Türen und eine Kapazität von 98 Sitz- und 192 Stehplätzen. Die reguläre Höchstgeschwindigkeit beträgt 80 km/h, die Motorleistung 721 kW und das Gewicht zwischen 51,6 und 53,2 Tonnen (Typ A2.5 und A2.6).
Insgesamt wurden 194 A-Züge in sechs Serien geliefert, wovon sechs Einheiten mittlerweile an die VAG Nürnberg verkauft wurden. Vier weitere Einheiten waren zwischenzeitlich nach Nürnberg verliehen, sind aber wieder zurückgekehrt. Drei Einheiten wurden nach Unfällen verschrottet, zwei Prototypen sind ausgemustert. Nach der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 war geplant, einen nennenswerten Teil der älteren A-Triebwagen durch Einheiten vom Typ C zu ersetzen, dies verzögerte sich aber, da die C-Züge teilweise wegen Qualitätsmängeln an den Radsatzwellen vorübergehend stillgelegt werden mussten. Aufgrund gestiegener Verkehrsleistungen werden die A-Triebwagen auch weiterhin gebraucht.
Fahrzeuge des Typs A kommen gegenwärtig auf allen Linien zum Einsatz, insgesamt sind noch 179 Einheiten im Bestand der MVG.
Typ B
Die zwischen 1981 und 1995 beschafften Züge des Typs B mussten den gestiegenen Fahrzeugbedarf nach den vollzogenen und erwarteten Netzerweiterungen der 1980er-Jahre decken. Es wurden ähnlich wie beim Typ A vor der Lieferung der ersten Serienfahrzeuge sechs Prototypen geordert. Bis zur Auslieferung der Serienfahrzeuge vergingen allerdings wegen diverser technischer Kinderkrankheiten der Prototypen noch sechs Jahre, während derer noch zwei Lieferungen (A2.5 und A2.6) des bewährten, aber eigentlich schon veralteten Typs A bestellt wurden.
Die Änderungen an den schließlich gelieferten Serienfahrzeugen führten dazu, dass die Prototypen anfangs nicht in einem Zugverband mit den Serienfahrzeugen laufen konnten, so dass diese zwischen 1992 und 1995 umgebaut werden mussten, um die Kompatibilität herzustellen.
Die Abmessungen entsprechen denen der Baureihe A, optisch unterscheidbar sind die Züge vor allem durch die durchgezogene Frontscheibe des Typs B und die bei den 1994/95 beschafften 22 Einheiten (Typ B2.8) neu eingeführte Matrixanzeige als Zugzielanzeiger an der Stirnseite. Die Wagen des Typs B verfügen im Gegensatz zu den Gleichstrom-Motoren des Typs A über Drehstrom-Motoren.
Insgesamt wurden 63 Einheiten geliefert. Fünf der sechs Prototypen wurden zwischen 2005 und 2007 ausgemustert, außer Einheit 498, da diese von Siemens als Erprobungsträger für die Syntega-Technik eingesetzt wurde. Vor Ausmusterung des Wagens 7497 wurde der dazugehörige Führerstand abgetrennt und an das MVG-Museum verkauft, das diesen für den Bau eines Fahrsimulators verwendete. Die Wagen des Typ B werden auf allen Linien eingesetzt, sind aber mit der Baureihe A nicht im Regelbetrieb kuppelbar.
Insgesamt sind noch 57 Fahrzeuge des Typ B im Bestand der MVG.
Typ C
Nachdem die ersten Fahrzeuge des Typs A Ende der 1990er-Jahre mit 30 Jahren Betriebsdauer am Ende ihrer betriebswirtschaftlich sinnvollen Nutzbarkeit angelangt waren, begann die Beschaffung eines Typs C. Ein weiterer Beweggrund war der erhöhte Bedarf an Fahrzeugen für die Streckenverlängerungen der U1 und U3 nach Moosach und der U6 nach Garching.
Erstmals wurde ein Zug mit sechs durchgängig verbundenen Wagenkästen gebaut, der also nur in der vollen Länge (äquivalent zu drei Einheiten Typ A oder B) verkehrt, ähnlich der Baureihe H der Berliner U-Bahn. In der Werkstatt können die Sechswagenzüge bis auf einen Mittelwagen verkürzt werden, was aber in der Regel nur zu Wartungszwecken geschieht. Bei Wagenmangel verkehren vereinzelt auch Züge mit fünf Wagen, zum Beispiel während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 auf der U4 und im April 2007 auf der U1 und U6. Der sechsgliedrige Zug hat im ersten und letzten Wagen Reihensitze in Längsrichtung. Auch vor und hinter den Wagenübergängen befinden sich jeweils drei hölzerne Reihensitze auf jeder Seite. In den Mittelwagen sind Vis-à-vis-Sitzgruppen vorzufinden.
Diesmal verzichtete man auf Prototypen und bestellte gleich eine Lieferung von zehn Sechswagenzügen. Seit dem 11. November 2002 gingen nach diversen Verzögerungen die ersten Einheiten der neuen Wagengeneration in Betrieb, die nun auch über computergesteuerte optische und akustische Fahrgastinformationssysteme verfügen. Insgesamt gibt es zehn Fahrzeuge vom Typ C1.9 sowie acht Fahrzeuge des lediglich geringfügig abgewandelten Typs C1.10. Sie werden auf allen Linien eingesetzt, auf der U4 aber nur in seltenen Fällen, wenn dort nicht, wie meist der Fall, Kurzzüge verkehren.
Zwischen Dezember 2006 und April 2007 waren alle zehn Züge vom Typ C1.9 zeitweilig außer Betrieb, da Probleme mit den Radsatzwellen festgestellt wurden.
Zwischen Ende 2013 und 2015 war die Inbetriebnahme 21 weiterer Fahrzeuge in einer verbesserten Version C2 avisiert, die äußerlich und von der Innenausstattung dem C1 stark ähneln. Der Start des ersten Zuges dieser Serie erfolgte allerdings mit zweieinhalb Jahren Verspätung im Juni 2016.
Weitere 24 Fahrzeuge vom Typ C2 (MVG-Serienbezeichnung C2.12) wurden nach Auslösung der 1. Option zwischen 2019 und Anfang 2022 geliefert und in Betrieb genommen.
Mitte 2020 wurde die zweite Option über 22 weitere C2-Züge eingelöst. Die Auslieferung begann im April 2022 mit voraussichtlichem Abschluss 2024.
Auch diese Züge wurden als Sechswagenzüge bestellt. Durch eine Reduzierung der Anzahl der Sitzplätze bietet der Innenraum dann Platz für 940 Fahrgäste, im Vergleich zu 912 bei den Modellen C1.9 und C1.10. Mit dieser Bestellung will die Münchner Verkehrsgesellschaft ihre Angebotsoffensive mit dichteren Taktfolgen von zweieinhalb auf zwei Minuten auf Teilstrecken umsetzen sowie die ältesten Fahrzeuge vom Typ A ersetzen.
Nach einer Ausschreibung der Stadtwerke München ab dem 24. September 2021 wurde Siemens Mobility mit der Lieferung 18 zusätzlicher C2-Züge beauftragt. Zur Außerdienststellung der letzten Fahrzeuge der A-Serie bis spätestens Ende 2025, sollen nach der Auslieferung 2024 und 2025 18 weitere sechsteilige Gliederzüge die Flotte der U-Bahn verstärken.
Typ D
Die Stadtwerke München kündigten im September 2021 eine neue Fahrzeuggeneration an.
Einsatz
Auf allen Linien außer der U4 verkehren tagsüber fast ausschließlich Züge bestehend aus drei Doppeltriebwagen der Typen A oder B oder einem Triebzug vom Typ C. Bei schwächerer Auslastung, zum Beispiel im Früh- und Spätverkehr, verkehren sogenannte Kurzzüge aus nur zwei Doppelwagen der Typen A oder B. Die Zuglänge wird auf den Zuganzeigebildschirmen angezeigt, die Halteposition der Kurzzüge ist den Bildschirmen und Hinweisbeschriftungen am Gleis entnehmbar.
Während einiger Großeinsätze kam es zum vorübergehenden Wagenaustausch zwischen der U-Bahn Nürnberg und München, z. B. während der Olympischen Spiele 1972, des Nürnberger Christkindlesmarktes 1978 oder des Papstbesuchs 1980. Die erste Wagengeneration in Nürnberg war ursprünglich mit den Zügen vom Typ A baugleich, spätere Umbauten verhindern mittlerweile ein Kuppeln der Züge.
Alle Züge haben eine zugelassene Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h, die mittlere Reisegeschwindigkeit der Münchner U-Bahn beträgt 36 km/h.
Das Münchner U-Bahn-Netz ist ebenso wie das in Wien bereits seit seiner Inbetriebnahme mit dem Kurzschleifensystem LZB 500 (LZB 502/512) ausgestattet. Im Gegensatz zum Wiener U-Bahn-Netz verzichtete man nicht auf ortsfeste Signale. Bis Mitte der 1990er Jahre wurde ausschließlich von Hand nach ortsfesten Signalen (FO) gefahren. Erst danach wurde die LZB abschnittsweise, damals noch mit hell geschalteten Signalen, aktiviert.
Im Regelbetrieb wird tagsüber mit LZB gefahren. Abends ab 23 Uhr bis Betriebsschluss und jeweils der erste Zug morgens wird von Hand und unter Beachtung der ortsfesten Signale gefahren, auch damit die Fahrer im Handfahrbetrieb (sog. „Fahren nach ortsfesten Signalen (FO)“) geübt bleiben. Früher wurde nach 21 Uhr sowie sonntags von Hand gefahren. Es ist dabei vorgeschrieben, dass jeder Fahrer eine bestimmte monatliche Anzahl an Fahrstunden nach ortsfesten Signalen erreichen muss.
Beim „Fahren nach LZB“ bedient der Fahrer nach dem Aufstarten bzw. nach jeder Zugabfertigung gleichzeitig zwei Starttasten. Anschließend überwacht der Fahrer den Gleisraum, bedient die Türen, übernimmt die Zugabfertigung und steht für den Störungsfall bereit. Dabei kann der Fahrer sowohl manuell anhand der im Fahrerstand angezeigten Maximalgeschwindigkeit als auch mit Automatischer Fahr- und Bremssteuerung (AFB) fahren; ortsfeste Signale sind in beiden LZB-Fahrweisen dunkelgeschaltet. Die zugnummernabhängige Umschaltung zwischen „Fahren nach ortsfesten Signalen (FO)“ und „Fahren nach LZB“ erfolgt stellwerkseitig, das heißt inzwischen per Fernsteuerung von der U-Bahn-Betriebsleitzentrale aus. Bei Störungen der Zugsicherung wird manuell auf Ersatzsignal gefahren.
Die Münchner U-Bahn ist standardmäßig mit 78 m langen LZB-Schleifen ausgestattet, die im Gefälle der Regelfahrtrichtung entsprechend verlängert werden. Dadurch wird zumindest in Regelfahrtrichtung der LZB-Standardbremsweg über stets drei LZB-Schleifen gewährleistet; eine weitere LZB-Schleife dient der sicheren Abstandshaltung. Dabei kann ein nachfolgender Zug auf bis zu 80 Meter auf einen an einem Bahnsteig stehenden oder aus dem Bahnsteig ausfahrenden Zug aufrücken. In der LZB können zusätzliche Haltepositionen festgelegt werden. Im Bereich der Bahnhöfe werden aufgrund der Bahnsteiglänge von 120 m die LZB-Schleifen so angeordnet, dass am jeweiligen Ausfahrsignal ein Durchrutschweg von 96 m in der Ebene resultiert.
Erwogen wurde zeitweise außerdem, die sogenannte „fahrerlose Wende“ nachzurüsten und somit die an Endhaltestellen nötige Wendefahrt ohne Fahrer durchzuführen. Die Motivation hierfür sind kürzere Wendezeiten, die zu Kosteneinsparungen führen würden.
Da die Elektrik in den Kupplungen der Fahrzeuge nur halbseitig ausgelegt ist, können alle Züge nur in eine Richtung gekuppelt werden. Dies führt zu der oben erwähnten Besonderheit des Nord- und Süd-Endes einer Strecke (siehe U4). Das „Nordende“ eines Zuges kann nur mit dem „Südende“ eines anderen gekuppelt werden. Deshalb gibt es im gesamten Netz keine Gleisanlage, die das Drehen des Zuges ermöglicht (also keine Dreiecksfahrten).
Spezialfahrzeuge
Zum Transport von Baumaterialien, Gleisen oder neuen Rolltreppen stehen einige Schwerkleinwagen mit Kran sowie eine Diesel- und zwei Akkuloks mit Flachwagen, Schotterwagen und Wagen mit aufgebauter Hebebühne zur Verfügung. Neben einigen weiteren Spezialfahrzeugen besaß die Münchner Verkehrsgesellschaft ab 2004 einen auf den Namen „Schlucki“ getauften Staubsaugerzug (VakTrak), der in der Betriebsruhe sukzessive das Gleisbett von Dreck und Müll reinigte. Der 56 Meter lange Spezialzug durchfuhr das Netz mit einer Geschwindigkeit von bis zu 10 km/h mit einem Reinigungsluftdurchsatz von 300.000 m³/h. In Deutschland war dieser Zug einmalig. Die Münchner Verkehrsgesellschaft verkaufte den Staubsaugerzug aufgrund von häufigen Standzeiten durch Defekte und gestiegenen Sicherheitsanforderungen. Er verließ München im Februar 2023.
Unfälle
Am 20. September 1994 stürzte in der Truderinger Straße ein Bus der Linie 192 rückwärts in ein plötzlich entstandenes, großes Loch in die Tiefe; der Bus verschwand fast vollständig in dem Wasser, das die Straße unterspült hatte. Ursache waren Ausspülungen beim Bau der U-Bahn. Drei Todesopfer und eine zweistellige Zahl von Verletzten waren die Folge.
Am 10. Juni 2009 stürzte am Bahnhof Silberhornstraße eine blinde Frau beim Versuch, die Bahn zu betreten, in den Spalt zwischen zwei U-Bahn-Waggons und wurde vom anfahrenden Zug getötet.
Am 28. Mai 2017 geriet ein betrunkener 21-jähriger bei einem schnellen Lauf neben einer abfahrenden U-Bahn ins Gleisbett und wurde von der Bahn mitgerissen und getötet.
Im Juli 2021 stürzte – ebenfalls am Bahnhof Giselastraße – ein 76-jähriger offenbar ohne Fremdeinwirkung rückwärts ins Gleisbett und wurde von einer einfahrenden U-Bahn tödlich verletzt.
Bislang mussten drei Doppeltriebwagen unfallbedingt aus dem Fahrzeugbestand gestrichen werden, im Fahrgastbetrieb der Münchner U-Bahn kam es aber bisher zu keinen schweren Unfällen, bei denen Fahrzeuge beschädigt wurden.
Zwei DT (149 und 176) wurden am 5. September 1983 bei einem Brand in einer Abstellanlage komplett zerstört. Wegen des Ausfalls eines Lüfters der Bremswiderstände nahm man den Zug am Hauptbahnhof aus dem Plandienst und brachte ihn in die nördlich anschließende Kehranlage Königsplatz. Dort fingen die Wagen dann Feuer, beide Einheiten brannten dabei aus. Die Tunneldecke der Abstellanlage wurde ebenfalls schwer beschädigt, der reguläre Verkehr konnte jedoch schnell wieder aufgenommen werden, auf der U1 bereits nach wenigen Stunden. Ein Teil einer der beiden Einheiten kann zusammen mit Einsatzprotokollen und Fotos im Münchner Feuerwehrmuseum besichtigt werden. Ein anderer Teil wurde 1985 bei einem Brandversuch des Forschungs- und Versuchsamts des Internationalen Eisenbahnverbandes in einem stillgelegten norwegischen Eisenbahntunnel benutzt und anschließend verschrottet.
Ein weiterer DT wurde am 28. Dezember 1995 durch einen Verschubunfall schwer beschädigt, als beim Aufkuppeln zu schnell gefahren wurde. Der stark beschädigte DT war der Prototyp 092. Die unversehrte Hälfte wird seit 2006 im Verkehrszentrum des Deutschen Museums in der Abteilung „Städtischer Schienenverkehr“ ausgestellt.
Sicherheit
Die U-Bahn-Fahrer werden unter anderem an einem Fahrsimulator in der technischen Basis in Fröttmaning ausgebildet.
Die Türen fast aller Züge verfügen mittlerweile über eine Einklemmerkennung sowie eine optische und akustische Signalisierung des Schließvorganges. Notsprechstellen in jedem Türbereich ermöglichen eine direkte Kommunikation mit dem Fahrer. Alle Bahnhöfe verfügen über Nothaltsysteme, mit denen die Einfahrt in ein Gleis von Fahrgästen gesperrt werden kann, wenn zum Beispiel eine Person in den Gleisbereich geraten ist. Die Betätigung des Nothalts aktiviert Nothaltsignale, die sich unmittelbar vor und kurz hinter dem Bahnhof im Tunnelbereich befinden. Diese veranlassen den Fahrer, sofort eine Notbremsung einzuleiten. Bei Automatikbetrieb wird der U-Bahn-Zug automatisch gebremst.
Eine Besonderheit ist die halbkommunale Einrichtung der U-Bahn-Wache, die für Sicherheit in der U-Bahn und in den U-Bahnhöfen sorgt und bei Großeinsätzen wie Fußballspielen auch die Abfertigung der Fahrzeuge an Knotenbahnhöfen wie dem Marienplatz unterstützt.
In sämtlichen Bahnhöfen sind insgesamt 121 halbautomatische Defibrillatoren für die Erste Hilfe bei Herz-Kreislauf-Stillstand (Kammerflimmern) installiert.
In der Nacht zum 26. April 2013 wurden am U-Bahnhof Rotkreuzplatz drei unterschiedliche Systeme zur Gleisbettüberwachung offiziell in Betrieb genommen. Dabei kommen Laser-, Radar- und Videosysteme zum Einsatz. Der Einsatz solcher Systeme wurde sowohl vom Fahrgast- wie auch vom Blindenverband gefordert. Die verschiedenen Systeme sollen ein Jahr lang getestet werden. Der U-Bahnhof Studentenstadt wurde für die Erprobung an der Oberfläche ausgesucht.
Barrierefreiheit
Alle U-Bahnhöfe sind barrierefrei mit Fahrstühlen oder Rampen ausgestattet. Die meisten der ursprünglich ohne Lift gebauten Haltestellen wurden in den Neunzigern und um die Jahrtausendwende entsprechend ausgestattet. Die Bahnhofsarchitektur und die Beleuchtung sind auf Barrierefreiheit hin optimiert, zusätzlich ist jede Bahnsteigkante mit einem Tastrillenstreifen für Sehbehinderte versehen, der den Anfang des Sicherheitsstreifens markiert.
Die neuen U-Bahn-Züge vom Typ C verfügen über barrierefrei ausgeführte Einstiegsbereiche und Haltestangen und über ein optisches und akustisches Fahrgastinformationssystem.
Einige Züge der Typen A und B sind zwischenzeitlich mit akustischem und optischem Fahrgastinformationssystem ausgestattet worden. Bei vielen Einheiten werden die Haltestellen noch von den Fahrern angesagt.
Betriebsanlagen
Neben drei größeren Anlagen sind über das gesamte Netz zwischen den Bahnhöfen und vor allem an den Linienenden Abstellanlagen, in denen die Züge der U-Bahn nachts und außerhalb der Hauptverkehrszeiten abgestellt werden können, verteilt. Ferner werden an einigen Stellen im Netz hier auch Ersatzzüge hinterstellt, die im Fall eines Defektes Regelzüge ersetzen.
Technische Basis in Fröttmaning
Vor Beginn des U-Bahn-Baus wurde nach einer geeigneten Stelle für ein Betriebswerk für die U-Bahn gesucht. Die bisherigen Straßenbahnwerkstätten kamen allein schon aus Platzgründen nicht in Frage, eine unterirdische Werkstatt im Zentrum schied aus finanziellen Gründen aus. Schnell stand deswegen fest, dass im nördlichen Stadtgebiet oberirdisch am Kieferngarten eine Werkstatt entstehen sollte. Aus diesem betrieblichen Grund hatte auch der Bau der U6 bis Kieferngarten Priorität, obgleich andere Strecken vom Verkehrsbedarf her wichtiger gewesen wären.
Anfangs bestand das Betriebswerk in Fröttmaning hauptsächlich aus Abstellanlagen und Lagergebäuden sowie Wartungshallen, in denen kleinere Reparaturen und teilweise auch Überholungen erledigt wurden. Da der noch kleine Wagenpark keine Hauptwerkstätte rechtfertigte, mussten einzelne Teile zur Reparatur in die Straßenbahnhauptwerkstätte überführt werden.
Als Mitte der 1970er Jahre der U-Bahn-Bau immer weiter voranschritt, führte der erhöhte Wagenbedarf zum Bau einer Hauptwerkstätte neben den Wartungshallen, in der alle nötigen Aufgaben für die U-Bahn ausgeführt werden können. In den 1980er Jahren folgte der weitere Ausbau des Betriebshofs Nord zum jetzigen Zustand, der Technischen Basis in Fröttmaning mit mittlerweile eigenem angrenzenden U-Bahnhof.
Vor Fertigstellung des Betriebshofs Nord fand auf einer Teilstrecke der U6 bereits ein Testbetrieb mit den drei Prototyp-Zügen statt. Dafür wurde die Abstellanlage nördlich des Bahnhofs Alte Heide vorübergehend als behelfsmäßige Werkstatt genutzt.
Betriebsanlage Süd
Am südlichen Linienende der U5 in Neuperlach Süd befindet sich eine umfangreiche oberirdische Abstellanlage, die mit dem Bau der damaligen U8 nötig wurde, um die Technische Basis im Norden der Stadt zu entlasten. Außerhalb der Hauptverkehrszeiten sowie während der Nacht werden hier diejenigen Züge hinterstellt, die auf der U5 nicht in anderen Abstellanlagen hinterstellt werden können. Insgesamt können hier bis zu 41 Doppeltriebwagen abgestellt werden.
Betriebsanlage Theresienwiese
Da beim Bau der U5-West keine Verbindung zum sonstigen Gleisnetz und vor allem zur Technischen Basis in Fröttmaning bestand, wurde unter der Theresienwiese eine Verbindungsstrecke errichtet, die nördlich des Bahnhofs Implerstraße (U3/U6) sowie östlich des Bahnhofs Schwanthalerhöhe (U4/U5) jeweils eingleisig angebunden ist. Zwei auf der Theresienwiese befindliche Notausstiege lassen den Verlauf erkennen. Auf zwei Abstellgleisen ist Platz für 18 Doppeltriebwagen, ein drittes Gleis dient als Durchfahrtgleis für Fahrzeuge zwischen den beiden Strecken.
Im regulären Fahrplanbetrieb wird die Strecke nicht mit Fahrgästen befahren, lediglich während einer Baustelle am Odeonsplatz (Einbau eines doppelten Gleiswechsels) wurde im Mai 2003 die Linie U3 außerplanmäßig aus Richtung Fürstenried West kommend an der Schwanthalerhöhe gewendet.
Ausbau
Der Ausbau des Münchner U-Bahn-Netzes war mit Eröffnung der U3 nach Moosach im Dezember 2010 vorerst zur Ruhe gekommen, erst 2022 erfolgte wieder ein Baubeginn (für den Streckenabschnitt Laimer Platz – Pasing). In der Zwischenzeit gab es zum ersten Mal seit 1965 keine im Bau befindlichen U-Bahn-Abschnitte mehr in München.
Im Bau
U5-West: Laimer Platz – Pasing
Die Strecke befand sich schon vor 2005 im Planfeststellungsverfahren, wurde jedoch zunächst nicht weiter verfolgt. Für das Jahr 2008 waren vorbereitende Maßnahmen im Haushaltsplan vorgesehen. Da parallel zur geplanten Strecke bereits die S-Bahn sowie die Tram 19 fahren, war der verkehrliche Nutzen umstritten. Einige Fahrgastverbände forderten eine Führung der Verlängerung mit fünf bis sechs Stationen über die Blumenau, um ein Gebiet zu erschließen, das weiter von der S-Bahn entfernt ist und seinerzeit (und mit Stand Mitte 2022 immer noch) nur von Buslinien bedient wurde.
Im Juli 2013 wurden vom Stadtrat erneut vertiefte Planungen der U-Bahn-Verlängerung nach Pasing beauftragt. Die 3,6 km lange Strecke soll über die geplanten Stationen Willibaldstraße und Am Knie zum Fernbahnhof Pasing geführt werden. Der U-Bahnsteig am Bahnhof Pasing soll in so großer Tiefe gebaut werden, dass eine spätere Verlängerung unter der Würm hindurch bis in das Neubaugebiet Freiham möglich ist. Der Münchner Stadtrat hat den Bau am 14. Juli 2015 beschlossen. 2015 ging das Baureferat noch von einer Bauzeit von sechs Jahren sowie Kosten von 547 Mio. Euro aus. Ein Planfeststellungsbeschluss für den Teilabschnitt bis zur Willibaldstraße wurde am 21. November 2019 erlassen. Im April 2021 folgte die Planfeststellung bis Pasing und im Dezember 2021 der einstimmige formelle Stadtratsbeschluss für den Bau dieses Abschnitts. Mit Stand November 2022 wird von 988 Millionen Euro Gesamtbaukosten ausgegangen, von denen zu diesem Zeitpunkt 666 Millionen Euro als Förderung vom Bund erwartet werden, aber noch nicht fest zugesagt sind.
Baubeginn war im Januar 2022, die Strecke soll Anfang der 2030er Jahre in Betrieb gehen.
U6-West: Klinikum Großhadern – Martinsried
Die 1,3 km lange Strecke soll das Biotechnologiezentrum mit dem Campus Martinsried in Martinsried an das U-Bahn-Netz anschließen. Da die Strecke hier die Stadtgrenze überschreiten wird, sind für die Planung und Finanzierung die Gemeinde Planegg beziehungsweise der Freistaat Bayern verantwortlich. Die Landeshauptstadt München leitete auf Veranlassung des Bayerischen Wirtschaftsministeriums Vorplanungen ein und ließ ein Gutachten erstellen, das einen positiven Kosten-Nutzen-Faktor für diese Strecke prognostizierte. Die Gemeinde Planegg ließ 2007 Probebohrungen durchführen, die ergaben, dass der Weiterbau aus technischer Sicht möglich ist. 2008 vergab sie außerdem einen Auftrag zur Erneuerung der inzwischen zehn Jahre alten Kosten-Nutzen-Analyse der Verlängerung.
Der Kreistag des Landkreises München beschloss am 20. Juli 2009, die Verlängerung zu bauen. Die seinerzeit mit 67 Millionen Euro Kosten geschätzte Strecke sollte ursprünglich bis 2014/2015 in Betrieb gehen. Verwaltungsrechtliche Abwägungen sowie Verzögerungen bei der Vertragsgestaltung durch das Wirtschaftsministerium führten jedoch dazu, dass der für 2012 geplante erste Spatenstich verschoben werden musste. Im Oktober 2013 wurde das Vorhaben schließlich genehmigt, die Verhandlungen zur Kostenübernahme und Zuständigkeit zogen sich jedoch in die Länge. Im Dezember 2014 gab das Bayerische Kabinett schließlich grünes Licht für den Weiterbau. Nachdem alle Verträge ausgehandelt waren, forderte das Finanzamt noch die Einarbeitung von Änderungen am Umsatzsteuergesetz, was zu weiteren Verzögerungen beim Baubeginn führte. Im Frühjahr 2017 sollte eine Projektmanagement-Gesellschaft zwischen den Trägern gegründet werden, eine Fertigstellung der Verlängerung war bis 2022 in Aussicht. Im Juni 2017 war von einer Kostensteigerung auf ca. 100 Millionen Euro die Rede. Als vorbereitende Maßnahme wurde von November 2020 bis Oktober 2021 ein Parkdeck nahe dem geplanten Bahnhof Martinsried errichtet. Im Juni 2021 wurde ein Gestaltungswettbewerb für den Bahnhof Martinsried abgeschlossen. Mit Stand Oktober 2021 werden die Kosten auf 168 Millionen Euro geschätzt.
Seit November 2022 finden die ersten Arbeiten zum Erdaushub statt. Der Baubeginn (erster Spatenstich) für den geplanten Tunnel wurde am 6. Februar 2023 vom bayrischen Ministerpräsidenten, Markus Söder, getätigt, und eine Inbetriebnahme der Strecke für 2027 als möglich angesehen.
In Planung
Betriebshof Süd
Um den wachsenden Fahrzeugpark besser warten zu können und die Abhängigkeit von der Strecke zum Betriebshof Fröttmaning zu reduzieren, ist der Bau eines neuen Betriebshof angrenzend an die Station Neuperlach Süd und die dortige Abstellanlage geplant.
Die Anlage soll eine Abstellanlage, eine Werkstatthalle mit vier Gleisen und verschiedene Nebenbauten umfassen. Ähnlich zum Betriebshof Nord ist ein direkter Gleisanschluss zum DB-Netz an die in direkter Nachbarschaft verlaufende S-Bahn-Strecke München-Giesing–Kreuzstraße geplant. Mit Stand Ende 2021 war eine Fertigstellung für 2026 beabsichtigt, während laut einem Zeitungsbericht vom Februar 2022 nur noch von einer Inbetriebnahme „Ende der 2020er Jahre“ ausgegangen wird.
Das Projekt steht wegen möglicher Lärmbelästigung speziell durch Bremstests in der Kritik von Bürgerinitiativen. In diesem Zusammenhang wird mit Stand Mitte 2022 das Lärmschutzkonzept überarbeitet.
U5-West: Viergleisiger Ausbau des U-Bahnhofs Theresienwiese
Es ist vorgesehen, den U-Bahnhof Theresienwiese auf vier Gleise zu erweitern. Während des Oktoberfests ist dieser Bahnhof mit bis zu 20.000 Menschen pro Stunde überlastet, so dass dieser bisher während des Oktoberfests oftmals temporär gesperrt werden musste. Durch die Verlängerung der U5-West nach Pasing wird sich diese Situation weiter verschärfen, da die Oktoberfestbesucher dann mit der U-Bahn aus zwei Richtungen zur Theresienwiese anreisen werden. Der viergleisige Ausbau des Bahnhofs ist daher nach Ansicht von Stadtrat und MVG die zwingende Konsequenz aus der Verlängerung der U5 nach Pasing. In die Ausbau-Planungen sollen auch bereits die sich an diesen Bahnhof ergebenden Anforderungen für die geplante U9-Spange einbezogen werden.
In Untersuchung
U4-Ost: Arabellapark – Englschalking
Die Strecke würde die Lücke zwischen der bisherigen Endstation Arabellapark und der S8 in Englschalking schließen und die Fahrzeit aus Bogenhausen und dem Bereich Arabellapark zum Flughafen München mit Umsteigen zur S8 deutlich verkürzen. Dadurch würde auch die S-Bahn-Stammstrecke entlastet, und die Fahrgäste der S8 könnten bei etwaigen Störungen ab Englschalking über die U4 ausweichen. Derzeit ist die Finanzierung ungeklärt, Kritiker stehen einer Verlängerung der ohnehin eher schwach ausgelasteten U4 skeptisch gegenüber. In einem aktuellen Flyer der MVG wird eine Variante mit nur einem Zwischenbahnhof (Fideliopark) vorgestellt, ein in älteren Planungen enthaltener weiterer Zwischenbahnhof Cosimapark ist darin nicht mehr enthalten. Parallel dazu wird der Bau einer Straßenbahnstrecke zwischen den beiden Bahnhöfen untersucht. Ferner besteht die Option, die U4 später von Englschalking bis zur Messestadt Riem oder nach Aschheim weiterzuführen. Im Februar 2022 gab die Deutsche Bahn bekannt, dass bei der Planung für den viergleisigen Ausbau der S8 der Bau eines Kreuzungsbauwerks in Englschalking berücksichtigt wird.
U9-Spange
Als Entlastung für die Linien U3 und U6 soll diese Strecke zwischen den Bahnhöfen Münchner Freiheit und Implerstraße westlich der Stammlinie dieser beiden U-Bahn-Linien über einen neuen Bahnhof an den Pinakotheken und einen dritten U-Bahnhof unter dem Hauptbahnhof verlaufen. Am 12. Dezember 2008 beantragte die SPD-Fraktion im Münchner Stadtrat diese neue U-Bahn-Verbindung zu prüfen, um die hochbelastete Strecke der U3/U6 und vor allem die stark frequentierten und nicht mehr erweiterbaren Umsteigebahnhöfe Odeonsplatz und Sendlinger Tor zu entlasten.
Eine gemeinsame Studie der MVG und des MVV aus dem Jahr 2014 kommt zum Ergebnis, dass die Linie baulich möglich wäre. Ein Einfädeln in die Stammstrecke 1 sollte jedoch aus betrieblichen Gründen bereits am dann viergleisig zu erweiternden U-Bahnhof Giselastraße statt erst an der Münchner Freiheit erfolgen. Zudem wird, als mögliche Alternative zum viergleisigen Ausbau des Bahnhofs Theresienwiese, über einen neuen Bahnhof unter dem Bavariapark nachgedacht. Es wird ferner geprüft, ob nördlich des Hauptbahnhofs eine Spange zwischen dieser U9 und dem Tunnel der U2 zwischen den U-Bahnhöfen Theresienstraße und Königsplatz eingerichtet werden kann. Durch die resultierende Entlastung einzelner Streckenabschnitte könnte man neue Verstärkerlinien einrichten.
Mit Stand Oktober 2022 ist eine Realisierung wegen der zu dem Zeitpunkt auf vier Milliarden Euro geschätzten Baukosten und deren unklarer Finanzierung nach wie vor nicht gesichert.
Weitere Ausbauoptionen
Im Stadtratsbeschluss zur Fortschreibung des Nahverkehrsplans aus dem Jahr 2015 wurde die Untersuchung einiger Ausbau-Strecken beschlossen. Darüber hinaus gibt es die Forderung einzelner Stadtratsfraktionen hinsichtlich weiterer Ausbauüberlegungen. Im Einzelnen betrifft dies folgende Erweiterungen des bestehenden Netzes:
U1-Süd: Harlaching – Solln/Unterhaching
Die relativ weit fortgeschrittene Planung einer Verlängerung vom Mangfallplatz zum Klinikum Harlaching war zunächst aufgrund des geringen zu erwartenden Fahrgastaufkommens aufgegeben worden. 2015 wurden die Pläne einer Verlängerung der Linie U1 wieder aufgegriffen, diesmal sogar bis nach Solln. Dabei würde die U1 die Isar queren. Ende 2016 wurde der Plan als Bestandteil des Mehrjahresinvestitionsplans vorgestellt. Gleichzeitig strebt aber die Gemeinde Unterhaching eine Verlängerung der U1 vom Mangfallplatz über das Infineon-Gelände in Neubiberg und das Gewerbegebiet Unterhaching-Nord an.
Parallel dazu wird die Verlängerung der Straßenbahnlinie 18 ab Schwanseestraße zum Klinikum untersucht.
U3-West: Moosach – Untermenzing – Pasing
Eine Untersuchung aus dem Jahr 2011 ergab für die Verlängerung der U3 von Moosach bis zum S-Bahnhof Untermenzing einen Kosten-Nutzen-Faktor von 0,3. Laut einem Beschluss aus dem Jahr 2015 soll diese Untersuchung aktualisiert und nun vor dem Hintergrund einer Weiterführung nicht nur bis nach Untermenzing, sondern von dort weiter bis nach Pasing durchgeführt werden. Die Stadtratsfraktion Bürgerliche Mitte schlug dazu vor, die Strecke dann am Ende der A 8 nordwestlich von Schloss Blutenburg vorbei zu führen und dort eine U-Bahn-Station mit angeschlossener Park+Ride-Anlage zu errichten. Auch dieser Plan ist Bestandteil des Mehrjahresinvestitionsplans 2016.
U4-Ost: Arabellapark – Messestadt
Das Planungsreferat der Stadt München legte Mitte 2016 Pläne für ein neues Stadtviertel im Osten von Bogenhausen vor, das Wohnungen für bis zu 36.000 Einwohner bieten soll. Die Pläne enthielten auch eine Verlängerung der U4 bis zur Messestadt, um das neue Viertel an den öffentlichen Nahverkehr anzubinden. Gleichzeitig entstünde in Englschalking auch eine direkte Umsteigeverbindung zwischen der Flughafen-S-Bahn und der Messe München. Nach Vollendung des Erdinger Ringschlusses wäre zudem eine weitere Verknüpfung Flughafen/Messe am Bahnhof München-Riem mit der S2 möglich.
U5-Ost: Neuer Zwischenhalt im Werksviertel
Aufgrund der geplanten Taktverdichtung der U5 muss zwischen Ostbahnhof und Innsbrucker Ring ein neuer Notausstieg errichtet werden. Mit Stand Ende 2021 existieren Überlegungen, diesen gleich zu einem Zwischenhalt im Werksviertel auszubauen.
U5-Ost: Neuperlach – Taufkirchen
Die Gemeinden Ottobrunn, Taufkirchen und Neubiberg verfolgen das Ziel, dass künftig die bisher in Neuperlach endende U5 über die Universität der Bundeswehr München sowie den Ludwig Bölkow Campus in Ottobrunn bis zu Ikea in Taufkirchen-Ost fahren soll. Im Februar 2020 signalisierte die bayerische Staatsregierung Förderungsmöglichkeiten für ein solches Projekt. Mit Stand Mitte 2020 werden mehrere Varianten für die Streckenführung und die Lage der Bahnhöfe diskutiert.
U5-West: Pasing – Freiham (– Germering)
Zur Anbindung des neu entstehenden Stadtteils Freiham an den öffentlichen Nahverkehr wurde 2015 alternativ eine Verlängerung der U5 oder der Tramlinie 19 ab dem Bahnhof Pasing in Betracht gezogen. Der Stadtrat nahm diese Möglichkeit in die Planungen für die Verlängerung der U5 Laimer Platz – Pasing auf. Dabei wurde auch die Option einer Abzweigung in den Stadtteil Blumenau westlich der U-Bahn-Station Willibaldstraße mit aufgenommen. Für die Verlängerung von Pasing nach Freiham hat das Münchner Planungsreferat einen Trassenvorschlag erarbeitet. Anfang 2019 entschied sich der Stadtrat gegen die Tram 19 und nahm die Verlängerung der U5 nach Freiham in die Kategorie „in Planung / im Bau“ auf. Im Dezember 2022 beschloss der Bauausschuss des Münchner Stadtrats die Errichtung des Rohbaus für den U-Bahnhof Freiham-Zentrum bis Ende 2025 als Bauvorleistung, um danach dort Straßen- und Wohnungsbau ohne Beeinträchtigung durchführen zu können. Als weitere Haltestellen sind Westkreuz, Radolfzeller Straße und Riesenburgstraße geplant.
Für den Bau der Strecke war im Dezember 2022 der Abschluss der Entwurfs- und Genehmigungsplanung bis Ende 2024 und nach erfolgtem Planfeststellungsverfahren ein möglicher Baubeginn im Jahr 2029 vorgesehen. Die Inbetriebnahme wäre Mitte der 2030er-Jahre möglich.
Ideen zur Weiterführung über die Stadtgrenze hinaus existieren bereits, Mitte 2019 fanden mit der Stadt Germering Gespräche über eine Verlängerung statt. Im November 2019 wurde eine Fertigstellung einer solchen Verlängerung um 2040 bis 2050 als möglich angesehen.
U5-West: Abzweig Willibaldstraße – Blumenau
In die Planungen für die Verlängerung der U5 Laimer Platz – Pasing wurde auch die Option einer Abzweigung in den Stadtteil Blumenau westlich der U-Bahn-Station Willibaldstraße aufgenommen. Diese Station ist Bestandteil dieser am 14. Juli 2015 vom Stadtrat beschlossenen Verlängerung. Laut einem Zeitungsbericht vom Oktober 2019 ist jedoch nicht mit der baldigen Realisierung einer solchen Abzweigstrecke zu rechnen, da laut Experten aus dem Münchner Planungsreferat eine U-Bahn-Verbindung „mit der vorhandenen Siedlungsstruktur verkehrlich nicht sinnvoll“ sei. Stattdessen werde die Anbindung der Blumenau durch eine Straßenbahnlinie erwogen.
U6-Nord: Garching – Landkreis Freising
Da die Endhaltestelle Garching-Forschungszentrum bereits an der Grenze zum Landkreis Freising liegt, wird eine Verlängerung nach Norden zu den nur etwa sechs Kilometer entfernen S-Bahn-Haltestellen Neufahrn oder Eching oder gar zum nurmehr 13 Kilometer entfernten Flughafen gefordert (siehe Regionalplan München 2004).
In einer von der MVG selbst in Auftrag gegebenen Machbarkeitsstudie wurde eine Verlängerung der U6 zum Neufahrner S-Bahnhof untersucht. Während die Studie den Erwartungen entsprechend aufzeigte, dass diese Planungen wegen der geringen Geschwindigkeit der U-Bahn-Züge und der daraus resultierenden langen Fahrzeiten keinen Ersatz für eine Schnellbahn- bzw. Express-S-Bahn-Verbindung zwischen dem Münchner Hauptbahnhof und dem Flughafen darstellt, kam sie doch zu dem Ergebnis, dass die Vernetzung von U6 und S1 viele Vorteile bringen würde. So wurde neben den Fahrzeitgewinnen zum Flughafen ab der U6-Haltestelle Universität vor allem die Erreichbarkeit der Allianz-Arena von Nord- und Ostbayern sowie vom Flughafen aus und die Verbindung der Standorte Garching und Freising-Weihenstephan der TU München hervorgehoben. In einer anschließenden ersten Kosten-Nutzen-Untersuchung im Jahr 2009 wurde lediglich ein Wert von 0,10 erzielt und das Projekt aufgrund der fehlenden Förderung nach Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz zunächst nicht weiter verfolgt. Eine Erneuerung der Studie errechnete im Jahr 2020 einen Kosten-Nutzen-Faktor von 0,11. Die Alternativen einer Verlängerung der Linie nach Eching oder Hallbergmoos, die ebenfalls untersucht worden waren, erzielten ein negatives Ergebnis. Die Gruppierungen im Freisinger Kreistag kündigten an, ihre Bemühungen nicht einstellen und das Projekt weiterverfolgen zu wollen.
U6-West: Martinsried – Planegg
Über die bereits bis Martinsried vorgesehene Verlängerung der U6 hinaus wurde beschlossen, die Weiterführung der U6 von Martinsried nach Planegg als zu untersuchende Strecke in den Nahverkehrsplan aufzunehmen. In Planegg würde eine Umsteigemöglichkeit zur S-Bahnlinie S6 bestehen.
U26: Am Hart – Kieferngarten
Zusammen mit der U9-Spange soll eine Verbindung zwischen den U-Bahn-Linien U2 und U6 im Norden Münchens untersucht werden. Endpunkte der Strecke sind die Bahnhöfe Am Hart und Kieferngarten. Mit Stand 2014 gab es Untersuchungen mit dem Ergebnis, dass die Strecke unwirtschaftlich sei. 2015 wurde alternativ eine Straßenbahnlinie auf dieser Strecke in Erwägung gezogen. Im Mehrjahresinvestitionsplan 2016 hielt sich der Stadtrat die U-Bahn-Linie als Option offen. 2019 beschloss der Stadtrat die Verlängerung der Straßenbahnlinie 23 von Schwabing-Nord zum U-Bahnhof Kieferngarten, deren Endstrecke dann auf dem östlichen Teil der Verbindungsstrecke verlaufen würde; konkrete Planungen für den Verlauf wurden Anfang 2021 bekannt. Dabei wird sowohl der spätere Bau einer Straßenbahnlinie 24 (Arbeitstitel) auf der Verbindungsstrecke offengehalten als auch die Realisierung der U-Bahn-Strecke, dieser allerdings frühestens für die 2040er Jahre. Im Februar 2020 wurde beschlossen, auf der Strecke bis 2026 eine Schnellbuslinie zu realisieren.
Aufgegebene Maßnahmen
In der Vergangenheit wurden zudem noch andere Ausbauüberlegungen angestellt. Die meisten dieser Maßnahmen haben sich jedoch – im Verhältnis zum Nutzen – als unangemessen teuer erwiesen und wurden daher aufgegeben. Dies betrifft die folgenden Erweiterungen des bestehenden Netzes.
U1-Nord: OEZ – Fasanerie oder Feldmoching
Durch diese Verlängerung durch den Stadtteil Lerchenau würde auch die U1 im Norden an einer S-Bahn-Station enden und sich am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) das ursprünglich vom U-Bahn-Referat angestrebte Kreuz des Nordens ergeben. Da allerdings die benachbarten Bahnhöfe Feldmoching und Moosach bereits an das U-Bahn-Netz angeschlossen sind, bestanden von Anfang an Zweifel am Nutzen dieser Verbindung. Nachdem Untersuchungen einen Kosten-Nutzen-Faktor von 0,5 ergeben hatten, wurde diese Option nicht weiter verfolgt.
Zur besseren Anbindung des Flughafens wurde eine Verlängerung der U1 bis Neufahrn untersucht, wobei die Linie ab Feldmoching dann entlang der S-Bahn-Trasse der S1 verlaufen sollte. Eine Ausarbeitung der ÖDP schlug dahingehend für den Abschnitt zwischen Olympia-Einkaufszentrum und Feldmoching zwei Varianten vor. Die eine umfasste eine Untertunnelung der Siedlung am Lerchenauer See. Die andere ging von einer oberirdischen Streckenführung aus, entlang der bestehenden Trasse östlich des Lerchenauer Sees, die ursprünglich für den Transrapid München vorgesehen war und derzeit für Güterzüge genutzt wird.
U2-Nord: Feldmoching – Karlsfeld
Die Stadtratsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen sowie die CSU-Fraktion im Gemeinderat von Karlsfeld schlug die oberirdische Verlängerung der U2 von Feldmoching bis nach Karlsfeld als Maßnahme vor, um die Gemeinde vom hohen Pkw-Verkehr zu entlasten. Überdies sollte damit für die Mitarbeiter der Großbetriebe MAN und MTU ein größerer Anreiz geschaffen werden, um für ihren Arbeitsweg den öffentlichen Personennahverkehr zu nutzen. Nachdem erste Untersuchungen ein geringes Kosten-Nutzen-Verhältnis für diese Strecke ergeben hatten, wurde auf vertiefende Planungen verzichtet.
U2-Ost: Messestadt-Ost – Feldkirchen – Heimstetten
Eine Verlängerung der U2 von Messestadt-Ost um etwa sechs Kilometer über Feldkirchen in den Kirchheimer Ortsteil Heimstetten wurde aufgrund von schlechten Kosten-Nutzen-Analysen sowohl in einer Variante mit Tunneln als auch einer komplett obirdischen Variante mit Haltestellen am Ortsrand vom Münchner Kreistag abgelehnt.
Mini-U-Bahn-Ringlinie
Die für den Verkehrsentwicklungsplan 2006 der Stadt München untersuchte Mini-U-Bahn-Ringlinie mit einer Streckenführung entlang des Mittleren Rings wurde nicht in den Verkehrsentwicklungsplan aufgenommen.
U-Bahn- oder S-Bahn-Ringlinie entlang bestehender Trassen
Ebenso in der Diskussion war eine Ringlinie („Ringbahn“) entlang bestehender Trassen (Bahn-Nordring im Norden, Ost-Korridor im Osten), wobei offen blieb, ob eine solche Ringlinie als S-Bahn oder als U-Bahn realisiert würde. Ein Vorschlag des Fahrgastverbands Pro Bahn sieht vor, diese Strecke mit Mehrsystemfahrzeugen zu betreiben, die sowohl U-Bahn- als auch S-Bahn-Strecken befahren können, um westlich der U-Bahn-Station Oberwiesenfeld die Tunnelstrecke der Linie U3 mitbenutzen zu können. Eine neue Initiative der Freien Wähler fordert hingegen, eine erweiterte Variante dieser Strecke, nämlich zwischen Pasing, Moosach, Bahn-Nordring, Ost-Korridor und Berg am Laim, als S-Bahn-Nordring auszubauen. Dies beinhaltet nach deren Ansicht auch eine Verlängerung der U1-Nord bis mindestens zum Bahn-Nordring (Kreuzungsbahnhof Lasallestraße), einen Kreuzungsbahnhof Knorrstraße mit der Linie U2 sowie einen Kreuzungsbahnhof Freimann Süd mit der Linie U6.
Tangente Westfriedhof – Hohenzollernplatz
Die zeitweise vom Bezirksausschuss Schwabing-West sowie von der FDP-Stadtratsfraktion geforderte U-Bahn-Querverbindung zwischen den bestehenden Linien U1 und U2 (vorgeschlagen war eine Verbindung zwischen den Bahnhöfen Westfriedhof und Hohenzollernplatz) wurde nicht in den Nahverkehrsplan aufgenommen, da eine zusätzliche Linie dort nicht in das U-Bahn-Netz integriert werden kann. Zudem hält die Münchner Verkehrsgesellschaft die bestehenden Tangentialverbindungen (Straßenbahnlinie 12 und Buslinie 53) für ausreichend.
Sonstige Einrichtungen
Mobilfunkempfang
Seit dem 8. September 2009 besteht erstmals offiziell Mobilfunknetzversorgung in einigen Münchner U-Bahn-Stationen in der Innenstadt und auf den dazwischenliegenden Strecken. Das Mobilfunknetz wurde durch ein Konsortium der damals vier großen deutschen Mobilfunkprovider unter der Federführung von Vodafone aufgebaut. Am 2. Juli 2011 wurde der Ausbau eines UMTS-Netzes in München abgeschlossen. Seitdem besteht im gesamten U-Bahn-Netz München Mobilfunk-Empfang. Bis 2012 sollte auch der außerstädtische Abschnitt Garching-Hochbrück – Garching Forschungszentrum mit Funkverbindung versorgt werden. Im November 2013 wurde auch dieser Abschnitt mit einem Mobilfunknetz versehen. Am 31. März 2017 wurde das LTE-Netz in Betrieb genommen.
Fahrgastfernsehen / Münchner Fenster
Im April 2009 wurde darüber hinaus bekannt, dass alle Waggons der Münchner U-Bahn ab Ende 2013 mit Bildschirmen zur Darstellung von Kundeninformationen, Nachrichten sowie Unterhaltungsbeiträgen ausgestattet werden sollen. Das Projekt wird durch Werbung finanziert. Im Jahr 2016 sind allerdings erst wenige Waggons, ausschließlich vom Typ A2.5 und A2.6 sowie C2.11, mit Bildschirmen ausgerüstet.
Am 21. November 2013 wurde das Fahrgastfernsehen gestartet. Der linke Monitor zeigt den nächsten Bahnhof, den weiteren Fahrtverlauf und aktuelle Anschlusshinweise an. Der andere Monitor wird zu 80 % mit redaktionellem Inhalt (Nachrichten, Unterhaltung, aktuelle MVG-Informationen) und zu 20 % mit Werbung bespielt. Pro Wagen werden vier Doppelmonitore installiert. Mit dieser Umbaumaßnahme erhalten die Züge der Typen A erstmals auch automatische Ansagen. Die neuen C2.11-Züge werden bereits mit den Monitoren ausgeliefert. Bei der Münchner Straßenbahn wurde das Fahrgastfernsehen Ende 2015 eingeführt.
2021 wurde die erste Einheit des Types B mit Monitoren ausgestattet. Vom Typ C1 wurde mit Stand Mai 2021 noch keine Einheit umgerüstet.
Literatur
Klaus Zimniok: Eine Stadt geht in den Untergrund. Die Geschichte der Münchener U- und S-Bahn im Spiegel der Zeit. Hugendubel, München 1981.
Wolfgang Pischek, Holger Junghardt: Die Münchner U-Bahn – unterirdisch durch die bayerische Landeshauptstadt. 2. Auflage. München 2002, ISBN 3-7654-7194-1
25 Jahre U-Bahnbau in München. U-Bahn-Referat der LH München, München 1990
Peter Schricker: Münchner Schienennahverkehr: Tram, S-Bahn, U-Bahn, O-Bus. GeraMOnd, München 2005, ISBN 3-7654-7137-2
Christoph Hackelsberger: U-Bahn-Architektur in München / Subway architecture in Munich. [Mit einem Beitrag von Rolf Schirmer, Fotograf: Stefan Müller-Naumann, Übersetzer: Annette Wiethüchter]. Prestel, München 1997, ISBN 3-7913-1827-6
Werner Hochmuth (Hrsg.): U-Bahn für München. U-Bahn Linie 8/1. Firmengruppe der ausführenden Baufirmen und U-Bahn Referat der LH München, München 1980
Die U6-West, vom Harras zum Klinikum Großhadern. Festschrift zur Eröffnung der letzten Teilstrecke am 22. Mai 1993. Landeshauptstadt München – U-Bahn-Referat, München 1993
Florian Schütz: München U-Bahn Album. Alle Münchner U-Bahnhöfe in Farbe. (Englische Übersetzung: Robert Schwandl, Mark Davies), Schwandl, Berlin 2008, ISBN 978-3-936573-19-0 (= Nahverkehr in Deutschland, Band 11, deutsch und englisch)
Annette Knott (Hrsg.): Der Garchinger U-Bahnbau. Aufbruch der Universitätsstadt Garching bei München in ein neues Zeitalter. Stadtspiegel, Garching 2007
Weblinks
MVG (Betreiber der U-Bahn München)
Baureferat: U-Bahn-Bau
Private Website mit Informationen und Bildern zu allen U-Bahnhöfen
MUF e. V. – Münchner U-Bahnfreunde e. V.
Einzelnachweise
Munchen |
193307 | https://de.wikipedia.org/wiki/Herzogtum%20Westfalen | Herzogtum Westfalen | Das Herzogtum Westfalen war ein Territorium im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und gehörte bis 1803 zu Kurköln. Das Herzogtum lag im Süden der Westfälischen Bucht. Neben den fruchtbaren Ebenen der Hellwegbörden gehörte ein beträchtlicher Teil des Sauerlandes zum Herzogtum.
Ursprünglich war das Gebiet ein Teil des Stammesherzogtums Sachsen. Dessen Teilung und die Übertragung der Herzogswürde für den westfälischen Teil an Philipp von Heinsberg, den Erzbischof von Köln, auf dem Hoftag zu Gelnhausen des Jahres 1180 war die zentrale Voraussetzung für die Entstehung des Landes. Über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelten die Erzbischöfe aus den ursprünglichen Herzogsrechten, die vor allem eine Herrschaft über Menschen war, eine Landesherrschaft über ein geschlossenes Territorium. So besaßen die Erzbischöfe zunächst nur verstreute Gebiete insbesondere im Norden und Osten sowie im Südwesten, die durch den Erwerb der dazwischen liegenden Grafschaft Arnsberg 1368 verbunden wurden. Die territoriale Entwicklung war nach der Soester Fehde im 15. Jahrhundert abgeschlossen, und das Territorium blieb bis zum Ende des Heiligen Römischen Reichs weitgehend unverändert.
Das Land war staatsrechtlich eine Besonderheit, weil das Gebiet nur insofern ein geistliches Territorium war, als der Kölner Kurfürst als Herzog von Westfalen Landesherr war. Wie das Vest Recklinghausen blieb es ein vom Erzstift Köln getrenntes eigenständiges Territorium. Die Versuche, eine Landverbindung durch den Erwerb der Grafschaften Mark und Berg zu schaffen, scheiterten zuletzt unter Erzbischof Dietrich von Moers.
Verfassungsrechtlich unterstand das Land zwar den Kölner Erzbischöfen und dem Kölner Domkapitel, in der Verfassungspraxis blieb es jedoch ein eigenständiges Territorium. Es gelang den beiden Ständen (adlige Ritterschaft und Städte) und hierbei insbesondere dem im Landtag vertretenen Adel, ein erhebliches Mitspracherecht durchzusetzen und auch gegen absolutistische Tendenzen im 17. und 18. Jahrhundert zu bewahren.
Geographie
Die Herrschaft umfasste Ende des 18. Jahrhunderts das Gebiet des heutigen Kreises Olpe und fast das gesamte Gebiet des Hochsauerlandkreises. Hinzu kamen weite Teile des heutigen Kreises Soest und auf dem Gebiet des heutigen märkischen Kreises die Stadtgebiete von Menden und Balve sowie der Ortsteil Sümmern von Iserlohn. Östlich der heutigen Grenzen Westfalens lag die Exklave Volkmarsen. Nicht hinzu gehörte das Gebiet der Stadt Lippstadt und seit der Soester Fehde das Gebiet um die Stadt Soest. Das Gebiet um Valbert war ein Kondominat der Grafschaft Mark und des Herzogtums Westfalen.
Das Herzogtum grenzte im Norden an die Lippe und damit an das Hochstift Münster. Nordöstlich lag das Hochstift Paderborn, südöstlich befanden sich Waldeck, Niederhessen und das hessische Hinterland, südlich die Grafschaft Wittgenstein und die Nassau-Siegener Besitzungen. Westlich grenzten das Wildenburger Land, das Herzogtum Berg sowie die Grafschaften Gimborn, Mark und Limburg an.
Der gebirgige Teil im Süden des Landes machte etwa 83 % der Gesamtfläche aus. Dieser sauerländische Teil des Herzogtums war reich an Wäldern und Metallvorkommen. Allerdings war er für den Ackerbau weniger geeignet. Ein kleinerer, nördlicher Teil mit den Städten Werl, Erwitte und Geseke, die durch den Hellweg verbunden wurden, lag in der westfälischen Bucht. Die Hellwegbörden im Tiefland und der im Süden anschließende Haarstrang waren und sind sehr fruchtbar. In der Nähe von Werl, Westernkotten und Sassendorf lagen reiche Salzquellen.
Die Fläche betrug nach Berechnungen von Ludwig von Vincke zu Beginn des 19. Jahrhunderts 62 preußische Quadratmeilen. Dies sind 3488 km². Neuere Berechnungen ergaben ohne Berücksichtigung der Exklave Volkmarsen (etwa 30 km²) und des Kondominats Valbert (etwa 65 km²) eine Fläche von 3715 km². Damit war das Herzogtum deutlich größer als das Erzstift Köln selbst.
Geschichte
Das Kölnische Westfalen im Mittelalter
Westfalen und das Erzbistum Köln im Mittelalter
Die Beziehung der Kölner Bischöfe zu Westfalen reichen bis in die karolingische Zeit zurück. Auf der Paderborner Reichsversammlung von 777 übertrug Karl der Große die Christianisierung des Sauerlandes bis hin nach Siegen und des östlichen Teils der Hellwegregion den Erzbischöfen von Köln. Von der Größe her war dieses Gebiet mit dem Mittelpunkt in Soest für die Errichtung eines eigenen Bistums geeignet. Die Erzbischöfe zogen es jedoch vor, das Gebiet unmittelbar unter ihrer eigenen kirchlichen Verwaltung zu behalten, sodass sich das Erzbistum Köln vom Rheinland bis ins südliche Westfalen erstreckte. Nördlich der Lippe grenzte das Bistum Münster an, im Osten bei Geseke das neue Bistum Paderborn. Im Süden lag das Erzbistum Mainz.
Die von Köln ausgehende Mission ließ eine frühe Kirchenorganisation entstehen. Von einigen Urpfarreien ausgehend, etwa in Soest, Wormbach bei Schmallenberg oder Hüsten, wurden im Laufe der Zeit Tochterkirchen gegründet.
Mit den Kirchengründungen verbunden waren zahlreiche Güterübertragungen von Seiten des Adels und des Königs zur Ausstattung der Kirchen, zur Versorgung der Priester und damit zur Aufrechterhaltung des Kultes. Dadurch gelangten die Kölner Erzbischöfe als geistliche Oberhäupter bald zu erheblichem Einfluss in der Region. Teile der Schenkungen wurden zur Versorgung von Klöstern und Stiften genutzt. 1014 übernahm der Erzbischof den Schutz des bereits bestehenden Kanonissenstiftes Geseke. 1072 wurde auf seine Veranlassung von Siegburger Mönchen das Kloster Grafschaft gegründet. 1170 wurde das Kloster Bredelar gestiftet. Die Klostergründungen trugen ebenfalls zur Festigung der Kölner Stellung in Westfalen bei. Daneben blieb ein beträchtlicher Teil der Güter unter der direkten Kontrolle Kölns. So besaß um 1100 die Kölner Kirche umfangreichen Grundbesitz in und um Soest, Körne (bei Dortmund), Belecke, Recklinghausen, Menden, Hagen, Schwelm, Medebach und in Olpe. Einige dieser Rechte (Schwelm, Dortmund, Hagen) gingen später wieder verloren. Die übrigen bildeten im Hochmittelalter die Grundlage der Kölner Territorialentwicklung in Westfalen.
Zur Klosterlandschaft im Herzogtum Westfalen siehe: Liste der geistlichen Institute im Herzogtum Westfalen
Entstehung und Entwicklung des Territoriums bis 1368
Seinen Ursprung hatte das Territorium in den Machtbestrebungen der Kölner Erzbischöfe seit dem 12. Jahrhundert. In Konkurrenz mit dem regionalen Adel kam es zum Bau oder Erwerb von Burgen (zum Beispiel im Jahr 1100 Volmarstein bei Wetter (Ruhr) und 1120 Burg Padberg bei Marsberg). Für die Expansionsmöglichkeit in Westfalen entscheidend war zunächst die Schwächung der Grafen von Werl und der Grafschaft Arnsberg. Im Jahr 1102 kaufte Erzbischof Friedrich I. aus dem Besitz der Grafen von Werl Hachen bei Sundern und Werl. Außerdem wurde Graf Friedrich von Arnsberg nach der Eroberung der Stadt Arnsberg gezwungen, auf die Hälfte seiner Grafschaft zugunsten Kölns zu verzichten. Später folgte der Erwerb von Rüthen sowie der Grafschaft Volmarstein mit Schwelm und Hagen. Im Jahr 1164 wurde die Stadt Arnsberg von Erzbischof Reinald von Dassel erneut erobert; die Grafen von Arnsberg wurden gezwungen, die Lehnsherrschaft Kölns anzuerkennen.
Den Erzbischöfen fehlten lange Zeit über Einzelbesitzungen hinausgehende Rechte in der Region. Unter Otto I., der gleichzeitig Herzog von Sachsen war, waren die östlichen Teile Sachsens den Billungern übertragen worden. Eine Weitergabe der Rechte südlich der Lippe fand nicht statt. Dort beanspruchten die sächsischen Könige weiter Herzogsrechte. Die Werler Grafen verstanden sich als Stellvertreter des Herzogs in diesem Gebiet. Die familiären Bindungen zum Kaiserhaus verstärkten diesen Anspruch. Nach dem Ende der ottonischen Linie wurden die Herzogsrechte in diesem Teil Sachsens nicht neu vergeben. Die Billunger versuchten lange Zeit vergeblich, ihre Ansprüche auf das ganze Herzogtum durchzusetzen. Erst Heinrich dem Löwen gelang es, als Herzog von Gesamtsachsen anerkannt zu werden.
Nach dem Sturz Heinrichs des Löwen (1180), an dem der Kölner Erzbischof Philipp von Heinsberg entscheidend beteiligt war, erhielt letzterer durch die Gelnhäuser Urkunde den Titel eines Herzogs von Westfalen und Engern, wurde also Herzog über den westlichen Teil des ursprünglichen Herzogtums Sachsen. Allerdings brachte der neue Titel den Erzbischöfen keinen direkten Machtzuwachs in Westfalen. Weder waren im Vertrag von Gelnhausen die Grenzen des Herzogtums festgelegt noch waren die herzoglichen Rechte, Befugnisse oder Gerechtsame geregelt. Zu den Rechten des Herzogs gehörte es, das militärische Aufgebot des (eben nicht definierten) Landes zusammenzurufen und zu führen. Hinzu kam das Recht des Burgenbaus, die Gerichtshoheit und die Pflicht zur Wahrung des Landfriedens. Allerdings wurden diese Rechte durch die Stärkung der Territorialherren durch die Reichsgesetze von 1220 und 1231 zu weitgehend leeren Titeln. Eine gewisse Bedeutung behielt die Oberaufsicht der Erzbischöfe über die Femegerichte, die vor allem im Spätmittelalter an Bedeutung gewannen.
Von großem Vorteil sollte sich aber erweisen, dass der Herzog das alleinige Recht der Städtegründung hatte, das ihm von den anderen Herren in Raum zwischen Rhein und Weser dann auch heftig bestritten wurde. So förderte der Erzbischof lange Zeit die in Westfalen mit Abstand bedeutendste Stadt Soest, deren Stadtherr er war und die schon um 1180 ein bedeutender, mit Mauern befestigter Handelsplatz war. Die anderen Städte wurden vielfach gezielt von den Erzbischöfen angelegt, insbesondere im Zeitraum zwischen 1180 und 1311. Dabei trat im Laufe der Zeit der Charakter der Städte als Handelsplätze gegen ihre Bedeutung als Befestigung immer mehr zurück.
Über die reale machtpolitische Entwicklung entschied im Wesentlichen das „Recht des Stärkeren“. Allerdings kam den Kölner Erzbischöfen der prestigeträchtige Herzogstitel durchaus gelegen, um ihre Position in Westfalen auszubauen. Nicht nur Erzbischof Engelbert von Berg (1216–1225) betrieb die planmäßige Ausdehnung des Territoriums und geriet damit in Gegensatz zu den weltlichen Herrschern, denen er die kirchlichen Vogteien entzog. Der Streit gipfelte in der Ermordung des Erzbischofs bei Gevelsberg durch eine „Fronde“ westfälischer Adeliger, an deren Spitze sein Neffe Graf Friedrich von Isenberg stand.
Obwohl Köln weiterhin vor allem in den Grafen von der Mark und den Grafen von Arnsberg ernstzunehmende Konkurrenten hatte, war der regionale Adel zu schwach und zu zerstritten, um den weiteren Ausbau der Kölner Herrschaft zu behindern. Das isolierte Medebach wurde durch die Gründung oder Befestigung der Städte Hallenberg, Schmallenberg und Winterberg gesichert. Im Jahr 1248 wurde mit dem Erwerb der Burg und Herrschaft Waldenburg bei Attendorn die erzbischöfliche Macht im Gebiet des heutigen Kreises Olpe gefestigt. Die Städtegründungen wurden mit Menden an der Grenze zur Grafschaft Mark fortgesetzt.
Vor allem gegen die Expansionsversuche von Erzbischof Siegfried von Westerburg entwickelte sich Widerstand. Abgesehen vielleicht von den Bischöfen von Minden und Münster, waren daran fast alle Territorialherren Westfalens beteiligt, unter ihnen auch Graf Eberhard II. von der Mark. Die Entscheidung fiel in der Schlacht von Worringen (1288), in deren Verlauf der Erzbischof gefangen genommen wurde. Als Ergebnis der Schlacht wurde der weitere Aufstieg Kölns in Westfalen gebrochen. Schwelm und Hagen fielen an die Grafschaft Mark. Die Burgen Volmarstein und Raffenberg wurden zerstört. Die Erzbischöfe waren von nun an nur noch ein Landesherr neben anderen. Dagegen gewannen die Grafen von der Mark deutlich an Einfluss.
Zu Beginn des 14. Jahrhunderts verfügte Köln über ein ausgedehntes, nur teilweise zusammenhängendes Gebiet in Westfalen. Einen Schwerpunkt bildete das Amt Waldenburg mit Attendorn und Olpe. Ein weiterer lag im oberen Sauerland mit Medebach, Winterberg, Hallenberg und Brilon. Ein dritter Schwerpunkt lag im Norden mit Rüthen, Belecke, Soest, Warstein, Werl, Geseke und Erwitte.
Der Vereinigung der Gebiete stand im Wesentlichen die Grafschaft Arnsberg entgegen. Als sich im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts abzeichnete, dass Graf Gottfried IV. von Arnsberg kinderlos sterben würde, standen sich Kurköln und die Grafschaft Mark als Konkurrenten um das Erbe gegenüber. Köln setzte sich in diesem Konflikt durch. Der Erzstuhl kaufte dem Grafen im Jahr 1368 sein Territorium ab und ermöglichte ihm als einzigem weltlichen Fürsten ein Begräbnis im Kölner Dom.
Erblandesvereinigungen und Soester Fehde
Im Jahr 1437 kam es nicht nur zur Arnsberger „Reformation der Feme“, sondern mit einer ersten Erblandesvereinigung ohne Wissen des Landesherrn zwischen 167 Rittern und 16 Städten zu einem deutlichen Ausdruck ständischen Mitspracheanspruchs. Zuvor hatte der Erzbischof versucht, ohne Bewilligung der Betroffenen eine Kopfsteuer einzuführen.
Dem Landesherrn gelang es bereits im Jahr 1438, diese Erblandesvereinigung durch Bestätigung zahlreicher Privilegien zu sprengen. Zu einem vollständigen Interessenausgleich zwischen Landesherrn und Ständen kam es allerdings nicht mehr. So erkannte im Jahre 1444 die bedeutende Hansestadt Soest die Oberhoheit des Kölner Erzbischofs Dietrich von Moers nicht mehr an und unterstellte sich dem Herzog von Kleve. Daraufhin kam es zur Soester Fehde (1444 bis 1449) zwischen dem Erzbischof von Köln und der Stadt Soest. An der Seite Soests stand neben Kleve und zahlreichen westfälischen Städten vor allem der mächtige Herzog von Burgund. Bei dieser Auseinandersetzung ging es nicht mehr nur um den Grad der Freiheit einer Stadt, sondern um die Machtverteilung im Westen des Reiches insgesamt. 1447 wurde die Stadt Soest von einem 12.000 Mann starken Söldnerheer belagert, konnte aber nicht eingenommen werden. Soest und sein unmittelbares Umland, die Soester Börde, verblieben beim Herzog von Kleve beziehungsweise der Grafschaft Mark.
Mehrfach versuchten die Kölner Kurfürsten in der Folge, Soest zurückzugewinnen. Unter Hermann von Hessen kam es 1504 zu einer kriegerischen Auseinandersetzung und einem erneuten vergeblichen Angriff auf die Stadt. Am Ende musste der Kurfürst einsehen, dass seine Rückgewinnungsversuche gescheitert waren.
Dagegen behielt Köln die während der Soester Fehde eingenommenen Gebiete um Fredeburg und Bilstein. Das Bilsteiner Land wurde dem Herzogtum 1445 nach der erfolgreichen Belagerung der Burg Bilstein durch Erzbischof Dietrich von Moers einverleibt. Zuvor gehörte es zur Grafschaft Mark beziehungsweise zum Herzogtum Kleve-Mark. Die Übergabe der Burg erfolgte unblutig durch den Bilsteiner Amtmann Johann von Bruch, der vergeblich auf kleve-märkischen Entsatz gehofft hatte. Ein Jahr zuvor hatte Kurköln bereits Burg und Land Fredeburg erobert. Damit war die territoriale Entwicklung bis auf kleinere Grenzkorrekturen abgeschlossen. Die schon länger bestehenden Verwaltungseinheiten änderten sich in den nächsten 350 Jahren nur noch unwesentlich.
Nach der gescheiterten Großmachtpolitik war der Kurfürst auch innenpolitisch geschwächt. 1463 wurden eine zweite Erblandesvereinigung für das Herzogtum Westfalen und eine weitere für das Gebiet des Erzstifts und des Vest Recklinghausen zwischen dem neuen Kurfürst, Domkapitel und Ständen abgeschlossen. Eine Bestimmung des Vertrages sah vor, dass ein neu gewählter Erzbischof nur dann mit einer Huldigung der Stände rechnen konnte, wenn er zuvor die Einhaltung bestimmter Bedingungen anerkannt hatte.
Nachdem Erzbischof Ruprecht von der Pfalz sich von der rheinischen Erblandesvereinigung abwandte, entbrannte zwischen ihm und den rheinischen Ständen die Kölner Stiftsfehde. Der Erzbischof wurde dabei teilweise von einigen Ständen im Herzogtum Westfalen unterstützt. Der Krieg griff daher auch auf dieses Gebiet über. Als Unterstützer des von den rheinischen Ständen zum Stiftsverweser bestimmten Hermann von Hessen griffen hessische Truppen 1473 vergeblich Brilon an. Umgekehrt gelang es dem Herzog von Kleve als Unterstützer von Ruprecht 1478 vorübergehend, die Städte Arnsberg und Eversberg zu besetzen.
Die Erzbischöfe versuchten mehrfach, ihre Politik durch Verpfändung einzelner Landesteile zu finanzieren. Gegen die drohende Zersplitterung und Auflösung des Landes schlossen sich Ritterschaft und Städte zusammen. Sie nötigten dem Landesherrn die Zusicherung ab, ohne ihre Zustimmung keine Verpfändungen mehr vorzunehmen. In der Folgezeit mussten die Kurfürsten bei ihrem Amtsantritt die Erblandesvereinigung anerkennen. Im Jahr 1590 kam es zu einer Erneuerung dieses für das Land zentralen Grundgesetzes. Neben der Festlegung der Kompetenzen von Landesherrn und Landständen schloss die Erblandesvereinigung von 1463 die staatsrechtliche Vereinigung der Länder des Marschallamtes für Westfalen, der alten Grafschaft Arnsberg und des Amtes Waldenburg ab. Erst seither lässt sich wirklich von einem geschlossenen Territorium sprechen, wenn auch Rudimente der Eigenständigkeit weiterbestanden.
Frühe Neuzeit
Gescheiterte Fürstenreformation
Erst relativ spät hatte die Reformation auch nennenswerte Auswirkungen auf das Herzogtum Westfalen. Einzig in der Freigrafschaft Düdinghausen, die aber unter starkem Einfluss Waldecks stand, konnte die Reformation über eine längere Zeit Fuß fassen. Allerdings gab es vereinzelte Personen oder Familien wie die der Vögte von Elspe, die sich zumindest zeitweise der Reformation anschlossen. Aus der Stadt und dem Amt Medebach ist bekannt, dass von dort Studenten kamen, die an der evangelischen Hochschule in Marburg studierten. Auch gab es in diesem Bereich einzelne Pfarrer, die sich der neuen Glaubensrichtung zugewandt hatten.
Gefahr für den Katholizismus ging allerdings zweimal vom Landesherrn aus. Der Übertritt von Kurfürst und Erzbischof Hermann von Wied zum protestantischen Glauben und dessen Versuch, im Erzstift und im Herzogtum Westfalen ein evangelisches Kirchenwesen einzurichten, rief unterschiedliche Reaktionen hervor. In Städten wie Brilon, Geseke und vor allem in Werl war die „Kölner Reformation“ durchaus erfolgreich, während sie in Arnsberg auf den entschiedenen Widerstand des Klosters Wedinghausen stieß. Letztlich verhinderten die Niederlage der Protestanten im Schmalkaldischen Krieg und die Niederlegung des Bischofsamts einen durchaus möglichen Sieg der neuen Konfession in den Kölner Staaten. In einigen Orten konnten sich protestantische Reste noch einige Zeit halten. In Geseke gab es noch 1564 sowohl in der Abteikirche wie auch in der Kollegiatkirche evangelische Prediger. Für längere Zeit hatte sich die Reformation in Marsberg um 1550 durchgesetzt.
In die Zeit Hermanns von Wied fallen auch verschiedene weltliche Reformbemühungen. Dazu zählte eine in Arnsberg 1533 erlassene Bergordnung für alle Gebiete des Kurfürstentums Köln. Zusätzlich wurden 1537 die weltlichen Gerichte und 1538 die Femegerichte reformiert. Hinzu kamen eine Polizeiordnung und grenzüberschreitende Abkommen zur Bekämpfung des „Gesindels“. Die folgenden Kurfürsten hinterließen in der Region nur relativ wenige Spuren. Unter Friedrich IV. von Wied wurde 1567 ein Schatz- und Steuerregister angelegt. Unter Salentin von Isenburg begannen erste Ansätze zur Durchsetzung der Beschlüsse des Konzils von Trient in seinem Herrschaftsgebiet. Er förderte auch das Schulwesen im Herzogtum.
Etwa 40 Jahre nach der Herrschaft von Hermann von Wied kam es erneut zu einem Reformationsversuch von oben, als der Erzbischof Gebhard Truchseß von Waldburg im Jahr 1582 zum Protestantismus übertrat. Der Kurkölnische oder Truchsessische Krieg nach der Absetzung des Landesherrn war verbunden mit Plünderungen und Gewalttaten von dessen Anhängern und Gegnern. Während die protestantischen Fürsten der Sache des Kölners kaum halfen, fand er in Teilen des landsässigen Adels und auch in einer Reihe von Städten (Brilon, Geseke, Marsberg, Volkmarsen, Medebach, Winterberg und Hallenberg) Unterstützung. Anfangs hatte der Truchsess seine Operationsbasis im Herzogtum Westfalen, konnte aber in einem kurzen Feldzug zu Beginn des Jahres 1584 vertrieben werden. Der Sieg seines Verbündeten Martin Schenk von Nideggen in der Schlacht bei Werl im Jahr 1586 hatte keine Folgen für die Machtverhältnisse. Nach der Niederlage des ehemaligen Kurfürsten konnte sich der Protestantismus nur an wenigen Orten zumindest teilweise noch längere Zeit behaupten. Dies gilt wahrscheinlich für den Raum Marsberg, wo sich möglicherweise bis ins 17. Jahrhundert hinein eine protestantische Minderheitengemeinde halten konnte.
Zeit der Gegenreformation
Der 1583 neu gewählte Erzbischof Ernst von Bayern setzte sich schließlich mit Hilfe bayerischer Truppen im gesamten Kölner Erzstift durch. Mit diesem Kurfürsten begann eine bis 1761 ununterbrochene Reihe von Erzbischöfen aus den Reihen der bayerischen Prinzen.
Nach heftigen Auseinandersetzungen mit seiner Familie, die seinen privaten Lebenswandel nicht billigte, zog sich Ernst von Bayern 1595 ins Herzogtum Westfalen zurück und residierte fortan im Schloss Arnsberg. Er lebte mit Gertrud von Plettenberg zusammen und hatte mit dieser unter anderem den Sohn Wilhelm, der zeitweise Landdrost und später Abt der Reichsabtei Stablo-Malmedy war. Ernst von Bayern bestätigte 1590 die Erblandesvereinigung und erließ 1596 eine neue Polizeiordnung für seine rheinischen und westfälischen Besitzungen. Im Jahr 1606 erließ er auch eine Medizinalordnung zur Bekämpfung der Pest. Ernst überließ die Regierungsgeschäfte weitgehend seinem Neffen und Coadjutor Ferdinand von Bayern, der ihm 1612 als Erzbischof folgte. Erst unter ihm wurden Maßnahmen zur Durchsetzung der Gegenreformation im Herzogtum verstärkt vorangetrieben.
Ab 1612 setzte der neue Landesherr erstmals im Herzogtum Westfalen und im Vest Recklinghausen spezielle geistliche Kommissare mit weitreichenden Befugnissen zur Durchführung von kirchlichen Veränderungen ein. Hierzu führten sie umfangreiche Kirchenvisationen durch. Schon die ersten Visitationsberichte zeigten deutlich, dass es noch immer protestantische Gruppen gab. Der Kurfürst erließ 1614 eine auch für das Herzogtum geltende Religionsordnung. Darin wurde die Niederlassung oder die Besetzung von Ämtern vom katholischen Bekenntnis abhängig gemacht. Daneben förderte der Kurfürst die Bettelorden. Im Jahr 1637 wurden die Franziskanerklöster in Attendorn und Geseke gegründet. Im Jahr 1645 folgte das Kapuzinerkloster in Werl. Weitere vergleichbare Klöster entstanden unter Maximilian Heinrich von Bayern. Noch in die Zeit Ferdinands fielen die Gründung des Gymnasiums Laurentianum in Arnsberg und des Gymnasiums Marianum Seraphicum in Attendorn. Ersteres wurde von den Prämonstratensern der Abtei Wedinghausen und letzteres von den Franziskanern getragen. Später kamen noch das Gymnasium Petrinum Brilon und das Gymnasium Antonianum Geseke hinzu. In seine Zeit fällt auch der Beginn der Errichtung einer Niederlassung der Jesuiten in Arnsberg.
Hexenverfolgungen
Insbesondere in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts erlebte das Herzogtum eine Welle von Hexenverfolgungen. Das Herzogtum Westfalen war ein Zentrum der Hexenverfolgung in Nordwestdeutschland. Ein erster überlieferter Prozess fand 1521 in Winterberg statt. Erste größere Prozesse mit mehreren Angeklagten fanden 1573/74 in Kallenhardt statt. Eine erste Prozesswelle lag um 1590. Besonders genährt wurde der Hexenwahn durch Erzbischof Ferdinand von Bayern und seinen Landdrost Friedrich von Fürstenberg. Neben dem Erlass einer besonderen Hexenordnung war von Bedeutung, dass auch hierfür der Landesherr spezielle Kommissare einsetzte, die mit unbarmherziger Härte gegen die sogenannten „Zauberer“ vorgingen. Höhepunkt der Hexenverfolgungen war im Herzogtum wie auch im Reich die Zeit von 1628 bis 1630. In diesen drei Jahren wurden mindestens 880 Personen hingerichtet. Besonders hoch war die Zahl im Amt Balve mit 280 Hingerichteten. Nach einem Abebben der Prozesswelle kam es um 1655 erneut zu zahlreichen Prozessen. Letzte Todesurteile stammen aus Geseke (1708) und Winterberg (1728). Ein letzter Prozess, der allerdings mit einem Freispruch endete, fand 1730 in Brilon statt.
Dreißigjähriger Krieg und Folgezeit
Der Dreißigjährige Krieg ging nicht spurlos an der Region vorbei. Die Region war als Rückzugsraum für die kaiserlichen Truppen von einer gewissen strategischen Bedeutung. Insgesamt waren Schlachten, Belagerungen oder ähnliche Kriegsereignisse allerdings nicht sehr zahlreich. Aber viele Städte und Dörfer litten unter Plünderungen, Brandschatzungen oder Kontributionszahlungen. Im Jahr 1622 plünderten die Truppen der katholischen Liga auf der einen und Christian von Braunschweig auf der anderen Seite das Land aus. Es kam zur Besetzung von Geseke durch Christian von Braunschweig und zur Rückeroberung durch Dietrich Ottmar von Erwitte. Auf Seiten der katholischen Liga operierte Lothar Dietrich von Bönninghausen zu Beginn der 1630er Jahre im Sauerland. Ebenfalls seit Beginn der 1630er Jahre verfolgte die Landgrafschaft Hessen das Ziel, das Herzogtum Westfalen für Hessen zu gewinnen. In dieser Zeit war die Situation durch die Gegnerschaft der von Schweden unterstützten Hessen einerseits und der Kaiserlichen andererseits bestimmt. Werl, Geseke, Brilon und Rüthen wurden beispielsweise von den Hessen erobert. Im Süden dagegen konnten sich auf Dauer die Kaiserlichen behaupten. Nach 1634 ließ die hessische Macht in der Region allmählich nach, blieb aber bis zum Ende des Krieges eine Bedrohung. So eroberten sie zusammen mit den Schweden 1646 Obermarsberg und zerstörten es. Besonders gut ist man zum Beispiel über das Schicksal des Amtes Brilon und der Städte Medebach und Hallenberg durch zeitgenössische Berichte informiert. Die Besatzer wechselten häufig. Mehrfach flüchteten die Bewohner in die umliegenden Wälder. Medebach wurde durch Brände stark beschädigt, die Einwohner litten unter Plünderungen und der Pest, der 1636 ein Drittel der Einwohner zum Opfer fiel. Ins Kloster Wedinghausen bei Arnsberg drang 1634 der aus der Stadt selbst stammende General Eberhard Beckermann ein. Eine wahrscheinlich geplante Eroberung der Stadt unterblieb. Auch in Arnsberg kam es mehrfach zu Ausbrüchen der Pest.
Die langfristigen wirtschaftlichen Folgen sind nicht zu unterschätzen. Der im 16. Jahrhundert blühende Erzabbau, die damit verbundene Verhüttung und Verarbeitung erlebten einen schweren Rückschlag. Erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte sich die regionale Wirtschaft davon erholt. Ähnliches gilt für die Sozialstruktur. Hatte sich die Gesellschaft im 16. Jahrhundert zunächst differenziert, kam es im 17. Jahrhundert zu einer Entdifferenzierung und zu einer Reagrarisierung des kurkölnischen Sauerlandes. Sozialstrukturell spiegelte sich dies in einem unterdurchschnittlichen Bevölkerungswachstum wider.
Nachfolger von Ferdinand von Bayern war ab 1650 Maximilian Heinrich von Bayern. In dessen Zeit fallen zahlreiche Verordnungen und Gesetze. Darunter war eine neue Bergbauordnung, eine Waldordnung und eine Judenordnung. Von den kriegerischen Auseinandersetzungen unter dessen Nachfolger Joseph Clemens von Bayern um den Bischofssitz war das Herzogtum nur am Rande betroffen. Auch dieser Kurfürst erließ mehrere Verordnungen für das Herzogtum. Darunter war die Polizeyordnung von 1723, die bis zum Ende des Herzogtums in Kraft blieb. Während seiner Flucht nach Frankreich 1702 regierte das Domkapitel bis zur Rückkehr des Kurfürsten die kurkölnischen Gebiete.
Die Ära von Clemens August und Siebenjähriger Krieg
Clemens August I. von Bayern war von 1723 bis 1761 für fast vier Jahrzehnte Landesherr im Herzogtum. Er versuchte insbesondere durch die Unterordnung der Regierung unter die Hofkanzlei das Land stärker als bisher in den Kurstaat zu integrieren. Der Regierung in Arnsberg war es seither verboten, Klagen direkt vor dem Reichskammergericht oder dem Reichshofrat einzureichen. Einziges Appellationsgericht war der Hofrat in Bonn. Allerdings konnten sich die Landstände als eigenständige Kraft behaupten.
Auch Clemens August erließ zahlreiche Gesetze und Verordnungen für das Herzogtum. Dazu zählte eine Normierung der Maße und Gewichte. Clemens August trat auch im Herzogtum Westfalen als Bauherr etwa des Neubaus des Schlosses Arnsberg durch Johann Conrad Schlaun und des Schlosses Hirschberg hervor.
Seine Hofhaltung entfaltete eine bislang im Herzogtum Westfalen nicht gekannte fürstliche Pracht und belastete den Staatshaushalt erheblich. Ruinös für das Herzogtum wurde seine Beteiligung am Kampf gegen Friedrich II. von Preußen. Während des Siebenjährigen Krieges wurde das Herzogtum zum direkten Kriegsschauplatz. Unter anderem wurde dabei das Arnsberger Schloss völlig zerstört. Durch die hohe Schuldenlast als Folge zahlreicher Kontributionen konnte sich das Land wirtschaftlich und kulturell bis zum Ende des Kurstaates 1802 nicht mehr erholen. Manche Orte hatten bis weit ins 19. Jahrhundert an den Folgen der Verschuldung zu tragen.
Katholische Aufklärung
Unter dem Nachfolger Kurfürst Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels wurden im Zusammenhang mit der katholischen Aufklärung verschiedene Reformen begonnen. So wurde der Aufwand kirchlicher Prozessionen und die Zahl der Feiertage beschränkt. Außerdem wurde 1778 eine Brandversicherung für das Herzogtum gegründet. Ein Jahr später wurde ein Medizinalrat für alle kurfürstlichen Gebiete in Bonn gegründet.
Im Herzogtum Westfalen versuchte insbesondere der Landdrost Franz Wilhelm von Spiegel Veränderungen durchzusetzen. Im Zentrum der Bemühungen standen dabei die Reform und der Ausbau des Bildungswesens. Zu Beginn der 1780er Jahre kam es zu Bemühungen, das Gymnasium Laurentianum in Arnsberg zu einer Musteranstalt für die höhere Schulbildung umzugestalten. Außerdem wurde eine Schulkommission als zuständige Behörde für das Schulwesen im gesamten Herzogtum gegründet.
Die katholische Aufklärung wirkte sich auch in der Gründung des Arnsbergischen Intelligenzblattes aus. Bei öffentlichen Bauten spielte nicht mehr so sehr das Repräsentationsbedürfnis, sondern Nützlichkeitserwägungen eine Rolle. So wurde das Arnsberger Schloss nach der Bombardierung während des Siebenjährigen Krieges nicht wieder aufgebaut, sondern die Steine zum Bau eines Zuchthauses (ab 1816 Sitz der Bezirksregierung Arnsberg, heute Verwaltungsgericht) benutzt.
Von Spiegel wollte die Reformmaßnahmen insbesondere im Schulwesen durch die Säkularisation von Stiften und Klöstern finanzieren. Bereits zuvor hatte er Kritik an den Klöstern geäußert. Zur Säkularisierung kam es bis zum Ende des Alten Reiches jedoch nicht. Auch innerhalb der Klöster gab es Einflüsse der Aufklärung. Innerhalb des Klosters Wedinghausen bestanden Konflikte zwischen Traditionalisten und Reformern. Extreme Kritik kam von Friedrich Georg Pape, der für eine rationalistische Theologie eintrat und später eine bedeutende Rolle in der Mainzer Republik spielte.
Kurfürst Maximilian Franz von Österreich setzte die Reformpolitik fort. Angesichts des Raubbaus an den Wäldern, nicht zuletzt zur Herstellung von Holzkohle, ergingen Gesetze für eine nachhaltige Holznutzung. Gleichzeitig verstärkte er die Anbindung des Herzogtums an den Gesamtstaat. Seine Regierung verlegte die anachronistischen Zollstellen innerhalb des Herzogtums an den Grenzen der alten Grafschaft Arnsberg nunmehr an die Außengrenzen des Landes. Der Übergang von den Binnen- zu den Außenzöllen wird als später Beitrag zur Modernisierung des Territoriums interpretiert. Manufakturen und Fabriken wurden 1791 vom Zunftzwang befreit. Auf Betreiben der Stände ging die Regierung auch gegen Missbräuche im Zunftwesen vor. Auch die Reformen im Bildungswesen gingen weiter. So wurde eine Schulkommission gegründet. 1799 erließ die Regierung eine Schulordnung für das Gymnasium Laurentianum. Friedrich Adolf Sauer verbesserte die Lehrerausbildung durch die Errichtung einer Normalschule. Zusätzlich zu den üblichen Elementarschulen entstanden sogenannte Industrieschulen zur Vermittlung gewerblicher Fertigkeiten vor allem im Bereich der Textilherstellung. 1802 gab es insgesamt 255 Elementarschulen und 38 Industrieschulen für Jungen sowie 18 für Mädchen.
Herzogtum Westfalen in der hessen-darmstädtischen Zeit
Maximilian Franz hatte 1794 vor den französischen Revolutionstruppen fliehen müssen. Er selbst lebte in der Folgezeit in seiner Funktion als Hochmeister des Deutschen Ordens in Mergentheim. Dagegen siedelten die Kurkölner Behörden, Gerichte und das Domkapitel auf die rechte Rheinseite ins Herzogtum Westfalen über. Denn im Frieden von Lunéville wurden 1801 alle linksrheinischen Gebiete an Frankreich abgetreten.
Verschiedene Länder und Fürsten hatten zum Ausgleich ihrer territorialen Verluste in den linksrheinischen Gebieten Interesse am Herzogtum. Darunter waren Preußen, Hessen-Kassel und Wilhelm IV. von Oranien. Letztlich setzte sich dann die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt durch. Ohne die Entscheidung des Reichsdeputationshauptschlusses abzuwarten, okkupierte Hessen-Darmstadt das Herzogtum im Jahr 1802. Die kurfürstlichen Behörden stellten im Oktober des Jahres ihre Arbeit ein. Lediglich das Domkapitel und die kurkölnischen Soldaten erkannten dies erst mit Verzögerung an. Der Reichsdeputationshauptschluss hat diesen Schritt 1803 legitimiert. Die Exklave Volkmarsen fiel nach verschiedenen Zwischenstationen im Jahr 1817 an die Landgrafschaft Hessen-Kassel. Das Herzogtum hatte damals etwa 131.000 Einwohner.
Als Provinz „Herzogtum Westfalen“ mit der Hauptstadt Arnsberg wurde das Gebiet dem hessen-darmstädtischen Staat eingegliedert. Seit der Verwaltungsreform vom Oktober 1803 bildete es neben dem Fürstentum Oberhessen und dem Fürstentum Starkenburg einen der drei Teile der Landgrafschaft. In jeder der drei Provinzen wurde eine Regierung, ein Hofgericht und eine Rentkammer (seit 1809 Hofkammer) sowie ein Kirchen- und Schulrat eingerichtet. Zeitweise bestand im Herzogtum Westfalen zusätzlich ein Forstkolleg.
Die meisten der Klöster und Stifte im Herzogtum Westfalen wurden unmittelbar nach der Besitzergreifung säkularisiert. Unklar blieb zunächst die Rolle der Landstände. Auf dem Landtag 1804 bewilligten diese die beantragten Gelder, ohne dass die Privilegien der Stände bestätigt worden wären. Die Abschaffung der Steuerfreiheit für den Adel und die Steuerminderung der Städte durch den Landesherren führte zu Konflikten mit den Ständen. Eine Beschwerde beim Reichshofrat hatte kein Ergebnis, weil dieser mit dem Ende des Alten Reiches seine Arbeit einstellte.
Im Zuge der rheinbündischen Reformen wurden seit 1806 neben Veränderungen der Finanz- und Justizverwaltung im gesamten hessen-darmstädtischen Territorium auch die Landstände und die kommunale Selbstverwaltung aufgehoben. Die rechtlichen Unterschiede zwischen Stadt- und Landgemeinden verschwanden und 1808/1811 wurde die Schultheißen-Verfassung in den Gemeinden eingeführt. Die Schultheißen waren dabei ernannte Beamte des Landesherren. Der Gemeinderat hatte nur beratende Funktion. Das Gebiet wurde in etwa gleich große Ämter eingeteilt.
Auch die Rechte der Zünfte verschwanden. Hinzu kamen die Aufhebung der Eigenbehörigkeit. Die Bauern wurden Eigentümer und das Land war nunmehr unbeschränkt teilbar und vererbbar. Es wurden Anfänge einer Flurbereinigung vorgenommen und Ansätze einer nachhaltigen Forstwirtschaft eingeführt. Zur Förderung der Landwirtschaft wurde eine Landeskulturgesellschaft gegründet. Ein neues Steuersystem umfasste eine Vermögenssteuer sowie eine Gewerbe- und Verbrauchssteuer. Die Hinweise der Arnsberger Regierung über Ungleichheiten bei der Vermögenssteuer führten zur Erstellung eines Katasters. Hinzu kamen Reformen im Bildungs- und Gesundheitswesen.
Die Beteiligung von Hessen-Darmstadt an den Kriegen Napoleons im Rahmen des Rheinbundes führte zu Einquartierungen, steigenden Steuern und der Einführung der Wehrpflicht im Jahr 1804. Im Jahr 1809 verschärfte ein Musterungserlass insbesondere für die ehemals kurkölnischen Gebiete die Strafen für Musterungsunwillige. Die Soldaten aus dem Herzogtum Westfalen gehörten der Brigade „Erbprinz“ unter Johann Georg von Schäffer-Bernstein und der Reservebrigade „Westfalen“ an. Garnisonsstädte waren Arnsberg, Attendorn, Brilon und Werl. Die Hessen-Darmstädtischen Truppen nahmen an vielen militärischen Unternehmungen Napoleons aktiv teil und erlitten dabei hohe Verluste. Von den etwa 5000 Soldaten, die 1812 am Russlandfeldzug beteiligt waren, überlebten nur 30 Offiziere und etwa 300 Mann. Allein aus der Gegend von Olpe fielen 23 Mann. Nach der Völkerschlacht bei Leipzig durchzog Jérôme Bonaparte mit den Resten seiner Truppen die Region. Kurze Zeit später wechselte Großherzog Ludwig I. die Fronten. Einige Tage später zogen Kosaken und preußische Ulanen in Arnsberg ein. Ähnlich wie in Preußen wurden im Rahmen der Befreiungskriege 1813 im Herzogtum Westfalen eine „Freiwillige Jägerkompanie“ unter dem Kommandanten Klemens Maria von Weichs zur Wenne gebildet.
Nach der Abdankung Napoleons I. beschloss der Wiener Kongress (1815), dass das Herzogtum an Preußen fallen sollte. Ein Jahr später, im Jahr 1816, nahm Oberpräsident Ludwig von Vincke das kurkölnische Sauerland für den preußischen König als Teil der Provinz Westfalen mit der Hauptstadt Münster in Besitz. Die alte Residenzstadt Arnsberg wurde zum Sitz eines Regierungspräsidenten und konnte so in veränderter Form ihre Hauptstadtfunktion bewahren.
Grundstrukturen des Landes
Bevölkerungsentwicklung
Zwischen der Jahrtausendwende und dem 13. Jahrhundert war im Hellwegbereich und in den Bergregionen die rein vollbäuerliche Siedelzeit beendet. Alle für den Ackerbau günstigen Böden waren vergeben. Es folgte bis ins 14. Jahrhundert eine Rodungsphase, in der neben den Vollbauern die Neusiedlergruppen der Halbspänner und Kötter entstanden. Im Verlauf des 14. Jahrhunderts nahm die Bevölkerung unter dem Einfluss der Pest und der allgemeinen Agrarkrise ab. Ackerflächen und Siedlungen wurden aufgegeben. Teilweise wanderten die Bewohner in die Städte der Region ab. Der Höhepunkt dieser Wüstungsperiode lag im südlichen Sauerland zwischen 1400 und 1450 und damit deutlich später als in anderen Regionen. Im südlichen Sauerland verschwanden etwa 25 % der Siedlungen; im oberen Sauerland waren es etwa ein Drittel. Im Amt Medebach war mehr als die Hälfte der Siedlungsplätze betroffen.
In der frühen Neuzeit, unterbrochen vom Dreißigjährigen Krieg und dem niederländischen Krieg (1672–1675), nahm die Bevölkerung wieder moderat zu. Wüst gefallene Ackerflächen wurden wieder besiedelt, Heideflächen für den Ackerbau nutzbar gemacht und die Viehhaltung ausgeweitet. Diese Entwicklung setzte sich im 18. Jahrhundert fort. In dieser Zeit trug zum Bevölkerungswachstum auch die Ausweitung von Gewerbe und Bergbau bei. Dies ließ die Zahl der Kötter und Beilieger anwachsen. Die Unteilbarkeit der Bauernhöfe und das Anerbenrecht in den meisten Teilen der Region verlangsamte das Entstehen einer agrarischen Unterschicht.
Für die Zeit von Kurfürst Dietrich II. von Moers im 15. Jahrhundert wird eine Einwohnerzahl von 59.000 geschätzt. Im Vest Recklinghausen – ebenfalls Teil des Kölner Kurstaates – waren es 14.500 Personen. Im Erzstift lebten zu dieser Zeit um die 100.000 Menschen.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts schätzte Karl Friedrich von dem Knesebeck die Einwohnerzahl für 1781 auf 107.700. Friedrich Arndts kam für 1802 auf 110.000. Die Historikerin Stephanie Reekers schätzte in den 1960er Jahren die Einwohnerzahl für das Ende des 18. Jahrhunderts auf 120.000. Dies entsprach in etwa den Berechnungen der hessen-darmstädtischen Behörden zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
In die Zeit der wachsenden Bevölkerung aber insbesondere seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts nahm auch die jüdische Bevölkerung in der Region deutlich zu. Neben den Städten gab es eine nennenswerte Anzahl von Juden in einigen Patrimonialgerichten des Adels. Besonders zahlreich waren sie im Gebiet des späteren Kreises Brilon.
Regierung und Verwaltung
Das Herzogtum Westfalen unterstand dem Erzbischof von Köln als Landesherrn, bildete jedoch ein vom Erzstift Köln räumlich getrenntes eigenständiges Territorium, in dem sich die Landstände ein erhebliches Mitspracherecht gegenüber dem geistlichen Landesherrn sichern konnten. Eine vergleichbare Konstellation gab es im süddeutschen Raum mit der Grafschaft Werdenfels, die im Besitz des davon entfernt liegenden Hochstifts Freising war.
Die ehemalige Grafschaft Arnsberg wurde nach deren Erwerb, gelegen in der Mitte des Herzogtums, zu dessen Zentrum. Die Stadt Arnsberg entwickelte sich neben Bonn zu einer der Residenzen des Kurstaates. Dort residierte der Marschall von Westfalen als Stellvertreter des Erzbischofs im Herzogtum. Seit 1482 wurde dieser höchste Beamte des Herzogtums durch einen Landdrost ersetzt. Die westfälische Regierung oder Arnsberger Kanzlei hatte sowohl administrative wie auch judikative Kompetenzen. Die Einrichtung einer eigenen Regierung geht wahrscheinlich auf die Zeit der Erblandesvereinigung von 1463 zurück, die ausdrücklich einen ständigen Rat als Regierungsbehörde vorsah. Während im Erzstift eine solche ständige Einrichtung zwar ebenfalls entstanden war, sich aber angesichts der persönlichen Führung durch den Landesherren nicht halten konnte, bestand sie im Herzogtum bis zum Ende des Alten Reiches. Endgültige Gestalt nahm sie nach der unter Kurfürst Ernst von Bayern erneuerten Erblandesvereinigung von 1590 an. Seither wurde die Regierung als „Landdrost und Räte“ bezeichnet.
Der Landdrost saß dieser Kollegialbehörde vor. Er war sowohl Vertreter des Landesherren als auch dessen höchster Beamter. Der Landdrost und später auch die übrigen Amtsinhaber mussten aus dem Land selbst stammen. Neben der Funktion als kurfürstlicher Statthalter war der Landdrost auch der höchste Repräsentant der Landstände. Er war Direktor der Landstände und Vorsitzender der Ritterkurie.
Neben dem Landdrosten gab es vier juristisch gebildete „gelehrte Räte“ zumeist aus dem Bürgertum. Diese waren für die eigentliche Verwaltungsarbeit zuständig. Hinzu kamen vier adlige Räte als Vertreter der Stände. Darunter gab es verschiedene untergeordnete Beamte und Funktionsträger.
Beamte der Landstände und nicht der Regierung im engeren Sinn waren der Landpfennigmeister, zuständig für das Finanzwesen, und der Landschreiber.
Im 16. Jahrhundert waren Landdrost und Räte eine teilweise ständisch, teilweise landesherrliche Behörde. Diese war gegenüber dem Erzstift relativ unabhängig. Allerdings gab es ständige Versuche der in Bonn residierenden Regierung des Erzstifts, die Kompetenzen der Arnsberger Behörde zu beschneiden. Der Versuch, sie zu einer bloß untergeordneten Instanz zu machen, gelang im 18. Jahrhundert teilweise. Im Jahr 1739 wurde die Arnsberger Regierung dem Hofrat und 1787 auch der Hofkammer in Bonn unterstellt. Das 1786 geschaffene Oberappellationsgericht in Bonn war auch für das Herzogtum Westfalen zuständig.
Neben der oberen Regierungsbehörde gab es weitere Unterbehörden. Dazu zählte die Oberkellerei in Arnsberg mit Unterkellereien in Balve, Anröchte und Bilstein als eine Art kurfürstliche Finanzverwaltung. Hinzu kam das westfälische Forstamt mit Sitz auf Schloss Hirschberg. Neben dem Forstschutz war es zuständig für die Hege des Wildbestandes, zur Beaufsichtigung der Forstbeamten, für die Vorbereitung der Hofjagden sowie für die Versorgung der kurfürstlichen Küche mit Wildbret. Das Oberbergamt mit einem Oberberghauptmann als Leiter hatte seinen Sitz in Brilon. In Olpe befand sich ein Unterbergamt. Es hatte dafür zu sorgen, dass an die Regierungskasse der Bergzehnte abgeführt wurde. Es war für die Erteilung von Mutungsrechten, Belehnungen und die Jurisdiktion im gesamten Bereich des Berg-, Hütten- und Hammerwesens zuständig.
Landstände
siehe auch Landtag (Herzogtum Westfalen)
Die Mitregierung der Stände wurde durch die Einrichtung von Landtagen institutionalisiert. Es gab in den später zum Herzogtum zusammengefassten Gebieten bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts erste Ansätze von Landständen. Die Politik zur Zeit Dietrichs II. von Moers führte im 15. Jahrhundert zu einer Zusammenarbeit der Stände, die 1437 in der bereits erwähnten ersten Erblandesvereinigung gipfelte. Vertreten waren 167 Ritter und 16 Städte. Nach dem Tod Dietrichs von Moers kam es 1463 nach dem Vorbild der rheinischen Stände zur zweiten Erblandesvereinigung. Dieses Grundgesetz des Landes wurde 1590 erneuert und blieb bis 1802 in Kraft. Ein Landtag ist seit 1482 belegt, und seit 1583 sind die Protokolle überliefert. Die Tagungen der Landtage im Herzogtum Westfalen fanden alljährlich in Arnsberg statt. Gegliedert war die Versammlung in die Ritter- und in die Städtekurie. Landtagsberechtigt waren daher neben den adeligen Besitzern der landtagsfähigen Güter die Städte und die Freiheiten (Gemeinden mit städtischen oder stadtähnlichen Rechten). Gewisse Rechte hatte auch das Kölner Domkapitel, ohne jedoch vollständiger Landstand zu sein.
Die „Hauptstädte“ Brilon, Rüthen Geseke und Werl entsandten jeweils vier, die übrigen Städte und Freiheiten zwei Deputierte zu den Landtagen. Im 18. Jahrhundert ging die Beteiligung der Städte auch wegen der Kosten deutlich zurück, sodass häufig nur die Vertreter der Hauptstädte teilnahmen. Die Masse der Bevölkerung, die Bauern und Landarmen, waren nicht vertreten.
Das wichtigste Recht war die Steuerbewilligung. Die Steuerverwaltung lag in der Verantwortung der Stände, die dazu den Landpfennigmeister einstellten. Daneben konnte der Landesherr in Form der sogenannten Landtagspropositionen beliebige Fragen auf die Tagesordnung setzen. Auf der anderen Seite konnten die Stände Beschwerden und Vorschläge vorbringen.
Nicht abschließend geregelt war die Beteiligung der Stände an der allgemeinen Landesgesetzgebung. Bereits aus dem Landtagsabschied von 1584 geht hervor, dass der Landesherr die ständische Mitwirkung an der Gesetzgebung für geboten hielt. Aber die Mitwirkung beruhte nicht auf fürstlicher Gnade, sondern auf „guten Gewohnheiten, Freiheiten und Privilegien.“ In der Praxis wurden viele wichtige Gesetze auf dem Landtag beraten und darüber mit entschieden. Landtagsabschlüsse hatten gesetzliche Kraft. Andere Gesetze und Verordnungen wurden vom Landesherren ohne vorherige Zustimmung der Stände erlassen. Dagegen hatten sie ein Protestrecht, das sie auch einsetzten. Über die ursprünglichen Rechte der Erblandesvereinigung hinaus gelang es den Ständen, das Indigenatsrecht zu erweitern.
Anfangs lautete die Bestimmung, dass die Mitglieder des Hofrates aus den Herrschaftsgebieten Kurkölns stammen müssen. Die westfälischen Stände setzten 1662 gegenüber Kurfürst Max Heinrich durch, dass im Herzogtum Westfalen alle Ämter nur Landeingesessen und Anhängern des katholischen Bekenntnisses offenstehen sollten. Für Ausnahmen bedurfte es eines Beschlusses der Stände.
Gegen den Widerstand der meist in Arnsberg tagenden Landständeversammlung scheiterten alle Versuche, einen absolutistischen Staatsaufbau durchzusetzen. Das Herzogtum Westfalen blieb daher im Kern ein nur teilweise in den Kurstaat integrierter Ständestaat. Während die Verfassung des Herzogtums aus absolutistischer Sichtweise gegen Ende des 18. Jahrhunderts als anachronistisch betrachtet wurde, sahen sie liberale Bürger im frühen 19. Jahrhundert als Anknüpfungspunkt für eine künftige liberale Gesellschaft.
Militär
Der kurkölnische Staat verfügte in der frühen Neuzeit zumindest zeitweise über eigene stehende Truppen. Für den kurkölnischen Landeskriegsdienst wurden auch im Herzogtum Westfalen Werbungen veranstaltet. Dabei wurde 1734 festgelegt, dass niemand gegen seinen Willen angeworben werden dürfe. Diese Bestimmung wurde in der Folge weiter präzisiert. Der Kriegsdienst sollte ein ganz freiwilliger sein. Werbung fremder Landesherren waren verboten, wenn gleichzeitig der Kurfürst Werbungen veranstaltete. Zuweilen wurden andere Werbungen auch zu Gunsten der Kaiserlichen verboten. Weiter eingeschränkt wurde Anwerbungen dadurch, dass fremde Landesherren nur nach einer Genehmigung der Landstände im Herzogtum Soldaten werben durften. Diese Genehmigungen scheinen mit Ausnahmen zu Gunsten der Kaiserlichen nicht erteilt worden sein. Allerdings haben in der Praxis durchaus eigenmächtige Werbungen stattgefunden, wie die häufige Erneuerung des Werbeverbots nahelegt. Es wurden 1738 und 1739 gar Prämien für die Ergreifung fremder Werber ausgelobt. Den Werbern drohte die Todesstrafe. Ähnliche Aktionen gegen Werber gab es auch noch 1763 oder 1778.
Die militärischen Verpflichtungen des Herzogtums für den Kurrheinischen Kreis spielte nur in Kriegszeiten eine gewisse Rolle. Der Kreisbeschluss von 1714 auch in Friedenszeiten Truppen unter Waffen zu halten, wurde nicht umgesetzt. Insgesamt waren die Kriegslasten in Friedenszeiten wenig bedeutend. Die Tilgung der Kriegsschulden, die etwa durch Kontributionen entstanden waren, waren nach den auch für die Bevölkerung teilweise schweren Kriegen allerdings beträchtlich. Aus dem Mittelalter ragten Hand- und Spanndienste, wie sie früher für den Burgenbau benötigt wurden, in die frühe Neuzeit hinein. Diese Dienste wurden durch den Reichstag auf den Bau von landesherrlichen Festungen ausgedehnt. Aber Befestigungsanlagen spielten im Herzogtum zunehmend keine Rolle mehr. Zum letzten Mal 1663 wurden Steuern für die Befestigungen von Arnsberg, Werl und Bilstein erhoben. Belastend für die Bevölkerung waren die Einquartierungen. Finanziell beträchtlich waren teilweise die Kosten für die Reichskriege. Die finanziellen Lasten wurden in der Regel durch Steuern abgedeckt. Eine regelmäßige Dienstpflicht gab es nicht.
Nur in Ausnahmefällen wurden Bewohner des Landes zum Kriegsdienst herangezogen. Dies war etwa im Rahmen des Reichskrieges 1794 der Fall. Kurköln konnte die geforderten hohen Kontingenten mit den vorhandenen Truppen nicht stellen. Daher wurden im Kurstaat wie im Herzogtum Soldaten ausgehoben. Dabei sollten nur Männer verpflichtet werden, die nicht beim Ackerbau und zur Nahrungsmittelproduktion benötigt wurden. Es gab daneben weitere Ausnahmen wie Beamte, Juristen, Ärzte, Geistliche, Studenten, Berg- und Hüttenleute und weitere Berufsgruppen. Den Eingezogenen wurde versprochen nur im Landesinneren eingesetzt zu werden. Durch das Los wurden in jedem Amt eine bestimmte Anzahl Rekruten bestimmt. Ihre Dienstpflicht sollte mit dem Ende des Reichskrieges enden. Die Ausgelosten konnten an ihrer Stelle Ersatzleute stellen.
Kirchenorganisation
Seit der Christianisierung gehörte der größte Teil des Herzogtum zur Erzdiözese Köln. Ausnahme waren Volkmarsen, Marsberg, das Kloster Bredelar und die Pfarreien Alme und Thülen. Diese gehörten zum Bistum Paderborn. Im Jahr 1733 kamen die Pfarreien Alme und Thülen sowie die Abtei Bredelar mit den zugehörigen Orten zur Erzdiöseze Köln.
In Werl bestand mit dem Offizialatgericht ein geistliches Gericht. Dieses war zunächst in Arnsberg angesiedelt, wurde dann nach Soest verlegt, ehe es nach der Soester Fehde in Werl ansässig war. Es gab insbesondere im 18. Jahrhundert Kompetenzstreitigkeiten zwischen den geistlichen und weltlichen Gerichten. Dabei konnten sich zumeist die weltlichen Gerichte durchsetzen. So fiel Ehebruch seit 1788 in die Zuständigkeit der weltlichen Gerichte.
Seit dem Mittelalter war das Gebiet in Archidiakonate eingeteilt. Die Archidiakone hatten zeitweise erhebliche Befugnisse. Diese gingen im Lauf der frühen Neuzeit aber zurück. Zum Archidiakonat des Kölner Dompropstes gehörten neben rheinischen Gebieten auch die Dekanate Attendorn, Medebach, Meschede und Wormbach. Der Vorsteher des Klosters Wedinghausen stand einem eigenen kleinen Archidiakonat vor.
Nachdem sich die Gegenreformation durchgesetzt hatte, war das Herzogtum ein katholisches Territorium. Protestantische Gemeinden existierten nicht mehr. An der Grenze konnten sich in der Freigrafschaft Düdinghausen noch vergleichsweise lange Reste des Protestantismus halten. Dort gab es 1663 noch zwölf Protestanten. Der letzte starb 1760. Einzelpersonen evangelischen Glaubens bedurften zur Ansiedlung eine Erlaubnis des Landesherren.
Eine Grundlage für die Ordnung des Kirchenwesens war die 1614 in Arnsberg veröffentlichte Kirchenordnung. 1629 wurde diese zu einem General Rezess erweitert. Seit Erzbischof Ferdinand von Bayern wurden Kommissare nicht zuletzt für die Abhaltung von Visitationen eingesetzt. Die Dekanate Medebach, Meschede und Wormbach bildeten das Kommissariat Süderland. Dazu gehörten schließlich auch die Dekanate Brilon und Attendorn. In Attendorn und in Brilon amtierte später jeweils ein bischöflicher Kommissar. Diese hatten auch die Aufgabe die Bewohner der Klöster zu beaufsichtigen. Im Norden bestand das Haarkommissariat. Dazu gehörten auch einige Pfarreien des Dekanats Attendorn in der Gegend um Neheim. Unterstellt waren die Kommissariate dem Generalvikar in Köln.
Unmittelbar vor dem Ende des Herzogtums gab es die Dekanate Attendorn, Medebach, Meschede, Brilon und Wormbach. Hinzu kam der Haar-Distrikt. Insgesamt gab es 118 Pfarreien. Darunter gehörten sechs keinem der genannten Dekanatsverbände an. Dazu zählten Wedinghausen, die Pfarrei Römershagen, die zum Dekanat Siegburg gehörte und die paderborner Pfarreien Volkmarsen, Nieder- und Obermarsberg. Das Dekanat Meschede umfasste 26 Pfarreien, zum Dekanat Attendorn gehörten 20 Pfarreien. Der Haardistrikt war der katholisch gebliebene Teil des im protestantischen Soest gelegenen Dekanats. Zum Haardistrikt gehörten 37 Pfarreien. Das Dekanat Medebach hatte elf Pfarreien. Im Dekanat Wormbach lagen zwölf Pfarreien und zum Dekanat Brilon gehörten neun Pfarreien.
Der Erzbischof selbst hatte am Ende das Patronatsrecht über 27 Pfarreien. Auch die Klöster der Region vergaben Pfarrstellen oder besetzten diese mit eigenen Mönchen und Chorherren. So besetzte Wedinghausen die Pfarreien Arnsberg. Werl und Hüsten. Das Kloster Grafschaft besetzte Altenrüthen, Attendorn, Belecke, Berghausen, Brunskappel, Kallenhardt, Effeln, Fredeburg, Grafschaft, Langenstraße. Lenne, Rarbach, Schmallenberg, Velmede, Warstein und Wormbach. Die Abtei Bredelar besetzte Bontkirchen und Giershagen. Das Kloster Glindfeld besetzte Winterberg, Medebach und Düdinghausen. Auch die Stifte Geseke und Meschede, die Klöster Benninghausen und Drolshagen oder die Deutschordenskommende in Mülheim vergab Pfarrstellen. Ebenso hatten einige auswärtige geistliche Korporationen Besetzungsrechte. Dies galt insbesondere für das Soester St. Patroklistift mit zehn Pfarrstellen. Auch das Kloster Corvey und der Bischof von Paderborn hatten einige Besetzungsrechte. Die übrigen 41 Pfarreien waren kommunale oder adelige Patronate. Hinzu kamen 90 Kaplan oder Vikariatsstellen.
Abgesehen von dem Kollegiatstift in Meschede bestand die Weltgeistlichkeit aus Pfarrern und Benefizianten. Die Inhaber einiger Pfarrstellen gaben nicht selten Anlass zur Klage nachlässig ihren Verpflichtungen nach zu kommen. Oftmals waren die Pfarrstellen finanziell nur schlecht fundiert und die flächenmäßig große Ausdehnung der Pfarreien erschwerten die Seelsorge zusätzlich. Einige Pfarrer sahen sich gezwungen etwa durch Handel, Gewerbe oder Rechtsberatung ihren Lebensunterhalt zu sichern. Gegen diesen Nebenerwerb erließen Landesherr und geistliches Gericht hohe Strafdrohungen. Auch Jagd- und Fischereifrevel durch Geistliche kam als Folge der schlechten materiellen Lage nicht selten vor.
Für ein Land dieser Größe war die Zahl von über zwanzig monastischen Gemeinschaften recht groß. Die Zahl der weiblichen und männlichen Klosterinsassen betrug 1784 210 Personen. Der Landdrost von Spiegel errechnete als Argumentationshilfe für eine Säkularisation der meisten Einrichtungen Kosten von 52.500 Reichstalern. Neben den einheimischen Mönchen, Chorherren und Nonnen durchzogen auswärtige Bettelmönche das Land. Das Betteln durch auswärtige Mönche wurde 1770 durch den Landesherren untersagt. Die meisten Klöster ruhten auf ausreichenden materiellen Grundlagen. Der Schulbildung widmeten sich die Klöster in Arnsberg und Geseke. Auch viele Pfarrstellen waren mit der Verpflichtung zur Abhaltung von Schulunterricht verbunden. Nach der Gründung der Schulkommission mussten die zukünftigen Pfarrer ihre Eignung für den Unterricht nachweisen. Unter Maximilian Franz wurden allgemeine Prüfungen für Anwärter von Pfarrstellen eingeführt.
Gliederung des Landes
siehe auch Amtsverfassung im Herzogtum Westfalen, Verwaltungseinheiten im Herzogtum Westfalen
Unterteilt war das Herzogtum zunächst in die vier Quartale Brilon, Rüthen, Bilstein und Werl. Die Städte Brilon, Rüthen und Werl waren zugleich so genannte Hauptstädte – eine weitere war Geseke. Diese Hauptstädte spielten in der Städtekurie des Landtages eine führende Rolle. Am Ende des 18. Jahrhunderts gab es 25 Städte. Dies waren Brilon, Rüthen, Geseke, Werl, Attendorn, Arnsberg, Menden, Olpe, Marsberg, Volkmarsen, Medebach, Warstein, Kallenhardt, Belecke, Drolshagen, Neheim, Hallenberg, Schmallenberg, Winterberg, Eversberg, Allendorf, Grevenstein, Hirschberg, Balve und Fredeburg. Freiheiten, das heißt Minderstädte, waren: Meschede, Sundern, Hagen bei Sundern, Hüsten, Freienohl, Affeln, Bödefeld, Hachen, Langscheid, Bilstein und die Bergfreiheit Silbach.
Untergliedert waren die Quartale außerhalb der Städte und Freiheiten vor allem durch die Ämter. In diesen Bereichen nahm ein Beauftragter des Landesherren (Drost, Amtmann oder Schulte genannt) in dessen Vertretung administrative, judikative sowie militärische Aufgaben wahr. Anders als im eigentlichen Erzstift wurden die Amtmänner nicht vom Kurfürsten, sondern vom Marschall für Westfalen und später vom Landdrosten eingesetzt. Die Amtsbereiche orientierten sich vielfach an den älteren Bereichen der Gogerichte. Teilweise wurde die Verwaltungseinheiten weiterhin als Gogericht bezeichnet.
Nicht in den Zuständigkeitsbereich der Ämter fielen teilweise die Grundherrschaften. In einigen Bereichen bestanden etwa 14 Patrimonialgerichte fort, denen größtenteils Adelsmitglieder vorsaßen. Das Gericht in Giershagen gehörte zum Kloster Bredelar und das in Sümmern unterstand dem Kölner Domkapitel.
In Hinblick auf die kirchliche Organisation gab es für die westfälischen Teile des Kölner Erzbistums ein eigenes Offizialatgericht. Es war geistliches Gericht, hatte aber überwiegend weltliche Zuständigkeiten. Diese wurde im 15. Jahrhundert zunächst mit Sitz in Arnsberg eingerichtet. Kurze Zeit später wurde es nach Soest verlegt. Dort blieb es bis kurz vor der Soester Fehde, um danach zunächst wieder nach Arnsberg verlegt zu werden, ehe es zwischen 1478 und 1483 nach Werl kam. Der Offizialats-Gerichtsstuhl aus dem 18. Jahrhundert existiert noch heute in der Propsteikirche St. Walburga in Werl. Der größte Teil des Herzogtums unterstand ursprünglich dem Archidiakonat des Kölner Dompropstes und dem Propst von Soest. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war der südliche Teil in fünf Dekanate eingeteilt (Attendorn, Brilon, Medebach, Meschede und Wormbach). Sie bildeten zusammen das Kommissariat Sauerland. Nördlich daran schloss sich das Kommissariat Haar-Distrikt an, das im Wesentlichen das Archidiakonat Soest umfasste. Außerhalb der Dekanatsstruktur stand die vom Kloster Wedinghausen betreute Pfarrei Arnsberg. Der Abt verfügte für seinen Bereich über eigene Rechte als Archidiakon. Ebenso außerhalb dieser Dekanate stand die Pfarrei Römershagen, die zum Dekanat Siegburg gehörte, sowie die Pfarreien Volkmarsen und Marsberg, die dem Bistum Paderborn unterstanden.
Landwirtschaft
Die landwirtschaftliche Bevölkerung machte etwa 90 % der Gesamteinwohner aus. Die mittelalterliche Villikationsverfassung begann sich im 13. Jahrhundert in der Region allmählich aufzulösen. Die Frondienste der Bauern wurden durch Zinszahlungen abgelöst. In Hinblick auf die persönliche Rechtsstellung konnten sich im Vergleich mit dem westfälischen Flachland zahlreiche persönlich freie Bauern halten. Für die Zeit am Ende des alten Reiches gibt es Schätzungen, die von einem Anteil von 83 % ausgehen. Allerdings waren die meisten von ihnen von Grundherren abhängig. Daneben gab es einen Anteil unfreier Eigenbehöriger. Am Ende des alten Reiches zählte man noch 490 Leibeigentumsgüter, insbesondere in der Hellwegregion.
In Hinblick auf das Recht von Bauern und Grundherren am Boden gab es verschiedene Formen. Es gab freie Güter als Erbzins- oder Erbgüter, eigenbehörige Kolonate mit besitz- und personenrechtlichen Abhängigkeiten vom Grundherren, Kolonate als Pachtgüter als nur besitzrechtlich abhängige Höfe sowie die erwähnten Leibeigentumsgüter. Freie Güter, Erb- und Pachthöfe waren vergleichsweise zahlreich. Günstig war die Situation der so genannten freien Vogtsgüter als Reste alter Villifikationen. Die größte Gruppe bildeten die Kolonate als Pachtbesitz. Auch diese waren meist persönlich frei, zahlten eine gewisse Pachtsumme und verfügten über das dingliche und vererbbare Nutzungsrecht an den Höfen.
Die Güter waren im Prinzip unteilbar. Allerdings begannen die Landesherren ab dem 15. Jahrhundert, diesen Grundsatz aufzuweichen. Trotz des Anerbenrechts traten neben die Vollbauern mit der Zeit durch Teilung kleiner Besitzungen sogenannte Halbspänner oder gar Viertelspänner. Bereits im Spätmittelalter entstanden die Erbkötter als kleinbäuerliche Gruppe. Diese verfügten über einen zum Leben ausreichenden Grundbesitz, waren vollberechtigte Mitglieder der Bauernschaft und besaßen Nutzungsrechte in den Marken. Daneben gab es die mit keinem oder geringen Gemeinheitsrechten ausgestatteten Brinksitzer sowie weitgehend besitzlose Beilieger. Für den späteren Kreis Meschede wird geschätzt, dass 18 % aller landwirtschaftlich Tätigen Vollbauern, 19,7 % Halbbauern, 9,5 % Viertelbauern, 19,7 % Kötter und 33,1 % Brinksitzer waren.
Gewerbliche Wirtschaft und Bergbau
siehe auch Bergbau im Sauerland, Sauerländer Wanderhändler, Bergamt des Herzogtums Westfalen
Der Verlust der Stadt Soest mit seinem Umland war nicht nur politisch ein schwerer Schlag für den Kurstaat. Dieses fruchtbare Gebiet war auch für die Versorgung des gebirgigen Teils des Herzogtums von entscheidender Bedeutung. Außerdem verlor das kurkölnische Sauerland damit seinen wichtigsten Markt für gewerbliche und sonstige Produkte. Mit dem Ausscheiden von Soest rissen wirtschaftliche Verbindungen zum Ausland und zur Hanse ab. Sieht man von der Montanwirtschaft ab, die in einigen Teilen der Region während der frühen Neuzeit von Bedeutung war, konzentrierten sich die Sauerländer Städte nach 1450 vor allem auf den Binnenmarkt und die Nahversorgung. Einige Historiker argumentieren schlüssig, dass diese Niederlage die wirtschaftliche Entwicklung im Rest des Herzogtums erheblich geschwächt habe. Diese wäre dann einer der Gründe für die relative wirtschaftliche Rückständigkeit gegenüber dem Siegerland und der Grafschaft Mark. Allerdings bemühten sich die Kurfürsten insbesondere im 16. und 17. Jahrhundert um die Förderung des Montanwesens etwa durch den Erlass von Bergordnungen. Insbesondere die letzte Ordnung von 1669 war eindeutig von merkantilistischem Geist geprägt. Ähnliches mag für den Industriezweig der Maurer, Steinmetze und Steinhauer gelten, welche erst 1683, auf eigenes Bitten, eine geeignete Zunftordnung erhielten, wie Ulrich Grun nachgewiesen hat; in deren Präambel heißt es denn auch erklärend: "Von Gottes Gnaden WIR, Maximilian Heinrich, Erzbischof zu Köln, Erzkanzler des Hl. Römischen Reichs [...] tun kund und hiermit allen zu wissen: Demnach geben UNS sämtliche Maurer, Steinmetze und Steinhauer unseres Herzogtums Westfalen in Untertänigkeit klagend zu erkennen, daß dieselben und ihre Handwerksgesellen und ihre Lehrjungen an anderen Orten nicht für redlich und tüchtig genug erkannt noch geduldet werden. Es sei denn, daß sie sich daselbst in die Zünfte einkaufen und sich nach deren Statuten in allen Dingen richten. Da jedoch unsere o.g. Untertanen andere in solchem Handwerk Bewanderte, aus welchem Ort des Hl. Römischen Reichs selbige auch herkommen und gebürtig seien, bei sich für gut und redlich annehmen und dulden [...], sie selbst aber mit großen Ungelegenheiten und Kosten entweder nach Kassel, Frankfurt oder Würzburg und dergleichen Plätzen reisen und daselbst willkürliches Recht holen oder auch mit ungebührlichen Strafen sich belegen lassen müssen, daher wollen wir gnädigst geruhen, dieselben mit einer gleichartigen Zunftgerechtigkeit zu versehen wie in den genannten benachbarten Städten."
Manche auswärtige Reisende behaupteten um 1800, dass die urtümliche Verfassung das Wirtschaftsleben behindere. Tatsächlich war die wirtschaftliche Lage im Herzogtum Westfalen im Vergleich mit dem protoindustriellen Aufschwung in der Grafschaft Mark zurückgeblieben. Weite Teile der landwirtschaftlich wenig ergiebigen Region waren gewerblich nur gering entwickelt. Daran änderte auch die Gründung der Industrieschulen nur wenig. Die große Zahl von Wanderhändlern vor allem in den höher gelegenen Regionen zeigt neben fehlenden lokalen Erwerbsmöglichkeiten eine ausgeprägte Mobilität der Bewohner. Daneben gab es ganz beachtliche überwiegend eisenindustrielle Verdichtungsgebiete. Die Fertigwarenherstellung war – abgesehen von heimgewerblichen Nagelschmieden in einigen Orten – wenig ausgeprägt. Bedeutender war die Erzförderung im gesamten Landesgebiet (vor allem Eisen, aber auch Gold, Silber, Blei, Zink, Antimon und Kupfer), was lange Zeit übersehen wurde. Die Herstellung von Schmiedeeisen in Hammerwerken und Halbfertigwaren war vor allem im südlichen Herzogtum verbreitet. Von Bedeutung waren zum Beispiel an der Grenze zur Grafschaft Mark die Eisen- und Metallförderung und -verarbeitung bei Balve („Luisenhütte“). Hinzu kamen Gebiete um Sundern, Warstein (die spätere St. Wilhelmshütte), Brilon, Marsberg und Schmallenberg. Ein gewerbliches Zentrum des Herzogtums lag in der Gegend von Olpe. Dort konzentrierte sich vor allem die Herstellung von Blechen. Gemeinsam war den meisten dieser Produktionsstätten, dass sie für den Bedarf der nahegelegenen bergischen und märkischen Fertigwarenindustrie arbeiteten.
Siehe auch
Liste der Erzbischöfe und Bischöfe von Köln
Liste der Landdroste des Herzogtums Westfalen
Quellen
Ludewig Albert Wilhelm Koester: Systematisches Repertorium über die für das Herzogthum Westphalen von alten Zeiten her, bis zu Ende des Jahrs achtzehnhundert zwölf erlassenen Gesetze, Verfügungen, Generalien, Regulative, Instructionen und andere Gegenstände. Arnsberg, 1813 Digitalisat
Literatur
Elisabeth Allhoff: Die territorialen Beziehungen der Kölner Erzbischöfe zu ihrem kölnisch-westfälischen Hoheitsgebiet bis zur Verleihung des Herzogtums im Jahre 1180: ein Beitrag zur Geschichte der Landesherrschaft der Erzbischöfe von Köln im Herzogtum Westfalen. Köln 1924.
Eduard Belke, Alfred Bruns, Helmut Müller: Kommunale Wappen des Herzogtums Westfalen. Kurkölnisches Sauerland. Strobel, Arnsberg 1986, ISBN 3-87793-017-4.
Peter Berghaus, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hrsg.): Köln–Westfalen 1180–1980. Landesgeschichte zwischen Rhein und Weser. Beiträge und Katalog zur Ausstellung vom 26. Oktober 1980 bis 18. Januar 1981, 2 Bände. Kleins, Lengerich 1981.
Georg Droege: Verfassung und Wirtschaft in Kurköln unter Dietrich von Moers (1414–1463). Bonn 1957.
Max Jansen: Die Herzogsgewalt der Erzbischöfe von Köln in Westfalen. München 1895.
Joseph Korte: Das westfälische Marschallamt (= Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung, Neue Folge Band 21). Münster 1909.
Harm Klueting (Hrsg.): Das Herzogtum Westfalen,
Bd. 1: Das kölnische Herzogtum Westfalen von den Anfängen der Kölner Herrschaft im südlichen Westfalen bis zur Säkularisation 1803. Münster 2009, ISBN 978-3-402-12827-5. Literaturverzeichnis Bd.1 (PDF; 240 kB)
Bd. 2: Das ehemalige kurkölnische Herzogtum Westfalen im Bereich der heutigen Kreise Hochsauerland, Olpe, Soest und Märkischer Kreis (19. und 20. Jahrhundert). 2 Teilbände. Münster 2012, ISBN 978-3-402-12862-6.
Harm Klueting: Die Säkularisation im Herzogtum Westfalen. Vorbereitung, Vollzug und wirtschaftlich-soziale Auswirkungen der Klosteraufhebung 1802–1834. Böhlau, Köln 1980, ISBN 3-412-06979-5.
Aloys Meister: Das Herzogtum Westfalen in der letzten Zeit der kurkölnischen Herrschaft. Münster 1908. Digitalisat
Andreas Müller: Die Ritterschaft im Herzogtum Westfalen 1651–1803. Aufschwörung, innere Struktur und Prosopographie. Münster, 2017
Ingrid Reißland (Hrsg.): Vom Kurkölnischen Krummstab über den Hessischen Löwen zum Preußischen Adler. Die Säkularisation im Herzogtum Westfalen 1803–2003. Becker, Arnsberg 2003, ISBN 3-930264-46-3.
Manfred Schöne: Das Herzogtum Westfalen unter hessen-darmstädtischer Herrschaft 1802–1816. Olpe 1966.
Elisabeth Schumacher: Das kölnische Westfalen im Zeitalter der Aufklärung. Olpe 1967.
Johann Suibert Seibertz: Landes- und Rechtsgeschichte des Herzogtum Westfalen. Arnsberg 1860. Digitalisat
Südwestfalen-Archiv: Landesgeschichte im ehemals kurkölnischen Herzogtum Westfalen und der Grafschaft Arnsberg, Jg. 1/2001 ff.
Manfred Wolf (Bearb.): Rechte, Güter und Lehen der Kölner Erzbischöfe in Westfalen. Liber iurium et feudorum Westphaliae, Arnsberg et Recklinghausen, congestus sub Theoderico de Mörsa, archiepiscopo Coloniensi (um 1438). Münster, 2014, ISBN 978-3-402-15114-3
Weblinks
Urkundenregesten aus dem Archiv des Herzogtums Westfalen / Digitale Westfälische Urkunden-Datenbank (DWUD)
Geschichte und Karte des Herzogtums Westfalen 1789
Informationen und Materialien zur Geschichte des Herzogtums
Edikte des Kurfürstentums Köln (mit Herzogtum Westfalen, Vest Recklinghausen) (1461–1816) (Slg. Scotti) online
Das westfälische Reiterbuch von 1566 und die Matrikel der westfälischen Ritterschaft von 1584 (PDF-Datei; 4,81 MB)
Archivalische Quellen zum Herzogtum Westfalen
Einzelnachweise
Westfalen
Westfalen
Westfalen, Herzogtum
Westfalen, Herzogtum
Sauerland
Geschichte Westfalens
Provinz (Großherzogtum Hessen) |
211426 | https://de.wikipedia.org/wiki/Raubfliegen | Raubfliegen | Die Raubfliegen oder Jagdfliegen (Asilidae) sind eine Familie der Zweiflügler (Diptera) und werden innerhalb der Fliegen (Brachycera) zu den Spaltschlüpfern (Orthorrapha) gezählt. Weltweit sind etwa 7500 Arten bekannt, aufgeteilt in 565 Gattungen. Davon leben über 580 Arten in Europa und 81 Arten sind aus Deutschland bekannt. Durch ihre räuberische Lebensweise haben die Tiere einen bedeutenden Einfluss auf die Regulierung in Ökosystemen, vor allem da sie vornehmlich pflanzenfressende Insekten jagen. Es handelt sich um mittelgroße bis große Fliegen, die Mordfliegen (Laphria) werden z. B. bis 30 Millimeter groß.
Merkmale der Raubfliegen
Aufgrund ihrer Größe sind einige Arten dieser Gruppe sehr auffällig, so etwa die Mordfliegen, welche häufig auf Lichtungen und alten Kahlschlägen vorkommen oder die Hornissenraubfliege (Asilus crabroniformis) mit ihrem schwarzgelben Hinterleib und brauner Brust. Die Leptogaster-Arten sind dagegen libellenartig schlank. Die meisten Raubfliegen sind außerdem stark behaart. Bei vielen Arten ist der Hinterleib gegenüber dem Thorax sehr schmal, bei anderen entspricht er in seiner Breite dem Brustbereich. Die Beine dienen als Fangbeine, aus diesem Grund besitzen sie besonders an der Spitze kurze und verdickte Borsten und sind hakenartig gekrümmt.
Typisch sind bei allen Raubfliegen einige Merkmale des Kopfes, etwa die Stirnfurche zwischen den Facettenaugen und dem dazwischen liegenden Höcker mit den drei Punktaugen. Die Facettenaugen selbst sind sehr groß, wobei die Größe der Einzelfacetten zum Zentrum hin zunimmt. Die Mundwerkzeuge sind etwa kopflang und als Stech- und Saugrüssel ausgebildet, wobei sie allerdings anders als die der Stechmücken oder Bremsen zugleich auch die Beute festhalten müssen. Bei einigen Arten ist ein regelrechter Bart aus Borsten ausgebildet.
Lebensweise der Raubfliegen
Raubfliegen besiedeln vor allem offene Lichtungen und Flächen und jagen vornehmlich bei höheren Temperaturen. Nach verschiedenen Untersuchungen sind die optimalen Temperaturen für die meisten Arten höher als 20 Grad Celsius, mit zunehmender Kälte werden sie inaktiver. Als Augenjäger bevorzugen sie gut beleuchtete und wenig strukturierte Jagdgebiete, wobei sie häufig Baumstämme oder andere höher gelegene Abflugpunkte wählen.
Raubfliegen ernähren sich vor allem von anderen Insekten. Sie besitzen sehr harte Stechborsten, gebildet aus dem Hypopharynx und den Galeae, mit denen beispielsweise die Mordfliegen sogar den Panzer verschiedener Käfer durchstechen können. Zu ihren Beutetieren gehören dementsprechend auch Pracht- und Rüsselkäfer. Musso hat 1978 nachgewiesen, dass der Speichel der Fliegen ein Insekten tötendes Gift enthält; außerdem sind in ihm Verdauungssekrete enthalten, welche die Beute vorverdauen. Die Beute wird meist im Flug erjagt und in einem Stoßflug mit den Vorderbeinen gepackt. Dabei erfolgt der Abflug meist von leicht erhöhten Lauer-Positionen, etwa einem Baumstumpf. Die Beute wird wahrscheinlich optisch wahrgenommen und mit Kopfbewegungen fixiert. Eine Beutespezialisierung dieser Fliegen ist weitgehend unbekannt. Die Wolfsfliegen oder Steifbärte der Gattung Dasypogon erbeuten fast ausschließlich Honigbienen, Hummeln und andere Stechimmen und erhielten deshalb den englischen Beinamen „bee-catcher“. Einige Arten erbeuten auch Spinnen. Die Beute ist oft größer als der Jäger. Grundsätzlich ähnelt das Jagdverhalten sehr dem der Libellen.
Verbreitung
Raubfliegen leben auf allen Kontinenten mit Ausnahme von Antarktika. Aktuell ist die größte Artenvielfalt aus den Subtropen bekannt, wobei die tropischen Regenwälder bisher nur unzureichend untersucht wurden. Viele der Arten oder Gattungen sind dabei regional typisch. Von der Inselgruppe Hawaii sind weder eingeschleppte noch heimische Arten bekannt, während auf vielen anderen Inselgruppen die Tiere zur lokalen Fauna gehören. So findet man auf beinahe allen Inselgruppen Südostasiens Raubfliegen, außerdem immer einige Arten auf den Fidschi-Inseln, Samoa und Neuseeland. Selbst von der Weihnachtsinsel ist eine Art bekannt. Zumindest Clinopogon nicoberensis ist aus fast allen Gebieten und Inseln des Indischen Ozeans und des östlichen Pazifiks bekannt. Keine einzige Art ist bis heute weltweit verbreitet.
Die meisten Artengruppen lassen sich direkt Regionen zuordnen. So kommen etwa die Vertreter der Megapodinae nur in der Neotropis (tropische Region Amerikas) vor, hier konzentrieren sich auch die Vertreter der Atomosiini und bestimmter Gattungen der Damalini (Holcocephala-Gruppe) sowie die Gattungen Diogmites (Dasypogoninae) und Nerax (Asilinae). Die beiden letztgenannten Gattungen kommen wahrscheinlich aus Mexiko, sind heute jedoch auch über weite Teile der USA verbreitet. Vertreter der Gattungen Laphria, Cyrtopogon, Lasiopogon und Asilus finden sich vornehmlich in der nördlichen Hemisphäre, also in Eurasien und Nordamerika. Die Neolophonotus-Gruppe (Asilinae) und die Gattung Microstylum (Dasypogoninae) kommt vor allem in Südamerika vor. In Südasien und der Südostasiatischen Inselwelt finden sich die metallisch glänzenden Maira-Arten.
Die weitaus größte Anzahl der Raubfliegen lebt in sandigen und weitgehend trockenen Gebieten; vor allem in Wüsten und Halbwüsten finden sich eine Reihe von Arten, obwohl sie sich auch hier eher in der Nähe von kleinen Wasserläufen oder Vegetationsinseln aufhalten, da sich dort für die Fliegen die meiste Vegetation und auch die höchste Anzahl an Beuteorganismen findet. In den gemäßigten Klimabereichen finden sich die Tiere häufig in Waldgebieten, einige Arten können auch in Sümpfen oder feuchten Wäldern leben. Innerhalb der Wälder halten sich die Fliegen dabei wiederum vornehmlich in den Bereichen von Lichtungen auf, selbst im tropischen Regenwald findet man sie meist im Übergangsbereich zum Grasland. Entsprechend gibt es auch viele Arten in den Steppen und Savannen, die vermutlich nach den Halbwüsten die meisten Arten beherbergen. Allein in Kalifornien sind aufgrund der sehr unterschiedlichen Lebensräume und der langgezogenen Form des Landes etwa 419 Arten bekannt. In die Kälteregionen der Tundra dringen offensichtlich nur die Lasiopogon-Arten vor, die dort entlang der Flussläufe leben, während Cyrtopogon in den Gebirgen bis in Höhen von vorkommt.
Fortpflanzung
Die Begattung der Raubfliegen beginnt artspezifisch in der Luft oder am Boden. Bei einigen Arten wird sie durch Verfolgungsjagden der Partner eingeleitet, bei zahlreichen Arten, wie Heteropogon lautus und Pycnopogon fasciculatus, ist eine Flugbalz des Männchens vor dem sitzenden Weibchen bekannt. Nicht nur Männchen der Gattung Promachus sind mit besonderen Signalgebern (markant gefärbte und behaarte Beine etc.) zur Beschwichtigung der Weibchen ausgestattet. Auch die Paarung selbst unterscheidet sich bei den Arten. Einige Arten sitzen dabei aufeinander, andere bilden einen Winkel, schauen komplett in entgegengesetzte Richtungen oder wechseln während der Paarung die Stellung.
Die Eiablage ist sehr unterschiedlich, so lassen die Leptogaster- und die Habichtsfliegen (Dioctria) ihre Eier meist im Flug fallen („Random egg-dropping“), Laphria-Arten legen die Eier in Holz- und Rindenritzen, Philonicus-Arten graben sie mit einer speziellen Legeröhre in den Sand ein. An Pflanzen, insbesondere die Basis von Blättern legen die Dysmachus-Arten ihre Eier ab.
Die Eier sind langoval und bis zu dreimal so lang wie breit, manchmal jedoch auch nur 1,5mal so lang. Die Hülle ist weich und bei den meisten Arten nicht ornamentiert. Die Farbe variiert von weiß über gelblich bis hellbraun. Von einigen Arten ist bekannt, dass die Eier während der Eiablage mit einem seidigen Gespinst und einer harten Sandschicht geschützt werden (Dasypogon, Antipalus). Dieses Verhalten erinnert sehr an das der verwandten Wollschweber, ist aber wohl unabhängig voneinander entstanden.
Larvalentwicklung
Die Larven sind teilweise schlank, teilweise mehr gedrungen und besitzen charakteristische Borsten am letzten und den drei ersten Segmenten sowie Kriechwarzen an der Unterseite. Die Kopfkapsel ist in der Regel schmaler als der Brustbereich und nach unten gerichtet. Sie ist durch eine leichte Sklerotisierung meist hellbraun und besitzt sehr kräftige Mandibeln an der Unterseite. Die Larven besitzen neun Hinterleibssegmente, wobei die beiden letzten teilweise verschmolzen sind, das größte Hinterleibssegment ist das siebente.
Die Larven schlüpfen nach wenigen Tagen bis Wochen und leben im Boden, unter Rinde und in Larvengängen anderer Insekten. Sie ernähren sich von anderen Insektenlarven, vor allem pflanzenfressenden Käferlarven nach bisherigen Erkenntnissen. In der Literatur finden sich noch immer Hinweise auf zerfallendes Pflanzenmaterial als Nahrung. Dabei handelt es sich wohl um eine Fehldeutung der Versuche von Melin (1923), der lediglich feststellte, dass die L1-Larven sich auch ohne tierische Nahrung zur L2-Larve entwickeln. Musso (1978) konnte u. a. an Machimus rusticus nachweisen, dass weitere Larvenstadien nur über ekto- und endoparasitische Ernährung erreicht werden. Die Larven von Nerax femoratus ernähren sich vermutlich von Heuschreckeneiern. Die Entwicklung der Larven kann mehrere Jahre dauern, im Winter kommt es zu einer Diapause. Im Gegensatz zu den Larven der verwandten Stilettfliegen, bewegen sich die im Boden lebenden Larven in tieferen Schichten. Daher ist das Auffinden durch Ausgraben sehr unergiebig.
Die Puppen sind beweglich und können sich mit Hilfe von Haken und Dornenkränzen aus dem Substrat arbeiten. Im Frühling bzw. in klimatisch begünstigten Perioden kann man dann die erwachsenen Tiere (Imagines) in größeren Mengen beim Schlüpfen aus den Puppenexuvien beobachten.
Evolution
Die Evolution der meisten Fliegenfamilien ist nur sehr vage bekannt und stützt sich mehr auf Vermutungen als auf fossile Belege. Häufig wird zu diesem Zweck (wie bei anderen Tiergruppen auch) die noch recht ungenaue Molekulare Uhr angewendet, die auf einer Errechnung von Artspaltungsprozessen aufgrund von genetischen Unterschieden basiert. Allgemein geht man heute offensichtlich von einer Bildung der meisten Familien der Zweiflügler im Mesozoikum aus, nach Papavero (1973) sollen auch die Raubfliegen dort entstanden sein.
Der Fossilbefund reicht bis in die Kreide, möglicherweise sogar den Jura, wobei auch für die folgenden Zeitalter zahlreiche Fossilien bekannt sind. Sehr viele Nachweise stammen aus dem Bernstein. Hull (1962) nimmt noch auf der Basis dieses Fossilbefundes eine Spaltung innerhalb der Raubfliegen zu Beginn des Eozäns an, heute muss man diesen Zeitpunkt deutlich rückdatieren.
Systematik
Die Raubfliegen werden gemeinsam mit einigen anderen Fliegentaxa der Überfamilie der Raubfliegenartigen (Asiloidea) zuordnet, die genauen systematischen Verhältnisse innerhalb dieser Gruppe sind bislang nicht vollständig geklärt, die Raubfliegen bilden hier entweder die Schwestergruppe eines gemeinsamen Taxons aus Fensterfliegen (Scenopinidae) und Luchsfliegen (Therevidae) oder einem Taxon bestehend aus Mydidae und Apioceridae, alle fünf Familien gemeinsam stehen den Wollschwebern (Bombyliidae) gegenüber.
Die phylogenenetische Systematik innerhalb der Raubfliegen ist wie bei vielen anderen Insekten weitgehend unbekannt. Unstrittig ist die Monophylie der Raubfliegen als solche, innerhalb des Taxon wurden jedoch auf unterschiedlichen Wegen verschiedene Gruppierungen erreicht.
Klassischerweise werden die Raubfliegen in vier Unterfamilien aufgeteilt: die Asilinae, die Dasypogoninae, die Laphriinae und die Leptogastrinae. Diese Unterteilung basiert auf verschiedenen morphologischen Merkmalen, vor allem auf der Beborstung am Körper, der Flügeläderung und der Ausstattung der Mundwerkzeuge. Neuere Untersuchungen, unter anderem auf molekularer Basis, unterscheiden demgegenüber bis zu elf Taxa auf der Ebene der Unterfamilien. Die bisher fast ausschließlich morphologisch erfolgte Untersuchung wird seit wenigen Jahren durch molekulargenetische Untersuchungen ergänzt.
Gattungen und Arten (Auswahl)
In der folgenden Auflistung finden sich ausschließlich Arten aus Mitteleuropa:
Unterfamilie Asilinae
Aneomochtherus
Antipalus
Goldafterfliege (Antipalus varipes)
Antiphrisson
Asilus
Hornissen-Raubfliege (Asilus crabroniformis)
Didysmachus
Dysmachus
Säbel-Raubfliege (Dysmachus trigonus)
Echthistus
Erax
Eutolmus
Barbarossa-Fliege (Eutolmus rufibarbis)
Machimus
Seiden-Raubfliege (Machimus arthriticus)
Schlichte Raubfliege (Machimus rusticus)
Neoepitriptus
Neoitamus
Knoten-Strauchdieb (Neoitamus cothurnatus)
Gemeiner Strauchdieb (Neoitamus cyanurus)
Kleiner Strauchdieb (Neoitamus socius)
Neomochtherus
Garten-Raubfliege (Neomochtherus geniculatus)
Striemen-Raubfliege (Neomochtherus pallipes)
Pamponerus
Philonicus
Sand-Raubfliege (Philonicus albiceps)
Pogonosoma
Pogonosoma maroccanum
Rhadiurgus
Nordische Raubfliege (Rhadiurgus variabilis)
Stilpnogaster
Stilpnogaster aemula
Tolmerus
Gemeine Raubfliege (Tolmerus atricapillus)
Tolmerus calceatus
Burschen-Raubfliege (Tolmerus cingulatus)
Cowins Raubfliege (Tolmerus cowini)
Tolmerus maximus
Marmorierte Raubfliege (Tolmerus micans)
Kleine Raubfliege (Tolmerus pyragra)
Strands Raubfliege (Tolmerus strandi)
Unterfamilie Dasypogoninae
Dasypogon
Große Wolfsfliege (Dasypogon diadema)
Dasypogon melanopterus
Leptarthrus
Echte Schneidenfliege (Leptarthrus brevirostris)
Molobratia
Kleine Wolfsfliege (Molobratia teutonus)
Unterfamilie Laphriinae
Andrenosoma
Choerades
Kleine Mordfliege (Choerades femorata)
Fransen-Mordfliege (Choerades fimbriata)
Zinnober-Mordfliege (Choerades ignea)
Gemeine Mordfliege (Choerades marginata)
Laphria
Sattel-Mordfliege (Laphria ephippium)
Gelbe Raubfliege (Laphria flava)
Unterfamilie Leptogastrinae
Leptogaster
Gemeine Schlankfliege (Leptogaster cylindrica)
Wald-Schlankfliege (Leptogaster guttiventris)
Kleine Schlankfliege (Leptogaster pubicornis)
Klöppel-Schlankfliege (Leptogaster subtilis)
Unterfamilie Stenopogoninae
Cyrtopogon
Kleine Makelfliege (Cyrtopogon lateralis)
Dioctria
Schwarze Habichtsfliege (Dioctria atricapilla)
Beulen-Habichtsfliege (Dioctria cothurnata)
Gemeine Habichtsfliege (Dioctria hyalipennis)
Gefleckte Habichtsfliege (Dioctria lateralis)
Gestreifte Habichtsfliege (Dioctria linearis)
Große Habichtsfliege (Dioctria oelandica)
Höcker-Habichtsfliege (Dioctria rufipes)
Holopogon
Schmuck-Rabaukenfliege (Holopogon nigripennis)
Unterfamilie Stichopogoninae
Lasiopogon
Gemeiner Grauwicht (Lasiopogon cinctus)
Stichopogon
Literatur
Danny Wolff, Markus Gebel, Fritz Geller-Grimm: Die Raubfliegen Deutschlands – Entdecken, Beobachten, Bestimmen. Quelle und Meyer, Wiebelsheim 2018. ISBN 978-3-494-01733-4
Joachim u. Hiroko Haupt: Fliegen und Mücken - Beobachtung, Lebensweise. Naturbuch, Augsburg 1998. ISBN 3-89440-278-4
Klaus Honomichl, Heiko Bellmann: Biologie und Ökologie der Insekten. CD-Rom. Gustav Fischer, Stuttgart 1994. ISBN 3-437-25020-5
F. M. Hull: Robber flies of the world. in: Bulletin of the United States National Museum. Smithsonian Inst. Pr., Washington DC 224.1962,1/2, 1–907.
R. J. Lavigne: Evolution of courtship behaviour among the Asilidae (Diptera), with a review of courtship and mating. in: Studia dipterologica. Ampyx, Halle 9.2002,2, 703–742.
J. J. Musso: Recherches sur le développement, la nutrition et l'écologie des Asilidae (Diptera - Brachycera). Thèse à l'université de droit, d'économie et des sciences. Aix-Marseille 1978 (unveröffntl.).
H. Oldroyd: Tabanoidea and Asiloidea. Handb Ident British Insects. London 9.1969,4.
N. Papavero: Studies of Asilidae (Diptera) systematics and evolution. I. A preliminary classification in subfamilies. in: Arquivos de Zoologia do Estado de São Paulo. São Paulo 23.1973, 217–274.
G. C. Wood: Asilidae. In: J. F. McAlpine, B. V. Peterson, G. E. Shewell, H. J. Teskey, J. R. Vockeroth, D. M. Wood (Hrsg.): Manual of Nearctic Diptera. Bd. 1. Research Branch, Agriculture Canada. Monographs. Ottawa 27.1981, 549–573.
Eine umfangreiche Bibliografie findet sich in dieser Datenbank (aktuell ca. 3700 Titel)
Einzelnachweise
Weblinks
Zur Faunistik der Raubfliegen in Deutschland
(Holländisch, PDF)
Datenschnittstelle zu den Raubfliegen (englisch)
Raubfliegen Mitteleuropas (Fotos)
Japanische Asilidae (Raubfliegen in Japan, Englisch) |
213819 | https://de.wikipedia.org/wiki/Gouverneur%20von%20Kalifornien | Gouverneur von Kalifornien | Der Gouverneur von Kalifornien () ist Staats- und Regierungschef des US-Bundesstaates Kalifornien und damit der höchste Vertreter des bevölkerungsreichsten Bundesstaats der Vereinigten Staaten. Ferner ist er Oberbefehlshaber der kalifornischen National- und Staatsgarde. Der Gouverneur ist mit der Leitung der Regierungsgeschäfte in Kalifornien betraut und hat darüber hinaus repräsentative Aufgaben. Er nimmt im bundesstaatlichen Gesetzgebungsverfahren eine zentrale Rolle ein und ist für die Besetzung wichtiger Staatsämter zuständig. Aufgrund der Größe und wirtschaftlichen Stärke Kaliforniens ist der jeweilige Amtsinhaber stets eine der bekanntesten öffentlichen Persönlichkeiten in den USA.
Gewählt wird der Gouverneur von den Bürgern Kaliforniens im Turnus von vier Jahren. Da die Verfassung von Kalifornien die maximale Amtsdauer einer Person auf zwei Wahlperioden beschränkt, ist eine Wiederwahl nur einmal zulässig. Derzeitiger Amtsinhaber und 40. Gouverneur ist seit dem 7. Januar 2019 der Demokrat Gavin Newsom. Er löste Jerry Brown ab, der das Gouverneursamt bereits von 1975 bis 1983 zwei Amtsperioden lang innehatte. Da jedoch die Amtszeitbeschränkung erst nach einem Volksentscheid im Jahre 1990 in Kraft trat, war Brown hiervon nicht betroffen. Daher wurde er auch 2014 für eine weitere Amtszeit bestätigt. Bei der folgenden Wahl im Jahr 2018 war Gouverneur Brown von einer weiteren Kandidatur ausgeschlossen und wurde von seinem bisherigen Stellvertreter Gavin Newsom abgelöst. Dieser konnte sich der Wahl 2022 eine zweite Amtsperiode sichern.
Geschichte und Stellung im föderalen System
Nachdem das Gebiet des heutigen Bundesstaates Kalifornien, eine Fläche von rund 423.000 Quadratkilometern, in Folge des Mexikanisch-Amerikanischen Krieges von 1846 bis 1848 an die Vereinigten Staaten gefallen war, stand es zunächst unter Verwaltung der Bundesregierung in Washington. Der US-Präsident hatte einen Militärgouverneur zu ernennen, was im Dezember 1849 erstmals der Fall war. Im September 1850 wurde Kalifornien im Zuge des Kompromisses von 1850 als vollwertiger Bundesstaat in die USA aufgenommen. Damit erhielt Kalifornien die Souveränität eines Bundesstaates. Der Gouverneur war damit nicht mehr gegenüber der Nationalregierung verantwortlich. Zuvor wurde eine verfassungsgebende Versammlung abgehalten, bei der die Verfassung des Bundesstaates ausgearbeitet wurde.
Durch den Föderalismus in den Vereinigten Staaten sind alle Regierungskompetenzen strikt zwischen der Bundesregierung in Washington und den Bundesstaaten aufgeteilt. Präsident und Kongress sind nur für jene Angelegenheiten zuständig, die ihnen explizit durch die Verfassung der USA zugeteilt wurden. Alle anderen Kompetenzen fallen den einzelnen Bundesstaaten zu. Diese sind umfangreicher als jene der deutschen Bundesländer (wobei in Deutschland keine so deutliche Trennung der Kompetenzen des Bundes und der Länder besteht). Dies führt dazu, dass in den USA alle Bundesstaaten eigene politische Systeme haben, die sich jedoch meist stark ähneln. Der Gouverneur sowie die anderen Verfassungsorgane des Bundesstaats wie die Legislative sind daher auch nicht der Nationalregierung in Washington unterstellt. Der Gouverneur ist Oberhaupt der kalifornischen Exekutive, die für die selbstständige Ausführung der Gesetze des Bundesstaates zuständig ist, während Gesetze des Bundes durch dessen Institution selbstständig ausgeführt werden. Aufgrund dieser ausgeprägten Kompetenztrennung erfolgt eine Kooperation von Bund und Bundesstaaten eher selten. Da der politische Aufbau der Einzelstaaten, abgesehen von einzelnen Unterschieden, dem nationalen System ähnelt, entspricht das Gouverneursamt auf Staatsebene dem Amt des Präsidenten auf Bundesebene.
Aufgaben und Befugnisse
Das Gouverneursamt entspricht dem eines Staatschefs auf subnationaler Ebene. Als höchster Vertreter des Bundesstaates repräsentiert der Gouverneur den Bundesstaat Kalifornien nach innen und nach außen.
Beziehung zur Legislative
Zusammenarbeit mit der State Legislature
Da sowohl der Gouverneur als auch die Mitglieder der California State Legislature, die sich aus der State Assembly mit 80 Abgeordneten und dem Staatssenat mit 40 Senatoren zusammensetzt und faktisch das kalifornische Parlament darstellt, durch Direktwahlen mit eigener Legitimität ins Amt kommen, sind beide unabhängig voneinander. Dies zeigt sich auch daran, dass anders als im Parlamentarischen Regierungssystem der Gouverneur nicht von der Legislative durch ein Misstrauensvotum abgesetzt wurden kann. Auch darf der Gouverneur weder Mitglied der Legislative sein, noch ein weiteres politisches Mandat (beispielsweise auf lokaler Ebene oder im US-Kongress) ausüben. Auch nimmt der Gouverneur nicht an Sitzungen des Parlaments teil. In Anlehnung an die State of the Union Address des Präsidenten ist der Gouverneur aber durch die Verfassung Kaliforniens zu einer Ansprache vor dem Parlament verpflichtet, der sogenannten State of the State Address. Bei diesen öffentlich viel beachteten Ansprachen, die zu Jahresbeginn stattfinden, erstattet der Gouverneur über die allgemeine Lage Kaliforniens Bericht. Dabei kann er auch mittels seiner Rede versuchen, die Abgeordneten im Gesetzgebungsprozess zu beeinflussen. Des Weiteren kann der Gouverneur jederzeit in schriftlicher Form, oder bei einer Sondersitzung in Person, den Abgeordneten Botschaften übermitteln. Daher hat der jeweilige Amtsinhaber auch stets das Recht, eine Sondersitzung der Legislative einzuberufen. Generell ist es für den Gouverneur von zentraler Bedeutung, die Mandatsträger in der State Legislature von seinem gesetzgeberischen Programm zu überzeugen, da die in vielen europäischen Staaten praktizierte Fraktionsdisziplin in den USA nicht üblich ist. Daher muss für den Gouverneur die Mitgliedschaft in der Partei, welche über die Mehrheit an Sitzen verfügt, nicht zwingend von Vorteil sein. Gehört der Gouverneur einer anderen Partei als die Mehrheit in einer oder beiden Parlamentskammern an, spricht man von einem divided government, einer geteilten Regierung. In diesem Fall ist zum Erreichen der politischen Ziele eine Zusammenarbeit für beide Seiten erforderlich. In der kalifornischen Geschichte kam eine geteilte Regierung schon mehrmals vor, zuletzt von 2003 bis 2011, als der Republikaner Arnold Schwarzenegger das Gouverneursamt bekleidete, während die Demokratische Partei State Assembly und Staatssenat beherrschten. Stellt die Gouverneurspartei auch die Mehrheit der Mandate in der State Legislature, spricht man vom unified government, einer vereinten Regierung. Dies ist seit 2011 der Fall, da sowohl Gouverneur Gavin Newsom als auch die Mehrzahl der Mitglieder beider legislativer Kammern der Demokratischen Partei angehören.
Neben dem unten beschriebenen Recall durch die Bürger kann ein Gouverneur ausschließlich durch ein Amtsenthebungsverfahren, das sogenannte Impeachment, von der State Legislature vorzeitig abgesetzt werden. Grundlage für eine solche Amtsanklage sind rechtswidrige Handlungen des Gouverneurs wie beispielsweise Korruption. Eine Absetzung aus politischen Gründen ist durch das Parlament nicht möglich. Das Verfahren kann durch die State Assembly mit einfacher Mehrheit eingeleitet werden, im Anschluss kann der Staatssenat den Gouverneur mit einer Zweidrittelmehrheit seines Amtes verlustig erklären. Das Impeachment, das prinzipiell für jeden bundesstaatlichen Mandatsträger möglich ist, hat jedoch nur die Suspendierung aus dem Amt zur Folge. Eine strafrechtliche Verfolgung ist nur durch die Justizbehörden möglich, eine Verurteilung kann ausschließlich durch ein zuständiges Gericht ausgesprochen werden. In der kalifornischen Geschichte wurde bislang jedoch kein Gouverneur von der State Legislature des Amtes enthoben.
Rolle im Gesetzgebungsverfahren und beim Staatshaushalt
Der Gouverneur nimmt im Gesetzgebungsverfahren des Bundesstaates eine zentrale Rolle ein. Wird ein Gesetzesentwurf von beiden Kammern der California State Legislature verabschiedet, muss dieser Entwurf dem Gouverneur vorgelegt werden. Der Regierungschef hat an dieser Stelle drei Handlungsmöglichkeiten: Bei Zustimmung kann er die Vorlage unterzeichnen, wodurch das Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen ist. Das Gesetz tritt entweder umgehend oder am inhaltlich festgelegten Termin in Kraft. Unterzeichnet der Gouverneur den Gesetzesentwurf nicht und legt er auch keinen Widerspruch ein, erlangt die Vorlage nach zwölf Tagen (ohne Sonntage gerechnet) ebenfalls Rechtskraft. Die dritte Handlungsmöglichkeit erlaubt dem Gouverneur, Einspruch, also ein Veto, gegen eine Vorlage einzulegen. Dabei sendet der Regierungschef das Gesetz mit einer schriftlichen Begründung für sein Veto an die Parlamentskammer zurück, in der die Vorlage zuerst eingebracht wurde. Wie die Gouverneure der meisten anderen US-Bundesstaaten hat auch der kalifornische Gouverneur die Option, nur bestimmte Passagen eines Gesetzes abzulehnen, was als Line-Item-Veto bezeichnet wird. Dieses Recht hat beispielsweise der US-Präsident auf Bundesebene nicht. Er ist darauf beschränkt, eine Vorlage komplett anzunehmen oder abzulehnen. Ein Veto des Gouverneurs kann, wie in den meisten anderen Bundesstaaten und auf Bundesebene, von jeweils zwei Dritteln beider Kammern der Legislative überstimmt werden. Damit tritt ein Gesetz auch ohne Zustimmung des Gouverneurs in Kraft. Dass in beiden Häusern der State Legislature jeweils eine Zweidrittelmehrheit zur Zurückweisung eines Vetos zustande kommt, ist jedoch eher Ausnahme als Regel. Nachdem ein Entwurf zum Gesetz wird, ob mit oder ohne Unterschrift des Gouverneurs, wird er vom Staatsminister (Secretary of State) im Gesetzblatt des Bundesstaats publiziert.
Auch bei der Verabschiedung des Staatshaushalts hat Kaliforniens Gouverneur eine Schlüsselrolle. Die Politikwissenschaft spricht hier von einem Executive Budget. Ministerien und andere Behörden haben keine Möglichkeit, der State Legislature, die den Haushalt verabschieden muss, ein Budget vorzulegen. Deren Rolle beschränkt sich auf eine beratende Funktion gegenüber dem Gouverneur, der dann den Parlamentariern einen zwölf Monate umfassenden Gesamthaushalt vorlegt. Da die Verteilung von Staatsgeldern ein zentrales Steuerungselement der Regierungsarbeit ist, hat der Regierungschef hier starken Einfluss auf die Aufgabenverteilung der staatlichen Institutionen. Noch weitaus mehr Einfluss über das Budget kann der Gouverneur über das Line-Item-Veto nehmen, da es ihm erlaubt, einzelne Passagen zu streichen, ohne gegen den gesamten Haushalt sein Veto einzulegen. Damit verbunden ist auch die Absenkung bewilligter Geldmittel, was als Reduction Veto bezeichnet wird. Die Legislative kann auch das Line-Item-Veto, wie bei einem regulären Einspruch, nur mit Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern zurückweisen. Ein Zustandekommen dieser Mehrheiten ist jedoch selten.
Weitere exekutive Vollmachten und Pflichten
Als Oberhaupt der Exekutive bestimmt der Gouverneur die Richtlinien der Politik in dem US-Westenküstenstaat. Er hat kein Kabinett im engeren Sinne, wohl gibt es aber Exekutivämter, wie den Secretary of State oder den Attorney General sowie andere Behördenchefs, die in etwa einem Minister entsprechen. Zum Teil werden diese Posten ebenfalls von den Bürgern gewählt (wie die genannten Beispiele), sind aber dem Gouverneur untergeordnet. Andere wie zum Beispiel der Agriculture Commissioner, der etwa einem Landwirtschaftsminister entspricht, oder der California Director of Industrial Relations (zuständig für Wirtschaft und Industrie) werden vom Gouverneur mit Zustimmung der Staatssenats ernannt. Die ernannten Amtsträger innerhalb der Exekutive können vom Gouverneur jederzeit, ohne Zustimmung des Senats, wieder abberufen werden. Beim Auftreten einer Vakanz in den gewählten Exekutivämtern wird, da keine Nachwahl vorgesehen ist, ein neuer Amtsträger vom Gouverneur mit Zustimmung der State Legislature für den Rest der Amtsperiode bestimmt. So wurde beispielsweise der aktuelle Attorney General Xavier Becerra Anfang 2017 von Gouverneur Brown zum Nachfolger der zurückgetretenen Kamala Harris ernannt, nachdem diese in den US-Senat wechselte.
Als Berater und Zuarbeiter fungiert ein eigener Stab, bei dessen Besetzung der Gouverneur freie Hand hat. So ist auch ein Stabschef üblich, an den der Gouverneur Aufgaben delegieren kann. Da der Gouverneur innerhalb der bundesstaatlichen Exekutive endgültige Autorität hat, kann er auch Dekrete, sogenannte Executive Orders, erlassen. Diese haben insbesondere für die ihm untergeordneten Behörden Bedeutung. Häufig sind sie für diese Behörden als Arbeitsanweisungen zu verstehen und damit ein wichtiges Steuerungselement der Regierungsgeschäfte. Zu beachten ist jedoch, dass eine Executive Order kein neues Recht im Sinne von Gesetzen schaffen kann, sondern eher auf bestehendes Recht hinweist.
Ferner hat der Gouverneur das alleinige Begnadigungsrecht im Staate Kalifornien inne, dieses umfasst alle Gesetzesverstöße, die in die Kompetenzen des Bundesstaates fallen. Darunter fällt insbesondere ein Großteil des Strafrechts. Durch eine Begnadigung kann der Gouverneur Strafen entweder ganz aufheben oder abmildern. Obwohl der Regierungschef formal nach freiem Ermessen über Begnadigungen entscheiden kann, wird er von einer Expertenkommission beraten. Bei besonders medienwirksamen Verbrechen findet ein Gnadenerlass oder dessen Ablehnung durch den Gouverneur große Rezeption in der Öffentlichkeit.
Außerdem fällt dem Gouverneur die Ernennung der Richter am Verfassungsgericht (California Supreme Court) sowie an den Distriktgerichten des Bundesstaates zu. Die Ernennung erfolgt auf zwölf Jahre, muss jedoch bei der nächsten Wahl von den Bürgern bestätigt werden. Auch hier wird der Gouverneur von einer Kommission beraten. Die Ernennungsbefugnis hat der Gouverneur auch bei zahlreichen weiteren hohen Beamtenstellen im Bundesstaat, die aber vom Staatssenat bestätigt werden müssen. Tagt dieser nicht, können freie Ämter durch den Gouverneur auch übergangsweise ohne Votum im Senat besetzt werden. Tritt die Parlamentskammer jedoch wieder zusammen, müssen die entsprechenden Abstimmungen nachgeholt werden. Wie auch die meisten anderen Gouverneure in den USA, hat auch Kaliforniens Regierungschef die Befugnis, für vorzeitig aus dem Amt geschiedene US-Senatoren seines Bundesstaates vorübergehend einen neuen Amtsinhaber zu ernennen.
Ähnlich der Executive Order sind die sogenannten gubernatorial proclamations. Diese Proklamationen haben eher symbolischen Charakter wie beispielsweise die Ausrufung von Gedenktagen.
Wie auch andere hochrangige Politiker ist der Gouverneur von Kalifornien mit repräsentativen Aufgaben betraut. Dies bedeutet, er repräsentiert den Staat Kalifornien nach innen, wie auch gegenüber den übrigen USA oder fremden Mächten. Dabei kann es sich beispielsweise um die Einweihung von Bauwerken oder Verkehrswegen handeln. Auch öffentliche Reden des Gouverneurs zu verschiedenen Themen sind üblich. Gelegentlich besucht der Gouverneur auch andere US-Bundesstaaten oder das Ausland. Dabei handelt es sich mehr um informelle Besuche (zum Beispiel Gespräche im wirtschaftlichen Bereich), da die Bundesstaaten der USA keine eigene Außenpolitik betreiben.
Oberbefehlshaber der National- und Staatsgarde
Dem Gouverneur obliegt die Befehls- und Kommandogewalt über alle Miliztruppen des Bundesstaates. Er ist damit, wie auch die anderen Gouverneure in ihren jeweiligen Staaten, Oberbefehlshaber (Commander-in-Chief) der California National Guard sowie der Staatsgarde. Er kann diese zur Bekämpfung von Naturkatastrophen einsetzen oder in seiner Verantwortung für die innere Sicherheit von Kalifornien den Befehl zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung geben, wenn beispielsweise lokale Ordnungskräfte die Lage nicht mehr unter Kontrolle haben. Solche Einsätze kamen bereits mehrfach in der Geschichte Kaliforniens und anderer Staaten vor. Ein bekanntes Beispiel für den Einsatz der Nationalgarde sind hier die Rassenunruhen in Watts, einem Stadtteil von Los Angeles, im August 1965 auf Anordnung von Gouverneur Pat Brown. Auch um Streiks zu beenden wurde die Nationalgarde von Gouverneuren bereits eingesetzt, wie beispielsweise im Sommer 1934, als Frank Merriam die Miliz gegen streikende Hafenarbeiter einsetzte, was zu mehreren Toten führte. Mit einem Einsatz der National- oder Staatsgarde proklamiert der Gouverneur meist den Notstand (State of emergency) für das betroffene Gebiet. Das gilt insbesondere bei Naturkatastrophen wie den in Kalifornien regelmäßig auftretenden Waldbränden. Die Befehlsgewalt über die Nationalgarde (nicht aber Staatsgarde) geht auf den US-Präsidenten über, wenn diese für den Einsatz für den Bund herangezogen werden. Bei Beendigung eines Bundeseinsatzes geht die Befehlsgewalt wieder an den Gouverneur.
Wahl und Amtszeit
Vorwahlen
Für die Vorwahlen (Primary election), die immer am Dienstag nach dem ersten Montag im Juni des Wahljahres stattfinden, gilt das im Jahr 2012 per Volksabstimmung eingeführte neue Wahlrecht. Die Vorwahl erfolgt nach dem sogenannten Nonpartisan-blanket-primary-System. Bei diesem System stehen alle Bewerber für das Gouverneursamt, unabhängig von Parteizugehörigkeit, im Rahmen einer einzigen Vorwahl zur Abstimmung und nicht mehr getrennt nach Partei. Zur eigentlichen Wahl treten dann die beiden Bewerber mit den meisten Stimmen aus der Primary gegeneinander an. Dieser Wahlmodus wurde erstmals am 3. Juni 2014 angewendet, wobei auch die Vorwahlen für alle anderen politischen Ämter in Kalifornien nach diesem Prinzip abgehalten wurden. Vor 2014 wurden Vorwahlen getrennt nach Parteien durchgeführt. Nominiert für eine Partei war jener Kandidat mit den meisten Stimmen aus der jeweiligen Primary. Hinzu kamen bei der Hauptwahl häufig zahlreiche parteilose Kandidaten. Da mit der neuen Rechtslage nur die beiden erfolgreichsten Bewerber aus der Primary zur eigentlichen Wahl stehen, ist die Stimmvergabe an Drittkandidaten nicht mehr möglich. Dies führt automatisch dazu, dass der Wahlsieger die absolute Mehrheit auf sich vereint. Da das modifizierte Wahlsystem unabhängig von Parteizugehörigkeit erfolgt, wäre es auch theoretisch möglich, dass in einer Hauptwahl zwei Kandidaten derselben Partei aufeinander treffen. Vorwahlen nach dem Prinzip des Nonpartisan blanket primary werden neben Kalifornien auch in Louisiana und Washington praktiziert.
Wahlverfahren und passives Wahlrecht
Der Gouverneur wird alle vier Jahre am ersten Dienstag nach dem ersten Montag im November gewählt. Der Termin für den Urnengang fällt also immer auf ein Datum zwischen dem 2. und 8. November. Die Wahl erfolgt unmittelbar durch das Volk, man spricht also von einer Direktwahl. Parallel finden Wahlen zu anderen exekutiven Regierungsämtern in Kalifornien, zur State Legislature und zum Kongress statt. Da es sich beim Kongress um Halbzeitwahlen handelt, werden keine Präsidentschaftswahlen abgehalten. Diese finden daher immer in der Mitte der Amtszeit des kalifornischen Gouverneurs statt, der wiederum in der Mitte einer präsidialen Amtszeit gewählt wird. Wahljahre sind also beispielsweise 2010, 2014 und 2018.
Als Gewinner der Wahl geht automatisch der Kandidat mit den meisten Stimmen hervor. Eine absolute Mehrheit der Stimmen ist für die Wahl zum Gouverneur, wie in fast allen anderen Bundesstaaten auch, nicht vorgesehen. In der Geschichte kam es daher mehrfach vor, dass Gouverneure mit weniger als 50 Prozent der Stimmen gewählt wurden. Dies war stets dann der Fall, wenn Kandidaten kleinerer Parteien oder unabhängige Bewerber größere Stimmenanteile erzielt haben und die Wahl zwischen den Kandidaten der beiden großen Parteien knapp ausfiel. Durch das 2012 eingeführte Vorwahlsystem, bei dem nur die beiden Bewerber mit den meisten Stimmen zur Hauptwahl antreten können, ergibt sich jedoch für den Gewinner automatisch eine absolute Mehrheit der Stimmen.
Wahlberechtigt sind alle Bürger des Staates Kalifornien, die das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben. Das passive Wahlrecht, also das Recht, zum Gouverneur gewählt zu werden, hat jede volljährige Person mit der amerikanischen Staatsbürgerschaft, die seit mindestens fünf Jahren in Kalifornien lebt. Die amerikanische Staatsbürgerschaft ist allerdings nicht von Geburt an notwendig. Damit kann auch ein Einwanderer, die einen substanziellen Anteil der kalifornischen Bevölkerung bilden, dieses Amt übernehmen. Von 2003 bis 2011 amtierte so beispielsweise der gebürtige Österreicher Arnold Schwarzenegger als Gouverneur. Anders als in vielen US-Bundesstaaten sieht das kalifornische Wahlrecht außer der Volljährigkeit kein Mindestalter (bspw. 25, 30 oder 35 Jahre) vor, um wählbar zu sein. Tatsächlich war jedoch bisher kein Gouverneur jünger als 30 Jahre.
Amtseinführung
Die neue Amtszeit des Gouverneurs beginnt nach der Verfassung von Kalifornien am Montag nach dem 1. Januar, der auf die Wahl folgt. Zwischen Wahl und Vereidigung liegen also rund zwei Monate. Vom Zeitpunkt des Urnengangs bis zur Amtsübergabe bleibt der bisherige Regierungschef regulär im Amt. Während dieser rund zweimonatigen Zeitspanne wird der Wahlgewinner auch als Governor-elect („gewählter Gouverneur“) bezeichnet. Es handelt sich jedoch um eine informale Bezeichnung, da ein gewählter, aber noch nicht vereidigter Gouverneur keine verfassungsrechtliche Bedeutung als Amtsträger hat. Die Pflichten und Befugnisse gehen erst mit der Vereidigung auf den Wahlsieger über. Ein wiedergewählter Amtsinhaber wird nicht als Governor-elect bezeichnet.
Am Tag der Amtseinführung, die auf ein Datum zwischen dem 2. und 8. Januar fällt, legt der neue bzw. wiedergewählte Amtsinhaber den Eid ab. Dieser muss von einem richterlichen Beamten des Bundesstaates abgenommen werden. In der Regel handelt es sich um den vorsitzenden Richter des Staatsgerichtshofs (Chief Justice). Zur Amtseinführung, der gubernatorial inauguration, im Staatskapitol in Sacramento erscheinen stets mehrere Tausend Gäste. Nach der Eidesleistung legt der Gouverneur normalerweise in einer Rede die Grundzüge seiner Regierungspolitik dar. Im Anschluss findet ein öffentlicher Ball statt. Diese Zeremonie erfährt stets große mediale Aufmerksamkeit. Der abzulegende Amtseid, den die Verfassung Kaliforniens festlegt, lautet:
“I [Name] do solemnly swear [or affirm] that I will support and defend the Constitution of the United States and the Constitution of the State of California against all enemies, foreign and domestic; that I will bear true faith and allegiance to the same; that I take this obligation freely, without any mental reservation or purpose of evasion; and that I will well and faithfully discharge the duties of the office on which I am about to enter.”
„Ich, [Name], schwöre [oder gelobe] feierlich, dass ich die Verfassung der Vereinigten Staaten und die Verfassung des Staates Kalifornien erhalten und gegen alle Feinde – von außen wie von innen – verteidigen werde; dass ich ihr in treuem Glauben und mit Loyalität folgen werde; dass ich diese Pflicht freiwillig, ohne geheimen Vorbehalt oder die Absicht, mich ihr zu entziehen, auf mich nehme und dass ich die Pflichten des Amtes, das ich antrete, gut und treu erfüllen werde.“
Dieser Eid wird von den meisten öffentlichen Mandatsträgern in den USA verwendet. In anderen Bundesstaaten wird entsprechend der Name geändert, bei Ämtern auf Bundesebene werden die Staatsverfassungen nicht erwähnt. Manche Gouverneure fügen noch die religiöse Beteuerung „So help me god“ („So wahr mir Gott helfe“) an; die Verfassung des Bundesstaates sieht das aber wegen der Trennung von Kirche und Staat nicht vor.
Amtszeit
Die einmalige Amtszeit des Gouverneurs beträgt vier Jahre. Eine Wiederwahl ist seit einem Volksentscheid im Jahr 1990 nur einmal zulässig. Allerdings muss eine zweite Wahlperiode nicht zwingend direkt auf die erste folgen. Die kalifornische Verfassung schreibt nur vor, dass keine Person mehr als zwei Amtszeiten als Gouverneur absolvieren darf. Die Limitierung auf zwei Wahlperioden gilt auf Lebenszeit. In einer Reihe von Bundesstaaten darf der jeweilige Gouverneur lediglich nicht mehr als zwei Amtsperioden am Stück absolvieren. Außer Jerry Brown gab es keinen Gouverneur, dessen Amtszeiten nicht direkt aufeinander folgten. Amtszeitbeschränkungen gelten in Kalifornien auch für die anderen Wahlämter der Exekutive und die Mitglieder der State Legislature. Vor dem Volksentscheid gab es keine Begrenzung der Amtsperioden. Trotzdem amtierte nach Jerry Brown nur Earl Warren länger als acht Jahre, nämlich von 1943 bis 1953. Im Oktober 1953 trat er dann nach etwas mehr als der Hälfte seiner dritten Amtszeit zurück, um Oberster Bundesrichter zu werden. Im Jahr 1966 scheiterte die Kandidatur von Pat Brown für eine dritte Wahlperiode, da er bei der Gouverneurswahl seinem Herausforderer, dem späteren US-Präsidenten Ronald Reagan, unterlag.
Von 1849 bis 1863 betrug die Amtszeit des Gouverneurs nur zwei Jahre, wie in den meisten anderen Bundesstaaten der USA zu dieser Zeit ebenfalls. Danach wurde sie auf vier Jahre verlängert. Von 1880 bis 1883 gab es einmalig in der kalifornischen Geschichte eine Amtsperiode von drei Jahren. Sinn und Zweck der einmaligen Wahlperiode von drei Jahren war die Anpassung an andere Bundesstaaten sowie die Halbzeitwahlen zum Kongress. Damit sollten die entsprechenden Wahlgänge für Gouverneur, andere bundesstaatliche Ämter und den Kongress auf denselben Termin gelegt werden, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Im Vergleich zu anderen Staaten verlängerte Kalifornien damit die Amtszeit seines Gouverneurs relativ früh von zwei auf vier Jahre. New York beispielsweise vollzog dies erst im Jahr 1938, Texas sogar erst 1972.
Recall
Kalifornien gehört zu den 18 US-Bundesstaaten, die einen Recall gegen den Gouverneur erlauben. Ein Recall ermöglicht es den Wählern, den Gouverneur vor Ende seiner Amtszeit abzusetzen. Dies ist sonst nur durch die Legislative bei rechtlichen Verfehlungen mittels Impeachment möglich. Um einen Recall starten zu können, müssen zwölf Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung zustimmen. Dies geschieht über Unterschriftenlisten. Kommt eine ausreichende Anzahl an Unterstützern zustande, so kann das gesamte Wahlvolk über den Verbleib des Amtsinhabers sowie über einen Nachfolger abstimmen. Spricht sich eine Mehrheit für die Absetzung aus, ist automatisch jener Kandidat, auf den die meisten Stimmen entfallen sind, zum neuen Gouverneur gewählt. Dieser tritt nach einem Monat das Amt des Gouverneurs an. Er führt jedoch nur die laufende Amtsperiode zu Ende und ist nicht für ganze vier Jahre gewählt. Somit bleibt der Turnus der ordentlichen Gouverneurswahlen stets erhalten.
Im Jahr 2003 fand der erste erfolgreiche Recall gegen einen Gouverneur, nämlich Gray Davis, statt. Davis wurde weniger als ein Jahr nach seiner erfolgreichen Wiederwahl im November 2002 von den kalifornischen Wählern abgesetzt. Zu seinem Nachfolger wurde Arnold Schwarzenegger gewählt, der einen Monat nach dem Urnengang die Regierungsgeschäfte übernahm. Nach North Dakota im Jahr 1921 war dies erst der zweite erfolgreiche Recall-Versuch in den Vereinigten Staaten überhaupt. Den ersten (erfolglosen) Recall-Versuch gegen einen kalifornischen Gouverneur gab es im Jahr 1968 während der Amtszeit von Ronald Reagan. Insgesamt hatte es seit der Einführung 1913 in Kalifornien 48 Recall-Versuche gegeben, die jedoch alle erfolglos blieben.
Nachfolgeregelung
Da eine vorzeitige Neuwahl des Gouverneurs von der kalifornischen Verfassung nur im Rahmen eines Recalls möglich ist, wurde der vorzeitige Ausfall des Amtsinhabers, der sich aus anderen Gründen ergeben kann, gesetzlich geregelt. Stirbt der Gouverneur im Amt, tritt er zurück oder wird er von der State Legislature wegen rechtlicher Verfehlungen des Amtes enthoben, rückt automatisch der Vizegouverneur für die verbleibende Dauer der Amtszeit zum neuen Gouverneur auf. Der Vizegouverneur wird also neuer Gouverneur und übt das Amt nicht lediglich geschäftsführend aus. Über den Vizegouverneur hinaus besteht ein per Gesetz festgelegtes Verfahren der Nachfolge, das weitere Amtsträger wie die Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern, den Secretary of State, den Attorney General und den State Treasurer vorsieht. Diese können aber anders als der Vizegouverneur nur zum geschäftsführenden Gouverneur (Acting Governor) aufrücken. Da jedoch der Gouverneur mit Zustimmung beider Häuser der State Legislature einen neuen Vizegouverneur ernennen kann, ist es sehr unwahrscheinlich, dass jemand anderes als der Vizegouverneur an die Stelle eines vorzeitig aus dem Amt geschiedenen Gouverneurs tritt.
Da der Vizegouverneur in Kalifornien anders als den meisten anderen Bundesstaaten separat gewählt wird und nicht auf einem sogenannten ticket (wie etwa der Präsident und Vizepräsident der USA), kann sich eine verschiedene Parteizugehörigkeit ergeben. So amtierten unter dem Republikaner Arnold Schwarzenegger drei Vizegouverneure, von denen zwei den Demokraten angehörten. Nur Abel Maldonado, Stellvertreter Arnold Schwarzeneggers in den letzten Monaten seiner Regierungszeit, gehörte ebenfalls der Republikanischen Partei an. Er wurde aber nicht gewählt, sondern von Schwarzenegger mit Zustimmung der State Legislature ernannt. Bei der nächsten regulären Wahl im November 2010 unterlag Maldonado dann dem gegenwärtigen, den Demokraten angehörenden Vizegouverneur Gavin Newsom. Die Praxis der getrennten Wahl von Gouverneur und Vizegouverneur wurde jedoch bereits zum Gegenstand von öffentlichen Diskussionen und Kritik. So wird die Wahl der Kandidaten für die beiden Ämter als Duo gefordert. Bei diesem Wahlverfahren wählt der designierte Gouverneurskandidat seinen Running Mate selbst aus, während der Anwärter auf den Gouverneursposten bei der getrennten Stimmenvergabe faktisch keinen Einfluss auf die Wahl seines Stellvertreters hat.
Über die Nachfolgeregelung hinaus sieht die kalifornische Verfassung vor, dass der Vizegouverneur zum geschäftsführenden Gouverneur wird, wenn sich der Gouverneur außerhalb des Bundesstaates aufhält. Dies wurde ebenfalls bereits kontrovers diskutiert, da ein geschäftsführender Gouverneur dieselben Befugnisse wie ein vollwertiger Amtsinhaber hat. Es handelt sich daher nur um eine rein technische Unterscheidung. Falls ein Vizegouverneur aufgrund der Abstinenz des Amtsinhabers geschäftsführend amtiert, besteht jedoch ein sogenanntes (informelles) Gentleman’s Agreement, dass der Vizegouverneur nur die dringlichsten Aufgaben erledigt und keine grundsätzlichen politischen Entscheidungen trifft.
Entlohnung und Privilegien
Das Jahresgehalt des Gouverneurs von Kalifornien liegt bei knapp 174.000 US-Dollar. Damit rangiert er auf Platz 7 der am besten bezahlten Regierungschefs der US-Bundesstaaten. Allerdings liegt das Gehalt des New Yorker Gouverneurs, der die höchste Bezahlung erhält, mit 179.000 US-Dollar nur vergleichsweise knapp darüber. Außerdem haben der Gouverneur und seine Familie Anspruch auf Personenschutz, was durch die California State Police gewährleistet wird.
Offizieller Amtssitz des Gouverneurs ist der Governor’s Mansion in Sacramento. Das Bauwerk wurde 1877 fertiggestellt und bis zum ersten Amtsantritt Jerry Browns 1975 von jedem Gouverneur bewohnt. Während seiner ersten Gouverneurszeit verzichtete Brown jedoch auf dieses Privileg und blieb in seiner privaten Wohnung. Auch seine Nachfolger zogen nicht offiziell in das Gebäude ein, sondern nutzten es mehr für zeremonielle Anlässe. Im Dezember 2015, während seiner zweiten Zeit als Gouverneur, zog Brown wieder in den Governor’s Mansion ein. Heute ist das Gelände Teil eines State Park. Seit den 1970er-Jahren werden auch regelmäßig Führungen in das Gebäude angeboten. Nach wie vor finden dort auch gesellschaftliche Ereignisse mit dem Gouverneur statt.
Das Büro des Gouverneurs befindet sich im California State Capitol in Sacramento. Dort hat er einen eigenen Stab und eine Öffentlichkeitsabteilung. Für das Fiskaljahr 2012–13 betrug das Budget des Gouverneursbüros, des Executive Office of the Governor, 12.660.000 US-Dollar.
Wie auch seine Kollegen anderer Bundesstaaten führt der Gouverneur von Kalifornien Hoheitszeichen. Der Gouverneur hat ein eigenes Siegel, das aus der Aufschrift Seal of the Governor of the State of California („Siegel des Gouverneurs des Staates Kalifornien“) mit der Flagge des Bundesstaates in der Mitte besteht. Insbesondere bei öffentlichen Auftritten wie beispielsweise Pressekonferenzen wird das Siegel verwendet; beispielsweise wird es häufig an der Vorderseite des Rednerpults befestigt, an dem der Gouverneur steht. Neben dem Siegel hat der Gouverneur auch eine eigene Standarte. Hierbei handelt es sich um eine blaue Flagge mit vier Sternen und dem Siegel des Staates Kalifornien in der Mitte.
Bewertung des Amtes
Da Kalifornien nach präsidialem System regiert wird, entspricht der Posten des Gouverneurs dem des Staatschefs; auf nationaler Ebene der des Präsidenten. Die Positionen des US-Präsidenten und des kalifornischen Gouverneurs sind trotz der verschiedenen Zuständigkeiten (nationale und bundesstaatliche Politik sind in den USA weitaus restriktiver getrennt als beispielsweise in Deutschland; siehe hierzu Föderalismus in den Vereinigten Staaten) im politischen System durchaus vergleichbar. Beide haben umfangreiche exekutive Befugnisse, wie etwa ein Vetorecht im Gesetzgebungsprozess. An manchen Stellen weichen die Vollmachten voneinander ab, so hat der Präsident ein eigenes Kabinett, dessen Mitglieder er alle selbst ernennt; andererseits hat der kalifornische Gouverneur mit dem Line-Item-Veto mehr Einfluss auf die Verabschiedung von Gesetzen. Diese Unterschiede zwischen dem Präsidenten und den Gouverneuren aller Bundesstaaten gehen auf die unterschiedlichen Ausgestaltungen der jeweiligen Verfassungen zurück. Sie bestehen jedoch mehr im Detail, denn das präsidiale Regierungssystem (eigene Wahl des Staatschefs, exekutive Vollmachten etc.) ist in den Vereinigten Staaten im Bund ebenso wie in allen Bundesstaaten anzutreffen.
Obwohl der Posten des Gouverneurs in Deutschland am ehesten mit dem eines Ministerpräsidenten vergleichbar ist, verfügt er im politischen System über eine stärkere Stellung. Anders als ein Ministerpräsident kommt er durch direkte Wahl ins Amt – hat daher eine eigene Legitimierung durch die Wähler – und ist auch nicht gegenüber der Legislative verantwortlich, wenngleich durch Kooperation zwischen beiden politisch weitaus mehr erreicht werden kann. Ein zentraler Unterschied zeigt sich daran, dass Ministerpräsidenten vom jeweiligen Landtag abgewählt werden können, während der Gouverneur abgesehen vom Recall nur bei rechtlichen Verfehlungen vor Ende der Wahlperiode absetzbar ist. Sowohl der Gouverneur durch seine direkte Wahl als auch die Parlamentarier durch das Fehlen der Fraktionsdisziplin sind weniger parteigebunden als in einem parlamentarischen System. Die Wahlentscheidungen der US-Bürger sind ohnehin meist mehr personen- als parteibezogen. Dies zeigt sich am Beispiel des Schauspielers Arnold Schwarzenegger, der als Republikaner zweimal zum Gouverneur gewählt wurde, obwohl sich Kalifornien in den vergangenen Jahren deutlich mehr den Demokraten zugewandt hat und auch die State Legislature von Demokraten kontrolliert wurde.
Mit seinem Vetorecht, insbesondere dem Line-Item-Veto und dem damit verbundenen Einfluss auf den Staatshaushalt, hat der Gouverneur als einzelner Amtsträger weitaus mehr Einfluss auf die Gesetzgebung als etwa der Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes. Im parlamentarischen Regierungssystem hat ein Ministerpräsident wiederum meist eine Mehrheit der Abgeordneten hinter sich, muss aber die Mehrheitsverhältnisse und ggf. Koalitionsinteressen berücksichtigen. All dies ist beim Gouverneur nicht zwingend der Fall. Der Gouverneur kann hier mit verschiedenen Abgeordneten themenindividuell zusammenarbeiten. Da die US-Bundesstaaten über mehr gesetzgeberische Zuständigkeiten verfügen, und diese strikter von jenen des Bundes getrennt sind, ergibt sich für die Regierung eines Bundesstaates mehr Einfluss auf die einzelnen politischen Themenfelder. Als Beispiele können hier unter anderem das Straf- das Sachen-, das Gesellschafts-, das Wahl- und ein Großteil des Arbeitsrechts genannt werden, die in den USA – anders als in Deutschland – in die Zuständigkeit der Staaten fallen. Die weiteren exekutiven Vollmachten sind umfangreicher als jene eines Ministerpräsidenten. So betrifft die Gnadenbefugnis fast das gesamte Strafrecht, welches in den Vereinigten Staaten mit wenigen Ausnahmen Angelegenheit der Bundesstaaten ist.
Statistisches
Amtszeiten
Jerry Brown bekleidete das Amt bisher am längsten (1975 bis 1983 und 2011 bis 2019). Er überholte damit Earl Warren, der von 1943 bis 1953 die Regierungsgeschäfte führte. Warren bleibt jedoch der Gouverneur mit der längsten ununterbrochenen Regierungszeit.
Milton Latham übte das Gouverneursamt nur vom 5. bis zum 14. Januar 1861 aus und hatte damit die kürzeste Amtszeit. Er trat nach neun Tagen zurück, nachdem er in den US-Senat gewählt wurde.
Bisher rückten sieben Vizegouverneure durch den vorzeitigen Ausfall des Amtsinhabers ohne Wahl zum Gouverneur auf; zuletzt nach Earl Warrens Rücktritt 1953, als dessen Stellvertreter Goodwin Knight zum Gouverneur wurde. Drei der nachgerückten Vizegouverneure wurden nach Ablauf der Wahlperiode, die sie zu beenden hatten, im Amt bestätigt. Dabei handelte es sich um die drei Nachfolgegouverneure im 20. Jahrhundert, während allen vier Aufrückern im 19. Jahrhundert die Wiederwahl nicht gelang.
Zwei Gouverneure verstarben bisher im Amt: Washington Bartlett im Jahr 1887 sowie James Rolph im Jahre 1934. Beide starben eines natürlichen Todes.
Von der Staatsgründung bis in die 1930er-Jahre waren nur wenige Gouverneure mit einer Wiederwahl erfolgreich. So hatten von 1850 bis 1934 bereits 27 Personen das Gouverneursamt inne, jedoch gelang nur fünf die Bestätigung im Amt. Von 1853 bis 1914 wurde überhaupt kein Gouverneur im Amt bestätigt (einige davon wurden von ihrer Partei auch nicht zur Wiederwahl nominiert, was inzwischen aber unüblich geworden ist). Seit 1934 gab es zwölf weitere Gouverneure, von denen zehn mindestens einmal wiedergewählt wurden. Rechnet man den Recall von Gray Davis im Jahr 2003 ein, so wurden nur vier Regierungschefs seit 1934 abgewählt.
Alter
Der jüngste Gouverneur war John Neely Johnson, Regierungschef von 1856 bis 1858, mit 30 Jahren bei Amtsantritt. Mit 72 Jahren bei seiner Vereidigung 2011 war Jerry Brown der älteste Amtsinhaber. Als Brown das Gouverneursamt erstmals 1975 antrat, war er mit 36 Jahren einer der jüngsten Gouverneure.
Das höchste Alter aller Gouverneure erreichte Ronald Reagan mit 93 Jahren. John Neely Johnson, der jüngste Amtsträger, hatte auch die kürzeste Lebensdauer, da er bereits mit 47 Jahren verstarb.
Kaliforniens erster Gouverneur Peter Burnett konnte seinen Ruhestand am längsten genießen, nämlich über einen Zeitraum von 44 Jahren. Er schied im Jahr 1851 aus dem Amt und starb 1895.
Robert Waterman hatte, abgesehen von den im Amt verstorbenen Gouverneuren, die kürzeste Lebenszeit nach dem Ende seiner Amtsperiode. Er starb bereits im April 1891, drei Monate nachdem er die Governor’s Mansion verlassen hatte.
Parteizugehörigkeit
Kalifornien hatte bereits 22 Gouverneure der Republikanischen Partei an seiner Spitze, während die Demokratische Partei nur auf 17 Amtsinhaber kommt. Jeweils einen Gouverneur stellte die Know-Nothing Party (John Neely Johnson) und die Progressive Party (Hiram Johnson), zwei kurzlebige Parteien, wobei letzterer auch Mitglied bei den Republikanern war. Auf eine demokratische Dominanz in den ersten drei Jahrzehnten seit der Staatsgründung folgte eine lange Zeitspanne, in der sehr überwiegend die Republikaner den Gouverneur stellten. Diese Entwicklung stand durchaus im Einklang mit dem nationalen Verlauf. So gab es in Kalifornien zwischen 1899 und 1939 ununterbrochen einen republikanischen Regierungschef. Auf die eine Wahlperiode von Culbert Olson (1939 bis 1943) folgte erst mit dem Amtsantritt Pat Browns 1959 wieder ein Demokrat. Bis in die 1980er Jahre galt Kalifornien eher den Republikanern zugeneigt. So stammten auch national bedeutende republikanische Politiker im 20. Jahrhundert wie Richard Nixon und Ronald Reagan aus Kalifornien. Reagan wurde sechs Jahre nach seiner Amtszeit als Gouverneur zum US-Präsidenten gewählt, womit er auch der einzige kalifornische Gouverneur ist, dem dies bisher gelang. Zwei Jahre nach seiner gescheiterten Präsidentschaftskandidatur kandidierte Nixon 1962, sechs Jahre vor seiner Wahl ins Weiße Haus, erfolglos für das höchste Amt Kaliforniens. Auch die letzten Jahrzehnte sahen ein Übergewicht an republikanischen Gouverneuren, obwohl sich Kalifornien seit den frühen 1990er Jahren sowohl auf Staats- wie auch der Nationalebene mehr der Demokratischen Partei zugeneigt hat. Dies ist einerseits mit der wachsenden Zahl von Latinos und andererseits mit der immer stärker einsetzenden Urbanisierung zu begründen. Denn sowohl Bewohner größerer Städte wie auch die hispanische Bevölkerung tendieren zu den politisch linkeren Demokraten. Aus diesem Grund galten jedoch die republikanischen Gouverneure der letzten drei Jahrzehnte eher als weniger konservativ als Amtsträger aus ländlicheren Bundesstaaten. Der Erfolg vieler republikanischer Kandidaten in den vergangenen Jahrzehnten, während die Demokraten überwiegend die Mehrheit in der State Legislature stellten, führen Politikwissenschaftler auf eine sehr personalisierte Wahl in Kalifornien zurück; Kalifornien habe eben schon sehr lange eher personen- als parteibezogen gewählt. 2018 ergab sich erstmals die Situation, dass die Bewerber der Demokraten drei Wahlen infolge gewinnen konnten und somit das Gouverneursamt länger als acht Jahre durchgehend von einem Demokraten besetzt wird.
Sonstiges
Zwischen allen Gouverneuren gab es bislang nur eine direkte verwandtschaftliche Beziehung: Jerry Brown ist der Sohn von Pat Brown. Auch Pat Browns Tochter Kathleen Brown kandidierte 1994 für das Gouverneursamt, unterlag aber Amtsinhaber Pete Wilson.
Kathleen Brown war 1994 nach Dianne Feinstein bei der Wahl 1990 bereits die zweite Frau, die von einer der beiden großen Parteien für das Gouverneursamt aufgestellt wurde. Mit Meg Whitman kandidierte 2010 erstmals auch bei den Republikanern eine Frau. Alle drei unterlagen in den Wahlen aber ihrem männlichen Kontrahenten. Daher hat bisher auch keine Frau das höchste Amt Kaliforniens ausgeübt. Mit Eleni Kounalakis hat Kalifornien jedoch seit 2019 erstmals eine Vizegouverneurin.
Romualdo Pacheco war bisher der einzige Amtsinhaber, der einer ethnischen Minderheit angehörte. Pacheco, ein Latino, übte das Gouverneursamt aber nur über neun Monate im Jahr 1875 in der Nachfolge aus dem Amt des Vizegouverneurs aus und wurde nicht direkt gewählt. Der Afroamerikaner Tom Bradley kandidierte 1982 und 1986 als Spitzenkandidat der Demokraten vergeblich als Gouverneur, wobei seine Niederlage 1982 jedoch äußerst knapp ausfiel. Dies wurde in Anbetracht seiner afroamerikanischen Identität sowie den zuvor erhobenen Umfragen, die ihn leicht im Vorteil gegenüber seinem Kontrahenten George Deukmejian sahen, später als Bradley-Effekt beschrieben.
Bislang wurden zwei Gouverneure außerhalb der USA geboren: John G. Downey kam in Irland zu Welt, Arnold Schwarzenegger wurde in Österreich geboren.
Bislang heirateten zwei Gouverneure während ihrer Amtszeit: Frank Merriam im Jahr 1936 und Goodwin Knight im Jahre 1954.
Im Oktober 2012 hatte Jerry Brown mit über 12.500 Gesetzen mehr Gesetze der Bundesstaatslegislative unterzeichnet als jeder andere Amtsinhaber seit Gründung des Staates.
Siehe auch
Liste der Gouverneure von Kalifornien
Gouverneur (Vereinigte Staaten) (allgemeine Informationen zu Gouverneuren in den USA)
Gouverneur (Gouverneure in anderen Ländern und Herkunft bzw. Bedeutung des Begriffs)
Literatur
Brian P. Janiskee, Ken Masugi: Democracy in California: Politics and Government in the Golden State, Rowman & Littlefield Publishers, 2011 ISBN 978-1-4422-0338-9
Christoph M. Haas, Wolfgang Jäger: Regierungssystem der USA: Lehr- und Handbuch, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2007 ISBN 978-3-486-58438-7
Weblinks
Offizielle Seite des kalifornischen Gouverneurs (englisch)
Governor’s Library – Hintergrundinformationen zu den Gouverneuren (englisch)
Our Campaigns: California Governors – Übersicht der kalifornischen Gouverneurswahlen seit 1850 mit Ergebnissen und Hintergrundinformationen
Einzelnachweise |
239041 | https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf%20Harbig | Rudolf Harbig | Rudolf Waldemar „Rudi“ Harbig (* 8. November 1913 in Dresden; † oder vermisst seit 5. März 1944 in Olchowez, Swenyhorodka, Ukrainische SSR, Sowjetunion) war ein deutscher Leichtathlet, der vor allem als Mittelstreckenläufer erfolgreich war.
Harbigs Läuferkarriere begann 1934. Unter Anleitung des Trainers Woldemar Gerschler avancierte er binnen weniger Jahre zum Ausnahmeathleten. Im Jahr 1936 wurde er erstmals Deutscher Meister und errang bei den Olympischen Spielen in Berlin als Läufer in der 4-mal-400-Meter-Staffel eine Bronzemedaille. Im Jahr 1938 wurde er zweifacher Europameister. Auf dem Höhepunkt seiner sportlichen Karriere lief er 1939 binnen weniger Monate vier Weltrekorde. Eine Teilnahme an den Olympischen Spielen 1940 war ihm nicht vergönnt, weil die Spiele infolge des Zweiten Weltkriegs abgesagt wurden. Seinen letzten Weltrekord lief Harbig 1941 über die 1000-Meter-Distanz. In den anschließenden Jahren verhinderte die Einberufung zur Wehrmacht weitere größere Erfolge. Er ging an 175 Wettkampftagen insgesamt 233-mal an den Start (inklusive Staffel-, aber ohne Waldläufe und ohne Hallenveranstaltungen), wobei er 201-mal siegte.
Seit einem Kampfeinsatz als Fallschirmjäger bei der Luftwaffe im März 1944 gilt Harbig als gefallen oder vermisst.
Kindheit und Lehre
Rudolf Harbig wurde am 8. November 1913 als zweites von fünf Kindern in Dresden-Löbtau geboren. In seiner frühen Kindheit wohnte er mit seiner Familie zunächst in diesem Stadtteil, dann in Trachenberge. Ab 1919 wuchs er in Trachau auf, wo er in einem Hinterhaus an der Großenhainer Straße 219 im Stadtviertel Wilder Mann wohnte. Er hatte eine ältere und zwei jüngere Schwestern sowie einen jüngeren Bruder. Sein Vater A. Rudolf Harbig, von Beruf Heizer, fand nach der Heimkehr aus dem Ersten Weltkrieg keine Anstellung mehr. Harbigs Mutter brachte die Familie durch die Depression.
Als Schüler gehörte Rudolf Harbig dem Turn- und Sportverein „Frischauf“ Trachau an; später wechselte er zur Sportvereinigung Brandenburg. Er nahm an Läufen in der Dresdner Heide teil und spielte auch Handball. Nach seiner achtjährigen Schulzeit wollte Harbig das Fleischerhandwerk erlernen. Da seine Eltern jedoch nicht die finanziellen Mittel für die erforderliche Arbeitsbekleidung aufbringen konnten, trat er in der Dresdner Altstadt eine Lehre als Stellmacher an. Während seiner Lehrzeit blieb Harbig dem Sportverein treu; 1930 siegte er bei einem 3000-Meter-Lauf. Im Jahr darauf belegte er mit einer Zeit von 34:25 min in einem 10.000-Meter-Lauf Rang sechs. Als sein Verein nach internen Konflikten aufgelöst wurde, wechselte Harbig zum Dresdner Verein Olympia. Nach seiner Lehrzeit konnte ihn sein Meister aufgrund der herrschenden Weltwirtschaftskrise nicht als Geselle übernehmen. Daher ging Harbig auf Wanderschaft. Von Dresden reiste er zunächst nach München und von dort als „Tippelbruder“ durch Deutschland. Als er auch in der Fremde keine Arbeit fand, kehrte er zur Familie zurück und widmete sich weiter dem Sport.
Neben dem Handballspiel und der Leichtathletik betätigte sich Harbig als Schwimmer und Fußballer, er fuhr Rad und lief während der Wintermonate im Erzgebirge Ski. Da er immer noch keine feste Anstellung finden konnte, schlug er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Um seine Existenz zu sichern, verpflichtete er sich schließlich Ende 1932 für drei Jahre bei der Reichswehr. Nach der Schlussuntersuchung in der Jägerkaserne wurde er angestellt. Neben der militärischen Ausbildung auf dem Heller konnte er sich im Militärdienst weitgehend leichtathletischen Betätigungen widmen. Schon bald war Harbig für seine „Spurterqualitäten“ bekannt; er siegte für seine Kompanie bei mehreren Läufen.
Sportliche Karriere
Entdeckung und Aufstieg
Der Berufssoldat Harbig nahm weiter an Läufen teil. Im Sommer 1934 begannen in Deutschland die Vorbereitungen für die Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Um unerkannte Sporttalente zu entdecken, gab es im Reichsgebiet zahlreiche Sportveranstaltungen, so auch am 24. Juni 1934, als in Dresden der Tag des unbekannten Sportsmanns veranstaltet wurde. Im Heinz-Steyer-Stadion des Dresdner SC (DSC) im Ostragehege nahm Harbig an einem 800-Meter-Lauf teil. Dieser Wettkampf wurde zum Wendepunkt in seinem Leben. Das Läuferfeld, das nach dem Start ein sehr hohes Tempo anschlug, blieb zunächst dicht zusammen, zog sich in der zweiten Hälfte des Rennens aber deutlich auseinander. Harbig bezwang seine Gegner mit einer Zeit von 2:04 min. Sein Sieg fand in der Öffentlichkeit jedoch kaum Beachtung, nur ein anwesender Sportfachmann interessierte sich für den aufstrebenden Läufer. Es war Woldemar Gerschler, der damalige Leiter der Dresdner Olympia-Trainingsgemeinschaft und Harbigs späterer Mentor. Der aus Meißen stammende Gerschler hatte Harbig während des gesamten Laufes beobachtet und war zum Entschluss gekommen, den jungen Mann zu fördern und zu betreuen. Er bot Harbig an, sich der Olympia-Trainingsgemeinschaft anzuschließen, was dieser tat. Darüber hinaus trat Harbig zu Gerschlers Mannschaft im DSC über, wo dieser ihn körperlich, technisch und taktisch schulte, insbesondere im damals wenig bekannten Intervalltraining. Dies war der Beginn von Harbigs Sportkarriere.
Im Juli 1934 führte die Heeressportschule Sportlehrgänge in Wünsdorf und Umgebung durch. Dabei wurde er bei einem Wettkampf in Luckenwalde auf der 800-Meter-Distanz mit einer Zeit von 2:04,5 min Dritter. Einen zweiten Platz erreichte er beim 1000-Meter-Lauf in Wünsdorf. Ende Juli 1934 unterzog der damalige Reichstrainer Josef Waitzer die Dresdner Trainingsgemeinschaft einer Prüfung. Bei dem angesetzten 800-Meter-Lauf siegte Harbig vor dem früheren Olympiateilnehmer Max Tarnogrocki und blieb mit 1:59,4 min unter der Zweiminutengrenze. Bei den deutschen Meisterschaften am 27. Juli 1934 in Nürnberg schied Harbig allerdings im Vorlauf auf der 800-Meter-Distanz mit 2:05,6 min als Sechster aus. Im September gewann er wieder in Wünsdorf über die gleiche Strecke mit einer Zeit von 1:58,2 min.
In den ersten Trainingsmonaten und bei der Wintervorbereitung an Gerschlers Seite stieg Harbigs Leistungspotential. Bei den Bahneröffnungsveranstaltungen im Mai 1935 in Dresden siegte er auf der 800-Meter-Strecke. Am 1. Juni entschied er abermals in Dresden den halben Kilometer und tags darauf die 100 Meter für sich. Bei dem 800-Meter-Lauf am 9. Juni 1935 im schlesischen Breslau setzte er sich erneut gegen seine Gegner durch. Dass Harbig die Siege nicht geschenkt bekam, zeigte sich am 15. Juni in Kassel, als er auf der 1000-Meter-Distanz nur Siebenter wurde. Tags darauf lief er dort beim Olympiaprüfungslauf über die 800 Meter auf den ersten Rang. Wenig später verletzte sich Harbig bei einem Handballspiel so unglücklich am Knie, dass er für zwei Wochen in ein Krankenhaus musste. Infolge des Trainingsrückstands war Harbig am 21. Juli 1935 bei den in Kassel stattfindenden deutschen Juniorenmeisterschaften nicht in Form, er kam im 800-Meter-Lauf nur als Siebenter ins Ziel. Nach zwei weiteren ersten Plätzen über die 400-Meter-Strecke (50,3 s) und mit der 4-mal-400-Meter-Staffel (3:28,4 min) in Dresden am 28. Juli nahm Harbig Anfang August 1935 an den deutschen Meisterschaften in Berlin teil. Im Vorausscheid über die 800 Meter ließ er als Dritter mit 1:56,8 min aufhorchen. Im Endlauf kam es nach etwa 500 gelaufenen Metern zu einer Karambolage mehrerer Läufer. Dabei erhielt Harbig von einem Kontrahenten einen Tritt in die Ferse. Da sein Laufschuh nicht mehr richtig saß und auf der Fersenverletzung rieb, bekam Harbig starke Schmerzen und wurde Siebenter.
Wegen der zunehmenden Belastung durch den Militärdienst und das intensivere Training reichte Harbig im Sommer 1935 sein Rücktrittsgesuch ein. Obwohl er keine Arbeit in Aussicht hatte, schied er im August 1935 im Zuge des Übergangs von der Reichswehr zur Wehrmacht aus dem Berufsheer aus und hielt sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Seine zurückgewonnene Freizeit nutzte er, um systematisch zu trainieren. In dieser Zeit legte er zusammen mit Gerschler den Grundstein für seine spätere Lauftechnik. Im September 1935 gewann Harbig in Berlin bei einem 800-Meter-Lauf und wurde auf der 400-Meter-Distanz Zweiter. In Dresden folgte am 6. September ein erster Platz über die 1500 Meter. Mit weiteren Siegen beim 1000-Meter-Lauf und bei der 4-mal-100-Meter-Staffel im tschechoslowakischen Reichenberg endete im Oktober 1935 die Wettkampfsaison. Anschließend widmete sich Harbig, der inzwischen eine Arbeit als Aushilfe bei einem Niedersedlitzer Stellmacher gefunden hatte, wieder dem Training.
Olympische Spiele 1936
Im Februar 1936 erhielt Harbig eine Festanstellung als Gasableser bei den Dresdner Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerken Drewag, in deren Mitarbeiterzeitschrift er fortan seinen Arbeitskollegen seine sportlichen Erlebnisse berichtete. Als Ableser war er zuständig für den Bezirk Mitte der Dresdner Altstadt. Auch sportlich ging es weiter aufwärts: Nach dem Wintertraining erreichte Harbig mit Beginn der Wettkampfsaison 1936 die von ihm und Gerschler anvisierte Form. Die sächsischen Kreis- und Landesmeisterschaften gewann er. Bei den deutschen Meisterschaften am 11. und 12. Juli 1936 im Berliner Mommsenstadion ging es für Harbig neben der deutschen Meisterschaft auch um die Qualifikation für die wenige Wochen später beginnenden Olympischen Spiele. Bei der Vorausscheidung zum 800-Meter-Lauf wurde er Zweiter. Im Hauptlauf lag er nach dem Start zunächst im Mittelfeld, nach etwa 400 Metern setzte er sich an die Spitze des Feldes und siegte vor Wolfgang Dessecker. Mit einer Zeit von 1:54,1 min war Harbig Deutscher Meister und erhielt Starterlaubnis für Olympia. Mit ihm qualifizierten sich auch Dessecker und Alexander Mertens.
In den drei Wochen vor Beginn der Spiele widmete sich Harbig der Vorbereitung. Eine Woche vorher reiste er mit Gerschler nach Ettlingen, um dort in einer Sportschule sein Leistungsvermögen zu festigen. Das Training musste er jedoch wegen Kopfschmerzen vorzeitig abbrechen. Auf der Fahrt nach Berlin befiel ihn ein Magen-Darm-Infekt, der sich durch eine Reisekrankheit verschlimmerte. Harbig bezog im Olympischen Dorf das Haus Vogesen und begab sich in ärztliche Behandlung. Am nächsten Tag, dem 2. August, startete der geschwächte Harbig über die 800-Meter-Strecke gut und lag an zweiter Stelle hinter dem Kanadier Phil Edwards. Nach etwa 600 Metern erlitt er einen Krafteinbruch – er wurde Sechster. Harbig kehrte mit Gerschler in das Olympische Dorf zurück, wo sich beide schweren Vorwürfen seitens der deutschen Sportleitung ausgesetzt sahen. Die Enttäuschung beim 800-Meter-Lauf führte zu ernsthaften Zweifeln hinsichtlich seines Einsatzes in der 4-mal-400-Meter-Staffel. So wurde ein Ausscheidungslauf über die Distanz von 400 Metern angesetzt, in dem Harbig gegen Friedrich von Stülpnagel antreten musste. Die beiden Athleten lieferten sich ein hartes Duell, das Harbig mit einer Zeit von 48,8 s für sich entscheiden konnte. Auch von Stülpnagel wurde mit seiner Zeit von 48,9 s für die Staffel nominiert.
Im Vorlauf am 8. August setzte sich die deutsche Mannschaft mit Helmut Hamann, von Stülpnagel, Harry Voigt und Harbig mit 3:15,0 min vor Kanada durch. Am Finale am 9. August nahmen neben dem Deutschen Reich Kanada, England, Schweden, Ungarn und die Vereinigten Staaten von Amerika teil. Die deutschen Läufer starteten in unveränderter Reihenfolge. Nach den ersten 400 Metern lag Kanada in Führung. In der zweiten Runde übernahmen die USA die Führung vor England und Kanada. Von Stülpnagel übergab den Staffelstab an vierter Stelle liegend an Voigt. Dieser schloss auf Kanada auf, überholte und übergab den Staffelstab an dritter Stelle liegend an Schlussläufer Harbig. Der hinter ihm laufende Kanadier John Loaring blieb Harbig dicht auf den Fersen, doch Deutschland gewann mit einer Zeit von 3:11,8 min die Bronzemedaille.
Nach den Olympischen Spielen reiste Harbig nach Schweden, wo er an mehreren Sportfesten teilnahm und zusätzliche internationale Erfahrungen sammeln konnte.
Karrierehöhepunkt
1937 schloss Harbig zur internationalen Läuferspitze auf. Er lief in seinen Disziplinen über 200, 400 und 800 Meter von Erfolg zu Erfolg. Der Auftaktsieg gelang ihm am 16. Mai 1937 in Paris über die 800-Meter-Strecke. In den nächsten Rennen der Kreis- und Sachsenmeisterschaften gewann Harbig sowohl auf der 200- als auch auf der 800-Meter-Distanz und verhalf der DSC-Mannschaft als Endläufer zum ersten Platz in der 4-mal-400-Meter-Staffel. Beim 800-Meter-Vergleich in Königsberg am 9. Juli errang er erneut den Sieg. Am 11. Juli startete Harbig mit seinem Club bei den deutschen Staffelmeisterschaften und eine Woche später bei den deutschen Vereinsmeisterschaften. Dort belegte er auf der 800- und 1500-Meter-Strecke weitere erste Plätze.
Den 800-Meter-Lauf am 21. Juli 1937 in Chemnitz entschied er für sich. Ein tragischer Unfall überschattete den Wettkampf, als ein Hammer Harbigs Trainer Gerschler traf, der daraufhin mit inneren Verletzungen in ein Krankenhaus gebracht werden musste. Gerschler rang wochenlang mit dem Tod und erholte sich erst nach Monaten. So fuhr Harbig ohne ihn zu den deutschen Meisterschaften Ende Juli 1937 nach Berlin. Nach dem Start übernahm er die Führung und lief mit einer Zeit von 1:50,9 min (deutscher Rekord) zum Sieg und zweiten deutschen Meistertitel. Mit seiner Zeit hatte er den elf Jahre bestehenden Rekord von Otto Peltzer um sieben Zehntelsekunden verbessert und dabei vier Sekunden Vorsprung auf den Zweitplatzierten.
Eine Woche später lief Harbig im Berliner Olympiastadion erneut deutschen Rekord – diesmal über 400 Meter, wo er mit einer Zeit von 47,6 s den neun Jahre zuvor aufgestellten Rekord von Joachim Büchner unterbot. Damit war Harbig Rekordhalter dieser beiden Mittelstreckenläufe. Beim Länderkampf Deutschland gegen Frankreich im August 1937 in München setzte er seine Siegesserie fort. Harbig gewann den 800-Meter-Lauf und holte mit seiner Mannschaft in der 4-mal-400-Meter-Staffel den Sieg. Bereits eine Woche später kam er im Londoner White City Stadium über 880 Yards (804,67 m) am 14. August zu einem neuerlichen Erfolg. Am 22. August 1937 bezwang Harbig seine Konkurrenten vor Dresdner Publikum nochmals auf der 800-Meter-Distanz. Am 29. August 1937 siegte er bei den deutschen Vereinsmeisterschaften sowohl über die 200 Meter als auch mit der 4-mal-100-Meter-Staffel. Beim Länderkampf zwischen Deutschland und Schweden am 19. September 1937 sah man wiederum einen siegreichen Harbig; auf der 400- und 800-Meter-Distanz sowie mit der 4-mal-100-Meter-Staffel holte er weitere Goldmedaillen. In der Gesamtwertung ging der Länderkampf dennoch an Schweden. Den Saisonabschluss 1937 bildeten die Wettkämpfe in Reichenberg, wo Harbig erneut mit Siegen auf der 200- und 800-Meter-Strecke von der Bahn ging. Ende 1937 stand er über die 800 Meter auf Position fünf der Weltrangliste.
Nach der Wintervorbereitung 1937/38 begann Harbigs Laufsaison Ende Februar 1938 mit einem 3-Kilometer-Lauf in Hohen Neuendorf bei Berlin, den er für sich entschied. Ab Mai 1938 nahm er an den Kreis- und Sachsenmeisterschaften teil. Weitere Wettkämpfe standen auf den Distanzen 200, 400, 800, 1000 und 1500 Meter sowie mit der 4-mal-400-Meter-Staffel in Dresden, Jena, Forst (Lausitz), Cottbus, Leipzig und Nürnberg an, die Harbig größtenteils gewinnen konnte.
Der erste internationale Lauf des Jahres fand am 3. Juli beim Länderkampf Frankreich gegen Deutschland in Paris statt. Der Wettkampf endete mit einem Erfolg der deutschen Mannschaft, wobei Harbig im 800-Meter-Lauf gewann. Seine Taktik bestand darin, das Tempo seiner Vorläufer zunächst nur mitzugehen. Zumeist positionierte sich Harbig anfangs an zweiter Stelle und lief erst im Endspurt an seinen Konkurrenten vorbei. Wann sein Endspurt begann, lag zumeist an den Mitläufern. Harbig konnte seinen Endspurt auf 200 oder 300 Meter ausdehnen, aber auch erst zwischen 20 und 50 Meter vor dem Ziel einleiten. Am 9. Juli 1938 folgte in Königsberg der Länderkampf zwischen Deutschland und Polen. Harbig ging an den Start zur 800-Meter-Strecke und gewann das Rennen mit einer Zeit von 1:51,6 min. Am 19. Juli 1938 folgte von ihm im Rahmen des 3. Internationalen Stadionfestes (ISTAF) im Berliner Mommsenstadion ein weiterer Sieg im 400-Meter-Lauf.
Bei den deutschen Leichtathletik-Meisterschaften im Juli 1938 im Breslauer Hermann-Göring-Stadion wurde Harbig zum dritten Mal in Folge Deutscher Meister auf der 800-Meter-Distanz. Beim Länderkampf Deutschland gegen die Vereinigten Staaten am 13. August 1938 siegte Harbig wieder über die 800-Meter-Strecke. Zuvor hatte er am 3. August den 400-Meter-Lauf in Hamburg gewonnen; am 7. August lief er über dieselbe Distanz in Dortmund (46,8 s) ebenfalls zum Sieg und erzielte neuen deutschen Rekord. Harbigs Erfolgsserie hielt weiter an. Am 16. August setzte er sich in Dresden über 800 Meter durch; am 21. August wiederholte er den Sieg in Stuttgart. Beim Länderkampf Schweden gegen Deutschland Ende August 1938 in Stockholm entschied er sowohl die 400- als auch die 800-Meter-Distanz für sich und gewann mit seiner Mannschaft die 4-mal-400-Meter-Staffel.
Höhepunkt der Saison waren die Leichtathletik-Europameisterschaften vom 3. bis 5. September 1938 in Paris. Nach den Vorläufen zum 800-Meter-Lauf kristallisierte sich heraus, dass Harbigs Rivale der Italiener Mario Lanzi werden würde. Nach dem Startschuss ging Lanzi vor Harbig in Führung. In der letzten Kurve setzte Harbig zum Endspurt an, siegte in einer Zeit von 1:50,66 min und war Europameister vor dem Franzosen Jacques Lévèque, der Lanzi noch knapp auf Rang drei verwies. Zugleich war seine Zeit ein neuer deutscher Rekord. Auch in der 4-mal-400-Meter-Staffel bezwang die deutsche Mannschaft mit Harbig als Schlussläufer die Gegner und wurde Europameister. Das zweite Zusammentreffen zwischen Lanzi und Harbig folgte am 11. September 1938 in Mailand. Der 800-Meter-Lauf endete mit einem Sieg Harbigs in 1:52,6 min. Weitere erste Plätze folgten Ende September und Anfang Oktober 1938 in Budapest (1:53,0 min) und in Wien (1:54,4 min). Nach Abschluss der Saison unternahm Harbig eine dreiwöchige Italienreise.
Nach den obligatorischen Waldläufen im Februar 1939 begann Harbigs Laufsaison Anfang Mai mit den Bahneröffnungswettkämpfen und Staffelläufen in Dresden. Am 21. Mai 1939 trat er im Rahmen der olympischen Prüfungswettkämpfe in Mannheim über die 800-Meter-Distanz an. Bei schlechtem Wetter setzte sich Harbig sofort an die Spitze des Feldes und gab die Führung bis zum Ziel nicht mehr ab. Seine Zeit von 1:50,5 min bedeutete einen neuen deutschen Rekord. Bei den folgenden sächsischen Kreis- und Landesmeisterschaften in Leipzig und Dresden am 3. und 4. Juni bzw. am 10. und 11. Juni 1939 kam Harbig bei allen sieben Starts als Erster ins Ziel. Nach dem Beweis seiner Leistungsfähigkeit über 800 Meter sollte er in Erfurt den Weltrekord in der 500-Meter-Strecke brechen. Der Rekordlauf am 18. Juni 1939 gelang mit einer Zeit von 61,7 s. Die auf der unüblichen Distanz gelaufene Bestzeit fand allerdings in der Allgemeinheit kaum Beachtung. Weitere Siege in Dresden sowie beim in München stattfindenden Länderkampf Deutschland gegen Frankreich folgten.
Bei den deutschen Meisterschaften lief Harbig auf der 800-Meter-Strecke am 9. Juli mit 1:49,4 min Weltrekord. Am 15. und 16. Juli 1939 traf Harbig im Rahmen des Länderkampfs Italien gegen Deutschland in Mailand wieder auf Lanzi. In der Arena Civica kam es am ersten Wettkampftag zum Duell über die 800-Meter-Distanz. Harbig siegte vor Lanzi mit einer Zeit von 1:46,6 min. Das bedeutete Weltrekord; Harbig hatte seinen eigenen Rekord um fast drei Sekunden unterboten. Die Zeit war so außergewöhnlich, dass die Nachrichtenagenturen sie sicherheitshalber in Buchstaben („Eins-sechs-und-vierzig-sechs“) verbreiteten; sie sollte auch erst 16 Jahre später im Jahr 1955 durch Roger Moens mit 1:45,7 min unterboten werden. Tags darauf traten Lanzi und Harbig im 400-Meter-Lauf erneut gegeneinander an. Lanzi ging in Führung, doch 50 Meter vor dem Ziel setzte Harbig zum Endspurt an, zog an Lanzi vorbei und gewann mit einer Zeit von 46,7 s (neuer deutscher Rekord). Abschließend holte er sich mit seiner Mannschaft noch den Sieg in der 4-mal-400-Meter-Staffel. Aus den Händen des Dresdner Oberbürgermeisters Hans Nieland nahm Harbig als Auszeichnung für seine Leistungen eine bronzene Miniaturausführung des Ballwerfers, einer von Richard Daniel Fabricius nach Vorbild des Athleten Ewald Redam geschaffenen Statue, entgegen.
Am 29. Juli 1939 traf Harbig in Berlin wieder auf Lanzi, den er auf der 800-Meter-Distanz erneut schlagen konnte. Dem folgten ein weiterer internationaler Wettkampf in Dresden und Läufe in München, Braunschweig, Karlsruhe, Duisburg, Krefeld und Köln, die für Harbig größtenteils erfolgreich verliefen. Zum wiederholten Aufeinandertreffen von Harbig und Lanzi kam es am 12. August 1939 im Rahmen des Sportfestes Eintracht im Frankfurter Waldstadion. In dem 400-Meter-Lauf ging Lanzi wieder in Führung vor dem dicht folgenden Harbig. Das Duell aus Mailand wiederholte sich. Auf den letzten 50 Metern lagen beide Läufer auf gleicher Höhe. Als Lanzi die Kräfte verließen, schob sich Harbig vorbei und siegte. Die Uhren blieben bei 46,0 s stehen; dies bedeutete abermals Weltrekord.
Beim anschließenden Länderkampf Deutschland gegen England in Köln gewann Harbig auf der 400-Meter-Distanz erneut und holte mit seiner Mannschaft in der 4-mal-400-Meter-Staffel Platz eins. Einen weiteren 800-Meter-Sieg erlief er sich am 26. August in Krefeld beim dort ausgetragenen Länderkampf Deutschland gegen Belgien. Der Wettkampf wurde allerdings wenige Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges abgebrochen. Zugleich erhielt ein sichtlich erschütterter Harbig am 28. August 1939 im Zuge der Allgemeinen Mobilmachung den Einberufungsbescheid zum Wehrdienst. Nach den Erinnerungen von Harbigs späterer Frau brach an diesem Tag für ihn eine Welt zusammen.
Kriegsjahre
Der Ausbruch des Krieges stellte die Sportführung vor einen Konflikt. Aus ihrer Sicht war der Sport auf der einen Seite ausschlaggebend für die „körperliche und geistige Wehrkraft“ der Jugend; auch hatte der deutsche Sport im Sommer 1939, insbesondere durch Harbigs Weltrekordlauf über 800 Meter, noch einmal im Ausland an Prestige zugelegt. Auf der anderen Seite proklamierte Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten, dass „des Führers beste(n) Sportler nun auch seine besten Soldaten sein sollten“. Tschammer und Guido von Mengden ließen von Anfang an keine Zweifel aufkommen, dass der bisherige Umfang der nationalen wie internationalen Sportveranstaltungen sich den Erfordernissen des Krieges zu unterwerfen habe. Gerade die Leichtathleten als Leistungsträger des deutschen Sports machten sich im ersten Kriegswinter 1939/40 noch Hoffnungen auf die Olympischen Spiele 1940 in Helsinki, die damals noch nicht abgesagt waren. Harbig galt als Favorit für zweifaches olympisches Gold im 400- und 800-Meter-Lauf. In der Realität waren die Leichtathleten bereits ihrer systematischen Trainingsmöglichkeiten beraubt – so auch Harbig, der als Gefreiter zum Wachdienst nach Gnesen abkommandiert wurde, worüber er sich in einem Brief an seinen Lauffreund Dieter Giesen beschwerte.
Erst im August 1940 nahm er wieder an einem Wettkampf mit internationaler Besetzung teil. Bei dem Länderkampf Deutschland gegen Italien in Stuttgart trat er in der 400- und 800-Meter-Distanz erneut gegen den Italiener Lanzi an und entschied beide Läufe für sich. Alle weiteren Wettbewerbe bestritt er zumeist ohne Vorbereitungstraining. Bei den deutschen Meisterschaften in Berlin setzte sich Harbig über 800 Meter zum wiederholten Mal durch. Nach der Absage der Olympischen Spiele 1940 in Finnland fand im September in Helsinki der Dreiländerkampf Finnland–Schweden–Deutschland statt. Der dort angetretene Harbig sicherte sich sowohl im 400- als auch 800-Meter-Lauf den Sieg und holte mit seiner Mannschaft Platz eins in der 4-mal-400-Meter-Staffel. Danach zwang ihn eine starke Angina zu einem Krankenhausaufenthalt. Noch davon geschwächt, ging er am 29. September im italienischen Como nochmals gegen Lanzi ins Rennen und wurde auf der 800-Meter-Strecke hinter ihm mit 1:54,7 min Zweiter. Der Länderkampf Rumänien gegen Deutschland in Bukarest im Oktober 1940 sah Harbig wieder auf dem höchsten Podestplatz. Er gewann den 400- und den 800-Meter-Lauf und holte mit seiner Mannschaft auf der 4-mal-400-Meter-Staffel Gold.
Harbigs Abneigung gegen den Krieg blieb Tschammer nicht verborgen. Nach Drohungen und ernsten Worten veranlasste er Harbigs Versetzung zu den Fallschirmjägern der Luftwaffe, zur Fallschirmschule III am Fliegerhorst Braunschweig-Broitzem. Die Fallschirmjäger als „Eliteeinheit“ waren bis 1944 eine reine Freiwilligentruppe. Die Angehörigen wurden einer strengen Auswahl unterzogen, die sich auf bestimmte körperliche, geistig-psychische und politisch-ideologische Qualitäten bezog. An seinem Stationierungsort trat Harbig der Eintracht Braunschweig bei.
Neben seinem militärischen Ausbildungsdienst im Winter 1940/41 bereitete sich Harbig auf die Saison in seinem neuen Verein vor. Hierzu zählen zwei Waldläufe, die er jeweils für sich entscheiden konnte. Obwohl Harbig kein Freund von Hallenrennen war, nahm er aufgrund der verminderten sportlichen Möglichkeiten am 16. Februar 1941 am Hallenlauf in Magdeburg teil. Dort lief er über 1000 Meter zum Sieg. Am 16. März gewann er in Berlin über die gleiche Distanz. Am 18. Mai siegte Harbig, wieder in Berlin, auf der 1000-Meter-Strecke. Seine Zeit von 2:24,9 min bedeutete deutschen Rekord.
Am 24. Mai 1941 folgte ein weiteres Rennen über 1000 Meter in Dresden. Dort unternahm Harbig einen nächsten Rekordversuch. Die Aschenbahn der Ilgen-Kampfbahn war durch vorangegangenen Niederschlag schwer und erschwerte den Lauf. Als etwa 800 Meter absolviert waren, setzte sich Harbig an die Spitze des Feldes und lief mit 2:21,5 min Weltrekord. Bei dem 800-Meter-Lauf am 27. Mai 1941 im dänischen Kopenhagen siegte er erneut. Ab Juni 1941 trat Harbig u. a. in Bukarest, Brüssel und Paris an. Herausragender Wettkampf dieser Monate war der italienisch-deutsche Länderkampf am 28. und 29. Juni 1941 in Bologna. Harbig war für diesen Länderkampf vom Militärdienst beurlaubt. Aber sowohl auf der 400- (47,2 s) als auch auf der 800-Meter-Strecke (1:49,1 min) musste er sich, bedingt durch seinen Kriegseinsatz, Lanzi geschlagen geben. Die beiden Läufer trennte im Ziel jeweils nur eine Zehntelsekunde.
Bei den Wettkämpfen im französischen Stade Olympique de Colombes verfehlte Harbig am 17. August trotz Gegenwind auf der 400-Meter-Distanz mit 46,7 s knapp den bestehenden Weltrekord, es war dennoch europäische Jahresbestzeit. Zuvor hatte Gerschler eine theoretische Zeit von 45,8 s errechnet. Harbig entschädigte sich selbst für den entgangenen Bestwert, indem er am 23. August 1941 in Braunschweig mit der 4-mal-800-Meter-Staffel in einer Gesamtzeit von 7:30,3 min einen Weltrekord erzielte. Danach ging Harbig in eine Trainingspause, da 1941 keine weiteren Rennen gestartet werden sollten. Als die Deutsche Dienstpost im Auftrag von Arthur Seyß-Inquart, Reichskommissar für die besetzten Niederlande am 4./5. Oktober 1941 im Olympiastadion Amsterdam doch einen Wettkampf organisierte, trat Harbig mit einem dreiwöchigen Trainingsrückstand auf der 800-Meter-Strecke an und siegte mit 1:50,2 s. Im Anschluss daran wurde er wieder im Militärdienst verwendet.
Im Zuge der Winterschlacht im Osten und des Rückzugs der Wehrmacht im Kriegswinter 1941/42 wurde auf den Sportlerbonus keine Rücksicht mehr genommen. Jeglicher Sportmöglichkeiten beraubt, musste Harbig mit seiner Einheit an die Ostfront. Erst nach einer Verwundung gestatteten ihm die Vorgesetzten im Mai 1942 die Rückkehr zu seiner Braunschweiger Einheit. Zugleich wurde Harbig nochmals für nationale und internationale Wettkämpfe freigestellt und er nahm in Braunschweig sein Training wieder auf. Im Juni 1942 gewann Harbig in Braunschweig den 100-Meter-Sprint. Bei den deutschen Meisterschaften in Berlin am 25. und 26. Juli lief er nur über die 400-Meter-Distanz und belegte dort Platz eins. Deutscher Meister auf der 800-Meter-Strecke wurde Dieter Giesen. Seinen letzten Auftritt in Berlin hatte Harbig am 13. September im Mommsen-Stadion, wo er noch einmal über die 800 Meter siegen konnte. Gratulant war der Charlottenburger Hauptsportwart und SS-Standartenführer Walter Blume.
Zu Harbigs letzten großen Sportveranstaltungen im Jahr 1942 gehörte der Länderkampf Schweden gegen Deutschland im September in Stockholm und Malmö. Dort musste er sich aufgrund seines Trainingsrückstandes sowohl im 400- als auch im 800-Meter-Lauf jeweils als Zweiter geschlagen geben. Am 8. November 1942, Harbigs 29. Geburtstag, nahm er am XIX. Hallensportfest in Magdeburg teil und siegte auf 1000 Metern. Dies war sein letzter Wettkampf. Unmittelbar nach diesem Ereignis wurde Rudolf Harbig wieder an die Front versetzt.
Im März 1943 hielt er mit anderen Athleten Ehrenwache bei der Beisetzung der Urne des am 25. März 1943 an einer Lungenentzündung verstorbenen Reichssportführers Hans von Tschammer und Osten in der Berliner Langemarckhalle. Es war einer der letzten öffentlichen Auftritte Harbigs. Die Trauerrede und den Nachruf auf den Verstorbenen hielt Joseph Goebbels, der wiederholt die herausragende Stellung der Spitzensportler als Elitesoldaten proklamierte. Dieser Ideologie folgend ist auch Rudolf Harbigs Losung „Ich ziehe für Deutschland in die Schlacht!“ zu verstehen, die dem damaligen Zeitgeist entsprach und bei den NS-Spitzensportfunktionären auf Sympathie stieß. Getreu diesem Motto wurde Harbig anschließend erneut zum Einsatz kommandiert. Er nahm mit seiner Einheit an Kämpfen an der italienischen Front und wieder an der Ostfront teil. Harbig, der als hochdekorierter Soldat galt, wurde während seiner Einsätze mehrfach verwundet, so am linken Schienbein infolge eines Infanteriequerschlägers und wenig später durch einen Pak-Splitter am linken Oberschenkel. Während der Lazarettaufenthalte und Genesungsurlaube überwiegend in Frankreich bemühte sich Harbig, sein Lauftraining beizubehalten. Von regulären Trainingsabläufen konnte jedoch keine Rede sein, seine Spitzenleistungen erreichte er nicht mehr. An den deutschen Meisterschaften am 24. und 25. Juli 1943 in Berlin nahm Harbig nicht mehr teil. Im Winter 1943/44 kam es zur letzten Begegnung Rudolf Harbigs mit seiner Familie, als er eine erneute Verwundung auskurierte. Eine der Schwestern erinnerte sich später an die Aussage ihres Bruders, dass er vielleicht nicht wieder an die Front hätte zurückkehren müssen. Andererseits wusste Harbig aus Briefen seiner Kameraden von der Front, dass er sie nicht im Stich lassen sollte. So befand er sich in einem inneren Zwiespalt. Er nahm schließlich wieder am Kriegsgeschehen teil, weil er nicht als Feigling dastehen und weil er „seine Pflicht erfüllen“ wollte.
Tod
Die ab 3. März 1944 vorgetragenen Aufklärungsvorstöße der sowjetischen Verbände stellten den Auftakt zur Uman-Botoșaner Operation dar. Am 5. März 1944 eröffnete die 1. Ukrainische Front (Marschall Georgi Schukow) an der Südfront ihre Großoffensive gegen die deutschen Armeen der Heeresgruppe Süd unter Generalfeldmarschall Erich von Manstein. Daran waren auf sowjetischer Seite die 4. Gardearmee, 52. Armee, 27. Armee und Teile der 5. Gardearmee sowie der 6. Panzerarmee beteiligt. Am Morgen griffen starke sowjetische Verbände den von der 2. Fallschirmjäger-Division (Generalleutnant Gustav Wilke) gehaltenen Abschnitt in Olchowez in der Nähe von Kirowograd an und nahmen die am südlichen Rand gelegene strategisch wichtige Höhe 208,9 ein. Bei den Gefechten dieses Tages kam Harbig ums Leben. Er diente zuletzt mit dem Dienstgrad Oberfeldwebel im Fallschirmjäger-Regiment 6 (Major Friedrich August von der Heydte) als Zugführer.
Die genauen Angaben über die Umstände seines Todes sind bis heute strittig. Nach Aussagen einiger Augenzeugen aus seiner unmittelbaren Umgebung soll Harbig während einer Kampfpause von einem Geschoss verwundet worden und auf einem Verbandsplatz verstorben sein. Andere Soldaten berichteten, dass Harbig bei einem Rückzugsgefecht in einem Wald gefallen sei und nicht geborgen werden konnte oder durch die Explosion einer Handgranate umgekommen sei. Offiziell gilt er seit dem 5. März 1944 als vermisst. Dennoch berichtete 1954 die Bild, dass Harbig 1945 in einem armenischen Kriegsgefangenenlager verstorben sei. Die Nachricht von seinem Tod überbrachte Harbigs langjähriger Trainingsfreund Heinz Lorenz der Familie. Ein Grab wurde bis heute nicht gefunden, wie der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge 2013 bestätigte.
Gerda Harbig hoffte noch bis 1952, dass ihr Mann doch noch aus dem Krieg zurückkehren würde. Die NS-Tageszeitung Der Freiheitskampf vom 30. März 1944 gab Harbigs Tod in einer schlichten Notiz bekannt. Der Nachruf des Fachjournalisten und Chefredakteurs des Fachblattes Der Leichtathlet, Heinz Cavalier, erschien am 13. April 1944. Postum erhielt Harbig am 1. Januar 1945 das Deutsche Kreuz in Gold. Sein Name ist im Gedenkbuch der deutschen Kriegsgräberstätte in Kiew aufgeführt.
Die NS-Sportführung hatte Harbigs Soldatentod und den anderer Ausnahmeathleten wie Luz Long einkalkuliert. Das Sterben von Spitzensportlern an der Front war dabei die Konsequenz der militärischen Deutung des Sports, die in den Führungskreisen des deutschen Sports eine lange Tradition hatte. Dieser „Gesinnungsmilitarismus“ gipfelte in der Auffassung des Reichssportführers Tschammer, dass die „…männliche Leibeserziehung ohne jene letzte Zielstellung zur Wehrtüchtigkeit (…) ihren Sinn verloren (habe)“ und der Sport auf nationaler Ebene als Teil des totalen Krieges anzusehen sei. Die Wiederaufnahme des internationalen Sportverkehrs im Herbst 1941 war eine Gratwanderung zwischen einer machtvollen Sportpräsenz nach außen und dem ideologischen Gebot der Frontbewährung. Insbesondere fehlten im deutschen Sport Zurückstellungsgesuche und Unabkömmlichkeitsbescheinigungen, wie sie in der Unterhaltungsindustrie und im Kulturbetrieb unter der Schirmherrschaft des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda des Öfteren vorkamen. So waren Sportler-Freistellungen nach der Schlacht um Stalingrad nur noch mit sehr guten persönlichen Beziehungen möglich. Dass Spitzensportler dennoch vom Frontdienst befreit werden konnten, bewiesen Soldatenfußballmannschaften in Heer und Luftwaffe in den Heimatgarnisonen. So legte man Spitzensportlern wie Harbig widersinnige und verlustreiche Doppelbelastungen auf. Bis 1943 waren allein in der Leichtathletik 14 Deutsche Meister gefallen. Bis Kriegsende starben 15 der 60 Leichtathleten, die Deutschland bei den Olympischen Spielen in Berlin vertreten hatten.
Harbig blieb, begünstigt durch den Niedergang des Sports im Zweiten Weltkrieg, der einzige Athlet der Geschichte, der gleichzeitig die Weltrekorde über 400, 800 und 1000 Meter hielt. Der Ausfall der Olympischen Spiele 1940 – während der Zeit seiner absoluten Dominanz – nahm ihm die Chance auf olympisches Gold.
Persönliches
Lebensweise
Rudolf Harbig war 1,74 m groß. Sein Wettkampfgewicht lag zwischen 67 und 68 kg. Er befolgte seine Lebensgrundsätze strikt und ging spätestens um 22 Uhr zu Bett. An eine Diät hielt sich Harbig nicht. Er mochte kräftige gemischte Kost und bevorzugte Gemüse, Salate und Obst, ohne Vegetarier zu sein. Harbig ordnete seine Lebensführung gänzlich dem Sport unter. Zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten ging Harbig in Holzhau wandern oder fuhr Ski, was er später in der Vorbereitung auf Olympia 1940 aufgeben musste. Nach diesen Spielen wollte Harbig ursprünglich seine aktive Laufbahn beenden und sich wieder dem Skisport zuwenden. Rudolf Harbig förderte den Jugendsport und betätigte sich innerhalb der DSC-Fußballmannschaft als Konditionstrainer. Die Fußballmannschaft wurde daraufhin zweifacher Pokalsieger (1940/41) und Deutscher Meister (1943/44). Seine Frau Gerda bezeichnete ihren Mann in ihren Aufzeichnungen als einen bescheidenen, lebensfreudigen Menschen und fröhlichen Gesellschafter mit Sinn für Kultur. Wo immer Rudolf Harbig auftauchte, war er von Autogrammjägern umringt. Er galt stets als „anständiger und fairer Sportler.“
Familie
Seine spätere Ehefrau Gerda (1920–1962), geborene Heidrich, lernte Harbig bei einem Fest des Dresdner Turnvereins im Dezember 1933 kennen. Im Jahr 1937 verlobten sie sich. Die Eheschließung erfolgte am 5. Mai 1941. Gerda Harbig arbeitete ab 1951 im Nationalen Olympischen Komitee der DDR beim NOK-Generalsekretariat. Dort war sie Finanzleiterin und seit 1952 Archivarin. Sie starb am 24. Februar 1962 im Alter von 42 Jahren nach kurzem schwerem Leiden.
Aus der Ehe ging als einziges Kind Ulrike Harbig hervor, die am 13. April 1943 in Dresden geboren wurde. Ein Bekannter der Familie rettete sie im Februar 1945 nach einem der Luftangriffe auf Dresden aus der Wohnung der Harbigs in der Johannstadt im brennenden Haus an der Fürstenstraße 40, der heutigen Fetscherstraße. Ulrike Harbig floh 1966 aus der DDR nach Bayern. Sie ging im Jahr 2000 als Lehrerin vorzeitig in Pension und zog später nach Gröditz. In ihrem Privatbesitz befindet sich eine große Anzahl von Fotos, Dokumenten und Zeitungsauszügen sowie einige Siegestrophäen ihres Vaters, die 1945 den Dresdner Feuersturm überstanden haben. Ulrike Harbig setzt sich dafür ein, das Andenken an Rudolf Harbig in der Öffentlichkeit zu bewahren.
Trainingsweise
Mit Rudolf Harbig begann der Siegeszug des Intervalltrainings, das von Woldemar Gerschler und Herbert Reindell wissenschaftlich begründet wurde. Er lief hierzu im Winter vor allem 200-Meter-Wiederholungsläufe (z. B. 20 × 200 m mit 90 s Geh-/Trabpause), wobei darauf geachtet wurde, dass nach der Belastung der Puls bei ca. 180 Schläge/min und nach der Pause der Puls bei ca. 120/130 Schläge/min war. Zur Saison hin wurde die Anzahl der Wiederholungen geringer und die Geschwindigkeit höher, bis er in der Lage war, die 4–5-mal 200 Meter in 800-Meter-Renngeschwindigkeit zu laufen.
Aus Harbigs Trainingsaufzeichnungen geht hervor, dass er dabei viel bergab gelaufen war, um sein Tempo zu verbessern. Diese Methode übernahm der spätere 800-m-Olympiasieger Tom Courtney.
Rezeption
Verhältnis zum Nationalsozialismus
Harbig beantragte am 1. Dezember 1937 die Aufnahme in die NSDAP und wurde rückwirkend zum 1. Mai desselben Jahres aufgenommen (Mitgliedsnummer 5.878.331). Ob sein Parteibeitritt aus Überzeugung oder Opportunismus erfolgte, ist nicht herauszufinden. Er wurde Mitglied der an die SA angegliederten Dresdner Bergsteigertruppe, der er auf politischen Druck hin beitrat. In dieser paramilitärischen Organisation führte er den Dienstgrad eines SA-Sturmmanns und nahm an den NS-Kampfspielen, die während der Reichsparteitage durchgeführt wurden, 1938 und 1939 für die SA teil. Da die Jüdische Gemeinde Berlin Harbig für einen überzeugten Nationalsozialisten hielt, beschloss sie, ihre Heinz-Galinski-Schule, den ersten jüdischen Schulneubau in Deutschland nach dem Holocaust, nicht an der Harbigstraße in Charlottenburg zu errichten, sondern um die Ecke in der Waldallee. Weitere Analogien zu Harbigs Verhältnis zum NS-System sind dessen urschriftliche Dankesbekundung an Hitler („Dem Führer unseren Dank“) im Zuge des Anschlusses Österreichs und seine Ehrenwache an der Urne des 1943 verstorbenen Reichssportführers Hans von Tschammer und Osten. Seine zahlreichen Auftritte während des Krieges, etwa bei dem Sportfest am 17. August 1941, das die Presse als „Harbig-Spiele“ titulierte, bezeichnet der Sporthistoriker Markwart Herzog als „Sportpropaganda in soldatischem Geist“.
Der Sporthistoriker Volker Kluge hat Rudolf Harbigs Verhältnis zum Nationalsozialismus untersucht. Er führte aus, dass Harbig sich wie viele andere Deutsche regimefreundlich und unterstützend verhalten habe. Kluge sieht in Harbig einen Sportsmann aus einfachen Verhältnissen, der willig dem folgte, was man von ihm erwartete. Ein Widerständler war er nicht. Eine tiefergehende Affinität Harbigs zum NS-System sei nicht zu beweisen. Auch die Behauptung eines Dresdner Sportfunktionärs von 1990, Harbig sei an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen, konnte keine namentliche Beschuldigung oder Verstrickung Harbigs aufzeigen.
Der Autor Ulrich Popplow vertritt in seiner bereits 1988 erschienenen Abhandlung Rudolf Harbig – vom unbekannten Sportsmann zum Weltrekordläufer die These, Harbig sei Antimilitarist und verkappter Widerstandskämpfer gewesen. Bereits in seinem ersten Jahr seiner soldatischen Ausbildung sei Harbig vom blinden Gehorsam bis zur Selbstverleugnung angewidert gewesen. Popplow stilisiert Harbig zum Antitypus der NS-Sportideologie und gibt an, Harbig sei gar kein NSDAP-Mitglied gewesen und habe alle Offerten diesbezüglich abgelehnt, was durch die späteren Recherchen der Sporthistoriker Volker Kluge und Erik Eggers widerlegt wurde. Einen Bezug Harbigs zum NS-System sieht Popplow lediglich in dessen Mitgliedschaft in der Dresdner Bergsteigertruppe, die ein unbedeutendes Anhängsel der SA gewesen sei.
Eggers, der u. a. die Studie Popplows für seine eigene Abhandlung analysiert, verweist auf Woldemar Gerschlers 1939 erschienene Publikation Harbigs Aufstieg zum Weltrekord, in der Gerschler sich selbst und auch Harbig als Antisemiten darstellt. Dieses Buch, das Popplow zu seiner Studie herangezogen hat, wird von Eggers als eine Publikation charakterisiert, die stellenweise rassistische und antisemitische Textpassagen enthält. Eggers betont, dass Popplow, der Harbig in seiner Jugendzeit als Idol betrachtete, die „verstörenden Stellen“ in seiner Harbig-Biografie ausgeklammert hat. Dabei wird bereits aus dem Vorwort des Buches auf die Instrumentalisierung Harbigs in der NS-Kriegspropaganda aufmerksam gemacht. Darin feiert der Leichtathletik-Funktionär Karl Ritter von Halt Harbigs „höchste Willenskraft“ und Gerschler zelebriert, dass Harbig „… wie Hunderttausende aus den Reihen der deutschen Sportjugend in selbstverständlicher Pflicht an der Front …“ stehe. Eggers führt weiter aus, dass bisher alle Autoren, die sich nach 1945 mit der Biografie Harbigs beschäftigt haben, die rassistischen Passagen des Buches von Gerschler verschweigen. Er macht ferner darauf aufmerksam, dass Harbigs spektakuläre Leistungssprünge in die gleiche Zeit wie die Erfindung des Methamphetamins Pervitin und die Zusammenarbeit mit dem Freiburger Arzt Herbert Reindell fallen, der später in der Bundesrepublik mit Dopinguntersuchungen von sich reden machte (siehe Abschnitt: Dopingverdacht). Eggers kommt zu dem Schluss, dass diese Aspekte nicht in das heroische und idealisierte Bild passen, das die Nachwelt von Harbig gezeichnet hat. Zugleich stünden diese Argumente im Widerspruch zur jahrzehntealten beschönigenden Sichtweise, die der Aufnahme Harbigs in die deutsche Hall of Fame zugrunde liege. Eggers bezeichnet als bizarr, dass Harbig – trotz der klaren Quellenlage – im deutschen Sport als Paradebeispiel des unpolitischen Athleten gilt.
Dopingverdacht
Rudolfs Harbigs unglaubliche Leistungssteigerung zwischen den beiden Weltrekordläufen über 800 Meter im Jahr 1939 – die Verbesserung betrug fast drei Sekunden – gab Raum für Spekulationen, dass er von seinem Trainer Gerschler leistungssteigernde Substanzen erhalten hätte. Just in diesem Rekordjahr begann auch die Zusammenarbeit Gerschlers mit Herbert Reindell, der schon bald zu Harbigs ärztlichen Betreuern gehörte und bereits 1939 an ihm Pulsschlagmessungen vorgenommen hatte. Genährt werden die Spekulationen dadurch, dass Joseph Barthel – ein Schützling Reindells und Gerschlers – bei den Olympischen Spielen 1952 über 1500 Meter in einer „unvermittelten Leistungsexplosion“ überraschend Gold gewann. Im November 1953 ließ sich dann der Mittelstreckenläufer Gordon Pirie von Reindell und Gerschler auf Sieg „programmieren“. In diesem Zeitraum arbeiteten sowohl Gerschler als auch Reindell an der Universität Freiburg. Im Rahmen der sportmedizinischen Forschung Reindells promovierte 1954 der Leichtathlet Oskar Wegener (* 1929) bei Reindell über das Thema „Die Wirkung von Dopingmitteln auf den Kreislauf“. So könnte auch die Leistungssteigerung Harbigs im Jahr 1939 auf die Einnahme von Pervitin oder anderer Substanzen zurückzuführen sein.
Ob Gerschler und/oder Reindell an Harbig – in welcher Form auch immer – experimentiert hatten, lässt sich nicht mehr klären. Harbigs plötzliche „Leistungsexplosion“ bleibt bis heute ungeklärt.
Würdigungen
Karl Ritter von Halt, Ehrenpräsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands, stiftete 1950 den seither alljährlich an einen verdienstvollen Leichtathleten verliehenen Rudolf-Harbig-Gedächtnispreis. Die Deutsche Bundespost würdigte Harbig mit einer Briefmarke, die am 6. Juni 1968 mit einer Auflage von 6.758.000 Stück erschien.
Das Harbig-Erbe sollte nach Willen des damaligen Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees der DDR, Kurt Edel, nicht nur der Bundesrepublik Deutschland vorbehalten sein. Dresden, die Heimatstadt Rudolf Harbigs, bemühte sich, ihrem Athleten ebenfalls ein bleibendes Andenken zu bewahren. Die eingereichten Vorschläge beinhalteten einen alljährlichen Gedenklauf und die Benennung einer Sportstätte nach ihm. Für Letzteres bot sich die bei den Dresdner Luftangriffen schwer beschädigte Ilgen-Kampfbahn an, in der Harbig zahlreiche Siege errungen hatte und 1941 den Weltrekord über 1000 Meter gelaufen war. Am 23. September 1951 erhielt die Sportstätte anlässlich ihrer Wiedereröffnung den Namen Rudolf-Harbig-Stadion. Zuvor war es im Zusammenhang mit der Harbig-Taufe im Landessportausschuss zu Streitigkeiten gekommen, weil einige Funktionäre die Ansicht vertraten, dass Harbig ein Kriegsverbrecher und Naziaktivist gewesen sei. Im Rudolf-Harbig-Stadion fanden von 1951 bis 1966 im Jahresrhythmus die Harbig-Sportfeste statt. Zur Premiere kamen 20.000 Zuschauer. Bei den Sportfesten gab es bis 1966 den Rudolf-Harbig-Gedenklauf über 800 Meter. Hierzu stiftete die Sektion Leichtathletik einen Wanderpreis aus Kristall. Rudolf Harbig erlangte durch diese Ehrungen Kultstatus und wird als Legende betrachtet.
Im Jahr 1966 vollzog die DDR-Führung jedoch einen Bruch mit dem Vorzeigeathleten. Hintergrund war die Flucht von Harbigs Tochter Ulrike nach Westdeutschland. In der ersten Auflage der Kleinen Enzyklopädie Körperkultur und Sport befand sich 1960 noch Harbigs Eintrag; in der 5. Auflage des Werkes von 1979 wurde dieser getilgt. Eine bereits 1954 in Dresden gepflanzte Linde zu Ehren Harbigs (Harbig-Baum) nebst einer Gedenktafel befand sich gegenüber an der heutigen Gedenkstätte für den Fußballtrainer Walter Fritzsch in Stadionnähe. Der Baum sowie die Gedenktafel verschwanden jedoch über Nacht. Die Gedenktafel ist bis heute verschollen. Ab 1972 wurde das Rudolf-Harbig-Stadion nur noch als Dynamo-Stadion bezeichnet, ohne dass es eine offizielle Umbenennung gegeben hatte. Die Sächsische Zeitung schrieb in ihrer Ausgabe vom 5. März 1970 noch „Rudolf-Harbig-Stadion“ und am Tag darauf „Dynamo-Stadion“. Wer die entsprechende Anweisung gegeben hatte, wurde nie ermittelt. Erst mit dem gesellschaftlichen Umbruch in der DDR folgte 1990 die Rückbesinnung auf Rudolf Harbig, dessen Name das Stadion die nächsten 20 Jahre trug. Nach dem Verkauf der Namensrechte im Jahre 2010 verschwand Harbig ein weiteres Mal aus dem Stadionnamen, wurde aber im Sommer 2018 nach einem erneuten Wechsel der Namensrechte auf Wunsch der Fans wieder zurückgeholt. Von 29.512 Teilnehmern einer Online-Abstimmung gaben 54 Prozent Rudolf-Harbig-Stadion als neuer Bezeichnung den Vorzug gegenüber dem anderen historischen Namen Dynamo-Stadion, so dass die Spielstätte seit dem 18. September 2018 wieder den Namen Harbigs trägt.
Weitere nach Harbig benannte Stadien befinden sich in Neustrelitz, Grünstadt, Bruchköbel, Bad Schlema, Borna und Fürstenwalde/Spree. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands fand die Junge Welt heraus, dass der Bruch mit Harbig in der DDR auch mit dem Besuch eines sowjetischen Gastes zusammenhing, der den Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht fragte, wer denn dieser Rudolf Harbig überhaupt gewesen sei. Da die DDR-Sportführung sich bemüht sah, möglichst mustergültig zu reagieren, wurde entschieden, Harbig aus der Wahrnehmung der Öffentlichkeit zu nehmen. Dies bestätigte auch 1990 der damalige Manager von Dynamo Dresden Bernd Kießling, der im Zusammenhang mit der Stadionbenennung von „dunklen Stellen“ in Harbigs Biografie sprach.
In der Tageszeitung Dresdner Neueste Nachrichten wurde Harbig im Jahre 2000 zu einem der „100 Dresdner des 20. Jahrhunderts“ gewählt.
Im Jahr 2001 waren bundesweit 41 Straßen nach Harbig benannt, 35 davon in den alten Bundesländern, darunter auch ein Weg im Münchner Olympiapark. Rudolf-Harbig-Hallen in Berlin-Westend, Buseck, Garbsen-Berenbostel, Hockenheim, Bad Schwartau sowie Viernheim erinnern ebenfalls an ihn. Auch eine Lokomotive vom Typ MaK G 1206 ist nach Harbig benannt. Eine weitere Ehrung Harbigs erfolgte am 23. Juni 1993, als die 11. Grundschule Berlin-Lichtenberg seinen Namen erhielt. In der Namensverleihung hieß es, dass er sich durch Fairness, Hilfsbereitschaft, Trainingsfleiß und Leistungsbereitschaft ausgezeichnet hätte.
Für seine Verdienste um den Sport in Niedersachsen wurde Rudolf Harbig in die Ehrengalerie des niedersächsischen Sports des Niedersächsischen Instituts für Sportgeschichte aufgenommen. Im Jahr 2008 folgte seine Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports. Das einzige gemalte Farbporträt Harbigs befindet sich heute im Stadtmuseum von Triptis. Der Schriftsteller Günter Grass verwendete in seinem autobiografischen Werk Beim Häuten der Zwiebel für Harbig die Bezeichnung „Wunderläufer“.
Anlässlich von Rudolf Harbigs 100. Geburtstag benannte die Landeshauptstadt Dresden im Jahr 2013 den Rudolf-Harbig-Weg im Ostragehege nach ihm. Zudem gab das Postunternehmen PostModern auf Initiative des Olympia- und Sportphilatelisten-Club Berlin (OSPC) eine Wunschbriefmarke mit dem Abbild Harbigs heraus.
Darstellung Harbigs in der bildenden Kunst der DDR
Karl Hillert: Rudolf Harbig (Porträt-Relief, 1968, Bronze)
Erfolge und Statistiken
Startverzeichnis
Das Startverzeichnis Rudolf Harbigs umfasst alle 233 Wettkämpfe, die er während seiner sportlichen Karriere von 1934 bis 1942 bestritt. Ausgenommen hiervon sind Waldläufe und Hallenwettkämpfe.
Startverzeichnis 1934–1942
Disziplin: Lauf- bzw. Sprungdisziplin; die Läufe sind nach der Gesamtdistanz sortierbar.
Datum: Datum des Wettbewerbs.
Ort: Austragungsort des Wettbewerbs.
Resultat: Erreichte Zeiten bei den Lauf- und Weiten bzw. Höhen bei des Sprungdisziplinen.
Position: Erreichte Platzierung; numerisch nach Platz sortierbar.
Anmerkungen: Erzielte Titel und sonstige Bemerkungen.
Meistertitel
Rudolf Harbig war zweifacher Europa- und siebenfacher Deutscher Meister. Leichtathletik-Weltmeisterschaften wurden seinerzeit noch nicht ausgetragen. Zu Harbigs größten Erfolgen gehört die Bronzemedaille bei den Olympischen Spielen in Berlin, die er am 9. August 1936 mit der deutschen 4-mal-400-Meter-Staffel errang (3:11,8 min, deutscher Rekord).
Weltrekorde
Rudolf Harbig lief sechs Weltrekorde. Sein zweiter Weltrekord über 800 Meter hielt 16 Jahre lang und wurde erst 1955 von Roger Moens verbessert.
Deutsche Rekorde
Von 1936 bis 1941 lief Harbig 18-mal deutschen Rekord.
Persönliche Jahresbestleistungen
Von 1934 bis 1942 erzielte Harbig die folgenden 34 persönlichen Jahresbestleistungen.
Länderkämpfe
Harbig nahm vom 8. August 1937 bis zum 29. Juni 1941 an 17 Länderkämpfen teil. Dabei ging er bei 40 Läufen an den Start.
Wettkämpfe
Rudolf Harbig ging zwischen 1934 und 1942 an 175 Tagen 233-mal an den Start. In dieser Zahl sind Waldläufe und Hallenstarts nicht berücksichtigt. 201-mal wurde er Sieger, 19-mal Zweiter, sechsmal Dritter, einmal Vierter und je dreimal Sechster und Siebenter. Harbig nahm an 19 verschiedenen Wettkampfdisziplinen teil; 50-mal trat er auf der 400-Meter-Distanz an, 83-mal im 800-Meter-Lauf.
Wettkampforte und -länder
Rudolf Harbig ging zwischen 1934 und 1942 in 45 Städten an den Start. Darunter befinden sich 15 ausländische. In 30 deutschen Städten, darunter auch die heute im Ausland liegenden Städte Breslau, Königsberg (Pr) und Wien, lief Harbig an 142 Tagen 186-mal. In seinen Auslandsläufen ging Harbig in elf verschiedenen Ländern an 33 Tagen 47-mal an den Start.
Anhang
Literatur
Erik Eggers: Mythos in Ost und West: Der „Jahrhundertläufer“ Rudolf Harbig. In: Diethelm Blecking, Lorenz Pfeiffer (Hrsg.): Sportler im „Jahrhundert der Lager“. Profiteure, Widerständler und Opfer. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2012, ISBN 978-3-89533-872-4, S. 97–103.
Gerda Harbig: Unvergessener Rudolf Harbig. Ein Lebensbild des Weltrekordläufers. Verlag der Nation, Berlin 1955.
Erhard Huhle/Ludwig Koppenwallner: Laufwunder Rudolf Harbig. Der Weg eines Meisters. Olympia-Verlag, Nürnberg 1949.
Karl-Heinz Keldungs: Rudolf Harbig. In: ders.: Die deutsche Leichtathletik in 100 Porträts von Hanns Braun bis Malaika Mihambo. Arete Verlag Christian Becker, Hildesheim 2022, ISBN 978-3-96423-081-2, S. 56–60.
Erhard Mallek: Rudolf Harbig. Der Wunderläufer aus Dresden (= Edition Sächsische Zeitung). Verlagsgesellschaft Meißen, Meißen 2005.
Hans Joachim Teichler: Internationale Sportpolitik im Dritten Reich (= Wissenschaftliche Schriftenreihe des Deutschen Sportbundes. Band 23). Hofmann, Schorndorf 1991, ISBN 3-7780-7691-4 (Zugleich: Bochum, Universität, Dissertation, 1990).
Weblinks
Gustav Schwenk: Rudolf Harbig war seiner Zeit weit voraus. leichtathletik.de, 5. März 2004.
Gustav Schwenk: Rudolf Harbig – 100. Geburtstag einer Legende. leichtathletik.de, 8. November 2013.
Gustav Schwenk: Rudolf Harbig – Tragisches Ende des Laufhelden. leichtathletik.de, 9. November 2013.
Gerd Steins: Rudolf Waldemar Harbig wurde am 8. November vor 100 Jahren geboren. germanroadraces.de, 19. September 2018.
Einzelnachweise
100-Meter-Läufer (Deutschland)
200-Meter-Läufer (Deutschland)
400-Meter-Läufer (Deutschland)
800-Meter-Läufer (Deutschland)
1500-Meter-Läufer (Deutschland)
4-mal-400-Meter-Staffel-Läufer (Deutschland)
Europameister (800-Meter-Lauf)
Europameister (4-mal-400-Meter-Staffel, Leichtathletik)
Deutscher Meister (Leichtathletik)
Militärperson (Reichswehr)
Fallschirmjäger (Wehrmacht)
Mitglied der Hall of Fame des deutschen Sports
Träger des Deutschen Kreuzes in Gold
Olympiateilnehmer (Deutschland)
Teilnehmer der Olympischen Sommerspiele 1936
NSDAP-Mitglied
SA-Mitglied
Person im Zweiten Weltkrieg (Deutsches Reich)
Sportfreunde 01 Dresden-Nord
Leichtathlet (Dresdner SC)
Leichtathlet (Eintracht Braunschweig)
Deutscher
Geboren 1913
Gestorben 1944
Mann |
276035 | https://de.wikipedia.org/wiki/Louis%20Agassiz | Louis Agassiz | Jean Louis Rodolphe Agassiz (* 28. Mai 1807 in Môtier, Kanton Freiburg, Schweiz; † 14. Dezember 1873 in Cambridge, Massachusetts, Vereinigte Staaten) war ein schweizerisch-amerikanischer Naturforscher.
Agassiz war Schweizer, und einer der ersten international renommierten US-amerikanischen Wissenschaftler. Nachhaltig sind vor allem seine Leistungen als Zoologe, insbesondere in der Ichthyologie, seine Untersuchung der Gletscher der Alpen und als Hochschullehrer. In neuerer Zeit werden Agassiz’ Ansichten über Rassen beim Menschen kritisch gesehen.
Biographie
Louis Agassiz wurde als Sohn eines protestantischen Pfarrers in Vully-le-Haut (heute: Haut-Vully) im Ortsteil Môtier, in der Schweiz geboren. Sein jüngerer Bruder Auguste Agassiz war als Uhrmacher tätig und begründete das Vorgängerunternehmen von Longines.
Zuerst zu Hause erzogen, verbrachte Agassiz vier Jahre an höheren Schulen in Biel/Bienne und Lausanne. Mit der Zielrichtung, Mediziner zu werden, studierte er ab 1824 an der Universität Zürich, der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und der Ludwig-Maximilians-Universität München. In Heidelberg und München war er Mitglied des Corps Helvetia. In Heidelberg entwickelte sich auch ein Freundschaftsverhältnis mit dem Botaniker Karl Friedrich Schimper, das auch nach dem Wechsel nach München im Jahr 1828 weiter bestand, aber später auf verhängnisvolle Weise zerbrach. Durch Schimper wurde er angeregt, sich auch mit den Naturwissenschaften zu beschäftigen, bereits 1828 publizierte er die ersten Arbeiten über Fische. 1829 wurde er zum Doktor der Philosophie in Erlangen und 1830 zum Doktor der Medizin in München promoviert. Bei einem mehrmonatigen Aufenthalt in Paris wurden Alexander von Humboldt und Georges Cuvier seine Mentoren.
Auf Empfehlung von Alexander von Humboldt hatte der Fürst von Neuenburg, der König von Preussen (Friedrich Wilhelm III.), 1832 am Lyceum (ab 1838: Académie de Neuchâtel) eine Professorenstelle für Agassiz eingerichtet, die dieser bis zu seiner Auswanderung in die USA im Jahr 1846 innehatte. In dieser Zeit publizierte er mit grossem, für ihn charakteristischen Enthusiasmus und mit Hilfe der Mitarbeiter Édouard Desor, Amanz Gressly, Arnold Henri Guyot und Carl Vogt eine Vielzahl von Publikationen, insbesondere über rezente und fossile Fische und Stachelhäuter. Auf grösstmögliche Anerkennung bedacht publizierte er diese überall und meist unter seinem Namen, was seinen Mitarbeitern, z. B. Carl Vogt (1896: S. 196 ff.) nicht immer gefiel.
Nachdem er im Jahr 1837 eine eigene Hypothese über die Eiszeit aufgestellt hatte, konzentrierte er seine Tätigkeit zusammen mit seinen Mitarbeitern in den Jahren 1838 bis 1844 auf die Untersuchung der Gletscher. Dies machte er publikumswirksam weltweit bekannt und deshalb gilt er heute noch insbesondere im englischsprachigen Raum, in dem anderssprachige Literatur kaum beachtet wird, als Entdecker der Eiszeit, siehe dazu den Abschnitt weiter unten.
Nebenbei publizierte er unermüdlich Arbeiten z. B. über Mollusken und den umfangreichen Nomenclator zoologicus.
Mit Unterstützung durch den König von Preußen (Friedrich Wilhelm IV.) reiste er im Herbst 1846 in die USA, um dort die Naturgeschichte und die Geologie der Vereinigten Staaten zu studieren und auf Einladung von John Amory Lowell Vorlesungen über Zoologie in Boston, Massachusetts, zu halten. Die angebotenen finanziellen Möglichkeiten bewogen ihn, sich in den USA niederzulassen und von 1847 an als Professor für Zoologie und Geologie an der Harvard University zu lehren. Nach dem Tod seiner ersten Frau Cecile im Jahr 1848 heiratete Agassiz 1850 die Schriftstellerin Elisabeth Cabot Cary aus Boston, die sich besonders als Verfechterin der Frauenbildung einen Namen machte. 1852 folgte eine Professur für vergleichende Anatomie in Charlestown (Massachusetts), die er jedoch zwei Jahre später wieder aufgab.
Nach der Übersiedlung in die USA nahm die Zeit, die Agassiz für wissenschaftliche Studien aufwandte, zwar ab, aber er setzte seine zahllosen Veröffentlichungen fort, darunter die beiden vierbändigen Werke Natural History of the United States und Bibliographia Zoologiae et Geologiae. Aufgrund seiner Lehrtätigkeit übte er einen grossen Einfluss auf die Entwicklung der Geologie und Zoologie in den USA aus: Agassiz entwickelte eine neue Lehrmethode, indem er die Verbindung der Studenten zur Natur herstellte, damit diese die benötigten Kenntnisse aus eigener Anschauung gewinnen konnten, anstatt nur Buchwissen zu lernen. Als Wissenschaftler wurde er von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und zählte zu den bekanntesten und angesehensten Lehrern seiner Zeit. Der Dichter Henry Wadsworth Longfellow schrieb anlässlich seines 50. Geburtstages ihm zu Ehren ein Gedicht mit dem Titel «The fiftieth birthday of Agassiz».
Zu Agassiz’ Studenten zählten unter anderem David Starr Jordan, Joel Asaph Allen, Joseph LeConte, Nathaniel Shaler, Alpheus Spring Packard sowie sein eigener Sohn Alexander Agassiz, die sich später alle als Wissenschaftler und Lehrer einen Namen machten.
Auf Agassiz’ Geschick in der Beschaffung von Spenden und Fördermitteln geht auch die Errichtung des Naturkundemuseums in Cambridge zurück, das 1859 eröffnet wurde. Er war einer der Ersten, die sich mit den Auswirkungen der letzten Eiszeit in Nordamerika beschäftigten. 1865 bis 1866 unternahm er eine Forschungsexpedition nach Brasilien, von der er zahlreiche Exponate für das von ihm gegründete Museum mitbrachte. 1871 bis 1872 begann er ausserdem, sich mit Tiefwasser-Untersuchungen zu beschäftigen.
In den letzten Jahren seines Lebens setzte er sich zum Ziel, eine Institution einzurichten, an der zoologische Studien an lebenden Objekten durchgeführt werden können. Der Philanthrop John Anderson überliess 1873 Agassiz eine vor der Küste von Massachusetts Küste gelegene Insel sowie 50.000 $, um dort eine Station für die Erforschung des Meereslebens zu errichten. Diese Station überdauerte den Tod von Agassiz nicht sehr lange, sie wird jedoch als Vorläufer der Woods Hole Oceanographic Institution betrachtet, die heute in der Nähe der alten Forschungsstation existiert.
Louis Agassiz ist 1873 in Cambridge gestorben. Sein Grabmal ist ein Felsbrocken aus der Moräne des Aargletschers, auf dem einstmals seine Forschungshütte stand.
Agassiz der Ichthyologe
Die Bearbeitung der bei einer Forschungsreise nach Brasilien in den Jahren 1819 bis 1820 von Johann Baptist von Spix und Carl Friedrich Philipp von Martius auch gesammelten Süsswasserfische der brasilianischen Flüsse, vor allem des Amazonas, waren durch den frühen Tod von Spix nicht begonnen worden. Die Beauftragung durch Martius verhalf Agassiz zum Einstieg in die Ichthyologie. Nach dem Abschluss der Arbeit und der Publikation im Jahre 1829 beschäftigte sich Agassiz wissenschaftlich mit den Fischen des Genfersees. Diese Arbeit dehnte er schon 1830 auf alle Süsswasserfische von Mitteleuropa aus.
In Neuchâtel begann er sich mit den fossilen Fischen zu beschäftigen, die z. B. in den Schieferschichten des Schweizer Kantons Glarus und im Kalkstein des Monte Bolca reichlich zu finden waren. Diese Arbeit legte später die Basis für seinen weltweiten Ruhm. Die fünf Bände sowie Atlanten seiner Recherches sur les poissons fossiles erschienen in Abständen im Zeitraum von 1833 bis 1843. Sie wurden vor allem durch Joseph Dinkel illustriert. Im Rahmen seiner Recherchen besuchte Agassiz die wesentlichen Museen in Europa und wurde von Georges Cuvier und Alexander von Humboldt zur Fortsetzung seiner Arbeit ermutigt. Als offensichtlich wurde, dass die Fortsetzung der Arbeiten durch finanzielle Engpässe eingeschränkt wurde, erhielt er Unterstützung durch die British Association sowie durch Lord Francis Egerton, der ihm 1290 Zeichnungen abkaufte, um sie der Geological Society of London zu übergeben.
Da bei den Fossilien häufig nur Zähne, Schuppen und Knochenteile der Fische erhalten sind, entwarf er ein Klassifikationssystem, das nur vier Gruppen enthält. Seine Klassifikation ist zwar heute überholt, bildet jedoch eine Basis der heutigen Systematik.
Agassiz und die Entdeckung der Eiszeit
Frühgeschichte der Entdeckung der Eiszeit
Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beschäftigte Naturforscher die Frage, wie die in der Norddeutschen Tiefebene und im Alpenvorland häufig zu findenden ortsfremden (erratischen) und z. T. riesigen Findlinge an ihren Ort gelangt sind. Die dazu aufgestellten vielfältigen Theorien (→ Quartärforschung) reichten von vulkanischen Ereignissen, bei denen die Findlinge als vulkanische Bomben über riesige Entfernungen geschleudert sein müssten, über gewaltige Fluten oder nebulöse Stösse, bis zum Transport durch Eisberge auf einem grossen diluvialen Meer. Noch 1832 liess Goethe seinen Mephisto in Faust II. spotten:
Noch starrt das Land von fremden Zentnermassen
Wer gibt Erklärung solcher Schleudermacht?
Der Philosoph, er weiß es nicht zu fassen,
Da liegt der Fels, man muß ihn liegen lassen,
Zuschanden haben wir uns schon gedacht.
Aber im gleichen Jahr war das Problem auch durch die richtige Schlussfolgerung von Albrecht Reinhard Bernhardi gelöst, dass nur ein vom Norden bis nach Mitteldeutschland reichender riesiger Gletscher dafür infrage kommt. Diese fundamentale Erkenntnis blieb aber, obwohl in einer renommierten Fachzeitschrift publiziert, völlig unbeachtet.
Der Einstieg von Agassiz in die Quartärforschung
Als Karl Friedrich Schimper vom Dezember 1836 bis Mai 1837 bei seinem Freund Louis Agassiz aus Münchener Tagen in Neuenburg weilte, beschäftigte sich der vielseitig interessierte Naturforscher auch mit den seit langem diskutierten Fragen zur Vergletscherung der Alpen und den auf dem Jura-Gebirge liegenden erratischen Blöcken. Bei seinen ausgedehnten Wanderungen entdeckte er wohl durch Zufall bei Le Landeron am Bielersee und auch bei Olten Gletscherschliffe. Diese waren bisher der Beobachtung entgangen, da sie nur in mit Lockersedimenten (damals «Dammerde» genannt) bedeckten Bereichen vor der Verwitterung geschützt erhalten geblieben waren.
Schimper erkannte sie als untrügliche Zeichen, dass das gesamte Schweizer Mittelland bis auf die Höhen des Jura-Gebirges ehemals durch Eis erfüllt war. In der ihm eigenen poetischen Art, ein Schwerpunkt seines Schaffens waren Gedichte, verfasste er über diese Erkenntnis die Ode «Eiszeit» und verteilte diese am 15. Februar 1837. Zur Bekanntgabe auf der 22. Jahresversammlung der Allgemeinen Schweizerischen Gesellschaft für die Gesammten Naturwissenschaften im Juli 1837 in Neuenburg, an der er nicht teilnehmen konnte, schickte er arglos einen umfangreichen Brief über die Entdeckung an Louis Agassiz. Dieser erkannte die Tragweite der Entdeckung und nahm sich der Sache an. Als Präsident der Gesellschaft trug er nur einen später auch publizierten Ausschnitt vor. Im Eröffnungsvortrag stellte Agassiz eine eigene, offensichtlich in grosser Eile entworfene Hypothese vor und erwähnte Schimper nur beiläufig. Da seine Hypothese aber zu sehr von der schon etwas aus der Mode gekommenen Kataklysmentheorie geprägt war, fand sie zunächst trotz seiner grossen Reputation wenig Anklang. Sein alter Gönner Alexander von Humboldt empfahl ihm in einem Brief noch im selben Jahr, seine Arbeiten an fossilen Fischen wieder aufzunehmen:
Nach seiner Hypothese, die er 1840 in seinen Études sur Les Glaciers (1841: Untersuchungen über die Gletscher) näher erläutert hat, soll fast die gesamte nördliche Halbkugel, in Europa von der Polarregion über das Mittelmeer bis zum Atlasgebirge, durch eine ungeheure «Eiskruste» bedeckt gewesen sein. Die aufsteigenden Alpen sollen das Eis durchstossen haben und die auf das Eis fallenden Felsblöcke wären gleitend auf das Jura-Gebirge gelangt. Im Sinne des von ihm vertretenen Katastrophismus soll die «Vereisung» das primäre Ereignis gewesen sein und erst fortfolgend sollen sich die Gletscher auf die heutige Ausdehnung zurückgezogen haben. Agassiz hat seine Hypothese mit so viel Nachdruck und propagandistischem Geschick verbreitet, dass er lange Zeit als Begründer der Eiszeittheorie gefeiert wurde. Obwohl sich seine Hypothese durch die jüngeren Forschungen in allen Annahmen als falsch erwiesen hat, wird er z. B. in den USA auch heute noch als Begründer der Eiszeittheorie bezeichnet.
Agassiz und die Gletscherforschung
Um seine Hypothese zu begründen begann er 1837 mit einer Untersuchung der Gletscher, in einer ersten Etappe zunächst ohne grossen technischen Aufwand. Er bereiste, vorwiegend mit seinem Mitarbeiter Desor das Gebiet und verschaffte sich einen umfassenden Überblick. In den Untersuchungen über die Gletscher von 1841 erfolgte ausgehend vom Kenntnisstand aus der Fachliteratur eine ausführliche Beschreibung der Gletscher und ihrer Wirkung. Einen Schwerpunkt bildet die eingehende Beschreibung der bisher unbeachteten Gletscherschliffmale und ihrer weiten Verbreitung, die bei Le Landeron hat er aber nicht erwähnt. Nach der Angabe im «Historischen Überblick» und noch einmal ausführlicher ab Seite 269 hat er im Dezember 1836 als erster diese Schliffmale im Schweizer Mittelland entdeckt. Er müsste das aber vor Schimper geheim gehalten haben, denn dieser beschreibt im Rudiment von Ueber die Eiszeit die zur Besichtigung vorgeschlagenen Gletscherschliffe bei Le Landeron, die offensichtlich auf der Exkursion während der Tagung auch gezeigt wurden. Den dadurch ausgelösten heftigen Streit um die Priorität hat Schimper damals nicht gewonnen.
Im Jahr 1840 reiste Agassiz nach England und warb auch vor der British Association for the Advancement of Science für seine Eiszeittheorie. Er überzeugte nicht nur den führenden englischen Paläontologen William Buckland von der grossen Rolle, die die Gletscher für die Landschaftsformung von Schottland, Irland und Wales hatten. Letztendlich hat sich aber auch im englischsprachigen Raum der führende englische Geologe Charles Lyell mit seiner Drifttheorie (→Quartärforschung) durchgesetzt und damit für 30 Jahre die Forschung behindert.
Mit Unterstützung durch den König von Preussen (Friedrich Wilhelm IV.) konnte er 1842 die Untersuchung der Gletscher fortsetzen und wesentlich erweitern.
Er lud interessierte Fachkollegen zur Teilnahme ein, heute würde man das als eine Art Workshop bezeichnen, und liess eigens dafür eine Hütte auf dem Unteraargletscher als Forschungsstation errichten. Zur Erforschung der Struktur und Bewegung des Gletschers trieb mit seinen Mitarbeitern u. a. eine Reihe von Pfählen quer zur Fliessrichtung ins Eis und markierte ihre Positionen an den seitlichen Felswänden. Anhand des Versuchsfeldes konnte gezeigt werden, dass die Reibung des Eises am Fels dessen Bewegung verlangsamt und dass in Fliessrichtung eines Gletschers unterschiedliche Geschwindigkeiten auftreten. Zum Ergebnis dieser Untersuchungsetappe liegen aber nur einige relativ kurze Publikationen vor.
Agassiz und die Evolutionstheorie
Trotz seiner intensiven Studien der Anatomie und Systematik an rezenten und fossilen Fischen, durch die er mit den abgestuften morphologischen Ähnlichkeiten und möglichen Entwicklungslinien vertraut war, blieb Agassiz bis zu seinem Tod ein Anhänger des von Georges Cuvier begründeten Katastrophismus und als solcher ein entschiedener Gegner der Evolutionstheorie, die von Charles Darwin entwickelt wurde. Er argumentierte, dass die gewöhnlichen Umstände, die von Darwin für seine Theorie herangezogen wurden, wie Variabilität und erbliche Veränderung der Arten, Klimawechsel, geologische Umbrüche und selbst Eiszeiten, immer nur zum Aussterben von Arten führen könnten, aber niemals zur Entstehung neuer Arten. Die Entwicklung von einfacheren zu komplexeren Organismen, wie sie in der Abfolge der Fossilien zu Tage trat, führte er in neuplatonischer Art als «Gedankenassoziationen im göttlichen Geist» zurück. Er war damit einer der letzten Paläontologen, der die Artenvielfalt metaphysisch begründete, indem er sie auf einen schöpferischen Gott zurückführte. Als solcher unterstellte er eine Konstanz der Arten und versuchte, die Fakten der Zoogeographie durch Zentren der Schöpfung zu ersetzen (siehe dazu Geschichte der Geologie). Dazu passt auch die von ihm stammende Wortwendung, dass Gletscher «die grosse Pflugschar Gottes» seien.
Seine enthusiastische, emotional gefärbte Sicht auf die Natur geht auf den Einfluss der romantischen Naturphilosophie, besonders Friedrich Schellings, zurück – schliesslich waren Heidelberg und München, wo Agassiz einst studierte, Zentren der deutschen Hochromantik gewesen.
Agassiz und die Rassentheorie
In seiner Schweizer Zeit war Agassiz noch Anhänger der Monogenese-Theorie, die heute allgemein anerkannt ist. Sie besagt, dass alle Menschen aus einem gemeinsamen Ursprung hervorgegangen sind. Während seiner Jahre in den USA wurde er aber zum Anhänger des damals konkurrierenden Polygenismus, dem zufolge sich die Menschen in verschiedenen Teilen der Welt unabhängig voneinander aus unterschiedlichen Ursprüngen entwickelt hätten. Zu dieser Meinungsänderung trugen seine Begegnungen mit schwarzen Sklaven bei, die damals in den USA nur geringe Entfaltungsmöglichkeiten erhielten. Agassiz hatte einen äusserst ungünstigen Eindruck von ihnen, wie er in einem Brief an seine Mutter beschrieb.
Agassiz äusserte sich zwar in Fachpublikationen nicht zu diesem Thema, aber von ihm stammt sicher der 1850 in der christlichen Zeitschrift Christian Examiner mit der Autor-Angabe L.A. erschienene Artikel The diversity of origin of the human races, der von Charles Darwin 1871 in seinem Buch Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl zitiert wurde. Auch in manchen Briefen äusserte sich Agassiz nach Zitaten in Stephen Jay Gould (1988) dazu. Auf Einladung des Kaisers Pedro II reiste Agassiz an dessen Hof. Agassiz sieht die einzige Lösung für die rassischen Probleme Brasiliens in der Immigration von Weissen, die den Portugiesen rassisch überlegen seien und die «sich nicht herablassen würden auf das soziale Niveau des Indios, wie es die Portugiesen gemacht haben.»
Aufgrund dieser Haltung Agassiz’ wollte 2007 der Schweizer Parlamentarier Carlo Sommaruga das nach dem Forscher benannte Agassizhorn umbenennen lassen. Der Schweizer Bundesrat verurteilte zwar rassistische Ansichten Agassiz’, sah darin jedoch keinen Grund für eine Umbenennung des Berggipfels. Das «Transatlantische Komitee Démonter Louis Agassiz» um den St. Galler Historiker und Politiker Hans Fässler führt jedoch die Kampagne zur Neubeurteilung von Louis Agassiz weiter. Am 7. September 2018 kündigte der Stadtrat von Neuchâtel an, er habe in Absprache mit der Universität beschlossen, den «Espace Louis Agassiz» auf dem Gelände der Humanwissenschaften wegen des Rassismus des Namensgebers in «Espace Tilo Frey» umzubenennen. Tilo Frey war die erste schwarze Nationalrätin der Schweiz und wurde 1971 für die FDP Neuenburg ins eidgenössische Parlament gewählt. Ihr Vater war Schweizer, ihre Mutter stammte aus Kamerun. Die Avenue Agassiz in Lausanne soll gemäss den Lausanner Behörden nicht umbenannt werden, jedoch soll eine didaktische Tafel in der Strasse errichtet werden. Über Umbenennungen der Rue Agassiz in St-Imier und der Rue Louis-Agassiz in La Chaux-de-Fonds ist nichts bekannt.
Mitgliedschaften
Ehrungen
Publikationen (Auswahl)
Sekundärliteratur
Weblinks
Publikationen BBAW (PDF; 39 kB)
Sammlung von Texten von Louis Agassiz in der Gallica
Bilder und Texte aus Excursions et séjours dans les glaciers et les hautes régions des Alpes und aus Nouvelles études et expériences sur les glaciers actuels von Louis Agassiz sind im Portal VIATIMAGES zu finden.
Digitale Version des Bandes 3 von RECHERCHES SUR LES POISSONS FOSSILES (fossile Haie, Rochen und Chimären)
(Eine Sammlung von Archiven, die das berufliche und persönliche Leben von Louis Agassiz betreffen, wird im Staatsarchiv von Neuenburg aufbewahrt).
Einzelnachweise
Paläontologe
Geologe (19. Jahrhundert)
Limnologe
Klimatologe
Glaziologe
Ichthyologe
Hochschullehrer (Harvard University)
Hochschullehrer (Neuenburg)
Präsident der American Association for the Advancement of Science
Fellow der American Association for the Advancement of Science
Mitglied der American Academy of Arts and Sciences
Mitglied der American Philosophical Society
Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Mitglied der Leopoldina (19. Jahrhundert)
Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften
Auswärtiges Mitglied der Royal Society
Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften und Schönen Künste von Belgien
Korrespondierendes Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften
Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften
Mitglied der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen
Mitglied der Académie des sciences
Mitglied der Royal Society of Edinburgh
Träger der Copley-Medaille
Träger des Pour le Mérite (Friedensklasse)
Rassentheoretiker
Corpsstudent (19. Jahrhundert)
Schweizer
US-Amerikaner
Geboren 1807
Gestorben 1873
Mann
Person als Namensgeber für einen Marskrater
Person als Namensgeber für einen Asteroiden
Mitglied der National Academy of Sciences
Person (Louis Agassiz Museum of Comparative Zoology)
Absolvent der Ludwig-Maximilians-Universität München |
284881 | https://de.wikipedia.org/wiki/Pazifikkrieg | Pazifikkrieg | Als Pazifikkrieg werden zusammengefasst die 1937 begonnenen Kampfhandlungen zwischen dem Japanischen Kaiserreich und der Republik China, später zusätzlich insbesondere den Vereinigten Staaten und deren Alliierten in Ostasien und im pazifischen Raum bezeichnet. Mit dem Kriegsschauplatz in Europa ist er Teil des Zweiten Weltkrieges. Als Beginn des Pazifikkrieges gilt der Zweite Japanisch-Chinesische Krieg, welcher am 7. Juli 1937 ausbrach. Der Pazifikkrieg sowie der Zweite Weltkrieg endeten mit der Kapitulation Japans am 2. September 1945. Der Krieg umfasste komplexe militärische Operationen zu Lande, zur See und in der Luft.
Zunächst als Konflikt zwischen Japan und China begonnen, weiteten sich die Kampfhandlungen nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour am 7. Dezember 1941 auf den gesamten Pazifik aus und markierten den Beginn des Kampfes zwischen den Achsenmächten und den Alliierten auf und um den Pazifischen Ozean. Auf Seiten der USA und Chinas kämpften unter anderem Großbritannien, Australien, Neuseeland, die Niederlande und die Sowjetunion. Auf Seiten Japans erklärten im Kriegsverlauf einige der von ihnen besetzten Länder wie z. B. Mandschuko den Alliierten den Krieg. Gegen Kriegsende traten einige asiatische Länder, nachdem die Japaner auf ihrem Territorium besiegt worden waren, auf Seiten der Alliierten in den Krieg ein.
Da der Krieg unter anderem die Vormachtstellung im Pazifik zum Ziel hatte, kamen in diesem neben den Heeren vor allem den See- und Luftstreitkräften der Hauptgegner (USA und Japan) Geltung zu. Es wurden neue militärische Ansätze der See- und Luftkriegsführung entdeckt und entwickelt, welche bis dahin unbekannt waren, wie z. B. Trägerschlachten. Dazu war er der einzige Krieg, in dem sowohl atomare (von den USA über Japan) als auch biologische und chemische Waffen (beide hauptsächlich von Japan in China) eingesetzt wurden. Anfänglich charakterisiert durch erfolgreiche japanische Offensiven in China, Ozeanien und im Pazifik, die einer Expansionspolitik zugrunde lagen, änderte sich ab etwa Mitte 1942 das Kräfteverhältnis und damit die Kampfentscheidungen zugunsten der USA und ihrer Alliierten. Japan wurde im Verlauf des Krieges – unter anderem durch massive Verluste in Niederlagen, wie in der Schlacht um Midway – zunehmend in die Defensive gedrängt und litt während der Dauer des Krieges unter anderem an einer Überdehnung seiner militärischen und wirtschaftlichen Ressourcen. Die letzte Phase des Krieges markierten die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, sowie der Eintritt der Sowjetunion in den Krieg an der japanischen Westfront. Das Ende des Krieges bedeutete de-facto das Ende des Japanischen Kaiserreiches und ordnete die geopolitischen Begebenheiten im gesamten Pazifikraum und Ostasien neu. Insgesamt forderte der Pazifikkrieg ca. 36 Millionen Tote, ein Großteil davon zivile Opfer.
Kriegsbezeichnungen
Japan
Die offizielle japanische Bezeichnung für den Gesamtkonflikt, der aus dem laufenden Krieg gegen die Republik China und der gerade begonnenen Auseinandersetzung mit den USA bestand, war Daitōa sensō (jap. ), Großostasiatischer Krieg. Der Name wurde am 10. Dezember 1941 vom japanischen Parlament beschlossen. Zwei Tage darauf erfolgte die Bekanntgabe des Namens an das japanische Volk.
Eine weitere Bezeichnung war Taiheiyō sensō (), was wörtlich Pazifikkrieg bedeutet. Die Kaiserlich Japanische Marine hatte diese Bezeichnung bereits im Dezember 1941 auf der Verbindungskonferenz des Daihon’ei als offiziellen Namen für den Gesamtkonflikt vorgeschlagen, aber nicht durchsetzen können. Die Bezeichnung „Großostasiatischer Krieg“ wurde dann im Dezember 1945 von den alliierten Besatzungsbehörden (SCAP/GHQ) verboten und die Verwendung des Begriffes „Pazifikkrieg“ angeordnet. Nach dem Ende der Besatzungszeit waren in Japan seit den 1950er-Jahren beide Bezeichnungen in Gebrauch.
Die dritte Bezeichnung Jūgonen sensō (), 15-jähriger Krieg, wurde nicht so häufig benutzt. Sie geht davon aus, dass der Zweite Japanisch-Chinesische Krieg, der bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges dauerte, bereits 1931 mit dem Mukden-Zwischenfall begann. Dieser Krieg ist in Japan als Japanisch-Chinesischer Krieg (jap. , Nitchū Sensō) oder auch als HEI, Operation C oder Invasion in China bekannt. Heute setzt sich in Japan allgemein immer mehr der Begriff Ajia Taiheiyō sensō (), Asiatisch-Pazifischer Krieg, durch, welcher sich wie 15-jähriger Krieg auf die Zeit zwischen 1931 und 1945 bezieht und die Verknüpfung der Konflikte betont, allerdings nicht wie Pazifischer Krieg den Kriegsschauplatz China praktisch ausblendet. Stellvertretend für diese Entwicklung war die Publikation der 8-bändigen Reihe Ajia Taiheiyō sensō des Verlagshauses Iwanami Shoten () im Jahr 2005, die eine Zusammenfassung des jüngsten Forschungsstandes zum Asiatisch-Pazifischen Krieg darstellt.
China
Die Bezeichnungen für den Krieg sind unterschiedlich: In der Volksrepublik China und der Republik China ist Krieg des Widerstands gegen Japan () die offizielle Bezeichnung des Krieges. Die Bezeichnung wird aber auch in anderen südostasiatischen Ländern für den eigenen Widerstand gegen die japanische Besatzung verwendet. Der Krieg wird in China auch einfach als Krieg des Widerstands () bezeichnet. Daneben existiert allgemein im Chinesischen auch die neutrale Bezeichnung Tàipíngyáng zhànzhēng ().
USA und Alliierte
Von den USA wurde die Bezeichnung für alle militärischen Aktionen im Pazifik und den umliegenden Staaten gewählt.
Da der US-Armee, der US-Marine und dem US-Marinekorps eine annähernd gleiche Rolle in diesem Konflikt zukam und das Einsatzgebiet sich über die Fläche des Pazifiks und Südostasiens bis nach Indien erstreckte, wurde im Gegensatz zum europäischen Kriegsschauplatz kein Gesamt-Oberbefehlshaber bestimmt, wie es dort Eisenhower war.
Die beiden Kommandeure der USA im PTO waren ab dem 30. März 1942 der Admiral Chester W. Nimitz und der Douglas MacArthur. Ihnen waren zusätzlich die alliierten Einheiten der Briten, Australier, Neuseeländer und Niederländer unterstellt.
Ein dritter Kampfbereich war das , zu dem die Staaten Indien, Burma, Thailand, Malaysia und Singapur gehörten. Hier operierten indische, britische und amerikanische Truppen. Oberbefehlshaber war ab dem 7. Dezember 1941 General Sir Archibald Wavell, der einen Monat später auch das ABDACOM mit zusätzlichen niederländischen und australischen Einheiten übernahm. Nach dessen Zerschlagung Ende Februar 1942 kam das SEAT vorerst unter das britische Indien-Kommando, um dann im August 1943 auf Anordnung Winston Churchills neu aufgestellt zu werden. Ab Oktober war der neue Oberbefehlshaber Admiral Louis Mountbatten. Die Bezeichnung China Burma India Theater bezog sich auf den Kampfraum der Alliierten, die von Britisch-Indien und Burma aus versuchten, die japanische Invasion in China zu bekämpfen.
Übersicht
Der Pazifikkrieg unterschied sich in vielen Punkten vom Krieg in Europa. Während sich das Schlachtgeschehen in Europa von Beginn bis zum Kriegsende überwiegend auf dem Festland abspielte, verlagerten sich die Kampfräume in Südostasien vom Festland auf den weit ausgedehnten pazifischen Seeraum. Die Seegefechte zwischen den Alliierten und Japan trugen ab 1942 wesentlich zum Ausgang des Krieges bei.
In der Pazifikregion wurde auf Land meist in unwegsamen Regenwaldgebieten gekämpft, weshalb meist kein schweres Gerät wie beispielsweise Panzer eingesetzt wurde. Von entscheidender Bedeutung war daher das koordinierte Vorgehen der Land-, Luft- und Seestreitkräfte. Indem die Japaner diese Strategie umsetzten, eroberten sie in kurzer Zeit einen gewaltigen Raum. Später kopierten und perfektionierten die Amerikaner dieses Vorgehen.
Die Krise in Ostasien, die seit dem japanischen Einfall in die Mandschurei 1931 und der Bildung des Marionettenstaats Mandschukuo zwischen Japan und China herrschte, führte am 7. Juli 1937 beim Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke zum Ausbruch des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges. Bis 1940, als es zu einem Stillstand an der Front kam, hatte die japanische Armee den Norden Chinas erobert und viele der Küstenstädte standen unter ihrem Einfluss. Trotz vieler diplomatischer Versuche, eine Kriegsausweitung nach Südostasien zu verhindern und die Japaner mittels wirtschaftlicher Embargos zum Rückzug aus den besetzten Gebieten zu zwingen, kam es am 7. Dezember 1941 zum Angriff auf Pearl Harbor.
Nach diesem empfindlichen Schlag gegen die USA drangen die Japaner planmäßig weiter nach Süden vor und besetzten unter der Ideologie Asien den Asiaten europäische und amerikanische Kolonien wie Hongkong (→ Schlacht um Hongkong), die Philippinen und Niederländisch-Indien.
Innerhalb von vier Monaten hatten japanische Truppen ganz Südostasien und einen Großteil des Pazifiks mit etwa 450 Millionen Menschen unter ihrer Kontrolle. Dies war die größte Ausdehnung in der Geschichte Japans.
Bereits Mitte 1942, nach der Schlacht im Korallenmeer sowie der Schlacht um Midway, bei der die Flotte der Japaner durch den Verlust von vier großen Flugzeugträgern empfindlich geschwächt wurde, änderte sich die Situation jedoch grundlegend: Amerikanische Truppen konnten ein weiteres Vordringen Japans verhindern und die kaiserlichen Truppen dauerhaft in die Defensive drängen. Damit war eine Isolierung Australiens von Amerika vereitelt und US-Truppen konnten kontinuierlich auf japanisch besetztes Gebiet vorrücken.
Fortan versuchten die Japaner, den angreifenden Alliierten möglichst hohe Verluste zuzufügen, um insbesondere die USA zu einem Verhandlungsfrieden zu nötigen. Die härtesten Kämpfe tobten dabei von Ende 1942 bis Mitte 1944 in der Südsee auf den Salomonen, den Gilbert-Inseln, den Marshallinseln und den Marianen. Ein erfolgreiches taktisches Mittel war dabei das sogenannte Inselspringen, bei dem die Amerikaner die besonders stark befestigten japanischen Stützpunkte umgingen und Insel für Insel in Richtung japanisches Hoheitsgebiet einnahmen.
Ende Oktober bis Anfang November 1944 kam es zur Seeschlacht von Leyte (Philippinen), bei der die Japaner fast ihre komplette Seestreitmacht verloren. In militärischer Hinsicht war damit eine totale Niederlage der kaiserlichen Truppen unausweichlich geworden. Dennoch verweigerte Japan die Kapitulation.
Nach blutigen Kämpfen auf den japanischen Inseln Iwojima und Okinawa warfen amerikanische Bomber am 6. August 1945 die erste Atombombe auf Hiroshima und am 9. August die zweite über Nagasaki ab. Am 8. August erklärte überdies die Sowjetunion Japan den Krieg. Sechs Tage nach dem Angriff auf Nagasaki verkündete der japanische Tennō im Rundfunk die Kapitulation (Gyokuon-hōsō), die am 2. September in der Bucht von Tokio auf der USS Missouri unterzeichnet wurde.
Kriegsgebiet
Der wichtigste Kriegsschauplatz im Pazifikkrieg war das Pacific Ocean Theater of World War II. Das Kriegsgebiet wurde bestimmt durch die Pacific Ocean Areas und deren Unterteilungen. Daher gehörten die Philippinen, Niederländisch-Ostindien, Borneo, Australien und der größte Teil des Territorium Neuguinea nicht dazu. Diese waren dem Southwest Pacific Area unterstellt.
Weitere Kriegsschauplätze waren China und das restliche asiatischen Festland, zusammengefasst im China Burma India Theater of World War II.
In seiner größten Ausdehnung erstreckte sich das Kriegsgebiet über einen Raum mit einem Radius von mehr als 5000 Kilometern über den Pazifischen und Indischen Ozean. Im Norden reichte es bis zur Sowjetunion und den Aleuten, im Westen bis nach Burma und Indien. Im Süden grenzte das Kriegsgebiet bis etwa 200 km an die Küste Australiens, und im Osten bis an den Militärstützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii.
Beschränkte sich der Krieg von 1937 bis Ende 1941 fast ausschließlich auf das chinesische Festland, verlagerte sich das Hauptkampfgebiet 1942 zum Pazifischen Ozean. Dort erwarteten die Soldaten auf den Inseln in der Regel Sumpfgebiete und Regenwald, die den Einsatz von Panzern und schweren Geschützen behinderten. Daher war es wichtig, die Lufthoheit zu erlangen und auf strategisch günstig gelegenen Inseln Luftwaffenstützpunkte einzurichten.
Vorgeschichte
Anfang des 20. Jahrhunderts war der Großteil Ostasiens und des Pazifiks unter der Herrschaft europäischer und amerikanischer Kolonialmächte, beispielsweise Indochina (Frankreich), Philippinen (USA), Hawaii (USA), Indonesien (Niederlande), Nordost-Neuguinea (Deutschland) und Malaya (Großbritannien). Korea und Taiwan waren japanische Kolonien.
Japan war vor dem Pazifikkrieg bereits an mehreren Kriegen beteiligt. 1894 eroberte es im Ersten Chinesisch-Japanischen Krieg unter anderem Port Arthur. Daraufhin kam es 1904 bis 1905 zum Russisch-Japanischen Krieg. Unter Tennō Yoshihito kämpfte Japan an der Seite der Alliierten im Ersten Weltkrieg, in dem Japan deutsche Kolonien des Kaiserreiches übernehmen konnte, wie zum Beispiel Deutsch-Neuguinea und Kiautschou (Qingdao). Am vorläufigen Ende dieser Serie von Kriegen 1919 war Japan neben China die größte Macht in Ostasien: Das Land kontrollierte nicht nur die heutigen japanischen Inseln, sondern auch Korea, Taiwan, Sachalin, mehrere Inselgebiete in der Südsee und zahlreiche Küstenstädte des Festlandes.
Von 1912 bis 1926 regierte mit dem Taishō-Tennō Yoshihito ein psychisch kranker Mann, wodurch sich die Macht vom Tennō und seinen Vertrauten, den Genrō, auf das Parlament und die neu gegründeten Parteien verschob. 1926 begann mit Hirohitos Inthronisierung die Shōwa-Zeit. Er regierte ein Land, in dem seit dem Ende des Ersten Weltkrieges nationalistische Kräfte zunehmend an Einfluss gewannen.
Nachdem es nicht gelungen war, die Wirtschaftskrise ab 1929 im Rahmen der weltwirtschaftlichen Lage einzudämmen, wurden in Japan verstärkt Stimmen laut, die eine territoriale Expansion als Lösung der Probleme sahen. Durch die erfolgte Umstrukturierung der Wirtschaft mit einer erstarkten Schwerindustrie traten auch einflussreiche Finanzgruppen (Zaibatsu) mit demselben Ziel hervor.
Mehrere Putschversuche und eine massive Sozialistenverfolgung führten ab den 1930er-Jahren schlussendlich zum Aufstieg einer ultranationalen Gruppierung aus Militärs, die verstärkt Kontrolle über die Regierung, einschließlich des Amts des Premierminister Japans erlangten. Politische Gegner wurden verfolgt, Massenmedien zensiert. Der aggressive Einsatz für eine Neuordnung der Pazifikregion hatte vorgeblich zum Ziel, die Hegemonie der asiatischen Länder und Kolonien durch westliche, europäische Staaten zu beenden und sie durch eine japanische zu ersetzen (→ Panasiatismus).
Das Hauptinteresse der japanischen Expansion galt dem Gebiet der damaligen Republik China.
Nach dem von japanischer Seite fingierten Mukden-Zwischenfall am 18. September 1931 kam es zur Mandschurei-Krise und die Kwantung-Armee besetzte – angeblich ohne größere Rücksprache mit der japanischen Regierung – die Mandschurei. Am 1. März 1932 wurde dort der Marionettenstaat Mandschukuo ausgerufen, dessen offizieller Präsident und späterer Kaiser Puyi war. Aufgrund internationaler Proteste über das Vorgehen in China trat Japan 1933 aus dem Völkerbund aus, 1936 schloss es mit dem Deutschen Reich den Antikominternpakt.
Kriegsverlauf
1937
Am 7. Juli 1937 kam es zum Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke, der den Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg auslöste, der im asiatischen Raum den Beginn des Pazifikkrieges markiert und in Japan auch als Beginn des Zweiten Weltkrieges gilt.
Ob dieser Vorfall, bei dem sich japanische und chinesische Soldaten Feuergefechte lieferten, von Japan provoziert wurde, ist umstritten. In der Folge eröffneten die Japaner einen Angriff auf Peking, dem die chinesischen Verteidiger nichts entgegenzusetzen hatten. Am 29. Juli kapitulierte Peking und einen Tag später Tianjin (siehe auch: Schlacht um Peking-Tianjin). Die Japaner setzten ihren Vormarsch von Norden und Süden in China fort und die Nationalregierung der Kuomintang unter Chiang Kai-shek erklärte ihnen am 7. August den Krieg. Die Japaner rechneten mit einem schnellen Sieg, doch die ab dem 13. August tobende Zweite Schlacht um Shanghai dauerte unerwartet lange und forderte mit rund 70.000 japanischen und etwa 200.000 chinesischen Soldaten sehr viele Opfer. Japan konnte die Schlacht erst Mitte November für sich entscheiden, als die japanische 10. Armee in der Hangzhou-Bucht landete und die chinesischen Truppen, die Shanghai in erbitterten Häuserkämpfen verteidigten, einzukesseln drohte.
Die kommunistische chinesische Armee errang in der Schlacht von Pingxingguan am 25. September einen kleinen taktischen Sieg, der als „Der große Sieg von Pingxingguan“ in die Geschichte der Kommunistischen Partei einging. In dem engen Passtal nach Pingxingguan, das rund 10.000 Japaner ohne Vorerkundung befuhren, gelang es einer kommunistischen Einheit unter Marschall Lin Biao, mit Handgranaten und Gewehrfeuer eine Panik unter den Japanern auszulösen und sie in die Flucht zu schlagen. Dabei erbeuteten sie etwa 100 Lastkraftwagen mit Waffen- und Munitionsnachschub. Die japanische Seite beklagte ungefähr 1000 Tote und Gefangene und die Chinesen etwa 500.
Prinz Konoe Fumimaro kündigte am 5. November Japans Ziel einer Neuordnung Asiens an. Zugleich unterbreitete die japanische Regierung der chinesischen Regierung das Angebot, den Zwischenfall beizulegen, wenn sich China in Zukunft an die drei vom japanischen Außenminister Hirota Kōki 1934 formulierten Prinzipien hielte. Die Prinzipien waren:
Unterdrückung aller antijapanischen Aktivitäten,
Anerkennung Mandschukuos und eine freundliche Beziehung zwischen Mandschukuo, China und Japan,
gemeinsamer Kampf gegen den Kommunismus.
Die Kuomintang weigerte sich zunächst, in Verhandlungen einzutreten, und änderte diese Haltung erst am 2. Dezember. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Japaner Shanghai jedoch bereits erobert und die chinesischen Truppen befanden sich auf dem Rückzug. Daher war die japanische Regierung nicht mehr bereit, den Konflikt unter den zuvor genannten Bedingungen beizulegen, sondern stellte deutlich härtere Forderungen: die Demilitarisierung Nordchinas und der Inneren Mongolei, die Zahlung einer Entschädigung und den Aufbau von politischen Strukturen, die das Zusammenleben von Mandschukuo, Japan und China regeln sollten. Diese Bedingungen wies die chinesische Regierung zurück.
Um den 8. Dezember erreichten die japanischen Truppen Nanking, die Hauptstadt der Kuomintang und kesselten sie ein. Die Bombardierungen dauerten Tag und Nacht und am 12. Dezember befahl der chinesische Stadtkommandant den Rückzug der Truppen, der am Fluss Jangtsekiang mit einer Panik endete. Viele Menschen ertranken in dem kalten Fluss. Bei der Evakuierung von amerikanischen Bürgern aus Nanking beschossen die Japaner am selben Tag mit Kampfflugzeugen das auf dem Jangtsekiang voll beladen fahrende Kanonenboot USS Panay (Panay-Vorfall). Das Boot wurde versenkt. Drei Menschen starben und 48 wurden verletzt. Zwar entschuldigte sich die japanische Regierung für den Zwischenfall, aber zusammen mit Berichten über die Grausamkeiten japanischer Soldaten, die nun an die Öffentlichkeit kamen, sorgte es dafür, dass sich das Bild von Japan in den USA zu ändern begann.
Am 13. Dezember besetzten die japanischen Truppen Nanking. In dem darauf folgenden, drei Wochen andauernden Massaker von Nanking wurden vermutlich mehr als 300.000 chinesische Zivilisten ermordet und etwa 20.000 Frauen vergewaltigt (siehe auch Kriegsverbrechen der Japanischen Armee im Zweiten Weltkrieg).
Chiang Kai-shek ließ die Hauptstadt in das entfernte Chongqing verlagern.
1938
Im Januar verkündete die japanische Regierung nach dem endgültigen Scheitern von Verhandlungen, dass die nationale chinesische Regierung ausgelöscht werden solle. Japan entschloss sich zu einer Offensive in Richtung Wuhan. Um diese Offensive zu ermöglichen, sollten zunächst die wichtigsten Eisenbahnknotenpunkte im Norden erobert werden. Um die Stadt Xuzhou, einen wichtigen Knotenpunkt, zu erobern, versuchten die japanischen Soldaten zunächst, die chinesische Garnisonsstadt Tai’erzhuang zu erobern. Die chinesischen Truppen ließen die Japaner jedoch in eine Falle laufen und kesselten die japanischen Truppen am 24. März in der Schlacht um Tai’erzhuang ein. Nach chinesischen Angaben fielen etwa 30.000 japanische Soldaten. Dies war die erste größere Niederlage der Japaner in diesem Krieg.
Im März verabschiedete Japan das Nationale Mobilisierungsgesetz, das alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aspekte auf eine effizientere Kriegsführung konzentrierte und im April in Kraft trat. Hoffnungen auf eine friedliche Lösung des Konfliktes mit China kamen auf, als Ugaki Kazushige, ein ehemaliger General und Gegner weiterer Eskalationen, im Mai desselben Jahres Außenminister wurde. Statt eine Beruhigung der Lage zu erreichen, kam es jedoch zu erneuten Streitigkeiten mit der Sowjetunion um die Mandschurei und in der Folge zum Japanisch-Sowjetischen Grenzkonflikt.
In einem zweiten Anlauf eroberten die Japaner die Stadt Tai’erzhuang am 19. Mai, und auch die Schlacht um Xuzhou ging siegreich aus, aber der politische Mythos von der Unbesiegbarkeit Japans war durch die früheren Vorfälle gebrochen.
Chiang Kai-shek ließ am 9. Juni die Staudämme des Gelben Flusses aufbrechen und so das Land überfluten. Er hoffte, damit den japanischen Vormarsch bremsen zu können. Da aber versäumt worden war, die eigene Zivilbevölkerung zu warnen, kam es zu etwa 890.000 Todesopfern, und etwa 3,9 Millionen Menschen wurden obdachlos. 4000 Dörfer und elf Städte wurden von den Fluten mit sich gerissen. Durch die Überflutungen wurde aber auch die japanische Kampagne gegen Wuhan für Monate unterbrochen. Erst am 25. Oktober eroberten die Japaner Wuhan unter großen Verlusten (→ Schlacht um Wuhan). Kurz darauf gelang ihnen ohne großen Widerstand die Eroberung Kantons. Da die erhoffte chinesische Kapitulation nicht erfolgte, wurde den japanischen Strategen bewusst, dass der Krieg deutlich länger als geplant andauern würde.
1939
Die Chinesen begannen nach dem Verlust von Wuhan mit der Taktik des magnetischen Krieges. Dabei sollten die japanischen Truppen an bestimmte Positionen, die als Magnet dienen sollten, gelockt werden, wo sie leichter angreifbar wären oder wo zumindest ihr Vormarsch verlangsamt werden konnte. Das beste Beispiel dafür ist der Kampf um die Stadt Changsha, die in den Jahren 1939, 1941 und 1942 erfolgreich verteidigt und erst 1944 erobert wurde.
Die Schlacht um Nanchang, welche die erste große Schlacht zwischen den Japanern und der Nationalrevolutionären Armee (NRA) seit dem Verlust von Wuhan war, endete am 9. Mai mit dem Verlust der wichtigsten Nachschublinie für die Chinesen. Damit war prinzipiell der Weg für die Japaner in die Südostprovinzen geöffnet.
In der seit April andauernden Schlacht um Suixian-Zaoyang gelang es zwei japanischen Divisionen am 7. Mai, die beiden Städte Suixian und Zaoyang einzunehmen. Bereits am nächsten Tag rückten die Japaner jedoch wieder ab, um nach Süden weiterzuziehen. Die Chinesen setzten ihnen nach und eröffneten am 15. Mai einen Großangriff, der die Japaner nach drei intensiven Kampftagen zum Rückzug zwang. Bis zum 24. Mai waren die beiden Städte wieder in chinesischer Hand.
Bei zwei Konsultierungen des US-Außenministers Cordell Hull mit dem japanischen Botschafter in Washington im Juli und August des Jahres, bei der Hull zum wiederholten Male die japanische Annexion der Mandschurei und von Teilen Chinas anprangerte und seinen Befürchtungen Ausdruck verlieh, dass auch die China vorgelagerten Inseln „mandschuriert“ würden, gingen die Japaner nicht auf diese Anmerkungen ein. Allerdings kündigten sie an, dass sie in naher Zukunft in einen militärischen Pakt mit Deutschland und Italien eintreten würden.
Da Japans wirtschaftliche Zukunft vor allem von Rohstofflieferungen aus Kolonien Großbritanniens und Frankreichs abhing, nutzten sie den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Europa und erpressten von Großbritannien die Sperrung der Burmastraße, um die chinesischen Truppen vom Nachschub abzuschneiden.
Nachdem der Krieg in China nach mehr als zwei Jahren fast zum Stillstand gekommen war, begannen die Japaner am 17. September die Schlacht um Changsha, die Provinzhauptstadt von Hunan. Damit wollten sie den Weg in die Südprovinzen öffnen, um danach weiter in Richtung Indochina vorrücken zu können. Während der heftigen Kämpfe, bei denen die Chinesen die weit aufgefächerte Front der Japaner am Fluss Xinqiang erfolgreich von Norden und Süden attackierten, setzten die Japaner auch Chemische Waffen ein. Nach einem erfolgreichen Durchbruch standen die Japaner im September vor den Außenbezirken von Changsha, konnten die Stadt aber nicht einnehmen, da die Chinesen in ihrem Rücken die Nachschubwege abgeschnitten hatten. Sie gaben daher am 6. Oktober ihr Vorhaben auf.
Die am 15. November begonnene Schlacht um Süd-Guangxi dauerte bis zum 25. Februar 1940 und führte zur Isolierung der inneren chinesischen Provinzen von den Küstenzugängen. Damit bestanden nur noch zwei Nachschubwege, welche die Alliierten für Lieferungen nach China nutzen konnten. Dies war zum einen die Straße von Lashio in Burma nach Kunming, der Hauptstadt der Provinz Yunnan und ab 1942 „The Hump“, eine von William H. Tunner organisierte Luftbrücke über den Himalaya.
1940
In den USA, die zu Beginn des Krieges dazu tendierten, Japan zu unterstützen, schlug die Stimmung aber nach Berichten über japanische Kriegsverbrechen und den Panay-Vorfall sowie der Beeinträchtigung der amerikanischen Öl-Interessen in China schnell um. In Anbetracht einer möglichen Bedrohung aus dem Pazifikraum begannen die USA am 26. Januar mit dem Aufbau eines Stützpunktes auf dem Palmyra-Atoll in den Line Islands südlich von Hawaii. Am selben Tag lief das 1911 mit Japan geschlossene Handelsabkommen aus. Die US-Pazifikflotte wurde am 7. Mai für einen unbestimmten Zeitraum zum Stützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii zurückbeordert.
Im Jahr 1940 war der japanische Mehrparteienstaat am Ende, eine Zentralorganisation namens Taisei Yokusankai übernahm alle Funktionen. Die Japaner setzten am 30. Januar zur Eroberung von Süd-Henan an, was die Chinesen nach einem Monat heftiger Kämpfe verhindern konnten. Allerdings konnte die am 14. März entbrannte Schlacht um Süd-Shanxi von den Japanern zu einem Erfolg geführt werden.
Damit hatten die Kämpfe in China eine Pattsituation erreicht. Japan hielt den östlichen Teil Chinas besetzt und litt unter den Guerilla-Attacken der Chinesen. Den Rest Chinas teilte sich die Kuomintang unter der Führung von Chiang Kai-shek mit Mao Zedongs Kommunistischer Partei. Die Japaner setzten am 30. März in Nanking die so genannte Neuorganisierte Regierung der Republik China unter Wang Jingwei ein, um die japanischen Interessen zu vertreten. Angesichts der Brutalität der Japaner war das Marionettenregime in der Bevölkerung extrem unpopulär.
Im Juli 1940 erhöhten die Japaner den Druck auf Französisch-Indochina, den sie bis in den Sommer aufrechterhielten.
In einem Presseinterview am 1. August verkündete der japanische Außenminister Matsuoka Yōsuke den Aufbau der Großostasiatischen Wohlstandssphäre. Diese Wirtschafts- und Verteidigungsgemeinschaft asiatischer Länder unter japanischer Vorherrschaft sollte frei von westlichem Einfluss sein.
Der kommunistischen Partei in China war es unterdessen gelungen, mehr als 400.000 Soldaten in 115 Regimentern zu rekrutieren. Am 20. August eröffneten sie die Hundert-Regimenter-Offensive, die bis zum 5. Dezember andauerte. Sie griffen die Eisenbahnlinien zwischen Dezhou und Shijiazhuang in Hebei, zwischen Shijiazhuang und Taiyuan in Zentral-Shanxi und Taiyuan nach Datong in Nord-Shanxi an. Dazu sprengten sie Tunnel und Brücken und zerstörten die Schienen. Auch vor direkten Angriffen auf japanische Garnisonen schreckten sie nicht zurück. Die für die Japaner wichtige Kohlenmine in Jingxing konnte von den Kommunisten für ein halbes Jahr außer Betrieb gesetzt werden. Nachdem die Japaner jedoch General Okamura Yasuji das Kommando in Nordchina übertragen hatten, begann dieser die kommunistischen Stützpunkte gezielt zu suchen und anzugreifen. Nach und nach verloren die Kommunisten dadurch die Kontrolle über mehr als 420 von ihnen zuvor kontrollierte Bezirke. Gegen Ende der Kämpfe kam es zum Zerwürfnis zwischen Peng Dehuai, dem militärischen Führer der Kommunisten, und Mao Zedong.
Die amerikanische Marine vergab am 9. September 210 Kontrakte an Vertragswerften für den Bau von 210 Kriegsschiffen, darunter für zwölf Flugzeugträger und sieben Schlachtschiffe.
Am 22. September pressten die Japaner von den Franzosen nach einem vorausgegangenen Ultimatum ein militärisches Übereinkommen ab. Dies beinhaltete die Nutzung dreier Flughäfen und den Transit eigener Truppen durch Französisch-Indochina nach China. In einer Note an die Japaner missbilligten die USA dieses Vorgehen und lehnten es ab. Trotzdem besetzten japanische Streitkräfte in einer Stärke von rund 30.000 Soldaten bis zum 26. September im Rahmen der Operation FU die Städte Lạng Sơn und Hải Phòng im Norden Französisch-Indochinas.
Am 27. September 1940 unterzeichnete Japan den Dreimächtepakt mit Deutschland und Italien, der den bestehenden Antikominternpakt um gegenseitige militärische Unterstützung erweiterte. Damit verwarf der japanische Kaiser seine noch am 5. September 1939 verkündete Neutralität und unterstrich seine aggressive Außenpolitik vor allem gegenüber China. Die amerikanische Regierung rief daraufhin am 8. Oktober alle Zivilisten im Fernen Osten auf, in die USA zurückzukehren, da es zu einer indifferenten Lage in diesem Gebiet käme und verhängte am 23. Oktober ein totales Ausfuhrverbot für Flugbenzin sowie Eisen- und Stahlschrott nach Japan. Am 23. Oktober verließen drei Passagierdampfer die USA, um alle Amerikaner aus China und Japan zu evakuieren.
Der deutsche Hilfskreuzer Atlantis brachte am 11. November das britische Frachtschiff Automedon westlich vor Sumatra auf (Automedon-Vorfall). Neben den aktuellen Code-Tabellen der britischen Handelsflotte fiel den Deutschen auch die aktuelle Lage- und Strategieeinschätzung Fernost der Planungsdivision des britischen Generalstabs in die Hände. Im Dezember gelangten die Japaner über Berlin an dieses wichtige Dokument, das ihnen vielfältige Einblicke besonders in die britische Truppenstärke im Fernen Osten brachte und wesentlich zur zukünftigen japanischen Strategie beitrug. Insbesondere war den Dokumenten zu entnehmen, dass die Royal Navy auf absehbare Zeit nicht genug Schiffe in Fernost stationieren konnte, um die Singapur-Strategie umzusetzen und Japan am Vordringen zum Indischen Ozean zu hindern.
1941
Am 7. Januar 1941 verfasste Admiral Isoroku Yamamoto ein Memorandum an den japanischen Marineminister Koshirō Oikawa, in dem er darauf hinwies, dass eine abwartende Strategie mit klassischen Seegefechten für die japanische Marine in den bisherigen Planspielen und Manövern nicht zu gewinnen war und daher die seegestützten Luftstreitkräfte auszubauen seien. Ein konzentrierter Angriff auf die US-Flotte gleich zu Kriegsbeginn würde nicht nur deren Moral einen schweren Schlag versetzen sowie Angriffe auf Japan selbst verhindern, sondern dem Kaiserreich auch ein Zeitfenster von sechs bis zwölf Monaten verschaffen, um Südostasien mit seinen wichtigen Rohstoffquellen zu erobern.
Schon am 27. Januar 1941 berichtete der amerikanische Botschafter in Japan Joseph Grew, einer seiner Diplomatenkollegen habe einem Botschaftsangestellten erzählt, dass viele Quellen, inklusive einer japanischen, von einem geplanten Großangriff auf Pearl Harbor sprächen, wenn es zum Zerwürfnis mit den USA käme.
Im April unterschrieb US-Präsident Franklin D. Roosevelt einen Geheimbefehl, der es Reserveoffizieren erlaubte, das Militär zu verlassen und als Freiwillige nach China zu gehen. Als Folge gründete Captain Claire Lee Chennault in Kunming die American Volunteer Group (auch „Flying Tigers“ genannt), eine Fliegerstaffel, die ab 1942 in den aktiven Dienst der US-Luftwaffe gesetzt wurde.
Zwei Jahre nach dem Japanisch-Sowjetischen Grenzkonflikt unterzeichneten die beiden Parteien am 13. April den Japanisch-Sowjetischen Neutralitätspakt. Der Pakt hatte zum einen den Zweck, der Sowjetunion im Falle eines deutschen Angriffs den Rücken freizuhalten. Zum anderen wollte sich auch Japan nicht in einen – von Japan erwarteten – deutsch-sowjetischen Konflikt verwickeln lassen.
Die Japaner unterbreiteten den USA am 12. Mai ein Angebot für eine Friedensvereinbarung für den Pazifikraum mit der Bitte an die USA, Chiang Kai-shek zu Friedensverhandlungen mit Japan aufzufordern und die Unterstützung seines Regimes aufzugeben. Danach war ein Abzug der japanischen Truppen aus China vorgesehen. Nur kleinere Besatzungseinheiten sollten bleiben. Weiterhin strebte Japan eine Normalisierung der Handelsbeziehungen zu den USA an. Allerdings sprachen die Vertreter Japans auch von einer „friedlichen“ territorialen Ausbreitung in den Südwestpazifik und forderten die USA auf, sie bei der Förderung und Produktion von Rohstoffen wie Erdöl, Gummi, Zinn und Nickel zu unterstützen. Wörtlich hieß es dort: Der japanische Botschafter sprach weiterhin davon, zusammen mit den USA den Philippinen die Unabhängigkeit zu garantieren und sie als neutralen Staat zu etablieren. Im Gegenzug forderten die USA die Zusicherung von Japan, dass der eingegangene Dreimächtepakt nur ein reines Verteidigungsbündnis sei, und lehnten die weitergehenden Vorschläge Japans ab.
Am 2. Juli wurden in Japan mehr als eine Million Männer zum Wehrdienst eingezogen, und die Regierung erhielt vom Vichy-Regime die Zustimmung zur Besetzung Französisch-Indochinas (heute: Vietnam, Laos und Kambodscha), die am 29. Juli ausgeführt wurde. Zwei Tage später verhängten die USA und Großbritannien ein Export-Embargo über Japan und froren dessen finanzielle Mittel ein.
Ein weiteres Friedensangebot für den Pazifikraum am 6. August, das als Antwort auf Roosevelts Forderungen im vorausgegangenen Embargo erfolgte, wurde von den USA wiederum zurückgewiesen. Daraufhin schlugen die Japaner ein Treffen zwischen ihrem Premierminister Konoe Fumimaro und Roosevelt vor, das aber nicht zustande kam, da die USA eine zu große Kluft zwischen den Interessen beider Staaten sahen.
Den wiederholten Forderungen der USA, China zu verlassen, kam Japan nicht nach, und auch ein geändertes japanisches Friedensangebot vom 6. September brachte beide Parteien nicht weiter. Am 3. September telegrafierte der amerikanische Botschafter von Tokio nach Washington, dass seiner Meinung nach ein Krieg im Pazifik unabwendbar sei.
Als am 6. September eine kleine chinesische Guerillagruppe in den Bergen südöstlich von Yueyang auf eine japanische Division traf, entbrannte zum zweiten Mal die Schlacht um Changsha. Die Einnahme der Stadt scheiterte erneut. Ab Ende September zogen sich die japanischen Einheiten in die Yueyang-Region zurück.
Auch die diplomatischen Bemühungen im November brachten keine Entscheidung und Annäherung (siehe Hull-Note). Am 25. November wurden von Aufklärungsflugzeugen große japanische Flottenbewegungen von Formosa (Taiwan) aus in Richtung Südostasien gesichtet und weitergemeldet. Daraufhin übermittelte US-Admiral Stark zwei Tage später eine Kriegswarnung an die US-Pazifik- und Asienflotte.
Wegen des Embargos Großbritanniens und der USA und weil Japan von den Rohstofflieferungen der europäischen Verbündeten abgeschnitten war, erschien ein Krieg mit den USA und Großbritannien als einzige Alternative zum Verlust des Reiches in der bisherigen Form.
Am 1. Dezember informierte die Gozen Kaigi den Tennō über die gewaltsame Ausweitung der japanischen Einflusssphäre nach Süden und den geplanten Angriffskrieg gegen die USA. Währenddessen führte der japanische Botschafter Admiral Nomura Kichisaburō in Washington, D.C. weiterhin Friedensgespräche mit dem amerikanischen Außenminister Cordell Hull.
In der sich zuspitzenden Situation versetzten die Briten am selben Tag ihre Truppen auf der malaiischen Halbinsel in höchste Alarmbereitschaft. Die Flotte unter Admiral Tom Spencer Vaughan Phillips wurde angewiesen, die Gewässer östlich von Singapur nach feindlichen Schiffen abzusuchen.
Amerikanische Flugzeuge sichteten am 2. Dezember zwölf japanische U-Boote vor der Küste Indochinas, die einen Kurs in Richtung Süden, möglicherweise nach Singapur, liefen. Am selben Tag gab Yamamoto das Signal zum Start aller Operationen mit den Worten: „Ersteigt den Berg Niitaka“ und der Durchgabe des Angriffstags.
Admiral Phillips flog am 4. Dezember nach Manila und traf sich dort mit Admiral Thomas C. Hart und General Douglas MacArthur, um eine Übereinkunft für ein Kooperationsabkommen im Fernen Osten zu schließen. Im Südchinesischen Meer befanden sich zu der Zeit drei japanische Divisionen auf dem Weg zur Invasion von Thailand und Malaysia.
Alle japanischen Konsulate in den USA wurden angewiesen, alle ihre Kodierungsunterlagen und Geheimdokumente zu vernichten. Dies geschah über Radio Tokyo, das in einer Wettervorhersage die Worte durchgab. Dies war einer der möglichen Sätze, die den Krieg mit den USA verkünden sollten. Auch in den niederländischen Kolonien wurde diese Durchsage von der Abhörstation Kamer 14 auf Java empfangen, deren Bedeutung der Führungsspitze bekannt war. Daher gaben sie die Meldung unverzüglich an ihre Botschaft in Washington durch, um eine Benachrichtigung der amerikanischen Regierung zu veranlassen.
Die japanischen Truppenbewegungen in Indochina blieben ebenfalls nicht unbemerkt. Zwar waren sich die USA sicher, dass es sich dabei um „reine Vorsichtsmaßnahmen“ handelte, doch in der Folge sandte Roosevelt am 6. Dezember Kaiser Hirohito eine diplomatische Note, in der er von „tragischen Auswirkungen“ der letzten Ereignisse sprach. Roosevelt gab noch einmal seiner Hoffnung Ausdruck, dass der Frieden im Pazifik gewahrt bliebe und die Völker im Pazifikraum nicht permanent von Krieg bedroht würden. Er appellierte an den Kaiser und bat ihn um Hilfe bei der Verhinderung von Tod und Zerstörung in der Welt.
Schon am 27. November hatte die Kidō Butai, die Eingreifflotte der japanischen Marine, ihre japanischen Stützpunkte verlassen und Kurs auf Hawaii gesetzt, um die dort versammelte Pazifikflotte der Amerikaner auszuschalten. Die Information, dass fast die gesamte amerikanische Seestreitkraft dort versammelt lag, bekam die japanische Militärführung von ihrem seit Anfang 1941 in den USA etablierten Spionagenetzwerk.
Am 6. Dezember sichteten australische Aufklärungsflugzeuge den japanischen Konvoi, der von Indochina in Richtung Süden lief. Admiral Phillips verließ daraufhin die Gesprächsrunde in Manila. Britische und amerikanische Schiffe bekamen zum Schutz der ostasiatischen Inseln den Befehl zum Auslaufen, und britische Aufklärungsflugzeuge hoben von ihren Basen ab, um ständig Patrouillenflüge zu unternehmen.
Japanische Invasion Südostasiens
Mit dem Legen von Minen vor der Küste der Malaiischen Halbinsel durch japanische U-Boote begann am 7. Dezember der eigentliche Pazifikkrieg. Eineinhalb Stunden vor der Attacke auf Pearl Harbor begann Japan bei Kota Bharu mit der Invasion der Malaiischen Halbinsel. Da in Südostasien aufgrund der Datumsgrenze schon der 8. Dezember war, wird dennoch meist der Angriff auf Pearl Harbor auch als zeitlicher Beginn des Krieges angesehen.
Kurz vor Mitternacht begannen die Japaner ihre Landungen an der malaiischen Halbinsel und der Küste Thailands (→ Japanische Invasion Thailands). Dazu waren sie mit einem großen Transporterkonvoi, der von etlichen Kriegsschiffen begleitet wurde, von der Cam Ranh Bay und Saigon in Indochina ausgelaufen. Im Golf von Thailand spalteten sich kleinere Konvois zur Anfahrt auf die Strände von Prachuap Khiri Khan (→ Kampf um Prachuap Khiri Khan), Chumphon, Bandon, Nakhon Si Thammarat, Pattani und Songkhla in Thailand und Kota Bharu in Malaysia ab. Auf dem Isthmus von Kra im Süden Thailands gelangen die Landungen ohne nennenswerte Gegenwehr. Nur in Kota Bharu verteidigten indische, britische und australische Einheiten den Landungsstrand, mussten aber nach einigen Stunden die japanische Überlegenheit anerkennen und sich unter Verlusten zurückziehen.
Angriff auf Pearl Harbor und Kriegserklärung der USA
Ziel der Bombardierung des US-Marinestützpunkts Pearl Harbor am Morgen des 7. Dezember 1941 war die Ausschaltung der US-Marine für eine begrenzte Zeit, damit Japan die nach Meinung seiner Führung benötigten Rohstoffgebiete in Südostasien erobern konnte. Bis zu jenem Tag hatte ein Angriff auf den Stützpunkt auf Hawaii aufgrund der großen Entfernung zu Japan als unwahrscheinlich gegolten. Die ungenügend vorbereiteten US-Truppen erlitten eine schwere Niederlage, was der Anlass für die USA war, nach der bisherigen passiven Unterstützung der Alliierten aktiv in den Zweiten Weltkrieg einzutreten.
Die US-Geheimdienste hatten zwar schon drei Wochen vor dem Angriff die Vorbereitungen Japans zur Eroberung Südostasiens erkannt; dass Japan gleichzeitig auch die USA angreifen würde, war ihnen entgangen.
Um 6:10 Uhr erteilte Vizeadmiral Nagumo den Fliegerstaffeln seiner unbemerkt gebliebenen Flugzeugträgergruppe den Angriffsbefehl. Die erste Angriffswelle erreichte gegen 7:45 Uhr die Küste Oʻahus. Die ersten Toten gab es bereits eine Stunde vorher: zwei japanische Besatzungsmitglieder starben in ihrem Kleinst-U-Boot, als es in der Hafeneinfahrt von Pearl Harbor entdeckt und durch den Zerstörer Ward versenkt wurde.
Nachdem sich die letzten japanischen Flugzeuge gegen 13:00 Uhr Ortszeit entfernt hatten, waren zahlreiche im Hafen liegende Schiffe, darunter alle Schlachtschiffe, versenkt oder schwer beschädigt.
Über das Ergebnis des Angriffs auf Pearl Harbor gibt es jedoch widersprüchliche Angaben. Dies liegt daran, dass unbedeutende Schiffe oft nicht mitgezählt wurden oder es Unstimmigkeiten bei der Zählung von beschädigten oder zerstörten Schiffen gab. Die Toten und Verwundeten wurden teilweise getrennt nach Zivilisten, Marine- und Armee-Zugehörigkeit erfasst, in manchen Bilanzen wurden die zivilen Opfer gar nicht erfasst. Jedoch kann davon ausgegangen werden, dass auf amerikanischer Seite etwa 2400 Menschen starben und etwa 160 Flugzeuge zerstört wurden. Auf japanischer Seite wurden etwa 30 Flugzeuge abgeschossen, 65 Soldaten starben.
Auch wenn der Angriff auf Pearl Harbor die US-Marine hart traf, konnten die Japaner eines ihrer wichtigsten Ziele – die amerikanischen Flugzeugträger – nicht zerstören, da die beiden sonst in Pearl Harbor stationierten Träger auf See waren, um Jagdflugzeuge nach Wake und Midway zu transportieren (eine zu dieser Zeit nicht ungewöhnliche Aufgabe für Flugzeugträger). Außerdem blieben durch die Entscheidung des Vizeadmirals Nagumo Chūichi, keine dritte Angriffswelle zu fliegen, fast alle Treibstofftanks und Werften unbeschädigt, deren Zerstörung eine amerikanische Gegenoffensive um lange Zeit verzögert hätte. Dennoch war die amerikanische Flotte durch die erlittenen Verluste für mehrere Monate praktisch ausgeschaltet, was es Japan erlaubte, seine Kräfte auf die Eroberung Südostasiens zu konzentrieren.
Die Ausschaltung der Schlachtflotte hatte ferner zur Folge, dass die bislang in der US-Marine dominierende Konzeption einer Entscheidungsschlacht der schweren Artillerieträger von einem Tag zum anderen hinfällig geworden war.
Die der Pazifikflotte verbliebenen Flugzeugträger und U-Boote wurden zum entscheidenden Seekriegsmittel für Abwehr und Offensive. Dies wurde am deutlichsten in der Ernennung des aus der U-Boot-Waffe stammenden Admirals Chester W. Nimitz zum neuen Oberbefehlshaber Pazifik.
Aufgrund der Stationierung der Schiffe im Hafen von Pearl Harbor waren die Verluste an Menschenleben für die US-Marine – in Relation zu einem Gefecht auf hoher See – relativ niedrig. Dies sollte langfristig wesentliche Auswirkung auf die Ausbildung von Offizieren und Mannschaften im weiteren Verlauf des Krieges haben.
Einen Tag nach dem Angriff unterzeichnete Franklin D. Roosevelt die amerikanische Kriegserklärung an Japan und besiegelte damit den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg. Der für die USA überraschende und zutiefst demütigende Kriegsbeginn führte eine Einigung und Stärkung des Widerstandswillens im US-Kongress und in der Bevölkerung herbei – ein psychologischer Faktor, den die japanische Militärführung unterschätzt hatte.
Gleichzeitig erklärten Großbritannien, die Niederlande, Kanada, Australien, Neuseeland, Costa Rica, Honduras, Haiti, die Dominikanische Republik und Nicaragua den Japanern den Krieg.
Vorrücken der Japaner
Die Japaner hatten nun einen entscheidenden Vorteil: Sie besaßen die Luft- und Seehoheit gegen die dezimierten und geschockten Amerikaner. Großbritannien war mit dem Voranschreiten des Krieges in Europa mehr und mehr gezwungen, seine Kräfte gegen Deutschland und Italien zu konzentrieren. So konnte die japanische Armee ihre Strategie der blitzschnellen Überraschungsangriffe weiter fortführen.
Knapp drei Stunden nach dem Kriegsbeginn bombardierten von Saipan gestartete japanische Bomber Apra Harbor auf Guam und versenkten den amerikanischen Minensucher USS Penguin. Kurz darauf begann ein Bombardement des Flugfeldes auf der Insel Wake durch 34 Bomber der 24. Japanischen Luftflotte, die auf dem Kwajalein-Atoll stationiert waren. Bedingt durch die diesige Wetterlage sahen die Verteidiger der Insel die Maschinen nicht anfliegen und wurden vom Angriff völlig überrascht, der 52 Verteidiger das Leben kostete. Auch sieben der erst eine Woche zuvor von der USS Enterprise angelieferten Grumman F4F Wildcats wurden am Boden zerstört.
Auf dem Rückweg von Pearl Harbor trennten sich einige Schiffe von der japanischen Kidō Butai-Hauptflotte und griffen am 8. Dezember zusätzlich die Insel Wake an, die trotz der verbissenen Verteidigung durch die dort stationierten amerikanischen Marineinfanteristen am 23. Dezember an die Japaner fiel (→ Schlacht um Wake).
Auch die britische Kronkolonie Hongkong wurde kurz nach 8:00 Uhr am Morgen des 8. Dezember von den Japanern angegriffen. Durch die schnell errungene Luftherrschaft konnten die Japaner rasch vorrücken. Bereits am 10. Dezember fiel die Gin Drinkers Line, eine ausgebaute britische Verteidigungslinie, und Kowloon musste am nächsten Tag unter heftigem Artilleriefeuer und Bombardements evakuiert werden.
Zerstörung der britischen Force Z
Als eine Konfrontation in Asien nicht mehr zu vermeiden war, verlegte die britische Marine zum Schutz ihrer Kolonien mehrere Schiffe, darunter das neue Schlachtschiff HMS Prince of Wales, den mittlerweile 25 Jahre alten (und nur begrenzt modernisierten) Schlachtkreuzer HMS Repulse sowie die Zerstörer HMS Electra, HMS Express, HMS Tenedos und HMS Vampire nach Südostasien. Nach dem Eintreffen im Hafen von Singapur am 27. Oktober 1941 bildeten diese Schiffe unter der Führung von Admiral Sir Tom Phillips die Kampfgruppe Force Z. Flaggschiff von Admiral Philipps war die HMS Prince of Wales.
Am Nachmittag des 8. Dezember 1941 machte sich die Force Z auf den Weg in den Golf von Siam, um für die Invasion Malaysias bestimmte japanische Truppenkonvois bzw. Geleitzüge abzufangen und so ein weiteres Vordringen japanischer Truppen zu verhindern. Der Befehlshaber der Force Z, Admiral Phillips, wusste, dass die sich vor Ort befindlichen britischen Luftstreitkräfte der Royal Air Force nicht in der Lage waren, seinem Verband Deckung aus der Luft zu geben. Dennoch entschied er sich, auch ohne Unterstützung aus der Luft gegen japanische Truppenkonvois vorzugehen, da er – irrtümlich – davon ausging, dass seine Schiffe gegen Luftangriffe relativ sicher sein würden, zumal die bis dahin größte von landgestützten Flugzeugen versenkte Einheit nur ein Schwerer Kreuzer, jedoch kein Schlachtschiff oder Schlachtkreuzer gewesen war. Außerdem nahm er – ebenfalls irrtümlich – an, dass es den Japanern nicht möglich sein würde, so weit vom Festland auf offener See ohne Flugzeugträger effektive Luftangriffe zu fliegen.
Am Morgen des 10. Dezembers 1941 befand sich die HMS Repulse zusammen mit der Prince of Wales bereits wieder auf dem Rückweg nach Singapur, nachdem es dem Verband nicht gelungen war, die japanischen Truppenkonvois zu finden und zu stellen. Um 11:00 Uhr Ortszeit wurden von der HMS Prince of Wales aus japanische Flugzeuge gesichtet, wobei deren Zahl auf einen bevorstehenden schweren Angriff hindeutete. Daraufhin wurden beide Schiffe von insgesamt 86 in der Nähe von Saigon in Indochina gestarteten landgestützten japanischen Bombern bzw. Torpedobombern der 21. und 22. Luft-Flottille (21. und 22. Marine-Fliegergeschwader) der japanischen Marine vom Typ Mitsubishi G3M Chukou (Nell) bzw. Mitsubishi G4M Hamaki (Betty) in den Gewässern von Malaysia bei Kuantan nahe Tioman (Provinz Pahang) in insgesamt sieben Wellen mit Bomben und Lufttorpedos angegriffen. Nach schweren Treffern sanken zuerst die HMS Repulse und 45 Minuten später die HMS Prince of Wales (die durch einen frühen Torpedo-Zufallstreffer in die Wellenhose durch Wassereinbrüche schnell manövrier- bzw. kampfunfähig wurde), wobei insgesamt 840 Besatzungsmitglieder starben, darunter der kommandierende Admiral Sir Tom Phillips.
Die britischen Seestreitkräfte waren dadurch stark geschwächt und weitere Unterstützung konnte nicht entsandt werden, da alle verfügbaren Kräfte auf See wie auch in der Luft in Afrika und Europa gebunden waren.
Japanische Eroberungen
Die Inseln Guam, Makin und Tarawa fielen am 10. Dezember in japanische Hände – demselben Tag, an dem sie auch die Invasion der Philippinen auf der Hauptinsel Luzon begannen. Die dort stationierten alliierten Einheiten der Amerikaner und Filipinos unter dem Kommando von General Douglas MacArthur waren den anrückenden Japanern weit unterlegen. Am ersten Invasionstag gelang es japanischen Flugzeugen, die meisten am Boden stehenden amerikanischen Maschinen auszuschalten und damit die Lufthoheit zu erringen. So konnten sie fast ungehindert die Bodentruppen bei Legaspi (12. Dezember) und im Golf von Lingayen (22. Dezember) an Land bringen. MacArthur beschloss daraufhin den geordneten Rückzug aller Einheiten auf die Halbinsel Bataan.
Japanische Truppen landeten am 16. Dezember auf Borneo bei Miri, Lutong und Seria (→ Japanische Invasion Borneos) und am 19. Dezember auf Mindanao in den Südphilippinen. Die Bombardierung der burmesischen Hauptstadt Rangun durch japanische Flugzeuge kostete am 23. Dezember 2000 Menschen das Leben. Am selben Tag landeten zwei japanische Bataillone in Kuching, Westborneo.
In Hongkong konzentrierten sich derweil die alliierten Briten, Inder, Kanadier und einheimische Truppen auf die Verteidigung der Hongkong-Insel, wo sie unter stetigem Beschuss der Japaner standen. Nach deren Landung am 18. Dezember und dem Abschneiden der Wasserversorgung am 20. Dezember konnte die Verteidigung jedoch nicht mehr aufrechterhalten werden. So kapitulierten die letzten alliierten Einheiten am 25. Dezember. Der Tag ist in Hongkong seitdem als „Black Christmas“ bekannt.
Im Landesinneren von China gruppierten sich ab dem 24. Dezember vier japanische Divisionen bei Yueyang. Der erneute Versuch, die chinesische Stadt Changsha einzunehmen, scheitert in der dritten Schlacht um Changsha am 15. Januar 1942, nachdem es den chinesischen Verteidigern gelungen war, drei Divisionen der Japaner einzukesseln, die anschließend entkommen konnten.
1942
Rabaul
Die wichtigste Eroberung der Japaner fand am 23. Januar statt, als die kleine australische Garnison in Rabaul an der Nordostspitze von New Britain überwältigt und die Hafenstadt eingenommen werden konnte (→ Schlacht um Rabaul). Dazu boten sie eine Schiffsanzahl auf, die der Angriffsflotte für Pearl Harbor glich. Mit vier Flugzeugträgern, zwei Schlachtschiffen, neun Kreuzern, 16 Zerstörern, einigen Minenlegern und Kanonenbooten, einem Wasserflugzeugtender, einigen Flottentankern und den Truppentransportern, sowie sieben U-Booten fuhren die Japaner nach Rabaul.
Damit hatten die Japaner eine sehr gute Ausgangsbasis für ein weiteres Vordringen in Richtung Ostpazifik und die Südsee, die in den folgenden Jahren zu einer regelrechten Festung ausgebaut wurde. Als Unterschlupf dienten die Berge im Hinterland der Stadt, die aus Bimsstein bestehen. Dort ließen die Japaner von Kriegsgefangenen Tunnel in einer Gesamtlänge von mehr als 500 Kilometern graben, die als Nachschublager, Truppenzwischenlager und Lazarette (hiervon allein 15) dienten. Dazu kamen fünf Start- und Landebahnen, eine Station für Wasserflugzeuge, eine U-Boot-Basis und ein Militärhafen. Rabaul war zeitweise mit bis zu 200.000 Soldaten besetzt.
Fall von Singapur und Zerschlagung der Alliierten in Südostasien
Zum Schutz der kolonialen Territorien und des eigenen Einflussbereichs in Südostasien gründeten die Alliierten am 8. Januar das ABDACOM, ein gemeinsames Kommando der Amerikaner, Briten, Niederländer und Australier in Singapur, unter dem die Land-, Luft- und Seestreitkräfte koordiniert werden sollten. Trotz einiger kleinerer Erfolge wie in der Seeschlacht vor Balikpapan am 24. Januar konnten die ABDACOM-Einheiten die Japaner nicht aufhalten. So fielen Tarakan (→ Schlacht um Tarakan), Balikpapan (→ Schlacht um Balikpapan), Thailand und Britisch-Malaysia noch im Januar an die Japaner. Einen besonders herben Rückschlag mussten die Briten während der Belagerung von Singapur hinnehmen, als sich eine kombinierte britisch-indisch-australische Armee in einer Stärke von etwa 80.000 Soldaten am 15. Februar geschlagen geben musste und in japanische Gefangenschaft geriet.
Während der Schlacht in der Straße von Makassar am 4. Februar erlitten die Seestreitkräfte des ABDACOM einen Rückschlag, als sie auf der Verfolgung eines Invasionskonvois von japanischen Bombern angegriffen und in die Flucht geschlagen wurden.
Weitere Invasionsziele der Japaner waren im Februar das zu Niederländisch-Indien gehörende Sumatra (→ Japanische Invasion Sumatras), dort im Besonderen dessen Ölfelder, da der anhaltende Krieg langsam die Treibstoffreserven knapp werden ließ. Aus dem gleichen Grund versuchten die japanischen Bodentruppen auch schnellstmöglich, Borneo komplett einzunehmen (→ Japanische Invasion Borneos und Japanische Invasion von West-Borneo). So fiel nach Samarinda und Balikpapan am 10. Februar auch Banjarmasin in die Hände der Japaner (→ Schlacht um Banjarmasin). Der Kampf um die begehrten Ölfelder bei Samarinda dauerte noch bis in den März an (→ Schlacht um Samarinda).
Um die Besetzung Balis durch die Japaner zu verhindern, lieferten sich die Seeeinheiten des ABDACOM vom 18. bis zum 19. Februar in der Badung-Straße ein Gefecht mit den Japanern, das sie verloren (→ Seeschlacht in der Straße von Badung). In der Nacht vom 19. auf den 20. Februar begannen die Japaner mit der Invasion des neutralen Portugiesisch-Timor. Die portugiesische Kolonie war 1941 von niederländischen und australischen Truppen besetzt worden, um als Puffer zwischen den Japanern und Australien zu dienen. Nach Protesten des portugiesischen Gouverneurs verließen nur die Niederlande die Kolonie; die Australier blieben und verwickelten die Japaner bis 1943 zusammen mit einheimischen Freiwilligen in einen Guerillakrieg, der als die Schlacht um Timor bekannt wurde.
Am 19. Februar griffen 71 japanische Sturzkampfbomber, 81 Torpedoflugzeuge zusammen mit 36 Jagdflugzeugen den Hafen von Darwin im Norden Australiens an. Sie waren von vier Flugzeugträgern gestartet, die zusammen mit zwei Schlachtschiffen, drei Kreuzern und neun Zerstörern vier Tage zuvor von Palau ausgelaufen waren und nun in der Bandasee lagen. Beim Luftangriff auf Darwin wurden ein US-Zerstörer und sieben Frachter versenkt sowie erhebliche Schäden an einem amerikanischen Flugzeugtender, sechs Frachtschiffen und den Hafenanlagen verursacht.
Die Alliierten beschlossen am 25. Februar, auf Grund ihrer eigenen Machtlosigkeit gegen die Japaner das ABDACOM aufzulösen. Zwei Tage später versuchte die ABDA-Flotte, die Anlandung einer japanischen Invasionstruppe in Südjava zu verhindern. In der daraufhin entbrennenden Schlacht in der Javasee und den Folgetagen (→ Schlacht in der Sundastraße) wurde die komplette ABDA-Flotte durch die japanischen Verbände aufgerieben. Weitere Landungseinheiten konnten von den Japanern am 1. März auf Java abgesetzt werden (→ Japanische Invasion Javas). Nach nur einigen Tagen waren die Alliierten auf der Insel am Rand einer Niederlage und die verantwortlichen Niederländer unter Generalleutnant Hein ter Poorten kapitulierten am 8. März. Die Unterschrift unter die formale Kapitulationserklärung folgte zwei Tage später.
Erste amerikanische Operationen im Pazifik
Die USA begannen am 6. Januar mit der Verlegung von Truppen nach Amerikanisch-Samoa und verlegten am 12. Januar drei Schlachtschiffe und sieben Zerstörer aus dem Atlantik zur Pazifikflotte. Weitere Einheiten der Marines wurden am 20. Januar in Begleitung zweier Flugzeugträger nach Pago Pago eingeschifft.
Um den weiteren Vormarsch der Japaner zumindest zu verlangsamen, starteten die Amerikaner einen Angriff auf die Marshall- und Gilbertinseln. Die Einsatzgruppe mit zwei Flugzeugträgern, fünf Kreuzern und elf Zerstörern startete am 21. Januar und erreichte ihr Ziel am 27. Januar. Die Flotte wurde aufgeteilt und begann mit einem Artilleriebeschuss von den Schiffen aus, sowie Flugzeugattacken der Träger auf die japanischen Stützpunkte. Japanische Gegenangriffe verursachten kleinere Schäden auf einem amerikanischen Träger und einem Kreuzer. Als Folge der Angriffe zogen die Japaner ihre Flugzeugträger in die heimischen Gewässer zurück.
Zur Verstärkung des Truppenkontingents im Pazifikraum zogen die USA ab dem 21. Januar weitere Soldaten aus dem Atlantikgebiet ab und verlegten sie mittels Truppentransportkonvois durch den Panamakanal.
Beschuss der US-Westküste
Am 23. Februar löste der Beschuss einer Ölraffinerie bei Ellwood in Kalifornien durch das japanische U-Boot I-17 an der Westküste Invasionsängste aus. Der Beschuss verursachte aber nur leichte Schäden an einem Pier und einer Pumpanlage. Aufgestiegene amerikanische Flugzeuge konnten das U-Boot nicht mehr auffinden. Als Folge wurde die Bewachung der amerikanischen Westküste deutlich verstärkt.
Süd-, Südostasien und japanischer Vorstoß in die Südsee
Am 29. Januar wurde in Washington auf dringende Anforderung der australischen Regierung der ANZAC-Verteidigungsbereich beschlossen. Die Zone deckte den Pazifik zwischen Australien, Neuseeland und Französisch-Kaledonien ab; ausschließlich der in Neuseeland selbst stationierten Truppen. Die ANZAC-Truppen unterstanden Vizeadmiral Herbert F. Leary von der United States Navy.
Im März gelang den Japanern die vollständige Einnahme von Java und Niederländisch Ostindien, und die ersten Invasionstruppen landeten an den Stränden von Neuguinea. Auch die Südseeinseln der Salomonen rückten als vorgeschobener Stützpunkt gegen die Amerikaner in das Interesse der Japaner, und so landeten am 13. Februar die ersten Einheiten dort.
Japanische Truppen, die im Januar vom benachbarten Thailand aus in Burma einmarschiert waren, nahmen am 8. März Rangun ein, nachdem die Stadt am Vortag evakuiert worden war.
Die Americal Division wurde Mitte März von Melbourne nach Nouméa verlegt. Im Rahmen dieser Operation begleiteten zwei Flugzeugträger und mehrere andere Kriegsschiffe den Konvoi. Unterdessen begannen die japanischen Landungen auf Neuguinea bei Lae und Finschhafen im Osten der Insel (→ Operation SR). Zur Gegenattacke starteten von den US-Flugzeugträgern am 10. März 104 Flugzeuge, als die Flotte durch das Korallenmeer südlich der Landungszonen vorbeifuhr. Die Maschinen flogen über das Owen-Stanley-Gebirge und griffen die japanischen Schiffe an. Es gelang ihnen, vier Transportschiffe zu versenken und sieben weitere teilweise schwer zu beschädigen. Die Landungen konnten mit diesem Angriff aber nicht verhindert werden.
Auf Nord-Sumatra landeten japanische Einheiten am 12. März bei Sabang und Iri, um die ergiebigen Ölfelder dort einzunehmen.
Die Andamanen im Golf von Bengalen als Stützpunkt zum geplanten Sprung nach Indien fielen am 23. März (→ Operation D), und ein Angriff der Japaner mit fünf Flugzeugträgern auf den britischen Stützpunkt auf Ceylon brachte den Briten einen Verlust von zwei schweren Kreuzern ein.
Mit dem Beginn der großangelegten Operation C am 30. März, bei der sechs Flugzeugträger, begleitet von vier Schlachtschiffen und etlichen Kreuzern und Zerstörern, in den Indischen Ozean einliefen, versuchten die Japaner, die britische Flotte und den Rest der alliierten Schiffseinheiten auszuschalten, die noch im Indischen Ozean operierten.
Am gleichen Tag landeten japanische Speziallandungseinheiten der 4. Flotte auf den Shortland-Inseln (→ Japanische Invasion der Shortland-Inseln). Dies sollte die südliche Flanke gegen Angriffe der Alliierten schützen und einen Ausgangspunkt zur Versorgung der eigenen Truppen im von ihnen zu besetzenden Tulagi in den südlichen Salomonen bilden. Dazu errichteten sie auf den Inseln Stützpunkte für Wasserflugzeuge und stationieren dort 5000 Soldaten.
Japanische Landungseinheiten der N-Force landeten am 1. April bei Fakfak im Nordwesten der Bomberai-Halbinsel. Damit begannen sie die Invasion Niederländisch-Neuguineas. Bis zum 22. April des Jahres wurden Babo, Sorong, Manokwari, Moemi, Nabire, Seroei, Sarmi und Hollandia eingenommen.
Die Japaner lagen am 5. April mit ihren Operation-C-Einheiten vor Ceylon. Mit den Maschinen der Flugzeugträger begannen sie einen intensiven Luftangriff auf den Hafen von Colombo, konnten jedoch nur einen britischen Zerstörer und einen Hilfskreuzer versenken. Auf dem Rückflug entdeckten die Maschinen zwei schwere Kreuzer auf offener See, die sie umgehend attackierten und versenkten. 424 Briten fanden dabei den Tod.
Am 9. April kapitulierten die alliierten Truppen auf der Halbinsel Bataan in den Philippinen. Nach der Gefangennahme durch die Japaner kam es zum Todesmarsch von Bataan, bei dem die Gefangenen vom Süden der Halbinsel zu einer etwa 100 km entfernten Bahnstation laufen mussten. Rund 16.000 Soldaten kamen dabei ums Leben.
Am selben Tag griffen die Operation-C-Einheiten der Japaner den Hafen von Trincomalee an und entdeckten auf offener See Teile der britischen Ostasienflotte. Es gelang den Japanern, einen leichten Flugzeugträger, einen Zerstörer, eine Korvette und zwei Tanker zu versenken.
Luftangriff auf Tokio
Da die Alliierten und US-Truppen seit dem Kriegsbeginn weitere Niederlagen hinnehmen mussten und den Vormarsch der Japaner nicht stoppen konnten, berieten hochrangige Militärs im Januar 1942 die Möglichkeit, mit speziell modifizierten Bombern die japanischen Hauptinseln zu erreichen und Ziele im Raum Tokio, Yokohama, Yokosuka, Nagoya und Kōbe zu bombardieren, um in einer relativ frühen Phase des Krieges bereits eine Wende herbeizuführen. Dazu wurden im Frühjahr freiwillige Bomberbesatzungen auf den umgebauten Maschinen trainiert, um mit den eingebauten vollen Zusatztanks und voller Ladung auf einer kurzen Strecke zu starten. Am 2. April verließ ein Flugzeugträger mit Geleitschutz den Hafen von San Francisco mit Kurs auf Japan. In einer Entfernung von etwa 1200 km vom Zielort starteten am 18. April die 25 Bomber zum Doolittle Raid. Nach den Bombardierungen, die zwar kaum nennenswerte Schäden anrichteten, den Amerikanern aber einen Propagandasieg einbrachten, landeten die meisten Maschinen in der Republik China.
Aufgrund des propagandistisch aufgebauschten Erfolges wurde der Slogan: „Doolitt’ do it“ Synonym für die Forderung nach harter Vergeltung gegen Japan.
Japanische Eroberungen und erste Rückschläge
In Burma konnten die Japaner am 30. April die Stadt Lasio erobern und damit den Alliierten den Weg nach China versperren. Am 1. Mai zogen sie in Mandalay ein.
Die Hauptstadt der Salomonen, Tulagi, auf der gleichnamigen Insel fiel am 3. Mai in der Operation SN, einer Teiloperation der Operation MO, in japanische Hände. Die im Hafen liegenden japanischen Schiffe wurden schon am nächsten Tag von 99 amerikanischen Flugzeugen eines Flugzeugträgers bombardiert. Dabei konnten sie einen japanischen Zerstörer und drei Minensuchboote versenken und vier weitere Schiffe beschädigen.
Corregidor, die letzte Bastion der Alliierten auf Luzon in den Philippinen, fiel am 6. Mai. Die Japaner machten 11.574 Kriegsgefangene. Am folgenden Tag kapitulierte auch die alliierte Führungsebene auf den südlichen Philippineninseln. Die verbliebenen Truppen wurden aufgefordert, einen Guerillakrieg gegen die Japaner zu führen.
Am 7. Mai kam es zur Schlacht im Korallenmeer, die bis zum nächsten Tag andauerte. Zwei amerikanische Task-Force-Verbände konnten dabei die Einnahme von Port Moresby durch die Japaner erfolgreich verhindern. In der ersten großen Seeschlacht zwischen japanischen und amerikanischen Trägerverbänden verloren beide Seiten je einen Flugzeugträger und einige andere Schiffe.
Beim Versuch von Einheiten der Kaiserlich Japanischen Marine in der Operation RY zu den Inseln Nauru und Ocean Island vorzustoßen, kam es am 11. Mai zur Versenkung des Minenkreuzers Okinoshima durch das amerikanische U-Boot S-42 vor Neubritannien. Das Unternehmen wurde kurz darauf abgebrochen, als ein japanisches Aufklärungsflugzeug zwei amerikanische Flugzeugträger mit Kurs auf die Inseln sichtete.
Zur Sicherung des Seegebietes um die Aleuten wurde am 21. Mai eine amerikanische Nordpazifikflotte mit Hauptquartier in Kodiak zusammengestellt, da dort immer wieder japanische U-Boote gesichtet wurden, deren Bordflugzeuge Aufklärungsflüge unternahmen.
Schlacht um Midway
Durch das Abhören des japanischen Funkverkehrs gelang den USA die Identifizierung des nächsten Ziels eines japanischen Großangriffs – die Midwayinseln. Ein wesentlicher Faktor im Vorfeld der darauf folgenden Schlacht um Midway waren die Entschlüsselung des japanischen JN-25-Marinekodebuchs und die vereinte Funkaufklärung amerikanischer, britischer, australischer und niederländischer Streitkräfte. Zur Verteidigung wurden am 25. Mai zwei Kompanien des Marinekorps und eine Artilleriebatterie dorthin verlegt. Weitere Verstärkung kam am 26. Mai mit Panzerfahrzeugen und Flugzeugen.
Die für den Midway-Angriff vorgesehene Kidō Butai lief am 27. Mai aus der Hashirajima-Bucht aus und nahm Kurs auf ihr Ziel. Tags zuvor hatte sich schon ein kleinerer Verband von Ominato aus in Richtung der Aleuten in Bewegung gesetzt. Die Landungseinheiten für diese nördliche Inselgruppe und Midway folgten am 28. Mai.
Ebenfalls am 28. Mai verließen zwei amerikanische Flugzeugträger mit fünf schweren Kreuzern und mehreren Zerstörern den Stützpunkt auf Pearl Harbor. Zwei Tage später folgten ein weiterer Träger und Geleiteinheiten. Zur Verstärkung der Nordpazifikflotte wurden Schiffe aus dem Zentralpazifik verlegt.
Zur Ablenkung von der Midway-Attacke liefen am 31. Mai japanische Klein-U-Boote in die Bucht von Sydney ein, um dort einige Schiffe zu torpedieren. Ein US-Kreuzer wurde nur knapp verfehlt, ein Wohnschiff versenkt und ein niederländisches U-Boot auf Reede beschädigt. Die Japaner konnten entkommen.
Am 3. Juni 1942 führte die japanische Flotte eine kleinere Operation gegen Dutch Harbor in den Aleuten als Ablenkung für Midway durch. Die Aktion konnte von den Amerikanern aber vorzeitig durchschaut werden, sodass sie wirkungslos wurde.
Die Schlacht um Midway begann am 4. Juni mit einem japanischen Luftangriff auf die Inseln. Wegen schwerer Schäden, die sie in der Korallensee erlitten hatten, konnten zwei japanische Flugzeugträger nicht eingesetzt werden; dennoch standen für den Angriff auf die Midwayinseln vier große Flugzeugträger zur Verfügung. Die amerikanische Flotte konnte zwar nur drei Flugzeugträger aufbieten, besaß jedoch einen taktischen Vorteil, da sie den japanischen Funkcode entschlüsselt hatte. Am 4., 6. und 7. Juni fanden die entscheidenden Gefechte statt, bei denen ein amerikanischer und alle vier eingesetzten japanischen Flugzeugträger versenkt wurden. Die japanischen Verluste beliefen sich auf 3500 Mann, die US-Marine hatte 307 Tote zu beklagen. Auf Grund der schweren Verluste musste sich die japanische Marine zunächst zurückziehen.
Gleichzeitig begannen die Japaner mit der Invasion der Aleuten auf Attu und Kiska. Die sich daraus entwickelnde Schlacht um die Aleuten war erst am 15. August 1943 beendet.
Zur Verstärkung der Pazifikflotte verlegten die Amerikaner am 10. Juni einen Flugzeugträger, einen Geleitträger, ein Schlachtschiff, einen Schweren Kreuzer und neun Zerstörer aus dem Atlantikraum in den Pazifik. Fünf Tage danach trat eine neue Organisation der pazifischen Einsatzgruppen (Task Forces) in Kraft.
Am 1. Juli starteten von San Diego sechs amerikanische Truppentransporter mit Marines an Bord, begleitet von einem Flugzeugträger, einem Schlachtschiff, vier Kreuzern und zehn Zerstörern zur Operation Watchtower in Richtung der Fidschi-Inseln. Ebenfalls für diese Operation liefen am 7. Juli von Pearl Harbor zwei Flugzeugträger, sechs Kreuzer und 14 Zerstörer in dasselbe Gebiet.
Unterdessen wurde die japanische Flotte einer völligen Reorganisation unterworfen. Die neuen Verbandsstrukturen traten am 14. Juli in Kraft. Zur Flotte stießen zwei neu erbaute Schlachtschiffe, neue Geleit- und Wasserflugzeugträger sowie einige neue Kreuzer und Zerstörer.
Port Moresby auf Neuguinea blieb weiterhin ein begehrtes japanisches Ziel, sodass es ab dem 21. Juli den japanischen Landungseinheiten gelang, bei Buna und Gona einen Brückenkopf zu errichten (→ Operation RI). Alliierte Luftangriffe behinderten des Öfteren die Truppentransporte. Im Anschluss versuchten die Japaner, über die Owen-Stanley-Berge in Richtung Port Moresby vorzurücken (→ Kokoda-Track-Kampagne). Eine Eroberung der von australischen Einheiten verteidigten Stadt gelang ihnen trotz schwerer Kämpfe im Dschungel, die bis Mitte November dauerten, nicht.
Etwa zur gleichen Zeit vereinigten sich nahe der Fiji-Inseln die amerikanischen Flotteneinheiten, um sich für den Beginn der Operation Watchtower vorzubereiten.
Ein mit den Briten abgesprochenes Ablenkungsmanöver wurde von diesen am 1. August gestartet. Die britische Asienflotte im Indischen Ozean stellte zu diesem Zweck drei Konvois zusammen, die von zwei Flugzeugträgern, einem Schlachtschiff und mehreren Kreuzern und Zerstörern begleitet wurden. Die Operation Stab genannte Aktion stellte eine vorgetäuschte Landung auf den Andamanen-Inseln dar und dauerte bis zum 10. August.
Die Schlacht um Guadalcanal
Mit der Landung auf der Salomonen-Insel Guadalcanal am 7. August begannen die Amerikaner die Operation Watchtower, eine der verlustreichsten und verbissensten Schlachten während des Pazifikkrieges. Sie dauerte bis ins nächste Jahr an und markierte einen weiteren Wendepunkt zugunsten der Amerikaner.
Das Ziel der Landungen war das Flugfeld Lunga Point, der westlichste Stützpunkt der Japaner für landgestützte Luftoperationen. Es konnte bereits am Nachmittag des 8. August erobert werden, war aber in den nächsten Monaten hart umkämpft, da die Japaner mit aller Macht versuchten, es wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen.
Die Kämpfe fanden nicht nur auf der Insel selbst statt, sondern auch in den Gewässern zwischen der Hauptinsel Guadalcanal und den Inseln Savo Island und Florida Island mit dem vorgelagerten Tulagi. Das Gebiet wurde unter dem Namen Ironbottom Sound (Eisengrund-Meerenge) bekannt, da in den Seeschlachten dort viele alliierte und japanische Schiffe sanken. Dies begann bei der Schlacht vor Savo Island am 8. August, als es japanischen Schiffen gelang, die amerikanische Deckung zu durchbrechen und in das Gebiet zwischen den Inseln einzudringen.
Nachdem die Landung auf Guadalcanal an die japanische Führung übermittelt wurde, verlegte sie ab dem 11. August Einheiten der Kaiserlichen Japanischen Marine von Japan nach Truk. Fünf Tage später liefen die ersten Konvois zur Truppen- und Nachschublieferung nach Guadalcanal. Eine gelandete Abteilung wurde aber kurz darauf fast vollständig von den Amerikanern aufgerieben, sodass nur ein kleiner Teil von ihnen mit den Soldaten der nachfolgenden Konvois weiterkämpfen konnte.
Die ersten von einem amerikanischen Geleitflugzeugträger gestarteten Kampfflugzeuge für den nun „Henderson Field“ genannten Flugplatz trafen am 20. August ein.
Auch amerikanische Nachschubkonvois erreichten nicht immer ihr Ziel. So wurde am 22. August ein amerikanischer Truppentransporter versenkt.
Am 23. August eröffneten die Japaner die Operation Ka zur Landung von 1500 Soldaten als Unterstützung für die kämpfenden Einheiten auf Guadalcanal. Am nächsten Tag kam es dabei zur Schlacht bei den Ost-Salomonen, bei der ein japanischer Flugzeugträger versenkt und ein amerikanischer beschädigt wurde. Es gelang den Amerikanern, eine Anlandung des japanischen Nachschubs zu verhindern. Bereits einige Tage später konnten jedoch die Japaner mit schnellen Zerstörern die Truppen auf Guadalcanal absetzen. Sie verloren dabei einen Zerstörer.
Die Taktik, mit schnellen Zerstörerkonvois Nachschub nach Guadalcanal zu bringen, wurde am 28. August von den Japanern zu einem steten Verfahren erweitert, als der erste, von den Amerikanern so benannte Tokyo Express startete. Die Zerstörer fuhren von Bougainville in den nördlichen Salomonen durch den Slot nach Süden, um dann an der Nordwestküste von Guadalcanal Truppen anzulanden. Diese Zerstörerkonvois führten in den nächsten Monaten zu vielen Einzelgefechten.
Guadalcanal und weitere Aktionen im Verlauf des Jahres
Die Japaner verfolgten weiterhin hartnäckig ihr Ziel, Port Moresby auf Neuguinea zu erobern. Dazu landeten am 12. und 13. August weitere japanische Truppen bei Buna und versuchten über den Kokoda Track das Owen-Stanley-Gebirge zu überqueren. Zur Deckung wurde die Milne-Bucht aus der Luft bombardiert.
Mit einem Beschuss durch eine Zerstörerflotte auf Nauru nahmen die Japaner die im Mai fehlgeschlagene Operation RY wieder auf und landeten am 26. August auf Nauru und am Folgetag auf Ocean Island.
Während der Schlacht um die Milne-Bucht auf Neuguinea, die vom 24. bis zum 31. August andauerte, gelang es den Australiern und Amerikanern, eine über 1800 Mann starke Landungseinheit der Japaner zurückzudrängen.
Am 9. und 29. September kam es zu Angriffen eines japanischen Flugzeugs auf das amerikanische Festland. Ein Kleinflugzeug startete von einem japanischen U-Boot vor Kap Blanco, warf einige Bomben in den Wald von Oregon bei Mount Emily und entfachte damit einen Waldbrand.
Bei den beiderseitigen Versuchen, Verstärkungen in Form von Schiffen und Soldaten nach Guadalcanal heranzuführen, versenkten die Japaner am 15. September einen amerikanischen Flugzeugträger. Ein wiederholter Versuch der Japaner, den Flugplatz Henderson Field auf Guadalcanal einzunehmen, konnte während der Schlacht am Bloody Ridge von den verteidigenden Amerikanern vom 13. bis 16. September gerade noch verhindert werden.
Der japanische Vormarsch über die Owen-Stanley-Berge auf Neuguinea wurde am 17. September von zwei australischen Brigaden in Sichtweite von Port Moresby zum Stehen gebracht (→ Schlacht um Ioribaiwa).
Ein von Rabaul ausgelaufener japanischer Konvoi, bestehend aus zwei Wasserflugzeugträgern und einem Geleitschutz aus Zerstörern, gedeckt durch eine Kreuzerflottille, konnte am 11. Oktober von der amerikanischen Luftaufklärung erfasst werden. Kurz darauf stoppten amerikanische Schiffe nördlich von Guadalcanal den Konvoi. Es entbrannte die Seeschlacht bei Cape Esperance, die die japanische Landung verhinderte. Zwei Tage später konnte ein von Noumea kommender US-Transporterkonvoi rund 3000 Soldaten und Nachschubmaterial bei Lunga Point anlanden. In der folgenden Nacht beschossen japanische Kreuzer und Zerstörer den Flugplatz Henderson Field und konnten 48 der 90 dort stationierten Kampfflugzeuge zerstören. Nur ein Flugzeug erlitt bei dem Beschuss keinen Schaden. Am nächsten Tag brachte der Tokyo Express bei Tassafaronga 4500 japanische Soldaten an Land.
Am 25. Oktober setzte sich die japanische Flotte, die bereits seit dem 11. Oktober auf See lag, in Richtung Guadalcanal in Bewegung, um einen Großangriff zu starten. Sie bestand aus vier Flugzeugträgern, zwei Schlachtschiffen sowie etlichen Kreuzern und Zerstörern. Ihr gegenüber standen den Amerikanern zur Verteidigung zwei Flugzeugträger, ein Schlachtschiff, mehrere Kreuzer und Zerstörer zur Verfügung.
Die anlaufenden japanischen Einheiten wurden später am Tag von Aufklärungsflugzeugen entdeckt. Beide Seiten konnten jedoch die jeweils gegnerischen Träger nicht ausmachen. Erst am nächsten Tag kam es zur Schlacht bei den Santa-Cruz-Inseln, bei der die Amerikaner einen Träger verloren und zwei japanische Träger schwer beschädigt wurden.
Bis Mitte November liefen immer wieder japanische schnelle Zerstörer nach Guadalcanal, um Nachschub an Soldaten, Geschützen und Munition, sowie andere Gerätschaften zu bringen. Dabei kam es wiederholt zu Zusammenstößen mit amerikanischen Einheiten, die von Tulagi aus operierten. Auch auf dem Henderson Field stationierte Kampfflugzeuge griffen diese Konvois immer wieder an. Trotzdem gelangen den Japanern auch erfolgreiche Landungen. Auch die USA brachten weitere Soldaten auf die Insel, so am 11. November, als rund 8000 Mann versuchten, bei Lunga Point an Land zu gehen. Im Gegenzug starteten die Japaner eine Großattacke gegen die Amerikaner, sodass die Anlandungsaktion abgebrochen werden musste.
In der Seeschlacht von Guadalcanal, die bis zum 15. November andauerte, beschossen die Japaner intensiv das Henderson Field, mussten sich aber nach sehr hohen eigenen Verlusten zurückziehen. Dieser amerikanische Sieg bedeutete den Wendepunkt in der Schlacht um Guadalcanal.
Nach der Einnahme von Kokoda am 2. November zogen sich die japanischen Streitkräfte nach der Schlacht um Oivi-Gorari am 19. November fluchtartig bis an die Nordostküste Neuguineas nach Buna zurück. Dies markiert das Ende der Kokoda-Track-Kampagne.
Am 30. November versuchten die Japaner noch einmal, nachts mit einer schnellen Zerstörerflottille den Truppen auf Guadalcanal Nachschub zu bringen. Dank der amerikanischen Fernmeldeaufklärung konnte die Unternehmung aber frühzeitig aufgedeckt werden. In der Schlacht bei Tassafaronga versenkten die Japaner einen amerikanischen Schweren Kreuzer und beschädigten drei weitere schwer. Selbst verloren sie nur einen Zerstörer. Die japanischen Nachschubgüter fielen aber den Amerikanern in die Hände. Dies war das letzte große Seegefecht um Guadalcanal, aber der Landkampf dauerte noch bis Anfang Februar 1943. Der Tokyo Express versuchte weiterhin, Nachschub auf die Insel zu bringen. Allerdings warfen die Schiffe die Behälter meist einige Kilometer vor der Insel ins Meer, in der Hoffnung, schnell den amerikanischen Torpedobooten und U-Booten entkommen zu können. Daher konnten die japanischen Landeinheiten oft nur wenige der Nachschubbehälter bergen. Ende des Jahres beschloss die japanische Führung, Guadalcanal aufzugeben und die verbliebenen Soldaten zu evakuieren.
Mitte Dezember rüsteten die Australier und auch die Japaner ihre Truppen auf Neuguinea auf. Vom 10. bis zum 16. Dezember setzten die Australier acht gepanzerte Fahrzeuge in der Oro-Bucht ab. Kurz danach trafen in der Bucht 1460 Soldaten ein. Die Japaner brachten etwa zur gleichen Zeit bei Cape Ward Hunt nördlich von Buna 800 Soldaten an Land.
Als Ausgleich zum verlorenen Henderson Field begannen die Japaner im Dezember, am Munda Point auf New Georgia im New-Georgia-Archipel einen Luftwaffenstützpunkt zu errichten.
1943
Zu Beginn des Jahres gelang es den Amerikanern in vermehrtem Maß, japanische Funkcodes zu entschlüsseln. Einer der wichtigsten Codes war der Ultra-Code der Kommandantur des Truk-Atolls. In der Folge konnte die Entschlüsselung durch viele Sichtungen bestätigt werden. Ab Mitte Januar versenkten dann die amerikanischen U-Boote vermehrt kleinere Kriegsschiffe, wie Zerstörer und Patrouillenboote sowie Tanker und Transportschiffe. Des Öfteren wurden zu den Angriffen auf größere Konvois auch Kampfflugzeuge angefordert und eingesetzt.
Kämpfe im Pazifikraum
Der erste alliierte Sieg mit Landkampftruppen gelang den Australiern und Amerikanern über die japanischen Einheiten, die sich nach dem missglückten Vorstoß auf Port Moresby im Papua-Territorium auf Neuguinea an die Küste bei Buna, Gona und Sanananda zurückgezogen hatten. Die Kämpfe endeten am 22. Januar mit der Flucht der Japaner aus dem Kampfgebiet (→ Schlacht um Buna-Gona-Sanananda). In der Folge kam es vom 29. Januar bis zum 4. Februar zur Schlacht um Wau, wo es australischen Einheiten gelingt aus Sanananda anrückende japanische Einheiten, mit Hilfe neu eingeflogener Truppen über eine Luftbrücke aus Port Moresby, zurückzuschlagen.
Bei den Nachhutversorgungen auf und um Guadalcanal durch die Japaner kam es immer wieder zu kleineren Zusammenstößen. Als eine amerikanische Flotte von Süden in Richtung Guadalcanal anlief, um die geplanten Landungen dort zu unterstützen, kam es am 29. Januar zur Schlacht bei Rennell Island. Mit den folgenden Landungen der Amerikaner begann auch die Schlacht um die Nördlichen Salomonen, in der die Amerikaner bis zum August New Georgia und bis März 1944 Bougainville erobern konnten. Anfang Februar setzten die USA massiv Verstärkung auf Guadalcanal ab. Mit schnellen Zerstörerflottillen, teilweise bis zu 22 Zerstörer stark, evakuierten die Japaner in der Operation Ke bis zum 9. Februar 11.706 Soldaten. Die Insel war danach endgültig in amerikanischer Hand. Damit war der Seeweg zwischen Australien und Amerika gesichert, und Guadalcanal wurde ein wichtiger Ausgangspunkt der alliierten Operationen gegen Rabaul, den japanischen Hauptstützpunkt im Südpazifik.
Die Flugzeuge der australischen Luftwaffe und der US-Marine gewannen die Schlacht in der Bismarcksee, die vom 2. bis zum 4. März andauerte. Damit wurde eine Verlegung von rund 7000 japanischen Soldaten nach Neuguinea verhindert.
Zwei Tage später beschossen Zerstörer der Amerikaner das japanische Flugfeld Munda Point, konnten aber keinen besonderen Erfolg damit erzielen. Um ein weiteres Flugfeld auf Kolombangara, das Vila-Flugfeld, anzugreifen, fuhr eine US-Taskforce mit drei Kreuzern und drei Zerstörern in den Golf von Kula ein. Dort trafen sie auf zwei japanische Zerstörer, die nach kurzem Gefecht von ihnen versenkt wurden.
Auf dem besetzten Nauru versuchten die Japaner, die Exporte der dortigen Phosphatvorkommen zu ihren Gunsten weiter zu betreiben, wurden aber durch Bombardements von US-Flugzeugen davon abgehalten. Ein besonders heftiger Angriff wurde am 25. März geflogen. In seiner Folge deportierten die Japaner 1200 Nauruer in Arbeitslager nach Truk.
Am 26. März kam es zur Seeschlacht bei den Komandorski-Inseln, als ein japanischer Geleitzug auf dem Weg nach Attu in den Aleuten von einer amerikanischen Flotte mit einem Schweren und einem Leichten Kreuzer und vier Zerstörern angegriffen wurde. Die den Amerikanern überlegene japanische Sicherungsgruppe, die aus zwei Schweren, zwei Leichten Kreuzern und vier Zerstörern bestand, zog sich aber nach rund dreieinhalb Gefechtsstunden zurück.
Anfang April kam es zu einer massiven japanischen Aufrüstung der Stützpunkte Rabaul und Buka. Vier Flugzeugträger brachten über 160 Kampfflugzeuge zu den Basen. Sie dienten der Vorbereitung einer großangelegten Luftoffensive gegen Guadalcanal und Tulagi, der Operation I-GO. Dabei griffen am 7. April Torpedo- und Sturzkampfbomber die Inseln an und versenkten einen amerikanischen Zerstörer und einen Tanker sowie eine neuseeländische Korvette. Weitere japanische Luftangriffe waren gegen die Ore-Bucht bei Buna am 11. April und am 14. April gegen die Milne-Bucht in Neuguinea gerichtet, wo zwei amerikanische Transportschiffe versenkt werden konnten. Dort begannen die Alliierten am 22. April die Salamaua-Lae-Kampagne.
Admiral Yamamotos Tod
Der amerikanischen Fernmeldeaufklärung gelang Mitte April die Entschlüsselung eines Funkspruchs, demzufolge Admiral Yamamoto Isoroku, Oberbefehlshaber der Kaiserlich Japanischen Marine, den Stützpunkt auf Bougainville besuchen wolle. Zum Abfangen seines Flugzeugs starteten am 18. April 16 Lockheed P-38 Lightning-Jagdflugzeuge von der neuen zweiten Startbahn des Henderson Airfields auf Guadalcanal und nahmen Kurs nach Norden. Es gelang ihnen der Abschuss von zwei japanischen Bombern vom Typ Mitsubishi G4M bei Bougainville. In einem davon befand sich Yamamoto, der dabei ums Leben kam. Als Nachfolger für den japanischen Oberbefehl wurde Admiral Koga Mineichi bestellt.
U-Boot-Erfolge der Amerikaner
Ab 1943 wurden mehrere hundert U-Boote neu in Dienst gestellt und konnten ausgerüstet mit neuen Mark-18-Torpedos, verbesserten Mark-14-Torpedos, Radar sowie reichlich ausgewerteten Ultra-Funksprüchen und nunmehr verfügbaren vorgeschobenen Stützpunkten aus die Versenkungszahlen bei Handelsschiffen dramatisch erhöhen. Auch die Taktik von Dreier-Rudeln gegen Konvois sowie der Austausch risikoscheuer Kommandanten führte zur Steigerung der Versenkungen. Nach 1944 gab es kaum mehr lohnende Angriffsziele für U-Boote im Kampf gegen die japanische Handelsflotte.
Die U-Boote legten auch große Minenfelder aus, so etwa direkt vor der japanischen Küste bei Inubo Seki, vor Hongkong und vor Shanghai.
Des Weiteren wurden im Nordpazifik von den U-Booten Aufklärungsfahrten unternommen, um die amerikanische Operation Landcrab, die Landung auf den Aleuten, vorzubereiten, die dann am 11. Mai begann.
Insgesamt ist festzustellen, dass die Japaner der Bedrohung durch U-Boote zu keinem Zeitpunkt die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt haben. Die Japaner hatten nicht bedacht, dass allein die Eroberung der Rohstoffgebiete zur Absicherung des Reiches nicht ausreichte. Japan war in einem höheren Maße von maritimen Versorgungswegen abhängig als jede andere Nation zur damaligen Zeit.
Es mussten nicht nur die Rohstoffe von Sumatra, den Philippinen oder China nach Japan verbracht und dort verarbeitet werden. Auch zwischen den japanischen Hauptinseln selbst wurden wesentliche Teile des Warenumschlages und Transportes über das Meer abgewickelt.
Das Schienennetz war im Verhältnis zu europäischen Nationen deutlich schwächer entwickelt.
Aufgrund der durch die Versorgungsmängel auftretenden Engpässe war die japanische Militärführung beispielsweise auch genötigt, große Teile der Flotte in der Nähe der indonesischen Ölquellen zu stationieren. Die Bedrohung der Frachtschiffe durch U-Boote der USA führte auch dazu, dass zum Teil japanische U-Boote den Transport von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Munition übernehmen mussten.
Amerikanische Luftüberlegenheit
Im Juni versuchten die Japaner mehrfach, amerikanische Transportunternehmungen aus der Luft zu unterbinden. Am 5. Juni kam es dabei zu einem größeren Luftgefecht zwischen 81 japanischen Kampfflugzeugen und 101 amerikanischen Maschinen über den Russel-Inseln in den Salomonen. Die Japaner verloren 24 Maschinen, wogegen die Amerikaner nur einen Verlust von 7 Flugzeugen beklagten.
Ein weiterer Luftangriff wurde am 11. Juni über Guadalcanal durchgeführt. Die Japaner boten 94 Flugzeuge auf, um einen Geleitzug anzugreifen. Vom Henderson Airfield starteten zur Abwehr amerikanische Kampfflugzeuge. Zusammen mit den Flugabwehrgeschützen der Schiffe konnten alle bis auf ein einziges japanisches Flugzeug abgeschossen werden.
Island Hopping
Für das weitere Vorgehen im Südwestpazifik sahen die Joint Chiefs of Staff eine weitreichend angelegte Unternehmung zur Umgehung der japanischen Operationsbasis auf Rabaul vor, da diese Stadt als sehr effektiv für die Japaner und damit auch als sehr gefährlich für das eigene Vordringen angesehen wurde. Die daraus resultierende Operation Cartwheel markierte den Beginn der strategisch wichtigen Schlacht um Neuguinea und wurde ab Mitte Juni mit diversen Truppenverschiebungen vorbereitet und am 30. Juni mit fast gleichzeitigen Landungen auf Rendova, im New-Georgia-Archipel (Schlacht um New Georgia), auf Vella Lavella, Neuguinea, Bougainville und Neu-Britannien gestartet. Dabei wandten die Amerikaner das sogenannte Island Hopping (Inselspringen) an.
Kurz nach den amerikanischen Landungen im Golf von Kula landeten auch die Japaner dort, sodass es zwischen dem 5. und 6. Juli zur Schlacht im Kula-Golf kam. Einige Tage später schickten die Japaner erneut einen Tokyo Express zum Golf von Kula. Er wurde am 13. Juli von einer amerikanischen Einsatzgruppe gestellt und in der Schlacht bei Kolombangara bekämpft. Die Amerikaner verloren diese Schlacht und die japanischen Zerstörer konnten 1200 Mann bei Vila auf Kolombangara landen, was aber keine weiteren Auswirkungen hatte, da die Amerikaner diese Insel umgingen.
Ein großer Luftangriff der Amerikaner am 17. Juli vom Henderson Airfield auf Guadalcanal mit 223 Kampfflugzeugen auf japanische Schiffe bei Bougainville endete mit der Versenkung eines Zerstörers und zwei beschädigten Zerstörern. Am Folgetag wurde der Einsatz wiederholt. Es gelang aber nur einen Zerstörer zu beschädigen.
Im Nordpazifik kam es während der Bombardierungen der Insel Kiska in den Aleuten am 22. Juli zu der mysteriösen Phantomschlacht Battle of the Pips, bei der eine amerikanische Schlachtschiff- und Kreuzerflottille auf nicht vorhandene japanische Schiffe schoss, die nur als Leuchtpunkte auf den Radarschirmen sichtbar waren. Einige Tage später gelang den Japanern tatsächlich eine unbemerkte Evakuierung ihrer 5183 Soldaten von Kiska innerhalb von nur 55 Minuten.
Die beiden Inseln Woodlark und Kiriwina wurden ab dem 23. Juli von den Alliierten im Rahmen der Operation Chronicle kampflos besetzt. Auf beiden Inseln wurden Flughäfen zur Bombardierung von Rabaul und zur Deckung weiterer Operationen auf Neuguinea errichtet.
Bei dem Versuch, mit 900 Soldaten an Bord Kolombangara zu erreichen, geriet eine japanische Zerstörerflottille am 6. August während der Schlacht im Vella-Golf an einen amerikanischen Zerstörerverband, der drei der vier japanischen Schiffe versenkte. Eine Woche später konnten die Amerikaner 4600 Marines auf der Insel Vella Lavella landen. Am 17. August gingen an der Nordküste der Insel Japaner an Land. Bei kleineren Zerstörergefechten wurden beiderseits nur leichte Beschädigungen gemeldet.
Ende August besetzten die Amerikaner einige südpazifische Inseln kampflos, um dort durch die Seabees Luftstützpunkte aufbauen zu lassen.
Am 1. September griffen nachts die Flugzeuge dreier amerikanischer Träger den japanischen Stützpunkt auf der Marcus-Insel an. In sechs Angriffswellen verloren sie nur vier Maschinen, konnten aber nur leichte Schäden an der Start- und Landebahn erzielen.
Zur selben Zeit liefen aus der Milne-Bucht Schiffe mit 8000 australischen Soldaten aus, um diese bei Lae auf Neuguinea anzulanden. Zwar versuchten die Japaner, mit einem Bomberverband das Unternehmen zu verhindern, dieser wurde aber so frühzeitig ausgemacht, dass er von amerikanischen Jägern abgefangen wurde. Der Ostteil Neuguineas konnte nach Landungen bei Finschhafen am 22. September von den Landungstruppen befreit werden.
Nach der italienischen Kapitulation am 8. September versenkten sich in den Häfen von Kōbe, Shanghai und anderen japanisch besetzten Städten im fernen Osten zwei italienische Kanonenboote, einige Dampfer und ein Hilfskreuzer selbst, um nicht in die Hände der Japaner zu fallen.
Ebenfalls am 8. September gaben die Japaner den Kampf um Salamaua auf und zogen sich nach Lae zurück, welches am 16. September an die Alliierten fällt, nachdem die Japaner die Stadt einen Tag zuvor nach Norden ziehend verlassen hatten.
Vom 17. bis zum 18. September bombardierten die Amerikaner die Insel Tarawa mit 25 Liberator-Bombern, die von Kanton und Funafuti aus gestartet waren. Unterstützt wurden die Bomber zusätzlich durch von drei Flugzeugträgern gestartete Kampfflugzeuge, die in mehreren Wellen japanische Einrichtungen angriffen.
Während der Evakuierung der japanischen Truppen von Kolombangara in der Operation SE Ende September bis Anfang Oktober starben im Feuer amerikanischer Zerstörer etwa 1000 japanische Soldaten. Es gelang den Japanern aber auch 9400 Mann lebend von der Insel zu holen. Im Anschluss versuchten die Japaner auch Vella Lavella zu evakuieren, wurden in der Schlacht bei Vella Lavella aber von den Amerikanern zunächst daran gehindert. Während die Amerikaner Rettungs- und Bergungsoperationen nach der Schlacht durchführten, gelang es japanischen U-Boot-Jägern mit einer Transportergruppe an ihnen vorbeizukommen und 589 Soldaten von Vella Lavella zu evakuieren.
Um den japanischen Stützpunkt auf Rabaul weiter von der Außenwelt zu isolieren, starteten alliierte Luftverbände der US-Luftwaffe und der britischen Luftwaffe am 12. Oktober Großangriffe. Die kombinierte Luftflotte bestand aus B-24- und B-25-Bombern sowie P-38- und Beaufighter-Begleitjägern. Bei den Angriffen auf den Hafen und die Flugplätze wurden zwei Transporter versenkt, drei Zerstörer und drei U-Boote sowie kleinere Einheiten beschädigt. Die Alliierten verloren dabei vier Maschinen.
Nachdem japanische U-Boote einen großen amerikanischen Flottenverband vor Hawaii ausgemacht und gemeldet hatten, verlegte die Kaiserlich Japanische Marine mit drei Flugzeugträgern der 1. Flotte und drei Trägern der 2. Flotte Ende November Kampfflugzeuge von Truk nach Rabaul, um einen konzentrierten Luftangriff auf die Salomonen vorzubereiten. Bei der Rückfahrt der Träger Anfang November nach Japan konnte ein Träger von einem amerikanischen U-Boot torpediert und beschädigt werden. Unterdessen lag die japanische Hauptflotte in Truk in erhöhter Alarmbereitschaft. Sie bestand aus vier Schlachtschiffen, zwölf Kreuzern und 30 Zerstörern.
Kampf um Bougainville
Zur Ablenkung der Japaner von der vorgesehenen Landung US-amerikanischer Streitkräfte auf der nördlichen Salomonen Insel Bougainville wurden am 27. Oktober die Insel Choiseul und die Treasury-Inseln von Brigaden der US-Marines und neuseeländischen Infanteristen besetzt. Die Operation Blissful auf Choiseul wurde am 3. und die Operation Goodtime auf den Treasuries am 12. November beendet.
Unterdessen landeten am 1. November drei US-Marineinfanteriedivisionen am Kap Torokina auf Bougainville in den Salomonen. Sie trafen auf keinerlei japanischen Widerstand. Vor der Küste lagen zur Deckung vier Kreuzer, 19 Zerstörer und einige Minensuchboote. Die Japaner versuchten zwar, mit Luftangriffen von Rabaul aus die Schiffe anzugreifen, doch als diese erfolglos blieben, setzte die japanische Führung eine Flotte in Richtung Bougainville in Bewegung, die schon in der folgenden Nacht eintraf. Mit den amerikanischen Einheiten lieferte sie sich die Seeschlacht bei der Kaiserin-Augusta-Bucht. Die Landung auf Bougainville konnte aber durch die Japaner nicht verhindert werden.
Die japanische 2. Flotte lief am 3. November zur Verstärkung der Einheiten nach Rabaul aus und wurde am nächsten Tag von US-Luftaufklärern im Bismarck-Archipel gesichtet. Nachdem die Flotte in Rabaul eingelaufen war, starteten rund 100 Kampfflugzeuge von zwei amerikanischen Trägern einen konzentrierten Luftangriff auf den Hafen von Rabaul. Es gelang ihnen, bei einem Verlust von zehn eigenen Maschinen sechs Kreuzer und einen Zerstörer schwer zu beschädigen. Kurz nach diesem Angriff folgte ein Bombergeschwader, das Rabaul selbst und wiederum den Hafen angriff. Noch am selben Abend zogen die Japaner sechs Kreuzer und fünf Zerstörer von Rabaul nach Truk zurück.
Unterdessen gelang es den Japanern am 7. November, in einer Nachtaktion 1175 Soldaten auf Bougainville zu landen. Am 9. und 11. November landeten die Amerikaner ihre zweite und dritte Welle. Aufgrund der Nähe von Bougainville zu Rabaul (die Entfernung betrug nur rund 300 km) bauten sie die existierenden japanischen Flugfelder aus, um die wichtige japanische Basis dort angreifen zu können.
Während eines japanischen Versuchs, Luftangriffe auf Bougainville durchzuführen, fingen amerikanische Trägerflugzeuge die Angreifer ab und schossen 33 von 110 Maschinen ab, ohne einen einzigen eigenen Verlust. Der Gesamtverlust der Japaner nach ihren erfolglosen Angriffen war so hoch, dass die Lufteinheiten der Träger kaum mehr einsatzfähig waren.
Aufgrund der amerikanischen Offensive versuchten die Japaner ihre Garnison auf Buka, nördlich von Bougainville, zu verstärken, was am 26. November 1943 zur Seeschlacht bei Kap St. George führte. Die Japaner erlitten in dieser Schlacht eine vernichtende Niederlage und verloren mehr als die Hälfte ihrer Einheiten. Die Amerikaner hatten hingegen keine Verluste zu beklagen. Dies war das Ende des Tokyo Express, der Versorgungs- und Evakuierungsfahrten der Japaner in den Salomonen.
Bereits ab Ende Dezember starteten die Amerikaner von Bougainville aus Luftangriffe auf Rabaul. In den langwierigen Dschungelkämpfen, bei denen sich die Japaner in vorher angelegte unterirdische Bunker zurückzogen, hatten die Amerikaner 423 Tote und 1418 Verwundete zu beklagen. Viele der Überlebenden erkrankten nach den Schlachten an Malaria. Im November 1944 ging das Kommando über alle Inseloperationen an die australischen Armee über und bis Mitte Dezember hatten die australischen Streitkräfte alle amerikanischen Einheiten auf Bougainville abgelöst. Die Kämpfe auf der Insel dauerten bis Kriegsende.
Schlacht um die Gilbert-Inseln
Am 10. November lief die Vorbereitungsphase für die großangelegte Operation Galvanic an. Dazu setzten sich von Pearl Harbor und drei Tage später von den Neuen Hebriden (heute: Vanuatu) zwei Transportergruppen in Bewegung, die am 17. November westlich der Salomonen zwischen der Bakerinsel und Tuvalu zusammentrafen. Die zugehörigen Deckungseinheiten, wie die schnelle Flugzeugträgergruppe, Schlachtschiffe, Kreuzer, Zerstörer und Minensucher kamen einige Tage später hinzu.
Die Schlacht um die Gilbert-Inseln unter dem Decknamen Operation Galvanic lief am 19. November mit der vorgesehenen Bombardierung der Landungsgebiete an. Mit Flugzeugen von elf Trägern, Artillerie von fünf Schlachtschiffen, sechs Kreuzern und 21 Zerstörern wurden die Strände von Makin und Tarawa in den Gilbertinseln, sowie Mili in den Marshallinseln und Nauru beschossen. Am nächsten Tag begannen die amerikanischen Landungen auf dem Makin- und Tarawa-Atoll. Makin fiel am 23. und Tarawa erst am 28. November nach heftigen, verlustreichen Kämpfen, bei denen 4300 Japaner und 1000 Amerikaner den Tod fanden.
Da die Japaner nun von einer geplanten weiteren Landungsoperation der Amerikaner auf den Marshalls ausgingen, verstärkten sie ihre dortigen Stützpunkte. Von Truk fuhren ab dem 19. November einige Schiffe mehrfach mit Nachschub nach Mili, Kwajalein und Maloelap.
Weitere Aktionen gegen Jahresende
Bei Kap St. George, südöstlich von Rabaul, kam es am 25. November zu einem Zusammenstoß zwischen fünf US- und fünf japanischen Zerstörern. Die Amerikaner versenkten in der Schlacht bei Kap St. George drei gegnerische Schiffe, von denen 178 Seeleute von einem japanischen U-Boot gerettet wurden.
Zur Vorbereitung der Einnahme der Marshallinseln fuhren sechs amerikanische Flugzeugträger mit neun Kreuzern und zehn Zerstörern vom 4. Dezember an mehrfach konzentrierte Angriffe auf den wichtigen japanischen Stützpunkt auf Kwajalein. Es gelang ihnen, 55 japanische Flugzeuge, teils am Boden, zu zerstören. Des Weiteren wurden mehr als 42.500 Bruttoregistertonnen an Frachtschiffen und zwei Kreuzer außer Gefecht gesetzt. Selbst verloren die Amerikaner fünf Kampfflugzeuge, zudem wurde einer der Träger beschädigt. Weitere Artillerieangriffe wurden mit fünf Schlachtschiffen und zwölf Zerstörern am 8. Dezember gegen Nauru gerichtet.
Die Landungen der Amerikaner am 13. Dezember bei Arawe auf Neubritannien, bei denen 1600 Soldaten abgesetzt wurden, liefen unter der Tarnbezeichnung Operation Director. Zur Vorbereitung der Landungen flog die US-Luftwaffe einen Luftangriff und warf 433 t Bomben über der Landungszone ab.
Am Heiligabend des Jahres eröffneten die Amerikaner die Operation Dexterity, die Landung am Cape Gloucester, mit einem Scheinangriff auf Buka und Buin auf Bougainville. Die eigentlichen Landungsoperationen begannen am zweiten Weihnachtstag mit dem Absetzen von 13.000 Männern des US-Marinekorps in mehreren Wellen. Bei einem Großangriff von 60 japanischen Kampfflugzeugen verloren die Amerikaner aus ihrer Deckungsgruppe einen Zerstörer; ein weiterer wurde schwer beschädigt.
1944
Die US-Offensive im mittleren Pazifik fand, wie die Japaner vermutet hatten, ihre Fortsetzung im Angriff auf die Marshallinseln. Zur Vorbereitung wurden ab Jahresbeginn von der US-Marine mit Flugzeugen Minenfelder vor Wotje, Jaluit und Maloelap gelegt.
Am 9. Januar begannen die Amerikaner mit einer der größten Täuschungsaktion des Zweiten Weltkriegs; der Operation Wedlock. Mittels Falschinformationen, die per Funk und über Doppelagenten an die Japaner verbreitet wurden, täuschte das US-Militär große Truppenverlegungen auf die Inseln der Aleuten vor und suggerierte damit einen möglichen Großangriff auf die Kurileninseln. Damit wären die nördlichen japanischen Hauptinseln bedroht gewesen, so dass die Japaner ein großes Truppenkontingent dorthin verlegten. Diese Täuschungsaktion sollte die Japaner im Wesentlichen von den alliierten Operationen im Zentralpazifik ablenken, die für den Sommer des Jahres geplant waren.
Nachdem weitere Funkschlüssel der Japaner durch die amerikanische Aufklärung entschlüsselt worden waren, gingen U-Boote verstärkt in Gruppen auf Feindfahrt und fingen viele japanische Konvois ab. Unterstützung bekamen sie dabei des Öfteren von nah operierenden alliierten Luftverbänden, die ebenfalls auf die Konvois angesetzt wurden. Unter anderem konnten so auch Nachschublieferungen auf die Marshallinseln unterbunden werden.
Mitte bis Ende Januar verstärkten die Briten in einem ersten Schub ihre Ostasienflotte im Indischen Ozean durch zwei Flugzeugträger, zwei Schlachtschiffe, drei Kreuzer und zehn Zerstörer, darunter drei niederländische Schiffe. Ein zweiter Schub mit weiteren sechs Zerstörern folgte Anfang März. Damit verfügten sie über eine schlagkräftige Flotte, die aus drei Flugzeugträgern, drei Schlachtschiffen, 13 Kreuzern, 27 Zerstörern, 13 Fregatten, sowie einigen Sloops, Korvetten und sechs U-Booten bestand. Schon seit Mitte Dezember des Vorjahres fuhren die Briten vermehrt Einsätze gegen japanische Einheiten in der Straße von Malakka. Teilweise dehnten sie ihren Einsatzraum bis zu den Nikobaren und den Andamanen aus. Von Penang aus operierten auch deutsche U-Boote; es gelang den Briten, auch einige Erfolge gegen diese zu erzielen.
Schlacht um die Marshallinseln und Bombardierung des Truk-Atolls
Am 29. Januar traf die amerikanische Fast Carrier Task Force 58 (Schnelle Träger-Einsatzgruppe) nördlich der Marshallinseln ein und begann mit einem Bombardement der Inseln Maloelap, Kwajalein, Roi, Eniwetok und Wotje. Dabei wurden 6232 Einsätze geflogen. 49 Maschinen gingen verloren.
Die Schlacht um die Marshallinseln begann am 1. Februar unter dem Decknamen Operation Flintlock mit der amerikanischen Landung auf dem Kwajalein-Atoll. Das Hauptziel der Operation gegen die Marshallinseln war, Landbasen für ein weiteres Vorgehen in Richtung der Marianen und Philippinen zu erhalten. Dazu kam die wichtige Eroberung der japanischen Basis auf Kwajalein.
Bei starkem Artilleriefeuer von den mit den Landungsbooten angelaufenen Schiffen auf die Hauptinseln des Atolls gelang es den Amerikanern, bis zum 7. Februar rund 41.500 Mann anzulanden. Demgegenüber versuchten etwa 8700 Japaner, das Atoll zu verteidigen. Von diesen gingen nur 265 in amerikanische Gefangenschaft.
Gleichzeitig mit dem Operationsstart erging an alle amerikanischen und alliierten U-Boote der Befehl, besonders Jagd auf japanische Tanker zu machen. Damit sollte der Treibstoffnachschub für die japanischen Schiffe und Flugzeuge, besonders für Rabaul, abgeschnitten werden. Auch die Luftangriffe gegen Rabaul und dessen weitere Umgebung wurden wieder intensiviert. Die 3. neuseeländische Division landete am 15. Februar in der Operation Squarepeg auf den Green Islands, nördlich von Bougainville und besetzte diese.
Am 17. Februar wurde die Schlacht um die Marshallinseln mit der Operation Catchpole, der Landung auf dem Eniwetok-Atoll, fortgesetzt. Die Kämpfe auf den Inseln dauerten bis zum 23. Februar an und forderten von den Amerikanern 262 und von den Japanern 2677 Tote. Nach der Einnahme des Eniwetok-Atolls gelang es US-Truppen, die östlichen Marshallinseln bis zum 14. Juni einzunehmen.
Im Rahmen der Operation Hailstone am 16. und 17. Februar, die auch als Deckungsoperation für die Eroberung des Eniwetok-Atolls vorgesehen war, wurde die Insel Truk in den Karolinen massiv von Flugzeugen der US-Marine bombardiert. Dabei wurden der wichtige japanische Stützpunkt und große Teile der Insel fast vollständig zerstört. Japanische Abwehr war fast nicht vorhanden. Mehr als 70 vor Anker liegende Kriegsschiffe der Japaner konnten versenkt werden. Allerdings hatten die kurz zuvor im Hafen ankernden großen Schlachtschiffe und Kreuzer Truk bereits verlassen und konnten nicht mehr aufgespürt werden. Die Bombardierung von Truk wird vielfach als japanisches Pearl Harbor bezeichnet.
Weiteres amerikanisches Vordringen
Um den Sturm auf die Inselgruppe der Marianen als nächste Großoffensive vorzubereiten, flogen Trägerflugzeuge der amerikanischen Task Group 58.2 am 23. Februar Angriffe auf die Inseln Tinian und Saipan. In der Operation Brewer konnte als weitere Vorbereitung am 29. Februar die Insel Los Negros im Archipel der Admiralitäts-Inseln durch 1026 Amerikaner besetzt werden.
Im März starteten die Japaner auf Bougainville die Operation TA. Mit 12.000 Soldaten versuchten sie, die mittlerweile mit 27.000 gelandeten Soldaten bei Kap Torokina stehenden Amerikaner von deren Brückenkopf zu verdrängen. Die Kämpfe dauerten vom 9. bis zum 24. März an. Dabei verloren die Japaner 5469 Mann; die Amerikaner – mit der Unterstützung von sechs Zerstörern in der Abwehrschlacht – zählten nur 263 Tote.
Zur Ablenkung einer Landungsaktion auf Emirau im Bismarck-Archipel beschossen US-Zerstörer in der Nacht des 19. März Wewak im Norden Neuguineas und am nächsten Tag Kavieng auf Neuirland. Die unterdessen erfolgten Landungen auf Emirau verliefen völlig ohne japanische Gegenwehr, sodass bereits kurz danach mit dem Bau eines Flugfeldes und einer Basis für Patrouillen-Torpedoboote begonnen werden konnte.
Admiral Koga Mineichi, Oberbefehlshaber der Vereinigten Flotte der Kaiserlichen Marine, kam am 31. März bei einem Flugzeugabsturz vor Cebu in den Philippinen ums Leben. In der Folge geriet der Z-Plan, ein von ihm entwickelter, weitreichender Verteidigungsplan für die folgenden zu erwartenden alliierten Operationen, in die Hände der Amerikaner.
Bei der Operation Desecrate One, die von den USA am 23. März begonnen wurde, vereinigten sich drei Einsatzgruppen mit insgesamt elf Flugzeugträgern sowie etlichen Schlachtschiffen, Kreuzern und Zerstörern, um die japanischen Installationen auf Palau, Yap und Woleai anzugreifen. Zwar versuchten japanische Flugzeuge Teile der Flotte abzufangen, diese konnte jedoch ab dem 30. März ihre Angriffe beginnen, bei denen 38 japanische Schiffe versenkt wurden. Darunter waren jedoch keine großen Kriegsschiffe.
Luftangriffe der Alliierten, die am 12. April auf Hollandia geführt wurden, hatten die Versenkung von zwei Frachtern zur Folge. Auch einige kleine Fischkutter der Zivilbevölkerung wurden getroffen und versenkt. Im Südwestpazifik stellten die Australier am selben Tag eine Sicherungsflotte für Nachschubkonvois zwischen Finschhafen und den Admiralitätsinseln zusammen. Sie bestand aus einem Zerstörer, zwei Fregatten und 27 Korvetten. Während der Geleitfahrten beschossen einige der Fregatten und Korvetten die Stadt Madang, die Hansa-Bucht und einige vor der Küste Neuguineas liegende Inseln.
Während der japanischen Operation Take-Ichi liefen zur Nachschublieferung für die Einheiten auf der Halbinsel Vogelkop am 15. April Truppentransporter mit etwa 20.000 Soldaten an Bord von Shanghai nach Halmahera aus. Zwischen dem 26. April und dem 6. Mai gelang es amerikanischen U-Booten, vier Transporter zu versenken. Dabei verloren etwa 4300 Soldaten ihr Leben.
Die britische Asienflotte lief am 16. April zu einer großangelegten Operation mit dem Decknamen Cockpit von Trincomalee aus. Mit zwei Flugzeugträgern, drei Schlachtschiffen, sechs Kreuzern und 15 Zerstörern setzte sie Kurs auf Sabang, das am 19. April mit 46 Bombern und 35 Jägern angegriffen wurde. Die Japaner verloren 24 Maschinen am Boden und einige in der Luft. Zudem wurde ein Dampfer versenkt.
Am 17. April stießen japanische Truppen in Südchina in Richtung der neuen US-Luftwaffenstützpunkte vor.
Zur Vorbereitung der Landungen bei Hollandia (→ Operation Reckless) auf Neuguinea starteten die Amerikaner am 21. April Luftangriffe von Flugzeugträgern auf die Inseln Wakde und Sarmi westlich von Hollandia. Auch Zerstörer griffen die gleichen Ziele an. Die Vorstöße wurden an den Folgetagen fortgesetzt, um die am 22. April begonnenen Landungen in der Humboldt-Bucht und der Tanahmerah-Bucht bei Hollandia zu unterstützen. Weitere Landungen fanden bei Aitape (→ Operation Persecution) statt. Der japanische Widerstand war sehr gering, sodass es gelang, alle Flugfelder bei Hollandia und Aitape bis zum 28. April zu besetzen. Die Trägergruppen liefen danach in Richtung Truk, das am 29. und 30. April intensiv bombardiert wurde.
Durch die erhöhte Produktion der USA an U-Booten standen ihnen mittlerweile im Pazifik so viele Boote zur Verfügung, dass man von der Einzeltaktik zur Gruppentaktik überging. Die versenkten Bruttoregistertonnen stiegen stark an. Immer noch waren vor allem Frachter und Transporter aus Konvois die Hauptziele. Gelegentlich gelang auch die Versenkung eines Zerstörers oder einer kleineren Militäreinheit. Das Operationsgebiet der amerikanischen U-Boote umfasste den kompletten Pazifikraum bis nah an die japanische Küste.
Die britische Asienflotte eröffnete am 6. Mai zusammen mit anderen alliierten Einheiten die Operation Transom, einen Trägerangriff auf Surabaja auf Java, der mit den USA abgesprochen worden war. Er diente zur Ablenkung von den amerikanischen Angriffen auf Wakde. Am 17. Mai, gleichzeitig mit der amerikanischen Aktion, flogen fast 100 Kampfflugzeuge mehrere Angriffswellen gegen den Hafen und die Ölraffinerien der Stadt. Die Japaner verloren zwölf Flugzeuge, ein Patrouillenboot und einen Frachter.
Unterdessen bereiteten die Japaner die Verteidigung der Marianeninseln vor. Zur Operation A-GO liefen drei Flotten am 11. und 12. Mai in Richtung der Marianen von Japan aus. Dazu gehörten vier große Schlachtschiffe, neun Flugzeugträger sowie etliche Kreuzer und Zerstörer.
US-Einheiten landeten in einer Stärke von 7.000 Mann am 17. Mai bei Arara und am nächsten Tag auf Wakde an der Nordküste Neuguineas, um das dortige Flugfeld einzunehmen (→ Operation Straightline). Von den 759 japanischen Verteidigern ging nur ein Soldat in Gefangenschaft, die Amerikaner verloren 110 Mann. Es folgte am 25. Mai die Landung auf Biak (→ Schlacht um Biak). Dabei kam es zu heftigen und langandauernden Kämpfen bis in den Juni, bei denen 10.000 Japaner gegen die US-Landungstruppen kämpften. Angeforderte Verstärkungen konnten noch auf See von den Amerikanern abgefangen und zur Umkehr gezwungen werden. So bombardierten am 6. Juni alliierte Flugzeuge einen Konvoi auf dem Weg nach Biak. Es gelang, einen Zerstörer zu versenken und drei weitere zu beschädigen.
Marianen und Palau-Inseln
Ziel des amerikanischen Angriffs auf die Marianen war die Eroberung zweier wichtiger Flugfelder auf der Insel Saipan, um von dort Luftangriffe auf das japanische Festland führen zu können. Eine Errichtung von weiteren Luftwaffenbasen auf den Marianen ermöglichte dazu die Kontrolle über den Zentralpazifik, da landgestützte US-Flugzeuge diesen Sektor überwachen konnten. Ebenso war es möglich, von dort aus die Konvois, die von Indonesien kommend Japan und die besetzten Philippinen mit kriegswichtigen Rohstoffen, insbesondere Erdöl, versorgten, auch ohne Flugzeugträger und U-Boote anzugreifen.
Kurz vor dem Beginn der amerikanischen Operation Forager zur Landung auf den Marianeninseln kam es durch eine Falschmeldung zum Angriff aller verfügbaren japanischen U-Boote gegen die im Osten erwartete Invasionsflotte. Da diese aber westlich der Marianen operierte, konnten nur einzelne amerikanische Schiffe, darunter ein Schlachtschiff und zwei Flugzeugträger, erfolglos attackiert werden. Von den 18 ausgelaufenen japanischen U-Booten versenkten die U-Jäger der US Navy sechs.
Etwa gleichzeitig am 11. Juni starteten amerikanische Trägerflugzeuge von der westlich liegenden Flotte aus, um Angriffe gegen die Marianen zu fliegen, die auch in den nachfolgenden Tagen fortgesetzt wurden. Die Hauptziele lagen dabei auf den Inseln Saipan, Tinian und Guam.
Am 15. Juni landeten US-Marines auf der 20 km langen und 9 km breiten Hauptinsel der Marianen, Saipan (→ Schlacht um Saipan). Die erbitterten Kämpfe dauerten drei Wochen an und forderten auf japanischer Seite etwa 43.000 Tote. Die Amerikaner verloren 3.500 Soldaten. Die japanischen Hauptinseln lagen ab Anfang Juli 1944 innerhalb der Reichweite von B-29-Bombern für die auf Tinian groß angelegte Stützpunkte vorbereitet wurden.
Am 18. Juni erreichten die ersten amerikanischen Großangriffe mit Bombern Honshū, allerdings von Stützpunkten in China aus.
Die japanische Flotte der Operation A-GO erfasste mit Aufklärungsflugzeugen am 18. Juni die amerikanischen Schiffe bei den Marianen und startete früh am nächsten Morgen vier Angriffswellen mittels Trägerflugzeugen. Es entbrannte die Schlacht in der Philippinensee. Da die Amerikaner die Flugzeuge frühzeitig abfangen konnten, brachen wenige der japanischen Maschinen bis zu den amerikanischen Schiffen durch (→ Marianen-Truthahnschießen). Sie konnten nur geringe Schäden anrichten. Im Gegenzug versenkten die Amerikaner drei Flugzeugträger der Japaner.
Während der Operation Tabletennis wurden am 2. Juli 7100 Mann auf der Insel Noemfoor, östlich von Neuguinea, an Land gebracht. Zuvor beschossen Kreuzer und Zerstörer die Insel.
Zum wiederholten Mal griffen amerikanische Trägerflugzeuge am 4. Juli die Ogasawara-Inseln Iwojima und Chichi-jima zur Ablenkung der Marianenaktionen an. Besonders Guam, das seit Anfang Juni immer wieder heftig von amerikanischer Schiffsartillerie beschossen wurde, lag am 5. Juli unter einem Bombenteppich der amerikanischen Kampfbomber und danach bis zum 19. Juli wieder intensiv unter Schiffsbeschuss. Am 21. Juli landeten schließlich die amerikanischen Truppen mit fast 55.000 Mann auf Guam (→ Schlacht um Guam). Ihnen standen etwa 19.000 Japaner zur Verteidigung der Insel entgegen. Die Kämpfe kosteten 10.693 Japaner das Leben. Nur etwa 100 konnten gefangen genommen werden. Den restlichen Japanern bot der fast undurchdringliche Dschungel Schutz; sie setzten ihre Guerillaangriffe auf die Amerikaner bis zum Kriegsende fort. Noch 1972 entdeckte man den alten japanischen Kämpfer Yokoi Shōichi auf der Insel, dem erklärt werden musste, dass der Krieg schon lange vorüber war.
Im Indischen Ozean begann am 22. Juli die alliierte Operation Crimson. Die aus zwei Flugzeugträgern, vier Schlachtschiffen, acht Kreuzern und etlichen Zerstörern bestehende britische Ostasienflotte lief in Richtung Sumatra aus und startete am 25. Juli einen Luft- und Seeangriff auf den japanischen Stützpunkt Sabang. Ein Kreuzer konnte zusammen mit drei Zerstörern sogar in den Hafen eindringen und mehrere Torpedos auf japanische Schiffe abfeuern.
Unter heftigem Artillerieschutzfeuer von Saipan aus begannen die Amerikaner am 24. Juli die Landung auf der Nachbarinsel Tinian. Die 15.600 Mann trafen nicht auf so heftigen Widerstand wie auf Guam, trotzdem fielen etwa 390 Amerikaner. Die Japaner verloren 6050 Soldaten; 252 wurden gefangen genommen. Mit der nun kompletten Eroberung der Marianen war jetzt die Nordflanke für einen Angriff auf die Philippinen geschaffen, außerdem bedrohten die Amerikaner nun den Seeweg zwischen Japan und seinen Rohstoffquellen in Indonesien.
Bei der Operation Globetrotter, der Einnahme der Inseln Amsterdam und Middelburg, östlich von Kap Sansapor auf Neuguinea am 30. Juli, trafen die Einheiten auf keinen Widerstand.
Am 8. August zerstörten japanische Kräfte den amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Hengyang. Bis zum 11. Oktober gelang es ihnen, auch die anderen Basen zu erobern und eine Verbindung zu Lande zwischen dem japanisch gehaltenen Südchina und den japanischen Truppen im südlicheren Indochina aufzubauen.
Die Fast Carrier Task Force 38 begann am 28. August mit den Vorbereitungen der Operationen Tradewind und Stalemate II. Die 15 Flugzeugträger, sechs Schlachtschiffe, neun Kreuzer und 60 Zerstörer liefen von Eniwetok in Richtung der Palau-Inseln und Morotai aus. Trägerflugzeuge griffen während der Fahrt am 30. August und 2. September wiederholt Iwojima und Chichi-jima an. Auch die Schiffsartillerie von zwei Kreuzern und vier Zerstörern beschoss japanische Einrichtungen auf den Inseln. Wake wurde am 3. September durch einen Träger, vier Kreuzer und drei Zerstörer bombardiert. Die ersten Attacken gegen Palau begannen am 6. September und wurden drei Tage lang fortgesetzt. Die Insel Yap war das Ziel weiterer Angriffe. Drei Teilkampfgruppen begannen am 10. September Luftangriffe gegen japanisch besetzte Flugfelder auf Mindanao in den südlichen Philippinen. Da sie dort auf keine nennenswerte Abwehr trafen, konnten die Luftattacken ab dem 12. September auf die Visayas in den Zentralphilippinen ausgedehnt werden. Innerhalb von drei Tagen konnten die Amerikaner mehr als 200 japanische Kampfflugzeuge zerstören.
Am 15. September begannen die Amerikaner die Landungsoperationen auf den Palau-Inseln Peleliu und Angaur. Die Japaner auf Peleliu hatten sich auf einem Bergrücken eingegraben und leisteten mit etwa 5300 Soldaten erheblichen Widerstand. Nur mit weiterer personeller Unterstützung gelang es den Amerikanern, die Insel bis Mitte Oktober abzusichern, bis fast zum Jahresende konnten sich jedoch einzelne japanische Gruppen halten. Auch auf der Insel Angaur verteidigten sich die Japaner verbissen. Die Insel fiel am 23. Oktober endgültig in amerikanische Hände.
Ebenfalls am 15. September landeten die Amerikaner mit fast 20.000 Soldaten auf Morotai und trafen dort auf so gut wie keinen Widerstand. Die Truppen wurden bis Anfang Oktober um weitere 18.200 Mann verstärkt, darunter allein mehr als 12.000 Mann der Seabees und Bodenpersonal für die zu betreibenden Flugfelder. Bei einer Jagd auf ein japanisches U-Boot versenkten amerikanische Schiffe am 3. Oktober versehentlich das eigene U-Boot USS Seawolf. 79 Besatzungsmitglieder kamen dabei um.
Bestärkt durch diese Erfolge der Luftangriffe in den Südphilippinen griffen Maschinen von 15 Flugzeugträgern am 21. und 22. September Flugplätze auf Luzon an. Die Attacken waren besonders auf den Raum um Manila ausgerichtet. Zwei Tage später wurden wieder Einsätze in den Visayas geflogen. Die Japaner verloren dabei mehr als 1000 Flugzeuge, einen Zerstörer, eine Korvette, einen Minenleger und ein Wasserflugzeugmutterschiff. Viele weitere kleinere Einheiten wurden von den Amerikanern versenkt, insgesamt etwa 150 Schiffe. Die Amerikaner verloren dabei 54 Kampfflugzeuge (davon 18 durch diverse Unfälle). Der eigentliche amerikanische Plan, am 20. Oktober auf Mindanao zu landen, wurde auf Grund der Erfolge umgeworfen. Als neues Ziel galt nun direkt Leyte.
Anfang Oktober setzten die USA erstmals Angriffsdrohnen des Typs Interstate TDR ein, die von Flugzeugen aus auf japanische Stellungen auf Bougainville und Rabaul abgefeuert wurden.
Philippinen
Zur Vorbereitung der Philippineninvasion liefen am 6. Oktober die Einheiten der Fast Carrier Task Force 38 von Ulithi aus. Zwei Tage später beschossen deren Schiffe die Marcus-Insel und trafen am gleichen Tag mit den restlichen Einheiten, die westlich von Palau anliefen zusammen. Gemeinsam starteten sie am 10. Oktober Großangriffe der Trägerflugzeuge gegen die Sakishima-Inseln im östlichen Chinesischen Meer und auf Okinawa. Es entbrannte die Luftschlacht über Formosa, während der am 11. Oktober auch der Flughafen bei Aparri auf Luzon und am 12., 13. und 14. Oktober Flugfelder und Einrichtungen auf Formosa angegriffen wurden. Unterstützung erhielten sie dabei von Basen in China, die B-29-Bomber entsandten. Die Japaner flogen Abwehrwellen von Kyūshū, Okinawa und Formosa aus gegen die Angreifer, wobei auch viele Kamikazeflieger eingesetzt wurden. Dabei gelang es ihnen, einige US-Schiffe teilweise sehr schwer zu beschädigen. Auf dem Rückzug am 15. Oktober bombardierten die Amerikaner noch einmal Flugfelder nördlich von Manila, wobei es zu sehr schweren Kämpfen mit den verteidigenden japanischen Maschinen kam. Nach dem Abschluss aller Kämpfe meldeten die Japaner fälschlicherweise die Versenkung von elf amerikanischen Flugzeugträgern, zwei Schlachtschiffen und einem Kreuzer. Dies wirkte sich fatal auf die folgende Verteidigungsstrategie für die Philippinen aus.
Auch die Briten beteiligten sich wieder mit einer Ablenkungsaktion (→ Operation Millet). Die Asienflotte griff am 17. und 18. Oktober die Nikobaren an, während auf den Zentralphilippinen die Schlacht um Leyte begann. Mit Luftangriffen auf Mindanao von Biak und Sansapor aus, sowie von Flugzeugträgern aus gegen Leyte und Cebu bereiteten die Amerikaner die Landungen vor. Eine U-Boot-Gruppe riegelte das Gebiet zwischen Mindanao und Samar ab. Als ein amerikanischer Minensucher bei einem Taifun im Golf von Leyte sank, wurde er von den Japanern entdeckt, die daraufhin sofort die Operation Shō-Gō 1 zur Verteidigung der Philippinen in Gang setzten und alle verfügbaren Schiffe dorthin beorderten. Am 19. Oktober landeten die ersten amerikanischen Einheiten bei geringem Widerstand auf der Insel und begannen von dort aus in der Schlacht um Leyte mit der Eroberung der Philippinen. Die Japaner zogen sich vorerst in die vorbereiteten Verteidigungsstellungen zurück. Vom 22. bis zum 25. Oktober versuchte die japanische Marine, weitere Landungen zu verhindern. Die See- und Luftschlacht im Golf von Leyte brachte der Kaiserlich Japanischen Marine die schwersten und kriegsentscheidenden Verluste bei; sie verlor drei Schlachtschiffe und vier Flugzeugträger.
Bei Unterstützungsfahrten der Task Force 38 für die auf Leyte gelandeten Soldaten kam es in den nächsten Tagen wiederholt zu Kamikazeangriffen auf die amerikanischen Schiffe, wobei besonders die Flugzeugträger im Visier der Japaner lagen. Einige Maschinen schlugen auf den Decks von Trägern und Zerstörern ein. Zwei Träger wurden schwer beschädigt. Auch die Amerikaner flogen weitere Einsätze gegen Flugfelder bei Manila, wobei es ihnen am 29. Oktober gelang, 71 japanische Flugzeuge im Luftkampf zu zerstören. 13 weitere wurden noch am Boden stehend einsatzunfähig gemacht.
Eine der kuriosesten Waffen, die während des Krieges eingesetzt wurden, starteten die Japaner erstmals am 3. November – einen FUGU-Ballon. Ballonbomben dieser Art entwickelten die Japaner seit der Demütigung durch den im April 1942 durchgeführten Doolittle-Raid. Die von Kusaba Sueyoshi ausgearbeiteten und mit einem Steuerungsgerät ausgerüsteten Papierballone trieben mit dem Jetstream in den Wintermonaten innerhalb von drei Tagen nach Nordamerika. Etwa 1000 Ballone erreichten ihr Ziel, richteten aber so gut wie keine Schäden an.
Die Kämpfe südlich der Philippinen setzten sich den ganzen November mit verschiedenen wechselseitigen Erfolgen fort. Den Japanern gelang es zeitweise, auch neue Truppen und Nachschub auf Leyte zu landen. Im Gegenzug wurden die amerikanischen Seeeinheiten durch Teile der Task Force 34 unterstützt. Am 5. und 6. November flogen Kampfflugzeuge von elf amerikanischen Trägern konzentrierte Luftangriffe auf Luzon, wobei wieder besonders der Raum um Manila im Zentrum lag. In der Bucht von Manila versenkten die Maschinen einen Kreuzer und ein Wachboot. Das Hauptziel waren jedoch wiederum die japanischen Flugzeuge, von denen bei 25 eigenen Abschüssen 400 vernichtet werden konnten. Auf See schlug währenddessen ein Kamikazeflieger auf einem US-Träger ein und beschädigte diesen schwer.
Um die japanischen Nachschubkonvois zu stoppen, flogen amerikanische Trägerflugzeuge und von chinesischen Flugfeldern gestartete Bomber Einsätze gegen sie. Allein am 11. November wurden 347 Trägerflugzeugeinsätze gezählt. Mit der Versenkung von einem Kreuzer, vier Zerstörern und zehn Dampfern in der Bucht von Manila gelang den USA am 14. November ein weiterer Erfolg.
Die Japaner setzten am 20. November erstmals vier Kaiten-Einmann-Torpedos aus, um damit vor Ulithi amerikanische Schiffe zu attackieren. Ein Tanker wurde vernichtet, alle anderen Kaiten konnten von den Amerikanern vorher abgeschossen werden. Trotzdem berichteten die Japaner von einem bedeutsamen Erfolg ihrer neuen Wunderwaffe.
Die Briten reorganisierten unterdessen ihre Ostasienflotte. Die älteren Schiffe wurden zur Britischen Ostindien-Flotte zusammengelegt, während die moderneren Einheiten die neue Britische Pazifikflotte bildeten. Das Oberkommando in Ceylon wurde an Admiral Bruce Fraser übergeben. Er beauftragte Konteradmiral Philip Vian im November die Operation Outflank zu starten, bei der in mehreren Trägerangriffen Ölraffinerien in und um Palembang in West-Sumatra bombardiert werden sollen. Die Unternehmungen dauern bis in den Januar 1945 an, als die größte britische Trägerflotte in zwei Wellen erhebliche Schäden an den Einrichtungen der Ölindustrie anrichtet und diese für rund zwei Monate kein Flugbenzin für die Japaner mehr liefern konnten.
Strategische Bombenangriffe
Am 24. November begannen die USA mit einer Reihe von schweren Luftangriffen auf Tokio. Die B-29-Superfortress-Bomber waren von der neu errichteten Basis auf Saipan gestartet. Weitere Angriffe folgten am 26., 29. und 30. November sowie am 3. Dezember. Dies war der eigentliche Beginn der strategischen Luftangriffe auf Japan.
Die Kämpfe um Leyte dauerten weiter an. Die Japaner starteten am 27. November ein Luftlandeunternehmen, um neue Truppen nach Leyte zu bringen. Die Operation wurde aber ein Fehlschlag. Auch Kamikazeangriffe auf die im Golf von Leyte liegenden vier amerikanischen Schlachtschiffe, vier Kreuzer und 16 Zerstörer brachten nicht die erhofften Erfolge. Die Luftlandungen wurden am 5. und 6. Dezember mit größerem Erfolg wiederholt und das Flugfeld bei Burauen lag zwei Tage unter heftigem japanischem Feuer. Bei Seegefechten im Golf von Ormoc sanken ein japanischer und ein amerikanischer Zerstörer. Am Folgetag landeten US-Truppen bei Ormoc und trafen kaum auf Widerstand. Bei einem kurz darauf erfolgten Kamikazeangriff von 21 Maschinen gelang es den Japanern, zwei Zerstörer und ein Landungsboot zu versenken.
Von Ulithi liefen am 11. Dezember zur Vorbereitung und Unterstützung der Landungen auf Mindoro drei Task Groups der Task Force 38 aus. Bereits während der Annäherung an die südlichen Philippinen wurden von den Trägern wieder Luftangriffe auf den Raum um Manila geflogen. Den Landungseinheiten der Task Group 78.3 gelang das Absetzen der Truppen am 15. Dezember, obwohl deren Flaggschiff zwei Tage zuvor schwer von Kamikazeangriffen getroffen worden war und ein großer Teil des Führungsstabes dabei umkam. Die Sturzflugangriffe der Japaner hielten noch bis Ende Dezember an.
Bei einem Luftangriff auf einen japanischen Truppentransporter mit 1600 Kriegsgefangenen kamen am 16. Dezember in der Subic-Bucht (Luzon) viele Gefangene ums Leben. Selbst von den Geretteten erreichten später nur etwa 500 ihr Ziel in Japan, da sie weiteren Luftangriffen auf der Insel Formosa ausgesetzt waren.
In einem schweren Taifun am 18. Dezember sanken drei Zerstörer der Task Force 38 vor den Südphilippinen (→ Taifun Cobra). Vier Flugzeugträger, vier Geleitträger, ein Kreuzer, sechs Zerstörer, ein Tanker und ein Schlepper wurden zum Teil erheblich beschädigt. Nach diesem Vorfall musste die Aktion abgebrochen werden und die Schiffe liefen nach Ulithi zurück.
Ein aus zwei Kreuzern und sechs Zerstören bestehender japanischer Verband begann am 24. Dezember von der Cam Ranh Bay in Indochina aus die Operation REI. Ihr Ziel war Mindoro, das sie am 26. Dezember erreichten. Dort begannen sie mit dem Beschuss des amerikanischen Brückenkopfes. Nachdem die US Army Air Force Luftangriffe auf den Verband geflogen hatte und ein japanischer Zerstörer von einem PT boat versenkt worden war, drehte der Verband wieder ab und entging so seiner völligen Vernichtung.
Im Territorium Neuguinea hatte schon im November die australische 6. Division die dort stationierten amerikanischen Einheiten ersetzt. Unterstützt durch See- und Luftstreitkräfte, bekämpfte sie die Reste der 18. Armee des japanischen Kaiserreichs, deren Soldaten bedingt durch vorherige Niederlagen an Hunger und Krankheiten litten. Die Aitape-Wewak-Kampagne dauerte bis zum Kriegsende.
1945
Am 3. Januar eroberten die Briten Akyab und begannen damit die Besetzung Burmas. Die Burmastraße war etwa seit dem Jahreswechsel in voller Länge befahrbar, so konnten die Alliierten Truppen und Nachschub bis nach China transportieren.
Landungen auf Luzon
Die amerikanische Task Force 38, die schon gegen Jahresende 1944 von Ulithi ausgelaufen war, begann zur Vorbereitung und Ablenkung der Landungen auf Luzon am 3. und 4. Januar mit intensiven Luftangriffen auf die japanischen Schiffe rund um die nördlichen Philippinen. Auch die Flugfelder auf Luzon waren wiederum Angriffsziele, bei denen 100 Maschinen zerstört wurden. In den nächsten Tagen zerstörten die Amerikaner weitere 80 japanische Flugzeuge, um die Luftherrschaft über Luzon zu erlangen. Weitere Einsätze galten am 9. Januar Formosa, den Ryūkyū- und Pescadores-Inseln. Dabei konnten ein Zerstörer, eine Korvette, ein U-Boot Jäger und mehrere Tanker und Frachter versenkt werden.
Am selben Tag begann die Schlacht um Luzon mit der Landung im Golf von Lingayen auf Luzon. 170.000 Amerikaner gingen gegen geringen Widerstand an Land, da der Verteidigungsplan der Japaner einen Rückzug in die Berge der Sierra Madre vorsah. Allerdings versuchten Kamikazeflieger, die Schiffe im Golf anzugreifen. Ein Geleitträger sowie mehrere Transportschiffe, ein Zerstörer und zwei Minenleger wurden versenkt. Drei Schlachtschiffe und vier Kreuzer wurden weiterhin unterschiedlich schwer getroffen und mussten meistens abtransportiert werden. Zwei Tage später schickten die Japaner Sprengboote zur Attacke auf die Schiffe, von denen sie mehrere beschädigen konnten. Bis zum Ende des Monats setzten sich die Kämpfe weiter fort. Die Amerikaner brachten immer mehr Nachschub an Truppen und Waffen nach Luzon, was die Japaner mit vehementen Luftangriffen, bei denen fast immer Kamikazeflieger eingesetzt wurden, verhindern wollten. Die US-Geleitträger flogen weit mehr als 6000 Einsätze, bis die gelandeten Soldaten ab dem 17. Januar nicht mehr auf Luftunterstützung angewiesen waren.
Bei Angriffen auf amerikanische Basen auf Ulithi, Hollandia, Palau, Guam und Manus in der Operation Kongo versuchten die Japaner ab dem 11. Januar, mit Kaiten-U-Booten mehrere Schiffe zu versenken. Ein gesunkenes Landungsboot kann diesen Attacken möglicherweise zugeordnet werden.
Die westlich der Philippinen operierende Task Force 38 griff Mitte Januar vermehrt Schiffe vor den Küsten von Formosa, China, Hongkong und Hainan an. Es gelang ihnen, mehrere Schiffe zu versenken.
Im Indischen Ozean landeten die Briten weitere Truppenkontingente in Burma. In der Operation Matador brachten die Briten am 16. Januar zwei Brigaden auf Ramree und am 21. Januar weitere Infanteriekommandos bei Kangaw an Land. Die Insel Cheduba war das Ziel der Operation Sankey, bei der 500 Briten am 26. Januar an Land gingen, gefolgt von einer indischen Brigade am nächsten Tag. Am 30. Januar wurden schließlich in der Operation Crocodile Soldaten auf Sagu abgesetzt. Gleichzeitig mit diesen Landungen wurde die britische Pazifikflotte von Trincomalee in den Pazifik verlegt. In der Operation Meridian flogen deren Kampfflugzeuge und Bomber am 24. und 29. Januar Attacken gegen Ölraffinerien nördlich von Palembang. Die Flotte traf am 4. Februar in Fremantle ein.
Ein japanisches Kommandounternehmen, das auf Peleliu (Palauinseln) gelandet war, versuchte am 18. Januar den Zugriff auf einen dort befindlichen amerikanischen Flughafen zu erlangen um Flugzeuge und Munition zu zerstören. Das Unternehmen schlug fehl.
Flugzeuge der Task Force 38 griffen wiederholt Ziele auf den Pescadoren, Sakishima Gunto, Okinawa und den Ryūkyū-Inseln an. Dabei konnten 13 japanische Schiffe versenkt und drei Zerstörer sowie zwei Landungsschiffe beschädigt werden. Bei japanischen Gegenschlägen mit Kamikazefliegern und Bombern wurden am 21. Januar zwei Flugzeugträger und ein Zerstörer stark beschädigt.
Auf Luzon trafen derweil weitere amerikanische Truppenverstärkungen ein. Zwei Divisionen landeten am 27. Januar im Golf von Lingayen. Weitere Landungen fanden am 29. Januar bei Zambales und San Antonio statt, wo 30.000 Amerikaner an Land gingen. Am 30. Januar konnte ein weiteres Bataillon in der Subic-Bucht die Insel Grumble einnehmen und andere Einheiten Grande Island. Die 11. US-Luftlandedivision wurde am 31. Januar südwestlich der Bucht von Manila bei Nasugbu an Land gesetzt. Japanische U-Boote versuchten die Landungen zu stören, konnten jedoch nur kleinere marginale Erfolge erzielen.
Von Ende Januar bis Mitte Februar griffen amerikanische Bomberstaffeln täglich Iwojima an, um die Landungsoperationen dort vorzubereiten. Die komplett abgeworfene Bombenlast in dieser Zeit betrug etwa 6800 t.
Ab dem 4. Februar begann der Befreiungskampf um Manila in deren Außenbezirken. Bei den Kämpfen verübten die Japaner auf Anweisung aus Tokio während der letzten drei Februarwochen das Massaker von Manila, bei dem etwa 111.000 Zivilisten ermordet wurden.
Die Task Force 58 startete am 10. Februar zu einem ersten Trägergroßangriff gegen Tokio und zur Unterstützung der Iwojima-Landungen. Etwa 125 Seemeilen südlich der Stadt hoben am 16. Februar die Jagdmaschinen von den Flugzeugträgern ab, um die japanische Abwehr auszuschalten. Danach starteten die Bomber, um insbesondere Flugzeugfabriken im Raum Tokio anzugreifen, was aber durch die schlechte Wetterlage kaum gelang. Einen Tag später wurden die Attacken fortgeführt und auch auf Ziele bei Yokohama ausgedehnt. Nach dem erfolgten Rückzug nach Süden teilte sich die Task Force auf. Einige Schlachtschiffe und Kreuzer fuhren zur Artillerieunterstützung nach Iwojima, während die anderen Einheiten auf See gewartet und dann für neue Aufgaben weiter aufgeteilt wurden. Die Trägerflugzeuge flogen am 25. Februar weitere Angriffe gegen Tokio, die aber ebenfalls durch die Schlechtwetterlage stark beeinträchtigt wurden. Artillerieangriffe richteten sich danach auf Okinawa und Iwojima.
An der Südspitze Bataans bei Mariveles gelang die Anlandung von 5300 amerikanischen Soldaten. Einen Tag danach sprangen Fallschirmjäger über Corregidor ab und ein amerikanisches Bataillon landete auf der Insel. Die Kämpfe dauerten bis zum 26. Februar. Danach wurde die Insel als gesichert erklärt. Mit Corregidor hatten die Amerikaner ein wichtiges Symbol der einstigen Niederlage auf den Philippinen zurückerobert.
Iwojima und Okinawa
Zur Vorbereitung der Landungen auf Iwojima begannen ab dem 16. Februar sechs Schlachtschiffe, fünf Kreuzer und 16 Zerstörer mit dem Artilleriebeschuss der Strände und japanischen Positionen auf der Insel. Die Aktionen wurden von zehn Geleitträgern und deren Zerstörersicherung gedeckt. Flugzeuge dieser Träger wurden immer wieder gegen japanische Küstenbatterien und die drei Flugfelder eingesetzt. Die Japaner konnten einige Treffer auf den großen Schiffen erzielen.
Die Landungen auf Iwojima unter dem Kodenamen Operation Detachment fanden am 19. Februar statt. Der Artilleriebeschuss von den Schiffen wurde weiter ins Inselinnere verlegt, als 30.000 Soldaten an Land gingen. Während der Schlacht um Iwojima wurde die Insel von den Japanern bis auf den letzten Mann heftigst verteidigt. Sie zogen sich in die vorbereiteten, gut ausgebauten Höhlenverstecke zurück, wo Waffen vom schwersten Schiffsgeschütz bis zu Handfeuerwaffen untergebracht worden waren. Die Amerikaner mussten in mühevollem Nahkampf mit Handgranaten und Flammenwerfern nach und nach jede einzelne Stellung erobern. Am 21. Februar erfolgte ein überraschender Kamikazeangriff auf die vor der Küste liegenden Schiffe, bei dem ein Geleitträger versenkt und drei weitere beschädigt wurden. Die Kämpfe auf der Insel, die auf japanischer Seite etwa 20.800 Tote und auf amerikanischer Seite rund 7.000 Tote kosteten, dauerten bis zum 26. März. Erst dann konnte die Insel als sicher erklärt werden. Iwojima war für den Rest des Krieges einer der wichtigsten Stützpunkte der US Army Air Force, die bereits am 6. März die erste B-29 auf der Insel landete. Ende März diente Iwojima schon 36 Bombern als Basis für die Angriffe auf die japanischen Hauptinseln.
Die japanische Armee entwaffnete nach dem Fall des Vichy-Regimes und der vollständigen Befreiung Frankreichs in Europa am 9. März die französischen Truppen in Indochina und installierte dort eine Marionetten-Regierung.
In den frühen Morgenstunden des 10. März wurden schwere Luftangriffe auf Tokio geflogen. 334 B-29-Bomber der Twentieth Air Force warfen etwa 2000 t Brandbomben auf ein Gebiet der Stadt ab, das etwa 7/10 der Fläche von Manhattan entsprach, rund 44 km², in dem sich Fabriken und Docks befanden, aber hauptsächlich die hölzernen Wohnungen der Arbeiter. Der Angriff dauerte etwa 2,5 Stunden und löste einen gewaltigen Feuersturm aus, in dem fast 100.000 Menschen starben. Andere Quellen sprechen sogar von 150.000 Toten. Dies war der größte und blutigste Luftangriff in der Geschichte der Menschheit bis heute.
Die am 14. März von Ulithi ausgelaufene Task Force 58 begann am 18. März vor Japan liegend mit Attacken gegen Flugplätze auf Kyūshū. Die Japaner wehrten sich mit Kamikaze-Gegenangriffen, bei denen ein amerikanischer Flugzeugträger in Brand geriet und zwei andere beschädigt wurden. Einen Tag danach starteten die Amerikaner Angriffe gegen Kure. Dort lagen mehrere japanische Flugzeugträger, Schlachtschiffe, Kreuzer und Zerstörer vor Anker. Viele trugen Beschädigungen davon. Wiederum gelang es den Japanern im Gegenzug, zwei amerikanische Träger in Brand zu setzen. Bei weiteren Attacken gegen die ablaufende Task Force setzten die Japaner auch Ōka-Bomben ein.
Nach einem kurzen Tankaufenthalt drehten die Einheiten der Task Force 58 nach Süden ab, um zu den Ryūkyū-Inseln zu laufen. Hier begannen am 23. März die laufenden Schiffsartilleriebeschüsse und Luftangriffe zur Vorbereitung der Landung auf Okinawa. Unterstützung erhielt sie dabei zwei Tage später von der britischen Pazifikflotte, die den Raum südlich der Insel abdeckte und weiteren US-Task Groups, die unter anderem die Kampfschwimmergruppen brachten, die ab dem 25. März mit der Räumung von Unterwasserhindernissen begannen. Die Japaner reagierten mit Luftangriffen aus dem Raum Formosa und von Kyūshū. Kamikazefliegern gelangen einige Treffer auf kleineren Einheiten, jedoch wurde am 30. März das Flaggschiff der Task Force 58 schwer getroffen.
Zur Behinderung des japanischen Schiffsverkehrs starteten am 27. März in der großangelegten Operation Starvation B-29-Bomber 1529 Einsätze von Tinian, um die Fahrgewässer von Shimonoseki, Kure, Hiroshima, Fukuoka, Kōbe, Osaka, Nagoya, Tokio, Yokohama, sowie etlichen anderen Hafenstädten auf den japanischen Inseln zu verminen. Ebenso wurden Häfen in Korea vermint. Die Amerikaner verloren dabei 15 Maschinen, 102 Einsatzflüge wurden abgebrochen und die Maschinen kehrten vor dem Abwurf ihrer Minen um. Insgesamt konnten 12.135 Minen abgesetzt werden. Von diesen wurden 222 Handelsschiffe mit 511.539 BRT versenkt. Das war der finale Schlag in der Seeblockade Japans.
Am 1. April landete die 10. US-Armee in der Operation Iceberg auf Okinawa, das von den Japanern vehement verteidigt wurde. Zusammen mit den Reserveeinheiten setzten die Amerikaner 451.866 Soldaten auf der Insel ab. Wie bereits bei der Eroberung von Iwojima bombardierte die US-Schiffsartillerie auch bei den hiesigen Landungen weiter das Hinterland. Die Japaner zogen sich in die vorbereiteten Höhlensysteme der Insel zurück, um von dort aus in Guerillakämpfen die US-Truppen anzugreifen. Die vor der Küste liegenden Schiffe wurden immer wieder zum Ziel von Kamikazefliegern und Ōka-Bomben, wobei ein britischer Flugzeugträger beschädigt wurde. Die japanischen Küstenbatterien konnten am 5. April an einem amerikanischen Schlachtschiff fünf Treffer anbringen. Einen Tag später begannen die Japaner die Operation Kikusui I, ein Großangriff gegen die vor Okinawa liegende Landungsflotte. Dazu starteten 198 Kamikazes von Kyūshū, von denen 67 bis zu den Schiffen durchdringen konnten. Von den 27 teilweise mehrfach getroffenen Schiffen sanken zwei Zerstörer, ein Landungsschiff und zwei Munitionstransporter. Fünf Schiffe waren irreparabel beschädigt und weitere 17 konnten trotz ihrer Schäden weiter eingesetzt werden. Am Folgetag startete eine zweite Welle von 54 Kamikazes, von denen nur wenige durchdringen konnten. Trotzdem gelang es ihnen, ein Schlachtschiff und einen Zerstörer schwer und vier andere Schiffe leicht zu beschädigen.
Im Verlauf der Kämpfe um Okinawa wurde das letzte große Schlachtschiff der japanischen Marine, die Yamato, im Rahmen der Operation Ten-gō zu einer Kamikazeaktion berufen. Das Schiff erhielt den Befehl, nach dem Kampf mit der amerikanischen Landungsflotte auf den Strand von Okinawa aufzulaufen; nach dem Verschuss der Munition sollte sich die Besatzung dann den Heerestruppen auf der Insel im Abwehrkampf anschließen. Durch einen amerikanischen Luftangriff von 386 Trägerflugzeugen am Nachmittag des 7. April wurde die Yamato zusammen mit fünf Begleitschiffen im ostchinesischen Meer versenkt. Die verlustreiche Eroberung von Okinawa zog sich bis zum 21. Juni hin.Während die britische Asienflotte in der Operation Sunfish mit Schlachtschiffen, Kreuzern und Zerstörern, gedeckt von Trägerflugzeugen, am 11. April Ziele in Sabang, Padang und Emmahaven angriff, bereiteten die Amerikaner die Übergabe einiger ihrer Schiffe an die sowjetische Pazifikflotte vor. Seit dem 5. April hatte die Sowjetunion den sowjetisch-japanischen Neutralitätsvertrag aufgekündigt und war bereit, mit den Amerikanern im pazifischen Konfliktraum zusammenzuarbeiten. Mitte April begann in der Cold Bay an der Südspitze Alaskas, wo auf fünf Dampfern etwa 2400 sowjetische Marineangehörige eingetroffen waren, die Ausbildung auf amerikanischen Minensuchern (→ Operation Hula). Dies waren die ersten Vorbereitungen zu einer Invasion der japanischen Hauptinseln (→ Operation Downfall).
Bei einem großangelegten Kamikazeangriff (→ Operation Kikusui III) am 16. April auf die Landungsflotte vor Okinawa flogen 126 japanische Flugzeuge und sechs Ōka-Bomber ein. Sie konnten einen Zerstörer versenken und drei weitere so schwer beschädigen, dass sie nicht mehr repariert werden konnten. Ein Flugzeugträger wurde schwer, ein Schlachtschiff und ein Geleitzerstörer leicht beschädigt. Die Kamikazeangriffe wurden auch an den Folgetagen fortgesetzt, aber mit deutlich weniger Maschinen.
Der Weg zur japanischen Kapitulation
Zur Landung auf Tarakan wurde ab dem 27. April die Südküste von alliierten Schiffen unter Feuer genommen. Die Operation Oboe startete am 1. Mai mit der Anlandung von 28.000 australischen Soldaten.
Am 1. Mai landeten britische Truppen im Rahmen der Operation Dracula bei Rangun in Burma. Die Operation Bishop, bei der britische Träger, Schlachtschiffe, Kreuzer und Zerstörer Port Blair und Car Nicobar in den Andamanen und Nikobaren beschossen, diente zur Deckung. Da Rangun bereits vorher von den Japanern geräumt worden war, besetzten die Briten die Stadt am 3. Mai ohne Gegenwehr. Westlich des Flusses Irrawaddy konnten sich allerdings noch kleinere japanische Widerstandsnester halten.
Die US Army Air Force begann am 3. Mai mit der Fortsetzung der Verminung japanischer Industrieanlagen zu deren Blockade. Auf diesen Minen verloren die Japaner bis Ende des Monats mehr als 50 Schiffe. Die meisten waren kleinere Handelseinheiten, nur ein Minensucher sank. Viele Kriegs- und Handelsschiffe erlitten Beschädigungen.
Nach der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai erklärte Japan sich entschlossen, allein gegen die Alliierten weiterzukämpfen. Zwar regten sich unter den Militärs und im Besonderen im Parlament erste Stimmen, die über eine frühzeitige Kapitulation sprachen, doch das Gros der Führungsspitze bereitete bereits die Verteidigung des Landes bis zum letzten Mann vor.
Die britischen Trägerflugzeuge flogen zur Abwehr der Kamikazeflieger, die immer wieder die vor Okinawa liegenden Schiffe angriffen, Luftangriffe auf Flugplätze in Sakashima-Gunto und Kyūshū, denen sich kurz darauf amerikanische Flugzeugträger mit ihren Maschinen anschlossen. Die am 10. Mai begonnene japanische Großoffensive Kikusui VI wurde mit 150 Kamikazefliegern gestartet. Dabei wurde am 11. Mai ein amerikanischer Flugzeugträger sehr schwer beschädigt. Beim Abzug der Task Force traf ein Kamikazeflieger einen weiteren Träger schwer. Bei folgenden Kikusui-Operationen am 24., 25., 27., 28. und 29. Mai verloren die Amerikaner acht Schiffe. Etliche andere wurden beschädigt, konnten aber weiterhin eingesetzt werden.
Auf Wewak, Papua-Neuguinea, gingen am 11. Mai 623 Australier an Land, um die Halbinsel einzunehmen. Ihnen folgte am 14. Mai eine weitere australische Division zur Eroberung des Flughafens. Die Halbinsel konnte am 23. Mai als gesichert angesehen werden.
Zwischen dem 17. und 26. Mai überließen die USA der Sowjetunion im Rahmen des Abkommens zur Operation Hula 17 Minensucher und sechs U-Boot-Jäger, die der sowjetischen Pazifikflotte zugeteilt wurden. Anfang Juni bis Mitte Juni folgten 13 weitere U-Boot-Jäger, ein Minensucher und zwei Landungsboote. Ebenfalls Mitte Juni trafen mehr als 1100 Marinesoldaten der UdSSR zur Ausbildung auf Fregatten in Cold Bay ein.
In einem schweren Taifun am 6. Juni wurden acht Flugzeugträger, drei Schlachtschiffe, sieben Kreuzer, 14 Zerstörer und kleinere Einheiten beschädigt. Einige davon so schwer, dass sie aus dem Einsatz genommen werden mussten. Am 9. Juni landeten Marines auf der Insel Aguni-jima.
In der Fortführung der Operation Oboe setzten Schiffe am 10. Juni nach vorherigem Artilleriebeschuss fast 30.000 australische Soldaten in der Brunei-Bucht ab.
Die Briten führten am 14. Juni mit 48 Seafires, 21 Avengers und elf Fireflies einen Trägerangriff zur Neutralisierung der japanischen Einheiten auf Truk durch (→ Operation Inmate), der am nächsten Tag noch einmal wiederholt wurde. Zusätzlich beschossen sie mit angelaufenen Kampfschiffen das Atoll.
Zur Einnahme der Ölfelder und Ölraffinerien bei Balikpapan auf Borneo, die von den Japanern gehalten wurden, begannen Mitte Juni die Minenräumarbeiten vor der Küste. Am 24. Juni begannen die Unterwasserarbeiten zur Entfernung der ausgelegten Landungshindernisse. Kurz darauf wurde die Beschießung der Landungszonen durch Kreuzer und Zerstörer aufgenommen, nach der ab dem 1. Juli in der Fortsetzung der Operation Oboe fast 33.500 australische Infanteristen an Land gingen. Die Einnahme des Flugfeldes und der Ölfelder war am 4. Juli abgeschlossen.
Die Task Force 38 flog mit 1022 Flugzeugen am 10. Juli wieder Großangriffe auf Tokio und die umliegenden Luftbasen. Vier Tage später wurden mit 1391 Maschinen weitere Ziele auf dem Norden der Insel Honshū und dem Süden von Hokkaidō angegriffen. Am selben Tag beschossen die mit angelaufenen Schlachtschiffe, Kreuzer und Zerstörer erstmals direkt Ziele auf den japanischen Hauptinseln. Dazu gehörten die Stahl- und Eisenwerke von Kamaishi sowie am Folgetag die Stahl- und Eisenwerke von Muroran. Tokio und Yokohama waren wieder die Angriffsziele am 17. und 18. Juli, wobei ein großes japanisches Schlachtschiff schwer beschädigt wurde. Bei einem Nachtangriff, der zusammen mit britischen Einheiten durchgeführt wurde, bombardierte die Schiffsartillerie die Industrie bei Hitachi, nördlich von Tokio und in der nächsten Nacht wichtige Radarposten bei Cap Nojima im Südosten Tokios.
In der Fortführung der Operation Hula übergaben die USA der Sowjetunion von Mitte bis Ende Juli zehn Fregatten, sechs Minensuchboote, zwölf Minenräumboote, einen U-Boot-Jäger und 15 Landungsboote.
Von Okinawa aus wurden von der Task Force 95 erstmals Angriffe auf den Schiffsverkehr im Chinesischen Meer und im Gelben Meer unternommen. Der Erfolg zwischen dem 16. und 23. Juli war aber zunächst nur mäßig. Ein Zerstörer wurde bei Kamikazeangriffen versenkt und zwei weitere teilweise schwer beschädigt.
Als ein Ergebnis während der Potsdamer Konferenz stellten die Alliierten Japan ein Kapitulationsultimatum und die Sowjetunion versprach, drei Monate nach dem Kriegsende in Europa im Pazifikraum aktiv zu werden. Der japanische Premierminister Suzuki Kantarō lehnte das Ultimatum am 27. Juli ab.
Um den Druck auf das japanische Militär, die Regierung und auch auf die Bevölkerung zu erhöhen, wurden Ende Juli die Angriffe auf Japan noch weiter verstärkt, während die US-Führungsspitze die Operation Downfall im Hintergrund weiter vorbereitete. Dazu wurden immer mehr neue und auch wieder in Stand gesetzte Schiffe aller Klassen von Stützpunkten an der amerikanischen Westküste und Pearl Harbor in Richtung Japan in Fahrt gesetzt. Weitere Einheiten wurden vom europäischen Kriegsschauplatz in den Pazifikraum verlegt. Die Nachtangriffe vor allem auf die Inlandsee bei Kure und Kōbe führten zur Versenkung von weiteren großen japanischen Kriegsschiffen oder deren totaler Beschädigung. Dazu beschossen amerikanische Schiffe auch wieder Produktionsstätten für Kriegsmaterial, speziell die Flugzeugfabriken bei Hamamatsu.
Am 28. Juli fand der letzte erfolgreiche Kamikazeangriff des Pazifikkriegs statt. Ein US-Zerstörer konnte dabei vor Okinawa versenkt werden.
Schwere Luftangriffe der US Air Force mit B-29-Bombern auf Hafenstädte Japans führten am 1. August zu schweren Schäden an den Hafenanlagen von Nagasaki.
Einsatz der Atombombe und die japanische Kapitulation
Die militärische Führung entschloss sich, Präsident Harry S. Truman die Zusage für einen Einsatz der im Trinity-Test erfolgreich gezündeten neuen Atombombe abzuringen. Obwohl viele der an der Entwicklung beteiligten Wissenschaftler von einem Einsatz abrieten, gab Truman nach vorausgegangenem Zögern doch seine Einwilligung. Die Vorbereitungen dazu liefen ab dem 24. Juli an, zwei Tage vor dem Potsdamer Ultimatum an Japan.
Als Ziele für den Abwurf ab dem 3. August waren vier mögliche Städte vorgesehen: Hiroshima, Kokura, Niigata und Nagasaki. Hiroshima wurde als Primärziel ausgewählt, da hier kriegswichtige Produktionsanlagen und stationierte japanische Divisionen getroffen werden konnten. Weiterhin konnte hier auch ein großer psychologischer Effekt erzielt werden. Sollte die Kapitulation Japans nicht innerhalb von drei Tagen erfolgen, sollte die zweite Bombe auf das nächste Ziel abgeworfen werden.
Um 8:16 Uhr (8:15 Uhr und 17 Sekunden) Ortszeit am 6. August detonierte die vom Bomber Enola Gay der 509th Composite Group abgeworfene Atombombe Little Boy in 580 m Höhe über Hiroshima. Zwischen 90.000 und 200.000 Menschen waren sofort tot und 80 % der Stadt zerstört.
Drei Tage darauf wurde am 9. August der zweite Atombombenabwurf durchgeführt. Als Ziel war die Stadt Kokura vorgesehen, aufgrund dichter Bewölkung wurde aber nach drei erfolglosen Anflügen das Ausweichziel Nagasaki angegriffen. Die Bombe wurde um 11:02 Uhr mehrere hundert Meter abseits des geplanten Abwurfpunkts auf dicht bewohntes Gebiet abgeworfen, eigentlich war ein Direktangriff auf die Mitsubishi-Rüstungsbetriebe angedacht. Die Explosion in etwa 470 Metern Höhe über dem Boden vernichtete im Umkreis von einem Kilometer 80 % der Gebäude, etwa 75.000 Menschen starben an den Direktfolgen der Explosion.
Zwischenzeitlich hatte auch die Sowjetunion Japan am 8. August den Krieg erklärt und begann einen Tag später die sowjetische Invasion der Mandschurei. Den Sowjets schlossen sich die Rotchinesen mit der 4. und 8. Revolutionsarmee an, die einige Städte besetzten. Die sowjetische Pazifikflotte wurde aufgestellt und unmittelbar mit der Verminung von Schifffahrtswegen vor der eigenen Küste zur Verteidigung begonnen. Zwei Tage später landete ein sowjetischer Verband an der Ostküste Koreas.
Unterdessen liefen die Luftangriffe auf die japanischen Hauptinseln von den amerikanischen und britischen Flugzeugträgern weiter. Ziele waren Honshu und Hokkaido sowie die Hauptstadt Tokio. Am 14. August befanden sich noch einmal 828 B-29-Bomber im Einsatz gegen japanische Städte, die, begleitet von P-51-Jägern, von Iwojima aus operierten. Am 15. August berief die militärische Führung der USA eine gerade gegen Tokio gestartete Staffel zurück, um die Kampfhandlungen einzustellen. Nicht alle Maschinen empfingen den Funkspruch und es entwickelten sich die letzten heftigen Luftkämpfe mit japanischen Kamikazefliegern.
Die japanische Regierung kündigte am 14. August die Annahme des gestellten Ultimatums an. Einen Tag später (→ V-J-Day) um 12:00 Uhr mittags wurde eine am Vortag aufgezeichnete Rede von Kaiser Hirohito im Radio ausgestrahlt, in der er allen japanischen Streitkräften den Befehl zur Feuereinstellung erteilte. Ein befürchteter Massenselbstmord, besonders auf der japanischen Führungsebene, blieb aber aus. Es wurde mit etwa einer Woche gerechnet, bis sich die Kapitulation bei allen kämpfenden japanischen Einheiten in den verschiedenen Ländern herumgesprochen hatte.
Sowjetische Soldaten besetzten mit einigen Verbänden ab dem 16. August den Süd-Sachalin und ab dem 19. August die nördlichen Kurilen.
Generalissimus Chiang Kai-shek forderte am 19. August alle japanischen Truppen auf, sich den national-chinesischen Einheiten zu ergeben. Gleichzeitig erging sein Befehl an die rotchinesischen Soldaten, die Kampfhandlungen einzustellen. Letzterer wurde aber von den Truppen unter Mao Zedong nicht beachtet, sodass es zu keiner Kapitulation der Japaner kam. Die Bürgerkriegskämpfe zwischen national- und rotchinesischen Einheiten gingen weiter. Erst nachdem die national-chinesische 6. Armee am 25. August Nanking besetzt hatte, konnten sich die etwa eine Million Japaner ergeben. Am 9. September wurde in Nanking der Kapitulationsvertrag unterzeichnet. Im Bergland der Mandschurei saßen allerdings noch etwa 15.000 japanische Soldaten zwischen den Fronten des Bürgerkriegs fest. Sie hielten sich vollständig aus den Kämpfen heraus und blieben bis zu ihrer endgültigen Kapitulation Ende 1948 in ihren Verstecken.
Zur Sicherung des Waffenstillstands flogen die Trägerflugzeuge der Task Force 38 täglich Patrouillen über den japanischen Inseln. Ihre zweite Aufgabe bestand darin, Kriegsgefangenenlager auszumachen und zu kartografieren. Die Trägerflotte selbst lief am 27. August mit 22 Flugzeugträgern, 14 Schlachtschiffen, 23 Kreuzern, 123 Zerstörern und zwölf U-Booten in die Sagami-Bucht vor Tokio ein. Eine erste kleinere Einheit amerikanischer Soldaten sicherte am 28. August den Atsugi-Flughafen bei Tokio. Ihnen folgte zwei Tage später in einem Luftlandeunternehmen die 11. US-Luftlandedivision, die den Flughafen und den Hafen von Yokohama besetzte. Am späten Nachmittag landeten der Oberbefehlshaber der 8. US-Armee Generalleutnant Robert L. Eichelberger und der Oberste alliierte Befehlshaber Armeegeneral Douglas MacArthur auf dem Flughafen von Atsugi. Etwa zur gleichen Zeit übergaben die Japaner ihren Marinestützpunkt in Yokosuka an die Alliierten.
Am 2. September wurde auf dem US-Schlachtschiff Missouri in der Sagami-Bucht der Pazifikkrieg und damit auch der Zweite Weltkrieg mit der Unterzeichnung der japanischen Kapitulationsurkunde beendet. Japan wurde in der Operation Blacklist von US-Truppen besetzt. In Korea sollte der 38. Breitengrad die Grenze zwischen dem Besatzungsgebiet der USA im Süden einerseits und demjenigen der Sowjets im Norden andererseits bilden.
In der Operation Magic Carpet brachten die Amerikaner vom 6. September bis zum März des folgenden Jahres ihre Truppen wieder zurück ins Heimatland. Dazu wurden alle verfügbaren Schiffe im Pazifikraum benutzt.
Kriegsauswirkungen
Die Besatzungseinheiten auf den japanischen Inseln bestanden faktisch nur aus US-Truppen. Wichtigstes Projekt der Besatzungsregierung, deren Chef als „SCAP“ (Supreme Commander for the Allied Powers) General Douglas MacArthur wurde, war die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Sie wurde am 3. November 1946 verkündet. In ihr wurden alle Punkte der Potsdamer Erklärung umgesetzt. Außerdem verzichtete der Kaiser in der Verfassung auf seinen göttlichen Status.
Kriegsverbrechen
In den am 3. Mai 1946 begonnenen Tokioter Prozessen wurden die führenden japanischen Militärs und Politiker der Kriegszeit angeklagt, insbesondere der Ministerpräsident und Generalstabschef General Tōjō Hideki. Er und sechs andere Angeklagte wurden bei der Urteilsverkündung am 12. November 1948 zum Tode verurteilt. Rund 20 andere wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, die meisten davon allerdings 1955 entlassen, als Japan die Souveränität wiedererlangte. Weitere Prozesse fanden in Manila auf den Philippinen und in China statt. Letztere wurden als Nankinger Kriegsverbrecher-Tribunale bekannt (→ Kriegsverbrecherprozesse in China). Dabei untersuchten die Chinesen 650 Fälle, von denen 504 in 13 Verhandlungen zur Anklage kamen. 149 Japaner wurden zum Tode verurteilt. Der umstrittene Yasukuni-Schrein in Tokio enthält alle Seelen der Japaner, die „ihr Leben für das Vaterland gegeben haben“. 1978 beschloss das Parlament, auch die Seelen der hingerichteten japanischen Kriegsverbrecher aufzunehmen. Seitdem gibt es immer wieder Proteste besonders aus China und Korea, wenn japanische Amtsträger den Schrein besuchen. Dabei wird vor allem die Aufnahme der „Klasse-A“-Kriegsverbrecher verurteilt.
Beginn des Kalten Kriegs
Noch während der letzten Monate der Kriegshandlungen hatte der Kalte Krieg zwischen den Supermächten Sowjetunion und USA begonnen. Auch die aufstrebende Macht des kommunistischen China spielte eine weitreichende Rolle, die sich beispielsweise in der Teilung Koreas zeigte.
Die Sowjetunion verwaltete Nordkorea und die Insel Sachalin, die Vereinigten Staaten und Großbritannien Südkorea und Japans verbleibenden Besitz im Pazifik. Japan selbst wurde ab dem Ende des Pazifikkriegs von alliierten Truppen besetzt. Das Ende der alliierten Besatzung Japans wurde im Friedensvertrag von San Francisco festgelegt, der am 8. September 1951 unterzeichnet wurde. Mit seinem Inkrafttreten am 28. April 1952 war Japan wieder ein unabhängiges Land. Mit Ausnahme der Amami-Inseln, die 1953 an Japan zurückgegeben wurden, standen allerdings die Ryūkyū-Inseln für weitere 20 Jahre formell unter Treuhandschaft der USA. In einer Volksabstimmung im Jahr 1971 sprach sich eine Mehrheit der Bevölkerung für den Wiederanschluss an Japan aus. Im Jahr 1972 wurde die Souveränität über die Ryūkyū- und die unbewohnten Senkaku-Inseln an Japan zurückgegeben. Mit der Volksrepublik China schloss Japan im Jahr 1978 einen Friedensvertrag. Friedensverhandlungen mit der Sowjetunion (und ab 1991 mit Russland) sind immer wieder an offenen Fragen gescheitert (→ Kurilenkonflikt).
Cargo-Kult
Eine Nebenwirkung des Pazifikkriegs war das vermehrte Aufkommen des Cargo-Kults bei den Naturvölkern der Pazifikinseln, vor allem auf Papua-Neuguinea. Er resultierte aus dem massenhaft von den Amerikanern und Japanern auf die Inseln abgeworfenem Kriegsmaterial (Fertigkleidung, Konservennahrung, Zelte, Waffen und andere Ware) und brachte drastische Änderungen des Lebensstils der Inselbewohner mit sich.
Opferzahlen
Wie bei allen größeren Konflikten ist es schwierig, konkrete Opferzahlen anzugeben. Die Angaben der Historiker und selbst der offiziellen Stellen der einzelnen Länder weisen dabei teils erhebliche Schwankungen auf.
Die meisten Toten waren in China zu beklagen. Dabei muss beachtet werden, dass in den letzten Kriegsmonaten auch der interne Konflikt zwischen Rot- und Nationalchinesen zu verlustreichen Kämpfen auf beiden Seiten führte. Insgesamt starben 4.000.000 Soldaten, und die Verluste unter der Zivilbevölkerung, unter der die Japaner mehrere Massaker anrichteten, beliefen sich auf rund 10.000.000 Menschen.
Die Japaner verloren ungefähr 1.200.000 Soldaten und etwa 500.000 Zivilisten, die meisten bei den beiden Atombombenabwürfen und bei der konventionellen Bombardierung Tokios am 9. März 1945.
Die Alliierten (Briten, Inder, Australier, Neuseeländer, Niederländer) verzeichneten etwa 150.000 Tote und die USA etwa 130.000 Tote im Pazifikraum. Die Verluste der Kriegsgefangenen unter japanischer Bewachung sind eingerechnet.
Des Weiteren gab es auch unzählige zivile Opfer unter den Einheimischen vieler Pazifikinseln, die bei den Invasionen, Verschleppungen und Rückeroberungen starben.
Ökonomische Betrachtung
Zwar besaßen die Japaner zu Beginn des Pazifikkriegs die am besten durchstrukturierte und schlagkräftigste Flotte weltweit, doch war die Kaiserlich Japanische Marine im Verlauf des Krieges der amerikanischen Übermacht nicht mehr gewachsen. Dies hatte im Wesentlichen ökonomische Gründe.
Mit dem rund siebzehnfachen Staatshaushalt, einer Stahlproduktion, die die japanische um das Fünffache übertraf und einer siebenmal höheren Kohleproduktion waren die Produktionskapazitäten der USA denen Japans weit überlegen. Dazu kamen modernere und effektivere Produktionsstätten. So war die Pro-Kopf-Produktivität der Amerikaner zu dieser Zeit die höchste weltweit. Die nebenstehende Tabelle zeigt die Schiffsproduktionen der Amerikaner und Japaner im Verlauf des Pazifikkriegs. Daraus wird deutlich, dass gegen Ende des Krieges die Materialüberlegenheit der USA erdrückend war. Nicht berücksichtigt dabei sind die vor Kriegsausbruch vorhandenen Flotteneinheiten und die Kriegsverluste an Schiffen.
Das Ungleichgewicht in der militärischen Produktivität war den Japanern bereits vor dem Überfall auf Pearl Harbor bekannt. Die japanische Militärführung ging daher in der gesamten Planung davon aus, ein kurzfristiges „Fenster der Verwundbarkeit“ auf Seiten des US-Militärs ausnutzen zu können. Der US-Senat hatte noch in Friedenszeiten eine Aufrüstung der Marine in einem Umfang beschlossen, der die Marine Japans allein durch die Anzahl der hergestellten Kriegsschiffe deklassiert hätte. Während Japans Streitkräfte besonders zu Beginn des Krieges oftmals technologisch überlegen waren, beispielsweise bei Flugzeugen oder U-Booten, überholten die USA Japan im Laufe des Krieges in vielen entscheidenden Bereichen, beispielsweise im Bereich der wichtigen Radar-Technologie.
Soldatenfriedhöfe und Gedenkstätten
USA
Die folgenden Friedhöfe und Denkmäler wurden großteils von der seit 1923 bestehenden American Battle Monuments Commission errichtet und werden seither von dieser Organisation verwaltet und gepflegt.
USS Arizona Memorial
Die Gedenkstätte USS Arizona Memorial überspannt das Wrack der am 7. Dezember 1941 gesunkenen USS Arizona. Sie markiert die Ruhestätte der 1102 von 1177 Soldaten, die beim Untergang der USS Arizona ums Leben kamen.
Die Stätte wurde 1962 eingeweiht und 1980 eröffnet. Es überspannt das Wrack, ohne es zu berühren. Am 5. Mai 1989 wurde das Wrack zur National Historic Landmark ernannt. Es wird jährlich von mehr als 1 Million Besuchern besucht.
Manila American Cemetery and Memorial
Die amerikanische Gedenkstätte und der Soldatenfriedhof liegen etwa zehn Kilometer südöstlich von Manila entfernt. Die Stätte grenzt an das Fort Bonifacio, das ehemalige US-Fort William McKinley.
Der 61,5 ha große Bereich beherbergt die größte US-Gräberstätte des Zweiten Weltkriegs. Hier liegen 17.206 Soldaten begraben. Die meisten von ihnen kamen während des Einsatzes in Neuguinea und auf den Philippinen ums Leben.
In der steinernen Kapelle befinden sich 25 Mosaikkarten, welche die erfolgreich beendeten Einsätze der Amerikaner im Pazifikraum, China, Indien und Burma dokumentieren. Auf einer großen Kalksteintafel sind die Namen von 36.285 Vermissten aufgeführt.
Honolulu Memorial
Die Honolulu Gedenkstätte ist Bestandteil des National Memorial Cemetery of the Pacific und liegt in einem kleinen externen Vulkankrater nahe dem Stadtzentrum von Honolulu auf Oʻahu, Hawaii. Dort befinden sich die Namen von 18.096 Vermissten des Pazifikkriegs, ohne die des Südwestpazifiks (s. o.). Zusätzlich sind dort die Namen von 8196 Vermissten des Koreakriegs und 2504 Vermisste des Vietnamkriegs eingraviert.
Auch hier finden sich Mosaikkarten der amerikanischen Erfolge im Pazifik. Dazu ebenfalls solche aus dem Korea- und Vietnamkrieg.
Guadalcanal American Memorial
Die oberhalb der Hauptstadt der Salomonen, Honiara, gelegene Gedenkstätte wurde gemeinsam von der American Battle Monuments Commission und der Guadalcanal-Solomon Islands Memorial Commission erbaut. Sie erinnert an die Gefallenen der USA und deren Alliierten während der Schlacht vom 7. August 1942 bis zum 9. Februar 1943.
Die Gedenkstätte besteht aus einer quadratischen Säule, deren Kantenlänge etwa 1,2 m und deren Höhe ca. 7,3 m ist. Auf der Säule ist eine Inschrift eingraviert.
Vier Wände, die auf die Hauptkampforte der Salomonen ausgerichtet sind beinhalten die Namen der Schlachten sowie Listen der dort verlorenen US-Schiffe und Schiffe der Alliierten.
Saipan American Memorial
Oberhalb des Hafens von Tanapag auf Saipan wurde von den USA das Saipan American Memorial erbaut. Als Teil eines Erinnerungsparks aufgestellt, werden dort die Amerikaner und die einheimischen Chamorras geehrt, die während der Schlacht um die Marianen gefallen sind. Speziell wird hier der 24.000 Amerikaner gedacht, die bei der Befreiung von Saipan, Tinian und Guam zwischen dem 15. Juni und dem 11. August 1944 ums Leben kamen.
Die Gedenkstätte besteht aus einem etwa 3,6 m hohen rechteckigen Obelisk aus Rosengranit, der in eine Umgebung aus einheimischer Flora eingebettet ist. Etwas nördlich steht ein etwa 7 m hoher Turm mit einem Glockenspiel.
Papua American Marker
Diese Bronzetafel wurde anlässlich des 50. Jahrestages der Ankunft General MacArthurs in Port Moresby, Papua-Neuguinea, am 6. November 1992 in der Kanzlei der örtlichen US-Botschaft enthüllt.
Cabanatuan American Memorial
Dieses Denkmal wurde nach dem Krieg von Überlebenden des Todesmarschs von Bataan und des Cabanatuan Kriegsgefangenenlagers errichtet. Seit 1989 ist die ABMC für deren Verwaltung und Pflege verantwortlich.
World War II Valor in the Pacific National Monument
Am 5. Dezember 2008 proklamierte Präsident George W. Bush das World War II Valor in the Pacific National Monument als organisatorisches Dach für neun bisher unzusammenhängende Gedenkstätten an den Pazifikkrieg in den Bundesstaaten Alaska, Hawaii und Kalifornien. In Alaska wurden drei Standorte auf den Aleuten erfasst, die an die Schlacht um die Aleuten erinnern, in Hawaii wurden bestehende und neue Gedenkstätten im Hafen von Pearl Harbor organisatorisch zusammengefasst und dem National Park Service übergeben. In Kalifornien wurde das größte Lager der Internierung japanischstämmiger Amerikaner als Gedenkstätte ausgewiesen. Mit dem Gesetz John D. Dingell, Jr. Conservation, Management, and Recreation Act, unterzeichnet am 12. März 2019 wurde das National Monument aufgelöst und in drei separate Schutzgebiete aufgeteilt: Das Pearl Harbor National Memorial auf Oahu, Hawaii, das Aleutian Islands World War II National Monument in Alaska und das Tule Lake National Monument in Kalifornien.
Japan
Yasukuni-Schrein
Im Yasukuni-Schrein, einem Shintō-Schrein in Tokio, werden jene Angehörigen des japanischen Militärs als kami und Heldenseelen (, eirei) verehrt, die auf der Seite der kaiserlichen Armeen im Kampf gefallen sind. Dazu gehören auch die Soldaten des Pazifikkriegs, die in Seelenregistern zusammengefasst wurden.
Besonders scharf wird im In- und Ausland kritisiert, dass auch die bei den Kriegsverbrecherprozessen von Tokio zum Tode verurteilten Offiziere sowie auch etwa Angehörige der berüchtigten Einheit 731, die im Krieg in der Mandschurei Experimente mit biologischen Waffen an Kriegsgefangenen und chinesischen Zivilisten durchführte, verehrt werden. Die japanischen Kaiser Hirohito und Akihito haben den Schrein nicht mehr besucht, seit 1979 bekannt wurde, dass im Jahr davor die Kriegsverbrecher der Kategorie A (Verbrechen gegen den Weltfrieden) in die Liste der kami aufgenommen worden waren. Der Schrein selbst bezeichnet in Broschüren und heute auch auf seiner Webseite die Tokioter Prozesse als Schauprozesse und gilt somit als revisionistisch.
Dies gilt auch für das neben dem Schrein stehende Museum Yūshūkan. Hier wird das Selbstopfer für Kaiser und Vaterland als sakrales Opfer dargestellt. Der Tenor des Museums, wie überhaupt der gesamten Schreinanlage, kommt auf einer anlässlich des 40. Jahrestages des Angriffs auf Pearl Harbor enthüllten Bronzetafel zum Ausdruck: „Fast sechstausend Männer starben bei Selbstmordangriffen, deren tragischer Heldenmut kein Beispiel kennt und der die Herzen unserer Feinde vor Angst erstarren ließ. Die ganze Nation hat angesichts ihrer unerschütterlichen Treue und ihrer Selbstaufopferung Tränen der Dankbarkeit vergossen.“
Gedenkstätten in Hiroshima und Nagasaki
Die zerstörte Innenstadt Hiroshimas wurde wieder aufgebaut, nur die zentrale Insel im Fluss Ōta wurde als Friedenspark Hiroshima (Peace Memorial Park, heiwakōen) erhalten. Auf dem Gelände befinden sich eine Reihe von Gedenkstätten, darunter eine Flamme, die erlöschen soll, wenn die letzte Atombombe vernichtet worden ist, der Atombombenkuppel (Gembaku), das Friedensmuseum Hiroshima, das Kinder-Friedensdenkmal, das an Sadako Sasaki erinnert, sowie eine Erinnerungsstätte für die getöteten koreanischen Zwangsarbeiter.
Seit dem 6. August 1947 wird in Hiroshima alljährlich der Opfer des Atombombenabwurfs mit einer großen Gedenkfeier gedacht.
Auch in Nagasaki befindet sich ein Park für den Frieden (Matsuyama-machi), mit einem Monument und mit zahlreichen Skulpturen verschiedener Länder und Partnerstädte, das an die dortigen Opfer des Atombombenabwurfs erinnert. In der Friedenshalle, die wie das Friedensmuseum in Hiroshima als gemeinsames Denkmal für den Frieden und gegen Atomwaffen errichtet wurde, wird in einem Rundgang die Geschichte des Bombenabwurfs und deren Opfer erzählt.
Okinawa Prefectural Peace Memorial Museum
Der Peace Memorial Park auf Okinawa liegt am Südende der Insel. Bestandteil ist das Kriegsmuseum, das den Weg zur Schlacht, die Schlacht selbst und den Wiederaufbau von Okinawa dokumentiert. Einige Kilometer westlich steht das Himeyuri Monument, das an die Schülerinnen des Himeyuri Gakutotai erinnert, die unter den schlimmsten Bedingungen in Lazaretten auf der Insel dienten. Auch die unterirdischen Tunnel des ehemaligen japanischen Marine-Hauptquartiers liegen in der Nähe und können besichtigt werden.
Gedenkstätte und Massengrab der Oka-Einheit auf Guadalcanal
Nahe dem Mount Austen in etwa 14,5 km Entfernung vom Henderson Airfield befindet sich auf dem Hügel 27 eine kleine weiße Säule mit einer Plakette. Sie wurde 1994 von Japanern aus Fukuoka zum Gedenken an die unter dem Befehl von Akinosuke Oka stehenden Infanteristen aufgestellt, die hier im Kampf um die Insel fielen. Auf dem gegenüberliegenden Hügel 31 befindet sich ein Massengrab, in dem 85 japanische Soldaten liegen. Die sterblichen Überreste wurden 1984 von Japanern im Umland ausgegraben und in diesem Grab beigesetzt.
Am Fuß des Hügels 35 befindet sich die 1984 eröffnete japanische Hauptgedenkstätte. Auf einem weißen Sockel steht ein Fischer, der über die weite See schaut. Über seiner Schulter hängt ein Fischernetz. Die Skulptur stellt Seiichi Takahashi, einen dort gefallenen Soldaten dar.
Gedenkstätte bei Isely Field, Saipan
Nahe dem heutigen internationalen Flughafen auf Saipan in den Nördlichen Marianen befindet sich eine japanische Gedenkstätte, die auf Tafeln die Namen der dort gefallenen japanischen Soldaten beinhaltet. Das ehemalige Isely-Flugfeld war ein Kampfschauplatz zwischen den USA und Japan.
China
Erinnerungshalle für das Massaker von Nanking
Für die von den Japanern zu Beginn des Krieges im Dezember 1937 ermordeten rund 300.000 Chinesen wurde 1985 in Nanking eine Halle zu deren Andenken errichtet. Die bekannten Namen der Opfer sind in die sogenannte „Cry-Wall“ eingraviert. Die Halle steht beim Jiangdong-Stadttor, in dessen unmittelbarer Nähe sich ein Massengrab mit rund 10.000 Leichen des Massakers befindet.
Osttimor
Denkmal für die Opfer der japanischen Besetzung Timors
Im Viertel Taibesi der Landeshauptstadt Dili wurde 1946 ein Denkmal aufgestellt zur Erinnerung an die Opfer der japanischen Besatzung. Es besteht aus dem Wappen Portugals, der damaligen Kolonialmacht und zwei gekreuzten Gewehren.
Gemeinsame Gedenkstätten
Japanisch-Amerikanische Gedenkstätte auf Attu
Am 1. Juli 1987 errichteten die Japaner und die USA ein gemeinsames Denkmal auf der Aleuten-Insel Attu. Das 5,5 m hohe Stahlmonument steht auf einer Bergspitze 9,5 km oberhalb der US-Küstenwachtstation. Direkt daneben liegt ein Gedenkstein, der im Jahr 1978 von einem japanischen Privatmann dort platziert wurde.
Siehe auch
Chronologie des Pazifikkrieges
Chronologie des Zweiten Weltkrieges
Literatur
Siehe dazu Portal:Pazifikkrieg/Literaturliste
Filme
Spielfilme
Hacksaw Ridge (Hacksaw Ridge – Die Entscheidung), USA/AUS 2016, von Mel Gibson mit Andrew Garfield, behandelt die Taten von Desmond Doss auf Okinawa.
Letters from Iwo Jima, USA 2006, Regie: Clint Eastwood, Darsteller: Ken Watanabe, Kazunari Ninomiya, u. a.
Flags of Our Fathers, USA 2006, Regie: Clint Eastwood, Darsteller: Ryan Phillippe, Adam Beach, Jesse Bradford, u. a.
The Great Raid (The Great Raid – Tag der Befreiung), USA 2005, Regie: John Dahl, Darsteller: Benjamin Bratt, Joseph Fiennes, James Franco, Marton Csokas, Connie Nielsen u. a. (über die Befreiung von über 500 US-Kriegsgefangenen aus einem japanischen Kriegsgefangenenlager nahe der Stadt Cabanatuan auf der Philippinen-Insel Luzon, deren historisches Vorbild am 30. Januar 1945 stattfand).
Windtalkers, USA 2002, Regie: John Woo, Darsteller: Nicolas Cage, Christian Slater, u. a.
Pearl Harbor, USA 2001, Regie: Michael Bay, Darsteller: Ben Affleck, Jon Voight, Jennifer Garner, u. a.
Snow Falling on Cedars (Schnee, der auf Zedern fällt), USA 1999, Regie: Scott Hicks
The Thin Red Line (Der schmale Grat), USA 1998, Regie: Terrence Malick, Darsteller: Sean Penn, John Cusack, Adrien Brody, u. a.
Midway (Schlacht um Midway), USA 1976, Regie: Jack Smight, Darsteller: Charlton Heston, James Coburn, Henry Fonda, u. a.
Tora! Tora! Tora!, USA 1970, Regie: Richard Fleischer, Kinji Fukasaku, Darsteller: Martin Balsam, Sō Yamamura, Joseph Cotten, u. a.
The Naked and the Dead (Die Nackten und die Toten), USA 1958, Regie: Raoul Walsh, Darsteller: Aldo Ray, Cliff Robertson, Raymond Massey, u. a.
Halls of Montezuma (Okinawa), USA 1951, Regie: Lewis Milestone, Darsteller: Richard Widmark, Jack Palance, Karl Malden, u. a.
Sands of Iwo Jima (Todeskommando Iwo Jima), USA 1949, Regie: Allan Dwan, Darsteller: John Wayne, u. a.
Back to Bataan (Zwei schlagen zurück), USA 1945, Regie: Edward Dmytryk, Darsteller: Anthony Quinn, John Wayne u. a.
They Were Expendable (Schnellboote vor Bataan), USA 1945, Regie: John Ford, Darsteller: Robert Montgomery, John Wayne, Donna Reed, Jack Holt, Marshall Thompson, u. a.
The Purple Heart, USA 1944, Regie: Lewis Milestone, Darsteller: Dana Andrews, Richard Conte, u. a.
The Fighting Seabees (Alarm im Pazifik), USA 1944, Regie: Edward Ludwig, Darsteller: Susan Hayward, John Wayne u. a.
Dokumentarfilme
Spiegel TV – In der Hölle des Pazifik. DVD/VHS, 2002.
National Geographic: Die Schlacht um Midway. DVD/VHS, 2003.
Serie: Pazifikgeschwader 214
„Pazifikgeschwader 214 – Ein Haufen schwarzer Schafe“, 36-teilige amerikanische TV-Serie (Originaltitel „Baa Baa Black Sheep“), zuerst ausgestrahlt in den USA von NBC 1976–1978, in Deutschland von RTLplus 1989.
Miniserie: The Pacific
The Pacific ist eine zehnteilige Miniserie im Stil und von den Machern von Band of Brothers – Wir waren wie Brüder. Die Erstausstrahlung in den USA erfolgte am 14. März 2010 auf HBO, vom 15. Juli bis 16. September 2010 lief die Serie zudem auf Kabel eins.
Weblinks
National Museum of the Pacific War (englisch)
Pacific Theatre of Operations bei Hyperwar (englisch)
Japanische Wochenschauberichte (japanisch)
Quellen
Als Hauptquellen für diesen Artikel dienten:
Hyperwar – Pacific Theater of Operations auf www.ibiblio.org, Hyperwar Foundation von Patrick Clancey and Larry W. Jewell
Jürgen Rohwer, Chronik des Seekrieges 1939–1945 in der Bibliothek für Zeitgeschichte in der Württembergischen Landesbibliothek
Einzelnachweise
Krieg der Vereinigten Staaten
Militärgeschichte (Japanisches Kaiserreich)
Australische Militärgeschichte
Krieg (Vereinigtes Königreich)
Krieg in der niederländischen Geschichte
Krieg in der chinesischen Geschichte
Ostasiatische Geschichte
Südostasiatische Geschichte
Geschichte (Australien und Ozeanien)
Beziehungen zwischen Japan und den Vereinigten Staaten
Britisch-japanische Beziehungen
Australisch-japanische Beziehungen
Chinesisch-japanische Beziehungen
Japanisch-niederländische Beziehungen
Japanisch-philippinische Beziehungen
Japanisch-sowjetische Beziehungen
Japanisch-thailändische Beziehungen
1930er
1940er |
313084 | https://de.wikipedia.org/wiki/New%20Horizons | New Horizons | New Horizons ( für Neue Horizonte) ist eine Raumsonde der NASA, die im Rahmen des New-Frontiers-Programmes am 19. Januar 2006 startete, um das Pluto-System und den Kuipergürtel zu erforschen. Am 14. Juli 2015 erreichte New Horizons als erste Raumsonde Pluto. Außerdem passierte sie am 1. Januar 2019 das Kuipergürtelobjekt (486958) Arrokoth (damals noch inoffiziell: Ultima Thule). Die Sonde erforscht zudem weitere Kuipergürtelobjekte aus größerer Entfernung sowie die Heliosphäre. Bei der Erforschung werden sieben verschiedene Instrumente eingesetzt: ein 6-cm-Teleskop, ein Ultraviolett-Spektrometer, eine hochauflösende CCD-Kamera, ein Radiowellenexperiment, ein Sonnenwind-Teilchen-Detektor, ein Ionen- und Elektronenspektrometer und ein Instrument zur Messung von Staubpartikeln.
Aktuell () ist die Sonde ca. Astronomische Einheiten (AE) von der Sonne entfernt, das sind etwa Milliarden Kilometer.
Das Projekt wird vom Applied Physics Laboratory der Johns Hopkins University in Baltimore, Maryland geleitet. Die Kosten einschließlich der Entwicklung und des Baus der Raumsonde sowie ihrer Instrumente, der Trägerrakete und des Missionsbetriebs bis zum Jahr 2016 betrugen etwa 700 Millionen Dollar.
Missionsziele
Primärmission
New Horizons war die erste Raumsonde zur Erforschung Plutos. Da der Zwergplanet sehr weit von der Sonne entfernt ist, konnten selbst die stärksten Teleskope kaum Details auf seiner Oberfläche ausmachen. Die Auflösung der besten mit dem Hubble-Weltraumteleskop gewonnenen Aufnahmen erreichten nur 500 km pro Bildpunkt. Somit konnten Pluto und seine Monde nur durch Raumsonden näher studiert werden. Zum Startzeitpunkt galt Pluto noch als vollwertiger Planet und war als einziger Planet noch von keiner Raumsonde erforscht worden. Wenige Monate nach dem Start wurde die Definition für Planeten geändert und Pluto wurde nach dieser neuen Definition zu einem Zwergplaneten.
Die NASA unterteilte die Ziele der Hauptmission der Sonde in drei Prioritätskategorien. Bei der Formulierung der Missionsziele waren die kleinen Monde noch nicht entdeckt.
Erforderlich:
Beschreibung des globalen geologischen Aufbaus und der Geomorphologie von Pluto und Charon
Kartierung der Zusammensetzung der Oberflächen von Pluto und Charon
Beschreibung der neutralen (nicht ionisierten) Atmosphäre von Pluto und Bestimmung des Gasverlusts in den Weltraum
Wichtig:
Beschreibung der zeitabhängigen Veränderlichkeit der Oberfläche und der Atmosphäre von Pluto
Stereo-Aufnahmen von Pluto und Charon
Kartierung der Tag-Nacht-Grenzen (Terminator) von Pluto und Charon in hoher Auflösung
Kartierung ausgewählter Oberflächengebiete von Pluto und Charon in hoher Auflösung
Beschreibung der Ionosphäre Plutos und ihrer Wechselwirkung mit dem Sonnenwind
Suche nach bestimmten chemischen Verbindungen wie Wasserstoff, Cyanwasserstoff, Kohlenwasserstoffen und Nitrilen in der oberen Atmosphäre Plutos
Suche nach einer Atmosphäre bei Charon
Bestimmung der bolometrischen Helligkeiten und daraus der geometrischen Albedos von Pluto und Charon
Kartierung der Oberflächentemperaturen von Pluto und Charon
Wünschenswert:
Beschreibung der energiereichen Teilchen in der Nähe von Pluto und Charon
Verfeinerung der Parameter (Radien, Massen, Dichten) und der Umlaufbahnen von Pluto und Charon
Suche nach Magnetfeldern bei Pluto und Charon
Suche nach Planetenringen und weiteren Monden
Zu den Missionszielen gehörte auch die weitere Erforschung des Jupiters, an dem die Sonde im Februar und März 2007 vorbeiflog. Wolkenbewegungen wurden beobachtet, es wurde die Magnetosphäre des Planeten untersucht und Ausschau nach Polarlichtern und Blitzen in Jupiters Atmosphäre gehalten. Über die vier großen Galileischen Monde konnten nur wenige wissenschaftliche Daten gewonnen werden, da die Sonde sie in relativ großer Entfernung passierte.
New Horizons übertraf die Ziele aller Prioritätskategorien. Nach den Anforderungen der NASA hätte die Mission bereits als erfolgreich gegolten, wenn nur die als erforderlich eingestuften Missionsziele erreicht worden wären. Nicht untersucht wurde das Magnetfeld von Pluto und Charon, was als wünschenswert eingestuft wurde. Für eine sinnvolle Messung des vermutlich nur schwachen Magnetfelds hätte die gesamte Sonde nichtmagnetisch sein müssen und so wurde aus Kostengründen auf ein entsprechendes Instrument verzichtet.
Zusätzlich zu den formulierten Missionszielen tragen die Instrumente mit Langzeitbeobachtungen zur Erforschung des Sonnenwinds und der Heliosphäre bei.
Kuiper Belt Extended Mission (KEM)
Die NASA genehmigte Anfang Juli 2016 die Finanzierung einer Anschlussmission unter dem Namen Kuiper Belt Extended Mission (KEM) bis Ende 2021. Eines der Ziele dieser Mission war die Untersuchung des Kuipergürtel-Objekts (486958) Arrokoth, zum Zeitpunkt der Genehmigung noch unter der provisorischen Bezeichnung (486958) 2014 MU69. Als Ziele wurden genannt:
Ein dichter Vorbeiflug an Arrokoth in nur 3500 km Abstand, Fortsetzung der Beobachtung eine Woche lang danach
Einsatz aller sieben Instrumente
Die Aufnahmen im sichtbaren Licht und in anderen Spektralbereichen sollten entsprechend der größeren Nähe detaillierter als bei Pluto sein.
Untersuchung der Oberflächenstrukturen
Suche nach möglichen Monden
Suche nach einer Atmosphäre
Die Beobachtung dieses Asteroiden soll neue Erkenntnis über die Akkretionsprozesse und damit die Entstehung der Planeten und des Sonnensystems liefern. Vermutlich ist das Objekt mehr als vier Milliarden Jahre alt und befand sich seit der Entstehung in kalter Umgebung. Damit wäre es das ursprünglichste Objekt, das bis dahin von einer Raummission untersucht wurde.
New Horizons soll darüber hinaus als Beobachtungsplattform genutzt werden, um andere Objekte im Kuipergürtel und den umgebenden Weltraumbereich zu beobachten:
2016–2020: Beobachtung von etwa 20 weiteren Kuipergürtelobjekten (KBOs) aus weiterem Abstand, um deren Form, begleitende Objekte und Oberflächeneigenschaften zu bestimmen; dies kann kein erdbasiertes Teleskop leisten.
2016–2020: Sorgfältige Suche nach Ringen um eine große Anzahl verschiedener KBOs.
2016–2021: Erstellen eines heliosphärischen Querschnitts durch den Kuipergürtel mit nahezu permanenter Messung von Plasma, Staubpartikeln und neutralen Gasen bis zu einer Entfernung von 50 AE von der Sonne.
2020–2021: Astrophysikalische Untersuchungen nach Wunsch der NASA.
Alle Ziele zum Vorbeiflug an (486958) Arrokoth wurden erfüllt. Seither wird intensiv mit erdbasierten Teleskopen nach einem weiteren Objekt für einen Vorbeiflug gesucht.
Kuiper Belt Extended Mission 2 (KEM 2)
Am 25. April 2022 wurde eine Verlängerung der Mission um weitere drei Jahre bis 2025 bekanntgegeben, die wenig später aber um ein Jahr bis zum 1. Oktober 2024 verkürzt wurde. Die Mission wird den sonnenfernen Standort nutzen, um die Heliosphärenstrahlung zu beobachten und sie wird das diffuse Licht der Hintergrundstrahlung im optischen Bereich und im UV-Bereich untersuchen. Die Instrumente sollen genutzt werden, um weitere Daten über die Atmosphären von Uranus und Neptun aus der Entfernung zu gewinnen. Die Treibstoffvorräte sollen dabei einen Weiterbetrieb für mindestens zwei Jahrzehnte sichern.
Missionsziele:
Übertragung der restlichen Daten von der Begegnung mit Arrokoth zur Erde
Sammlung, Auswertung und Archivierung der Daten aus Planetologie, astrophysikalischen und heliosphärischen Daten.
Beobachtung von KBOs
Untersuchung der Hintergrundhelligkeit im sichtbaren und im UV-Licht.
Ausblick
New Horizons ist weiterhin voll funktionstüchtig und zeigte bisher keine Abnutzungserscheinungen, durchfliegt weiterhin den Kuipergürtel und wird schließlich die Randstoßwelle, die Heliopause und schließlich den interstellaren Raum erreichen. Die Kommunikation zwischen der Sonde und den bestehenden Anlagen des DSN wäre bis zu einer Entfernung von mehr als 200 AE möglich. Diese Entfernung wird voraussichtlich um 2070 erreicht. Die Systeme der Sonde werden sich aber schon früher abschalten, weil nicht mehr genügend elektrische Energie verfügbar ist. An dieser Stelle wirkt sich die verringerte Beladung mit 238Pu aus. Die Energieversorgung könnte bis 2050 ausreichen, was einer Entfernung von über 125 AE entspricht. Da Voyager 1 und 2 die Heliopause bei ca. 120 AE durchquerten, ist es wahrscheinlich, dass New Horizons auch bis dahin Messungen vornehmen kann.
Technik
Die Raumsonde hat etwa die Größe eines Konzertflügels und die Form eines Dreiecks mit einem zylinderförmigen Radioisotopengenerator (RTG), der an einer Spitze des Dreiecks angebracht ist. Außerdem verfügt sie über eine 2,1-m-Parabolantenne zur Kommunikation mit der Erde, die an einer Seitenfläche des Dreiecks befestigt ist. Der Sondenkörper ohne RTG und Antenne ist 0,7 m hoch, 2,1 m lang und 2,7 m breit. Die Gesamthöhe vom Nutzlastadapter bis zum oberen Ende der Antenne beträgt 2,2 m. Die Gesamtmasse inklusive 77 kg Treibstoff und 30 kg wissenschaftlicher Nutzlast beträgt 478 kg. Die ursprünglichen Planungen sahen eine Startmasse der vollbetankten Sonde von 465 kg vor; nach der Verifizierung der Leistung der neuen Atlas-V-Trägerrakete durch vorangegangene Starts konnte die Startmasse etwas vergrößert werden.
Das Swing-by-Manöver am Jupiter stand bis kurz vor Start zur Disposition; ein Flug ohne dieses Swing-by hätte nur eine etwa 20 kg geringere Startmasse der Sonde erlaubt, da die Trägerrakete bei einem direkten Start zum Pluto eine höhere Endgeschwindigkeit erreichen muss. Man hätte in diesem Fall die Menge des mitgeführten Hydrazins reduzieren müssen, damit wären auch die Möglichkeiten für Sekundärmissionen eingeschränkt worden.
Die tragende Struktur der Sonde besteht aus einem zentralen Aluminium-Zylinder, der den aus Titan gefertigten Treibstofftank beherbergt und als Nutzlastadapter zwischen Sonde und Trägerrakete sowie als Schnittstelle zwischen Sonde und RTG dient. Der RTG ist mit Hilfe eines vierseitigen Titansockels an der Raumsonde befestigt. Um die Masse der Sonde gering zu halten, sind die Paneele des Sondenkörpers aus Aluminium in Sandwichbauweise mit sehr dünnen Frontalplatten gefertigt (so dick wie zwei Lagen Papier). Elektronik und Instrumente sind um den Zylinder herum gruppiert, wobei die Anordnung der Systeme auf die Schwerpunktlage Rücksicht nehmen musste.
New Horizons kann sowohl drei-Achsen-stabilisiert als auch spinstabilisiert betrieben werden. Drei-Achsen-Stabilisierung wird während wissenschaftlicher Beobachtungen und System- und Instrumententests angewandt, Spinstabilisierung (normalerweise mit fünf Umdrehungen pro Minute) während der Kurskorrekturmanöver, während langer Funkkontakte mit der Erde, während der Flugperioden und im Ruhezustand (hibernation mode). Um eine Spinstabilisierung während des Flugs zu ermöglichen, wurde die Sonde vor dem Start genau vermessen und mit zusätzlich angebrachten Ausgleichsgewichten ausbalanciert.
Energieversorgung
Die Energieversorgung lässt sich bei sonnenfernen Missionen nicht mit Solarzellen erreichen. Die Sonde wird durch einen mit etwa 10,9 kg Plutonium-238 gefüllten Radioisotopengenerator (RTG) des Typs GPHS-RTG mit Energie versorgt. Die Spannung beträgt 30 Volt. Der RTG der Sonde enthält 18 Module, die jeweils vier Kapseln mit je 151 g Plutonium in Form von Plutonium(IV)-oxid enthalten.
Das Plutonium-238 für RTGs wird in einem aufwändigen Prozess durch Neutronenbeschuss von Brennstäben, die Neptunium-237 enthalten, in einem Kernreaktor erbrütet. Die Kapseln wurden im Los Alamos National Laboratory des US-Energieministeriums (DOE) hergestellt. Mitte 2004 wurden alle Arbeiten des Los Alamos National Laboratory, und somit auch am Plutonium für New Horizons gestoppt, da angeblich einige Festplatten mit geheimen Informationen verschwunden waren. Das Projekt war dadurch in Gefahr, da bei einer unzureichenden Energieversorgung die Sonde keine oder nur eingeschränkte Beobachtungen hätte durchführen können. Die Sicherheitsprobleme des Los Alamos National Laboratory konnten jedoch gelöst werden, und die Arbeiten an den Plutoniumkapseln wurden wieder aufgenommen. Ende 2005 wurde der RTG ausgeliefert und in die Sonde eingebaut.
Vorgesehen war, dass die maximale Leistung des Generators mit voller Plutoniumladung beim Start 285 W und 225 W beim Plutovorbeiflug im Jahr 2015 beträgt. Durch Zerfall des Plutoniums und Alterung von Bauteilen reduziert sich die verfügbare Leistung mit der Zeit. Nach Problemen mit der Herstellung sprach DOE von etwa 190 W verfügbarer Leistung beim Vorbeiflug an Pluto. Als im Oktober 2005 der RTG Tests unterzogen wurde, stellte sich heraus, dass der Generator etwas mehr Leistung liefern konnte als erwartet. Man ging nun von etwa 240 W am Anfang der Mission und 200 W bei Erreichen von Pluto aus.
Elektronik
New Horizons besitzt zwei Computersysteme: das Command and Data Handling System zur Steuerung der Sonde sowie zur Arbeit mit wissenschaftlichen Daten und das Guidance and Control System zur Navigation und Lagekontrolle. Jedes der Computersysteme ist redundant ausgelegt, sodass die Raumsonde über vier separate Rechnersysteme verfügt. Die Bordrechner verwenden jeweils einen Mongoose-V-Prozessor.
Das Command and Data Handling System verfügt über zwei Flash-Recorder mit jeweils 8 GB Speicherkapazität für die Zwischenspeicherung der wissenschaftlichen Daten, bevor sie zur Erde übertragen werden können.
Um Platz und Gewicht zu sparen, sind die Elektronik der Raumsonde und die Schnittstellen zur Elektronik ihrer Instrumente in einem „Integrated Electronics Module“ (IEM) untergebracht. An Bord befinden sich zwei redundante IEM.
Kommunikation
Das Kommunikationssystem der Raumsonde arbeitet im X-Band und verfügt über eine 2,1-m-Parabol-Hochgewinnantenne (High Gain Antenna – HGA, 42 dBi) mit einem Öffnungswinkel von 0,3° und eine 30-cm-Mittelgewinnantenne (Medium Gain Antenna – MGA) mit einem Öffnungswinkel von 4°. Zusätzlich gibt es zwei Rundstrahlantennen (Low Gain Antenna – LGA) mit niedrigem Gewinn auf entgegengesetzten Seiten der Raumsonde. Alle Antennen sind unbeweglich. Zur Nutzung der HGA- und der MGA-Antennen muss die Sonde auf die Erde ausgerichtet werden. Die Sonde verfügt über zwei redundante 12-Watt-Wanderfeldröhrenverstärker (TWTA), die unter der HGA montiert sind. Die Signale sind unterschiedlich polarisiert, daher können beide TWTAs gleichzeitig zur Übertragung verwendet werden.
Die Hochgewinnantenne und die Mittelgewinnantenne werden zur Datenübertragung genutzt; die Datenübertragungsrate der HGA zu einer 70-m-Antenne des Deep Space Network betrug am Jupiter 38 kbit, in der Nähe Plutos noch etwa 1 kbit pro Sekunde. Die wesentlich älteren Voyager-Sonden erreichten durch ihre größeren Antennenschüsseln in ähnlicher Entfernung noch circa 1,4 kbit pro Sekunde im X-Band.
Für den Fall, dass die Sonde nicht auf die Erde ausgerichtet werden kann und diese Antennen nicht zur Verfügung stehen, können die beiden Rundstrahlantennen (LGA) der Sonde verwendet werden. Diese brauchen nicht ausgerichtet zu sein, erreichen aber nur sehr niedrige Datenübertragungsraten. Da diese Antennen auf entgegengesetzten Seiten angebracht sind, kann die Sonde unabhängig von ihrer Lage in alle Richtungen senden und empfangen. Die LGA wurden während des Starts und zur Kommunikation in der Nähe der Erde verwendet und dienen darüber hinaus einer Absicherung der Kommunikation in einem Notfall mit der niedrigstmöglichen Datenrate von 10 bit pro Sekunde.
Um die Betriebskosten zu senken, verbrachte New Horizons die Flugstrecke zwischen Jupiter und Pluto und teilweise zwischen Pluto und (486958) Arrokoth in einer Art „Winterschlaf“ (hibernation mode). Dabei wurde die Sonde einmal pro Jahr für 50 Tage „aufgeweckt“, um Funktionstests durchzuführen und genaue Flugparameter zu bestimmen. Für die restliche Zeit wurde die Sonde in eine langsame Rotation versetzt. In diesem Zustand sendet sie lediglich einmal pro Woche ein Signal zur Erde, dessen Frequenz entweder den normalen Betrieb der Sonde oder einen von sieben Fehlermodi anzeigt. Hierfür wird eine einfache unmodulierte Trägerwelle einer bestimmten Frequenz verwendet, die sich leicht empfangen und ohne viel technischen Aufwand identifizieren lässt. Ungefähr einmal pro Monat sendet die Sonde einen ausführlicheren Statusbericht. Von den vier Bordcomputern ist nur einer in Betrieb und alle redundanten Systeme sind so weit wie möglich abgeschaltet. Die Hibernation verringert die Abnutzung und reduziert die Unterhaltskosten erheblich, weil kein Personal zum Betrieb nötig ist und Kapazitäten des Deep Space Network für andere Missionen freigegeben werden. Diese Art der Kommunikation wurde mit der Testsonde Deep Space 1 erprobt; New Horizons ist die erste Raumsonde, die sie im operativen Einsatz verwendet.
Antriebssystem
Das Antriebssystem der Raumsonde wird nur für Kurskorrekturen und zur Lageregelung verwendet. Es ist nicht möglich, die Sonde nach dem Abtrennen von der Raketenoberstufe nochmals stark zu beschleunigen oder abzubremsen, wie es beispielsweise bei einer Orbiter-Mission notwendig wäre. Das Antriebssystem besteht aus 16 Triebwerken, die an acht verschiedenen Stellen der Sondenoberfläche angebracht sind und Hydrazin katalytisch zersetzen. Vier davon werden hauptsächlich für Kurskorrekturen verwendet; sie liefern einen Schub von je 4,4 Newton. Die übrigen zwölf sind kleiner und erzeugen je 0,8 Newton Schub; sie dienen zur Ausrichtung der Sonde sowie zum Einleiten und Stoppen der Rotation. Die Hälfte der 16 Triebwerke dient als Reserve.
Die Sonde hatte beim Start 77 kg Hydrazin an Bord, was ausreichen würde, um die Geschwindigkeit der Sonde um etwa 400 m/s zu ändern (minimal waren bei der Missionsplanung 290 m/s vorgesehen). Der größte Teil war vorgesehen, um nach der Passage von Pluto weitere Kuipergürtelobjekte ansteuern zu können. Der Treibstoff wird mit gasförmigem Helium unter Druck gesetzt und in die Triebwerke gepresst.
Navigationssystem
Navigationssysteme und Sensoren liefern Informationen zu Position, Kurs und räumlicher Ausrichtung der Sonde während des Flugs. Diese Daten dienen zur Kurskorrektur und zur Ausrichtung der Instrumente auf die Ziele und der Antenne auf die Erde.
Zur Navigation werden zwei redundante A-STR-Sternkameras (Star Tracker), Trägheitsmesssysteme (Inertial Measurement Units, IMUs) und Sonnensensoren verwendet. Die Navigationsdaten werden durch das Guidance-and-Control-Computersystem verarbeitet, das die Lage der Sonde durch das Zünden der kleinen Triebwerke kontrolliert. Eine der Sternkameras macht zehnmal pro Sekunde eine Weitwinkelaufnahme des Sternenhintergrundes und vergleicht sie mit einer gespeicherten Sternenkarte, die etwa 3000 Sterne enthält. Dadurch wird die genaue Ausrichtung der Sonde sowohl im drei-Achsen-stabilisierten als auch im spinstabilisierten Betrieb bestimmt. Die IMUs, die aus Gyroskopen und Beschleunigungsmessern bestehen, liefern 100-mal pro Sekunde Informationen zu Bewegungen der Sonde. Die Sonnensensoren dienen der Ausrichtung der Sonde auf die Sonne (und damit aus großer Entfernung auch auf die Erde) und zur Sicherstellung einer Kommunikation im Falle des Versagens anderer Navigationssysteme. Diese Sensoren sind sehr einfach aufgebaut und signalisieren nur, ob sie die Sonne sehen oder nicht.
Temperaturkontrolle
New Horizons kann die von der Elektronik erzeugte Wärme im Inneren wie eine Isolierkanne behalten. Bei der großen Entfernung zur Sonne ist dies erforderlich, um Temperaturen von 10 bis 30 °C im Inneren zu gewährleisten. Dazu ist der Sondenkörper inklusive der großen Antenne mit einer leichtgewichtigen goldfarbenen Bedeckung versehen, die aus 18 Lagen Dacrongewebe besteht, die zwischen einem aluminisierten Mylargewebe und einer Kaptonfolie liegen. Neben der thermischen Isolation dient diese Bedeckung auch dem Mikrometeoritenschutz.
Ein automatisches Heizsystem überwacht den Energieverbrauch im Inneren der Sonde, um sicherzustellen, dass alle Geräte mit genügender Leistung arbeiten und somit genug Wärme abgeben. Fällt der Energiebedarf unter etwa 150 Watt, werden kleine Heizelemente im Inneren der Sonde eingeschaltet, um den Leistungsunterschied auszugleichen. Solange sich die Sonde in der Nähe der Erde und damit auch der Sonne befand, konnten die Temperaturen die zulässigen Werte übersteigen. Für diesen Fall verfügt die Sonde über eine Art Jalousiesystem („Louvres“) mit Lamellen, die geöffnet wurden, um übermäßige Wärme in den Weltraum abzustrahlen. Im geschlossenen Zustand sorgt die helle Außenfläche der Lamellen für eine geringe Abstrahlung.
Instrumente
Die Sonde trägt sieben wissenschaftliche Instrumente. Dabei werden einige Instrumente in Gruppen zusammengefasst; so enthält Pluto Exploration Remote Sensing Investigation (PERSI) die Instrumente Ralph und Alice und Particle Spectrometer Suite (PAM) die Instrumente SWAP und PEPSSI. Die Instrumente haben zusammen eine Masse von etwa 30 kg und verbrauchen gemeinsam rund 28 Watt elektrischer Leistung. Nach dem Vorbeiflug an Arrokoth bekamen der Bordcomputer und die Instrumente eine neue Software für neue und veränderte Aufgaben. Mehrere spätere Missionen wie beispielsweise Lucy oder DART verwendeten seither Kopien oder Weiterentwicklungen dieser Instrumente.
Ralph
Ralph konnte sowohl farbige Karten der Oberflächen von Pluto und Charon mit einer Auflösung von bis zu 250 m pro Pixel erstellen, als auch die Zusammensetzung der Oberflächen beider Körper kartieren. Dazu verfügt das Instrument über ein Spiegelteleskop in Form eines Drei-Spiegel-Anastigmaten mit einer Öffnung von 6 cm, dessen eingesammeltes Licht zu zwei getrennten Kanälen geleitet wird: zu der Multispectral Visible Imaging Camera (MVIC), die über vier CCDs für Farbbilder mit drei CCDs für panchromatische (schwarz-weiße) Bilder verfügt, und zu dem Linear Etalon Imaging Spectral Array (LEISA). MVIC arbeitet im sichtbaren Lichtbereich bei 400 bis 950 nm Wellenlänge und LEISA im infraroten Bereich bei 1,25 bis 2,50 μm Wellenlänge. Die Auflösung des MVIC beträgt 20 μrad, des LEISA 62 μrad. Ralph wiegt 10,3 kg und benötigt im Mittel 6,3 Watt Leistung. Das Instrument wurde von Ball Aerospace, dem Goddard Space Flight Center der NASA und dem Southwest Research Institute entwickelt. Am 22. Juni 2017 wurde LEISA offiziell in Lisa Hardaway Infrared Mapping Spectrometer umbenannt, zu Ehren von Lisa Hardaway, die bei der Konstruktion und Entwicklung des Instruments wichtige Beiträge geleistet hatte. Durch ein Upgrade der Software gibt es seit 2021 die Möglichkeit die Fähigkeiten von LORRI und MVIC bei der Beobachtung von lichtschwachen Objekten zu kombinieren.
Alice
Alice ist ein abbildendes Ultraviolett-Spektrometer zur Untersuchung der Atmosphäre von Pluto. Alice kann in zwei Modi betrieben werden: im „Airglow-Modus“, bei dem die Emissionen der Atmosphäre gemessen werden, und im „Occultation-Modus“, bei dem das Instrument durch die Atmosphäre Plutos auf die Sonne oder auf einen anderen leuchtstarken Stern gerichtet und die Zusammensetzung der Atmosphäre durch Absorption des Lichts bestimmt wird. Alice arbeitet im ultravioletten Lichtbereich bei 50 bis 180 nm Wellenlänge und besteht aus einem kompakten Teleskop, einem Spektrografen und einem Sensor, der 32 getrennte Flächen („Pixel“) mit je 1024 spektralen Kanälen aufweist. Alice wiegt 4,5 kg und benötigt im Mittel 4,4 Watt Leistung. Das Instrument wurde vom Southwest Research Institute entwickelt und ist eine weiterentwickelte Version des Alice-Instrumentes der europäischen Rosetta-Sonde, das ebenfalls aus den USA kam. Im Juli und August 2021 wurden neue Softwarepakete für Alice auf den Hauptcomputer hochgeladen und getestet. Alice kann damit systematisch den Himmel mit dem UV-Spektrometer abbilden.
LORRI (Long Range Reconnaissance Imager)
LORRI ist eine hochauflösende CCD-Kamera (1024 × 1024 Pixel) für sichtbares Licht, die an einem Ritchey-Chrétien-Spiegelteleskop montiert ist. Der Spiegel hat einen Durchmesser (Apertur) von 20,8 cm, Primär- und Sekundärspiegel bestehen aus Siliciumcarbid. Die Kamera hat einen Bildwinkel von 0,29° und eine Brennweite von 2630 mm bei einer Auflösung von 4,95 μrad. Das Instrument ist sehr einfach aufgebaut, es hat keine Farbfilter oder bewegliche Teile. Sein Empfindlichkeitsbereich umfasst das Lichtspektrum von 350 bis 850 nm Wellenlänge. Der Bildsensor wird bei einer Temperatur von −70 °C betrieben. LORRI wiegt 8,8 kg und benötigt im Mittel 5,8 Watt Leistung. Das Instrument wurde vom Applied Physics Laboratory der Johns Hopkins University entwickelt. LORRI nahm bereits 120 Tage vor der Begegnung mit Pluto als erstes Instrument Bilder des Zwergplaneten und seiner Monde auf, die zu diesem Zeitpunkt kaum weiter als zu einzelnen Lichtpunkten aufgelöst werden konnten. 90 Tage vor der Begegnung übertraf LORRIs Auflösung bereits die des Hubble-Weltraumteleskopes. Bei dem nahen Vorbeiflug an Pluto konnte LORRI Strukturen bis 50 m Größe auflösen. Im Juli 2019 wurde eine neue Software für diese Kamera zur Sonde hochgeladen. Die Software erlaubt längere Belichtungszeiten und ermöglicht die Beobachtung von lichtschwächeren Objekten als bisher.
REX (Radio Experiment)
REX ist ein Radiowellenexperiment, das mit der Hauptantenne der Sonde durchgeführt wurde. Dazu wurden nach dem Passieren des Pluto mit Hilfe von Antennen des Deep Space Network Signale zur Sonde gesendet, die während des Durchgangs durch Plutos Atmosphäre verändert wurden und in diesem Zustand zu New Horizons gelangten. Die Signale wurden gespeichert und später zurück zur Erde übertragen. Dadurch lässt sich die Dichte und Zusammensetzung der Atmosphäre studieren. Das Experiment selbst besteht aus einer kleinen, 100 g schweren Leiterplatte mit Signalverarbeitungselektronik, die im Kommunikationssystem der Raumsonde integriert ist und im Mittel 2,1 Watt Leistung benötigt. Da das komplette Kommunikationssystem redundant ist, verfügt New Horizons über zwei Exemplare von REX. Das Experiment wurde von der Stanford University und dem Applied Physics Laboratory der Johns Hopkins University entwickelt. Durch ein Update von 2021 kann REX das Venetia-Instrument bei der Messung von Staubpartikeln ergänzen. Ein Partikeleinschlag verursacht eine minimale Dopplerverschiebung, die mit dem Radioexperiment erkannt und ausgewertet wird.
SWAP (Solar Wind Analyzer around Pluto)
Dieses Instrument misst geladene Teilchen mit Energien bis zu 6,5 keV. Das Instrument wurde vom Southwest Research Institute entwickelt, um Teilchen zu messen, die aus Plutos Atmosphäre entweichen und vom Sonnenwind mitgerissen werden. Dadurch sollte festgestellt werden, ob Pluto über eine Magnetosphäre verfügt. Weiterhin konnte der Sonnenwind in der Nähe von Pluto studiert werden, außerdem wurden so Daten über die Atmosphäre gesammelt. SWAP wiegt 3,3 kg und benötigt im Mittel 2,3 Watt Leistung. SWAP wird außerdem zur Erforschung der Heliosphäre und des Kuipergürtels eingesetzt und kann auch während Hibernation Daten sammeln. Im Februar 2021 gab es ein Upload mit neuen Funktionen für SWAP.
PEPSSI (Pluto Energetic Particle Spectrometer Science Investigation)
PEPSSI ist ein Ionen- und Elektronenspektrometer, das nach neutralen Atomen suchte, die aus Plutos Atmosphäre entweichen und vom Sonnenwind aufgeladen werden. In das Instrument eintretende Ionen mit Energien von 1 bis 5000 keV und Elektronen mit Energien von 20 bis 700 keV werden erfasst, wobei die Masse und Energie jedes einzelnen Partikels gemessen wird. PEPSSI wiegt 1,5 kg und benötigt im Mittel 2,5 Watt Leistung. Das Instrument wurde vom Applied Physics Laboratory der Johns Hopkins University entwickelt. PEPSSI wird außerdem zur Erforschung der Heliosphäre und des Kuipergürtels eingesetzt und kann auch während Hibernation Daten sammeln. Eine neue Software für PEPSSI zur Erkennung von Plasma aus Sonneneruptionen wurde im Jahr 2021 geschrieben und getestet. Sie soll Anfang 2022 hochgeladen werden.
Venetia (Venetia Burney Student Dust Counter)
Venetia ist ein Instrument zur Messung von Staubpartikeln entlang der gesamten Flugroute. Es wurde von Studenten der University of Colorado entwickelt und ist das erste von Studenten gebaute Instrument auf einer planetaren Mission der NASA. Das Gerät hieß zunächst Student-built Dust Counter (SDC), wurde aber im Juni 2006 zu Ehren der Britin Venetia Phair, geb. Burney umbenannt, die 1930 den Namen „Pluto“ für den neu entdeckten Planeten vorgeschlagen hatte. Das Instrument Venetia zählt auftreffende Staubpartikel und bestimmt deren Masse. Es wird als erstes Instrument dieser Art weiter als 18 AE von der Erde betrieben. Es liefert Informationen, die unter anderem zur Abschätzung der Kollisionsrate von Asteroiden, Kometen und Kuipergürtelobjekten im äußeren Sonnensystem genutzt werden. Venetia kann auch während der Hibernation Daten sammeln. Das Instrument besteht aus einer 46 cm × 30 cm großen Detektorplatte, die auf der Außenhaut der Sonde angebracht ist, und einer Elektronikbox im Inneren der Sonde. Es können Partikel mit einer Masse von bis kg erfasst werden. Venetia wiegt 1,9 kg und benötigt im Mittel 5 Watt Leistung. Durch ein Update kann REX nun das Venetia-Instrument bei der Messung von Staubpartikeln ergänzen. Ein Partikeleinschlag verursacht eine minimale Dopplerverschiebung, die mit dem Radioexperiment erkannt und ausgewertet wird, somit kann man damit mehr Informationen über Richtung und Geschwindigkeit des Partikels gewinnen.
Vorbereitungen und Start
Vorbereitungen
Bereits seit Anfang der 1990er Jahre gab es Bestrebungen, eine Mission zu Pluto zu starten. Vorrangig war dabei, Pluto zu erreichen, bevor seine dünne Atmosphäre ausfrieren würde, denn die Umlaufbahn des Zwergplaneten ist sehr exzentrisch. Pluto erreichte den sonnennächsten Punkt seiner Umlaufbahn (Perihel) bereits 1989. Diese Annahme, dass die Atmosphäre nach der Passage des sonnennäheren Bahnbereiches bald ausfrieren würde, konnte jedoch bislang nicht bestätigt werden. Gegenwärtig entfernt sich Pluto von der Sonne, sodass es auf ihm immer kälter wird; erst im Jahr 2247 wird er sein nächstes Perihel einnehmen. Die ersten Konzepte einer Mission (Pluto Fast Fly-By, Pluto Kuiper Express) scheiterten an technischen und finanziellen Schwierigkeiten. Ende 2000 gab es mit New Horizons einen neuen Vorschlag einer Pluto-Mission. Schließlich wurde dieser Vorschlag am 29. November 2001 als erste Mission des neu geschaffenen New-Frontiers-Programms der NASA zur Realisierung genehmigt.
Die Instrumente der Sonde wurden zwischen Juli 2004 und März 2005 ausgeliefert, Zusammenbau und Prüfung liefen von August 2004 bis Mai 2005. Vom Mai bis zum September 2005 wurde die fertig gebaute Sonde ausgiebig getestet, am 24. September 2005 erfolgte der Transport nach Cape Canaveral.
Ende Oktober 2005 beschädigte in Cape Canaveral der Hurrikan Wilma einen Feststoffbooster der fast fertig montierten Atlas-V-Trägerrakete für New Horizons, als ein Tor der Montagehalle dem Winddruck nicht standhielt. Der Booster konnte jedoch noch rechtzeitig vor dem geplanten Starttermin am 11. Januar 2006 ausgetauscht werden.
Am 16. Dezember 2005 ordnete die NASA eine zusätzliche Überprüfung der Tanks der ersten Raketenstufe an, weil bei einem Druckbelastungstest einer anderen Atlas-Rakete diese Stufe der geforderten Maximalbelastung nicht standgehalten hatte. Dadurch verschob sich der für den 11. Januar angesetzte Starttermin um sechs Tage auf den 17. Januar 2006.
Start
Das Startfenster öffnete sich am 11. Januar 2006 und blieb bis zum 14. Februar 2006 bestehen. Allerdings bestand nur bei einem Start bis einschließlich 2. Februar die Möglichkeit eines Vorbeiflugs (Swing-by-Manöver) am Jupiter. Danach hätte man Pluto nur auf direktem Weg erreichen können, was die Flugzeit um mehrere Jahre verlängert und die Menge des mitführbaren Treibstoffes um 20 kg reduziert hätte.
Nachdem der geplante Start am 17. Januar 2006 wegen zu starken Windes mehrmals hatte verschoben werden müssen, sollte New Horizons am 18. Januar 2006 starten. Wegen eines Stromausfalls in der Bodenstation der Johns Hopkins University konnte auch dieser Termin nicht gehalten werden. Am 19. Januar startete New Horizons nach mehreren Verschiebungen wegen dichter Bewölkung schließlich um 19:00 Uhr UTC (das Startfenster war von 18:07 bis 20:07 Uhr UTC offen) vom Launch Complex 41. Nach 44 Minuten und 55 Sekunden wurde die Sonde von der Rakete in ihre endgültige Flugbahn ausgesetzt.
Obwohl die verwendete Atlas-V-Rakete zu jenem Zeitpunkt die stärkste aktive Trägerrakete der Welt war, musste die Nutzlast mit einer zusätzlichen Star-48B-Kickstufe ausgestattet werden, um die Sonde auf eine Geschwindigkeit deutlich über der Fluchtgeschwindigkeit beschleunigen zu können. New Horizons verließ die Erde mit der bis dahin höchsten je erreichten Geschwindigkeit von 16,21 km/s. An anderen Tagen des Startfensters wäre die Geschwindigkeit etwas anders gewesen. Besonders nach dem 2. Februar, ohne die Möglichkeit eines Vorbeiflugs am Jupiter, hätte die Geschwindigkeit der Sonde noch deutlich höher sein müssen.
Beobachtung im Jupiter-System
Auf dem Weg zum Jupiter
Einen Tag nach dem Start wurde die Rotation der Sonde von 68 Umdrehungen pro Minute, in die sie von der Raketenoberstufe versetzt worden war, auf 19,2 Umdrehungen pro Minute reduziert. Am 22. Januar wurde die Rotation weiter auf 5 Umdrehungen pro Minute gesenkt, und die Sternenkameras wurden in Betrieb genommen.
Am 28. Januar 2006 wurde eine erste Kurskorrektur (TCM-1A) durchgeführt, wobei die Triebwerke für etwa fünf Minuten feuerten. Zwei Tage später folgte die nächste, zwölf Minuten lange Kurskorrektur (TCM-1B). Die beiden Kurskorrekturen ergaben eine Geschwindigkeitsänderung von 18 m/s. Eine weitere Kurskorrektur (TCM-2) war für den 15. Februar geplant, wurde jedoch abgesagt. Die nächste, 76 Sekunden lange Kurskorrektur (TCM-3) erfolgte am 9. März 2006 und war die erste, die im drei-Achsen-stabilisierten Betrieb durchgeführt wurde. Durch TCM-3 wurde die Geschwindigkeit der Sonde um 1,16 m/s verändert.
Im Februar 2006 wurde der Schutzverschluss des Alice-Spektrometers geöffnet, am 13. März folgte der des SWAP-Instruments. Im März wurde auch das SDC-Experiment aktiviert. Bis zum 29. März hatten alle Instrumente ihre internen Elektronik-Checks absolviert. Am 7. April 2006 kreuzte die Sonde nach 78 Tagen Flugzeit die Marsbahn. Im Mai wurden die Schutzverschlüsse der Instrumente PEPSSI (3. Mai), Alice (20. Mai) und Ralph (29. Mai) geöffnet. Im Sommer wurden die Experimente kalibriert.
New Horizons näherte sich auf dem Weg durch den Asteroidengürtel am 13. Juni 2006 um 04:05 Uhr UTC bis auf 101.867 km dem 3 bis 5 km großen Asteroiden (132524) APL. Der Schutzverschluss der hochauflösenden Kamera LORRI wurde erst am 29. August 2006 geöffnet, daher erfolgten visuelle Beobachtungen nur mit dem schwächeren Ralph-Instrument. Dieses konnte den Asteroiden lediglich als ein Objekt von ein bis zwei Bildpunkten Größe auflösen.
Am 4. September 2006 nahm New Horizons aus 291 Millionen Kilometern Entfernung ihr erstes Bild von Jupiter auf. Es wurde mit der LORRI-Kamera erzeugt. Auch andere Instrumente beobachteten Jupiter, in erster Linie zum Zweck der Kalibrierung.
Vorbeiflug am Jupiter
Wissenschaftlich relevante Untersuchungen des Jupitersystems begannen im Januar 2007 und dauerten bis Ende Juni 2007 an. Es waren etwa 700 Beobachtungen und Messungen des Gasplaneten, seiner Monde und seiner Magnetosphäre geplant. New Horizons war das achte Raumfahrzeug, das Jupiter erreichte.
Am 28. Februar 2007 flog New Horizons an Jupiter vorbei. Die geringste Entfernung zu dem Planeten wurde um 05:43 Uhr UTC erreicht und betrug etwa 2,3 Millionen Kilometer (ca. 32 Jupiterradien). Dies ist ein Drittel der Entfernung, in der die Saturnsonde Cassini-Huygens Jupiter passierte. Die Flugbahn von New Horizons lag knapp außerhalb der Umlaufbahn von Kallisto, dem äußersten der vier Galileischen Monde. Die Sonde lieferte neue Erkenntnisse über das Planetensystem. Während des Vorbeifluges fertigte sie Aufnahmen von Jupiter, seinen Ringen und den vier Galileischen Monden an, außerdem wurden Messungen des Magnetfeldes durchgeführt. Auf Io konnte ein Vulkanausbruch beobachtet werden. Durch den Vorbeiflug erfuhr die Sonde einen Geschwindigkeitszuwachs von 3890 m/s und wurde auf eine Flugbahn zum Pluto umgelenkt, wofür sie um etwa 2,5° nordwärts aus der Ekliptik herausgelenkt wurde. Die Flugzeit zu Pluto konnte damit gegenüber einer Flugbahn ohne Vorbeiflug an Jupiter um mehrere Jahre verkürzt werden.
Bereich der äußeren Planeten
Am 8. Juni 2008 kreuzte New Horizons die Umlaufbahn von Saturn, blieb dabei aber weit von ihm entfernt. Am 30. Juni 2010 wurde eine Kurskorrektur durchgeführt und durch einen Schubimpuls von 36 Sekunden Dauer die Geschwindigkeit der Sonde um etwa 0,45 m/s erhöht, um eine Abbremsung durch vom Isotopengenerator an der HGA rückgestreute Thermalstrahlung auszugleichen. Am 18. März 2011 um 23 Uhr erreichte die Sonde die Umlaufbahn von Uranus, wobei der Gasriese zu diesem Zeitpunkt mehr als 3,8 Milliarden Kilometer entfernt war und daher keine Beobachtungen durchgeführt wurden. Am 25./26. August 2014 wurde die Umlaufbahn von Neptun erreicht, exakt 25 Jahre nach dem Vorbeiflug von Voyager 2 an Neptun. Auch Neptun befand sich für sinnvolle Beobachtungen zu weit von New Horizons entfernt; dennoch wurden am 10. Juli 2014 einige Aufnahmen von Neptun aus knapp vier Milliarden Kilometer Entfernung gemacht.
Man wollte auch Neptun-Trojaner wie etwa 2011 HM102 beobachten, falls sie der Sonde nahe genug kämen. Da sich New Horizons jedoch bis auf höchstens 1,2 AE näherte, wurde schließlich auf eine Beobachtung verzichtet.
Pluto und Charon
Die Beobachtungen des Pluto-Charon-Systems begannen etwa 150 Tage vor der größten Annäherung. Am 15. April 2015 wurde das erste kombinierte Farbbild von Pluto und Charon veröffentlicht. Die Aufnahmen der LORRI-Kamera übertrafen bereits das beste Auflösungsvermögen des Hubble-Weltraumteleskops. In den darauf folgenden Wochen wurden in Abständen von drei bis sechs Tagen immer detailreichere Bilder der Pluto-Oberfläche und seines größten Begleiters veröffentlicht.
Am 4. Juli 2015 und damit zehn Tage vor dem Vorbeiflug versetzte New Horizons sich aufgrund eines Computerproblems in einen Sicherheitsmodus. Der Computer war dabei, die letzten Bilder zu komprimieren und auf den Flash-Speicher abzulegen, als gleichzeitig die umfangreichen Befehle für den Beobachtungsplan empfangen wurden. Dieses führte zu einer Überlastung und Blockade des Computersystems, anschließend wurde automatisch auf das redundante B-Side-Computersystem umgeschaltet. Das DSN stellte zur Fehlerbehebung außerplanmäßig alle nötigen Ressourcen zur Kommunikation mit der Sonde zur Verfügung. Am 7. Juli 2015 war der Fehler behoben, und New Horizons konnte den wissenschaftlichen Betrieb wieder aufnehmen. Während des Vorbeiflugs war es der Sonde nicht möglich, in den Sicherheitsmodus zu schalten.
Am 14. Juli 2015 passierte die Sonde den Zwergplaneten mit einer Geschwindigkeit von 14,5 km/s und erreichte damit das Ziel ihrer Primärmission. Pluto war zu diesem Zeitpunkt 32,9 AE von der Sonne entfernt. Es wurden globale Karten von Pluto und Charon erstellt, Hochauflösungsfotos mit bis zu 25 m pro Pixel Auflösung gewonnen, die Temperaturverteilung gemessen und die Oberfläche und die Atmosphäre des Planeten studiert. Planmäßig flog die Sonde um 13:50 MESZ in 12.500 km Entfernung an Pluto und um 14:04 MESZ in 28.800 km Entfernung an Charon vorbei. Um 14:51 MESZ durchquerte sie den Schatten von Pluto und um 16:18 Uhr MESZ den von Charon; dabei gewann sie Daten über deren Atmosphäre. Die besonders datenintensive Phase des Vorbeiflugs dauerte – je nach Definition – maximal drei Stunden.
Da die Datenübertragungsrate wegen der großen Entfernung zwischen Sonde und Erde für eine Übermittlung in Echtzeit zu gering war, wurden die Daten auf dem 8 GB großen Flash-Speicher des Bordcomputers zwischengespeichert. In der Woche nach dem Vorbeiflug wurden zunächst besonders wichtige Daten gesendet. Danach folgten laufende Messungen von Experimenten wie SWAP und PEPSSI, die nur eine geringe Datenmenge produzierten und die auch nach dem Vorbeiflug weiter Messungen durchführen. Vom 5. September 2015 bis 25. Oktober 2016 wurden alle gespeicherten Daten vom Vorbeiflug in voller Datenqualität übertragen. Die gesamte Übertragung dauerte länger als 15 Monate.
Weitere Plutomonde
Die kleinen Plutomonde Nix und Hydra wurden wenige Monate vor dem Raketenstart 2005, Kerberos und Styx 2011 und 2012 auf lang belichteten Aufnahmen des Plutosystems durch das Hubble-Weltraumteleskop entdeckt. In der Phase der größten Annäherung konzentrierten sich die Beobachtungen ganz auf Pluto und Charon. Es gibt jedoch einige Aufnahmen der kleinen Monde, die mit LORRI und Ralph aus größerer Entfernung gemacht wurden.
Kuiper Belt Extended Mission (KEM)
Bis Oktober 2014 wurden mit dem Hubble-Weltraumteleskop mögliche Ziele für die Sekundärmission von New Horizons im Kuipergürtel ausgemacht. Im Rahmen des Citizen-Science-Projekts Ice Hunters werteten Freiwillige Bilder aus, die aus der Subtraktion von in zeitlichen Abständen erstellten Aufnahmen gewonnen worden waren. Von den fünf gefundenen Zielen waren zwei außer Reichweite. Aus den verbliebenen drei wählte die NASA im August 2015 das Objekt (486958) 2014 MU69 – heute (486958) Arrokoth – als nächstes Ziel der Raumsonde aus. Die beiden nicht berücksichtigen Ziele waren 2014 OS393 und 2014 PN70.
Die NASA genehmigte Anfang Juli 2016 die Finanzierung der Sekundärmission. Die Mission lief unter dem Namen Kuiper Belt Extended Mission (KEM) und war bis zum Jahr 2021 finanziert. Sie führte in einer Entfernung von nur 3500 km an dem Asteroiden vorbei; dabei wurden alle Instrumente eingesetzt, die zuvor bei der Beobachtung Plutos verwendet worden waren. Zum Zeitpunkt des Vorbeiflugs wurde das Objekt inoffiziell Ultima Thule genannt; dieser Name war nach einer öffentlichen Umfrage und einer Umfrage im Missionsteam gewählt worden. Die endgültige Benennung als (486958) Arrokoth erfolgte im November 2019.
Vorbereitende Untersuchung von (486958) Arrokoth
Die Wissenschaftler wollten im Vorfeld so viel wie möglich über das Zielobjekt der Mission wissen, so z. B. über die Bahndaten, die Rotationsdauer, begleitende Objekte, Ringsysteme und Trümmer. Einerseits wollte man sicher sein, dass beim Vorbeiflug keine Kollision mit einem begleitenden Objekt oder Staubpartikeln droht. Andererseits galt es, den optimalen Passageabstand zu finden, der sowohl groß genug sein würde, um Zeit für die Gewinnung aller wichtigen Daten zu haben, als auch klein genug für eine gute Auflösung der Aufnahmen. Ein näherer Vorbeiflug hätte weniger, dafür höher aufgelöste Aufnahmen ergeben, ein Vorbeiflug in größerer Entfernung hingegen mehr Aufnahmen, aber in geringerer Auflösung.
(486958) Arrokoth, zu der Zeit noch 2014 MU69 genannt, war nach ersten Beobachtungen durch Hubble 30 bis 45 km groß. Die Gaia-Mission lieferte Daten zur Vorhersage von Sternbedeckungen. Okkultationen gab es am 3. Juni sowie am 10. und 17. Juli 2017. Astronomen nutzten das, um im Vorfeld Informationen über den Durchmesser und begleitende Trümmer oder ein Ringsystem zu bekommen. Für die Beobachtung der Okkultation wurden Teams mit 22 mobilen 40-cm-Teleskopen und Kameras nach Südafrika und Argentinien gebracht, die im Abstand von ca. 10 bis 25 km entlang der Okkultationslinie aufgestellt werden, um zu gewährleisten, dass wenigstens eines der Teleskope die Okkultation im Zentrum beobachten kann. Die Okkultationen dauerten ungefähr 2 Sekunden.
Die Daten aus der Bedeckung am 3. Juni brachten überraschende Erkenntnisse. Die Bedeckung konnte von keinem der Beobachtungspunkte festgestellt werden, obwohl alle richtig positioniert waren. Die Wissenschaftler schlossen daraus, dass das Objekt kleiner ist als die Beobachtungen von Hubble nahelegten, und die Größe daher eher unterhalb der ursprünglich angenommenen 30 bis 40 km liegt. Das Objekt musste dementsprechend entweder stark reflektieren oder es handelte sich um ein binäres System oder sogar um einen Schwarm von kleinen Objekten, die bei der Entstehung des Sonnensystems übrig geblieben waren. Für die Beobachtung der Okkultation am 10. Juli wurde zusätzlich das fliegende 2,5-m-Teleskop des Stratosphären-Observatoriums für Infrarot-Astronomie (SOFIA) eingesetzt. Die Okkultation am 17. Juli 2017 konnte festgestellt werden und legte nahe, dass das Objekt langgestreckt, aber kürzer als 30 km ist. Alternativ wurde ein binäres System vorgeschlagen, bei dem die beiden Komponenten jeweils 15–20 km groß sind. Eine weitere Bedeckung fand am 4. August 2018 statt. Für die Beobachtung wurden in Senegal und Kolumbien mobile Teleskope postiert. Diese Bedeckung konnte beobachtet werden und zeigte, wie die Bedeckung am 17. Juli 2017, keine Hinweise auf Trümmer oder ein Ringsystem; außerdem konnten die Bahndaten weiter verfeinert werden. Für die weitere Erkennung von möglichen Trümmern blieb ab diesem Zeitpunkt nur noch LORRI übrig.
Vorbereitung für den Vorbeiflug
Mehr als drei Jahre vor der Begegnung mit dem Asteroiden wurden am 22., 25. und 28. Oktober und 4. November 2015 die Triebwerke von New Horizons jeweils für 25 Minuten gefeuert, um die Sonde auf den Kurs zu 2014 MU69 zu bringen. Die Raumsonde verbrauchte 35 % ihrer Treibstoffreserven für das Einschwenken auf den neuen Kurs und eine Geschwindigkeitsänderung von 57 m/s; die anderen beiden möglichen Ziele 2014 OS393 und 2014 PN70 hätten wesentlich mehr Treibstoff für die Kursänderung benötigt.
Am 1. Februar 2017 wurden die Triebwerke für 44 Sekunden für eine kleine Kurskorrektur von 0,44 m/s gezündet. Sie ergab sich aus den neuesten Ergebnissen aus der Beobachtung der Umlaufbahn durch Hubble im Jahr 2016 und aus den Positionsdaten von New Horizons. In den Wochen zuvor hatte die Raumsonde sechs Kuipergürtelobjekte beobachtet. Durch einen Fehler beim Laden von Befehlen in den Bordcomputer ging New Horizons am 9. Februar 2017 vorübergehend in den Sicherheitsmodus.
Nach 852 Tagen ununterbrochenen Betriebs war New Horizons vom 7. April 2017 bis zum 11. September 157 Tage lang im Hibernation Mode (Überwinterungszustand). In der Zeit zwischen dem 11. September und 21. Dezember 2017 war die Sonde aktiviert und beobachtete verschiedene Objekte mit LORRI und mit dem UV-Spektrometer Alice. Am 9. Dezember wurden die Triebwerke für 2,5 Minuten gezündet, um den Kurs anzupassen und um den Zeitpunkt der Begegnung zu optimieren, damit die Antennen des Deep Space Networks das Ereignis optimal auswerten konnten.
Vorbeiflug an Arrokoth („Ultima Thule“)
Vom 21. Dezember 2017 bis 4. Juni 2018 befand sich die Sonde wieder im Winterschlafmodus. Nach Reaktivierung und umfangreichen Funktionstests wurde sie am 13. August 2018 vom Rotationsmodus in den „3-Achsenmodus“ (3-axis mode) versetzt, um die Kamera ausrichten zu können. Am 16. August 2018 gelangen mit LORRI die ersten langzeitbelichteten Aufnahmen von Arrokoth. Das Objekt wurde als winziger Punkt vor einem dichten Sternenfeld genau an der vorhergesagten Stelle erfasst und die Bahndaten waren bereits präzise bestimmt. Am 3. Oktober 2018 wurden die Triebwerke zur Korrektur der Geschwindigkeit um 2,1 m/s für dreieinhalb Minuten gezündet. Mit einer Entfernung von 6,35 Milliarden km zur Erde war dies die bis dahin am weitesten entfernte Kurskorrektur. Zum ersten Mal wurden dabei die von der Sonde gemachten Aufnahmen des Asteroiden zur Kursbestimmung genutzt.
Bis zum 15. Dezember wurden keine Ringe, Monde oder Begleitobjekte festgestellt und man entschied sich endgültig für einen nahen Vorbeiflug im Abstand von 3500 km. Am 19. Dezember wurden die kleinen Triebwerke für 27 Sekunden gezündet, dabei wurde die Geschwindigkeit um 0,26 m/s, der Kurs um 300 km und die Flugdauer um 5 Sekunden verändert. Am 20. Dezember wurde das endgültige Beobachtungsprogramm zur Sonde übertragen. Schließlich wechselte die Sonde am 26. Dezember 2018 in den „Encounter Mode“ (Begegnungsmodus). Sie arbeitete nun autonom, und die Bordsoftware hätte im Fall von Problemen selbsttätig auf Reservesysteme umgestellt. Wie bereits beim Pluto-Vorbeiflug konnte New Horizons in dieser Phase weder auf Befehle reagieren, noch in den Sicherheitsmodus wechseln, sondern führte mit erster Priorität das Beobachtungsprogramm durch.
Die Begegnung mit „Ultima Thule“ fand am 1. Januar 2019 in einer Entfernung von 43,3 AE von der Sonne statt. Es wurden unter anderem Radarmessungen durchgeführt, um die Oberflächenbeschaffenheit des Asteroiden zu ermitteln. Funksignale von der Sonde brauchten in dieser Entfernung bereits mehr als 12 Stunden, bis sie die Erde erreichten. Erste Daten des Vorbeifluges empfing das Deep Space Network am 1. Januar 2019 um 15:32 Uhr (UTC). Tags darauf wurde das erste hochaufgelöste Bild veröffentlicht.
(15810) Arawn
Bereits am 2. November 2015 erstellte LORRI mehrere Aufnahmen von (15810) Arawn im Abstand von jeweils einer Stunde. Zum Aufnahmezeitpunkt befand sich das Objekt etwa 5,3 Milliarden km von der Sonne entfernt, aber nur 280 Millionen km von New Horizons. Eine weitere Beobachtung erfolgte vom 7. bis 8. April 2016 aus einer Entfernung von 111 Millionen km. Durch gleichzeitige Beobachtung mit Hubble konnte die Bahn des Objekts unter Ausnützung der Parallaxe mit einer Genauigkeit unter 1000 km bestimmt werden. Die Vermutung, es handle sich um einen Quasisatelliten von Pluto, wurde damit widerlegt. Die Beobachtung ergab außerdem eine Rotationsperiode von 5,47 Stunden und eine Abschätzung des Durchmessers von 145 km. Außerdem stellte man fest, dass die Oberfläche des Asteroiden relativ uneben ist.
(50000) Quaoar
Am 13. und 14. Juli 2016 machte LORRI vier Aufnahmen von Quaoar. Die Aufnahmen aus einer Entfernung von 2,1 Mrd. km zeigen das Objekt nur als verwaschenen Punkt. Die Aufnahme hat dennoch wissenschaftlichen Wert, weil das Objekt aus einem anderen Winkel als von der Erde aus aufgenommen wurde. Man gewann neue Erkenntnisse über die Lichtstreuung an der Oberfläche.
(516977) 2012 HZ84 und 2012 HE85
Im Dezember 2017 machte LORRI Bilder von den beiden Kuipergürtelobjekten (516977) HZ84 und 2012 HE85, um nach Monden, Ringen und begleitenden Staubansammlungen zu suchen. Diese Bilder entstanden in einer Entfernung von 40,95 AE von der Erde, der bis dahin größten Entfernung, in der eine Fotografie gemacht wurde. Erstmals wurde damit die Entfernung der bekannten Pale-Blue-Dot-Aufnahmen von Voyager 1 (40,5 AE) übertroffen.
Parallaxenaufnahmen
Am 23. und 24. April 2020 fotografierte New Horizons die Sterne Proxima Centauri und Wolf 359. Astronomen waren aufgerufen, diese Sterne im selben Zeitraum aufzunehmen. Mit der zusätzlichen Perspektive aus einer Entfernung von 46 AE von der Sonne ermöglichten diese Aufnahmen eine bisher nicht erreichte Parallaxe. Daraus konnten stereoskopische Bilder erzeugt werden.
Hintergrundstrahlung
Verschiedene Untersuchungen nutzten die Instrumente von New Horizons, um neue Erkenntnisse über die optische Hintergrundstrahlung und das Zodiakallicht zu erhalten.
Weitere Objekte
New Horizons beobachtete neben den genannten weitere Kuipergürtelobjekte aus großer Entfernung, um ihre Form, Albedo und Rotationsperiode zu bestimmen, sowie mögliche Ringsysteme und Satelliten zu entdecken. Bis März 2021 wurden annähernd 30 Objekte untersucht, darunter 2002 MS4, die Zentauren Pholus und Chiron, die Plutinos Huya und Ixion sowie die Zwergplaneten Haumea, Makemake und Eris. Das New-Horizons-Team wurde hierfür mit Spezialisten verstärkt. Weitere beobachtete Objekte sind 2011 HJ103, 2011 HK103, und 2011 JY31.
Anfang 2020 wurde die Sonde und ihre Systeme ausgiebig getestet und es wurden noch keine Anzeichen für Abnutzung festgestellt; alle Systeme funktionierten wie erwartet. Die Treibstoffvorräte nach der Beobachtung von Arrokoth reichten noch aus, um die Sonde für hunderte weitere Aufnahmen auszurichten, nicht aber für einen nahen Vorbeiflug an einem anderen bereits bekannten Kuipergürtelobjekt. Daher wurde mit dem Hubble-Teleskop und einigen der größten erdbasierten Teleskope – darunter das japanische Subaru-Teleskop und die US-amerikanischen Gemini- und Keck-Teleskope – nach weiteren KBO Ausschau gehalten. Insgesamt eine ganze Woche Beobachtungszeit des Subaru-Teleskops wurde im Mai, Juni, August und Oktober 2020 für die Suche aufgewendet, dabei wurden 75 neue KBO gefunden. Ungefähr 15 bis 20 davon sind nahe genug für eine wissenschaftliche Beobachtung durch New Horizons; davon ist jedoch kein Objekt für einen nahen Vorbeiflug geeignet. Die ersten Beobachtungen dieser Objekte waren im Dezember 2020. Weitere Beobachtungszeit am Subaru-Teleskop wurde für 2021 angefragt und falls die Suche kein erreichbares Objekt erbringt, soll 2022 noch einmal gesucht werden.
2022 sollen neue Energiesparmaßnahmen getestet und umgesetzt werden. Damit wäre trotz nachlassender Energieversorgung mindestens fünf Jahre länger der gleichzeitige Betrieb beider Sender und damit die maximale Datenrate möglich. Es wird auch weiterhin nach Zielen für eine Beobachtung oder einen Vorbeiflug gesucht, dabei werden bei der Suche neue Filter und selbstlernende Tools eingesetzt, die die Zahl der entdeckten Objekte mindestens vervierfachen sollen. Ein Teil der weniger priorisierten Daten vom Vorbeiflug an Arrokoth befanden sich zu Beginn von 2022 immer noch im Speicher und sollen jetzt gesendet werden. Zuvor gab es jeweils höher priorisierte Daten zur Übertragung und die großen Antennen des Deep Space Networks waren wegen Überholung längere Zeit nicht im üblichen Umfang einsatzbereit.
Kuiper Belt Extended Mission 2
Am 1. Juni 2022 ging die Sonde erstmals seit 2018 wieder in Hibernation und wachte am 1. März 2023 erfolgreich auf. Auch während der Missionsverlängerung ab 1. Oktober 2022 wurde weiter nach einem weiteren Ziel für einen nahen Vorbeiflug gesucht, die sich mit dem Rest von ungefähr 11 kg Treibstoff im Tank erreichen lassen. Die Suche mit dem Subaru und den Gemini-Teleskopen wird von künstlicher Intelligenz unterstützt; auf diese Weise konnten wesentlich mehr Objekte gefunden werden als mit den bisherigen Methoden.
Ab dem 1. März 2023 sollen neue, wesentlich weiter entfernte KBO beobachtet werden. Außerdem sollen Messungen zur Lichtreflexion der weit entfernten Uranus und Neptun und die bisher umfangreichsten Aufnahmen der Hintergrundstrahlung im sichtbaren und ultravioletten Licht gemacht werden. Dabei wird die Position weit weg von den großen Planeten und von der Sonne ausgenutzt. Man hofft auf diese Weise Rückschlüsse auf die Zahl der Galaxien im Weltall ziehen zu können. Die Messungen von Staub und Plasma werden weitergeführt. Die Beobachtungen sollen bis Mai 2023 andauern, danach soll die Sonde wieder in den spinstabilisierten Betrieb wechseln und für mehrere Monate Daten zur Erde senden. Im September 2023 sollen wieder Beobachtungen gemacht werden. Inzwischen wird von einem Team ausgelotet, ob und wie New Horizons eine neue Version von Pale Blue Dot erstellen kann.
Beobachtung der Heliosphäre
Das Sonnensystem wird von einem stetigen Partikelstrom durchflutet. Die ersten Beobachtungen des Sonnenwinds außerhalb der Neptunbahn stammen von den beiden Voyager-Sonden. New Horizons erfasst mit den Instrumenten PEPSSI und SWAP dessen Energie und analysiert Partikel. Ursprünglich waren diese Instrumente vor allem dazu gedacht, die aus der Plutoatmosphäre entweichenden Partikel zu messen und dadurch Informationen über Pluto und seine Atmosphäre zu gewinnen. Nach dem Jupiter-Vorbeiflug 2007 wurden sie zunächst nur noch einmal jährlich zu Testzwecken betrieben. Die Wissenschaftler entwickelten jedoch eine Methode, die eine kontinuierliche Auswertung der Daten von PEPSSI und SWAP auch während des Hibernation-Modes erlaubte. New Horizons begann mit kontinuierlichen Messungen ungefähr zu der Zeit, als die Uranusbahn erreicht wurde. Auf diese Weise können seit 2012 nahezu ununterbrochen Daten über die Heliosphäre gesammelt werden. Es soll ein heliosphärischer Querschnitt des Kuipergürtels bis zu einer Entfernung von 50 AE generiert werden; dazu wurden bis 2020 nahezu ununterbrochen Plasma, Staubpartikel und nicht ionisierte Gase gemessen.
2018 registrierte New Horizons mit dem Alice-Instrument ultraviolettes Licht (Lyman-α-Linie) von ca. 40 Rayleigh Stärke, das als von neutralem Wasserstoff jenseits der Heliopause („Wasserstoffwand“) rückgestreutes UV-Licht solaren Ursprungs gedeutet wird. Die Messungen bestätigen Daten, die von den beiden Voyager-Sonden 30 Jahre zuvor gewonnen wurden.
Es ist geplant, dass die Forscherteams von New Horizons und der Voyager-Missionen zusammenarbeiten und verschiedene Messpunkte bei der Heliosphärenforschung gemeinsam auswerten.
Über den Sommer 2020 wurden Softwareupdates für die Instrumente entwickelt, die neue Funktionen und Verbesserungen mit sich bringen und somit einen verbesserten Nutzen aus den Sensordaten ermöglichen. REX kann nun das Venetia-Instrument bei der Messung von Staubpartikeln ergänzen. Ein Partikeleinschlag verursacht eine minimale Dopplerverschiebung, die mit dem Radioexperiment erkannt und ausgewertet wird. Der Upload begann im Februar 2021 mit neuen Funktionen für SWAP.
Am 17. April 2021 erreichte die Sonde 50 AE Abstand zur Sonne.
Eine neue Software für das PEPSSI zur Erkennung von Plasma aus Sonneneruptionen wurde im Jahr 2021 geschrieben und getestet. Sie sollte Anfang 2022 hochgeladen werden, damit wären diverse Updates für die Instrumente abgeschlossen.
Flugbahn
Trivia
Neben der wissenschaftlichen Ausrüstung befinden sich an Bord von New Horizons einige kulturelle Gegenstände. Darunter sind zwei Vierteldollar-Münzen von Maryland und Florida (den Staaten, in denen die Sonde gebaut und gestartet wurde), ein Bauteil von SpaceShipOne, eine CD, die mit 434.738 Namen von Internet-Nutzern beschrieben ist, die sich auf der New-Horizons-Homepage für die „Send-Your-Name-to-Pluto“-Aktion angemeldet hatten, und eine 1991 ausgegebene US-Briefmarke mit der Aufschrift „Pluto Not Yet Explored“. Es ist die Briefmarke, die bisher am weitesten gereist ist und damit auch den Guinness-Weltrekord hält. An Bord befindet sich auch ein Gefäß mit etwa 30 Gramm Asche von Clyde Tombaugh, der Pluto 1930 entdeckte.
Anlässlich des Vorbeiflugs an „Ultima Thule“ am 1. Januar 2019 veröffentlichte der Astrophysiker und Musiker Brian May ein offizielles Musikvideo mit dem Titel New Horizons (Ultima Thule Mix).
Es gab eine Planung für eine weitgehend baugleiche Sonde New Horizons 2, die Uranus und verschiedene KBO besuchen sollte. Nach der Planungsphase erhielt das Projekt keine Finanzierungszusage und wurde 2004 gestoppt. Bis zu dem damals geplanten Startzeitpunkt hätte vermutlich nicht genügend Plutonium für die RTGs zur Verfügung gestanden.
Siehe auch
Liste der Raumsonden
Literatur
Thorsten Dambeck: Der Voyager-Erbe. In: Astronomie heute. Jan./Feb. 2006, S. 16–19.
Alan Stern: Plutos Enthüllung. In: Spektrum der Wissenschaft. Nr. 3, 2018, S. 60–67.
Weblinks
Offizielle NASA-Seite zur Sonde (englisch)
Seite der Johns Hopkins University zur Sonde (englisch)
New-Horizons-Missionsbeschreibung von Bernd Leitenberger
Umfangreiche Beschreibung von New Horizons, übernommen aus dem Pressematerial zum Start (englisch)
Johns Hopkins Magazine – Mission: Pluto (englisch)
Einzelnachweise
Sonde ins äußere Sonnensystem
Pluto
NASA
Raumfahrtmission 2006
Wikipedia:Artikel mit Video |
327474 | https://de.wikipedia.org/wiki/Englisch-Niederl%C3%A4ndischer%20Krieg%20%281665%E2%80%931667%29 | Englisch-Niederländischer Krieg (1665–1667) | Der Zweite Englisch-Niederländische Krieg war ein militärischer Konflikt zwischen dem Königreich England und den Vereinigten Provinzen der Niederlande in den Jahren 1663 bis 1667; die offizielle englische Kriegserklärung war jedoch erst im März 1665 erfolgt.
Es war der zweite in einer Reihe englisch-niederländischer Seekriege im 17. und 18. Jahrhundert. In der Auseinandersetzung ging es vor allem um die Gewinnung wirtschaftlicher Vorteile. Auch die Königreiche Frankreich und Dänemark sowie das Hochstift Münster wurden in den Krieg verwickelt, nahmen jedoch nur in geringem Umfang an ihm teil. Zur Beendigung der letztlich für die Niederlande siegreichen Kampfhandlungen, die drei offene Seeschlachten umfassten, schlossen die Parteien schließlich am 31. Juli 1667 den für die Niederlande günstigen, aber für England moderaten Frieden von Breda.
Vorgeschichte
(Hinweis: Kalenderdaten in diesem Artikel beziehen sich auf den gregorianischen Kalender, der dem damals in England verwendeten julianischen Kalender zehn Tage voraus war.)
Bereits in den Jahren von 1652 bis 1654 hatten das Commonwealth of England und die Vereinigten Provinzen der Niederlande den erbitterten ersten Englisch-Niederländischen Seekrieg geführt, in dem die beiden Mächte um die Dominanz im Welthandel gerungen hatten. Er war am 8. Mai 1654 mit dem Frieden von Westminster beendet worden, in dem die Niederlande die englische „Navigation-Act“ anerkennen mussten, welche vorschrieb, dass die Einfuhr außereuropäischer Güter nach England ausschließlich auf Schiffen unter englischer Flagge oder auf Schiffen der Ursprungsländer erfolgen dürfe. Dieser Beschluss zielte vor allem auf die Verdrängung der Niederländer aus dem lukrativen englischen Handel und war daher nicht geeignet, den handelspolitischen Konkurrenzkampf zu beenden.
In den folgenden Jahren kam es zu einigen politischen Umwälzungen. Im Mai 1660 kehrte Charles II. (1630–1685) als König nach England zurück und erneuerte in der Stuart-Restauration die Monarchie in England. Er hatte jedoch dem englischen Parlament weitreichende Zugeständnisse machen müssen. So kontrollierte es den Haushalt und die Steuergesetzgebung des Landes, was Charles II. in einem Abhängigkeitsverhältnis ließ. Der König strebte jedoch danach, die Macht der Krone wiederherzustellen und sie bei sich bietender Gelegenheit in ein absolutistisches Königtum umzuwandeln. Dazu benötigte er in erster Linie Geldmittel, um eine eigenständige Politik betreiben zu können. Die Ehe mit Katharina von Braganza (1638–1705) brachte 1662 eine großzügige Mitgift, und im gleichen Jahr verkaufte Charles II. die Stadt Dünkirchen an König Ludwig XIV. von Frankreich (1638–1715). Auch von einem Krieg gegen die Vereinigten Niederlande versprach sich der König hohe Gewinne durch Kaperfahrten und Beute. Schließlich waren die Einkünfte während des ersten Krieges gegen die Vereinigten Niederlande außerordentlich hoch gewesen – die Beute dieses Krieges umfasste 120 Millionen Pfund Sterling, während die gesamten englischen Staatsausgaben im Jahr 1652/53 nur 53 Millionen Pfund Sterling ausmachten. Des Weiteren hegte Charles II. einen persönlichen Groll gegen die Regierung der Vereinigten Niederlande, genauer gesagt, gegen die Partei der Brüder De Witt. Die Stuarts waren eng verwandt mit dem Haus Oranien. Dieses aber war durch den Act of Seclusion, einen geheimen Zusatzartikel zum Frieden von Westminster, von der Statthalterschaft in den Niederlanden ausgeschlossen worden. Ein Krieg gegen die Partei Johan de Witts (1625–1672) und Andries de Graeffs (1611–1678) bedeutete somit gleichsam den Kampf für die Interessen der eigenen Verwandtschaft.
Doch auch im Parlament fanden sich zahlreiche Befürworter eines neuen Waffengangs gegen die Vereinigten Niederlande. Im Jahre 1662 schien sich eine Bedrohung abzuzeichnen, da in diesem Jahr Frankreich und die Vereinigten Niederlande einen gegenseitigen Beistandspakt abschlossen. Besonders führte vor allem der Bruder des Königs James, Duke of York (1633–1701), der später selbst König werden sollte, die Kriegspartei an. Er stand an der Spitze der Royal African Company, der auch andere einflussreiche Männer wie Prinz Ruppert, der Duke of Buckingham und der Innenminister Sir Henry Bennet angehörten, und hoffte, mittels eines Krieges die Konkurrenz durch die Niederländische Westindien-Kompanie auszuschalten – im Jahre 1650 fuhren etwa 16.000 Handelsschiffe unter niederländischer und rund 4000 unter englischer Flagge. Ähnlich wie er dachten auch zahlreiche andere Repräsentanten. Dies spiegelte sich bei Ausbruch des Krieges in den Worten des englischen Flottenführers George Monck (1608–1670) wider:
Die englische Flotte
Da es sich bei beiden Staaten um Seemächte handelte, die vor allem um maritime Handelsvorteile kämpften, kam den jeweiligen Flotten entscheidende Bedeutung zu. In England hatte König Charles II. die Marinepolitik Oliver Cromwells (1599–1658) fortgeführt und die Flotte unter der Leitung Admiral Moncks aufrüsten lassen. Die englische Flotte verfügte zu Beginn des Krieges über eine Reihe von Linienschiffen mit drei Decks, die jeweils mit 90 bis 100 Geschützen ausgerüstet waren (darunter viele Zweiundvierzigpfünder). Den Kern der Flotte bildeten drei Schiffe erster Klasse (80 bis 100 Kanonen), zwölf Schiffe zweiter Klasse (60 bis 80 Kanonen) und 15 Schiffe der dritten Klasse (54 bis 64 Kanonen). Schiffe mit weniger als 32 Geschützen wurden hingegen aus der Schlachtflotte ausgesondert. In dieser Hinsicht war die englische Schlachtflotte der niederländischen überlegen. Hingegen begann man aufgrund der drückenden Schuldenlast erst im Herbst 1664 mit einem neuen Bauprogramm, welches sechs Zweidecker mit jeweils 60 Kanonen umfasste. Ein größeres Problem stellte die Rekrutierung der Besatzungen dar. Im Jahre 1664 dienten 16.000 Seeleute in der königlichen Marine, obwohl 30.000 gebraucht wurden. Um diese Zahl zu erreichen, wurden verstärkt Männer in die Marine gepresst, also zwangsverpflichtet.
Auch in taktischer Hinsicht war die englische Flotte weiter entwickelt als die anderer Staaten. Der Duke of York legte 1665 fest, dass die Formation der Kiellinie die verbindliche Standardformation für die ganze Flotte sein sollte und nicht nur für einzelne Geschwader:
Die niederländische Flotte
Während in England eine einheitliche Organisation vorherrschte, war dies in den föderal organisierten Vereinigten Niederlanden kaum möglich. Fünf verschiedene Admiralitäten (Middelburg, Rotterdam, Amsterdam, Hoorn bzw. Enkhuizen und Harlingen) in drei an der See liegenden Provinzen (Zeeland, Holland und Friesland) rangen um die Kompetenzen, und die verschiedenen Statthalter waren mit Rücksicht auf Einsparungen selten bereit, größere Summen in den Ausbau der Flotte zu investieren. Trotzdem gab es mit dem Ratspensionär Jan de Witt einen führenden Politiker, der sich um den Aufbau bemühte. Die Admiralitäten der Provinzen verzichteten im Gegenzug zu einer höheren Bezahlung auf einen Teil ihrer Unabhängigkeit. Auf diese Weise reorganisierte er die Marineadministration. Ergänzt wurden diese Bemühungen durch ein größeres Bauprogramm. Beim Friedensschluss im Jahre 1654 war die alte Kriegsflotte der Vereinigten Niederlande von 80 Kriegsschiffen mit durchschnittlich 34 Geschützen, ab Ende 1653 durch 64 neue Schiffe (mit jeweils 44 bis 60 Geschützen) verstärkt worden. Diese durften durch einen Beschluss der Generalstaaten nicht mehr verkauft werden. Die Schiffe wurden aufgelegt und im Bedarfsfall aktiviert (ausgebessert, aufgetakelt, bemannt und ausgerüstet). Diese Schiffe, die für die Schlachten von 1653 zu spät fertig geworden waren, standen nun für einen neuen Krieg sofort wieder zur Verfügung. De Witt hatte somit die sogenannte „neue Marine“ geschaffen. Hinzu kamen die (meistens älteren) 80 bis 90 kleineren und leicht bewaffneten Schiffe, deren Aufgabe nun vornehmlich der Schutz von Geleitzügen sein sollte. Die Erfahrungen des vergangenen Krieges gegen England hatten gezeigt, dass Seekriege nicht durch den Schutz der Handelslinien, sondern in großen Seeschlachten durch schlagkräftige Flotten entschieden würden. Trotzdem besaßen die größten niederländischen Schiffe bei Ausbruch des Krieges nur zwei Decks mit 60 bis 80 Geschützen (maximal Vierundzwanzigpfünder). Über die Hälfte der niederländischen Schlachtflotte bestand aus Schiffen mit maximal 32 Geschützen und bei 30 bis 40 Prozent der Schiffe handelte es sich um bewaffnete Kauffahrtsschiffe. Damit war sie der englischen Flotte qualitativ unterlegen. Allerdings hatte Jan de Witt für den Bau zahlreicher schneller Avisos (niederländisch adviesjachten; Schiffe für den Nachrichten- und Beobachtungsdienst) und Fregatten gesorgt, die zwar nur ein Deck besaßen, dafür allerdings sehr wendig waren. Im Verlauf des Krieges sollten die Vereinigten Niederlande diese Unterlegenheit durch zahlreiche Neubauten und gekaperte Schiffe aufholen. Im August 1664 wurden 30 ältere Schiffe wieder operativ gemacht, im November 1664 achtzehn weitere; im selben Monat befahlen die Generalstaaten am 17. November den Bau 24 neuer „Kapitalschiffe“ (Capitale schepen van Oorloge) wie etwa die Hollandia; im März 1665 wurden 24 weitere Neubauten befohlen, im Juli 1666 nochmals zwölf. Von diesen sechzig Schiffen waren 28 den britischen second rates (zweiter Klasse) ebenbürtig, 32 den britischen third rates. Dazu wurden in den Jahren 1664–1667 21 Fregatten und Avisos gebaut.
Kriegsverlauf
Operationen bis zur offiziellen Kriegserklärung
Infolge anti-niederländischer Stimmung kam es im Vorfeld des Krieges oft zu Zusammenstößen zwischen englischen und niederländischen Schiffen. Einige englische Unternehmer rüsteten private Kaperfahrer aus, die bis zur offiziellen Kriegserklärung im Frühjahr 1665 mehr als 200 niederländische Handelsschiffe aufbrachten. Die ungerechte Behandlung englischer Bürger in den niederländisch-ostindischen Kolonien bot im Jahre 1663 einen willkommenen Vorwand, um Kampfhandlungen auch im größeren Rahmen zu eröffnen. Im Auftrag der Royal African Company wurde ein Geschwader unter Captain Robert Holmes (1622–1692) in die westafrikanischen Gewässer entsandt mit dem Befehl: und Captain Holmes kreuzte zunächst vor dem niederländischen Stützpunkt Gorée (Senegal) und kaperte dort am 27. Dezember 1663 das Handelsschiff Brill. In den folgenden Wochen kaperte er zwei weitere Schiffe und versenkte zwei andere. Am 23. Januar 1664 eroberte Holmes Gorée selbst. Von dort aus operierte er weiter gegen die niederländischen Handelslinien. Dabei kaperte er am 28. März das große niederländische Schiff Walcheren (das anschließend in die Royal Navy eingereiht wurde) und eroberte am 20. April das Fort Taccorary an der Goldküste (heute Teil der Republik Ghana). Danach fielen noch weitere kleinere Stützpunkte und Schiffe in seinen Besitz, bevor Holmes seinen Eroberungszug in Westafrika am 1. Mai 1664 beendete.
Obwohl Charles II. Holmes nach seiner Rückkehr nach England pro forma verhaften ließ, weil er die bestehenden Verträge mit den Vereinigten Niederlanden verletzt hatte, verweigerte er die Herausgabe der gemachten Eroberungen. Damit die Niederlande nicht als erste den Krieg losbrachen, schickten sie im August 1664 ein Geschwader mit 12 Schiffen, angeblich fürs Mittelmeer bestimmt, nach Süden. Erst auf der Höhe von Gibraltar sollte Michiel de Ruyter die anderen Kapitäne und die Mannschaften vom wahren Ziel der Fahrt informieren und dann sich für die Fahrt nach Afrika rüsten. Tatsächlich konnten alle Stützpunkte bis auf Cape Coast Castle im Spätherbst wieder eingenommen werden. Etwa zur gleichen Zeit setzte das englische Parlament neben der privaten Unternehmung Captain Holmes’ auch die reguläre Flotte gegen niederländische Kolonien ein. Die niederländische Kolonie Nieuw Amsterdam hatte sich nicht an den Navigation-Act gehalten, was als Vorwand zu einem militärischen Unternehmen diente. Unter Major Richard Nicolls erschienen vier englische Fregatten vor der niederländischen Kolonie auf der Insel Manhattan und forderten die Stadt zur Übergabe auf. Diese wurde am 27. August kampflos übergeben und von den Engländern nunmehr zu Ehren von James, Duke of York, dem Bruder des englischen Königs, in New York umbenannt. Von dort aus entsandte Nicolls eine weitere Expedition unter Sir Robert Carr gegen die niederländischen Siedlungen am Delaware, welche angegriffen und geplündert wurden.
Während sich De Ruyter nach dem Abschluss der Operationen vor Afrika gegen den englischen Handel in den Westindischen Inseln wandte und dort bis zum Frühjahr 1665 dem englischen Handel schadete (im März 1665 versuchte er vergeblich Barbados zu erobern), wurden in England schärfere Schritte zu einem Krieg unternommen. Die „Kriegsfraktion“ im Parlament setzte ein Komitee ein, dessen Aufgabe in der Sammlung von Beschwerden gegen die niederländischen Händler bestand. Doch die englischen Händler waren kaum dazu zu bewegen, da sie bei einem Krieg mit größten Umsatzeinbußen rechnen mussten. Trotzdem legte das Komitee dem König später eine lange Beschwerdeliste vor. Gleichzeitig trat der einflussreiche Botschafter in den Niederlanden Sir George Downing für einen harten Kurs in Fragen der westafrikanischen Kolonien ein, da er glaubte, dass die Niederlande wegen dieser Besitzungen keinen Krieg wagen würden. In dieser allgemeinen Stimmung gewährte das Parlament dem König die Summe von 2,5 Millionen Pfund Sterling, um den englischen Handel offiziell zu schützen – die doppelte Zahl des jährlichen königlichen Haushaltes. Dies war die bis dato größte je gewährte Summe und sollte in diesem Jahrhundert nicht übertroffen werden.
Als im Dezember 1664 Nachrichten von der Rückeroberung der westafrikanischen Stützpunkte durch De Ruyters Verband in England eintrafen, erlaubte ein Komitee des Parlamentes den englischen Schiffen im Ärmelkanal und in der Nordsee, gegen niederländische Schiffe vorzugehen. Das englische Mittelmeergeschwader unter Admiral Thomas Allin griff noch im selben Monat (29. Dezember) die niederländische Smyrnaflotte in der Straße von Gibraltar an. Obwohl der Überfall misslang (nur zwei Handelsschiffe wurden gekapert, ein weiteres versenkt), zog die niederländische Regierung aus ihm schwerwiegende Konsequenzen. Im Januar 1665 erlaubte sie ihren Schiffen zum Zweck der Selbstverteidigung, das Feuer auf englische Schiffe zu eröffnen. Die englische Regierung nahm diese Erklärung neben dem Zug De Ruyters in die Karibik wiederum zum Anlass, um am 4. März 1665 den Vereinigten Niederlanden offiziell den Krieg zu erklären. Die Flotte De Ruyters befand sich zu diesem Zeitpunkt noch vor Nordamerika, wo sie vor Neufundland eine englische Fischfangflotte kaperte.
Der Kampf um die Seeherrschaft 1665
Wenngleich die beiden Kriegsflotten fast gleich stark waren, war die englische Flotte auf den Waffengang zunächst besser vorbereitet. Sie verließ unter dem Kommando des Duke of York ihre Häfen bereits Anfang Mai 1665 und blockierte mit 88 Schiffen und 21 Brandern die niederländische Küste. Diese Blockade verlief wenig effektiv, und nur wenige niederländische Schiffe wurden abgefangen – die großen niederländischen Konvois aus den Kolonien wurden erst im Juli erwartet. Man konnte die niederländische Flotte jedoch auch nicht in ihren Häfen angreifen, da die großen englischen Schiffe zu viel Tiefgang hatten, um in die flachen niederländischen Küstengewässer einzulaufen. Gleichzeitig machten der englischen Flotte Versorgungsschwierigkeiten zu schaffen. Deshalb beschloss man, die Blockade wieder aufzuheben und sich in die Heimathäfen zurückzuziehen.
Die Niederländer hatten Probleme, ihre Flottenverbände auszurüsten, da der einzige einsatzbereite Verband noch immer unter de Ruyters Kommando im Atlantik operierte. Trotzdem überwog die Befürchtung vor einer erneuten Blockade der Küste. Ratspensionär Jan de Witt befahl deshalb der Flotte unter Admiral Jacob van Wassenaer Obdam (1610–1665), auszulaufen und die englische Flotte zu schlagen, bevor sie wieder in niederländischen Gewässern auftauchen könnte. Obwohl sich Admiral Obdam bewusst war, dass die Rüstung noch nicht abgeschlossen und die Flotte noch nicht vollkommen einsatzbereit war, fügte er sich de Witts Anweisungen und lief mit 103 Schiffen, 11 Brandern, 4870 Geschützen und 21.600 Mann aus. Am 30. Mai konnte die niederländische Flotte einen ersten Erfolg für sich verbuchen, als ihr bei der Doggerbank die Aufbringung eines großen englischen Handelskonvois aus Hamburg gelang. An der englischen Küste trafen dann die beiden Kriegsflotten am 13. Juni 1665 in der Seeschlacht bei Lowestoft aufeinander. Dabei gerieten die Niederländer bald ins Hintertreffen. Nach dem Verlust von 17 Schiffen und drei Admirälen (darunter Admiralleutnant Obdam), zog sich die niederländische Flotte unter dem Kommando des Vizeadmirals Cornelis Tromp (1629–1691) zurück.
Diese Niederlage führte in den Vereinigten Niederlanden zu großen Anstrengungen, die Schlagkraft der Flotte zu erhöhen. Mehrere Seeoffiziere wurden wegen Feigheit angeklagt; von ihnen wurden drei Kapitäne exekutiert, vier entehrt und weitere entlassen. Admiral Tromp wurde nun der Oberbefehl über die Flotte übertragen. Da er jedoch zur Partei der Oranier gehörte, wurde seine Arbeit von drei Deputierten überwacht. Admiralleutnant Tromp reorganisierte die Geschwader, besserte die Schäden an den Schiffen aus, trainierte die Mannschaften und warb neue an. Jan de Witt ließ größere Kriegsschiffe bauen und schwerere Kanonen gießen, um mit den englischen Schiffen konkurrieren zu können. Bald kehrte auch Vizeadmiral De Ruyters Geschwader aus den westindischen Gewässern zurück und verstärkte die niederländische Flotte. De Ruyter wurde nun als Admiralleutnant der Oberbefehl über die Flotte gegeben, was zu Verstimmungen zwischen ihm und Tromp führte. Dies sollte der Beginn einer jahrelangen Rivalität sein.
Eine effektive Ausnutzung des englischen Sieges hätte in der erneuten Blockade der niederländischen Küste durch die englische Flotte bestehen können. Doch aufgrund der noch immer nicht überwundenen Versorgungsprobleme war dies unmöglich, und die Vereinigten Niederlande erhielten somit die Gelegenheit, sich von ihrer Niederlage zu erholen. Zusätzlich wurde die englische Kriegsführung durch eine Pestepidemie behindert, die Tausende von Menschenleben forderte und später als Große Pest von London bekannt wurde. Nur im August 1665 kam es zu einer größeren Operation, als eine englische Flottille versuchte, die im norwegischen Bergen (damals Teil des Königreiches Dänemark) liegende niederländische Gewürzflotte aus Ostindien zu erbeuten. Doch in der Schlacht in der Bucht von Bergen (auch Schlacht von Vågen genannt) wurden die Engländer am 12. August durch die Schatzflotte unter Konteradmiral Pieter de Bitter zurückgeschlagen. De Ruyter fuhr danach dem Geleitzug entgegen, um ihn zu eskortieren. Außerdem hatten auch dänische Küstenbatterien auf Seiten der Niederländer in die Kämpfe eingegriffen. Auch andere, kleinere Unternehmen der englischen Marine gegen den niederländischen Handel schlugen fehl, während der Mangel an Geld und Lebensmitteln sowie die Pestepidemie keine größeren Operationen zuließen. Im September waren nur noch vier Linienschiffe einsatzbereit. Deshalb musste das Parlament im Oktober erneut 1.250.000 Pfund Sterling bewilligen, um im folgenden Jahr eine neue Flotte bereitstellen zu können. Im selben Monat begannen die Niederländer ihrerseits mit einer Blockade der Themsemündung, die sie jedoch abbrechen mussten, als auch auf ihren Schiffen die Pest ausbrach.
Landkrieg und Diplomatie
In der Zwischenzeit hatte sich die englische Regierung um Verbündete auf dem Festland bemüht, um dadurch die Niederlande in einen Landkrieg zu verwickeln und so zu schwächen. Als natürlicher Verbündeter hierfür erschien das Königreich Spanien. Von diesem hatten die Vereinigten Niederlande erst 1648 mit Beendigung des Achtzigjährigen Krieges ihre endgültige Unabhängigkeit erkämpft, doch der Südteil, die sogenannten Spanischen Niederlande, standen noch immer unter der Kontrolle der spanischen Monarchie. Spanien hatte indessen erst wenige Jahre zuvor die ungünstig verlaufenen Kriege gegen Frankreich (1635–1659) und, damit zusammenhängend, gegen England (1655–1660) beendet und führte den seit 1640 andauernden Restaurationskrieg gegen Portugal. Die spanische Regierung litt gerade unter innenpolitischen Wirren und fand sich nicht bereit, Charles II. zu unterstützen. Hauptgrund war die Befürchtung, wiederum gegen Frankreich kämpfen zu müssen, welches mit den Vereinigten Niederlanden verbündet war.
Erfolgreich sprachen die Engländer hingegen Christoph Bernhard von Galen an, den Fürstbischof von Münster, der die Herrschaft Borkelo in der niederländischen Provinz Gelderland für sich beanspruchte. Er willigte gegen die Zahlung von Subsidien in einen Allianzvertrag mit England ein. Mit einem Truppenkontingent fiel er im Sommer 1665 in Twente ein und behauptete sich dort erfolgreich gegen die schwachen niederländischen Landtruppen. Nun griff Ludwig XIV. von Frankreich erstmals in den Konflikt ein. Zwischen ihm und den Vereinigten Niederlanden bestand seit 1662 ein Defensivbündnis. Diesem kam er im Herbst 1665 nach, indem er mehrere Korps gegen den Bischof von Münster entsandte, die dessen Truppen zurückwarfen.
Während der Wintermonate kam die niederländische Diplomatie zum Tragen. Da sich Frankreich eingeschaltet hatte, drängte die englische Regierung auf einen schnellen Friedensschluss. Im November 1665 bot Charles II. unter der Bedingung, dass die Partei der Oranier wieder politische Ämter erhielt, Verhandlungen an. De Witt lehnte dies ab und erklärte, dass ein Friedensschluss nur dann erfolgen könne, wenn die alten Besitzstände wieder hergestellt würden. Stattdessen arbeitete er an einer anti-englischen Allianz. Frankreich erklärte noch am 22. Januar 1666 England den Krieg. Ludwig XIV. bereitete jedoch gerade einen Angriff auf die Spanischen Niederlande vor und hatte deshalb nicht vor, seine Streitkräfte für die Interessen der Vereinigten Niederlande zu opfern. Vielmehr ging es ihm darum, dass England und die Niederlande sich gegenseitig soweit schwächen würden, dass sie sich seinem Feldzug gegen Spanien nicht mehr entgegenstellen könnten. Dänemark folgte dem französischen Beispiel im Februar. Der dänische König Friedrich III. (1609–1670) verpflichtete sich, gegen die Zahlung von Subsidien 30 Kriegsschiffe zu stellen. Außerdem beschlagnahmte er sämtliche englische Waren und Schiffe in dänischen Häfen. Der Feldzugsplan für das folgende Jahr sah vor, dass französische Truppen gegen den Bischof von Münster vorgehen sollten. Auch Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620–1688), der mit den Oraniern verwandt war, schloss sich der Koalition an. Er versprach, von seinen Besitzungen am Rhein aus ebenfalls Bernhard von Galen anzugreifen. Unter diesem Druck (und weil die englischen Subsidien nicht gezahlt worden waren) schloss der Bischof am 18. April 1666, noch bevor gegnerische Truppen sein Territorium betraten, den Frieden von Kleve, in dem er seine Ansprüche fallen ließ. Damit verlor Charles II. seinen einzigen Verbündeten.
Operationen im Jahre 1666
Nach diesen Entwicklungen im Frühjahr 1666 lagen die Vorteile auf Seite der Vereinigten Niederlande. Im Mai 1666 sammelte sich die niederländische Flotte unter Admiral De Ruyter und ging vor der Küste Flanderns vor Anker, um dort auf die französische Flotte zu warten. Sie umfasste 91 Schiffe, 4716 Geschütze und 24.500 Mann. Die Führung der englischen Marine – 81 Schiffe, 4460 Geschütze und etwa 21.000 Mann – war inzwischen auf Admiral Monck übergegangen. Allerdings war er in seinen Entscheidungen nicht frei. So musste er auf ausdrücklichen Befehl des Königs ein Geschwader (25 Schiffe) unter Rupert, Duke of Cumberland (1619–1682) zum westlichen Ausgang des Ärmelkanals entsenden, um dort der französischen Flotte entgegenzutreten. Mit den verbliebenen Schiffen entschied sich Monck trotz seiner großen zahlenmäßigen Unterlegenheit zum Angriff auf die niederländische Flotte. Im Süden der Nordsee kam es daraufhin vom 11. bis zum 14. Juni 1666 zur sogenannten „Viertageschlacht“, in deren Verlauf auch das Geschwader des Duke of Cumberland eingriff. Die Engländer erlitten in dieser Schlacht eine schwere Niederlage. Sie verloren zehn Schiffe und 8.000 Mann, die Niederländer nur vier Schiffe und 2.000 Mann.
Der Sieg erlaubte der niederländischen Flotte die uneingeschränkte Ausübung der Seeherrschaft. Im Juli blockierte sie die Themsemündung und somit den Handelsverkehr Londons. Doch die gut organisierte Marineverwaltung Englands erlaubte es Admiral Monck, die englische Flotte bald wieder gefechtsbereit zu machen. Am 2. August ging sie wiederum zur Offensive über. Die wiederhergestellte Flotte zählte 90 Schiffe und 20 Brander und stand unter dem Kommando der Admiräle Monck und Cumberland, die sich das Kommando als „joint admirals“ teilten. Admiral De Ruyters Verband umfasste 72 Schiffe und 16 Fregatten. Am 4. August 1666 stießen die beiden Flotten nach einigem Manövrieren bei North Foreland (nördlich von Dover) aufeinander. Die folgende Schlacht, die auch als St. James’s Day Fight bekannt wurde, endete mit einem eindeutigen Sieg der Engländer. Obwohl die Niederländer nur zwei Schiffe einbüßten, wurde ihre Flotte auseinandergesprengt und musste sich, von den englischen Verbänden verfolgt, in die niederländischen Häfen flüchten. Die Schlacht bei North Foreland hatte schwerwiegende Konsequenzen. In den Vereinigten Niederlanden wurde Admiralleutnant Tromp am 13. August wegen seines Verhaltens in der Schlacht aus dem Flottendienst entlassen. Die englische Flotte ging nun ihrerseits an die Blockade der niederländischen Küsten und überfiel holländische Häfen und Inseln. Der bekannteste Fall ereignete sich am 20. August. Vizeadmiral Robert Holmes brannte das Dorf Ter Schelling (das heutige West-Terschelling) auf der Insel Terschelling nieder und versenkte in der Vlie (nahe der Insel Terschelling) 140 bis 150 Handelsschiffe, die dort vor Anker lagen. Dieses Ereignis wurde in England als Holmes’s Bonfire bekannt und gefeiert.
Unter diesen vorteilhaften Bedingungen begann Charles II. erneut die Aufnahme von Friedensverhandlungen. Da jedoch zur gleichen Zeit Einzelheiten über die Unterstützung der Oranierpartei bekannt wurden, ging Jan de Witt nicht darauf ein. Am 2. September 1666 brach in London ein großes Feuer aus, das vier Tage lang wütete und als „Großer Brand von London“ in die Geschichte einging. Mehr als 100.000 Menschen wurden obdachlos sowie 13.200 Häuser und 87 Kirchen zerstört. Der wirtschaftliche Schaden war mit geschätzten zehn Millionen Pfund enorm. Zusammen mit der Großen Pest des vergangenen Jahres sorgte dies für eine zunehmende Kriegsmüdigkeit der englischen Bevölkerung, und beide Ereignisse überlasteten auch die wirtschaftliche Basis der englischen Kriegführung. Der Krieg hatte nicht die erhofften Gewinne eingebracht und das Parlament weigerte sich, neue Gelder für die Kriegführung zu bewilligen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass ein Teil der bereits bewilligten Gelder in die teure Hofhaltung des Königs geflossen war. Im folgenden Jahr setzte es deshalb ein „Committee of Accounts“ ein, das zukünftig die Verwendung aller vom Parlament bewilligten Gelder überwachte. Unter diesen Bedingungen war es naheliegend, dass Charles II. seine Friedensbedingungen reduzierte. Schon Ende Oktober 1666 wurden Verhandlungen im niederländischen Breda aufgenommen.
Der Krieg in Übersee
Auch im karibischen Raum entwickelten sich Kämpfe. Dort versuchte vor allem die französische Flotte, Vorteile zu erringen. Bereits im April 1666 eroberte sie die Insel St. Kitts, und im November desselben Jahres nahm sie ebenfalls die englischen Siedlungen auf Antigua ein. Im Mai 1667 unternahm ein französisch-niederländischer Flottenverband von 17 Schiffen schließlich den Versuch, die Insel Nevis zu erobern. Ein englisches Geschwader griff diesen Verband jedoch mit zwölf Schiffen an. Obwohl das englische Geschwader in dieser Seeschlacht vor Nevis drei Schiffe verlor, verhinderte es die Landung gegnerischer Truppen auf der Insel.
Im Frühjahr 1667 wurde auch eine englische Expedition von neun Schiffen unter dem Kommando von Konteradmiral Sir John Harman († 1673) ausgesandt, um ein Übergewicht in der Karibik zugunsten Englands zu erreichen. Der Verband erreichte das englische Barbados Anfang Juni. Der Versuch der Rückeroberung von St. Kitts am 16. Juni durch Henry Willoughby misslang zwar, doch wenige Tage darauf, am 25. Juni, begann Harman eine Reihe von Angriffen auf Martinique, und am 6. Juli gelang ihm ein Überfall auf ein französisches Geschwader von 23 schwächeren Schiffen und drei Brandern. Sieben französische Schiffe, inklusive des Flaggschiffs, wurden verbrannt; einige andere wurden versenkt und wieder andere versenkten sich selbst, um der Übernahme zu entgehen. Nur drei Schiffen gelang die Flucht. Harman nutzte die gewonnene Bewegungsfreiheit und eroberte am 15. September Cayenne und am 8. Oktober das kurz zuvor (6. März 1667 durch Admiral Abraham Crijnssen) an die Niederländer verlorene Suriname. Danach kehrte er Anfang November nach Barbados zurück und erreichte England schließlich im April 1668. Diese Kämpfe hatten jedoch kaum Auswirkungen auf die kriegsentscheidenden Operationen in Europa. Nach dem Frieden von Breda erhielt England fast alle seine verlorenen Besitzungen in der Karibik zurück, während die Niederländer Suriname zugesprochen bekamen.
Der Frieden von Breda
Die Verhandlungen gestalteten sich schwierig. König Charles II. wollte den Krieg nicht ohne jeglichen Gewinn beenden, um sein Gesicht wahren zu können. Doch die Niederländer, und vor allem Jan de Witt, waren zu keinerlei Konzessionen bereit. Sie befanden sich dabei durchaus in einer vorteilhaften Verhandlungsposition. Wegen der finanziellen Einschränkungen durch das Parlament und die Verluste des Großbrandes von London war Charles II. nicht mehr in der Lage, seine Flotte auszurüsten. Gegen den Widerstand Admiral Moncks gab er im Winter 1666/67 Anweisung, die großen Linienschiffe abzutakeln und außer Dienst zu stellen. Der Krieg sollte lediglich mit Kaperfahrern weitergeführt werden, um den niederländischen Handel zu schädigen: „Die Holländer werden hierdurch wirksam gedemütigt, während England gleichzeitig weniger durch die Ausrüstung mächtiger Flotten erschöpft wird; es genügt, nur einige Fregatten auf Kreuztouren zu belassen.“ Der Theoretiker des Seekrieges Alfred Thayer Mahan verurteilte diese Entscheidung später: „Diese Art der Kriegführung hat stets viel Verlockendes, wenn Sparsamkeit beobachtet werden soll, da sie scheinbar nur die Indiensthaltung einiger schneller Kreuzer erfordert. Der Schaden, den man dem gegnerischen Handel zufügt ist unleugbar […] aber er wird nie allein zum Erfolg führen. […] Denn nicht die Wegnahme einzelner Schiffe oder Konvois bringt eine Nation in Gefahr, sondern eine überlegene gegnerische Flottenmacht, welche die schwächere Flagge von der See verjagen kann.“
Gerade über diese überlegene Flotte verfügten die Vereinigten Niederlande ab dem Frühjahr 1667, nachdem ihnen die Engländer die Seeherrschaft hatten überlassen müssen. Trotz dieses Druckes, der auf die englischen Handelswege ausgeübt wurde, zogen sich die Verhandlungen in Breda in die Länge. Da begann im Mai 1667 König Ludwig XIV. seinen lange vorbereiteten Eroberungszug gegen die Spanischen Niederlande (→ Devolutionskrieg). Der schnelle Vormarsch der französischen Truppen beunruhigte die niederländischen Politiker, denn obwohl Frankreich ein verlässlicher Verbündeter war, empfand man es trotzdem auch als mögliche Bedrohung. Der Historiker John A. Lynn formulierte dies mit der Erklärung: „Ein inaktives und müdes Spanien stellte für sie einen besseren Nachbarn dar, als ein mächtiges und aggressives Frankreich.“ Die Vereinigten Niederlande hatten deshalb wesentliches Interesse daran, die Spanischen Niederlande als eine Art „Pufferstaat“ zu erhalten. Daher mussten sie sich nun beeilen, den Krieg gegen England zu beenden, um sich dem Konflikt zwischen Spanien und Frankreich zuwenden zu können.
Um den Druck auf König Charles II. weiter zu erhöhen, befahl De Witt Admiral De Ruyter, England direkt anzugreifen. Der Admiral hielt das Unternehmen zunächst für undurchführbar, fügte sich letztlich jedoch den Anweisungen. Am 9. Juni 1667 drang die niederländische Flotte in die Themsemündung ein und griff dort Befestigungen und Depots an. Sie fiel auch in den Nebenfluss Medway ein und eroberte oder verbrannte dort eine große Anzahl Schiffe der abgetakelten englischen Flotte. De Ruyter besetzte Sheerness und Queenborough und zog sich erst nach fünf Tagen wieder vom englischen Boden zurück. Die Verhandlungen kamen daraufhin wieder in Fluss. Als Charles II. seine Unterschrift jedoch wieder verweigern wollte, segelte Admiral De Ruyter Mitte Juli noch einmal in die Themse ein und erschien vor Gravesend. Dies löste in London eine Panik aus, die viele Bewohner zur Flucht veranlasste. Auch einflussreiche Parlamentarier forderten nun von König Charles II. den raschen Friedensschluss, welcher tatsächlich am 31. Juli 1667 in Breda unterzeichnet wurde.
Die Bestimmungen des Friedensvertrages waren moderat. Die Bestimmungen der Navigation-Act wurden geringfügig erleichtert: Ab nun war es niederländischen Handelsschiffen erlaubt, deutsche Waren, die auf dem Rhein in die Niederlande transportiert worden waren, nach England zu liefern. England gab seine Ansprüche auf der Muskatnussinsel Run in Indonesien auf und erkannte die niederländische Herrschaft in Suriname an, das eine kleine niederländische Expedition noch 1667 erobert hatte. Dafür behielt England die Kolonien New York und New Jersey sowie Cape Coast Castle in Guinea.
Auswirkungen und Folgen
Der Krieg war von Seiten der Vereinigten Niederlande zu einem Zeitpunkt beendet worden, als sie gerade in der vorteilhaftesten Position waren, weil sie sich durch den französischen Einmarsch in den Spanischen Niederlanden dazu gezwungen sahen. Der Friedensvertrag stellte deshalb einen Kompromiss dar. Das englische Kriegsziel, den niederländischen Handel zu zerstören und einen Teil desselben an sich zu bringen, war gescheitert. Doch dadurch, dass einerseits die Niederlande sich aus Nordamerika, andererseits England sich aus Suriname und Indonesien zurückgezogen hatte, trat eine echte Entspannung ein. Die Vereinigten Niederlande blieben die führenden Lieferanten von Muskatnuss und erhielten mit Niederländisch-Guayana eine neue Kolonie.
In England hatte der Konflikt zu einer Zuspitzung des Gegensatzes zwischen König und Parlament geführt. König Charles II. hatte sein Ziel, die Stärkung der finanziellen Unabhängigkeit der Krone vom Parlament, verfehlt. Stattdessen kontrollierte das „Committee of Accounts“ nach dem Krieg effektiv die Verwendung aller bewilligten Gelder. König Charles II. sah sich deshalb nach einem neuen Geldgeber um und fand diesen schließlich ab 1670 in König Ludwig XIV. von Frankreich. Die Stuart-Politik richtete sich in der Folge an Frankreich aus und brachte sich so in Gegensatz zum Parlament und zu Teilen der Bevölkerung. Diese Entwicklung gipfelte fast 20 Jahre später in die Glorious Revolution.
In der weiteren politischen Entwicklung traten daneben die Gemeinsamkeiten und Differenzen Englands und der Vereinigten Niederlande weiterhin auf. Schon im Januar 1668 schlossen sich beide Länder mit dem Königreich Schweden in einer Tripelallianz zusammen, um Ludwig XIV. zum Rückzug aus den Spanischen Niederlanden zu zwingen. Der Devolutionskrieg wurde am 2. Mai 1668 im Frieden von Aachen beendet. Danach richteten sich die Expansionsbestrebungen des französischen Königs gegen die Vereinigten Niederlande, von denen er sich verraten fühlte. König Charles II. verbündete sich 1670 im geheimen Vertrag von Dover mit König Ludwig XIV. und eröffnete mit diesem 1672 den gemeinsamen Angriff gegen die Vereinigten Niederlande (→ Holländischer Krieg). Dieser Krieg wird auch als Dritter Englisch-Niederländischer Seekrieg bezeichnet. Er endete bereits 1674 auf Druck des englischen Parlaments.
Einzelnachweise
Literatur
Kurt Kluxen: Geschichte Englands. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (= Kröners Taschenausgabe. Band 374). 4. Auflage. Kröner, Stuttgart 1991, ISBN 3-520-37404-8.
Weblinks
Engl.-niederl.-amerik. Fernsehdoku von 2011:
(abgerufen am 21. Februar 2014)
(abgerufen am 21. Februar 2014)
1665
Krieg (Dänemark-Norwegen)
Krieg (17. Jahrhundert)
1660er
Militärgeschichte (Ghana)
Krieg in der niederländischen Geschichte
Krieg in der britischen Geschichte |
332967 | https://de.wikipedia.org/wiki/Tarraco | Tarraco | Tarraco ist der antike Name der heutigen Stadt Tarragona in der spanischen Region Katalonien. In der römischen Kaiserzeit war sie eines der bedeutendsten Zentren der Iberischen Halbinsel und Hauptstadt einer der größten römischen Provinzen, der nach ihr benannten Hispania Tarraconensis. Ihre vollständige Bezeichnung lautete seit augusteischer Zeit Colonia Iulia Urbs Triumphalis Tarraco.
Seine Blütezeit erlebte Tarraco im 1. und 2. Jahrhundert: Archäologische Untersuchungen lassen in den oberen Stadtbezirken ein monumentales Bauprogramm greifbar werden, mit dem die Stadt zu dieser Zeit ihren Macht- und Repräsentationsanspruch unterstrich. Durch einen reichen Bestand an erhaltenen Steindenkmälern können heute viele Facetten der antiken Metropole rekonstruiert werden. Aufgrund ihrer besonderen historischen Bedeutung wurden die Monumente der Römerstadt im Jahr 2000 als Archäologisches Ensemble von Tarraco zum UNESCO-Welterbe erklärt.
Geschichte
Vorgeschichte und Zweiter Punischer Krieg
Das Stadtgebiet wurde in vorrömischer Zeit von Iberern besiedelt, die mit den an der Küste siedelnden Griechen und Phöniziern Handelskontakte besaßen. Iberische Siedlungen lagen besonders im nahe gelegenen Ebrotal; im Stadtgebiet von Tarragona gibt es Siedlungsfunde seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. Besonders in der carrer de Caputxins nahe dem römischen Theater fand man Siedlungsreste sowie Bruchstücke attischer Keramik. In dem tiefer und näher zum Mittelmeer gelegenen Stadtteil befand sich zwar kein schützender Hafen, jedoch bildete die Mündung des Flusses Francolí (Tulcis) eine kleine Bucht. Wahrscheinlich bestand in der Nähe dazu eine kleinere Siedlung.
Quellen zur Stammeszugehörigkeit der hier siedelnden Iberer widersprechen sich stark: Titus Livius erwähnt ein oppidum parvum („kleine Siedlung“) namens Cissis, Polybios nennt eine Polis namens Kissa (Κίσσα). Bald nach der Landung des Gnaeus Cornelius Scipio Calvus in Empúries (Emporion) 218 v. Chr. im Zweiten Punischen Krieg wird Tarraco erstmals erwähnt. Livius schreibt, dass die Römer in der Nähe von Cissis ein punisches Nachschublager für die Truppen Hannibals eroberten und die Stadt plünderten (Schlacht von Cissa). Kurze Zeit später wurden die Römer „nicht weit von Tarraco“ (haud procul Tarracone) geschlagen.
Es bleibt dabei unklar, ob Cissis und Tarraco identisch sind. Verschärft wird dies noch durch eine in Empúries gefundene Münze, welche die iberische Aufschrift Tarakon-salir trägt (salir bedeutet wahrscheinlich „Silber“). Diese Münze, nach emporianischen Vorbildern an einem unbekannten Ort geprägt, wird allgemein auf die Zeit um 250 v. Chr. datiert, in jedem Fall vor der Ankunft der Römer. Der Name Kesse erscheint auf einer Reihe von Münzen iberischer Herkunft aus dem 1. und 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Diese wurden nach römischen Gewichtsnormen geprägt. Sie kamen hauptsächlich in Tarraco ans Tageslicht, was die Vermutung nahelegt, dass sie auch dort geprägt wurden. Kesse ist wohl mit Cissis gleichzusetzen, wohl der Hauptort der von Plinius dem Älteren erwähnten Cissetani. Für eine früher von Adolf Schulten vermutete Herkunft des Namens aus dem Etruskischen gibt es keine Belege.
Im Jahr 217 v. Chr. ging die römische Verstärkung unter Publius Cornelius Scipio in Tarraco an Land. Tarraco war Winterquartier in den Jahren 211 und 210, in dem Publius Cornelius Scipio Africanus dort die Stämme Spaniens zum conventus versammelte. Die Bevölkerung verhielt sich während des Krieges weitgehend loyal zu den Römern. Livius nennt sie „Verbündete und Freunde des römischen Volkes“ (socii et amici populi Romani), die Fischer von Tarraco (piscatores Tarraconenses) waren mit ihren Booten bei der Belagerung von Carthago Nova behilflich.
Die enge Verknüpfung der frühesten römischen Geschichte Tarragonas zum Geschlecht der Scipionen hat bereits Plinius zum Ausdruck gebracht, als er feststellte, Tarraco sei ein Werk der Scipionen (Tarraco Scipionum opus) wie Karthago eines der Punier.
Tarraco in der Zeit der römischen Republik
In den folgenden beiden Jahrhunderten scheint Tarraco in den Kriegen gegen die Keltiberer die Rolle als Nachschubbasis und Winterlager, die es während des Zweiten Punischen Krieges innehatte, weitestgehend beibehalten zu haben. Deshalb wird allgemein von einer militärischen Präsenz in dieser Zeit ausgegangen, ohne dass ein Truppenlager lokalisiert wäre. Es befand sich möglicherweise im höher gelegenen Bereich der Altstadt, worauf Teile der erhaltenen Stadtmauer Hinweise geben. 197 v. Chr. wurden die eroberten Gebiete, noch schmale Streifen an der Küste Spaniens, in die beiden neuen Provinzen Hispania citerior und Hispania ulterior geteilt. Obwohl Strabon berichtet, dass die Statthalter sowohl in Carthago nova als auch in Tarraco residierten, gibt es zahlreiche Indizien, dass in der republikanischen Zeit Tarraco vorwiegend als Statthaltersitz genutzt wurde.
Nicht völlig geklärt ist der rechtliche Status Tarracos; möglicherweise war Tarraco während der Republik als conventus civium Romanorum (Zusammenkunft römischer Bürger der Provinz) mit zwei magistri (zivile „Vorsteher“) an der Spitze organisiert. Gaius Porcius Cato, Konsul des Jahres 114 v. Chr., wählte im Jahr 108 Tarraco als Ort seiner Verbannung. Da eine Verbannung offiziell ein Verlassen des römischen Staates bedeutete, würde das heißen, dass Tarraco zu diesem Zeitpunkt eine freie oder höchstens eine verbündete Stadt war.
Nach der Beendigung des Sertoriusaufstandes setzten die Tarraconenser eine Ehreninschrift für Gnaeus Pompeius Magnus. Nach Strabon hatte eines der letzten Gefechte unweit von Tarraco stattgefunden. Als Caesar 49 v. Chr. bei Ilerda (Lleida) die Anhänger des Pompeius besiegte, schickten die Tarraconenser eine Huldigungsgesandtschaft und unterstützten sein Heer mit Lebensmitteln. Die Pompeiusinschrift musste nun umgewidmet werden. Kurzerhand wurde der Stein gewendet und auf der neuen Vorderseite eine Inschrift an einen Gefolgsmann Caesars namens Publius Mucius Scaevola angebracht. Nicht überliefert ist, zu welchem Zeitpunkt Tarraco zur römischen Bürgerkolonie erklärt wurde. Einerseits galt Caesars Sieg über die Pompeianer 45 v. Chr. bei Munda als auslösendes Moment, andererseits könnte aber auch sein Adoptivsohn und Nachfolger Augustus Tarraco mit diesem Status ausgezeichnet haben. In der aktuellen Forschung wird vorsichtig für die Zeit um 36 v. Chr. plädiert. Caesar habe nach seinem Sieg bei Munda der Stadt Status und Titel als beneficium (Wohltat, Verdienst, Auszeichnung) verliehen.
Augusteische Zeit
Im Jahr 27 v. Chr. begab sich Kaiser Augustus nach Spanien, um die Feldzüge in Kantabrien zu beaufsichtigen. Wegen seiner schwachen Gesundheit zog er es jedoch vor, in Tarraco zu bleiben, hier trat er sein 8. und 9. Konsulat an. Wahrscheinlich während seiner Anwesenheit wurde ihm in Tarraco ein Altar geweiht. Auf ihn bezieht sich eine Anekdote des Rhetorikers Quintilian: „Die Bewohner von Tarraco berichteten Augustus, dass eine Palme auf dem Altar gewachsen war, der ihm geweiht war. ‚Es scheint‘, antwortete er, ‚dass er nicht oft benutzt wird.‘“ Des Weiteren ließ er später die alte via Herculea zur Via Augusta ausbauen. Ein Meilenstein, gefunden auf der Plaza del Toros, erwähnt die Straße zwischen 12 und 6 v. Chr. Sie führte im Nordosten über Barcino nach Tropaeum Pompei und im Südwesten über Dertosa in Richtung Saguntum und Valentia.
Wohl während der Anwesenheit des Augustus wurden die spanischen Provinzen neu geordnet. Hispania ulterior wurde aufgeteilt in die beiden neuen Provinzen Baetica und Lusitania. Tarraco wurde spätestens unter Augustus zur festen Hauptstadt der Hispania citerior, für die sich in der Kaiserzeit im Sprachgebrauch der Name Hispania Tarraconensis durchsetzte.
Die Stadt erlebte unter Augustus eine Blütezeit. Der Schriftsteller Pomponius Mela beschreibt sie im 1. Jahrhundert folgendermaßen: „Tarraco ist die reichste Hafenstadt an dieser Küste“ (Tarraco urbs est in his oris maritimarum opulentissima). Tarraco prägte unter Augustus und Tiberius eigene Münzen mit Darstellungen des Kaiserkultes und der Aufschrift CVT, CVTT oder CVTTAR.
Nach seinem Tod im Jahre 14 n. Chr. wurde Augustus förmlich zum Gott erklärt. 15 n. Chr. wurde ihm wahrscheinlich im östlichen Stadtteil oder in der Nähe des Kolonieforums ein Tempel geweiht. Dieses Ereignis wird in den annales von Tacitus erwähnt.
Die Stadt in der hohen Kaiserzeit
Im Jahr 68 n. Chr. wurde Galba in Carthago Nova zum Kaiser ausgerufen. Er hatte acht Jahre in Tarraco residiert. Nach dem Vierkaiserjahr 69 begann Vespasian eine Neuordnung der zerrütteten Staatsfinanzen. Nach Plinius war eines der Mittel dazu, ganz Spanien das latinische Bürgerrecht zu gewähren. Dadurch wurden die spanischen Territorien, die von alters her in städtische Gebiete und Territorien mit einer Stammesorganisation aufgeteilt waren, umgewandelt in Gebiete, die um die städtischen Zentren herum organisiert waren, also Kolonien oder Munizipien. Dies erleichterte die Erhebung von Zöllen und Steuern. Städtische Eliten begannen zunehmend, sich durch Unterstützung von Bauprogrammen und Errichtung von Ehrenmalen zu repräsentieren. Die rege Bautätigkeit, bedingt durch die Neuorganisation der Provinz, lässt sich in Tarraco im 2. Jahrhundert gut fassen. In dieser Zeit wurde aller Wahrscheinlichkeit nach das Amphitheater errichtet sowie der Tempelbezirk und das Provinzialforum im oberen Stadtteil. Etwa zwischen 70 und 180 n. Chr. wurden dort die meisten Statuen aufgestellt.
Unter Kaiser Trajan ist als Patron der Stadt der Senator Lucius Licinius Sura belegt. Er wird auf der Inschrift des Arc de Berà genannt, die zwar sekundär dort verbaut, jedoch aus der näheren Umgebung stammen dürfte. Sura stammte selbst aus der Tarraconensis und erreichte höchste Staatsämter. Wohl im Winter 122/123 n. Chr. besuchte Hadrian die Stadt und hielt hier einen Landtag (conventus) für ganz Spanien ab. Auch ließ er den Augustustempel erneuern.
Mit dem Ende des zweiten Jahrhunderts setzten in Tarraco offensichtlich wirtschaftliche Schwierigkeiten ein. Es wurden nur noch wenige Ehrenstatuen in der Stadt errichtet, wahrscheinlich, weil deren Finanzierung zu teuer geworden war. Anscheinend wurden seit der Severerzeit auch verstärkt Postamente beispielsweise als Grabsteine wiederverwendet. In diese Zeit fällt die Niederlage des Gegenkaisers Clodius Albinus; unter seinen Anhängern war auch der Statthalter der Tarraconensis Lucius Novius Rufus. Das folgende Strafgericht des Septimius Severus traf damit auch die führenden Männer der Provinz und der Stadt. Fast gleichzeitig verschwinden die Inschriften, die dem concilium provinciae gewidmet sind. Dafür erscheinen ab jetzt verstärkt Inschriften, die dem Statthalter von Seiten seines militärischen Personals gewidmet wurden. Von nun an waren es weniger die einflussreichen Kaufleute, die im ordo decurionum saßen, als vielmehr die patroni der Spätantike, große Gutsbesitzer und hohe Beamte. Severus ließ den Augustustempel erneuern, Elagabal das Amphitheater, wie ein Inschriftenfund beweist.
Im Jahr 259 wurden im Amphitheater von Tarraco während der valerianischen Christenverfolgung der Bischof Fructuosus und seine beiden Diakone Augurius und Eulogius hingerichtet. Mit dem von Prudentius bezeugten Martyrium beginnen die Nachrichten über eine christliche Gemeinde in Tarraco. Archäologische Nachrichten sind erst am Ende des 3. Jahrhunderts durch Bestattungen im Bereich der Nekropole am Ostufer des Tulcis fassbar. Christliche Bauten sind in Tarraco literarisch erst am Anfang des 5. Jahrhunderts überliefert.
Spätantike
Mit einem Frankeneinfall um das Jahr 260 n. Chr. ist in der Geschichte Tarracos ein Einschnitt fassbar, der einen frühzeitigen Übergang der Stadt zu spätantiken Strukturen zur Folge hatte. Neben schriftlichen Quellen gibt es wenige archäologische Zeugnisse wie die Zerstörung der Villa rustica von Altafulla, östlich von Tarraco an der via Augusta. Dabei wurde ein Münzschatz verborgen, der zwischen die Jahre 259 und 262 n. Chr. datiert wird. Mit Ausnahme des kleinen Hafengebiets begann eine Verödung der städtischen Wohnquartiere in den tiefer gelegenen Stadtteilen. Das Forum der Kolonie wurde im 4. Jahrhundert aufgegeben. Die Entwicklung fand ihren Abschluss im 4. und 5. Jahrhundert, als der obere Stadtteil und das Provinzialforum mit staatlichen und kirchlichen Repräsentationsbauten sowie zivilen Wohnquartieren überbaut wurde. In den ehemaligen Aufgängen zu den oberen Stadtbezirken wurden Siedlungsabfälle abgelagert, die belegen, dass die städtische Bevölkerung weiterhin Waren über den Fernhandel importierte, besonders aus Nordafrika. Im epigraphischen Material Tarracos ist in dieser Zeit ein Einschnitt zu erkennen. Selbst für Postamente von Kaiserstatuen wurden in der folgenden Zeit frühere Denkmäler wiederverwendet. Es treten zudem häufiger Inschriften auf, die auf Wiederherstellung von Gebäuden hinweisen.
Durch die Reformen der Reichsverwaltung unter Diokletian wurde die ganze Iberische Halbinsel in einer Diözese zusammengefasst, die in sechs Provinzen unterteilt war. Tarraco blieb Provinzhauptstadt, wenn auch nur noch einer wesentlich reduzierten Provinz. Die möglicherweise bei dem Frankeneinfall zerstörten Gebäude wurden erst allmählich wieder aufgebaut oder durch neue ersetzt. Diokletian und Maximian ließen zwischen 286 und 293 eine porticus Iovae („Jupiter-Portikus“, möglicherweise Teil einer Basilika) errichten.
Seit der Mitte des 3. Jahrhunderts war die Stadt Bischofssitz und blieb es später unter westgotischer Herrschaft. Die Namen vieler späterer Bischöfe sind aus Konzilsakten bekannt. Mit dem Beginn des 5. Jahrhunderts war Tarraco im Zuge der Völkerwanderung nach dem Rheinübergang von 406 von einem Einfall der Alanen, Vandalen und Sueben betroffen; welchen Schaden er der Stadt zufügte, ist unklar. In den Jahren 468/472 wurde in Tarraco den Kaisern Leo und Anthemius die späteste Kaiserinschrift gesetzt.
Im Jahre 476, nach dem Fall Roms und dem Untergang des weströmischen Reiches, wurde Tarraco von den Westgoten unter ihrem König Eurich eher besetzt als erobert. Anscheinend ging die Einnahme der Stadt ohne größere Einschnitte für deren Bürger vonstatten; Anhaltspunkte für Zerstörungen gibt es jedenfalls nicht und es ergab sich keine Änderung im Namenmaterial. Die Westgoten übernahmen die städtischen Strukturen und stellten eine dünne Oberschicht. Die Funde des christlichen Friedhofes bestätigen diese epigraphische Beobachtung, da es sich fast ausschließlich um Gräber von Romanen handelt. Die westgotischen Könige ließen in Tarragona ihre goldenen Trienten bis 713 prägen. Durch die Entscheidung der Westgoten, Toledo zu ihrer Hauptstadt zu machen und die Abgaben nach Barcino zu entrichten, verlor die Stadt in politischer und fiskalischer Hinsicht an Bedeutung, blieb aber als Sitz eines Metropoliten ein bedeutendes kirchliches Zentrum. Das Ende der aus der Antike überkommenen Verhältnisse kam mit der Ankunft der Mauren; um 716 eroberte al-Hurr die Stadt. Nach Angaben des arabischen Chronisten Ahmad ibn Muhammad ibn Musa ar-Razi („Rasis“, 889–955) wurde die Stadt zerstört. Die Schäden hielten sich jedoch in Grenzen, denn arabische Geographen berichteten später von erhaltenen römischen Bauten.
Quellen
Durch die mittelalterliche und neuzeitliche Überbauung Tarracos sind die meisten Beobachtungen archäologischer Art bruchstückhafte Ausschnitte und Nischen, in denen sich die antike Substanz erhalten konnte. Großflächige Untersuchungen sind nahezu unmöglich. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die Außenstelle Madrid des Deutschen Archäologischen Instituts bei zahlreichen Forschungsvorhaben in Tarragona engagiert. Neuere Forschungen betreibt vor allen Dingen die örtliche Taller Escola d' Arqueologia.
Neben überdurchschnittlich vielen Erwähnungen bei antiken Schriftstellern aufgrund seiner Bedeutung als Provinzhauptstadt ist Tarracos Geschichte wie die keiner anderen der iberischen Städte durch Inschriften über einen Zeitraum von 800 Jahren dokumentiert. Fast 1500 gefundene Exemplare bieten eine unschätzbar wertvolle Quelle für die Verwaltungs-, Militär-, Wirtschafts-, Sozial-, Bevölkerungs-, Kultur- und Religionsgeschichte, nicht nur für die Stadt Tarraco, sondern für die ganze Provinz und die Iberische Halbinsel unter dem Imperium Romanum. Im Jahr 1966 gab José M. Recasens den ersten Band La ciutat de Tarragona heraus. 1978 folgte Géza Alföldy mit einem ausführlichen Artikel in Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Beide Darstellungen sind mit ihrer dem damaligen Forschungsstand entsprechenden Auswertung des archäologischen, epigraphischen und numismatischen Materials bis heute grundlegende Darstellungen zur Geschichte Tarracos. Alföldy publizierte auch den Bestand an römischen Inschriften und erarbeitete eine Untersuchung zur geschlossenen Gruppe der Weihungen der Provinzialpriester.
Strabon berichtet über Tarraco, dass es die bevölkerungsreichste Stadt der Hispania citerior war. Von den 60 ha des bebauten und ummauerten Stadtgebietes dienten jedoch nur 30 bis 40 ha als Wohnsiedlung. Die Einwohnerzahl wird auf zwanzig- bis dreißigtausend geschätzt. Namentlich bekannt sind durch die Inschriften etwa 1150 Einwohner, von denen etwa 1050 aus den ersten drei Jahrhunderten der Kaiserzeit stammten. Als tribus der Einwohner gilt die Galeria, wie bei vielen zur Kaiserzeit gegründeten Städten. In drei Inschriften werden Bürger mit dieser tribus ausdrücklich als Tarraconenses erwähnt, weitere 20 in Tarragona gefundene Inschriftennennungen weisen ebenfalls diese tribus aus.
Archäologisches Ensemble von Tarraco
Das archäologische Ensemble von Tarraco umfasst vierzehn Monumente der römischen Architektur. Es wurde 2000 zum UNESCO-Welterbe erklärt.
Der Antrag zur Aufnahme in die Liste des UNESCO-Welterbes erfolgte 1997. In den Jahren 1998 und 2000 besuchten daraufhin Experten des Internationalen Rats für Denkmalpflege (ICOMOS) Tarragona.
Das Welterbekomitee kam abschließend zur Bewertung, dass Tarraco eine der wichtigsten Städte im Römischen Reich gewesen sei. Sie verfüge daher über hervorragende öffentliche Gebäude. Darüber hinaus gebe es einen beeindruckenden Komplex mit Kultbauten für die kaiserliche Dynastie. Tarraco sei die erste Hauptstadt einer römischen Provinz gewesen und als solche zum Vorbild für nachfolgende Gründungen wie beispielsweise Lugdunum (Lyon) geworden. Die erhaltenen Reste vermittelten einen Eindruck von der gesamten Geschichte der Stadt vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis zum Ende der römischen Herrschaft. Darin werde Tarraco lediglich durch die Stadt Rom übertroffen.
Obwohl die meisten römischen Bauten nur in Teilen erhalten und viele unter der neueren Bebauung verborgen seien, vermittelten sie doch einen lebhaften Eindruck von der Pracht dieser Stadt in der römischen Provinz. Es wurde daher eine Aufnahme in die Liste des UNESCO-Welterbes empfohlen.
Stadtmauer
Die monumentale Stadtmauer ist heute an der höchstgelegenen Stelle von Tarragona, um die Altstadt herum, außer in deren Westen auf einer Länge von über 1100 Metern erhalten. Sie wurde im 12. Jahrhundert, als die Stadt neu besiedelt wurde, offensichtlich noch für tauglich befunden und wieder instand gesetzt. Im Spanischen Erbfolgekrieg (18. Jahrhundert) wurde der höher gelegene Stadtteil zusätzlich mit einer neuen Mauer umgeben, die mit polygonalen Bollwerken zur Unterbringung einerseits und zum Schutz vor der Artillerie andererseits ausgestattet war. Da das mittelalterliche Tarragona wesentlich kleiner war als das kaiserzeitlich-römische, wurde eine Stadtmauer zum Schutz des südwestlichen Sektors gebaut, wodurch sich das mittelalterliche und frühe neuzeitliche Tarragona auf die obersten Terrassen beschränkte. Was von der römischen Substanz außerhalb dieses Mauerringes lag, wurde, abgesehen vom Amphitheater, vergessen. Die Steine wurden wiederverwertet und das Areal allmählich von Feldern und Wiesen bedeckt.
Durch die Beobachtung von L. Pons de Icart aus dem 16. Jahrhundert war bekannt, dass die antike Mauer, deren Reste damals wohl noch zu sehen waren, sich ursprünglich auch über den gesamten südwestlichen Stadtteil bis hin zum Hafen erstreckte. Bei Grabungen Ende der 1920er Jahre konnte sie auch nordöstlich des kleineren städtischen Forums, auf der Plaza Corsini, nachgewiesen werden. Ihre Gesamtlänge betrug somit 3200 Meter, und sie umschloss eine Fläche von 60 ha. Sie wurde geschützt durch mächtige, vorspringende Türme, von denen heute noch vier erhalten sind. Im noch stehenden Mauerring sind der Teil eines heute zugemauerten großen Tores sowie sieben kleinere „Ausfalltore“ erhalten. Die Stadtmauer war im Durchschnitt unten 6 m, im oberen Bereich 5 m breit.
Aufgrund der Struktur der Mauer mit einem Fundament aus riesigen, bis zu vier Meter langen Steinblöcken wurde lange Zeit ein vorrömischer Ursprung vermutet. In den beiden darüber befindlichen Reihen aus kleineren Steinquadern befinden sich häufig iberische Steinmetzzeichen, was diese These zu stützen schien. Die Untersuchungen der Mauer von Joan Sera Vilaró von 1932 bis 1949 belegten hingegen erstmals die Mehrphasigkeit der Mauer und ihren Ursprung zu Beginn der römischen Epoche. Ausgelöst wurden diese Untersuchungen durch einen Einsturz am Torre de Sant Magí, bei dem im oberen Teil des Turmes ein vermauertes Relief der Minerva entdeckt wurde, weshalb man den Turm heute „Torre de Minerva“ nennt. Im Innern des Turmes fand man eine der wohl ältesten lateinischen Inschriften in Spanien: M. VIBIVS MENRVA, eine Weihung an die außen dargestellte Göttin. Aufgrund von Keramikfragmenten im Füllmaterial des Turmes konnte das Bauwerk in die Zeit der Republik grob datiert werden.
In einer zweiten Phase nach Ende des Zweiten Punischen Kriegs, vielleicht im Jahr 197 v. Chr. bei der Einrichtung der Provinz, wurde die Mauer von 6 auf 12 Meter erhöht. Man erweiterte den befestigten Platz im Osten durch lange Fassadenfronten, allerdings ohne Türme. Dass die hierbei verwendeten Quader iberische Steinmetzzeichen trugen, muss nicht bedeuten, dass die Mauer vorrömisch ist, da die Sprache noch bis zum Ende der republikanischen Zeit gebräuchlich war.
Das Provinzialforum
Wahrscheinlich gegen 70 n. Chr., unter der Regierungszeit Kaiser Vespasians, wurde mit dem Bau des zweiten, wesentlich größeren Forums im höher gelegenen Teil der Stadt begonnen. Vermutlich wurde dieser Platz vorher von öffentlichen oder von Militärbauten eingenommen, die Errichtung eines Forums mit diesen Ausmaßen wäre wirtschaftlich kaum möglich gewesen, wenn es sich um ein zivil bebautes Areal gehandelt hätte.
Dafür würde sprechen, dass Funde aus republikanischer Zeit im oberen, nordöstlichen Stadtteil weitestgehend fehlen. Von den bisher 18 Inschriften, die in republikanische Zeit datiert werden konnten, weisen nur drei als Fundort den oberen Stadtteil auf. Von diesen sind zwei Grabinschriften, die ursprünglich außerhalb der Stadt gestanden haben dürften, die dritte fand sich in der Kathedrale vermauert. Eine Erklärung für die Fundleere bieten die kaiserzeitlichen Terrassierungsarbeiten, die zum Bau des Forums und des Circus nötig waren.
Das Provinzialforum wurde von zwei sich auf einer symmetrischen Achse gegenüberliegenden Plätzen gebildet, die sich auf der obersten beziehungsweise der nächstniederen Terrasse befanden. Beide sind rechteckig, der obere, wahrscheinlich ein Kultplatz, maß 153 mal 136 m, der auf der darunter gelegenen Terrasse 175 mal 318 m.
Der obere der beiden Plätze war auf drei Seiten von einem Säulengang umgeben, dessen äußere Mauer eine Reihe von Fenstern aufwies und an deren seitlichen Enden sich zwei Exedren befanden. Möglicherweise waren sie mit Statuen verziert. Im Wesentlichen stimmt dieser Platz mit der Lage der Kathedrale überein, deren Nordwestecke mit dem Kreuzgang auf dem Säulengang ruht. Die Säulenreihen trugen wahrscheinlich eine geschmückte Attika, zu denen clipei mit den Köpfen von Medusa und Jupiter-Ammón gehören dürften, deren Bruchstücke im oberen Teil der Stadt gefunden wurden. Dies würde der Gestaltung des Augustusforums in Rom entsprechen, dessen Ikonographie auch von anderen Städten kopiert wurde. Hier ist besonders das sogenannte Marmorforum von Emerita Augusta (Mérida) zu nennen. Ähnliche Funde gibt es in Corduba, was zeigt, dass die Ausstattung der Provinzialforen in den spanischen Provinzen weitgehend ähnlich gewesen sein dürfte.
Wahrscheinlich befand sich auf diesem oberen Platz ein Tempel, von dem heute angenommen wird, dass er sich mitten auf dem Platz oder angelehnt an die nördliche Mauer, überbaut von der heutigen Kathedrale befand. Ein Architravfragment sowie Bruchstücke seines Frieses, die in einer Mauer des Kreuzganges eingelassen sind, belegen dies. Um welchen Tempel es sich handelt, ist aufgrund der wenigen Funde unklar. Es könnte sich um den bei Tacitus erwähnten Augustustempel oder einen Tempel der Roma handeln.
Der zweite, größere Platz lag auf der Terrasse darunter. Dieser sogenannte „Repräsentationsplatz“ war ebenfalls an drei Seiten von vielgestaltigen Säulenreihen begrenzt und mit dem oberen Platz über eine Treppe verbunden. Die zwei kleinen Seiten bestanden aus einem Säulengang mit 14 Metern Breite, der außen von einem Kryptosäulengang mit Rohrgewölbe begrenzt wurde, auf dem wahrscheinlich noch eine zweite Portikus ruhte. Überreste dieser Säulenreihe sind die volta del pallol auf dem gleichnamigen Platz und der Arc d’en Toda sowie einige Gebäudereste im östlichen Teil der Straße Santa Anna.
In den südlichen Winkeln des Platzes gab es zwei große Türme, die den Aufstieg vom Circus in die Säulenhallen und auf das Forum ermöglichten. Einer dieser Türme ist erhalten geblieben. Er ist heute in Tarragona bekannt als „Torre de Pilatos“ (auch „Torre de Pretori“). In diesem Bereich wurde im 14. Jahrhundert eine Residenz der Könige von Katalonien-Aragon errichtet, was das Verständnis der Anlage erschwert. Der Name deutet an, dass er früher als Teil des Statthaltersitzes angesehen wurde. In der neueren Forschung gibt es daran begründete Zweifel. Vermutlich diente der turmartige Bau, zu dem ein Gegenstück an der Westseite des Platzes existierte, als Aufgang in die oberen Stadtteile.
Der untere Platz war anscheinend frei von Bebauung. Hier befanden sich die Statuen der flamines provinciae Hispaniae citerioris (Oberpriester der Provinz). Aus dem in Narbo Martius gefundenen Flamengesetz wissen wir, dass es ein Vorrecht des Provinzialflamen war, eine Statue auf dem Forum gewidmet zu bekommen. Aus Tarraco sind uns 76 Inschriften mit Nennung der flamines bekannt, der größte Teil Postamente mit Inschriften von Statuen. Sieben von diesen Postamenten konnten im Kultbezirk entdeckt werden, weitere 33 in dem darunter liegenden Forum. Die meisten von diesen bezeugen dazu, dass sie vom Landtag gesetzt wurden. In manchen anderen Fällen ist dies wahrscheinlich. Insgesamt sieben Postamente kamen nicht innerhalb des Forums ans Tageslicht, und von diesen ist nur einmal nachweislich der Landtag der Stifter, doch selbst diese Basis befand sich im Bereich des Circus, im unteren Teil einer Straße, die vom ehemaligen Forumsbereich herabführt, und wurde folglich höchstwahrscheinlich hierher verschleppt.
Auf dem Provinzialforum wurden also die flamines der Provinz, sechsmal deren Frauen, die flaminicae, und andere Personen höchsten Ranges, sowie Kaiser und Götter geehrt. Der obere Stadtteil war den Belangen der Provinz vorbehalten. Nur auf Beschluss des Landtages durften hier Inschriften gesetzt werden. Vereinzelt werden auswärtige Beamte erwähnt, die Aufsichtsfunktionen über den Landtagsbezirk und seine Gebäude ausübten. Demnach wären zivile Wohnbauten im sonstigen Bereich des nordöstlichen Stadtteils nicht anzunehmen. Die Ehrungen von bekannten Persönlichkeiten dürfte jedoch kaum die Hauptfunktion dieser großen Anlage gewesen sein, die vom Ausmaß her die meisten Repräsentationsgebäude ihrer Zeit, selbst in Rom, in den Schatten stellte. Unklar ist, wo sich das Archiv, die Kasse oder der inschriftlich belegte Halbkreis, in dem sich der Landtag traf, befanden.
Das Forum der Koloniestadt
Die Reste des sogenannten kleinen Forums lagen lange Zeit verborgen unter Feldern und Wiesen. Im 12. Jahrhundert wurde dort eine Kirche erbaut, die im 16. Jahrhundert zu einem Kloster erweitert wurde, beide Gebäude wurden im 17. Jahrhundert wieder zerstört. Entdeckt wurde das Forum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als in Tarragona ein starker Wachstumsprozess einsetzte. Man hielt jedoch die Reste von Statuen und Inschriften, die in der calle Soler gefunden wurden, für die Reste eines gymnasiums. Erst im 20. Jahrhundert sind die Gebäudereste richtig als die Reste einer Gerichtsbasilika gedeutet worden. Deren ursprüngliche Funktion lag im administrativen Bereich. Tarraco war gleichzeitig Hauptstadt eines conventus, was bedeutet, dass viele Menschen aus der Umgebung hierher zur Klärung ihrer Rechtsstreitigkeiten kamen.
In einem der kleineren Räume, die heute noch gut zu sehen sind, wurden ein Kapitell sowie zwei Inschriften gefunden, von denen die eine einem Senator des 1. Jahrhunderts gewidmet ist, die andere, ein kleiner Altar, dem Jupiter für die Freilassung eines Adrianus. Nach der Vielzahl dort gefundener Inschriften und Statuen sowie -postamenten zu urteilen, dürfte es einen ähnlichen Zweck wie das große Forum gehabt haben. Die dokumentierte Fläche misst 70 mal 28 Meter, wovon jedoch der hintere Teil, jenseits der calle Soler, einem Wohngebiet zuzuordnen ist. Die eigentlichen Ursprünge des Forums im Hafengebiet sind im Dunkeln. Schlüsse auf eine spätrepublikanische Benutzung lässt der erwähnte beidseitige Inschriftenstein aus der Bürgerkriegszeit zu, der hier gefunden wurde.
Auf dem neben der Basilika gelegenen Platz wurden Statuen von Angehörigen des iulisch-claudischen Kaiserhauses gefunden; diese könnten aber auch in der Basilika gestanden haben. Im vierten Jahrhundert nach Christus scheint das Forum nicht mehr benutzt worden zu sein. Sockel und Quadersteine wurden in den frühchristlichen Friedhof verschleppt, während die Marmorstatuen und -platten nach und nach in den Kalköfen verschwanden. Die Siedlungsfläche verlegte sich in den höher gelegenen Stadtteil.
Der Circus
Auf der dritten Terrasse der Stadt erstreckte sich der Circus mit einem äußeren Umfang von 360 mal 110 Metern. Er trennte die Bauten, in denen sich die Provinz repräsentierte, von den normalen Wohngebieten im unteren, südwestlichen Stadtteil. Die Begräbnisinschriften zweier Wagenlenker (aurigae) aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus – Eutyches und Fuscus – belegen den Circus epigraphisch. Der Grabstein des Eutyches fällt durch einen längeren poetischen Text besonders auf. Aus spätantiker Zeit kennen wir den Mahnbrief des Königs Sisebut (612–621) an den Metropolitanbischof von Tarragona wegen seiner Vorliebe für die ludi faunorum, Spiele mit wilden Tieren. In dieser Zeit wurden weder Theater noch Amphitheater genutzt.
Die neue Stadt bedeckte ab dem 12. Jahrhundert das Provinzialforum, wodurch der Circus zunächst außerhalb lag. Im 14. Jahrhundert wurden hier beim Bau einer neuen Mauer große Teile des Circus vermauert. Einige Teile der südlichen Fassade sind dadurch bis heute sehr gut erhalten. Einige Gewölbe, auf denen die Sitzreihen saßen, sind bis in die heutige Zeit als Wohnung, Geschäft oder Lagerhaus genutzt worden. Die Häuser an der Südseite der Plaça de la Font und die Fassaden der Häuser in der Straße Trinquet Vell ruhen auf Resten römischer Gewölbe beziehungsweise des Podiums.
Der Circus von Tarraco war in seinen Ausmaßen kleiner als vergleichbare Gebäude – die Arena hatte eine Länge von 290 m bei einer Breite von 67 m auf der östlichen und 77 m auf der gegenüberliegenden Seite, was die Ausfahrt der Wagen erleichterte. Die Länge des eurypos wird auf 190 Meter geschätzt. Sicherlich war seine Größe bedingt durch seine Ansiedlung innerhalb der Stadt, und man erreichte nur über den Circus ihre höher gelegenen Teile. In den Kellerräumen mehrerer Gaststätten konnte einer der monumentalen Aufgänge zum Forum gesichert werden.
Die Errichtung des Circus wurde auf das letzte Jahrzehnt des 1. Jahrhunderts datiert, also die Regierungszeit Domitians. Sicherlich wurde so der Bau der Provinzialanlage vervollständigt. Ab dem 5. Jahrhundert setzte eine Entfremdung von Teilen der Anlage zu Wohnzwecken ein.
Das Theater
Das römische Theater wurde wahrscheinlich in der Regierungszeit des Augustus erbaut. Als Vorgängerbau ist ein Lagerkomplex aus dem zweiten und ersten Jahrhundert v. Chr. nachweisbar. Die Nähe zum Forum und die natürliche Hanglage begünstigten den Bau. Wahrscheinlich zeitgleich mit dem Theater wurde in der Nachbarschaft ein Garten mit Nymphaeum angelegt.
Mehrmals waren dessen Überreste von Zerstörung bedroht, und noch heute sind die Überreste des Gebäudes kaum zugänglich. Während einiger Notgrabungen gelang es, die Reste des Theaters zu dokumentieren. Zu den spektakulärsten Funden gehören architektonische Elemente, Statuen von Persönlichkeiten wie der kaiserlichen Familie und ein dem Augustus geweihter Altar. Nachgewiesen werden konnten auch große Teile der Bühne und der dreistöckigen Fassadenmauer dahinter, der orchestra, der cavea sowie ein Stück der Marmorbeschichtung der ersten Sitzreihen, die für die Mitglieder des equester ordo reserviert waren. Auf der Bühne kann man noch die Öffnungen erkennen, in denen die Stangen des Vorhanges eingelassen waren.
Das Theater scheint wesentlich früher als andere öffentliche Gebäude nicht mehr genutzt worden zu sein, wahrscheinlich weil im Amphitheater und im Circus attraktivere Unterhaltung für die städtische Bevölkerung geboten wurde. Mit dem Ende des zweiten Jahrhunderts nach Christus sind die Abwasserleitungen dort nicht mehr gereinigt worden. Nach einer Verkleinerung und möglicherweise einem Brand im dritten Jahrhundert verliert es vollends an Bedeutung.
Das Amphitheater
An einem Abhang südöstlich der via Augusta, außerhalb der Stadt, befand sich das Amphitheater mit einem ungefähren Umfang von 130 mal 102 Metern, die Arena maß 61,5 mal 38,5 Meter. Sie war von den Sitzreihen, die zum Teil in den Fels eingelassen wurden, die natürliche Hanglage nutzend, durch eine 3,25 Meter hohe Mauer getrennt. In dem zum Meer hin gelegenen Teil haben sich noch die Sitzreihen weitestgehend erhalten, im gegenüberliegenden Teil waren sie stark erodiert, aber durch ihre Einlassung in den Hang noch erkennbar.
Nach dem Fund einer Monumentalinschrift, die eine Länge von 7,40 Meter und in der zweiten Reihe 5,30 Meter besaß und die einen flamen Romae Divorum et Augustorum erwähnt, soll das Amphitheater zu Beginn des zweiten Jahrhunderts erbaut worden sein. Man glaubt, dass es sich bei dem Provinzialoberpriester um den Stifter des Amphitheaters handelt und bei der Inschrift um die Bauinschrift. Eine zweite große Inschrift bildete den Abschluss der cavea zur Arena hin. Sie nennt den Namen Kaiser Elagabals, der das Amphitheater wohl renovieren ließ. Eine dritte Inschrift weist das Amphitheater unter Konstantin als noch benutzt aus.
Unter der Arena befanden sich fossae, die diese der Länge nach und quer kreuzten. Sie beherbergten bühnenbildnerische Elemente und erlaubten durch nachgewiesene Aufzüge das plötzliche Erscheinen von Menschen und Tieren in der Arena. Am westlichen Ende eines dieser Gräben fand man ein Gemälde der Göttin Nemesis, das auf ein Heiligtum für die Kämpfer hinweist.
Im Jahr 259 wurden hier die Märtyrer Fructuosus, Augurius und Eulogius lebendig verbrannt. Die durch die Gerichtsakten bekannte Tatsache bewirkte, dass hier im 5. Jahrhundert eine dreischiffige Basilika von 22,75 Meter Länge und 13 m Breite mitten in der Arena gebaut wurde, wo heute ihre Grundmauern und Fußböden sichtbar sind. Im 12. Jahrhundert wurde erneut eine Kirche hineingebaut, und im 19. Jahrhundert wurde der Komplex als Gefängnis für die Sträflinge benutzt, die beim Hafenbau beschäftigt waren.
Bauten aus spätantiker und frühchristlicher Zeit
Einer der wichtigsten Belege für das frühe Christentum in Tarraco ist die frühchristliche Nekropole, unweit einer heidnischen am Ostufer des Francolí. Hier befanden sich wahrscheinlich auch die Gräber der Märtyrer. Inschriften mit der Aufschrift in sanctorum sede belegen das. Auch eine Basilika wurde hier, außerhalb der Stadt, errichtet. Die heute verschollene Grabinschrift des Bischofs Sergius aus der Mitte des 6. Jahrhunderts wies anscheinend auf dieses Heiligtum hin. Insgesamt sind mehr als tausend Gräber ausgegraben worden. Es handelt sich üblicherweise um Körperbestattungen, die in christlichem Kontext beigabenlos waren. Sehr typisch sind Auskleidungen der Grabgrube mit Ziegeln oder Steinen, manchmal sogar mit großen Keramikbruchstücken vom Amphoren oder dolia. Trotz des Fehlens von Grabbeigaben ist das Gräberfeld eine der wichtigsten archäologischen Quellen für die romanische Bevölkerung unter westgotischer Herrschaft. Eine weitere westgotische Basilika befand sich am Ort des Martyriums, im Amphitheater.
Wenige Informationen gibt es über das ummauerte Stadtgebiet in spätrömischer und westgotischer Zeit. Im 4. Jahrhundert verödeten die städtischen Wohngebiete langsam und der Siedlungskern verlagerte sich in die höher gelegenen Stadtteile. Am Hafen scheint es noch leichte Besiedlung gegeben zu haben, wie Keramikfunde belegen.
Im oberen Teil der Stadt wurden nun ehemalige Repräsentationsbauten, wie das Forum und der Circus, meist zu Wohnzwecken wiederverwendet, wobei man oftmals einfach auf die noch bestehende Bausubstanz aufbaute. Das Amphitheater wurde verlassen. Die Korrespondenz des Bischofs Consentius von Menorca erwähnt 418/419 n. Chr. weiterhin öffentliche Bauten wie eine größere Kirche, den Sitz des Bischofs und ein Praetorium als Sitz des comes Hispaniarum. Weitere schriftliche Quellen liegen nicht vor. Wenige archäologische Indizien sprechen für eine Kirche als Vorgänger der späteren Kathedrale, die einen dort vermuteten Augustus-Tempel überdeckt haben könnte. Im östlichen Bereich des Kultbezirks auf der obersten Terrasse entstand zwischen 475 und 550 n. Chr. ein größeres zweischiffiges Gebäude, wohl Teil eines Bischofspalastes. Die Bauten der christlichen Zeit hatten damit das Zentrum des paganen Tarraco eingenommen und weitestgehend überformt. Neben den Kirchengebäuden im oberen Stadtteil und den vorstädtischen Basiliken ist weiterhin eine Synagoge zu vermuten. Inschriftlich lassen sich Juden in Tarraco seit der Mitte des 3. Jahrhunderts fassen.
Der Aquädukt Les Ferreres
Den auffälligsten Teil der römischen Wasserleitungen von Tarraco bildet, von ganz wenigen Resten aus dem Stadtgebiet abgesehen, der Aquädukt von Les Ferreres, 4 km außerhalb der Stadt. Er war Teil der Wasserleitung, die Wasser vom Francolí, auf der Höhe des Ortes Rourell, abzweigte und in die Stadt leitete. Der Aquädukt hat eine Länge von 217 m und eine Höhe von maximal 27 m. Seine obere Arkade besteht aus 25, die untere aus 11 Bögen. Seit 1905 ist dieser Teil der Wasserleitung Nationaldenkmal, seit 2000 zusammen mit den anderen römischen Monumenten der Stadt UNESCO-Welterbe. Im Volksmund erhielt er den Namen Pont del Diable (katalanisch für „Teufelsbrücke“).
Weitere nachweisbare Gebäude
Die Wohngebiete Tarracos sind heute mit wenigen Ausnahmen, wie dem freigelegten Areal am Kolonieforum, weitestgehend unbekannt. Durch einen nachgewiesenen decumanus und zwei kardines konnte die Breite der Wohngebiete auf 35 m = 120 römische Fuß bestimmt werden. Einzelne Funde wie Mosaikböden oder ein reich verzierter Marmorbrunnen weisen darauf hin, dass auch luxuriöse Wohnungen vorhanden waren.
Die Epigraphik lieferte Hinweise auf weitere öffentliche Gebäude der Stadt. So wird in einer Inschrift auf die Wiederherstellung einer exhedra cum fronte templi Minervae hingewiesen, die möglicherweise an der Plaça Prim stand. Ein weiterer Tempel befand sich an der Ecke der Straßen Pons Icart und Mendez Nuñez. Er ist aufgrund der zahlreichen inschriftlichen Weihungen als Tutelatempel anzusehen.
Bei Arbeiten an der heutigen Forn del Cigne auf der Rambla nova konnte der reich mit Skulpturen ausgestattete Sitz einer Handwerkervereinigung nachgewiesen werden; sie befinden sich heute im Museu Nacional Arqueològic de Tarragona (MNAT).
Der Provinzverwaltung zugehörig, müssten sich auch noch eine Registratur (tabularium provinciae Hispaniae citerioris) und eine Kasse (arca p. H. c.) in der Stadt befunden haben. Diese Gebäude werden im oberen Stadtteil in der Nähe des Provinzialforums vermutet.
Römische Monumente in der Umgebung
Römische Villen
Das Umland der Stadt, das sogenannte Camp de Tarragona, gilt dank britischer Forschungen als relativ gut erforscht. In direkter Nähe zur römischen Stadt wurden mehrere außergewöhnlich große Villae rusticae ausgegraben. Die bedeutendsten sind:
Centcelles (Constantí):
Die archäologische Anlage von Centcelles liegt zwischen dem Francolí und der Ortschaft Constantí an der römischen Straße, die Tarraco mit Ilerda verband. Nachweisbar sind fünf Bauphasen. Sie wurde seit 1956 vom Deutschen Archäologischen Institut, Außenstelle Madrid untersucht und restauriert. Am wenigsten bekannt ist die republikanische Phase des Gebäudes (2.–1. Jahrhundert v. Chr.). Im 1. oder 2. Jahrhundert n. Chr. wurde ein großer landwirtschaftlicher Betrieb gebaut, der einen Wohnbereich sowie eine Stellfläche für dolia enthielt. Nach dem Anbau eines weiteren landwirtschaftlichen Gebäudes im 3. Jahrhundert wurde die Anlage im 4. Jahrhundert grundlegend umstrukturiert. Sie erhielt nun eine Ost-West-Ausrichtung, welche die alten Strukturen zum Teil überlagerte. Darin waren nun ein Thermalbereich sowie zwei Kuppelsäle enthalten. Anscheinend wurde das Projekt schon vor seiner Vollendung modifiziert. Einer der beiden Kuppelsäle wurde in ein Mausoleum umgewandelt, und der Thermalbereich wurde verändert. Bei dem Mausoleum handelt es sich aufgrund seines großen Kuppelmosaikes und der frühchristlichen Wandbemalungen um eines der bedeutendsten Denkmäler seiner Zeit in ganz Spanien. Es wird gedeutet als politisches Monument, das in Anlehnung an das Grabmal des Constans, Sohn Kaiser Konstantins des Großen, der im Jahre 350 vielleicht sogar in der Nähe ermordet wurde, gestaltet worden war.
Els Munts (Altafulla):
Die imposanten Reste dieser Anlage sind noch heute sichtbar. Sie befindet sich etwa 10 km nordöstlich von Tarragona am Ortseingang von Altafulla auf einer Kuppe, die das Meer überblickt. Es handelt sich um einen großen Komplex, bestehend aus zwei Wohnhäusern sowie einem großen Thermenbereich mit dazugehörigen Zisternen. Die ausgegrabene Fläche beträgt 127 mal 110 m und bildet heute einen archäologischen Park. Wahrscheinlich wurde sie im 1. Jahrhundert v. Chr. errichtet. Statuen- und Keramikfunde belegen, dass sie auch noch in der Spätantike genutzt wurde. Das genaue Datum ihrer Auflassung ist nicht bekannt, jedoch lassen Funde westgotischer Gürtelschnallen eine Besiedlung bis in das 7. Jahrhundert hinein vermuten. Zu den bedeutendsten Funden gehört ein persönliches Siegel des Gaius Valerius Avitus aus Augustobriga, der sich wohl in der Mitte des 2. Jahrhunderts auf den Befehl von Kaiser Antoninus Pius in Tarraco aufhielt. Dies könnte belegen, dass die Villa von hochstehenden Persönlichkeiten der Provinzverwaltung genutzt wurde.
La Pineda (Vila-Seca):
Wenig bekannt ist über diese Villa wenige Kilometer westlich von Tarragona. Allerdings fand man 1955 in einem der Räume das „Mosaik der Fische“ mit 47 Darstellungen von Seetieren des Mittelmeeres, die alle essbar sind. Es befindet sich heute im Museu Nacional Arqueològic de Tarragona.
Der Bogen von Berà
An der heutigen Nationalstraße N-340, nordöstlich der Stadt zwischen den Orten Roda de Berà und Creixell, liegt der Bogen von Berà. Der 11,40 m hohe Bogen mit einer lichten Weite von 4,80 m wurde aus lokalem Kalkstein erbaut und befand sich an der antiken Via Augusta. Teile des Architravs wurden in späterer Zeit durch eine in der Nähe gefundene Inschrift des L. Licinius Sura ergänzt. Die Architektur deutet jedoch eher in augusteische Zeit, der Bogen wurde wahrscheinlich zeitgleich mit dem Straßenbauprogramm des Augustus errichtet.
Der sogenannte Torre dels Escipions
Etwa 6 km nordöstlich der Stadt befindet sich der sogenannte „Torre dels Escipions“, ein turmförmiges Grabdenkmal, das irrtümlich auf die im 2. Punischen Krieg gefallenen Brüder Gnaeus und Publius Cornelius Scipio bezogen wurde. Das aus lokalen Quadersteinen errichtete Denkmal mit zwei Figuren im Hochrelief, eine davon vermutlich Attis, und zwei Personen in einem im oberen Teil eingemeißelten Relief, sowie einer in Versen abgefassten Inschrift, die allerdings nicht mehr zu entziffern ist, ist eher als Familiengrab aus dem 1. Jahrhundert nach Christus anzusehen.
Der Steinbruch von El Mèdol
Sechs Kilometer außerhalb der Stadt befindet sich der Steinbruch von El Mèdol mit seiner markanten Felsnadel im Inneren. Er ist der größte von insgesamt acht Steinbrüchen im Umland der Stadt. Hier wurde der sogenannte Soldó geschlagen, der in Tarragona und Umgebung am meisten verwendete Stein. Es handelt sich um einen Kalkstein aus dem Miozän, dessen Farbe zwischen weiß und rötlich variiert; meist ist er leicht goldfarben. Dieser Stein war allerdings qualitativ für die herausragenden Bauten der Stadt nicht geeignet, weshalb man Marmor aus dem gesamten Mittelmeergebiet importierte. Dennoch ist der größte Teil der antiken und mittelalterlichen Gebäude Tarragonas mit dem Soldó errichtet worden, unter anderem auch die Kathedrale Santa Thecla.
Quellenausgaben
Géza Alföldy: Die römischen Inschriften von Tarraco (= Madrider Forschungen. Band 10). Walter de Gruyter, Berlin 1975 (in Kurzform zitiert als RIT).
Géza Alföldy (Bearb.): Corpus Inscriptionum Latinarum. Band 2, 2. Auflage: Inscriptiones Hispaniae Latinae. Teil 14: Conventus Tarraconensis. Faszikel 2–4, Walter de Gruyter, Berlin/New York 2011–2016, ISBN 978-3-11-026403-6 / ISBN 978-3-11-026597-2 / ISBN 978-3-11-030942-3 (Edition sämtlicher römischer Inschriften Tarracos; die übliche Kurzzitation lautet CIL II2/14).
Literatur
Géza Alföldy: Flamines Provinciae Hispaniae Citerioris. Anejos del Archivo Español de Arqueología Bd. 6, Madrid 1973.
Géza Alföldy: Provincia Hispania superior. Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg, 2000, ISBN 3-8253-1009-4 (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 19).
Xavier Aquilué, Xavier Dupré, Jaume Massó, Joaquín Ruiz de Arbulo: Tarraco. Ein archäologischer Führer. Médol Tarragona, 1992, ISBN 84-86542-54-5.
Tanja Gouda: Der Romanisierungsprozess auf der Iberischen Halbinsel aus der Perspektive der iberischen Kulturen. Kovač, Hamburg 2011, ISBN 978-3-8300-5678-2, S. 224–238 (Antiquitates 54).
Rudolf Haensch: Capita provinciarum. Statthaltersitze und Provinzialverwaltung in der römischen Kaiserzeit. von Zabern, Mainz 1997, ISBN 3-8053-1803-0, S. 162–175.
Sabine Panzram: Stadtbild und Elite: Tarraco, Corduba und Augusta Emerita zwischen Republik und Spätantike. Steiner, Stuttgart 2002, ISBN 3-515-08039-2 (Historia: Einzelschriften 161), S. 23–128. (Rezension bei sehepunkte) und (Rezension; PDF-Datei; 90 kB) von Joachim Gruber
Xavier Dupré Raventós: New Evidence for the Study of the Urbanism in Tarraco. In: Barry W. Cunliffe (Hrsg.): Social complexity and the development of towns in Iberia: from the Copper Age to the second century AD. Oxford Univ. Press, 1995, ISBN 0-19-726157-4 (Proceedings of the British Academy 86) S. 355–369.
Xavier Dupré Raventós (Hrsg.): Las capitales provinciales de Hispania. 3. Tarragona. Colonia Iulia Urbs Triumphalis Tarraco. „L’Erma“ di Bretschneider, Rom 2004, ISBN 88-8265-273-4.
Josep Maria Recasens: La ciutat de Tarragona. 2 Bd., Barcelona 1961/1975.
Joaquín Ruiz de Arbulo: Bauliche Inszenierung und literarische Stilisierung: das „Provinzialforum“ von Tarraco. In: Sabine Panzram (Hrsg.): Städte im Wandel. Bauliche Inszenierung und literarische Stilisierung lokaler Eliten auf der Iberischen Halbinsel. Akten des Internationalen Kolloquiums des Arbeitsbereichs für Alte Geschichte des Historischen Seminars der Universität Hamburg und des Seminars für Klassische Archäologie der Universität Trier im Warburg-Haus Hamburg, 20.–22. Oktober 2005. LIT-Verlag Hamburg 2007, ISBN 978-3-8258-0856-3, S. 149–212 (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 5).
Joaquín Ruiz de Arbulo: Scipionum opus and something more: an Iberian reading of the provincial capital (2nd–1st c. B.C.). In: L. Abad Casal, S. Keay, S. Ramallo Asensio: Early roman towns in Hispania Tarraconensis. Portsmouth 2006, ISBN 1-887829-62-8 (Journal of Roman Archaeology Supplementary Series 62), S. 33–43.
Walter Trillmich und Annette Nünnerich-Asmus (Hrsg.): Hispania Antiqua – Denkmäler der Römerzeit. von Zabern, Mainz 1993, ISBN 3-8053-1547-3, bes. Kat. S. 321–333. Ortsregister S. 489.
Weblinks
Museu Nacional Arqueològic de Tarragona
Anmerkungen
Römische Stadt auf der Iberischen Halbinsel
Römische Architektur
Katalanische Geschichte
Archäologischer Fundplatz in Katalonien
Forschungsprojekt des Deutschen Archäologischen Instituts
Welterbestätte in Europa
Welterbestätte in Spanien
Weltkulturerbestätte |
335656 | https://de.wikipedia.org/wiki/Spinalan%C3%A4sthesie | Spinalanästhesie | Eine Spinalanästhesie (von lateinisch spinalis, „zu Wirbelsäule/Rückenmark gehörig“, und von „Anästhesie“') oder Lumbalanästhesie (von lateinisch lumbalis, „zur Lende gehörig“) ist eine rückenmarknahe Form der Regionalanästhesie. Durch die Injektion eines Lokalanästhetikums (und gegebenenfalls weiterer Medikamente) in den Hirnwasserraum (Subarachnoidalraum) in Höhe der Lendenwirbelsäule wird die Signalübermittlung in den vom Rückenmark ausgehenden Nerven gehemmt. Dadurch wird eine zeitweilige, umkehrbare Blockade des sympathischen Nervensystems, der Sensibilität und der Motorik der unteren Körperhälfte erreicht. Mögliche Nebenwirkungen sind Kreislaufschwankungen, Übelkeit sowie Rücken- und postpunktionelle Kopfschmerzen, die in den Tagen nach dem Verfahren auftreten können. Schwerwiegende Komplikationen (rückenmarksnahe Blutergüsse oder Infektionen, Nervenschäden) sind selten.
Die Ende des 19. Jahrhunderts in die klinische Praxis, vor allem von August Bier und Théodore Tuffier (1857–1929) nicht ohne Vorläufer in Amerika eingeführte Methode verlor mit den Fortschritten im Bereich der Narkose (Allgemeinanästhesie) an Bedeutung. Im 20. Jahrhundert führten Erkenntnisse über die Vorteile der Regionalanästhesie bei bestimmten Patientengruppen zu einer Renaissance dieser Technik. Als ein Standardverfahren der Anästhesie findet die Spinalanästhesie heute Anwendung bei einer Vielzahl von Operationen am Unterbauch, im Becken, der unteren Extremität sowie in der Geburtshilfe und stellt bei diesen Eingriffen eine Alternative zu anderen rückenmarksnahen Regionalverfahren wie der unter anderem lumbal (im Lendelwirbel- bzw. Lumbalbereich) und thorakal (im Brustwirbelbereich) durchführbaren Periduralanästhesie (Synonym Epiduralanästhesie) und zur Narkose dar.
Übersicht über das Verfahren
Anatomische Grundlagen und Prinzip der Spinalanästhesie
Die Wirbelsäule des Menschen besteht aus 24 Wirbeln, die die mechanische Stabilität der Körperachse gewährleisten. Diese sind durch feste Bänder verbunden und bestehen jeweils aus einem Wirbelkörper, einem Wirbelbogen, der das Rückenmark (1 in der Abbildung) und seine Häute umgibt, sowie zwei Quer- und einem Dornfortsatz an der rückenwärts gerichteten (dorsalen) Seite. Zwischen den Wirbeln treten Spinalnerven aus, die den Körper segmental innervieren und so Motorik und Sensibilität ermöglichen und darüber hinaus auch Fasern des vegetativen Nervensystems führen.
Als Bestandteil des zentralen Nervensystems ist das Rückenmark von den Hirnhäuten umgeben. Von innen nach außen sind dies die weiche Hirnhaut (Pia mater), die direkt dem Rückenmark aufliegt, die Spinnenhaut (Arachnoidea) und als äußere Begrenzung die harte Rückenmarkshaut (Dura mater). Zwischen Pia mater und Arachnoidea liegt der Hirnwasserraum (Subarachnoidalraum, Liquorraum), in dem das Hirnwasser (Liquor cerebrospinalis) zirkuliert.
Dieser Liquorraum wird bei der Spinalanästhesie mit einer dünnen Kanüle punktiert, wobei die Nadel die Haut, den Bandapparat zwischen den Dornfortsätzen der Wirbel (Ligamentum supraspinale, Ligamentum interspinale, Ligamentum flavum), den mit Fettgewebe und Gefäßen gefüllten, außerhalb der Hirnhäute liegenden Peri- oder Epiduralraum (3 der Abbildung), die Dura und die Arachnoidea durchdringt und mit der Spitze im Liquorraum (2 der Abbildung) zu liegen kommt. Dort hinein (intrathekal) werden Lokalanästhetika injiziert, die auf Vorder- und Hinterwurzel der Spinalnerven einwirken und deren Fähigkeit zur Übertragung von Nervenimpulsen zeitlich begrenzt aufheben.
Während der Entwicklung des Menschen wächst die Wirbelsäule schneller als das Rückenmark, so dass das Rückenmark (beim Erwachsenen) auf Höhe des ersten/zweiten Lendenwirbels im Conus medullaris endet, die zugehörigen Spinalnerven aber weiter fußwärts (kaudal) ziehen und aus dem Rückenmarkskanal austreten. Sie bilden dabei den Pferdeschweif (Cauda equina). Dieser Umstand erlaubt eine Punktion in Höhe der mittleren Lendenwirbel ohne Verletzung des Rückenmarks.
Abgrenzung zu anderen Verfahren
Bei der Spinalanästhesie durchdringt die Nadel die harte Hirnhaut (Dura mater), so dass das injizierte Lokalanästhetikum sich im Liquor cerebrospinalis des Subarachnoidalraumes frei ausbreiten kann und Nervenfasern dort betäubt werden. Bei der Periduralanästhesie hingegen wird die Dura mater nicht durchstochen. Der eingebrachte Katheter kommt außerhalb derselben im Periduralraum zu liegen, so dass das Lokalanästhetikum hauptsächlich außerhalb der Hirnhäute auf die vom Rückenmark abgehenden Spinalnerven einwirkt. Während bei der Spinalanästhesie durch die Verteilung der Medikamente alle Nervenfasern unterhalb der Punktionsstelle und dadurch die gesamte untere Körperhälfte betäubt sind, wird bei der Periduralanästhesie eine Betonung der Anästhesie in den korrespondierenden Dermatomen der Punktionshöhe erreicht.
Bei der Lumbalpunktion wird in gleicher Weise wie bei der Spinalanästhesie der Liquorraum punktiert. Sie dient der Liquordruckmessung und diagnostischen Liquorentnahme, die bei Verdacht auf Infektionen des zentralen Nervensystems, Metastasierung und zur Antikörperdiagnostik durchgeführt wird. Im Rahmen einer Chemotherapie werden mittels einer Lumbalpunktion auch Zytostatika intrathekal injiziert.
Varianten
Zumeist wird die Spinalanästhesie als einmalige Injektion (Single Shot) durchgeführt. Dabei wird je nach Ausbreitung der sensorischen Blockade zwischen tiefer (unterhalb Dermatom/Segment Th 12, Höhe der Leiste), mittelhoher (bis Segment Th 10, Höhe Bauchnabel) und hoher (bis Segment Th 4, Höhe der Brustwarzen) Spinalanästhesie unterschieden. Eine Sonderform der Spinalanästhesie ist der Sattel- oder Sakralblock, bei dem sich die Ausdehnung auf die sakralen Spinalnerven, die hauptsächlich den Genitalbereich versorgen (S2–5), beschränkt.
Durch die Einlage eines Katheters können im Gegensatz zur einmaligen Punktion kontinuierlich Medikamente eingebracht (appliziert) werden (kontinuierliche Spinalanästhesie, CSA). Eine weitere Variante ist die Kombination einer Spinal- mit einer Epi/Periduralanästhesie (Kombinierte Spinal- und Epiduralanästhesie, CSE). Dabei wird durch die liegende Periduralnadel eine Spinalnadel vorgeschoben und eine Spinalanästhesie durchgeführt. Im Anschluss wird ein Periduralkatheter in den Periduralraum eingelegt. Durch den liegenden Katheter ist eine bedarfsgerechte Dosierung der Medikamente und auch eine effektive postoperative Schmerztherapie möglich.
Determinanten der Ausbreitungshöhe
Die Wirkhöhe der Spinalanästhesie hängt von der Ausbreitung der injizierten Wirkstoffe im Liquorraum ab. Diese wird primär von der Gesamtdosis und der Dichte (Barizität) der Lokalanästhetika bestimmt. Man unterscheidet isobare Lösungen, die dieselbe Dichte wie der Liquor aufweisen, von hyperbaren Präparationen, die durch den Zusatz von Glukose eine höhere Dichte erreichen. Isobare Lösungen verbleiben großteils im Bereich der Punktionsstelle. Die Dichte ist allerdings leicht temperaturabhängig, so dass durch die Erwärmung im Körper die Ausbreitung schwieriger als bei den hyperbaren Lokalanästhetika vorauszusagen ist. Letztere sinken, der Schwerkraft folgend, nach unten (kaudal) ab, wodurch sich durch die Lagerung des Patienten die Ausbreitung kontrollieren lässt. Durch eine Flachlagerung lässt sich eine der isobaren Anwendung vergleichbare Ausbreitung erreichen, durch Sitzen ein Sattelblock, durch Seitlagerung lässt sich die Anästhesie einseitig betonen. Der Einsatz von hypobaren Lösungen mit geringer Dichte erfolgt nur in Ausnahmefällen.
Weitere Faktoren (Determinanten), die die Ausbreitung beeinflussen, sind die individuell stark schwankende Liquormenge und Raumverhältnisse im Liquorraum. Letztere werden von der Statur des Patienten beeinflusst: bei erhöhtem Druck im Bauchraum wie bei Fettsucht (Adipositas), Schwangerschaft oder Aszites ist der Liquorraum komprimiert, die Dosis muss entsprechend verringert werden. Geringere Auswirkungen haben die Geschwindigkeit der Injektion, das injizierte Gesamtvolumen sowie eine absichtliche mehrfache Verwirbelung des Lokalanästhetikums mit dem Liquor (Barbotage).
Verwendete Pharmaka
Die Wirkdauer der Spinalanästhesie ist von den verwendeten Substanzen abhängig. Lokalanästhetika sind die Standardmedikamente zur Durchführung einer Spinalanästhesie. Sie diffundieren in die Nerven, blockieren Natriumkanäle der Zellmembran und verringern dadurch den Einstrom von Natriumionen. Auf diese Weise wird die Bildung von Aktionspotentialen verhindert, eine Signalübermittlung in Nerven ist nicht mehr möglich.
Lidocain war aufgrund der kurzen Anschlagszeit und einer mittellangen Wirkdauer von 60–90 Minuten lange der Standard zur Spinalanästhesie, wird nach Berichten über vorübergehende und bleibende Nervenschäden aber kaum noch eingesetzt. Bupivacain ist ein vielfach eingesetztes Mittel mit längerer Wirkdauer, für das im Gegensatz zu Lidocain nur geringe Raten von Nervenschädigungen beschrieben sind. Es existieren sowohl isobare als auch hyperbare Lösungen. Mepivacain, Prilocain und Ropivacain sind weitere genutzte Alternativen. Procain wird in den Vereinigten Staaten angewendet, in Europa jedoch wenig eingesetzt. Die Wirkdauer von Prilocain und Mepivacain ist mit etwa einer Stunde relativ kurz, was die Anwendung bei kurzen und ambulant durchgeführten Eingriffen attraktiv macht. Als Lokalanästhetikum vom Aminoester-Typ ist bei Procain das Risiko einer allergischen Reaktion jedoch höher als bei den anderen Substanzen, die zu den Aminoamiden gehören.
Durch die Kombination mit weiteren Arzneistoffen („Adjuvanzien“) sollen die Wirkung der Lokalanästhetika verlängert und Nebenwirkungen reduziert werden. Dies wird etwa durch den oft praktizierten Zusatz von Opioiden erreicht. Dazu werden deren fettlösliche Formen, etwa Fentanyl oder Sufentanil, benutzt, die über Opioid-Rezeptoren, die im Hinterhorn des Rückenmarkes lokalisiert sind, wirken. Vereinzelt können typische Opioid-Nebenwirkungen wie Juckreiz, Übelkeit oder ein verminderter Atemantrieb (Atemdepression) auftreten. Wasserlösliche Derivate wie Morphin bewirken eine wesentlich stärkere Atemdepression und müssen daher entsprechend zurückhaltend dosiert werden und der Patient sollte eventuell länger überwacht werden. Der Einsatz von Clonidin oder Ketamin wird seltener praktiziert. Adrenalin, das bei anderen Regionalanästhesieverfahren zu Wirkverlängerung zugesetzt wird, eignet sich nicht zur Anwendung bei der Spinalanästhesie.
Indikationen und Gegenanzeigen
Anwendungsgebiete
Die Spinalanästhesie ist ein Standardverfahren der Anästhesie mit relativ einfacher Durchführung, raschem Wirkeintritt und kompletter Schmerzausschaltung. Sie stellt eine Alternative zur Narkose und der Periduralanästhesie dar, die bei chirurgischen Eingriffen am Unterbauch (beispielsweise Leistenhernien-Operationen), gynäkologischen und urologischen Operationen im Beckenbereich sowie orthopädischen, unfallchirurgischen oder gefäßchirurgischen Eingriffen an der unteren Extremität angewendet werden kann. Die kontinuierliche Spinalanästhesie bietet darüber hinaus die Möglichkeit der fortgesetzten postoperativen Schmerztherapie. Ungeeignet ist die Spinalanästhesie hingegen für Eingriffe am Oberbauch und höher gelegenen Regionen des Körpers.
In der Geburtshilfe ist die Spinalanästhesie zum Kaiserschnitt (Sectio caesarea) ein Standardverfahren. Während noch bis in die 1990er Jahre in Deutschland die Häufigkeit der Vollnarkose überwog, hatte sich bereits 2005 die Spinalanästhesie als bevorzugtes Verfahren deutlich durchgesetzt. Mit einer Spinalanästhesie wird das bei Schwangeren erhöhte Aspirationsrisikos einer Narkose vermieden. Vollnarkosen sind jedoch weiterhin erforderlich, wenn bei einer Notfall-Entbindung die Zeit bis zum vollständigen Wirkeintritt einer Spinal- oder Periduralanästhesie nicht abgewartet werden kann.
Die Spinalanästhesie ist eine Möglichkeit, bei Patienten mit Neigung zu maligner Hyperthermie eine solche Komplikation zu vermeiden, da die Substanzen keine Auslöser (Trigger) für die Erkrankung darstellen. Auch bei zu erwartenden Schwierigkeiten bei der Atemwegssicherung und nicht nüchternen Patienten kann der Spinalanästhesie gegenüber einer Allgemeinanästhesie der Vorzug gegeben werden. Auch Patienten mit obstruktiven Atemwegserkrankungen (Asthma bronchiale, COPD) profitieren vom Verzicht auf eine Narkose.
Es gibt Hinweise, dass durch die rückenmarksnahen Anästhesieverfahren die Rate verschiedener Komplikationen (Beinvenenthrombose, Lungenembolie, Blutverlust, Lungenkomplikationen) und möglicherweise auch die Sterblichkeitsrate gesenkt werden kann, die Datenlage ist jedoch für eine abschließende Beurteilung nicht ausreichend. Auch die Frage, ob die rückenmarksnahen Verfahren bei Patienten mit schweren kardialen oder pulmonalen Vorerkrankungen (Erkrankungen von Herz oder Lunge) Vorteile bieten, wird kontrovers diskutiert. Eine Überlegenheit gegenüber der Allgemeinanästhesie konnte bisher nicht gezeigt werden.
Gegenanzeigen
Absolute Kontraindikationen stellen Unverträglichkeiten gegenüber den eingesetzten Anästhetika, lokale Infektionen im Bereich der Punktionsstelle, unbehandelte körperweite Infektionskrankheiten (Bakteriämie), ein unbehandelter Volumenmangel (Hypovolämie), ein erhöhter Hirndruck sowie eine manifeste Blutungsneigung durch genetisch bedingte Gerinnungsstörungen oder eine therapeutische Gerinnungshemmung dar (vgl. Tabelle). Eine solche Behandlung mit gerinnungshemmenden Mitteln muss vor der Durchführung einer Spinalanästhesie bei unfraktioniertem Heparin vier Stunden, bei niedermolekularen Heparinen hingegen zwölf (prophylaktische Niedrigdosierung) beziehungsweise 24 Stunden (therapeutische Dosis) pausiert werden. Clopidogrel muss sieben, Ticlopidin zehn Tage zuvor abgesetzt werden, nach der Einnahme von Cumarinen (Phenprocoumon u. a.) muss ein INR<1,4 erreicht sein. Die alleinige Behandlung mit Acetylsalicylsäure in niedriger Dosis (bis 100 mg pro Tag) erfordert keine Behandlungspause mehr (Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin).
Ein Mangel an Blutplättchen (Thrombozytopenie) erhöht das Risiko für eine Blutungskomplikation. Eine absolute Untergrenze bis zu der eine Spinalanästhesie durchgeführt werden kann, ist seitens der Fachgesellschaften nicht festgelegt. Vielmehr muss die Gesamtsituation der Blutgerinnung berücksichtigt werden. Die Transfusion von Thrombozytenkonzentraten zur Erhöhung der Thrombozytenzahl im Blut vor einer Spinalanästhesie, wird ab einem Wert von kleiner 50.000/μl empfohlen, so dass dies als Orientierung für die Untergrenze herangezogen werden kann. Bei der Periduralanästhesie, bei der meist dickere Nadeln verwendet werden, wird schon bei weniger als 80.000/μl eine Transfusion empfohlen.
Relative Kontraindikationen sind chronische Rückenschmerzen, eine systemische Infektion unter antibiotischer Behandlung, ein Morbus Bechterew, eine signifikante Aortenstenose oder andere Herzklappenfehler, die Syringomyelie sowie eine pulmonale Hypertonie. Bei diesen Zuständen müssen Vorteile durch die Spinalanästhesie gegen die Risiken abgewogen werden.
Ablauf
Vorbereitung
Wie bei anderen Anästhesieverfahren findet im Vorfeld ein Aufklärungsgespräch zwischen Patient und Anästhesist statt. Am Tag der Operation muss Nüchternheit eingehalten werden, da möglicherweise im Falle von Komplikationen oder ungenügender Wirkung ein Verfahrenswechsel auf eine Narkose stattfinden muss. Oft wird vor dem Eingriff als Prämedikation ein beruhigendes und spannungslösendes Mittel (Sedativum) verabreicht.
Die Spinalanästhesie wird am Patienten im Sitzen oder in Seitenlage durchgeführt. In sitzender Position wird der Patient von vorne durch eine Hilfsperson gestützt. Ein venöser Zugang muss sicher platziert sein, Notfallausrüstung zur Verfügung stehen. Mittels Basismonitoring (EKG-Überwachung, Pulsoxymetrie, Blutdruckmessung) wird der Patient kontinuierlich überwacht.
Durchführung
Zur Applikation der Spinalanästhesie wird mit einer Spinalkanüle zwischen dem zweiten und dritten (L2/L3) oder dritten und vierten Lendenwirbel (L3/L4) punktiert. Nach mehrfacher Desinfektion sowie örtlicher Betäubung wird die Kanüle unter sterilen Bedingungen zwischen zwei Dornfortsätzen eingestochen. Dabei kann gerade von hinten (median) in der Ebene der Dornfortsätze oder mit leichter seitlicher Abweichung von 10° (paramedian) punktiert werden. Alternativ kann der laterale Zugang nach Taylor genutzt werden, bei der der Einstich im Winkel von 45° von seitlich und unten erfolgt.
Die Mitarbeit des Patienten ist wichtig, weil er durch Abrunden des Rückens („Katzenbuckel“) den Abstand der Dornfortsätze vergrößern kann. Vor allem bei älteren Menschen behindern verknöcherte Bänder das Vorschieben der Nadel. Deshalb wird oft eine großlumigere Führungskanüle (Introducer) benutzt. Hat diese die Bandstrukturen durchdrungen, wird die eigentliche, dünne Punktionsnadel durch sie eingeführt und damit der Subarachnoidalraum punktiert. Berührt die Nadel eine Nervenwurzel, kann es während der Punktion kurzzeitig zu Missempfindungen (Parästhesien) in den Beinen kommen. Nach Durchtritt durch die Dura tropft der klare Liquor cerebrospinalis aus der Nadel heraus und zeigt dem durchführenden Arzt, dass die Nadel korrekt platziert ist.
Der klare Liquor kann durch Schlierenbildung in der aufgesetzten Spritze mit dem Lokalanästhetikum erkannt werden. Bei blutigem Liquor (Punktion eines Blutgefäßes) oder fehlendem Liquorrückfluss muss die Kanüle entfernt und neu eingestochen werden. Nach dem Einspritzen der an den Patienten angepassten Dosis Lokalanästhetikum setzt die Wirkung nahezu sofort ein und beginnt mit einem Wärmegefühl der Beine oder des Gesäßes. Innerhalb von Minuten setzen Empfindungs- und Schmerzlosigkeit sowie eine Einschränkung der Beweglichkeit ein. Durch die Lagerung des Patienten lässt sich bei der Verwendung hyperbarer Lokalanästhetika die Ausbreitung des betäubten Gebietes beeinflussen (mittelhohe Ausbreitung, Sakralblock, einseitig betonte Anästhesie).
Nach Injektion der Anästhetika steht je nach benutzter Substanz ein Zeitraum von 1–2,5 Stunden für den operativen Eingriff zur Verfügung. Oft wird der Patient durch die intravenöse Verabreichung entsprechender Medikamente (meist Benzodiazepine wie Midazolam) zur Stressminderung etwas sediert. Während der gesamten Wirkdauer muss der Patient durch Fachpersonal und technisches Monitoring überwacht werden, da frühere Konzepte einer „Fixierungszeit“ der Spinalanästhesie heute als obsolet angesehen werden und durch ein Aufsteigen der injizierten Anästhetika im Liquorraum Komplikationen auftreten können. Ist die Operation abgeschlossen, wird die Überwachung im Aufwachraum fortgesetzt, bis die Spinalanästhesie sich deutlich zurückgebildet hat.
Nebenwirkungen und Komplikationen
Relativ häufige Nebenwirkungen einer Spinalanästhesie sind Blutdruckschwankungen, Herzrhythmusstörungen, Rückenschmerzen, Übelkeit und Erbrechen sowie postoperativ der postpunktionelle Kopfschmerz und Harnverhalt. Diese Probleme werden aufgrund der kontinuierlichen Überwachung in der Regel rasch vom Anästhesisten erkannt und ohne Folgen behandelt.
Schwerwiegende Komplikationen wie schwere Kreislaufstörungen oder bleibende Nervenschäden durch direkte Schädigung, Infektionen oder Blutungen sind seltene Ereignisse. Die Häufigkeit ist dabei nur schwer zu ermitteln; Probleme sind fehlende Studien mit ausreichender Patientenzahl, ungenaue und abweichende (heterogene) Definitionen der Schäden in diesen Untersuchungen sowie die Abgrenzung von anderen möglichen Schädigungsmechanismen wie dem operativen Eingriff selbst, der Lagerung, bestehenden (möglicherweise unbekannten) Erkrankungen oder spontan auftretenden Ereignissen (Blutungen, Infektionen), die oft nur schwer möglich ist.
Kreislaufstörungen
Ein Abfall des arteriellen Blutdrucks (Hypotonie) ist die häufigste Nebenwirkung einer Spinalanästhesie, die bei bis zu einem Drittel der Patienten auftritt. Sie entsteht durch die Betäubung des sympathischen Nervensystems (Sympathikolyse) der unteren Körperhälfte, wodurch die Gefäße weitgestellt (Vasodilatation) und das zirkulierende Blutvolumen und damit der Rückstrom zum Herzen vermindert sind. Je höher die Ausbreitung der Spinalanästhesie reicht, desto ausgeprägter ist der hypotone Effekt. Er wird zuweilen von einer Verlangsamung der Herzfrequenz (Bradykardie) und Übelkeit begleitet.
Der Abfall ist bei Patienten mit Flüssigkeitsmangel besonders ausgeprägt, weshalb vor der Durchführung einer Spinalanästhesie prophylaktisch Elektrolytlösungen als Infusion verabreicht werden, um ein solches Defizit auszugleichen. Auch Blutverluste, Lagerungsmanöver und das Ablassen einer Stauung bei Blutleere begünstigen die Hypotonie. Behandelt wird eine Hypotonie mit Volumengabe per Infusion, durch eine leichte Kopftieflagerung (Trendelenburg-Lage, beeinflusst bis etwa 10° die Ausbreitung des Lokalanästhetikums nur wenig) sowie durch die Gabe von Medikamenten, falls notwendig. Dabei werden Katecholamin-Derivate wie Cafedrin/Theodrenalin (Akrinor) oder seltener Noradrenalin eingesetzt, bei Bradykardien auch Atropin oder Orciprenalin. Während Störungen des Blutdrucks oder der Herzfrequenz in der Regel effektiv behandelt werden können, treten selten auch schwere Verlaufsformen bis zum Kreislaufstillstand auf (ca. 3/10.000).
Postspinaler Kopfschmerz
Der postpunktionelle oder postspinale Kopfschmerz (postdural puncture headache, PDPH) gehört zu den unangenehmen Nebenwirkungen der Spinalanästhesie, hat jedoch in der Regel eine gute Prognose. Als Entstehungsmechanismus wird ein Liquorverlustsyndrom durch die Perforationsstelle der harten Hirnhaut postuliert. Durch dieses Leck tritt Liquor aus, wobei sich ein Unterdruck im Liquorraum entwickelt, wenn der Verlust die Neubildungsrate übersteigt. Eine Dehnung schmerzempfindlicher Strukturen des Gehirns (Hirnhäute, Gefäße, Falx cerebri), eine kompensatorische Gefäßweitstellung (Vasodilatation) und möglicherweise ein erhöhter Hirndruck durch einen verminderten venösen Abfluss der Gehirngefäße bewirken in der Summe die Ausbildung des Kopfschmerzes. Das Syndrom wurde schon bei der Beschreibung der Spinalanästhesie durch August Bier (1899, s. u.) erwähnt.
Der Kopfschmerz tritt, stark von der eingesetzten Spinalnadel abhängig, bei 0,5–18 % der Patienten auf und beginnt meist ab dem zweiten Tag nach der Punktion. Im Liegen tritt eine Besserung, im Sitzen und Stehen sowie bei Kopfschütteln und erhöhtem Bauchdruck eine Verschlimmerung der Beschwerden auf. Der postpunktionelle Kopfschmerz kann von Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Nackensteifigkeit, Rückenschmerzen, Licht- und Geräuschempfindlichkeit, Auftreten von Doppelbildern und Sehstörungen (durch Irritationen des dritten, vierten und sechsten Hirnnerven) sowie vermindertem Hörvermögen oder Tinnitus (durch Irritationen des achten Hirnnerven) begleitet werden.
Die Behandlung erfolgt primär konservativ durch Bettruhe, ausreichende Flüssigkeitszufuhr und Schmerzmedikation. Bei Erfolglosigkeit dieser Maßnahmen werden verschiedene invasive Therapieverfahren angewendet, als Mittel der Wahl gilt der epidurale Blutpatch. Dabei wird steril entnommenes Blut des Patienten auf Höhe der Punktionsstelle in den Epiduralraum injiziert. Dieses komprimiert und verschließt die Perforation der Hirnhaut.
Die wichtigste Maßnahme zur Prophylaxe eines postpunktionellen Kopfschmerzes ist die Verwendung von möglichst dünnen Punktionsnadeln mit atraumatischer Spitze (Pencil-Point-Spitze), die weitaus geringere Raten an Kopfschmerz (0,5–1 %) aufweisen als Nadeln mit größerem Durchmesser und schneidender, schräg angeschliffener Spitze (z. B. Quincke-Nadel). Entwickelt wurde die atraumatsche Spitze der 1979 eingeführten Sprotte-Kanüle von dem Anästhesisten und Schmerztherapeuten Günter Sprotte (* 1945) in Zusammenarbeit mit der Firma Pajunk.
Neurologische Komplikationen
Bei Schädigungen von Nerven kann zwischen primär durch die Spinalanästhesie entstandenen und sekundär entwickelten Schäden unterschieden werden. Als primäre Schädigungsmechanismen sind mechanische Verletzungen durch die Nadel oder toxische Effekte der injizierten Lösungen möglich, als sekundäre Infektionen und Blutungen mit raumforderndem Charakter (s. u.), die durch Druck auf die Nerven (Kompression) Schäden verursachen können.
Nervenschäden, die nach einem operativen Eingriff auftreten, sind nur selten durch Nadelverletzungen einer Spinalanästhesie bedingt, sondern oft Folge der Lagerung, der Operation oder unabhängiger Faktoren wie Vorerkrankungen. Die Häufigkeit an Schäden von Spinalnerven durch eine Spinalanästhesie wird auf 3,8/10.000 geschätzt, von denen ein großer Teil reversibel ist.
Als transiente neurologische Symptome (TNS) bezeichnet man symmetrische, in die Beine ausstrahlende Rückenschmerzen ohne sensible Ausfälle, die typischerweise innerhalb weniger Stunden nach dem Anästhesieverfahren beginnen und innerhalb von Tagen wieder ohne Folgen abklingen. Sie sind durch die Toxizität der Lokalanästhetika bedingt und treten bei etwa einem Prozent der Patienten auf. Wird Lidocain benutzt, ist die Rate jedoch deutlich höher.
Die Ursache für das selten auftretende Cauda-equina-Syndrom (0,02–0,16/10.000) ist ebenfalls in der Neurotoxizität der Lokalanästhetika begründet. Eine Schwäche der unteren Extremitäten, Störung von Wasserlassen und Stuhlgang sowie Sensibilitätsstörungen im Genitalbereich (Reithosenanästhesie) sind klinische Zeichen. Diese Schäden sind oft dauerhaft.
Blutungen
Durch Verletzungen von Blutgefäßen beim Vorschieben der Nadel in den Rückenmarkskanal können Blutungen des Epidural- und Spinalraums verursacht werden. Raumfordernde Blutergüsse (Hämatome) entstehen jedoch nur sehr selten auf diese Weise, ihre Häufigkeit wird auf 1:220.000 geschätzt. Patienten, die unter Gerinnungsstörungen leiden oder gerinnungshemmende Medikamente einnehmen, haben ein etwas erhöhtes Risiko (ca. 1:40.000). Klinisch stehen ein Ausfall der Reflexe (Areflexie), Muskelschwäche und Sensibilitätsstörungen unterhalb des Niveaus der Kompression im Vordergrund, typischerweise nachdem die Wirkung der Spinalanästhesie sich primär zurückgebildet hat. Da durch eine rückenmarksnahe Blutung eine dauerhafte Nervenschädigung verursacht werden kann, muss im Verdachtsfall zur Diagnosesicherung eine MRT-Aufnahme durchgeführt werden. Wird dabei eine blutungsbedingte Kompression der Nerven identifiziert, muss umgehend eine operative Entlastung (Laminektomie) erfolgen. Zur Vermeidung von Blutungen müssen zwischen der Verabreichung gerinnungshemmender Arzneimittel und rückenmarksnahen Punktionen bestimmte Zeitabstände (s. o.) eingehalten werden.
Infektionen
Infektiöse Komplikationen nach einer einmaligen Spinalanästhesie sind sehr selten. Mögliche Ursachen sind die Verschleppung von Keimen aus einer bestehenden Infektion oder ein Einbringen durch eine kontaminierte Nadel oder ungenügend steriles Arbeiten, wodurch Erreger in der Spinalraum und Epiduralraum eindringen können. Mögliche Manifestationen sind Entzündungen der Hirnhäute (Meningitis) sowie die Ausbildung eines Abszesses (eitrige Raumforderung) des Epiduralraumes (zwischen Dura und Periost). Verlässliche Zahlen zur Häufigkeit liegen nicht vor; während das Risiko für Katheterverfahren stark variierend auf 1:1000 bis 1:100.000 geschätzt wird, ist ein Auftreten nach einer einmaligen Injektion eine Rarität. Eine Abgrenzung zu spontan auftretenden Abszessen (0,2–1,2:10.000) ist nur schwer möglich. Die häufigsten Erreger sind Staphylokokken, deren Vorkommen in der Hautflora die Wichtigkeit von gründlicher Desinfektion der Punktionsstelle und streng steriler Durchführung der Punktion zeigt.
Eine Meningitis zeigt sich typischerweise nach 24–48 Stunden durch Fieber, Nackensteifigkeit (Meningismus), Kopfschmerzen und Lichtscheue (Photophobie). Bei Verdacht muss eine diagnostische Lumbalpunktion durchgeführt werden, um mittels Liquoruntersuchung die Erreger zu bestimmen und mit gezielter Antibiotikatherapie behandeln zu können. Eine Sonderform ist die aseptische Meningitis, bei der kein Erregernachweis gelingt.
Eine schwerwiegende Komplikation ist die Ausbildung eines Abszesses des Epiduralraumes. Die Symptome sind variabel und umfassen Fieber, Rückenschmerzen sowie neurologische Ausfälle. Die wegweisende Diagnostik umfasst insbesondere bildgebende Verfahren (MRT). Therapeutisch werden Antibiotika eingesetzt, eine frühe chirurgische Entlastung ist in den meisten Fällen notwendig. In einem Drittel der Fälle bleiben gravierende, in einem weiteren Drittel leichte Nervenschäden zurück. Die Sterblichkeit aufgrund der Entwicklung einer Sepsis liegt bei etwa 10–15 %.
Weitere Nebenwirkungen
Übelkeit und Erbrechen treten in bis zu 15 % der Spinalanästhesien auf. Rückenschmerzen werden von etwa 10 % der Patienten angegeben, eine ursächliche Zuordnung zu Anästhesieverfahren, Operation oder Lagerung ist nur schwer möglich. Ein Harnverhalt tritt bei 1,5–3 % der Patienten auf, die operativ keinen Dauerkatheter in die Harnblase eingelegt bekommen. Ursache ist ein Ungleichgewicht von hemmenden Einfluss des Sympathikus und fördernden Einfluss des Parasympathikus auf die Blasenentleerung. Zur Behandlung muss unter Umständen eine sterile Einmalkatheterisierung durchgeführt werden.
Eine schwere Nebenwirkung ist eine zu hoch aufsteigende Spinalanästhesie, wie sie etwa bei versehentlicher Überdosierung der Medikamente auftreten kann. Verteilen sich diese im gesamten Spinalraum, spricht man von einer totalen Spinalanästhesie. Bewusstlosigkeit, Atem- und Kreislaufstillstand können die Folge sein und müssen durch endotracheale Intubation und Beatmung, Katecholamin-Therapie sowie gegebenenfalls durch Wiederbelebungsmaßnahmen behandelt werden. Bei adäquater Therapie ist in der Regel eine vollständige Rückbildung (Restitutio ad integrum) möglich.
Ein technisches Versagen der Spinalanästhesie (Unmöglichkeit der Durchführung, Nadelverbiegung, sehr selten Nadelbruch) ist direkt vom Durchmesser der Spinalnadel abhängig. Bei Standardnadeln (Gauge 25) beträgt diese Rate weniger als fünf Prozent, nimmt bei dünneren Nadeln jedoch zu. Da eine größere Nadeldicke mit einer höheren Rate an postpunktionellem Kopfschmerz assoziiert ist, ist die Auswahl der Nadel ein Kompromiss.
Geschichtliche Aspekte
Die ersten Punktionen des lumbalen Liquorraumes wurden 1891 von Heinrich Irenaeus Quincke in Kiel durchgeführt, allerdings zur diagnostischen Entnahme von Liquor. Er entwickelte dazu eine schräg angeschliffene Punktionsnadel (Quincke-Nadel).
Am 24. August 1898 führten der Chirurg August Bier und sein Assistent August Hildebrandt (1868–1954) ebenfalls in Kiel in einem gegenseitigen Versuch erfolgreich Spinalanästhesien durch und damit ein. Durch die Injektion von Kokain wurde „ein starker Schlag mit einem Eisenhammer gegen das Schienbein“ und „starkes Drücken und Ziehen am Hoden“ nicht mehr als schmerzhaft empfunden. Beide entwickelten in der Folge einen stark ausgeprägten postspinalen Kopfschmerz mit Übelkeit und Erbrechen.
Der US-Amerikaner James Leonard Corning hatte 1885 bereits ähnliche Versuche unternommen und in rückenmarksnahe Strukturen Kokain eingespritzt, woraufhin eine Gefühllosigkeit von Beinen und Genitalien zu beobachten war. Ob dabei eine Spinalanästhesie gelang oder die Substanzen nur in die Bandstrukturen appliziert wurden, ist umstritten. Im Anschluss an die 1899 erfolgte Veröffentlichung von August Bier, der 1898 im Tierversuch die Spinalanästhesie untersucht hat, entwickelte sich eine Kontroverse um das erste erfolgreich durchgeführte Anästhesieverfahren dieser Art, was sowohl Bier als auch Corning für sich beanspruchten. In der Folge zerstritt sich Bier auch mit seinem Assistenten Hildebrandt, der unzufrieden war, da Bier ihn nicht als Mitautor aufgeführt hatte. Heute wird Corning die Schaffung der experimentellen und theoretischen Voraussetzungen für die Spinalanästhesie zugeschrieben, Bier die erfolgreiche Anwendung und anschließende Etablierung des Verfahrens in der Klinik. Bier warnte vor dem von ihm zuvor empfohlenen Verfahren der Lumbalanästhesie mit Kokain, da es häufig zu ernsten Zwischenfällen führte. Erst nachdem 1903 das weniger toxische, von Ernest Fourneau entwickelte Lokalanästhestikum Stovain erhältlich war, praktizierte er die Lumbalanästhesie wieder. Zu den ersten Amerikanern, welche die Spinalanästhesie anwendeten gehören die Chirurgen Dudley Tait und Guido E. Caglieri in San Francisco sowie der Gefäßchirurg Rudolph Matás (1860–1957) in New Orleans, der sie 1899 mit Hilfe von Felix A. Larue, Hermann B. Gessner und Carroll Allen bei einer Hämorrhoidenoperation durchgeführt hatte. Der Franzose Théodore Tuffier (1857–1929) empfahl die Spinalanästhesie 1899 für operative Eingriffe am Urogenitaltrakt. Mediziner wie Pierre Marie, Georges Charles Guillain und Charles Achard wendeten die subarachnoidale Injektion von Kokain auch zur Behandlung von Nervenschmerzen im Lendenbereich und in den Beinen wie beim Ischiasschmerz oder dem Hexenschuss (Lumbago) an.
Anfang des 20. Jahrhunderts etablierte sich die Spinalanästhesie in der Geburtshilfe. In den 1930er Jahren brachten Veröffentlichungen über Todesfälle bei der Spinalanästhesie zum Kaiserschnitt diese Anwendung jedoch in Verruf; man ermutigte die Schwangeren stattdessen zu „natürlichen Geburtsverfahren“ und zur „Psychoprophylaxe“. Aufgrund der Vernachlässigung der Schmerztherapie unter Geburt wird diese Zeit auch als die „dunklen Jahre der geburtshilflichen Anästhesie“ bezeichnet. Erst in den 1950er Jahren änderte sich diese Sichtweise wieder. Heute ist die Spinalanästhesie ein Standardverfahren bei der Durchführung eines Kaiserschnittes.
1951 entwickelten Whitacre und Hart Kanülen mit Pencilpoint-Spitze. Deren Einführung in die klinische Praxis führte zu einer signifikanten Reduktion der Rate von postspinalem Kopfschmerz, der zuvor bei einem Großteil der Patienten aufgetreten war.
Die erste kontinuierliche Spinalanästhesie unter der Belassung der Spinalnadel während der Operation am Punktionsort wurde schon 1907 durch den Chirurgen Dean durchgeführt. Die Etablierung dieses Verfahrens durch die Entwicklung ausreichend dünner Katheter, wodurch akzeptabel geringe Raten an postspinalem Kopfschmerz erreicht werden konnten, fand jedoch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt.
Literatur
D. Jankovic: Regionalblockaden und Infiltrationstherapie. 3. Auflage. Abw Wissenschaftsverlag, 2003, ISBN 3-936072-16-7.
R. Rossaint, C. Werner, B. Zwißler: Die Anästhesiologie: Allgemeine und spezielle Anästhesiologie, Schmerztherapie und Intensivmedizin. 2. Auflage. Springer, 2008, ISBN 978-3-540-76301-7.
F. Gerheuser, D. Craß: Spinalanästhesie. In: Anaesthesist. 2005 Dec;54(12), S. 1245–1267. Review. PMID 16317479.
Michael Heck, Michael Fresenius: Repetitorium Anästhesiologie. 5. Auflage. Springer, 2007, ISBN 978-3-540-46575-1.
Einzelnachweise
Regionalanästhesieverfahren
Hirnhaut |
368876 | https://de.wikipedia.org/wiki/Doktorfische | Doktorfische | Die Doktorfische (Acanthuridae), auch Seebader oder Chirurgenfische genannt, bilden eine Familie in der Ordnung der Doktorfischartigen (Acanthuriformes), die zwei Unterfamilien, sechs Gattungen und über 80 Arten umfasst. Zu den nächsten Verwandten der Doktorfische zählen der Halfterfisch und der Dianafisch.
Die Bezeichnung Doktorfische ist von den „Skalpellen“ oder hornartigen Klingen abgeleitet, die diese Fische vor der Schwanzwurzel tragen und die sie als Defensivwaffe einsetzen können. Der wissenschaftliche Name geht auf die 1787 erstmals beschriebene Typgattung Acanthurus (griechisch ακάνθουρος, „der Dornenschwänzige“) zurück, deren Bezeichnung ihrerseits aus dem Griechischen άκανθα, ácantha, „der Stachel“, und ουρά, ourá, „der Schwanz“, zusammengesetzt ist. Die Familie selbst wurde 1810 durch den französischen Naturalisten Constantine Rafinesque etabliert.
Verbreitung
Doktorfische leben ausschließlich im Salzwasser und haben eine zirkumtropische Verbreitung, finden sich also weltweit in äquatornahen Gewässern. Sechs Arten leben im Atlantik, die restlichen im Indischen und Pazifischen Ozean. Die Vertreter der Familie sind in Korallenriffen und Lagunen im Roten Meer, im Persischen Golf, an den Küsten von Ostafrika, Madagaskar, Japan, Hawaii und Australien anzutreffen.
Erscheinungsbild
Aussehen
Die meisten Doktorfischarten erreichen eine Körperlänge von 30 bis 40 Zentimetern. Zu den Zwergen in dieser Familie zählen der Japanische Doktorfisch (Acanthurus japonicus) und Randalls Doktorfisch (Acanthurus randalli), die jeweils nur eine Körperlänge von bis zu 18 Zentimeter erreichen, sowie als kleinste Art der Tomini-Borstenzahndoktorfisch (Ctenochaetus tominiensis), der nur 12 Zentimeter lang wird.
Die Riesen in dieser Familie sind Arten der Nasendoktorfische. Der Langnasen-Doktorfisch (Naso annulatus) erreicht eine Körperlänge von bis zu 1 Meter, der Pferdekopf-Nasendoktorfisch (Naso fangeni) wird bis zu 80 Zentimeter lang. Typisch und auch namensgebend für Nasendoktorfische sind die hornartigen Auswülstungen auf der Stirn – sie können bei einigen Arten derart groß werden, dass ausgewachsene Fische nicht mehr in der Lage sind, mit ihrem Maul Algen von Korallen oder vom Untergrund abzuzupfen. Es kommt daher zu einer Nahrungsumstellung von Algen auf Plankton.
Typisch für Doktorfische sind die hochrückigen und sehr schmalen Körper. Bei der Unterfamilie der Nasendoktorfische ist der Körper generell etwas länger und wirkt dadurch spindelförmiger.
Ein Unterschied zwischen den Geschlechtern bezüglich der Körperfärbung besteht bei Doktorfischen in der Regel nicht – allerdings können Männchen größer werden als Weibchen, und ihre Färbung kann während der Laichphase etwas intensiver sein. Bei den Männchen der Nasendoktorfische wird die nasenförmige Ausstülpung auf der Stirn häufig kräftiger und länger. Bei älteren Männchen der Echten Doktorfische kann außerdem eine sogenannte Stirnbeule auftreten. Bei einigen Zebrasoma-Arten (Z. scopas und Z. xanthurum) kann man die Männchen anhand der Härchenfelder vor dem Skalpell erkennen (Luty 2013).
Allen Doktorfischen ist das tiefliegende und sehr kleine Maul zu eigen, bei dem der Oberkiefer etwas länger als der Unterkiefer ist. Es sitzt endständig am Kopf, der einen Anteil von etwa 15 Prozent der Körperlänge ausmacht. Aufgrund von Nahrungsspezialisierung haben einige Gattungen spezifische Gebissformen ausgebildet. So ist bei den Segelflossendoktorfischen aus der Unterfamilie der Skalpelldoktorfische die Schnauze etwas verlängert, so dass sie auch Algen an weniger zugänglichen Stellen erreichen können. Bei den Borstenzahndoktorfischen aus derselben Unterfamilie ist dagegen das Maul eher breit, und sie haben bewegliche Raspelzähne, um veralgte Stellen ähnlich wie mit einem Wischmopp abraspeln zu können.
Einige Arten wechseln während des Heranwachsens ihre Körperfärbung. Der Blaue Doktorfisch (Acanthurus coerulus) ist während seiner juvenilen Lebenszeit gelb gefärbt, ähnelt damit einer in Riffspalten lebenden Fischart und signalisiert durch diese Mimikry seinen Fressfeinden, dass er eine nur wenig lohnende Beute darstellt. Während dieser Phase verteidigen die Tiere ihr Revier entschlossen gegenüber Fresskonkurrenten, auch wenn diese Artgenossen sind. Wenn ihr kleines Revier ihnen nicht mehr ausreichend Nahrung bietet, nehmen sie die Färbung der erwachsenen Tiere an und bilden dann gemeinsam mit Artgenossen Fressschwärme. Eine dem Blauen Doktorfisch vergleichbare Mimikry zeigen auch der Kreisdorn-Doktorfisch (Acanthurus tennenti) und der Schokoladen-Doktorfisch (Acanthurus pyroferus). Sie gleichen als Jungfische den Zwergkaiserfischen, die ebenfalls nur sehr schwer zu erjagende Riffspaltenbewohner sind.
Rücken- und Afterflosse können während des Imponierverhaltens fahnenartig vom Körper abgespreizt werden. Mit Ausnahme der Nasendoktorfische haben Doktorfischarten lange, schmale Brustflossen. Bei den Nasendoktorfischen sind die Brustflossen dagegen kurz und breit abgerundet.
Die Schuppen der Doktorfischarten sind sehr klein. Aufgrund der relativen Keimfreiheit des Meereswassers haben Doktorfischarten im Vergleich zu Süßwasserfischen außerdem eine dünne Haut und dünne Schleimschicht.
Die Skalpelle
Doktorfische haben ein bis zwanzig scharfe „Skalpelle“ oder Dornfortsätze an der Schwanzwurzel, mit denen sie sich verteidigen können. Die „Skalpelle“ sind aus der Umwandlung einer Schuppe entstanden und haben rasiermesserscharfe Schnittflächen. Bei Nasen- und Sägedoktorfischen sind es dornartige Hornplatten, von denen mindestens zwei pro Körperseite ausgebildet werden.
Sie sind häufig farblich hervorgehoben und deshalb leicht zu erkennen. Bei den eigentlichen Doktorfischen (Acanthurinae) ist das Skalpell beweglich und im Ruhezustand an den Körper angelegt. Da die „Skalpelle“ nicht mit Muskeln in Verbindung stehen, sondern lediglich mit Sehnen an der Wirbelsäule verankert sind, können die echten Doktorfische sie nicht aktiv zur Verteidigung aufstellen. Stattdessen werden sie passiv durch Schwanzschläge jeweils an der nach außen gebogenen (konvexen) Seite des Schwanzstiels in einem Winkel von ungefähr 80 Grad aufgerichtet.
Bei den Nasendoktorfischen sind die Skalpelle feststehend, das heißt, ihre Klingen sind immer einsatzbereit. Die überwiegende Anzahl der Nasendoktorfische hat jeweils zwei Klingen auf jeder Seite der Schwanzwurzel. Die Sägedoktorfische dagegen besitzen drei bis zehn knöcherne Fortsätze beidseits ihrer Schwanzwurzeln.
Die Skalpelle werden zur Verteidigung etwa gegen Fressfeinde wie Muränen, Zackenbarsche und Barracudas, aber auch bei innerartlichen Auseinandersetzungen eingesetzt. Früher wurde angenommen, dass Doktorfische mit dem Skalpell die Bäuche anderer Fischarten aufschlitzen, um deren Eingeweide zu fressen. Das ist nicht zutreffend – die Skalpelle sind eine reine Defensivwaffe der Fische.
Bei Verletzungen durch diese Skalpelle kommt es zu Vergiftungserscheinungen. Der Fachbuchautor André Luty weist darauf hin, dass bei Versuchsreihen mit Prionorus scalpus die von den Skalpellen verletzten Fische alle starben, obwohl die Skalpelle weder Giftleiter noch -drüsen aufweisen. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass auf der Fischhaut befindliche Eiweißverbindungen in die Wunden eindringen, dort zu Infektionen führen oder als Eiweiße Giftwirkung besitzen.
Andere Arten wie beispielsweise der Paletten-Doktorfisch (Paracantharus hepatus) oder einige Arten der Nasendoktorfische besitzen auch Giftdrüsen an den Rückenflossenstacheln. Beim Menschen können Verletzungen durch die Stacheln der Flossen oder durch die Skalpelle mit einem starken und schmerzhaften Anschwellen der betroffenen Gliedmaßen einhergehen. Die Schmerzen können dabei über Wochen anhalten.
Ernährung
Doktorfische sind Nahrungsspezialisten, wobei sich die überwiegende Zahl der Arten nach ihrer Larvenphase, in der sie vor allem tierisches Plankton fressen, auf eine pflanzliche Nahrung umstellt. Die pflanzliche Nahrung besteht entweder aus Algen oder aus Detritus, also zellulären Zerfallsprodukten. Der Wechsel auf eine andere Nahrungsquelle geht mit körperlichen Veränderungen einher:
Die Umwandlung der Nahrungsgewohnheiten lässt sich an der relativen Darmlänge vom Jungtier zum erwachsenen Doktorfisch verfolgen. Ein Acronorus (Jungfisch) von 3 cm Länge hat eine Darmlänge von ca. 10 cm; bei 16 cm Körperlänge hat der erwachsene Doktorfisch schon ca. 90 cm Darmlänge. Diese im Verhältnis recht große Darmlänge ist notwendig, da die Pflanzennahrung schwer verdaulich ist und das Verdauungssystem der Doktorfische pflanzliche Nahrung nur sehr schwer verwerten kann. Die Darmlänge bewirkt somit eine längere Verweilzeit der Nahrung und ein besseres Verwerten des Nahrungsbreies im Fischkörper (Luty, S. 19).
Die Ernährungsweise bedingt auch Verhaltensanpassungen: Einige Arten fressen ihren Kot, um so die halb verdauten Nahrungsreste besser verwerten zu können (Koprophagie). Viele Arten der überwiegend von Algen lebenden Doktorfische nehmen außerdem Korallensand auf, um die Zellwände ihrer pflanzlichen Nahrung besser verarbeiten zu können. Bei Doktorfischarten, die am Great Barrier Reef leben, hat man außerdem spezifische Mikroorganismen gefunden, die als Symbiosepartner im Verdauungstrakt leben und die bei Arten anderer Fischfamilien nicht vorkommen.
Die meisten Arten nutzen ausschließlich wenige bestimmte Nahrungsquellen. Der Japanische Doktorfisch beispielsweise frisst lediglich den als feinen Algenflaum auf natürlichem Riffgestein vorkommenden Fadenalgen-Aufwuchs. Randalls Doktorfisch benötigt dagegen einen hohen Anteil von Kalkalgen in seiner Ernährung. Beim Goldtupfen-Doktorfisch (Acanthurus nigrofuscus) ist die bevorzugte Nahrungsquelle saisonabhängig. Im Sommer frisst er Rot- und Braunalgen, im Winter dagegen bevorzugt Grünalgen. Stehen ihm die Grünalgen im Winter nicht zur Verfügung, hat dies Auswirkung auf seine Laichfähigkeit. Aufgrund des Verzehrs von Grünalgen kommt es zur Änderung der Fettsäurezusammensetzung der Doktorfisch-Fette. Diese verbraucht der Goldtupfen-Doktorfisch während der Ausbildung seiner Keimdrüsen (Gonaden).
Einige wenige Arten bleiben nach ihrer Larvenphase Planktonfresser – dazu zählen beispielsweise der Paletten-Doktorfisch (Acantharus hepatus) und der Mönchs-Doktorfisch (Acanthurus gahm). Von den Nasendoktorfischarten stellen sich einige während ihres Lebens vom Abfressen von Algen wieder auf Planktonnahrung um, weil sie mit ausgewachsenem Horn keine Algen mehr vom Substrat abfressen können. So werden sie mit zunehmendem Alter zu Planktonfressern, die ihren Bedarf an Algen aus den zwischen dem Plankton schwimmenden Algen und durch das Fressen von Nahrungsorganismen wie Quallen befriedigen, die Mikroalgen in Form von Zooxanthellen beherbergen können.
Verhalten
Die über 80 Arten der Doktorfische weisen ein sehr großes Spektrum an unterschiedlichen Verhaltensmustern auf, die teilweise auch innerhalb einer Art auftreten und dabei vom Lebensalter, von der Fortpflanzungsphase und von den jeweiligen Umweltbedingungen abhängig sind. Bei einigen Doktorfischarten wurde beobachtet, dass sie sich streng territorial verhalten, wenn das Gebiet unterhalb einer bestimmten Individuendichte bleibt. Nimmt die Häufigkeit der Art dagegen zu, bilden sie Fressschwärme aus. Am häufigsten sind Doktorfische jedoch als Einzeltier oder als Paar zu beobachten und verhalten sich überwiegend territorial.
Schwärme
Im Schwarm sind Doktorfische entweder während der Laichzeit zu beobachten, oder sie gehören zu den Arten, die Fressschwärme bilden.
Vorteilhaft ist die Ausbildung von Fressschwärmen, wenn die Fische sich auf diese Weise Nahrungsgründe zugänglich machen können, aus denen sie als einzelner Fisch von Nahrungskonkurrenten wie etwa Riffbarschen vertrieben würden. Dies gilt beispielsweise für den Blauen Doktorfisch (Acanthurus coeruleus) oder den Weißkehl-Doktorfisch (Acanthurus leucosternon). Steht den Fischen dagegen ausreichend Nahrung zur Verfügung, bilden die Fische keine Fressschwärme. So unterblieb beispielsweise beim Sträflings-Doktorfisch (Acanthurus triostegus), dessen Fressschwärme bei den Malediven bis zu 1000 Fische umfassen können, während des Korallensterbens an diesen Küsten im Jahre 1998 die Schwarmbildung, weil aufgrund des mit dem Korallensterben einhergehenden starken Algenwachstums Nahrung ausreichend vorhanden war.
Auch beim wissenschaftlich gut untersuchten Goldtupfen-Doktorfisch hat man festgestellt, dass sein Verhaltensrepertoire stark von seinen Umweltbedingungen beeinflusst ist. So wurde im Golf von Eilat für einzelne Regionen festgestellt, dass diese Doktorfischart ihren Lebensraum in Fress- und Ruhezonen unterteilt. Zu Beginn des Tages wandert die gesamte Population von bis zu 400 Individuen eines Riffabschnitts in die Fresszone, frisst dort gemeinsam und kehrt abends in die Ruhezone zurück, wo sie ihre individuellen Schlafplätze aufsuchen. In anderen Zonen dieses Meeresgebiets bildet der Goldtupfen-Doktorfisch dagegen nur kleine Trupps von 10 bis 20 Fischen, die in Revieren mit einem Durchmesser von 10 bis 20 Metern fressen und ruhen. Nur während der Laichphase bilden die Populationen in diesen Regionen größere Schwärme.
Territorialverhalten
Viele Doktorfischarten verhalten sich bereits während ihrer Jungfischzeit territorial und bilden während dieser Zeit Minireviere, die sie gegen Fresskonkurrenten entschlossen verteidigen. Dieses Verhalten ist notwendig, da die Jungfische sich aufgrund der Gefährdung durch Fressfeinde noch nicht ins offene Riff wagen können und damit die ihnen zur Verfügung stehenden Algen begrenzt sind. Die Fische verteidigen daher auch gegenüber Artgenossen ein Revier rund um ihren Unterschlupf, das ihnen ausreichend Nahrungsgrundlage bietet.
Haremsreviere
Beim Arabischen Doktorfisch und Blaustreifen-Doktorfisch (Acanthurus lineatus) hat man die Ausbildung von Haremsterritorien beobachtet. Die weiblichen Fische haben eigene kleine Reviere, ein einzelnes Männchen kontrolliert und verteidigt mehrere dieser Reviere. Es durchschwimmt sein Territorium auf immer gleichen Bahnen und verjagt dabei sowohl konkurrierende Artgenossen als auch andere Pflanzen fressende Fische.
Fortpflanzung
Laichphase
Alle Doktorfischarten suchen zum Ablaichen das freie Wasser auf. Sie sind dabei durch Fressfeinde besonders gefährdet. Ist die Individuendichte innerhalb eines Gebietes entsprechend hoch, bilden sie daher Schwärme aus, in denen der einzelne Fisch besser gegen diese geschützt ist. Ist die Individuendichte dagegen gering, laichen die Fische auch als Paar ab. Die Synchronisation des Laichverhaltens geschieht dabei über Mondphasen. Viele Arten laichen bei Vollmond ab, der mit dem höchsten Gezeitenwechsel einhergeht. Die Larven werden durch diese Gezeiten weit vom Riff entfernt. Auch dies ist eine Verhaltensanpassung gegenüber Fressfeinden, da viele andere Riffbewohner die Larven fressen würden.
Unter den Doktorfischarten gibt es einige, bei denen das Weibchen monatlich laichbereit ist, während bei anderen Arten saisonale Laichzyklen zu beobachten sind. Diese Unterschiede können sogar innerhalb einer Art als Anpassung an den jeweiligen Lebensraum auftreten. So sind beispielsweise die Weibchen des Sträflings-Doktorfisches (Acanthurus triostegus) in den warmen Gewässern in Äquatornähe ganzjährig laichbereit, während sie vor den Küsten von Hawaii nur zwischen Dezember und Juli laichen.
Der eigentliche Laichakt beginnt in der Regel mit einem Imponiergehabe, bei dem Rücken- und Afterflossen aufgestellt werden. Männchen und Weibchen schwimmen dabei parallel. Wie bei vielen Fischarten üblich, die im freien Wasser ablaichen, schwimmen auch die Doktorfischarten für den eigentlichen Laichakt je nach Art zwei bis drei Meter aufwärts und stoßen auf dem höchsten Punkt gleichzeitig Eier und Sperma ab. Gelegentlich durchstoßen sie dabei sogar die Wasseroberfläche. Geschieht der Laichakt innerhalb eines größeren Schwarms, sind es dabei immer einzelne Gruppen, die dies gleichzeitig tun und anschließend in die relative Sicherheit des Schwarms zurückkehren.
Für eine Reihe der Doktorfischarten wurden Farbänderungen der Körperfärbung während der Fortpflanzungszeit beschrieben. Dies reicht vom heller werdenden Gesichtsfleck beim Weißkehl-Doktorfisch (Acanthurus leucosternon) und beim Japanischen Doktorfisch bis zu deutlichen Farbveränderungen beim Indischen Segelflossendoktor (Zebrasoma desjardinii), bei dem die Kontraste der hellen und dunklen Kopfstreifen stärker werden und bei dem dann die Schwanzflossen eine blaue Färbung zeigen. Eine der auffälligsten Farbveränderungen zeigt der Masken-Nasendoktorfisch: Während die Grundfärbung meist mittelbraun bis olivbraun ist, kann beim balzenden Männchen die dunkelblaue Zeichnung auf dem Körper zu einem spektakulär leuchtenden und irisierenden Blau wechseln.
Entwicklung der Larven
Die Weibchen der Doktorfischarten legen eine sehr hohe Anzahl von Eiern. Bei einem Sträflings-Doktorfisch-Weibchen mit einer Körperlänge von nur etwas mehr als 12 Zentimetern betrug die Anzahl der abgelaichten Eier 40.000. Diese Eier haben eine Ölkugel, aufgrund welcher sie frei im Wasser schweben können.
Der Zeitraum, der zwischen Ablaichen und Larvenschlupf vergeht, ist nicht nur art-, sondern auch wassertemperaturabhängig. Beim Sträflings-Doktorfisch schlüpfen Larven bei einer Wassertemperatur von 24 °C bereits 26 Stunden nach dem Laichakt. Diese Larven leben zuerst von ihrem Dottersack und fressen erstmals nach fünf bis sechs Tagen. Sie ernähren sich dabei von im Plankton mitschwebenden Kleinkrebsen und Jungfischen:
Die Larven kehren nach ca. 2 - 2,5 Monaten zu den Rifflagunen und Mangrovenwäldern der Küsten zurück, wo sie ausreichend Nahrung und Verstecke finden. Die Acronurus [Larven] sind scheibenförmig, transparent und schuppenlos, haben aber einen glänzenden Hinterleib und wurden lange Zeit als eigene Fischart beschrieben .... Die Umwandlung von Acronurus zum kleinen Acanthurus vollzieht sich innerhalb von 5 Tagen. Werden die Larven in Dunkelheit gehalten, wandeln sie sich nicht um. Erst nach der Metamorphose bilden Aufwuchs- und Fadenalgen die Hauptnahrung. (Luty, S. 36)
Stammesgeschichte
Die Doktorfische bilden mit elf weiteren rezenten Fischfamilien die Ordnung der Doktorfischartigen (Acanthuriformes). Wichtigstes gemeinsames Merkmal der Ordnung ist die Methode der Zahnersetzung. Bei den Larven und adulten Exemplaren dieser Fische wachsen die nachwachsenden Zähne an den Außenseiten der Kiefer und ersetzen gruppenweise ihre Vorgänger. Weitere Merkmale der Doktorfischartigen sind bei den Acanthomorpha weit verbreitet, treten außer bei den Doktorfischartigen aber selten in Kombination auf. Diese sind: sechs Branchiostegalstrahlen oder weniger, keine Zahnplatte auf der zweiten und dritten Epibranchiale (der zweite Knochen von oben des zweiten und dritten Kiemenbogens), ein zahnloses Gaumenbein und die Supramaxillare (ein Kieferknochen) fehlt.
Fossilbefund
Die Doktorfische sind spätestens aus der erdgeschichtlichen Periode des Eozän bekannt, die vor etwa 55 Millionen Jahre begann. Die wichtigste Fundstätte ist die norditalienische Monte-Bolca-Formation, die aus Ablagerungen der Tethys entstand. Sie ermöglichte die Beschreibung zahlreicher Gattungen fossiler Doktorfische aus dieser Zeit, darunter etwa Acanthuroides, Gazolaichthys, Mataspisurus, Metacanthus, Pesciarichthys, Protozebrasoma, Tauichthys oder Tylerichthys.
Die aus derselben Formation bekannten Gattungen Proacanthurus und Sorbinithurus, letztere etwa 52 Millionen Jahre alt, können wahrscheinlich bereits den modernen Unterfamilien zugeordnet werden und zwar Proacanthurus den Skalpelldoktorfischen (Acanthurinae) und Sorbinithurus den Nasendoktorfischen (Nasinae).
In letztere Gruppe fällt vermutlich auch die Gattung Arambourgthurus, die zeitlich aus dem frühen Oligozän vor etwa 34 Millionen Jahren stammt und aus der iranischen Ishtebanat-Formation bekannt ist, die ebenfalls ein Relikt der Tethyssee ist. Aus dem Miozän ist die Gattung Marosichthys bekannt; sie wurde von der indonesischen Insel Celebes beschrieben und beweist das Vorkommen der Familie im westlichen Pazifik. Zusammen mit Sorbinithurus und Arambourgthurus bildet sie vermutlich ein monophyletisches Taxon, dessen Schwestergruppe von den modernen Nasendoktorfischen und der fossilen Gattung Eonaso gebildet wird. Letztere wurde von der Karibik-Insel Antigua beschrieben; ihr Alter ist unbestimmt, das erste Vorkommen fällt aber wohl frühestens ins Oligozän und zeigt die Existenz einer westatlantischen Entwicklungslinie auf.
Die oben angesprochene stammesgeschichtliche Einordnung der Fossilien lässt sich dem folgenden Diagramm entnehmen:
Systematik
In der internen Systematik werden gemeinhin Skalpell- und Nasendoktorfische als Unterfamilien behandelt. Die Sägedoktorfische stellen eine Gattung dar, die innerhalb der Skalpelldoktorfische anzusiedeln ist, die Borstenzahndoktorfische stehen innerhalb der Gattung Acanthurus.
Menschen und Doktorfische
Haltung in Aquarien
Doktorfische sind als Aquarienfische sehr anspruchsvoll. Ihre artgerechte Haltung stellt hohe Anforderungen an den Aquarianer. Dies liegt zum einen an einem aggressiven Verhalten gegenüber Artgenossen und anderen Doktorfischarten, ihrem ausgeprägten Schwimmtrieb sowie den hohen Anforderungen an die Wasserqualität im Aquarium. Dazu kommt bei vielen Arten ein spezifisches Nahrungsbedürfnis. Eine pflanzliche Zusatzfütterung in Form von Algen, Löwenzahn, Spinat oder verschiedenen Salaten ist bei den meisten Arten unerlässlich. Sollen mehrere Doktorfische gehalten werden, was als artgerecht gilt, werden alle Exemplare am besten gleichzeitig in das Aquarium eingesetzt. So gibt es noch keine etablierte Rangordnung. Bei einem späteren Einsetzen eines Doktorfisches in einem bestehenden Bestand wird der Neue schnell zum „Prügelknaben“ und kann getötet werden.
Bei sämtlichen im Handel angebotenen Exemplaren handelt es sich um Wildfänge. Der Wegfang von Individuen aus ihren natürlichen Revieren ist generell als problematisch zu betrachten. Dazu kommt, dass sich insbesondere ältere Wildfänge nur sehr schwer an ein Leben im Aquarium gewöhnen, da hier die Keimdichte sehr viel höher ist als im Meer. Bestimmte Arten, wie der Weißkehl-Doktorfisch haben im Aquarium keine sehr hohe Überlebenschance und erkranken aufgrund der Belastung durch Mikroorganismen und pH-Wertunterschiede beim zu schnellen Umsetzen der Tiere, bei der Kalziumzufuhr (insbesondere Kalziumhydroxid) oder beim zu schnellen Wasserwechsel schnell.
Bei der Haltung von Doktorfischen gilt es weiters die nationalen Tierschutzgesetze zu beachten. So ist gemäß dem neuen österreichischen Tierschutzgesetz seit 1. Januar 2005 eine Haltung von Doktorfischen erst ab einer Aquariengröße von zumindest 1.000 Litern zulässig.
Doktorfische sind im Aquarium anfällig gegenüber Darmparasiten. Diese Parasiten verbreiten sich im Aquarium rasch unter den artverwandten Fischen, die wie bereits erwähnt zu den Kotfressern (Koprophagie) zählen. Diese Verhaltensweise trägt dazu bei, dass sich selbst bei mit entsprechenden Medikamenten behandelten Fischen Parasiten schnell wieder ausbreiten.
Doktorfische als Fangfisch
Einige Doktorfischarten werden für den menschlichen Verzehr genutzt. So werden allein vor Hawaii 13 Doktorfischarten und vor Palau 6 Arten befischt. Doktorfische enthalten außerdem eine große Menge an mehrfach ungesättigten n-3-Fettsäuren. Sie sind damit potenzielle Lieferanten von Rohstoffen zur Herstellung von Herz-Kreislaufpräparaten.
Als algenfressende Fische nehmen sie durch Verzehr von Dinoflagellaten jedoch gelegentlich auch die fettlöslichen und hitzestabilen Gifte Maitotoxin und Ciguatoxin auf und geben diese auch an ihre Fressfeinde weiter. Den Fischen selbst schadet dieses Gift nicht – Menschen reagieren darauf jedoch empfindlich und können an Ciguatera sterben.
Quellen
Literatur
Joseph S. Nelson: Fishes of the World. 4th edition. John Wiley & Sons, Hoboken NJ u. a. 2006, ISBN 0-471-25031-7.
André Luty: Doktorfische – Lebensweise – Pflege – Arten. Dähne, Ettlingen 1999, ISBN 3-921684-61-7
André Luty: Doktorfische – im Korallenriff und im Aquarium. Book on demand, Pro BUSINESS GmbH, Berlin 2013, ISBN 978-3-86386-478-1
Andreas Vilcinskas: Meerestiere der Tropen. Franckh-Kosmos, Stuttgart 2000, ISBN 3-440-07943-0
Helmut Debelius, Rudie H. Kuiter: Doktorfische und ihre Verwandten. Ulmer, Stuttgart 2002, ISBN 3-8001-3669-4
Helmut Göthel: Farbatlas Meeresfauna – Rotes Meer, Indischer Ozean (Malediven). Ulmer, Stuttgart 1993, ISBN 3-8001-7266-6
Stanislav Frank: Meeresfische. Werner Dausien, Hanau 1998, ISBN 3-7684-2940-7
Einzelnachweise
Weblinks |
376850 | https://de.wikipedia.org/wiki/Kleiner%20Schwertwal | Kleiner Schwertwal | Der Kleine Schwertwal (Pseudorca crassidens), auch bekannt als Unechter oder Schwarzer Schwertwal, ist eine Art der Delfine (Delphinidae) und der einzige rezente Vertreter der Gattung Pseudorca. Er ähnelt dem Orca in Form und Proportionen, ist aber einfarbig schwarz und mit einer Maximallänge von etwa sechs Metern deutlich kleiner. Kleine Schwertwale bilden Schulen von durchschnittlich zehn bis fünfzig Tieren, wobei sie sich auch mit anderen Delfinen vergesellschaften und sich meistens abseits der Küsten aufhalten. Sie sind in allen Ozeanen gemäßigter, subtropischer und tropischer Breiten beheimatet, sind jedoch vor allem in wärmeren Jahreszeiten auch bis in die gemäßigte bis subpolare Zone südlich der Südspitze Südamerikas, vor Nordeuropa und bis vor Kanada anzutreffen.
Wie andere Delfine ist der Kleine Schwertwal ein aktiver Jäger und ernährt sich vor allem von größeren Fischen und Kopffüßern, kann jedoch vereinzelt auch kleinere Delfine oder auch Großwale attackieren. Im Vergleich zum Großen Schwertwal (Orcinus orca) sowie einigen anderen Delfinarten ist er nur wenig erforscht und Sichtungen sind vergleichsweise selten. Strandungen kommen vor, teilweise auch als Massenstrandungen mit mehreren Hundert Tieren, sind jedoch weniger häufig als bei den bekannteren Arten.
Merkmale
Allgemeine Merkmale
Der Kleine Schwertwal ist, abseits vom Großen Schwertwal, eine der größten Arten innerhalb der Delfine. Die Männchen des Kleinen Schwertwals erreichen Körperlängen von bis zu 6,1 Metern und ein Maximalgewicht von 2200 Kilogramm, die Weibchen bleiben mit maximal 5,1 Metern und einem Gewicht von maximal 1200 Kilogramm deutlich kleiner. Die neugeborenen Jungtiere haben eine Länge von 1,5 bis 2,0 Metern und wiegen etwa 80 Kilogramm. Der Körper der Tiere ist auf der Rückenseite und den Flanken sowie am Bauch vollständig dunkelgrau bis schwarz gefärbt und auch die Rückenflossen, die Flipper und die Schwanzflosse (Fluke) entsprechen der Körperfärbung. Bei guten Lichtverhältnissen ist erkennbar, dass der Rücken von der Rückenflosse nach hinten umhangartig dunkler gefärbt ist als davor, die dunkelste Pigmentierung befindet sich dabei im Bereich des Ansatzes der Fluke. Zwischen den Brustflossen befindet sich häufig ein gräulicher bis fast weißer ankerförmiger Fleck, der bei manchen Individuen an der Kehle beginnen und in eine Linie auslaufen kann, die sich bis zum Genital zieht. In einigen Fällen besitzen die Tiere zusätzlich einen hellen grauen Fleck an den Kopfseiten. Die typische dunkle Färbung ist bereits bei den Jungtieren vorhanden und konnte auch vorgeburtlich bei einem etwa 70 Zentimeter langen Embryo nachgewiesen werden. Narben aus innerartlichen und externen Interaktionen bilden, anders als etwa bei dem nahe verwandten Rundkopfdelfin (Grampus griseus), neue Pigmente aus und werden damit erneut schwarz; der Körper kann jedoch lokal sternförmige Narben verheilter Bisse von Zigarrenhaien (Isistius) aufweisen.
Der Körper der Wale ist relativ schlank und der Kopf im Verhältnis zur Gesamtlänge nur kurz. Die Stirnpartie (Melone) ist langgezogen und ein wenig vorgewölbt; einen abgesetzten Schnabel gibt es nicht. Bei den ausgewachsenen Männchen ist die Melone weiter vorgewölbt als bei den Weibchen und bei den jugendlichen Walen. Der Bereich um das Blasloch ist ein wenig eingewölbt. Etwa in der Mitte des Körpers befindet sich die sichelförmige Rückenflosse; die relativ kurzen Brustflossen (Flipper) setzen weit vorne am Körper an und haben eine arttypische Form mit vorderem S-förmigen Rand und einer spitz zulaufenden, abgerundeten Flossenspitze. Die Schwanzflosse (Fluke) ist ebenfalls kurz; die Einbuchtung in der Mitte ist nicht sehr ausgeprägt.
Merkmale des Schädels und des Skeletts
Der Schädel des Kleinen Schwertwals ist kräftig mit einer kurzen und breiten Schnauzenregion. Diese ist mindestens 1,5 Mal so lang wie breit und verbreitert sich mit dem Alter der Tiere. Die Gesamtlänge des Schädels eines ausgewachsenen Tieres beträgt etwas mehr als 50 Zentimeter. Der Wal hat sehr kräftige, konisch geformte und gebogene Zähne. Im Oberkiefer sitzen sieben bis elf, im Unterkiefer acht bis zwölf Zähne pro Kieferhälfte, wobei bei sehr vielen Tieren die Anzahl der Zähne im rechten Unter- und Oberkiefer nicht der im linken entspricht (bilaterale Asymmetrie). Die gleichförmige oder homodonte Bezahnung dieser Art, bei der es keine unterschiedlichen Zahntypen wie bei anderen Säugetieren gibt, ist typisch für die gesamte Unterordnung der Zahnwale und stellt eine Anpassung an ihre bevorzugte Nahrung aus schwierig zu fixierenden, stromlinienförmigen und glatten Beutetieren wie Fischen und Kopffüßern dar.
Vom Schädel des Großen Schwertwals lässt sich der des Kleinen Schwertwals durch die Proportionen der Knochen zueinander unterscheiden: Beim Großen Schwertwal entspricht die Breite des Zwischenkieferbeins (Prämaxillare) direkt vor den antorbitalen Kerben, also den Kerben vor den Augen, mehr als 50 % der Gesamtbreite des Gesichtsschädels, beim Kleinen Schwertwal weniger als 50 %. Zudem ist der Seitenrand der Zwischenkieferbeine in der Aufsicht bei letzterem stärker S-förmig geformt und im vorderen Bereich breiter. Die Paukenhöhlen erreichen eine Länge von 47,7 bis 50,5 Millimeter, sie besitzen einen atrophierten Kiel und sind nicht seitlich abgeflacht.
Die Wirbelsäule besteht aus 7 Halswirbeln, 9 bis 11 Brustwirbeln, 9 bis 13 Lendenwirbeln und 16 bis 26 Schwanzwirbeln, dabei liegt die Gesamtzahl der Wirbel bei 47 bis 52. Bei zahlreichen Tieren sind vor allem die ersten vier bis sieben Schwanzwirbel zudem in unterschiedlicher Anzahl miteinander verwachsen, wobei die Anzahl verwachsener Wirbel wahrscheinlich mit dem Alter steigt. Der Brustkorb besteht aus 9 bis 12, meist 10 Rippenpaaren, von denen 6 jeweils zwei Ursprünge haben (bicipital). Die Anzahl der Rippen pro Körperseite kann unterschiedlich sein. Vier Rippenpaare sind direkt mit dem Brustbein verwachsen, sechs weitere über Knorpel mit diesem verbunden. Das 11. und 12. Rippenpaar sind, wenn vorhanden, nicht mit dem Brustbein verbunden und entsprechend frei endend. Das Brustbein selbst besteht aus vier Teilen, die mit dem Alter zunehmend verwachsen. Die Anzahl der Fingerknochen der Flipper kann stark variieren, in der Regel haben die Tiere null bis einen Knochen am ersten, vier bis acht Knochen am zweiten, vier bis sechs Knochen am dritten, einen bis drei Knochen am vierten und null bis zwei Knochen am fünften Finger. Wie bei allen Walen sind die Finger über das umgebende Gewebe zu einer Flosse (Flipper) verbunden.
Genetische Merkmale
Wie andere Wale weist auch der Kleine Schwertwal den für diese Tiergruppe typischen Chromosomensatz von 2n = 44 Chromosomen auf. Dabei wird der Kleine Schwertwal als karyotypisch stabiler eingeschätzt als der Große Schwertwal. In der Gefangenschaft kam es wiederholt zu Hybridisierungen mit dem Großen Tümmler, da die Genome dieser beiden Arten kompatibel sind.
Verbreitung
Der Kleine Schwertwal ist eine Hochseeart, die in den gemäßigten bis tropischen Bereichen aller Ozeane anzutreffen ist. Dabei sind Sichtungen abseits der Küsten relativ selten, und auch Strandungen kommen nur gelegentlich vor. Häufig beobachtet wurde der Wal im Atlantik vor der nordamerikanischen Küste und in der Karibik. Auch im Pazifik und im Indischen Ozean kommt er regelmäßig vor. Zum Verbreitungsgebiet gehören zudem einzelne abgegrenzte Meeresregionen wie das Mittelmeer, der Golf von Mexiko, der Golf von Kalifornien, das Rote Meer und das Arabische Meer sowie das Japanische Meer. Im Bereich tropischer Inseln, vor allem um Hawaii, kommen die Tiere auch küstennah vor. Wahrscheinlich führen die Tiere saisonale Wanderungen durch und kommen vor allem im Winter in flachere Gewässer in Küstennähe.
Der Verbreitungsschwerpunkt liegt zwischen dem 40. nördlichen und dem 40. südlichen Breitengrad. Die Tiere wurden in Gewässerbereichen mit einer Temperatur zwischen 8 und 31 °Celsius nachgewiesen, wobei sie höhere Wassertemperaturen bevorzugen. Die bislang südlichste Verbreitung der Tiere ist durch eine Gruppe Kleiner Schwertwale aus der Region östlich des südlichsten Punktes des südamerikanischen Kontinents am Kap Hoorn, Chile belegt. Durch diese Sichtung wurde zudem nachgewiesen, dass die Tiere zumindest temporär in Kaltwassergebieten bis 8 °Celsius leben können. Durch eine Massenstrandung von 22 Kleinen Schwertwalen an der Ostküste der Falklandinseln im Jahr 2013 wurde die Art auch für diese Region erstmals nachgewiesen.
Die europäischen Nachweise der Art stammen meist aus Sichtungen einzelner Gruppen der Wale sowie aus Berichten über Strandungen. Sie wurden an den Küsten Großbritanniens, Spaniens, der Niederlande und der deutschen und dänischen Nordseeküste gemacht. Außerdem gibt es seltene Sichtungen in der Ostsee sowie im Mittelmeer, hier vor allem aus Südspanien und Italien. Die nördlichsten Nachweise in Nordamerika stammen aus Kanada, wo im Mai 1987 ein Individuum auf Denman Island, British Columbia, strandete.
Lebensweise
Der Kleine Schwertwal ist eine Walart, die die tiefen Bereiche der Ozeane, also das Pelagial, als Lebensraum bevorzugt. Entsprechend sind diese Wale vor allem in der Hochsee zu beobachten, aber auch in der Nähe von Inseln und Küsten, die von tiefem Wasser umgeben sind. Aufgrund der küstenfernen Verbreitung und des Lebens im Hochseebereich ist die Lebensweise der Kleinen Schwertwale nur unzureichend erforscht. Die meisten Informationen über die Art stammen aus Untersuchungen gestrandeter Tiere, in Gefangenschaft lebender Tiere und aus Sichtungen vor allem in Küstennähe, etwa um Hawaii und andere Inseln.
Die Tiere sind tagsüber und nachts aktiv, wobei sie wahrscheinlich ihre maximale Aktivität tagsüber haben. Die Wale leben in Schulen mit einer durchschnittlichen Größe von 5 bis 25 Individuen, wobei gelegentlich auch größere Gruppen von über 100 bis 400 Tieren beobachtet wurden. Die Gruppen schwimmen dabei teilweise weit auseinander mit Geschwindigkeiten von 5 bis 20 Kilometern pro Stunde, und eine Schule kann sich über eine Länge von bis 20 Kilometern hinziehen. Dabei springen die Tiere regelmäßig vollständig aus dem Wasser. Innerhalb der Schulen haben Kleine Schwertwale starke soziale Bindungen der Einzeltiere untereinander, wobei die Individuen teilweise jahrelang zusammenbleiben. Diese kleineren, stabileren Gruppen sind alters- und geschlechtsgemischt, und es scheint keine offensichtliche Geschlechts- oder Alterstrennung bei dieser Art zu geben. Größere Gruppen sind häufig Zusammenschlüsse mehrerer kleiner Schulen, die sich in der Regel nach einiger Zeit wieder voneinander trennen. Die bislang größte dokumentierte gestrandete Gruppe der Wale bestand aus 835 Individuen in Mar del Plata (Argentinien) im Jahr 1946.
Es kommt vor, dass sich die Schulen mit anderen Walen, hauptsächlich mit Schulen des Großen Tümmlers (Tursiops truncatus) und des Rauzahndelfins (Steno bredanensis) zusammenschließen und Jagdgemeinschaften bilden. Vor allem die Beziehungen zu den Tümmlern können dabei über mehrere Jahre bestehen, wie bei Langzeitstudien um Neuseeland festgestellt wurde. Die Gruppen bestehen aus Tieren verschiedenen Alters, deren Sozialgefüge sehr ausgeprägt ist. In den Gebieten um Hawaii wurden langfristige Beziehungen innerhalb der Schulen von bis zu 15 Jahren nachgewiesen, Massenstrandungen dieser Tiere werden auf diese engen individuellen Bindungen zurückgeführt. Über das Tauchverhalten dieser Art ist wenig bekannt; ein markiertes Tier tauchte bis zu 12 Minuten lang und in Tiefen von über 230 Metern.
Zur innerartlichen Kommunikation sowie zur Sonarorientierung und zum Beutefang besitzt der Kleine Schwertwal ein vielfältiges Repertoire an Tönen. Dabei nutzen sie vor allem langgezogene Rufe in einer Frequenz von 28 kHz, die etwa 60 bis 75 Millisekunden andauern und ein wellenförmiges Frequenzbild ähnlich dem der Tümmler aufweisen. Hinzu kommen längere Klicksequenzen, einzelne oder doppelte Klicklaute mit einer Frequenz von etwa 100 kHz und kurze Pfiffe in einer Frequenz von etwa 8 kHz. Anhand von Unterwassersonagrammen wurde abgeschätzt, dass die Hörspanne der Tiere von 2 bis 115 kHz mit einem Höroptimum zwischen 32 und 70 kHz reicht.
Ernährung
Der Kleine Schwertwal ernährt sich wie andere Delfine vor allem von verschiedenen Fischen und Kopffüßern. Die Zusammensetzung der Nahrung kann regional aufgrund der verfügbaren Beutetiere sehr unterschiedlich sein. Es wird angenommen, dass die Tiere täglich etwa 4,7 bis 5 % ihres Gewichts an Nahrung zu sich nehmen, wobei die Kalkulation auf Tiere in Gefangenschaft bezogen ist. Die Jagd und Nahrungsaufnahme erfolgt unabhängig von der Tageszeit sowohl tagsüber wie nachts; auf der Basis von Magenanalysen gestrandeter Tiere wurde eine höhere Nahrungsmenge im Winter als in den anderen Jahreszeiten angegeben. Die Tiere jagen gemeinsam in Schulen und teilen die Beute untereinander auf.
Zu den Beutetieren gehören unter anderem verschiedene pelagisch lebende Tintenfische und Kalmare wie Martialia hyadesi, Ilex argentinus, Berryteuthis magister, Gonatopsis borealis und Ommastrephes bartramii, des Weiteren verschiedene Fische wie Meereslachse (Oncorhynchus), Bonitos (Katsuwonus pelamis), Große Goldmakrelen (Coryphaena hippurus) und andere Makrelen, Mondbarsche (Mene maculata), Japanische Meerbarsche (Lateolabrax), Thunfische (Thunnus) und Fächerfische (Istiophorus platypterus). Einige der Beutetiere, vor allem die Thunfische und Fächerfische, sind dabei ziemlich groß, und besonders in der Region um Japan ist der Kleine Schwertwal dafür bekannt, Thunfische von den Fischfangleinen zu fressen. Auch in anderen Regionen, etwa um Hawaii und im Golf von Mexiko und im Indischen Ozean, sind Kleine Schwertwale eine von wenigen Arten der Zahnwale, die gelegentlich Fische sowohl von kommerziellen Fischern als auch von Freizeitfischern stehlen.
Zudem wurden Kleine Schwertwale dabei beobachtet, dass sie auch kleinere und junge Delfine attackieren und sich von diesen ernähren. Dieses Verhalten wurde bislang nur regional begrenzt im Bereich der Thunfischfangzonen im Pazifik beobachtet, in denen verletzte Delfine von den Fangleinen befreit und freigelassen wurden. Es wird daher nur vereinzelten Populationen mit einer bestimmten Anpassung an diese zusätzliche Nahrungsquelle zugeschrieben. In seltenen Fällen wurde auch beobachtet, dass Kleine Schwertwale in Schulen Buckelwale (Megaptera novaeangliae) und in der Region um die Galápagos-Inseln auch Pottwale (Physeter macrocephalus) attackierten.
Fortpflanzung und Entwicklung
Angaben und Daten über die Entwicklung der Tiere stammen fast ausschließlich aus Untersuchungen von gestrandeten Individuen und beziehen sich häufig auf Zahnuntersuchungen, um das Alter der gestrandeten Tiere anhand der Schmelzschichten festzustellen. Über das Alter der Geschlechtsreife und andere altersbezogene Daten gibt es entsprechend unterschiedliche Angaben. Bei beiden Geschlechtern wird angenommen, dass sie im Alter von 8 bis 14 Jahren geschlechtsreif werden, wobei vermutet wird, dass die Männchen erst später paarungsfähig werden. Für die Meeresgebiete vor Japan wird angenommen, dass die Weibchen die Geschlechtsreife mit einer Länge von 3,40 bis 3,80 Metern und somit in einem Alter von 8 bis 11 Jahren erreichen; bei den Männchen soll die Geschlechtsreife allerdings erst bei einer Länge von mehr als 4,20 Metern und einem Alter von etwa 18 Jahren eintreten. Demgegenüber gibt es Schätzungen, nach denen auch die Männchen bereits mit 8 bis 14 Jahren geschlechtsreif sein sollen. Im Gegensatz zu den Weibchen, bei denen die Geschlechtsreife mit der ersten Ovulation einhergeht, ist diese bei den Männchen allerdings nur schwer und indirekt feststellbar, etwa über die Größe und das Gewicht der Hoden.
Der Eisprung der Weibchen findet wahrscheinlich einmal im Jahr statt, wobei er spontan stattfindet und keine feste Periodik aufweist. Dabei wird nur eine Eizelle pro Eisprung freigegeben. Die Paarungszeit ist entsprechend ganzjährig, regional kann es aber zu einer umweltbedingten Periodizität kommen. So finden in den Gewässern um Japan die meisten Paarungen im Dezember bis Januar statt. Die Anzahl trächtiger Weibchen innerhalb der Population beträgt nach Abschätzungen etwa 14,5 %. Das Kalbungsintervall, also der Abstand zwischen zwei Geburten einzelner Weibchen, wird mit etwa 7 Jahren angegeben, und das Kalben kann das ganze Jahr über erfolgen, mit einem Höhepunkt im Spätwinter. Mit dem Alter der Weibchen nimmt der Abstand zwischen den Kalbungen zu, und man nimmt an, dass Weibchen mit einem Alter über 45 Jahre keine Jungtiere mehr bekommen. Dies konnte unter anderem durch die Untersuchung der Ovarien gestrandeter Wale aus Japan und Südafrika bestätigt werden.
Die Dauer der Schwangerschaft beträgt etwa ein Jahr, und die Weibchen gebären immer nur ein Jungtier. Bei einer Dokumentation 1997 vor der Küste von Marokko konnte die Geburt eines Kleinen Schwertwals beobachtet werden. Diese fand in einer Gruppe von Schwertwalen statt, die sich einem Boot genähert hatte, und das Muttertier befand sich inmitten dieser Gruppe, als das Jungtier geboren wurde. Erkennbar wurde die Geburt anhand eines sich ausbreitenden Blutflecks und eines Stücks Plazenta, das abgetrieben wurde. Direkt nach der Geburt wurde das Neugeborene von den Walen der Gruppe gemeinsam über die Wasseroberfläche gehoben, um die Atmung zu ermöglichen. Danach wurde es wieder ins Wasser herabgelassen, um gemeinsam mit der Gruppe zu schwimmen.
Das Jungtier ist bei der Geburt etwa 1,50 bis 2,0 Meter lang. Die Stillzeit durch die Mutter beträgt danach wahrscheinlich etwa 18 bis 24 Monate. Die maximale Lebensdauer wird mit 57 Jahren für die männlichen Tiere und 62 Jahren für die weiblichen Tiere angenommen. Die Generationendauer beträgt schätzungsweise 25 Jahre.
Fressfeinde und Parasiten
Über Fressfeinde beim Kleinen Schwertwal liegen nur wenige Informationen vor, es wird jedoch angenommen, dass einzelne Tiere von großen Haien oder Walen wie dem Großen Schwertwal erbeutet werden. Angriffe von großen Haien sind dabei über typische Narben von Haibissen bei lebenden Individuen dokumentiert. Über einen Angriff einer Schule Großer Schwertwale auf eine gemischte Gruppe Kleiner Schwertwale und Tümmler bei Neuseeland wurde 2010 berichtet. Dabei wurden die Kleinen Schwertwale in der für Große Schwertwale typischen Weise von unten attackiert und aus dem Wasser geschleudert. Mindestens ein Kalb der Kleinen Schwertwale wurde bei dem Angriff getötet und gefressen. Der Zusammenschluss mit anderen Arten ist wahrscheinlich eine Strategie zur Räubervermeidung, wobei die verschiedenen Arten unterschiedlich auf potenzielle Angreifer reagieren.
Zudem werden die Wale wie andere von Zigarrenhaien (Isistius) attackiert, die mit Hilfe ihres speziellen Gebisses in der Lage sind, Stücke aus der Haut der Wale zu reißen und zu fressen. Der Körper der Wale kann entsprechend lokal von frischen Wunden und sternförmigen Narben der verheilten Bisse übersät sein.
Parasiten sind durch Magen- und Darmuntersuchungen gestrandeter Tiere dokumentiert. So wurde etwa bei Strandungen in Brasilien eine hohe Befallsrate der Tiere mit Fadenwürmern der Arten Anisakis simplex, Anisakis typica, Stenurus glocicephalus und Stenurus auditivus sowie Kratzwürmern der Art Bolbosoma capitatum festgestellt. Dabei betrug die Dichte der Kratzwürmer bis zu 600 Individuen pro Meter Darmlänge. Zudem wurden nicht näher identifizierte Bandwürmer der Familie Tetrabothriidae festgestellt. Bolbosoma capitatum und Anisakis simplex wurden auch früher bereits bei Kleinen Schwertwalen sowie bei zahlreichen anderen Walen nachgewiesen, hinzu kommt die Dokumentation der Saugwürmer Nasitrema attenuata, Nasitrema globicephalae und Orthosplanchnus elongatus. Als Ektoparasiten konnten am Körper der Tiere Walläuse (Syncyamus pseudorcae, Isocyamus delphini), Seepocken wie Xenubalanus globicipitus und die zu den Entenmuscheln gehörenden Conchoderma auritum festgestellt werden.
Über Infektionskrankheiten liegen nur sporadische Informationen vor, so wurde bei in Gefangenschaft gehaltenen Tieren akute Lungenentzündung nachgewiesen.
Systematik
Taxonomiegeschichte und Fossilgeschichte
Die Erstbeschreibung des Kleinen Schwertwales stammt von 1846 anhand eines 1843 aus einem Torfmoor in Lincolnshire geborgenen Fossils durch den Zoologen und Paläontologen Richard Owen, der in den Überresten das Skelett eines Wales erkannte, den er für eine womöglich ausgestorbene Spezies der Delphinidae hielt. Er bezeichnete die Überreste als subfossil, also in neuerer Zeit konserviert, und datierte den Fund auf das mittlere Pleistozän mit einem Alter von etwa 126,000 Jahren. Er benannte den Typus Phocaena crassidens, damit stellte er ihn in die Verwandtschaft der Schweinswale. John Edward Gray ordnete die Art 1846 in seiner Beschreibung der Wale in dem Werk The Zoology of the Voyage of H.M.S. Erebus and Terror, einer Reisebeschreibung der Antarktis-Expedition durch James Clark Ross von 1839 bis 1843, direkt in die Gattung Orca (heute Orcinus) als Orca crassidens ein. Lebend gefunden wurde die Art erstmals durch Johannes T. Reinhardt, der 1861 eine Gruppe in der Kieler Bucht gestrandeter Wale untersuchte und sie als eine neue, den Schwertwalen (Orcinus orca) nahestehende Gattung ansah, die er 1862 Pseudorca nannte und in die er die von Owen beschriebenen Überreste gemeinsam mit den von ihm beschriebenen lebenden Exemplaren als Pseudorca crassidens einordnete. William Henry Flower beschrieb 1864 mit Orca meridionalis eine für ihn neue Art der Schwertwale aus Tasmanien, die er im Jahr darauf zu Pseudorca verwies und welche später synonymisiert wurde. Weitere heute als Synonyme betrachtete Artbeschreibungen sind Orca destructor , Pseudorca grayi und Pseudorca mediterranea .
1924 wurde durch den japanischen Wirbeltierpaläontologen Hikoshichiro Matsumoto auf der Basis zweier fossiler Zähne aus Japan die fossile Art Pseudorca yokoyamai als bisher einziger fossiler Vertreter der Gattung beschrieben. Sie wurde auf das Calabrium, eine Teilepoche des Unteren Pleistozäns vor 1,806–0,781 Millionen Jahren, datiert.
Äußere Systematik
Tatsächlich wurde der Kleine Schwertwal lange Zeit als nahe verwandt zum Großen Schwertwal angesehen und mit diesem gemeinsam in eine Unterfamilie Orcinae innerhalb der Zahnwale und der Delfine platziert. Genetische Untersuchungen zeigen den Kleinen Schwertwal (Pseudorca crassidens) jedoch mit den Grindwalen näher verwandt als mit dem Großen Schwertwal (Orcinus orca).
Dabei bilden sie nach aktuellen Studien wahrscheinlich die Schwesterart eines Taxons aus den beiden bekannten Arten der Grindwale (Globicephala) sowie dem Breitschnabeldelfin (Peponocephala electra) und dem Zwerggrindwal (Feresa attenuata). Diese Arten formen gemeinsam mit dem Rundkopfdelfin (Grampus griseus) die Unterfamilie Globicephalinae innerhalb der Delfine und werden den beiden Arten der Gattung Orcaella gegenübergestellt.
Innere Systematik
William Henry Flower schlug bereits 1888 vor, eine nördliche von einer südlichen Form zu unterscheiden und Paules Edward Pieris Deraniyagala trennte 1945 Pseudorca crassidens meridionalis als eigenständige Unterart ab, allerdings ohne konkrete Benennung von Merkmalen, anhand derer die beiden Unterarten voneinander getrennt werden könnten. Diese Beschreibung wird entsprechend generell ignoriert und bis heute wird die Art entsprechend als monotypisch ohne Unterarten betrachtet.
Allerdings konnten durch genetische Tests voneinander isolierte Populationen und unterschiedliche Haplotypen in verschiedenen Meeresbereichen identifiziert werden, zudem gibt es auch morphologische Unterschiede vor allem im Schädelbau zwischen Individuen aus Australien, Schottland, den Gewässern um Hawaii und Südafrika. Im Fall der genetischen Diversität der Kleinen Schwertwale im Chinesischen Meer waren die genetischen Unterschiede der Haplotypen nach Ansicht der Autoren so groß, dass die Frage aufgeworfen wurde, ob es sich dabei nicht um unterschiedliche Arten handeln könnte. Im Bereich um Hawaii wurde dokumentiert, dass es genetische Unterschiede zwischen den küstennah lebenden Tieren sowie denen des offenen Pazifik gibt.
Namensgebung
Der Kleine Schwertwal ist auch bekannt als Falscher Schwertwal oder Falscher Mörderwal, im englischen Sprachraum wird er als false killer whale bezeichnet. Wie der wissenschaftliche Gattungsname Pseudorca bezieht sich diese Namensgebung auf die äußerliche Ähnlichkeit zum Großen Schwertwal (Orcinus orca), der auch als Mörderwal oder Orca bekannt ist. Der wissenschaftliche Artname „crassidens“ verweist auf die Form der Zähne („crassus“ = „dick“ und „dens“ = Zähne).
Status und Bedrohung
Der Kleine Schwertwal ist ein Spitzenprädator und wird generell als eher selten angesehen, selbst in den Regionen mit den höchsten Bestandsdichten. Die Dichte ist in den niedrigeren Breitengraden im Bereich des Äquators generell höher; im Nordpazifik nimmt die Dichte nördlich von etwa 15° nördlicher Breite massiv ab. Für eine Reihe von Gebieten gibt es Bestandsschätzungen, die allerdings zum Teil recht veraltet sind, und die Schätzungen für größere Gebiete können mehr als eine Population umfassen. Das einzige Gebiet, zu dem sowohl aktuelle Bestandsschätzungen als auch eine gute Vorstellung von der Populationsstruktur vorliegen, betrifft die hawaiianischen Gewässer. Dort gibt es drei etablierte Populationen mit teilweise überlappenden Territorien. Die Hauptinselpopulation zählt zwischen 150 und 200 Individuen und nutzt ein Gebiet um die Hauptinseln Hawaiis, das bis zu 120 Kilometer von der Küste entfernt ist. Die Population der nordwestlichen Hawaii-Inseln zählt etwa 550 Individuen. Die pelagische Population lebt mindestens 1700 Kilometer von Hawaii entfernt und besteht innerhalb der Wirtschaftszone der Hawaii-Inseln aus etwa 1550 Individuen. Die Gesamtsumme der vorhandenen Abschätzungen für die weltweite Gesamtzahl der Tiere beträgt etwa 60.000 Tiere, wobei die beiden größten Schätzungen, die etwa 94 % der Gesamtzahl ausmachen, mehr als 25 Jahre alt sind. Für einen wesentlichen Teil des Verbreitungsgebietes der Art liegen keine Abundanzschätzungen vor, und daher ist die Gesamthäufigkeit wahrscheinlich viel höher als diese 60.000 Tiere. Aufgrund der geringen Dichte dieser Wale sind die Schätzungen allerdings nur ungenau, und es ist in den meisten Gebieten nicht möglich, Trends zu beurteilen.
Die International Union for Conservation of Nature stuft den Kleinen Schwertwal als Art der Vorwarnliste (near threatened) ein, wobei vor der aktuellen Datenlage eine Einordnung nahe der Gefährdungsstufe vulnerable angegeben wird. Als Hauptbedrohungen für die Bestände werden die unbeabsichtigte Tötung als Beifang in der Fischerei und, in einigen Gebieten, die gezielte Jagd oder Tötung der Tiere angesehen. Aufgrund der vergleichsweise langen Generationendauer von etwa 25 Jahren und der damit zusammenhängenden langsamen Populationsentwicklung können bereits vergleichsweise niedrige Tötungsraten beim Kleinen Schwertwal zu einer negativen Bestandsentwicklung führen. Der Kleine Schwertwal fällt wie alle Kleinwale nicht unter die Schutzbestimmungen der Internationalen Walfangkommission (IWC), im Washingtoner Artenschutzübereinkommen ist er im CITES Anhang II gelistet. Die hawaiianische Population wird im U.S. Endangered Species Act als bedroht (endangered) eingeordnet.
Neben der direkten Fischerei und der Tötung der Tiere als Fischereikonkurrenten gibt es weitere Bedrohungen der Tiere durch Umweltbelastungen und Umweltverschmutzungen. Der Kleine Schwertwal gehört zu den Arten, bei denen die Aufnahme von weggeworfenem Plastik festgestellt wurde. In Geweben, die von gestrandeten Tieren gesammelt wurden, ließen sich teilweise hohe Gift- und Schwermetallmengen dokumentieren. Bei gestrandeten Tieren in Südamerika wurden sehr hohe Silberkonzentrationen in den Organen der Wale registriert und in einer anderen Untersuchung bei gestrandeten Walen in Chile fand sich eine sehr hohe Konzentration von Selen und Quecksilber in Gewebeproben. In hawaiianischen Gewässern wiesen bei einer Untersuchung 84 % der beprobten Wale Polychlorierte Biphenyle (PCB) in Konzentrationen auf, die die vorgeschlagenen Gesundheitsschwellenwerte deutlich übersteigen, was darauf hindeutet, dass eine Immunsuppression oder Auswirkungen auf die Fortpflanzung in den betroffenen Populationen vorliegen könnten. Auch Dichlordiphenyldichlorethen, ein Abbauprodukt des Pflanzenschutzmittels Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT), konnte teilweise in hoher Konzentration nachgewiesen werden.
Interaktionen mit dem Menschen
Fischerei und Beifang
In Europa gab es nie eine gezielte wirtschaftliche Nutzung des Kleinen Schwertwales, er wird allerdings gelegentlich als Beifang im Thun- und Schwertfischfang erbeutet. In Japan nutzt man die Tiere gelegentlich als Nahrungsquelle, wobei meist in Strandnähe auftauchende Tiere ans Ufer getrieben und dort harpuniert und getötet werden. Zudem wurden sie auch in St. Vincent und Taiwan gefangen und als Nahrungs- und Ölquelle genutzt. Angesichts der hohen Anzahl der gefangenen Tiere in einigen Gebieten, in denen dies untersucht wurde, könnte das Töten dieser Wale einen erheblichen Einfluss auf die lokale Population gehabt haben.
In allen Gebieten, in denen sich die Lebensräume des Kleinen Schwertwals mit den Fischfanggebieten kommerzieller Großfischerei überschneiden, kommt es zu Verletzungen und Tötungen als Beifang der Fischereiindustrie. Das geschieht unabhängig davon, ob es sich um Schleppnetz-, Langleinen- oder Hakenfischerei handelt. In den gut untersuchten hawaiianischen Gewässern ist die Zahl der getöteten und verletzten Tiere, die bei der Langleinenfischerei zufällig getötet oder schwer verletzt werden, wahrscheinlich größer, als die Population dauerhaft überleben kann, und es wird angenommen, dass dies auch für fast alle anderen Fangbereiche gilt. Zudem kommt es indirekt zur Beeinflussung der Populationen und ihrer Nahrungsversorgung in Gebieten, in denen ein hoher Anteil der Fischpopulationen kommerziell interessant ist und genutzt wird.
Bei kommerziellen Fischern ist diese Art wenig beliebt, da sie bereits gefangene Thunfische von den Leinen stiehlt. Dadurch erhöht sich zudem die Gefahr für die Tiere, selbst gefangen zu werden. So gab es auf der japanischen Insel Iki eine konzertierte Aktion der Fischer, die Art in der Region auszurotten. Hierbei wurden zwischen 1965 und 1990 neunhundert Kleine Schwertwale in der Umgebung von Iki getötet.
Walbeobachtung und Haltung
In Hawaii und auch in anderen Regionen wie vor Neuseeland oder vor Marokko werden die Tiere regelmäßig von kommerziellen Wal- oder Delfinbeobachtungsschiffen angetroffen. Kleine Schwertwale wurden und werden zudem zu wissenschaftlichen Zwecken und zur Unterhaltung in einer Reihe von Aquarien auf der ganzen Welt in Gefangenschaft gehalten, unter anderem in Japan, den Vereinigten Staaten, den Niederlanden, Hongkong und Australien. Sie wurden an verschiedenen Orten erfolgreich in Gefangenschaft gezüchtet, teilweise entstanden in Gefangenschaft auch lebensfähige Hybriden mit Großen Tümmlern.
Strandungen
Wie bei anderen Walen kommt es auch beim Kleinen Schwertwal mehr oder weniger regelmäßig zu Strandungen, die teilweise ganze Schule oder größere Gruppen betreffen. Sie sind jedoch vergleichsweise selten im Vergleich zu den bekannteren Arten der Delfine.
Die größte dokumentierte Strandung von Tieren dieser Art passierte 1946 in Mar del Plata (Argentinien) und bestand aus 835 Individuen. Im Gegensatz zu anderen Delfinen, aber ähnlich wie bei Grindwalen stranden die Kleinen Schwertwale in der Regel in großen Gruppen, was zu vergleichsweise hohen Sterblichkeitsraten führt. Diese können auch in gemäßigten Gewässern außerhalb seines zentralen Verbreitungsgebietes auftreten, wie etwa bei den Massenstrandungen in Großbritannien oder Dänemark. Die Gründe für die Strandungen sind weitgehend unbekannt. Man geht davon aus, dass sie aufgrund von Fehlorientierungen einzelner Tiere passieren, denen dann die gesamte Gruppe folgt. Wahrscheinlich spielen auch Umweltbedingungen wie Gewässerverschmutzungen und Schallemissionen, Erkrankungen oder Vergiftungen der Tiere und andere Faktoren eine Rolle.
Die Massenstrandung von 114 Kleinen Schwertwalen am 30. Juli 1986 in Flinders Bay, Westaustralien, wurde von vielen Menschen international beobachtet und erhielt viel Presseresonanz. Durch das neu geschaffene australische Department of Conservation and Land Management (CALM) konnten 96 Tiere gerettet werden und es wurde ein informelles Netzwerk für Walstrandungen gegründet. Die Strandung von 120 Tieren in der Geographe Bay am 2. Juni 2005 in Westaustralien, die vierte in dieser Bucht, wurde durch einen Sturm verursacht, der die Tiere daran hinderte, die Uferlinie zu sehen. Auch hier wurde durch CALM eine Rettungsaktion gestartet, an der 1500 Freiwillige teilnahmen.
Zahlreiche weitere Strandungen wurden und werden dokumentiert, wobei sie in fast allen Regionen des Verbreitungsgebietes vorkommen. So gab es seit 2005 mindestens sieben Strandungen in Neuseeland und auch aus Südafrika und Florida wurden Massenstrandungen aus den letzten Jahren gemeldet.
Literatur
J.Y. Wang, K.N. Riehl, S.Z. Dungan: Family Delphinidae (Ocean Dolphins); False Killer Whale Pseudorca crassidens In: Don E. Wilson, Russell A. Mittermeier, Anthony B Rylands, Martina Anandam, Gill Braulik: Handbook of the Mammals of the World. Band 4: Sea Mammals. Lynx Edicions, Barcelona 2014, ISBN 978-84-96553-93-4, S. 520–521.
Pam J. Stacey, Stephen Leatherwood, Robin W. Baird: Pseudorca crassidens. In: Mammalian Species. Band 456, 2. Juni 1994, S. 1–6 (Volltext).
J. Niethammer, F. Krapp (Hrsg.): Handbuch der Säugetiere Europas. Band 6: Meeressäuger, Teil 1A: Wale und Delphine 1. AULA-Verlag, Wiesbaden 1995, ISBN 978-3-89104-559-6.
R. R. Reeves, B. S. Stewart, P. J. Clapham, J. A. Powell: Sea Mammals of the World. A Complete Guide to Whales, Dolphins, Seals, Sea Lions and Sea Cows. Black, London 2002, ISBN 978-0-7136-6334-1.
Einzelnachweise
Weblinks
falsekillerwhales.org, Forschungsprojekt von Cascadia Research, Hawaii
Pseudorca crassidens im World Register of Marine Species (WoRMS)
Delfine
Wikipedia:Artikel mit Video |
379426 | https://de.wikipedia.org/wiki/Hausen%20im%20Wiesental | Hausen im Wiesental | Hausen im Wiesental (alemannisch: Huuse) ist eine Gemeinde im baden-württembergischen Landkreis Lörrach. Sie liegt im mittleren Wiesental und ist als Heimatort des badischen Dichters Johann Peter Hebel bekannt. Eine erste gesicherte und ausführliche Erwähnung des Dorfes erfolgte 1362. Vom 17. bis 19. Jahrhundert beherbergte Hausen eines der wichtigsten Eisenwerke der Markgrafschaft und später des Großherzogtums Baden, ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Textilindustrie für das Dorf prägend. Die Gemeinde Hausen zählt Einwohner () und erstreckt sich über eine 514 Hektar große Gemarkung; zu ihr gehören außer dem gleichnamigen Dorf keine weiteren Ortschaften.
Geografie
Lage
Hausen im Wiesental liegt etwa in der Mitte des Tals der Wiese, eines rechten Nebenflusses des Rheins im Süden des Naturparks Südschwarzwald. Das Wiesental war eine der am frühesten industrialisierten Gegenden im damaligen Großherzogtum Baden. Die Gemeinde Hausen ist etwa 15 Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt. Die Gemarkung des Ortes erstreckt sich über 514 Hektar, die höchste Erhebung liegt auf dem Tannenbühl (), am tiefsten ist es an der Grenze zu Schopfheim ().
Hausen ist im Westen und Osten von Hügeln und Bergrücken umgeben. Nördlich des Ortsausgangs in Richtung Zell liegt der Grendel, im Nordwesten Richtung Gresgen der Knobel und der Tannenbühl. Im Westen erstrecken sich der Kölsberg, der Maiberg und das Hausener Köpfle, östlich der Wiese liegt der Alzenbühl, etwas weiter im Hintergrund die Hohe Möhr und im Südosten die Langenfirst. Östlich der Wiese liegt außerdem der Staatsforst Hausener Hau, der jedoch trotz seines Namens nicht mehr zum Ort gehört.
Nachbargemeinden von Hausen sind die Stadt Zell im Wiesental mit dem Ortsteil Gresgen im Norden und Nordosten sowie Schopfheim, dessen Gemeindegebiet Hausen im Westen mit der Kernstadt und dem Ortsteil Enkenstein, im Osten mit dem Ortsteil Raitbach und im Süden mit dem Ortsteil Fahrnau kragenförmig umschließt.
Geologie
Die bei Kandern einsetzende und, OSO verlaufend, in das Bruchschollenfeld von Hasel übergehende Schwarzwaldsüdrand-Verwerfung quert Hausens Gemarkung etwa auf der Höhe der Ortsmitte und bewirkt, dass das Gemeindegebiet Anteil an zwei ganz unterschiedlichen Landschaften hat: einmal am kristallinen Grundgebirgsschwarzwald im N und an der Perm-Buntsandsteinlandschaft des Weitenauer Berglands mit dem breiten Talraum der Wiese im Süden.
An der genannten Verwerfung wird das Kristallin des Schwarzwaldes weit in die Tiefe versenkt. Das Deckgebirge, das einst auch den Schwarzwald bedeckte, dort mit dessen Aufsteigen in der Tertiärzeit aber der Abtragung anheim fiel, konnte in der geschützten Tieflage südlich der Südrandverwerfung überdauern. Allerdings sind im östlichen Teil des Weitenauer Berglands (hier auf dem Entegast) alle Schichten – Jura, Keuper, Muschelkalk – bis auf den Buntsandstein bereits abgeräumt. Der Entegast mit dem Hausener Köpfle ist dementsprechend eine Buntsandsteintafel, welche auf einem Sockel von Rotliegend- und Zechstein-Schichten ruht, die schon im Erdaltertum (im Perm) entstanden.
Beim Rotliegend (genauer: der Weitenau-Formation) und Zechstein (Wiesental-Formation) – Alter etwa 250 bis 275 Mio. Jahre – handelt es sich um angeschwemmtes Abtragungsmaterial (Sandsteine und Ton/Schluff) am Fuße eines Schwarzwald-Vorläufers. Der Buntsandstein ist ebenfalls ein Schwemmlandsediment. Alter etwa 240–250 Mio. Jahre.
Der Talraum der Wiese verbreitert sich südlich der Schwarzwaldsüdrand-Verwerfung auf etwa 1,5 km. Die Wiese konnte hier im Deckgebirge kräftiger seitwärts erodieren als im widerständigeren Schwarzwaldgranit. In den von ihr geschaffenen Talraum deponierte sie in den Kaltzeiten des Eiszeitalters ihre Schotter. Die heutige Talfüllung ist die Hinterlassenschaft der letzten (Würm-)Kaltzeit. Nacheiszeitlich wurden Schotter zum Teil umgelagert oder abgeräumt, weshalb der Talboden um Hausen mehrere Niveaus aufweist. Die sich eintiefende Wiese hat schließlich die Aue, das tiefste Niveau, geschaffen, in welcher sich der Fluss bis zur Wiese-Korrektion ganz ungeregelt bewegte.
Nördlich der Schwarzwaldsüdrandverwerfung erheben sich die Schwarzwaldberge Knobel, Ubholz und Kölsberg. Man ist hier im Gebiet des Malsburg-Granits, eines mittel- bis grobkörnigen (z.T. rötlich-)grauen Biotitgranits, in dem auch große Feldspatkristalle vorkommen. (Biotit: schwarzer Glimmer). Die Granitmassen gehören zu einem einst in den älteren Gneis aufgedrungenen, später durch die Abtragung freigelegten Pluton der Karbonzeit (Alter etwa 330 Mio. Jahre). An der Maibergstraße ist der leicht vergrusende Malsburggranit mehrfach aufgeschlossen.
Auf der Maiberg-Passhöhe lassen sich bereits beim Wanderparkplatz und am Birchbühl Gerölle beobachten, die ein altpleistozäner (aus dem älteren Eiszeitalter) Fluss hinterlassen hat. Anhand weiterer Schotterreste (unter anderem beim Wirtenberg oder den Klosterhöfen) lässt sich sein Lauf in etwa weiter westlich verfolgen. Unmittelbar westlich des Maibergpasses setzt mit dem Brodenloch-Tälchen die Ausräumungszone in den weichen Rotliegend-Tonen zwischen Schwarzwald und den Buntsandstein-Tafelbergen ein.
Klima
Hausen verfügt über keine eigene Station zur Messung von Wetterdaten. Eine solche besteht allerdings im Schopfheimer Ortsteil Eichen, nur wenige Kilometer von Hausen entfernt und nahezu auf gleicher Höhe. Die in Eichen gemessenen Temperatur- und Niederschlagswerte sind in der folgenden Tabelle wiedergegeben:
Naturlandschaft
Das gesamte Gemeindegebiet Hausens ist Teil des Naturparks Südschwarzwald.
62,93 Hektar der Hausener Gemarkung gehören außerdem zum Fauna-Flora-Habitat-Gebiet „Röttler Wald“. Es handelt sich dabei um ein über mehrere Gemeinden verteiltes, mehr als 2500 Hektar großes, strukturreiches Wald- und Wiesengebiet mit Buchenaltbeständen. Zu den darin heimischen Arten gehören die Gelbbauchunke, der Hirschkäfer, die Helm-Azurjungfer, das Grüne Gabelzahnmoos, die Bechstein- und die Wimperfledermaus sowie das Große Mausohr.
Geschichte
Erste Zeugnisse
Die frühe Geschichte Hausens, seine Gründung und territoriale Zugehörigkeit lassen sich nicht genau bestimmen. Aufgrund der Besiedelung des Wiesentals, der ersten Erwähnung umliegender Orte und des Ortsnamens kann allerdings vermutet werden, dass der Ort um 800 gegründet wurde. Politisch und territorial war Hausen vermutlich eng mit dem benachbarten Schopfheim verknüpft, das lange Zeit zur Herrschaft Rötteln gehörte. (zur Herrschaftsentwicklung im Wiesental siehe auch Geschichte des Wiesentals)
Eine erste urkundliche Erwähnung erfuhr Hausen im Jahr 1295, allerdings ist nicht klar, ob es sich dabei wirklich um Hausen im Wiesental handelte. In den folgenden Jahrzehnten erschien Hausen in mehreren Auflistungen von zins- und zehntpflichtigen Orten. Dabei spiegelte sich auch die territoriale Zersplitterung des deutschen Südwestens wider, denn innerhalb von 80 Jahren war Hausen offenbar dem Kloster Weitenau, dem Kloster St. Blasien, den Herren von Landeck und dem Deutschen Orden in Beugen zehntpflichtig. Vermutlich stand zu dieser Zeit oberhalb von Hausen eine Burg oder Hochwacht. Darauf deutet zum einen der Flurname Burgeck hin, zum anderen gaben Ausgrabungen des Heimatforschers Karl Seith im Jahr 1932 entsprechende Hinweise. Erstmals ausführlich erwähnt wurde Hausen in einer Urkunde vom 13. Juli 1362. Darin wurde Markgraf Otto von Hachberg, Rötteln und Sausenberg die hohe Gerichtsbarkeit zugesprochen, während die niedere Gerichtsbarkeit den Basler Bürgern Dietschemann und Lienhard zer Sunnen oblag. Woher die Basler Familie zu ihren Rechten in Hausen kam, ist noch nicht klar. Eine Hypothese ist, dass die Herren von Stein, die im ausgehenden 13. Jahrhundert auf klösterlich-St.-blasischem Gebiet die Herrschaft Neuenstein errichteten, auch Rechte über Hausen erhielten und diese durch einen Erbgang im frühen 14. Jahrhundert an die Familie zer Sunnen kam. Ebenfalls unklar ist, wie die Hachberger in Besitz der hochgerichtlichen Rechte gekommen waren. Wahrscheinlich ist jedoch, dass die hachbergischen Rechte von der Breisgaugrafschaft und der Herrschaft Rötteln herrühren. 1406 geschah zwischen Hausen und Zell ein Totschlag; im Anschluss daran kam es zwischen Markgraf Rudolf III. von Hachberg-Sausenberg und den Basler Bürgern Jakob und Petermann Zibol (in anderen Quellen Zibolle) zu einem Rechtsstreit über die hohe Gerichtsbarkeit in Hausen. Jakob Zibol hatte 1394 und 1397 große Teile des schönauischen Besitzes im Oberen Wiesental erhalten, darunter auch das Meieramt über Zell; darüber hinaus war Jakobs Sohn Petermann mit der Witwe eines Herren von Schönau verheiratet. Die hohe Gerichtsbarkeit über Hausen konnte die Basler Familie allerdings nicht erlangen, ein Basler Gericht sprach sie am 21. Juni 1406 Rudolf III. von Hachberg-Sausenberg zu. Im 16. Jahrhundert wurde Hausen in mehreren Steuerlisten der Markgrafen von Hachberg-Sausenberg aufgeführt, wobei 1572 Carl Markgraf zu Baden u. Hochberg, Landgraf zu Sausenberg, Herr zu Rötteln u. Badenweiler als „rechter und einiger Herr und Inhaber des Fleckens Husen“ bezeichnet wurde. Die Bewohner Hausens waren Eigenleute der Herrschaft Rötteln, an die außerdem Teile des Großzehntens gingen. Andere Teile des Großzehntens mussten zuerst an die Herren von Landegg, später an den Deutschen Orden in Beuggen bezahlt werden. Hausen lag zu dieser Zeit direkt an der Grenze zwischen der badischen Markgrafschaft und den vorderösterreichischen Besitzungen der Habsburger, die ab Zell begannen. Mit Einführung der Reformation in Baden-Durlach durch Markgraf Karl II. im Jahr 1556 wurde diese territoriale Grenze auch zu einer konfessionellen.
Errichtung des Eisenwerkes
Im späten 17. Jahrhundert wurde im Ort ein Eisenwerk errichtet. Der Standort Hausen wurde wohl deshalb ausgewählt, weil dort sowohl die Wasserkraft der Wiese als auch genügend Holz für Holzkohle verfügbar und außerdem die Entfernung zu den Eisenerzvorkommen in der Umgebung von Kandern nicht zu groß war. Bestand das Werk anfangs vor allem aus Einrichtungen zur Eisenherstellung, so siedelten sich bald auch eisenverarbeitende Betriebe an. Das Eisenwerk wurde zu einem der größten Industriebetriebe in der damaligen Markgrafschaft und bestand bis ins 19. Jahrhundert. Das in Hausen produzierte Eisen gehörte zum besten Eisen in ganz Baden. Neben seiner wirtschaftlichen Bedeutung hatte das Werk auch Auswirkungen auf die Bevölkerung des Dorfes, da es Arbeiter aus anderen Gebieten anzog und damit zu einer zunehmend größeren katholischen Gemeinde im vormals rein protestantischen Dorf führte. Heute noch sichtbare Zeugnisse des alten Eisenwerkes sind die für die dort Beschäftigten errichteten Laborantenhäuser und das Herrenhaus (Herrehuus) im Oberdorf.
Neben dem Eisenwerk waren Kriege und Seuchen bestimmende Faktoren des Lebens in Hausen im 17. und 18. Jahrhundert. Vom Dreißigjährigen Krieg war das Wiesental etwa ab 1630 stark betroffen. 1629 waren kaiserliche Truppen in Schopfheim einquartiert; nach ihrem Abzug brach die Pest aus, die alleine in Hausen 47 Todesopfer forderte. Ab 1630 war das Wiesental vermehrt Opfer von Streifzügen und Einquartierungen. 1634 grassierte erneut die Pest; 1643 verlor ein Hausener Müller, der vor den Kriegsgräueln nach Geschwend geflohen war, dort drei seiner Kinder bei einem Überfall der Franzosen. Im Holländischen Krieg wurden die Hausener Kirchenfenster zerschlagen, im Pfälzer Erbfolgekrieg mussten Hausen und die Nachbardörfer wiederum mehrere Einquartierungen hinnehmen, bei denen es auch zu Plünderungen kam. Daneben musste die Gemeinde sich auch an den Kriegskosten beteiligen. Allein in den Jahren 1689 bis 1695 betrug die zu bezahlende Summe 6774 Gulden. Nach dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges kehrte eine relative Ruhe ein, unterbrochen von einem Ruhr-Ausbruch 1746 und den Blattern, die 1755–1769 das Leben mehrerer Kinder forderten. Die Ruhe endete mit der Französischen Revolution und den ihr folgenden Kriegen: Wieder musste das Dorf Soldaten einquartieren und Kriegssteuern bezahlen. Für Napoleon Bonapartes Russlandfeldzug 1812 wurden acht Hausener Männer in die Grande Armée gezwungen, nur einer von ihnen kehrte zurück. 1813/14 grassierte der Typhus in Hausen.
Industrialisierung
Im März 1837 wurde in Hausen der traditionelle Zehnt abgelöst. 1848 zog Friedrich Heckers Revolutionszug auch durch Hausen; einige Bürger schlossen sich ihm an, verließen die Reihen der Revolutionäre allerdings kurz darauf wieder. In einer Badischen Vaterlandskunde aus dem Jahr 1858 wird das Dorf wie folgt beschrieben: „Nicht weit von Zell, da wo das Thal sich öffnet, liegt das freundliche Hausen. […] Noch mehr, als durch sein Eisenwerk, ist Hausen bekannt als der Ort, wo der liebliche alemannische Sänger Hebel seine Kindheit verlebte. Noch steht sein elterliches Haus“.
Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Eisenindustrie durch die Textilindustrie abgelöst, die in Hausen wie im restlichen Wiesental zum bestimmenden Wirtschaftszweig im 20. Jahrhundert wurde. Auf dem Gelände des stillgelegten Eisenwerkes wurde eine Florettseidenspinnerei des Schopfheimer Fabrikanten Grether errichtet. Nach zwölf Jahren wurde sie verkauft und in eine Kammgarnspinnerei umgebaut, die 1880 ihren Betrieb aufnahm. 1894 wechselte die Spinnerei erneut den Besitzer und wurde von der Mechanischen Buntweberei Brennet (heute Brennet AG) erworben. 1875 gründete Fritz Behringer eine Wollspinnerei und um die Jahrhundertwende errichtete er mit zwei Geschäftspartnern eine Färberei und Bleicherei nahe der heutigen (unteren) Wiesebrücke. Ebenfalls um die Jahrhundertwende, im Jahr 1896, erwarb die Lörracher Kaufmannsfamilie Vortisch das Gelände einer Mühle im Unterdorf (Untere Mühle) und errichtete dort die Tuchfabrik Vortisch und Comp. Eine weitere Mühle in der Nähe des Hebelhauses, die Obere Mühle wurde 1868 vom Malterdinger Müller August Wilhelm Menton erworben und erweitert; Mentons Sohn und Enkel erweiterten die Mühle noch weiter und bauten sie zu einer modernen Walzenmühle aus, die im Jahr 1913 eine Mahlleistung von 25 Tonnen in 24 Stunden erreichte. Das selbst zu Eisenwerkzeiten noch immer sehr landwirtschaftlich geprägte Hausen war damit endgültig zu einem Arbeiterdorf geworden. Dies hatte auch große Auswirkungen auf das soziale Leben im Dorf: Die Textilarbeiter engagierten sich in Gewerkschaften wie dem Deutschen Textilarbeiterverband oder dem Christlich-Nationalen Textilarbeiterverband. Es entstanden ein Arbeitergesangverein, die Freie Turnerschaft Hausen und der Arbeiterradfahrverein Solidarität Hausen. 1903 wurde die Ortsgruppe der Sozialdemokratischen Partei gegründet und in den folgenden Jahren folgten ein Karl-Marx-Klub und ein kommunistisch geprägter Arbeitssportklub Zell-Hausen.
Auch die Infrastruktur des Dorfes wurde um die Jahrhundertwende weiter verbessert. Während der mehr als 30 Jahre andauernden Amtszeit des Bürgermeisters Roths wurde 1900 eine zentrale Wasserversorgung geschaffen, 1908 das noch heute benutzte Schulgebäude erbaut und eingeweiht und 1910/11 der Friedhof im Unterdorf angelegt.
Erster und Zweiter Weltkrieg
Im Ersten Weltkrieg fanden 43 Bürger als Soldaten den Tod, fünf weitere wurden vermisst. In der Zeit nach dem Krieg fand eine Konzentration bei den Hausener Textilbetrieben statt: 1923 wurden Betrieb und Gelände der Färberei und Bleicherei an der Wiesebrücke je zur Hälfte an die Firmen Brennet und Vortisch verkauft, 1927 kaufte die Brennet AG Gelände und Wohnhäuser der Firma Vortisch auf, errichtete eine zweite Spinnerei und wurde somit zur bedeutendsten Arbeitgeberin im Dorf, die zeitweise bis zu 600 Menschen beschäftigte. Zwischen 1923 und 1925 kam es zu mehreren Streiks der Textilarbeiter. Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit führte die Gemeinde zahlreiche Infrastrukturmaßnahmen durch, die vom Staat bezuschusst wurden; so wurde die Kanalisierung des Dorfes vorangetrieben und Waldwege angelegt.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurden die Arbeitervereine wie die Freie Turnerschaft und der Arbeitergesangsverein aufgelöst, ihr Vermögen wurde eingezogen. Ebenfalls aufgelöst wurden die Parteien und der Gemeinderat. Eine Kundgebung von SA und NSDAP-Parteigängern forderte auch den Rücktritt des seit 1913 amtierenden Bürgermeisters Hauser, der sein Amt jedoch verteidigen konnte. Die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten führte auch zu einem verstärkten Parteieintritt der Bürger: Hatte es vor Hitlers Kanzlerschaft gerade einmal 17 NSDAP-Mitglieder gegeben, so stieg die Zahl in den folgenden Jahren auf 188. Bezogen auf die Einwohnerzahl des Ortes im Jahr 1946 macht dies einen Anteil von 14,59 % aus. 53 Männer bestätigten dem Rathaus per Unterschrift eine Mitgliedschaft in der SA, fünf Männer werden als Angehörige der Waffen-SS erwähnt.
Die Verluste im Zweiten Weltkrieg waren noch höher als im Ersten Weltkrieg: 77 Hausener, darunter auch einige Zivilisten, starben zwischen 1940 und 1950, 27 wurden vermisst. Auch Hausen selbst war vom Krieg betroffen: Im Februar 1945 wurde der Bahnhof von Jagdbombern beschossen und im April 1945 marschierten französische Truppen ins Dorf ein. Dabei wurde der Bürgermeister Albert Hauser tödlich verwundet. Nach dem Krieg wurden insgesamt 272 Vertriebene in Hausen angesiedelt, die meisten davon aus Ostpreußen.
Nachkriegszeit und Gegenwart
Aufgrund des Zweiten Weltkrieges war die Feier des zu Ehren von Johann Peter Hebel gefeierten Hebelfests zeitweise unterbrochen; schon 1946 wurde es wieder begangen, und 1947 öffnete die Schweizer Regierung erstmals seit dem Krieg die Grenze zu Deutschland, damit die Basler Gäste daran teilnehmen konnten. Badens Staatspräsident Leo Wohleb war zu dieser Zeit oft zu Gast auf dem Fest, und 1952 wohnte auch der damalige Bundespräsident Theodor Heuss den Feierlichkeiten bei.
Seit dem 5. September 1963 führt die Gemeinde den Namensbestandteil im Wiesental.
Die Gebietsreform in Baden-Württemberg in den 1970er Jahren führte auch in Hausen zu Diskussionen. Im Raum standen damals der Anschluss Hausens an Zell oder Schopfheim; dem Wunsch einer Bürgerversammlung folgend arbeitete die Gemeinde jedoch auf die Beibehaltung der Unabhängigkeit hin und erhielt hierin Unterstützung von Regierungspräsident und Hebel-Plakettenträger Anton Dichtel. 1973 gelang die Verabschiedung einer Verwaltungsgemeinschaft mit Schopfheim, Maulburg und Hasel, wodurch eine mögliche Eingemeindung verhindert wurde. Im Raum stand nun nur noch der etwaige Anschluss des schon zur evangelischen Hausener Pfarrgemeinde gehörenden Raitbach an Hausen. Dieser wurde jedoch ebenfalls verworfen, da man mit zu hohen Investitionskosten in Raitbach rechnete; Raitbach kam so, wie auch bereits die Hausener Nachbarorte Fahrnau und Enkenstein, an Schopfheim. Wie im übrigen Wiesental verlor die Textilindustrie im ausgehenden 20. Jahrhundert auch in Hausen an Bedeutung. Hatte die Brennet AG 1950 noch rund 500 Arbeiter beschäftigt, waren es 1980 noch etwa 300.
Am 27. Juni 1971 fuhr die Tour de France 1971 durch Hausen und war Teil der Etappe von Basel nach Freiburg.
1992 wurde das auf dem Gelände des ehemaligen Eisenwerks gelegene Werk I stillgelegt, das Werk II im Unterdorf arbeitete jedoch weiter. 2004 wurde es um ein neues Betriebsgebäude erweitert und zur damals modernsten Spinnerei Europas ausgebaut. Ende des 20. Jahrhunderts wurde ein neues Gewerbegebiet auf der Krummatt im Unterdorf erschlossen und 2009 am nördlichen Ortsausgang eine zweite Brücke über die Wiese mit Anbindung an die B 317 eröffnet. Das stillgelegte Brennet-Werk I wurde Anfang des 21. Jahrhunderts abgerissen, das Gelände soll nun als Gewerbegebiet Eisenwerk neu erschlossen werden.
Anfang Mai 2011 kam es im Brennet-Werk im Unterdorf zu einem Großbrand, bei dem rund 1.180 Tonnen Baumwolle verbrannten und ein Schaden in Millionenhöhe entstand. Teile des Gebäudes mussten abgerissen werden. Anfang November 2011 gab die Brennet bekannt, ihr Werk in Hausen aufgeben zu wollen. Die Produktion der Spinnerei wurde in der Folge am 31. März 2012 eingestellt, die letzte Hausener Textilfabrik geschlossen. Kurz darauf wurde bekannt, dass die Brennet den gesamten Betrieb zum Jahresende 2012 einstellen wird.
Bevölkerung
Hausens Bevölkerung stieg vor allem seit dem 19. Jahrhundert stetig an und verdoppelte sich von 1804 mit 417 auf 684 im Jahr 1861. Eine weitere Verdopplung war 1910 mit 1249 erreicht. Nach dem Ersten Weltkrieg ging die Einwohnerzahl 1919 auf 1181 zurück; 43 Bürger fielen im Krieg und fünf wurden vermisst. Bis 1939 stieg die Zahl wieder an. Im Zweiten Weltkrieg starben 70 Soldaten aus Hausen an der Front, sieben an den Folgen des Krieges oder als Zivilisten, 27 wurden vermisst. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Einwohnerzahl durch den Zuzug von Heimatvertriebenen stark an. Seit Ende der 1980er Jahre ist sie leicht rückläufig. Der Ausländeranteil, die größte Gruppe sind Italiener, sank von 14,9 % im Jahr 1980 auf 13,2 % 1987.
Am 31. Dezember 2009 hatte Hausen 2372 Einwohner, davon 10,8 % Ausländer. Das Durchschnittsalter beträgt 42,2 Jahre, die durchschnittliche Haushaltsgröße im Jahr 2006 betrug 2,4 Personen je Privathaushalt und liegt damit leicht über dem Landesdurchschnitt von 2,2.
Bevölkerungsentwicklung
Grafische Darstellung:
Datenquelle: Hausen im Wiesental – Gegenwart und Geschichte, S. 128 und Statistisches Landesamt Baden-Württemberg
Religion
In Hausen bestehen zwei Kirchengemeinden. Historisch gehörte der Ort zur protestantischen Markgrafschaft Baden-Durlach und war somit lutherisch. Zunächst gehörte Hausen dabei der Schopfheimer Pfarrei an, 1740 erhielt das Dorf einen eigenen Pfarrer. Die Errichtung des Eisenwerkes führte zu einem ersten Zuzug von Katholiken: 1809 lebten im Dorf 12 Katholiken von insgesamt 357 Bewohnern, dazu am Eisenwerk 8 von 96; 1844 waren im Dorf 13 katholische Einwohner von 447 verzeichnet, auf dem Gebiet des Eisenwerkes 44 von 106. Mit dem Erstarken der Textilindustrie setzte sich diese Entwicklung fort. Anfang des 20. Jahrhunderts waren bereits über 30 % der Bevölkerung katholisch und neben der bereits bestehenden evangelischen Kirche wurde die römisch-katholische Kirche St. Josef gebaut und geweiht. 1987 waren 47 % der Einwohner katholisch, 43 % evangelisch. Heute ist die Pfarrgemeinde St. Josef Teil der Seelsorgeeinheit Mittleres Wiesental des Dekanats Wiesental im Erzbistum Freiburg. Die katholische Pfarrgemeinde umfasst ein größeres Gebiet als die politische Gemeinde Hausen, da zu ihren Aufgaben auch die Seelsorge für die Katholiken im Kleinen Wiesental zählt. Neben der Pfarrkirche in Hausen gehört auch die Marienkapelle in Tegernau zur Pfarrgemeinde.
Die evangelische Kirchengemeinde ist Teil der Region Schopfheim im Evangelischen Kirchenbezirk Markgräflerland der Evangelischen Landeskirche in Baden. Neben Hausen betreut sie auch das benachbarte Raitbach.
Mundart
In Hausen wird, wie im übrigen Wiesental, Hochalemannisch mit der charakteristischen Lautverschiebung von k im Anlaut zu ch (Chuchichäschtli) gesprochen. Der Wiesentäler Dialekt ist jedoch nicht homogen; Aussprache und Vokabular unterscheiden sich von Ort zu Ort. Bekanntestes Beispiel für den Wiesentäler Dialekt sind Johann Peter Hebels Allemannische Gedichte. Da Hebel einen großen Teil seiner Kindheit in Hausen verbrachte und auch seine Mutter aus dem Dorf stammte, ist Hebels Sprache grundsätzlich recht nah an der in Hausen gesprochenen Mundart. Sprachwissenschaftler haben jedoch darauf hingewiesen, dass Hebel sich nicht streng an einen Dialekt gehalten hat. Zum einen benutzt er in seinen Gedichten mehrere Wörter aus der Hochsprache, die in der Mundart so nicht vorkommen; zum anderen schreibt Hebel rüefe (rufen), obwohl der üe-Laut in Hausen zu ie (z. B. grien für grün) entrundet ist. Die Allemannischen Gedichte sind folglich eher eine Mischung mehrerer lokaler Mundarten und entsprechen nicht vollständig der in Hausen verwendeten Aussprache.
Politik
Verwaltungsgemeinschaft
Die Gemeinde gehört zur Vereinbarten Verwaltungsgemeinschaft der Stadt Schopfheim.
Gemeinderat
Dem Gemeinderat gehören neben dem Bürgermeister als Vorsitzenden zwölf ehrenamtliche Mitglieder an, die von der Bürgerschaft auf fünf Jahre gewählt werden. Die Kommunalwahl vom 26. Mai 2019 brachte folgendes Ergebnis:
* Veränderung zur letzten Kommunalwahl.
Wahlen
Hausen gehört zum Bundestagswahlkreis 282 Lörrach-Müllheim und zum Landtagswahlkreis 58 Lörrach.
Bei den ersten Reichstagswahlen im Jahr 1871 erhielt die Nationalliberale Partei fast alle in Hausen abgegebenen Stimmen. In der folgenden Zeit führte die zunehmende Industrialisierung und der damit verbundene Zuzug katholischer Arbeiter zu Stimmengewinnen für die Zentrumspartei und die Sozialdemokraten. Letztere erreichten bei der Reichstagswahl 1912 mit 59 % der abgegebenen Stimmen eine deutliche absolute Mehrheit im Dorf. Der Charakter Hausens als Arbeiterdorf zeigt sich auch in den Wahlergebnissen der Weimarer Republik: Die SPD blieb zunächst stärkste Partei, verlor in der Folge aber zahlreiche Stimmen an die USPD und später an die KPD, die 1930 stärkste Partei im Ort wurde. Der Anteil der Deutsch-Demokratischen Partei nahm stetig ab, während sich das Zentrum bei rund einem Zehntel der Stimmen behaupten konnte. 1932 schließlich wurde die NSDAP mit 42 % stärkste Partei. Nach dem Krieg kehrte zunächst die SPD in ihre bestimmende Rolle zurück, es kam allerdings auch zu einem deutlichen Erstarken der CDU, die mit der SPD gleichauf zog. In den letzten Jahren konnten auch die Grünen und stellenweise die FDP ihre Anteile ausbauen. Die Wahlergebnisse der letzten beiden Bundes- und Landtagswahlen sind in den folgenden Tabellen wiedergegeben.
Vögte
Quelle: Behringer & Zumtobel, Hausen im Wiesental
Bürgermeister
Quelle: Hausen im Wiesental – Gegenwart und Geschichte
Bürgermeister ist seit dem 11. Juli 2023 Philipp Lotter. Er wurde am 2. April 2023 mit 54 Prozent der Stimmen gewählt. Sein Vorgänger Martin Bühler war nicht mehr zu Wahl angetreten.
Wappen
Gemeindepartnerschaften
Die Gemeinde Hausen pflegt Partnerschaften mit Hausen AG (vormals Hausen bei Brugg) im Schweizer Kanton Aargau und mit Marlishausen, jetzt Ortsteil der Stadt Arnstadt in Thüringen.
Die Partnerschaft mit Hausen AG wurde 1969 geschlossen, als in der Schweizer Gemeinde eine neue Mehrzweckhalle gebaut und die Hebelmusik unter Begleitung des Hausener Bürgermeisters Ernst Hug auf dem Rohbaufest spielte. Gepflegt wird die Partnerschaft durch gegenseitige Besuche beim Hebelfest, an der Schweizer Bundesfeier und am Jugendfest in Hausen AG. Daneben bestehen regelmäßige Treffen der Gemeinderäte, der Lehrerkollegien und von Seniorengruppen.
Die Partnerschaft mit Marlishausen besteht seit 1990 und wird ebenfalls durch jährliche Besuche, insbesondere der beiden Freiwilligen Feuerwehren, gepflegt.
Kultur und Sehenswürdigkeiten
Ortsbild und Bauwerke
Informell ist Hausen in Ober-, Mittel- und Unterdorf gegliedert. Das Mitteldorf umfasst den historischen Ortskern mit dem Alten Rathaus und der evangelischen Kirche. Die evangelische Pfarrkirche wurde 1738 errichtet, ein früheres Kirchlein an gleicher Stelle war für den Neubau abgerissen worden. Die hell verputzte Kirche hat einen rechteckigen Grundriss, ein Satteldach und ist nicht geostet, sondern in Nord-Süd-Richtung ausgerichtet.
Im Mitteldorf steht auch das Heimathaus von Johann Peter Hebel, das sogenannte Hebelhuus oder Hebelhüsli. Es war lange Heimatmuseum und wurde zum Großen Hebelfest 2010 durch eine neue Ausstellung erweitert, die das literarische Schaffen Hebels stärker betont. Das Hebelhaus wird auch als Ort für Trauungen, Lesungen und Ähnliches verwendet.
Unweit vom Hebelhaus entfernt befinden sich das Feuerwehrhaus der Freiwilligen Feuerwehr und das heutige Rathaus. Davor steht ein Basilisken-Brunnen, ein Geschenk der Basler Hebelstiftung an die Gemeinde Hausen. Neben dem Rathaus befindet sich ein kleiner Park mit einem Brunnen und einem Gedenkstein für den 1945 verstorbenen Bürgermeister Hauser.
Im nördlich des Mitteldorfs gelegenen Oberdorf befindet sich die katholische Pfarrkirche St. Josef. Die neugotische Kirche wurde von Max Meckel entworfen und 1894 gebaut. Sie ist fünfjochig, außen weiß verputzt mit rötlichen Hausteinteilen aus Sandstein und besitzt einen viergeschossigen Turm, dessen Turmpyramide mit grün-lasierten Ziegeln gedeckt ist. Gegenüber der Kirche befindet sich das Schulgelände. Um den Schulhof sind das 1908 eingeweihte alte Schulgebäude im Westen, die Turn- und Festhalle im Norden sowie das 1984 erbaute zweite Schulgebäude und der Kindergarten im Osten gruppiert. Südlich des Schulhofes wurde auf dem ehemaligen Friedhofsgelände ein kleiner Park angelegt, in dem sich der Übungspavillon der Hebelmusik befindet. Im nördlichen Teil des Oberdorfs liegt das ehemalige Eisenwerksgelände; dort war lange Zeit ein Textilwerk der Firma Brennet angesiedelt. Es ist geplant, dieses Gelände als Gewerbegebiet Bergwerk wieder neu zu erschließen.
Den Süden des Ortes bildet das Unterdorf mit dem Friedhof, dem Sportplatz und dem Gewerbegebiet Krummatt mit dem ehemaligen Brennet-Werk.
Durch das ganze Dorf zieht sich ein Gewerbekanal, der Teichgraben oder Teich (alemannisch Diich). Er wird im Oberdorf von der Wiese abgeleitet und fließt ihr östlich des Unterdorfes wieder zu. Daneben besteht noch ein Wuhr, das wahrscheinlich schon zu frühen Besiedelungszeiten der Entwässerung der Talsohle am Köhlsberg diente.
Musik
Seit 1855 besteht in Hausen die Hebelmusik, ein Blasmusikorchester. Für einige Zeit gab es auch ein Streichorchester, das aber inzwischen aufgelöst wurde. Ebenfalls aufgelöst wurde der Männerchor, jedoch unterhalten beide Kirchengemeinden noch ihre Chöre, den Katholischen Kirchenchor und den Evangelischen Singkreis. Der Förderverein Musikschule bietet Musikkurse für Kinder an und fördert den Besuch der Musikschule Mittleres Wiesental.
Sport
Das Sportangebot in Hausen wird vor allem von Vereinen geprägt. So gibt es in den Fußballverein FC Hausen (bekannteste ehemalige Spielerin ist die Frauen-Nationalspielerin Melanie Behringer), den Turnverein TV Hausen, den Tennisclub TC Grün-Weiss Hausen, eine Schützengesellschaft, Vereine für Hunde- und Angelsport, eine Sektion des Schwarzwaldvereins sowie einen Kleintierzuchtverein. Im Ringsport besteht eine Kooperation zweier Vereine aus Hausen und der Nachbarstadt Zell, die sich zur Ringgemeinschaft (RG) Hausen-Zell zusammengeschlossen haben. Die erste Mannschaft der RG ringt derzeit (Stand 2018) in der Ringer-Bundesliga.
Die Gemeinde selbst unterhält im Unterdorf auf der Stockmatt eine Sportanlage, die einen Rasenplatz, einen Hartplatz und Leichtathletikanlagen umfasst und von mehreren Vereinen mitbenutzt wird. Die Hausener Vereine engagieren sich im Allgemeinen sehr stark im Jugendbereich.
Regelmäßige Veranstaltungen
Zu Ehren von Johann Peter Hebel wird jährlich am 10. Mai, Hebels Geburtstag, das Hebelfest in Hausen gefeiert. Alle zwei Jahre wird der mit 10.000 Euro dotierte Hebelpreis des Landes Baden-Württemberg verliehen. Ferner verleiht die Gemeinde Hausen jährlich am Hebelabend (dem Samstag vor dem 10. Mai) die Hebelplakette. Weitere Ereignisse des Hebelfestes sind ein Kinderumzug in Tracht und das Hebelmähli, das von der Basler Hebelstiftung ausgerichtet wird. Mit dem Hebelmähli erfüllt die Basler Hebelstiftung eine Bestimmung aus Hebels Testament: An seinem Geburtstag werden die zwölf ältesten Männer (seit 1972 auch die zwölf ältesten Frauen) des Dorfes zu einem festlichen Essen geladen. Alle 25 Jahre, zuletzt 2010, wird das Hebelfest als Großes Hebelfest gefeiert.
Die Fastnacht ist im vormals protestantischen Hausen nicht ganz so traditionsreich wie zum Beispiel im benachbarten Zell; gleichwohl hat sich auch in Hausen ein von der Narrenzunft organisiertes Fastnachtsprogramm etabliert, zu dem unter anderem der Verkauf einer Spottzeitung, ein Kinderumzug und ein abschließendes Scheibenfeuer gehören.
Wirtschaft und Infrastruktur
Flächennutzung
Die Hausener Gemarkung ist zu großen Teilen von Wald bedeckt, der 59,6 % (306 Hektar) der gesamten Ortsfläche ausmacht. Die Siedlungs- und Verkehrsfläche der Gemarkung beträgt 89 Hektar (17,4 %), von denen 59 auf Gebäude- und Freiflächen entfallen, 8 auf Grünanlagen und 22 auf Straßen, Wege und Plätze. Weitere 21 % (108) Hektar sind als landwirtschaftliche Fläche ausgewiesen, während 10 Hektar oder 2 % des Dorfes von Wasser bedeckt sind (alle Angaben Stand 31. Dezember 2009).
Verkehr
Hausen hat mit Raitbach, einem Ortsteil von Schopfheim, einen gemeinsamen Bahnhof an der Linie S6 der trinationalen S-Bahn Basel, die als Wiesentalbahn den Badischen Bahnhof in Basel mit Zell im Wiesental verbindet. Darüber hinaus verfügt die Gemeinde über einige lokale und regionale Busverbindungen. Sie gehört dem Regio Verkehrsverbund Lörrach an. Über die am linken Wieseufer verlaufende Bundesstraße 317 ist der Ort mit dem überregionalen Straßennetz verbunden; die Kreisstraße 6348 führt von der B 317 abgehend über den Passübergang Maienberg durch Hausen nach Enkenstein.
Bildung
Die erste Schule in Hausen ist im Jahr 1680 nachgewiesen. Nach zahlreichen Umzügen und Neubauten wurde im Jahr 1908 das heutige Schulgebäude errichtet, das im Jahr 1984 um ein weiteres Gebäude für die Hauptschule erweitert wurde. Bis zum Schuljahr 2009/10 bestanden in Hausen sowohl eine Grund- als auch eine Hauptschule, seit 2010/2011 ist die Hauptschule jedoch eine Außenstelle der Gerhard-Jung-Hauptschule im benachbarten Zell. In Zell befindet sich auch die von Hausen aus nächstgelegene Realschule, das nächstgelegene Gymnasium ist das Theodor-Heuss-Gymnasium Schopfheim. Die Hausener Schule wird seit 2003 durch den Förderverein Aufwind mit mehr als 100 Mitgliedern unterstützt.
Seit 1853 besteht in der Gemeinde Hausen ein von der Gemeinde betriebener Kindergarten. Anfangs im Rathaus und später bei der evangelischen Kirche untergebracht, erhielt der Kindergarten im Jahr 1963 ein eigenes Gebäude in direkter Nachbarschaft der Schule.
Ansässige Unternehmen
Im 20. Jahrhundert war die Textilindustrie der bestimmende Wirtschaftszweig im Ort. Mit dem Niedergang der Wiesentäler Textilindustrie Ende des 20. Jahrhunderts nahm ihre Bedeutung auch in Hausen ab, die letzte Produktionsstätte wurde Ende 2011 aufgegeben. Von Bedeutung ist der Automobilzulieferer Auto Kabel GmbH, der seinen Sitz in Hausen hat. Darüber hinaus sind im Ort mehrere kleine und mittlere Unternehmen sowie ortsübliche Handwerksbetriebe angesiedelt. Im Jahr 2009 zählte das Dorf drei Betriebe des verarbeitenden Gewerbes mit insgesamt 280 Beschäftigten; es bestanden im Jahr 2007 noch zwei landwirtschaftliche Betriebe im Nebenerwerb und einer im Haupterwerb. Im Handwerk gab es 1995 vierzehn Betriebe mit 68 Beschäftigten.
Derzeit wird an der Wiese ein Wasserkraftwerk gebaut.
Persönlichkeiten
Der berühmteste Bürger der Gemeinde Hausen im Wiesental war der Dichter und Prälat Johann Peter Hebel. Er wurde 1760 in Basel geboren, wo seine Eltern im Sommer in einem Patrizierhaus arbeiteten. Den Winter über lebten Hebels Eltern aber in Hausen, wo Hebel einen Großteil seiner Kindheit verbrachte und wo er von 1766 bis 1769 auch die Volksschule besuchte. Hebel verließ Hausen 1774, um das Karlsruher Gymnasium zu besuchen, die Erinnerung an Hausen blieb ihm aber viele Jahre nach dem Verlassen seiner Heimat noch wach; so widmete er die Erstausgabe seiner Gedichtsammlung Allemannische Gedichte „meinem lieben Freund, Herrn Berginspector Herbster, und dann meinen guten Verwandten, Freunden und Landsleuten im Wiesenthal zum Andenken“. Einem Hausener Freund verfasste er außerdem ein weiteres Gedicht, in dem er mehrmals Bezug auf das Bergland um Hausen nahm. Das Gedicht Der Schmelzofen basiert auf Hebels Kenntnis des Hausener Eisenwerks und in einem Brief aus dem Jahr 1800 schrieb Hebel außerdem: Es ist für mich wahr und bleibt für mich wahr, der Himmel ist nirgends so blau, und die Luft nirgends so rein, und alles so lieblich und so heimlich als zwischen den Bergen von Hausen.
Johann Sebastian Clais wurde am 28. Februar 1742 in Hausen geboren, wo sein Vater und Onkel das Gasthaus Adler und eine Bäckerei bewirtschafteten. 1752 zog die Familie von Hausen weg, zunächst nach Neuenweg, dann nach Badenweiler, wo Clais' Vater Schulmeister wurde. Clais wurde später als Erfinder und Techniker, vor allem auf dem Gebiet der Salzgewinnung, bekannt.
Ein weiterer Sohn der Gemeinde ist der expressionistische Maler August Babberger, der am 8. Dezember 1885 in Hausen geboren wurde und bis 1895 im Dorf lebte.
Rudolf Langendorf wurde am 29. Dezember 1894 in Hausen geboren. Er erlernte den Beruf des Kaufmanns. Er wurde Kommunist und Mitglied der Lechleiter-Widerstandsgruppe. Am 15. September 1942 wurde er in Stuttgart hingerichtet.
Reinhold Zumtobel kam am 24. Februar 1878 in Hausen zur Welt. Anfangs in geordneten Verhältnissen aufwachsend, wurde er nach dem Tod seiner Mutter und infolge der Alkoholabhängigkeit seines Vaters zum „Gemeindebub“, der von der örtlichen Wohlfahrtspflege unterstützt wurde, bis er mit 13 zunächst in einer Ziegelei, später als Fabrikarbeiter zu arbeiten begann. Zumtobel engagierte sich in der SPD, wurde Stadtrat in Freiburg und Redakteur der sozialdemokratischen Zeitung „Volkswacht“. Von den Nationalsozialisten mit Berufsverbot belegt, schrieb er ab 1933 für die Sonntagsbeilage des Markgräfler Tagblatts und widmete sich dem Verfassen der 1937 erschienenen ersten Hausener Ortschronik. 1949 wurde er zum Ehrenbürger der Gemeinde ernannt, und 1953 erhielt er den Hebelpreis verliehen.
Einige Jahre nach Zumtobel wurde mit Oskar Rümmele ein weiterer Politiker in Hausen geboren. Rümmele engagierte sich in den christlichen Gewerkschaftsverbänden und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg Mitglied der CDU. Von 1949 bis 1957 vertrat der den Wahlkreis Offenburg im Bundestag, und als Vorsitzender des Verkehrsausschusses setzte er 1957 bundesweit das innerörtliche Tempolimit von 50 km/h durch.
Als Sohn des örtlichen evangelischen Pfarrers wurde Maurus Gerner-Beuerle am 28. Januar 1903 in Hausen geboren. Er verbrachte seine Kindheit und Jugendzeit in Hausen und legte an der Oberrealschule Schopfheim (heute Theodor-Heuss-Gymnasium) das Abitur ab. Nach einer Zeit als Maurer und Zimmermann in Hausen begann er 1923 das Studium der Theologie und wurde anschließend Pfarrer; ab 1938 arbeitete er in Bremen, wo er 1946 Domprediger wurde. Gerner-Beuerle verfasste auch Texte auf Alemannisch, sowohl Lyrik als auch Prosa. 1971 wurde ihm hierfür die Johann-Peter-Hebel-Plakette verliehen.
Neben dem bereits erwähnten Reinhold Zumtobel hat die Gemeinde Hausen vier weiteren Personen die Ehrenbürgerschaft verliehen. Es handelt sich dabei um die ehemaligen Bürgermeister Johann Jakob Roths (Amtszeit von 1880 bis 1911), Ernst W. Hug (1955–1975) und Karl Heinz Vogt (1975–1999) sowie um den Heimatdichter und Schriftsteller Gerhard Jung (1926–1998), der 1973 bereits mit der Hebelplakette und 1974 mit dem Hebelpreis ausgezeichnet worden war.
Der Sprachwissenschaftler Simon Meier-Vieracker ist in Hausen aufgewachsen.
Seit einigen Jahren ist die bekannte Theater-Regisseurin und Bühnenbildnerin Ricarda Beilharz, frühere Ausstattungsleiterin im Theater Basel, in Hausen ansässig.
Literatur
Johann Georg Behringer und Reinhold Zumtobel: Hausen im Wiesental. Uehlin, Schopfheim 1937.
Gemeinde Hausen im Wiesental (Hrsg.): Hausen im Wiesental – Gegenwart und Geschichte. Hausen im Wiesental 1985.
Geschichtsverein Markgräflerland (Hrsg.): Ortssippenbuch Schopfheim, Hausen im Wiesental und Gersbach. Basel 2010, ISBN 978-3-906129-57-0.
Bernhard Greiner, Klaus Schubring, Elmar Vogt: Hausen im Wiesental – Ein fotografischer Rundgang in der "guten alten Zeit" und Gegenwart. herausgegeben von der Gemeinde Hausen, 2009.
Landesarchivdirektion Baden-Württemberg, Landkreis Lörrach (Hrsg.): Der Landkreis Lörrach. Band I (Aitern bis Inzlingen). Jan Thorbecke Verlag, Sigmaringen 1993, ISBN 3-7995-1353-1, S. 891–909.
Gustav Oberholzer: Aus der Vergangenheit des Hebeldorfes Hausen im Wiesental. Frank, München 1984.
Elmar Vogt: Hausen im Wiesental – Vom Arbeiterdorf zur Wohngemeinde. In: Das Markgräflerland, Heft 2/1993, S. 5–26 Digitalisat der UB Freiburg
Elmar Vogt: Es macht mit dem Bergwerk eine eigene Vogtey aus... Ein Streifzug durch die Geschichte der Gemeinde Hausen im Wiesental. In: Das Markgräflerland, Jg. 2015, Bd. 1, S. 5–18 Digitalisat der UB Freiburg
Weblinks
Website der Gemeinde
Anmerkungen
Ersterwähnung 1362
Ort im Landkreis Lörrach
Ort an der Wiese |
383787 | https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnstrecke%20Freital%20Ost%E2%80%93Possendorf | Bahnstrecke Freital Ost–Possendorf | |}
Die Bahnstrecke Freital Ost–Possendorf ist eine normalspurige Nebenbahn bei Dresden in Sachsen, die als erste deutsche Gebirgsbahn gilt. Erbaut wurde sie 1856 durch die Albertsbahn AG als Hänichener Kohlezweigbahn für die Abfuhr der in Hänichen und am Windberg bei Freital geförderten Steinkohle. Nach einem Umbau zu einer öffentlichen Linie und der Verlängerung nach Possendorf war sie eine bedeutende Ausflugsbahn. Allgemein bekannt ist die Strecke als Windbergbahn. Historisch ist die Strecke auch als Sächsische Semmeringbahn und Possendorfer Heddel bekannt geworden.
Der obere Abschnitt wurde bereits 1951 stillgelegt, die Reststrecke diente bis 1989 vor allem den strategisch wichtigen Uranerztransporten der SDAG Wismut. Der verbliebene Güterverkehr endete 1993. Seit 2008 befinden sich die noch vorhandenen Bahnanlagen bis Dresden-Gittersee im Besitz des Sächsischen Museumseisenbahn Vereins Windbergbahn e. V., der sie als Museumsbahn nutzt.
Die noch vorhandenen Gebäude und Anlagen der gesamten Strecke stehen seit 1980 wegen ihrer eisenbahngeschichtlichen Bedeutung als Kulturdenkmal unter Denkmalschutz.
Geschichte
Vorgeschichte
Erste Nachweise für die Förderung von Steinkohle im Döhlener Becken stammen schon von 1452. Aber erst mit der beginnenden Industrialisierung Anfang des 19. Jahrhunderts nahm der Abbau größere Ausmaße an. In dieser Zeit entstanden die ersten Tiefbauschächte. Dem Transport der Kohle nach Dresden diente in dieser Zeit die Kohlenstraße, die von den Fördergebieten bei Hänichen und am Windberg über Coschütz direkt zu den Abnehmern in Dresden führte.
Im Jahr 1849 entstand mit dem Hänichener Steinkohlenbauverein eine Aktiengesellschaft, zu der die Gruben Beckerschacht, Beharrlichkeitsschacht und Berglustschacht bei Hänichen gehörten. Der Hänichener Steinkohlenbauverein forderte 1852 den Bau einer Eisenbahnverbindung zu den Schächten auf privater Basis, um die unzureichenden Transportverhältnisse zu verbessern. Die Strecke sollte in Niedersedlitz an der Sächsisch-Böhmischen Staatseisenbahn beginnen und durch das Lockwitztal nach Hänichen führen. Die nötige Konzession wurde allerdings verweigert, da der sächsische Staat zu dieser Zeit vor allem an gewinnbringenden Hauptbahnen interessiert war.
Ähnliche Forderungen nach einer Eisenbahnverbindung kamen jedoch zur gleichen Zeit auch von den Bergbauunternehmern und Fabrikanten des Plauenschen Grundes. Hier stimmte der sächsische Staat den Plänen zum Bau einer Bahnstrecke zu, die von Dresden aus bis Tharandt führen und später ein Teil einer Fernverbindung Richtung Freiberg und Chemnitz werden sollte. Am 4. Mai 1853 gründete sich die Albertsbahngesellschaft, am 28. Juni 1855 wurde ihre Strecke von Dresden nach Tharandt eröffnet. Die Konzession zum Bau der Strecke Dresden–Tharandt bezog auch den etwaigen Bau einer Zweigbahn nach Hänichen mit ein.
Am 31. Mai 1855 schloss die Albertsbahn AG mit dem Hänichener Steinkohlenbauverein einen Vertrag, der die Einrichtung einer Zweigbahn zu deren Schächten bei Hänichen vorsah.
Bau und Eröffnung
Der Bau der Hänichener Kohlenzweigbahn erwies sich letztlich als außerordentlich problematisch. Wegen der enormen Höhenunterschiede war zunächst der Bau einer Seilzugbahn konzipiert worden, die an eine mit Pferden betriebene Strecke im Poisental anschließen sollte. Eine solche Lösung hätte allerdings eine viel zu niedrige Beförderungskapazität gehabt, so dass sie – auch aus Kostengründen – verworfen wurde.
Der für die Planung und Bauleitung zuständige Eisenbahningenieur Guido Brescius entwarf schließlich eine als reine Adhäsionsbahn konzipierte Trassenführung, die in künstlicher Längenentwicklung in Kehren am Birkigter Hang aufwärts führte. Durch eine geschickte Wahl der Streckenführung gelang es, ohne teure Kunstbauten wie Brücken und Einschnitte auszukommen. Die meisten Zechen konnten zudem durch sehr kurze Anschlussbahnen an die neue Strecke angeschlossen werden. Allerdings war zunächst noch ein Betrieb mit Pferden vorgesehen.
Nach Bekanntwerden des Bahnprojektes schlossen die interessierten Steinkohlenwerke Anschlussverträge mit der Albertsbahn AG über die zu transportierenden Tonnagen ab. Die avisierten Transportmengen nahmen jedoch einen solchen Umfang an, dass an einen Betrieb mit Pferden nicht mehr zu denken war. Guido Brescius plante die Strecke nunmehr als normale Lokomotiveisenbahn. Gegen erhebliche Widerstände von Kritikern des eigenen Berufsstandes und den Aktionären der Albertsbahn setzte er letztlich seinen Plan durch.
Im Lauf des Jahres 1855 begannen schließlich die Bauarbeiten, die rasch voranschritten. Am 4. April 1856 wurde die Abzweigweiche zur Albertsbahn in Niedergittersee eingebaut. Am 21. Oktober 1856 war die Strecke mit der Prüfung durch ein Sachverständigengremium fertiggestellt. Im Februar und März 1857 lieferte die Firma Hartmann in Chemnitz die drei bestellten Lokomotiven aus.
Der erste Leergüterzug fuhr am 1. April 1857 vom Dresdner Kohlenhafen nach Hänichen, um am Nachmittag, beladen mit Kohle des Hänichener Steinkohlenbauvereins, wieder talwärts zu rollen. Damit hatte die erste Gebirgsbahn Deutschlands ihren Betrieb aufgenommen.
Am 15. April 1857 unternahm der sächsische König Johann eine Inspektionsfahrt auf der Hänichener Kohlenzweigbahn. Im Anschluss an die Fahrt äußerte er in einer Rede vor den Aktionären der Albertsbahn AG den Satz: Seitdem ist der Name Sächsische Semmeringbahn für die Strecke in Gebrauch.
Im Betrieb der Albertsbahn AG
Die neue Bahn erfüllte von Beginn an die Erwartungen. Der Betrieb auf den engen Radien erwies sich als vollkommen sicher. Problematisch war in den ersten Betriebsjahren die zu geringe Ausstattung mit Betriebsmitteln. Bis zur Verstaatlichung hatte die Albertsbahn AG für die Hänichener Kohlezweigbahn nur 290 Fünf-Tonnen-Hunte beschafft, was nie ausreichte. Das Problem verschärfte sich noch dadurch, dass der Hänichener Steinkohleverein als Hauptaktionär der Albertsbahn AG bei der Gestellung von Leerwagen bevorzugt wurde.
Ab dem 10. März 1857 bot die Albertsbahn an Sonntagen auch Ausflugsfahrten für die Öffentlichkeit an. Die unbequemen Kohlehunte erhielten dafür eine Ausstattung mit Bänken. In jener Zeit wurde der geradezu legendäre Ruf der Windbergbahn als Ausflugsbahn begründet.
Nach der Verstaatlichung
Die Konzession für die Albertsbahn war zunächst auf 20 Jahre bis 1873 ausgestellt gewesen. Nach dem Deutschen Krieg 1866 strebte der sächsische Staat eine Verstaatlichung seiner Eisenbahnen an. Mit der schon länger geplanten Strecke zwischen Freiberg und Tharandt sollte zudem die notwendige Verbindung zwischen den bislang getrennten Netzen der Östlichen und Westlichen Staatsbahn entstehen. Die Albertsbahn AG setzte diesen Plänen keinen Widerstand entgegen, waren doch die erhofften reichen Gewinne für die Aktionäre ausgeblieben. So ging die Albertsbahn AG am 1. Juli 1868 für 2.862.800 Taler in das Eigentum des sächsischen Staates über. Zum Zeitpunkt der Verstaatlichung standen auf der Hänichener Kohlezweigbahn fünf Lokomotiven und 290 Fünf-Tonnen-Hunte mit einem Nettoladegewicht von 1450 Tonnen im Einsatz.
Im Jahr 1869 wurde der Lückenschluss zwischen Tharandt und Freiberg in Regie der Königlich Sächsischen Staatseisenbahnen vollendet. Damit erschlossen sich neue Absatzgebiete für die am Windberg geförderte Steinkohle. Da ein Übergang der Fünf-Tonnen-Kohlehunte der Albertsbahn auf Staatsbahngleise nicht zugelassen war, errichtete man 1870 in Niedergittersee eine Umladeanlage. Für den Einsatz auf der Umladeanlage ließ die Staatsbahn 1873 nochmals 80 Kohlehunte in verbesserter Konstruktion herstellen, die unterflur entladen werden konnten.
In den nächsten Jahrzehnten sank die beförderte Tonnage erheblich. Bemerkenswert ist der Rückgang von 171.000 t im Jahr 1872 auf nur noch 137.000 t sechs Jahre später. Grund dafür war die zunehmende Erschöpfung der bauwürdigen Vorräte im Windberggebiet. Der einst bedeutende Windbergschacht wurde 1877 aufgegeben, kurz darauf der benachbarte Neuhoffnungsschacht. Die Hänichener Kohlezweigbahn erfuhr 1879 eine Abstufung zur Secundärbahn.
In den Jahren 1893/94 erfolgte ein Streckenausbau für größere Achslasten. Von nun an war neben dem Einsatz stärkerer Lokomotiven die Beförderung normaler Zehn-Tonnen-Güterwagen zugelassen. Trotzdem blieb ein Teil der nicht mehr zeitgemäßen Fünf-Tonnen-Hunte bis nach 1900 im Einsatz.
Die Verlängerung nach Possendorf
Um 1900 waren die Kohlevorkommen bei Hänichen erschöpft. Der Berglustschacht schloss 1905, die beiden anderen Schächte kurz darauf. Am 18. Mai 1906 wurde der Hänichener Steinkohlenbauverein aus dem Gewerberegister gestrichen. Nach der Entlassung der Belegschaften entstand in den Orten der Umgebung ein sozialer Notstand. In dieser Situation regte man erneut die Fortführung der Bahn bis Possendorf und den Ausbau zu einer dem öffentlichen Verkehr dienenden Linie an. Am 16. Dezember 1905 wurde der Ständekammer ein Dekret zum Ausbau der Kohlebahn vorgelegt. Noch vor Jahresende genehmigte der Landtag das Vorhaben. Das königliche Finanzamt bewilligte Anfang 1906 die erforderlichen Mittel von 490.000 Mark, und der Bau konnte beginnen.
Am 12. September 1907 begannen bei laufendem Betrieb die Umbauarbeiten. Neben der Verlängerung der Trasse bis Possendorf wurde der Oberbau der gesamten Strecke erneuert. Allerdings gelang es nicht, die vorhandenen engen Radien deutlich zu erweitern, da dies eine umfassende Neutrassierung erfordert hätte. So blieb etwa der 85-Meter-Radius des Gleises im Geiersgraben erhalten. Nach nur 100 Tagen Bauzeit war die umgebaute Strecke bis Hänichen-Goldene Höhe fertiggestellt. Mit einem Festzug wurde die Strecke am 21. Dezember 1907 für den öffentlichen Verkehr eröffnet.
Der Bau der Verlängerungsstrecke bis Possendorf dauerte indes noch weitere neun Monate. Am 30. September 1908 eröffnete der Possendorfer Bürgermeister den über einen Kilometer langen Neubauabschnitt. Am 1. Oktober 1908 begann der planmäßige Zugbetrieb in der Relation Dresden–Possendorf.
Die neue Verbindung entwickelte sich in kürzester Zeit zu einer der wichtigsten Ausflugsbahnen Sachsens. Dem wurde noch vor dem Ersten Weltkrieg mit der Entwicklung leistungsstarker Lokomotiven und entsprechender Aussichtswagen entsprochen.
Im Betrieb der Deutschen Reichsbahn bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges
Nach dem Ersten Weltkrieg – am 1. April 1920 – gingen die Königlich Sächsischen Staatseisenbahnen in der neugegründeten Deutschen Reichsbahn auf. Die Windbergbahn gehörte nun zum Netz der Reichsbahndirektion Dresden.
Der Kohletransport verringerte sich in den folgenden Jahren mit der Erschöpfung der Vorräte immer mehr. Die letzten beiden aktiven Schächte des Windberggebietes stellten 1930 ihre Förderung ein. Von nun an sank die Verkehrsleistung auf der Windbergbahn auf ein Minimum. Im Berufsverkehr verlor die Windbergbahn viele Reisende an den 1919 eingerichteten Linienbusverkehr auf der heutigen Bundesstraße 170. Unverändert bedeutsam blieb dagegen der Ausflugsverkehr an Sonntagen.
Ab 1933 versuchte die Deutsche Reichsbahn den Reisezugverkehr in Tagesrandlagen mit modernen Verbrennungstriebwagen rationeller zu gestalten. Sie stellte jedoch Mitte 1934 die Triebwageneinsätze aus unbekannten Gründen wieder ein.
Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde der Ausflugsverkehr eingeschränkt, 1943 entfielen die sonntäglichen Ausflugszüge gänzlich. Der Fahrplan 1944 wies schließlich nur noch zwei Zugpaare an Werktagen aus. Sonntags war der Verkehr eingestellt.
Am 24. August 1944 erfolgte erstmals ein Luftangriff auf die Industrieanlagen um Dresden. Vorrangiges Ziel des Bombenangriffs war das in Freital-Birkigt gelegene Mineralölwerk der Rhenania-Ossag, das allerdings verfehlt wurde. Umso schwerer waren die Zerstörungen an der umliegenden Wohnbebauung, was viele Todesopfer in der Zivilbevölkerung forderte. Der Bahnhof Freital-Birkigt erlitt ebenfalls erhebliche Beschädigungen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde der Verkehr auf der Windbergbahn am 14. Mai 1945 wieder aufgenommen. Personenzüge verkehrten allerdings fortan fast ausschließlich für den Berufsverkehr. Sonntags fuhr nur ein einziges Reisezugpaar.
In der Nachkriegszeit fiel der nur schwach ausgelastete Abschnitt zwischen Kleinnaundorf und Possendorf den Maßnahmen zur Oberbaustoffgewinnung für den Berliner Außenring zum Opfer. Der Streckenabschnitt wurde am 20. April 1951 stillgelegt und binnen einer Woche abgebaut. Die ausgebauten Schienen des Profils S33 nutzte man wenig später für den Umbau der Bahnstrecke Frose–Quedlinburg, um deren stärkere Schienen des Profils S49 gewinnen zu können.
Als Erzbahn im Dienst der SDAG Wismut
Das sowjetische Bergbauunternehmen Wismut AG (ab 1954: SDAG Wismut), das an der Bahnstrecke unter dem Namen Wismut Objekt 06/15/49 Urangewinnung betrieb, errichtete 1952 in Coschütz eine Erzaufbereitungsanlage und reicherte dort die in Sachsen und Thüringen geförderten Uranerze für den Transport in die Sowjetunion an. Von nun an nahm der Güterverkehr auf der Windbergbahn auf enorme Weise zu. Problematisch war in dem Zusammenhang die nun vorrangig bergwärtige Lastrichtung. Die aus dem Westerzgebirge in Freital-Potschappel eintreffenden Erzzüge wurden in Freital-Birkigt geteilt und dann mit je zwei der betagten Windbergbahnlokomotiven bergwärts befördert.
In den Jahren 1951 und 1952 teufte zudem der VEB Steinkohlenwerk Freital am Bahnhof Gittersee zwei neue Schächte ab. Das Steinkohlen-Bergwerk nahm 1956 seinen Betrieb auf. Damit stieg der Güterverkehr auf der Windbergbahn noch weiter an.
Die Reichsbahndirektion Dresden beantragte deshalb 1957 beim Verkehrsministerium die Einstellung des Personenverkehrs, um fortan sämtliche Strecken- und Fahrzeugkapazitäten für den Uranerzverkehr zur Verfügung zu haben. Am 9. November 1957 fuhren schließlich die letzten Reisezüge auf dem verbliebenen Abschnitt zwischen Dresden und Kleinnaundorf. In den folgenden Jahren wurde die nun militärisch wichtige Strecke zunehmend in die Vergessenheit gedrängt.
Die Erzwäsche schloss 1965. Von nun an lag die vorrangige Lastrichtung wieder talwärts. Haupttransportgut war nun die in Gittersee geförderte Steinkohle. Ab 1968 übernahm die SDAG Wismut die Schächte zur Förderung von uranhaltiger Steinkohle. Die Erzkohle wurde in Ganzzügen nach den Aufbereitungsbetrieben in Crossen und Seelingstädt gebracht. Auf dem Gelände der Erzwäsche entstand Ende der 1960er Jahre ein Pneumant-Reifenwerk, das fortan zu einem weiteren wichtigen Güterkunden avancierte. Der verbliebene Güterverkehr bis Kleinnaundorf endete 1967. Studenten bauten das Streckengleis Dresden-Gittersee–Kleinnaundorf von 1972 bis 1974 im Rahmen von FDJ-Studentensommern ab.
Am 8. März 1979 stellte der Dresdner Professor Hans-Ullrich Sandig einen Antrag auf Denkmalschutz für die Windbergbahn. Am 10. April 1980 fand die Gesamtstrecke bis Possendorf als eine der ersten Eisenbahnstrecken auf dem Gebiet der DDR Aufnahme in die Kreisdenkmalliste.
Am 20. Juli 1980 gründete sich im Rahmen des Deutschen Modelleisenbahnverbandes (DMV) die „AG Windbergbahn“. Deren Mitglieder betreuten den Bahnhof Dresden-Gittersee und retteten ihn vor dem Verfall. Zwischen 1980 und 1985 restaurierten sie das Stationsgebäude, das sich wieder im Originalzustand von 1916 zeigt, und richteten darin 1988 eine Ausstellung zur Geschichte der Windbergbahn ein. Von nun an rückte die Strecke langsam wieder ins Blickfeld der Öffentlichkeit.
Aufgrund der Erschöpfung der Lagerstätte war die Stilllegung der Wismut-Schächte in Dresden-Gittersee im Jahr 1989 vorgesehen. Um den Bergleuten des Bergbaubetriebs „Willi Agatz“ eine Zukunftsperspektive zu geben beschloss das Politbüro der DDR im Mai 1987 die Ansiedlung eines Betriebes zur Herstellung von Reinstsilizium, welches Basis in der Halbleiter- und Computerindustrie ist. Der benötigte hochentzündliche Grundstoff Trichlorsilan (TCS) sollte vom Chemiewerk Nünchritz bei Riesa per Bahn über die Gleise der Windbergbahn angeliefert werden. Am 3. November 1989 kam mit der Wende in der DDR der Baustopp.
Am 30. Dezember 1993 endete schließlich der zuletzt noch für einige Anschließer im Gewerbegebiet Coschütz/Gittersee ausgeführte Güterverkehr.
Neue Perspektiven als Museumsbahn
Nach der politischen Wende im Osten Deutschlands 1989/90 entstand aus der AG Windbergbahn der Sächsische Museumsbahn Verein Windbergbahn e. V., der im Sommer 1991 ins Vereinsregister eingetragen wurde. Bereits ab dem 19. Mai 1991 organisierte er Sonderfahrten – die ersten Fahrten von Personenzügen auf der Windbergbahn seit 1957 – zwischen Dresden Hbf und Dresden-Gittersee. Seit im Dezember 1993 der Güterverkehr auf der Strecke eingestellt worden war, ist der Verein alleiniger Nutzer. Im Zuge der mehrmals jährlich durchgeführten Sonderfahrten war auf der Strecke auch der letzte erhaltene Windberg-Aussichtswagen unterwegs, der nach 14-jähriger Instandsetzung im September 1997 erstmals wieder Teil eines Personenzuges war. Ein Jahr danach, im November 1998, musste die Strecke wegen Schäden am Oberbau gesperrt werden. Fahrten waren seither nur im Bahnhofsbereich von Dresden-Gittersee möglich.
Eine Zäsur war der nach 1997 geplante Ausbau der Strecke Dresden–Werdau. Um den kostenintensiven Neubau des Abzweigs einzusparen, strebte die Deutsche Bahn AG eine Stilllegung der Windbergbahn an. Am 2. Mai 2002 lehnte das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) den Antrag zur Stilllegung der Strecke ab. Die Behörde begründete ihren Bescheid damit, dass . Der Rechtsstreit mit dem EBA endete erst am 2. November 2006 mit einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Dresden. Die DB AG zog ihren Einspruch im Lauf der Verhandlung zurück; der Bescheid des EBA erreichte damit Rechtskraft.
Daraufhin wurde die Strecke von der DBAG zur Abgabe an ein privates Infrastrukturunternehmen ausgeschrieben. Als Kaufpreis forderte der Eisenbahnkonzern 113.000 Euro, zuzüglich 11.000 Euro jährlich für den Betrieb der Anschlussweiche in Freital Ost. Ein Käufer fand sich bis zum Ende der Angebotsfrist am 23. Februar 2006 allerdings nicht.
Nach der Gründung des Verkehrsverbundes Oberelbe (VVO) im Jahr 1998 wurde der historisch für die Windbergbahn verbürgte Name Sächsische Semmeringbahn zur Vermarktung der Sebnitztalbahn in der Sächsischen Schweiz genutzt. Nachfolgend ließ sich der Windbergbahn e. V. im Jahr 2006 den Namen Sächsische Semmeringbahn beim Deutschen Patent- und Markenamt als Wortmarke schützen. Seitdem ist die kommerzielle Verwendung des Namens nur noch für die Windbergbahn zulässig. Für dieses Vorgehen kritisierten regionale Medien und die Öffentlichkeit, aber auch der VVO den Windbergbahnverein scharf. Die Sebnitztalbahn wird unter dem Namen Sächsisch-Böhmische Semmeringbahn vermarktet.
Nachdem von Seiten einiger Kommunalpolitiker in Freital die Errichtung eines Radweges auf der Bahntrasse gefordert worden war, startete der Verein am 25. Mai 2008 eine Unterschriftensammlung für den Erhalt der Windbergbahn. Am 4. Dezember 2008 wurden die gesammelten 4743 Unterschriften dem Freitaler Stadtrat übergeben.
Am 22. Dezember 2008 unterzeichneten die DB Netz AG und der Windbergbahn e. V. einen Pachtvertrag für die Eisenbahnstrecke Freital Ost–Dresden-Gittersee mit einer Laufzeit von 20 Jahren. Am 20. Oktober 2010 erhielt der Windbergbahn e. V. vom Sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr die „Genehmigung zum Betreiben einer Eisenbahninfrastruktur“ für einen Zeitraum von 50 Jahren.
Im Jahr 2011 begannen die nötigen Gleisbauarbeiten. Der Wiedereinbau der Abzweigweiche in Freital Ost ist in nächster Zeit vorgesehen, so dass wieder direkte Zugläufe zwischen Dresden Hbf und Gittersee möglich werden. Langfristig soll die Strecke nach Möglichkeit bis zum Haltepunkt Boderitz-Cunnersdorf (Marienschacht) wieder aufgebaut werden.
Im Rahmen des 5. Gitterseer Bahnhofsfests konnten im September 2012 erstmals nach 14 Jahren wieder Sonderfahrten mit Fahrgästen durchgeführt werden. Dafür wurde der „Wernesgrüner Schienenexpress“ des Fördervereins Historische Westsächsische Eisenbahnen e. V. ausgeliehen.
Nach umfangreichen Gleisbauarbeiten konnten am 31. August 2019 nach längerer Pause wieder öffentliche Fahrten durchgeführt werden. Zum Einsatz kam dabei der Windbergaussichtswagen zusammen mit den beiden vereinseigenen Diesellokomotiven. Wegen weiterhin vorhandener Oberbauschäden wurden jedoch nur etwa 1,5 Kilometer ab dem Bahnhof Gittersee befahren.
Die Streckeninstandsetzungsarbeiten werden abschnittsweise fortgesetzt. Seit 2. September 2020 sind Sonderfahrten bis zum Kilometer 3,55 genehmigt. Anschließend wurden bei Kilometer 3,0 rund 60 Meter Gleis und der Haltepunkt „Leisnitz / Schloss Burgk“ neu gestaltet, nach Abnahme erfolgte am 26. Mai 2021 mit geladenen Gästen die erste Fahrt bis zum Haltepunkt. Ziel des Vereins ist, bis zur Station Freital-Birkigt (Kilometer 0,4) zu fahren.
Streckenbeschreibung
Verlauf
Der Beginn der Windbergbahn befindet sich unmittelbar an der Stadtgrenze zwischen Dresden und Freital, am Kilometer 5,717 der Bahnstrecke Dresden–Werdau. Direkt am Abzweig liegen die ehemaligen Anlagen des Güterbahnhofes Freital Ost mit dem Haltepunkt Freital-Birkigt. Nach dem Haltepunkt beginnt in einem Linksbogen die fünf Kilometer lange, durchschnittlich 25 ‰ steile Rampe bis zum Bahnhof Dresden-Gittersee. In etlichen Kehren führt das Gleis nun durch den Freitaler Stadtteil Birkigt bergwärts. Im Geiersgraben befindet sich in einem Rechtsbogen mit 85 Metern Halbmesser der engste Radius der Strecke.
Nach dem Bahnhof Dresden-Gittersee erreicht die Trasse noch weiter ansteigend das Windbergplateau. Im weiteren Verlauf führte das Gleis ohne größere Neigungen in Sichtweite der historischen Kohlenstraße über Kleinnaundorf und Bannewitz nach Hänichen. Das letzte Stück bis Possendorf lag in leichtem Gefälle parallel zur heutigen Bundesstraße 170 (Dresden–Zinnwald), die kurz vor dem Endpunkt niveaugleich überquert wurde.
Betriebsstellen
Abzw Freital-Ost
An der ehemaligen Blockstelle Abzweig Freital-Ost der Bahnstrecke Dresden–Werdau beginnt die Windbergbahn. Ab 1912 zweigte die Strecke nach rechts parallel zum Güterzuggleis nach Tharandt aus der Hauptbahn ab und unterquerte diese dann im sogenannten Höllenmaul. Eine weitere Gleisverbindung zum Bahnhof Freital Ost diente nur dem Güterverkehr. Die Deutsche Reichsbahn baute 1946 beide Abzweiggleise als Reparationsleistung für die Sowjetunion ab. Sämtliche Zugfahrten fanden nun über das Gleis 1 statt, das ursprünglich als separates Verbindungsgleis zum Bahnhof Freital-Potschappel errichtet worden war. Das Höllenmaul wurde 1984 verfüllt und beim Streckenausbau auf der Bahnstrecke Dresden–Werdau im Jahr 2003 gänzlich abgerissen. Seit 2003 besteht am Abzweig Freital-Ost keine Abzweigweiche mehr.
Freital-Ost Güteranlage
Der Bahnhof Freital-Ost befand sich unmittelbar an der Abzweigstelle von der Hauptbahn Dresden-Werdau. Er diente stets nur dem Güterverkehr, der Personenverkehr nutzte den benachbarten Haltepunkt Freital-Birkigt. In seinen Ursprüngen geht der Bahnhof auf die Umladestation Niedergittersee zurück, wo die Kohle von den Zweigbahnwagen auf Wagen der Staatsbahn umgeladen wurde. In Freital Ost begann das Anschlussgleis der Weizenmühle im Plauenschen Grund. Mit der Einstellung des Güterverkehrs 1993 wurden die Anlagen aufgelassen und später teilweise zurückgebaut. Im Infrastrukturregister der DB Netz AG wird der Bahnhof als Freital Ost Güteranlage bezeichnet.
Freital-Birkigt
Der 1907 eingerichtete Personenhaltepunkt Freital-Birkigt (ehemaliger Haltepunkt Potschappel-Birkigt) befindet sich am Gleisbogen zwischen dem ehemaligen Höllenmaul und dem Bahnübergang Coschützer Straße. Seine Bedeutung lag vor allem im Berufsverkehr zu den umliegenden Fabriken.
Das Wasserstationsgebäude wurde am 24. August 1944 bei einem Luftangriff schwer beschädigt und später in veränderter Form wieder aufgebaut. Die Anlagen sind bis auf das durchgehende Streckengleis zurückgebaut.
Dresden-Gittersee
Der Bahnhof Dresden-Gittersee (ehemals Obergittersee) war in den letzten Jahren die wichtigste Betriebsstelle der Windbergbahn. Am Bahnhof befand sich ab 1951 die Schachtanlage „Willy Agatz“ der SDAG Wismut, die bis 1990 für einen regen Güterverkehr sorgte. Zudem existierte noch eine weitere Anschlussgleisanlage zum VEB Reifenwerk Dresden. Die Gleise und Hochbauten des Bahnhofes sind noch im ursprünglichen Zustand erhalten. Im Dienstgebäude befindet sich seit 1988 das Museum zur Geschichte der Windbergbahn.
Derzeit wird das gesamte Areal durch den Windbergbahn e. V. zu einem Museumsbahnhof umgestaltet. Mittelfristig ist etwa der Wiederaufbau des Abortgebäudes („Freiabtritt“) an historischer Stelle und die Erneuerung der Bahnhofsbeleuchtung mit Pilzleuchten vorgesehen.
Der Bahnhof wurde am 13. Juni 2000 als Kulturdenkmal eingestuft.
Abzw Kleinnaundorf Po77
Der Abzweig Kleinnaundorf Posten 77 (ehemals Wechselstelle 77) war Ausgangspunkt der Windbergzweigbahn zu den Schächten auf dem Windbergplateau. Das einstige Postenhaus ist erhalten und dient Wohnzwecken.
Kleinnaundorf
Der Haltepunkt Kleinnaundorf liegt am stillgelegten Abschnitt. Direkt am Haltepunkt begann die Anschlussbahn des Glück-Auf-Schachtes. Bedeutung hatte Kleinnaundorf darüber hinaus für den Reiseverkehr. Um 1972 wurden die Gleisanlagen der Betriebsstelle abgebaut.
Das Gelände des Haltepunktes ist mit einer Garagenanlage überbaut. Der Windbergbahn e. V. richtete das kleine Dienstgebäude der Haltestelle in den 1980er Jahren wieder originalgetreu her. Das Dienstgebäude und das ebenfalls erhaltene Toilettengebäude stehen unter Denkmalschutz. Am 25. Oktober 2012 übergab der Windbergbahn e. V. die Nutzung des gesamten Areales an den Verein G-Haus Kleinnaundorf.
Cunnersdorf (b Freital)
Petitionen der Gemeindevertreter von Neubannewitz, Boderitz und Cunnersdorf bewirkten erst 1908 die Einrichtung des Haltepunkts Cunnersdorf (b Freital) (ehem. Boderitz-Cunnersdorf). Der Haltepunkt diente vor allem dem Berufsverkehr des nahegelegenen Marienschachtes. Darüber hinaus war an Sonn- und Feiertagen auch ein reger Ausflugsverkehr zu verzeichnen, befand sich doch in der Nähe das bekannte Tanz- und Ausflugslokal „Zur Prinzenhöhe“. Das kleine, hölzerne Stationsgebäude wurde 1923 vom alten Haltepunkt Dresden-Plauen der Bahnstrecke Dresden–Werdau umgesetzt. Im Jahr 2010 gelang die denkmalgerechte Instandsetzung mit finanzieller Hilfe eines Sponsors.
Bannewitz
Der Bahnhof Bannewitz war vor dem Zweiten Weltkrieg der betriebliche und verkehrliche Mittelpunkt der Windbergbahn. Nach der Stilllegung der Strecke 1951 übernahm der VEB Kompressorenbau Bannewitz das Gelände, der nach und nach sämtliche Hochbauten abreißen ließ. Zuletzt verschwand 1993 der denkmalgeschützte Güterboden.
Hänichen-Goldene Höhe
Der Bahnhof Hänichen-Goldene Höhe war früher die wichtigste Station im Ausflugsverkehr. Mit der Goldenen Höhe befand sich ein damals bedeutendes Ausflugsziel mit Ausflugsgaststätte in der Nähe. Darüber hinaus wies Hänichen-Goldene Höhe einen regen Stückgutverkehr auf. Das Stationsgebäude diente nach der Stilllegung u. a. als Kindergarten und Stützpunkt der Straßenmeisterei. Das gesamte Areal wurde im Jahr 2010 durch die Gemeinde Bannewitz saniert.
Possendorf
Zur Errichtung des Bahnhofs Possendorf kam es erst 1908 im Zuge der Streckenverlängerung. Neben dem Ausflugsverkehr war in Possendorf ein reger Güterverkehr zu verzeichnen. Umgeschlagen wurden neben den landwirtschaftlichen Produkten der Region Kohlen, Düngemittel und Baumaterialien.
Nach der Streckenstilllegung zog die Possendorfer Kindertagesstätte ins Empfangsgebäude ein. Die ehemaligen Güterverkehrsanlagen nahm ein Agrochemisches Zentrum ein, dessen Nachfolgefirmen das Gelände noch nutzen. Von den Hochbauten des Bahnhofes ist nur noch das Empfangsgebäude erhalten, der zweiständige Lokschuppen wurde 1972 abgerissen. Seit Dezember 2010 steht ein Personenwagen auf einem Gleisstück, der als Werbeträger für das technische Denkmal Windbergbahn dient.
Zweigbahnen und Anschlussgleise
Weizenmühle Plauenscher Grund
Die Anschlussbahn zur Weizenmühle im Plauenschen Grund zweigte direkt am Bahnhof Freital Ost ab. Das noch bis Anfang der 1990er Jahre bediente Anschlussgleis wurde nach dem Hochwasser 2002 im Zusammenhang mit dem Neuaufbau der Hauptbahn Dresden–Werdau abgebaut.
Elektrizitätswerk Coschütz
Das Elektrizitätswerk Coschütz entstand 1899 auf dem Grundstück einer früheren Wassermühle an der Flurgrenze zwischen Coschütz und Birkigt. Es versorgte neben Coschütz auch die Dresdner Vorstadt Naußlitz, die Orte Birkigt, Boderitz, Cunnersdorf, Dölzschen, Gittersee, Groß- und Kleinburgk, Kleinnaundorf, Zschiedge sowie die Rittergüter in Burgk und Cunnersdorf mit elektrischer Energie. 1937 wurde der Betrieb eingestellt. Die kurze Anschlussbahn bestand seit 1906. Am 1. August 1955 wurde sie abgebaut.
Ziegelwerk Birkigt / Maschinenfabrik Hänsel
Als man 1861 den Bahnkörper der Moritzschacht-Zweigbahn abtrug, stieß man auf die Ursache für die dortigen Dammwanderungen. Der freigelegte Lehm war später die Grundlage für die Produktion einer Ziegelei, die ab 1890 anstelle des Schachtes aufgebaut wurde. Die Ziegelei errichtete 1894 auf eigene Kosten ein Anschlussgleis. Als der Lehm zunehmend Beimengungen von Salpeter aufwies, stellte die Ziegelei 1915 ihren Betrieb ein. Nachnutzer des Geländes war die Maschinenfabrik Otto Hänsel, die den Anschluss am 30. September 1969 kündigte.
Fördertechnik Freital
Die beiden gegenüberliegenden Anschlussbahnen der beiden Betriebsteile des VEB Fördertechnik Freital (ehemals bahnrechts Möbelfabrik Anton Schega sowie bahnlinks Mühlenbau-Anstalt Gebrüder Bühler) bestanden bereits vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Anschlussweichen im Streckengleis wurden 2011 nach Aufgabe des Fertigungsstandortes durch den Windbergbahnverein ausgebaut.
Moritzschacht
Der Moritzschacht des Gitterseer Steinkohlenbauvereins war 1836 geteuft worden und förderte bis zum Konkurs des Unternehmens im Jahr 1859. Das seit dem 1. Juli 1867 bestehende Zweiggleis begann am Streckenkilometer 1,4. Dessen Bau verursachte enorme Kosten, da kein tragfähiger Untergrund vorhanden war. Es wurde bereits am 10. Juli 1861 mit der Verfüllung des Schachtes wieder aufgelassen. Zehn Tage später war es abgetragen. Bestehen blieb das bergwärtige Anschlussgleis. Der Damm ist noch teilweise erhalten.
Meiselschacht
Wie der Moritzschacht gehörte der 1828 abgeteufte Meiselschacht in Obergittersee zum Gitterseer Steinkohlenbauverein. Die kurze, bereits 1859 wieder abgebrochene Zweigbahn, führte zu zwei Laderampen. Sie umfasste 550 Meter Gleis mit vier Weichen.
Bergbaubetrieb „Willy Agatz“
Die Anschlussgleisanlage zum Schacht des Bergbaubetriebs „Willy Agatz“ wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg direkt am Bahnhof Dresden-Gittersee eingerichtet. Nach dem Bau einer Uranerzaufbereitungsanlage avancierte der Anschluss zur wichtigsten Güterverkehrsstelle der Windbergbahn. Mehrmals täglich endeten hier Ganzzüge mit Uranerz.
Nach der Stilllegung der Aufbereitungsanlage blieb der nunmehrige Wismutschacht der wichtigste Güterkunde der Strecke. Auf dem Gelände der Aufbereitungsanlage siedelten sich später der VEB Reifenwerk, der VEB Polypack und der VEB Fettchemie an. Der Anschluss wurde Ende 1993 aufgelassen und später durch den Windbergbahnverein abgebaut.
Reiboldschacht
Der Reiboldschacht war 1828 abgeteuft worden und gehörte dem Potschappler Aktienverein. Im Jahr 1871 wurde der Abbau nach Erschöpfung der Vorräte eingestellt und die Zweigbahn 1872 abgebrochen.
Windberg-Zweigbahn (Zweigbahnen GHW und GHS)
Die Windberg-Zweigbahn begann auf freier Strecke am Abzweig Posten 77. Sie führte zu den Schächten der Freiherrlich von Burgker Steinkohlen- und Eisenhüttenwerke, Neuhoffnungsschacht und Segen-Gottes-Schacht sowie auf das Windbergplateau zum Windbergschacht des Potschappler Aktienvereins. Die Trasse ist zur Gänze erhalten, teilweise wird sie als Fahrweg oder Wanderweg genutzt. Bemerkenswert war eine sieben Meter lange hölzerne Brücke über einen öffentlichen Weg am Neuhoffnungsschacht, von der noch das östliche Widerlager erhalten ist.
Glückauf-Schacht
Der Glückauf-Schacht wurde 1867 abgeteuft. Die auf Kosten der Freiherrlich von Burgker Steinkohlen- und Eisenhüttenwerke errichteten Anschlussbahn wurde 1875 in Betrieb genommen. Sie begann unmittelbar am Haltepunkt Kleinnaundorf und führte dann stetig ansteigend bis zum Schachtgelände. Sie diente bis zur Stilllegung der Grube 1930 dem Kohleversand. Die Bahnstrecke wurde anschließend zur Versorgung der im Schachtgelände befindlichen Brikettfabrik mit Feinsteinkohle des Königin-Carola-Schachtes der Aktiengesellschaft Sächsische Werke genutzt. Am 27. Juli 1942 übertrug die Verwaltung der Burgker Werke das Gelände an die hier angesiedelte Dresdner Mineralölproduktengesellschaft „Kontak“ GmbH. Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzten die Nachfolgefirma VEB Tankholzwerk und weitere sieben Anschließer das Anschlussgleis weiter. Die DR kündigte es am 19. August 1967 und ließ es kurze Zeit später abbauen.
Steinbruch Thürk
Der Anschluss Steinbruch Thürk bestand ab 1859. Der Steinbruch lieferte für den Bahnbau Schotter und versandte diesen schon von Beginn an in normalen Zehn-Tonnen-Güterwagen. Der Anschluss wurde 1884/85 aufgelassen.
Marienschacht
Der 1893 in Betrieb genommene Marienschacht der Freiherrlich von Burgker Steinkohlen- und Eisenhüttenwerke war der jüngste Schacht im Windberggebiet. Er befand sich unmittelbar am Gleis der Windbergbahn bei Neubannewitz. Ein Anschlussgleis bestand seit 1898. Der Schacht förderte bis zum 11. April 1930.
Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzten der VEB Steinkohlenwerk Freital und die SDAG Wismut den Marienschacht als Betriebsschacht weiter. Das erhaltene Schachtgebäude mit dem markanten Malakoff-Förderturm steht unter Denkmalschutz.
Beckerschacht und Berglustschacht
Die Schachtanlagen des Hänichener Steinkohlenbauvereins Beckerschacht und Berglustschacht in Hänichen und der benachbarte Beharrlichkeitsschacht in Rippien waren der ursprüngliche Grund für den Bau der Hänichener Kohlezweigbahn gewesen. Im Berglustschacht befand sich bei Kilometer 12,478 das nominelle Streckenende der Hänichener Kohlezweigbahn.
Zweigbahn GHR (Beharrlichkeitsschacht)
Die etwa einen Kilometer lange Zweigbahn bestand seit der Streckeneröffnung. Sie begann kurz vor dem Streckenendpunkt am Berglustschacht und führte zum Beharrlichkeitsschacht in Rippien. Nach der Stilllegung der Zeche erfolgte 1907 der Gleisabbruch.
Zweigbahn GHP (Hermannschacht)
Zum Hermannschacht des Dresden-Possendorfer Aktienvereins in Possendorf führte ab 1862 eine privat finanzierte, zwei Kilometer lange Zweigbahn. Sie begann am Gleisende des Berglustschachtes. Die Strecke war bis zur Stilllegung des Hermannschachtes 1868 in Betrieb, dann wurde sie abgebaut. Ab 1908 nutzte man die ersten 200 Meter der alten Trasse für die Streckenverlängerung der Windbergbahn nach Possendorf. Ab dem Kilometer 12,7 wurde der Trassenverlauf geändert. Die alte Trasse ist bis zur B 170 noch vorhanden.
Zweigbahn Dippoldschacht
Zum Anschluss des Dippoldschachtes des Golberoder-Dippoldiswalder Aktienvereins war eine private Zweigplan geplant. Die etwa 880 Meter lange Bahn sollte etwa beim Kilometer 1,75 der Hermannschachtbahn abzweigen. Aufgrund der Einstellung des Grubenbetriebes kam der Plan nicht zur Ausführung.
Kunstbauten
Der Bau von Viadukten und Tunneln konnte dank der gut an die Geländeform angepassten Trassierung vermieden werden. Nötig war nur der Bau von mehreren kleinen, durchweg aus Sandstein gemauerten Durchlässen. Sie sind zum Teil noch erhalten und für den heutigen Bahnverkehr tragfähig. Die größten Brücken sind die jeweils 18 m langen Überführungen über die Coschützer Straße in Freital-Birkigt und über die Karlsruher Straße in Dresden-Gittersee. Insgesamt bestanden einst 21 Brücken und Durchlässe.
Fahrzeugeinsatz
Wegen des 85-Meter-Bogens im Geiersgraben bestehen für den Fahrzeugeinsatz auf der Windbergbahn besondere Beschränkungen. So dürfen starrachsige Fahrzeuge – unabhängig davon, ob es sich um Lokomotiven oder Wagen handelt – nur bis zu einem Achsstand von 3,00 m eingesetzt werden. Fahrzeuge mit Lenkachsen können dagegen einen Achsstand von 4,50 m haben. Wagen mit Drehgestellen waren bis zu einem Drehzapfenabstand von 8,00 m und 2,60 m Überhang bis zur Pufferebene zugelassen.
Lokomotiven und Triebwagen
Die Albertsbahn AG beschaffte ab 1856 speziell für den Einsatz auf der Hänichener Kohlezweigbahn fünf Lokomotiven von Hartmann in Chemnitz. Sie erhielten die Namen ELBE, WINDBERG, STEIGER, FREIBERG und BURGK. Durch ihre Konstruktion mit voranlaufendem Drehgestell waren sie für den Verkehr auf den engen Radien der Kohlebahn gut geeignet. Nach der Verstaatlichung der Albertsbahn AG gelangten alle fünf Lokomotiven noch in den Bestand der Kgl. Sächsischen Staatseisenbahnen, wo sie fortan in die Gattung H VIIIb T eingeordnet waren. In den Jahren 1885 bis 1893 wurden sie ausgemustert.
Als Ablösung der alten Lokomotiven der Albertsbahn kamen die zweifachgekuppelten Tenderlokomotiven der Gattung VII T zur Hänichener Kohlezweigbahn. Bis zum Ersten Weltkrieg bewältigten die VII T den Gesamtverkehr. Nachgewiesen sind insgesamt 19 verschiedene Lokomotiven, die seinerzeit auf der Windbergbahn zum Einsatz kamen. Die 1886 bei der Sächsischen Maschinenfabrik in Chemnitz gebaute HEGEL blieb erhalten und gehört als nicht betriebsfähige Museumslokomotive zum Bestand des Verkehrsmuseums Dresden.
Um 1900 erprobte man die Gattung sä. M I TV. Ein planmäßiger Einsatz erfolgte jedoch nicht.
In den Jahren 1910 bis 1914 wurden stattdessen die speziell für die Windbergbahn konstruierten Lokomotiven der Gattung I TV in Dienst gestellt. Sie waren wie die M I TV als Drehgestelllokomotiven der Bauart Meyer ausgeführt. Als konstruktives Vorbild hatten dabei vor allem die Schmalspurlokomotiven der Gattung IV K gedient, die sich im Einsatz auf den kurvenreichen Schmalspurbahnen Sachsens gut bewährten. Die Deutsche Reichsbahn ordnete die Lokomotiven ab 1925 in die Baureihe 98.0 ein. Bis Mitte der 1960er Jahre bewältigten die Lokomotiven den Gesamtverkehr der Windbergbahn, bis Diesellokomotiven sie ablösten. Die 98 001 (ex I TV 1394) blieb erhalten und gehört als nicht betriebsfähige Museumslokomotive zum Bestand des Verkehrsmuseums Dresden. Sie befindet sich als Leihgabe im Sächsischen Industriemuseum in Chemnitz.
Vom 4. bis 9. Januar 1934 verkehrte versuchsweise der vierachsige Verbrennungstriebwagen 766 zusammen mit einem zweiachsigen Beiwagen (Nummernbereich 140 001ff).
Diesellokomotiven der DR-Baureihe V 60 (später Baureihe 106, heute 346) mit Spurkranzschmierung lösten Ende der 1960er Jahre die verschlissenen Dampflokomotiven ab. Sie bewältigten bis 1993 den Gesamtverkehr.
Wagen
Güterwagen
Als Vorbild für die Kohlewagen hatten Brescius’ belgische Kohlehunte mit drei Tonnen Tragfähigkeit gedient. Die Wagen der Albertsbahn AG hatten fünf Tonnen Tragfähigkeit und waren als Holzkonstruktion ausgeführt. Die verlängerten Längsträger dienten gleichzeitig als ungefederte Puffer. Eine einfache Kupplung mit Haken und Hakenbügel fungierte als Zugvorrichtung, die mit normalen Staatsbahnwagen kompatibel war. Zunächst baute die Dresdner Firma Schrumpf & Thomas, später die Firma Lüders in Görlitz die Wagen. Die 34 Wagen der ersten Lieferung waren nur von Hand entladbar, dazu besaßen sie abnehmbare Seitenwände. Alle weiteren 256 Wagen waren mit einem Klappboden zur Schwergewichtsentladung ausgestattet.
Als Nachfolger der Kohlehunte kamen ab der Jahrhundertwende normale Güterwagen der Staatsbahn zum Einsatz, welche die geforderte Bogenläufigkeit aufwiesen. Eine besondere Situation entstand erst ab den 1960er Jahren, als das Reifenwerk Coschütz immer mehr Wagen fremder Bahnen im Eingang erhielt. Mit einer Sondergenehmigung durften deshalb ab 1965 auch zweiachsige Wagen mit einem Achsstand zwischen 4500 und 6500 Millimetern befördert werden, wenn sie mit besonderen, in die Zughaken einzuhängenden Kuppelstangen am Zugschluss eingereiht waren. Zulässig waren zwei derartig gekuppelte Wagen pro Zug. Problematisch waren Wagen mit Puffertellern kleiner als 450 mm. Um Überpufferungen zu vermeiden, erhielten sie für die Fahrt auf der Windbergbahn ab 1971 Behelfspufferteller entsprechender Größe aufgeschraubt.
Reisezugwagen
In den ersten Jahren des Personenverkehrs kamen zunächst schon vorhandene Reisezugwagen zum Einsatz, die mit ihrem kurzen Achsstand auf der Windbergbahn eingesetzt werden konnten. Es handelte sich dabei fast durchweg um Abteilwagen, die zum Teil schon 35 Jahre alt und mit ihren kleinen Fenstern nicht mehr zeitgemäß waren. Ab 1910 liefen auf der Windbergbahn erstmals zwei offene, mit einem Dach versehene Aussichtswagen, die aus zwei alten Abteilwagen umgebaut worden waren.
Erst 1911 kam eine gänzlich neue Wagengeneration zum Einsatz, die als Windbergaussichtswagen bekannt geworden ist. Die Waggon- und Maschinenfabrik in Bautzen baute vier Exemplare der neuen Wagen speziell für die Windbergbahn. Neuartig waren die breiten Fenster und verglaste Aussichtsplattformen. Einer dieser Wagen blieb erhalten. Er befindet sich als betriebsfähiger Museumswagen im Besitz des Windbergbahn e. V.
In den 1930er Jahren wurden die letzten für Reservezwecke noch vorhandenen Abteilwagen endgültig ausgemustert. Daher musste Ersatz beschafft werden, da die vorhandenen Aussichtswagen nicht immer ausreichten. Es gab aber keine geeigneten modernen Wagen, da diese alle zu lang waren. Neue Wagen wollte man nicht bauen lassen, also wurde bei einigen Abteilwagen der Bauart C Sa 95 (sä Gattung 156) das Laufwerk angepasst. Der Achsstand wurde auf 4500 mm verringert und die neue Bauart als C Sa 95/32 bezeichnet. 1936 waren fünf solch umgebauter Wagen vorhanden. Im letzten Reisezug der Windbergbahn liefen am 9. November 1957 neben den beiden noch vorhandenen Aussichtswagen und dem preußischen Güterzugpackwagen auch noch zwei dieser Umbauwagen mit.
Museum zur Geschichte der Windbergbahn
Das Museum zur Geschichte der Windbergbahn ist in der Wartehalle des ehemaligen Empfangsgebäudes des Bahnhofs Dresden-Gittersee eingerichtet. Es ist neben dem Eisenbahnmuseum Bw Dresden-Altstadt, dem Verkehrsmuseum Dresden und dem Straßenbahnmuseum Dresden eines von vier Museen in Dresden, die sich mit schienengebundenen Verkehrsmitteln beschäftigen.
Die kleine Ausstellung erinnert an die Geschichte der Bahnstrecke. Zu sehen sind Schautafeln mit Fotos und Zeichnungen sowie historische Gegenstände. Ergänzt wird sie durch einen Souvenirladen, in dem betreffende Literatur angeboten wird. Im Güterschuppen, der 1920 fertiggestellt worden war, kann ein mechanisches Stellwerk der Bauart Jüdel neu besichtigt werden. Es befindet sich seit 1957 an diesem Ort und ist das einzige im Streckenverlauf.
Auf den Gleisen des Bahnhofes Dresden-Gittersee werden die Eisenbahnfahrzeuge des Vereins präsentiert.
Die bestehende Strecke
Bis Dresden-Gittersee ist die Strecke mit Ausnahme des abgebauten Abzweigs in Freital Ost in einem befahrbaren Zustand erhalten. Nach Beseitigung einiger Gleisschäden wäre hier zukünftig wieder regulärer Zugverkehr möglich.
Die weitere Strecke bis zum Endpunkt Possendorf ist seit 1951 bzw. 1972 abgebaut. Dank des 1980 ausgesprochenen Denkmalschutzes ist die ehemalige Bahntrasse mit Ausnahme mehrerer kurzer Abschnitte (Haltepunkt Kleinnaundorf bis Schulberg; von der Nordeinfahrt des ehemaligen Bannewitzer Bahnhofes bis zur Horkenstraße in Höhe des Betriebsgeländes von Kompressorenbau Bannewitz; Ecke Bahnhofstraße / Pulverweg in Hänichen; im ehemaligen Bahnhof Possendorf) durchgängig unverbaut erhalten geblieben. Seit den 1990er Jahren verläuft auf dem Bahnkörper ein Radweg, der 2019 im Rahmen der 875-Jahrfeier von Kleinnaundorf im Bereich des Ortes den Namen Guido-Brescius-Weg erhielt.
Literatur
Gunther Hoyer: Die Windbergbahn, erste deutsche Gebirgsbahn. in: Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz. Heft 2/1992, S. 29–33.
Hans-Ullrich Sandig: Die Windbergbahn – Zu ihrem 120jährigen Bestehen. in: Sächsische Heimatblätter 24(1978)4, S. 145–153
Rainer Scheffler: Über die „Kreuzspinnen“ der Windbergbahn. in: Modelleisenbahner 30(1981)3, S. 75/76
Jürgen Schubert: Die Windbergbahn. Transpress VEB Verlag für Verkehrswesen, Berlin 1982, ohne ISBN, bzw. Alba-Verlag, Düsseldorf, ISBN 3-87094-202-9.
Jürgen Schubert: Die Windbergbahn. Verlag Kenning, Nordhorn 1993, ISBN 3-927587-18-4.
Film
Die Windbergbahn (Folge 276, ab 10:50), Sendung Eisenbahn-Romantik des SWR
Weblinks
Sächsischer Museumseisenbahn Verein Windbergbahn e. V.
Informationen zur Windbergbahn auf www.sachsenschiene.de
Die Windbergbahn im Stadtwiki Dresden
Einzelnachweise
Bergbau (Dresden)
Bergbau (Freital)
Bahnstrecke in Sachsen
Denkmalgeschützte Sachgesamtheit in Sachsen
Kulturdenkmal im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge
Technisches Denkmal in Dresden
Erbaut in den 1850er Jahren
Verkehr (Freital)
Bannewitz
Schienenverkehr (Dresden)
Verkehr (Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge)
Kohlenbahn
Güterverkehr (Deutschland) |
496662 | https://de.wikipedia.org/wiki/Habichtsadler | Habichtsadler | Der Habichtsadler (Aquila fasciata, Syn.: Hieraaetus fasciatus) ist eine Vogelart aus der Familie der Habichtartigen (Accipitridae). Dieser mittelgroße, kräftige und sehr agile Adler bewohnt trockene, felsige Regionen in Südeuropa, Nordafrika und im Süden Asiens, wo er sich von kleinen bis mittelgroßen Wirbeltieren ernährt. Der Bestand des Habichtsadlers ist in Südeuropa vor allem aufgrund illegaler Verfolgung seit Jahrzehnten rückläufig, daher gilt die Art hier als stark gefährdet.
Beschreibung
Habichtsadler sind mittelgroße, kräftig gebaute Adler und deutlich größer und schwerer als ein Mäusebussard. Die Körperlänge beträgt 55–67 cm, wovon 24–29 cm auf den Schwanz entfallen. Die Spannweite beträgt 142–175 cm. Weibchen sind im Mittel um etwa 10 % größer als Männchen, die Geschlechter unterscheiden sich äußerlich ansonsten nicht. Weibchen der Nominatform haben eine Flügellänge von 478–560 mm, Männchen erreichen 458–542 mm. Angaben zum Gewicht liegen bisher kaum vor, zwei Weibchen wogen 2,0–2,5 kg, vier Männchen 1,5–2,2 kg. Die Beine sind relativ lang und wie bei allen Vertretern der Unterfamilie Aquilinae bis zu den Zehen befiedert, die Zehen und Krallen sind sehr groß und kräftig.
Im Flug wirkt die Art breitflügelig, mit deutlich, aber nicht so stark wie bei den großen Arten der Gattung Aquila gefingerten Handschwingen und leicht S-förmigen Hinterrand der Flügel. Der Stoß ist lang und am Ende gerade.
Bei adulten Vögeln sind die Oberseiten von Rumpf und Flügeln sowie der Oberkopf einfarbig dunkel schwarzbraun, in der Rückenmitte befindet sich ein weißlicher Fleck. Der Schwanz ist grau und zeigt eine feine dunkle Bänderung sowie eine breite dunkle Subterminalbinde. Die Unterseite des Rumpfes sowie die kleinen Unterflügeldecken sind auf weißem Grund in variabler Stärke schwarz gestrichelt und bilden so einen deutlichen Kontrast zu den einfarbig schwarzen mittleren und großen Unterflügeldecken. Die Armschwingen und die inneren Handschwingen sind auch unterseits einfarbig dunkelbraungrau, die äußeren Handschwingen sind auf weißlichem Grund dunkel gebändert.
Die Iris ist blassgelb bis bernsteinfarben, die Wachshaut und die Zehen haben eine gelbe Färbung. Die Schnabelbasis ist grau gegen den im Übrigen schwarzen Schnabel abgesetzt.
Das Jugendkleid unterscheidet sich in Färbung und Zeichnung deutlich von dem der Altvögel. Die Oberseiten von Flügel und Rumpf sind einfarbig warm braun, ein heller Rückenfleck fehlt. Die Unterseite ist auf gelblich-ockerfarbenem Grund schwach dunkel gestrichelt. Alle Schwingen und Steuerfedern zeigen auf hellgrauem Grund eine enge, dunkle Bänderung. Die Iris der Jungvögel ist warm braun, Wachshaut und Zehen sind wie bei adulten Vögel gelb. Jungvögel zeigen nach der ersten Mauser ein Gemisch aus Jugendkleid und Adultkleid; nach der zweiten Mauser, also im Herbst des dritten Kalenderjahres, sind sie ausgefärbt und nicht mehr von adulten Vögeln zu unterscheiden.
Lautäußerungen
Bei der Balz wird häufig ein lauter, schriller Ruf geäußert, der mit „hiiiiiü-hiiiiü“ oder „jiöh“ umschrieben wird. Bei Bedrohung des Nestes oder sonstiger Erregung rufen Habichtsadler gereiht und hoch pfeifend etwa „ki-ki-ki“ oder „jib-jib-jib“.
Verbreitung und Lebensraum
Der Habichtsadler kommt in Südeuropa, Nordafrika, auf der Arabischen Halbinsel sowie in Süd- und Südostasien vor, wobei die Verbreitung stark zersplittert ist. Die größten zusammenhängenden Verbreitungsgebiete befinden sich in Südwesteuropa in Spanien, Portugal und im Süden Frankreichs und südlich daran anschließend im Nordwesten Afrikas, dann auf dem Indischen Subkontinent sowie im Süden Chinas. In Europa gibt es zudem kleinere Brutpopulationen auf Sardinien, im äußersten Süden Italiens, auf dem Balkan sowie in Griechenland und auf Zypern.
Im westlichen und zentralen Teil seines Verbreitungsgebietes besiedelt der Habichtsadler im Wesentlichen die mediterrane und die aride Klimazone. Er kommt dort vor allem in trockenen, gebirgigen Gebieten mit Felswänden und geringer Waldbedeckung vor. Außerhalb der Brutzeit kann er dort auch in Feuchtgebieten angetroffen werden. In Südostasien werden auch stärker bewaldete und feuchtere Bereiche bewohnt.
Systematik
Trotz des großen Verbreitungsgebietes der Art werden nur zwei Unterarten unterschieden, nämlich die Nominatform A. f. fasciatus und die nur auf einigen der Kleinen Sundainseln vorkommende, kleinere und an Unterbauch und Beinen dunkler gezeichnete Unterart A. f. renschi.
Nächster Verwandter des Habichtsadlers ist der Afrikanische Habichtsadler (A. spilogaster), der früher meist als Unterart des Habichtsadlers angesehen wurde. Ferguson-Lees & Christie trennen beide Formen als eigene Arten und betrachten diese als Superspezies. Die molekulargenetischen Untersuchungen von Lerner & Mindell unterstützen den Artstatus beider Formen, die genetischen Distanzen zwischen A. fasciatus und A. spilogaster waren sogar etwas größer als die zwischen anderen Zwillingsarten unter den Greifvögeln wie zwischen Schrei- und Schelladler oder zwischen Zwerg- und Australienzwergadler (H. morphnoides). Lerner & Mindell weisen jedoch auf die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen hin.
Der Habichtsadler gehörte ursprünglich zur Gattung Hieraaetus, wurde aber zusammen mit dem Afrikanischen Habichtsadler in die Gattung Aquila verschoben, da beide Gattungen in ihrer ursprünglichen Zusammensetzung kein Monophylum darstellten.
Jagdweise und Ernährung
Habichtsadler sind flexible und für einen Vogel dieser Größe außerordentlich wendige und schnelle Jäger, die Jagdweise ähnelt oft der des Habichts. Häufig jagen Habichtsadler Säuger oder Vögel am Boden von einem gedeckten Ansitz aus, Vögel werden dabei nach dem Auffliegen auch länger verfolgt. Weitere Jagdmethoden sind das Herabstoßen aus hohem Kreisen heraus sowie der Suchflug dicht an Felswänden entlang, wobei Paare oft gemeinsam jagen. Habichtsadler schlagen ihre Beute meist dicht über oder auf dem Boden.
Die Nahrung besteht der flexiblen Jagdweise entsprechend aus einer Vielzahl kleiner bis mittelgroßer Wirbeltiere und reicht bei Vögeln von der Amsel bis zu Graugänsen, Störchen oder Kragentrappen und bei Säugetieren von Hausratten bis zu Hasen; auch Reptilien werden häufig gefangen. Der überwiegende Teil der Beute besteht jedoch aus mittelgroßen Vögeln wie Tauben, Rabenvögeln und Hühnervögeln sowie Säugern ähnlicher Größe.
So bestand die ganzjährig untersuchte Nahrung in der Provence zu 62,5 % aus Vögeln, zu 28,5 % aus Säugetieren, zu 8,5 % aus Reptilien und zu 0,4 % aus Amphibien.
Häufigstes Beutetier war dort das Wildkaninchen (14,8 % aller Beutetiere), danach folgte das Rothuhn (12,6 %), die Mittelmeermöwe (Larus michahellis) (12,2 %) und die Elster (11,3 %). Bei den erbeuteten Reptilien handelte es sich ausnahmslos um unbestimmte Eidechsen (Lacerta sp.).
Auf Zypern wurden von 1999 bis 2001 ganzjährig Beutereste gesammelt. Die Verteilung der Beute auf die einzelnen Wirbeltiergruppen entsprach dort weitgehend jener in der Provence; das Beutespektrum bestand zu 56,6 % aus Vögeln, zu 34,2 % aus Säugetieren und zu 9,2 % aus Reptilien. Häufigstes Beutetier war dort jedoch das Chukarhuhn (32,4 % aller Beutetiere), danach folgten die Hausratte (31,9 %), die Ringeltaube (10,0 %) und der Hardun (9,0 %).
Fortpflanzung
Die Balz beginnt im November oder Dezember, der Balzflug besteht aus hohem Kreisen und Wellenflügen über dem Nestbereich. Die großen Nester werden überwiegend in Felswänden gebaut, seltener auf Bäumen. Die Eiablage erfolgt in Südeuropa ab Anfang Februar bis Mitte März. Das Gelege besteht meist aus zwei, seltener aus einem oder drei Eiern, die im Abstand von zwei bis drei Tagen gelegt werden. Die Eier sind auf weißem Grund in sehr variabler Stärke bräunlich bis gelblich gefleckt, die Fleckung kann auch ganz fehlen. Eier aus Europa und Nordafrika messen im Mittel 68,8 × 53,8 mm und wiegen im Mittel 112 g. Die Bebrütung erfolgt fast ausschließlich durch das Weibchen, das während dieser Zeit vom Männchen mit Nahrung versorgt wird. Die Brutzeit beträgt 37 bis 40 Tage. Die Nestlinge verlassen nach 62 bis 70 Tagen den Horst und werden dann noch etwa acht Wochen lang von den Eltern mit Nahrung versorgt.
Wanderungen
Adulte Habichtsadler sind ausgesprochene Standvögel und verbringen auch den Winter im oder nahe dem Brutgebiet. Jungvögel zeigen nach der Abwanderung aus dem elterlichen Revier eine ungerichtete Abwanderung (Dispersion), die auch über Entfernungen von mehreren Hundert Kilometer erfolgen kann.
Bestand und Gefährdung
Der Bestand in der westlichen Paläarktis ohne Algerien wurde um das Jahr 2000 auf nur 1.500 bis 2.200 Paare geschätzt, die Art ist damit eine der seltensten Greifvogelarten in diesem Raum. Verlässliche Bestandszahlen für den übrigen mittleren Osten und Mittel- und Südostasien gibt es nicht, Ferguson-Lees & Christie schätzen den Weltbestand jedoch auf nur wenig über 10.000 Brutpaare.
In Südeuropa ist in den letzten Jahrzehnten ein anhaltender Bestandsrückgang zu verzeichnen, so wurden in drei spanischen und zwei französischen Untersuchungsgebieten in den Jahren 1970 bis 1992 Bestandsabnahmen zwischen 0,3 % und 8,7 % pro Jahr festgestellt. Hauptgrund für die Abnahme ist dort die illegale Verfolgung durch Jäger und Taubenzüchter sowie der Tod an Strommasten. Aus den Brutgebieten Nordafrikas und Asiens liegen keine Angaben zu Bestandsentwicklung vor.
Die IUCN betrachtet den Weltbestand als nicht gefährdet (least concern). Aufgrund des anhaltenden Rückganges in Europa gilt die Art hier jedoch als stark gefährdet (endangered).
Literatur
J. Ferguson-Lees, D. A. Christie: Raptors of the World. Christopher Helm, London, 2001. S. 244–245, 750–753, ISBN 0-7136-8026-1
D. Forsman: The Raptors of Europe and the Middle East – A Handbook of Field Identification. T & A D Poyser, London, 1999, ISBN 0-85661-098-4
T. Mebs & D. Schmidt: Die Greifvögel Europas, Nordafrikas und Vorderasiens. Franckh-Kosmos, Stuttgart 2006, ISBN 3-440-09585-1
Weblinks
Web of Conservation Biology Team – Bonelli’s eagle, of the University of Barcelona
Javier Blasco-Zumeta, Gerd-Michael Heinze: Geschlechts- und Altersbestimmung (PDF-Datei, englisch)
Federn des Habichtsadlers
Einzelnachweise
Echte Adler |
496895 | https://de.wikipedia.org/wiki/Jonathan%20Wild | Jonathan Wild | Jonathan Wild (* 1683 in Wolverhampton; † 24. Mai 1725 in London) gilt als einer der berüchtigtsten Kriminellen Englands. Seine Taten wurden durch Romane, Dramen und politische Satiren in ganz Großbritannien bekannt. Der Charakter des Peachum in John Gays The Beggar’s Opera und später in Bertolt Brechts Dreigroschenoper ist nach ihm geformt. Sowohl Daniel Defoe als auch Henry Fielding schrieben Biografien über sein Leben.
Jonathan Wild gelang es lange Zeit, ein Doppelleben zu führen, das ihm erlaubte, eine Bande von Dieben zu leiten und gleichzeitig in der Öffentlichkeit als jemand zu erscheinen, der die öffentliche Ordnung aufrechterhält. Nachdem er in den 1720er Jahren in London eine der angesehensten Personen gewesen war, schlug diese Wertschätzung in Hass und Verachtung um, als sein Doppelleben bekannt wurde. Nach seinem Prozess und seinem Tod am Galgen wurde er zum Symbol ungehemmter Korruption und Selbstherrlichkeit.
Leben
Die frühen Jahre
Wild wurde in Wolverhampton im Jahre 1683 als Sohn einer armen Familie geboren. Nach einer Lehre bei einem Schließenmacher arbeitete er als Dienstbote und kam im Jahr 1704 nach London. Nachdem er von seinem Dienstherrn entlassen worden war, kehrte er nach Wolverhampton zurück, wo er wegen nicht bezahlter Schulden ins Schuldgefängnis geworfen wurde. Während seiner Zeit dort erhielt er die „Liberty of the Gate“ – eine Art Erlaubnis zum Ausgang, während dessen er nachts bei der Verhaftung von Dieben behilflich war. Dabei lernte er Mary Milliner kennen, auch Mary Mollineaux genannt. Sie war eine Prostituierte, von der Wild verschiedene Techniken des Trickdiebstahls lernte. Mit diesen neuen Fähigkeiten, an Geld zu kommen, war Wild in der Lage, seine Schulden zurückzuzahlen und so aus dem Schuldgefängnis freizukommen.
Nach seiner Entlassung lebte Wild mit Mary Milliner zusammen. Beide waren damals bereits anderweitig verheiratet, und Wild, der zu dieser Zeit wahrscheinlich als Milliners Zuhälter arbeitete, hatte sogar ein Kind. Bald war Wild gründlich mit den Methoden der Londoner Unterwelt und ihren Mitgliedern vertraut. Als er sich von Milliner wieder trennte, war sie die „Madame“ (Bordellwirtin) für mehrere andere Prostituierte, und Wild hatte begonnen, als Hehler mit gestohlenen Gütern zu handeln. Er ersann jedoch bald eine erfolgversprechendere Methode.
Kriminalität in London
Hier in London kommt es beinahe jede Nacht zu einem üblen Überfall. Vergangene Woche sind ein Gentleman und zwei Damen in Hyde Park Corner ausgeraubt worden. Sie kamen aus Chelsea und hatten gerade St. James Park umrundet, als plötzlich sechs blanke Schwerter in ihre Kutsche gesteckt wurden. (Briefwechsel Sir John Verney, zitiert nach Waller, S. 442)
Zwischen 1680 und 1720 hatte die Anzahl der Verbrechen in London dramatisch zugenommen. Dies war unter anderem auf die wirtschaftlichen Probleme infolge des Kriegs mit Frankreich und auf die zunehmende Zahl von entlassenen und verarmten Soldaten und Seeleuten zurückzuführen.
Tageszeitungen, damals noch ein relativ junges Phänomen, berichteten häufig über Verbrechen und Verbrecher. Auch aufgrund der Berichte der Zeitungen nahm die öffentliche Besorgnis über den Anstieg der Kriminalität zu, und in der Öffentlichkeit begann man sich zunehmend für Formen der Kriminalitätsbekämpfung zu interessieren. Vor diesem Hintergrund zirkulierten anonyme Schriften wie „Hanging is not Punishment Enough for Murtherers, Highwaymen and House-Breakers“ („Der Tod am Galgen als unzureichende Strafe für Mörder, Wegelagerer und Einbrecher“), die zusätzlich zur Todesstrafe eine vorherige Folter forderten, um endlich ausreichend Abschreckung zu schaffen.
Eine Polizei im heutigen Sinne existierte noch nicht. Die Historikerin Maureen Waller beschreibt die Situation im London um die Wende zum 18. Jahrhundert folgendermaßen:
Die Hüter von Gesetz und Ordnung in London waren schwach, da es keine zentrale Behörde gab. Eine richtige Polizeitruppe gab es nicht. Eine Polizei wurde als unenglisch betrachtet, während sie im benachbarten Frankreich ein Instrument königlicher Tyrannei war. Polizeiarbeit wurde in London nur sporadisch geleistet. Es gab die Königlichen Boten, die direkt dem Kronrat verantwortlich waren. Sie waren für Hochverrat und andere politische Verbrechen verantwortlich. Da Geldfälschen ebenfalls unter Hochverrat fiel, hatten sie viel zu tun. Der Rat beschäftigte die so genannten Stadtmarschalle, die sich um die Straßenbewohner kümmerten. Sie besaßen die Befugnis, auch in den umliegenden Countys Haftbefehle auszustellen. Bis zu einem gewissen Grad wurde ihre Arbeit auf Gemeindeebene von den Constablern, Kirchendienern und Straßenwächtern kopiert, auch wenn diese großen Einschränkungen unterlagen, was das Recht betraf, jemanden zu verhaften. Constabler wurden nicht bezahlt; einfache Bürger wechselten sich jährlich in diesem Posten ab – theoretisch. Praktisch bezahlten die Bürger Deputies (Stellvertreter), die ihnen diese Arbeit abnahmen und sie alsbald immer taten. … Der Großteil der Polizeiarbeit ruhte auf den Schultern der Bürger, die Bürgerwehren in ihren Vierteln organisierten und selber Detektivarbeit leisteten, um Kriminelle zur Strecke zu bringen. (Waller, S. 446f)
Ein solches Umfeld schuf Menschen wie Wild ein ausreichend großes Betätigungsfeld, das sie nach außen hin als ehrbar erscheinen ließ.
Wilds Methoden
Wilds Methode, sich zum einen zu bereichern und gleichzeitig scheinbar auf der richtigen Seite des Gesetzes zu stehen, war raffiniert. Er leitete eine Bande von Dieben, behielt deren gestohlene Güter ein und wartete ab, bis der Diebstahl in den Zeitungen erschien. Kurz danach behauptete er, seine private Polizeiarmee, die „Thief taking agents“, habe durch sorgfältige Detektivarbeit die gestohlenen Güter gefunden, und brachte sie dem rechtmäßigen Besitzer zurück. Dieser zahlte ihm eine Gebühr für diesen Fund, mit dem er angeblich seine Privatpolizei entlohnte. Neben dem „Auffinden“ gestohlener Güter unterstützte er die Polizei bei der Festnahme von Dieben. Die Diebe, zu deren Verhaftung Wild beitrug, waren entweder Mitglieder rivalisierender Banden oder solche, die sich einer Kooperation mit ihm entzogen hatten.
Um die Diebstähle einzugrenzen, waren Gesetze erlassen worden, die die Hehlerei mit gestohlenen Gütern hart bestraften. Gerade einfache und unerfahrene Diebe gingen ein erhebliches Risiko ein, wenn sie ihre gestohlenen Güter verkauften. Wilds Position wurde durch dieses Gesetz erheblich gestärkt. Für einen Dieb war der Weg über Wild eine der wenigen Methoden, verhältnismäßig ungefährdet Diebesgut zu Geld zu machen. Arbeitete ein Dieb nicht mit Wild zusammen, lief er Gefahr, von ihm den Gerichten überstellt zu werden.
Geschickt verschleierte Erpressung gehörte gleichfalls zu Wilds Repertoire. In der Daily Post von 1724 erschien beispielsweise folgende Anzeige:
Am 1. Oktober verloren; ein in schwarzes Noppenleder eingebundenes Notizbuch, Ränder mit Silber, mit einigen „Notes of Hand“ (Schuldverschreibungen). Das besagte Buch wurde in der Straße „The Strand“, nahe der „Fountain Tavern“, gegen sieben oder acht Uhr abends verloren. Wenn jemand dieses Buch bei Mr. Jonathan Wild im Old Bailey abliefert, wird er eine Guinea als Belohnung erhalten. (Quelle: Howson)
Die Nennung der Schuldverschreibungen war der dezente Hinweis, dass Wild wusste, wessen Notizbuch sich in seinem Besitz befand. Und Wild teilte dem Besitzer über die Anzeige auch mit, dass er wusste, weshalb dieser sich in dieser Straße aufhielt – Fountain Tavern war ein bekanntes Bordell. Der wirkliche Zweck der Anzeige war eine an den Notizbuchbesitzer gerichtete Drohung, dass man seinen Bordellbesuch öffentlich machen werde. Die Anzeige nannte auch den Preis für Verschwiegenheit (eine Guinea oder ein Pfund und ein Shilling).
Dass Wild sich zu seinen Zwecken des Mittels der Verkleidung zu bedienen wusste, zeigt sein Ausspruch
The mask is the summum bonum of our age.
(Die Maske ist das höchste Gut unserer Tage.)
Der oberste Diebesfänger
In der Öffentlichkeit galt Wild als Held – er war einer von denen, die dafür sorgten, dass Verbrecher festgenommen wurden. 1718 bezeichnete Wild sich selber als „Thief Taker General of Great Britain and Ireland“ (Generaldiebesfänger von Großbritannien und Irland). Er behauptete, über 60 Diebe seien durch seine Tätigkeit am Galgen zu Tode gebracht worden. Sein „Finden“ von gestohlenem Eigentum war dagegen eher eine bilaterale Angelegenheit zwischen ihm und dem Bestohlenen. Wild hatte ein Büro im Old Bailey, in dem lebhafte Geschäftstätigkeit herrschte. Opfer von Diebstählen kamen häufig vorbei und waren erleichtert, wenn Wilds Agenten schon das gestohlene Gut „wiedergefunden“ hatten. Gegen eine Extragebühr bot Wild auch seine Hilfe an, den Dieb zu finden. Auch wenn die spätere literarische Behandlung dies oft anders schilderte, gibt es keine Belege darüber, dass Wild jemals ein Mitglied seiner Bande gegen eine Gebühr auslieferte.
1720 war Wilds Ruhm so groß, dass er die Stadtverwaltung beriet, mit welchen Methoden man am besten die Kriminalität in London eindämmen könne. Wilds Empfehlung fiel nicht überraschend aus: Die Belohnung für Hinweise, die zur Ergreifung eines Diebes führen, sei deutlich zu erhöhen. Tatsächlich stieg dieser Betrag innerhalb eines Jahres von vierzig auf einhundertvierzig Pfund; für Wild stellte dies eine beträchtliche Einkommenssteigerung dar.
Wild ging meisterhaft mit der Presse um und glich damit den Gangsterbossen der US-amerikanischen Prohibitionszeit wie Al Capone. Wilds angeblicher Kampf gegen die Londoner Diebe war ein beliebter Stoff der damaligen Zeitungen. Wild versorgte sie gezielt mit Berichten über seine „heroischen“ Taten, die Zeitungen druckten sie gerne ab. So berichteten im Juli bis August 1724 die Londoner Zeitungen von Wilds Anstrengungen, die einundzwanzig Mitglieder der Carrick Gang festzusetzen (die Belohnung, die Wild dafür erhielt, betrug achthundert Pfund – was im Jahr 2000 etwa 40.000 US-Dollar entsprochen hätte). Als eines der Bandenmitglieder aus dem Gefängnis entlassen wurde, verfolgte Wild es und ließ es zur Erlangung „weiterer Informationen“ festnehmen. Der Londoner Öffentlichkeit erschien dies als unermüdliche Anstrengung, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. In Wirklichkeit war es ein Bandenkrieg, der als Dienst an der Öffentlichkeit kaschiert wurde.
Der Fall Jack Sheppard
1724 war in London das Vertrauen der Öffentlichkeit gegenüber staatlichen Autoritäten erheblich erschüttert. Vier Jahre zuvor, im Jahre 1720, war die South Sea Bubble geplatzt, eine von viel Korruption und Durchstecherei gekennzeichnete Spekulation über die Ausdehnung des Fernhandels. Die Aufarbeitung dieses Skandals hielt vier Jahre später noch an, so dass die Londoner Öffentlichkeit zunehmend ungehalten auf alle Anzeichen von Korruption reagierte: Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wurden mit zunehmender Skepsis beobachtet.
Im Februar 1724 nahm Wild einen der berühmtesten Einbrecher seiner Zeit, Jack Sheppard, fest. Sheppard hatte in der Vergangenheit mit Wild zusammengearbeitet, jedoch immer wieder auch unabhängig von ihm operiert. Wie bei so vielen anderen Verhaftungen, die Wild vornahm, lag es in Wilds persönlichem Interesse, dass Sheppard endlich festgenommen wurde.
Sheppard wurde in den Gefängnisturm des Londoner Bezirks St. Giles gesperrt, entkam aber sofort. Im Mai verhaftete Wild Sheppard erneut. Diesmal wurde er im New Prison von Clerkenwell eingesperrt; in weniger als einer Woche war er jedoch erneut aus dem Gefängnis entflohen. Im Juli gelang Wild die Festsetzung ein drittes Mal. Sheppard wurde vor Gericht gestellt, verurteilt und im berüchtigten Newgate-Gefängnis eingesperrt. In der Nacht des 30. August – man hatte gerade das Datum seiner Hinrichtung festgesetzt – entkam Sheppard ein weiteres Mal aus dem Gefängnis. Mittlerweile war er, der bei seinen Verbrechen weitgehend gewaltfrei vorging und gut aussah, ein Held der Londoner Unterschicht. Als Wilds Leute ihn am 11. September ein viertes Mal fingen, wurde er in der sichersten Zelle von Newgate eingesperrt und zusätzlich an den Boden angekettet. Am 16. September entwich Sheppard jedoch erneut. Weder die Ketten noch die Vorhängeschlösser oder sechs eisenbeschlagene Türen hatten sein Entkommen verhindern können. Daniel Defoe, der damals als Journalist arbeitete, widmete dieser unglaublichen Tat einen Artikel. Im späten Oktober fing Wild Sheppard ein fünftes und letztes Mal. Diesmal wurde Sheppard so untergebracht, dass er unter permanenter Überwachung stand. Außerdem kettete man ihn zur Vorsicht an 300 Pfund Eisengewichte an. Sheppard war zu diesem Zeitpunkt so berühmt, dass die Gefängniswärter Eintritt von den Schaulustigen nahmen und selbst Mitglieder der Londoner High Society erschienen, um Sheppard persönlich in Augenschein zu nehmen. Ein fünftes Mal gelang Sheppard die Gefängnisflucht nicht: Am 16. November 1724 wurde er gehängt.
Wilds Untergang
Während Sheppard allmählich zu einem Helden der Öffentlichkeit wurde, erhielt Wild eine zunehmend negative Presse. Als Wild im Februar 1725 einen gewaltsamen Gefängnisausbruch eines seiner Bandenmitglieder organisierte, wurde endlich auch er festgenommen. Auch Wild sperrte man im Newgate-Gefängnis ein. Angeklagt wurde er nicht nur wegen des gewaltsamen Gefängnisausbruchs, sondern auch wegen des Diebstahls von Juwelen während der Ernennung der Knights of the Garter im August 1724.
Wilds Bild in der Öffentlichkeit erlebte nun eine vollständige Wandlung. Auch seinen Bandenmitgliedern wurde zunehmend klar, dass wenig Chancen bestanden, dass Wild entkommen würde. Sie begannen daher, gegen Wild auszusagen, bis sein Doppelleben vollständig bekannt war. Parallel dazu fand man Beweise dafür, dass Wild regelmäßig Mitglieder der Stadtregierung bestochen hatte. Letzteres wurde von der Öffentlichkeit besonders negativ aufgenommen.
Am 24. Mai 1725 wurde Wild zum Galgen von Tyburn nahe dem Nordostende des Londoner Hyde Parks geführt. Seine Hinrichtung war ein gesellschaftliches Ereignis; Eintrittskarten für die besten Plätze am Hinrichtungsplatz wurden lange im Voraus verkauft. Daniel Defoe berichtet, dass die anlässlich dieser Hinrichtung versammelte Menschenmenge die größte je in London zusammengekommene war. Anders als sonst üblich hatte die Menge kein Mitleid mit dem zum Galgen Geführten.
Nach seinem Tod wurde seine Leiche von den Anatomen des Royal College of Surgeons of England seziert; sein Skelett ist noch heute im Museum dieser Institution ausgestellt.
Jonathan Wild in der Literatur
Dass das Leben von Jonathan Wild auch heute noch von Interesse ist, hängt weniger damit zusammen, dass er zu den Ersten gehörte, die die Organisierte Kriminalität in großem Stil betrieben, sondern damit, dass sein Leben später mehrfach literarisch verarbeitet wurde.
Als Wild gehängt wurde, waren die Zeitungen wie bei den meisten Hinrichtungen angefüllt mit Berichten aus seinem Leben, Zitaten von ihm, Abschiedsreden und ähnlichem. Biografien von Kriminellen waren zu diesem Zeitpunkt sehr populär; Sex, Gewalt, Reue oder ein tränenreiches Ende faszinierten schon damals das lesende Publikum. Daniel Defoe schrieb daher im Mai 1725 einen Bericht über Wild für das „Appelbees Journal“ und publizierte im Juni 1725 „The True and Genuine Account of the Life and Actions of the Late Jonathan Wild“. Sein Bericht warb mit einem Abdruck von Auszügen aus Wilds Tagebuch um Leser.
Von größerer literarischer Bedeutung ist, dass Wild die Vorlage für die Figur des Mr. Peachum in John Gays Oper The Beggar’s Opera lieferte und damit indirekt auch die für (hier heißt er sogar Jonathan) Peachum in Bertolt Brechts Dreigroschenoper.
John Gays Oper erschien im Jahr 1728. Ihre Haupthandlung schildert den Konkurrenzkampf zwischen Wild und Sheppard. Die Figur des Peachum ist jedoch auch durch den Whig-Politiker und britischen Premierminister Robert Walpole beeinflusst, zwischen dessen öffentlichem Auftreten und tatsächlichem Handeln in den Augen seiner politischen Gegner ein ähnlicher Widerspruch wie bei Jonathan Wild bestand. Auch Henry Fielding nutzte die Figur Jonathan Wild in „The History of the Life of the late Mr. Jonathan Wild the Great“ für eine bissige Satire auf diesen britischen Politiker. Robert Walpole wurde von seinen Parteikollegen als „great man“ („bedeutender Mann“) bezeichnet und so ließ Fielding auch seinen Jonathan Wild ständig danach streben, ein „great man“ zu werden. „Greatness“ (Bedeutung) erlangte man in Fieldings Satire nur, wenn man die Stufen hinaufkletterte – und seien es die des Galgens. Wild war ein „Great Prig“ (außerordentlicher Dieb), so wie Robert Walpole ein „Great Whig“ war – der Gleichklang war beabsichtigt. Vor dem Hintergrund des Korruptionsskandals der South Sea Bubble erschien Fielding die Verknüpfung der Whig-Partei mit Diebstahl angemessen.
Literatur
Literatur des 20. Jahrhunderts
Gerald Howson; Thief-Taker General: Jonathan Wild and the Emergence of Crime and Corruption as a Way of Life in Eighteenth-Century England. New Brunswick, NJ und Oxford, UK, 1970 ISBN 0-88738-032-8
Frederick Lyons; Jonathan Wild, Prince of Robbers, 1936
Edwin Woodhall; Jonathan Wild, Old Time Ace Receiver, 1937
Maureen Waller; Huren, Henker, Hugenotten – Das Leben in London um 1700 Verlag Lübbe, Bergisch Gladbach 2002, ISBN 3-404-64186-8
Sir Arthur Conan Doyle; "The Valley of Fear", 1915
Literatur des 18. Jahrhunderts
Daniel Defoe; A True & Genuine Account of the Life and Actions of the late Jonathan Wild, Not made up of Fictions and Fable, but taken from his Own Mouth and collected from papers of his Own Writing, Juni 1725
Henry Fielding; Life of Jonathan Wild the Great
Captain Alexander Smith; The Memoirs of the Life & Times of the famous Jonathan Wild, together with the History & Lives of Modern Rogues, 1726
BKL-Link
Matthias Bauer: Der Schelmenroman. Realien zur Literatur, SM 282. Metzler, Stuttgart 1994 ISBN 3-476-10282-3 S. 171–174 (Wild bei Defoe und Fielding)
Weblinks
Projekt Gutenberg edition von Fieldings Life of Jonathan Wild the Great
„Cambridge Literary History“-Bericht über den Charakter des Jonathan Wild bei Fielding
Bandenführer
Hingerichtete Person (Vereinigtes Königreich)
Hingerichtete Person (18. Jahrhundert)
Brite
Geboren 1683
Gestorben 1725
Mann |
576977 | https://de.wikipedia.org/wiki/Hemma%20von%20Gurk | Hemma von Gurk | Hemma von Gurk (* zwischen 995 und 1000; † 29. Juni, wahrscheinlich 1045, in Gurk, Kärnten) war eine Kärntner Adelige, Kirchen- und Klostergründerin. In der römisch-katholischen Kirche wird sie als Heilige verehrt. Sie ist Schutzpatronin Kärntens und wird um eine glückliche Entbindung oder Heilung bei Augenkrankheiten angerufen.
Hemma ist seit 1174 in der Krypta des Doms zu Gurk begraben. Seliggesprochen wurde sie am 21. November 1287, heiliggesprochen am 5. Januar 1938 von Papst Pius XI. Ihr Gedenktag ist der 27. Juni. Ikonografisch wird sie als vornehme Frau mit den Attributen doppeltürmige Kirche, Urkunde und Rose, sowie häufig beim Verteilen von Almosen dargestellt.
Leben
Die historisch nachprüfbaren Informationen über Hemma sind knapp. Die Familie Hemmas lässt sich nur indirekt über die vererbten Güter erschließen. Ein Waltuni erhielt 895 von König Arnolf ausgedehnte Güter zum Geschenk, die später zum Besitz Hemmas gehörten. Hemma stammte aus dem Geschlecht des Zwentibold (Zwentibolch) aus Schwaben, ein Verwandter und Vasall der bayrischen Luitpoldinger. Er bekam von Arnulf 898 zweimal reiche Güter geschenkt, zunächst den Hof Gurk, den Ort Zeltschach und das Gurktal, dann das obere Metnitztal mit seinen Nebentälern.
Diese Güter sind Ende des 10. Jahrhunderts im Besitz einer Imma, die somit mit den Luitpoldingern und entfernt auch mit Kaiser Heinrich II. verwandt war. 975 erhielt Imma von Kaiser Otto II. das Recht, in Lieding einen Markt und eine Münzstätte zu errichten sowie Marktzoll zu erheben. Dieses Recht wurde auf ein in Gründung befindliches Kloster übertragen, das aufgrund des Widerstands der Salzburger Erzbischöfe nie über das Gründungsstadium hinauskam; Markt- und Münzrecht sollten später auf Gurk übertragen, schließlich von den Salzburger Erzbischöfen für Friesach in Anspruch genommen werden. Aufgrund des Namens und der Vererbung der Besitzungen ist Imma als direkte Vorfahrin Hemmas anzusehen, wahrscheinlich wohl die Großmutter.
Hemmas Geburtsort und Eltern sind unbekannt. Als Zeitpunkt der Geburt wird die Zeit zwischen 995 und 1000 angenommen, häufig wird auch um 980 genannt. Sie heiratete Wilhelm II., Graf von Friesach und Markgraf im Sanntal, der erstmals 1016 urkundlich erwähnt wird. Als dessen Anhänger wurde er von König Konrad II. als Gegengewicht zum Kärntner Herzog Adalbero von Eppenstein gefördert, der, vom König abgesetzt, Wilhelm im Jahre 1036 tötete.
Im Zuge der Unabhängigkeitsbestrebungen der Gurker Bischöfe von Salzburg führte ein Kaplan Conrad im 12. Jahrhundert zahlreiche Urkundenfälschungen durch, wobei möglicherweise auch erhaltene, Hemma betreffende Originaldokumente zerstört wurden. In diesen Fälschungen wurde Wilhelm I. als Gatte und Wilhelm II. als Sohn Hemmas genannt, was aufgrund der Lebensdaten nicht möglich ist. Für Söhne Hemmas gibt es keine zeitgenössischen Quellen. Quellen aus dem 12. Jahrhundert und die genannten Namen Wilhelm und Hartwig, aus der Familie Hemmas und ihres Mannes bekannt, machen die Annahme zweier Söhne Hemmas jedoch glaubhaft.
Nach dem Tod des Ehegatten (und, sofern historisch, der beiden Söhne) war Hemma „eine der reichsten Frauen ihrer Zeit“. Das Erbe der Großmutter und des Gatten waren große Besitzungen im Gurk- und Metnitztal, um Friesach und Völkermarkt in Kärnten, in Friaul, in der Obersteiermark im Enns-, Palten-, Liesing-Tal und am Pyhrnpass, in der Untersteiermark im Sanntal (Raum von Cilli und Weitenstein) und zwischen den Flüssen Savinja, Save und Sotla sowie in der Unterkrain zwischen Save und Krka.
Hemma wollte zwei Klöster gründen. Die Güter zur Gründung des einen Klosters im Ennstal übergab sie vertraglich dem Salzburger Erzbischof Baldwin. Jedoch erst dreißig Jahre später wurde Stift Admont 1074 durch Erzbischof Gebhard als eigenes Kloster Salzburgs gegründet.
Hemma selbst gründete gemäß Urkunde 1043 in Gurk ein Frauenkloster, das ein adeliges Damenstift ohne feste Ordensregel war. Dessen Kirche stand westlich des heutigen Domes und wurde im 19. Jahrhundert wegen Baufälligkeit abgetragen. Dass Hemma als Laienschwester in das Kloster eintrat, ist zwar nicht belegt, dennoch nicht unwahrscheinlich. Hemmas Todestag, der 29. Juni, wird in den Totenbüchern von Admont, Ossiach und Gurk genannt. Das Todesjahr ist nicht gesichert und wird um 1045, sicher jedoch nach 1043 angenommen.
Hemma hat neben Stift Gurk auch etliche Kirchen gestiftet. Als gesichert gilt die Errichtung folgender neun Kirchen: Gurk, Grafendorf bei Friesach, Lieding, Glödnitz, St. Radegund am Hohenfeld, Lorenzenberg bei Micheldorf, St. Georgen am Weinberg, St. Margarethen bei Töllerberg und St. Lambert/Lamprecht auf dem Lamprechtskogel nahe Waisenberg. Ihr zugeschrieben wird auch die der Kirchen von Pisweg, St. Georgen bei Straßburg, Kraßnitz, St. Peter und Paul in Hart im Glantal sowie Wieting (Kärnten). Die Anzahl ist erstaunlich, gab es doch dokumentiert vor Hemma in Kärnten nur rund 20 Kirchen.
Legende
Der Legende nach wurde Hemma in Peilenstein als Tochter von Engelbert und Tuta geboren, entstammte dem Hochadel und war mit Kaiser Heinrich II. verwandt, an dessen Hof sie erzogen wurde. Sie heiratete Wilhelm, Graf von Friesach und Markgraf im Sanntal. Ihre beiden Söhne, Wilhelm und Hartwig, wurden bei einem Aufstand von Knappen erschlagen. Wilhelm bestrafte die Aufständischen hart, woraufhin er sich auf eine Pilgerfahrt nach Rom begab. Auf der Rückreise verstarb er schon in Kärnten. Sein Grab befindet sich angeblich in Gräbern. Hemma stiftete darauf den Dom und das Kloster zu Gurk.
Der Ort für die Kirche wurde nach der Legende durch ein Gottesurteil festgelegt. Ein Ochsengespann mit Baumaterial für den zu beginnenden Dom wurde das Gurktal hinaufgetrieben. An der Stelle des heutigen Domes blieben sie stehen und zeigten so den Ort an, wo der Bau stehen sollte. Diese Legende steht in der Tradition von 1. Samuel 6,7-12.
Die Legende vom gerechten Lohn erzählt eine Geschichte aus der Bauzeit des Domes: Ein Bauarbeiter ist mit seiner Entlohnung unzufrieden gewesen und forderte mehr Lohn. Hemma, die den Lohn an die Arbeiter selbst auszahlte, hielt ihm den Geldbeutel hin und forderte ihn auf, sich seinen Lohn selbst herauszunehmen. Als er dann nachsah, war es dieselbe Summe, die ihm ohnehin zustand. Diese Legende ähnelt stark derjenigen um Kaiserin Kunigunde, von der Ähnliches vom Bau des Bamberger Doms erzählt wird.
Verehrung und Heiligsprechung
Dem von Hemma gestifteten Kloster in Gurk war aufgrund seiner reichen Ausstattung kein langes Leben beschieden. Erzbischof Gebhard hob es 1072 auf und errichtete mit den Gütern des Stiftes die Diözese Gurk.
Die Verehrung Hemmas dürfte schon bald nach ihrem Tode begonnen haben. Ihre Ausgaben für Bauwerke dürften durch die Löhne die wirtschaftliche Situation der Bevölkerung verbessert haben. Die Legenden sprechen immer wieder von ihrer Gläubigkeit und ihrem Gerechtigkeitssinn. Die Überführung (Translatio) Hemmas 1174 in die neu erbaute Krypta des Gurker Domes war „nach dem damaligen Brauch eine Seligsprechung“. Die Rolle Hemmas als Stifterin von Gurk wurde zu dieser Zeit von den Gurker Bischöfen besonders betont, da sie sich von den Salzburger Erzbischöfen lösen wollten. Im Zuge der Dokumentenfälschungen des Kaplans Conrad Ende des 12. Jahrhunderts wurden auch die eventuell noch existierenden echten Hemma-Urkunden zerstört.
1287 wurde Hemmas Grab von Vertretern des Domkapitels geöffnet. Die Auffindung (Inventio) des Leichnams am 21. November 1287 galt späterhin als Recognitio, als Anerkennung zumindest ihrer Seligkeit. 1359 gewährten 20 Bischöfe in einer in Avignon ausgestellten Urkunde 40 Tage Ablass für einen Besuch der Messen Beate Mariae Virginis et Sancte Hemme, was auch die Existenz eines eigenen Messformulars voraussetzte. Aus dem 14. Jahrhundert sind ein Officium rhythmicum beatae Hemmae und eine Legenda beatae Hemmae erhalten, die ältesten erhaltenen Hemma-Handschriften. (Beide Texte bilden zusammen mit anderen den Codex 1/29 des Kärntner Landesarchivs.) Von 1370 an wird immer wieder eine eigene Wächterin für das Grab bezeugt, was auf einen regen Pilgerbesuch schließen lässt.
Ab 1465 gab es von Seiten der Gurker Bischöfe Anstrengungen zu einer Heiligsprechung Hemmas, die trotz der Unterstützung durch Kaiser Friedrich III. im Sande verliefen. Papst Paul II. verschob in einem Breve 1468 die Entscheidung auf einen „günstigeren Zeitpunkt“ – womit wohl nach der Sommerpause gemeint war, woraus aber über 400 Jahre werden sollten. Der Tod des Gurker Bischofs sowie die Türken- und Ungarnkriege ließen den Prozess ins Stocken geraten. Einzelne Versuche, ihn wieder aufzunehmen, gab es noch bis 1494. Die im Laufe dieses Prozesses erstellten Urkunden sind zum Teil erhalten. Die Zeugenbefragungen fanden in Deutsch und Slowenisch statt. Etliche Zeugen kamen aus der Krain und der Untersteiermark nach Gurk zur Zeugenaussage. Ab dem 16. Jahrhundert wurde das Fest der Hemma am Vorabend ihres Todestages begangen, da der 29. Juni das Fest Peter und Paul ist. Belegt sind aus dieser Zeit Getreidespenden für die Armen.
Der St. Lambrechter Pater Christoph Jäger veröffentlichte nach 40-jähriger Forschungsarbeit seine Schrift über Hemma 1709 im fünften Juni-Band der Acta Sanctorum. Anlässlich des 700. Todestages Hemmas gab es von 27. bis 29. Juni 1745 eine dreitägige Feier. Zu diesem Zeitpunkt dürfte der Feiertag für Hemma auf den heute noch geltenden 27. Juni verlegt worden sein. Bei der 800-Jahr-Feier vom 29. Juni bis 1. Juli 1845 waren 10.000 bis 12.000 Pilger anwesend.
Erst Bischof Valentin Wiery (1858–1880) brachte den Heiligsprechungsprozess mit einem Bittschreiben an Papst Leo XIII. am 15. Dezember 1879 wieder in Gang. Unterstützend wirkte dabei ein Buch Gregor Schellanders. Nach dem Tod Wierys 1881 kamen die Bemühungen wiederum zum Erliegen.
Erst aufgrund der Forschungen Pater Josef Löws ab 1931 kamen die Bestrebungen nach 1933 wieder in Gang, mit Unterstützung der Bischöfe von Gurk, Lavant/Maribor und Ljubljana. Am 5. Jänner 1938 schließlich bestätigte Papst Pius XI. die Heiligsprechung Hemmas. Auf Anregung von Pater Löw verfasste die Volksschriftstellerin Dolores Viesèr nach aufwändiger Recherche einen historischen Roman über das Leben der neuen Heiligen und publizierte ihn anlässlich ihrer Kanonisierung unter dem Titel Hemma von Gurk. Er trug in mehreren Auflagen wesentlich zur Bekanntmachung der Hemmaverehrung über die heimatlichen Grenzen hinaus bei, wurde jedoch schon bald, unter der nun auch in Österreich beginnenden NS-Herrschaft, als dem deutschen Volks- und Geschichtsverständnis zuwiderlaufend eingestuft. 1938 schloss man die Dichterin aufgrund des Werkes aus der Reichsschrifttumskammer aus.
1972 wurde der 27. Juni als nicht gebotener Gedenktag in den Regionalkalender für das deutsche Sprachgebiet aufgenommen, ebenso in die Diözesankalender von Salzburg und Graz-Seckau. Im Diözesankalender von Gurk ist er als Hochfest geführt. In das Messbuch der slowenischen Diözesen wurde die Feier der heiligen Hemma 1975 als nicht gebotener Gedenktag aufgenommen, in der Diözese Lavant gilt der 27. Juni als Feiertag.
1988 fanden anlässlich der 50-jährigen Heiligerklärung große Feierlichkeiten statt. Auf Schloss Straßburg gab es eine Hemma-Ausstellung. Am 25. Juni besuchte Papst Johannes Paul II. Gurk und die Grabstätte Hemmas. An der Messe anlässlich einer Dreiländerwallfahrt nahmen 70.000 Gläubige teil.
Reliquien
Mehrere Gegenstände werden als Reliquien der heiligen Hemma verehrt. Von keinem ist jedoch gesichert, dass er sich in Hemmas Besitz befunden hat, Hut und Schuh sind sogar nachweislich lange nach ihrem Tod entstanden.
Ring und Anhänger
Der Ring und der Anhänger sind seit 1465 urkundlich fassbar. Beide besitzen einen hohen Stellenwert in der Verehrung Hemmas. Mit dem Ring wurde von alters her der „Augensegen“ gespendet. Beide Kleinodien sind schwarze, undurchsichtige, unregelmäßig geformte Korunde in anspruchsloser Gold-Fassung. Sie stammen aus gleicher Hand, sind jedoch aufgrund fehlender Verzierungen zeitlich nicht einordenbar. Die beiden Korunde stammen aus gleicher Quelle, definitiv nicht aus Europa. Möglich ist eine Herkunft aus Thailand.
Hemmahut
Die als „Hemmahut“ bekannte Kopfbedeckung stammt aus der Zeit um 1300. Er ist jedoch neben zwei englischen Hüten der einzige erhaltene mittelalterliche Hut Europas und daher von großer kulturhistorischer Bedeutung. Bis 1906 befand er sich in der Pfarrkirche von Zeltschach, seither im Domschatz von Gurk.
Hemmaschuh
Der „Hemmaschuh“ ist ein spätgotischer Unterschuh aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Es ist ein Holzschuh mit hoher Sohle, der mit weißem Leder überzogen ist. Es könnte sich um eine Votivgabe für eine Hemmastatue gehandelt haben. Der Schuh wurde auf Schloss Nassenfuß/Unterkrain (heute Mokronog/Slowenien) aufbewahrt, seit 1946 befindet er sich in Gurk.
Wallfahrtsorte
Kärnten
Das Zentrum der Verehrung der hl. Hemma ist ihr Grab in der Krypta des Gurker Domes. Das Hindurchkriechen unter dem Sarkophag galt als hilfreich bei Geburten. In einer Ecke der Krypta befindet sich der „Hemma-Stein“, ein grüner Chloritschiefer-Stein, von dem aus der Legende nach Hemma den Bau des Domes überwacht haben soll. Dem Stein wird nachgesagt, Wünsche zu erfüllen, wenn man diese tätigt, solange man auf ihm sitzt. Bis zum 17. Jahrhundert stand der Stein vor dem Dom.
Nach Gurk führen etliche Wallfahrten, besonders aus der näheren Umgebung. Am bedeutendsten war die Wallfahrt am sogenannten „Krainer Sonntag“, dem vierten Sonntag nach Ostern. An diesem Tag kamen die Pilger aus dem Herzogtum Krain nach Gurk. Diese Wallfahrt ist 1609 das erste Mal urkundlich bezeugt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Wallfahrten unterbrochen, 1938 anlässlich der Heiligsprechung Hemmas wiederbelebt und während des Zweiten Weltkriegs und danach wieder unterbrochen. In den letzten Jahren wurden die Pilgerwege aus Slowenien und der Steiermark nach Gurk im Rahmen eines Interreg-Projekts nach und nach wieder angelegt und erfreuen sich nun zunehmender Beliebtheit bei Pilgern aus den angrenzenden Regionen.
Auf dem Hemmaberg bei Globasnitz befindet sich die älteste Hemmakirche Kärntens. 1498 erbaut und 1519 konsekriert, trägt die Kirche die Patrozinien der hll. Hemma und Dorothea. Dorthin führten lokale Wallfahrten. In den umliegenden Orten wie Eberndorf, Köcking, Jaunstein, Kleindorf und Globasnitz genießt Hemma tiefgehende Verehrung, hier gibt es auch eine größere Anzahl von Bildstöcken der hl. Hemma.
In vielen Kirchen Unterkärntens finden sich Bezüge zu Hemma, hervorgehoben sei die in den 1970er Jahren erbaute Pfarrkirche Klagenfurt-St. Hemma, die erste Kärntner Pfarrkirche mit dem Patrozinium der Heiligen.
Slowenien
In den zu Hemmas Besitztum gehörenden Regionen des heutigen Slowenien hat sich die Verehrung Hemmas durch die Jahrhunderte erhalten. In der Region Kozjansko befindet sich in der Nähe von Rogatec (Rohitsch) die Pfarrkirche Sveta Ema. Die im 18. Jahrhundert erbaute Kirche ersetzte eine 1463–1466 erbaute Kapelle. Seit 1784 ist Sveta Ema eigenständige Pfarre. Pilštanj (Peilenstein) ist der Legende nach der Geburtsort Hemmas, in der dortigen Michaeliskirche befindet sich ein barockes Deckenfresko von Hemma als jungem Mädchen mit der Burg Pilštanj im Hintergrund. In den letzten Jahren wurden die lokalen Wallfahrten nach Pilštanj wiederbelebt.
In Dolenjsko (Unterkrain) befindet sich in der Pfarrkirche von Šentrupert im Gewölbe ein Schlussstein, der Hemma im Nonnenhabit und mit Schlüsselbund, Kette und Buch zeigt. Hemma wird auch als Helferin der Unfreien verehrt. Auf Schloss Mokronog (Nassenfuß) wurde lange Zeit der „Hemmaschuh“ verwahrt und verehrt.
In Gorenjsko (Oberkrain) hatte Hemma zwar keine Besitzungen, trotzdem wurde sie auch hier verehrt. Die Region um Bled (Veldes), Bohinj (Wochein) und Žiri (Sairach) war das Zentrum der Hemmawallfahrten nach Gurk. Nach Bohinj kam die Verehrung Hemmas wohl durch deutschsprachige Siedler, hier wird Hemma auch als Bergwerkspatronin verehrt. In der Wallfahrtskirche Sv. Ana na Ledinici bei Žiri befindet sich eine Hemmastatue von 1770, die in den Händen ein Kreuz und Ketten hält, ebenfalls ein Hinweis auf Hemma als Patronin der Bauern und Gefangenen.
In der Kathedralkirche sv. Janeza Krstnika in Maribor befindet sich seit 2005 eine Hemmastatue.
Steiermark
In der Steiermark ist die Hemma-Verehrung nicht so weit verbreitet. Auf der Stubalpe befindet sich eine Filialkirche Hl. Hemma, die zur Pfarre Edelschrott gehört. Hier gab es früher am Dreinagelfreitag eine Wallfahrt von Edelschrott und Hirschegg nach St. Hemma. Der wichtigste steirische Hemma-Ort ist das Stift Admont, das auf eine Initiative Hemmas zurückgeht. Hier sind Hemma ein Seitenaltar und ein Glasfenster der Stiftskirche, eine Säule im Klostergarten und eine Glocke gewidmet. Im Konvent befindet sich ein Bildzyklus über das Leben der Heiligen.
Ikonographie
Die älteste bekannte Darstellung der hl. Hemma stammt von 1203 auf einem Siegel. Sie zeigt die Heilige im Habit einer Nonne und im Gebet. Ein zeitgenössisches Bild ist nicht erhalten. In der Bischofskapelle der Westempore des Doms befindet sich ein Fresko der hl. Hemma von 1260/70 zusammen mit Wilhelm sowie Kaiser Heinrich II. und dessen Gattin Kunigunde. Ein weiteres mittelalterliches Bild findet sich in einer Handschrift des Gurker Domkapitels von 1340. Von 1421 stammt ein Fresko der Muttergottes in der Pfarrkirche von Zweinitz, das Hemma neben den hll. Leonhard, Kunigunde und Georg an der Seite Mariens zeigt.
Einen wichtigen Einfluss auf die zukünftige Darstellung Hemmas hatten die sogenannten Hemma-Reliefs, die um 1508 im Auftrag des Dompropstes Wilhelm von Welzer entstanden. Die sechs in Lindenholz geschnitzten Reliefs trugen zur Weiterverbreitung der dargestellten Legenden bei, die in der Folgezeit vielfach nachgeahmt wurden. Die Reliefs befinden sich heute im Dom zu Gurk.
Viele Darstellungen der heiligen Hemma folgen auch dem Elisabeth-Typus. Wie die heilige Elisabeth wird die hl. Hemma im Habit dargestellt, wie etwa auf dem Ölbild von Josef Ferdinand Fromiller. Vom Habit nicht immer zu unterscheiden sind Darstellungen Hemmas im Witwengewand, wie bei der Kirchenbaudarstellung der oben erwähnten Hemma-Reliefs. Ein ebenfalls weit verbreiteter Darstellungstyp ist der sogenannte Frangepan-Typus. Er geht auf ein Porträt von Sebald Bopp zurück, das dieser um 1510 gemalt hatte. Das Bild stellt eine Trägerin des brandenburgischen Schwanenordens dar und zeigt vermutlich Beatrix Gräfin Frangepan, Gattin von Georg von Brandenburg-Ansbach. Das Bild dürfte im 17. Jahrhundert zum Porträt Hemmas umgedeutet worden sein. Ab dem Barock wurde dieses Bild, auch „Krainer Hemma“ genannt, zum Vorbild für viele Kopisten.
Siehe auch
St.-Hemma-Kirche
Literatur
Wissenschaftliche Literatur
Anton Fritz: Das große Hemma-Buch. Hemma von Friesach-Zeltschach, Markgräfin im Sanntal – Stifterin von Gurk und Admont. Klagenfurt 1980.
Irene Maria Prenner-Walzl: Das Leben der Heiligen Hemma von Gurk und dessen künstlerische Ausdeutung im Laufe der Geschichte. (Diplomarbeit) Universität Graz 1987.
Josef Till: Hemmas Welt. Hemma von Gurk – ein Frauenschicksal im Mittelalter. Hermagoras/Mohorjeva, Klagenfurt/Celovec 1999, ISBN 3-85013-634-5.
Josef Till: Auf Hemmas Spuren. Hermagoras/Mohorjeva, Klagenfurt/Celovec 2005, ISBN 3-7086-0115-7
Peter Günther Tropper (Red.): Hemma von Gurk. (Ausstellungskatalog) Carinthia, Klagenfurt 1988, ISBN 3-85378-315-5.
Janos Végh: Die heilige Hemma. Zur Ikonographie der Votivtafel von St. Lambrecht, in: Acta Historiae Artium Academiae Scientiarum Hungaricae XXIV/1978, S. 123–131
Literarische Bearbeitungen
Gabriele Lamberger: Hemma von Gurk. Die Heilige von Kärnten, Krain und Steiermark. Theaterstück, Saarbrücken 1957
Dolores Viesèr: Hemma von Gurk. Carinthia, Klagenfurt 1999, ISBN 3-85378-505-0.
Franzobel: Hemma – eine Weibspassion. Wieser, Klagenfurt 2013, ISBN 978-3-99029-069-9.
Dramatische Bearbeitungen
Bruno Strobl, Franzobel: Hemma von Gurk. Eine Weibspassion (Kirchenoper). UA beim Carinthischen Sommer 2017, Regie Kristine Tornquist
Ilona M. Wulff-Lübbert: Hemma – ein Schauspiel. Uraufführung 2013 auf der Klosterruine Arnoldstein anlässlich des 75 Jahr Jubiläums der Heiligsprechung Hemma von Gurk, Regie Ilona M. Wulff-Lübbert
Weblinks
Katholische Kirche Kärnten (Biografie)
Ökumenisches Heiligenlexikon
Hemma Pilgerweg
Einzelnachweise
Heiliger (11. Jahrhundert)
Person (Gurk, Kärnten)
Askuiner
Geboren im 10. Jahrhundert
Gestorben im 11. Jahrhundert
Frau |
605781 | https://de.wikipedia.org/wiki/Taubenpost | Taubenpost | Bei der Taubenpost (auch Brieftaubenpost) befördern Brieftauben schriftliche Mitteilungen. Diese Art der Briefbeförderung war bereits in der Antike weit verbreitet. In der Neuzeit fand sie zunächst nur für militärische Zwecke Verwendung. Im 19. Jahrhundert wurden jedoch immer mehr Brieftaubenlinien für zivile Zwecke eingerichtet. Es kam mancherorts sogar zur Ausgabe eigener Taubenpostbriefmarken. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Taubenpost fast völlig von modernen Telekommunikationsmitteln verdrängt.
In der Kunst wurde das Motiv der Taubenpost vor allem zur Zeit ihrer größten Verbreitung im 19. Jahrhundert aufgegriffen, auf Briefmarken bildet sie heute noch ein beliebtes Motiv. Die Taubenpost selbst gilt jedoch unter Philatelisten nur als ein kleines Randgebiet. Nur wenige Briefe und Belegstücke der Taubenpost sind erhalten geblieben.
Historische Entwicklung
Taubenpost im Altertum
Die Taubenpost ist die älteste Form der Flugpost. Bereits im Altertum erkannten die Menschen die besondere Fähigkeit von Tauben, mühelos aus größter Entfernung zu ihren Nistplätzen zurückzukehren. Dies erlaubt den Tauben in einem sehr großen Gebiet nach geeigneter Nahrung zu suchen. Um 5000 v. Chr. begann der Mensch mit der Domestikation der Taube. Durch verschiedenste Zuchtmethoden wurde es schließlich möglich, Tauben als Überbringer von Nachrichten einzusetzen, und sie gewannen immer mehr an wirtschaftlicher, militärischer und politischer Bedeutung.
Die ersten größeren Versuche zur Domestikation der Taube unternahmen die Sumerer. Sargon von Akkad ließ alle seine Boten in Mesopotamien mit Tauben ausstatten, die im Falle eines Angriffs freigelassen werden sollten. Dies gewährleistete, dass der Herrscher schnell von einem Vorfall in Kenntnis gesetzt wurde.
Auch im Alten Ägypten wurden Tauben zur schnellen Nachrichtenübermittlung eingesetzt. Freigelassene Tauben verkündeten beispielsweise die Kunde von der Krönung des Pharaos Ramses II. im Jahre 1279 v. Chr. Die oft in der postgeschichtlichen Literatur behauptete Verwendung von Tauben zur Briefbeförderung ist dagegen historisch nicht belegt. Zwar wurden bei der Krönung eines Pharaos oder beim Minfest vier freigelassene Tauben als Boten ausgesandt, was man aber noch nicht als geregelte Taubenpost bezeichnen konnte. Die eigentliche Taubenpost wurde wahrscheinlich erst in römischer oder frühislamischer Zeit in Ägypten eingeführt.
Tauben als Übermittler von Nachrichten wurden bald auch in anderen Hochkulturen eingesetzt. Eine erste Beschreibung der Taubenzucht lieferte der griechische Naturforscher und Philosoph Aristoteles. Biologen nehmen an, dass die Brieftaube ursprünglich von der Felsentaube (Columba livia) abstammt.
Im antiken Griechenland erwiesen sich Tauben wegen der geografischen Beschaffenheit des Landes als ideales Mittel der Nachrichtenübermittlung, da viele wichtige Flugstrecken innerhalb der Reichweite der Tauben lagen. Athleten, die zu den Olympischen Spielen reisten, nahmen beispielsweise ihre eigenen Brieftauben mit. Im Falle eines Siegs banden die Athleten einen Teil des Zielbandes an den Fuß der Tauben, die anschließend zurück in die Heimat des Sportlers flogen und so den Einwohnern den Sieg ihres Mitbürgers signalisierten. Der römische Schriftsteller Claudius Aelianus berichtet in seiner Varia historia (9,2), dass der Grieche Taurosthenes auf diese Weise seinem Vater und seinem Heimatdorf auf der Insel Aigina die Nachricht von seinem Sieg bei den Olympischen Spielen überbrachte.
Im antiken Rom hatte die Brieftaube vor allem militärische Bedeutung. Der römische Feldherr Gaius Iulius Caesar ließ Nachrichten von Unruhen im eroberten Gallien durch eigene Botentauben überbringen, um so seine Truppen schnell befehligen zu können. Der römische Senator und Schriftsteller Plinius der Ältere berichtete erstmals ausführlich in seinem naturwissenschaftlichen Werk Naturalis historia über die militärische Verwendung von Brieftauben. Er beschrieb nachträglich, wie Brutus während der Belagerung von Modena im Jahre 44 v. Chr. durch Marcus Antonius dank der Taubenpost weiterhin mit seinen Verbündeten wie Aulus Hirtius kommunizieren und dadurch die Stadt vier Monate lang verteidigen konnte. Schon damals wurden die Nachrichten um die Füße der Brieftauben gebunden. Vor allem im 4. Jahrhundert wurde die Taubenpost im Römischen Reich stark ausgebaut, zeitweise waren bis zu 5000 Brieftauben in Staatsbesitz.
Auch in China und Indien wurde die Brieftaube schon früh zur Nachrichtenübertragung verwendet. China baute auf der Grundlage der Taubenpost ein ganzes Postwesen auf.
Taubenpost im Mittelalter
Nach dem Zerfall des Weströmischen Reiches waren die Brieftauben aus Europa wieder weitgehend verschwunden. Sie wurden durch die Kreuzritter erst im 12. und 13. Jahrhundert wieder nach Europa gebracht. Im Vorderen Orient war die Brieftaube zur Nachrichtenübertragung nach wie vor weit verbreitet, sie wurde auch während der Kreuzzüge oft verwendet. Bei dem Versuch, die Stadt Akkon einzunehmen, gelang es den Kreuzrittern im Jahr 1191, eine per Brieftaube übermittelte Nachricht abzufangen: In ihr sicherte Sultan Saladin den Einwohnern zu, in drei Tagen mit seiner Armee in der Stadt anzukommen, um sie im Kampf gegen die Kreuzritter zu unterstützen. Die Kreuzritter verfälschten allerdings die Nachricht und ließen die abgefangene Brieftaube wieder frei. Die verfälschte Nachricht ließ die Einwohner von Akkon nun im Glauben, gänzlich ohne die Unterstützung Saladins kämpfen zu müssen. Noch vor Ablauf der drei Tage war die Stadt in der Hand der Kreuzritter, da die Bewohner von Akkon kaum mehr Gegenwehr leisteten.
Die Taubenpost im Vorderen Orient war keineswegs auf militärische Nutzung beschränkt; es entstanden staatliche Taubenpostdienste und regelmäßig beflogene Taubenpostlinien. Saladin hatte eine eigene Taubenpost, die unter anderem seine Hauptstädte Kairo und Damaskus miteinander verband. Dazu ließ er eine Kette von Festungen bauen, die Nachrichten mittels Heliograph, Leuchtfeuer und Tauben weiter leiteten (ein Beispiel ist die Festung Ajlun im heutigen Nord-Jordanien in der Nähe von Irbid). Auf diese Weise konnten wichtige Nachrichten zwischen den beiden Städten innerhalb von zwölf Stunden weitergeleitet werden. Im 12. Jahrhundert errichtete auch Nur ad-Din, Kalif von Bagdad, eine eigene Brieftaubenpost. Auch Dschingis Khan verwendete Brieftauben zur Überbringung von Nachrichten im Reich der Mongolen.
In Europa wurde die Taubenpost vor allem in Feldzügen eingesetzt. Hier war sie nach wie vor ein wichtiges Transportmittel von Nachrichten im Krieg, das nur schwer zu ersetzen war. Vor allem im Achtzigjährigen Krieg kam es zum häufigen Einsatz der Taubenpost. Wilhelm von Oranien setzte Brieftauben beispielsweise im Jahre 1573 bei der spanischen Belagerung von Haarlem durch Frederik von Toledo sowie bei der Belagerung von Leiden im Jahre 1574 ein. Außerhalb des Militärwesens wurden Tauben nur gelegentlich von Herrschern und Regierungsstellen eingesetzt, manchmal auch als Kommunikationsmittel zwischen Burgen und Klöstern.
Brieftauben im Nachrichtenwesen
Durch die zunehmende Industrialisierung wurde es für die Wirtschaft immer wichtiger, auf dem schnellstmöglichen Weg Nachrichten zu erhalten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts griffen mehrere Geschäftsleute vor allem in London und Antwerpen auf Brieftauben zurück. Einige Bankhäuser unterhielten zu dieser Zeit sogar eigene Kurstauben. Auch Handelszeitungen, wie das Antwerpener Handelsblatt, richteten einen eigenen Brieftaubendienst ein.
Neben einzelnen Geschäftsleuten benutzten auch manche Nachrichtendienste Brieftauben. Im Jahre 1850 gründete Paul Julius Reuter das Institut zur Beförderung telegraphischer Depeschen in Aachen. Mit 40 Brieftauben schuf er eine Nachrichten-Luftbrücke, um die Lücke in der Telegrafenverbindung zwischen Brüssel und Aachen zu schließen. Es waren überwiegend Börsenmeldungen, die von Reuters Agenten in verschiedenen Städten Europas gesammelt und in Brüssel abgeliefert wurden. Mit der wichtigen Fracht im Gefieder flogen die Tauben schneller als die Eisenbahn nach Aachen zurück. Reuters Mitarbeiter nahmen die Nachrichten auf dem Dach des Hauses in der Pontstraße 117 in Empfang und leiteten sie an die Haupthandelsplätze weiter. Bereits ein Jahr später waren alle wichtigen Verbindungen im Telegrafennetz geschlossen und Reuter gab das Aachener Büro auf. Er wanderte nach London aus und gründete dort im Oktober 1851 die Nachrichtenagentur Reuters.
Die vermehrte Verwendung von Brieftauben zu wirtschaftlichen Zwecken war von geringer Dauer, denn die Vögel wurden bald durch die ersten Telegrafenlinien in der Mitte des 19. Jahrhunderts ersetzt.
Die Belagerung von Paris
Das unter Philatelisten bekannteste Beispiel für eine Taubenpostverbindung ist die Pariser Ballonpost. Die Verbindung zwischen Paris und dem unbesetzten Frankreich während des Deutsch-Französischen Krieges konnte zwischen dem 23. September 1870 und der Kapitulation von Paris am 22. Januar 1871 nur durch ein geschicktes Zusammenspiel zwischen Ballonpost und Brieftauben aufrechterhalten werden.
Von Paris aus ließ man insgesamt 55 unlenkbare Ballone aufsteigen, die neben fast 2,5 Millionen Nachrichten auch 363 Brieftauben beförderten. Die Tauben dienten dem Rücktransport von Briefen vom unbesetzten Frankreich in das belagerte Paris. Zunächst wurden die Nachrichten auf extrem leichtem Seidenpapier geschrieben und der Taube umgebunden. So konnte eine Brieftaube jedoch nur sehr wenige Nachrichten befördern. Die erste Taubenpost dieser Art fand am 9. Oktober 1870 statt. Ab 4. November 1870 war es auch erstmals möglich, private Nachrichten befördern zu lassen. Die Brieftauben starteten meist in Tours, wo alle zu versendenden Nachrichten zunächst gesammelt und dann auf Seidenpapier übertragen wurden.
Durch eine Idee des Fotografen René Dagron konnte die Anzahl der Briefe, die eine Taube befördern konnte, erheblich erhöht werden: die in Tours gesammelten Mitteilungen wurden als Buchdruck gesetzt auf Gallerthäutchen mikrofotografisch so übertragen, dass eine Brieftaube bis zu 40.000 Briefe mit je höchstens 20 Worten tragen konnte. Am Bestimmungsort wurde die Mitteilung mittels einer Laterna magica vergrößert, von einem Schreiber kopiert und dann ausgeliefert. Bis zur Kapitulation von Paris wurden so 2 Millionen Nachrichten als Pigeongramme (Taubentelegramme) übertragen. Die Gebühr für ein solches Pigeongramm betrug pro Wort 50 Centimes. Erhalten gebliebene Pigeongramme gehören zu den beliebtesten Sammelstücken unter Philatelisten.
Die Pariser Ballonpost war allerdings nicht nur für die heutigen Philatelisten von besonderem Interesse. Der große Erfolg der Pariser Ballone und Brieftauben richtete damals große Aufmerksamkeit auf diese beiden Beförderungsarten, die nun auch im zivilen Bereich bis zur Jahrhundertwende eine Blüte erlebten. Man begann damit, schwer erreichbare Gebiete, die noch keine Verbindung mit Telegrafennetzen besaßen, durch Brieftauben postalisch zu versorgen.
Brieftaubenpost um die Jahrhundertwende
Die Taubenpost in Neuseeland
Zahlreiche Holzfäller und Goldsucher kamen am Ende des 19. Jahrhunderts auf die Great Barrier Island im Norden von Neuseeland, die nur alle 16 Tage von einem Schiff mit Post versorgt werden konnte. Der Vorstand des neu gegründeten Montanunternehmens auf der Insel, Smailes, beauftragte schließlich den Brieftaubenzüchter Parkin aus Auckland, eine Taubenpostverbindung mit dem Festland herzustellen. Der erste Flug fand am 14. Mai 1897 statt. Die zu übermittelnden Nachrichten wurden auf dünnes Seidenpapier geschrieben und dann um den Fuß der Taube gebunden. Eine Brieftaube konnte mit dieser Technik bis zu fünf Nachrichten, auch flimsies genannt, transportieren.
Ab dem 21. April 1898 wurden die Brieftauben von S. Holden Howie für den Transport von Nachrichten von der Great-Barrier-Insel genutzt. Die Brieftauben konnten jedoch nur Nachrichten nach Auckland transportieren und nicht in die entgegengesetzte Richtung. Dazu wurden sie in regelmäßigen Abständen per Schiff auf die Insel gebracht, um dort stets genügend Tauben zur Verfügung zu haben. Einen zusätzlichen Taubenschlag auf der Insel einzurichten wäre zu teuer gewesen, weshalb es unterblieb.
Im September 1898 tauchten erstmals Vorschläge auf, eigene Taubenpostbriefmarken auszugeben. Henry Bolitho, ein Freund des Betreibers Howie, beauftragte eine Druckerei in Auckland mit der Herstellung solcher Briefmarken. Am 19. November 1898 konnten die ersten Taubenpostbriefmarken der Welt erstmals verwendet werden. Nach der Gründung des Great Barrier Pigeongram Service und dem Ausbau zu einem eigenständigen Unternehmen wurde Walter Fricker mit der Betreuung der Brieftauben betraut. Nachrichten konnten außerdem erstmals in beide Richtungen versandt werden. Der Versand von Okupu, später von Whangaparapara auf der Great-Barrier-Insel nach Auckland kostete 6 Pence, in die neu eingerichtete umgekehrte Richtung den doppelten Preis von einem Shilling. Durch den doppelten Preis rentierte sich zunächst auch die Errichtung der zweiten Taubenpostlinie.
Die besonderen Briefmarken erweckten zudem kurzzeitig eine besondere Aufmerksamkeit von Philatelisten, was dem Unternehmen zusätzliche Einnahmen brachte. Schon bald erfolgte die Ausgabe weiterer Taubenpostbriefmarken. Schließlich begann man damit, verschiedene Wertstufen herzustellen, um den Tarifunterschieden Rechnung zu tragen. Nach der Ausgabe diverser rechteckiger Briefmarken wurden ab dem Jahre 1899 schließlich dreieckige Briefmarken in der Farbe Rot zu 6 Pence und in der Farbe Blau zu einem Shilling ausgegeben. Die dreieckigen Taubenpostmarken trugen die Inschrift Great Barrier Island / Special Post / One Shilling. Als Motiv diente eine fliegende Brieftaube, die einen Brief im Schnabel hatte und die durch ihre besondere Form die Aufmerksamkeit der Philatelisten weiter erhöhen sollte.
1899 wurde eine weitere Taubenpostlinie des Great Barrier Pigeongram Service eingerichtet, die ebenfalls Taubenpostbriefmarken herausgab. Die Linie verband die Marotiri Insel (auch: Coppermine Insel), auf der seit 1898 Kupferbergbau betrieben wurde, mit Auckland. Nach dem wirtschaftlichen Misserfolg des Kupfer-Unternehmens wurde diese Taubenpostlinie bald wieder eingestellt. Nachdem 1908 die Telegrafenlinie zur Insel in Betrieb gegangen war, wurde auch die Taubenpostverbindung zur Great-Barrier-Insel eingestellt. Am 19. November 1948 fand anlässlich des 50. Geburtstages der Taubenpostbriefmarke ein Gedenkflug zu der Insel statt, zu der ein privater Gedenkumschlag herausgegeben wurde.
Weitere Einsatzgebiete der Taubenpost
In entlegenen Gebieten der USA wurden zur Zeit der Jahrhundertwende Taubenpostdienste eingerichtet. Oswald Zahn gründete das bedeutendste dieser Taubenpostunternehmen, das die kleine Insel Santa Catalina Island ab 1894 mit dem etwa 35 km entfernten kalifornischen Festland verband. Die Tauben starteten in Avalon, der größten Stadt auf der Insel und flogen nach Bunker Hill in Los Angeles. Im Jahre 1898 wurde die Linie wegen Unwirtschaftlichkeit wieder eingestellt, kurze Zeit später wurde die Insel mit dem kalifornischen Telegrafennetz verbunden.
In Alaska gab es ebenfalls Bestrebungen, eine eigene Brieftaubenpost einzuführen. Die Idee hierzu stammte von Thomas Arnold aus dem Jahre 1897, der bereits Probedrucke für Brieftaubenpostmarken mit Nennwert zu 1 und zu 2 Dollar anfertigte. Die probeweise hergestellten Taubenpostbriefmarken zierten eine Brieftaube, die – wie auf den neuseeländischen Taubenpostmarken – einen Brief im Schnabel hielt. Die Inschrift lautete Alaska Carrier / Pigeon Mail / Service Company. Thomas Arnold wollte die Goldfelder Alaskas mit den Brieftauben postalisch versorgen. Wie bei der Pariser Ballonpost sollten die zu befördernden Nachrichten verkleinert transportiert werden.
Neben diesen Taubenpostlinien gab es in Belgisch-Kongo in den 1910er Jahren eine eigene Taubenpost zwischen der Hauptstadt Boma und der Hafenstadt Banana. Zur damaligen Zeit befand sich das Telegrafennetz des Kongos noch im Aufbau. Die erste Telegrafenlinie Banana – Boma – Léopoldville – Coquilhatville war im Jahre 1905 nur teilweise fertiggestellt. Die belgische Regierung entschloss sich deshalb zur Einrichtung dieser provisorischen Taubenpostlinie, die bis zur Eröffnung der restlichen Teilstücke gegen Ende des Jahrzehnts bestand. Die Taubenpost als vorübergehender Ersatz für die Telegrafie wurde auch von der niederländischen Regierung genutzt. Diese verwendete hierzu Brieftauben des Militärs zur Nachrichtenübertragung auf Sumatra und Java.
In Deutschland kam es zu dieser Zeit nicht zur Errichtung einer Taubenpostlinie. Im Jahre 1876 wurden allerdings an der Nordseeküste, besonders in Tönning an der Eidermündung, Versuche angestellt, eine Verbindung der in See liegenden Leuchtschiffe mit dem etwa 55 Kilometer entfernten Festland durch Taubenpost herzustellen. Obwohl die Brieftauben auch bei heftigen Stürmen Nachrichten überbringen konnten, wurde das Projekt aufgegeben.
Zur Zeit der Jahrhundertwende gab es nur noch wenige Privattaubenpostsysteme von Wirtschaftsunternehmen. Die Schiffe der HAPAG hatten jedoch noch eigene Brieftauben an Bord, um Nachrichten auf schnellstem Wege in den nächstgelegenen Hafen senden zu können.
Die Weltkriege
Die beiden Weltkriege bildeten das letzte große Einsatzgebiet der Taubenpost zu militärischen Zwecken. Es gab schätzungsweise 100.000 Brieftauben im Ersten Weltkrieg zur Nachrichtenübermittlung. Ihre Erfolgsrate bei der Überbringung von Nachrichten lag bei ungefähr 95 Prozent. Zu ihren Ehren wurden mehrere Denkmäler errichtet, deren größtes im französischen Lille mehr als 20.000 gefallener Brieftauben gedenkt. Seit 1939 gibt es auch in Berlin-Spandau ein Denkmal für die deutschen Brieftauben des Krieges.
Mit Hilfen von Brieftauben konnten zwei verschiedene Verbindungen aufrechterhalten werden. Neben den Brieftaubenverbindungen von der Front zu fixen Taubenschlägen im sicheren Heimatland kam es auch zum Einsatz von zahlreichen mobilen Brieftaubenschlägen, die zuerst nur von der französischen Armee eingesetzt wurden. Es handelte sich dabei um einen speziell angepassten Autobus der Marke Berliet. Obwohl sich so das Ziel der Brieftauben ständig änderte, fanden diese stets den richtigen Weg. In der Marneschlacht im Jahre 1914 wurden beispielsweise von der französischen Armee erstmals 72 fahrbare Taubenschläge eingesetzt.
Besonders berühmt wurde der letzte Einsatz der amerikanischen Brieftaube Cher Ami in der Nähe der französischen Stadt Verdun, die durch eine Schusswunde an der Brust schwer verletzt wurde. Trotzdem schaffte sie es, ihre Nachricht von Major Charles Whittlesey von der 77. Infanterie-Division weiterzuleiten. Seine Division verlor während der Meuse-Argonne-Offensive die Verbindung mit der restlichen US-amerikanischen Armee und war ohne Verpflegung hinter den feindlichen Linien eingeschlossen. Dank der Nachricht von Cher Ami konnten 194 Soldaten gerettet werden. Auf Grund des tapferen Einsatzes von Cher Ami wurde ihr feierlich die französische Kriegsauszeichnung Croix de guerre verliehen. Insgesamt waren während dieser Schlacht auf amerikanischer Seite 442 Brieftauben im Einsatz.
Auch in einigen deutschen Heeresteilen kam es zur Verwendung von Brieftauben, meist zu ortsgebundenen, nur seltener zu fahrbaren Brieftaubenstationen. Die per Taubenpost beförderten Sendungen wurden von deutscher Seite mit dem Bestätigungsstempel Kgl. Preuss. Brieftaubenschlag in blauer Farbe gekennzeichnet.
Auch im Zweiten Weltkrieg griff man zur Nachrichtenüberbringung auf die Taubenpost zurück. Allein die US-amerikanische Armee unterhielt 54.000 Brieftauben sowie 3.000 Soldaten und 150 Offiziere, die Teil des US Army Pigeon Service waren. In der britischen Armee waren gar bis zu 250.000 Brieftauben zu militärischen Zwecken im Einsatz. Im Zweiten Weltkrieg wurden Brieftauben zum Nachrichtentransport auch zunehmend in der Nacht eingesetzt, um größere Verluste durch Beschuss zu vermeiden. Die deutsche Armee hatte sich jedoch im Vorfeld des Krieges speziell auf den Einsatz von feindlichen Brieftauben vorbereitet. Man dressierte Greifvögel, vor allem Falken, die die Brieftauben im Flug attackieren sollten. Während des Krieges zeigte sich diese Methode als äußerst effektiv.
Im Rahmen der Operation Columba gelangte die britische Armee mittels Brieftauben an kriegswichtige Informationen. Über in Frankreich, Belgien und den Niederlanden abgesetzte Tauben konnte die Zivilbevölkerung Nachrichten nach Großbritannien schicken. Eine Nachricht enttarnte u. a. den Standort der deutschen Kommunikationszentrale nahe Brügge.
Insgesamt wurden 32 Brieftauben mit der Dickin Medal für herausragende Leistungen ausgezeichnet. Zu den berühmtesten Preisträgern zählte die Brieftaube G.I. Joe. Diese erlangte vor allem durch ihren Einsatz in der kleinen italienischen Stadt Calvi Vecchia am 18. Oktober 1943 große Anerkennung. Der 56. Britischen Brigade war es gelungen, die Stadt ohne größere Gegenwehr der deutschen Truppen einzunehmen. Mit diesem Umstand hatten die Alliierten nicht gerechnet, die US-amerikanische Armee sollte nämlich der britischen Armee durch Luftangriffe auf Calvi Vecchia die Einnahme der Stadt erleichtern. Allerdings schlug jede versuchte Kontaktaufnahme mit den Verbündeten fehl, um den Angriff zu stoppen. Die Brieftaube G.I. Joe wurde deshalb mit der Überbringung der wichtigen Nachricht betraut. Sie legte die 30 Kilometer zum US-amerikanischen Kommandostützpunkt in nur 20 Minuten zurück und traf noch vor Abheben der Bombenflugzeuge ein. G.I. Joe wird deswegen die Rettung von 100 Soldatenleben zugesprochen.
Der Niedergang der Taubenpost
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Brieftauben immer seltener zum Transport von Nachrichten eingesetzt. Der letzte größere Einsatz amerikanischer Brieftauben fand während des Koreakrieges statt, als so Nachrichten an verdeckt operierende Soldaten hinter den feindlichen Linien übermittelt wurden. Die britische Armee gab 1948 ihr Brieftaubenprogramm auf. Bald folgten ihr auch weitere Armeen. In der Schweiz wurde die Brieftaubenabteilung erst 1997 aufgelöst. Heutzutage gibt es kaum noch militärische Verwendung von Brieftauben. Dies lässt sich vor allem auf die rasche Entwicklung der modernen Kommunikationsmittel zurückführen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die österreichische Gendarmerie ein Brieftaubennetzwerk aufgebaut, das 1958 von Rennweg nach Tirol verlagert wurde. In Tirol (Österreich) gab es von 1958 bis 1974 einen Brieftaubendienst: so waren auf vielen Schutzhütten Brieftauben stationiert, die bei Bedarf (Alpinunfälle, Lawinenabgänge, u.d.g.) zum Heimatschlag im Landesgendarmeriekommando Innsbruck geschickt wurden. Da es vor 1970 in den Bergen noch kein engmaschiges Katastrophenfunknetz gab, war dies die einzige Möglichkeit einer schnellen Übermittlung der Nachricht. Im indischen Bundesstaat Orissa wurde von der Polizei noch bis zum März 2002 eine ähnliche Taubenpost unterhalten. Diese wurde im Jahre 1946 eingerichtet und war vor allem zur schnellen Nachrichtenübertragung bei Naturkatastrophen gedacht. Solche Einrichtungen blieben jedoch weitgehend die Ausnahme. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts gab es zwar außerdem immer wieder einige Veranstaltungen, in deren Rahmen eine Taubenpost eingerichtet wurde – jedoch immer zu philatelistischen Zwecken und deshalb eher als Hobby denn als Postdienst zu werten. Die Philatelic Foundation Christchurch führte beispielsweise in den Jahren 1978 bis 1984 jährlich eine solche Veranstaltung durch.
Taubenpost in der heutigen Zeit
Die Taubenpost ist heute aus allen Lebensbereichen verschwunden. Nur in sportlichen Wettbewerben finden sich die Grundzüge dieser Beförderungsart wieder, diese haben jedoch nichts mehr mit der historischen Taubenpost zur Übermittlung von Nachrichten zu tun. Bei den sportlichen Wettbewerben werden die Brieftauben mit einem speziellen Transporter (Kabinenexpress) zu einem mehrere hundert Kilometer vom Heimatort entfernten „Auflassort“ transportiert, von wo sie ihren Heimflug antreten. Die Ankunftszeiten der einzelnen Tiere werden beim Eintreffen im heimatlichen Taubenschlag mittels einer Konstatieruhr registriert. Diese Wettbewerbe bauen, wie einst die Taubenpost, auf dem Orientierungssinn der Tauben auf, es werden jedoch keine Nachrichten mehr übermittelt.
Vereinzelt wird darüber berichtet, dass Brieftauben höchst effektiv in den Grenzgebieten rund um die Niederlande als Drogenkuriere eingesetzt werden.
In London sollen Tauben künftig die Luftverschmutzung überwachen. Ausgestattet mit einem GPS-Sender und Sensoren messen sie den Gehalt von Feinstaub, Ozon und Stickstoffdioxid in der Luft.
Von den Armeen Europas trainiert 2022 nur mehr das französische Militär (etwa 180) Brieftauben – für Zeremonien und Wettbewerbe. Taubenschule und ein Museum sind in der Festung Mont-Valérien in Suresnes, etwa 20 km westlich von Paris.
Taubenpost im Internetzeitalter
Mit RFC 1149 und RFC 2549 liegt zumindest in der Theorie ein (als Aprilscherz gedachter) Standard vor, wie das im Internet gebräuchliche Internet Protocol mithilfe von Brieftauben übertragen werden kann. Es blieb nicht nur bei der Theorie: Am 28. April 2001 wurde in Bergen ein Versuch durchgeführt, bei dem tatsächlich IP-Pakete übertragen wurden. Insgesamt wurden dabei vier Pakete übertragen, bei einer Laufzeit von ca. 1,5 Stunden. (Ping-Zeiten liegen normalerweise in Größenordnungen von Milli- bis Zehntelsekunden.)
Philatelistische Aspekte
Die Taubenpost ist ein kleines Randgebiet der Philatelie. Es kann als abgeschlossenes Sammelgebiet betrachtet werden, da es heutzutage kaum noch Taubenpost gibt. Es gibt nur wenige Spezialisten und infolgedessen auch nur wenig Spezialliteratur; einer der wichtigsten Experten ist Salvador Bofarull. Da Taubenpostbriefe aus dem 19. und 20. Jahrhundert kaum erhalten sind, findet man reine Taubenpostsammlungen nur sehr selten.
Heutige Taubenpostsammlungen beschränken sich meist auf die Zeit vom Deutsch-Französischen Krieg bis zum Zweiten Weltkrieg. Großer Beliebtheit erfreuen sich hierbei die Pigeongramme der Pariser Ballonpost. Diese werden einerseits wegen ihrer großen Bedeutung für die Postgeschichte (siehe Flugpost) gerne in die Sammlung aufgenommen, anderseits fasziniert die abenteuerliche Geschichte der Briefe viele Philatelisten. Zivile Taubenpost gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird nur von Spezialisten gesucht. Auch die Taubenpostbriefmarken können auf Grund ihrer extrem niedrigen Auflagezahlen und den daraus resultierenden hohen Preisen nur von wenigen Philatelisten in ihre Sammlung aufgenommen werden. Taubenpostbriefe aus den Weltkriegen sind eine gern gesehene Rarität in Feldpost-Sammlungen.
Die Taubenpost in der Kunst
Die Taubenpost findet sich auch in der Kunst wieder. Vor allem zur Zeit der Romantik, in der die Verbreitung der Brieftaube stark stieg, findet man dieses Motiv. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist das Gedicht Die Taubenpost von Johann Gabriel Seidl, das von Franz Schubert vertont wurde. Als Schuberts angeblich letzte Liedkomposition wurde sie posthum in der Liedersammlung Schwanengesang veröffentlicht.
Neben der Taubenpost als Motiv in der Dichtung und in der Musik findet man sie vor allem als Motiv für die künstlerische Gestaltung von Briefmarken. Bei diesen Marken handelt es sich nicht zwingend um Taubenpostmarken; auch Freimarken werden oft von einer Brieftaube geziert. Das meistverbreitete Motiv ist eine Brieftauben mit einem Brief im Schnabel. Die erste Freimarke, auf der eine Brieftaube zu sehen war, ist die Basler Taube. Sie wurde am 1. Juli 1845 vom Kanton Basel herausgegeben. Die Gestaltung übernahm der Architekt Melchior Berri. Die Taube wurde geprägt und steht daher aus dem Briefmarkenpapier etwas hervor. Das Briefmarkenmotiv wurde in den drei Farben schwarz, blau und karmin hergestellt und ist somit außerdem die erste mehrfarbige Briefmarke der Welt.
Die ersten deutschen Briefmarken, auf denen eine Brieftaube abgebildet wurde, sind gleichzeitig die ersten Flugmarken Deutschlands: sie wurden am 10. Juni 1912 anlässlich der Flugpost am Rhein und am Main als Briefmarkenserie zu drei Werten ausgegeben. Der Entwurf der Briefmarken stammte von Professor Kleunkens. Später wurden die Flugpostmarken mit dem Namen des befördernden Flugzeuges Gelber Hund und der Abkürzung E.EL.P. für Ex Est Luftpost überdruckt.
Literatur
Ullrich Häger: Großes Lexikon der Philatelie. Bertelsmann Lexikon, Gütersloh 1973, 1978. ISBN 3-570-05338-5
Salvador Bofarull: Pigeon mail through history. Stuart Rossiter Fund, Bristol 2001.
John Douglas Hayhurst: The Pigeon Post into Paris 1870–1871. Hayhurst, Ashford Middlesex 1970.
J. Reg. Walker: The Great Barrier Island 1898–99 Pigeon Post Stamps. Collectors Club handbook. Band 22. Walker, Neuseeland 1968.
Schletterer Martin: Die Taube im Wandel der Zeit. Biologische und historische Variationen. DAV Sachbuch. Der andere Verlag, Osnabrück 2004. ISBN 3-89959-175-5
Militärische Vorschrift des Deutschen Kaiserreichs: D.V.E. Nr. 98 – Vorschrift für den Militär-Brieftaubenverkehr im Kriege – 1904
Einzelnachweise
Weblinks
Historische Entwicklung der Taubenpost
Ausführliche Darstellung der Geschichte der Taubenpost (englisch)
Die Taubenpost im Deutsch-Französischen Krieg (englisch)
Die Taubenpost in Neuseeland um die Jahrhundertwende (englisch)
Militärische Einsätze von Brieftauben während der beiden Weltkriege (englisch)
Bild eines mobilen militärischen Taubenschlags
Implementierung von RFC1149 durch die Bergen Linux User Group
Einsatz von Brieftauben im Militär im 1. und 2. Weltkrieg (deutsch)
Postgeschichte
Brieftaube
Versandform
Tiere im Verkehrswesen |
698447 | https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss%20Blois | Schloss Blois | {
"type": "FeatureCollection",
"features": [
{
"type": "Feature",
"properties": {"marker-symbol":"camera","marker-color": "46ea5f","title": "Schloss Blois"},
"geometry": {
"type": "Point",
"coordinates": [
1.332693,
47.585884
]
}
}
]
}
Das Schloss Blois () ist eines der Schlösser der Loire. Es steht auf einem Bergsporn am rechten Ufer der Loire in der französischen Stadt Blois im Département Loir-et-Cher. Weil es unter den französischen Herrscherhäusern Valois und Orléans von 1498 bis 1589 Residenz der französischen Könige war und Bauwerke aus vier Epochen in einer Anlage vereint, ist es eines der bekanntesten Loireschlösser.
Im 10. Jahrhundert von den Grafen von Blois als wehrhafter Turm auf einem Felsplateau erbaut, wurde es bis ins 13. Jahrhundert allmählich zu einer Burganlage erweitert. Der letzte Graf von Blois verkaufte diese Ende des 14. Jahrhunderts an die Herrscherdynastie der Valois.
Die Könige Ludwig XII. und Franz I. nutzten die Gebäude als ihre Hauptresidenz und ließen zahlreiche Umbauten und Erweiterungen vornehmen. Die letzten baulichen Veränderungen erfuhr das Schloss im 17. Jahrhundert nach Plänen des Architekten François Mansart, versank danach aber allmählich in der Bedeutungslosigkeit.
Nachdem die Gebäude während der Französischen Revolution geplündert und beschädigt worden waren, wurden sie ab 1845 umfassend restauriert. Das Schloss Blois war damit das erste Loire-Schloss, das nach der Revolution wiederhergestellt wurde und als Vorbild für die Restaurierung fast aller heute bekannten Schlösser des Loiretals diente, zum Beispiel Schloss Azay-le-Rideau, Schloss Chenonceau und Schloss Amboise. Seitdem wird es als Museum genutzt.
Geschichte
Geschichte und Schicksal des Schlosses waren bis zur Französischen Revolution unzertrennlich erst mit der Grafschaft Blois und anschließend mit dem Herzogtum Orléans verbunden.
Bewohner und Besitzer
Blois gehörte im 9. Jahrhundert zum Machtbereich der Robertiner und kam per Erbschaft im ersten Viertel des 10. Jahrhunderts an Thibaut l’Ancien, der erster Graf von Blois wurde. Dessen Sohn Thibaud I., le Tricheur genannt, legte den Grundstein für die Schlossanlage. Als Thibaud IV. von Blois 1152 starb, teilten seine beiden ältesten Söhne die Besitzungen ihres Vaters untereinander auf. Blois kam an Thibaud V., dessen Enkelin Marie die Grafschaft und den Wehrbau durch ihre Heirat 1226 in die Familie von Châtillon brachte.
Als Guy II. von Blois-Châtillon seinen einzigen Sohn und Erben verloren hatte, verkaufte er die Grafschaft Blois gemeinsam mit der Grafschaft Dunois 1391 für 200.000 französische Kronen an Louis de Valois, den Bruder König Karls VI. und späteren Herzog von Orléans.
Dessen Sohn Charles de Valois geriet 1415 bei der Schlacht von Azincourt in englische Gefangenschaft. Während seiner Abwesenheit wurde die Anlage von seinem Stiefbruder Jean de Dunois verwaltet, der von dort aus die Praguerie organisierte. Charles zog sich 1440 nach Blois zurück und machte das Schloss zu einem Zentrum der Poesie und der Intellektuellen. Sein Sohn Louis, seit 1465 Herzog von Orléans, wurde 1498 als Ludwig XII. König von Frankreich. Er wählte seine Geburtsstadt Blois als Hauptresidenz und machte sie damit zur Hauptstadt des französischen Königreichs.
Ludwig hinterließ das Schloss 1515 seinem Nachfolger Franz I., der es ebenfalls als Hauptresidenz nutzte, weil seine Frau Claude de France sehr an der Anlage hing. Nach ihrem Tod im Juli 1524 wählte Franz I. Schloss Fontainebleau als bevorzugten Aufenthaltsort und widmete sich der Gestaltung von Schloss Chambord. Blois wurde anschließend nur noch für kurzzeitige Aufenthalte und Feste des französischen Hofs genutzt. Pierre de Ronsard lernte hier im April 1545 während eines Balls seine spätere Muse Cassandre Salviati kennen. Vor allem während der Regentschaft Katharinas von Medici war das Schloss oft Veranstaltungsort für pompöse Feste und große Jagdgesellschaften.
Wenngleich nicht mehr Hauptresidenz der französischen Könige, so hielten sich diese trotzdem noch häufig im Schloss Blois auf. König Heinrich III. rief dort im Dezember 1576 sowie Oktober 1588 die Generalstände zusammen und ließ am 23. Dezember 1588 im Schloss seinen Rivalen Henri I. de Lorraine ermorden. Auch Ludwig XIII. stattete Blois 1616 gemeinsam mit seiner Frau Anne d’Autriche einen Besuch ab, ehe er seine Mutter Maria de’ Medici ab 1617 dorthin in die Verbannung schickte.
Die Anlage blieb in königlichem Besitz, bis Ludwig XIII. das Schloss und die Grafschaft Blois 1626 mitsamt dem Herzogtum Orléans seinem Bruder Gaston anlässlich dessen Heirat mit Marie de Bourbon schenkte. Der König tat dies nicht ohne eigennützige Hintergedanken; das Hochzeitsgeschenk war eher einer Art Exil gleichzusetzen, denn Ludwig XIII. entfernte auf diese Weise seinen intriganten Bruder vom Pariser Hof. Mit dem Tod Gastons 1660 endete die Ära des Schlosses als königliche Residenz endgültig. Lediglich Marie Casimire Louise de la Grange d’Arquien, Witwe des polnischen Königs Jan Sobieski, und Anna Jabłonowska, Mutter Stanislaus I. Leszczyńskis, nutzen die Anlage zeitweilig noch als Wohnsitz.
Ludwig XVI. plante, das Schloss abreißen zu lassen, und unterschrieb einen entsprechenden Befehl im Februar 1788. Bevor dieser jedoch ausgeführt werden konnte, fiel die Entscheidung, den Gebäudekomplex in eine Kaserne umzuwandeln, was die Anlage vor der Vernichtung bewahrte. Während der Französischen Revolution konfisziert, diente es noch bis in die Zeit des Empires als Kaserne und zeitweilig auch als Gefängnis für Kriegsgefangene. Anschließend stand der Abriss ein weiteres Mal zur Diskussion, ehe der Staat die Anlage am 10. August 1810 der Stadt Blois schenkte, die heute noch Eigentümerin ist.
Baugeschichte
Die Anfänge
Schon in der Römerzeit war das heutige Stadtgebiet besiedelt. Obwohl ein „castrum“ (Blisum castrum) erst 854 nach der Eroberung und Zerstörung durch Wikinger urkundlich erwähnt wurde, ist sicher, dass der Schlossfelsen bereits in der Karolingerzeit wehrhaft bebaut war. Die zerstörte Befestigung wurde nach dem Wikinger-Überfall aber wieder aufgebaut.
Thibaud I. von Blois begann mit dem Bau eines ersten Wehrturms wahrscheinlich aus Stein, dessen genauer Standort jedoch unbekannt ist und unter dem heutigen Südwest-Flügel des Schlosses vermutet wird. Thibauds Enkel Eudes II. baute ihn um 1030 weiter aus. Ein Text aus dem Jahr 1080 beschreibt die Anlage als ein Wohnhaus mit einem freistehenden Turm, die von einer Ringmauer umgeben sind.
Bereits seit dem 9. Jahrhundert existierte eine kleine Kapelle auf der Anhöhe, die Saint-Calais genannt wurde. Ihr folgte 1122 der Bau der Kollegiatkirche Saint-Sauveur. Diese wurde im damaligen Vorburgareal errichtet und diente bis zu ihrem Abbruch im Jahr 1793 als Pfarrkirche der Burg. Jeanne d’Arc erhielt dort ihre vom Reimser Erzbischof Regnault de Chartres geweihte Standarte, ehe sie 1429 mit ihrem Heer nach Orléans zog, um die Stadt von der Herrschaft der Engländer zu befreien.
Thibaud VI. von Blois ließ um 1210 an der Nordecke des Schlosses ein Gebäude errichten, das den sogenannten Ständesaal beherbergte. Seinen Namen erhielt der Raum von den Generalständen, die dort 1576 und 1588 abgehalten wurden. Zuvor war er unter den Bezeichnungen Großer Saal () und Gerichtssaal () bekannt.
Noch in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurde die bestehende Anlage durch die Familie de Châtillon ausgebaut und stärker befestigt. Sie ließ eine 650 Meter lange, den gesamten Felssporn umfassende Ringmauer mit neun Rundtürmen und drei befestigten Toren errichten. Drei dieser Türme sind heute noch teilweise im Nordwest-Flügel des Schlosses erhalten, während der mächtige Tour du Foix immer noch am südlichen Rand des Schlossareals steht. Seine Schießscharten weisen darauf hin, dass er im Mittelalter dem Schutz der südwestlichen Ecke der Anlage und des benachbarten Tores diente, das mit Porte du Foix bezeichnet wurde. In seinem Inneren befand sich früher zudem eine heute nicht mehr erhaltene Poterne.
Hauptresidenz der französischen Könige
Nachdem Louis de Valois, späterer Herzog von Orléans, die Anlage 1391 erworben hatte, begann er mit ihrer Erneuerung. Zuerst ließ er den „großen Turm der Burg“ () wiederherrichten. Louis’ Sohn Charles setzte die begonnenen Arbeiten ab 1440 fort und ließ dabei eine heute noch teilweise erhaltene Galerie und eine Treppe errichten. Die Um- und Ausbauarbeiten erfolgten höchstwahrscheinlich nach Entwürfen von Leonardo da Vinci. Architektonisch auffällig ist eine innere linksgewundene Wendeltreppe, deren Bauform und Konstruktion – nach Erklärungen von Theodor Cook – durch die Schneckenschale von Voluta vespertilio (Mittelmeer-Rollschnecke) inspiriert worden sein soll. Diese Interpretation wird auch durch die künstlerische Darstellung der äußeren Balustrade der Treppe unterstützt, die dem äußeren Rand der Schale entspricht. Die Linksspirale wird dagegen dadurch interpretiert, dass da Vinci Linkshänder war.
Bei Charles’ Tod 1465 war die Erneuerung der Burg immer noch nicht vollständig abgeschlossen und wurde von seinem Sohn Louis auch nicht zu Ende geführt, denn dieser ließ die alte Burg stark umgestalten, nachdem er 1498 als Ludwig XII. den französischen Thron bestiegen hatte. Ludwig wählte seinen Geburtsort Blois zu seiner Hauptresidenz und benötigte somit einen Aufenthaltsort, der nicht nur ausreichend Komfort bot, sondern für einen König auch angemessen repräsentativ war. In der Zeit von 1498 bis Dezember 1501 wurde dazu ein neuer Gebäudeflügel mit Portal im Nordosten der Kernburg errichtet, der nach seinem Erbauer Flügel Ludwigs XII. genannt wird. Auf der Außenseite stand in einer Nische über dem Portal eine lebensgroße Reiterstatue des Königs, die dort 1502 ihren Platz fand und dem italienischen Bildhauer Guido Mazzoni zugeschrieben wird. Außerdem ließ Ludwig die alte Kapelle durch einen Neubau ersetzen, der am 19. November 1508 geweiht wurde. Die Südwest-Seite der Anlage bildete zu jener Zeit ein Gebäudekomplex, der Perche aux Bretons genannt wurde und auf Zeichnungen des französischen Architekten Jacques I. Androuet du Cerceaus von etwa 1575 zu sehen ist. Er ersetzte sehr wahrscheinlich die alten Burggebäude aus dem 11./12. Jahrhundert.
Wie zu jener Zeit die nordwestliche Seite der Anlage ausgesehen hat, ist aufgrund fehlender zeitgenössischer Darstellungen nicht nachvollziehbar. Fest steht lediglich, dass dort schon seit dem 15. Jahrhundert ein Gebäudeflügel existierte, der mit Nouveau Logis bezeichnet wurde.
Auch Ludwigs Nachfolger Franz I. nutzte die Burg in Blois zunächst als Hauptresidenz. Unter Einbezug der alten Ringmauer und deren Türme ließ er im Nordwesten der Anlage ab 1515 einen neuen Wohnflügel bauen. Dazu wurden an beiden Seiten der Ringmauer zwei Bauten errichtet und anschließend unter einem gemeinsamen Dach zu einem Gebäude zusammengefasst. Deshalb zieht sich heute noch in der Mitte des Flügels eine ungewöhnlich dicke Mauer über seine gesamte Länge und reicht bis zur obersten Etage. An der Außenseite erhielt das neue Gebäude eine von der italienischen Architektur inspirierte Schaufassade, die über ihre gesamte Breite mehrgeschossige Rundbogennischen besaß und einen guten Blick auf die damaligen Gartenanlagen bot. Sie ist heute unter der Bezeichnung Loggienfassade () bekannt. Erstmals in Frankreich verfolgte man damit eine Abkehr von wehrhafter Architektur zugunsten von repräsentativer Offenheit und damit den Übergang von der Burg zum Schlossbau.
Der Architekt dieses Renaissance-Flügels ist bis heute nicht genau bekannt, es wird jedoch Domenico da Cortona dahinter vermutet. Der leitende Maurermeister ist indes überliefert. Es handelte sich um Jacques Sourdeau, der auch in Amboise und Chambord tätig war. Franz’ Bauvorhaben wurde nie vollständig beendet, denn nach dem Tod seiner Frau Claude zog er 1524 nach Fontainebleau um, ohne dass die Arbeiten am Schloss Blois fortgeführt wurden. Das abrupte Ende der Bautätigkeiten zeigt sich unter anderem im Fehlen einiger Dekorelemente an den Fassaden des Baus.
Nach dem Weggang des Hofes wurden am Schloss kaum noch bauliche Veränderungen vorgenommen. Katharina von Medici ließ am Flügel Franz’ I. eine hofseitige Arkadengalerie mit dorischen Säulen errichten, die heute jedoch nicht mehr erhalten ist. Auch der einzige Giebel im Dachgeschoss der Loggienfassade ist auf sie zurückzuführen.
Letzter Umbau und Niedergang
Im 17. Jahrhundert plante Gaston d’Orléans als designierter Thronfolger, alle Schlossgebäude von Blois abzureißen und durch Neubauten im Stil des klassizistischen Barocks zu ersetzen. Die Entwürfe zu diesem Vorhaben stammten von dem französischen Architekten François Mansart, der einige dieser Neubauten bereits Heinrich IV. vorgeschlagen hatte. Von den umfassenden Plänen kam aber nur das Corps de Logis zur Ausführung, dessen Bau am 4. Januar 1635 begann und bis November 1638 andauerte. Dann musste Gaston die Bauarbeiten aus Geldnot beenden, denn nach der Geburt Ludwigs XIV. war seine Thronfolge unwahrscheinlich geworden, und der erste Minister des Königs, Richelieu, hatte ihm die finanzielle Unterstützung für sein Bauvorhaben gestrichen.
Um den Schlossflügel an der Südwest-Seite des Areals nach den Plänen Mansarts verwirklichen zu können, mussten nicht nur die alten Gebäude an dieser Seite niedergelegt werden, auch der westliche Teil des Flügels Franz’ I. und 1635 das Schiff der Kapelle Saint-Calais wurden dazu abgerissen. Da der Bau zu Lebzeiten Gastons nicht fertiggestellt wurde, logierte dieser im Flügel Franz’ I. und verbrachte seine Zeit unter anderem damit, in dem von ihm um 1640 erbauten Observatorium auf dem Dach des Tour du Foix astronomische Untersuchungen vorzunehmen.
1788 existierten unter Ludwig XVI. Pläne zum Abriss sämtlicher Schlossbauten, aber dann wurden die Gebäude in eine Kaserne umgewandelt. Diese Nutzung bewahrte sie zwar vor der endgültigen Zerstörung, es ging jedoch viel der architektonisch wertvollen Innenausstattung verloren, weil sie unabsichtlich zerstört oder mit Absicht entfernt wurde. Sogar die ehemalige Kapelle diente militärischen Zwecken.
Während der Französischen Revolution erging es der Anlage in Blois wie zahlreichen Schlössern in Frankreich. Sie wurde von Revolutionstruppen geplündert und stark beschädigt. Nahezu alle königlichen Wappen und Embleme des Steinschmucks wurden als Zeichen der Unterdrückung entfernt und 1792 auch die Reiterstatue über dem Schlossportal zerstört.
Restaurierungen
Nachdem der Staat die Anlage der Stadt Blois 1810 zum Geschenk gemacht hatte, wurde sie weiterhin als Kaserne genutzt. Während der Restauration öffnete man den Flügel Franz’ I. für Besucher und dachte über Nutzungsmöglichkeiten nach, die nicht militärischer Natur waren. Ihre Umsetzung scheiterte jedoch immer an fehlenden finanziellen Mitteln. Das Schloss befand sich in einem desolaten baulichen Zustand, und um die verschiedenen Nutzungsvorschläge realisieren zu können, mussten die Gebäude zuerst einmal umfassend saniert werden. 1840 wurde das Schloss unter Denkmalschutz gestellt. Auf Betreiben des Inspecteurs der neu gegründeten Commission des Monuments historiques, Prosper Mérimée, wurde gegen den Willen des französischen Kriegsministers Nicolas Jean-de-Dieu Soult im Juli 1844 beschlossen, den von Franz I. erbauten Renaissance-Flügel zu restaurieren. Mit den dazu nötigen Arbeiten wurde der Architekt Jacques Felix Duban beauftragt, der bereits durch die Restaurierung der Sainte-Chapelle in Paris von sich Reden gemacht hatte. Unterstützt wurde er dabei von Jules de La Morandière, einem Schüler Eugène Viollet-le-Ducs. Das Ergebnis der vom September 1845 bis Januar 1848 durchgeführten Restaurierung ist heute unter Architekturhistorikern nicht unumstritten, denn Duban stellte einen Bau- und Dekorationszustand her, der größtenteils nur exemplarisch von Befunden anderer Bauten abgeleitet wurde, für das Schloss Blois aber nicht nachgewiesen war. So wurde bei den Arbeiten zum Beispiel die dekorative Gliederung der Hoffassade stark verändert. Weitere Restaurierungsarbeiten folgten dennoch. Unter Leitung Dubans wurde von 1852 bis 1855 der Flügel Ludwigs XII. restauriert und erhielt 1858 über dem Portal eine Kopie des Reiterstandbildes als Ersatz für das zerstörte Original. Es folgten von 1861 bis 1862 die Wiederherstellung des Ständesaals im Stil der Neorenaissance und in den Jahren 1867 bis 1868 die Instandsetzung der Kapelle.
Die Restaurierungsergebnisse beeindruckten die Verantwortlichen der Commission des Monuments historiques dermaßen, dass auch die Wiederherstellung anderer zerstörter Schlösser im Loiretal in Angriff genommen wurde. Blois war somit wegweisend für die Restaurierung der meisten heute noch erhaltenen Loire-Schlösser.
Nach dem Tod Felix Dubans 1871 wurde Jules de La Morandière mit der Fortsetzung der Restaurierung beauftragt. Ab 1880 begann er mit Arbeiten am Flügel Gastons d’Orléans nach Plänen, die noch von Duban stammten. De La Morandière wurde schon bald durch Anatole de Baudot ersetzt. Dieser beendete bis 1900 die Wiederherstellung des klassizistischen Flügels und war auch für die Restaurierung des ersten Stockwerks im Flügel Franz’ I. verantwortlich. Die heutige Treppe im Gaston-Flügel stammt jedoch erst aus dem Jahr 1932.
Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Schlossgebäude im Juni 1940 und August 1944 durch Bombentreffer beschädigt. Die Kapelle Saint-Calais traf es besonders schwer, denn ihre Buntglasfenster aus dem frühen 16. Jahrhundert wurden ebenso zerstört wie die durch den Duban-Schüler Charles Chauvin restaurierten Wandmalereien. Die übrigen Gebäude hatten ihre Dächer verloren, die erst ab 1977 ersetzt wurden. Unter der Leitung des Chefarchitekten der Caisse nationale des monuments historiques et des sites, Patrick Ponsot, folgten schließlich ab 1980 Instandsetzungsarbeiten, bei denen unter anderem Innenmalereien aufgefrischt und Böden im Flügel Franz’ I. ersetzt sowie der Innenhof des Schlosses gepflastert wurden.
Gartenanlagen
Die ersten Gärten in Blois entstanden im 15. Jahrhundert unter Ludwig XII. Neben einem kleinen Obstgarten im Vorburgareal ließ er im Burggraben einen Obst- und Gemüsegarten anlegen, der Vergers des fossées genannt wurde. Nordwestlich davon entstand wahrscheinlich um 1470 außerhalb der Burggräben ein Ziergarten mit dem Namen Jardin de Bretonnerie. Diesen Garten ließ Ludwig XII. nach Plänen des Landschaftsarchitekten Pacello da Mercogliano, den sein königlicher Vorgänger Karl VIII. aus Italien mitgebracht hatte, erweitern. Eigens dazu kaufte er 1499 Gelände, das westlich des Jardin de Bretonnerie lag.
Der neue Garten wurde auf zwei großen Terrassen angelegt, die etwas oberhalb des alten Ziergartens lagen. Die untere der beiden Terrassen wurde Garten der Königin () genannt. Er bestand anfänglich aus vier regelmäßigen Parterren mit einem Pavillon in der Mitte, in dem sich ein 1503 aufgestellter Springbrunnen aus Marmor befand. An drei Außenseiten des Gartens standen Laubengänge. An der Ostseite der Terrasse ließ Ludwig bis 1506 am Ende eines solchen Laubengangs ein Gebäude errichten, dessen Gewölbekeller einen Ausgang zum niedriger gelegenen Jardin de Bretonnerie bot. Die architektonischen Ähnlichkeiten zum Flügel Ludwigs XII. im Schloss resultieren daraus, dass dieses Gebäude von den gleichen Künstlern wie der Schlossflügel gestaltet wurde. Seit dem 19. Jahrhundert wird es Pavillon der Anne de Bretagne () genannt, es gibt jedoch bisher keinen Beweis, dass der Pavillon tatsächlich für seine Namensgeberin errichtet wurde.
Westlich des Gartens der Königin wurde anschließend auf einer wiederum höher gelegenen Terrasse der Garten des Königs () angelegt. Das dazu nötige Terrain erwarb Ludwig XII. 1505 und 1510. Der Garten des Königs wurde anscheinend als Gemüsegarten genutzt und besaß einen 30 Meter tiefen Brunnen, der über ein hydraulisches System Wasser zur Bewässerung aller Schlossgärten lieferte.
Erreichbar waren die drei Gartenterrassen über die sogenannte Hirschgalerie (), eine geschlossene Galerie, die vom Nouveau Logis aus über den Graben zu einem Eingangspavillon im Garten der Königin führte. Ihr Name resultierte aus unzähligen Geweihen von Hirschen, Elchen und Rentieren, die in dem Bau als Jagdtrophäen ausgestellt waren.
Unter Franz I. wurden die Gartenparterres verändert, ehe Heinrich IV. am 25. Juni 1598 den Befehl gab, im Garten eine 200 Meter lange Galerie mit einem mittleren und zwei Eckpavillons zu errichten. Unter der Leitung Arnauds de Saumery begannen deshalb noch im selben Jahr die entsprechenden Bauarbeiten. Bis 1602 war die Galerie samt Mittelpavillon fertiggestellt, die beiden geplanten Eckpavillons wurden jedoch nie realisiert. 1756 stürzte die Galerie – aufgrund ihres Erbauers auch Flügel Heinrichs IV. genannt – zum Teil ein. Ihre Reste wurden zehn Jahre später völlig niedergelegt.
Die Gärten wurden mitsamt den Gartengebäuden während der Französischen Revolution größtenteils zerstört und verschwanden in späteren Jahren durch Bautätigkeiten endgültig. Lediglich eine Orangerie und der Pavillon der Anne de Bretagne blieben erhalten. Letzterer wurde um 1890 von Anatole de Baudot restauriert.
Architektur
Das Schloss Blois steht, umgeben von der Stadt, am Ende eines Felsenvorsprungs, dessen Plateau an drei Seiten steil abfällt. Die vierte, nordöstliche Seite der Anlage war früher durch einen Halsgraben geschützt und ist seit jeher diejenige Seite, von der aus die Gebäude über eine Vorburg betreten werden können. Die Vorburggebäude sind heutzutage nicht mehr existent, aber der Platz östlich des Schlosses, der Place du château (deutsch: Schlossplatz), besitzt immer noch den Grundriss und die Ausmaße des ehemaligen Vorburgareals.
Schloss Blois besteht heute aus Bauten, die ein unregelmäßiges Viereck bilden. Dessen Ecken sind – wie früher üblich – nach den Himmelsrichtungen ausgerichtet. Drei Gebäudeflügel sind nach ihren jeweiligen Erbauern benannt: Flügel Ludwigs XII., Flügel Franz’ I. und Flügel Gastons d’Orléans. An der vierten, zur Loire hin gelegenen Südostseite stehen eine Kapelle mit einer niedrigen Galerie und der sogenannte Tour du Foix.
Südostseite
Der Innenhof des Schlosses wird im Südosten durch die ebenerdige Galerie Karls VIII. und die dahinter liegende Kapelle Saint-Calais begrenzt. Der Erbauer der Galerie aus Naturstein konnte bis heute nicht eindeutig bestimmt werden. Sie wurde vermutlich von Karl VIII. etwa in der Mitte des 15. Jahrhunderts errichtet und ist deshalb nach ihm benannt. Sie war mit ihren schlichten, achteckigen Pfeilern, die flache Korbbögen tragen, wahrscheinlich Vorbild für die sehr ähnlichen Galerie im Schloss Fougères-sur-Bièvre. Im ersten Geschoss besitzt der Backsteinbau gotische Kreuzfenster auf einem profilierten, doppelten Gesims, die von Natursteinquadern gerahmt und im Dachgeschoss von Lukarnen mit Stufengiebeln bekrönt sind.
Es ist aber auch möglich, dass erst Karls Sohn Ludwig XII. die Galerie errichten ließ, denn er ist auch der Erbauer der sich daran anschließenden Kapelle. Von dieser existiert heute nur noch der dreijochige Chor mit bunten Glasfenstern von Max Ingrand aus dem Jahr 1957. Das etwa gleich lange einschiffige Langhaus wurde im 17. Jahrhundert abgebrochen.
An der Südecke des Kernburgareals steht der Tour du Foix, ein Rundturm vom Beginn des 13. Jahrhunderts, der ein Überrest der ehemaligen mittelalterlichen Ringmauer ist. Die Terrasse, auf der er steht, wurde nach ihm Terrasse du Foix benannt. Der einstige Eckturm besitzt drei Geschosse, die jeweils von einem einzigen großen, mit einer Kuppel überwölbten Raum eingenommen werden. Früher nur über eine Leiter zu einem Hocheingang betretbar, sind die Etagen heute durch eine Holztreppe aus dem 17. Jahrhundert erschlossen. Auf dem Dachplateau steht ein quadratischer Aufbau aus Backsteinen mit Eckquaderungen aus hellem Haustein, der als astronomisches Observatorium diente.
Flügel Ludwigs XII.
Der Eingang des Schlosses befindet sich im 1498–1503 errichteten spätgotischen Flügel Ludwigs XII., der aus rotem Ziegel und hellem Werkstein im Stil des Flamboyants errichtet wurde und schon erste Elemente im Stil der Renaissance aufweist.
An der Außenseite des zweigeschossigen Flügels steht über dem Rundbogenportal in einer Nische, die von zwei hochgotischen Bögen überspannt wird, ein lebensgroßes Reiterstandbild Ludwigs XII. Darunter befindet sich das Stachelschwein, umrahmt von den zwei bekrönten Initialen L und A für die Vornamen Ludwig und Anne. Sie ersetzen eine früher dort befindliche lateinische Inschrift. Die Statue ist eine Nachbildung des während der Französischen Revolution zerstörten Originals vom Beginn des 16. Jahrhunderts. Sie wurde 1857 von dem französischen Bildhauer Émile Seurre gefertigt. Im Obergeschoss des Flügels befinden sich zwei Balkone, welche die dahinter liegenden Räume als königliche Appartements kennzeichnen. Heute ist in dem Flügel das Musée des Beaux-Arts untergebracht.
Hofseitig befindet sich im Erdgeschoss das auffälligste Element dieses Gebäudetrakts, eine ebenerdige Galerie mit flachbogigen, gotischen Arkaden, die abwechselnd von einem Pfeiler und einer Säule getragen werden. Diese sind mit Schmuckformen der italienischen Renaissance verziert, zum Beispiel Pflanzenornamenten, Masken, Delphinen, Füllhörnern und kleinen Figuren. Die Galerie war eine Neuheit in der französischen Architektur dieser Zeit, denn durch sie war es erstmals möglich, die an die Galerie angebundenen Räume zu betreten, ohne dabei erst andere, benachbarte Räume durchschreiten zu müssen. Die Galerie wird an ihren beiden Enden von einem viergeschossigen, quadratischen Treppenturm mit Eckquaderungen und Horizontalgesimsen abgeschlossen. Die Ecken des größeren, nördlichen Turms sind als Rundsäulen gestaltet. Das Dachgeschoss besitzt Lukarnen, in deren außenseitigen Giebel sich das königliche Wappen und Ludwigs Initiale finden.
Der eindrucksvollste Raum in diesem ältesten Teil des Schlosses ist der Ständesaal aus dem frühen 13. Jahrhundert. Er ist der älteste profane gotische Saal in Frankreich. Hier gewährten die Grafen von Blois Audienzen, veranstalteten Feste und nahmen Ehrenbezeugungen entgegen. Der Saal misst 30 mal 18 Meter und ist wegen seiner Größe in zwei nebeneinander liegende Schiffe geteilt. Deren Dachstühle sind mit einer bemalten Täfelung in Form eines Tonnengewölbes verkleidet und werden durch eine Säulenreihe mit verbindenden spitzbogigen Arkaden getragen.
Flügel Franz’ I.
Der dreigeschossige Renaissanceflügel Franz’ I. zeigt auf der Hofseite einen großen offenen Wendelstein, eines der letzten bedeutenden Exemplare eines außerhalb des eigentlichen Gebäudekorpus befindlichen Treppenhauses. Die Fassade wirkt durch die Position der Wendeltreppe asymmetrisch, denn durch den Abriss des westlichen Gebäudeteils steht der achteckige Treppenturm nicht mehr exakt in der Mitte der Mauer. Seine steinernen Balustraden in Form der Symbole Franz’ I. sind nicht die Handläufe der Treppe, wie es auf den ersten Blick scheint, sondern die Brüstungen von Balkonen, von denen Schauspiele im Schlosshof beobachtet werden konnten. Ebenso wie die Brüstungen sind die Eckpfeiler der Treppe innen und außen reich verziert und besitzen im unteren Bereich Nischen, in denen Statuen stehen. Diese sind wie das Reiterstandbild im Flügel Ludwigs XII. eine Kopie der Originale, die im 19. Jahrhundert von Émile Seurre angefertigt wurden. Ebenerdig finden sich in einer großen Nische links neben dem Treppeneingang die Initialen F und C (für Franz und Claude), die Franz’ Emblem – den Salamander – einrahmen.
Dieses Tiersymbol wiederholt sich vielfach in der Hoffassade des Flügels. Diese ist durch Pilaster und Friese in rechteckige Mauerfelder gegliedert, die in ihrer Mitte den Salamander als Relief aufweisen. Das zweite Stockwerk wird von einem Kordongesims mit einem filigranen, doppelten Rundbogenfries und darüber liegender Balustrade abgeschlossen. Diese stark italienisch inspirierten Architekturelemente sind einzigartig in Frankreich.
Auf der Gartenseite besticht der Flügel Franz’ I. durch seine Loggienfassade, die wahrscheinlich durch die von Donato Bramante gestalteten Loggien des Vatikans inspiriert wurden. Im Gegensatz zum äußeren Anschein und zum italienischen Vorbild befinden sich hinter den Pilastergerahmten Bögen jedoch keine durchgehenden Loggiengänge. Die Geschosse schließen an der Dachtraufe mit einem Bogenfries und einer darüber befindlichen Balustrade ab.
Der gesamte Schlossflügel ist auffallend üppig mit skulptiertem Dekor versehen. Sogar die Schornsteine sind von aufwändig gearbeitetem Steinschmuck bekrönt. Dieser ist jedoch eine Beigabe des 19. Jahrhunderts, denn Zeichnungen Jacques Androuet du Cerceaus aus dem dritten Viertel des 16. Jahrhunderts beweisen, dass dieses Dekor im 16. Jahrhundert noch nicht existierte.
Im Inneren des Erdgeschosses befanden sich die Küche und Wirtschaftsräume. Heute beheimatet es das Musée archéologique et Musée lapidaire. An der Raumaufteilung des Erdgeschosses lässt sich sehr gut ablesen, dass der Flügel am Ort einer alten Ringmauer errichtet wurde und diese in den neuen Bau mit einbezogen wurde. Deshalb finden sich im Flügel Franz’ I. die Mauern dreier Rundtürme aus der einstigen Ringmauer, die im 13. Jahrhundert errichtet wurden. Von einem dieser Türme ist sogar noch der Name überliefert: Tour de Châteaurenault.
Das erste Geschoss beheimatet die einstigen Appartements der französischen Königin. Katharina von Medici starb dort 1589. Zwei besonders bekannte Räume in dieser Etage sind das Oratorium der Königin mit Glasfenstern von Claudius Lavergne, der auch die ersten Fenster der Kapelle Saint-Calais gestaltete, sowie das sogenannte Kabinett der Königin. Letzteres ist ein Raum mit Kassettendecke und einer etwa um 1520 zu datierenden Täfelung, die aus 237 einzelnen Holztafeln besteht. Diese sind aufwändig geschnitzt und teilweise sogar mit Gold bemalt. Über Pedale in der Fußleiste lassen sich zudem vier Geheimfächer in der Wand öffnen. Seit der Veröffentlichung von Alexandre Dumas’ Roman La Reine Margot, in denen der Autor die Wandfächer als geheime Aufbewahrungsorte Katharinas von Medici für Giftampullen beschrieb, hält sich hartnäckig das Gerücht, dass diese Verwendungsart als Giftschrank den Tatsachen entsprochen habe. In der Realität wurden sie jedoch vielmehr als Aufbewahrungsort für wertvolle Kunstgegenstände, wichtige Dokumente und Bücher genutzt. Der Raum ist das einzige Renaissance-Kabinett dieser Art, das in Frankreich erhalten ist. Die Gestaltung des Fußbodens, der Decke und des Kamins wurden durch Vorbilder im Ballsaal des Schlosses Fontainebleau inspiriert.
Das zweite Geschoss des Flügels wird von den Appartements des Königs eingenommen. Auf dieser Etage ließ Heinrich III. im Dezember 1588 seinen politischen Widersacher, den Herzog von Guise, ermorden. Deshalb ist das königliche Schlafzimmer auch der bekannteste Raum des Geschosses, obwohl der heutige Raum durch weitreichende Umgestaltungen im 19. Jahrhundert mit großer Wahrscheinlichkeit nicht der Ort des damaligen Attentats ist. Der heutige Salle des Guise erinnert mit seinen zahlreichen Gemälden zur Geschichte des Attentats an dieses historische Ereignis.
Flügel Gastons d’Orléans
Der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts von François Mansart für den Bruder des Königs und Herzog von Orléans errichtete Flügel Gastons d’Orléans erscheint im Stil des frühen französischen Klassizismus. Es ist der ausgeführte Teil einer durch Mansart erfolgten Neu- und Umplanung des gesamten Schlosskomplexes, die jedoch nicht vollständig realisiert wurde.
Der dreigeschossige Flügel mit Mansarddach besitzt hofseitig einen Mittelrisalit, dem sich zwei kurze Seitenflügel anschließen. Revolutionär und den späteren französischen offiziellen Baustil bestimmend (etwa die Ostfassade des Louvre) ist der Einsatz sogenannter Doppelsäulen im Erdgeschoss, die sich in zwei seitlichen halbrunden Kolonnaden – konkav von den Seitenpavillons kommend – der Gebäudemitte nähern. Alle Geschosse des Mittelrisalits sind gleichfalls mit Säulen versehen. Ihre Gestaltung entspricht von unten nach oben der klassischen Säulenfolge: dorisch, ionisch, korinthisch. Das zweite Geschoss des Mittelrisalits wird durch einen Dreiecksgiebel bestimmt. Ihm folgt im dritten Geschoss ein Rundgiebel mit dem Wappen Gastons d’Orléans, der von einer Büste des Bauherrn bekrönt wird. Sie ist eine Kopie von 1915, die von dem Bildhauer Alfred Halou gefertigt wurde und das während der Französischen Revolution zerstörte Original von Jacques Sarrazin ersetzt. Die übrigen Figuren und Skulpturen des Flügels stammen ebenfalls aus der Werkstatt Sarrazins oder aus der seines Zeitgenossen Simon Guillain. Die Fassade war in ihrer monumentalen Schlichtheit Vorbild für weitere Bauten der Krone, die bis hin zum Schloss Compiègne an einem relativ einfachen, aber trotzdem beeindruckenden Dekor festhielt.
Das Treppenhaus ist als sogenanntes französisches Treppenhaus gestaltet, das heißt aus zwei Rampen bestehend und gänzlich im Gebäudekorpus integriert. Es verläuft über die Höhe aller drei Geschosse und ist im oberen Stockwerk von einer reich verzierten, runden Kuppel abgeschlossen, die sich über einer viereckigen Deckenöffnung erhebt. Allerdings handelt es sich bei der Treppe nicht um ein Original aus der Zeit Mansarts, denn sie wurde erst 1932 nach dem Vorbild des ebenfalls von Mansart gestalteten Treppenhauses im Schloss Maisons-Laffitte gebaut.
Gebäude in den ehemaligen Gärten
Von den ehemaligen Gartenanlagen des Schlosses ist mit Ausnahme zweier Gebäude nichts mehr erhalten.
Im sogenannten Pavillon der Anne de Bretagne ist heute das Fremdenverkehrsbüro der Stadt Blois beheimatet. Ursprünglich war er das Belvedere des Schlossgartens. Der dreigeschossige Bau aus Backsteinen mit hellen Eckquaderungen aus Naturstein vom Beginn des 16. Jahrhunderts besitzt ein polygonales Schieferdach. Seinem achteckigen, zentralen Baukörper mit einem Durchmesser von 7,85 Metern schließen sich vier kurze Flügel an, die nach den Himmelsrichtungen ausgerichtet sind. Im östlichen Flügel befindet sich ein Oratorium. Die Steinbalustrade des Pavillons ist mit Maßwerk und den Initialen Ludwigs XII. und Anne de Bretagnes dekoriert.
Dem Pavillon schließt sich östlich ein Fachwerkbau an, der früher als Orangerie diente und heute ein Restaurant beheimatet. Das Gebäude ist vermutlich die erste Orangerie Frankreichs.
Heutige Nutzung
Seit der Restaurierung Ende des 19. Jahrhunderts wird das Schloss Blois als Museum genutzt. Im Obergeschoss des Flügels Ludwigs XII. befindet sich heute das 1850 gegründete Musée des Beaux-arts, das Kunstmuseum der Stadt Blois. Zu seinen Exponaten gehören unter anderem zahlreiche Skulpturen und Gemälde des 16. bis 19. Jahrhunderts – darunter Werke aus der Schule von Fontainebleau – sowie eine Sammlung wertvoller Tapisserien. Im ersten Geschoss des Flügels ist zudem eine Gemäldegalerie mit 39 Porträts aus dem 17. und 18. Jahrhundert beheimatet, die wichtige Persönlichkeiten und Mitglieder des französischen Königshofs zeigen.
Im Erdgeschoss des Flügels Franz’ I. ist heute das Musée archéologique et Musée lapidaire untergebracht. Es zeigt Fundstücke von Grabungen, die unter anderem im Schlossareal durchgeführt wurden, und originalen Skulpturenschmuck des Schlosses, der bei den Restaurierungsarbeiten im 19. Jahrhundert nicht wieder verwendet wurde. Darüber hinaus sind dort Repliken von Einrichtungsstücken zu sehen, deren Vorbilder aus einer Zeitspanne stammen, die in der gallorömischen Zeit beginnt und bis zum Mittelalter reicht.
Literatur
Jacques Androuet du Cerceau: Les plus excellents bastiments de France. Band 2. L’Aventurine, Paris 1995, ISBN 2-84190-011-8, doi:10.11588/diglit.1562.
Jean-Luc Beaumont: Chronologie des châteaux de France. Pays de la Loire et Centre. TSH, Le Cannet 2004, ISBN 2-907854-29-1.
Thierry Crépin-Leblond: Le château de Blois. Monum, Ed. du patrimoine, Paris 2002, ISBN 2-85822-635-0.
Christophe Gratias: Le pavillon d’Anne de Bretagne et les jardins du château de Blois. In: Pierre-Gilles Girault: Flore et jardins. Usage, savoirs et représentations du monde végétal au Moyen Age. Léopard d’Or, Paris 1997, ISBN 2-86377-142-6, S. 131–144.
Wilfried Hansmann: Das Tal der Loire. Schlösser, Kirchen und Städte im «Garten Frankreichs». 4. Auflage. DuMont, Köln 2011, ISBN 978-3-7701-6614-5, S. 85–93 (Digitalisat).
Herbert Kreft, Josef Müller-Marein, Helmut Domke: Jardin de la France. Schlösser an der Loire. CW Niemeyer, Hameln 1967, S. 171–174.
Pierre Lesueur: Les jardins du château de Blois et leurs dépendances. Étude architectonique. In: Mémoires de la Société des Sciences et des Lettres de Loir-et-Cher. Jahrgang 18, 1904, , S. 223–438 (Digitalisat).
Eckhard Philipp: Das Tal der Loire. 3. Auflage. Goldstadtverlag, Pforzheim 1993, ISBN 3-87269-078-7, S. 192–205.
Georges Poisson: Schlösser der Loire. Goldmann, München 1964, S. 40–47.
Weblinks
Website des Schlosses (mehrsprachig)
Dossier zum Schloss Blois in der Base Mérimée (französisch)
Bilder aus der Base Mémoire
Schloss Blois auf richesheures.net (französisch)
Einzelnachweise
Blois
Renaissancebauwerk in Centre-Val de Loire
Klassizistisches Bauwerk in Centre-Val de Loire
Blois
Blois
Blois
Blois
Monument historique seit 1840
Schloss
Museum in Centre-Val de Loire |
740931 | https://de.wikipedia.org/wiki/Heiligtum%20der%20Isis%20und%20Mater%20Magna%20%28Mainz%29 | Heiligtum der Isis und Mater Magna (Mainz) | Das Heiligtum der Isis und Mater Magna entstand im römischen Mogontiacum im 1. Jahrhundert und bestand bis in das 3. Jahrhundert. Bei Bauarbeiten zur Einkaufsgalerie „Römerpassage“ in der Mainzer Innenstadt wurden seine baulichen Überreste Ende 1999 entdeckt und freigelegt.
Weihe-Inschriften belegen die Verbindung des flavischen Kaiserhauses mit der Errichtung des Heiligtums und lassen einen möglichen Zusammenhang zwischen der Stiftung des Heiligtums und einem politisch brisanten Anlass für die Weihung vermuten. Die baulichen Überreste, ausgewählte Funde und eine multimediale Rahmenpräsentation sind in Form eines kleinen Museums im Untergeschoss der Römerpassage zu besichtigen.
Geschichtlicher Hintergrund
Im Jahr 13/12 v. Chr. begann mit dem Bau eines Legionslagers auf dem Mainzer Kästrich, einer Erhebung oberhalb des Rheintals, die fast 500 Jahre dauernde römische Geschichte von Mainz. Die sich schnell entwickelnden Canabae, der zivile Vicus in Richtung Rhein sowie die öffentlichen Bauten der späteren Provinzhauptstadt, wie Thermen, Theater, Verwaltungsgebäude und Tempel, folgten schnell, vor allem unter dem flavischen Kaiserhaus. In dieser Zeit wurde auch die Tempelanlage für Isis und Magna Mater errichtet.
Im Heiligtum in Mogontiacum wurden laut den gefundenen Inschriften sowohl Isis – hier mit den Zusätzen Panthea (‚Allgöttin‘) und Regina (‚Königin‘) versehen – als auch die Muttergottheit Magna Mater verehrt. Beide Göttinnen wurden höchstwahrscheinlich im Rahmen der Ausweitung des römischen Imperiums von den römischen Truppen in Mainz eingeführt, die ihre Religion mitbrachten. Der Kult der Isis stammt ursprünglich aus Ägypten, die Gottheit Mater Magna geht zumindest bis auf die kleinasiatische Göttin Kybele zurück (siehe Isis- und Osiriskult und Kybele- und Attiskult). Beide Kulte hatten im römischen Reich bereits eine längere Tradition: Kybele/Mater Magna wurde seit dem Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. in Rom verehrt. Isis war bereits seit langem im ägyptischen Pharaonenreich Bestandteil des Pantheons. Über die Ptolemäer und den hellenistischen Kulturkreis kam auch die römische Welt in Kontakt mit dem Isis-Kult. In der römischen Republik und zu Beginn der Kaiserzeit bis zu Tiberius teilweise verboten, etablierte sich der Isis-Kult endgültig unter Kaiser Caligula. In der neuen Provinz Germania superior mit seiner Provinzhauptstadt Mogontiacum waren diese Kulte hingegen neu.
Seitdem der Gründer des flavischen Kaiserhauses, Kaiser Vespasian, in Alexandria von der ägyptischen Gottheit Serapis seine Bestimmung zur Herrschaft erhalten hatte, hatten die Flavier einen engen Bezug zu orientalischen Kulten. Die ägyptische Göttin Isis war dabei eine Repräsentantin des Kaiserkultes, vergleichbar der Position der Venus im julischen Kaiserhaus. Vor Ort gefundene Ziegel mit militärischen Ziegelstempeln lassen in diesem Kontext auf ein im staatlichen Auftrag errichtetes Gebäude zur vom Kaiser geförderten Kultausübung schließen.
Das Heiligtum wurde in den nächsten 200 Jahren mehrfach grundlegend umgebaut und befand sich nach dem Bau der ersten Stadtmauer um 250 auch innerhalb des geschützten Stadtgebietes. Gegen Ende des 3. Jahrhunderts n. Chr., eventuell sogar später, wurde der Kult der Isis und Mater Magna in Mainz nicht mehr praktiziert. Das Heiligtum wurde aufgegeben und der Gebäudekomplex verfiel. Konkrete Gründe für die Einstellung des Kultbetriebs sind nicht bekannt. Datierbare Funde liegen vor allem aus dem 1. und 2. Jahrhundert vor und belegen die rege Nutzung des Heiligtums in diesem Zeitraum. Eventuell kann die weitere Aufarbeitung des umfangreichen Fundmaterials eine präzisere Datierung der Nutzungsdauer des Heiligtums ermöglichen.
Wahrscheinlich lag das Gelände aufgrund der Randlage im frühmittelalterlichen Mainz längere Zeit brach. Beginnend mit der Errichtung des Klosters der Armen Klarissen nach 1330 und dem zeitlich ähnlich einzuordnenden Bau des Wamboldter Hofs wurde im Mittelalter das Gelände mit Klosteranlagen und Patrizierhöfen überbaut.
Wiederentdeckung, Ausgrabung und Rettung
1999 sollte eines der letzten innerstädtischen Areale mit Bebauung aus den 1950er Jahren städtebaulich aufgewertet werden. Um eine Einkaufspassage zu errichten, wurde die vorhandene Bebauung abgerissen und für die Fundamente eine entsprechend große Baugrube ausgehoben. Das Bauprojekt wurde vom Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz, Amt Mainz, begleitet. Da in diesem Areal die Römerstraße vom Legionslager in Richtung Rheinbrücke verlief (Teile davon wurden bei den Ausgrabungen freigelegt), rechneten die beteiligten Archäologen mit einer typischen Streifenhausbebauung und kleineren Werkstätten aus der Römerzeit.
In fünf Metern Tiefe stieß man Ende 1999 unerwartet auf zwei archäologisch wichtige Befunde: Die Reste eines Heiligtums aus römischer Zeit sowie einen darunter liegenden, rund 700 Jahre älteren Bestattungsplatz der Hallstattzeit. Bei den sich anschließenden archäologischen Grabungen wurden sowohl der Gebäudekomplex des Heiligtums wie auch ein Frauengrab des hallstattzeitlichen Begräbnisplatzes, datiert auf 680–650 v. Chr., dokumentiert. Die Ausgrabungen dauerten rund 17 Monate und endeten Anfang 2001. Zur weiteren archäobotanischen und archäozoologischen Auswertung wurden dem Ausgrabungsareal 15 Tonnen Erdreich entnommen, zusätzlich zu 49 m³ weiteren geborgenen Fundmaterials.
Zunächst war vorgesehen, die baulichen Überreste nach der archäologischen Dokumentation zu entfernen und mit den Bauarbeiten zur Einkaufspassage fortzufahren. Ein ähnliches Schicksal erlitt bereits das in den 1970er Jahren entdeckte, ebenfalls aus dem 1. Jahrhundert stammende Mithräum am Ballplatz, das – unzulänglich dokumentiert – bei den Bauarbeiten unwiederbringlich zerstört wurde. In der Mainzer Bevölkerung formierte sich Widerstand gegen diese Pläne und eine neu gegründete Bürgerinitiative, die Initiative Römisches Mainz e. V., sammelte innerhalb kurzer Zeit mehrere 10.000 Unterschriften für den Erhalt des Heiligtums.
Erreicht wurde dadurch eine dauerhafte Konservierung des Heiligtums und dessen Einbeziehung in die neu gebaute Einkaufspassage.
Wegen eines geplanten Tiefgaragenbaues an dieser Stelle mussten allerdings die Funde transloziert werden. Die baulichen Überreste des Heiligtums wurden in einem aufwändigen Verfahren zerlegt und mehrere Meter versetzt. Die dabei entstandenen Kosten von 3,43 Millionen Euro teilten sich die Stadt Mainz und das Land Rheinland-Pfalz. Seit der feierlichen Eröffnung am 30. August 2003 – zu dem Fest kamen schätzungsweise 25.000 Besucher in die Mainzer Innenstadt – kann das Heiligtum der Isis und Mater Magna in der so genannten Taberna archaeologica im Kellergeschoss der Römerpassage Mainz besichtigt werden.
Das antike Heiligtum
Bei dem Heiligtum handelte es sich nicht um einen Tempel nach griechisch-römischer Bauweise. Eine Säulenhalle fehlt ebenso wie der bei diesem Typ übliche rechteckige Grundriss und der zentrale große Innenraum. Stattdessen handelte sich um einen Sakralbezirk mit Umfassungsmauer und verschiedenartigen Bauwerken mit teils kleinteiligem Grundriss der Räumlichkeiten. Über rund 200 Jahre wurde der Bezirk mehrfach, teils grundlegend, umgebaut. Das Heiligtum entstand im letzten Drittel des 1. Jahrhunderts n. Chr. auf bis dahin unbebautem Gelände entlang der Hauptstraße vom Legionslager auf dem Kästrich Richtung Rheinbrücke. Auf dem Gelände waren zu dieser Zeit noch die Erdaufschüttungen der Hallstattgräber zu sehen. Den Erbauern galt es deshalb wahrscheinlich als „Heiliger Bezirk“ und das Heiligtum wurde bewusst an dieser Stelle angelegt. Auch ein sorgfältig gemauerter Schacht, der absichtlich in die Mitte der Grabanlage unter dem Heiligtum geführt wurde, zeugt davon.
Von einer Hauptstraße führte ein Seitenweg zum Heiligtum. Im Umfeld befanden sich eine Latrine sowie einfache Fachwerkbauten. Diese waren mit Herden und Brunnen ausgestattet, die auf eine Verwendung als Versammlungs- und Kulträume schließen lassen. Zur ersten Anlage gehörten noch zwei kleinere Rechtecktempel. Spätere Umbauten datieren in das 2. Jahrhundert und vergrößerten das Heiligtum auf eine ca. 16 × 16 m große Fläche. Zwei gleich große Innenräume wurden von weiteren, kleineren Räumen umgeben. In der Mittelachse gab es eine zentrale Brunnenstube (im Plan rechts außen liegend), die wahrscheinlich im Kultbetrieb eine Rolle spielte. Von der Mittelachse zur Brunnenstube konnte auch die einzige Türöffnung im ansonsten tief ausgerissenen Mauerwerk nachgewiesen werden. Eventuell diente die Brunnenstube als Quelle für das im Kultbetrieb benötigte „Heilige Nilwasser“. Im Gebäudekomplex, gegenüber den Haupträumen, wurden drei massiv gemauerte Steinsockel gefunden. Wahrscheinlich dienten sie als Altäre. Im zum Heiligtum gehörenden Innenhofbereich fanden sich zudem zahlreiche Feuerstellen mit verbranntem Opfergut und Depotgruben.
Bei den Bauten handelte es sich durchweg um Fachwerkbauten mit steingemauerten Sockelzonen. Die Wände aus Flechtwerk wurden allerdings durch aufgetragenen Verputz und dessen Bemalung aufgewertet. Bei den Ausgrabungen fanden sich Hunderte von bunt bemalten Putz- sowie Stuckfragmenten. Ein größeres Wandfragment zeigt auf rotem Untergrund Teile der Abbildung des Anubis mit Heroldstab und Palme, wie in der antiken Literatur bei Apuleius beschrieben. An den Sockelmauern wurden zudem Reste von weiß getünchten Stuckfragmenten in situ aufgefunden. Der Boden des Heiligtums bestand offenbar lediglich aus Stampflehm, da bei den Grabungen keinerlei Estrichreste gefunden wurden. Eingedeckt waren die Gebäude mit Dachziegeln und Holzschindeln. Bei den aufgefundenen Ziegeln überraschte die hohe Anzahl von militärischen Stempeln, so beispielsweise der „Mainzer Hauslegion“ Legio XXII Primigenia, der Legio I Adiutrix oder der Legio IIII Macedonica. Interdisziplinäre Forschung ermöglichte die Lokalisierung von römischer Baukeramik mit Ziegelstempeln für die Herstellungsprovenienz Rheinzabern (Tabernae).
Archäologische Präsentation
Im Zuge der Rettung der baulichen Überreste wurde das Heiligtum im Bauzustand des 2. Jahrhunderts geborgen und konserviert. Eingebaut wurde das Heiligtum im Kellergeschoss der Römerpassage in fünf Metern Tiefe (entspricht der Fundtiefe) und exakter ehemaliger Ausrichtung zur römischen Straße. Zusammen mit der Geschäftsstelle der Initiative Römisches Mainz e. V. im Erdgeschoss werden die Räumlichkeiten, die im August 2003 eröffnet wurden, auch als Taberna archaeologica bezeichnet. Die Präsentation des Heiligtums mit den wichtigsten Funden der Ausgrabung wurde mit Hilfe moderner Methoden der Museumspädagogik und multimedialer Technik aufwändig umgesetzt. Besucher können die im Raum zentral eingebauten Überreste des Heiligtums von allen Seiten über einen Glassteg begehen und einsehen. Mittels Diaprojektion werden verschiedene Abbildungen der Isis und Mater Magna inmitten der Mauerreste projiziert. Neben den Schauvitrinen vermitteln multimediale Komponenten anschaulich einzelne thematische Aspekte. Eine Filmproduktion zeigt eine nachgespielte Ritualszene mit einem Isis-Priester und einer Römerin, die heimlich einen Mitbürger verfluchen lässt. Dabei werden im Original ausgestellte Funde als Repliken in die Spielszenen eingebunden. In regelmäßigen Abständen wird eine Hörsequenz abgespielt, in der Claudius Secundus (gesprochen vom Mainzer Kabarettisten und Musiker Lars Reichow), ein Bürger des römischen Mainz, über den Isiskult und die Saturnalien im römischen Mainz im Jahr 69 n. Chr. berichtet. Eine Diaserie und mehrere Computerterminals mit weiteren interaktiven Informationen und archäologischen Spielen für Kinder vervollständigen das Multimediakonzept. Zehn in die Wand eingebaute und mit einer anhebbaren Klappe verschlossene Schaukästen zeigen Originalfunde zum Kultgeschehen und erläutern Zusammenhänge. Informationstafeln, u. a. ein Plan des römischen Mainz nach derzeitigem Erkenntnisstand, sind ebenfalls Bestandteil der kleinen Museumsausstellung.
Beschreibung ausgewählter Einzelfunde
Weiheinschriften
Bei den Ausgrabungen fanden sich neben Altären auch mehrere Weihesteine bzw. Teile von diesen. Sie ermöglichten einerseits die eindeutige Feststellung, welchen Gottheiten das Heiligtum gewidmet war. Andererseits konnten mit Hilfe der Inschriften auch der Bezug zu Vespasian und damit die Erstdatierung des Heiligtums gesichert werden.
Im Folgenden die drei wichtigsten Weiheinschriften:
Fragment einer Tabula ansata (Tafel mit zwei Handgriffen) aus Sandstein, die an einer Mauer befestigt war. In der Inschrift wird Vespasian genannt, der vom 1. Juli 69 bis 23. Juni 79 römischer Kaiser war:
{| class="wikitable"
! Originaltext
! Übersetzung
|-
|[--- Primi]genius ---
[--- Imp(eratoris) Ve]spasiani Aug(usti)
[--- procur]atoris a[r]carius
[--- Matri] deum ex im[p]erio
[eius ---] posuit
|„(Vorname) Primigenius (Rasur)
… des Imperators Vespasianus Augustus
… des Prokurators Kassenverwalter
… hat auf ihr Geheiß für die (große) Göttermutter
(das Bauwerk mit Inschrift) errichten lassen.“
|}
Vollständig erhaltene Tabulae ansatae mit fast identischen Weiheinschriften für Mater Magna und Isis Panthea:
{| class="wikitable"
! Originaltext
! Übersetzung
|-
|Pro salute Augustorum
s(enatus) p(opuli)q(ue) R(omani) et exercitus
Matri Magnae Claudia Aug(usti) l(iberta) Icmas
et Vitulus Caes(aris) sacer(dote) Cla(udio) Attico (l)ib(erto)
|„Für das Wohlergehen der Kaiser(und) des römischen Senates und Volkes und des Heereshaben für Mater Magna (diesen Stein setzen lassen) Claudia Icmas, Freigelassene des Kaisers,und Vitulus, kaiserlicher Sklave, unter dem Priester Claudius Atticus, (ebenfalls) Freigelassener.“
|-
|Pro salute Augustorum et
s(enatus) p(opuli)q(ue) R(omani) et exercitus
Isidi Pantheae Claudia Aug(usti) l(iberta) Icmas
et Vitulus Caes(aris) sacer(dote) Claud(io) Attico lib(erto)
|„Für das Wohlergehen der Kaiserund des römischen Senates und Volkes und des Heereshaben für Isis Panthea (diesen Stein setzen lassen) Claudia Icmas, Freigelassene des Kaisers,und Vitulus, kaiserlicher Sklave, unter dem Priester Claudius Atticus, (ebenfalls) Freigelassener.“
|}
Die zuständige Archäologin Marion Witteyer schließt aus der ausdrücklichen Nennung aller staatstragenden Institutionen (Kaiser, Senat, Volk und Heer) in den letzten beiden Inschriften auf einen politisch brisanten Anlass für die Stiftung. Möglicherweise war die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung nach einer Krisensituation, ausgelöst unter Beteiligung der Mainzer Legionen, die Ursache für diese Weihung und die Stiftung des Heiligtums. Diese Schlussfolgerung wird unterstützt durch die bereits erwähnte Häufung von Ziegeln mit Militärstempel, die damals als so genanntes Fiskalgut galten. Sie deuten darauf hin, dass die Baumaßnahmen entweder öffentlichen Charakter hatten oder zumindest aber staatlich mit der Stellung von Baumaterial gefördert wurden.
Fluchtäfelchen
Zu den unmittelbar im Zusammenhang mit dem Heiligtum stehenden Funden gehören 34 Fluchtafeln, die in Opfergruben gefunden wurden. Weltweit sind knapp 600 ähnliche Täfelchen bekannt, der Mainzer Fund verdoppelte die Anzahl der bisher in Deutschland gefundenen Fluchtäfelchen. Die entzifferten Täfelchen aus Mainz enthalten durchweg Verwünschungszauber. Fast ausnahmslos werden Menschen wegen Unterschlagung von Wertgegenständen oder Geld verwünscht, in einem Fall aber auch eine Nebenbuhlerin in einer Liebesangelegenheit. Die Durchführung solcher magischer Praktiken wie die Niederschrift von Verfluchungen durch Priester des Heiligtums fand nicht in der Öffentlichkeit statt, sondern aufgrund des Verbotes durch römische Rechtsprechung nur im Verborgenen. Wie die Zahl der gefundenen Fluchtäfelchen und weitere in diesen Kontext einzuordnende Funde zeigen, gehörte die „Verfluchung auf Wunsch“ gegen entsprechende Honorierung offensichtlich trotzdem zumindest zeitweise zum Alltagsgeschäft der Priester.
Die gerollten oder gefalteten Täfelchen sind in das Ende des 1. Jahrhunderts und in den Beginn des 2. Jahrhunderts zu datieren. Ihre Größe reicht von 3 × 5 cm bis 10 × 20 cm. Eine Tafel wurde um einen Hühnerknochen gewickelt aufgefunden, der als so genanntes „Sympathiemittel“ den Zauber noch verstärken sollte und bis zu diesem Fund ausschließlich in Ägypten nachweisbar war. Sie sind in lateinischer Sprache in der damals weit verbreiteten Majuskelschrift oder der Majuskelkursive beschrieben. Während lediglich zwei Täfelchen Verwünschungstexte in Vulgärlatein enthalten, sind zwölf Täfelchen in klassischem Latein und rhetorisch ausgeschmückt. Zwecks göttlichen Beistands wurden auch Mater Magna und der mit ihr gemeinsam verehrte Attis einzeln oder als Paar angerufen. Ein Teil der Fluchtäfelchen wurde mittlerweile übersetzt, wobei ältere Lesarten immer wieder durch neue, korrektere Lesarten ersetzt werden.
Text eines Fluchtäfelchens:
{| class="wikitable"
! Originaltext
! Übersetzung
|-
|Prima Aemilia Nar-
cissi agat quidquid co-
nabitur quidquid aget
omnia illi inver-
sum sit
sic illa nuncquam
quicquam florescat
amentita surgat a-
mentita suas res agat
quidquid surget om-
nia interversum sur-
gat Prima Narcissi
aga(t) como(do) haec carta
nuncquam florescet
|„Was immer Prima Aemilia,
Geliebte des Narcissus, ver-
suchen wird, was immer sie tun wird,
verkehrt sein
soll ihr alles.
So soll sie nimmer
irgendetwas erblühen lassen,
um den Verstand gebracht,
soll sie lügnerisch ihre Dinge verrichten.
Was ihr widerfährt, das soll ihr al-
les verkehrt ausgehen.
Der Prima des Narcissus
soll es so ergehen, indem diese Tafel
niemals erblühen wird.“
|}
„Zauberpuppen“
Der Fund zweier Tonfiguren, so genannter Zauberpuppen, gewährt weitere Einblicke in die magisch-kultische Welt des Heiligtums. Es handelt sich um zwei grob modellierte Männerfiguren, die frei Hand geformt wurden. Sie waren in einem Graben bzw. einem Brunnen im Bereich des Heiligtums deponiert. Beide Figuren weisen über den gesamten Körper mehrere Einstichlöcher auf, so zum Beispiel im Bereich des Herzens. Dieses rituelle Einstechen sollte dazu dienen, einen bestimmten Zauber gegen die gewünschte Person heraufzubeschwören, meist einen Liebeszauber. Eine der Figuren wurde zusätzlich zerbrochen, die beiden Hälften gegeneinander verdreht hingelegt. Dies sollte den Wunsch des Verfluchenden darstellen, dass die Person solange desorientiert sei, bis der Zauber Wirkung zeigt. Bei der größeren Tonfigur (siehe Abbildung rechts) wurde auch ein Bleitäfelchen gefunden, welche die Person für die Göttin eindeutig identifizieren sollte: Es trägt den romanisierten keltischen Namen Trutmo Florus Clitmonis filius („Trutmo Florus, Sohn des Clitmo“).
Bronzefigur „Männlicher Zwerg“
Einer der kostbarsten Fundgegenstände ist die kleine Bronzefigur eines männlichen Zwerges. Entstanden wahrscheinlich schon im 1. Jahrhundert v. Chr., war sie zum Zeitpunkt ihrer Einbringung im Heiligtum bereits eine Antiquität. Die Figur ist von hoher künstlerischer Qualität und im Bronzevollguss hergestellt. Fuß- und Fingernägel sind aus Silber.
Die Figur zeigt einen mit Umhang und Haarbinde spärlich bekleideten Zwerg, der in leichter Rückenlage steht. Die ausgestreckte linke Hand hielt wahrscheinlich einen unbekannten Gegenstand, die rechte Hand führt zum lockenhaarigen Kopf. Möglicherweise stellt die Figur einen trunkenen Teilnehmer einer Kultfeier dar.
Hallstattzeitliches Frauengrab
Im Rahmen der Ausgrabungen im Bereich des Heiligtums stießen die Archäologen unerwartet auf ein hallstattzeitliches Grabhügelfeld. Alle Grabstätten waren von Gräben umgeben und mit einem Erdhügel bedeckt. Mehrere der gefundenen Gräber wurden aufgedeckt. Diese waren aber durch die der Bestattung nachfolgende Bautätigkeit gestört. Eine Ausnahme war ein Kammergrab, das zwar von Grabplünderern zu einem späteren Zeitpunkt geöffnet wurde, aber relativ ergiebig war. Das Grab konnte nach den Erkenntnissen späterer Untersuchungen als hallstattzeitliches Frauengrab einer sozial höher gestellten Persönlichkeit angesprochen werden. Gefunden wurden Gegenstände der persönlichen Ausstattung der Toten wie zum Beispiel Schmuck, ein Geschirrservice und Reste des Totenbrettes. Das nicht im anatomischen Verband gefundene Skelett war zwar fast vollständig erhalten, Teile davon allerdings stark fragmentiert. Das Fundmaterial des Frauengrabes ließ damit sowohl dendroarchäologische wie auch anthropologische Untersuchungen zu.
Dendroarchäologische Untersuchungen
Im sterilen Rheinsand des Bodens der Begräbnisstätte hat sich das 2,20 × 0,9 m große Totenbrett gut erhalten. Untersuchungen des Labors für Dendroarchäologie in Trier erlaubten für das verwendete Holz und somit das Begräbnis eine dendrochronologische Datierung von 680 bis 650 v. Chr. Die Funddatierung in diesen Zeitraum gilt als singulär in Rheinland-Pfalz und der Befund ist der bislang älteste Holzfund aus archäologischen Grabungen in Rheinland-Pfalz.
Anthropologische Untersuchungen
Die anthropologische Untersuchung der aufgefundenen Skelettreste ergab, dass es sich bei der bestatteten Person um eine Frau handelte, die zwischen 35 und 45 Jahre alt wurde. Die Person war zu Lebzeiten wenig muskulös und eher grazil, entsprach aber mit einer ermittelten Körpergröße von 159 cm dem damaligen Durchschnitt für Frauen. Anhand der Skelettreste konnte die Todesursache nicht festgestellt werden. An pathologischen Veränderungen waren lediglich Abnutzungserscheinungen im rechten Kniegelenk (Arthrose) festzustellen sowie starker Zahnsteinbelag an den Zähnen, insbesondere an den Backenzähnen.
Anhand des zwar fragmentierten, aber insgesamt vollständig erhaltenen Schädels soll nach gerichtsmedizinischen Methoden eine Rekonstruktion des Gesichtes vorgenommen werden.
Sonstige Funde
Zusätzlich zu den genannten größeren Funden gibt es eine Vielzahl weiterer Kleinfunde. Weitere Steinfunde sind beispielsweise verschieden große Weihealtäre und -reliefs mit Inschriften oder Skulpturenfragmenten. Die zahlreichen Stuck-, Putz- und Ziegelfragmente versprechen weitere Hinweise auf bautechnische Details des ausgegrabenen Objektes. Die im Kultalltag üblichen Weihegaben liegen in größerer Anzahl vor: Bildnisse anderer Götter, insbesondere Mercurius und Venus, aus Bronze oder Ton, ferner in Masse produzierte Tonmodelle besonders beliebter Sujets wie Liebespaare oder Tierfiguren (als Ersatz für „echte“ Tieropfer) sowie Geldmünzen aus Münzopfern oder beinerne Nadeln und bronzene Miniaturäxte. Männliche Tonfiguren in altertümlicher Rüstung sowie entsprechend gekennzeichnete Weiheinschriften stammten von den Pausarii, dem militärisch in Kultvereinen organisierten Personal des Heiligtums.
Der Bestand der im Sakralbezirk gefundenen Öllämpchen ist mit rund 300 Exemplaren außergewöhnlich hoch. Alle Lampen weisen am Brennloch Rußspuren auf und waren daher in Nutzung. Die meisten Lampen wurden auf Brandopferstellen liegend vorgefunden. Hier wurden sie nach Beendigung des Opfervorgangs niedergelegt. Großformatige Öllampen gehörten zur Ausstattung des Heiligtums und wurden zur Beleuchtung der Räume verwendet.
Archäologisch bedeutend ist die große Anzahl von Opfergaben, die in Brandopfer- oder Entsorgungsgruben gefunden wurden: Tierknochen von Hennen und Vögeln, verkohlte Reste von Backwaren, Kerne von Stein- und Kernobst, Nüsse, Getreide, Datteln und Feigen, Reste von Pinienzapfen, Hühnereier usw. Es gibt außerdem Funde von Kultgeschirr wie Räucherkelche oder Spendegefäße sowie Profangeschirr, wahrscheinlich für Kultmahlzeiten.
Archäologische Erkenntnisse
Die zusammenfassende Auswertung der archäologischen Befunde, ihrer Zusammenhänge und ihrer wissenschaftlichen Interpretation dauert nach wie vor an. Eine Präsentation erster Forschungsergebnisse ist angekündigt, bisher aber noch nicht erschienen. Die mit der Auswertung befassten Archäologen haben allerdings schon einen Teil der Arbeiten durchführen können und eine Reihe von Aussagen zu dem Fund gemacht.
So war der Wissenschaft bislang nicht bekannt, dass der Isiskult bereits so früh in die Nordprovinzen des römischen Imperiums vorgedrungen war. Die eindeutig ermittelbare Zeitstellung des Heiligtums in das letzte Drittel des ersten Jahrhunderts n. Chr., also in die Zeit Kaiser Vespasians, führte dazu, dass die bisherige Lehrmeinung revidiert werden musste. Auch wurde mit dem Mainzer Heiligtum erstmals außerhalb Italiens ein den beiden orientalischen Gottheiten gemeinsam geweihtes Heiligtum gefunden. In Mogontiacum war der Isiskult bis dahin nicht bzw. nur durch Kleinfunde, der Kult der Mater Magna erst ab dem Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. bezeugt. Auch die Anrufung des der Mater Magna zuzuordnenden Attis ist erstmals in den Mainzer Fluchtäfelchen belegt.
Bei den Ausgrabungen wurde insgesamt eine Vielzahl von Befunden gemacht. Dabei nimmt das Frauengrab des Gräberfeldes der Hallstattzeit eine Sonderstellung ein und wird getrennt vom Heiligtum betrachtet. Dem Mainzer Grab wird ein auch überregional besonderer Platz in der eisenzeitlichen Forschung im Kontext der Dendrochronologie zugesprochen.
Im Zusammenhang mit dem Heiligtum wurden Weiheinschriften gefunden, deren Stiftungstext und daraus hervorgehende Datierungen Aufschlüsse über regional bedeutende politische Ereignisse zulassen. Weitere herausragende epigrafische Zeugnisse sind die gefundenen bleiernen Fluchtäfelchen, die zusammen mit den aufgefundenen Zauberpuppen einen Einblick in die nach römischem Recht verbotene und illegal praktizierte magisch-rituelle Kultwelt der einfachen Provinzialrömer geben. Über Durchführung und Organisation des offiziell ausgeübten Kultes für Isis und Mater Magna geben vorgefundene Brandaltäre, Kleinfunde von Weihegaben und Opferdepots detailliert Auskunft. So wurden beispielsweise neben den üblichen Opfergaben wie Terrakotten oder Kleinbronzen bei den Brandopfern untypischerweise viele Knochen von erwachsenen Hähnen und Singvögeln gefunden, die im Heiligtum anscheinend als bevorzugte Opfertiere galten. Typischerweise wurden orientalischen Gottheiten eher Hennen geopfert, die Opferung von Singvögeln war bis dahin unbekannt.
Insgesamt wurde mit dem gefundenen Isis- und Mater Magna-Heiligtum in Mainz ein weiteres wichtiges Detail der römischen Stadtgeschichte entdeckt. Nach wie vor stehen gesicherte Erkenntnisse beispielsweise über den Standort des Sitzes des Provinzstatthalters, des Forums, des Amphitheaters und vor allem des sakralen Bezirkes mit den Tempelanlagen für den Reichsgott Jupiter oder auch Juno von Mogontiacum aus.
Literatur
Marion Witteyer: Göttlicher Baugrund – Die Kultstätte für Isis und Mater Magna unter der Römerpassage in Mainz. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2003, ISBN 3-8053-3150-9.
Gerhild Klose, Katharina Angermeyer: Isis hält Hof. Ein Römerfest zur Eröffnung der Kultstätte der Isis Panthea und Mater Magna in Mainz. In: Antike Welt. 34. Jahrgang, Nr. 4, 2003, S. 521–524, .
Marion Witteyer: Das Heiligtum für Isis und Mater Magna. Broschüre des Landesamts für Denkmalpflege, Mainz 2004, ISBN 3-8053-3437-0.
Marion Witteyer: Verborgene Wünsche. Befunde antiken Schadzaubers aus Mogontiacum-Mainz. S. 41–50.
Jürgen Blänsdorf: „Guter, heiliger Atthis“. Eine Fluchtafel aus dem Mainzer Isis- und Mater-Magna-Heiligtum (Inv.-Nr. 201 B 36). S. 51–58.
Kai Brodersen, Amina Kropp (Hrsg.): Fluchtafeln: neue Funde und neue Deutungen zum antiken Schadenzauber. Verlag Antike, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-938032-04-9. Darin insbesondere
Jens Dolata, Marion Witteyer: Publikumsorientierte Geschichtsvermittlung: Die inszenierte Fundstelle des Heiligtums für Isis und Mater Magna in Mainz. In: Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz – Abteilung Archäologische Denkmalpflege (Hrsg.): Archäologie in Rheinland-Pfalz 2004. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2005, ISBN 3-8053-3551-2, S. 40–43.
Jürgen Blänsdorf: Die Defixionum Tabellae des Mainzer Isis- und Mater Magna-Heiligtums. Mainzer Archäologische Schriften (herausgegeben von der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Direktion Landesarchäologie Mainz), Bd. 9, Mainz 2012, ISBN 978-3-935970-09-9
Weblinks
mainz.de – Isis- und Mater Magna-Heiligtum
Direktion Archäologie Mainz – Heiligtum
Jürgen Blänsdorf: Publikationsliste mit Veröffentlichungen zur Forschung an den Mainzer Fluchtäfelchen (Kapitel X: Archäologie, PDF-Dokument; 135 kB)
Anmerkungen
Archäologischer Fundplatz in Mainz
Römischer Tempel in Deutschland
Mogontiacum
Museum in Mainz
Mainz
Erbaut im 1. Jahrhundert
Mainz
Isis
Sakralbau in Mainz
Geographie (Mainz)
Tempel in Europa
Archäologischer Fundplatz in Europa |
804663 | https://de.wikipedia.org/wiki/Ammolit | Ammolit | Ammolit ist ein seltener opaleszierender Schmuckstein. Er wird hauptsächlich an den östlichen Hängen der Rocky Mountains gefunden und besteht aus den fossilen Überresten von Ammoniten. Ammolit wird auch unter den Handelsnamen Calcentin oder Korit angeboten. In den Sprachen der dort einheimischen Blackfoot-Indianerstämme wird der Stein Aapoak (kleiner, kriechender Stein in der Sprache der Kainai aufgrund des Farbspiels) oder Iniskim („Büffelstein“) genannt.
Entstehung
Während der Kreidezeit befand sich in Nordamerika ein großes subtropisches Binnenmeer, der Western Interior Seaway. Durch die Kontinentaldrift faltete sich der jüngere Teil der Rocky Mountains auf, während das Meer allmählich verschwand. In diesem warmen Meer lebten unter anderen die Ammoniten Placenticeras meeki und Placenticeras intercalare und seltener Baculites compressus.
Deren Schalen sanken nach dem Tod auf den Meeresboden ab und wurden durch Ton (Bentonit) bedeckt. In diesen Bentonit-Sedimentschichten wurden die Ammoniten größtenteils zerdrückt, die Schalen blieben aber erhalten. Diese Schalen bestanden teilweise aus Perlmutt, also feinen plättchenartigen Aragonit-Kristallen, die in einer Protein-Matrix eingebettet sind.
Bei den meisten versteinerten Schalen wurde der Aragonit herausgelöst, da er leichter löslich ist als beispielsweise Calcit im umgebenden Gestein. Die entstandenen Hohlräume wurden später häufig durch anderes Material wie Calcit oder seltener Pyrit gefüllt oder blieben hohl. Bei Temperaturen über 400 °C wandelte sich der instabilere Aragonit in den stabileren Calcit um. Daher sind Fossilien mit erhaltenem Aragonit besonders selten.
Bei den Ammonitengehäusen, aus denen Ammolit entstand, war der Vorgang allerdings etwas anders. Der Aragonit blieb erhalten, dies lag vor allem an der Bedeckung durch wasserundurchlässige Vulkanasche, die von Ausbrüchen der Vulkane der sich bildenden Rocky Mountains stammte. Gleichzeitig gerieten die ammonitenhaltigen Schichten in nicht zu große Tiefen, so dass sie sich nicht über 400 °C erhitzten. Während der Diagenese wanderten Spurenelemente wie Eisen und Magnesium in die Schalen ein.
Nur selten werden komplett gut erhaltene Ammoniten gefunden, bei denen die Lobenlinien noch zu sehen sind. Bis zu 90 cm große Ammoniten sind gefunden worden, aber üblicherweise sind die opaleszierenden Ammoniten sehr viel kleiner.
Eigenschaften
Ammolit besteht hauptsächlich aus Aragonit, welches direkt aus dem ursprünglichen Perlmutt in den Schalen der Ammoniten stammt. Neben Aragonit kommen in variablen Anteilen Calcit, Quarzit, Pyrit und andere Mineralien vor. In der Schale selbst kommen eine Reihe von Spurenelementen vor (Aluminium, Barium, Chrom, Kupfer, Eisen, Magnesium, Mangan, Strontium, Titan und Vanadium).
Ammolit liegt (wie Aragonit) im rhombischen Kristallsystem vor, zeigt aber eine etwas größere Härte 4,5 bis 5,5 und Dichte 2,60 bis 2,85 g/cm³ als dieser. Ammolit ist optisch zweiachsig, die Brechungsindizes des kanadischen Materials (bei 589,3 nm, gelbes Natrium-Licht) sind: α 1,522; β 1,672 bis 1,673; γ 1,676 bis 1,679, und optisch negativ. Unter UV-Licht zeigen manche Ammolite eine senfgelbe Fluoreszenz.
Aufgrund der aus dem ursprünglichen Perlmutt erhaltenen Schichtstruktur des Aragonits zeigt sich eine Opaleszenz. Die entsteht durch die Interferenz in dünnen Schichten, wie in Seifenblasen oder Ölflecken, nicht durch eine Eigenfarbe oder Lichtbrechung. Die Farbe ist dabei von der Schichtdicke abhängig: dicke Schichten liefern rote und grüne Interferenzfarben, dünne Schichten liefern auch Blau- und Gelbtöne.
Wie die ursprüngliche Schale liegt der Ammolit nur in einer sehr dünnen (0,5–0,8 mm) Schicht vor, diese befindet sich meist auf einer grau-braunen Matrix aus Schiefer, Kalkmergel, oder Kalkstein. Durch überliegende Sedimentschichten wurde das Gestein zusammengedrückt, daher sind die Ammoniten meist zerquetscht, so dass sich zahllose Risse in der dünnen Schicht bilden. Diese Risstextur wird manchmal als Drachenhaut oder kirchenglasfensterartig beschrieben. Ammolit aus tieferen Schichten kann auch komplett glatt sein oder auch eine rippelartige Oberfläche zeigen.
Fundorte
Ammolit wird hauptsächlich in der Bearpaw-Formation gefunden, die sich von den kanadischen Provinzen Alberta und Saskatchewan bis nach Montana in den USA erstreckt. Die besten Edelsteinqualitäten finden sich hier an den östlichen Hängen der Rocky Mountains in Südalberta.
Ein ähnliches Material ist Lumachella, ein Marmor aus versteinerten Muscheln und Schnecken, der in Italien und Österreich gefunden wird. Lumachella opalesziert nur teilweise und ist aufgrund des hellen Substrats nicht so brillant wie Ammolit. Der Marmor wird daher auch nicht oder nur sehr selten zu Schmuckzwecken genutzt. Wie anderer Marmor wird er in Mosaiken oder als Verkleidungsplatten verwendet.
Die meisten kommerziellen Bergbaubetriebe für Ammolit befinden sich im Tal des Saint Mary River, einem Nebenfluss des Oldman River, im Gebiet der Städte Cardston und Lethbridge. Von großer Bedeutung ist dabei das Reservat der Kainai-Indianer, wo ungefähr die Hälfte aller Ammolitablagerungen gefunden werden.
Auch auf Madagaskar, in Russland und Somerset/England kann Ammolit gefunden werden.
Gewinnung im Kainah-Reservat
Die wichtigste Firma zur kommerziellen Gewinnung des Ammolit ist Korite International, die seit ihrer Gründung 1979 hauptsächlich in dem Reservat der Kainah arbeitet. Die Gesellschaft zahlt dem Stamm eine Nutzungsgebühr für die von ihr abgebauten Gebiete.
Die Gewinnung geschieht über flache Tagebaue, die mit Baggern ausgehoben werden. Das geförderte Material wird auf seinen möglichen Ammolitgehalt abgesucht. Die Gruben werden auch direkt von Nicht-Angestellten auf an der Oberfläche liegende Ammoliten abgesucht, die anschließend an Korite International verkauft werden. Annähernd fünf Prozent des abgebauten Ammolits sind für die Verarbeitung zu Schmuckstücken geeignet.
Die Ammolitablagerungen sind geschichtet: die oberste dieser Schichten, K-Zone genannt, liegt ca. 15 m unterhalb der Oberfläche und erstreckt sich 30 m in die Tiefe. Der Ammolit innerhalb dieser Schicht ist durch Siderit-Konkretionen umgeben und ist normalerweise zerbrochen, mit einer Menge Ausschuss. Er ist der häufigste und im Allgemeinen am wenigsten wertvolle Ammolit.
Zwanzig Meter tiefer findet sich dann die Blue Zone. In dieser 65 m dicken Schicht ist der Ammolit üblicherweise mit einer dünnen Schicht Pyrit anstatt des Siderits umgeben. Dieser Ammolit bildet hier eher flache Schichten, die weniger zerbrochen sind. Aufgrund dieser besseren Qualität und der wegen der großen Tiefe selteneren Gewinnung ist dieser Ammolit der wertvollste.
Bis 2003 hatte die Korite International nur 30 Acre (etwa 12 ha) der Kainah-Lagerstätte abgebaut. Als Teil ihrer Vereinbarung mit dem Stamm muss die Firma die ausgebeuteten Bereiche wieder auffüllen und sicherstellen, dass die Umwelt nicht dauerhaft nachteilig beeinflusst wird. Die Gesellschaft beschäftigt etwa 60 Personen, die meisten davon sind Kainah, für den Stamm fällt pro Jahr etwa ein Reingewinn von 150.000 bis 200.000 CAD $ ab. Etwa 90 Prozent der Weltjahresproduktion an Ammolit-Schmucksteinen wird hier gewonnen.
Verwendung als Schmuckstein
Ammolit gehört mit Bernstein und Perlen zu den biogenen Schmucksteinen. 1981 begann zusammen mit einer Markteinführung des bis dahin recht unbekannten Steins die Gewinnung in einem größeren Tagebau durch die Bergbaugesellschaft Korite International. Im Jahr 2004 wurde Ammolit als amtlicher Edelstein der kanadischen Provinz Alberta ausgezeichnet.
Ammolit wird als der seltenste organische Schmuckstein angesehen. In seinem Rohzustand wird er zu Preisen von 30 bis 65 USD pro Karat (150–325 $/g) gehandelt. Da er weich und empfindlich ist, benötigt er eine spezielle Verarbeitung, die nur wenigen Experten genau bekannt ist. Diese Verarbeitung macht den Stein widerstandsfähiger und farbkräftiger. Außer dem Schneiden in die gewünschten Formen muss der Stein poliert werden, da eine raue Oberfläche das Licht zu sehr streut und daher nur mattere Farben zeigt. Ein Überzug mit einem Harz sorgt für eine Stabilisierung der dünnen Blättchen, in denen Ammolit vorliegt.
Geschichte
Verglichen mit den meisten anderen Schmucksteinen, hat Ammolit eine kurze Geschichte: Größeres Interesse erzielten die Steine erst in den Siebzigern, nachdem sie 1969 in kleinen Mengen auf den Markt gekommen waren. Der Kainah-Stamm kannte den Stein als Iniskim (Büffelstein) und glaubte lange Zeit, dass der Stein Zauberkräfte besitzt, die bei der Jagd auf Büffel helfen und Büffel anlocken. Außerdem sollte der Stein Heilungskräfte besitzen, so dass die Steine in Zeremonien der Medizinmänner verwendet wurden.
In den späten 1990er Jahren begannen Praktizierende des Feng Shui Ammoliten als einflussreich zu bewerben. Der Stein soll die Macht haben, durch Verbesserung des Flusses der Energie Chi das Wohlbefinden zu steigern und den Körper zu entgiften. Die sogenannte Drachenschuppe (englisch Seven Color Prosperity Stone) soll mit jeder Farbe den Träger in verschiedenen positiven Weisen beeinflussen: eine Kombination aus rubinrot, smaragdgrün und bernsteingelb ist daher stark gesucht, die Farben sollen Wachstum, Weisheit und Gesundheit fördern.
Japan ist der größte Markt für Ammolit. Ein Grund dafür ist die Ersatzfunktion für den zu seltenen schwarzen Opal, der andere ist die Verwendung im Feng Shui. Der zweitwichtigste Markt ist Kanada: Ammolit wird sowohl von Künstlern verwendet, die ihre Kreationen an Touristen im Banff-Nationalpark verkaufen, als auch von Juwelieren. Im Südwesten der USA wird es von den Zuñi und anderen indianischen Kunsthandwerkern verwendet.
Verarbeitung
Im Unterschied zu Opalen ist Ammolit vollständig mineralisiert und enthält kein Wasser. Daher kann er nicht wie der Opal austrocknen und Risse bilden. Dennoch wird auch Ammolit durch die Umgebung schnell beschädigt. Dies liegt vor allem an seiner geringen Härte. Schon üblicher Staub mit darin enthaltenen winzigen Sandkörnern – der enthaltene Quarz hat Mohshärte 7 – kann Kratzer verursachen. Die Tatsache, dass der Ammolit nur in dünnen, empfindlichen Blättchen vorliegt, verstärkt die Gefahr einer Beschädigung durch Abschuppen der Blättchen.
Nur ein geringer Teil der Ammolite hat eine so hohe Qualität, dass sie außer dem Schneiden und Polieren nicht behandelt werden müssten. Die meisten Steine werden zur Stabilisierung mit Epoxidharz oder anderen synthetischen Harzen vor dem Schneiden imprägniert, damit die empfindliche Ammolitschicht nicht abplatzt. So kann die Bildung neuer Risse verhindert werden, bestehende Risse können jedoch nicht mehr geheilt werden. Außerdem ist der Überzug ein Schutz gegen das Verkratzen. Diese Imprägnierungstechnik wurde über mehrere Jahre von Korite International in Zusammenarbeit mit dem Alberta Research Council entwickelt und erstmals 1989 im Markt eingeführt, wodurch wesentlich mehr Ammolite als Schmucksteine verfügbar sind.
Nach dem Polieren ist die Ammolitschicht nur noch 0,1 bis 0,3 mm dick. Nur besonders seltene und wertvolle Ammolite sind noch dick genug, um zusammen mit einer dünnen Schicht (weniger als 1,5 mm) der ursprünglichen Matrix ausreichend stabil zu sein und damit als Schmuckstein verwendet werden zu können. Die meisten Steine dagegen müssen noch stabilisiert werden, indem sie zu Dubletten zusammengesetzt werden. Dabei wird die dünne Ammolitschicht auf einen dunklen, stabilen Träger aufgesetzt. Der Träger kann entweder die dunkle Matrix sein, in welcher der Ammolit üblicherweise eingebettet ist, aber auch schwarzer Onyx oder Glas. Bei besonders dünnen Ammolitschichten werden die Dubletten noch erweitert: auf den Ammolit wird noch eine harte durchsichtige Abdeckung geklebt. Diese üblicherweise konvexe Kappe kann aus synthetischem Spinell, Korund oder Quarz oder auch nur aus Glas bestehen. Eine konvexe Kappe wirkt als Linse und verstärkt den Winkelbereich, in dem das Farbspiel beobachtet werden kann.
Ammolit wird üblicherweise in frei geformten Cabochons gestaltet und in Gold gefasst, Diamanten bilden Akzente. Aufgrund der Empfindlichkeit wird Ammolit idealerweise nur in Anhängern, Ohrringen und Broschen verwendet. Als Ringstein sollte Ammolit nur triplettiert mit einer festen Kappe (beispielsweise Spinell) verwendet werden. Aber auch genügend kleine, komplett polierte Ammoliten werden als Schmuck verwendet. Zur Pflege sollte nur warmes Wasser mit einer milden Seife verwendet werden, Ultraschallbäder können den Stein zerstören.
Qualitätsbezeichnungen
Die Qualität von Ammoliten, die als Schmucksteine verwendet werden, wird über ein Buchstabensystem von gut AA über A+, A nach schlecht A- bewertet. Dieses System ist jedoch noch nicht standardisiert und einige Verkäufer benutzen eigene Systeme. Diese Einstufung und folglich der Wert eines Ammolit-Edelsteins wird durch die folgenden Kriterien bestimmt:
Farbanzahl Ammolite zeigen eine Vielzahl an Farben, die meisten jedoch nur rot und grün. Blau, purpur oder gelb sind wesentlich seltener, weshalb sie wertvoller sind. Die wertvollsten haben etwa gleiche Anteile von drei Farben oder ein bis zwei helle, gleichmäßige Farben. Weniger wertvoll sind Steine, die überwiegend einen matten Farbton zeigen.
Farbspiel Unter verschiedenen Betrachtungswinkeln ändert sich die Farbe des Ammoliten. Bei hochwertigen Steinen ändern sich die Farben in einem weiteren Spektrum. Außerdem ist der Winkelbereich, in dem das Opaleszieren zu beobachten ist, unterschiedlich: Sehr gute Steine zeigen ihr Farbspiel in einem Bereich von 360°, Schlechtere Qualitäten opaleszieren nur in einem begrenzten Winkelbereich von 90° oder weniger.
Helligkeit Die Helligkeit ist im Wesentlichen abhängig davon, wie gut die ehemalige Perlmuttschicht erhalten ist und wie gut die Aragonit-Plättchen geordnet sind. Auch die Politur entscheidet über die Helligkeit.
Oberfläche Eine glatte, nicht zerrissene Ammolitschicht ist am wertvollsten, Risse mindern den Wert. Die Matrix oder sonstige fremde Mineralien sollten nicht sichtbar sein, so dass breite, ununterbrochene Farbbänder über den Ammoliten laufen können.
Verarbeitungsqualität Der Wert der Ammoliten hängt weiter von der Qualität der Verarbeitung ab. Je weniger an zusätzlicher Behandlung nötig ist, desto wertvoller sind die Schmucksteine. Der Nachweis, dass die Ammoliten dublettiert oder triplettiert wurden, ist üblicherweise einfach mit einer Lupe zu führen, bei gefassten Steinen kann das jedoch komplizierter sein.
Imitationen
Ammolit kann weder einfach nachgeahmt werden noch passiert dies häufig. Dagegen wird er selbst als Imitat für den noch wertvolleren schwarzen Opal angeboten. Ähnlichkeiten zeigen jedoch einige andere Stoffe. So zeigt der Labradorit ein bläuliches Opaleszieren. Das Blau und Violett ist allerdings intensiver als das in Ammoliten. Opal-Imitate wie der Slocum Stone zeigen ein Farbspiel in kleineren Flittern. Eine weitere Unterscheidung ist, dass Ammolit selbst opak ist, in den möglichen Imitaten ist das Material eher durchscheinend.
Eine mögliche Nachahmung besteht durch das Perlmutt der Seeohren. Diese bevorzugt grünblau opaleszierende Schnecke ist günstig, da sie massenhaft zum Verzehr gesammelt wird. Die Schalenstruktur ist jedoch markant: geschwungene, blau, grün und rosa opaleszierende Bänder werden durch dunkelbraune Linien aus Conchiolin abgegrenzt. Der Glanz dieses Perlmutts ist eher seidig verglichen mit dem eher glasartigen Glanz polierten Ammolits. Auch die Farben entsprechen einander nicht. Dennoch gibt es Ammolit-Imitate aus gefärbtem Seeohr-Perlmutt dublettiert mit einer Kappe aus synthetischem Quarz. Diese Imitate sind die täuschendsten Nachahmungen und werden auch als Opal-Imitate gefertigt. Unter dem Mikroskop sind aber Ansammlungen des Färbemittels und Luftblasen zwischen Quarz und Perlmutt zu erkennen.
Literatur
Research and development at the Alberta Research Council. Alberta Research Council, Alberta 2004, , S. 7.
M. Campbell Pederson: Gem and ornamental materials of organic origin. Elsevier Butterworth-Heinemann, London 2004, ISBN 0-7506-5852-5, S. 224–225.
M. O'Donoghue: Synthetic, imitation & treated gemstones. Elsevier Butterworth-Heinemann, London 2002, ISBN 0-7506-3173-2, S. 149.
W. Schumann: Gemstones of the world. Sterling Publishing, London 2000, ISBN 0-8069-9461-4, S. 48, 240.
R. Webster, P. G. Read: Gems. Their sources, descriptions and identification. 5. Aufl. Butterworth-Heinemann, London 2000, ISBN 0-7506-1674-1, S. 299, 317, 569.
Weblinks
Korite International (englisch)
Viele Bilder zu Risstexturen (englisch)
Importeur für Europa
Einzelnachweise
Schmuckstein |
862680 | https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeine%20Relativit%C3%A4tstheorie | Allgemeine Relativitätstheorie | Die allgemeine Relativitätstheorie (; kurz ART) beschreibt die Wechselwirkung zwischen Materie (einschließlich Feldern), Raum und Zeit. Sie deutet Gravitation als geometrische Eigenschaft der gekrümmten vierdimensionalen Raumzeit. Die Grundlagen der Theorie wurden maßgeblich von Albert Einstein entwickelt, der den Kern der Theorie am 25. November 1915 der Preußischen Akademie der Wissenschaften vortrug. Zur Beschreibung der gekrümmten Raumzeit bediente er sich der Differentialgeometrie.
Die allgemeine Relativitätstheorie erweitert die spezielle Relativitätstheorie und das Newtonsche Gravitationsgesetz und geht in diese über bei hinreichend kleinen Raumzeitgebieten bzw. Massedichten und Geschwindigkeiten. In zahlreichen Tests der allgemeinen Relativitätstheorie wurde sie experimentell bestätigt und gilt in der von Einstein formulierten Form als einzige allgemein anerkannte Gravitationstheorie.
Ungeklärt ist ihre Beziehung zur Quantenphysik, dem zweiten Grundpfeiler der modernen Physik des 20. Jahrhunderts. Daher gibt es noch keine vereinheitlichte Theorie der Quantengravitation.
Einführung
Grundlegend für die allgemeine Relativitätstheorie ist eine Wechselwirkung zwischen allen Typen physikalischer Systeme, die Energie und Impuls tragen können („Materie“), und der Raumzeit mit zwei Eigenschaften:
Energie und Impuls der Materie beeinflussen die Geometrie der Raumzeit, in der sie sich befinden. Dieser Einfluss lässt sich über einen allgemeinen Krümmungsbegriff formulieren, und in der ART werden Raum und Zeit durch den Begriff der Raumzeitkrümmung beschrieben.
Materie, auf die keine Kraft ausgeübt wird, bewegt sich in Raum und Zeit entlang einer Geodäte. In ungekrümmten Räumen (frei von Gravitation) sind solche Geodäten einfache Geraden, wie etwa im 3-dimensionalen Raum der klassischen Mechanik. Während jedoch der Einfluss von Materie auf Bewegung in der klassischen Mechanik mithilfe einer gravitativen Kraft beschrieben wird, verweist die ART ausschließlich auf die nunmehr gekrümmte Geometrie der Raumzeit. Ebenso wie in der speziellen Relativitätstheorie wird dabei die Bewegung eines Gegenstands entlang eines bestimmten Weges im Raum abstrakter als Weg in den vier Dimensionen der Raumzeit interpretiert und als Weltlinie bezeichnet. Erfolgt die Bewegung dabei kräftefrei (abgesehen von der Gravitation), ist die Weltlinie eine zeitartige Geodäte. Allerdings ist eine zeitartige Geodäte der Raumzeit im Allgemeinen keine Gerade im dreidimensionalen Raum, sondern eine Verbindung zwischen zwei Ereignissen mit zeitartigem Abstand, für welche die verstrichene Eigenzeit einen Extremwert annimmt.
Die erste Aussage beschreibt eine Wirkung der Materie auf die Raumzeit, die zweite beschreibt die Auswirkung der Raumzeit auf die Bewegung der Materie. Die Anwesenheit von Materie verändert also die geometrischen Verhältnisse der Raumzeit, aus denen sich auch die Bewegungsgleichungen der Materie ergeben. Die ART betrachtet dabei die räumlichen und zeitlichen Koordinaten als gleichberechtigt und behandelt alle zeitlichen Änderungen als geometrisches Problem.
Geschichte
Verallgemeinerung des Äquivalenzprinzips
Das klassische Äquivalenzprinzip, manchmal auch als schwaches Äquivalenzprinzip bezeichnet, geht auf Überlegungen Galileo Galileis (1636/38) und Experimente auf dem Gebiet der Kinematik zurück. Die ursprüngliche Formulierung des Äquivalenzprinzips von Galilei besagt, dass alle Körper unabhängig von ihren Eigenschaften im Vakuum dasselbe Fallverhalten aufweisen. Das heißt, zwei Körper unter Einfluss der Schwerkraft, die den gleichen Ort zu aufeinander folgenden Zeiten verlassen, verhalten sich in dem Sinne identisch, dass sie dieselbe Bahn durchlaufen, unabhängig von allen anderen Eigenschaften der Körper wie chemischer Zusammensetzung, Größe, Form und Masse. Die Einschränkung auf das Vakuum ergibt sich dadurch, dass sonst Reibungseffekte und Auftriebskräfte eine Rolle spielen, die von den Eigenschaften des Gegenstands abhängig sind. Isaac Newton formulierte in seiner Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687) das Äquivalenzprinzip als Gleichheit von träger Masse und schwerer Masse. Das heißt, dass im Gravitationsgesetz und im Trägheitsgesetz dieselbe Masse vorkommt.
Albert Einstein hielt das Äquivalenzprinzip, das 1900 durch das Eötvös-Experiment bereits mit einer Genauigkeit von 10−9 bestätigt war, für eine entscheidende Eigenschaft der Gravitation. Daher erweiterte Einstein das Prinzip auf nichtmechanische Phänomene und machte es zum Ausgangspunkt seiner Gravitationstheorie.
Die Aufstellung der Feldgleichungen
Die Grundlagen der allgemeinen Relativitätstheorie wurden im Wesentlichen von Albert Einstein entwickelt. Er benutzte die von Carl Friedrich Gauß, Bernhard Riemann, Elwin Bruno Christoffel, Gregorio Ricci-Curbastro und Tullio Levi-Civita entwickelte Differentialgeometrie, wie er sie von Marcel Grossmann, einem befreundeten Mathematiker, gelernt hatte. Mittels dieser Differentialgeometrie formulierte er in der Raumzeit – die Hermann Minkowski für die spezielle Relativitätstheorie eingeführt hatte – die Gravitation als Eigenschaft der Maßverhältnisse. Überlegungen von Ernst Mach beeinflussten Einsteins Überzeugung, dass auch unter dem Einfluss von Gravitation nur Bewegung relativ zu anderen Körpern physikalisch erheblich sei.
Die erste Veröffentlichung, die der allgemeinen Relativitätstheorie zugerechnet werden kann, ist eine 1908 veröffentlichte Arbeit Albert Einsteins über den Einfluss von Gravitation und Beschleunigung auf das Verhalten von Licht in der speziellen Relativitätstheorie. In dieser Arbeit formuliert er bereits das Äquivalenzprinzip und sagt die gravitative Zeitdilatation und Rotverschiebung sowie die Lichtablenkung durch massive Körper vorher. Der Hauptteil der Theorie wurde aber erst in den Jahren von 1911 bis 1915 von Einstein erarbeitet. Den Beginn seiner Arbeit markiert dabei eine zweite Veröffentlichung zur Wirkung der Gravitation auf Licht im Jahr 1911, in der Einstein seine Veröffentlichung von 1908 aufarbeitet.
Bevor er die Arbeit abschloss, veröffentlichte Einstein 1913 einen Entwurf für die Relativitätstheorie, der bereits eine gekrümmte Raumzeit verwendete. Aufgrund von Problemen mit dem Prinzip der generellen Kovarianz, das sich letztlich doch als richtig erwies, verfolgte Einstein jedoch in der Folgezeit einen falschen Ansatz, bevor er das Problem letztlich 1915 lösen konnte. Er hielt während seiner Arbeit auch Vorträge darüber und tauschte sich mit Mathematikern aus, namentlich mit Marcel Grossmann und David Hilbert.
Im Oktober 1915 veröffentlichte Einstein eine Arbeit über die Periheldrehung des Merkur, in der er noch von falschen Feldgleichungen ausging, die mit der lokalen Erhaltung von Energie und Impuls nicht verträglich waren. Im November 1915 fand Einstein die richtigen Feldgleichungen und veröffentlichte sie in den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften am 25. November 1915 zusammen mit der Berechnung der Periheldrehung des Merkurs und der Lichtablenkung an der Sonne. Zwar reichte Hilbert seine Arbeit fünf Tage zuvor der Göttinger Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zur Veröffentlichung ein. Allerdings enthalten die Korrekturfahnen von Hilberts Arbeit, anders als die später publizierte Version, nicht die Feldgleichungen – die Korrekturfahnen sind allerdings nicht vollständig erhalten. Einen – gelegentlich behaupteten – Prioritätsstreit zwischen Hilbert und Einstein gab es jedoch nie, da Hilbert ohnehin nur einen rechnerischen Teilaspekt mit Hilfe der von ihm besser beherrschten Tensoranalysis gelöst hatte, in die sich Einstein erst einarbeiten musste.
Einsteins späteren Artikel Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie kann man als ersten Übersichtsartikel der ART auffassen. Er wurde am 20. März 1916 in den Annalen der Physik veröffentlicht, zwei Monate nachdem Einstein die von Schwarzschild stammende Lösung seiner Feldgleichungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften vorgetragen hatte.
Auf Hilbert geht das Wirkungsfunktional der ART zurück, aus dem er die Feldgleichungen in seinem 1916 veröffentlichten Artikel ableitete.
Grundlegende Konzepte
Die Ausgangspunkte der ART lassen sich als drei grundlegende Prinzipien formulieren: das allgemeine Relativitätsprinzip, das Äquivalenzprinzip und das Machsche Prinzip.
Die Theorie folgt nicht zwingend aus diesen Prämissen, und zumindest beim Machschen Prinzip ist unklar, ob die ART es überhaupt erfüllt. Die drei Prinzipien erklären aber, welche physikalischen Probleme Einstein dazu veranlassten, die ART als neue Gravitationstheorie zu formulieren.
Die Beschreibung der Raumzeitkrümmung baut logisch auf dem Äquivalenzprinzip auf, deshalb wird sie in diesem Kapitel ebenfalls behandelt.
Relativitätsprinzip
In der allgemeinen Relativitätstheorie wird ein gegenüber der speziellen Relativitätstheorie erweitertes Relativitätsprinzip angenommen: Die Gesetze der Physik haben nicht nur in allen Inertialsystemen die gleiche Form, sondern auch in Bezug auf alle Koordinatensysteme. Dies gilt für alle Koordinatensysteme, die jedem Ereignis in Raum und Zeit vier Parameter zuweisen, wobei diese Parameter auf kleinen Raumzeitgebieten, die der speziellen Relativitätstheorie gehorchen, hinreichend differenzierbare Funktionen der dort lokal definierbaren kartesischen Koordinaten sind. Diese Forderung an das Koordinatensystem ist nötig, damit die Methoden der Differentialgeometrie für die gekrümmte Raumzeit überhaupt angewendet werden können. Eine gekrümmte Raumzeit ist dabei im Allgemeinen nicht mehr global mit einem kartesischen Koordinatensystem zu beschreiben. Das erweiterte Relativitätsprinzip wird auch allgemeine Koordinaten-Kovarianz genannt.
Die Koordinaten-Kovarianz ist eine Forderung an die Formulierung von Gleichungen (Feldgleichungen, Bewegungsgleichungen), die in der ART Gültigkeit besitzen sollen. Allerdings lässt sich auch die spezielle Relativitätstheorie bereits allgemein kovariant formulieren. So kann beispielsweise selbst ein Beobachter auf einem rotierenden Drehstuhl den Standpunkt vertreten, er selbst sei in Ruhe und der Kosmos rotiere um ihn herum. Dabei entsteht das Paradoxon, dass sich die Sterne und das von ihnen ausgesandte Licht im Koordinatensystem des rotierenden Beobachters rechnerisch mit Überlichtgeschwindigkeit bewegen, was scheinbar der speziellen Relativitätstheorie widerspricht. Die Auflösung dieses Paradoxons ist, dass die allgemein kovariante Beschreibung per Definition lokal ist. Das bedeutet, dass die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit nur nahe der Weltlinie des Beobachters gelten muss, was für den rotierenden Beobachter ebenso erfüllt ist wie für jeden anderen Beobachter. Die kovariant, also im Sinne des allgemeinen Relativitätsprinzips, geschriebenen Gleichungen ergeben für die Sterne also überlichtschnelle Kreisbewegungen, stehen aber dennoch im Einklang mit den Prinzipien der speziellen Relativitätstheorie. Dies wird auch dadurch klar, dass es unmöglich ist, dass ein Beobachter in der Nähe eines Sterns im rotierenden Koordinatensystem ruht und also dem Stern mit Überlichtgeschwindigkeit begegnet. Dieser Beobachter hat also zwangsweise ein anderes Koordinatensystem als der rotierende Beobachter und misst die „richtige“ Lichtgeschwindigkeit.
Obwohl es möglich ist, den Kosmos aus der Sicht eines rotierenden Beobachters korrekt zu beschreiben, sind die Gleichungen eines Bezugssystems, in dem die meisten Objekte ruhen oder sich nur langsam bewegen, meist einfacher. Die Bedingung eines nichtrotierenden Koordinatensystems für Inertialsysteme und die Unterscheidung in ihrer Betrachtung, die von der klassischen Physik gefordert wird, entfällt aber prinzipiell.
Im Fall eines Mehrkörpersystems auf engem Raum ist die Raumzeit maßgeblich gekrümmt und diese Krümmung in jedem Koordinatensystem auch zeitlich veränderlich. Daher ist von vornherein kein Kandidat für ein ausgezeichnetes Koordinatensystem erkennbar, das sich zur Beschreibung aller Phänomene eignet. Das Relativitätsprinzip besagt für diesen allgemeinen Fall, dass es auch nicht nötig ist, danach zu suchen, weil alle Koordinatensysteme gleichberechtigt sind. Man kann also je nachdem, welches Phänomen man beschreiben will, verschiedene Koordinatensysteme vergleichen und das rechentechnisch einfachste Modell auswählen.
Daher kann die ART auch auf den klassischen astronomischen Begriff der Scheinbarkeit von Bewegungen verzichten, den das noch in der newtonschen Anschauung verhaftete heliozentrische Weltbild erforderte.
Machsches Prinzip
Einstein war bei der Entwicklung der Relativitätstheorie stark von Ernst Mach beeinflusst. Insbesondere die von Einstein als Machsches Prinzip bezeichnete Annahme, dass die Trägheitskräfte eines Körpers nicht von dessen Bewegung relativ zu einem absoluten Raum, sondern von dessen Bewegung relativ zu den anderen Massen im Universum abhängen, war für Einstein eine wichtige Arbeitsgrundlage. Die Trägheitskräfte sind nach dieser Auffassung also Resultat der Wechselwirkung der Massen untereinander, und ein unabhängig von diesen Massen existierender Raum wird verneint. Demnach sollten beispielsweise Fliehkräfte rotierender Körper verschwinden, wenn das restliche Universum „mitrotiert“.
Diese von Einstein bevorzugte, recht allgemeine Formulierung des Machschen Prinzips ist jedoch nur eine von vielen, nicht äquivalenten Formulierungen. Daher ist das Machsche Prinzip und sein Verhältnis zur ART bis heute umstritten. Beispielsweise fand Kurt Gödel 1949 ein nach den Gesetzen der ART mögliches Universum, das sogenannte Gödel-Universum, das manchen spezifischen Formulierungen des Machschen Prinzips widerspricht. Es gibt jedoch andere spezifische Formulierungen des Prinzips, denen das Gödel-Universum nicht zuwiderläuft. Astronomische Beobachtungen zeigen allerdings, dass sich das reale Universum stark von Gödels Modell unterscheidet.
Einstein sah den Lense-Thirring-Effekt, den die ART vorhersagte, als eine Bestätigung seiner Version des Machschen Prinzips. Folge dieses Effektes ist, dass Bezugssysteme innerhalb einer rotierenden massebehafteten Hohlkugel eine Präzession erfahren, was Einstein so interpretierte, dass die Masse der Kugel Einfluss auf die Trägheitskräfte hat. Da jedoch bei der Rechnung und der Interpretation ein „ruhendes“ Bezugssystem in Form eines Fixsternhimmels angenommen wurde, ist auch diese Interpretation umstritten.
Die allgemein gehaltene Version des Machschen Prinzips, die Einstein formulierte, ist also zu ungenau, um entscheiden zu können, ob sie mit der ART vereinbar ist.
Äquivalenzprinzip
Bereits in der klassischen Mechanik war das Prinzip der Äquivalenz von träger und schwerer Masse bekannt. Es besagt in seiner klassischen Form, die man auch als schwaches Äquivalenzprinzip bezeichnet, dass die schwere Masse, die angibt, wie stark die durch ein Gravitationsfeld an einem Körper erzeugte Kraft ist, und die träge Masse, die durch das Kraftgesetz festlegt, wie stark ein Körper durch eine Kraft beschleunigt wird, äquivalent sind. Dies bedeutet insbesondere, dass sich jeder Körper unabhängig von seiner Masse in einem Schwerefeld (bei Abwesenheit anderer Kräfte) gleich bewegt. (Geladene Körper sind davon aufgrund der Synchrotronstrahlung ausgeschlossen.) So fallen beispielsweise im Vakuum alle (ungeladenen) Körper gleich schnell, und die geostationäre Bahn ist für schwere Satelliten wie für leichte Satelliten stets dieselbe. Folge des klassischen Äquivalenzprinzips ist, dass ein Beobachter in einem geschlossenen Labor, ohne Information von außen, aus dem mechanischen Verhalten von Gegenständen im Labor nicht ablesen kann, ob er sich in Schwerelosigkeit oder im freien Fall befindet.
Dieses Prinzip wurde von Einstein verallgemeinert: Das einsteinsche starke Äquivalenzprinzip besagt, dass ein Beobachter in einem geschlossenen Labor ohne Wechselwirkung mit der Umgebung durch überhaupt kein Experiment feststellen kann, ob er sich in der Schwerelosigkeit fernab von Massen befindet oder im freien Fall nahe einer Masse.
Das bedeutet insbesondere, dass auch ein Lichtstrahl für einen Beobachter im freien Fall nicht – wie in einem beschleunigten Bezugssystem – parabelförmig gekrümmt ist. Andererseits muss ein Beobachter, der im Gravitationsfeld ruht, z. B. indem er auf der Erdoberfläche steht, einen Lichtstrahl gekrümmt wahrnehmen, da er die ganze Zeit gegen den freien Fall nach oben beschleunigt wird.
Es muss allerdings beachtet werden, dass dieses Prinzip wegen der im Gravitationsfeld auftretenden Gezeitenkräfte nur lokal gilt:
So wird ein „unten“ (näher am Gravizentrum) befindliches Objekt stärker angezogen als ein weiter „oben“ befindliches. Ist der frei fallende Raum in vertikaler Richtung groß genug, so wird der Beobachter daher feststellen, dass sich Objekte, die sich weiter oben befinden, von denen, die sich weiter unten befinden, entfernen.
Umgekehrt wird sich bei ausreichender horizontaler Ausdehnung des Raumes die Richtung der Anziehungskraft auf zwei horizontal voneinander entfernte Objekte merklich unterscheiden, da sie beide in Richtung des Gravitationszentrums beschleunigt werden. Daher wird der frei fallende Beobachter feststellen, dass sich weit auseinander gelegene Körper aufeinander zubewegen. Ein ausgedehnter Körper wird also eine Kraft erfahren, die ihn in eine Richtung auseinanderzieht und in den dazu senkrechten Richtungen zusammendrückt.
In der ART folgt das Äquivalenzprinzip direkt aus der Beschreibung der Bewegung von Körpern: Da sich alle Körper entlang Geodäten der Raumzeit bewegen, kann ein Beobachter, der sich entlang einer Geodäte bewegt, nur dann eine Krümmung der Raumzeit feststellen, die er als Gravitationsfeld interpretieren könnte, wenn das von ihm beobachtbare Raumzeitstück maßgeblich gekrümmt ist. In diesem Fall beobachtet er die oben genannten Gezeitenkräfte als eine relative Annäherung oder Entfernung benachbarter frei fallender Körper. Die Krümmung sorgt auch dafür, dass geladene Körper nichtlokal mit ihrem eigenen Feld wechselwirken und daher das Äquivalenzprinzip auf diese prinzipiell nicht anwendbar ist, da ihr elektromagnetisches Feld grundsätzlich langreichweitig ist.
Raumzeitkrümmung
Die Krümmung der Raumzeit, die in diesem Abschnitt erläutert wird, ist kein unabhängiges Konzept, sondern eine Folgerung aus dem Äquivalenzprinzip. Mit Hilfe des Äquivalenzprinzips lässt sich daher auch der Begriff der Raumzeitkrümmung anschaulich erläutern. Dafür muss zunächst der Begriff des Paralleltransports entlang der Zeitachse erklärt werden.
Ein Paralleltransport ist eine Verschiebung in einer Richtung, bei der die Ausrichtung des zu Verschiebenden beibehalten wird, also ein lokales Koordinatensystem mitgeführt wird. Eine bloße Verschiebung in einer Raumrichtung ist in einer Raumzeit ohne Massen anschaulich verständlich. Die Definition der Zeit ist nach der speziellen Relativitätstheorie von der Bewegung des Koordinatensystems abhängig. Eine konstante Zeitrichtung ist dabei nur für unbeschleunigte Koordinatensysteme gegeben. In diesem Fall bedeutet eine Verschiebung in Zeitrichtung in einer Raumzeit ohne Massen, dass ein Gegenstand relativ zum Koordinatensystem ruht. Er bewegt sich dann entlang der Zeitachse dieses Koordinatensystems. (Verglichen werden die unbewegten Anfangs- und Endzustände.)
Nach dem Äquivalenzprinzip lässt sich damit der Paralleltransport entlang der Zeitachse in einem Gravitationsfeld verstehen. Das Äquivalenzprinzip besagt, dass ein frei fallender Beobachter in einem Gravitationsfeld äquivalent zu einem unbeschleunigten Beobachter fernab eines Gravitationsfeldes ist. Daher entspricht ein Paralleltransport entlang der Zeitachse um ein Zeitintervall einem freien Fall der Dauer Das bedeutet, dass eine Parallelverschiebung in der Zeit auch eine Bewegung im Raum zur Folge hat. Da aber die Richtung des freien Falls vom Ort abhängig ist, macht es nun einen Unterschied, ob ein Beobachter zuerst im Raum und dann in der Zeit parallel verschoben wird oder umgekehrt. Man sagt, der Paralleltransport ist nicht kommutativ, das heißt, die Reihenfolge der Transporte ist bedeutsam.
Bisher wurden große Verschiebungen betrachtet, bei denen offensichtlich die Reihenfolge der Paralleltransporte bedeutend ist. Es ist jedoch sinnvoll, Aussagen über beliebig kleine Bereiche der Raumzeit machen zu können, um auch für kurze Zeiten und Strecken das Verhalten von Körpern beschreiben zu können. Wenn man die Paralleltransporte über immer kürzere Distanzen und Zeiten vornimmt, sind die Endpunkte für verschiedene Reihenfolgen der Transporte weiterhin verschieden, wobei der Unterschied sich aber entsprechend verkleinert. Mit Hilfe von Ableitungen lässt sich ein infinitesimal kleiner Paralleltransport an einem Punkt beschreiben. Das Maß für die Abweichung der Endpunkte bei Vertauschung der Reihenfolge zweier Paralleltransporte ist dann durch den sogenannten Krümmungstensor gegeben.
Durch die Raumzeitkrümmung lassen sich auch die oben erwähnten Gezeitenkräfte erklären. Zwei Kugeln im freien Fall in einem frei fallenden Labor bewegen sich beide entlang der Zeitachse, also auf zueinander parallelen Linien. Die Tatsache, dass die Paralleltransporte nicht kommutativ sind, ist äquivalent dazu, dass parallele Linien keinen konstanten Abstand haben. Die Bahnen der Kugeln können sich also einander nähern oder voneinander entfernen. Im Erdschwerefeld ist die Annäherung selbst bei sehr langem Fall nur sehr klein.
Zur Beschreibung der Krümmung ist es nicht nötig, die Raumzeit in einen höherdimensionalen Raum einzubetten. Die Krümmung ist nicht als Krümmung in eine fünfte Dimension zu verstehen oder als eine Krümmung des Raumes in die vierte Dimension, sondern als Krümmung ohne Einbettung oder eben als Nichtkommutativität von Paralleltransporten. (Eine Prämisse dieser Darstellung ist es, Raum und Zeit als vierdimensionale Raumzeit zu behandeln. Raum- und Zeitkoordinaten sind also weitgehend analog, und es besteht nur ein subtiler mathematischer Unterschied im Vorzeichen der Signatur.)
In welcher Weise die Raumzeit gekrümmt ist, wird durch die einsteinschen Feldgleichungen festgelegt.
Mathematische Beschreibung
Grundbegriffe
Die mathematische Beschreibung der Raumzeit und ihrer Krümmung erfolgt mit den Methoden der Differentialgeometrie, die die Euklidische Geometrie des uns vertrauten „flachen“ dreidimensionalen Raumes der klassischen Mechanik umfasst und erweitert. Die Differentialgeometrie verwendet zur Beschreibung gekrümmter Räume, wie der Raumzeit der ART, sogenannte Mannigfaltigkeiten. Wichtige Eigenschaften werden mit sogenannten Tensoren beschrieben, die Abbildungen auf der Mannigfaltigkeit darstellen.
Die gekrümmte Raumzeit wird als Lorentz-Mannigfaltigkeit beschrieben.
Eine besondere Bedeutung kommt dem metrischen Tensor zu. Wenn man in den metrischen Tensor zwei Vektorfelder einsetzt, erhält man für jeden Punkt der Raumzeit eine reelle Zahl. In dieser Hinsicht kann man den metrischen Tensor als ein verallgemeinertes, punktabhängiges Skalarprodukt für Vektoren der Raumzeit verstehen. Mit seiner Hilfe werden Abstand und Winkel definiert und er wird daher kurz als Metrik bezeichnet.
Ebenso bedeutend ist der riemannsche Krümmungstensor zur Beschreibung der Krümmung der Mannigfaltigkeit, der eine Kombination von ersten und zweiten Ableitungen des metrischen Tensors darstellt. Wenn ein beliebiger Tensor in irgendeinem Koordinatensystem in einem Punkt nicht null ist, kann man überhaupt kein Koordinatensystem finden, sodass er in diesem Punkt null wird. Dies gilt dementsprechend auch für den Krümmungstensor. Umgekehrt ist der Krümmungstensor in allen Koordinatensystemen null, wenn er in einem Koordinatensystem null ist. Man wird also in jedem Koordinatensystem bezüglich der Frage, ob eine Mannigfaltigkeit an einem bestimmten Punkt gekrümmt ist oder nicht, zum gleichen Ergebnis gelangen.
Die maßgebliche Größe zur Beschreibung von Energie und Impuls der Materie ist der Energie-Impuls-Tensor. Wie dieser Tensor die Krümmungseigenschaften der Raumzeit bestimmt, zeigt der folgende Abschnitt.
Einsteinsche Feldgleichungen
Die einsteinschen Feldgleichungen stellen einen Zusammenhang zwischen einigen Krümmungseigenschaften der Raumzeit und dem Energie-Impuls-Tensor her, der die lokale Massendichte beziehungsweise über die Energiedichte enthält und damit die relevanten Eigenschaften der Materie charakterisiert.
Diese Grundgleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie sind Differentialgleichungen für die 10 unabhängigen Komponenten der Metrik :
Dabei ist der Ricci-Krümmungstensor, der Ricci-Krümmungsskalar, der metrische Tensor, die kosmologische Konstante, die aber auch häufig weggelassen wird (siehe unten), die Lichtgeschwindigkeit, die Gravitationskonstante und der Energie-Impuls-Tensor. Da alle Tensoren in dieser Gleichung symmetrisch sind (z. B. ), sind nur 10 dieser 16 Gleichungen unabhängig voneinander.
Das Ziel ist es, die Komponenten des Energie-Impuls-Tensors auf der rechten Seite der Gleichungen vorzugeben und die Feldgleichungen dann zu verwenden, um die Metrik zu bestimmen. Der Ausdruck auf der linken Seite der Gleichung besteht aus Größen, die vom Krümmungstensor hergeleitet sind. Sie enthalten daher Ableitungen der gesuchten Metrik. Man erhält also 10 Differentialgleichungen für die Komponenten der Metrik. Die Metrik und ihre Ableitungen finden sich jedoch meist auch auf der rechten Seite der Gleichungen im Energie-Impuls-Tensor. Erschwerend kommt hinzu, dass die Summe zweier Lösungen im Allgemeinen keine Lösung der Feldgleichungen ist, die Lösungen sind also nicht superponierbar. Dies liegt an der Nichtlinearität der Feldgleichungen, die als ein Hauptkennzeichen der ART gilt. Aufgrund dieser Komplexität der Gleichungen ist es oft nicht möglich, exakte Lösungen für die Feldgleichungen zu finden. In solchen Fällen können zum Teil Verfahren zum Finden einer Näherungslösung verwendet werden.
In den Feldgleichungen steht nicht der Krümmungstensor, sondern nur der aus ihm abgeleitete Ricci-Krümmungstensor und der Ricci-Krümmungsskalar. Diese beiden Summanden werden zusammengefasst auch als Einsteintensor bezeichnet, wobei dieser nicht alle Informationen über die Krümmung der Raumzeit enthält. Ein Teil der Raumzeitkrümmung, die sogenannte Weyl-Krümmung, ist also nicht direkt vom Energie-Impuls-Tensor und damit von der Massen- und Energiedichte abhängig. Allerdings ist der Weyl-Krümmungstensor nicht frei wählbar, da er aufgrund der geometrischen Bianchi-Identitäten teilweise durch den Ricci-Krümmungstensor festgelegt wird.
Einstein glaubte zunächst, dass das Universum seine Größe nicht mit der Zeit ändere, daher führte er die kosmologische Konstante ein, um ein solches Universum theoretisch zu ermöglichen. Das Gleichgewicht, das er damit erreichte, erwies sich jedoch als instabiles Gleichgewicht. hat formal den Stellenwert einer Art Integrationskonstante, und hat daher zunächst keinen bestimmten Zahlenwert, der direkt aus der Theorie folgen würde. Sie muss also experimentell bestimmt werden. Eine alternative Sicht auf die kosmologische Konstante fasst den entsprechenden Term als Teil des Energie-Impuls-Tensors auf und setzt . Das bedeutet, dass die kosmologische Konstante sich als ideale Flüssigkeit mit negativem Druck darstellt und als außergewöhnliche Form von Materie oder Energie aufgefasst wird. In der heutigen Kosmologie hat sich in diesem Zusammenhang die Bezeichnung „Dunkle Energie“ durchgesetzt.
Die Feldgleichungen geben an, wie der Materie- und Energieinhalt sich auf die Krümmung der Raumzeit auswirkt. Sie enthalten jedoch auch alle Informationen über die Auswirkung der Raumzeitkrümmung auf die Dynamik von Teilchen und Feldern, also über die andere Richtung der Wechselwirkung. Dennoch verwendet man nicht direkt die Feldgleichungen, um die Dynamik von Teilchen oder Feldern zu beschreiben, sondern leitet dazu die Bewegungsgleichungen her. Die Bewegungsgleichungen sind also „technisch“ von Bedeutung, obwohl ihr Informationsinhalt konzeptionell bereits in den Feldgleichungen enthalten ist.
Eine besonders elegante Herleitung der einsteinschen Feldgleichungen bietet das Prinzip der kleinsten Wirkung, das auch in der newtonschen Mechanik eine wichtige Rolle spielt. Eine geeignete Formel für die Wirkung, deren Variation im Rahmen der Variationsrechnung zu diesen Feldgleichungen führt, ist die Einstein-Hilbert-Wirkung, die erstmals von David Hilbert angegeben wurde.
Bewegungsgleichungen
Um die Bewegungsgleichungen formulieren zu können, muss eine beliebige Weltlinie eines Körpers parametrisiert werden. Das kann beispielsweise geschehen, indem ein Nullpunkt und eine positive Richtung festgelegt werden und dann jedem Punkt auf der Weltlinie die Bogenlänge vom Nullpunkt bis zu diesem Punkt mit dem entsprechenden Vorzeichen zugeordnet wird. So stellt man sicher, dass jeder Punkt auf der Weltlinie eindeutig bestimmt ist. Eine sehr ähnliche Parametrisierung ist die Parametrisierung nach der Eigenzeit. Die beiden sind identisch, wenn man die Gleichungen durch Ignorieren aller Faktoren vereinfacht, indem man also formal die Lichtgeschwindigkeit setzt. Die folgenden Formeln sind in Bogenlängenparametrisierung zu verstehen.
Im Folgenden bezeichnet der Begriff „Kraft“ nie die Gravitation (die als geometrischer Effekt aufgefasst wird), sondern andere, zum Beispiel elektromagnetische oder mechanische Kräfte. Betrachtet man nun einen Körper der Masse , auf den eine Kraft wirkt, so lauten die Bewegungsgleichungen:
Dabei sind die vier Raumzeit-Komponenten der Weltlinie des Körpers; steht für die Zeit-Komponente. Punkte über den Größen sind Ableitungen nach der Bogenlänge und nicht nach der Zeitkomponente .
Für den Fall, dass auf einen Körper keine Kraft wirkt, wird seine Weltlinie durch die Geodätengleichungen der gekrümmten Raumzeit beschrieben. Man erhält sie, indem man im obigen Kraftgesetz die Kraft setzt:
In dieser Darstellung wird mit
ein Christoffelsymbol verwendet, das die Abhängigkeit des metrischen Tensors vom Raumzeitpunkt, also die Raumzeitkrümmung, charakterisiert. Die sind Komponenten des kometrischen Tensors, der invers zum metrischen Tensor ist.
In der Formel werden außerdem Kurzschreibweisen verwendet: für die partiellen Ableitungen, ferner die Summenkonvention, die besagt, dass über Indizes, die jeweils einmal oben und einmal unten stehend auftauchen, automatisch von 0 bis 3 summiert wird.
Das Kraftgesetz ist eine Verallgemeinerung des klassischen Aktionsprinzips () auf vier Dimensionen einer gekrümmten Raumzeit. Die Gleichungen lassen sich erst lösen, wenn der metrische Tensor bekannt ist. Umgekehrt ist der metrische Tensor erst bekannt, wenn die Gleichungen für alle Bahnen gelöst sind. Diese intrinsische Forderung der Selbstkonsistenz ist ein Grund für die Schwierigkeit der Theorie.
Prinzipiell können nun die Bewegungsgleichungen für eine Teilchenwolke und die einsteinschen Feldgleichungen als Gleichungssystem betrachtet werden, das die Dynamik einer Wolke massiver Teilchen beschreibt. Aufgrund der oben erwähnten Schwierigkeiten bei der Lösung der Feldgleichungen ist dies jedoch praktisch nicht durchführbar, sodass für Mehrteilchensysteme immer mit Näherungen gerechnet wird.
Die Kräfte, die auf einen Körper wirken, berechnen sich dabei im Allgemeinen etwas anders als in der speziellen Relativitätstheorie. Da die Formeln in der ART koordinatenkovariant geschrieben werden müssen, ist in den Formeln für die Kräfte, zum Beispiel in den Maxwell-Gleichungen, anstelle der partiellen Ableitung nach Raumzeitkomponenten nun die kovariante Ableitung zu verwenden. Da die Ableitungen nach Raumzeitkomponenten die Änderungen einer Größe beschreiben, heißt das, dass die Änderungen aller Felder (also ortsabhängige Größen) nun in der gekrümmten Raumzeit beschrieben werden müssen. Die Maxwell-Gleichungen ergeben sich damit zu
und
Die Verwendung der kovarianten Ableitungen betrifft also nur die inhomogenen Maxwellgleichungen, während die homogenen Gleichungen sich gegenüber der klassischen Form nicht ändern. Die Definitionen der kovarianten Ableitungen von Tensoren sind dem Artikel Christoffelsymbole zu entnehmen.
Metriken
Eine „Metrik“ als kurze Bezeichnung für ein Feld metrischer Tensoren stellt eine bestimmte Geometrie der Raumzeit und Lösung der Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie dar. Die Minkowski-Metrik entspricht dem einfachsten Fall einer flachen Raum-Zeit ohne große Massen, die die Raumzeit krümmen.
Metriken Schwarzer Löcher
Ein Schwarzes Loch ist eine kompakte Zentralmasse und verursacht als einfachste Metrik ein kugelsymmetrisches Gravitationsfeld.
Schwarzschild-Metrik
Die Schwarzschild-Metrik war eine der ersten Lösungen einer Metrik, die nach der Veröffentlichung der Allgemeinen Relativitätstheorie entwickelt wurden. Karl Schwarzschild führte Polarkoordinaten als Schwarzschild-Koordinaten ein. So konnte Schwarzschild zum ersten Mal das Gravitationsfeld einer ungeladenen, nichtrotierenden Kugel beschreiben, deren Masse gleichmäßig verteilt war. Die Schwarzschild-Metrik wird somit als erste Beschreibung eines Schwarzen Loches angenommen. Schwarzschild berechnete neben der äußeren Vakuumlösung auch eine innere Lösung für eine homogene Kugel.
Es gibt diverse andere Beschreibungen für die Metrik einer Zentralmasse, z. B. Kruskal-Szekeres-Koordinaten, Eddington–Finkelstein Koordinaten, Gullstrand–Painlevé Koordinaten und Lemaître Koordinaten. Das River-Modell beschreibt das Innere eines Schwarzen Loches.
Kerr-Metrik
Die Kerr-Metrik beschreibt rotierende, ungeladene Objekte in der Raumzeit, ist also gut zur Beschreibung rotierender Schwarzer Löcher geeignet. Sie wurde nach Roy Kerr benannt, der 1963 die Lösung gefunden hatte.
In dieser Metrik gibt es zwei singuläre Raumzeitregionen, in der Mitte liegt die Ergosphäre (detaillierter beschrieben in Kerr-Metrik). Das Besondere an dieser Metrik ist, dass die Singularität bei eines Schwarzen Loches ringförmig ist.
Reissner-Nordström-Metrik
Die Reissner-Nordström-Metrik beschreibt elektrisch geladene, statische (also nicht rotierende) Schwarze Löcher. Ihr Linienelement ähnelt dem der Schwarzschild-Metrik. Hierbei existiert ein zusätzlicher Parameter Q, der die elektrische Ladung beschreibt.
Kerr-Newman-Metrik
Die Kerr-Newman-Metrik beschreibt elektrisch geladene und rotierende Schwarze Löcher. Im Falle eines elektrisch neutralen Schwarzen Loches vereinfachen sich die Lösungen zur simpleren Kerr-Metrik, bei fehlendem Drehimpuls zur Reissner-Nordström-Metrik und bei und zur Schwarzschild-Metrik.
Sonstige Metriken
Gödel-Metrik
Die Gödel-Metrik wurde von Kurt Gödel im Jahr 1949 entwickelt. Sie beschreibt eine rotierende Raumzeit auf der Basis von Einsteins Feldgleichungen. Das Rotationszentrum ist an jedem Punkt der Raumzeit gleichermaßen vorhanden, dies fordert das kosmologische Prinzip. Eine Konsequenz aus seinem eher mathematischen Modell ist, dass klassische Weltlinien bei einer solchen Raumzeit auch in die Vergangenheit verlaufen können.
Sein Modell erregte einiges Aufsehen, weil er bewies, dass Einsteins Feldgleichungen die mathematische Behandlung von Raumzeiten gestatten, in denen Zeitreisen möglich sind.
Kruskal-Lösung
Die Kruskal-Lösung ist eine maximale Erweiterung der Schwarzschild-Lösung. Sie weist intrinsische Singularitäten auf, weshalb sie nicht vollständig ist.
Die Lösung kann als eine Beschreibung von Einstein-Rosen-Brücken bzw. Wurmlöchern angesehen werden.
Robertson-Walker-Metrik
Die Robertson-Walker-Metrik (auch „Friedmann-Lemaître-Robertson-Walker-Metrik“ genannt) beschreibt ein homogenes Universum nach dem kosmologischen Prinzip. Sie wird als Näherung in einigen Urknalltheorien verwendet.
Da das exakte Modell voraussetzen würde, dass sich keine Strukturen wie Galaxien und Sterne im Universum bilden könnten, verwendet man ein Fast-FLRM-Modell, das kleine Störungen bzw. Dichteschwankungen mit einberechnen kann.
De-Sitter-Raum
Der De-Sitter-Raum ist eine maximale symmetrische Vakuumlösung der Feldgleichungen, die eine positive kosmologische Konstante beinhaltet, also ist der Raum positiv gekrümmt.
Er kann als Untermannigfaltigkeit zu einem höherdimensionalen Minkowski-Raum angesehen werden.
Der De-Sitter-Kosmos ist ein Modell, das diese Überlegungen beinhaltet. Wählt man eine Friedmann-Lösung mit verschwindender Krümmung in der Robertson-Walker-Metrik) und ohne Materie, ergibt sich als Lösung ein flacher, sich ausdehnender De-Sitter-Kosmos mit Radius und der Hubble-Konstanten
Daher wird von den meisten Kosmologen angenommen, dass das Universum in seiner Anfangsphase ein De-Sitter-Raum gewesen sei, der sich ausbreitete (siehe Inflation). Der Kosmos könnte sich allerdings in ferner Zukunft so einem materiefreien Zustand erneut annähern.
Anti-De-Sitter-Raum
Der Anti-de-Sitter-Raum ist das Gegenstück zum De-Sitter-Raum, hat also eine negative kosmologische Konstante und ist daher negativ gekrümmt.
Der Raum ist so interessant, weil er besondere physikalische Eigenschaften besitzt und weil er oft mit dem holografischen Prinzip und der Stringtheorie in Verbindung gebracht wird.
Physikalische Effekte
Zur experimentellen Überprüfung der ART reicht es nicht aus, Experimente durchzuführen, mit denen man zwischen der ART und der newtonschen Mechanik entscheiden kann, da es konkurrierende Theorien zur ART gibt. Es ist daher auch nötig, experimentell zwischen der ART und anderen Gravitationstheorien zu entscheiden. Abweichungen von den Vorhersagen der ART könnten auch ein neuer Anstoß zur Entwicklung einer schlüssigen und experimentell überprüfbaren Quantentheorie der Raumzeit sein.
Die allgemeine Relativitätstheorie sagt die experimentellen Ergebnisse im Rahmen der Messgenauigkeit richtig voraus. Das Äquivalenzprinzip ist mit einer Messgenauigkeit von bis zu 10−13 bestätigt, für andere Phänomene der ART bis zu 10−5. Im Folgenden werden einige physikalische Phänomene erklärt, deren genaue experimentelle Überprüfung bisher die ART gut bestätigt und den Spielraum für Alternativtheorien sehr verkleinert hat. Außerdem lassen die guten Übereinstimmungen von Experiment und Vorhersage erwarten, dass Quanteneffekte der Gravitation sehr klein sind, da sie als Abweichungen von den Vorhersagen der ART erkennbar sein müssten.
Gravitative Zeitdilatation und Rotverschiebung
Die gravitative Zeitdilatation folgt bereits aus der speziellen Relativitätstheorie und dem Äquivalenzprinzip der ART. Sie wurde von Einstein 1908 vorhergesagt. Wenn man eine in einem Gravitationsfeld ruhende Uhr betrachtet, muss sie durch eine Gegenkraft in Ruhe gehalten werden, wie ein Mensch, der auf der Erdoberfläche steht. Sie wird also fortwährend beschleunigt, sodass man die Formel für die Zeitdilatation in einem beschleunigten Bezugssystem aus der speziellen Relativitätstheorie benutzen kann. Dies hat zur Folge, dass der Effekt nicht symmetrisch ist, wie man es von zwei gleichförmig bewegten Bezugssystemen in der speziellen Relativitätstheorie kennt. Ein Beobachter im Weltall sieht also die Uhren auf der Erde langsamer gehen als seine eigene Uhr. Umgekehrt sieht ein Beobachter auf der Erde Uhren im Weltall schneller gehen als seine eigene Uhr. Mit sehr genauen optischen Atomuhren lässt sich die gravitative Zeitdilatation auch noch bei einem Höhenunterschied nur einiger Zentimeter messen.
Eine direkte Folge der Zeitdilatation ist die gravitative Rotverschiebung. Sie wurde von Einstein bereits 1911 vor Fertigstellung der allgemeinen Relativitätstheorie vorausgesagt. Da beide Effekte bereits aus dem Äquivalenzprinzip hergeleitet werden können, ist ihre experimentelle Bestätigung für sich genommen keine Bestätigung für die Gültigkeit der ART. Würde jedoch ein von der Vorhersage abweichendes Verhalten beobachtet, würde dies die ART widerlegen. Die experimentelle Bestätigung der Effekte ist also für die Gültigkeit der Theorie notwendig, aber nicht hinreichend.
Die Rotverschiebung bedeutet, dass Licht, das von einer Lichtquelle mit einer gegebenen Frequenz nach „oben“ (also vom Gravitationszentrum weg) ausgestrahlt wird, dort mit einer geringeren Frequenz gemessen wird, ähnlich wie beim Doppler-Effekt. Demnach ist bei einem Lichtsignal mit einer bestimmten Anzahl von Schwingungen der zeitliche Abstand zwischen dem Beginn und dem Ende des Signals beim Empfänger größer als beim Sender. Die gravitative Rotverschiebung wurde erstmals 1960 im Pound-Rebka-Experiment nachgewiesen. 2018 wurde die gravitative Rotverschiebung beim Stern S2 bei dessen größter Annäherung an das schwarze Loch in Sagittarius A* im Zentrum der Milchstraße durch die Gravity Kollaboration nachgewiesen.
Lichtablenkung und Lichtverzögerung
Licht nahe einer großen Masse bewegt sich aus Sicht eines entfernten Beobachters langsamer als mit Vakuumlichtgeschwindigkeit. Dieses Phänomen wird nach seinem Entdecker als Shapiro-Verzögerung bezeichnet. Außerdem nimmt ein entfernter Beobachter eine Ablenkung des Lichts nahe großer Massen wahr. Diese beiden Effekte gehen auf dieselbe Erklärung zurück. Die reale Zeit, die sogenannte Eigenzeit, ist nahe der Masse verschieden vom Zeitbegriff des entfernten Beobachters. Außerdem hat die Masse auch Auswirkungen auf das radiale Verhalten des Raums, ähnlich einer Lorentzkontraktion, was sich nur im Rahmen der ART und nicht klassisch erklären lässt. Der Raum wird radial gedehnt, wodurch Objekte in radialer Richtung kontrahiert erscheinen. Ein Beobachter, der sich selbst nahe der Masse befindet, wird dementsprechend die Vakuumlichtgeschwindigkeit als Geschwindigkeit des Lichtstrahls messen. Der entfernte Beobachter nimmt jedoch eine verringerte Geschwindigkeit wahr, die er als ortsabhängigen Brechungsindex beschreiben kann. Diese Beschreibung liefert auch eine Erklärung für die Lichtablenkung, die als eine Art Brechung interpretiert werden kann, wobei dieser Brechungsindex allerdings doppelte Wirkung zeigt.
Die obige Erklärung beruht auf einer Analogie. Die abstrakte Interpretation im Rahmen der ART ist, dass die Nullgeodäten, auf denen sich Licht bewegt, nahe großer Massen im Raum gekrümmt erscheinen. Es ist dabei zu berücksichtigen, dass sich das Licht auch in der Zeit bewegt, sodass hier tatsächlich eine Raumzeitkrümmung und keine reine Krümmung des dreidimensionalen Raumes vorliegt. Tatsächlich spielt die Raumkrümmung dabei wegen der geringen radialen Abweichung so gut wie keine Rolle, während die Zeitdilatation über die gesamte Wegstrecke wirksam ist und in doppelter Hinsicht zu Buche schlägt. Einerseits wird dadurch die Wellenlänge des Lichtes verkürzt, wodurch sich die Wegzeit verlängert, und andererseits läuft diese Zeit auch noch langsamer ab.
Der Ablenkwinkel ist von der Masse der Sonne, dem Abstand vom sonnennächsten Punkt der Bahn zum Mittelpunkt der Sonne und der Lichtgeschwindigkeit abhängig. Er kann nach der Gleichung
berechnet werden. Darin ist die Gravitationskonstante und der Gravitationsradius.
Auf Ablenkung von Licht im Gravitationsfeld beruht auch der in der Astronomie beobachtete Gravitationslinseneffekt.
Periheldrehung
Die Periheldrehung der Planetenbahnen – z. B. der Bahn der Erde um die Sonne – ist ein Effekt, der zum größten Teil durch die Gravitationskraft anderer Planeten (z. B. des Jupiters) entsteht. Beim Merkur misst man 571″ pro Jahrhundert, von denen 43,3″ nicht aus diesen Störungen resultieren. Die Relativitätstheorie konnte diesen Wert erklären (durch ein im Vergleich zur Newtonschen Mechanik anderes effektives Potential), was ein erster Erfolg der Theorie war. Die Periheldrehung der Erde ist mit 1161″ pro Jahrhundert noch größer als die des Merkur, der relativistische Fehlbetrag beträgt bei der Erde aber lediglich 5″. Auch die gemessenen Fehlbeiträge zur Periheldrehung anderer Planeten sowie auch des Kleinplaneten Icarus stimmen mit den Vorhersagen der Relativitätstheorie überein. Die europäisch-japanische Merkursonde BepiColombo soll es ermöglichen, die Bewegung des Merkur mit bisher unerreichter Genauigkeit zu bestimmen und damit Einsteins Theorie noch genauer zu testen.
Bei Doppelsternsystemen aus Sternen oder Pulsaren, die einander in sehr geringer Entfernung umkreisen, ist die Periheldrehung mit mehreren Grad pro Jahr deutlich größer als bei den Planeten des Sonnensystems. Auch die bei diesen Sternsystemen indirekt gemessenen Werte der Periheldrehung stimmen mit den Vorhersagen der ART überein.
Gravitationswellen
Die ART ermöglicht die Beschreibung von Fluktuationen der Raumzeitkrümmung, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. In erster Näherung sind diese Fluktuationen mit transversalen Wellen vergleichbar, daher werden sie als Gravitationswellen bezeichnet. Eine Beschreibung dieses Phänomens ohne Näherungen existiert bisher (2016) nicht. Gravitationswellen wären dadurch beobachtbar, dass sich quer (transversal) zu ihrer Ausbreitungsrichtung der Raum periodisch ausdehnt und zusammenzieht. Da es bei der Gravitation keine positive und negative Ladung wie beim Elektromagnetismus gibt, können Gravitationswellen nicht als Dipolstrahlung, sondern nur als Quadrupolstrahlung auftreten. Außerdem ist die Kopplung der Gravitation an Materie sehr viel schwächer als beim Elektromagnetismus.
Daraus folgt eine sehr geringe Intensität der Gravitationswellen, was den Nachweis enorm erschwert. Das erwartete Verhältnis von Längenveränderung zur betrachteten Strecke liegt in der Größenordnung von 10−21, das entspricht etwa einem Tausendstel Protondurchmesser pro Kilometer. Aufgrund dieser Schwierigkeiten ist erst am 14. September 2015 der direkte Nachweis von Gravitationswellen gelungen.
Einen indirekten Nachweis von Gravitationswellen gibt es bereits länger, denn bei einander umkreisenden Sternen führen die Gravitationswellen zu einem Energieverlust des Sternensystems. Dieser Energieverlust äußert sich in einer Abnahme des gegenseitigen Abstandes und der Umlaufzeit, wie zum Beispiel am Doppelsternsystem PSR J1915+1606 beobachtet wurde.
Schwarze Löcher
Eine Lösung der ART sagt voraus, dass ein äußerst kompakter Körper die Raumzeit so stark krümmt, dass sich eine Raumregion bildet, aus der kein Licht und damit auch keine Materie mehr entkommen kann. Eine solche Raumregion besitzt im Inneren eine Singularität und wurde erstmals 1916 von Karl Schwarzschild durch die Schwarzschild-Metrik beschrieben. Die Oberfläche, bei deren Überschreiten ein Lichtstrahl nicht mehr entkommen kann, wird als Ereignishorizont bezeichnet. Da ein Schwarzes Loch kein Licht aussenden oder reflektieren kann, ist es unsichtbar und kann lediglich indirekt über die Effekte der enormen Raumzeitkrümmung beobachtet werden.
Lense-Thirring-Effekt
Im Jahr 1918 wurde von dem Mathematiker Josef Lense und dem Physiker Hans Thirring der nach ihnen benannte Lense-Thirring-Effekt (auch Frame-Dragging-Effekt) theoretisch vorhergesagt. Der Effekt beschreibt die Beeinflussung des lokalen Inertialsystems durch eine rotierende Masse, was man sich vereinfacht so vorstellen kann, dass die rotierende Masse die Raumzeit um sich herum wie eine zähe Flüssigkeit geringfügig mitzieht und dadurch verdrillt.
Derzeit wird noch diskutiert, ob den Wissenschaftlern um Ignazio Ciufolini von der Universität Lecce und Erricos Pavlis von der University of Maryland in Baltimore im Jahr 2003 der experimentelle Nachweis des Effektes gelungen ist. Sie vermaßen dafür die Bahnen der geodätischen Satelliten LAGEOS 1 und 2 präzise, da deren Position und Lage von der Masse der sich drehenden Erde beeinflusst werden sollte. Aufgrund möglicher Fehlerquellen durch das uneinheitliche Schwerefeld der Erde ist umstritten, ob die zentimetergenauen Positionsbestimmungen der LAGEOS-Satelliten ausreichten, um diesen relativistischen Effekt nachzuweisen.
Der NASA-Satellit Gravity Probe B, gestartet im April 2004, ist mit mehreren präzisen Gyroskopen ausgestattet, die den Effekt sehr viel genauer vermessen können. Zur Messung des Effektes werden bei diesem Satelliten die Änderungen der Drehrichtungen von vier Gyroskopen bestimmt.
Kosmologie
Die Kosmologie ist ein Teilgebiet der Astrophysik, das sich mit dem Ursprung und der Entwicklung des Universums befasst. Da die Entwicklung des Universums maßgeblich durch die Gravitation bestimmt ist, ist die Kosmologie eines der Hauptanwendungsgebiete der ART. Im Standardmodell der Kosmologie wird das Universum als homogen und isotrop angenommen. Mit Hilfe dieser Symmetrien vereinfachen sich die Feldgleichungen der ART zu den Friedmann-Gleichungen. Die Lösung dieser Gleichungen für ein Universum mit Materie implizieren eine Phase der Expansion des Universums. Dabei ist das Vorzeichen der Skalarkrümmung auf kosmischer Skala entscheidend für die Entwicklung eines expandierenden Universums.
Bei einer positiven Skalarkrümmung wird das Universum zunächst expandieren und sich dann wieder zusammenziehen, bei verschwindender Skalarkrümmung wird die Expansionsgeschwindigkeit einen festen Wert annehmen, und bei negativer Skalarkrümmung wird das Universum beschleunigt expandieren.
Einstein fügte 1917 die kosmologische Konstante Λ ursprünglich in die Feldgleichungen ein, um ein Modell eines statischen Kosmos zu ermöglichen, was er nach Entdeckung der Expansion des Universums bedauerte. Die kosmologische Konstante kann je nach Vorzeichen die kosmische Expansion verstärken oder ihr entgegenwirken.
Astronomische Beobachtungen haben inzwischen das relativistische Weltmodell erheblich verfeinert und genaue quantitative Messungen der Eigenschaften des Universums gebracht. Beobachtungen entfernter Supernovae vom Typ 1a haben ergeben, dass das Universum beschleunigt expandiert. Messungen der räumlichen Struktur der Hintergrundstrahlung mit WMAP zeigen, dass die Skalarkrümmung innerhalb der Fehlergrenzen verschwindet. Diese und weitere Beobachtungen führen zur Annahme einer positiven kosmologischen Konstante. Die derzeitigen Erkenntnisse über die Struktur des Universums werden im Lambda-CDM-Modell zusammengefasst.
Verhältnis zu anderen Theorien
Klassische Physik
Die ART muss das newtonsche Gravitationsgesetz als Grenzfall enthalten, denn dieses ist für langsam bewegte und nicht zu große Massen gut bestätigt. Große Massen bewirken dagegen große Gravitationsbeschleunigungen an ihrer Oberfläche, die zu relativistischen Effekten wie beispielsweise der Zeitdilatation führen. Daher braucht für diese das newtonsche Gravitationsgesetz nicht zu gelten.
Auf der anderen Seite muss auch die spezielle Relativitätstheorie in Raumzeitgebieten, in denen die Gravitation vernachlässigbar ist, in der ART enthalten sein. Das bedeutet, dass für den Grenzfall eines vernachlässigbar kleinen Gravitationspotenzials die spezielle Relativitätstheorie reproduziert werden muss. In der Nähe von Massen gilt sie nur noch in ausreichend kleinen Raumzeitgebieten.
Die Forderung, dass die Gleichungen der ART die beiden oben genannten Grenzfälle erfüllen müssen, bezeichnet man als Korrespondenzprinzip. Dieses Prinzip besagt, dass die Gleichungen veralteter Theorien, die in einem bestimmten Gültigkeitsbereich gute Ergebnisse liefern, für diesen Gültigkeitsbereich als Grenzfall in der neuen Theorie enthalten sein müssen. Einige Autoren gehen unter diesem Begriff in Bezug auf die ART nur auf einen der beiden Grenzfälle, meist bezüglich der newtonschen Gravitationstheorie, ein.
Die Bewegungsgleichungen klassischer, also nicht quantenmechanischer Feldtheorien ändern sich gegenüber der klassischen Mechanik, wie oben beschrieben wurde. Es ist also ohne Probleme möglich, gravitative und elektromagnetische Wechselwirkungen geladener Objekte gleichzeitig zu beschreiben. Insbesondere ist es möglich, eine nichtrelativistische (d. h. newtonsche, also naturgemäß unvollständige) optimale Näherung für die ART anzugeben. Darüber hinaus gibt es eine post-newtonsche Näherung an die Allgemeine Relativitätstheorie, die Terme für die Erzeugung der Gravitationsfelder gemäß der Einsteinschen Theorie einschließt und sich darin von den post-newtonschen Näherungen anderer metrischer Theorien der Gravitation unterscheidet und so zu deren experimenteller Unterscheidung dienen kann.
Quantenphysik
Die ART ist bei sehr hohen Teilchenenergien im Bereich der Planck-Skala oder entsprechend bei sehr kleinen Raumzeitgebieten mit starker Krümmung nicht mit der Quantenphysik vereinbar. Obwohl es keine Beobachtung gibt, die der ART widerspricht und ihre Vorhersagen gut bestätigt sind, liegt es daher nahe, dass es eine umfassendere Theorie gibt, in deren Rahmen die ART ein Spezialfall ist. Dies wäre also eine Quantenfeldtheorie der Gravitation.
Die Formulierung einer Quantenfeldtheorie der Gravitation wirft jedoch Probleme auf, die mit den bisher bekannten mathematischen Methoden nicht lösbar sind. Das Problem besteht darin, dass die ART als Quantenfeldtheorie nicht renormierbar ist. Die Größen, die sich daraus berechnen lassen, sind also unendlich. Diese Unendlichkeiten können als prinzipielle Schwäche im Formalismus der Quantenfeldtheorien verstanden werden, und sie lassen sich bei anderen Theorien meist durch Renormierungsverfahren von den physikalisch sinnvollen Ergebnissen trennen. Bei der ART ist das aber mit den üblichen Verfahren nicht möglich, sodass unklar ist, wie man physikalisch sinnvolle Vorhersagen treffen soll.
Die aktuell (2015) am meisten diskutierten Ansätze zur Lösung dieses Problems sind die Stringtheorie und die Schleifenquantengravitation. Zudem existiert eine Vielzahl weiterer Modelle.
Literatur
Populärwissenschaftlich:
Harald Fritzsch: Die verbogene Raum-Zeit. Piper, 1997, ISBN 3-492-22546-2.
Marcia Bartusiak: Einsteins Vermächtnis. Europäische Verlagsanstalt, 2005, ISBN 3-434-50529-6.
Rüdiger Vaas: Tunnel durch Raum und Zeit. 2. Auflage. Franckh-Kosmos, 2006, ISBN 3-440-09360-3.
Lehrbücher:
Torsten Fließbach: Allgemeine Relativitätstheorie. 4. Auflage. Elsevier – Spektrum Akademischer Verlag, 2003, ISBN 3-8274-1356-7.
Charles Misner, Kip S. Thorne, John A. Wheeler: Gravitation. W. H. Freeman, San Francisco 1973, ISBN 0-7167-0344-0.
Hans Stephani: Allgemeine Relativitätstheorie. 4. Auflage. Wiley-VCH, 1991, ISBN 3-326-00083-9.
Steven Weinberg: Gravitation and Cosmology. Principles and Applications of the General Theory of Relativity. New York 1972, ISBN 0-471-92567-5.
Hermann Weyl: Raum, Zeit, Materie. Vorlesungen über Allgemeine Relativitätstheorie. 8. Auflage. Springer 1993, online (1919).
Wolfgang Rindler: Relativity. Special, General and Cosmological. 2. Auflage. Oxford University Press, 2006, ISBN 0-19-856732-4.
Robert M. Wald: General Relativity. University of Chicago Press, ISBN 0-226-87033-2.
Reinhard Meinel: Spezielle und allgemeine Relativitätstheorie für Bachelorstudenten. 2. Auflage. Springer, 2019, ISBN 978-3-662-58966-3.
Rainer Oloff: Geometrie der Raumzeit. Eine mathematische Einführung in die Relativitätstheorie. 4. Auflage. Vieweg, 2008, ISBN 978-3-8348-0468-6.
Ray d’Inverno: Einführung in die Relativitätstheorie. 2. Auflage. Wiley-VCH, 2009, ISBN 978-3-527-40912-9.
M. P. Hobson, G. P. Efstathiou, A. N. Lasenby: General Relativity. An Introduction for Physicists. Cambridge University Press, Cambridge 2006, ISBN 0-521-82951-8.
Lewis Ryder: Introduction to General Relativity. Cambridge University Press, Cambridge 2009, ISBN 978-0-521-84563-2.
Monographien:
Thomas W. Baumgarte, Stuart L. Shapiro: Numerical Relativity: Solving Einstein’s Equations on the Computer. Cambridge University Press, 2010, ISBN 978-0-521-51407-1.
Yvonne Choquet-Bruhat: General Relativity and the Einstein Equations. Oxford University Press, 2009, ISBN 978-0-19-923072-3.
Stephen W. Hawking, George F. R. Ellis: The Large Scale Structure of Space-time. Cambridge University Press, ISBN 0-521-09906-4.
Hans Stephani, Dietrich Kramer, Malcolm MacCallum, Cornelius Hoenselaers, Eduard Herlt: Exact Solutions of Einstein’s Field Equations. Cambridge University Press, ISBN 0-521-46702-0.
Aufsätze
Max Kohler: Zum Problem der Planetenbewegung nach der Allgemeinen Relativitätstheorie. In: Zeitschrift für Physik 130/1 (1951), S. 139–143.
Max Kohler: Die Formulierung der Erhaltungssätze der Energie und des Impulses in der Allgemeinen Relativitätstheorie. In: Zeitschrift für Physik 134/3 (1953), S. 286–305.
Max Kohler: Zur Herleitung der Feldgleichungen in der allgemein-relativistischen Gravitationstheorie. In: Zeitschrift für Physik 134/3 (1953), S. 306–316.
Max Kohler: Zur Rotations- und Deformationsgeschwindigkeit in der Relativitätstheorie. In: Zeitschrift für Physik 156/3 (1959), S. 248–255.
Geschichte der ART:
Abraham Pais: Subtle is the Lord.
„Raffiniert ist der Herrgott…“. Albert Einstein, eine wissenschaftliche Biographie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg/ Berlin 2000, ISBN 3-8274-0529-7.
Thomas de Padova: Allein gegen die Schwerkraft. Einstein 1914–1918. Hanser, München 2015, ISBN 978-3-446-44481-2.
Jürgen Renn, Hanoch Gutfreund: Albert Einstein. Relativity. The Special & the General Theory. Princeton University Press, Princeton, New Jersey, USA 2015, ISBN 978-0-691-16633-9.
Jürgen Renn, Hanoch Gutfreund: The Road to Relativity. The History and Meaning of Einstein’s «The Foundation of General Relativity». Princeton University Press, Princeton, New Jersey, USA 2015, ISBN 978-1-4008-6576-5.
Weblinks
einstein-online.info: Allgemeine Relativitätstheorie
Die Allgemeine Relativitätstheorie als Bildergeschichte
Tutorial von John Baez (englisch)
Skripte zur SRT und ART
Spiegel Online: Verwirbelte Raumzeit: Laser-Messung bestätigt Einsteins Theorie
Einzelnachweise
1916
Albert Einstein
Kosmologie (Physik) |
886724 | https://de.wikipedia.org/wiki/Hugh%20Dowding%2C%201.%20Baron%20Dowding | Hugh Dowding, 1. Baron Dowding | Hugh Caswell Tremenheere Dowding, 1. Baron Dowding GCB, GCVO, CMG (* 24. April 1882 in Moffat, Dumfriesshire; † 15. Februar 1970 in Tunbridge Wells, Kent) war Offizier in der Royal Air Force (RAF) und während der Luftschlacht um England Kommandant des RAF Fighter Command (Jagdwaffe).
Mit dem so genannten „Dowding-System“, einem Luftverteidigungskonzept basierend auf Radar, zentraler Informationsverarbeitung und mittels Sprechfunk geführter Abfangjäger, schuf Dowding die Voraussetzungen für die Verteidigung Englands im Zweiten Weltkrieg.
Leben
Schule und Erster Weltkrieg
Dowding war das älteste von vier Kindern des Schulleiters Arthur John Caswall Dowding (um 1855–1932) aus dessen Ehe mit Maud Caroline (um 1855–1934), Tochter des Lieutenant-General Charles William Tremenheere (1813–1898), Chefingenieur des Public Works Department der Präsidentschaft Bombay in Britisch-Indien. In seiner schottischen Heimatstadt Moffat besuchte Hugh Dowding die St. Ninian's Preparatory School, die von seinem Vater Arthur Dowding und dessen Studienkollegen, Rev. William Churchill 1879 gegründet worden war. In seinem 15. Lebensjahr wurde er auf Empfehlung seines Vaters am renommierten südenglischen Winchester College aufgenommen. Da sein Desinteresse an Griechisch und Latein seinen schulischen Erfolg dort verhinderte, verließ er das Institut schon zwei Jahre später wieder. Er bewarb sich mit Erfolg an der Royal Military Academy in Woolwich. Aufgrund seiner Abneigung gegenüber Mathematik wurde er jedoch nicht zum Ingenieursstudium zugelassen.
Dem Rat seiner Familie folgend, trat er im August 1900 zunächst als Second Lieutenant der Royal Garrison Artillery in die British Army ein. Als Artillerist erwartete Dowding, nach Südafrika entsandt zu werden, da Großbritannien sich seit 1899 im Krieg mit den Buren befand. Er wurde jedoch nicht dort, sondern nacheinander in Ceylon, Gibraltar, Hongkong und Indien stationiert, wo er bei der Gebirgsartillerie diente.
1912 kehrte er nach England zurück und besuchte das Staff College der British Army in Camberley. Während seiner Zeit dort erwarb er privat die Fluglizenz (Royal Aero Club pilot's certificate No. 711), die er am 20. Dezember 1913 erhielt, seinem letzten Tag am Staff College. Daraufhin trat er gegen den Willen seines Vaters als Reserveoffizier in das neu gegründete Royal Flying Corps ein.
Im Ersten Weltkrieg kämpfte Dowding zunächst bei der No. 6 und der No. 9 Squadron. Sein frühes Interesse für die drahtlose Telegraphie ließ ihn vorübergehend nach England zurückkehren und das Wireless Experimental Establishment in Brookland gründen. Wieder an der Front in Frankreich, wurde er zum Führer der No. 16 Squadron ernannt. Auf einen Vorfall während dieser Zeit soll sein späterer Spitzname Stuffy zurückgehen. Angeblich beschwerte sich Dowding bei einem Vorgesetzten darüber, dass junge, unzureichend ausgebildete Piloten seiner Staffel gegen die erfahrenen Deutschen eingesetzt wurden und dabei oft den Tod fanden. Die legendäre Antwort war: „Don’t be stuffy, Dowding!“ (deutsch: „Sei nicht umständlich, Dowding!“)
Während der Schlacht an der Somme im Jahr 1916 führte er mehrere Staffeln als einen großen Verband (headquarters wing) an. Meinungsverschiedenheiten mit Autoritäten wie Oberbefehlshaber Hugh Trenchard führten jedoch zu seiner Abberufung von der Front bis zum Kriegsende. Dowding beendete den Ersten Weltkrieg im temporären Rang eines Brigadier-General und substantiellen Rang eines Lieutenant-Colonel. Am 1. Januar 1919 wurde er als Companion des Order of St. Michael and St. George (CMG) ausgezeichnet.
Zwischenkriegszeit
Im Februar 1918 heiratete Dowding Clarice Maude Vancourt (geborene Williams, † 1920). Sie war die Cousine eines Staffelkameraden der No. 6 Squadron, der sie einander bekannt gemacht hatte. Clarice Maude brachte ihre Tochter Marjorie Brenda (1911–2003) aus erster Ehe mit in die Familie und Dowding nahm sie als Stieftochter an.
Am 9. Januar 1919 kam ihr gemeinsamer Sohn Derek Hugh Tremenheere Dowding (1919–1992) zur Welt. Als Clarice Maud Dowding 1920 nach nur zwei Jahren Ehe unerwartet starb, übersiedelte Hugh ins Haus seines Vaters nach Wimbledon. Seine Schwester Hilda übernahm für Dowding vermutlich die Sorge um seinen Sohn und repräsentative Pflichten, als seine Karriere bei der RAF fortschritt. Derek besuchte das Winchester College und später das RAF Elite-College in Cranwell, wo auch der populäre Jagdflieger Douglas Bader ausgebildet wurde. Dowding war ein ausgezeichneter Skiläufer, Slalomchampion und Präsident des englischen Skiklubs von 1924 bis 1925.
Am 1. August 1919 trat Dowding in die neue Royal Air Force (RAF) ein und erhielt den Rang eines Group Captain (siehe auch: Royal Air Force#Dienstgrade). Im Januar 1928 wurde er als Companion des Order of the Bath (CB) ausgezeichnet und im Januar 1929 zum Air Vice-Marshal befördert. Darauf folgte im Januar 1933 die Beförderung zum Air Marshal und im Juni 1933 wurde er als Knight Commander der Order of the Bath (KCB) geadelt.
In den 1930er Jahren war er Mitglied der Abteilung für Forschung und Entwicklung innerhalb der RAF und setzte sich für die Umstellung von Doppeldeckern auf Eindecker in Ganzmetallbauweise ein. Damit forcierte er eine Modernisierung des Flugzeugbestandes auf die Modelle Hawker Hurricane und Supermarine Spitfire. Dowding war in dieser Funktion auch Zeuge eines Versuches zur Ortung von Flugzeugen, durchgeführt von dem schottischen Techniker Robert Watson-Watt, am 26. Februar 1935. Das Ergebnis dieser Tests überzeugte Stuffy Dowding, der auch für seine Steifheit und Humorlosigkeit bekannt war, derart, dass er Steuergelder für die Weiterentwicklung dieser Technik bereitstellen ließ. Er förderte damit die Entwicklung der Funkortung, die später ein wesentlicher Bestandteil des Dowding-Systems war.
Anders als er erwartet hatte, wurde 1936 nicht er, sondern Cyril Newall in den Stab der Royal Air Force berufen. Stattdessen wurde er nur zum Oberkommandeur der neu aufgestellten Jägerverbände, des Fighter Command, ernannt.
Auch sein Sohn Derek wurde Kampfpilot und diente während der Luftschlacht um England bei der No. 74 Squadron. Das väterliche Verhältnis zu seinen fighter boys, wie er die Piloten gelegentlich nannte, hatte also auch einen familiären Hintergrund.
Im Januar 1937 wurde er zum Air Chief Marshal befördert und als Knight Grand Cross des Royal Victorian Order (GCVO) ausgezeichnet.
Zweiter Weltkrieg
Politik
Dowdings Aufmerksamkeit galt angesichts der unübersehbaren deutschen Rüstungsanstrengungen und der militärischen Erfolge der Wehrmacht dem raschen Aufbau einer starken Jagdwaffe. Um dafür Zeit zu gewinnen, bestärkte er den britischen Premierminister Arthur Neville Chamberlain in seiner Appeasement-Politik.
Dowding war bereits 1939 für die altersbedingte Pensionierung vorgesehen. Der als Nachfolger bestellte Christopher Courtney verunglückte jedoch bei einem Flugunfall zusammen mit anderen hohen Offizieren der RAF und verletzte sich schwer. Dowding stimmte einer Verlängerung seiner Dienstzeit bis März 1940, und dann weiter bis Oktober 1940 zu.
Während der Schlacht um Frankreich wurden immer mehr Staffeln auf das Festland überstellt und in den Kämpfen gegen eine schnell vorrückende deutsche Wehrmacht aufgerieben. Der energische Winston Churchill, der nach dem Rücktritt Chamberlains Premierminister war, wollte den Forderungen der Franzosen nach weiteren Jagdstaffeln der RAF nachgeben, damit die Franzosen den Krieg gegen Deutschland fortführten.
Dowdings Ansinnen war es jedoch, die Reserven der RAF zu schonen und für die Heimatverteidigung vorzubereiten. Da erhielt Dowding die Gelegenheit, bei einer Besprechung am 15. Mai 1940 dem Kriegskabinett und Winston Churchill seine Sicht zu erläutern. Er beschrieb anschaulich, dass bei konstanter Verlustrate in Kürze keine einzige Hurricane mehr zur Verteidigung vorhanden sein würde. Churchill betonte, dass er persönlich der französischen Regierung Unterstützung versprochen habe, und dass sie dringend nach Jägerstaffeln verlange. Dowding gab sich demonstrativ unbeteiligt und verwies darauf, dass seine Aufgabe die Vorbereitung des Fighter Command auf die Verteidigung Englands sei.
Am nächsten Tag schrieb Dowding an Churchill, dass er unverzüglich eine Stellungnahme des Luftfahrtministeriums fordere, die zuvor die Mindeststärke des Fighter Command zur Landesverteidigung auf 52 Staffeln festgelegt habe. Eine voll ausgerüstete Staffel des Fighter Command verfügte über durchschnittlich je 20 Flugzeuge mit Mannschaft und Wartung, was in etwa einer Staffel der deutschen Luftwaffe entsprach. Gegenwärtig wären noch 36 Staffeln einsatzbereit, erläuterte Dowding. Man solle ihm von Seiten der Politik eine Mindeststärke nennen, die in keinem Fall unterschritten werden würde. Er vermied sorgfältig, die genannten 52 Staffeln als seine persönliche Mindestforderung zu nennen und spielte geschickt den Ball der Politik zu. Danach genehmigte das Kriegskabinett unter dem Druck der schwer in Bedrängnis geratenen französischen Führung noch ein letztes Mal vier (statt der geforderten zehn) Staffeln für das britische Expeditionskorps in Frankreich.
In Folge wollte niemand mehr die Verantwortung für eine Schwächung der Heimatverteidigung übernehmen. Alle weiteren verzweifelten Gesuche der Franzosen wurden abgewiesen. Winston Churchill erklärte später, Dowding hätte ihm gegenüber im Vertrauen zugesichert, er benötige lediglich 25 Staffeln zur Heimatverteidigung, was Dowding stets bestritt und als Beweis dafür seinen Brief vom 16. Mai vorlegte.
Als Dowding von der Unterzeichnung des Waffenstillstands zwischen Frankreich und Deutschland erfuhr, bemerkte er lapidar: „Finally alone“ (deutsch: „Schließlich [sind wir] alleine“).
Im Mai war das Fighter Command auf 32 Staffeln reduziert. Unmittelbar nach dem Ende der Kämpfe in Frankreich begann zunächst über dem Ärmelkanal, dann zunehmend über der Insel die Luftschlacht um England. Am Vorabend des 18. August, an jenem Tag, da beide Seiten die schwersten Verluste hinnehmen mussten, standen bereits 62 Staffeln des Fighter Command zur Verteidigung bereit. Davon waren 53 mit Hurricanes und Spitfires ausgerüstet, alle einsatzbereiten Maschinen zusammengenommen 1065 Stück. Zusätzlich verfügte die RAF über 373 moderne und technisch einsatzbereite Maschinen in Wartungsbetrieben und Ausbildungseinheiten, die mit kurzer Vorwarnzeit zu den Staffeln gebracht werden konnten. Bis zum 31. Oktober nahmen 58 Staffeln des Fighter Command aktiv an der Luftschlacht teil.
Ein wesentlicher Aspekt von Dowdings Strategie war der wirtschaftliche Umgang mit den zur Verfügung stehenden Reserven. Dies wurde zusätzlich von abgefangenen deutschen Funksprüchen unterstützt, aus denen hervorging, dass die Luftwaffenführung die RAF in einer großen Luftschlacht dezimieren wolle.
Dowding ließ seinen Gruppenkommandeuren bei der Erfüllung ihrer Aufgaben weitgehend freie Hand. Es wurde aber auch kritisiert, dass er einer Rivalität zweier Gruppenkommandeure, nämlich Park und Leigh-Mallory, dadurch Raum für einen Disput über den Einsatz großer Verbände bot. Diese so genannte Big-Wing-Kontroverse wurde noch lange nach dem Krieg diskutiert. Aus heutiger Sicht wird das Vorgehen von Park, auf das Formieren großer und dadurch schwerfälliger Verbände in der kritischen Phase zu verzichten, als das richtige angesehen.
Dünkirchen
Als sich die British Expeditionary Force (britisches Expeditionskorps) Ende Mai und Anfang Juni 1940 vom Strand von Dünkirchen über den Ärmelkanal zurückzog und dabei heftig von der Luftwaffe attackiert wurde, kritisierte man in Soldatenkreisen das vermeintliche Fehlen der RAF. Man vermutete, dass Dowding die Jäger nicht opfern wollte, um den Rückzug der Truppen zu decken.
Diese Einschätzung war falsch. So fanden heftige Luftkämpfe im Bereich von Dünkirchen statt, aber meist außerhalb der Sichtweite der bedrängten englischen und französischen Truppen. Die RAF beklagte den Verlust von mindestens 90 Piloten, es wurden mehr als 170 Jagdflugzeuge des Fighter Command abgeschossen oder irreparabel beschädigt. Aus Propagandagründen wurden diese hohen Verlustzahlen nicht veröffentlicht.
Das erste Mal im Zweiten Weltkrieg erreichte die RAF, zeitlich und räumlich begrenzt, Luftüberlegenheit über die Luftwaffe. 134 deutsche Flugzeuge konnten in der bis dahin größten Luftschlacht abgeschossen werden. Obwohl die Ausgangslage für die Evakuierung ungünstig war, konnten 338.226 alliierte Soldaten nach England gebracht werden.
Luftschlacht um England
Die Luftschlacht um England wird von der Battle of Britain Historical Society (Gesellschaft für die Geschichte der Luftschlacht um England) in Übereinkunft mit der RAF zeitlich zwischen dem 10. Juli 1940 und dem 31. Oktober 1940 eingegrenzt. Es blieb wenig Zeit, die Verluste aus der Schlacht um Frankreich und Dünkirchen zu ersetzen. Um dem dringenden Personalbedarf zu begegnen, ließ Dowding ausländische Verbände mit mäßigen Englischkenntnissen von der RAF in den Kampf führen. Der Erfolg war durchschlagend, so waren beispielsweise die Abschussquoten der polnischen Piloten überdurchschnittlich hoch, wenn auch über mangelnde Funkdisziplin geklagt wurde. In der Hitze des Gefechtes kommunizierten die polnischen Piloten nämlich in ihrer Muttersprache und nicht in Englisch über die Bordfunkgeräte.
Die heftigsten Kämpfe ereigneten sich zwischen dem Adlertag am 13. August und dem 17. September, als Hitler die „Operation Seelöwe“ bis auf unbestimmte Zeit aussetzte. Seelöwe war die Bezeichnung der geplanten Invasion Englands, deren Voraussetzung die Niederlage der RAF gewesen wäre. In dieser Phase der Luftschlacht musste die 11. Gruppe unter Führung von Keith Park die Hauptlast der Kämpfe tragen. Park war zuvor als Adjutant im Stab des Fighter Command direkter Untergebener Dowdings gewesen. Park genoss das absolute Vertrauen Dowdings und wurde sogar in die Ultra intercepts (abgefangene und entschlüsselte deutsche Funksprüche, deren Existenz strengster Geheimhaltung unterlag) eingeweiht. Dowding selbst wurde erst am 16. Oktober 1940 vom Geheimdienst auf die Liste der zu informierenden Personen gesetzt und erfuhr an diesem Tag offiziell von der Existenz des Ultra Projektes. Der Verlauf der Schlacht lässt darauf schließen, dass der Geheimdienst vereinzelt Informationen an Dowding weitergab, ohne die Quellen dafür zu nennen.
Durch eine gesteigerte Flugzeugproduktionsrate, die von Dowding entscheidend mit entwickelte Luftverteidigung und den tapferen Einsatz der Piloten und ihrer Kommandeure galt ab 31. Oktober 1940 die unmittelbare Bedrohung als abgewendet. Im Oktober 1940 wurde Dowding zum Knight Grand Cross des Order of the Bath erhoben. Der Triumph Dowdings wurde von persönlichen Kontroversen zwischen Dowding, seinem Nachfolger William Sholto Douglas und zwei seiner rivalisierenden Kommandeure überschattet. Er wurde als Oberbefehlshaber des Fighter Command abberufen.
Weiterer Einsatz
Kaum war die unmittelbare Gefahr einer Niederlage gebannt, trat Dowding im November 1940 und auf Wunsch Churchills eine diplomatische Mission in die USA an, bei der er Präsident Franklin D. Roosevelt von der Bedeutung einer modernen Jagdwaffe überzeugen und beim Aufbau einer solchen Unterstützung leisten sollte.
Anschließend wirkte er innerhalb der Royal Air Force an Verwaltungsaufgaben wie der Erhebung erforderlicher Mannstärken mit, bevor er im Juni 1942 als Air Chief Marshal den Ruhestand antrat. Als Kommandeure des Fighter Command folgten ihm William Sholto Douglas und später Trafford Leigh-Mallory nach. Am 5. Juli 1943 verlieh ihm König George VI. in der Peerage of the United Kingdom die erblichen Peerwürde Baron Dowding, of Bentley Priory in the County of Middlesex. Dowding wurde dadurch Mitglied des House of Lords.
Nachkriegszeit
Am 25. September 1951 heiratete Dowding in Caxton Hall, Westminster, in zweiter Ehe Muriel Whiting (geborene Albino, 1908–1993), Witwe eines 1944 gefallenen Pilot Officer des RAF Bomber Command. Sie lebten zusammen im selben Haus in Wimbledon, das Dowding schon vor dem Krieg bewohnt hatte.
Lady Dowding gründete 1959 die Tierschutzorganisation Beauty Without Cruelty (BWC).
Beide waren Vegetarier und Anti-Vivisektionalisten und widmeten sich unter anderem dem Spiritualismus und dem Tierschutz. Dowding war aufgrund seiner Popularität und seines hohen Adelsstandes ein häufig zitierter Redner in der parapsychologischen Szene Englands. In einem mehrfach publizierten Interview bestätigte er die Plausibilität der Existenz von UFOs außerirdischer Herkunft. Dowding vertrat die Ansicht, dass der Sieg der Alliierten gegen Hitler durch direktes göttliches Eingreifen ermöglicht wurde. In verschiedenen Publikationen ging Dowding auf die These der Reinkarnation ein.
In diesem Zusammenhang berichtete er davon, dass ihm während der Luftschlacht von England gefallene Piloten erschienen seien und er sich mit ihnen unterhalten habe.
Er schrieb neben Beiträgen für Journale auch Bücher, und zwar:
Many Mansions. Rider & Co, London 1943.
Lychgate. Rider & Co, London 1945.
Twelve legions of angels. Essays on war affected by air power and on the prevention of war. Jarrolds, London 1946.
God's magic: an aspect of spiritualism. Museum Press, London 1946.
The Dark Star. Museum Press, London 1951.
Als Mitglied des House of Lords setzte sich Dowding in parlamentarischen Debatten insbesondere für den Tierschutz ein. Für den Zeitraum von 1948 bis 1965 sind im Hansard 104 Parlamentsreden Dowdings verzeichnet.
Dowding starb am 15. Februar 1970 in seinem Haus in Tunbridge Wells in der Grafschaft Kent.
Seine Asche wurde vor dem Battle of Britain Memorial-Fenster der Westminster Abbey beigesetzt. Sein Sohn und einziges Kind Derek Hugh Tremenheere Dowding folgte ihm als 2. Baron Dowding.
Gedenken
Die St. Ninian's School wurde 1980 wegen Baufälligkeit als Schule geschlossen, aber bis 1988 mit privaten Mitteln und mit Unterstützung aus RAF in der Höhe von 1,6 Millionen Pfund Sterling renoviert und unter dem Namen Dowding House als Wohnheim für bedürftige ehemalige RAF-Bedienstete eröffnet. Es standen am 1. Oktober 1988 12 Doppel- und 14 Einzelwohnungen zur Verfügung.
Im Haus für behinderte oder kriegsversehrte RAF-Bedienstete in Sussexdown, Bezirk Storrington in der Grafschaft Sussex, befindet sich ein Lord Dowding Saal.
Ein Monument aus Sandstein und Bronze des Künstlers Scott Sutherland steht im Moffat Station Park (Bahnhofspark).
Vor der Kirche der Royal Air Force St Clement Danes in London befindet sich eine überlebensgroße Bronzestatue des Bildhauers Faith Winter, fertig gestellt 1990, mit dem Titel Air Chief Marshal Lord Dowding, Baron of Bentley Priory and Commander-in-Chief of the Fighter Command of the RAF.
Der Hugh Dowding Memorial Hangar im Battle of Britain Museum of Kent in Hawkinge zeigt unter anderem die gut erhaltenen Überreste von drei im Sommer 1940 abgeschossenen Messerschmitt Bf 109-E4. Hawkinge war ein Einsatzflugplatz der 11. Gruppe unter dem Kommando Keith Parks.
Das ehemalige Hauptquartier des Fighter Command der Royal Air Force bei Stanmore, ein luxuriöses Herrschaftshaus mit dem Namen Bentley Priory, beherbergt noch heute den Lord Dowding Office Room mit Originaleinrichtung und authentischen Notizbüchern des damaligen Oberkommandeurs.
Der Lord Dowding Fund, ein Projekt zur Abschaffung von Tierversuchen, wurde 1973 von der National Anti-Vivisectionalist Society (NAVS), deren Präsident Dowding gewesen war, ins Leben gerufen.
Einzelnachweise
Literatur
.
Basil Collier: Leader of the few, the authorised biography of Air Chief Marshal The Lord Dowding of Bentley Priory. Jarrolds, London 1957.
Robert Wright: Dowding and the Battle of Britain. Macdonald & Co, London 1969, ISBN 0-356-02922-0 (Vom Protagonisten genehmigte Biografie, Wing Commander Wright war während des Krieges Dowdings Adjutant).
Laddie Lucas: Flying Colours. The epic story of Douglas Bader. Wordsworth Editions, Ware 2000/01, ISBN 1-84022-248-4 (Biografie Douglas Baders von seinem Schwager, Hintergrundinformation und Details über „Big Wing“).
Len Deighton: Adlertag. Luftschlacht um England. Weltbild, Augsburg 1989, ISBN 3-89350-021-9 (Umfassende Aufstellung der Luftschlacht).
Alfred Price: The Hardest Day, Battle of Britain, 18 August 1940. Jane's Publishing Co Ltd., London 1979, ISBN 1-898800-12-X (detaillierte Beschreibung eines einzigen Tages, mit viel Hintergrund).
Robert Buderi: The Invention That Changed the World. How a Small Group of Radar Pioneers Won the Second World War and Launched a Technological Revolution. Touchstone, New York 1997, ISBN 0-684-83529-0 (Details um die Entwicklung des Radars).
John Colville: Downing Street Tagebücher 1939–1945. Siedler, Berlin 1988, ISBN 3-88680-241-8 (Ein Privatsekretär schrieb ungeniert Tagebuch über das Umfeld Winston Churchills).
Robert Jackson: Spitfire. The Combat History. Airlife, Shrewsbury 1995, ISBN 0-7603-0193-X (Entwicklung und Einsatz des legendären Jagdflugzeuges).
Peter Checkland: Information, Systems and Information Systems, making sense of the field. Wiley, Chichester 1998, ISBN 0-471-95820-4 (Eine Analyse des Dowding Systems als frühes, aber komplexes Informationssystem).
Weblinks
C. N. Trueman: Hugh Dowding. The History Learning Site. – Kurzporträt, private Seite (englisch)
Die Schlacht um England – Offizielle Webseite der Battle of Britain Historical Society (englisch)
Kommandeure der Royal Air Force 1940 – Offizielle Webseite der Royal Air Force (englisch)
Persönlichkeiten der RAF – Erzählung um die Luftschlacht um England und ihre Kommandeure, private Seite (englisch)
Moffat Webpage – Dowding aus der Sicht seiner Heimatstadt (englisch)
Dowding, Baron (UK, 1943) bei Cracroft’s Peerage (englisch)
Air Chief Marshal (Royal Air Force)
Brigadier (British Army)
Person im Zweiten Weltkrieg (Vereinigtes Königreich)
Baron Dowding
Mitglied des House of Lords
Politiker (20. Jahrhundert)
Knight Grand Cross des Order of the Bath
Knight Grand Cross des Royal Victorian Order
Companion des Order of St. Michael and St. George
Brite
Geboren 1882
Gestorben 1970
Mann |
982080 | https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte%20Osttirols | Geschichte Osttirols | Der Name Osttirol ist zwar bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bezeugt, gebräuchlich wurde diese Bezeichnung für den österreichischen politischen Bezirk Lienz (Osttirol) aber erst, nachdem Südtirol 1919 Italien zugeschlagen wurde. Osttirol liegt dadurch abgetrennt von Nordtirol zwischen Salzburg im Norden, Südtirol im Westen, der italienischen Region Venetien im Süden und Kärnten im Osten.
Urgeschichte
Der älteste Beweis für die Anwesenheit von Menschen in Osttirol wurde im Jahre 1987 am sogenannten Hirschbichl im Defereggental auf 2143 Metern Seehöhe entdeckt. Unter den Artefakten fanden sich eine Geschossspitze aus Bergkristall und kleine Klingen aus Feuerstein, die auf einen saisonalen Jägerrastplatz mesolithischer Jäger aus dem 7. bis 6. Jahrtausend v. Chr. hindeuten.
Mit der Jungsteinzeit (Neolithikum, 6. bis 3. Jahrtausend v. Chr.) setzten sich auch in Osttirol Ackerbau und Viehzucht sowie Töpferei und Hausbau durch. Der wichtigste Fund dieser Zeit, ein Steinbeil aus Serpentin, stammt aus dem 5. Jahrtausend v. Chr. und wurde am Schlossberg von Lienz gefunden, später jedoch aus dem Schloss Bruck gestohlen. Weitere Funde (Keramiken) auf dem Breitegg (Nußdorf-Debant), Burg (Obermauern) und am Lavanter Kirchenbichl weisen auf neolithische Siedler hin. Von besonderer Bedeutung ist auch das Abri Gradonna bei Kals am Großglockner, das vermutlich als Kult- und Opferplatz diente. Hier wurden die ältesten Keramiken Osttirols (Gefäße mit quadratischen Öffnungen) sowie Feuersteine gefunden.
Bronzezeit
Nach einer kurzen Kupfer-Übergangszeit löste mit der frühen und mittleren Bronzezeit (ca. 22. bis 13. Jahrhundert v. Chr.) die Bronze den Stein als bestimmenden Werkstoff ab. Das in Osttirol verwendete Erz dürfte dabei insbesondere aus dem oberen Iseltal stammen. Es wurde zunächst im Tagebau, später auch im Untertagebau abgebaut. Gegossen in Barren und als Ösenhalsringe wurde das Metall danach in den Handel gebracht oder diente als prämonetäres Zahlungsmittel. Metallene Einzelfunde dieser Periode stammen vor allem aus der Umgebung von Virgen. Zahlreicher sind Keramiken, die unter anderem am Lienzer Schlossberg, in Matrei (Klaunzerberg), Heinfels (Burghügel), Strassen (Jakobibichl) und Lavant (Kirchbichl) gefunden wurden. Planmäßige Siedlungsgrabungen und Gräberfunde aus dieser Zeit fehlen jedoch.
In der späten Bronzezeit war der Osttiroler Raum von einer weitgehend einheitlichen Kultur geprägt, die ihre Toten in Urnen beisetzte (Urnenfelderkultur). Die Verbreitung der sogenannten Melauner- oder Laugner Kultur erstreckte sich dabei vom Alpenrheintal über Tirol bis ins Kärntner Drautal. In Osttirol konnte man Siedlungsschwerpunkte insbesondere durch Keramikfunde im bereits während der Steinzeit besiedelten Gebiet nachweisen. Prunkstücke sind eine steinerne Mehrfachgussform für Sicheln und Beile aus Virgen und ein Dreiwulstschwert aus Assling. Gräberfunde fehlen jedoch auch aus dieser Periode.
Eisenzeit
Mit der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. begann auch in Osttirol die ältere Eisenzeit, die auf Grund des Hauptfundortes auch Hallstattzeit genannt wird. Diese Periode war vor allem von der verstärkten Verwendung des Eisens geprägt, das zuvor kaum verwendet worden war. Sind aus der älteren Hallstattzeit nur wenige Streufunde aus dem oberen Iseltal bekannt, so wurde in Welzelach bei Virgen ein ganzes Gräberfeld aus der jüngeren Hallstattzeit entdeckt. Zwischen 1889 und 1891 legte Alexander Schernthanner hier 56 Steinkistengräber frei, die auch Waffen, Schmuck, Bernsteinperlen und einen figural verzierten Bronzeblecheimer enthielten. Weitere Siedlungs-, Grab- und Streufunde wurden im gesamten Bezirk gemacht, haben jedoch ihren Schwerpunkt im Virgental.
Während der folgenden, jüngeren Eisenzeit (La-Tène-Zeit) war Osttirol von der Fritzens-Sanzeno-Kultur der Räter geprägt, die sich im Raume Alttirols um 500 v. Chr. auf großteils heimischer Grundlage entwickelte. Kennzeichen sind unter anderem die typische Hausform (eingetiefte Häuser mit winkeligen Zugängen) und die typische Keramik mit seicht eingestrichenen oder gestempelten Mustern.
Etwa um 100 v. Chr. fiel der Osttiroler Raum an die Kelten (Laianken). Diese Periode dauerte jedoch nur kurz, da dieses Gebiet bereits ca. 15 v. Chr. friedlich an das Römische Reich fiel.
Römerzeit
Ausbreitung der römischen Herrschaft
Angelockt von den zahlreichen Metallen der Tauern wie Gold, Bleiglanz, Antimon und Kupfer traten die Römer bereits früh in Osttirol auf. Um sich den Zugriff auf diese Bodenschätze zu sichern und das oberitalienische Gebiet vor Einfällen anderer Stämme zu schützen, schlossen die Römer in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. einen staatlichen Freundschaftsvertrag (hospitium publicum) mit dem Königreich Noricum. Dieses keltische Königreich war zu dieser Zeit ein lockerer Stammesbund unter mehreren Kleinkönigen. Als Drusus und Tiberius 16/15 v. Chr. den Alpenraum in meist blutigen Feldzügen eroberten, dürfte Noricum davon nur wenig berührt worden sein. Vielmehr ging es unter Kaiser Claudius um 50 n. Chr. friedlich in der römischen Provinz Noricum auf.
Das Interesse der Römer an den reichen Metalllagerstätten brachte auch der einheimischen Bevölkerung Wohlstand, gleichzeitig wurde sie jedoch einer straff organisierten Romanisierung unterzogen. Nahelegen dies die zwar nicht schlagartig, jedoch rapide abnehmenden Ausgrabungsfunde der keltischen Kultur nach der Machtübernahme der Römer. Dominierendes Zentrum Osttirols während der Römerzeit wurde die Stadt Aguntum mit ihrem Hinterland. Dieses Hinterland entsprach dabei in etwa dem heutigen Osttirol und dem Pustertal mit seinen Nebentälern. Das Einflussgebiet der Stadt reichte dabei im Norden bis zum Felber Tauern, im Osten bis zum Kärntner Tor, im Westen bis Mühlbachl (Pustertal) und im Süden bis zu den Übergängen zum Gailtal, Kreuzbergsattel und Enneberg.
Aguntum
Durch das Auftreten der Römer verloren die zuvor angelegten Höhensiedlungen wie etwa der Lavanter Kirchbichl oder der Matreier Klaunzerberg an Bedeutung. Aguntum entstand vielmehr am hochwassergefährdeten Talgrund eines Beckens insbesondere aus verkehrsgeographischen Gesichtspunkten. Durch die Lage am Kreuzungspunkt der Drautalstraße mit der Straße über den Iselberg profitierte Aguntum vom Metallhandel aus dem Tauern- und Glocknergebiet sowie vom Kupferhandel aus dem inneren Iseltal und seinen Nebentälern, dem Virgen- und Defereggental. Dennoch sprechen Gegebenheiten wie ein unregelmäßiges, nicht rechtwinkeliges Straßensystem für eine Vorgängersiedlung auf dem Stadtgebiet Aguntums. Die Blütezeit der Stadt dürfte während des 1. und 2. Jahrhunderts gewesen sein. Sie erhielt das claudische Stadtrecht. Zahlreiche Ausgrabungen wie die Stadtmauer, ein Atriumhaus und ein Prunkbau zeugen noch heute vom Reichtum der Stadt. Obwohl durch die Stadt im 3. Jahrhundert mehrfach germanische Scharen gezogen waren, erholte sich die Stadt wieder von den Zerstörungen. Dennoch zog sich die Bevölkerung ab dem 3. Jahrhundert und insbesondere im frühen 4. Jahrhundert immer mehr aus den Tälern in die Höhensiedlungen zurück und verlieh ihnen damit einen Entwicklungsschub. Vor allem die Bergsiedlung in Lavant blühte nach einer 200-jährigen Pause im 3. Jahrhundert n. Chr. auf. 400/406 wurde Aguntum jedoch schließlich schwerst beschädigt und 610 bei einer großen Schlacht zwischen den Baiern und den Slawen von Grund auf zerstört.
Sonstige Siedlungsschwerpunkte
Neben dem römischen Zentrum von Aguntum waren während der Römerzeit auch zahlreiche andere Siedlungen im Lienzer Becken besiedelt. So waren besonders die gegen Süden geneigten Hänge wie in Grafendorf, Oberdrum, Thurn und Oberlienz von Villae rusticae und vornehmen Wohnhäusern besiedelt. Weitere Siedlungsschwerpunkte finden sich in Matrei und Umgebung, das als Ausgangspunkt für das kupferreiche Virgental galt und als Kreuzungspunkt mit dem Saumweg über den Felber Tauern eine Rolle spielte. Auch in Kals lassen sich römische Funde nachweisen, wobei hier ebenfalls Tauernübergänge geografisch wichtig waren. Weitere Funde sind vom Mortbichl in der Gemeinde Bannberg und Tristach bekannt, wogegen von Lienz ostwärts bis zum Kärntner Tor archäologische Fundstätten aus der Römerzeit rar sind. Durch den Niedergang Aguntums erlangte ab dem 3. Jahrhundert auch die Siedlung am Lavanter Kirchbichl wieder steigende Bedeutung. Sie war nur durch ihre Lage am schwer zugänglichen Hügel geschützt und war ein Zentrum der Eisen- und Metallverarbeitung. Auch zwei frühchristliche Kirchen befanden sich hier. Die dortige, meist bäuerliche Bevölkerung lebte vor allem von der Viehzucht und ergänzte ihren Speiseplan durch Fischfang und Jagd. Der Wohlstand der Bevölkerung spiegelt sich insbesondere in den zahlreichen Funden von importierten Gläsern, Glasperlen sowie Schmuck und Gerätschaften wider. Um 610 wurde auch diese Siedlung im Krieg zwischen den Baiern und Slawen großflächig zerstört, verlor aber nicht ganz ihre Bedeutung.
Mittelalter
Völkerwanderung
Ab dem 5. Jahrhundert drangen germanische und slawische Völker auf breiter Front in die römischen Provinzen ein (siehe vor allem Spätantike). Im 6. Jahrhundert drangen von Norden her auch die Baiern in Tirol ein und stießen bis ins Pustertal vor. Als jedoch die Slawen von den Awaren bedroht wurden, stießen diese immer weiter nach Westen vor und besiedelten das Drau- und Iseltal. Den Baiern wurde somit der weitere Weg nach Osten versperrt. Im 8. Jahrhundert geriet jedoch das slawische Karantanien, das eine wesentlich größere Ausdehnung als das heutige Kärnten hatte, an das Herzogtum Bayern und wurde von bairischen Kolonisten besiedelt. Auch das Christentum wurde nun in diesen Gebieten verbreitet. Die Romanen im Pustertal sowie die Slawen und Romanen im Drau- und Iseltal assimilierten sich kulturell allmählich, ihre Sprachen starben vermutlich im Hochmittelalter aus.
Christianisierung
Baiernherzog Tassilo III. schenkte 769 dem Abt von Scharnitz einen Gebietsstreifen im mittleren Pustertal mit dem Auftrag, die Slawen zu missionieren. Dieser gründete daraufhin das Kloster Innichen, das jedoch bald dem Hochstift Freising überlassen wurde. Daneben versuchten zwei weitere Bistümer ihren Einfluss in Karantanien zu vermehren, das Erzbistum Salzburg und das Patriarchat von Aquileia. Kaiser Karl der Große legte 811 die Diözesengrenze schließlich mit der Drau fest, die bis ins 19. Jahrhundert hielt. Die Erzdiözese Salzburg behielt die Kontrolle über die Iselregion sowie über das Gebiet links der Drau und besaß mit der Pfarre Assling auch einen Außenposten im Pustertal. Während das Bistum Aquileia in Osttirol mit der Pfarre Lavant-Tristach vertreten war, wurde das Pustertal von der Diözese Brixen kontrolliert.
Früh- und Hochmittelalter
Langsamer als das kirchliche entwickelte sich das weltliche Machtgefüge in der Region. Oftmals wurde die formelle Macht von reichen adeligen oder kirchlichen Grund- und Leibherren untergraben. Erstes Ziel der römisch-deutschen Könige und Kaiser war die Schwächung der einflussreichen Bayern, die 976 durch die Errichtung des selbstständigen Herzogtums Kärnten entkräftet wurden. Das neue Herzogtum reichte dabei im Westen bis in die Tauernregion und umfasste das Lienzer Becken. Im Pustertal erstreckte sich das Gebiet bis zur Lienzer Klause. Der südwestliche Machtbereich der Bayern wurde zusätzlich durch die Übertragung der Grafenrechte der Grafschaft Pustertal an den Brixener Bischof ausgedünnt. Während sich im Westen die Grafen von Tirol durchsetzten, entwickelte sich zwischen Tirol und Kärnten ein neues Machtzentrum, die Grafschaft Görz, deren Einfluss auf Kosten des Bistums Aquileia und des Hochstifts Freising wuchs. Die Grafen von Görz entstammten dabei dem bayrischen Hochadel und tauchten im 11. Jahrhundert am historischen Horizont auf. Ihre Machtbasis baute auf das Grafengeschlecht von Lienz auf, das das Verwaltungszentrum des Lienzer Gaues in der kärntnerischen Grafschaft Lurngau war. Als die Grafen im Lurngau 1100 die Vogtei Aquileia erwarben, vereinigten sie ihre Besitzungen mit den neuen Ländereien und benannten sich 1120 durch den verschobenen Machtschwerpunkt in von Görz um. Paroli wurde den Görzern in Osttirol insbesondere vom Erzbistum Salzburg geboten, das um 1200 den Raum Matrei, das Defereggental und um Nikolsdorf die Ländereien der Grafen von Lechsgemünd erwarb. Die Strategie der Görzer, Salzburg und die Kärntner Spanheimer im Bündnis mit den Grafen von Tirol militärisch zurückzudrängen, scheiterte 1252 jedoch.
Spätmittelalter
Trotz der Niederlage von 1252 (Frieden von Lieserhofen) profitierten die Görzer von ihrem Bündnis mit Tirol. Meinhard III. von Görz (später Meinhard I. von Tirol) hatte um 1237 Adelheid, eine der beiden Töchter des Grafen Albert von Tirol, geheiratet und erbte nach dessen Tod 1253 die Kernzonen des späteren Tirol nördlich und südlich des Brennerpasses. Nach Meinhards Tod 1258 wurden 1271 die umfangreichen Besitzungen schließlich unter seinen Söhnen aufgeteilt. Meinhard IV. von Görz erhielt als Meinhard II. die Grafschaft Tirol, Albert von Görz hingegen das görzische Erbe, vermehrt um die tirolerischen Herrschaftsrechte im Pustertal. Die meinhardinische Linie konnte sich jedoch nicht lange behaupten, bereits Meinhards Enkelin Margarete von Tirol überantwortete 1363 die Grafschaft Tirol den Habsburgern, nachdem die männliche Linie ihrer Familie 1335 erloschen war. Im Gegensatz dazu gelang es den albertinischen Görzern ihr Erbe zu konsolidieren und schließlich zu vermehren. Um 1300 erreichten aber auch sie bereits ihren Zenit. Hauptgegner der Görzer waren die Habsburger, die bereits 1335 den Tiroler Görzern das Herzogtum Kärnten abgenommen hatten und 1363 auch die Grafschaft Tirol übernahmen. Dadurch gerieten die Görzer zwischen das Herrschaftsgebiet der Habsburger, die nun versuchten, die territoriale Lücke zwischen ihren Gebieten zu schließen. Auch im Süden war das Reich der Görzer bedroht. Hier versuchte sich vor allem die Republik Venedig als Landmacht zu etablieren und auch die Habsburger bedrohten mit ihrem Zugang zur oberen Adria die Interessen der Görzer. Die beiden voneinander getrennten Hälften der Görzer Besitzungen (später Vordere und Hintere Grafschaft Görz) gerieten so immer mehr in Gefahr. Da der Einfluss im Süden durch Venedig immer stärker eingeschränkt wurde, rückte Lienz zur Hauptresidenz der Görzer auf. Als 1460 die Brüder Johann und Leonhard von Görz an der militärischen Eroberung des Erbes der Grafen von Cilli scheiterten, entriss ihnen Kaiser Friedrich III. die Herrschaft Lienz und alle Gerichte östlich des Kärntner Tors im Drautal sowie weitere Besitzungen im Gailtal und Mittelkärnten. Obwohl es Leonhard zwei Jahre später noch gelang, die Herrschaft Lienz durch einen von Söldnern vorgetäuschten Volksaufstand zurückzuerobern, arbeitete die Zeit für die Habsburger. Nachdem die Ehe Leonhards kinderlos geblieben war, fiel das Tiroler Gebiet der Görzer nach seinem Tod 1500 an Maximilian I.
Neuzeit
Einverleibung in die Grafschaft Tirol
Maximilian I. konnte das neue Gebiet rasch gegen Venedig verteidigen und schickte einen Beamtenstab aus Innsbruck zur Verwaltung nach Osttirol. Der Anschluss an Tirol, zunächst nur ein Provisorium, war wenig später jedoch bereits eine Tatsache, an der auch die Kärntner nichts mehr ändern konnten.
Das der Grafschaft Tirol zugeschlagene Gebiet umfasste dabei die Herrschaft Lienz mit seinen fünf Gerichten (Stadt Lienz, Landgericht Lienz, Virgen, Kals und Lienzer Klause), (im heutigen Südtirol) das Pustertal von der Mühlbacher Klause Richtung Osten, die Gerichte Schöneck mit Burgfrieden, Ehrenburg, Uttenheim oder Neuhaus, Sankt Michelsburg, Altrasen, Welsberg sowie (großteils bereits in Osttirol gelegen) Heinfels.
Trotz dieses umfangreichen Gebietes befanden sich noch wesentliche Teile des späteren Osttirols in der Hand anderer Mächte. So behauptete das Hochstift Brixen das Gericht Anras, das zwischen den Gerichten Heinfels und Lienzer Klause sowie der Kärntner Grenze lag und das Gebiet der heutigen Gemeinden Anras, (großteils) Assling, Obertilliach und Untertilliach umfasste; es erstreckte sich von Osttirols Südgrenze bis zum Kamm des Defereggengebirges, wo es an das Salzburgische Pfleggericht Windisch-Matrei grenzte, das auch Teile des Defereggentals umfasste. Durch diese geistlichen Territorien war der Ostteil Osttirols mit Lienz vom übrigen Tiroler Gebiet getrennt. Die Ostspitze des heutigen Osttirols bildete die kleine Herrschaft Lengberg, ebenfalls salzburgisches Territorium.
Die Integration der görzischen Herrschaft in die Grafschaft Tirol verlief ohne Probleme. So war etwa Tirol nicht nur wohlhabender, sondern auch wesentlich fortschrittlicher in Verfassung, Verwaltung und Recht. Weiters hatten die Landstände in Tirol im Gegensatz zu Görz ein wichtiges Wort mitzureden. Durch die Einführung der hierarchischen Tiroler Verwaltung wuchs jedoch auch der herrschaftliche Zugriff. Osttirol wurde in die Landmiliz eingegliedert. Darüber hinaus mussten alle Grundbesitzer im Gegensatz zu früher Grundsteuer zahlen und wirtschaftlich büßte Lienz seine Stellung ein, da es die herrschaftliche Residenz verlor. Im Gegenzug gelang es der Bürgerschaft jedoch, die zuvor niedergehaltene Autonomie auf den Status anderer Tiroler Städte anzuheben.
16. bis 18. Jahrhundert
Von den sozialen Unruhen im 16. Jahrhundert blieb Osttirol großteils verschont. Während die Bauernkriege 1525 im zentraleuropäischen Bereich wüteten, kam es in Osttirol kaum zu Unruhen. Windisch-Matrei wurde jedoch kurzfristig von Tirol besetzt, um einen Übergriff der revolutionären Tendenzen zu verhindern. Auch die Reformation stieß in Osttirol auf wenig Widerhall, protestantische Bewegungen konnten hier kaum Fuß fassen. Nur im damals salzburgischen Defereggental fielen die von Salzburger Saison- und Wanderhändlern mitgebrachten Ideen auf fruchtbaren Boden. Der Salzburger Erzbischof griff jedoch hart durch und zwang 1684 900 Deferegger, die auf ihrem Glauben beharrten, zur Auswanderung.
Wirtschaftlich bedeutete diese Zeit eine schwere Belastung für das Gebiet. Zwar blieb man von kriegerischen Zerstörungen verschont, Bergbau, Handel und Verkehr waren jedoch rückläufig. Zusätzlich ließ die Kleine Eiszeit die landwirtschaftlichen Erträge zurückgehen.
Erst im 18. Jahrhundert erholte sich die Wirtschaft mit anziehender Konjunktur. Zudem gebärdete sich der Staat unter Maria Theresia wesentlich investitionsfreudiger. Immer mehr rückten die Untertanen als Wirtschaftssubjekte in den Vordergrund und wurden als Steuerzahler oder Soldaten benötigt. Die Reformen trafen aber auch die Kirche. Unter Kaiser Joseph II. wurde nicht nur das Pfarrwesen neu organisiert, auch zahlreiche Orden, die keinen öffentlichen Nutzen hatten, wurden aufgelöst. So wurde etwa das Haller Damenstift 1783 geschlossen, seine Gerichte kamen unter staatliche Verwaltung. Weiters traf es das Karmelitenkloster in Lienz, in das später die Franziskaner einzogen. Auch auf die staatliche Organisation wirkten sich die Reformen aus. Die traditionellen Rechte der Länder, Städte und Zünfte wurden abgeschafft und an deren Stelle trat eine straffe und zentralistische Organisation. Einheitliche Rechtsgrundlagen folgten.
19. Jahrhundert
Der Staatsumbau setzte sich auch im 19. Jahrhundert fort. 1803 wurden die geistlichen Reichsfürstentümer aufgelöst und der Territorialbesitz der Hochstifte säkularisiert. Die Gebiete der Fürstentümer Brixen und Trient wurden der Grafschaft Tirol angegliedert, die Hofmark Innichen und das Gericht Anras wurden ebenfalls tirolerisch und den Landgerichten Sillian (Heinfels) bzw. Lienz zugeschlagen.
Osttirol unter den Franzosen
Kurzfristig wurde die Reformarbeit jedoch durch die napoleonischen Kriege unterbrochen. Infolge der Niederlage Österreichs im Dritten Koalitionskrieg und des folgenden Pressburger Friedens in den Jahren 1805/06 wurde Tirol auf drei neue bayerische Provinzen aufgeteilt, wobei das südliche Tirol an den Eisackkreis fiel. Danach begann Bayern in den neuen bayerischen Provinz Reformen durchzuführen, wobei die Missachtung der alten Tiroler Wehrverfassung (Landlibell) und die Wiedereinführung der josephinischen Kirchenreform für Unmut sorgten. Die massiven Eingriffe führten zum so genannten Kirchenkampf des Klerus und der einfachen Bevölkerung. Die Zwangsrekrutierungen führten schließlich 1809 zum Aufstand unter Andreas Hofer. Dem Aufruf Hofers folgten auch die Osttiroler Schützen aus dem Isel-, Drau- und Pustertal. Sie sammelten sich an der Lienzer Klause und blockten erfolgreich den Vorstoß der französischen Truppen im Pustertal ab. Aus Rache steckte der französische General Rusca einige Dörfer in der Umgebung von Lienz in Brand. Im Dezember folgte der letzte Aufstand der Osttiroler, als ein Aufgebot aus dem Iseltal die Franzosen aus seinem Tal bis vor Lienz jagte. Als Folge des Aufstandes wurde Tirol 1810 auf drei Staaten aufgeteilt. Das Tirol östlich von Toblach (Osttirol) wurde nämlich den Illyrischen Provinzen zugeschlagen und 1811 um das bisher salzburgische Windisch-Matrei erweitert.
Neuorganisation
Nachdem Österreich den Südosten Tirols 1813 zurückerobert hatte, wurde das Gebiet neu organisiert. Ab 1816 wurden drei Verwaltungs- und Justizsprengel eingeführt. Dies waren die Landgerichte Windisch-Matrei (mit Virgen und Kals), Lienz (inklusive Anras und dem 1816 an Tirol gewanderten Lengberg) sowie Sillian (inklusive Innichen und Tilliach). Damit zeichnete sich erstmals auch der spätere Bezirk Lienz ab. Gleichzeitig passte sich die katholische Kirche den neuen Gegebenheiten an. Nach dem Rückzug von Salzburg und Görz gehörte Osttirol ab 1814 einheitlich zur Diözese Brixen. 1817 schuf das Gemeindegesetz in Tirol auch erstmals einen einheitlichen Ordnungsrahmen und beseitigte die rechtliche Bevorzugung von Märkten und Städten. Die Gemeindeordnung von 1866 hob schließlich auch die heutige, politische Gemeinde aus der Taufe. Als 1868 in der Österreichischen Reichshälfte Justiz und Verwaltung auf lokaler Ebene getrennt wurden, konstituierten sich die Bezirksgerichte Lienz, Windisch-Matrei und Sillian als Instanzen der Justiz und die Bezirkshauptmannschaft Lienz als umfassende Verwaltungsinstanz.
Wirtschaftlicher Wandel
Die beginnende Industrialisierung zog an Osttirol fast spurlos vorüber. Trotzdem verschob sich das wirtschaftliche und soziale Gefüge innerhalb der Region. Die wachsende Bevölkerung konnte nicht mehr in der Landwirtschaft unterkommen und musste in das Gewerbe oder den Dienstleistungssektor abwandern. Die bevorzugten Gebiete waren dabei Lienz oder auch außerhalb des Bezirkes. Kleinere Handwerksbetriebe siedelten sich zwar in den Landgemeinden an, die Bevölkerungszahl stagnierte hier jedoch. Einen Investitionsschub bewirkte der Bau der Pustertalbahn im Jahr 1871. Sie brachte die Eisenbahner ins Land und öffnete die Region für den Tourismus. Von den Sommerfrischlern profitierte insbesondere Lienz, das seine Größe zwischen 1868 und 1910 von 2111 auf 6045 Einwohner steigern konnte, während die Bevölkerung des Bezirks nur von 30.000 auf 33.000 Einwohner stieg. Dennoch blieb die Landwirtschaft der wichtigste Erwerbszweig, um 1900 lebten rund zwei Drittel der Osttiroler von ihr. Im kleinstrukturierten Gewerbe spielte vor allem das Gast- und das Baugewerbe eine wichtige Rolle.
Zeitgeschichte
Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit
Durch den Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 wurde das Hinterland Tirol von den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs direkt getroffen. Tirol wurde zum Operationsgebiet, die Osttiroler Gemeinden im Westen und Süden (Sexten bis Untertilliach) lagen direkt an der Italienfront. Nach der Einnahme des Porze-Gipfels am Kamm der Karnischen Alpen im Juni 1915 gerieten insbesondere Obertilliach und Kartitsch ins Schussfeld der italienischen Artillerie. Weitere Artillerieangriffe konzentrierten sich vor allem auf die Pustertalbahn und somit auf Sillian und Innichen. Ein Luftangriff auf den Lienzer Bahnhof am 7. September 1918 forderte weiters ein Todesopfer und vier Verletzte.
Nach dem Ende der Kampfhandlungen versuchte ein rasch gebildeter Lienzer Nationalrat die Nachkriegswirren in geordnete Bahnen zu lenken. Der Einmarsch der Italiener im November 1918 bei Sillian und Tassenbach brachte Osttirol wie auch den übrigen Teil Tirols unter italienische Besatzung. Der Vertrag von Saint-Germain, der am 10. September 1919 geschlossen wurde und 1920 in Kraft trat, hatte die Abtrennung Südtirols an Italien zur Folge. Der Bezirk Lienz, in der Folge immer öfter auch als Osttirol bezeichnet, erhielt dadurch seine endgültigen Grenzen. Die Abtrennung Südtirols verstärkte die Randlage des Gebietes noch zusätzlich, weshalb man sich nun mehr nach Osten, d. h. nach Kärnten umorientieren musste. Kurzfristig kam es 1920 sogar zur Ausrufung des Anschlusses an Deutschland als Deutscher Gau Osttirol.
Dominante politische Macht während der Zwischenkriegszeit wurde die Tiroler Volkspartei. Erst weit dahinter folgten Sozialisten und Kommunisten. Auf Grund der katholisch-konservativen Prägung Osttirols erfuhr hier die Errichtung des autoritären austrofaschistischen Ständestaates eine breite Zustimmung. Die Weltwirtschaftskrise hatte ähnlich wie im übrigen Österreich zu einer hohen Arbeitslosigkeit geführt, der man mit Großprojekten entgegenwirkte. Projekte wie die zwischen 1930 und 1935 errichtete Großglockner-Hochalpenstraße zwischen Kärnten und Salzburg wurden im Zuge der Krise aus dem Boden gestampft. Der Bau der Felbertauernstraße, der die dringende Verbindung zwischen Osttirol und Salzburg herstellen sollte, konnte jedoch erst 1967 abgeschlossen werden.
Osttirol und der Nationalsozialismus
Der Zulauf zur NSDAP erfolgte in Osttirol etwas später als im restlichen Österreich, beginnend mit der Machtergreifung Hitlers 1933. Auch das Verbot der NSDAP im Juni 1933 konnte diesen Zuwachs nicht bremsen. Während des Juliputsches der Nationalsozialisten blieb es in Osttirol vergleichsweise ruhig, Angehörige des Bundesheeres und der Heimwehr wurden jedoch bei der Niederschlagung des Putsches im benachbarten Oberkärnten bis Spittal an der Drau eingesetzt. Daraufhin gewann immer mehr eine monarchistische Strömung an Einfluss, während die illegalen Nationalsozialisten allenfalls durch Appelle der SA in Oberlienz auf sich aufmerksam machen konnten. Am 11. März 1938, unmittelbar vor dem Anschluss, zog ein Fackelzug der Nationalsozialisten durch Lienz, während die ersten Postenbesetzungen befehlsmäßig nach Vorgaben aus Innsbruck durchgeführt wurden. Erste Verhaftungen von Juden sowie Verantwortlichen des Ständestaates oder der Heimwehr begannen augenblicklich. Die Wehrmacht erreichte Osttirol hingegen erst mit einigen Tagen Verspätung. Bei der am 10. April durchgeführten „Volksabstimmung“ über den „Anschluss“ erreichte der Bezirk Lienz mit 98,68 % Ja-Stimmen die geringste Zustimmung aller Tiroler Bezirke, die Gemeinde Innervillgraten hatte mit 73,7 % Zustimmung gar den niedrigsten Wert in Österreich.
Bereits im Juli/Oktober 1938 folgte eine Verwaltungsänderung, die auf heftige Ablehnung in der Osttiroler Bevölkerung traf. Der Kreis Lienz wurde dem Gau Kärnten zugeteilt, und die Bezeichnung Osttirol verschwand für mehrere Jahre. Die kirchliche Organisation des Gebietes blieb hingegen auch während der Zeit des Nationalsozialismus unverändert als „Apostolische Administratur Innsbruck-Feldkirch“ bei der Diözese Brixen. Im Zweiten Weltkrieg wurden zahlreiche Männer zum Militärdienst einberufen, 1300 bis 1400 kehrten davon nicht zurück. Zudem verstärkte sich der Zugriff auf die „Heimatfront“, der sich insbesondere gegen die Kirche richtete und das Brauchtum instrumentalisierte. Das massive Vorgehen gegen die Kirche und Religion löste im konservativen Osttirol auch ein gewisses Resistenzverhalten aus, etwa 70 bis 80 Zivilpersonen aller Gesellschaftsschichten, insbesondere Widerstandskämpfer fielen den Nationalsozialisten zum Opfer. Mit dem Heranrücken der Alliierten wurde Osttirol, insbesondere 1945, auch von Bombenangriffen betroffen. Im April 1945 wurden der Lienzer Hauptplatz sowie der Bahnhof fast völlig zerstört. Insgesamt starben 18 Menschen in Osttirol durch Luftangriffe. Der Einmarsch britischer Truppen am 8. Mai 1945 bedeutete schließlich das Ende der Nazi-Herrschaft in Osttirol.
Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
Erste Nachkriegsjahre
Kurz nach Kriegsende kam es zur Lienzer Kosakentragödie, der größten Tragödie in Osttirol: Anfang Mai 1945 flüchteten rund 25.000 Kosaken, die auf der Seite Hitlerdeutschlands gekämpft und im Zuge der Partisanenbekämpfung am Balkan und Norditalien in Kriegsverbrechen verwickelt waren, vor den Alliierten und Partisanenverbänden über den Plöckenpass nach Oberkärnten und Osttirol, wobei sie in Lienz ihr Hauptquartier aufschlugen. Entgegen anderer Zusage verfrachteten die Briten die Kosaken in Eisenbahnwaggons, um sie an die Sowjetunion auszuliefern. In den Lagern um Lienz und Oberdrauburg begingen aus diesem Grund zahlreiche Kosaken Selbstmord, andere wehrten sich und wurden erschlagen. Der Großteil der Kosaken wurde jedoch in Judenburg den sowjetischen Truppen übergeben, wobei viele schon den Transport nicht überlebten bzw. durch Selbstmord oder Hinrichtungen starben. In Lienz erinnert heute noch der Kosakenfriedhof an diese Geschehnisse.
Für die Osttiroler Bevölkerung spielte neben der Nahrungsmittelsicherung und der Behebung der Bombenschäden auch die Lösung der Verwaltungsfrage eine wichtige Rolle. Im Gegensatz zum französisch besetzten Nordtirol gehörte Osttirol zur Besatzungszone der Briten, die jedoch hier schon im Oktober 1953 und nicht wie allgemein erst 1955 das Besatzungsgebiet verließen. Durch die vorübergehende Lösung der Südtirol-Frage (Gruber-De-Gasperi-Abkommen) und das Einlenken der Briten kam es jedoch bereits im September/Oktober 1947 zur Rückgliederung Osttirols an Tirol. 1948/49 erleichterte zudem ein Abkommen mit Italien den Eisenbahn- und Straßenverkehr über Südtirol. Die Entnazifizierung war in Osttirol hingegen weniger erfolgreich. Im Vergleich mit anderen Regionen Österreichs wurden hier nur wenige ehemalige Nationalsozialisten verurteilt.
Tourismus, Großprojekte und Kraftwerksstreit
War der Tourismus, der Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte, schon in der Zwischenkriegszeit ein wichtiger Wirtschaftsfaktor der Region gewesen, so erlangte er nach 1945 bald eine noch größere ökonomische Bedeutung. Matrei in Osttirol konnte beispielsweise 1948 seine Nächtigungszahlen gegenüber der Zwischenkriegszeit verdoppeln. Probleme bereitete hingegen die Anbindung des Bezirks Lienz an das Umland. In dieser Hinsicht spielte der Bau der Felbertauernstraße 1962 bis 1967 eine herausragende Rolle, da Osttirol eine bessere Verbindung nach Salzburg und Innsbruck bekam und die Felbertauernstraße eine wichtige Anbindung für den Tourismus bedeutete. Parallel zur Straße wurde auch die Transalpine-Ölleitung (TAL) Triest–Ingolstadt gebaut. Der Bau der Felbertauernstraße und das Wirtschaftswunder sorgten für eine weitere Steigerung der Nächtigungszahlen, die zwischen 1965 und den 90er Jahren fast verdoppelt werden konnten, jedoch stark auf den Wintertourismus fokussiert blieben.
Ein Ereignis prägte Osttirol in den 60er Jahren wie kein anderes: Die Hochwasserkatastrophen von 1965/66, die im September 1965, August und November 1966 unvorstellbare Schadensereignisse darstellten. Warme Südwinde, die Schnee und Gletscher zum Schmelzen brachten, sorgten in Verbindung mit starken Niederschlägen in ganz Osttirol für Abgänge von Muren und ließen Flüsse und Bäche über die Ufer treten. Insgesamt forderten die Naturkatastrophen 23 Todesopfer und zerstörte zahlreiche Brücken, Gebäude (darunter Kirche und Kapelle), Wohngebäude und vor allem Landwirtschafts- und Kulturflächen.
Die Großprojekte und die Beseitigung der Folgen der Hochwasserkatastrophe hatten in Osttirol zu einer überhitzten Baukonjunktur geführt. Der Ruf nach weiteren Großprojekten wurde daher laut. In diesem Zusammenhang tauchte daher Anfang der 70er Jahre ein jahrzehntealtes Megaprojekt auf, das die Entwässerung von 20 Bächen und den Bau des größten Staudamms Österreichs (220 Meter) im Kalser Dorfertal vorsah. Hatten in den 50er und 60er Jahren das Fehlen von Ersatzweidegründen sowie Finanzierungsprobleme und der Bau der Felbertauernstraße das Projekt verhindert, so erwuchs dem Projekt nun in der vermehrt Zulauf findenden Umweltbewegung ein ernsthafter Gegner. Auch die ersten Politiker der Grünen sowie Bundesvertreter von ÖVP und SPÖ traten gegen das Projekt auf, während sich ÖVP-Landes- und Bezirkspolitiker, der ÖGB, die Energiewirtschaft sowie auch lange Zeit die betroffenen Gemeinden für die Verwirklichung einsetzten. Der Streit um das Dorfertal lähmte Osttirol lange Zeit, bis sich die Kalser Bevölkerung 1987 schließlich mit 63,49 % gegen das Projekt stellte. Wirtschafts- und Energieminister Robert Graf verkündete 1989 schließlich das endgültige Ende des Dorfertalkraftwerks.
Nationalpark und erneuter Kraftwerksstreit
Durch die Neuorientierung hin zum Naturschutz war auch eine Neupositionierung Osttirols möglich geworden. Der 1984 gegründete Nationalpark Hohe Tauern wurde zu einem Bestandteil Osttiroler Identität und auch ein wichtiges Element der Tourismuswerbung. Gleichzeitig wurde in den 90er Jahren ein vermehrter Ausbau von Qualitätsbetten betrieben, während die Anzahl der Nächtigungen bei Privatzimmervermietern durch Eigenbedarf, wachsenden Wohlstand und den Strukturwandel zurückgingen. Der rückläufige Sommertourismus konnte durch den Wintertourismus teilweise aufgefangen werden. Der Beitritt zur EU erleichterte schließlich auch das Zusammenwachsen der Region mit Südtirol. Die Grenzkontrollen wurden abgeschafft und erste Niederlassungen Südtiroler Firmen entstanden.
2005 keimte der Streit um die Nutzung der Osttiroler Berge wieder auf. Nach der Veröffentlichung ihres Optionenberichts 2004 gelangten vier Kraftwerksprojekte der TIWAG 2005 in die engere Auswahl. Osttirol ist hierbei durch die geplante Errichtung des Pumpspeicherkraftwerks Matrei-Raneburg betroffen. Gegen die Errichtung des Kraftwerks, das von Grünen, FPÖ und SPÖ geschlossen abgelehnt wird, bildete sich rasch auch ein Netzwerk der lokalen Bevölkerung, die den Kraftwerksbau am Rande des Nationalparks ablehnt. Das geplante Pumpspeicherkraftwerk würde nicht nur den Tauernbach aufstauen, sondern auch den Bau eines Kraftwerks an der Isel vorbereiten, die nach der Meinung zahlreicher Wissenschaftler und Umweltschützer längst als Natura-2000-Gebiet gemeldet hätte werden müssen.
Literatur
Andrej Werth: Erinnerung und Region. Regionale Erinnerungskultur(en) am Beispiel Osttirol. Salzburg: Universität Salzburg 2012.
Harald Stadler, Martin Kofler, Karl C. Berger: Flucht in die Hoffnungslosigkeit. Die Kosaken in Osttirol. Studien Verlag, Innsbruck/Wien/Bozen 2005, ISBN 3-7065-4152-1.
Martin Kofler: Osttirol. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Studien Verlag, Innsbruck 2005, ISBN 3-7065-1876-7.
Michael Forcher (Red.): Matrei in Osttirol. Ein Gemeindebuch zum 700-Jahr-Jubiläum der ersten Erwähnung als Markt 1280–1980. Matrei 1980, 1996.
Katholischer Tiroler Lehrerverein (Hrsg.): Bezirkskunde Osttirol. Innsbruck 2001, ISBN 3-7066-2267-X.
Martin Kofler: Osttirol im Dritten Reich 1938–1945. Studien Verlag, Innsbruck/Wien 1996, ISBN 3-7065-1135-5.
Franz Miltner: Lavant und Aguntum. Die frühgeschichtlichen Ruinen bei Lienz in Osttirol. Lienz 1950.
Josef Thonhauser: Osttirol im Jahre 1809. Wagner, Innsbruck 1968.
Weblinks
Wilfried Beimrohr: Das Görzer Archivinventar. In: Tirol.gv.at. |
1034715 | https://de.wikipedia.org/wiki/Atlanta-Feldzug | Atlanta-Feldzug | Der Atlanta-Feldzug war eine militärische Operation der Unionsstreitkräfte unter William Tecumseh Sherman in Nordgeorgia während des Amerikanischen Bürgerkrieges. In einer Serie von Kämpfen, die von Mai bis September 1864 dauerten, besiegten die Unionsarmeen die konföderierte Tennessee-Armee unter Joseph Eggleston Johnston (später unter John Bell Hood) und eroberten schließlich die strategisch und wirtschaftlich wichtige Stadt Atlanta. Ihr Erfolg trug wesentlich zur Wiederwahl Präsident Lincolns am 8. November 1864 bei, der – anders als sein Gegenkandidat McClellan – gegen eine Kompromisslösung mit der Konföderation eintrat. Der Feldzug gilt daher als entscheidend für den vollständigen Sieg des Nordens im Sezessionskrieg, hatte aber auch auf kultureller Ebene große Auswirkungen.
Vorgeschichte und strategische Bedeutung
Mit dem Sieg in der Schlacht von Chattanooga war es den Nordstaaten im November 1863 endgültig gelungen, den Staat Tennessee zu sichern und dadurch das Tor für Operationen gegen andere konföderierte Staaten weiter im Süden zu öffnen.
Als besonders lohnendes operatives Ziel bot sich dabei der Eisenbahnknotenpunkt Atlanta in Georgia an, der während des Bürgerkriegs zu einer der wichtigsten Industriemetropolen des Südens aufgestiegen war. Die Einnahme dieser Stadt durch die Union würde dem Süden einen schweren Schlag zufügen und die Nordstaatler mitten ins Herzland der Konföderation, in den tiefen Süden, führen.
Darüber hinaus sah es der strategische Gesamtplan des neuen Oberbefehlshabers des Heeres, Generalleutnant Ulysses S. Grant, vor, die zahlenmäßig unterlegenen Südstaaten an möglichst vielen Punkten gleichzeitig zu bedrohen. Auf diese Weise wollte Grant verhindern, dass die Südstaaten wie in den Jahren zuvor Gebrauch von ihren inneren Linien machen und ihre Armeen je nach Situation durch Truppen aus weniger bedrohten Gebieten verstärken konnten.
Aus diesem Grund übergab Grant seinem engen Vertrauten William Tecumseh Sherman im Frühjahr 1864 eine schlagkräftige Armee in Nordgeorgia. Mit ihr wollte dieser die Stadt Atlanta erobern und die sie schützende konföderierte Tennessee-Armee besiegen.
Die Oberbefehlshaber und ihre Kommandeure
Sherman erhielt zu diesem Zweck das Kommando über die „Military Division of the Mississippi“. Neben mehreren Wehrbereichen (Departments) unterstanden ihm dabei auch drei große Feldarmeen.
Die stärkste der drei Armeen, die Cumberland-Armee, wurde von Generalmajor George Henry Thomas geführt, der sich in der Schlacht am Chickamauga ausgezeichnet hatte.
Generalmajor James Birdseye McPherson, den Sherman sehr schätzte, hatte den Befehl über Shermans ehemaliges Kommando, die Tennessee-Armee. Shermans kleinste Feldarmee, die Ohio-Armee kommandierte Generalmajor John McAllister Schofield. Inklusive der den verschiedenen Armeen untergeordneten Kavallerietruppen kam Sherman alles in allem auf rund 100.000 Mann.
Ihm gegenüber stand der konföderierte Feldherr Joseph Eggleston Johnston mit der Tennessee-Armee. Johnston, einer der ranghöchsten konföderierten Generäle, befehligte rund 50.000 Mann. Kurz nach Beginn des Feldzugs wurde er aber durch die konföderierte Mississippi-Armee unter Leonidas Polk auf rund 65.000 Mann verstärkt. Johnston, ein kluger, eher defensiv orientierter Taktiker, hatte seine Armee im Gebirge Nordgeorgias, in der Nähe von Dalton, aufgestellt und erwartete dort Ende April den Beginn von Shermans Offensive.
Der Ort des Geschehens
Gelände und Infrastruktur
Das Gelände entlang der rund 100 Meilen, die Sherman und seine Unionssoldaten auf dem Weg nach Atlanta zurücklegen mussten, schien für die Verteidigung geeigneter zu sein als für den Angriff. Es war gebirgig und von mehreren Flüssen in West-Ost-Richtung durchzogen. Die drei wichtigsten dabei waren, von Norden nach Süden, der Oostanaula River, der Etowah River und der Chattahoochee River.
Für beide Seiten entscheidend war außerdem die von Nord nach Süd verlaufende Bahnstrecke der Western and Atlantic Railroad (W&A). Sie war sowohl für Johnston als auch für Sherman eine unerlässliche Versorgungslinie und musste bei strategischen Überlegungen immer mit einkalkuliert werden. Als Versorgungs-, Rückzugs- und Vormarschlinie war die Eisenbahnstrecke für beide Seiten besonders wichtig.
Die Stadt Atlanta
Die Stadt war 1836 als Endbahnhof für die Western&Atlantic entstanden und hatte 1861 9.000 Einwohner. Sie hatte während des Bürgerkrieges stark an Bedeutung gewonnen. Zum Zeitpunkt des Feldzuges wurde sie, was industrielle Bedeutung anging, nur von der Hauptstadt Richmond übertroffen.
In Atlanta traf sich die W&A-Bahnstrecke mit drei weiteren Bahnstrecken:
die Strecke der Georgia Railroad aus Osten von Augusta (Georgia) an der Grenze zu South Carolina,
die Strecke der Atlanta and West Point Railroad aus Südwesten von Montgomery in Alabama und
die Strecke der Macon and Western Railroad aus Südosten.
Der Feldzug
Von Rocky Face Ridge nach Kennesaw Mountain
Die ersten größeren Gefechte des Feldzuges entbrannten Anfang Mai 1864 bei Dalton in der Gegend des Rocky Face Ridge, wo Shermans Truppen auf zähen Widerstand der eingegrabenen Konföderierten trafen. Er entschloss sich, mit der Masse seiner Kräfte einen Ablenkungsangriff gegen Johnstons Linien durchzuführen, während McPhersons Tennessee-Armee die linke Flanke der Konföderierten umgehen sollte. Danach sollte McPherson Johnston weiter südostwärts bei Resaca am Oostanaula im Rücken angreifen und seine Hauptnachschublinie, die W&A-Bahnstrecke, unterbrechen. McPherson traf jedoch auch hier auf starken Widerstand und Sherman eilte ihm daraufhin mit dem Rest seiner Streitmacht zur Hilfe.
Drei Tage lang, vom 13. bis zum 15. Mai, versuchte er hier erneut ohne Erfolg Schwachstellen in Johnstons Front zu finden, woraufhin er wiederum die linke Flanke der Konföderierten umging und Johnston zum Rückzug nach Süden zwang. Am 18. Mai fiel Rome an Truppen der Nordstaaten. Während des Rückzugs versuchte Johnston am 19. Mai bei Cassville eine von Shermans getrennt marschierenden Armeen mit einer Übermacht anzugreifen. Sein Plan sah vor, Schofields Ohio-Armee frontal mit Polks Korps zu attackieren, während ihr John Bell Hood mit seinem Korps in die rechte Flanke fallen sollte. Hood bemerkte aber seinerseits Unionstruppen, die seine Flanke und seinen Rücken bedrohten, und brach den Angriff daher ab. Polk und Hood bezogen darauf hin zusammen mit Johnstons drittem Korps unter General Hardee bei Cassville eine Verteidigungsstellung, die sie aber kurz darauf wieder räumten.
Johnstons nächste Verteidigungslinie war einige Meilen südlicher am Allatoona Pass, in der Nähe der Stadt Cartersville. Auch diese Position erwies sich als ein starkes Hindernis für Sherman, der sie deshalb nicht angreifen wollte. Wie schon zuvor umging er stattdessen Johnstons Flanke und zwang ihn so zum Rückzug. Er konnte Johnstons Verbindungs- und Rückzugslinie aber nicht durchtrennen, da Johnston die Bewegung vorhergesehen und südwestlich davon bei New Hope Church Stellung bezogen hatte. Sherman unterschätzte hier die Stärke von Johnstons Truppen und befahl einem seiner Korps den Angriff, welcher blutig zurückgeschlagen wurde. Ein Gegenangriff der Konföderierten bei Dallas blieb aber ebenso erfolglos, und Sherman marschierte ostwärts, um Johnstons Versorgungslinie wieder zu bedrohen.
In der Folgezeit standen sich die Armeen Anfang Juni in der Gegend des Pine Mountain gegenüber und tasteten sich ab, wobei Leonidas Polk, der eines von Johnstons Korps befehligte, tödlich verwundet wurde. Erneut zwang Sherman Johnston durch seine Umgehungs- und Überlappungsmanöver zum Rückzug. Die Konföderierten bezogen daraufhin bei Kennesaw Mountain eine starke Verteidigungsstellung. Sherman witterte hier dennoch eine Chance für einen Frontalangriff, der am 27. Juni ohne Erfolg durchgeführt wurde: Die fest eingegrabenen Konföderierten wehrten alle Versuche der Nordstaatler, ihre Linien zu durchbrechen, unter hohen Verlusten für die Angreifer ab.
Von Marietta bis zur Schlacht von Atlanta
Johnston gelang es durch diesen Sieg, Sherman mehrere Tage in der Gegend von Marietta und Kennesaw Mountain aufzuhalten. Der Feldherr der Konföderierten musste seine Linie aber schlussendlich doch wieder räumen, da erneut die Gefahr einer Umgehung bestand.
Seine neue Defensivlinie verlief entlang des Flusses Chattahoochee, nur wenige Meilen nördlich von Atlanta, aber auch diese wurde von Sherman bald umgangen, und Johnston zog sich noch einmal zurück, dieses Mal bis kurz vor Atlanta.
In der Zwischenzeit hatte man in Richmond, der konföderierten Hauptstadt, mit Befremden auf Johnstons Manöver reagiert. Zwar hatte der konföderierte Feldherr den zahlenmäßig überlegenen Sherman zwei Monate lang im Gebirge von Nordgeorgia aufgehalten und ihm einige taktische Niederlagen bereitet, doch hatte er immer mehr Gebiet aufgegeben, so dass Sherman inzwischen praktisch vor den Toren Atlantas stand. Als Johnston außerdem auf eine Anfrage von Präsident Davis nach seinen Plänen für weitere Operationen nur vage antwortete, entließ er den in seinen Augen zu defensiv agierenden General, mit dem er sich schon zuvor mehrmals gestritten hatte. Zu Johnstons Nachfolger berief er am 17. Juli den Wahl-Texaner John Bell Hood, der bis dato eines der Korps der Tennessee-Armee kommandiert hatte. Von ihm erwartete sich der Präsident ein offensiveres Vorgehen gegen die Invasionsarmee.
Hood griff Shermans Truppen auch sogleich an, wurde aber am Peachtree Creek von der Cumberland-Armee unter hohen Verlusten abgewehrt.
Auch ein zweiter Angriff Hoods, dieses Mal auf die Tennessee-Armee der Union am 22. Juli scheiterte. Zu den Gefallenen dieses Tages gehörte auch der Oberbefehlshaber der Tennessee-Armee, General McPherson – ein enger Freund Hoods aus West-Point-Tagen.
Belagerung und Fall
Nachdem Sherman von Norden und Osten Atlanta nicht hatte einnehmen können, verlegte er seinen Schwerpunkt nach Westen und bedrohte die Stadt von dort mit der Tennessee-Armee, nun unter Generalmajor Oliver Otis Howard. Hood begegnete dieser Bewegung mit einem Gegenangriff bei Ezra Church am 28. Juli. Der Angriff scheiterte, konnte aber verhindern, dass Howard Hoods letzte Versorgungslinie durchtrennen konnte. Auch ein erneuter Angriff Shermans auf diese Linie, dieses Mal mit Schofields Ohio-Armee, scheiterte.
Sherman entschloss sich nun, die Stadt zu belagern, grub sich vor Atlanta ein und begann die Stadt zu beschießen. Die nächsten Wochen war es vor allem die Kavallerie unter General Wheeler (CS) und General Kilpatrick (US), die durch ihre Raids immer wieder Kampfhandlungen entfachten und die Nachschublinien ihrer Gegner sabotierten.
Ende August 1864 unternahm Sherman einen erneuten, groß angelegten Angriff gegen Hoods letzte eisenbahngestützte Versorgungslinie. Er schickte daher das Gros seiner Streitmacht auf einen langen Marsch nach Jonesborough, südlich von Atlanta. Es gelang ihm zwar nicht, das sich ihm dort entgegenstellende konföderierte Korps General Hardees zu vernichten, aber er überrannte dessen Stellungen und nahm die Macon-&-Western-Bahnstrecke ein. Wie von ihm erwartet, evakuierte Hood daraufhin die Stadt, die am 2. September kapitulierte und von US-Truppen besetzt wurde. Tags darauf marschierte der Großteil von Shermans Truppen in Atlanta ein, und Sherman telegrafierte an Lincoln: Atlanta is ours and fairly won. („Atlanta ist unser, und redlich errungen.“) Sein Sieg hatte die Nordstaaten 31.687 Soldaten gekostet, die Verluste des Südens beliefen sich auf 34.979 Mann. Andere Schätzungen gehen von jeweils rund 40.000 Mann Verlusten auf beiden Seiten aus (siehe ebenda).
Logistik
Bedeutung der Eisenbahn im Amerikanischen Bürgerkrieg
Der amerikanische Bürgerkrieg gilt oft als der „erste moderne Krieg“. Ein Grund dafür war die zunehmende Bedeutung der Eisenbahn für die Kriegführung. Die Eisenbahn ermöglichte es, große Anzahlen von Verbänden, große Mengen von Versorgungsgütern sowie Verpflegung für Mensch und Tier schnell und effizient über große Entfernungen zu transportieren. Für die beteiligten Armeen war es deshalb überlebenswichtig, nicht von ihren Eisenbahnverbindungen in das Hinterland abgeschnitten zu werden.
Logistik der Unionsstreitkräfte
Das Hauptversorgungsdepot für den westlichen Kriegsschauplatz befand sich in Louisville, Kentucky, 473 Meilen von Atlanta entfernt. Das für den Atlanta-Feldzug zuständige Depot lag in Nashville, Tennessee. Aus ihm wurden die Versorgungsgüter mit der Eisenbahn und auf dem Cumberland River mit Schiffen zum vorgeschobenen Versorgungsdepot in Chattanooga transportiert.
Aus dem vorgeschobenen Depot wurden die Versorgungsgüter mit der W&A in frontnahe Felddepots transportiert. Diese Felddepots rückten mit den angreifenden Truppen entlang der Eisenbahnstrecke weiter nach Süden vor, sobald die im Zuge der Kampfhandlungen beschädigten Schienen wieder repariert waren. Aus den Felddepots wurden die Armeen mit von Maultieren und Ochsen gezogenen Wagen versorgt. Zu Beginn des Feldzuges gab es über 5.180 Wagen, 28.000 Pferde und 32.000 Maultiere.
Sherman plante auf der Western-&-Atlantic-Bahnstrecke bis zu 130 Transporte täglich nahe an die Front zu bringen. Dazu standen ihm 1.000 Wagen und 100 Dampflokomotiven zur Verfügung. Wegen der ständigen Raids der konföderierten Kavallerie im Rücken der kämpfenden Armeen hatte Sherman das Hauptdepot für die Reparatur der Lokomotiven und Gleise nach Ringgold, Georgia, südwestlich von Chattanooga, verlegt. Er schuf eine Division, die nur zum Schutz der Verbindungs- und Versorgungslinien eingesetzt war und entlang der Eisenbahnlinie disloziert war. Sie schützte ebenfalls die zur Reparatur eingesetzten Trupps. So gelang es Sherman, Schienen, Brücken und Telegrafenverbindungen sehr schnell zu reparieren. Auf Seiten der Konföderierten soll ob dieser Effektivität das Gerücht kursiert haben, Sherman trage ein Duplikat jeder wichtigen Brücke und jedes wichtigen Tunnels auf dem Weg nach Atlanta mit sich.
Logistik der konföderierten Armee
Wie auch für die Nordstaaten war die W&A die „Aorta“ von Johnstons Tennessee-Armee. Die Konföderierten hatten aber den Vorteil, im Verlauf des Feldzugs zunehmend näher an ihr Versorgungsdepot Atlanta zu kommen, was ihre Versorgung deutlich erleichterte. In Atlanta hing ihr Nachschub dann vor allem von der nach Süden führenden Atlantic & West Point und von der Macon & Western Railroad ab, da die Georgia Railroad bereits früh von den Nordstaaten blockiert wurde.
Nach dem Feldzug
Politische und militärische Konsequenzen
Der Atlanta-Feldzug hatte weitreichende politische Konsequenzen. Der wichtige Unionssieg kam für Lincoln genau zum richtigen Zeitpunkt. Im Osten war es General Grant bis dato trotz mehrerer extrem blutiger Schlachten (siehe Schlacht in der Wilderness, Schlacht bei Spotsylvania Court House, Schlacht von Cold Harbor) noch nicht gelungen, die konföderierte Hauptstadt Richmond einzunehmen und Lees Nord-Virginia-Armee eine entscheidende Niederlage zu bereiten, was zu einem Erstarken der oppositionellen Kriegsgegner geführt hatte. Shermans Sieg aber stärkte dem Präsidenten den Rücken und er gewann am 8. November 1864 überzeugend die Wiederwahl mit 212 von 233 Wahlmännerstimmen. Außerdem beraubte er den Süden einer seiner wichtigsten Städte und ebnete den Weg für weitere Operationen tief im Herzen des Südens, wie zum Beispiel Shermans „Shermans Marsch zum Meer“ nach Savannah im Herbst 1864 oder, darauf aufbauend, der Carolina-Feldzug 1865.
Die Stadt Atlanta
Für die Stadt Atlanta selbst waren die Kämpfe und die Eroberung eine Katastrophe. Die sich zurückziehenden Südstaatler hatten bereits alles angezündet, was militärischen Wert besaß. Dabei explodierte auch ein Munitionszug, da dieser nicht mehr die Stadt verlassen konnte und den Gegnern nicht in die Hand fallen sollte. Die Unionstruppen vollendeten die Verwüstungen, indem auch die restliche wirtschaftliche Basis der Stadt zerstört wurde und weite Teile der Bevölkerung in das Umland zwangsevakuiert wurden. Dies sollte der Sicherung des Hinterlandes dienen und Shermans Marsch zum Meer sichern. Dennoch kehrten die Bewohner nur einige Monate später zurück und bauten, obwohl zu diesem Zeitpunkt etwa 90 Prozent der Gebäude zerstört waren, ihre Stadt schnell wieder auf, so dass die Stadt den Spitznamen Phoenix City bekam. Bereits 1868 wurde Atlanta zur Hauptstadt von Georgia ernannt.
Kulturelle Auswirkungen
Auch auf kultureller Ebene hatte der Fall und die Zerstörung von Atlanta große Auswirkungen. Literarisch wurde ihm durch Margaret Mitchell in Vom Winde verweht (1936) ein Denkmal gesetzt, eines der bekanntesten und meistübersetzten Bücher der Weltliteratur. Auch der filmischen Umsetzung mit Vivien Leigh und Clark Gable aus dem Jahre 1939 war ein enormer Erfolg beschieden, beide Werke verklärten das Bild des untergehenden Südens (Lost Cause). Im Film ist die Belagerung und die Flucht der Bewohner von Atlanta zu sehen.
Kriegsgräber
Entlang des Weges der am Feldzug beteiligten Armeen gibt es viele Friedhöfe mit Kriegsgräbern. Der Marietta-Nationalfriedhof mit etwa 10.000 Gräbern ist der einzige Nationalfriedhof des Landes, auf dem der gefallenen Soldaten des Atlanta-Feldzuges gedacht werden kann.
Quellen und Anmerkungen
Literatur
United States. War Dept.: The War of the Rebellion, a Compilation of the Official Records of the Union and Confederate Armies. Bd. 38, Kap 50. Govt. Print. Off., Washington 1880–1901.
James M. McPherson: Für die Freiheit sterben. Die Geschichte des amerikanischen Bürgerkrieges. List, München 1992, Weltbild, Augsburg 2000. ISBN 3-471-78178-1
Stanley Horn: The Army of Tennessee. University of Oklahoma 1952. Norman, London 1993. ISBN 0-8061-2565-9
Shelby Foote: The Civil War – A Narrative. Bd. 3. Red River to Appomattox. Vintage Books, New York 1974, 1986. ISBN 0-394-74622-8
Albert Castel: Decision in the West: The Atlanta Campaign of 1864. Lawrence, KS 1992
James L. McDonough & James P. Jones: War so Terrible: Sherman and Atlanta. New York 1987
Richard M. McMurry: Atlanta 1864: Last Chance for the Confederacy , Lincoln, 2000. ISBN 0-8032-3212-8
Weblinks
Bilder und Landkarten
Übersichtskarte
Karte zum ersten Teil des Feldzugs (PDF; 470 kB)
Karten zum zweiten Teil des Feldzugs
Virtuelle Führung
Animierter Ablauf des Feldzuges
Weiterführende Texte
The War of the Rebellion: Offizielle Berichte des Bürgerkrieges (englisch)
Chronologie des Feldzugs (englisch)
Beschreibungen der einzelnen Schlachten (englisch)
Schlachtordnungen, Official Records und vieles mehr (englisch)
Memoiren von General W. T. Sherman (englisch)
Battles and Leaders of the Civil War, Band 4. Enthält auch zahlreiche von Teilnehmern geschriebene Texte über den Atlanta-Feldzug (englisch)
Schlacht des Sezessionskriegs
Militärische Operation (19. Jahrhundert)
Konflikt 1864
Geschichte von Georgia
William T. Sherman |
1044307 | https://de.wikipedia.org/wiki/Flughafen%20Kuala%20Lumpur | Flughafen Kuala Lumpur | Der Kuala Lumpur International Airport (Abkürzung: KLIA) ist der größte malaysische Flughafen. Er wurde am 27. Juni 1998 eröffnet und liegt im Distrikt Sepang des malaysischen Bundesstaates Selangor, 44 Kilometer südlich der Hauptstadt Kuala Lumpur. Der Flughafen dient den malaysischen Fluggesellschaften Malaysia Airlines und AirAsia als Drehkreuz.
Geographie und Verkehrsanbindung
Der Flughafen befindet sich am südlichen Ende des etwa 50 Kilometer langen sogenannten Multimedia Super Corridors, einer Sonderwirtschaftszone, die sich vom Norden von Kuala Lumpur aus über die neu gebauten Städte Putrajaya und Cyberjaya, den Formel-1-Kurs in Sepang bis hin zum Flughafen im Süden erstreckt. Der Flughafen wurde auf einem Gebiet ehemaliger Ölpalmplantagen errichtet. Auch heute noch ist er von solchen Plantagen umgeben. Im Umkreis von 100 km leben mehr als sieben Millionen Menschen, also rund ein Drittel der malaysischen Bevölkerung. Sechs der zehn größten Städte Malaysias sind weniger als 100 km vom Flughafen entfernt, zum Stadtzentrum Kuala Lumpurs sind es 44 km, zur Küste 16 km.
Zwar liegt der Flughafen strategisch günstig als Zwischenstopp oder Umsteigeort für Flüge von Europa nach Indonesien, Australien, Neuseeland und in die Philippinen, steht aber in Konkurrenz mit den benachbarten südost-asiatischen Drehkreuzen, den Flughäfen Singapur, Bangkok und Jakarta.
Seit 2002 verkehren der KLIA Ekspres und der KLIA Transit in die Innenstadt Kuala Lumpurs. Beide fahren in Kuala Lumpur im City-Air-Terminal ab, einem Teil des Hauptbahnhofs und kommen in der untersten Ebene im Hauptabfertigungsgebäude des Flughafens an. Mehrere Fluggesellschaften bieten ihren Kunden die Möglichkeit, bereits im City-Air-Terminal einzuchecken. Das aufgegebene Gepäck fährt mit dem KLIA Ekspres zum Flughafen.
Der KLIA Ekspres fährt die 57 Kilometer lange Strecke ohne Unterbrechung, während der KLIA Transit an drei zusätzlichen Stationen anhält. Die beiden Endbahnhöfe sind mit Bahnsteigtüren ausgestattet, welche erst dann automatisch öffnen, wenn der Zug steht.
Weiterhin ist der Flughafen durch Schnellbusse privater Unternehmen an die Innenstadt angebunden. Endhaltepunkte sind der Zentralbahnhof Kuala Lumpur Sentral sowie der Busbahnhof Puduraya.
Flughafengelände
Das Flughafenareal ist derzeit insgesamt rund zehn km² groß. Fast alle Flughafeneinrichtungen befinden sich zwischen den beiden zueinander parallelen, vier Kilometer langen Start- und Landebahnen, ähnlich dem Flughafen München. Die zwei bisher realisierten Start- und Landebahnen verlaufen in Nordwest-Südost-Richtung.
Die autobahnähnliche Schnellstraße und die Schnellbahntrasse kommen von Norden auf den Flughafen zu. Die Schnellstraße macht auf Höhe des Towers eine Linkskurve und teilt sich dort auf die verschiedenen Anfahrten zu den Abfertigungsgebäuden und den anderen Infrastruktureinrichtungen auf. Zwischen diesen Straßen befindet sich der 132 Meter hohe Flughafentower, der nach Bangkok (132,2 m) zweithöchste Tower weltweit.
Das zentrale Hauptabfertigungsgebäude mit seinen charakteristischen Zeltdächern und das vorgelagerte Pierabfertigungsgebäude, der Contact Pier – ein Gebäudeschlauch mit Flugsteigen – liegen zwischen den beiden Start- und Landebahnen und senkrecht zu diesen. Vor diesem Pier verlaufen zwei Rollbahnen, die die beiden Pisten miteinander verbinden. Südlich davon befindet sich das bisher einzige, kreuzförmige Satellitenabfertigungsgebäude, das durch einen Pendelzug (Aerotrain) mit dem Contact Pier verbunden ist und ausschließlich zur Abfertigung internationaler Passagiere dient.
Westlich des Satelliten befindet sich heute eine große quadratische unbebaute Fläche, auf der in Zukunft das zweite Satellitengebäude errichtet werden soll. Südlich des Satelliten stehen die Frachtabfertigungsgebäude, das Abfertigungsgebäude für Billigfluggesellschaften (Low-Cost-Carrier-Terminal) und, noch weiter südlich, entlang der westlichen Piste, die Hangars der ansässigen Malaysia Airlines und Kerosintanks.
Zwischen dem Satelliten und dem Low-Cost-Carrier-Terminal befindet sich ein kleiner Kontrollturm, der nur für die Überwachung der Flugzeugbewegungen auf dem Vorfeld zuständig ist.
Geschichte
Hintergründe
Bereits 1990 begann die malaysische Regierung mit der Planung eines neuen, leistungsstarken Flughafens für die Hauptstadt, da der alte Flughafen Sultan Abdul Aziz Shah in Subang schon lange chronisch überlastet war und keine weiteren Ausbaumöglichkeiten bot; der größte Unterstützer des Projektes war zu dieser Zeit der damalige malaysische Premierminister Mahathir bin Mohamad. Mit dem neuen Flughafen sollte der Kapazitätsbedarf für das Verkehrsaufkommen der nächsten Dekaden gedeckt werden.
Bauarbeiten und Fertigstellung
Die Baukosten für die erste Ausbaustufe beliefen sich auf mehr als 3,5 Mrd. US-Dollar (etwa 2,73 Mrd. Euro, Kurs: 10. November 2006). Nach nur vier Jahren und sechs Monaten waren die Arbeiten abgeschlossen – bis dahin war noch nie zuvor ein Flughafen solcher Größe in so einer kurzen Bauzeit errichtet worden. Über 25.000 Bauarbeiter aus verschiedenen Ländern wirkten auf der damals größten Baustelle Malaysias mit.
Bevor die ersten Bautrupps anrücken konnten, musste ein Orang-Asli-Dorf (Ureinwohner) mit 85 Familien in eine andere Gegend umgesiedelt werden. Damit diese weiterhin Landwirtschaft betreiben konnten, wurden ihnen dort zum Ausgleich andere Agrarflächen zugeteilt. Die Tatsache, dass nur diese Orang Asli-Siedlung in dem Gebiet existierte, war ein ausschlaggebender Standortfaktor und machte die Ansiedlung des neuen Flughafens dort attraktiv.
Am 27. Juni 1998 wurde der Flughafen offiziell eingeweiht. Überschattet wurde der Festakt von Problemen mit dem Gepäckfördersystem, welches zusammenbrach, außerdem stürzten die Systeme mehrerer Fluggastbrücken und Parkpositions-Anweisungsbildschirme des Visual docking guidance systems ab. Infolgedessen bildeten sich lange Schlangen im ganzen Flughafen, viele Gepäckstücke gingen verloren oder wurden erst Tage später ihren Besitzern zugeschickt.
Situation heute
Auf einer Fläche von zehn km² erstreckt sich der Flughafen in seiner ersten Ausbaustufe. Von Anfang an wurde er so geplant, dass die Möglichkeit bestand, ihn stufenweise bis zu einer Kapazität von 80 Millionen Passagieren pro Jahr auszubauen. Heute liegt die Kapazität bei rund 25 Millionen Reisenden, wobei im ersten vollen Betriebsjahr (1999) lediglich 13,2 Millionen abgefertigt wurden.
Nur 21 Mio. Passagiere konnten 2004 abgefertigt werden. Ursprünglich wurden etwa 35 Mio. Passagiere für dieses Jahr prognostiziert. Der Frachtsektor rangiert auf deutlich höheren Rängen im weltweiten Vergleich (ACI zufolge Platz 29), als etwa die Passagierbeförderung (Platz 47) oder die Anzahl der Flugbewegungen. Diese stieg ab 2002 kontinuierlich und beförderte 2005 KLIA damit zum ersten Mal in die Gruppe der weltweit 100 größten Flughäfen in dieser Kategorie.
Siehe auch: Verkehrszahlen
Abfertigungsgebäude
Hauptabfertigungsgebäude (Main Terminal Building)
Das Hauptabfertigungsgebäude befindet sich zwischen den beiden Runways und hat im Grundriss eine rechteckige Form. Das Dach besteht aus 39 quadratischen Dacheinheiten, welche es ermöglichen, die Halle schnell und günstig auszubauen, indem weitere Gebäudeeinheiten angefügt werden.
Das Bauwerk besteht aus fünf übereinander liegenden Ebenen. Die unterste Ebene beherbergt den Flughafenbahnhof, von dem die KLIA-Ekspres-Züge alle 15 bis 20 Minuten ohne bzw. die KLIA Transit-Züge alle 30 Minuten mit Zwischenhalten bis zum Hauptbahnhof Kuala Lumpurs fahren. In der zweiten Ebene befinden sind die Zugänge zum Pan Pacific Hotel und dem Parkhaus, welches sich zwischen dem Hauptabfertigungsgebäude und dem Tower befindet. In der dritten Ebene werden alle ankommenden Passagiere abgefertigt, so dass sich hier unter anderem Gepäckausgabebänder, Passkontrolle, Zollkontrolle, Geldwechsler sowie Hotel- und Tourorganisationen befinden. In der vierten Ebene ist hauptsächlich die Gepäckförderanlage untergebracht. In der obersten, der fünften Etage, sind die Einrichtungen für die abfliegenden Passagiere angesiedelt.
Man gelangt durch einen der sechs Zugänge von der doppelstöckigen Anfahrtsstraße ins Innere der Halle. Die Anfahrtsstraße ist auf 350 Meter Länge überdacht. An der der Zufahrtsstraße gegenüberliegenden Seite gibt es einen Zugang zur Besucherterrasse des Flughafens. In der Halle gibt es sechs parallele Check-in-Inseln mit jeweils 36 Check-in-Schaltern. An den Enden der „Inseln“ befinden sich die Ticketschalter der Fluggesellschaften.
Hinter der sich auf der vierten Ebene befindenden Passkontrolle schließt sich ein Verbindungsgebäude an, das in den Contact-Pier mündet. Dort kann man geradeaus zu der Aerotrain-Station gehen und einen Zug zum Satelliten-Abfertigungsgebäude nehmen oder zu den Flugsteigen im Contact-Pier gehen, in dem es Flugsteige in der vierten Ebene für internationale Flüge und Flugsteige in der darunterliegenden Ebene für nationale Flüge gibt.
Ankommende Fluggäste internationaler Flüge gelangen durch das zentrale Verbindungsgebäude ins Hauptabfertigungsgebäude. Hinter der Passkontrolle gibt es in einer weitläufigen Halle zehn Gepäckausgabebänder. Um in den öffentlich zugänglichen Bereich zu kommen, muss die Zollkontrolle durchlaufen werden. Ankommende Passagiere von Inlandsflügen gelangen direkt aus der dritten Ebene des Piergebäudes über das dezentrale Verbindungsgebäude in die Gepäckausgabehalle (national) mit ihren zwei Gepäckausgabebändern, ohne eine Passkontrolle zu durchlaufen.
Siehe auch: Abläufe der Passagierabfertigung
Pierabfertigungsgebäude (Contact Pier)
Der Contact-Pier ist ein länglicher Gebäudeschlauch, an welchem auf beiden Seiten Flugzeuge an den Fluggastbrücken andocken können. Im Contact-Pier gibt es drei Ebenen. Um die Aerotrain-Station unterzubringen, ist der Contact-Pier in der Mitte etwa zweimal breiter als der Rest des Gebäudes.
In der obersten Ebene befinden sich die Aerotrain-Station und die Flugsteige für internationale Flüge, in der darunter liegenden dritten Ebene die Flugsteige für nationale Flüge, in der zweiten Ebene, die sich auf Vorfeldhöhe befindet, sind Warteräume/Flugsteige für Flüge untergebracht, für die die Flugzeuge nicht auf einer gebäudenahen Parkposition parken und deswegen die Passagiere mit Bussen dorthin gefahren werden. Wie überall im Flughafen muss man die Durchleuchtungsprozedur durchlaufen, um einen Warteraum (Wartelounge) betreten zu können.
Passagiere internationaler Flüge benutzen das zentrale Verbindungsgebäude, um zu Flugsteigen im Piergebäude zu gelangen.
Passagiere, die einen Inlandsflug benutzen wollen, gehen nicht durch das zentrale, sondern ein zusätzliches Verbindungsgebäude, um zum Contact-Pier zu gelangen. Dieses Verbindungsgebäude befindet sich auf der dritten Ebene und wird über Fahrtreppen oder Aufzüge aus dem Check-in-Bereich der nationalen Flüge in der fünften Ebene erreicht. Es liegt östlich des zentralen Verbindungsgebäudes und kann von Passagieren internationaler Flüge nicht benutzt werden, da es die beiden Gebäude nur auf der dritten Ebene verbindet. Ein identisches Verbindungsgebäude soll gebaut werden, wenn das Hauptabfertigungsgebäude nach Westen erweitert wird.
Im ganzen Gebäudeschlauch sind Fahrsteige, sogenannte Travellators, installiert, welche die Wege zu weit entfernten Flugsteigen zeitlich verkürzen.
Die kleinen Flugzeugparkpositionen nördlich des Contact-Piers können nur von Flugzeugen bis zur Größe eines Schmalrumpfflugzeuges benutzt werden. Diese Positionen haben nur eine Fluggastbrücke je Flugsteig und können nur von der dritten Ebene, dem nationalen Bereich, erreicht werden. Auf den Parkpositionen südlich des Contact-Piers können alle Flugzeuge bis zur Größe einer Boeing 747 parken. Diese Parkpositionen sind mit zwei Fluggastbrücken ausgerüstet und können entweder von einem „Jumbo“ (Boeing 747) oder von zwei Boeing 737 gleichzeitig benutzt werden.
Siehe auch: Abläufe der Passagierabfertigung
Satellitenabfertigungsgebäude (Satellite)
Das Satellitenabfertigungsgebäude ist ein dreistöckiger, kreuzförmiger Bau, an dem ausschließlich internationale Flüge abgefertigt werden und der die Ebenen zwei bis vier umfasst. Die Passagiere werden mit dem Aerotrain vom Contact-Pier zum Satelliten gebracht. 19 der 26 gebäudenahen Flugzeugparkpositionen sind mit zwei Fluggastbrücken bestückt, sodass ein schnelles Ein- und Aussteigen auch bei großen Flugzeugen gewährleistet ist. Außer am Gebäudeflügel mit der Aerotraintrasse (nur fünf Flugsteige) gibt es an jedem der Gebäudeflügel sieben Flugsteige. Um den Warteraum eines Flugsteiges betreten zu können, muss man die Durchleuchtungsanlagen durchlaufen. Die Wartesäle sind durch eine Glaswand von den Geh- und Fahrsteigen in der Mitte der Gebäudeflügel getrennt.
In der Gebäudemitte hat der Architekt des Flughafens, Kishō Kurokawa, einen Glaszylinder erbauen lassen, in dem tropische Regenwaldbäume und -pflanzen wachsen, um ein Stück Natur wieder zurückzuholen. Der Wald soll die Passagiere auf Malaysia mit seiner faszinierenden Pflanzen- und Tierwelt einstellen. Dieses Stück Tropischer Regenwald wurde nicht etwa gepflanzt, sondern größtenteils aus einem bestehenden Regenwald transplantiert. In der Mitte des Gebäudes, um den Wald herum – befinden sich u. a. die Aerotrain-Station, Geschäfte, Restaurants, Ruheräume und vier Panoramaaufzüge.
Diese Mezzanine genannte Ebene existiert nur in der Gebäudemitte und an den Enden der Gebäudeflügel. Nur im Gebäudeflügel, in welchem in der darunter liegenden Ebene die Aerotrains verkehren, wurde die Mezzanine-Ebene auf voller Länge und Breite gebaut, um Platz für das Transithotel und die riesige Malaysia-Airlines-Lounge zu schaffen. Wegen dieser Ebene kann das geschwungene Satteldach in diesem Gebäudeflügel nicht, wie in den anderen Gebäudeflügeln, von den Flugsteigen aus gesehen werden. In der Mezzanine-Ebene befinden sich weitere Geschäfte, Ruhe- und Raucherräume, Restaurants, Business-Centers und die Lounges einiger Fluggesellschaften für deren Vielflieger und First-Class-Passagiere.
Falls sich ein Flugzeug nicht auf einer gebäudenahen Parkposition befindet, werden die Fluggäste vom Flugsteig durch die Übergänge über der Servicestraße zu den Fluggastbrücken geführt. Die Passagiere werden dort noch vor Eintritt in die Fluggastbrücken über Treppen auf Vorfeldhöhe gebracht und in Bussen zum Flugzeug gefahren.
Um auch den Airbus A380 schnell abfertigen zu können, werden fünf Flugsteige den Anforderungen dieses „Superjumbos“ angepasst. Um ein schnelles Ein- und Aussteigen zu gewährleisten, werden die umgerüsteten Flugsteige mit einer dritten Fluggastbrücke ausgestattet und die Teile der vierten Ebene, an den Gebäudeflügelenden genutzt, um bestimmte Passagiergruppen (z. B. Erste-Klasse-Passagiere) bereits im Gebäude zu trennen. Der Homecarrier Malaysia Airlines selbst verfügt momentan über 6 Exemplare dieses Flugzeugtyps.
Abläufe der Passagierabfertigung
Die Abfertigung von Passagieren internationaler und nationaler Flüge läuft getrennt ab. Nur die Check-in-Flächen sind nicht räumlich getrennt. Im Folgenden sind zwei Beispiele der Abfertigungsreihenfolge aufgelistet (vergleiche Schema):
Passagier möchte zum Flugsteig im Satellitengebäude:
Hauptgebäude, Ebene 5: Straßenzufahrt, Check-in (1), Ebene 4: Passkontrolle (3), ca. 100 m zum Piergebäude
Piergebäude, Ebene 4: geradeaus zur Aerotrainstation
Aerotrainfahrt
Satellitengebäude, Ebene 3: maximal 500 m bis zu einem Flugsteig in einem der fünf Gebäudeflügel
Transitpassagier möchte aus dem Piergebäude (nationaler/Inlands-Flug) zu einem internationalen Flug im Satellitengebäude:
Piergebäude, Ebene 3: Flugsteig G, geradeaus zur Passkontrolle (3) auf der rechten Seite, Ebene 4: Aerotrainstation
Aerotrainfahrt
Satellitengebäude, Ebene 3: maximal 500 m bis zu einem Flugsteig in einem der fünf Gebäudeflügel
Abfertigungsgebäude für Billigfluggesellschaften (LCCT)
Das Low Cost Carrier Terminal (LCCT) ist ein Abfertigungsgebäude, welches speziell an die Bedürfnisse der Billigfluggesellschaften angepasst ist.
Vom 2006 bis 2014 befand es sich zwischen den beiden Runways, nordöstlich der Cargo City, 20 Straßenkilometer vom Hauptabfertigungsgebäude entfernt. Ein NadiKLIA genannter Bus pendelte zwischen Hauptabfertigungsgebäude und LCCT. Dieses LCCT nahm am 23. März 2006 nach neunmonatiger Bauzeit den Betrieb auf. Es war für eine maximale Kapazität von 10 Millionen Passagieren ausgelegt. Das 35.290 m² große, L-förmige Gebäude ist mit einem minimalen Kostenaufwand, von „nur“ 108 Millionen malaysischen Ringgit (etwa 27 Millionen Euro), errichtet worden. Dies konnte nur durch die Reduktion der Ebenen auf eine einzige, und den Verzicht auf eine Vielzahl von Einrichtungen, wie z. B. Fluggastbrücken, Vorfeldbusse, Aufzüge und Fahrtreppen, erreicht werden. Außerdem müssen alle Passagiere zu Fuß zu den Flugzeugen gehen.
Bis zum Jahre 2009 wurde das Terminal durch eine Vergrößerung der Grundfläche des Gebäudes auf eine Kapazität von 30 Millionen Fluggästen pro Jahr erweitert.
Am 2. Mai 2014 wurde der neu errichtete KLIA 2 Terminal eröffnet, welcher die Funktion des bisherigen LCCT komplett übernimmt. Der Terminal hat mit dem KLIA Ekspres Train sowie dem KLIA Transit Train eine direkte Verbindung zur Railwaystation des KLIA. Die Fahrtzeit beträgt 3 Minuten, was im Gegensatz zur alten Busverbindung zwischen dem KLIA-LCCT ein schnelles Wechseln zwischen beiden Terminals ermöglicht. Hauptnutzer des Gebäudes ist die einheimische AirAsia.
Für dieses neue Terminal wurde ein ganz neues Gelände westlich des Flughafens bebaut. Mit dieser Erweiterung wurde auch eine dritte Start- und Landebahn gebaut. Das bisherige LCCT wird nun als Lagerhalle genutzt.
Frachtabfertigungsgebäude (Advance Cargo Center)
MAS Kargo, die Frachttochter von Malaysia Airlines, betreibt ein modernes Frachtabfertigungsgebäude im Süden des Flughafens, zwischen den beiden Pisten und neben dem Low Cost Carrier Terminal. In seiner heutigen Größe ist es für eine Kapazität von einer Million Tonnen Luftfracht pro Jahr ausgelegt, kann jedoch für über drei Millionen Tonnen erweitert werden.
Das Gebäude ist mit den sichersten, modernsten und effektivsten Einrichtungen ausgerüstet und wurde auch so ausgelegt, dass riesige Mengen Luftfracht gelagert werden können, was für einen Frachtdrehkreuz essentiell ist.
Architektur/Gebäudeinterieur
Das japanische Architekturbüro Kisho Kurokawa Architect and Associates entwarf unter der Leitung des Architekten Kishō Kurokawa in Zusammenarbeit mit dem malaysischen Architekturbüro Akitek Jururancang die Abfertigungsgebäude und erstellte zugleich detaillierte Richtlinien für Höhe, Aussehen, verwendete Materialien, Bepflanzung, Beschilderung und Beleuchtung für alle Gebäude im Flughafenareal – auch für zukünftige. Die Konstruktion des Flughafens wurde von dem japanischen Bauunternehmen Taisei Corporation unter der malaysischen Dachgesellschaft KL International Airport Berhad ausgeführt.
Die Dachkonstruktion im Hauptabfertigungsgebäude besteht aus 39 gleichen quadratischen Dacheinheiten, welche abgewandelte Formen von Zeltdächern sind. Jede Dacheinheit besteht aus zwei miteinander verbundenen Schalen, einem sogenannten hyperbolischen Paraboloiden. Diese Schalen werden durch vier Stahlstützen stabilisiert, welche gleichzeitig die Dachgrate bilden. Jede dieser vier Stahlstützen besteht aus drei auseinander- und wieder zusammendriftenden Stahlrohren, zwischen denen Licht in die Check-in-Halle einfluten kann. Die Stahlstützen ruhen auf vier mit Granit verschalten konischen Säulen und laufen in der Dachspitze zusammen. An den Verbindungen (Kapitelle) zwischen Säulen und Stahlstützen beleuchten Lampen die Decke, welche mit Holzimitaten verkleidet ist. Anstatt die Last der Dachkonstruktion auf die konischen Säulen zu übertragen, hätte sich das Architektenteam auch dazu entscheiden können, die Konstruktion durch Zugglieder zwischen den Säulenkapitellen zu stabilisieren. Ein großer Vorteil der konischen Säulen besteht jedoch darin, dass sie im Innern genug Platz haben, um Regen- und Belüftungsrohre und andere Leitungen aufzunehmen. Die Dachkonstruktion soll laut Kurokawa Elemente der malaysischen Architektur verdeutlichen, sich an den islamischen Hintergrund des Landes anlehnen und außerdem die Fortschrittlichkeit und Modernität des südostasiatischen Staates symbolisieren.
Die Gebäudeflügel des Satellitenabfertigungsgebäudes haben ein Satteldach, welches aus zwei schrägen Dachflächen besteht. Das Dach spaltet sich kurz vor dem Glaszylinder mit dem Regenwald auf. Die beiden Dachflächen gehen nach rechts bzw. links in eine der Dachflächen der beiden benachbarten Gebäudeflügel über. Die vier dreieckigen Lücken im Dach, die bei dieser Spaltung kurz vor der Gebäudemitte mit dem Regenwald entstehen, sind, wie der Zylinder selbst, verglast. Die Dachflächen haben im Querschnitt die Form eines extrem gestreckten Halbkreises oder eines Halbmondes. Diese Form ermöglicht eine äußerst stabile Dachstruktur. Das Dach wird von viergeteilten Stahlstützen aus der Mitte des Gebäudes und durch zusätzliche kleinere Träger in den Wartesälen gestützt. Im Pierabfertigungsgebäude bevorzugten die Ingenieure ein ebenfalls halbkreisförmiges Pultdach. Dort wird das Dach durch zwei Stahlträger, die sich auf Höhe der vierten Ebene vierteilen, gestützt.
Der Regenwald in der Mitte des Satelliten befindet sich in einem nach oben geöffneten, leicht schrägen Glaszylinder. Dieser Zylinder wird von einem, aus drei Stahlrohren bestehenden, 20 Meter hohen Ring getragen. Dieser Ring wiederum wird von zwölf Stahlträgerpaaren aus dem Gebäudeinneren heraus getragen.
Die Decken sind mit Holzimitaten verkleidet, welche den Gebäuden ein luxuriöses Ambiente verleihen. Weiterhin sind außer im Hauptabfertigungsgebäude unregelmäßig Leuchtspots in die Decke eingelassen, die bei Nacht wie Sterne wirken. Die Dächer aller Gebäude sind mit in dunklem Khaki bemaltem Stahl gedeckt. Alle Wände und Betonpfeiler sind mit neutralen, weißen Kunststoffplatten verschalt. Sowohl im Satellite als auch im Contact-Pier sind die Warteräume der Flugsteige durch eine Glaswand von den Geh- und Fahrwegen in der Mitte des Gebäudes, getrennt. Die riesigen Panoramafenster, die von der Decke bis zum Fußboden reichen, sind in allen Gebäuden schräg, damit die Sonnenstrahlen in einem kleinen Einfallswinkel auf die Fenster treffen und so die Erhitzung des Gebäudeinneren minimiert wird. In allen Gebäuden sind die Böden mit grauen Granitplatten und die Warteräume mit lila Teppichböden ausgelegt. Um die tragenden Pfeiler herum lassen sich islamische Architekturelemente in Form von verschiedenen Formationen mit rot-, grün- und blaugefärbtem italienischem Granit finden.
Beschilderung/Orientierung
In allen Flughafengebäuden wird eine einheitliche Beschilderung verwendet.
In weißer Schrift auf blauen Schildern steht, von links nach rechts betrachtet, zunächst ein Richtungspfeil, dann ein Piktogramm, ein senkrechter grüner oder gelber Balken und ganz rechts schließlich die Information in Malaiisch (oben) und Englisch (unten). Ankommende Passagiere ohne Weiterflug folgen den Schildern mit dem gelben Balken, sie führen die Passagiere vom Flugsteig bis zur Passkontrolle und in die Ankunftshalle. Abfliegende Passagiere oder Transitpassagiere folgen den Schildern mit einem grünen Balken, um zu ihrem jeweiligen Flugsteig zu gelangen. Seit einiger Zeit werden die wichtigsten Schilder zusätzlich zu Malaiisch und Englisch auch noch mit arabischen, chinesischen und japanischen Hinweisen beschriftet.
Um die Orientierung zu vereinfachen, besitzen die Flugsteige (Gates) – je nach Gebäude, Gebäudeteil (nur Contact-Pier) und Gebäudeebene (nur Contact-Pier) – einen Buchstaben vor der Nummer des Gates. Die Flugsteige im Satellite heißen C. Flugsteige im östlichen Gebäudeflügel des Contact-Piers besitzen die Zusätze B (international) und H (national), im westlichen Gebäudeflügel A bzw. G. Die Buchstaben D, E und F wurden für weitere Abfertigungsgebäude wie beispielsweise das zweite Satellitengebäude freigehalten.
Flughafeninfrastruktur
Flughafenbahn (Aerotrain)
Der Aerotrain ist ein flughafeninterner Zug, ähnlich wie die SkyLine am Frankfurter Flughafen. Zwei Züge, bestehend aus je drei Waggons, pendeln zwischen dem Satellitenabfertigungsgebäude und dem Contact-Pier und sind rund um die Uhr in Betrieb. Alle drei Minuten fährt ein Zug, der für die Fahrt weniger als zwei Minuten benötigt. Er fasst 250 Passagiere und kann so etwa 3000 Passagiere pro Stunde und Richtung befördern. Die Höchstgeschwindigkeit der Fahrzeuge im regulären Betrieb erreicht bis zu 55 km/h.
Die Aerotrainzüge verkehren automatisch und führerlos. An den Bahnsteigen verhindern Bahnsteigtüren, dass Fahrgäste auf die Gleise gelangen können. Die beiden Haltestellen im Satelliten- und im Piergebäude sind so ausgelegt, dass zuerst die ankommenden Passagiere auf der einen Seite aussteigen können und erst kurze Zeit später die Türen auf der anderen Seite geöffnet werden, um die abfahrenden Passagiere einsteigen zu lassen (Spanische Lösung). Zur Lärmreduzierung sind in beiden Haltestellen die Fahrwege in Glasschalen eingetunnelt.
Die Fahrzeuge wurden von Bombardier geliefert und fahren ähnlich wie Busse mit gummibereiften Rädern auf einer Betonfahrbahn, die jedoch in der Mitte einen Führungsbalken hat, der auch als Stromschiene dient.
Die Bahntrasse führt unter den Taxiways hindurch und steigt dann zu beiden Seiten bis auf die Ebene der Haltestellen wieder an. Die Trasse ist auf voller Länge zweispurig, die Weichen für die Aerotrains, die in Zukunft das zweite Satellitengebäude anfahren sollen, sind bereits vorhanden. Im Contact-Pier ist die Station für die Aerotrains, die den zweiten Satelliten später einmal anfahren sollen, bereits im Rohbau vorhanden. Sie wird allerdings im Moment als Fläche für den Einzelhandel genutzt. Da die Wagen des Aerotrains in den Stationen gewartet werden, gibt es keine Stichstrecke zu einer Wartungsstation.
Gepäckförderanlage (Baggage Handling System)
Heutige Gepäckförderanlage
Die 24 Stunden in Betrieb befindliche Gepäckförderanlage ermöglicht es dem Passagier, jederzeit und überall einzuchecken. Die Anlage benutzt modernste Systeme, wie das Sortieren der Gepäckstücke mittels Strichcodes, vierfache Sicherheitskontrollen und Hochgeschwindigkeits-Förderbänder. Trotzdem gibt es häufig technische Probleme – wie am Eröffnungstag des Flughafens.
Maximal 1200 Gepäckstücke des Früh-Check-ins kann die Anlage aufbewahren. Einige der insgesamt 33 Kilometer langen Förderbänder durchlaufen einen 1,1 Kilometer langen Tunnel zwischen dem Haupt- und dem Satellitenabfertigungsgebäude.
Neue Gepäckförderanlage
Da die Gepäckförderanlage von enormen Problemen und häufigen Ausfällen geplagt wurde, bestellte das malaysische Verkehrsministerium am 19. März 2006 bei Siemens Industrial Solutions and Services (I&S) ein komplett neues Gepäckfördersystem im Wert von über 20 Millionen Euro. Die Anlage sollte im September 2007 den Betrieb aufnehmen.
Wie an vielen Großflughäfen wird das neue System die moderne Hochgeschwindigkeits-Behälterfördertechnik verwenden, bei der die Gepäckstücke in einzelnen Wannen transportiert werden. Bei dieser Methode kann man die Transportgüter auch bei hohen Geschwindigkeiten besser kontrollieren und nachverfolgen, anders als bei konventioneller Bandfördertechnik.
Start- und Landebahnen/Pistensystem
Die beiden bisher realisierten Start- und Landebahnen sind jeweils vier Kilometer lang, 60 Meter breit, um einen Kilometer versetzt und erlauben Flugzeugen jeder Größe Starts und Landungen. Da die Bahnen etwa 2,5 km voneinander entfernt sind, erlauben sie Simultanbetrieb, also eine unabhängige Nutzung beider Pisten. Parallel zu jeder Piste verläuft eine Rollbahn (Taxiway), abschnittsweise sogar ein zweiter Taxiway. Zu bzw. von jeder Bahn führen neun Ab- und Anrollwege, jeweils vier davon sind Schnellabrollwege im 30°-Winkel. Diese Abrollwege erlauben, im Gegensatz zu senkrechten Abrollwegen, gelandeten Flugzeugen die Piste bei höherer Geschwindigkeit zu verlassen und so die Taktfolge landender Maschinen zu erhöhen. Das heutige Pistensystem kann eine maximale Kapazität von 120 Flugbewegungen pro Stunde bewältigen. Um diese Marke zu erreichen, wird meistens eine der beiden Bahnen für Starts und die andere für Landungen benutzt.
Im Idealbetrieb landen so viele Flugzeuge wie möglich auf derjenigen Piste, welche auf Höhe der Passagierabfertigungsgebäude endet. Startende Maschinen heben von der anderen Startbahn ab, deren Startpunkt sich ebenfalls auf Höhe der Terminals befindet. So vermindert sich die Bodenrollzeit auf ein Minimum.
Um die Start- und Landebahnen den Bedürfnissen des Airbus A380 anzupassen, wurde Ende 2005 damit begonnen, beiden Bahnen die vorgeschriebenen, 7,5 Meter breiten, befestigten Seitenstreifen (Schulterbereiche) anzufügen. Außerdem wurden die Startbereiche an den Enden der Pisten neu betoniert.
Der Masterplan sieht insgesamt vier, optional aber auch eine fünfte Bahn vor. Diese werden voraussichtlich westlich des heutigen Flughafenareals angesiedelt. Jede dieser Bahnen ist mit einer Länge von 4000 Metern geplant.
Planungen
Zweite Ausbaustufe/Fortgeschrittene Planungen
Die ursprünglichen Planungen sahen vor, das zweite Satellitengebäude 2009 in Betrieb zu nehmen. Dessen Bau verschob man jedoch zugunsten des Low-Cost-Carrier-Terminals. In naher Zukunft dürfte außerdem eine dritte Start- und Landebahn westlich des heutigen Flughafenareals gebaut werden.
Mit der Errichtung des zweiten Satellitengebäudes werden auch die Fahrbahntrassen des Aerotrains, zwischen dem Contact-Pier bzw. dem ersten Satellitengebäude und dem neuen Satellitenfluggastgebäude, fertig gestellt. Die Tunnels unter den Taxiways sind bereits im Rohbau vorhanden. Das Piergebäude lässt sich auf beiden Seiten um je 170 Meter erweitern. Dies stellt weitere Kapazitäten zur Verfügung. Diese Erweiterung erhöht die Kapazität auf 45 Millionen Passagiere pro Jahr und markiert das Ende der zweiten Ausbaustufe im Jahr 2012.
Alte Planungen sahen vor, den KLIA Transit bis zum Low-Cost-Carrier-Terminal (LCCT) zu verlängern, um den Passagieren eine schnelle Verbindung zwischen den verschiedenen Abfertigungsgebäuden und der Stadt zu bieten. Zurzeit pendelt eine NadiKLIA genannte Buslinie zwischen den beiden Abfertigungsgebäuden. Eine einfache Fahrt mit diesen Bussen kostet 1,20 Ringgit.
Mitte 2007 gab die Regierung grünes Licht für die Planungen der Flughafengesellschaft zur Errichtung eines neuen Abfertigungsgebäudes für Billigfluggesellschaften. Das neue Fluggastgebäude wird für 30 Millionen Passagiere im Jahr ausgelegt und in der Nähe des Hauptabfertigungsgebäudes angesiedelt, womit der Bau einer Zugstrecke zwischen den beiden Abfertigungsgebäuden wegfällt.
Die Pläne wurden bis September 2007 fixiert. Diese beinhalten auch den Ausbau des heutigen LCCTs auf 15 Millionen Passagiere jährlich. Mit der Inbetriebnahme des neuen Fluggastgebäudes werden alle Abfertigungsabläufe umziehen und das heutige Gebäude wird in ein Frachtgebäude umfunktioniert.
Mitte 2006 legte das Unternehmen YTL Corp Bhd der malaysischen Regierung Pläne für eine Hochgeschwindigkeitsverbindung zwischen Kuala Lumpur und Singapur vor. YTL Corp Bhd leitete gemeinsam mit Siemens Malaysia Sdn Bhd transportation systems das Projekt der bestehenden Schnellbahn KLIA Ekspres ins Zentrum Kuala Lumpurs. Die Pläne sehen einen Halt am Flughafen vor, wobei möglicherweise die bestehende Normalspur-Strecke nach Kuala Lumpur genutzt werden würde. Die weitere Streckenführung würde Bahnhöfe in Malakka, Johor Bahru, im Zentrum Singapurs und am internationalen Flughafen des Stadtstaates beinhalten. Falls das Projekt realisiert wird, werden bis zu 350 km/h schnelle Velaro-E-Züge (Baureihe ähnlich dem deutschen ICE), des Herstellers Siemens die 325 Kilometer lange Strecke in nur 90 Minuten bewältigen (bisher neun Stunden) und damit den Shuttle-Flügen von Singapore Airlines und Malaysia Airlines ernsthafte Konkurrenz machen. Die Projektkosten werden auf 8 Milliarden Ringgit kalkuliert (ca. 1,9 Milliarden Euro).
Im Mai 2007 stimmte die Landesregierung des angrenzenden Bundesstaates Negeri Sembilan der Planung zu, den KLIA Ekspres über Seremban bis zur touristisch attraktiven Stadt Port Dickson zu verlängern. Auch dieses Teilstück könnte in die Schnellfahrstrecke Kuala Lumpur-Singapur integriert werden.
Endausbaustufe (Masterplan)
Der Masterplan sieht in der finalen vierten Ausbaustufe im Jahr 2020 insgesamt vier (optional fünf) Start- und Landebahnen, zwei Abfertigungskomplexe mit jeweils einem Pier- und zwei Satellitengebäuden vor, die für 100 Millionen Passagiere pro Jahr ausgelegt sind. Die benötigten Flächen sind bereits vorhanden und nicht besiedelt. Die neuen Pisten sollen westlich des heutigen Flughafenareals errichtet werden, der zweite Abfertigungskomplex wird spiegelverkehrt gegenüber dem heutigen Hauptabfertigungsgebäude, auf der anderen Seite der Anfahrtsstraße, erbaut. Da im Moment der Flughafen eine 20-prozentige Passagierwachstumsrate vorweisen kann, erscheinen diese Planungen nicht utopisch.
Fluggesellschaften und Ziele
Der Flughafen Kuala Lumpur wird von 69 Fluggesellschaften (darunter 6 Frachtfluggesellschaften) aus aller Welt angeflogen, die wiederum zu 112 Zielen auf fünf Kontinenten fliegen. Mit jährlich rund 1,7 Millionen Passagieren ist die Strecke nach Singapur die aufkommensstärkste. Das wichtigste Ziel in Europa stellt London dar, mit etwa 300.000 Fluggästen pro Jahr, während die Strecke nach Frankfurt im gleichen Zeitraum nur auf rund 70.000 Passagiere kommt.
Die malaysischen Fluggesellschaften Malaysia Airlines und AirAsia, die erste Billigfluggesellschaft auf dem asiatischen Kontinent, nutzen den Kuala Lumpur International Airport als Streckendrehkreuz. Malaysia Airlines fliegt zu Zielen auf allen Kontinenten, während sich das Streckennetz von Air Asia vor allem innerhalb des südostasiatischen Raums befindet. Beide Fluggesellschaften unterhalten ein dichtes Inlandstreckennetz. Beide Fluglinien sorgen mit 49,1 % bzw. 19,1 % für das Gros des Passagieraufkommens.
Auch viele der großen europäischen Fluglinien, wie, KLM und Finnair, steuern den malaysischen Flughafen an. British Airways stellte – ähnlich der Lufthansa – die Flüge schon kurz nach Eröffnung des Flughafens mangels Kundschaft ein. Die Lufthansa nahm den Flughafen aber im Juni 2004 wieder ins Programm auf und flog mit einem Airbus 340 die mehr als 10.000 Kilometer lange Strecke von Frankfurt am Main nach Kuala Lumpur in ca. 12 Stunden. Die Strecke wurde trotzdem wieder eingestellt und zwischenzeitlich wieder aufgenommen und über Bangkok angeflogen.
Die Lufthansa stellte die Strecke aber letzten Endes zum wiederholten Male 2016 wieder ein.
Um neue Fluggesellschaften nach Kuala Lumpur zu holen, erlässt der Flughafen diesen die Lande- und Parkgebühren, falls sie sich dazu verpflichten, fünf Jahre den Flughafen anzufliegen. Die anfallenden Kosten übernimmt der Staat. Aber auch wegen der ohnehin niedrigen Landegebühren ist Kuala Lumpur für viele Fluglinien attraktiv. Die Landegebühr für eine Boeing 747 beträgt 1052 US-Dollar – nur gut halb so viel wie im benachbarten Singapur, wo eine Fluggesellschaft für den gleichen Flugzeugtyp am Changi Airport 1883 Dollar bezahlen muss. Die vielen Vergünstigungen hatten die Rückkehr einiger Fluglinien zur Folge. Auch Air Mauritius entschied sich, ihr Asien-Drehkreuz von Singapur nach Kuala Lumpur zu verlegen. Trotz Bemühungen der Flughafenleitung fliegt aber weder eine nord- noch eine südamerikanische Passagierfluglinie den Flughafen an.
Der Flughafen Kuala Lumpur wird von einigen Fluggesellschaften mit einem Airbus 380-800 angeflogen, zum Beispiel fliegt Emirates täglich nach Dubai und Malaysia Airlines nach London-Heathrow, Paris CDG und Hongkong.
Verkehrszahlen
Zwischenfälle
Am 23. August 2001 wurde eine Boeing 747-368 der Saudi Arabian Airlines (Luftfahrzeugkennzeichen HZ-AIO) während des Rollens zum Abfluggate in einen Monsunentwässerungsgraben gelenkt, wobei der Bug Schaden davontrug und das Flugzeug irreparabel beschädigt wurde. Nach den Meldungen wurde die Maschine durch einen Bodenmechaniker bedient. Die sechs Crewmitglieder erlitten leichte Verletzungen.
Sonstiges
Westlich des Contact-Piers befindet sich der sogenannte Bunga Raya VVIP Complex, ein Gebäude, welches für VVIP-Gäste (Very Very Important Persons) errichtet wurde. Das Gebäude wird auch von der Regierung Malaysias für Staatsempfänge oder Reisen der Königsfamilie genutzt.
Für den Einzelhandel stehen 85.000 Quadratmeter Verkaufsfläche zur Verfügung. Damit übertrifft der Flughafen viele seiner asiatischen Konkurrenten. 65 % der Erlöse nimmt die Betreibergesellschaft Malaysia Airports Holding Berhad im nicht-luftseitigen Sektor ein, etwa die Hälfte davon durch Vermietung der Einzelhandelsflächen.
Außerhalb des Hauptabfertigungsgebäudes befindet sich ein Fünf-Sterne-Hotel mit 450 Betten, das Pan Pacific Hotel KLIA.
Es gibt zwei Feuerwehrstationen auf dem Flughafengelände. Die Löschzüge sind mit insgesamt 14 modernen Flugfeldlöschfahrzeugen ausgerüstet. Die größere der beiden Flughafenfeuerwehr-Stationen befindet sich östlich des Contact-Piers, die kleinere in der Nähe des Hangars im Süden des Flughafenareals.
Auf dem Flughafengelände gibt es eine der beiden weltweit einzigen Kammern für explosive Güter (die zweite befindet sich am Flughafen München). In dieser Kammer, die 1,6 Millionen Ringgit gekostet hat, können z. B. explosionsgefährdete Frachtcontainer kontrolliert entschärft werden.
Der Name Kuala Lumpur International Airport wurde zuvor als Alternativbezeichnung für den Sultan Abdul Aziz Shah Airport (SZB) in Subang Jaya verwendet.
Es gibt das flughafeneigene Fernsehprogramm KLIA TV, welches an vielen Orten im Flughafen, beispielsweise in der Nähe von Sitzgruppen, ausgestrahlt wird. Das Programm besteht aus Unterhaltungs-, Nachrichten- und Dokumentationssendungen, welche größtenteils von bekannten Fernsehsendern wie beispielsweise National Geographic eingekauft werden.
Ähnlich wie im Flughafen Frankfurt gibt es auch eine Flughafenzeitung, die KLIA Times.
In allen Flughafengebäuden ist Rauchen verboten, trotzdem gibt es drei Raucherräume im Satellite und im Pier.
Während der SARS-Krise, die in ganz Asien herrschte und einen enormen Passagierrückgang an den Flughäfen zur Folge hatte, wurden die Landegebühren für Flugzeuge um 50 % reduziert. Durch diese Preisreduktion erhoffte man sich, dass die Fluggesellschaften trotz des Mangels an Kunden den Flughafen weiter anfliegen würden. Die IATA begrüßte diesen Entschluss.
Malaysia Airlines lässt im Süden des Flughafens einen neuen Hangar, für die Wartung ihrer zukünftigen Airbus A380, bauen. Es wird die weltweit größte stützfreie Hangarkonstruktion sein.
Seit seiner Eröffnung erhielt der Flughafen zahlreiche Auszeichnungen von namhaften Organisationen, wie dem Onlineportal Skytrax und der Luftfahrtorganisation International Air Transport Association. Wegen exzellentem Service wählten Skytrax-Benutzer KLIA zum weltweit besten Flughafen in der Kategorie 15-25 Millionen Passagiere pro Jahr. Auch im weltweiten Vergleich ist KLIA in Bezug auf Service auf Augenhöhe (Platz 4) mit Flughäfen, wie Singapur, Hong Kong und Seoul. Kuala Lumpur ist der einzige Flughafen, der für sein Engagement im Umweltschutz mit dem Green Globe Certificate 21 ausgezeichnet wurde.
Siehe auch
Liste der größten Verkehrsflughäfen
Literatur
Markus Binney: Airport Builders. Academy Editions, Chichester 1999, ISBN 0-471-98445-0, S. 121.
Francisco Ascenio Cerver: Zeitgenössische Architektur. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 2000, ISBN 3-8290-2845-8, S. 32.
Manuel Cuadra: World Airports. Junius Verlag, Frankfurt 2002, ISBN 3-88506-519-3, S. 52.
Brigitte Rothfischer: Flughäfen der Welt. GeraMond Verlag, München 2005, ISBN 3-7654-7211-5, S. 100.
Christian Schönwetter, Kerstin Graf, Jan Hausberg: AIRPORT DESIGN. Daab, Köln 2005, ISBN 3-937718-32-X, S. 192–199.
Weblinks
Webpräsenz des Kuala Lumpur International Airport (englisch)
Webpräsenz des Kuala Lumpur International Airport 2 (englisch)
Webpräsenz der Flughafenschnellbahnen KLIAEkspres und KLIATransit (englisch)
Inoffizielle Website des Flughafens (englisch)
Detaillierte Website über den Flughafen (englisch)
Einzelnachweise
Kuala Lumpur
Kuala Lumpur
Verkehr (Kuala Lumpur)
Bauwerk in Selangor
Erbaut in den 1990er Jahren
Verkehr (Selangor) |
1279401 | https://de.wikipedia.org/wiki/Haus%20zur%20Goldenen%20Waage%20%28Frankfurt%20am%20Main%29 | Haus zur Goldenen Waage (Frankfurt am Main) | Das Haus zur Goldenen Waage war ein im Kern mittelalterliches Fachwerkhaus in der Altstadt von Frankfurt am Main, das beim Luftangriff am 22. März 1944 zerstört wurde. Wegen seines hohen architektonischen und historischen Wertes war es eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Es lag vor dem Hauptportal des Doms als Eckhaus an der schmalen Höllgasse und am Markt, der vom Domplatz zum Römerberg führenden Altstadtgasse.
Die detailreiche Renaissancefassade stammte von 1619. Die Überreste des Hauses, die einen Wiederaufbau nach dem Krieg durchaus erlaubt hätten, wurden 1950 beseitigt. Die Arkaden blieben allerdings als Teil einer Privatbibliothek in Götzenhain erhalten. Mehr als 20 Jahre lag das Grundstück brach. 1972/73 beim Bau der U-Bahn-Station Dom/Römer entstand der Archäologische Garten, in dem Ausgrabungen der römischen Niederlassung auf dem Domhügel und der karolingischen Königspfalz Frankfurt zugänglich gemacht wurden.
2007 wurde die Rekonstruktion von Teilen der ehemaligen Altstadt im Dom-Römer-Projekt beschlossen, darunter auch die Wiedererrichtung der Goldenen Waage. 2014 begann der Neubau. Der archäologische Garten wurde dabei teilweise überbaut, bleibt aber über das benachbarte Stadthaus am Markt zugänglich.
Im Dezember 2017 waren die restaurierte Fachwerkfassade, die Renaissance-Decke im Inneren und das Belvederchen fertiggestellt. Das auch im Inneren restaurierte Gebäude wurde im Dezember 2019 eröffnet. Es ist im Rahmen von Führungen des Historischen Museums zugänglich. Im Erdgeschoss befindet sich ein Café.
Geschichte
Vorgeschichte
Das Eckhaus am Markt und an der Höllgasse wurde bereits im frühen Mittelalter, vermutlich nach seinem damaligen Besitzer, als Haus zum Kulmann bzw. zum Colmann erwähnt. Die früheste mit einer Jahreszahl verbundene Erwähnung geht auf das Jahr 1323 zurück. 1405 wurde es mit dem Hinterhaus Alte Hölle zu einem Anwesen vereinigt. Etwa um diese Zeit kam im Volksmund auch der Begriff der Höllgasse für die selbst für mittelalterliche Verhältnisse sehr enge, dicht bebaute und extrem dunkle Querverbindung zwischen Markt und Bendergasse auf. Es gab auch ein Junge Hölle genanntes Haus, das sich auf der Ostzeile der Höllgasse direkt gegenüber der Alten Hölle befand. Die meisten Häuser befanden sich auf dieser Straßenseite unter Einberechnung der Überhänge im Grunde genommen schon mit dem 1. Stock auf dem Grundstück des Domes – sehr zum Ärger des Domstifts: 1299 ist ein erster Fall schriftlich festgehalten, bei dem der Goldschmied Colmann wegen seines Hauses auf der Ostzeile der Höllgasse in Streit mit der Geistlichkeit geriet.
Die Goldene Waage unter Abraham van Hamel
1588 gelangten das Eckhaus Goldene Waage für 3.040 Gulden und die Alte Hölle für 2.000 Gulden in den Besitz von Andreas Gaßmann. Von Maria Margarethe Gaßmann kaufte schließlich 1605 der Zuckerbäcker und Gewürzhändler Abraham van Hamel den Gebäudekomplex. Hamel stammte aus Tournai in den spanischen Niederlanden. 1599 war er als reformierter Glaubensflüchtling über Sittard bei Aachen und Wesel nach Frankfurt zugewandert, wo sich zuvor bereits sein Vater und Bruder als Bürger ansässig gemacht hatten. Trotz einiger Widerstände aus den Zünften war er am 19. November 1599 zum Bürgereid zugelassen worden.
1618 bis 1619 ließ er das vierstöckige Vorderhaus seines Grundstückes abreißen und ersetzte es durch einen prunkvollen Neubau. Sein Vorhaben war von heftigen Widerständen des Rates und missgünstiger Nachbarn begleitet. Die öffentliche Zurschaustellung von Reichtum war in Frankfurt verpönt – auch der Bauherr des ähnlich prächtig geschmückten Salzhauses hatte das zu spüren bekommen. Hamel jedoch war ein streitbarer Mann, der seine Ziele meist durchsetzte, manchmal auch rücksichtslos – entweder durch Einsatz seines Vermögens oder durch die Beschreitung des Klagewegs. Seine Klagefreudigkeit machte ihn allerdings schnell zum Außenseiter unter der Frankfurter Bürgerschaft, die bald meinte, „mit jedermann musste er zanken und rechtfertigen also dass für seine Händel allein einen sonderbaren Schöffenrat zu bestellen nötig wäre.“
Auch der Streit um den Bau der Goldenen Waage wurde in Akten der städtischen Archive sowie der Literatur bis in die Gegenwart überliefert:
Im Februar 1618 bat Hamel erstmals um die Erlaubnis, sein baufälliges Haus völlig niederzulegen und durch einen vierstöckigen Neubau, also ein Erdgeschoss mit drei Obergeschossen ersetzen zu dürfen. Obwohl Hamel versprach, die Vorschriften des Gesetzes streng zu beachten, was unter anderem eine Vermeidung von Überhängen einschloss, so dass „eine Engung der Gassen und sonstiges Uebel und Mißstand im geringsten nit zu befahren sei“, wurde der Bau, der nach Ansicht von Hamel „einen ziemlichen Wohlstand, Zierdt und bestes Aussehen“ erhalten hätte, nicht bewilligt. Die Nachbarn, allesamt alteingesessene Frankfurter Kaufmanns- und Patrizierfamilien, legten Widerspruch ein, da der hohe Bau ihrer Meinung nach der engen Gasse Licht und Luft genommen sowie die Feuergefahr erhöht hätte. Sie gönnten dem Zuwanderer den Bau nicht. In der Niederschrift heißt es, „von Rechts- und Billigkeitswegen dürfe man einen Niederländer, der ohnehin zu lauter Vorteil geboren sei, nicht vor anderen inheimischen alten Bürgerskinden bevorzugen“.
Hamel hielt dagegen, dass ihm „wegen seines Handels an der Gewinnung mehrern Raums sehr hoch und viel gelegen“ sei, da Grundstücke am Markt sehr teuer waren und er deswegen zwecks bestmöglicher Nutzung desselben in die Höhe bauen müsse. Der Markt war damals eine Haupteinkaufsstraße, an Bedeutung mit der heutigen Zeil vergleichbar. Hamel verlor diesen Prozess, und so wurde die Goldene Waage entgegen den ursprünglichen Planungen nur ein dreistöckiges Haus.
Anfang Juli 1618, als das Erdgeschoss und das Fachwerkskelett darüber bereits fertiggestellt waren, richtete sich eine weitere Anzeige eines Nachbarn gegen den Bau. Eine Besichtigung durch die Schöffen ergab, dass das Erdgeschoss um einen Schuh – entsprechend etwa 28,5 cm – gegenüber dem von Hamel vorgelegten Bauplan zu hoch geraten war. Fast hätte der Bau deswegen wieder abgebrochen werden müssen, doch setzte Hamel hier wie so oft sein Vermögen ein. Auch bei einem weiteren Verstoß gegen den Bauplan, die Bauarbeiten derart zu beschleunigen, dass das Haus zur Herbstmesse 1618 fertig würde, zahlte er eine Geldbuße in Höhe von 100 Reichstalern und wurde „dabei gelassen“.
Dennoch wurde das Haus zur Herbstmesse 1618 nicht fertig, da der Schlosser Jacob Reynold, der die Gitter zwischen Rundbögen und Oberlichtern des Erdgeschosses anfertigte, so spät lieferte, dass das Haus fast über ein Jahr nicht bezogen und letztlich erst 1619 fertiggestellt werden konnte. Hamel kostete dies viel Geld, da er in der Zwischenzeit verschiedene Häuser für seine Familie und seine Waren anmieten musste. Als die Gitter dann fertig waren, entbrannte ein weiterer Rechtsstreit, da diese nicht die von Hamel gewünschten, von der Haustür des Ratsherren Johann Martin Hecker übernommenen Muster hatten. Stattdessen hatte Reynold, so Hamels Ansicht, „das Gerembs mit vielen übermäßigen im Geding nicht vorgesehenen Ringen dermaßen überlegt, dass allein an Licht ein merklicher Schaden daraus unfehlbarlich entstehen müsse“, des Weiteren „die Stangen mit solche Dicke beschwert, dass es auch für eine gefängliche Verwahrung mehr als genugsam sei.“ Eine Beurteilung der Lage durch die Handwerksgeschworenen lehnte er von vorneherein ab, da er diese als befangen betrachtete. Ihr Urteil fiel dann auch für den Schlosser aus, und Hamel ließ es erneut zum Streit vor dem Schöffengericht kommen. Diesmal gewann er dadurch, dass er eine von allen anderen am Bau beteiligten Handwerkern unterschriebene Erklärung vorlegte, nach der sie „gutlich und wohl, ohne eynigen Zanck oder Mißverstand befriediget und bezahlet“ worden seien.
Auch wenn Hamel von Beruf Zuckerbäcker war, ging er doch hauptsächlich dem Gewürz- und Farbenhandel nach, was durch eine Stadtratseingabe belegt ist, die ihn 1619 zum „Handelsmann“ erhob. Durch seine weitreichenden Handelsbeziehungen in das ganze Mittelrheingebiet, Teile Norddeutschlands, aber auch in seine ursprüngliche Heimat, erwarb er bald ein Vermögen, das weit über den bei wohlhabenden Frankfurter Kaufleuten sonst üblichen Reichtum hinausging. Bei seinem Tod am 19. Januar 1623 besaß er bereits die gesamte Westzeile der Höllgasse und das am Krautmarkt daran anstoßende Haus Wolkenburg (Hausanschrift: Krautmarkt 7).
Nach der Ära Hamel bis zum Erwerb durch die Stadt
Nun lag es an der Witwe und einem jüngeren Bruders Hamels, die Geschäftsbeziehungen weiterzupflegen, was ihnen jedoch offensichtlich unter den Bedingungen des inzwischen ausgebrochenen Dreißigjährigen Kriegs nur sehr eingeschränkt gelang. 1631 bis 1635 stand die Stadt zeitweise unter schwedischer Besatzung. Damals erreichten die Schrecken des Krieges auch Frankfurt. Allein in den drei Pestjahren 1634 bis 1636 starben fast 14.000 Menschen in der von Flüchtlingen überfüllten Stadt, die in Friedensjahren nur etwa 15.000 Einwohner gehabt hatte. Eine nie erlebte Teuerung ließ weite Teile der Bevölkerung verarmen und löste eine jahrelange Hungersnot aus.
Als die Witwe Hamel am 25. Juli 1635 verstarb, betrugen alleine die Außenstände 60.000 Gulden, der Immobilienbesitz war vergleichsweise hoch verschuldet.
Als Konsequenz verkauften ihre Erben Goldene Waage und Alte Hölle zum Preis von 8.500 Gulden am 5. März 1638 an den Frankfurter Handelsmann Wilhelm Sonnemann. In den folgenden Jahrhunderten wechselten oft die Besitzer. 1655 bis 1699 war es die Familie Barckhausen, 1699 bis 1748 die Großkaufleute Grimmeisen und 1748 bis 1862 die Familie von der Lahr. Im Anschluss folgten noch die Familien Osterrieth und Scheld, bis 1898 dann die Stadt selbst den Gebäudekomplex für 98.000 Mark erwarb.
Die Goldene Waage im 20. Jahrhundert
Ab 1899 erfolgte eine grundlegende Renovierung durch den Baumeister Franz von Hoven. Er ließ den aus dem frühen 19. Jahrhundert stammenden Verputz bzw. die Verschieferung der Fassade entfernen und das Fachwerk freilegen. In den Innenräumen nachträglich eingezogene Zwischenwände und Verschläge wurden zurückgebaut. Nur wenige Jahre später wurde die Ostzeile der sehr engen Höllgasse zugunsten einer Vergrößerung des Domplatzes abgerissen. 1913 stellte die Stadt die durch diese Maßnahmen optisch nun weitaus markantere Goldene Waage dem Historischen Museum zur Verfügung. Dieses richtete das Haus 1928 als Beispiel eines Frankfurter Bürgerhauses des frühen 18. Jahrhunderts ein.
Für diese Entscheidung sprach zum einen, dass die letzten größeren Ausbauten aus jener Zeit stammten. Des Weiteren existierte ein exaktes Inventar des Hauses zum Zeitpunkt des Todes von Hamel. Solche Inventare wurden in Frankfurt beim Tode eines jeden Bürgers mit nennenswerten Vermögen durch städtische Beamte oder den Gerichtsschreiber aufgenommen. Das Inventar aus dem Jahre 1623 ist nicht erhalten, wohl aber das aus dem Jahre 1635, denn als die Witwe Hamel starb, kam es erneut zur Aufnahme. Da bei der Aufnahme des Inventars klassischerweise das Erbe schon verteilt war, gibt somit wohl auch das Inventar von 1635 recht genau den Zustand der Inneneinrichtung wieder, der beim Tode Hamels herrschte. Auf dieser Basis konnte das Museum die Räume originalgetreu wieder bestücken.
Im Zweiten Weltkrieg richteten die ersten Luftangriffe auf Frankfurt am Main bis 1942 nur geringe Schäden an, doch ließ der Bund tätiger Altstadtfreunde vorsichtshalber ab Sommer 1942 den gesamten Baubestand der Altstadt fotografisch und zeichnerisch erfassen. Mit Beginn der Combined Bomber Offensive 1943 wurde auch Frankfurt zum Ziel von Flächenangriffen. Die Goldene Waage blieb zunächst noch unversehrt, obwohl die Angriffe am 4. Oktober 1943, am 29. Januar 1944 und am 18. März 1944 in unmittelbarer Nähe große Schäden verursachten. Der Luftangriff vom Mittwoch, den 22. März 1944 ließ die gesamte Altstadt zwischen Dom und Römer im Feuersturm untergehen und zerstörte auch die Goldenen Waage. Brandbomben entzündeten das prachtvolle Fachwerk und ließen das Haus bis auf die Mauern des Sandstein-Sockels niederbrennen. Besonders tragisch war der Verlust vieler fest mit dem Gebäude verbundener, historisch wie materiell unersetzlicher Kunstschätze, darunter die aufwendig gearbeiteten Decken der verschiedenen Räume sowie der Kachelofen im ersten Stock. Der Großteil der vom Historischen Museum dort untergebrachten Ausstellungsstücke war zuvor jedoch ausgelagert worden und überstand den Krieg unversehrt.
Mit dem geretteten Inventar, den erhaltenen Grundmauern und den Resten des Erdgeschosses wäre ein Wiederaufbau, ähnlich wie beim Salzhaus und vielleicht in vereinfachter Form, durchaus möglich gewesen. Die Stadt entschied jedoch, die Trümmer der zerstörten Häuser zwischen Dom und Römer bis 1950 völlig abzutragen. Die Arkaden der Goldenen Waage wurden an einen Privatmann aus Götzenhain verkauft, der mit ihnen eine Privatbibliothek für seine Villa erbaute.
Beim 1952 begonnenen und bis 1960 im Wesentlichen abgeschlossenen Wiederaufbau der Altstadt entstanden moderne Wohn- und Zweckbauten mit einem völlig neuen Zuschnitt der Grundstücke und Verkehrswege. Das Gebiet zwischen Dom und Römer mitsamt dem Grundstück der Goldenen Waage wurde jedoch ausgespart und blieb bis Anfang der 1970er Jahre eine Brache. Ausgrabungen in den 1950er Jahren förderten zahlreiche Zeugnisse der römischen, merowingischen, karolingischen und spätmittelalterlichen Baugeschichte des Areals zutage. 1972/73 wurde die Fläche teils mit einer Tiefgarage und einem Zugang zur U-Bahn-Station Römer überbaut, die das Geländeniveau um mehr als einen Meter anhoben, teils dem Archäologischen Garten zugeschlagen.
Im September 2000 erwarb das Bistum Limburg das gegenüber der Goldenen Waage gelegene ehemalige Hauptzollamt und ließ es in der Folge zum Haus am Dom umbauen. Durch die Erweiterung nach Süden rückte dessen massiver Baukörper bis auf 4,50 Meter an die ehemalige Goldene Waage heran, während der Markt vor der Zerstörung etwa acht Meter breit gewesen war.
Wiederaufbau
Anfang des 21. Jahrhunderts begann die Stadt mit Planungen zur zukünftigen Gestaltung der Fläche zwischen Dom und Römer. 2005 – mehr als 60 Jahre nach Zerstörung der Altstadt – zeichnete sich in der Bürgerschaft und der Stadtverordnetenversammlung eine Präferenz für die möglichst genaue Wiederherstellung des historischen Grundrisses mit Gassen, Plätzen und Höfen sowie die Rekonstruktion einzelner, städtebaulich bedeutsamer Häuser ab. Oberbürgermeisterin Petra Roth schlug in einem Zeitungsinterview vor, vier historisch bedeutende Gebäude, darunter die Goldene Waage, zu rekonstruieren.
Um die technischen Möglichkeiten einer Rekonstruktion zu bewerten, ließ die Stadt 2006 eine Dokumentation Altstadt erstellen. Die Studie stellte fest, dass keines der Gebäude historisch getreu rekonstruiert werden könnte, nicht einmal die besonders gut dokumentierte Goldene Waage. Eine schöpferische Rekonstruktion, „bei der insbesondere die Straßenfassade und die grundsätzliche Grundrißdisposition nachgebaut und eventuell ergänzt werden könnten“, erschien möglich. Der historische Stadtgrundriss konnte nur teilweise rekonstruiert werden; insbesondere konnte die Goldene Waage wegen des Hauses am Dom nicht mehr am ursprünglichen Standort neu erstehen. Um die Ausgrabungen des Archäologischen Gartens zugänglich zu erhalten, sollte eine Überbauung erfolgen, in die größere Abfangungen einzubringen waren. Weitere Prüfungen waren erforderlich, beispielsweise ob das historische Niveau der Straßen und Erdgeschosse beibehalten werden konnte. Bei jeder Rekonstruktion waren die aktuellen Bauvorschriften zu beachten, besonders im Hinblick auf Brandschutz, Energieeffizienz und die Möglichkeit von gesicherten Rettungswegen. Treppenhäuser waren feuerbeständig abzuschotten und aus nicht brennbaren Materialien auszuführen.
Am 6. September 2007 beschloss die Stadtverordnetenversammlung mit den Stimmen von CDU, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und Freien Wählern gegen die Stimmen von SPD und Die Linke die Neubebauung des Dom-Römer-Areals. Teil des Beschlusses war die Rekonstruktion von mindestens sieben Gebäuden, darunter die Goldene Waage.
Den Auftrag zur Rekonstruktion der Goldenen Waage erhielt das Büro Jourdan & Müller. Im Süden schließt die neue Goldene Waage nun an das Stadthaus an, im Westen an das Haus Weißer Bock (Markt 7), beides zeitgenössische Entwürfe.
Die Hochbauarbeiten begannen 2014. Mit der Rekonstruktion des Fachwerks, für das rund 100 Kubikmeter altes Eichenholz aus historischen Bauten wiederverwendet werden, wurde eine Spezialfirma in Lemgo beauftragt. Beim Bau wurden mehr als ein Dutzend aus dem Trümmerschutt geborgene und erhaltene Spolien wiederverwendet.
Im Dezember 2017 wurde der äußerlich fertiggestellte Neubau, darunter die restaurierte Fachwerkfassade, die Renaissance-Decke im Inneren und das Belvederchen, bei einem Pressetermin vorgestellt. Im September 2018 wurde die Neue Frankfurter Altstadt mit einem zweitägigen Bürgerfest eingeweiht. Der Innenausbau der Goldenen Waage war zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen. Das Café im Erdgeschoss eröffnete im September 2019. In den beiden Obergeschossen soll eine Außenstelle des Historischen Museums eingerichtet werden.
Architektur
Äußeres
Äußerlich war die Goldene Waage auf den ersten Blick ein typisches Renaissance-Gebäude der Frankfurter Altstadt: ein hoher Sockel aus rotem Sandstein zeigte nach außen filigrane, reich verzierte Arkaden – vier auf der zur Höllgasse gewandten Seite, zwei zum Markt hin. Die Arkaden fußten auf weit vorkragenden Kämpfern; die Schlusssteine waren als Löwenköpfe ausgearbeitet. Zwischen den beiden Arkaden der Hausseite zum Markt schob sich die von einem doppelten Sturz geschmückte Haustür ein. Während der obere mit den verlängerten Säulenschäften der Arkaden verspannt war, verlief der untere annähernd gerade und zeigte in seinem Schlussstein das Ehewappen Abrahams van Hamel und seiner Frau Anna van Lith (siehe Bild).
Das Ehewappen bestand aus zwei dicht aneinander gerückten Reiterschilden. Dabei zeigte das heraldisch rechte Schild einen senkrechten Pfeil mit Widerhaken und drei Querstrichen durch den Schaft. Der Pfeil endete zwischen zwei Ovalen, die mit ihren Biegungen und einem Verbindungsstrich ein A(braham) bildeten, in den Ovalen selbst konnte man die Buchstaben V(on) und H(amel) lesen. Der heraldisch linke Schild trug in den unteren zwei Dritteln drei Hermelinschwänze und im oberen Bereich die Buchstaben A(nna) V(an) L(ith). Die Helmzier war ein wachender Widder (Hammel), zweifellos eine Anspielung auf den Namen des Erbauers.
Für Verhältnisse des frühen 17. Jahrhunderts wurde mit dem Bau eine statische Meisterleistung vollbracht: die durchbrochenen Arkaden des Erdgeschosses waren vom Material wie auch von der Ausführung her nicht als tragende Elemente geeignet. Dies war aber völlig beabsichtigt, da der so reichliche Platz im Erdgeschoss zum Auslegen der Waren dienen konnte. Dadurch war die Goldene Waage im Prinzip ein Haus auf Säulen, von denen man äußerlich nur die verstärkte Nordost-Ecke wahrnahm. Die übrigen sieben der Statik dienenden Säulen des Erdgeschosses verliefen zwischen den Arkaden, waren in diese aber derart perfekt eingearbeitet, sodass man ihnen eher dekorative Bedeutung zumaß. Die unterhalb der Kämpfer der Säulenschäfte befindlichen Kragsteine waren vom Steinmetz liebevoll gestaltet worden: im massivsten an der Nordwestecke konnte man einen hockenden Mann zwischen Blumengehängen erkennen (s. Bild), die übrigen sieben stellten immer abwechselnd ein Mannes- und ein Frauenhaupt (siehe Bild) dar. Nur der an der äußersten (in der Draufsicht westlichsten) Hausseite am Markt befindliche Stein war für sich besonders, als er den Kopf eines Widders oder Hammels darstellte – ob hierin eine Anspielung auf den Namen Hamel gesehen werden konnte, wurde ebenso wie der Name des Steinmetzes nie geklärt.
Wohlbekannt dagegen ist der Name des beim Bau tätigen Maurermeisters, Wolf Burckhardt, sowie des für das schmiedeeiserne Gitter zwischen Rundbögen und Oberlichtern verantwortlichen Schlossers Jacob Reynold.
Über seinen Kontorräumen befand sich im Sockel noch ein niedriges Zwischengeschoss, die Bobbelage. Das Zwischengeschoss diente als Lagerraum für das darunter befindliche Verkaufskontor. Es wurde durch die Oberlichter der Arkadenfenster erhellt.
Über dem Erdgeschoss erhoben sich zwei auskragende Fachwerkgeschosse mit der Giebelseite zum Markt, darüber noch zwei Giebelgeschosse. Dabei kragte das zweite Geschoss gegenüber dem ersten nur auf der Hausseite zum Markt hin nochmals aus. Die sehr feine, ein Muster aus Andreaskreuzen bildende Gestaltung des Fachwerks war auf der zum Dom hin gewandten Ostseite ungefähr mit dem kurz zuvor am Römerberg entstandenen Schwarzen Stern vergleichbar. Im Gegensatz zur Goldenen Waage wurde dieser nach seiner Kriegszerstörung Anfang der Achtzigerjahre wiederaufgebaut. Auf allen Seiten verfügten die Fachwerkobergeschosse zudem über fast durchgehende Reihen schmal gehaltener Fenster. Im ersten Stock waren es auf der Ostseite dieser elf, im Norden sechs, im zweiten Stock im Osten zwölf und im Norden vier. Die Verglasung stammte aus der Zeit um 1750.
Der auch für den Fachwerkteil statisch wichtige Eckpfeiler war durchgängig mit prächtigen Schnitzereien (siehe Bild) verziert: von unten nach oben konnte man Erzvater Abraham mit einem Hammel zur Seite sowie eine goldene Waage erblicken. Am Fuße des Balkens streckte sich zudem ein in Metall getriebener Arm, der eine goldene Waagschale hielt, aus dem Gebäude. Hiervon dürfte wohl der Name des Hauses abgeleitet sein. Der Arm befand sich bis 1899 oberhalb der Eingangstür und entstammte noch einer Zeit, als Häuser mangels Hausnummern derart klare bildliche Identifikationsmerkmale benötigten. Der nach der Renovierung angebrachte Arm mit Waagschale war eine detailgetreue Replik, das knapp 400 Jahre Wind und Wetter ausgesetzte Original fand einen Platz im Stadtgeschichtlichen Museum im Inneren des Hauses.
Der zum Markt gewandte, nordwestliche Eckpfeiler der Obergeschosse war ebenso aufwändig geschnitzt wie sein zum Domplatz gewandtes Pendant; dies ging jedoch im Schatten der Überhänge des Nachbarhauses Weisser Bock (Hausanschrift: Markt 7) größtenteils unter.
Schließlich befand sich auf dem für Häuser dieses Typs klassisch steil zulaufenden, mit Schiefer gedeckten Satteldach ein Zwerchhaus. Die Giebelseite zum Markt war in den typischen, etwa auch beim Salzhaus verwandten Renaissanceformen geschwungen.
Die Namen der für den Bau verantwortlich zeichnenden Zimmermeister sind überliefert: Friedrich Stammeler und Barthel Hilprecht, die, auch wenn dies nie völlig geklärt werden konnte, möglicherweise auch die Baupläne vorbereiteten. Der Dachdecker hieß Niclaus Gebhard.
Inneres
Erdgeschoss und Keller
Zwei Eingänge führten ins Innere des Gebäudes: der eine war eine in der von der Höllgasse aus gesehen ganz linken bzw. südlichsten Arkade eingearbeitete Tür; die zweite Tür befand sich am Markt mittig in der Nordseite des Gebäudes. Wer durch erstere Tür das Gebäude betrat, gelangte in einen kleinen rechtwinkligen Hof, der im hinteren Teil zum Himmel offen war. Direkt hinter der Eingangstür befand sich eine Falltür zum Keller. Des Weiteren erblickte man an der geradeaus in Blickrichtung liegenden Westwand eine Pumpe, die jedoch schon zu den Zeiten, als das Haus in Stadtbesitz überging, nicht mehr funktionierte. Zur Wasserversorgung befand sich zudem ein Brunnen im Keller des Hauses. Aus dem Hof führten zwei weitere Türen: an der Nordwand eine schwere Holztür, an der Westwand eine noch mächtigere genietete schmiedeeiserne Tür mit Türklopfer, die wohl noch aus den Zeiten Hamels stammte und direkt in die Vorhalle des Hinterhauses Alte Hölle führte (s. Bild).
Ein vergittertes Fenster oberhalb der in die Vorhalle führenden Tür ließ nur wenig natürliches Licht in die Vorhalle fallen. An der Südwand konnte man noch Umrisse einer zugemauerten Tür in das Nachbarhaus Stadt Miltenberg (Hausanschrift: Höllgasse 11) erkennen, das einst wie die gesamte Westzeile der Höllgasse in Hamels Besitz gewesen ist. Ein weiterer rundbogiger Durchgang führte von hier in den Lagerraum der Alten Hölle.
Die Decke des Raumes war mit Malereien verziert, die noch aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stammten. Insgesamt war dieser Gebäudeteil älter als die Goldene Waage: ein zugemauerter Türbogen führte im Schlussstein noch die Jahreszahl 1577, während die Goldene Waage erst 1619 fertiggestellt wurde. Über eine eiserne Tür war der Raum auch mit den Hinterhöfen des Markt verbunden. Hamel lagerte in ihm noch seine Waren, spätere Besitzer benutzten ihn unter anderem als Pferdestall, wie nachträglich eingebaute Krippen belegten. Das Museum schließlich stellte hier verschiedene altertümliche Fahrzeuge aus. Der Raum war ein sogenannter Kellerhals, als von ihm einst eine Treppe in den Keller der Alten Hölle führte. Als dieser mit der Goldenen Waage zusammengelegt wurde und man einen Teil der Kellerräume an die am Markt westlich davon gelegene Grüne Linde abtrat, wurde diese Treppe obsolet.
Die über die Jahrhunderte oft vermauerten Türen, verschobenen Keller und ungeklärten Besitzerverhältnisse hatten zu reichlich Sagenbildung geführt: im Volksmund hieß es oft, es spuke in der Goldenen Waage.
Die Vorhalle diente der Alten Hölle ursprünglich als Treppenhaus, was den sehr alten Charakter des Baus offenbarte: die Vorhalle war einst zum Hof offen, und vor den oberen Räumen lagen laubenartige Vorplätze mit hölzernen Brüstungen. Diese Bauweise war bei Fachwerkhäusern in der Frankfurter Altstadt selbst im frühen 20. Jahrhundert noch oft zu finden. Hamel ließ im Rahmen des Baus der Goldenen Waage jedoch Decken in die Vorhalle einziehen und schaffte so oberhalb der Vorhalle weitere Zimmer. Da diese, wie im Querschnitt des Hauses ersichtlich, eine weit geringere Raumhöhe als die ursprünglichen Räume der Alten Hölle hatten, und auch diese nicht in derselben Höhe wie die Räume der Goldenen Waage lagen, zog man zwischen beiden Gebäuden einen Turm mit Wendeltreppe ein. Im Erdgeschoss war das Treppenhaus über die Holztür in der Nordwand des sich zur Höllgasse öffnenden Hofs zugänglich.
Über das Treppenhaus gelangte man zunächst in den auf gleicher Höhe gelegenen Laden der Goldenen Waage. Das Stadtgeschichtliche Museum nutzte ihn neben touristischen Verkaufszwecken gelegentlich zu Sonderausstellungen. Er war auch über eine sich zum Markt öffnende Tür an der Nordwand des Hauses zugänglich. Auch Hamel hatte der Raum als Laden für sein Geschäft gedient. An der Südseite gelangte man über eine prächtig gearbeitete Treppe zum Bobbelage genannten, niedrigen Zwischengeschoss (siehe Bild). Dessen Brüstung war im gleichen Stil wie das Treppengeländer gestaltet und wurde von einer massiven, sich über die gesamte Raumhöhe erstreckende Säule aus rotem Sandstein mit ionischem Kapitell unterbrochen. Die sich nur wenig darüber erstreckende Decke war als schön gestaltete, bemalte Kassettendecke ausgeführt. Sie zeigte in zwei von Stuckleisten eingerahmten Feldern jeweils ein Medaillon, das östliche mit einer weiblichen Figur, einer Waage und einem Schwert, das westliche eine weitere weibliche Figur, ein Schlangenpaar in den Händen haltend.
An der Westwand schloss diese wieder an das Treppenhaus an. Von hier gelangte man mit nur wenigen Schritten in den Ersten Stock. Auf dem Weg dorthin kam man im Westen am Eingang zum ersten Zwischengeschoss über der Vorhalle der Alten Hölle vorbei. Dieses diente laut Inventar von 1635 einst als Küche und nun mit dem dahinterliegenden Raum dem Museum als Bibliothek.
Erster Stock
Hier trat man zunächst in einen in West-Ost-Richtung verlaufenden Flur. Durch eine vom Betrachter aus links bzw. nördlich gelegene Tür gelangte man in den, die gesamte nördliche Hälfte dieses Stockwerks ausfüllenden, Großen Saal (siehe Bild). Diese war, von dem durch sechs in der zum Markt gelegenen Nordwand befindlichen Fenster hereinflutenden Licht, immer hell erleuchtet. Neben zahllosen Kostbarkeiten bürgerlicher Haushalte, die das Stadtgeschichtliche Museum hier zur Darstellung gehobener bürgerlicher Verhältnisse der Zeit um 1700 aus verschiedenen Sammlungen zusammengetragen hatte, besaß der Raum aber vor allem zwei außerordentliche Kostbarkeiten, die noch aus der Zeit Hamels und auch von ihm selbst stammten:
Zum einen war die gesamte Decke von mehrfarbigem Stuck überzogen; die gesamte stuckierte Fläche bemaß 7,20 auf 5,40 Meter. In der Mitte dieses Rechtecks befanden sich zwei dominierende Achtecke, die mit dem Besuch der Engel bei Abraham und der Opferung Isaaks Themen aus dem Alten Testament zeigten. In den vier Ecken des vorgenannten Rechtecks konnte man jeweils in Ellipsen Darstellungen zur Geschichte Tobiae erblicken. Der zwischen diesen geometrischen Figuren freie Raum war reich mit Roll- und Bandelwerk, Früchten, Putten, Vögeln und Musikinstrumenten geschmückt. Die Decke war in ihrer gesamten Anlage eine handwerkliche Meisterleistung, da der Stuckateur hier trotz der Geräumigkeit des Raumes unter vergleichsweise beengten Verhältnissen arbeiten musste und somit auch keine Möglichkeit zur Kontrolle seines Werkes aus größerem Betrachtungsabstand hatte.
Die andere Kostbarkeit war ein grünglasierter Kachelofen in der Südwestecke des Raumes, der nach einer die Kachel eingearbeiteten Zahl noch aus dem Jahre 1621 stammte. Auch er zeigte in seinen Kacheln biblische Szenen, wie die Auffindung des Moseskindes, Susanna im Bade und zweimal, wohl nach derselben Hohlform gebrannt, Samson mit den Torflügeln der Stadt Gaza.
Wieder im Flur gelangte man in der Südseite durch zwei Türen in den Hinteren Saal, der zu Hamels Zeiten wohl seinen Töchtern als Schlafgemach diente, aber um 1700 durch Einziehen einer Trennwand in zwei Räume geteilt worden war.
Die Wendeltreppe des Treppenhauses führte zum zweiten Stock, wieder vorbei an einem westlich zugänglichen Zwischengeschoss über der einstigen Vorhalle der Alten Hölle, das einst als Zuckerkammer verwendet wurde und zuletzt als Labor für die Fotoentwicklung des Museums eingerichtet war.
Zweiter Stock
Der zweite Stock war in seinem Aufbau im Grunde mit dem darunterliegenden Stockwerk identisch; allerdings waren die Räume nördlich und südlich des Flures schon seit den Zeiten Hamels durch Zwischenwände getrennt, sodass hier vier Türen in vier Räume führten.
Offensichtlich in der Zeit, als das Haus im Besitz der Familie Barckhausen war, also Ende des 17. Jahrhunderts, war hier zusätzliche Ausstattung hinzugekommen. Dabei war im nordöstlichen Zimmer eine, wenn auch vergleichsweise einfach gehaltene, Stuckdecke aufgebracht worden. Sie hatte eine Feldereinteilung und zeigte in der Mitte einen Jungen fütternden Pelikan – ein Hinweis auf eine Nutzung des Raums als Kinderzimmer. Zugleich war der Pelikan auch die Helmzier des Wappens der Familie Barckhausen. Zusätzlich hatte man eine große Flügeltür (siehe Bild) zum nordwestlichen Raum eingebaut, die von detailliert gearbeiteten, korinthischen Pfeilern flankiert wurde.
Die übrigen Räume des Stockwerks waren in ihrer Ausstattung weit schlichter gehalten als die vorigen Geschosse und zeigten kaum aus den früheren Zeiten des Hauses stammenden räumlichen Schmuck. Sie dienten im Laufe der Jahrhunderte den verschiedenen Besitzern als Schlafgemach oder Arbeitsraum. Das Museum hatte sie unter Verwendung großer Mengen von Originalausstattung unter Annahme ihrer ehemaligen Nutzung als Schreibstube, Musikzimmer, Küche und Gemach eines männlichen Bewohners eingerichtet.
Zurück im Treppenhaus konnte man auf dem Weg zum Dach auf der westlichen Seite das dritte Zwischengeschoss über der Vorhalle der Alten Hölle erblicken. Jedoch war hier im Gegensatz zu den vorausgegangenen Zwischengeschossen die Westwand durchbrochen und führte über eine Treppe in das etwas tiefer gelegene zweite Geschoss über dem Lagerraum der Alten Hölle. In diesem Bereich des Hauses, im Inventar von 1635 als Werkstatt bezeichnet, hatte Hamel einst Kessel, Pfannen und Öfen für sein ursprüngliches Gewerbe aufgebaut. Über eine Treppenanlage gelangte man von hier in den Dachboden der Alten Hölle. Dieser wurde im Inventar auch als Kammern höher droben benannt. Neben Hinweisen aus dem Inventar, dass hier eine spärliche Schlafstätte für Lehrlinge Hamels aufgebaut war, wurden dort vor allem die Zutaten für die darunter liegende Werkstatt gelagert. Die Räume dienten nun ebenso wie die beiden Dachobergeschosse der Goldenen Waage größtenteils der Museumsverwaltung. Im ausgebauten Dachboden der Alten Hölle befand sich die Wohnung des Hausverwalters.
Der Treppe weiter folgend wandelten sich die steinernen Stufen nun zu hölzernen, und in den Wänden offenbarte sich der Fachwerkcharakter des Treppenturms. Auf der Südseite konnte man noch eine hölzerne Luke mit Aufzugskonstruktion erkennen, die die Beförderung von im Hof angelieferten Warenvorräten zum Dachboden ermöglichte.
Das Belvederchen
Gekrönt wurde das Gebäude wortwörtlich vom spitz auslaufenden, geschieferten Ende des Treppenturms, der westlich auslaufend zu einem offenen Dachgarten, dem sogenannten „Belvederchen“ (siehe Bilder) führte.
Solche Dachgärten waren in der Altstadt recht beliebt, da sie neben der schönen Aussicht vor allem frische Luft boten, die in den verschmutzten Gassen der Altstadt eine Seltenheit war. Unter dem katholischen Fürstprimas Carl Theodor von Dalberg, der unter anderem auch die Überhänge bei Neubauten untersagte, kamen sie jedoch allmählich in Verfall. So konnte man ähnliche Dachausbauten im frühen 20. Jahrhundert nur noch auf dem Haus zum Schildknecht am Hühnermarkt 18, dem Haus zum Holderbaum und Hirschberg in der Saalgasse 30 sowie dem auch als Gewürzhaus bekannten Haus zum weißen Hahn am Krautmarkt 5 finden. Das Belvederchen der Goldenen Waage war zweifellos der größte und prächtigste unter ihnen.
Das Belvederchen lag auf der im rechten Winkel zur Goldenen Waage errichteten, hinter den Nachbarhäusern am Markt verlaufenden Alten Hölle und bestand aus einem bleigedeckten Dachgarten mit den Abmessungen 6,40 auf 4,80 Meter. An der Südseite stand ein Zierbrunnen mit einer überdachten muschelförmigen Marmorschale zwischen zwei gewundenen korinthischen Säulen, wobei die Überdachung selbst innen noch mit bunten Steinen verziert war. Der Brunnen wurde aus einer Zisterne auf dem Dach gespeist. Einige Stufen oberhalb des Dachgartens lag eine hölzerne Laube mit einer Grundfläche von 8,20 auf 2,70 Meter. Anstelle der Fenster besaß die Laube Holzgitter, die als Windschutz dienten und wie Fenster geöffnet werden konnten. Selbst im Hochsommer blieb es so in der Laube angenehm kühl. Der Ausblick vom Belvederchen zum Domturm über die Dächer der mittelalterlichen Altstadt und auf den Domturm wurde häufig gemalt oder fotografiert, u. a. von Carl Theodor Reiffenstein.
Da eine Beschreibung dieser Aussicht heute nicht mehr erfolgen kann, sei hier eine Beschreibung aus dem in den 1930er Jahren erschienenen Führer durch die Goldene Waage wörtlich zitiert:
Literatur
Johann Georg Battonn: Oertliche Beschreibung der Stadt Frankfurt am Main – Band III. Verein für Geschichte und Alterthumskunde zu Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1864, S. 197f. und S. 257–259. ()
Otto Rupersberg: Der Erbauer der Goldenen Wage, Abraham von Hammel, und seine Hinterlassenschaft. In: Schriften des Historischen Museums IV. Direktion des Historischen Museums der Stadt Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1928, S. 62–84.
Heinrich Bingemer, Franz Lerner: Führer durch die Goldene Wage. Presse- und Werbestelle der Stadt Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1935 (Schriftenreihe Frankfurter Sehenswürdigkeiten 3).
Heinrich Voelcker: Die Altstadt in Frankfurt am Main innerhalb der Hohenstaufenmauer. Moritz Diesterweg, Frankfurt am Main 1937, S. 52–72.
Hans Lohne: Frankfurt um 1850. Nach Aquarellen und Beschreibungen von Carl Theodor Reiffenstein und dem Malerischen Plan von Friedrich Wilhelm Delkeskamp. Frankfurt am Main, Verlag Waldemar Kramer, 1967.
Georg Hartmann, Fried Lübbecke (Hrsg.): Alt-Frankfurt. Ein Vermächtnis. Der goldene Brunnen, Frankfurt M 1950, Sauer und Auvermann, Glashütten 1971.
Manfred Gerner: Fachwerk in Frankfurt am Main. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt 1979, S. 32–34. ISBN 3-7829-0217-3
Hartwig Beseler, Niels Gutschow: Kriegsschicksale Deutscher Architektur – Verluste, Schäden, Wiederaufbau. Bd. 2. Süd. Karl Wachholtz, Neumünster 1988, S. 827; Panorama, Wiesbaden 2000. ISBN 3-926642-22-X.
Weblinks
Markt 5 Goldene Waage auf der Webseite des Dom-Römer-Projektes
Photo der erhaltenen Original-Arkaden in Götzenhain
Einzelnachweise
Renaissancebauwerk in Frankfurt am Main
Fachwerkhaus in Frankfurt am Main
Abgegangenes Bauwerk in Frankfurt am Main
Rekonstruiertes Bauwerk in Frankfurt am Main
Bauwerk in Frankfurt-Altstadt
Erbaut im 17. Jahrhundert |
1297864 | https://de.wikipedia.org/wiki/Animal%20Forensics | Animal Forensics | Unter animal forensics wird ein Zusammenschluss interdisziplinärer Methoden aus Kriminalbiologie, gerichtlicher Veterinärmedizin, Spurenkunde und Forensik verstanden. Obwohl dieser Fachbegriff auf internationaler Ebene bereits seit über einem Jahrzehnt existiert, steht bisher noch keine adäquate deutsche Bezeichnung zur Verfügung.
Im engeren Sinn wird unter animal forensics die Untersuchung tierischen Spurenmaterials verstanden, das im Zusammenhang mit einem Verbrechen als Nachweis einer Verbindung zwischen Täter und Opfer dienen kann. Im weiteren Sinn bezeichnet animal forensics auch die Untersuchung von tierischem Spurenmaterial bei Delikten, in die Tiere direkt als „Tatbeteiligte“ involviert sind.
Abzugrenzen sind jene Bereiche der Kriminalbiologie, die sich mit der Analyse tierischen Spurenmaterials bei Kriminalfällen beschäftigen, in denen Tiere weder „Täter“ oder Opfer sind, noch als direktes Bindeglied zwischen den Tatbeteiligten fungieren (etwa die Untersuchung von Leichenfraßspuren, forensische Entomologie und andere).
Untersuchbare Materialien umfassen Blut, Haare und Federn, Speichel, Kot, Urin, Haut- und Schleimhautproben sowie andere Gewebetypen. Die wichtigste Methode der animal forensics ist die DNA-Analyse („DNA forensics“).
Geschichtliche Entwicklungen
Die Mitberücksichtigung und Auswertung tierischen Spurenmaterials hat in den letzten Jahren bei forensischen Untersuchungen erheblich an Bedeutung gewonnen. Die Entwicklung erfolgversprechender molekulargenetischer Methoden auf dem Gebiet der animal forensics wurde dabei maßgeblich durch bahnbrechende Fortschritte in der Humangenetik beeinflusst. Hierzu gehörte vor allem die Entwicklung der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) im Jahr 1983 durch Kary Mullis.
1984 entwickelte Alec Jeffreys den „genetischen Fingerabdruck“, bei dem einzigartige Merkmale des Erbguts verwendet werden, um einzelne Individuen eindeutig zu identifizieren. Ein Jahr später wurde der genetische Fingerabdruck erstmals vor Gericht zur Klärung eines Kriminalfalls eingesetzt. Im Jahr 1988 wurde er auch von deutschen Gerichten als Beweis anerkannt. Bereits 1987 wurde diese molekulargenetische Technik für die Anwendung bei Tieren adaptiert und zur Klärung umstrittener Abstammungen in der Hundezucht verwendet. Weitere Fortschritte, wie der Einsatz spezifischer DNA-Sonden, führten letztendlich zur Entwicklung der Mikrosatelliten-Analyse.
Der Nutzen forensischer DNA-Untersuchungen ist abhängig von der generellen Bereitschaft der Justiz, Indizien auf DNA-Basis als Beweismittel anzuerkennen. In einem aufsehenerregenden Kriminalfall wurde 1995 erstmals ein Mörder anhand der molekulargenetischen Analyse von Katzenhaaren identifiziert (siehe unten: Der Fall „Snowball“). Die Analyse mitochondrialer Hunde-DNA wurde 1999 im Falle eines versuchten Raubmords in Texas zum ersten Mal bei einer Anhörung zur Beweisaufnahme als Beweismittel zugelassen.
Heute ist die Verwendung von DNA-Analysen in der Forensik aus der polizeilichen Ermittlungsarbeit und den Gerichtssälen nicht mehr wegzudenken. Oft liefert sie den entscheidenden Nachweis einer Verbindung zwischen Täter und Opfer. Mithilfe moderner molekulargenetischer Methoden können mittlerweile auch viele ungeklärte alte Fälle dank asservierter Beweisstücke neu aufgerollt werden. Eine fortschreitende Standardisierung und Automatisierung der Labor- und Auswertungsmethodik bei der Analyse tierischen Materials führt – ähnlich wie in der Humanforensik – zum Aufbau umfangreicher nationaler und internationaler Referenzdatenbanken, die einerseits einen schnellen Abgleich mit bereits untersuchtem genetischen Material ermöglichen und andererseits als Grundlage für statistische Wahrscheinlichkeitsberechnungen dienen können.
Untersuchungsmethoden
Die Aufklärung von Straftaten geht Hand in Hand mit der molekularen Individualisierung der Tatbeteiligten und einer Möglichkeit der individuellen Zuordnung von Spuren. Die primären Ziele, die die animal forensics verfolgen, sind die sichere Bestimmung und Unterscheidung der Art, gegebenenfalls die Klärung der Todesursache und vor allem der Nachweis einer Dreiecksbeziehung („trianguläre Verbindung“) von Täter, Opfer und Tatort.
Obwohl der Einsatz bewährter Methoden wie Histologie, Mikroskopie sowie vergleichender Morphologie und traditioneller forensischer Disziplinen wie der Pathologie, Traumatologie, Odontologie, Ballistik und Spurenkunde weiterhin unverzichtbar bleibt, gewinnen bei der Aufklärung solcher Delikte DNA-gestützte Methoden zunehmend an Bedeutung.
Prinzipielle diagnostische Möglichkeiten anhand forensischer Analysen sind die Speziesbestimmung, die Rassebestimmung, Identitätsnachweise und Abstammungskontrollen.
Für molekularbiologische Nachweise kommen dabei verschiedene methodische Ansätze in Betracht: Je nach Fragestellung, Art, Qualität und Quantität der Probe können sowohl das Kerngenom (‚nukleäre‘ Kern-DNA, nDNA) als auch das mitochondriale Genom (Mitogenom, mtDNA) in die Untersuchung miteinbezogen werden.
RFLP-Analyse
Diese Technik auf der Grundlage des Restriktionsfragmentlängenpolymorphismus (RFLP) beruht auf der enzymatischen Spaltung der DNA durch Restriktionsendonukleasen. Die einzelnen Fragmente werden mittels Gelelektrophorese aufgetrennt und entsprechend ihrer Fragmentlänge auf dem Gel angeordnet. Die entstehenden Linien („Banden“) werden z. B. durch Hybridisierungstechniken (Southern blotting) sichtbar gemacht. Prinzipiell kann der RFLP sowohl für die Analyse der DNA des Zellkerns als auch für die DNA der Mitochondrien genutzt werden. In den animal forensics wird diese Methode zur Speziesbestimmung bei Haus- und Wildtieren verwendet.
Die Nutzung des RFLP ist eine der ursprünglichsten Methoden für die forensische DNA-Analyse. Die Entwicklung moderner, effizienterer Analysemethoden ließ diese Technik jedoch in den Hintergrund treten. Ihr Nachteil besteht in der benötigten hohen Ausgangsmenge an verwertbarer DNA. Durch Umwelteinflüsse negativ veränderte Proben (Schmutz, Schimmel), wie sie im Zusammenhang mit Straftaten oftmals vorliegen, sind für diese Form der Analyse nicht geeignet.
Mikrosatelliten-Analyse (Genotypisierung)
Mikrosatelliten oder STRs (short tandem repeats) stellen kurze, sich wiederholende Abschnitte der DNA dar. Das Grundmotiv (repeat) ist aus 1–5 DNA-Bausteinen (Nucleotiden) zusammengesetzt und wird im Durchschnitt 10- bis 50-fach wiederholt. Da die STRs im Allgemeinen keine Erbinformation tragen, hochvariabel sind (hoher Polymorphismusgrad), eine dichte Verteilung im Genom aufweisen und durch beide Elternteile (biparental) vererbt werden, sind sie als unabhängige Marker für Anwendungen in vielen molekulargenetischen Bereichen prädestiniert.
Die hohe Variabilität der STR-Regionen wird genutzt, um das individuelle genetische Profil eines Organismus zu erstellen. Diesen Vorgang bezeichnet man auch als „Genotypisierung“. Die ersten Mikrosatelliten-Marker für Hunde und Katzen wurden Mitte der neunziger Jahre entwickelt. Mittlerweile existieren spezifische Marker für alle Haustiere und zahlreiche Wildtierspezies. Ursprünglich in der Abstammungskontrolle eingesetzt, sind sie zum nützlichen Hilfsmittel für Identitätsnachweise in der Gerichtsmedizin geworden. In den animal forensics dienen sie nicht nur der molekularen Individualisierung, sondern können auch für die Speziesbestimmung sowie zur Identifizierung von Ursprungspopulationen (Rasse, Fischschwarm) verwendet werden.
Die STR-Analyse setzt das Vorhandensein von Kern-DNA voraus, wobei winzige Mengen biologischen Spurenmaterials für eine erfolgreiche Vermehrung der DNA-Abschnitte (Amplifikation) ausreichen. Für Proben mit zersetzter oder fehlender Kern-DNA (altes, autolytisches Gewebe, Haare mit beschädigter oder ohne Haarwurzel) ist diese Methode nicht geeignet.
Haplotypisierung
Die mtDNA wird nicht aus dem Zellkern, sondern aus den Mitochondrien gewonnen. Die Analyse mitochondrialer DNA kann in Bereichen angewendet werden, wo RFLP und Genotypisierung versagen. An Tatorten sichergestellte Haare sind meist ausgefallen und besitzen keine intakte Wurzel mehr. Stehen nur wenige Haare, mit möglicherweise beschädigter Wurzel zur Verfügung, kann der Haarschaft genutzt werden, um mitochondriale DNA zu isolieren, da die mtDNA – im Gegensatz zur DNA des Zellkerns – in tausendfacher Kopienzahl pro Körperzelle vorliegt.
Für die forensische Identifikation wird ein Bereich der mtDNA untersucht, den man als „D-Loop“ („displacement loop“), „Kontrollregion“ oder „hypervariable Region“ bezeichnet. Die Analyse beinhaltet die Vervielfältigung des Materials mit der Polymerase-Kettenreaktion (PCR-Amplifikation) und die Bestimmung der DNA-Sequenz (Sequenz-Analyse) des amplifizierten Bereiches. Die unterschiedlichen Sequenzvarianten werden als „Haplotypen“ bezeichnet.
Da die mtDNA eines Organismus ausschließlich von der Mutter stammt, teilen sich alle Tiere einer mütterlichen Linie denselben Haplotypen. Dies führt einerseits dazu, dass Referenzproben von Tieren gestellt werden können, die über die mütterliche Linie verwandt sind, bedeutet aber gleichzeitig, dass die Nachkommen einer Linie (z. B. Wurfgeschwister) mit dieser Methode nicht voneinander getrennt werden können. Auch nicht miteinander verwandte Tiere können den gleichen Haplotypen aufweisen. Daher kann die Haplotypisierung oft nur zum Ausschluss verdächtiger Tiere eingesetzt werden.
Für die Aufklärung von Fällen, die seit Jahren als ungelöst gelten, erweist sich die mtDNA als wertvolles Hilfsmittel. Außer zur Individuen-Identifizierung dient die Sequenzierung der d-loop auch zur Speziesbestimmung.
Cytochrom b und rRNA
Die Genabschnitte für das Cytochrom b und die rRNA liegen ebenfalls im mitochondrialen Genom. Im Gegensatz zur bereits erwähnten Kontrollregion handelt es sich hier um informationstragende Abschnitte des Erbguts („codierende Elemente“), die als nahezu unveränderlich („konserviert“) gelten. Hier werden Variationen in der Abfolge der Erbinformationen (Sequenzvariationen) nur zwischen einzelnen Spezies beobachtet.
Beide Bereiche, sowohl Cytochrom b als auch rRNA, wurden häufig in phylogenetischen Studien, d. h. in Untersuchungen zur Stammesentwicklung von Tierarten, eingesetzt und ermöglichen eine sichere Artbestimmung. Die Analyse besteht aus einer Vermehrung ausgewählter DNA-Abschnitte (PCR-Amplifikation) kombiniert mit der oben erläuterten RFLP-Technik bzw. einer direkten DNA-Sequenzierung. Für beide Methoden sind umfangreiche Referenzdatenbanken nötig. Diese können privat oder international zugänglich sein. Ein Beispiel ist das Basic Local Alignment Search Tool (BLAST) im National Center for Biotechnology Information (NCBI).
Methoden zur Geschlechtsbestimmung (sex determination)
Anhand anhaftender Gewebeteile bei herausgerissenen Haaren ist eine Bestimmung des Geschlechts – über die Färbung des geschlechtsspezifischen Chromatins in den Follikelzellen – prinzipiell möglich; sie wird jedoch in der Routine nicht eingesetzt.
Gängige Verfahren zur Geschlechtsbestimmung beruhen auf dem Nachweis von Erbinformationsabfolgen (Sequenzen) oder Markern, die nur auf jeweils einem der beiden Geschlechtschromosomen (u. a. SRy-Gen auf dem Y-Chromosom, x-chromosomale Mikrosatelliten) vorhanden sind. Ebenfalls möglich ist der Nachweis von Genen, die auf beiden Geschlechtschromosomen lokalisiert sind und unterschiedliche Ausprägungsformen, wie z. B. Fragmentlängen besitzen (Amelogenin-Gen bei Wiederkäuern). Die Bestimmung des Geschlechts aus Fleisch, Blut oder Haarproben findet in der Forensik Anwendung im Natur- und Artenschutz sowie auf dem Lebensmittelsektor. Sie dient dem Nachweis von Wilderei und Betrugsdelikten.
Verwendetes Spurenmaterial
Haare
Vergleichende Morphologie, Mikroskopie und Histologie stellen klassische Methoden im Bereich forensischer Haaranalysen dar. Typ, Anzahl und Erhaltungszustand der sichergestellten Haare beeinflussen ihren Wert als Spurenmaterial.
Jede Säugerspezies besitzt Haare mit charakteristischer Länge, Farbe und Wurzelstruktur sowie spezifischen morphologischen Merkmalen. Ein Haar besteht aus der Haarwurzel und dem Haarschaft, der prinzipiell aus Mark, Rinde und Kutikula aufgebaut ist.
Beim Tier kommen Leit-, Stamm-, Deck-, Fell- und Grannenhaare, Flaum- und Wollhaare, Borsten, Langhaare (Schwanz, Mähne), Wimpern und Tasthaare vor. Die Haare verschiedener Körperregionen desselben Individuums können dabei beträchtliche Variabilität aufweisen.
Die Struktur von Mark und Kutikula der Haare ist streng tierartspezifisch. Sie erlaubt daher auch eine sichere Unterscheidung zwischen Mensch und Tier. Als Kriterien zur genauen Speziesbestimmung dienen die Struktur der Markzellen, die Dicke des Marks und seine Kontinuität („Markstrahl“), die Anzahl der Markzellschichten sowie das Dickenverhältnis von Haarmark zu Haarrinde. Außerdem können Gehalt und Verteilung von Pigmenten sowie das Oberflächenprofil der Kutikulazellen analysiert werden.
Aufgrund der Wurzelrückbildung findet natürlicher Haarverlust überwiegend in einer Phase statt, in der das Haarwachstum ruht („telogene Phase“). Da lose Haare leicht auf andere Individuen oder Gegenstände transferiert werden können, bilden sie die Hauptquelle forensischer Haarspuren. Haarverlust kann aber auch in aktiven Wachstumsstadien stattfinden, z. B. durch Hängenbleiben an einem Gegenstand. Eine mikroskopische Analyse der Haarwurzel erlaubt folglich nicht nur die Bestimmung der Wachstumsphase, sondern auch eine Unterscheidung zwischen „ausgerissen“ und „ausgefallen“.
Die konkrete Analyse eines tierischen Haares umfasst zuerst die Zuordnung der Spezies aufgrund seiner artspezifischen Morphologie. Anschließend erlaubt das Verfahren der „Vergleichsmikroskopie“ – die Verwendung zweier Lichtmikroskope, die über eine optische Brücke verbunden sind – eine simultane Beurteilung des fraglichen Haars mit einer Haarprobe bekannten Ursprungs. Letztere entstammt für gewöhnlich einer Referenzprobensammlung bzw. ist die Vergleichsprobe eines verdächtigen Tieres. Weist das untersuchte Haar übereinstimmende mikroskopische Eigenschaften mit der Referenz auf, resultiert daraus ein gemeinsamer Ursprung beider Haare.
Die klassische Mikroskopie ermöglicht damit folglich eine Bestimmung von Spezies, Rasse, Haartyp und Haarstatus; Tierhaare weisen allerdings in der Regel keine ausreichend individuellen morphologischen Eigenschaften auf, um mit absoluter Sicherheit einem bestimmten Individuum zugeordnet werden zu können.
Genauere Anhaltspunkte bezüglich der möglichen Herkunft eines Haares können molekulargenetische Tests basierend auf Analysen sowohl der nukleären als auch der mitochondrialen DNA liefern.
Blut
Die klassischen Analysemethoden von Blut sind die Blutgruppenserologie, der Bestimmung von Serumproteinen und Isoenzymen sowie die Charakterisierung von MHC-Antigenen. Ursprünglich wurden sie für Abstammungskontrollen angewendet.
Ab Mitte der 1990er-Jahre führte der Einsatz moderner molekulargenetischer Methoden zu einer Verdrängung der konventionellen Verfahren. Gründe dafür waren eine verbesserte Ausschlusswahrscheinlichkeit, eine leichtere Automatisierbarkeit und eine einfachere Standardisierung der Auswertung.
Die gegenwärtigen Analysemöglichkeiten von Blut umfassen das ganze molekulargenetische Methodenspektrum. Die DNA wird aus den kernhaltigen weißen Blutkörperchen gewonnen. Die Wahl der jeweiligen Analyse-Methode ist abhängig von Quantität und Qualität der zur Verfügung stehenden Probe. Die Untersuchung von Blut spielt eine Rolle bei
Abstammungskontrollen (z. B. zur Kontrolle der angegebenen Elterntiere),
Identitätsnachweisen (z. B. zur Identifikation eines gestohlenen Tieres),
Bissattacken zwischen Tieren (zur Identifikation der beteiligten Tiere),
Bissattacken von Tieren am Menschen (zur Identifikation des Tätertieres),
Wilderei (z. B. zur Feststellung, ob eine unter Schutz stehende Tierart getötet wurde),
Unfällen (z. B. bei Wildunfällen durch Spuren am Fahrzeug).
Speichel
Speichelspuren werden regelmäßig im Zusammenhang mit Bissattacken gegen Menschen oder Tiere sichergestellt. Sie dienen der Identifizierung und Überführung verdächtiger Tätertiere.
Für molekulargenetische Analysen wird die DNA aus den im Speichel enthaltenen Epithelzellen der Maulschleimhaut isoliert. Methode der Wahl für Untersuchungen ist die Short-tandem-repeat-Typisierung.
Problematisch kann eine Kontamination des Speichels mit Blut oder Haaren des Opfers sein. Dennoch wurde in der Forschung eine positive Korrelation zwischen der zunehmenden Schwere der Bissverletzungen und der Erfolgsquote bei der Isolierung der Täter-DNA aus Speichel festgestellt.
Knochen und Gewebe
Gewebeproben unterschiedlichster Art, auch von tierischen Produkten stammend, werden vor allem in den wildlife forensics und bei der forensischen Untersuchung von Lebensmitteln routinemäßig analysiert. Die Untersuchung von Gewebeproben ist darüber hinaus üblicherweise im Zusammenhang mit tierschutzwidrigen Tötungsdelikten erforderlich.
In Abhängigkeit vom Erhaltungszustand der Probe können alle molekulargenetischen Methoden verwendet werden. Hierbei finden überwiegend Verfahren zur molekulargenetischen Spezies- und Gewebetypbestimmung Anwendung.
Sperma, Kot und Urin
Im Gegensatz zur Humanforensik spielt die molekulargenetische Analyse von Sperma bei Tieren kaum eine Rolle. Sie wird überwiegend im Bereich der Abstammungskontrollen genutzt. In der Literatur fand sie bis jetzt nur bei einem Verdacht eines sexuellen Übergriffs durch Tiere Anwendung.
Während die Untersuchung von Harn, u. a. in umstrittenen Dopingfällen, manchmal vorkommt, ist die Untersuchung von Kot bisher ohne praktische Bedeutung.
Tiere in der Kriminalbiologie
Tiere als Opfer
Tatbestände, bei denen Tiere zu Opfern werden, umfassen in erster Linie Diebstahl, Tierquälerei und Tötungsdelikte.
Die Aufgabenstellungen in diesem Bereich umfassen
die genetische Charakterisierung tierischen Spurenmaterials,
die Identifizierung einzelner Individuen anhand von Referenzmaterial,
Nachweis der kriminellen Handlungen anhand von Tatortspuren,
Klärung der Täteridentität (Spuren beim Täter, die als vom Opfer stammend nachgewiesen werden können).
Zur Klärung dieser Fragen kann etwa die mit Hilfe des DNA-Profils festgestellte Übereinstimmung von DNA-Spuren an Tatwaffen (z. B. Messer, Projektil) mit der Opfer-DNA beitragen. Gleiches gilt für den Vergleich von sonstigen tierischen Überresten (z. B. Blut, Haare, Knochen) mit Referenzproben.
Bei Haustieren lassen sich solche Vergleichsproben oftmals noch nachträglich durch das Sammeln von Haaren aus Bürsten oder Decken gewinnen. Ein völliger Mangel an Vergleichs-DNA des Individuums selbst kann sogar noch durch eine DNA-Analyse der Elterntiere kompensiert werden: Durch den Nachweis einer engen Verwandtschaft kann auch auf diese Weise die Identität des Opfers geklärt werden. So können beispielsweise gestohlene Rinder über eine STR-Analyse der angegebenen Muttertiere eindeutig identifiziert werden.
Haus-, Nutz- und Zootiere
In einem Fallbericht aus Argentinien wurden Rinder von einer Ranch gestohlen und geschlachtet. Die später gefundenen Kadaver konnten aufgrund ihrer Brandzeichen eindeutig identifiziert werden. Ihre DNA-Profile wurden mit sichergestellten Fleischstücken aus einer Fleischerei verglichen. Beweismaterial und Referenzproben stimmten überein, so dass das Fleisch eindeutig den getöteten Rindern zugeordnet werden konnte.
Im Baranya County Zoo in Ungarn wurden 14 durch Abwürgen getötete Wallabys, Pampashasen und seltene Zwergziegen (Capra hircus nanus) offensichtlich Opfer eines Hundekampftrainings. Durch vergleichende mikroskopische Untersuchungen von Tatortspuren gerieten die Wachhunde des Zoos in Verdacht. Die STR-Analyse der Haare und einiger Blutspuren vom Tatort konnte sie jedoch als Täter ausschließen und machte stattdessen ein Einzeltier unbekannter Rasse für die Tat verantwortlich.
Die DNA-Analyse wurde auch erfolgreich eingesetzt, um einen Hund zu identifizieren, der ein Miniaturpferd getötet und ein weiteres schwer verletzt hatte. Die Überführung des Tätertieres gelang mit Hilfe von Spuren von Pferdeblut am Rand der Wasserschüssel des Hundes. Diese stimmten mit dem genetischen Profil des getöteten Pferdes überein.
Ein Dopingfall aus dem Pferderennsport konnte mit Hilfe einer aufgefundenen Spritze, die offensichtlich für die Verabreichung illegaler leistungsfördernder Substanzen verwendet worden war, aufgeklärt werden. Durch DNA-Analysen von Rückständen an der Spritze konnte nicht nur die Identität des betroffenen Tieres, sondern auch das genetische Profil der Person bestimmt werden, die die verbotene Substanz verabreicht hatte.
Wildlife Forensics
Der Unterbereich wildlife forensics beschäftigt sich überwiegend mit der Verfolgung, Aufdeckung und Ahndung von Verstößen gegen den Arten- und Naturschutz (sogenannte wildlife crimes). Darunter fallen nicht nur das Washingtoner Artenschutzabkommen (CITES), sondern auch nationale Naturschutzgesetze und lokales Jagdrecht.
Durch Wilderei und illegalen Tierhandel wird das Überleben bereits gefährdeter Arten ernsthaft in Frage gestellt. Grund für die drohende Ausrottung vieler Spezies ist der profitable Handel mit ihren seltenen und begehrten (Luxus-)Produkten. Bekannte Beispiele sind der Elfenbeinschmuck, die Kaviarproduktion und die lederverarbeitende Industrie. Der blühende Markt traditioneller asiatischer Arzneimittel (z. B. in der TCM) führte zu einer starken Nachfrage an Harnblasen, Genitalien, Zähnen und Hörnern bestimmter Arten (Großkatzen, Nashörner) – häufig aufgrund nachgesagter aphrodisierender Wirkungen. Trophäensammler dezimieren die letzten Populationen afrikanischer Caniden-, Katzen- und Antilopenarten. Der boomende Heimtiermarkt reicher Industrienationen hat den hemmungslosen Ausverkauf exotischer Vögel, Reptilien und Fische zur Folge.
Einen Schwerpunkt für die wildlife forensics bildet die Artbestimmung von beschlagnahmten Tieren bzw. deren Produkten. In Fällen, bei denen eine Unterscheidung der Arten mit bloßem Auge in „geschützt“ und „nicht-geschützt“ nicht mehr möglich ist, muss die Frage, ob eine Verletzung des Artenschutzes vorliegt, auf genetischer Ebene geklärt werden. Dies gilt z. B. für eng verwandte Fischarten, die in gemeinsamen Schwärmen leben und auch zur Bastardisierung untereinander neigen.
Unter Wilderei wird das widerrechtliche Erlegen und Aneignen von Wild verstanden. Dabei kann gegen ein absolutes Jagdverbot für bedrohte Tierarten oder das generelle Jagdverbot z. B. in Naturschutzgebieten verstoßen werden. Auch die Nichteinhaltung einer Schonzeit fällt darunter. Der Bruch geschlechtsspezifischer Jagdverbote ist ein häufiges Vergehen: so ist in Florida zwar die Jagd auf wilde Truthähne, nicht aber auf die Truthennen erlaubt. Auch die vergleichsweise kurze Jagdsaison für weibliche Rehe in Florida (nur zwei Tage im Jahr) führt regelmäßig zu Verletzungen des Jagdrechts. Das illegale Töten weiblicher Tiere ist durch die molekulargenetische Geschlechtsspezifikation anhand von verdächtigem Wildbret oder Blutspuren auf Jagdkleidung und -werkzeugen nachweisbar.
Zahlreiche aufgeklärte Fälle von Wilderei belegen den Erfolg der angewendeten Methoden:
2005 konnten Jäger, die in einem Naturschutzgebiet in Texas einen Weißwedelhirsch gewildert hatten, durch Spuren von Hirschblut an ihrem registrierten Boot überführt werden. Angesichts der Beweislage gaben die Beschuldigten zu, gewildert zu haben, behaupteten jedoch – in der Hoffnung auf eine niedrigere Strafe und um das Geweih behalten zu können –, nur ein weibliches Tier getötet zu haben. Die Analyse der DNA konnte diese Aussage jedoch widerlegen und das Geschlecht des getöteten Stücks eindeutig als männlich bestimmen.
Der kopflose Kadaver eines Maultierhirsches, der 2002 in New Mexico unter den Überresten eines absichtlich gelegten Waldbrands gefunden wurde, konnte auf DNA-Basis einer von drei Hirschkopftrophäen zugeordnet werden, die später bei einem Verdächtigen beschlagnahmt wurden. Die für das genetische Profil notwendige Referenz-DNA war aus dem Rückenmark des verkohlten Kadavers gewonnen worden.
In Tansania wurde 1998 einem bereits zuvor auffällig gewordenen Verdächtigen die illegale Tötung eines Buschbocks nachgewiesen. Er wurde anhand von Blut- und Gewebespuren auf einem Jagdmesser überführt. Seine Behauptung, mit der Waffe zuvor ein Hausrind ausgeweidet zu haben, konnte durch eine Speziesidentifizierung auf Basis mitochondrialer DNA widerlegt werden.
Die Tötung einer in Simbabwe unter strengem Naturschutz stehenden Hyänenart im Jahr 1998 konnte einem Trophäensammler in seiner Heimat durch vergleichende Schädelmorphologie nachgewiesen werden, obwohl der präparierte Schädel unter falscher Deklaration bereits erfolgreich durch den Zoll geschmuggelt worden war.
In Indien gelang es, die Tötung und den Verzehr einer dort streng geschützten Pfauenart nachzuweisen. Am Tatort beschlagnahmtes gekochtes Fleisch und Vogeleingeweide stammten zwar nur von einem Huhn. Doch konnte vom Hackklotz, der zum Fleischzerteilen benutzt worden war, mittels mitochondrialer Sequenzanalysen die DNA eines Blauen Pfaus nachgewiesen werden.
Tiere als Täter
Ereignisse, bei denen Tiere zu „Tätern“ werden, umfassen in erster Linie tätliche Angriffe gegen Mensch und Tier, Verkehrsunfälle und Sachbeschädigungen.
Bissattacken
Bissattacken (z. B. durch Hunde) führen oft zu einem tödlichen Ausgang oder verursachen bleibende Schäden. Opfer sind meist Kleinkinder, alte Menschen oder auch andere Tiere. Mit Hilfe der forensischen Odontologie können anhand charakteristischer Bissmarken Aussagen zu Tierart und Rasse des Angreifers gemacht werden. Zu diesem Zweck werden die Weite des Zahnbogens, die Tiefe der Zahnabdrücke sowie tierart- und rassetypische Zahnanomalien herangezogen.
Das Angriffsverhalten und die Zahnstellung des Haushundes führen im Regelfall zu pathognomonischen Verletzungen, die aus einer Kombination von stichförmigen Einbissen der Canini mit multiplen, klaffenden Reißwunden bestehen (a-hole-and-a-tear-combination). Diese sind oft begleitet von Quetschungen und parallel verlaufenden, rissartigen Abschürfungen (Klauenmarken). Der kombinierte Abdruck beider Zahnbögen führt reproduzierbar zu typischen runden oder mandelförmigen Verletzungen.
Zusätzlich zur konventionellen Aufarbeitung eines Tatorts und dem Vergleich von Zahnabdrücken hat die DNA-Analyse für die Klärung solcher Fälle zunehmend Bedeutung erlangt. Hierbei werden Blutspuren und menschliche Haare auf dem Fell, im Maul oder vom Halsband sowie der Mageninhalt des Tätertieres ebenso berücksichtigt, wie die Untersuchung von Haaren und Speichelspuren des Angreifers auf der Kleidung oder dem Körper des Opfers. Sowohl die STR-Analyse, als auch die mtDNA-Haplotypisierung finden dabei erfolgreich Anwendung. Ergänzend eignet sich der Einsatz mitochondrialer Cytochrom b–Fragmente zur eindeutigen Speziesbestimmung.
Eine Frau wurde 2003 in einem öffentlichen Park im Cook County in Illinois von zwei Hunden angefallen und schwer verletzt. Auf der Suche nach den Hunden fand die Polizei ein zweites Opfer, das innerhalb weniger Stunden starb. Ein aggressiver Hund wurde getötet, in seinem Mageninhalt wurde Gewebe des zweiten Opfers gefunden. Daraufhin wurden zahlreiche streunende Hunde eingefangen, darunter auch der Hund, den die Polizei nach der Beschreibung des überlebenden Angriffsopfers für den zweiten Täter hielt. Für die öffentliche Sicherheit musste bestätigt werden, dass es sich bei dem Tier um den zweiten Angreifer handelte. Die Kleidung der Opfer wurde auf Hunde-DNA überprüft. Zusätzlich zu den mitochondrialen Haplotypen der Hunde, die den Opfern gehörten, konnten auch Haplotypen identifiziert werden, die mit denen der beiden verdächtigen Tiere übereinstimmten.
Im Jahr 2000 wurden in Oklahoma C. Ohman und V. A. Borja beschuldigt, einen bösartigen Hund zu besitzen, nachdem ihr Pit Bull „Trek“ die 74-jährige Nachbarin angefallen und dabei eine bleibende Behinderung verursacht hatte. Die aus Speichelspuren auf der Kleidung des Opfers isolierte Hunde-DNA stimmte mit „Treks“ genetischem Profil überein.
Im März 2000 wurde auf einem Sportgelände die Leiche eines siebenjährigen Jungen entdeckt. Als Todesursache wurden Hundebisse festgestellt. Obwohl die Justiz durch falsche Zeugenaussagen behindert wurde, konnten letztlich durch eine STR-Analyse von Speichelresten, Haaren und winzigen Blutspuren die beiden Wachhunde des Vaters als Täter identifiziert werden.
Ein junges Mädchen wurde Opfer einer schweren Hundebissattacke. Die STR-Analyse von Blutspuren, die vom Fell eines in Frage kommenden Hundes gesammelt wurden, ergab jedoch keinen Zusammenhang mit der Beißerei. Andere forensische Beweise wie Haare, Fasern und odontologische Untersuchungen konnten ebenfalls kein bestimmtes Individuum mit diesem Fall in Verbindung bringen.
Im Fall eines neunjährigen Jungen konnte eine von drei Deutschen Doggen anhand von Speichel auf der Kleidung des Opfers zweifelsfrei als Täter identifiziert werden. Dadurch konnte auf eine Euthanasie der beiden anderen in Frage kommenden Tiere verzichtet werden.
Verkehrsunfälle
Um bei Verkehrsunfällen den Tierhalter für den entstandenen Schaden haftbar zu machen, ist es nötig, das verursachende Tier auf DNA-Basis eindeutig zu identifizieren. Als Techniken können hier ebenfalls sowohl die STR-Analyse als auch mitochondriale Sequenzierung eingesetzt werden.
Ein Hund stand im Verdacht, einen Verkehrsunfall verursacht zu haben. Haarfragmente vom beschädigten Fahrzeug wurden einer Sequenz-Analyse der mitochondrialen DNA unterzogen. Die Ergebnisse wurden mit Referenzproben des beschuldigten Hundes sowie mit vier unabhängigen Kontrolltieren verglichen. Da das Beweismaterial nicht mit dem verdächtigen Hund übereinstimmte, konnte dieser als Quelle der Haare ausgeschlossen werden.
Tiere als Bindeglied
Grundsätzliches
Das zentrale Kerngebiet der animal forensics sind Tierspuren, die ein entscheidendes Bindeglied zwischen Täter und Opfer bei Kapitalverbrechen darstellen. Hierbei spielen besonders Haustiere eine Rolle.
Die Analyse von Tierhaaren, -speichel und verschiedenen Gewebespuren an Tatorten erlaubt es den Kriminologen manchmal, anhand dieses tierischen Spurenmaterials einen Verdächtigen mit der Tat in Verbindung zu bringen. Der Wert des Beweismaterials für das Knüpfen einer solchen Verbindung wird dabei von der Wahrscheinlichkeit beeinflusst, dass
die Zuordnung einer Spur zu einem Tier oder umgekehrt der Ausschluss eines Tieres auf einen Zufall zurückzuführen ist,
die Zuordnung durch einen Fehler der Spurensicherung zustande kam,
es alternative Erklärungen für das Vorhandensein dieser Spuren gibt (sekundärer Transfer, Kontamination, absichtliche Irreführung).
Haustierhaare
Millionen von Haushalten beherbergen Haustiere wie Hunde oder Katzen. Ebenso allgegenwärtig wie die Vierbeiner selbst sind auch ihre Haare, die überall in der näheren Umgebung ihrer Besitzer zu finden sind und an Kleidung und Gegenständen haften. Da diese Haare durch physischen Kontakt weitergegeben werden können (Transfer) kann ihr Vorkommen einen Verdächtigen folglich mit einem Opfer bzw. Opfer wie Täter mit einem bestimmten Tatort in Verbindung bringen.
Wird z. B. ein Opfer in einem Fahrzeug deponiert oder an einem Ort festgehalten, zu dem Tiere regelmäßig Zugang haben, resultiert daraus meist ein Transfer von Tierhaaren auf die Kleidung des Opfers („primärer Transfer“). Ebenso ist eine Übertragung von Tierhaaren auf das Opfer oder an den Tatort möglich, wenn der Verdächtige ein Haustier besitzt, dessen Haare sich während der Tat noch an seiner Kleidung befanden. Dies wird als „sekundärer Transfer“ von Spurenmaterial bezeichnet. Verräterische Katzen- oder Hundehaare sind ebenfalls sehr häufig auf klebenden oder anhaftenden Flächen zu finden, z. B. an Papier, Klebeband, Klettverschlüssen und Briefumschlägen (Lösegeld- oder Erpresserschreiben).
Haare tierischen Ursprungs an Tatorten oder an der Kleidung von Verdächtigen oder Opfern können darüber hinaus auch von einem Pelzmantel oder von Tierfell stammen. Sie sind oft künstlich gefärbt oder getrimmt und weisen meist keine Wurzel mehr auf. Auch diese Spuren können – ähnlich der forensischen Analyse von Fasern – helfen, den Täter mit Hilfe von Indizien zu überführen.
Wichtige Kriminalfälle
Der Fall „Snowball“
Dieser berühmte Kriminalfall gilt als Präzedenz für die Möglichkeit, Tatverdächtige anhand des genetischen Profils von Tierhaaren mit Kapitalverbrechen in Verbindung zu bringen.
Bei der Suche nach der verschwundenen Shirley Duguay 1994 auf Prince Edward Island wurde in einem Waldstück eine blutbefleckte Männerlederjacke gefunden. Das menschliche Blut stimmte mit dem Profil der Vermissten überein. Ihr tatverdächtiger Ex-Mann konnte jedoch zunächst nicht mit dem Kleidungsstück in Verbindung gebracht werden. Im Futter der Jacke entdeckte man einige weiße Haare, die als Katzenhaare identifiziert werden konnten.
Die DNA, die man aus einer der Haarwurzeln isoliert hatte, diente als Grundlage zur Genotypisierung. Das resultierende genetische Profil wurde mit einem Referenzprofil aus dem Blut von „Snowball“ verglichen, einer weißen Katze, die im Elternhaus des Ehemanns lebte. Es lag 100 % Übereinstimmung vor. Die Wahrscheinlichkeit der Existenz einer weiteren Katze mit demselben Profil (probability of match identity) in Kanada oder den USA betrug 1:6,9 × 107. Auf der Basis dieser Beweislage wurde der Ehemann 1997 des Mordes für schuldig befunden.
Der Fall „Chief“
In Seattle, Washington, verurteilte eine Jury Kenneth Leuluaialii und George Tuilefano wegen besonders schweren Mordes und Verletzung des Tierschutzrechts im Zusammenhang mit den 1996 erschossenen Jay Johnson, Raquel Rivera und dem Mischlingshund „Chief“. Die Blutspritzer auf Hose und Jacke der beiden Verdächtigen, die durch die Tötung des Hundes während der Ermordung der beiden Opfer auf die Kleidungsstücke der Täter gelangten, waren mit „Chiefs“ genetischem Profil identisch. Die Irrtumswahrscheinlichkeit (p-Wert) betrug 1:350 Millionen.
Der Fall „van Dam“
Als einer der aufsehenerregendsten auf tierischem Beweismaterial beruhenden Kriminalfälle gilt der Mord an der siebenjährigen Danielle van Dam in San Diego im Jahr 2002. Die Hundehaare, die im Haus des Tatverdächtigen David Westerfield gefunden wurden, konnten dem Weimaraner der van Dams zugeordnet werden und erwiesen sich als wichtigstes Bindeglied zwischen Westerfield und dem Tod des Mädchens. Zum ersten Mal wurde hier aufgrund der Analyse mitochondrialer Hunde-DNA ein Mordfall aufgeklärt.
Weitere bekannte Fälle
Daniel Schraeder aus Vernon, Britisch-Kolumbien, wurde zusammen mit seinem kleinen Hund durch stumpfe Gewalteinwirkung getötet. Die Blutflecken auf der Hose des Verdächtigen bestanden aus einer Mischung von Menschen- und Tierblut, die mit den damals zur Verfügung stehenden RFLP-Methoden nicht untersucht werden konnte. 1996 wurde der Fall wieder aufgenommen. Die STR-Typisierung des nichtmenschlichen Blutes konnte den Hund des Opfers als Quelle nachweisen. Die kanadische Justiz erhob daraufhin Anklage wegen Mordes; ein Jahr später wurde der Verdächtige schuldig gesprochen.
Im Jahr 2003 wurde April Misty Morse in Florida entführt und ermordet. Ihre mit Klebeband gefesselte Leiche wurde in einem Fluss gefunden. Vom Klebeband konnten einige Hundehaare sichergestellt werden. Die Polizei vermutete, dass ihr Ex-Freund Brent Huck sie auf ihrem Boot ermordet hatte. Der mitochondriale Haplotyp der Hundehaare stimmte mit dem von Hucks eigenem Hund überein. Er wurde wegen Entführung und Mordes verurteilt.
Während eines sexuellen Übergriffs in Iowa beobachtete das Opfer den Urinabsatz ihres Hundes an den Reifen des Täterfahrzeugs. Obwohl der Verdächtige bestritt, jemals in der Nähe des Hauses gewesen zu sein, in dem das Opfer wohnte, stimmte das genetische Profil des Hundes perfekt mit den sichergestellten Spuren auf dem Reifen überein.
Einige der Blutspuren, die in der Gasse neben einem erstochenen Londoner Barkeeper gefunden wurden, stammten weder vom Opfer noch waren sie menschlicher Herkunft. Ein Institut der University of California wurde im Jahr 2000 von Scotland Yard mit der Untersuchung beauftragt. Die Blutspuren wurden als Hundeblut identifiziert und konnten dem Haustier des Hauptverdächtigen zugeordnet werden.
Weiteres
Food forensics
Auf dem Lebensmittelsektor können sich die animal forensics mit dem Bereich der Lebensmittelüberwachung überschneiden, wenn Gesetzesverstöße eine erhebliche Straftat darstellen oder kriminelle Manipulationen im großen Maßstab begangen werden. In Fällen, wo gefährdete Arten kommerziell genutzt werden, ist der Übergang zwischen food forensics und wildlife forensics fließend. Der Verkauf falsch deklarierter Produkte mit Verstoß gegen das Artenschutzgesetz erweist sich dabei als Hauptproblem.
Methoden aus dem Bereich der animal forensics werden hier im Dienst des Schutzes des Verbrauchers vor Täuschung eingesetzt. Ein praxisnahes Beispiel stellt die Aufdeckung falsch deklarierter Kaviardosen dar, in denen Rogen von völlig anderen, geschützten Fischspezies (z. B. Paddelfisch) verarbeitet wurde. Auch die sichere Identifizierung illegal als Süßwasserschildkröten-Eier angebotener Eier von gefährdeten Meeresschildkröten ist nunmehr möglich. Molekulargenetische Tests erlauben auch Aussagen über den Strand, an der die Eier gesammelt wurden, da Schildkröten zur Eiablage immer an den Ort ihres eigenen Schlupfes zurückkehren.
Die betrügerische Fehldeklaration von Lebensmittelinhaltsstoffen auf der Produktkennzeichnung ist weit verbreitete Praxis, vor allem bei geschätzten, teuren Lebensmitteln. Gängige Straftaten zur Täuschung des Verbrauchers durch Fehldeklaration sind:
Der Verkauf von Produkten, die Beimengungen an minderwertigem (z. B. Innereien) oder potentiell risikobehaftetem Gewebe aufweisen (Separatorenfleisch, Konfiskate, Nerven- und Hirngewebe).
Der Verkauf von gefälschten Produkten, die anteilig oder vollständig aus unerwünschten Bestandteilen fremder Tierarten bestehen (Döner, angerichtetes Wild).
Die Nichteinhaltung der im Lebensmittelrecht vorgeschriebenen Mindestmengen in Bezug auf Gewebe oder Tierart (Fleisch- und Milcherzeugnisse).
Der Betrug bei der Deklaration von Fischen mit den Prädikaten „wild gefangen“ und „gezüchtet“.
Der eindeutige Beweis, dass eine Täuschung stattgefunden hat, erfordert die genaue qualitative und quantitative Bestimmung der Inhaltsstoffe. Die molekulargenetischen Methoden zur Bestimmung von Spezies in Lebensmitteln tierischer Herkunft sind weitgehend identisch mit den oben angeführten. Methodische Probleme verursachen dabei Lebensmittel, die stark erhitzt oder industriell verarbeitet wurden, d. h. Produkte, bei denen das DNA-haltige Material nur schwer extrahiert oder von anderen Substanzen getrennt werden kann.
RFLP-Analysen des mitochondrialen Cytochroms b (s. o.) erlauben eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Wildfleischarten und die Abgrenzung zu Haustieren. STR-Marker werden in der Lebensmittelforensik nicht nur erfolgreich eingesetzt, um die Verfälschung von Lebensmitteln nachzuweisen, sondern erlauben u. a. auch die Unterscheidung beim Rotfisch zwischen „wild gefangen“ und „kultiviert“.
Fleischrechtliche Vorschriften sowie die allgemeine Verkehrsauffassung regeln, welche Gewebe und Organe in Fleischerzeugnissen nicht verarbeitet werden dürfen. Dazu gehören z. B. Hirn und Rückenmark, Schleimhäute, Harnblasen, und Rinderhaut.
Eine klassische Methode, Fremdgewebe – z. B. Separatorenfleisch – in Fleischerzeugnissen nachzuweisen, ist die Histologie. Dabei werden sämtliche Gewebskomponenten anhand ihrer anatomisch-morphologischen Struktur und ihrer Affinität zu bestimmten Farbstoffen identifiziert. Der dadurch entstehende qualitativ-morphologische Befund liefert eine schlüssige Aussage über die gewerbliche Zusammensetzung des Produkts.
Die klassische Genetik stößt bei der Identifikation von Gewebskomponenten in tierischen Produkten an ihre Grenzen, da verschiedene Gewebe eines Individuums völlig identische DNA-Sequenzen aufweisen. Gewebe unterscheiden sich jedoch durch spezifische Muster ihrer Genaktivität: in der Muskulatur sind völlig andere Gene aktiv als im Gehirn. Diese Unterschiede werden durch subtile chemische Veränderungen in bestimmten DNA-Abschnitten ausgelöst (Epigenetik).
Aus gesundheitlicher Sicht (BSE/Creutzfeldt-Jakob-Krankheit) ist vor allem der Nachweis von Rinderhirn und -nervengewebe in Fleischprodukten relevant. Dessen Gewinnung und Verarbeitung ist bei Rind, Schaf und Ziege verboten. Neuartige Verfahren wie die Kombination der Real-Time-PCR mit der Reverse Transkriptase-PCR dienen nicht nur dem qualitativen Nachweis von nervengewebstypischen Proteinen, sondern ermöglichen auch das Ausmaß einer Verunreinigung mit ZNS-Gewebe in Lebensmitteln tierischer Herkunft.
Ein Fallbeispiel: Speziesidentifizierung aus Blut
Bevor sie als Jagd- und Gebrauchshunde eingesetzt werden, müssen sich Schweißhunde in verschiedenen Prüfungen beweisen. Eine davon dient der Kontrolle ihrer Fähigkeit, eine Spur aus Wildblut zu finden, aufzunehmen und zu halten. Dafür werden Blätter mit winzigen Mengen von Wildtierblut präpariert und als künstliche Spur im Trainingsgelände verteilt. Ein geübter Schweißhund muss die Spur problemlos finden und verfolgen können.
In einem belegten Fall versagten alle Hunde bei einer solchen Prüfung. Mit Hilfe einer molekulargenetischen Speziesbestimmung konnte nachgewiesen werden, dass die künstliche Spur nicht aus Blut eines Wildtiers gelegt worden war, sondern aus einer Mischung von Schaf- und Rinderblut bestand.
Literatur
K. De Munnynck, W. Van de Voorde: Forensic approach of fatal dog attacks: a case report and literature review. In: International journal of legal medicine. 116, 5, 2002, , S. 295–300.
P. Savolainen, J. Lundeberg: Dog Genetic Data and Forensic Evidence. In: A. Ruvinsky, J. Sampson (Hrsg.): The Genetics of the Dog. CABI Publishing, Wallingford u. a. 2001, S. 521–536, ISBN 0-85199-520-9.
Egbert Lechtenböhmer: Praxisnahe Methoden für die Untersuchung von Haaren zur Tierartbestimmung in forensischer Sicht. Hannover 1982 (Hannover, Tierärztl. Hochsch., Diss.).
Weblinks
Molekulare Forensik („DNA-Analyse überführt Wilddiebe“, „Kaviarhandel“) am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung Berlin
„Food-Forensik: Lebensmittelbetrügern auf der Gen-Spur“ beim ORF
J. Holmes: Feline Forensics. (engl.) in Syracus University Magazine
„U.S. "Animal Detectives" Fight Crime in Forensics Lab“ bei National Geographic
Dunn, T.: „Caught, After the Act: How Crime Solvers Use Scientific Sleuthing to Stay Hot on the Trail of Wildlife Criminals“ in ZoeGoer 6/2003 (Smithsonian National Zoological Park)
Quellen
Kriminalistik
Zoologie
Rechtsmedizin
Tier im Recht |
1312842 | https://de.wikipedia.org/wiki/Oper%20Frankfurt | Oper Frankfurt | Die Oper Frankfurt ist das Musiktheater der Städtischen Bühnen in Frankfurt am Main. Sie ist eines der bedeutendsten Musiktheater in Europa und wurde 1996, 2003, 2015, 2018, 2020 und 2022 von der Zeitschrift Opernwelt als Opernhaus des Jahres ausgezeichnet. Ein festes Opernensemble besteht in Frankfurt am Main seit 1792. 1880 wurde das monumentale Opernhaus im Stil der Neurenaissance eröffnet. Diese 1944 zerstörte und 1976 bis 1981 wiederaufgebaute Alte Oper dient heute als Konzert- und Kongresszentrum.
Die Oper Frankfurt hat seit 1951 ihre Spielstätte am Willy-Brandt-Platz, dem früheren Theaterplatz. Musikalisch wurde das Haus seitdem durch die Generalmusikdirektoren Georg Solti (1952–1961), Christoph von Dohnányi (1968–1977), Michael Gielen (1977–1987), Sylvain Cambreling (1993–1996), Paolo Carignani (1999–2008) und Sebastian Weigle (2008–2023) geprägt. Ab der Spielzeit 2023/24 ist Thomas Guggeis Generalmusikdirektor. Intendant der Oper ist seit 2002 Bernd Loebe. Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester ist das feste Orchester des Hauses.
Das Haus ist bekannt für innovative Spielpläne, die traditionell deutsche Erst- und Uraufführungen beinhalten. In der Oper Frankfurt wurden beispielsweise Der ferne Klang von Franz Schreker und die Carmina Burana von Carl Orff uraufgeführt – und zuletzt Der Mieter von Arnulf Herrmann, am 12. November 2017.
1700 bis 1880 – Die Anfänge der Oper in Frankfurt am Main
1700 gastierte zum ersten Mal eine französische Operntruppe in Frankfurt am Main, die im Wesentlichen Stücke von Jean-Baptiste Lully aufführte. Auch später fanden immer wieder Gastspiele statt, so 1745 durch die italienische Truppe von Pietro Mingotti, zu deren Kapellmeistern Christoph Willibald Gluck gehörte. Gespielt wurde entweder in den Speisesälen der großen Gasthöfe oder auf kurzfristig erstellten Holzbühnen, meist auf dem Roßmarkt in der Neustadt. Im September 1754 gab die Wanderoper des italienischen Theaterprinzipals Girolamo Bon auf Einladung der Fürsten von Thurn und Taxis die große und serieuse Opera oder Pastorale Il Leucippo von Johann Adolf Hasse, dem Dresdner „Hofcompositeur“. Den erhaltenen Theaterzetteln zufolge benutzten die Operisten eine Bühne am Roßmarkt und blieben bis Ende April 1755.
Erst nach der Mitte des 18. Jahrhunderts kam in der Frankfurter Bürgerschaft der Wunsch nach einem festen Theaterbau auf. Möglicherweise gab die Einrichtung des Mannheimer Theaters 1777 einen entscheidenden Impuls. Gegen den Widerstand der lutherischen Geistlichkeit, welche die Komödie für „sündhaft und dem Worte Gottes und dem Heiligen Taufbunde zuwider“ hielt, setzte der Rat den Bau des Comoedienhauses durch. 1780 wurde der Grundstein zu dem von außen schlichten klassizistischen Bau an der Nordseite des Roßmarktes gelegt. Die Pläne stammten von Stadtbaumeister Johann Andreas Liebhardt. Innen war der Bau prächtig ausgeschmückt, mit himmelblauer Deckenbemalung und scharlachfarbenen Tapeten ausgeschlagen. Das neue Theater verfügte über knapp 1000 Plätze, die sich auf Parkett, mehrere Parkettlogen, zwei Ränge und eine Stehplatzgalerie verteilten.
Am 3. September 1782 hob sich erstmals der Vorhang des Comoedienhauses. Auf dem Spielplan stand das Schauspiel Hanno, Fürst in Norden. Außerdem wurde ein eigens von Christian Gottlob Neefe komponierter Epilogus mit Musik und Gesang aufgeführt. Besondere Bewunderung erregten die Dekorationen des Mannheimer Theaterarchitekten Giuseppe Quaglio und die Kunstfertigkeit der „auswärtigen Virtuosen, die ein solches Spektakel erregten, daß man taub zu werden glaubte“.
Schon bald fanden im neuen Theater auch Opernaufführungen statt. Besonders die Werke Mozarts fanden noch zu seinen Lebzeiten den Weg auf die Frankfurter Bühne, wenn auch zuweilen in Bearbeitungen oder mit Kürzungen. 1784 stand Die Entführung aus dem Serail auf dem Programm, 1788 Figaros Hochzeit und 1789 Don Giovanni. Alle Aufführungen erfolgten weiterhin durch fahrende Theatertruppen. Erst 1792 erhielt das nunmehr als Frankfurter Nationaltheater bezeichnete Haus ein eigenes Orchester. Sein erster Leiter wurde Friedrich Ludwig Æmilius Kunzen, dem später Ferdinand Fränzl und Carl Cannabich folgten. Alle entstammten der ehemaligen Mannheimer Hofkapelle.
Cannabich musste schon 1800 seinen Abschied nehmen, weil seine Verschwendungssucht im bürgerlichen Frankfurt am Main für einen Skandal sorgte. Sein Nachfolger Carl Joseph Schmidt blieb dagegen über 15 Jahre im Amt. 1817 bis 1819 war Louis Spohr Kapellmeister am Frankfurter Theater, dessen Opern Faust und Zemire und Azor hier uraufgeführt wurden. Auf die kurze Ära Spohr folgte Carl Guhr, der das Theater von 1821 bis 1848 leitete. Er war nicht nur musikalischer Leiter des Theaters, sondern zeitweise auch sein Hauptaktionär. Deshalb ist es nicht überraschend, dass er ein einnahmeträchtiges Repertoire pflegte: Auf dem Spielplan dominierten die Werke von Mozart, Weber, Spohr und Heinrich Marschner, gelegentlich auch Rossini, wenn Gastspiele berühmter auswärtiger Künstler eine drastische Anhebung der Eintrittspreise erlaubten. Gelegentlich mussten bezahlte Claqueure dafür sorgen, dass zahlungskräftige Solisten lautstark bejubelt wurden.
Im Dezember 1842 besuchte Hector Berlioz eine Aufführung des Fidelio am Frankfurter Theater, die ihn sehr beeindruckte. Seinen Reisebericht nahm er später in seine Memoiren auf.
Nach Guhrs plötzlichem Tod im Juli 1848 bewarb sich auch Albert Lortzing um die musikalische Leitung des Frankfurter Theaters. Gewählt wurde aber der Komponist Louis Schindelmeisser, der bis 1851 blieb. 1851 bis 1861 leitete Gustav Schmidt das Theaterorchester, dem schließlich von 1861 bis 1880 der Cellist und Komponist Georg Goltermann folgte.
Inzwischen war das Theater nicht nur technisch veraltet, sondern für die schnell gewachsene Bevölkerung Frankfurts viel zu klein geworden. Neubaupläne bestanden schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, doch konnten sie aus Geldmangel lange Zeit nicht verwirklicht werden. Erst 1869, drei Jahre nach der Annexion der Freien Stadt Frankfurt durch Preußen, erlaubte der sogenannte Frankfurter Receß, ein Gesetz über die Rückerstattung des kommunalen Vermögens und einer 1866 auferlegten Kriegskontribution, die Finanzierung eines Neubaus.
1880 bis 1933 – Das repräsentative Opernhaus
1880 wurde das neue, von Richard Lucae erbaute Opernhaus am ehemaligen Bockenheimer Tor eröffnet, der seitdem Opernplatz heißt. Das Gebäude ist heute unter dem Namen Alte Oper bundesweit bekannt. Die Oper wurde mit einem für die damalige Zeit sehr hohen Aufwand von 6,8 Millionen Mark errichtet, von denen etwa 1,4 Millionen aus Spendengeldern Frankfurter Bürger und dem Verkauf städtischer Grundstücke am Opernplatz stammten. Die veranschlagten Baukosten hatten 2 Millionen betragen. Die großzügige Überziehung des Budgets zu Lasten der öffentlichen Kasse sorgte für erhebliche Kritik. Der Schmerz der sparsamen Frankfurter wurde jedoch gelindert durch die feierliche Eröffnung in Gegenwart des Kaisers Wilhelm I., der dabei gesagt haben soll: „Das könnte ich mir in Berlin nicht leisten“.
Bis 1900 wurde das neue Haus von Generalintendant Emil Claar geleitet. 1900 legte er die Leitung der Oper nieder, um sich ganz auf das Schauspiel Frankfurt und den Neubau des Schauspielhauses zu konzentrieren. Zu seinem Nachfolger als Opernintendant wurde Paul Jensen aus Dresden berufen, der die Oper bis 1911 leitete. 1912 bis 1917 war Robert Volkner Intendant der Oper, der zuvor Direktor der Vereinigten Stadttheater in Leipzig gewesen war.
Die musikalische Leitung der Oper lag zunächst in den Händen des Ersten Kapellmeisters Felix Otto Dessoff, der das neue Haus am 20. Oktober 1880 mit einer Aufführung des Don Giovanni eröffnete. Bereits in seiner zweiten Spielzeit 1881/82 geriet das Haus in ein Defizit, das durch eine jährliche Subvention von 80.000 Mark ausgeglichen wurde. Nach 1887 musste die Stadt die Subvention sogar auf 150.000 Mark pro Jahr erhöhen. Seitdem ist die Oper Frankfurt immer auf Zuschüsse aus den öffentlichen Haushalten angewiesen gewesen, auch wenn sie noch bis nach dem Ersten Weltkrieg in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft organisiert war.
Nach Dessoffs plötzlichem Tod 1892 wurde auf Vermittlung von Johannes Brahms Ludwig Rottenberg sein Nachfolger. Er leitete das Haus bis 1924. In dieser Zeit wurden zahlreiche zeitgenössische Werke von Hans Pfitzner, Claude Debussy, Richard Strauss, Leoš Janáček, Béla Bartók und Paul Hindemith aufgeführt. Von 1912 bis 1917 war Egon Pollak ein bedeutender Dirigent des Hauses, bis er als Generalmusikdirektor nach Hamburg berufen wurde. Zu den herausragenden Sängern dieser Zeit gehörten Else Gentner-Fischer (1907 bis 1935), Frieda Hempel (1907 bis 1912), Robert Hutt und der Bariton Robert vom Scheidt. 1908 bis 1911 kam alljährlich Enrico Caruso zu Gastspielen nach Frankfurt am Main.
1917 wurde die Leitung der Städtischen Bühnen erstmals seit der Ära Claar wieder unter einem Generalintendanten zusammengeführt. Karl Zeiß, der zuvor das Königliche Hofschauspiel in Dresden geleitet hatte, blieb allerdings nur drei Jahre in Frankfurt am Main. 1920 wurde er an das Staatstheater München berufen. Neuer Opernintendant wurde der gebürtige Wiener Ernst Lert, der zuvor in Basel gewirkt hatte.
1916 bis 1924 gehörte Paul Hindemith als Konzertmeister zum Frankfurter Opernhaus- und Museumsorchester.
1924 endete nach fast 32 Jahren die Ära des Ersten Kapellmeisters Ludwig Rottenberg. Mit Clemens Krauss übernahm 1924 bis 1929 erstmals ein Generalmusikdirektor auch die künstlerische Leitung der Oper. Bekannte Ensemblemitglieder während der Weimarer Republik waren der Tenor Franz Völker und die Altistin Magda Spiegel. Einen Schwerpunkt des Repertoires bildete das Werk von Franz Schreker, von dem bis 1924 vier Opern in Frankfurt am Main uraufgeführt wurden. Ein bekannter Bühnenbildner dieser Zeit war Ludwig Sievert.
Ab dem 10. Oktober 1930 wurde die Festwoche „50 Jahre Opernhaus: 1880–1930“ abgehalten, diese endete am 16. Oktober 1930 mit der Aufführung der Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Bertolt Brecht.
Als Clemens Krauss die Oper verließ, wurde die Leitung der Oper wieder aufgeteilt. Neuer Intendant wurde Josef Turnau aus Wien, Erster Kapellmeister Hans Wilhelm Steinberg aus Köln. Beide wurden als Juden im März 1933 von den Nationalsozialisten sofort nach der Machtergreifung aus dem Amt vertrieben.
1933 bis 1945 – Die Oper in der Zeit des Nationalsozialismus
In einer persönlichen Verfügung enthob der neue Oberbürgermeister Friedrich Krebs die beiden als Repräsentanten des Verfalls, die aus dem Theater eine „Stätte der Dekadenz, der sittlichen Verrohung und des Untermenschentums“ gemacht hätten, ihrer Ämter. Auch eine Reihe von Künstlern wurden entlassen und später deportiert. Der Bassist Hans Erl wurde bei seiner Deportation 1940 gezwungen, in der Sammelstelle – der Festhalle – die Arie des Sarastro aus der Zauberflöte („In diesen heiligen Hallen …“) zu singen. Die Altistin Magda Spiegel durfte wegen ihrer überaus großen Popularität als eine der wenigen jüdischen Künstlerinnen noch bis 1935 auftreten, dann wurde auch sie entlassen. 1942 wurde sie in das Ghetto Theresienstadt verschleppt und 1944 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet.
Auch unter dem Publikum machte sich die Verfolgung der Juden bemerkbar, da bis 1933 annähernd die Hälfte der Abonnenten zur Frankfurter jüdischen Gemeinde gehörte. Der Ende der zwanziger Jahre auf Initiative von Arthur von Weinberg gegründete Patronatsverein der Städtischen Bühnen löste sich im Dezember 1933 selbst auf, da die Mehrzahl seiner Mitglieder jüdisch waren. Ein Versuch des Oberbürgermeisters Krebs zur Neugründung eines „arischen“ Unterstützungsvereins scheiterte. Trotz einer Senkung der Eintrittspreise um 30 Prozent und einer öffentlichen Werbekampagne für neue Abonnenten („Ich bin Platzmieter der Städtischen Bühnen“) stieg der drastisch zurückgegangene Theaterbesuch auch in den Folgejahren nicht wieder an.
Die Leitung der Städtischen Bühnen hatte seit Juni 1933 wieder ein Generalintendant. Hans Meissner, ein Schulkamerad des neuen Oberbürgermeisters, übernahm dieses Amt und behielt es während der ganzen Zeit des Dritten Reiches. Er versuchte, jeden Konflikt mit der Parteiorganisation zu vermeiden, und vermied in seiner Spielplangestaltung jedes Risiko. Andererseits nutzte er seine persönlichen Beziehungen zu Krebs, um den Städtischen Bühnen einen gewissen künstlerischen Freiraum zu schaffen und verhielt sich gegenüber den früheren Ensemblemitgliedern loyal. Vor allem sein Talent als Regisseur verschaffte ihm zudem bald ein hohes künstlerisches Ansehen, allerdings konzentrierte sich Meissner vor allem auf das Schauspiel. Die 1932 erstmals abgehaltenen Römerberg-Festspiele entwickelte er bis 1939 zu einer europaweit angesehen kulturellen Institution.
Der entlassene Kapellmeister Steinberg blieb zunächst in Frankfurt am Main und gründete ein Orchester des Jüdischen Kulturbundes, das sogar noch 1936 in einem Sinfoniekonzert Gustav Mahlers 1. Sinfonie aufführte. Dann musste auch er emigrieren und ging über Palästina in die USA.
In der musikalischen Leitung der Oper wechselten sich in den folgenden fünf Jahren drei Kapellmeister ab: Bertil Wetzelsberger, Karl Maria Zwißler und Georg Ludwig Jochum blieben jeweils nur kurze Zeit im Amt. Dennoch kam es 1937 mit der Uraufführung der Carmina Burana von Carl Orff zu einem weiteren musikalischen Höhepunkt an der Oper. 1938 kam Franz Konwitschny als neuer Generalmusikdirektor an die Oper.
1944 wurde das Gebäude der Oper im Bombenkrieg bei den Luftangriffen auf Frankfurt am Main zerstört. Am 29. Januar richtete ein Tagesangriff so große Schäden an, dass der Spielbetrieb vorläufig eingestellt werden musste. Man begann zwar umgehend mit Wiederherstellungsarbeiten, doch bevor diese fertiggestellt waren, trafen zwei weitere schwere Luftangriffe die Stadt. Am 18. März wurde das gegenüber der Oper gelegene Kulissenhaus vernichtet. Bei dem Angriff am 22. März, der die historische Frankfurter Altstadt zerstörte, brannte auch das Opernhaus völlig aus. In den folgenden Monaten versuchten die städtischen Bühnen noch einen Notbetrieb an wechselnden Spielstätten aufrechtzuerhalten. Am 1. September 1944 stellten alle Theater in Deutschland ihren Betrieb ein, die Ensembles zerstreuten sich.
1945 bis 1960 – Provisorium und Wiederaufbau
Bald nach der Besetzung Frankfurts durch amerikanische Truppen am 27. März 1945 wurde mit Kurt Blaum ein künstlerisch interessierter Verwaltungsfachmann zum Oberbürgermeister eingesetzt. Die neue Stadtverwaltung bemühte sich, die Initiativen Frankfurter Bürger zur Wiederbelebung des Kulturlebens zu fördern. An einen Wiederaufbau der Oper war zunächst nicht zu denken, doch fanden sich bereits im Juli 1945 in Frankfurt am Main verbliebene Künstler zu einem ersten Konzert zusammen.
Da auch alle übrigen Theater in Frankfurt am Main zerstört waren, blieb die Oper für die nächsten Jahre auf Provisorien angewiesen. Dennoch nahm die Oper bereits am 3. November 1945 ihren Spielbetrieb unter Leitung des im Oktober 1945 berufenen Opernintendanten und Generalmusikdirektors Bruno Vondenhoff wieder auf. Bis 1951 nahm sie ihr Domizil im einzigen unzerstörten Saal der Innenstadt in der Neuen Börse.
In dem beengten Saal waren kaum größere Aufführungen möglich, zudem konnte man nur unter größten Schwierigkeiten geeignete Probenräume finden. Schon bald wurde daher nach einer dauerhaften Lösung für die Oper gesucht. Vier verschiedene Varianten wurden diskutiert:
Der Wiederaufbau des Opernhauses schied wegen der hohen Kosten und der verhältnismäßig schweren Schäden bald aus. Erst nach über 30 Jahren als schönste Ruine Deutschlands begann 1976 der 1981 abgeschlossene Wiederaufbau. Er wurde von einer Bürgerinitiative, der Aktionsgemeinschaft Alte Oper, unterstützt, überwiegend jedoch aus Steuermitteln finanziert. Die Alte Oper dient heute als Konzerthaus und Kongresszentrum.
Ein völliger Neubau an anderer Stelle wurde ebenfalls verworfen, obwohl die Stadt bereits mehrere Grundstücke im Rothschildpark, am alten Opernhaus, am Kornmarkt in der Altstadt und am Baseler Platz in der Nähe des Hauptbahnhofs auf ihre Eignung geprüft hatte. Für ein Großprojekt dieser Art fehlten in den ersten Jahren die notwendigen Mittel. Priorität hatte der Wohnungsbau.
Der ebenfalls erwogene Wiederaufbau des ehemaligen Neuen Theaters an der Ecke Mainzer Landstraße und Karlstraße schied aus, weil der Standort im Rahmen einer geänderten Verkehrsplanung der Stadt benötigt wurde.
Somit konzentrierte sich die Planung recht bald auf das ehemalige Schauspielhaus am Theaterplatz. Bei einer Begehung der Ruine zeigte sich, dass Teile des Zuschauerraumes, vor allem aber wichtige Einrichtungen im Keller, verhältnismäßig wenig zerstört waren. Zudem bot der Standort Erweiterungsmöglichkeiten für die notwendigen Bühnenhäuser und Probenräume.
Bereits im Februar 1948 gründete sich daraufhin ein Patronatsverein für den Wiederaufbau des alten Schauspielhauses. Seine Satzung bestimmte als Vereinszweck, „den Wiederaufbau der Städtischen Bühnen mit Rat und Tat auf breitester Grundlage zu fördern, das Frankfurter Theaterwesen ideell und materiell zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass das durch äußere Umstände besonders hart getroffene Theaterleben Frankfurts wieder die Stellung erhält, welche seiner Vergangenheit und der Bedeutung der Stadt entspricht“. Am 5. August 1948 wurde ein Kuratorium unter Leitung von Oberbürgermeister Walter Kolb berufen. 1949 begann die Enttrümmerung der Ruine, und im Oktober 1949 bewilligte die Stadtverordnetenversammlung 1,4 Millionen Deutsche Mark für den ersten Bauabschnitt.
Am 13. Februar 1950 stoppte der Magistrat jedoch sämtliche Bauarbeiten und beschloss die Schließung aller Städtischen Bühnen. Die Begründung lautete: „Allem voran geht die Sicherung der nackten Existenz unserer Mitbürger, dazu gehören in erster Linie die Beschaffung von Wohnraum, die Wiederherstellung von Schulen, Krankenhäusern. Diese Grundlagen bieten erst die Voraussetzung für die Pflege jedes kulturellen Lebens.“ Unmittelbar darauf gründete sich eine Bürgerinitiative, die von allen Frankfurter Tageszeitungen unterstützt wurde und innerhalb von vier Wochen 50.000 Unterschriften für den Erhalt der Städtischen Bühnen beibrachte. Im Juni 1950 lenkte die Stadtverordnetenversammlung daraufhin ein und bewilligte zwei Millionen Mark, um die Bauarbeiten fortsetzen zu können.
Am 23. Dezember 1951 konnte die Oper unter Vondenhoffs Leitung ihre neue Spielstätte im ehemaligen Schauspielhaus beziehen. Unter Leitung des Architekten Otto Apel wurde ein Zuschauerraum mit rund 1500 Plätzen errichtet. In Anlehnung an das frühere Opernhaus hatte man drei Zuschauerränge geschaffen. Die Innenausstattung in Rostrot und Ocker blieb bis zur Renovierung 1987 unverändert. Mit zwei Drehbühnen von 38 und 16 Metern Durchmesser und einem versenkbaren Orchestergraben entsprach auch die Bühnentechnik dem neusten Stand. Zweimal im Jahr sollte das neue „Große Haus“ auch dem Schauspiel Frankfurt zur Verfügung stehen.
Unter dem Generalmusikdirektor Georg Solti (1952–1961) rückte die Oper schnell wieder unter die ersten Häuser Europas auf, auch wenn Solti in erster Linie Orchesterleiter war und nur wenige Opernaufführungen selbst dirigierte. Das Ensemble wurde zu zahlreichen Auslandsgastspielen eingeladen. 1960 bis 1962 erhielt die Frankfurter Oper sieben erste Preise beim Pariser Festival „Theatre des Nations“. Während der neun Jahre unter Solti erlebte die Oper Frankfurt 35 Premieren, die von Regisseuren wie Arno Assmann, Harry Buckwitz und Leopold Lindtberg inszeniert wurde. Bekannte Sänger im Frankfurter Ensemble waren der Bassbariton Theo Adam und die Sopranistin Anny Schlemm.
1960 bis 1987 – Der Neubau der Städtischen Bühnen
1963 erhielt endlich auch das Schauspiel Frankfurt, das bis dahin auf verschiedene Provisorien angewiesen war, eine neue Spielstätte. Sie wurde unmittelbar neben der Oper Frankfurt errichtet. 1960 bis 1962 wurde die Jugendstilfassade des ehemaligen Schauspielhauses abgetragen und eine 120 Meter lange Glasfassade für die neue „Theaterdoppelanlage“ errichtet, hinter der das gemeinsame Foyer der Städtischen Bühnen lag. Den Neubau entwarf und leitete das Büro von Otto Apel (seit 1961 ABB Architekten: Otto Apel, Hannsgeorg Beckert und Gilbert Becker). Marc Chagall (1887–1985) malte 1959 im Auftrag der Stadt für das Foyer das Gemälde Commedia dell’arte. Unter der Decke des Foyers hängt – über die ganze Breite des Gebäudes – die Plastik Goldwolken des ungarischen Künstlers Zoltán Kemény (1907–1965). 1963 wurde das Haus fertig gestellt.
Unter dem Nachfolger Soltis, Lovro von Matačić (1961–1966), konnte die Oper Frankfurt ihr Niveau halten. Das Repertoire umfasste in den sechziger Jahren ca. 30 Inszenierungen, die überwiegend von bekannten Regisseuren wie Walter Felsenstein, Bohumil Herlischka, Otto Schenk und Wieland Wagner stammten.
Die erste Wirtschaftskrise in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland führte 1967 zu einem öffentlich ausgetragenen Konflikt des Intendanten Buckwitz mit den städtischen Gremien. Zum ersten Mal verfügte die Stadt kurzfristige Sparmaßnahmen, die dem auf langfristige Planung angewiesenen Opernbetrieb erhebliche künstlerische Einschränkungen auferlegten.
Nach einem zweijährigen Interregnum unter dem musikalischen Direktor Theodore Bloomfield, der wegen eines Konfliktes mit dem Ensemble aus dem Amt schied, und dem gleichzeitigen Ende der Ära Buckwitz war ein Neuanfang erforderlich. Ulrich Erfurth wurde 1968 neuer Generalintendant der städtischen Bühnen, während der neue Generalmusikdirektor Christoph von Dohnányi die Oper wieder zu international anerkannten Erfolgen führte. Das Ensemble wurde verjüngt. Solisten wie June Card, Anja Silja, William Cochran und Manfred Schenk prägten die Neuinszenierungen. 1972 wurde Dohnányi als Operndirektor auch für die künstlerische Leitung der Oper verantwortlich.
Nach dem Weggang Dohnányis übernahm 1977 bis 1987 Michael Gielen seine Nachfolge. Seine kühnen, ästhetisch und kulturpolitisch provozierenden Inszenierungen, die in Verbindung mit dem Dramaturgen Klaus Zehelein und Regisseuren wie Ruth Berghaus, Alfred Kirchner und Hans Neuenfels entstanden, fanden bei der Kritik Zuspruch, spalteten aber zuweilen das Frankfurter Publikum und sogar das Ensemble. Gielen konnte alle Konflikte erfolgreich durchstehen, weil er sich stets auf die Unterstützung des damaligen Oberbürgermeisters Walter Wallmann und des Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann verlassen konnte. Am Ende der Ära Gielen überwog bei weitem die Anerkennung: Der Schlussapplaus bei seiner Abschiedsvorstellung 1987 dauerte 72 Minuten.
Erstmals nach dem Krieg gelang unter Gielens Leitung in Frankfurt am Main die Inszenierung eines kompletten Ring des Nibelungen unter der Regie von Ruth Berghaus. In die Ära Gielen fielen die deutsche Erstaufführung von Luigi Nonos Al gran sole carico d’amore und die Uraufführung von Hans Zenders Stephen Climax. Ein wichtiger Meilenstein war die Aida, die Hans Neuenfels 1981 auf die Bühne brachte. Sie gehörte zu den umstrittensten, aber auch erfolgreichsten Inszenierungen der Ära Gielen. Darin trat Aida als Putzfrau und Radames als hemdsärmeliger Manager auf. Die Sklaven waren Wilde, die mit Hähnchenkeulen um sich warfen, und der Chor der Ägypter war als festliches Opernpublikum in Frack und Abendkleid kostümiert. Bei der Premiere reagierte das echte Publikum empört, weil in der wort- und notengetreu inszenierten Geschichte Verdis um Liebe, Hass, Machtgier, Eifersucht und Gewalt die Grenzen zwischen dem Geschehen auf der Bühne und der Wirklichkeit nicht mehr gewahrt blieb. Doch gab es auch andere Stimmen, die die Gielensche Art, Kontraste und Widersprüche auf die Bühne zu bringen, als einzig angemessene für eine moderne Großstadt wie Frankfurt am Main empfanden.
Weitere wichtige Aufführungen unter Gielens Leitung waren ein Parsifal in der Regie von Ruth Berghaus, Busonis Doktor Faust, Die Soldaten von Bernd Alois Zimmermann und Berlioz’ Oper Die Trojaner.
1982 wurde die Dramaturgie der Frankfurter Oper mit dem Deutschen Kritikerpreis ausgezeichnet.
Bereits 1984 entschied sich Gielen, seinen bis 1987 laufenden Vertrag nicht zu verlängern. Auch Unterschriftslisten und öffentliche Appelle aus allen Teilen der Frankfurter Bürgerschaft konnten ihn nicht umstimmen.
1987 bis heute – Vom Opernbrand zum Opernhaus des Jahres
Nachfolger Gielens wurde 1987 Gary Bertini, der mit dem Operndirektor Peter Dannenberg die Leitung des Hauses übernahm. Der international anerkannte Orchesterleiter war zuvor Chefdirigent des Westdeutschen Rundfunks gewesen und konnte auf etwa 40 Operninszenierungen verweisen, hatte jedoch nie zuvor ein Opernhaus geleitet. Seine erste Inszenierung, Glucks Iphigenie in Aulis, wurde von der Kritik nicht gut aufgenommen.
Kurz nach seinem Amtsantritt am 12. November 1987 brannte das Bühnenhaus der Frankfurter Oper durch Brandstiftung vollkommen ab, während das Zuschauerhaus dank des Eisernen Vorhangs, der bis zur Rotglut erhitzt wurde, nur beschädigt wurde. Man begann umgehend mit dem Wiederaufbau, der in weniger als dreieinhalb Jahren abgeschlossen war. Bertini tat sich mit den notwendigen Provisorien während der Bauzeit schwer. Bereits Anfang 1991 verließ er Frankfurt am Main wieder, nachdem das Orchester ihm in einer geheimen Abstimmung das Vertrauen entzogen hatte. (Peter Dannenberg war bereits 1990 zum Generalintendanten in Kiel berufen worden). Die Oper spielte damals im benachbarten Schauspielhaus, während das Schauspiel in das Bockenheimer Depot auswich. Trotzdem kam es auch unter Bertini zu einer erfolgreichen Uraufführung in Frankfurt am Main, nämlich der Europeras 1&2 von John Cage.
Interims-Dirigent nach dem Ausscheiden Bertinis wurde Hans Drewanz aus Darmstadt, der am 6. April 1991 die wiederaufgebaute und mit erhöhtem Bühnenhaus erweiterte Oper mit einer Aufführung von Mozarts Zauberflöte wiedereröffnete. Hans Peter Doll und Martin Steinhoff übernahmen zunächst kommissarisch die Intendanz der Oper.
Nach intensiver Suche durch die Kulturdezernentin Linda Reisch und den 1991 mit der Geschäftsführenden Intendanz der Oper betrauten Intendanten des Balletts, Martin Steinhoff, konnte endlich in Gestalt von Stephane Lissner und dem Dirigenten Jeffrey Tate eine neue Leitung gefunden werden, die allerdings durch den überraschenden Rücktritt des damaligen Frankfurter Oberbürgermeisters Volker Hauff nicht zustande kam. Nachdem auch der Versuch, den Genfer Intendanten Hugues Gall zum Intendanten zu machen, scheiterte (er übernahm dann die Pariser Oper) konnte Martin Steinhoff nach Rücksprache mit Gerard Mortier den damaligen Chefdirigenten der Brüsseler Oper, Sylvain Cambreling, als Nachfolger gewinnen – allerdings erst ab Herbst 1993. Steinhoff, der gemeinsam mit dem Choreographen William Forsythe dem zuvor unbedeutenden Frankfurter Ballett Weltgeltung verschafft hatte und dessen Leitung beibehielt, teilte die künftige Intendanz der Oper mit Cambreling. Er verantwortete zunächst den Spielplan der Oper allein, was er nach der vorzeitigen Kündigung Cambrelings am 9. Dezember 1996 auch wieder (als Alleinintendant) tun sollte. In der Übergangszeit entstanden u. a. Produktionen wie La traviata mit Axel Corti, der Rosenkavalier mit Ruth Berghaus, die Lady Macbeth von Mzensk mit Werner Schröter und die Meistersinger von Nürnberg mit Christoph Nel. Gastspiele von Peter Sellars, John Adams, Steve Reich, Phil Glass und Robert Wilson konnten den Schaden, der der Oper durch den Brand im Bereich von Repertoire- und Publikumsverlust entstanden war, bald wettmachen.
Die Zusammenarbeit mit Mortier, mit dem Cambreling persönlich verbunden war, ermöglichte eine schnelle Erweiterung des Repertoires durch zahlreiche Übernahmen aus dem Brüsseler Repertoire, wobei insbesondere die dadurch fließenden enormen Geldsummen den ansonsten finanziell nicht gerade rühmlichen Abgang Mortiers in Brüssel zumindest finanziell weniger drastisch werden ließen.
Der Ring des Nibelungen, der z. B. aus Brüssel übernommen worden war, musste mit mehr als 1,5 Millionen DM honoriert werden.
In Cambrelings Zeit fallen zahlreiche bedeutende Inszenierungen von Regisseuren wie Peter Mussbach (Wozzeck, Don Giovanni, Le nozze di Figaro), Herbert Wernicke (Der Ring des Nibelungen) und Christoph Marthaler (Fidelio). 1994 wurde zum zweiten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ein vollständiger Ring des Nibelungen aufgenommen. Unter Cambrelings Leitung wurde die Oper Frankfurt 1995 erstmals zum „Opernhaus des Jahres“ gewählt. Trotzdem fällt in diese Zeit ein wirtschaftlicher Niedergang, der sich in rückläufigen Budgets, Aufführungs- und Zuschauerzahlen äußert. In seiner letzten Spielzeit gab es nur noch etwa 80 Vorstellungen, da Cambreling Musiktheater auf höchstem Niveau machen wollte und seinen Anspruch auch unter dem zunehmenden Sparzwang nicht aufgab. Dies führte zu Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit und den politischen Gremien der Stadt, die auch die Atmosphäre im Opernensemble belasteten.
Cambreling sah sich zusehends isoliert und beendete 1997 seinen Vertrag vorzeitig. Er erhielt deshalb auch keine Abfindungen und Entschädigungen und schied im Frieden mit dem Frankfurter Publikum, das ihm zum Abschied ähnliche Ovationen bereitete wie seinem Vor-Vorgänger Gielen. Die Suche nach einem Nachfolger als Generalmusikdirektor dauerte nur kurze Zeit, da bereits im unmittelbaren Nachgang zu seinem Debüt als Dirigent von Luisa Miller der Intendant Steinhoff den italienischen Dirigenten Paolo Carignani um die Übernahme dieser Position bat. Da Carignani nicht kurzfristig verfügbar war überbrückte Klauspeter Seibel, der Generalmusikdirektor des Kieler Opernhauses, die Vakanz.
Der Schwerpunkt von Martin Steinhoffs künstlerischer Tätigkeit lag in der Förderung internationalen sowie zeitgenössischen Musiktheaters. Neben Uraufführungen wie Adriana Hölszkys Wänden traten Neuproduktionen wie Wolfgang Rihms Die Eroberung von Mexico oder Luciano Berios Un re in ascolto, die Pflege der klassischen Moderne von Paul Hindemith (Cardillac), Hans Werner Henze (Boulevard Solitude) und Benjamin Britten (Peter Grimes). Steinhoffs besonderes Interesse galt dem Experiment und der Innovation, deren Ausdruck die Uraufführung des chinesischen Komponisten Guo Wenjing (Wolf Cub Village), des Schweizer Komponisten Beat Furrer (Die Blinden) oder der Gründung der Konzertreihe „Happy New Ears“ mit dem Ensemble Modernwar, die bis zum heutigen Tag weitergeführt wird. Einen Höhepunkt (neben Gastspielen von Nixon in China und Einstein on the Beach (in den Originalversionen, unter Mitwirkung aller beteiligten Künstler)) bildete der internationale Komponistenwettbewerb, der von Wolfgang Rihm geleitet wurde.
Zahlreiche Opernproduktionen entstanden unter seiner Leitung mit Künstlern wie z. B. Axel Corti, Ruth Berghaus, Erich Wonder, Alfred Kirchner, Michael Sowa, Christoph Nel oder Werner Schröter. Er veranstaltete internationale Festivals, die neben den Ensembles des Royal Ballet, dem Nederlands Dans Theater, dem Wuppertaler Tanztheater oder der Merce Cunningham Dance Company, Künstler wie Pina Bausch, Sylvie Guillem, John Cage, John Adams, Phil Glass, Robert Wilson nach Frankfurt brachten.
Seine ungewöhnlich großen und erfolgreichen internationalen Kongresse dienten der Verbindung von Kunstproduktion und Wissenschaft, so 2000 der Kongress Ästhetik der Inszenierung und 2001 Pathos, Affekt, Gefühl. Steinhoff beendete vorzeitig seine Intendanz im Jahr 2002.
Von 1999 bis 2008 war Paolo Carignani Generalmusikdirektor in Frankfurt am Main. Mit über 60 Neuinszenierungen, darunter auch selten gespielte Werke wie Franz Schuberts Fierrabras und Händels Agrippina, konnte die Frankfurter Oper ihr hohes Niveau trotz jährlich sinkender Budgets halten. In der Saison 2002/2003 wurde die Oper, die seit 2002 von Intendant Bernd Loebe geleitet wird, zum zweiten Mal „Opernhaus des Jahres“. Um die Zahl der Aufführungen hochzuhalten, bemühte sich die Oper um den Aufbau eines leistungsstarken Ensembles und eines umfangreichen Repertoires. Gespart wurde vor allem am Bühnenbild sowie an teuren Gaststars. Ein Teil der Neuproduktionen kam zunächst konzertant auf die Bühne, z. B. Wagners Parsifal; andere entstanden als Koproduktion mit anderen Häusern oder als Übernahmen bestehender Produktionen.
Intendant Bernd Loebe verlängerte im November 2005 seinen Vertrag bis 2013, im September 2009 bis 2015 und im Mai 2014 erneut bis 2023. Zum Nachfolger Carignanis, dessen Vertrag 2008 auslief, wurde im November 2005 Sebastian Weigle ernannt. Er dirigierte in Frankfurt am Main erstmals in der Spielzeit 2002/2003 eine Wiederaufnahme der Oper Salome von Richard Strauss, gefolgt von einer Neuinszenierung der Frau ohne Schatten (Regie: Christof Nel). Für diese Produktion wurde er 2003 von der Zeitschrift Opernwelt zum Dirigenten des Jahres gewählt. In der Spielzeit 2005/2006 leitete er in Frankfurt am Main eine Neuinszenierung von Tschaikowskis Pique Dame.
Nach der Spielzeit 2006/2007 wählte die Zeitschrift Die Deutsche Bühne bei einer Umfrage unter 50 Kritikern die Oper Frankfurt auf Platz 1 unter den deutschen Opernhäusern in der Kategorie Beste Gesamtleistung. Die Kritiker hoben besonders die Inszenierungen von Simon Boccanegra in der Regie von Christof Loy sowie von Alexander von Zemlinskys Opern Eine florentinische Tragödie und Der Zwerg des Regisseurs Udo Samel hervor. Die gleiche Auszeichnung erhielt die Oper Frankfurt für die Spielzeiten 2007/2008, 2009/2010, 2010/11 und 2017/18.
In der Spielzeit 2008/2009 fanden 12 Premieren statt, davon zwei konzertante Aufführungen in der Alten Oper und drei Stücke im Bockenheimer Depot. Sebastian Weigle leitete in seiner ersten Saison die Neuinszenierungen Lear von Aribert Reimann und Arabella von Richard Strauss im Opernhaus. In den Spielzeiten 2009/10 und 2010/11 gab es jeweils 14 Premieren. Die im Mai 2010 mit der Premiere des Rheingold begonnene Neuinszenierung von Wagners Der Ring des Nibelungen unter der Regie von Vera Nemirova und der musikalischen Leitung von Sebastian Weigle wurde im Oktober 2010 mit Die Walküre fortgesetzt. Sie fand in der Spielzeit 2011/12 mit Siegfried und Götterdämmerung ihren Abschluss und wurde 2013/14 und 2015/16 wiederaufgenommen.
Bei den International Opera Awards 2013 erhielt die Oper Frankfurt die Auszeichnung als „Opera Company of the Year“. 2014 verlängerte der Aufsichtsrat der Städtischen Bühnen den Vertrag mit Intendant Bernd Loebe erneut. Er soll die Oper nun bis 2023 leiten. 2015 zeichnete die Fachzeitschrift Opernwelt die Oper Frankfurt – gemeinsam mit dem Nationaltheater Mannheim – zum zweiten Mal in Loebes Amtszeit als „Opernhaus des Jahres“ aus. Für die Spielzeit 2014/2015 erhielt die Oper Frankfurt wiederum die Auszeichnung der Zeitschrift Deutsche Bühne für das beste Theater-Gesamtprogramm.
Ende 2020 verlängerte der Aufsichtsrat den Vertrag mit Bernd Loebe um weitere fünf Jahre. Er bleibt damit bis August 2028 Intendant der Oper Frankfurt. Im Oktober 2021 berief der Aufsichtsrat Thomas Guggeis zum Nachfolger von Sebastian Weigle. Er wird ab der Spielzeit 2023/24 für zunächst fünf Jahre Generalmusikdirektor und Leiter der Museumskonzerte.
Sanierung oder Neubau der Doppelanlage
Schon seit einigen Jahren ist bekannt, dass die von Schauspiel und Oper gemeinsam genutzten Städtischen Bühnen am Willy-Brandt-Platz sanierungsbedürftig sind. Im Juni 2017 wurde der Öffentlichkeit eine Bestandsaufnahme und eine Machbarkeitsstudie präsentiert. Das Gutachten hat einen zu erwartenden Kostenaufwand von rund 800 Millionen Euro ermittelt. Da ein Neubau nur unwesentlich mehr kosten würde, debattierten Politik und Stadtgesellschaft nun lebhaft über die Zukunft der Theatergebäude. 2018 richtete die Stadt eine Stabsstelle „Zukunft der Städtischen Bühnen“ unter Leitung von Michael Guntersdorf ein, der zuvor das Dom-Römer-Projekt geleitet hatte.
Im Januar 2020 beschloss die Stadtverordnetenversammlung, eine Sanierung der Theaterdoppelanlage nicht weiterzuverfolgen. Derzeit werden drei Optionen untersucht: Bevorzugte Variante ist die Kulturmeile, die den Bau eines neuen Opernhauses auf einem Grundstück zwischen Neue Mainzer Straße und Taunusanlage vorsieht; das Schauspiel würde einen Neubau auf dem bisherigen Grundstück erhalten. Die Investitionskosten dieser Variante werden auf 811 Millionen Euro geschätzt, wozu allerdings die Kosten für den Erwerb des Grundstücks kämen. Falls sich die Kulturmeile in Verhandlungen mit dem Grundstückseigentümer nicht realisieren ließe, kommt die Variante Spiegelung in Frage. Dabei erhält das Schauspiel einen Neubau in den Wallanlagen vis-à-vis zur bisherigen Doppelanlage, während ein neues Opernhaus auf dem Grundstück des heutigen Schauspiels entsteht. Die Kosten für diese Variante werden auf 860 Millionen Euro geschätzt. Die Variante Spiegelung erfordert ein aufwendiges Interim für die Oper, außerdem lässt sich der Verlust an Grünflächen in den durch die Wallservitut geschützten Grünanlagen nicht vollständig kompensieren. Als dritte Variante wird der Neubau einer Doppelanlage am bisherigen Standort vorgeschlagen. Dabei müssen die Werkstätten aus Platzgründen an einen anderen Standort verlegt werden, zudem sind zwei Ausweichspielstätten erforderlich. Die Kosten betragen fast 900 Millionen Euro.
Wirtschaftliche Situation der Oper Frankfurt
Die Oper Frankfurt verfügt derzeit über 1.369 Sitzplätze. Die Zahl der Aufführungen (reine Opernaufführungen auf der Bühne des Opernhauses und des Bockenheimer Depots) liegt seit Jahren zumeist bei ca. 170 bis 180 pro Saison. Die Auslastung ist seit 2002 von durchschnittlich 70 auf über 80 Prozent gestiegen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Aufführungszahlen nach einem Tiefpunkt Mitte der neunziger Jahre wieder gestiegen sind, obwohl der städtische Zuschuss zum Budget der Städtischen Bühnen in den Jahren 2002 bis 2006 um über 11 Millionen Euro gekürzt wurde.
Aufwendungen und Erträge werden im Produkthaushalt der Stadt Frankfurt nur für die Städtische Bühnen Frankfurt GmbH ausgewiesen, nicht nach den Sparten Oper und Schauspiel und den unterschiedlichen Spielstätten getrennt. Laut Jahresergebnis für die Spielzeit 2015/2016 betrugen die Umsatzerlöse € 12.580.000 Euro, sonst. Erträge € 4.058.000, Zuschuss des Landes Hessen € 767.000, so dass sich ein städtischer Zuschuss von knapp 68 Millionen Euro ergab.
Die Zahl der Abonnenten ist seit der Intendanz von Intendant Bernd Loebe auf über 12.000 gestiegen.
Entwicklung der Aufführungs- und Besucherzahlen
Die Statistik erfasst Aufführungen auf der Opernbühne, ohne Aufführungen in den Foyers, im Chagallsaal und im Bockenheimer Depot. Die Aufführungszahlen schwanken, je nach Länge der Saison – die von den hessischen Sommerferien abhängt – und der Anzahl der Neuproduktionen und Wiedereinstudierungen mit entsprechendem Probenbedarf.
Künstlerische Leiter der Oper Frankfurt
Die folgende Tabelle fasst die künstlerische Leitung der Oper Frankfurt seit 1880 zusammen:
Ur- und Erstaufführungen an der Oper
Im Laufe der Zeit erlebten zahlreiche Werke ihre Uraufführung oder deutsche Erstaufführung an der Oper Frankfurt. Die folgende Tabelle enthält eine vollständige Übersicht der zwischen 1880 und 1944 erstaufgeführten Inszenierungen sowie der Uraufführungen aus jüngster Zeit. Bei deutschen Erstaufführungen ist angegeben, wann und wo die Uraufführung stattfand.
Unter den Uraufführungen sind nur wenige, die den Sprung in das Repertoire geschafft haben. Einige Werke, darunter vor allem die Carmina Burana und aus jüngerer Zeit die Werke von Nono und Cage, werden jedoch bis heute gespielt.
Auszeichnungen
2013: International Opera Award in der Kategorie Opera Company
1995/1996 Opernhaus des Jahres – Kritikerumfrage opernwelt
2002/2003 Opernhaus des Jahres – Kritikerumfrage opernwelt
2014/2015 Opernhaus des Jahres – Kritikerumfrage opernwelt
2017/2018 Opernhaus des Jahres – Kritikerumfrage opernwelt
2019/2020 Opernhaus des Jahres – Kritikerumfrage opernwelt
2021/2022 Opernhaus des Jahres – Kritikerumfrage opernwelt
Literatur
Paul Bartholomäi: Das Frankfurter Museums-Orchester – zwei Jahrhunderte Musik für Frankfurt, C. F. Peters, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-87626-224-0.
Hilmar Hoffmann: Frankfurts Stardirigenten, Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-7973-1069-9.
Albert Richard Mohr: Das Frankfurter Opernhaus 1880–1980. Kramer, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-7829-0232-7.
Stadtverwaltung Frankfurt am Main (Hrsg.): 1945–65 Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1965.
Stadtverwaltung Frankfurt am Main (Hrsg.): 1965–68 Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1969.
Martin Steinhoff (Hrsg.), Brigitta Mazanec (Autor), Michael Hoffmeyer (Designer): Aufbrüche: Oper Frankfurt 1987–2002. Oper Frankfurt, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-00-009479-2, S. 83 ff.
Otto Bacher: Die Geschichte der Frankfurter Oper im 18. Jahrhundert. Englert und Schlosser, Frankfurt/M. 1926, .
Quellen
Weblinks
Website der Oper Frankfurt
Website Städtische Bühnen Frankfurt
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten an den Städtischen Bühnen 1933
Informationen zu Architektur und Ausstattung des Gebäudes sowie zur Neubaudebatte: http://zukunft-buehnen-frankfurt.de/
Theatername (Frankfurt am Main)
Theatergebäude in Hessen
Frankfurt #Oper
Veranstaltungsstätte in Frankfurt am Main
Musik (Frankfurt am Main) |
1354583 | https://de.wikipedia.org/wiki/Kloster%20Oelinghausen | Kloster Oelinghausen | Das Kloster Oelinghausen im Arnsberger Ortsteil Holzen wurde um 1174 zunächst als Doppelkloster gegründet, ehe es sich zu einem reinen Prämonstratenserinnenkloster entwickelte. Im 17. Jahrhundert erfolgte die Umwandlung in ein weltliches Damenstift, ehe es nach einigen Jahrzehnten erneut zum Prämonstratenserorden kam. Das Kloster wurde im Zuge der Säkularisation im Jahr 1804 aufgehoben.
Die den hll. Petrus und der Maria geweihte Klosterkirche ist seitdem Pfarrkirche. Die weitgehend gotische Kirche stammt im Wesentlichen aus dem 14. Jahrhundert. Der Innenraum wurde im 18. Jahrhundert einheitlich im barocken Stil umgestaltet. Zu den bemerkenswerten Ausstattungsstücken gehören die sogenannte Kölsche Madonna aus den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts sowie die Orgel, die in Teilen noch aus dem 16. Jahrhundert stammt.
Seit 1992 wird das restaurierte Klostergebäude von Schwestern der hl. Maria Magdalena Postel bewohnt. Seit einigen Jahren besteht ein Klostergartenmuseum. Das Kloster und der zugehörige Gutshof liegen in einem überwiegend land- und forstwirtschaftlich genutzten Gebiet deutlich entfernt von den nächsten geschlossenen Ortschaften Herdringen und Holzen. Das Kloster liegt im Landschaftsschutzgebiet Oelinghausen.
Historische Entwicklung
Gründungszeit
Gestiftet wurde das Kloster 1174 nach der bislang gängigen Darstellung von Siegenand von Basthusen, einem Ministerialen in Diensten des Kölner Erzbischofs, und seiner Frau Hathewigis. Dazu übertrugen die Stifter dem Kloster Güter in Oelinghausen und Bachum. Einige Jahre später bedachte der Gründer das Kloster erneut und übertrug die Vogtei des Klosters einem Grafen Reiner von Freusburg. Nach seinem Tod wurde der Stifter in der Klosterkirche beigesetzt.
An dieser Darstellung der Gründungsgeschichte meldete der Archivar und Historiker Manfred Wolf jüngst Zweifel an. Demnach seien die von Siegenand von Basthusen gestifteten Güter zu klein gewesen, um eine Klostergemeinschaft zu erhalten. Folgt man Wolf, handelte es sich lediglich um eine Zustiftung. Die eigentliche Gründung müsste danach vorher in einer Zeit zwischen 1152 und 1174 stattgefunden haben. Als Grundausstattung nimmt Wolf den Oberhof Oelinghausen an, der unter anderem über die Grafen von Northeim an Heinrich den Löwen gekommen war und den dieser dem Kloster Scheda übereignete. Scheda habe danach Oelinghausen als Tochterkloster gegründet. Dabei lebten zunächst nur männliche Ordensangehörige in Oelinghausen, bis später auch Nonnen hinzu kamen.
Auch dies widerspricht der bisher gängigen Darstellung, nach der zunächst Frauen in Oelinghausen lebten, bis sich ein Doppelkloster herausbildete. Dabei lebten Chorherren und -frauen räumlich getrennt in einem Gebäudekomplex zusammen. Nach der Historikerin Edeltraud Klueting sei Oelinghausen anfangs eine Einrichtung für Frauen gewesen, für die das Kloster Scheda bei Wickede die seelsorgerische Betreuung übernahm. Erst nach einer gewissen Konsolidierungsphase lässt sich in den Quellen der Nachweis für einen Doppelkonvent greifen. Diese Lebensform war für die frühe Ordensgeschichte nicht ungewöhnlich, bis das Generalkapitel des Prämonstratenserordens 1188 die Trennung von Männer- und Frauenklöstern beschloss. Unklar ist jedoch, wann in Oelinghausen und anderen Klöstern die Einrichtung als Doppelkloster endete, in Oelinghausen nicht vor dem frühen 13. Jahrhundert. Nachweisbar ist sie noch für 1194, aber auch 1238 ist noch von „fratrum et sororum“ die Rede.
Oelinghausen war nicht unabhängig, sondern unterstand anfangs dem Abt des Klosters Scheda und ab 1228 der Paternität des Klosters Wedinghausen bei Arnsberg. Im Gegensatz zum Kloster Rumbeck konnte es die freie Wahl des Propstes bewahren. Klueting vermutet, dass der Wechsel der Paternität mit dem Ende des Doppelklostercharakters einherging. Aber statt eines klaren Bruches hat es wohl eine Übergangszeit gegeben, die bis ins vierte Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts andauerte.
Bedeutungsgewinn und Aufschwung
Das Kloster wurde durch die Kölner Erzbischöfe gefördert. Philipp von Heinsberg bestätigte 1174 die Gründung, befreite es 1179 von der Zugehörigkeit zur Pfarrei Hüsten und schenkte ihm einen Zehnten. Adolf I. befreite es nach 1194 von der Archidiakonatsgerichtsbarkeit. Er schenkte dem Kloster zudem einen Wald und bestätigte die bisherigen Rechte und Besitzungen. Bruno IV. befreite es 1208 von der Vogtei durch Adelsfamilien. Engelbert von Berg stiftete das Gnadenbild der thronenden Madonna. Auch vermittelte er dem Kloster wohl die Bestätigung der Gründung durch Papst Honorius III. von 1225. Darin heißt es, dass er „Prior und Konvent Oelinghausen beziehungsweise den Ort und die sich dort dem Gottesdienst widmenden Menschen mit allen Gütern unter den Schutz von St. Peter und Paul und von sich“ nehme. Er bestätigt auch alle bereits vom Kölner Erzbischof verliehenen Freiheiten.
Nach dem Vorbild der Erzbischöfe beschenkten auch zahlreiche Adelige und Ministeriale das Kloster. Darunter war schon 1184 Simon von Tecklenburg. Anfang des 13. Jahrhunderts folgten Adolf I. von Dassel und Hermann II. von Ravensberg.
An erster Stelle der Förderer standen aber bis zum Ende ihrer Herrschaft die Grafen von Arnsberg. Als erster aus dem Grafenhaus trat Gottfried II. 1204 auf. Er schlichtete auch Konflikte zwischen dem Kloster und den Markgenossen aus Herdringen. Dem Vorbild des hohen Adels folgten zahlreiche weitere Stifter. So schenkten Conradus von Allagen und dessen Erben 1194 dem Kloster ihr Eigengut bei Allagen für ihr Seelenheil. Lambert, Dompropst in Paderborn, überließ 1207/1212 seine Güter bei Neheim dem Kloster. Trotz der Befreiung von der Vogteigewalt nahmen die Grafen von Arnsberg erheblichen Einfluss auch auf das Leben des Konvents. So gelang es, einen unliebsamen Propst abzusetzen. Als Hauptgönner setzten die Grafen Wohlverhalten voraus. Sie gelangten im Laufe der Zeit zu einer vogtähnlichen Stellung.
Dem ersten namentlich bekannten Propst Radolf gelang es 1232, die Einkünfte aus der Pfarrstelle in Altenrüthen mit dem Propstamt in Oelinghausen zu verbinden, was über Jahrzehnte zum Streit mit dem Kloster Grafschaft führte. Im 15. Jahrhundert kamen die Rechte wieder an Grafschaft. In die Zeit des Propstes Radolf fiel auch die Übertragung des Patronatsrechts an der Kapelle in Hachen an das Kloster Oelinghausen durch Gottfried II. von Arnsberg.
Im 14. Jahrhundert kam es zur Gebetsverbrüderung mit zahlreichen anderen Klöstern und Stiften. Diese bestanden nachweislich mit den Klöstern Varlar, Siegburg, St. Alban in Trier und Altenberg. Spätestens seit Mitte des 14. Jahrhunderts bestand in Oelinghausen eine Bruderschaft (Fraternität) in die auch Stifter und Wohltäter des Klosters aufgenommen wurden. Dazu zählten Angehörige der Familie der Grafen von Arnsberg, adelige Gönner aber auch einfache Klosterbauern. Bei den Adeligen und entfernt lebenden Gönnern war die Mitgliedschaft eher nominell und sie beteiligten sich kaum am religiösen Leben der Bruderschaft. Die Bruderschaft St. Johannes Evangelist hatte in der Kirche einen eigenen Bruderschaftsaltar. Sie verfügte über eigenen Besitz und spielte eine wichtige Rolle etwa für die Finanzierung des Hospitals. Die Bruderschaft verlor im 17. Jahrhundert an Bedeutung.
Neben dem Chorgebet erfüllte das Kloster weitere Aufgaben. So existierten ein Armenhaus und ein Hospital, die etwa im 13. Jahrhundert eigene Einkünfte erhielten. Das Hospital bestand noch am Ende des 15. Jahrhunderts.
Krise in Spätmittelalter und Früher Neuzeit
Noch 1391 lobte der Kölner Erzbischof das Kloster dafür, dass es den Gottesdiensten wachsamer als andere nachkommen würde. Gleichzeitig wurden aber auch erhebliche materielle Probleme deutlich. Der Erzbischof erließ Oelinghausen die offenbar stark belastende Aufzucht von Jagdhunden. Gleichzeitig beklagte er, dass immer mehr abhängige Bauern in die Städte und Freiheiten zogen. Durch diesen „Diebstahl“ der Person würde dem Kloster großer Schaden zugefügt. Der Erzbischof und Landesherr des Herzogtums Westfalen verbot den Städten in seinem Machtbereich die Aufnahme dieser Flüchtlinge. Die Erteilung des Bürgerrechtes erklärte er für unzulässig. Die Betroffenen sollten eine hohe Strafe zahlen und gefesselt ins Kloster zurückgeführt werden.
Weitere desintegrierende Momente kamen hinzu. Es gab deutliche Tendenzen zur Bildung von Sondervermögen und zur Lockerung der Klausurvorschriften. Stark getroffen wurde das Kloster Anfang des 15. Jahrhunderts von der Pest, durch die ein Großteil der Nonnen umkam. Die Notwendigkeit, zahlreiche junge Schwestern aufzunehmen, nutzte Erzbischof Dietrich II. von Moers, um auf die Notwendigkeit der Beachtung der Klausurvorschriften zu dringen. „Die jungen Mädchen, die im Kloster Oelinghausen das Ordenskleid angenommen haben, um Gott zu dienen, sollen nicht durch häufigen und unnützen Umgang mit weltlichen Personen abgelenkt werden. Der Erzbischof schreibt allen bindend vor, die Klausur des Klosters so gewissenhaft zu beachten“ und niemanden zum Inneren der Klausur zuzulassen. Letztlich blieb dies aber vergeblich. Aus dem 15. Jahrhundert wird sogar von einem Gasthaus berichtet, das ein Konventuale aus Wedinghausen betrieb.
Die Soester Fehde in den Jahren 1444 bis 1449 brachte erhebliche wirtschaftliche Belastungen mit sich. Propst Heinrich von Rhemen führte in seiner Amtszeit 1483 bis 1505 anstelle der bisherigen Kleidung den üblichen Habit der Prämonstratenserinnen ein. Allerdings gelang es nicht, die Bildung von Einzelhaushalten zu verhindern. Um Zuwendungen von außen nicht ganz abzuschneiden, wurde der Zustand 1491 vom Generalabt gedeckt. Dieser erlaubte im Gegensatz zu den Ordensstatuten, dass die Familien den Nonnen weltliche Güter für deren eigene Bedürfnisse übertragen durften. Auf diese Weise war eine weitere Lockerung der Lebensweise nicht zu verhindern. Außerdem mangelte es an Priestern, die den Propst bei seinen gottesdienstlichen Verpflichtungen unterstützten. Selbst das Generalkapitel der Äbte mahnte an, mehr Kapläne oder Kanoniker heranzuziehen. Propst Gottfried von Ulfte gab vor diesem Hintergrund 1539 sein Amt auf, das daraufhin für ein Jahrzehnt unbesetzt blieb. Auch später konnte ein geordneter Gottesdienst nicht gewährleistet werden.
1548 visitierte Erzbischof Adolf III. von Schaumburg Kloster Oelinghausen. Die Priorin, eine leibliche Schwester des Landdrosten Henning von Böckenförde gen. Schüngel, gab zu, dass die Regel nur noch teilweise eingehalten werde und das Hauptproblem das Leben in den Einzelhäusern sei. Anhängerinnen der lutherischen Lehre dagegen gebe es nicht. Trotz einiger kleinerer Maßnahmen, um das Einhalten der Ordensregel wieder durchzusetzen, wurden die Einzelwohnungen nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Das Leben in Oelinghausen ähnelte immer mehr dem in einem weltlichen Damenstift.
1583 besetzten Truppen des dem Protestantismus anhängenden Kölner Erzbischofs Gebhard Truchsess das Kloster. Dieser ließ einen weltlichen Verwalter einsetzen und lutherische Prädikanten versuchten vergeblich, die Ordensfrauen zum Konfessionswechsel zu veranlassen. Die meisten Frauen verließen das Kloster und flohen zu ihren Familien. Nach Gebhards Niederlage kehrten die Frauen zurück. Das Kloster war in der Zeit der Besetzung ausgeplündert worden, was die bereits zuvor bestehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten noch verstärkte. Unter der Leitung von Kaspar von Fürstenberg hatte eine Gruppe verwandter Adeliger neue Konstitutionen für das Kloster entworfen. Danach sollte die Stelle des Propstes wegfallen und die alleinige Leitung in den Händen der Priorin liegen. Fürstenberg setzte auch die Wahl seiner Schwester Ottilia von Fürstenberg (1585–1621) durch.
Wiederaufschwung und Umwandlung in ein Damenstift
Bereits in der zurückliegenden Zeit war Kloster Oelinghausen zum bevorzugten Wohnort der Mutter Ottilias von Fürstenberg und entgegen der Konstitutionen zu einer Art Familienmittelpunkt geworden. Die Brüder Kaspar von Fürstenberg und Bischof Dietrich von Fürstenberg trugen stark dazu bei, dass Oelinghausen wirtschaftlich gesunden konnte. Allein Dietrich schenkte Oelinghausen im Gedenken an die Mutter 4334 Taler in Form einer Memorien- und Sakramentsstiftung. Insgesamt stiftete er 10.000 Taler. In der Folge konnte das Abteigebäude neu erbaut und die Propstei wieder hergestellt werden. Ottilia gelang es, Streitigkeiten um Besitz beizulegen und verlorene Güter wiederzugewinnen. Die Schulden von 20.000 Talern wurden abgetragen, und es konnte sogar ein Überschuss von 13.000 Talern zurückgelegt werden. Für den Wohlstand des Klosters spricht, dass es, wie es in einem Visitationsprotokoll heißt, den Erzbischof von Köln und den Bischof von Paderborn gleichzeitig bewirtete. In diese Zeit fielen allerdings auch Überfälle von Landsknechten aus den Niederlanden, die den Konvent zur zeitweisen Flucht zwangen. Hinzu kamen zwei Pestausbrüche.
Das Ziel Ottilias von Fürstenberg, die auch Äbtissin des Stifts Heerse war, war die Umwandlung von Oelinghausen in ein Damenstift. Begünstigt wurde diese Politik durch die innere Schwäche von Wedinghausen. Erst seit der Wahl des Abtes Gottfried Reichmann kam es ab 1613 zum offenen Konflikt. Letzterem ging es darum, Oelinghausen wieder fest in den Prämonstratenserorden zu integrieren. Ein Großteil des Adels des Herzogtums Westfalen mit den Fürstenbergern an der Spitze stand dagegen auf Seiten von Ottilia von Fürstenberg. Dietrich von Fürstenberg erbat daher von Papst Paul V. 1616 die Erlaubnis zur Umwandlung des Klosters in ein Damenstift. Eine Untersuchung erbrachte, dass von monastischem Leben ohnehin keine Rede mehr sein konnte. Danach gab es keine klösterliche Gewohnheit („nulla regularis vigeat observantia“). Die Jungfrauen lebten ohne Klausur, ohne Ablegung von Gelübden und hätten das Ordensgewand abgelegt. Daraufhin löste der Papst 1617 Oelinghausen aus dem Prämonstratenserorden.; ein Jahr später wurde es in ein Damenstift umgewandelt. Eine neue Ordnung trennte Abtei- und Kapitelvermögen ab und bestimmte, dass außer der Äbtissin, wie die Vorsteherin nun genannt wurde, zwanzig Stiftsdamen dort leben sollten. Auch nach dem Tod Ottilias von Fürstenberg führten ihre Nachfolgerinnen den eingeschlagenen Kurs fort.
Rückkehr zum Prämonstratenserorden
Während des Dreißigjährigen Krieges mussten die Stiftsdamen wiederholt Oelinghausen verlassen. Die Prämonstratenser, die die Trennung von Oelinghausen vom Orden nicht anerkannten, setzten sich dafür ein, es zurückzubekommen. Wedinghausen hatte die Verantwortung für Oelinghausen vorübergehend an das Kloster Knechtsteden abgegeben. Dessen Abt führte einen dreizehn Jahre andauernden Prozess durch drei Instanzen. Letztlich entschied der Nuntius Fabio Chigi, der spätere Papst Alexander VII., gegen ein Stift. Die Stiftsdamen waren indes nicht bereit, sich ihm zu beugen. Daher überfiel der Wedinghauser Abt Reichmann 1641 das Stift und besetzte es. Daraufhin mussten die Stiftsdamen gegen eine Abfindung Oelinghausen verlassen.
Das Kloster wurde anfangs von Chorfrauen aus dem Kloster Rumbeck neu bezogen. Es kam wieder zur Wahl eines Propstes, der fortan stets aus Wedinghausen kam. Den Neuanfang erschwerten die Kriegsschäden. Erst Ende des 17. Jahrhunderts war die finanzielle Lage wieder einigermaßen gefestigt, so dass unter Propst Nikolaus Engel ein neues Propsteigebäude errichtet werden konnte. Unter Propst Theodor Sauter, der von 1704 bis 1732 amtierte, wurde ein neues Konventsgebäude errichtet, das Kircheninnere prachtvoll ausgestattet und ein Erweiterungsumbau der Orgel durchgeführt. Der Propst hinterließ eine Klosterchronik. In Hinsicht auf die Einhaltung der Konstitutionen zeigten sich die Visitatoren zufrieden.
Ende und Folgenutzung
In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts gefährdete das Vordringen der katholischen Aufklärung im Herzogtum Westfalen und im Erzstift Köln den Bestand des Klosters. Der Wedinghauser Konventuale Friedrich Georg Pape hatte einige Chorfrauen veranlasst, sich über die autoritäre Führung des Propstes zu beschweren und eine Visitation zu beantragen. Mit der Untersuchung wurde der geistliche Rat Maria Balduin Neesen beauftragt, der der Aufklärung verpflichtet und der klösterlichen Lebensform gegenüber kritisch eingestellt war. Er sprach von einem „Mönchsdespotismus“ und kritisierte einzelne Angehörige der Gemeinschaft und die Geistlichen hart. Sowohl die Priorin wie auch die Kellermeisterin mussten ihre Ämter abgeben. Der Propst wurde 1789 seines Amtes enthoben. Neesen plädierte zwar vergeblich dafür, das Kloster in eine Versorgungsanstalt für bürgerliche und adlige Frauen umzuwandeln, die Gemeinschaft aber blieb innerlich zerrissen. Vor allem jüngere Chorfrauen, geprägt von den Ideen der Freiheit und Gleichheit, verweigerten der Priorin den Gehorsam.
1804 kam es im Zuge der Säkularisation nach dem Übergang des Herzogtums Westfalen an Hessen-Darmstadt zur Aufhebung des Klosters. Das Klostergut wurde zunächst verpachtet und 1828 vom Freiherrn von Fürstenberg aus Herdringen gekauft. Bereits 1806 wurde auf Basis von fürstenbergischen Stiftungen aus der frühen Neuzeit ein Kuratbenefizium eingerichtet. Dessen erster Inhaber und Vikar war der letzte Klostergeistliche Johann von Nagel. 1904 entstand die eigenständige Pfarrei St. Petri Oelinghausen. Heute gehört die Gemeinde zusammen mit St. Antonius und St. Vitus Herdringen sowie Heilig Geist Hüsten zum Pastoralverbund Kloster Oelinghausen.
Von 1956 an lebten in Oelinghausen für einige Zeit Mariannhiller Missionare. Seit 1992 wird das restaurierte Klostergebäude von Schwestern der hl. Maria Magdalena Postel bewohnt. Im alten Stallgebäude existiert seit 2005 ein vom Freundeskreis Kloster Oelinghausen e. V. betriebenes Klostergartenmuseum. Der Verein organisiert auch Führungen durch die Kirche und die Klosteranlage. Seit mehr als vierzig Jahren finden in der Klosterkirche regelmäßig Konzerte in der Reihe „musica sacra“ statt. Die barocken Apostelfiguren waren im März 2014 Denkmal des Monats in Westfalen-Lippe.
Strukturen
Besitzungen
Das Kloster wurde nach der Gründung zunehmend wohlhabend und konnte bereits im 13. Jahrhundert Zehnten und Höfe kaufen. Bruno Abt von Deutz übertrug 1220 dem Kloster Oelinghausen die Villikationen der Haupthöfe Linne (Kirchlinde) und Ruggingshausen und legte die zu leistenden Abgaben fest. Um diese gab es in den kommenden Jahrhunderten immer wieder Streit. Insgesamt spielte Einkommen aus Villikationen nur eine geringe Rolle. Spätestens um 1300 dominierte die Verpachtung. Von unwirtschaftlichen Besitzungen, wie Anteilen an Weinbergen bei Remagen, trennte sich die Gemeinschaft aber auch wieder, wahrscheinlich wegen der hohen Transportkosten. Das Kloster bezog 1245 immerhin 5000 bis 6000 Liter Wein pro Jahr. Nur einen Teil verbrauchte es selbst, der Rest wurde verkauft. Nach Aufstellungen aus dem Jahr 1280 besaß Oelinghausen Besitzungen und Einkünfte in den Kirchspielen Enkhausen, Hüsten, Menden, in den Pfarreien Balve, Schönholthausen und Voßwinkel, in der Stadt und dem Amt Werl, im Gericht Körbecke sowie in der Stadt und Umgebung von Soest. Hinzu kamen Besitzungen am Hellweg bis nach Altenrüthen. Im Osten reichte der Besitz bis nach Horn und Mellrich. Zur Verwaltung des Besitzes gab es einige Vogteien des Klosters, beispielsweise eine auf dem Haupthof in Kirchlinde, die 1223 erwähnt wurde, und weitere in Dreisborn und Sümmern. Stadtvogteien gab es in Werl und Soest, vielleicht auch in Menden. Später wurden die Beauftragten zur Einziehung von Abgaben „Rezeptoren“ genannt. Solche gab es bei der Auflösung des Klosters 1804 in Werl, Neheim, Menden, Soest und Oestereiden. Neben Zehnten und anderen Gerechtsamen verfügte Oelinghausen in dieser Zeit noch über 130 Bauerngüter.
Eigenwirtschaft
Dem Kloster gelang es, alle Höfe im Umland in sein Eigentum zu überführen. Daraus ging eine bedeutende Eigenwirtschaft hervor. Organisiert wurde diese zunächst in Form des Grangien- oder Curiensystems. Vom Klosterhof wurden die Schultenhöfe in Stiepel, Mimberge und Holzen bewirtschaftet. Neben der Land- und Forstwirtschaft gehörten dazu von Konversen betriebene Werkstätten. Zu deren Berufen gehörten Weber, Kürschner, Schuhmacher, Bauhandwerker und Schmiede. Im 14. Jahrhundert nahm die Zahl der Konversen ab. Dies führte zur Aufgabe der Grangienwirtschaft. Mit Ausnahme des eigentlichen Klosterguts wurden alle Besitzungen verpachtet. Im 18. Jahrhundert gehörten dazu 650 Morgen (etwas mehr als 160 ha) landwirtschaftlich nutzbare Fläche und noch einmal 3000 Morgen Wald mit insgesamt dreißig weltlichen Beschäftigten. An Baulichkeiten bestanden Kirche, Klostergebäude, Kapelle und Wohnungen für zwei Priester. Hinzu kamen Knechte- und Mägdehaus, Brau- und Backhaus, Ställe, Gartenhäuschen, Scheune, Mahl- und Schneidemühle sowie eine Aschen- und eine Ziegelhütte. In Oestereiden kamen Scheune und Kornspeicher, in Soest ein Rezepturhaus und in Hachen und Kirchlinde die Kapellen hinzu.
Die Eigenwirtschaft umfasste zur Zeit der Aufhebung zudem 17 Morgen Gemüse- und Obstgärten sowie 11 Morgen Fischteiche. Insgesamt besaß Oelinghausen 24 Fischteiche, in denen vornehmlich Karpfen gezüchtet wurden. Daneben wurde in Bächen und Flüssen der Umgebung Fischerei betrieben. Der Eigenbedarf war hoch. Dafür wurde Anfang des 17. Jahrhunderts Hering und Stockfisch in erheblichem Umfang zugekauft. Ein erheblicher Teil des Eigenfangs wurde vermarktet. Neben Getreide und anderen Ackerpflanzen wurde auch Hopfen angebaut. Das Kloster besaß 97 Stück Rindvieh, 78 Schweine und 260 Schafe. Auf eine große Ziegenherde musste das Kloster auf kurfürstliche Anweisung 1726 verzichten. Den Ertrag der Eigenwirtschaft versuchte Oelinghausen durch Köhler, die Einrichtung einer Ziegelbrennerei, einer Kornbrennerei und ähnlichem zu steigern.
Zu den ältesten gewerblichen Betrieben im Bereich des Klosters gehören Mühlen. Wahrscheinlich gab es eine Mühle bereits bei der Gründung. Nachgewiesen ist die Schenkung einer Mühle bei Werl 1203 durch Gottfried II. Am Bieberbach erbaute das Kloster eine Bannmühle. Sie wurden anfangs von Konversen betrieben. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts wurde die Mühle verpachtet. Neben der Getreidemühle betrieb das Kloster eine Säge- und eine Ölmühle.
Erst jüngst konnte nachgewiesen werden, dass es wohl im Mittelalter und in der frühen Neuzeit auch Bergbau und Verhüttungstätigkeit gab. Darauf weisen Pingen und Schürfstellen sowie eine archäologisch nachgewiesene Verhüttungsanlage in Form eines Stückofens hin. In der unmittelbaren Nähe des Ofens wurden Keramikreste gefunden, die auf die Zeit zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert datiert werden.
Den Hof in Soest übernahm das Kloster nach der Soester Fehde vom Stift St. Walburgis. Für das Kloster Oelinghausen war das Steinhaus, das über eine eigene Kapelle verfügte, nicht nur der Mittelpunkt der Verwaltung des Klosterbesitzes um Soest, von Vorteil war auch die Anbindung an den städtischen Markt. Von dort aus konnten die für das Kloster nötigen Waren erworben und die produzierten verkauft werden. Das Haus diente dabei als Zwischenlager. Insgesamt werden die Einnahmen auf über 18.000 Taler pro Jahr geschätzt. Hinzu kam ein Aktivkapital von 16.000 Talern. Dies machte Oelinghausen zum wohlhabendsten Frauenkloster im Herzogtum Westfalen.
Konvent
Der Konvent galt als vornehmer als der in Rumbeck. Die Chorfrauen kamen daher in den ersten Jahrhunderten auch aus bedeutenden Adelsfamilien. Unter ihnen war die Schwester des Erzbischofs Engelbert von Berg oder Irmgard von Arnsberg, die Schwester Gottfrieds III. Eine ganze Reihe weiblicher Angehöriger der Familie der Grafen von Arnsberg waren bis ins 14. Jahrhundert hinein Chorfrauen in Oelinghausen. Auch Angehörige aus den hochadligen Häusern Tecklenburg, Waldeck, Dassel, zur Lippe oder Limburg gehörten dem Konvent an.
Mit dem Ende des Arnsberger Grafenhauses im 14. Jahrhundert verlor Oelinghausen seinen vornehmen Ruf. An die Stelle der hochadligen Damen traten Angehörige des niederen Adels, etwa aus den Geschlechtern Plettenberg, Böckenförde genannt Schüngel, Fürstenberg, Vogt von Elspe, Hanxleden, Schade oder Wrede. Auch aus dem Patriziat der Stadt Soest kamen mehrere der Chorfrauen. Die Zahl an Eintritten war offenbar noch zu Anfang des 16. Jahrhunderts beachtlich. Visitatoren des Ordens stellten 1517 fest, dass Oelinghausen so viele Novizinnen aufgenommen habe, dass diese von den Einkünften des Klosters kaum versorgt werden konnten.
Zur Gemeinschaft gehörten zumindest in den letzten dreihundert Jahren des Bestehens auch nichtadlige Laienschwestern, die für körperliche Arbeiten zuständig waren. Hinzu kamen männliche Konversen. Diese waren unter einem Kellner unter anderem zuständig für die Verwaltung des umfangreichen Besitzes. Auch grobe Arbeiten wurden zeitweise von Konversen verrichtet. Seit dem 16. Jahrhundert sind zudem Präbendare meist aus Bauernfamilien bezeugt, die insbesondere handwerkliche Arbeiten verrichteten.
Ein Merkmal der Prämonstratenserinnenklöster war, dass an der Spitze des Konvents nicht unbeschränkt eine Äbtissin als Leiterin stand, sondern aus der Zeit als Doppelkloster her spielte der Propst eine zentrale Rolle. Dieser war sowohl für die geistliche Leitung als auch für die Verwaltung der Güter zuständig. Nur bei Verträgen, die die Substanz des Besitzes betrafen, musste er die Zustimmung des Konvents einholen. Auch die Pröpste wurden vornehmlich aus adligen Prämonstratenserklöstern wie Scheda oder Kloster Cappenberg gewählt. Seitdem in Wedinghausen seit dem 15. Jahrhundert vermehrt auch nichtadlige Kanoniker lebten, kam keiner der Pröpste mehr von dort.
Die an der Spitze des Konvents stehende Priorin war für die inneren Angelegenheiten der Gemeinschaft zuständig. Weitere höhere Klosterämter waren das der Subpriorin und der Kellermeisterin. Hinzu kamen Ämter wie das der Küsterin und der Zeugmeisterin. Die Priorin wurde von den Chorfrauen unter Leitung des Propstes gewählt und später vom Wedinghauser Abt bestätigt. Anfangs lebte die Priorin noch mit den übrigen Schwestern zusammen, später hatte sie eine eigene Wohnung. Die Subpriorin vermittelte zwischen Konvent und Priorin. Die Zahl der Chorfrauen betrug im 13. und 14. Jahrhundert um die 60, Anfang des 16. Jahrhunderts waren es sogar 80 gewesen sein. Diese Zahl ging bis Mitte des Jahrhunderts auf 40 und im 17. Jahrhundert auf 30 zurück.
Am Ende der frühen Neuzeit wandelte sich der Charakter des Konventslebens stark. Oelinghausen zählte im 18. Jahrhundert 34 Religiosen. Davon waren zwei Drittel Chorfrauen und ein Drittel Laienschwestern. An die Stelle der adligen Chorfrauen traten, sieht man von Angehörigen einiger Erbsälzerfamilien ab, hauptsächlich Frauen aus wohlhabenden Bürger- oder Bauernfamilien. Diese stammten sowohl aus dem Herzogtum Westfalen wie auch aus dem Erzstift Köln sowie aus den Hochstiften Paderborn, Münster und dem Erzstift Mainz. Die Laienschwestern kamen ausschließlich aus bäuerlichen Familien der Region.
Archiv und Bibliothek
Das Archiv des Klosters kam nach der Aufhebung 1804 zunächst ins Archivdepot in Arnsberg. In dieser Zeit wurden die Überlieferungen intensiv genutzt, um strittige Besitz- und Rechtsverhältnisse zu klären. Später kamen die Urkunden und Akten ins Provinzialarchiv nach Münster (heute Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abteilung Westfalen). Der Archivar Peter von Hatzfeldt erstellte von 1850 bis 1860 ein erstes Findbuch. Im Vergleich zu anderen, teilweise weit verstreuten Klosterarchiven des Sauerlandes ist der Oelinghauser Urkundenbestand nach Meinung des Historikers Manfred Wolf „ungemein reich“.
Teil des Oelinghauser Bestandes im Staatsarchiv Münster ist auch ein Nekrolog mit mehr als 3000 Einträgen. Dieser gibt über die Verkehrskreise des Klosters und die personellen Verbindungen Auskunft. Das noch existierende Exemplar aus dem 18. Jahrhundert enthält auch den Inhalt älterer Verzeichnisse. Die Einträge reichen bis in die Zeit der Klostergründung zurück. Das Verzeichnis enthält nicht nur die Namen der Chor- und Laisenschwestern und der Pröpste, sondern auch Gründer, Stifter, Wohltäter, Angehörige des Klosters Wedinghausen sowie zahlreiche Familienangehörige der Klosterfrauen. Der Nekrolog wurde auch nach der Aufhebung des Klosters von einer Gruppe ehemaliger Chorfrauen, die in Arnsberg das gemeinsame Leben fortsetzten, bis in die 1830er Jahre weitergeführt.
Der Bibliotheksbestand der Frauenklöster und -stifte im Herzogtum Westfalen ist nur unzureichend überliefert. Einige von ihnen, darunter auch Oelinghausen und Rumbeck, besaßen wohl nie einen nennenswerten Buchbestand. Bei der erneuten Umwandlung des Damenstifts in ein Kloster 1641 verbrannten die Stiftsdamen Bücher. Dabei dürfte es sich vor allem um Breviere und andere liturgische Bücher gehandelt haben.
Bauten und Ausstattungen
Kirchenbau
Die Baugeschichte der Klosterkirche ist wegen fehlender schriftlicher Quellen nicht völlig klar. Bei archäologischen Grabungen kamen unterhalb der Kirche Reste zum Vorschein, die zu einem anderen Gebäude gehören. Es wird vermutet, dass es sich dabei um ein Wohn- oder Wirtschaftsgebäude der Stifterfamilie handelt. Hinsichtlich der Baugeschichte der Kirche selbst stellte A. Dünnebacke 1907 die These auf, der sich vor einigen Jahren auch Wilfried Michel im Westfälischen Klosterbuch anschloss, dass die heutige Sakristei identisch mit dem älteren Kirchenbau sei. Dies gilt mittlerweile als widerlegt.
Es gab zumindest einen romanischen Vorgängerbau der heutigen gotischen Kirche. Dieser war schmaler und kürzer als das Langhaus der bestehenden Kirche. Von diesem ist ein Kapitell erhalten geblieben, das heute als Basis des Osterleuchters dient. Aus romanischer Zeit um 1200 stammt auch die Krypta unterhalb der Nonnenempore. Dieser Raum ist einschiffig, dreijochig und hat ein Kreuzgratgewölbe. Die Krypta dient seit den 1960er Jahren als Gnadenkapelle und ist Aufstellungsort der sogenannten Kölschen Madonna. An die Krypta schließt sich eine Vorhalle an, die sich zum Kirchenschiff hin in drei spitzbogigen Arkaden öffnet. Dieser dreischiffige und einjochige Raum wird in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert. Auch die in drei Bauphasen entstandene Sakristei ist in Teilen älter als die eigentliche Kirche. Die ältesten Teile sind frühgotisch, ein Umbau erfolgte in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts mit dem Kirchenneubau, weitere Veränderungen stammen aus dem Barock.
Die heutige gotische Kirche insgesamt stammt aus dem 14. Jahrhundert. Es handelt sich um einen einschiffigen, neunjochigen Saalbau mit einem 5/8-Chor. Erbaut wurde das Hauptschiff in drei Bauabschnitten. Der Chor und das Langhaus sind durch Kreuzrippen mit Schlusssteinen im Scheitel einheitlich gewölbt.
Ab dem vierten Joch ist im Hauptschiff eine erhöhte Nonnenempore eingezogen, die man über zwei Treppen erreicht. Sie überspannt etwa die Hälfte der Kirche. Zwei Kapellen liegen an der Südseite. Von ihnen ist die westliche („Kreuzkapelle“) dreijochig, die östliche (die Sakristei) ist zweijochig mit einer Wandapsis. Im Norden dient ein früherer, mittlerweile vermauerter Eingang als kleine Marienkapelle. Die Fenster der Kirche sind spitzbogig, zweiteilig mit Maßwerk. In der Sakristei sind die Fenster einteilig. Die Kirche ist mit einem Schieferdach gedeckt. Auf der Südseite setzt es sich ohne Unterbrechung über Sakristei und Kreuzkapelle nach unten fort. Erst im 16. Jahrhundert erhielt die Kirche einen kleinen Glockenturm.
Ausstattung
Im Inneren der Kirche sind seit einer Generalrestaurierung zwischen 1957 und 1960 wieder gotische Wand- und Deckenmalereien aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts sichtbar. Noch älter sind die weißgrauen Flächentönungen mit aufgemalter rötlicher Quaderung und Rankenornamenten um den Schlussstein. Der an Pflanzen erinnernde Gewölbeschmuck, zwei Engel und weitere Elemente stammen von 1499. Die 1933 wiederentdeckte große Darstellung eines heiligen Christophorus stammt vom Beginn des 16. Jahrhunderts.
Die Barockisierung der Kirche zog sich über einen längeren Zeitraum hin. Erste Ansätze dazu stammen aus der Zeit des Damenstifts unter den Äbtissinnen Ottilia und Anna von Fürstenberg. Bei den folgenden Phasen der barocken Umgestaltung spielten der Konvent und die Äbtissinnen keine Rolle mehr. Die Initiativen gingen von den Pröpsten aus. Die zweite Phase der Barockisierung fällt in die Zeit von Propst Christian Bigeleben (1656–1678). Die dritte fällt in die Amtszeit von Propst Theodor Sauter 1704 bis 1732. Der Bildschnitzer Wilhelm Spliethoven genannt Pater aus Volbringen schuf eine umfassende Einrichtung mit Hochaltar, lebensgroßen Apostelfiguren und Orgelprospekt. Nur in Oelinghausen ist das Werk dieses Künstlers, der mehrere Kircheneinrichtungen Westfalens geschaffen hat, bis heute vollständig erhalten geblieben. Auch die Illumination (Ausmalung) der barocken Einrichtung durch Alexander La Ruell (Münster) ist nur in Oelinghausen bewahrt worden.
Die Marienfigur in der Krypta wird als „liebe Frau von Köllen“, „Königin des Sauerlandes“ oder „Kölsche Madonna“ bezeichnet. Sie stammt aus den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts. Die selige Jungfrau sitzt auf einem Thron und ist mit einem langen Gewand bekleidet, Gesicht und Körper sind dem Betrachter frontal zugewandt. Das Jesuskind wurde bereits im Mittelalter hinzugefügt. Es trägt in der linken Hand ein Buch, die Rechte ist zum Segen erhoben. Zusammen mit dem Thron ist die Statue 57 cm hoch. Neu geschaffen wurden nach Verlusten die Hände, das Jesuskind und die Krone. Auf neuere kunstgeschichtliche Untersuchungen gestützt, erhielt das Bild 1976 seine heutige, sich dem Original annähernde Farbgestaltung. Eine in der Region vergleichbare, wenn auch etwas jüngere Darstellung findet sich in der Merklinghauser Kapelle.
Der 10 m hohe Hauptaltar mit zahlreichen Statuen ist barock und wurde 1712 von Wilhelm Spliethoven – möglicherweise nach Vorgaben des Propstes Sauter – nach italienischen Vorbildern geschaffen. Die Bemalungen stammen von Alexander La Ruell. Auch die zwölf Apostelfiguren im Hauptschiff stammen von Spliethoven und La Ruell.
In der Kreuzkapelle befinden sich mehrere Grabsteine ehemaliger Pröpste. Dominierend ist aber das heute als Altaraufsatz dienende Epitaph für Ottilia von Fürstenberg. Geschaffen wurde das Grabmal wahrscheinlich von Gerhard Gröninger oder einem italienischen Künstler. Im Gewölbe der Kreuzkapelle befindet sich eine spätgotische Mondsichelmadonna aus der Zeit um 1530.
Die Marienkapelle enthält ein gotisches Tafelbild mit der Anbetung der Hirten. Außerdem befindet sich hier ein Gemälde aus dem Barock, das die Ermordung des Erzbischofs Engelbert I. von Köln zeigt. Den Überlieferungen des Klosters zufolge, die jedoch nicht den tatsächlichen historischen Abläufen entsprechen, soll der Bischof die Nacht vor seiner Ermordung in Oelinghausen verbracht haben.
Auf der Nonnenempore befindet sich rechts und links an der Wand das Chorgestühl mit 46 Sitzen, deren hintere Reihen aus dem 18. Jahrhundert stammen. In den Vorderreihen wurden die spätgotischen Wangen aus der Zeit um 1380 wiederverwertet. Auf der Empore steht darüber hinaus ein Triumphkreuz aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Unter dem Gewölbe befindet sich eine zwei Meter hohe barocke Doppelmadonna aus der Zeit um 1730. Die Rückwand der Orgel deckt ein großer Johannesaltar ab, neben dem die sogenannten Aposteltürme stehen. Die dort aufgestellten Figuren sind spätgotisch und stammen möglicherweise aus einem verschwundenen Schnitzaltar, einige der jüngeren werden Gertrud Gröninger zugeschrieben. Auch auf den Chorbänken der Empore befinden sich Skulpturen aus der Zeit zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert.
Der Dachreiter der Klosterkirche trägt ein dreistimmiges Geläut mit Gussstahlglocken aus dem Jahre 1921. Die Glocken hängen in einem Holzglockenstuhl, der noch aus der Bauzeit der Kirche stammt und erklingen in der Tonfolge es'-ges'-as'.
Orgel
Zum ersten Mal wurde in einer Memorienstiftung des Dompropstes Wilhelm Freseken eine Orgel, wohl in Form einer Schwalbennestorgel, in Oelinghausen erwähnt. Allerdings sagt die Quelle nichts dazu aus, dass diese von Freseken gestiftet worden sei, wie teilweise behauptet wurde. Das Orgelwerk wurde im Jahr 1499 erweitert. Zu dieser Zeit gab es vermutlich schon eine größere zweite Orgel. Im Jahr 1585 war eine Springladenorgel mit zwei Manualen registriert. Am 2. Februar des folgenden Jahres überfielen niederländische Truppen des Martin Schenk von Nideggen das Kloster und zerstörten dabei auch die Orgel. Nach der Zerstörung des älteren Instruments stiftete der Paderborner Fürstbischof Theodor von Fürstenberg im Jahr 1599 seiner Schwester und Priorin Ottilia zwei neue Orgeln. Die neue Orgel baute Marten de Mare an der Stelle, an der sie auch heute noch steht, und verwendete das ihm zur Verfügung stehende, 1586 nicht zerstörte Material der Vorgängerorgeln. Johann Berenhard Klausing aus Herford begann im Jahr 1713 an der Orgel mit Erneuerungs- und Erweiterungsarbeiten. 1717 waren Klausings Arbeiten abgeschlossen. Der Orgelprospekt wurde von Spliethoven und La Ruell geschaffen. Das Besondere an der Orgel in Oelinghausen ist, dass die meisten Pfeifen seit 1599 beziehungsweise 1717 unverändert erhalten blieben. Die Stimmen von 1599 sind dabei besonders bemerkenswert, weil sie in dieser Form in Deutschland und dem benachbarten Ausland kaum noch zu finden sind. Die Tafelgemälde an der Orgelrückwand gehen auf die ursprünglichen Flügeltüren De Mares zurück. In den Jahren 2000 bis 2002 wurde das Instrument durch die Schweizer Firma Orgelbau Kuhn mit finanzieller Unterstützung des Freundeskreises Oelinghausen e. V. (gegründet 1983) umfassend restauriert und rekonstruiert, wobei der Zustand von 1717 maßgeblich war.
Die Orgel hat folgende Disposition:
A = unbekannter Orgelbauer vor 1586
M = Marten de Mare (1599)
K = Johann Berenhard Klausing (1717)
R = Rekonstruktion Orgelbau Kuhn (2002)
Koppeln: II/I (Schiebekoppel); I/P.
Tremulant für das ganze Werk
Stern
Anmerkungen
Weitere Gebäude
Neben der Kirche sind von den früheren Klostergebäuden nur wenige erhalten. Nach der Aufhebung des Klosters abgebrochen wurde etwa das Torgebäude. Ebenso nicht erhalten ist die aus dem 14. Jahrhundert stammende Michaelskapelle im Eingangsbereich des Klosters. Auch das Hospital ist nicht mehr vorhanden.
Das eigentliche Klostergebäude war im Westen an die Kirche angebaut. Der letzte Bau hatte drei Flügel. Davon sind jedoch nur der östliche und der südliche Flügel erhalten. Der nördliche Flügel wurde nach der Säkularisation abgebrochen. Das Klostergebäude wurde zu Anfang des 18. Jahrhunderts errichtet. Es ruht allerdings auf den Grundmauern der Vorläuferbauten. So sind im Keller zwei Kamine erhalten. Davon trägt einer das Wappen und die Lebensdaten Ottilias von Fürstenberg. An der Stelle des ehemaligen Nordflügels wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Wirtschaftsgebäude errichtet. Dieses steht unter Denkmalschutz und beherbergt heute das Klostergartenmuseum. Im Südwesten von Kirche und Konventsgebäude steht ein Fachwerkhaus. Von einigen wird es als „Schäferhaus“ bezeichnet, andere sehen in ihm eines der Einzelwohnhäuser aus der Zeit des Damenstifts. Unmittelbar rechts vor dem sogenannten Schäferhaus befindet sich die ehemalige „Oberförsterscheune“, ein Gebäude mit Grundmauern aus dem 16. Jahrhundert. Aufwendig restauriert beherbergt es heute eine Praxis für Ergotherapie einer der in Oelinghausen lebenden Stiftsdamen. Umgeben ist der Klosterbereich von einer 400 Meter langen denkmalgeschützten Mauer. Diese war früher etwa acht Meter hoch und war sogar mit Türmen versehen. Die Klostermauer ist Lebensraum für verschiedene Pflanzen und Tiere. Östlich der Klosterkirche liegt der rekonstruierte Klostergarten.
Zwar auf ehemaligem Klostergelände gelegen, gehört das Gut Oelinghausen, das im Besitz der Familie von Fürstenberg ist, heute nicht mehr zum eigentlichen Bereich des früheren Klosters. Teile des Guts sind ebenfalls denkmalgeschützt. Dazu gehören Toreinfahrten und ein Verwalterhaus, das während der wilhelminischen Ära mit Anklängen an den Jugendstil erbaut worden ist. Bemerkenswert ist auch das große Taubenhaus im Wirtschaftshof, das, obwohl erst im 19. Jahrhundert erbaut, an die alte Eigenwirtschaft des Klosters anknüpft.
Personenlisten
Literatur
Die Baudenkmäler der Stadt Arnsberg. Erfassungszeitraum 1980–1990. Arnsberg 1990, S. 187–197
Franz Fischer: Zur Wirtschaftsgeschichte des Prämonstratenserinnenklosters Ölinghausen. Arnsberg 1912
Friedrich Jakob: Die Orgel der Kloster- und Pfarrkirche St. Petri zu Oelinghausen. Arnsberg 2006, ISBN 978-3-930264-59-9
Stephanie Keinert: Die Bedeutung von Monitoring-Verfahren in der präventiven Konservierung – erläutert am Beispiel der barocken Ausstattung der Klosterkirche Oelinghausen, in: Denkmalpflege in Westfalen-Lippe 2018/1, ISSN 0947-8299, S. 23–26. Online (PDF; 4,6 MB)
Magdalena Padberg (Hrsg.): Kloster Oelinghausen, Strobel, Arnsberg 1986, ISBN 3-87793-018-2
Darin unter anderem:
Anton Dünnebacke: Das innere Ordensleben, S. 25–35
Helmut Richtering: Kloster Oelinghausen, S. 46–65
Franz Fischer: Aus der Wirtschaftsgeschichte des Klosters Oelinghausen, S. 66–71
Wilfried Michel: Die Orgeln des Klosters Oelinghausen, S. 104–112
Harald Polenz, Wilfried Michel: Kloster Oelinghausen und die historischen Orgeln. Iserlohn 1989, ISBN 3-922885-44-6
Helmut Richtering: Kloster Oelinghausen. In: Westfälische Zeitschrift. 123. Band. Münster 1973, S. 115–136 PDF-Datei
Werner Saure: Kloster Oelinghausen. Kirchenführer. Arnsberg 2005
Werner Saure (Hrsg.): Oelinghauser Beiträge. Freundeskreis Oelinghausen e.V. Arnsberg 1999
Darin unter anderem:
Michael Gosmann: Die Grafen von Arnsberg und die „Vogtei“ über das Kloster Oelinghausen, S. 9–32
Manfred Wolf: Bemerkungen zur Geschichte und Verfassung des Klosters Oelinghausen, S. 33–40
Bernhard Padberg: Oelinghausen und seine Klosterwirtschaft, S. 59–84
Freundeskreis Oelinghausen e.V. (Hrsg.): Barmherzigkeit, Armenfürsorge und Gesundheitspflege im Kloster Oelinghausen. Arnsberg, 2017
Quellen
Manfred Wolf (Bearb.): Die Urkunden des Klosters Oelinghausen. Regesten. Fredeburg 1992.
Nekrolog des Klosters Oelinghausen. Digitalisat
Weblinks
360° Luftbildpanorama der Umgebung von Kloster Oelinghausen
Kloster Oelinghausen
Freundeskreis Oelinghausen e. V.
Barockorgel in der Klosterkirche (ausführliche Infos zu Baugeschichte und Restaurierung)
Quellen in NRW-Archiven
Orgel der Klosterkirche Oelinghausen – Beitrag auf Orgel-Verzeichnis
Einzelnachweise
Oelinghausen
Oelinghausen
Oelinghausen
Oelinghausen
Oelinghausen
Oelinghausen
Oelinghausen
Sakralbau in Arnsberg
Baudenkmal in Arnsberg
Marienkloster
Denkmal des Monats in Westfalen-Lippe
Oelinghausen
Christentum in Arnsberg
Ruhrtal |
1357000 | https://de.wikipedia.org/wiki/Wasserschl%C3%A4uche | Wasserschläuche | Die Wasserschläuche (Utricularia) sind eine Pflanzengattung in der Familie der Wasserschlauchgewächse (Lentibulariaceae). Mit ihren rund 250 Arten ist sie die artenreichste Gattung aller fleischfressenden Pflanzen. Trotz ihres meistens unscheinbaren Äußeren sind sie in vielerlei Hinsicht außergewöhnliche Pflanzen.
Sowohl der deutsche als auch der botanische Name der Gattung, der sich aus dem lateinischen utriculus, „kleiner Schlauch“ herleitet, spielt auf die Gestalt der Fallen an, die an altertümliche Wasser- oder Weinschläuche erinnert.
Beschreibung
Die Morphologie der Wasserschlauch-Arten ist ungewöhnlich, da sie weder echte Wurzeln besitzen, noch bei ihnen im strengen Sinne Blatt und Spross unterschieden werden kann. Ein weiteres charakteristisches Merkmal sind die als Fallen ausgebildeten Fangblasen, deren Funktionsweise einzigartig ist und an Komplexität nur von den eng verwandten Reusenfallen übertroffen wird. Bis auf Fallen, Blüten und Blätter kann je nach Art allerdings auch fast jedes der nachfolgend beschriebenen Organe abwesend sein.
Erscheinungsbild
Wasserschlauch-Arten sind einjährige oder mehrjährige krautige Pflanzen. Die meisten Arten erreichen nur eine geringe Wuchshöhe von bis zu 30 Zentimetern, einige Arten wie Utricularia humboldtii können jedoch Wuchshöhen bis zu 130 Zentimetern erreichen.
Rhizoide
Mit zunehmender Komplexität innerhalb der Gattung besitzen die Wasserschlauch-Arten mehr oder weniger stark entwickelte Rhizoide, die allein der Verankerung im Substrat dienen. Bei den Arten mit einer großen Zahl evolutionär ursprünglicher Merkmale sind sie überhaupt nicht vorhanden, bei jüngeren Arten – mit stärker abgeleiteten Merkmalen, etwa denen der Sektion Pleiochasia – sind sie von einfacher Struktur und nur schwach verdrehter Gestalt. Bei den rheophytischen und lithophytischen Arten hingegen, die schnellfließende Gewässer beziehungsweise blanken Fels besiedeln, sind sie dagegen hoch entwickelt, um die Verankerung an den schwierigen Standorten zu gewährleisten. In manchen Fällen lassen sich Rhizoid und Stolon nicht klar unterscheiden, etwa in der Sektion Phyllaria.
Stolonen
Allgemein wird das Stolon als Spross der meisten Wasserschlauch-Arten betrachtet. Es ist bei terrestrischen Arten wenige Millimeter bis Zentimeter, bei aquatischen bis zu mehreren Metern lang und zumeist in Form eines dichten Geflechts ausgebildet. Bei einigen Arten werden vom Stolon zusätzlich wasserspeichernde Knollen oder Luftsprosse ausgebildet, ersteres etwa bei Utricularia alpina, letzteres bei Utricularia vulgaris. Vereinzelt existieren aber auch einige sehr urtümliche Arten ohne Stolon, ein Beispiel dafür ist die Art Utricularia violacea.
Turionen
Aquatische Wasserschlauch-Arten gemäßigter Klimazonen sterben zum Herbst hin ab und bilden sogenannte Winterknospen (Turionen) – kurze, kompakte Sprosse, die auf den Boden des Gewässers sinken und aus denen im nächsten Frühjahr neue Pflanzen austreiben.
Manche australische Arten ziehen sich während der Trockenzeit in nur 1 Zentimeter große Knollen zurück, aus denen sie mit Beginn der Regenzeit wieder austreiben.
Blätter
Aufgrund der oben erwähnten fehlenden Trennbarkeit von Blatt und Spross wird jeder flächige, grüne Teil der Pflanzen als Blatt angesehen. Sie sind von uneinheitlicher Form, bei terrestrischen Arten häufig länglich oder nierenförmig, bei aquatischen Arten in vom Stolon abgehenden Segmenten vielfach fein unterteilt. Meistens sind die Blätter sehr klein und wenige Millimeter bis Zentimeter groß, bei tropischen Arten können sie aber auch bis über 100 Zentimeter lang sein, etwa bei Utricularia longifolia. Einige wenige Arten wie Utricularia menziesii bilden zerstreute oder dichte Rosetten aus. Zumeist wachsen die Einzelblätter entlang des Stolons aus Augen heraus. Außer den normalen Blättern wachsen am Blütenstiel einige Nebenblätter wie Brakteen, Brakteolen und Schuppenblätter, die als taxonomisches Merkmal von Bedeutung sind.
Fallen
Die zumeist an den Stolonen, manchmal aber auch an anderen Teilen der Pflanze wie Blättern oder Rhizoiden wachsenden Fallen sind mikroskopisch kleine oder bis zu einem Zentimeter große, üblicherweise gestielte Fangblasen, die nach dem Saugfallenprinzip funktionieren, einer rein mechanischen Methode, die sich unter allen Karnivoren einzig bei den Wasserschläuchen findet. Innerhalb der Fangblase wird dazu ein Unterdruck aufgebaut, der bei Utricularia vulgaris etwa bis zu 0,14 bar beträgt und die Blasenwände zusammenzieht. Die Fangblase ist mit einer Klappe verschlossen, an der sich einige feine Borsten befinden. Mittels chemischer Lockstoffe oder algenähnlicher Sprosse, die Nahrung vortäuschen, werden Beutetiere angelockt. Sobald die Borsten von diesen berührt werden, öffnet sich die Klappe, und zwar mit der schnellsten bekannten Bewegung im Pflanzenreich: die Dauer des Öffnungs- und Schließvorgangs liegt bei weniger als zwei Millisekunden. Die Borsten nehmen dabei keine Reize auf, sondern dienen quasi als Hebel, durch den die Klappe leicht nach innen gedrückt und so ein Stück weit geöffnet wird. Durch den folgenden, abrupten Druckausgleich wird das vor der Falle liegende Wasser in die Fangblase gespült und das Beutetier mit hineingerissen; danach schließt sich die Falle wieder. In ihr liegende Drüsen beginnen nun die Verdauung der Beute durch die Enzyme Esterase, Phosphatase und Protease. Parallel dazu beginnt die Falle, das überschüssige Wasser abzupumpen und erzeugt so wieder den notwendigen Unterdruck für den nächsten Fang. Dieser Vorgang kann bereits nach fünfzehn Minuten abgeschlossen sein. Zumeist handelt es sich um sehr kleine Beutetiere, darunter Wasserflöhe, Rädertierchen, Fadenwürmer und Schnecken, dazu kommen Protisten wie Wimpertierchen und gelegentlich planktische Algen, selten größere Beute wie kleine Kaulquappen oder Stechmückenlarven, die allerdings nach dem Verdauungsprozess zum Absterben der Falle führen können.
Blütenstände und Blüten
Die Blütenstände sind die einzigen Pflanzenteile, die bei allen Arten über dem Substrat stehen. Die Blüten stehen meistens wechselständig in traubigen Blütenständen an aufrechten, dünnen, bei aquatischen Arten mit Luftkammern versehenen Stängeln, wenn auch gelegentlich nur als Einzelblüte.
Die zwittrigen Blüten sind zygomorph und fünfzählig mit doppelter Blütenhülle. Die gespornten Blüten bestehen in der Regel aus zwei verwachsenen Kelch- und fünf verwachsenen Kronblättern. Sie können ein- oder mehrfarbig in zahlreichen Farben vorkommen, etwa weiß, gelb, rot, violett oder blau, sowie beliebigen Schattierungen dazwischen. Die Blüten variieren größenmäßig zwischen wenigen Millimetern und 7 Zentimetern Länge, einige, insbesondere die großblütiger Arten, ähneln auf den ersten Blick Orchideenblüten.
Früchte und Samen
Die Früchte der Wasserschlauch-Arten sind kleine, meistens runde oder eiförmige Kapselfrüchte. Die Kapselfrüchte sind äußerst vielgestaltig und enthalten zahlreiche Samen. Die Samen sind 0,2 bis 1 Millimeter lang.
Ökologie
Je nach Wasserschlauch-Art und Bedingungen kommen sie gemischt oder wechselnd kleistogam und chasmogam vor, das heißt, sie bestäuben sich selbst, entweder, wie im ersteren Fall, gezwungenermaßen bei geschlossener Blüte oder, wie im zweiteren, bei geöffneter Blüte. Bei Chasmogamie ist dann auch eine Fremdbestäubung möglich.
Es handelt sich um Lichtkeimer.
Vorkommen
Wasserschlauch-Arten sind (mit Ausnahme von ariden Gebieten, der Antarktis und der ozeanischen Inselwelt) weltweit verbreitet. Ihr Verbreitungsschwerpunkt liegt in Südamerika, gefolgt von Australien. Durch ihre Karnivorie sind die Pflanzen weitgehend unabhängig vom Vorhandensein von Nährstoffen im Boden und bevorzugen sehr nährstoffarme, halbschattige bis vollsonnige Standorte. Sie findet sich zumeist in sauren Verhältnissen, einige Arten sind zwar durchaus kalktolerant, werden aber an entsprechenden (üblicherweise relativ nährstoffreichen) Standorten meistens durch andere Vegetation verdrängt.
Alle Arten der Gattung haben ihren Lebensraum zumindest während der vegetativen Phase im oder am Wasser. Die Mehrzahl (etwa 60 %) lebt terrestrisch, also auf nassen, selten sumpfigen Böden, rund 15 % sind aquatisch, teils verankert, teils frei flottierend. Die verbleibenden 25 % sind als sogenannte Rheophyten spezialisiert auf sehr schnell fließende Gewässer (z. B. Utricularia rigida), besiedeln als Lithophyten glatte Untergründe oder leben epiphytisch, also als Aufsitzer auf oder in anderen Pflanzen (z. B. in Moosen, an rauen Baumrinden oder gar in den Trichtern von Bromelien), wie z. B. Utricularia humboldtii, die sich sogar in den Trichtern von Brocchinia reducta, einer anderen Karnivore, findet.
In Mitteleuropa vorkommende Arten
In Mitteleuropa sind nur wenige Arten beheimatet:
Verkannter Wasserschlauch (Utricularia australis )
Bremis Wasserschlauch (Utricularia bremii )
Mittlerer Wasserschlauch (Utricularia intermedia )
Kleiner Wasserschlauch (Utricularia minor )
Blassgelber Wasserschlauch (Utricularia ochroleuca )
Dunkelgelber Wasserschlauch (Utricularia stygia )
Gewöhnlicher Wasserschlauch (Utricularia vulgaris )
Alle diese Arten sind eng miteinander verwandt und gehören zur Sektion Utricularia. Sie sind manchmal nur an einzelnen Merkmalen voneinander zu unterscheiden. Alle leben innerhalb von Gewässern und sind im gesamten deutschsprachigen Raum gefährdet oder stark gefährdet; Bremis Wasserschlauch ist sogar unmittelbar vom Aussterben bedroht. An diesem Rückgang hat der Mensch durch die Vernichtung von Feuchtbiotopen wie Mooren und durch Gewässer-Eutrophierung (übermäßigen Nährstoffeintrag aus der Landwirtschaft) wesentlichen Anteil.
Systematik
Die Gattung Utricularia wurde durch Carl von Linné aufgestellt.
Die Gattung Utricularia wurde durch den britischen Botaniker Peter Taylor in 35 Sektionen aufgeteilt. Auf einem Supertree aus zwei molekulargenetischen Studien basierend (Jobson et al. 2003; Müller et al. 2004) wurden 2006 Taylors Sektionen in großen Teilen bestätigt und neue Untergattungen vorgeschlagen, dieser modifizierten Fassung wird hier weitgehend gefolgt. Da einige monotypische Sektionen im Rahmen dieser Untersuchungen nicht berücksichtigt wurden, wurde hierbei auf Taylors Arbeit zurückgegriffen, die Sektion Minutae wurde erst 2008 erstbeschrieben, ihre Einordnung in der Untergattung Bivalvia gilt als vorläufig. Ergänzungen und Regionsangaben folgen der World Checklist of Selected Plant Families.
Sektionen und Arten der Gattung Utricularia
Phylogenetik
Das folgende Kladogramm der Gattung Utricularia ist ein sogenannter „Supertree“, der – wie obige Systematik – auf zwei molekulargenetischen Studien basiert (Jobson et al. 2003; Müller et al. 2004) und gibt die Verwandtschaftsverhältnisse der Gattung bis auf Sektionsebene wieder. Da die Sektionen Vesiculina bzw. Aranella polyphyletisch sind, tauchen sie mehrfach innerhalb des Kladogramms auf (*), einige monotypische Sektionen fanden im Rahmen dieser Untersuchung keine Berücksichtigung und sind daher hier nicht dargestellt.
Verwendung
Die Wasserschlauch-Arten haben weder als Lebens- noch als Heilmittel eine Bedeutung für den Menschen. Wegen ihrer Karnivorie und ihrer ansprechenden Blüten sind jedoch viele Arten bei Liebhabern in Kultur; die heimischen Arten finden sich darüber hinaus auch in Gartenteichen. Als Zierpflanzen sind sie jedoch ohne kommerzielle Bedeutung.
Literatur
Peter Taylor: The Genus Utricularia. A Taxonomic Monograph (= Kew Bulletin. Additional Series. 14). Royal Botanic Gardens – Kew, London 1989, ISBN 0-947643-72-9.
Wilhelm Barthlott, Stefan Porembski, Rüdiger Seine, Inge Theisen: Karnivoren. Biologie und Kultur fleischfressender Pflanzen. Ulmer, Stuttgart 2004, ISBN 3-8001-4144-2.
Weiterführende Literatur
Richard W. Jobson, Julia Playford, Kenneth M. Cameron, Victor A. Albert: Molecular phylogenetics of Lentibulariaceae inferred from plastid rps16 intron and trnL-F DNA sequences: implications for character evolution and biogeography. In: Systematic Botany. Band 28, Nr. 1, 2003, , S. 157–171, .
Kai Müller, Thomas Borsch: Phylogenetics of Utricularia (Lentibulariaceae) and molecular evolution of the trnK intron in a lineage with high substitutional rates. In: Plant Systematics and Evolution. Band 250, Nr. 1/2, 2005, , S. 39–67, .
Einzelnachweise
Weblinks
Gesellschaft für fleischfressende Pflanzen = GFP – zur Gattung Utricularia.
anschauliche Animation und Beschreibung der Funktionsweise.
Utricularia bei islandnet.com, (Engl.)
Wasserschlauchgewächse
Fleischfressende Pflanze |
1361962 | https://de.wikipedia.org/wiki/Wei%C3%9Fspitzen-Hochseehai | Weißspitzen-Hochseehai | Der Weißspitzen-Hochseehai (Carcharhinus longimanus), auch Hochsee-Weißflossenhai genannt, ist ein Vertreter der Familie der Requiem- oder Grauhaie. Er ist als Hochseehai weltweit in tropischen, subtropischen und warm-gemäßigten Regionen beheimatet und gehört zu den größten Haien der Welt. Er wird als für den Menschen gefährlich eingestuft, eine Reihe von Angriffen sind dokumentiert. Aufgrund der hohen Verluste durch die Hochseefischerei ist die ehemals sehr häufige Art gefährdet; sie wird mittlerweile mit einem weltweiten Bestandsrückgang von geschätzt 98 % als vom Aussterben bedroht angesehen.
Merkmale
Mit einer Körperlänge bis zu 390 cm gehört der Weißspitzen-Hochseehai zu den großen Haiarten, er erreicht allerdings selten mehr als 300 cm Länge. Die Durchschnittslängen liegen bei 180 bis 190 cm, wobei die Weibchen in der Regel etwas größer werden als die Männchen. Dabei hat er ein maximales Gewicht von fast 170 Kilogramm, das bisher schwerste bekannte Tier wog 167,5 kg. Die Art hat den für die Requiemhaie typischen Körperbau, wobei häufig ein leichter Buckel ausgebildet ist.
Charakteristisch sind seine im Vergleich zu fast allen anderen Haiarten sehr langen, abgerundeten Flossen. Dies betrifft besonders die erste Rückenflosse, die ebenso wie die flügelartigen Brustflossen sehr groß ist. Der Beginn der ersten Rückenflosse liegt unmittelbar hinter dem Ende der freien Innenkante der Brustflossen. Ein Interdorsalkamm kann vorhanden sein, ist dann jedoch nur wenig entwickelt. Die zweite Rückenflosse ist deutlich kleiner als die erste. Die Analflosse ist ebenfalls größer als die zweite Rückenflosse und in einer langen Spitze ausgezogen, ihr Hinterrand ist dadurch stark konkav. Die Schwanzflosse besitzt einen vergleichsweise kleinen unteren und einen sehr großen oberen Lappen (Lobus).
Seine Rückenfarbe ist grau-braun bis bronzefarben oder bläulich, wobei die Färbung regional variieren kann. Der Bauch ist weiß und kann einen gelblichen Ton aufweisen; der Übergang zu den Flanken ist scharf begrenzt. Die Unterseiten der Brustflossen sind ebenfalls weiß und können vor allem an den Kanten sowie zum freien hinteren Ende hin die Rückenfarbe annehmen. Die Schwanzflosse sowie die erste Rückenflosse, die Brustflossen und die Bauchflossen weisen auffällige, weiße Spitzen auf, die weite Teile der Flossen einnehmen können, während die zweite Rückenflosse und die Analflosse mit einem unregelmäßigen schwarzen Muster der Spitzen gezeichnet sind. Die weißen Spitzen sind vor allem bei den Jungtieren stark ausgeprägt, bei ausgewachsenen Haien können sie auch fehlen. Neben den Spitzen weisen die großen Flossen oft zusätzlich weiße Sprenkel auf, die bei Jungtieren auch schwarz sein können. Zwischen der ersten und der zweiten Rückenflosse kann zudem ein sattelähnlicher, weißer Fleck vorhanden sein.
Die Schnauze ist lang und breit abgeflacht, in der Aufsicht ist sie stark abgerundet. Das Maul ist von unten betrachtet breit und parabolisch mit kurzen Labialfalten. Der Hai besitzt im Oberkiefer je Kieferseite 14 bis 15 dreieckige, große Zähne mit stark gesägten Kanten. Im Unterkiefer sitzen je Seite 13 bis 15 Zähne, die deutlich kleiner und ebenfalls dreieckig sind. Die Unterkieferzähne besitzen eine schmale, gezähnte Spitze und sind leicht gebogen. Hinter diesen Zähnen liegen fünf bis sieben weitere, flach anliegende Zahnreihen, die bei Bedarf in die Hauptreihe nachrücken. Die Augen sind relativ klein und rund und besitzen eine Nickhaut, sie sind mittig am Kopf angeordnet. Die Nasalgruben sind klein, ein Spritzloch fehlt. Insgesamt besitzt der Hai wie alle Arten der Gattung fünf Kiemenspalten, wobei die letzten beiden über der Basis der Brustflosse angeordnet sind.
Verbreitung und Lebensraum
Der Weißspitzen-Hochseehai ist weltweit in tropischen, subtropischen und warm-gemäßigten Hochseeregionen beheimatet. Die Wassertemperatur im Verbreitungsgebiet beträgt 18 °C bis 28 °C. Dies trifft für den westlichen Atlantik von Maine (USA) bis Argentinien zu, einschließlich der Karibik und dem Golf von Mexiko. Auch im Roten Meer und im gesamten Indischen Ozean ist dieser Hai anzutreffen. Im westlichen Pazifik liegt sein Verbreitungsgebiet zwischen China und dem Norden Australiens bis zu den Philippinen; im Zentralpazifik wurde er in der Nähe von Hawaii, Tahiti, dem Tuamotu-Archipel gesichtet, im östlichen Pazifik vor den Galápagos-Inseln, dem südlichen Kalifornien bis Peru.
Im Mittelmeer ist der Weißspitzen-Hochseehai ein Gelegenheitsgast und nur sehr selten anzutreffen. Die Tiere wandern über die Straße von Gibraltar oder den Suez-Kanal ein. So wurde 1978 ein 2,50 Meter langes Tier in einem der Kanäle in Venedig gefangen, 1998 wurde ein etwa 3 Meter langer Hai vor Martigues, Frankreich, von einem Taucher gesichtet. Eine Fortpflanzung findet im Mittelmeer nicht statt.
Im Sommer 2004 wurde ein 230 cm langer männlicher Weißspitzen-Hochseehai im Brackwasser eines Fjordes an der schwedischen Westküste gefangen. Ob das Tier durch natürliche Migration an einen Ort so weit außerhalb seines normalen Verbreitungsgebietes gelangte oder ob es möglicherweise durch Menschen dorthin verbracht wurde, ist nicht bekannt.
Als Lebensraum bevorzugen die Tiere offenes Freiwasser (Pelagial) über Tiefseebereichen mit Wassertiefen von mindestens 180 Metern. Außerdem findet man sie im Bereich von Kontinental- und Inselsockeln mit Wassertiefen von mindestens 35 Metern sowie über Kontinentalhängen. Die Art hält sich vorzugsweise in den warmen Wasserschichten nahe der Oberfläche auf und geht selten tiefer als etwa 150 Meter. Die Angaben zur maximalen Tiefe reichen von 230 bis 1082 Meter. Im Roten Meer begleitet der Hai oft Safariboote.
Lebensweise
Verhalten
Der Weißspitzen-Hochseehai ist ein sehr aktiver und meist mit geringem bis moderatem Tempo schwimmender Hochseehai. Dabei breitet er die großen Brustflossen weit aus. Er ist tag- und nachtaktiv, wobei er vor allem tagsüber in der Nähe der Wasseroberfläche schwimmt. Der Hai ist im Regelfall ein Einzelgänger, der sich jedoch zur Jagd auch in kleineren oder größeren Gruppen zusammenfinden kann. Dabei wurden Gruppenbildungen nach Größe und Geschlecht beobachtet.
Der Hai wird als sehr neugierig beschrieben und kommt Tauchern sehr nahe. Zugleich ist er sehr ausdauernd und kann, vor allem in direkter Konkurrenz um Nahrung mit Seidenhaien, auch sehr aggressiv werden. Der französische Meeresforscher Cousteau beschreibt Carcharhinus longimanus als die für den Menschen gefährlichste Haiart.
Ernährung
Der Weißspitzen-Hochseehai ernährt sich in erster Linie von mittelgroßen bis großen Hochseefischen, darunter Stachelmakrelen, Goldmakrelen, Thunfischen, Schwertfischen und Barrakudas. Aber auch Meeresschildkröten, Delfine, Tintenfische, Meeresvögel, Krebse oder Schnecken gehören zu seinem Nahrungsspektrum. Zudem frisst er Abfall von Schiffen und Kadaver, beispielsweise von Walen; wie andere große Haie verschluckt er auch regelmäßig unverdaubare Gegenstände.
Der Hai jagt beispielsweise, indem er beißend in Fischschwärme schwimmt. Es wurde auch beobachtet, dass er mit offenem Maul Thunfischschwärme durchquert, bis die Fische direkt hineinschwimmen. Die Jagd auf Hochseefische macht die Überwindung langer Strecken nötig. Ebenso wie andere pelagische Raubfische wie der Seidenhai (C. falciformis), der Blauhai (Prionace glauca), der Tigerhai (Galeocerdo cuvier) oder auch der Weiße Hai (Carcharodon carcharias) ist er in der Auswahl der Beutetiere nicht wählerisch und attackiert auf der Jagd alle der Größe nach passenden möglichen Beutetiere (opportunistischer Räuber). Die breite Nahrungspalette ermöglicht es diesen Arten, mit fast jedem marinen Habitat zurechtzukommen. Entsprechend ist er allerdings auch für Schwimmer und Taucher potentiell gefährlich, da er auch diese als Beute betrachten kann.
Dieser Hai bildet zwar keine Schulen, jagt aber manchmal in Gruppen, vor allem die jüngeren Haie schließen sich zu solchen zusammen. Bei größeren Beutetieren und Kadavern können sie auch gemeinsam mit anderen Hochseehaien, vor allem Blauhaien und Hammerhaien, auftauchen. Auch Vergesellschaftungen mit Grindwal-Schulen sind bekannt, bei denen die Haie von den von diesen gejagten Fischschwärmen profitieren.
Fortpflanzung
Der Weißspitzen-Hochseehai ist wie andere Arten der Gattung Carcharhinus lebendgebärend (vivipar) und bildet eine Dottersack-Plazenta. Die 1 bis 15 Junghaie kommen nach einer Tragzeit von etwa 12 Monaten auf die Welt, wobei die älteren Weibchen mehr Junge haben. Die Weibchen gebären ihre Jungtiere in seichten Küstengebieten mit trübem Wasser. Dabei wurde bei den Tieren im westlichen Nordatlantik sowie im südwestlichen Indik eine Saisonalität der Wurfzeit im Frühsommer festgestellt, während im Zentralpazifik das gesamte Jahr über trächtige Weibchen gefangen werden können und hier Geburt und Paarung offensichtlich nicht an feste Saisonzeiten gebunden sind.
Die Jungtiere haben eine Größe von etwa 60 bis 65 Zentimetern, bis zu einer Größe von 120 cm besitzen sie noch schwarze Flossenspitzen. Die Geschlechtsreife erreichen die Tiere mit 175 bis 200 cm. Dies dürfte auch, zusammen mit dem langsamen Heranwachsen der Jungen, ein Grund dafür sein, dass die Vermehrungsrate dieses Hais trotz der Mehrlingsgeburten nicht besonders hoch ist.
Taxonomische Beschreibung
Die Erstbeschreibung des Weißspitzen-Hochseehais erfolgte durch René-Primevère Lesson in seinen Aufzeichnungen während der Weltumsegelung von Louis Duperrey 1822–1825 mit der La Coquille. Lesson beschrieb zwei Individuen, die er im Tuamotu-Archipel in Französisch-Polynesien entdeckte und benannte den Hai als Squalus maou nach dem polynesischen Wort für "Hai". Diese Erstbeschreibung ging allerdings verloren und wurde vergessen.
1861 erfolgte eine erneute Beschreibung der Art durch den Kubaner Felipe Poey unter dem Namen Squalus longimanus. Dabei bezieht sich das Epitheton longimanus (aus dem Latein für "lange Hand") auf die Größe der Brustflossen des Hais, die im Vergleich zu anderen Arten flügelartig vergrößert sind. Nach verschiedenen taxonomischen Revisionen wurde der Hai später als Pterolamiops longimanus und abschließend unter dem heute gültigen Namen Carcharhinus longimanus eingeordnet.
Nach den Regeln der Internationalen Kommission für Zoologische Nomenklatur (ICZN) wird die erste veröffentlichte Beschreibung als Priorität für die Namensgebung genutzt. Entsprechend müsste der wissenschaftliche Name Carcharhinus maou für diese Art bevorzugt werden. Da die Erstbeschreibung Lessons allerdings so lang verschollen und unbekannt war, wurde der Name Carcharhinus longimanus als allgemein akzeptierter wissenschaftlicher Name beibehalten.
Systematik
Der Weißspitzen-Hochseehai wird heute als eine Art der Gattung Carcharhinus eingeordnet und lässt sich von den anderen Vertretern der Gattung durch eine Reihe morphologischer Merkmale sauber abgrenzen. Die Gattung umfasst aktuell etwa 30 Arten. Diese Art bildet innerhalb dieser Gattung wahrscheinlich eine monophyletische Gruppe mit dem Schwarzhai (C. obscurus), dem Galapagoshai (C. galapagensis), dem Seidenhai (C. falciformis), dem Sandbankhai (C. plumbeus), dem Großnasenhai (C. altimus) und dem Karibischen Riffhai (C. perezi), charakterisiert durch molekularbiologische Merkmale sowie morphologische Merkmale wie dem Interdorsalkamm auf dem Rücken sowie den großen dreieckigen Zähnen im Oberkiefer.
Unterarten des Weißspitzen-Hochseehais sind nicht beschrieben.
Menschen und Weißspitzen-Hochseehaie
Der Weißspitzen-Hochseehai kann Menschen gefährlich werden. Durch seine Lebensweise fern den Küsten sind Begegnungen jedoch selten, allerdings gibt es eine Reihe von dokumentierten Fällen von Angriffen auf Schwimmer, Taucher und Boote durch diese Art sowie weitere, bei denen der Weißspitzen-Hochseehai als Angreifer vermutet wird. Eine Reihe von Tauchern berichteten, dass Weißspitzen-Hochseehaie sie ausdauernd umkreisten und sich in regelmäßigen Abständen genähert haben.
Ihnen werden die meisten Unfälle nach Flugzeugabstürzen und Schiffsversenkungen in der Hochsee des Pazifiks während des Zweiten Weltkriegs zugeschrieben. In diesen Fällen handelte es sich bei den Opfern vor allem um Verwundete, die eine leichte Beute für die Haie darstellten. Hennemann berichtet von einem Bericht des südafrikanischen Oceographic Research Institute (ORI), nach dem vermutet wird, dass Weißspitzen-Hochseehaie den Tod vieler Menschen verursacht haben, als vor der Küste von Natal das Schiff Nova Scotia von einem deutschen U-Boot versenkt wurde. Auch der Großteil der Haiattacken auf die Überlebenden der U.S.S. Indianapolis im Juli 1945 soll auf den Weißspitzen-Hochseehai zurückgehen. Diese Geschichte wurde im Kinofilm Der weiße Hai bei einem Monolog des Charakters Quint, gespielt von Robert Shaw, ausführlich dargestellt.
In dem Dokumentarfilm Le Monde du silence von Jacques-Yves Cousteau wurden Weißspitzen-Hochseehaie gemeinsam mit einem großen Blauhai gefilmt, wie sie den Kadaver eines vorher durch Cousteau nach einem Unfall getöteten Pottwalkalbs „angriffen“. Das beteiligte Taucherteam berichtete, dass sich ihnen regelmäßig einzelne Haie annäherten und durch Schläge auf die Schnauze vertrieben werden mussten.
Gefährdung und Populationsentwicklung
Die IUCN setzte Carcharhinus longimanus im Mai 2008 auf die Rote Liste gefährdeter Arten und stufte ihn als vulnerable (gefährdet) ein. Als Gefährdungsursache wird der Hohe Druck durch die Fischerei in einem großen Teil seines Verbreitungsgebietes angegeben. Er wird dabei vor allem als Beifang bei der Hochseefischerei mit Langleinen und Schleppnetzen gefangen. Seine sehr großen Flossen sind zudem sehr begehrt als Basis der bekannten Haifischflossensuppe, der Kadaver wird nach der Entfernung der Flossen entsorgt. Aufgrund der sehr ungenauen Daten zur Hochseefischerei liegen keine konkreten Fangzahlen oder Angaben zur Populationsgröße und -veränderung vor.
Einzelne Populationen im nordwestlichen und westlichen Atlantik gelten derzeit schon als vom Aussterben bedroht (critically endangered). In diesen gingen die Populationszahlen in den Jahren 1992 bis 2000 um über 70 % zurück. Im Golf von Mexiko betrug der Rückgang von den 1950er bis in die 1990er Jahre sogar 99,3 %.
Während der Weißspitzen-Hochseehai noch vor ein paar Jahren gemeinsam mit dem Blauhai und dem Seidenhai als häufigste Großhaiart galt und sein Auftreten in Gebieten mit Meerestiefen über 180 Metern sehr häufig war, ist er heute nur noch gelegentlich anzutreffen.
Im März 2013 wurde auf der Artenschutzkonferenz der CITES in Bangkok eine Regulierung des Handels mit Weißspitzen-Hochseehaien beschlossen, die Regelung trat am 14. September 2014 in Kraft.
Literatur
Leonard J. V. Compagno: FAO Species Catalogue. Band 4: Sharks of the world. An annotated and illustrated catalogue of shark species known to date. Teil 2: Carcharhiniformes. (= FAO fisheries synopsis. Band 4, Nr. 125, Teil 2). Food and Agriculture Organization of the United Nations, Rom 1984, ISBN 92-5-101383-7, S. 484–86, 555–61, 588 (Vollständiges PDF, Artportrait).
Leonard J. V. Compagno, Marc Dando, Sarah Fowler: Sharks of the World. Princeton Field Guides, Princeton University Press, Princeton/Oxford 2005, ISBN 0-691-12072-2, S. 330.
Alessandro De Maddalena, Harald Bänsch: Haie im Mittelmeer. Franckh-Kosmos Verlag, Stuttgart 2005, ISBN 3-440-10458-3, S. 192–195.
Einzelnachweise
Weblinks
Weißspitzen-Hochseehai in der hai.ch-Datenbank
Weißspitzen-Hochseehai bei Natur-in-Bildern
Cathleen Bester: Oceanic Whitetip Shark. Florida Museum of Natural History. Aufgerufen am 15. Oktober 2008
Ben S. Roesch:
Requiemhaie |
1372709 | https://de.wikipedia.org/wiki/ISS-Expedition%2014 | ISS-Expedition 14 | ISS-Expedition 14 ist die Missionsbezeichnung für die 14. Langzeitbesatzung der Internationalen Raumstation. Die Mannschaft lebte und arbeitete vom 20. September 2006 bis zum 21. April 2007 an Bord der ISS.
Mannschaft
Michael López-Alegría (4. Raumflug), Kommandant (NASA/USA)
Michail Wladislawowitsch Tjurin (2. Raumflug), Bordingenieur (Roskosmos/Russland)
bis Dezember 2006: Thomas Reiter (2. Raumflug), Bordingenieur (ESA/Deutschland)
ab Dezember 2006: Sunita Williams (1. Raumflug), Bordingenieurin (NASA/USA)
Ersatzmannschaft
Peggy Whitson, Kommandantin (NASA/USA)
Juri Iwanowitsch Malentschenko, Bordingenieur (Roskosmos/Russland)
Léopold Eyharts, Bordingenieur (ESA/Frankreich) für Reiter
Clayton Anderson, Bordingenieur (NASA/USA) für Williams
Missionsverlauf
Die beiden Raumfahrer Michael López-Alegría und Michail Tjurin starteten am 18. September 2006 zusammen mit der US-amerikanischen Weltraumtouristin Anousheh Ansari an Bord von Sojus TMA-9 und koppelten zwei Tage später an der ISS an. Ansari war kurzfristig als drittes Besatzungsmitglied nachgerückt, da erst vier Wochen vor dem Start bekannt wurde, dass der ursprünglich vorgesehene Japaner Daisuke Enomoto den Flug aus medizinischen Gründen (Nierensteine) nicht antreten durfte.
Am 29. September kehrten Pawel Winogradow, Jeffrey Williams (beide Expedition 13) sowie Anousheh Ansari an Bord von Sojus TMA-8 zur Erde zurück. Thomas Reiter, der im Juli 2006 auf der Raumstation eingetroffen war, blieb als Mitglied der Expedition 14 ein halbes Jahr an Bord und wurde dann von Sunita Williams abgelöst. Er kehrte mit dem Shuttle-Flug STS-116 im Dezember 2006 zur Erde zurück.
Probleme mit Progress
Am 10. Oktober bestiegen Sojus-Kommandant Tjurin sowie die Bordingenieure López-Alegría und Reiter das Raumschiff Sojus TMA-9. Sie schlossen die Luken und koppelten um 18:14 UTC vom hinteren Andockstutzen des Swesda-Moduls ab, um Platz für den Progress-Frachter zu schaffen, der zwei Wochen später ankommen sollte. Michail Tjurin steuerte das Raumschiff zum vorderen Sarja-Adapter und machte dort nach 20 Minuten um 18:34 UTC wieder fest.
Am 26. Oktober um 14:29 UTC dockte das unbemannte Versorgungsraumschiff Progress M-58 an der ISS an. Es war drei Tage zuvor gestartet und brachte 2.183 kg frische Nahrungsmittel, Sauerstoff (50 kg) und Treibstoff (870 kg) sowie DVD-Filme, Musik-CDs, Bücher und Zeitschriften zur Raumstation. Aber auch 1.263 kg Ausrüstungstechnik, wie etwa Ersatzteile für den am 18. September ausgefallenen Sauerstoffgenerator „Elektron“, wurden angeliefert.
Komplikationen mit dem Annäherungssystem des Transporters verhinderten zunächst eine vollständige mechanische Verbindung: Die Kurs-Antenne ließ sich nicht komplett einklappen und es blieb ein kleiner Spalt zwischen Progress und der Station. Das Kontrollzentrum entschied, den Frachter abzukoppeln und einen neuen Versuch zu starten. Progress entfernte sich 40 Zentimeter von der ISS und machte um 18:06 UTC endgültig am Adapter fest. Um sicherzugehen, dass die Verbindung wirklich hermetisch dicht war, dauerte die Überprüfung länger als üblich. Die Luken konnten deshalb erst am nächsten Tag geöffnet werden.
Die Raumfahrer Michail Tjurin und Mike López-Alegría unternahmen am 23. November ab 00:17 UTC den ersten Außenbordeinsatz (EVA) der Mission aus der russischen Luftschleuse Pirs. Dieser verlief ungewöhnlich sportlich, denn Kosmonaut Tjurin spielte zu Werbezwecken Golf: Für die kanadische Golfausstattungsfirma „Element 21“ schlug er zu Beginn der fast sechsstündigen EVA einen kleinen Golfball aus Kunststoff (drei Gramm schwer mit vier Zentimeter Durchmesser) von einer speziellen Plattform ab. (Der erste Golfspieler der Raumfahrtgeschichte war Alan Shepard, der im Februar 1971 zwei Golfbälle auf dem Mond schlug). Danach untersuchten die beiden den Progress-Frachter, der vier Wochen zuvor an der Station angedockt hatte. Dabei waren Probleme mit einer Radioantenne aufgetreten. Diese hatte sich nicht wie geplant zurückgeklappt. Tjurin versuchte, die Antenne per Hand zu bewegen, was jedoch fehlschlug. Schließlich arbeiteten die Raumfahrer an einer Antenne, um dem unbemannten ATV-Frachtraumschiff der ESA eine Kopplung an der Station zu ermöglichen. Der Ausstieg ging nach 5 Stunden und 38 Minuten zu Ende.
Reiter geht von Bord
Am 11. Dezember 2006 bekam die ISS-Besatzung Besuch von der US-Raumfähre Discovery, als diese um 22:12 UTC an der Raumstation ankoppelte. Die Shuttle-Mission STS-116 brachte die P5-Gitterstruktur zur ISS und führte eine Wachablösung durch: Thomas Reiter, der seit einem halben Jahr in der Umlaufbahn arbeitete, wurde von der Astronautin Sunita Williams abgelöst. Die Shuttle-Mannschaft unternahm vier Ausstiege, wobei der P5-Adapter montiert, das Stromleitungsnetz der Raumstation neu konfiguriert und ein klemmender Solarflügel eingefahren wurden. Nach acht Tagen dockte die Discovery am 19. Dezember um 22:10 UTC wieder von der Raumstation ab und nahm Thomas Reiter, der seit Juli an Bord der ISS geforscht hatte, wieder zur Erde zurück.
Am 20. Januar 2007 um 2:59 UTC dockte das zwei Tage zuvor gestartete unbemannte Versorgungsraumschiff Progress M-59, das zu Ehren des 100. Geburtstages des sowjetischen Raumfahrtpioniers Sergei Koroljow dessen Namen erhalten hatte, an die ISS an. An Bord waren 2,3 Tonnen Fracht, darunter 780 kg Treibstoff, 50 kg Sauerstoff, diverse Ersatzteile, Nahrungsmittel und Wasser. Der mit Müll beladene Progress-M-57-Transporter war drei Tage vorher von der Station abgekoppelt worden und verglühte kurz darauf beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre.
Vier Außenarbeiten in Folge
ISS-Kommandant Michael López-Alegría und seine Kollegin Sunita Williams verließen am 31. Januar für 7 Stunden und 55 Minuten die Raumstation über die US-Luftschleuse Quest. Der Ausstieg begann um 15:14 UTC und war der zweite dieser Mission. In den ersten drei Stunden trennten die beiden US-Astronauten das Destiny-Modul vom provisorischen EEATCS- und verbanden es mit dem permanenten EATCS-Kühlkreislauf (External Active Thermal Control System), der sechs Wochen zuvor durch die STS-116-Besatzung aktiviert worden war. Williams und López-Alegría kappten vier EEATCS-Leitungen, die mit den Radiatoren des P6-Moduls verbunden waren und schlossen diese am Kühlkreislauf A an. Danach wurde um 19:22 UTC einer der zwölf Meter langen Radiatoren zusammengeklappt und eine Reservekühlleitung stillgelegt. Dabei bemerkte Sunita Williams, wie einige kleine Eisflocken Ammoniak, das in den Leitungen zirkuliert, davonschwebten. Obwohl die Kristalle nicht mit den Raumanzügen in Kontakt kamen, ordnete die Flugleitung den Notfallplan an. Dieser sah vor, dass die Astronauten am Ende des Ausstiegs eine Dekontaminationsphase in der Luftschleuse durchführen sollten.
Weniger als 87 Stunden nach dem Ende des ersten führten Sunita Williams und Michael López-Alegría am 4. Februar den nächsten Außenbordeinsatz durch. Sie beendeten die vier Tage zuvor begonnenen Arbeiten am Kühlsystem der Raumstation. Der Ausstieg begann um 13:38 UTC aus der Luftschleuse Quest. Erneut trat beim Trennen der sechs Jahre alten Leitungen etwas Kühlmittel (Ammoniak) aus, gefährdete die Astronauten allerdings nicht. Nachdem der Kühlkreislauf B aktiviert wurde, inspizierten die beiden das Gitterelement P6 mit seinen großen Solarzellenpaneelen. Dieses wurde am 29. Oktober 2007 mittels des Hauptmanipulatorarms der Station an seine endgültige Position an der äußersten Backbordseite der ISS verlegt. Dazu mussten zuvor die Solarzellenausleger eingefahren werden. Beim Zusammenklappen des ersten hatte es im Dezember 2006 unerwartete Probleme gegeben. Deshalb machten López-Alegría und Williams im Auftrag der NASA-Ingenieure Fotos vom Zustand des Solarzellenflügels, der während des nächsten Shuttle-Besuchs im August 2007 eingezogen wurde. Schließlich verlegten die beiden Astronauten außerhalb des Destiny-Labors elektrische Kabel. Diese SSPTS-Leitungen (Station-to-Shuttle Power Transfer System) wurden am Kopplungsstutzen PMA-2 eingebaut und können zukünftig die US-Raumfähren mit Energie von der Raumstation versorgen, die damit länger an der ISS operieren können. Nach sieben Stunden und elf Minuten ging um 20:49 UTC der Einsatz erfolgreich zu Ende. Bordingenieurin Williams stellte dabei einen neuen Raumfahrtrekord auf: Mit 22 Stunden und 37 Minuten verbrachte sie mehr als jede andere Frau im freien Weltall. Für den ISS-Kommandanten López-Alegría war es der achte Weltraumausstieg, der damit nach Anatoli Solowjow und Jerry Ross den dritten Platz in der EVA-Zeiten-Weltrangliste belegte.
Eine halbe Stunde früher als geplant begann am 8. Februar um 13:26 UTC der dritte Ausstieg. Nachdem López-Alegría und Williams die US-Luftschleuse Quest verlassen hatten, entfernten sie zwei Abdeckungen. Diese hatten Teile der Elektronik am P3-Gitter vor dem Auskühlen geschützt und wurden nicht mehr benötigt. López-Alegría warf die Thermodecken von der Raumstation weg, wo sie in der Erdatmosphäre verglühten. Anschließend montierten sie eine UCCAS-Plattform (Unpressurized Cargo Carrier Attach System), die als Abstellfläche für Ausrüstungsteile dient. Bevor der erfolgreiche Arbeitseinsatz endete, stellten die beiden US-Astronauten die letzten SSPTS-Verbindungen her, mit deren Installation während der letzten EVA begonnen wurde. (Die neue Energieübertragung wurde während STS-118 erstmals genutzt.) Der 80. Raumstationsausstieg ging um 20:06 UTC nach 6 Stunden und 40 Minuten zu Ende. Mit drei EVAs in neun Tagen war es das erste Mal, dass so viele ISS-Außenbordeinsätze in so kurzer Zeit durchgeführt wurden. Außerdem überholte Michael López-Alegría seinen amerikanischen Kollegen Jerry Ross, der bislang die zweitmeiste EVA-Erfahrung hatte und Sunita Williams erhöhte ihren Rekord für die längste EVA-Zeit einer Frau auf 29 Stunden und 17 Minuten.
Der nächste Ausstieg (EVA) – der vierte in nur drei Wochen – fand bereits am 22. Februar statt. Um 10:27 UTC verließen diesmal Michael López-Alegría und Michail Tjurin in russischen Raumanzügen die Luftschleuse Pirs, um eine widerspenstige Antenne am Progress-Raumschiff zu entfernen. Die Antenne konnte am 26. Oktober vergangenen Jahres beim Andocken des Progress-Transporters am hinteren Kopplungsstutzen des Swesda-Moduls nicht richtig eingefahren werden, weil sie sich in der Struktur der Station verklemmt hatte. Dieses Problem musste behoben werden, um den Frachter problemlos abzudocken. Zu Beginn der EVA hatte Tjurin mit einem beschlagenen Visier zu kämpfen, weil ein für die Wärmeregulierung seines Orlan-Raumanzugs zuständiger Verdampfer fehlerhaft arbeitete.
Außer der Behebung des Progress-Antennenproblems erledigten López-Alegría und Tjurin noch zahlreiche andere Aufgaben. Sie fotografierten eine russische Satellitennavigationsantenne und wechselten ein russisches Experiment aus. Bevor Verbindungen und Rückhaltemechanismen an einem handbetriebenen Strela-Kran an der Pirs-Luftschleuse inspiziert wurden, fotografierten die Astronauten noch eine Antenne für das europäische ATV und überprüften ein deutsches Robotik-Experiment.
Nach sechs Stunden und 18 Minuten stiegen die beiden Raumfahrer um 16:45 UTC wieder durch die Pirs-Schleuse in die ISS ein. Es war der 81. Außenbordeinsatz zum Aufbau der Raumstation und der 53. Ausstieg aus der ISS selbst. Davon erfolgten 20 Ausstiege über Pirs. Dies war bereits der fünfte Außenbordeinsatz für diese ISS-Besatzung. Michael López-Alegría stellte mit seinem insgesamt zehnten Weltraumausstieg einen neuen US-Rekord auf. Nur der Russe Anatoli Solowjow hat mehr Ausstiege (16) aufzuweisen.
Forschung und Innenausbau
Nach ihren umfangreichen Arbeiten außerhalb der ISS nahm die dreiköpfige Besatzung ihr wissenschaftliches Forschungsprogramm wieder auf. Zwei Tage nach der letzten EVA wurden unter der Bezeichnung SoRGE (Soldering in Reduced Gravity Experiment) neue Lötverfahren erprobt. Bisher eingesetzte Lötmittel können in der Schwerelosigkeit durch entstehende Gase zu Blasenbildungen, Lücken oder Poren führen, die die Metallverbindung schwächen können. Deshalb werden Ausrüstungsteile auf der Raumstation oft ausgewechselt, statt sie zu reparieren.
Bordingenieurin Sunita Williams trainierte am 28. Februar mittels einer Computersimulation ihre Fähigkeiten im Umgang mit dem Roboterarm der Raumstation. Anschließend widmete sie sich mit ihren Kollegen Tjurin und López-Alegría dem TRAC-Experiment (Test of Reaction and Adaptation Capabilities). Damit will Prof. Dr. Otmar Bock, der Leiter des Instituts für Physiologie und Anatomie der Deutschen Sporthochschule Köln, zusammen mit kanadischen und US-amerikanischen Wissenschaftlern herausfinden, wie sich der Mensch an die Schwerelosigkeit gewöhnt. Manchmal hatten Raumfahrer berichtet, dass ihre motorischen Fähigkeiten mit der Dauer ihres Weltraumaufenthalts abnahmen. Die Forscher führen das darauf zurück, dass sich das Gehirn für ein Leben in der Mikrogravitation umstrukturiert. Dazu beanspruche es mehr Ressourcen, die aus anderen Bereichen abgezogen würden. Die Mannschaft arbeitete regelmäßig mit dem TRAC-Laptop, um den Verlauf zu dokumentieren – nicht nur während der Mission, sondern auch vor und nach dem Flug.
Anfang März wurden im US-Modul Destiny die letzten Umbauarbeiten abgeschlossen, um im Herbst 2007 die neue OGS-Sauerstoffanlage in Betrieb nehmen zu können. Das Oxygen Generation System wird in den Wasserkreislauf der Station integriert und spaltet Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff. OGS, das mit der Shuttle-Mission STS-121 im Juli 2006 zur ISS gebracht wurde, ist ein wichtiger Bestandteil des Lebenserhaltungssystems und unverzichtbar, wenn die permanente Besatzungsstärke auf sechs Personen erhöht wird.
Zur gleichen Zeit bereitete Bordingenieur Michail Tjurin den russischen Teil der Raumstation auf die Ankunft des neuen Großraum-Versorgungsfrachters ATV vor. Bis zum Jungfernflug des von Europa gebauten automatischen Güterzubringers müssen noch einige Tests an Bord durchgeführt werden, die hauptsächlich mit dem Satellitennavigationssystem zu tun haben, da ATV völlig selbständig die Station ansteuert und am Swesda-Modul festmacht. Der Erststart des Frachters ist momentan für das Frühjahr 2008 vorgesehen.
An der Backbordseite des Verbindungsknotens Unity brachte die Stammbesatzung am 14. März ein neues Innenfenster an. Es ist mit einem Kamerasystem ausgerüstet, das künftige automatische Andockmanöver sowie den Umgang mit dem ISS-Roboterarm vereinfachen wird. Ein baugleiches Fenster war bereits vor vier Jahren an der gegenüberliegenden Seite von Unity installiert worden.
Mitte März wurde mit der Aufrüstung des internen OpsLAN-Computernetzes (Operations Local Area Network) begonnen. Das neue Ethernet-Datennetz ist zehn Mal schneller und verbindet alle ISS-Rechner über Router miteinander. Computer, die nicht verkabelt sind, werden per Funk erreicht. Das verbessert auch die Arbeit mit den Systemen auf dem russischen Teil der Raumstation, weil dessen Kabelnetz nur eine geringe Bandbreite hat. Ursprünglich sollte der Netzausbau erst von der nächsten Mannschaft durchgeführt werden. Wegen des verschobenen Starts von STS-117 wurden diese Arbeiten vorgezogen.
Vorbereitung für die Neuankömmlinge
Am 27. März 2007 um 18:11 UTC dockte der unbemannte Versorgungsfrachter Progress M-58 nach fünf Monaten gemeinsamen Fluges von der Raumstation ab. Zuvor hatte die Besatzung die Transportkapsel mit Müll beladen und verschlossen. Mit einer Bremszündung wurde Progress in die dichteren Schichten der Erdatmosphäre gesteuert, wo es wenige Stunden später über dem Pazifik verglühte.
Um Platz für die eine Woche später eintreffende Mannschaftsablösung zu schaffen, stiegen die drei Raumfahrer am 29. März in ihr Sojus-Raumschiff und koppelten von der Station ab. Michail Tjurin steuerte das Raumschiff vom Kopplungsstutzen des Sarja-Moduls zum Swesda-Adapter. Nach nur 24 Minuten hatte das Raumschiff die kurze Strecke – beide „Parkplätze“ liegen nur 25 Meter auseinander – zurückgelegt und dockte um 22:54 UTC wieder an der ISS.
Nach fast 50 Stunden Flug erreichte Sojus TMA-10 am 9. April 2007 mit der nächsten Stammbesatzung die Raumstation und legte um 19:10 UTC am Sarja-Adapter an. Die Ablösung, bestehend aus dem ISS-Kommandanten Fjodor Jurtschichin und seinem Bordingenieur Oleg Kotow, brachte den amerikanischen Weltraumtouristen Charles Simonyi mit.
Williams läuft den Boston-Marathon
Als erster Mensch im Weltraum nahm Sunita Williams an einem Marathonlauf teil. Von Gummibändern gehalten, lief sie am 16. April auf dem Laufband in der Raumstation den 111. Boston-Marathon mit. Nach wochenlangen Trainingsrunden startete sie um 14:00 UTC zeitgleich mit den 23.900 anderen Aktiven, darunter 7.600 Frauen, auf der Erde. Williams, die in Massachusetts aufwuchs und eine begeisterte Marathonläuferin ist, nahm nicht nur symbolisch teil, sondern hatte sich durch ihr gutes Abschneiden beim Marathonlauf in Houston im vergangenen Jahr qualifiziert. Mit der Teilnehmernummer 14000 startete sie über dem Pazifik und hatte nach 4 Stunden und 23 Minuten und zweieinhalb Erdumkreisungen, überwacht von zwei Computern, die volle Distanz von 42,195 Kilometern über Russland zurückgelegt. Damit war sie 57 Minuten langsamer als beim Houston-Marathon und unterlag auch ihrer Schwester Pandya, die bei stürmischem Wetter in Boston – böiger Wind, Regen, Temperaturen um 10 °C – einige Minuten früher das Ziel erreichte.
Die Rückkehr
Mit einer kleinen Zeremonie übergaben Mike López-Alegría und Michail Tjurin am 17. April um 20:40 UTC das Kommando der ISS an ihre beiden Nachfolger. Diese waren in der zurückliegenden Woche in die Arbeitsabläufe eingewiesen worden. Sunita Williams stand den beiden Neuen als erfahrene Bordingenieurin zur Seite, denn sie blieb als Verstärkung der Expedition 14 auf der Station.
Am selben Tag wurde die Rückkehr von López-Alegría und Tjurin um einen Tag verschoben. Frühjahrstauwasser hatten das Landegebiet in der kasachischen Steppe aufgeweicht, was die Arbeit der Bergungstrupps erschwert hätte. Die russische Raumfahrtbehörde entschied deshalb, dass Sojus TMA-9 erst 24 Stunden später in einer südlicher gelegenen Region landen sollte.
Wohlbehalten kehrten Tjurin und López-Alegría wie geplant am 21. April nach sieben Monaten mit ihrer Sojus-TMA-9-Landekapsel zurück. Wie zu Beginn ihrer Mission hatten sie einen Weltraumtouristen an Bord – diesmal war es der Ex-Microsoft-Programmierer Simonyi, der nach zwei Wochen im Orbit die Heimreise antrat. Zweieinhalb Stunden nach dem Ablegen von der Raumstation erfolgte die vierminütige Bremszündung des Sojus-Raumschiffes. Der Wiedereintritt verlief ebenso wie die Landung problemlos. Zwei Stunden vor Sonnenuntergang ging die Landekapsel um 12:31 UTC rund 135 Kilometer nordöstlich von Dscheskasgan in der kasachischen Steppe nieder. Unmittelbar danach trafen die Such- und Bergungsmannschaften, bestehend aus zwölf Hubschraubern, zwei Flugzeugen und sechs Geländefahrzeugen, an der Landestelle ein und holten die drei Raumfahrer nur 15 Minuten nach dem Aufsetzen aus der Landekapsel.
Für Kommandant Michael López-Alegría bedeuteten diese 215 Tage einen neuen nationalen Langzeitflugrekord: er überbot die 2002 von seinen Landsleuten Carl Walz und Daniel Bursch während der vierten ISS-Expedition aufgestellte Bestmarke um neun Tage. Außerdem wurde er mit über 67 Stunden und zehn Ausstiegen der US-amerikanische Raumfahrer mit der meisten Außenborderfahrung und belegt auf der EVA-Tabelle nach Anzahl und Gesamtdauer den zweiten Platz. Lediglich Anatoli Solowjow verbrachte mit 16 Ausstiegen und über 78 Stunden mehr Zeit außerhalb eines Raumschiffes.
Möglicherweise bedeutsames Ergebnis
Bereits seit Längerem ist bekannt, dass das menschliche Immunsystem in der Schwerelosigkeit nicht korrekt arbeitet. Es wurde im Verlaufe von wissenschaftlichen Untersuchungen offenbar auf Grundlage eines 2006 im Rahmen der ISS-Expedition 14 an Bord der Internationalen Raumstation durchgeführten Experiments zumindest teilweise gelöst.
Bei seinem zweiten Langzeitaufenthalt im Weltraum führte Thomas Reiter im Auftrag der ESA ein Experiment durch, bei dem bestimmte Zellen des menschlichen Immunsystems zum einen in der Mikrogravitation gehalten wurden, zum anderen in einer Zentrifuge einem Schwerkraftersatz ausgesetzt waren. Nach Ablauf der Experimentierzeit wurden die Zellen eingefroren und auf der Erde detailliert untersucht. Das Ergebnis: bei den Zellen, die sich ohne Schwerkraft entwickelt hatten, war eine wichtige Signalkette der Immunantwort unterbrochen. Der Transkriptionsfaktor NF-Kappa-B konnte nicht mehr gemeinsam mit einem sogenannten Rel-Protein aktivierend wirken. Dies geschieht nur im Zusammenwirken der beiden Faktoren als Dimere. Allein wirken NF-Kappa-B1 und B2 dagegen hemmend.
Die neuen Erkenntnisse könnte man in Zukunft auf zweierlei Art nutzen. Zum einen könnte man die Immunreaktion auf eine Infektion durch geeigneten Einsatz von Hemmstoffen steuern, so dass diese nicht lebensbedrohlicher wird als die Infektion selbst. Zum zweiten, und dies ist wohl die interessantere Art, könnte man überbordende Autoimmunantworten bremsen, möglicherweise sogar verhindern. Zu den bekanntesten Autoimmunerkrankungen gehören Arthritis, rheumatisches Fieber, Diabetes mellitus Typ 1, Multiple Sklerose, Gastritis, Narkolepsie oder Morbus Bechterew. Dabei greift das Immunsystem fälschlicherweise körpereigene, gesunde Zellen an. Es hier zu bremsen oder gar aufzuhalten, könnte einen unglaublichen Fortschritt in der Humanmedizin bedeuten und langfristig weltweit gewaltige Mittel einsparen.
Siehe auch
Liste unbemannter Missionen zur Internationalen Raumstation
Liste der Weltraumausstiege
Liste der Raumfahrer
Weblinks
NASA: Offizielle Missionsseite (englisch)
NASA: Fotogalerie (englisch)
spacefacts.de: Missionszusammenfassung, Bilder und Grafiken
Quellen
NASA: Offizielle Missionsseite (englisch)
NASA: Fotogalerie (englisch)
SPACE.com: (englisch)
14
Europäische Weltraumorganisation
Deutsche Raumfahrt
Raumfahrtmission 2006
Raumfahrtmission 2007 |
1401198 | https://de.wikipedia.org/wiki/Luftkrieg%20w%C3%A4hrend%20der%20Operation%20Overlord | Luftkrieg während der Operation Overlord | Der Luftkrieg während der Operation Overlord gehört neben der Luftschlacht um England, den Trägerschlachten im Pazifik und dem strategischen Luftkrieg gegen das Deutsche Reich zu den bedeutendsten Luftschlachten des Zweiten Weltkrieges. Sie fand zwischen April und August 1944 im Verlauf der alliierten Landung in Nordfrankreich (→ Operation Overlord) statt.
Die alliierte Landung in der Normandie wurde auch durch die Luftüberlegenheit der alliierten Streitkräfte ermöglicht. Vor dem 6. Juni 1944, dem sogenannten D-Day, bereiteten die alliierten Luftstreitkräfte die Invasion vor. Sie bombardierten deutsche Versorgungslinien, Artilleriebatterien und unterstützten die französische Résistance aus der Luft mit Munition und Ausrüstung.
Während des D-Days sicherten alliierte Jäger den Luftraum über dem Landungsbereich, und Bomberstaffeln griffen deutsche Stellungen im Hinterland an. Zum Schutz der Armada und der Nachschubschiffe suchten zugleich alliierte Flugzeuge die See nach deutschen U-Booten ab. Da die Deutschen an eine Landung an der Straße von Calais geglaubt hatten und teilweise im Juni 1944 immer noch glaubten (→ Deutsche Situation in der Normandie im Jahr 1944), konnten sie den Alliierten am D-Day nur wenige Jagdflugzeuge entgegensetzen. Ein Großteil der Verbände war kurz zuvor weiter ins Landesinnere verlegt worden.
Nach dem D-Day unterstützten die Alliierten ihre Offensiven auf dem Boden mit konzentrierten Bombardements. Alliierte Jagdbomber suchten die Normandie nach deutschen Truppenverbänden ab und beschossen sie, um einen Einsatz gegen die Landstreitkräfte zu verhindern. Die deutsche Luftwaffe konnte den alliierten Luftstreitkräften und dem Vormarsch am Boden kaum Kräfte entgegensetzen. Die deutsche Wehrmacht erhoffte sich durch „Wunderwaffen“, wie beispielsweise „Blitzbombern“ und Düsenjägern (die jedoch nicht zum Einsatz kamen), vor allem aber durch den Einsatz von kampferprobten Panzerdivisionen, die Invasion abzuwehren. Außerdem griff die deutsche Wehrmacht britische Städte mit den „Vergeltungswaffen“ V1 und V2 an.
Die alliierten Luftstreitkräfte konnten alle an sie gestellten Aufgaben erfüllen, wenn auch, wie im Falle der Schlacht um Caen, mit Verzögerung aufgrund schlechten Wetters. Das Ausmaß der eingesetzten Kräfte war bislang unerreicht, der Verlust von fast 17.000 alliierten Besatzungen innerhalb von weniger als drei Monaten war das höchste personelle und materielle Opfer in der Geschichte des Luftkrieges. Die deutsche Luftwaffe war nicht in der Lage, der alliierten Übermacht entscheidend zu begegnen. Der Versuch, den alliierten Vormarsch durch einen massiven Gegenschlag während ungünstigen Flugwetters im Winter 1944 zu stoppen, scheiterte ebenfalls (Ardennenoffensive, Operation Bodenplatte).
Hintergrund, Planung und Situation der Kriegsgegner
Alliierte Vorbereitung der Operation Overlord und Aufgabenstellung für die Luftstreitkräfte
Am 11. Januar 1944 begannen die alliierten Luftangriffe im direkten Zusammenhang mit der Vorbereitung auf Operation Overlord. Die Einsätze hatten bis zum Beginn der Invasion folgende Ziele, die parallel zueinander verfolgt wurden:
Versorgung der Widerstandsgruppen im besetzten Frankreich (Résistance) mit Waffen und Gerätschaften, die zur Durchführung von Sabotageaktionen dienten.
Angriff auf die kurz vor der Fertigstellung befindlichen deutschen Raketenabschussbasen an der Kanalküste (Operation Crossbow).
Angriffe gegen deutsche Transporteinrichtungen im zukünftigen Landungsgebiet, hauptsächlich gegen Einrichtungen der von den Deutschen beherrschten französischen Eisenbahn (Transportation Plan).
Angriffe gegen Einrichtungen der deutschen Luftwaffe, insbesondere gegen Einsatzbasen der Reichsverteidigung und deren Endmontagewerke.
Bereits vier Monate vor der Durchführung der Operation Overlord wurde von den Alliierten eine Serie von Luftangriffen gegen Ziele an der Kanalküste, der holländischen Küste und Ziele im Reichsgebiet durchgeführt, mitunter um die Verteidigungsbereitschaft der deutschen Luftwaffe zu testen. Bei diesen Operationen, die bei den alliierten Besatzungen als Big Week bekannt wurden, stellte sich heraus, dass die alliierten Luftstreitkräfte an jedem Ort und zu jeder Zeit die Luftherrschaft erringen konnten.
Darüber hinaus wurden im April 1944 Erdöllager im Fördergebiet um die rumänische Stadt Ploesti und ab Mai 1944 eine Luftoffensive auf die deutsche Treibstoffindustrie im Reichsgebiet durchgeführt, was zu einem Mangel an Flugbenzin führte und die Bewegungsfreiheit der Luftwaffe weiter einschränkte.
Beteiligte alliierte Luftstreitkräfte
Oberbefehlshaber der Alliierten Expeditions-Luftflotten (Allied Expeditionary Air Force, AEAF) und damit der größten und vielseitigsten Luftarmada aller Zeiten war Air Chief Marshal Trafford Leigh-Mallory. Unter seinem Befehl befanden sich Luftlandeflotten, Taktische Luftflotten, Strategische Luftflotten, das Küstenkommando der Royal Air Force sowie die „Air Defence of Great Britain“.
Luftlandeflotten
No. 38 Group AEAF und No. 46 RAF Transport Command mit zusammen 478 Transportflugzeugen und 1.120 Lastenseglern für Luftlandeoperationen.
9th Troop Carrier Command der 9th Air Force mit insgesamt 813 Transportflugzeugen und 511 Lastenseglern.
Taktische Luftflotten
Entwicklungsgeschichte
Während des Westfeldzugs 1940 waren die Methoden der alliierten Luftstreitkräfte, insbesondere der Royal Air Force, gegen die schnell vorrückenden Verbände des deutschen Landheeres noch unbefriedigend. Die für die Luftnahunterstützung vorgesehenen Verbände, die mit veralteten Flugzeugen des Musters Fairey Battle ausgerüstet waren, konnten kaum taktische Erfolge erzielen und waren fast vollständig aufgerieben worden.
Während des Afrikafeldzuges, der für Großbritannien eine Fortsetzung des Landkrieges gegen das Deutsche Reich darstellte, wurde dieses Defizit sowohl bei der RAF als auch bei den amerikanischen Luftstreitkräften aufgeholt. Die erste taktische Luftflotte der Royal Air Force war die Desert Air Force (DAF). Diese aus verschiedenen Jäger- und Bomberkommandos zusammengestellte Einheit entwickelte wichtige, für spätere taktische Luftflotten wegweisende Methoden wie zum Beispiel den Einsatz von Forward Air Controllern (zu deutsch sinngemäß: Vorgeschobene Angriffseinweiser).
Auf amerikanischer Seite wurde die 9th Air Force am 12. November 1942 aus der US-Army Middle East Air Force (USAMEAF) in Nordafrika gebildet. Vorhandene Flugzeugmuster wurden für den Einsatz gegen Bodentruppen in einer taktischen Situation umgerüstet, Angriffsmuster wurden erprobt, die Voraussetzungen für die Entstehung von spezialisierten taktischen Luftflotten wurden geschaffen.
Die 2nd Tactical Air Force der Briten und die 9th Air Force der Amerikaner
Als das Afrikakorps 1943 geschlagen war, wurden die taktischen Einheiten nach England verlegt und in zwei große Luftflotten zusammengefasst, die britische Second Tactical Air Force (2nd TAF) und die amerikanische 9th Air Force.
Beide Luftflotten wurden auf die Umstände einer geplanten Invasion hin ausgerichtet und begleiteten die alliierten Bodentruppen von der Landung in der Normandie an bis zum Kriegsende. Die Ausrüstung wurde im weiteren Verlauf durch neue Flugzeugmuster und spezielle Munition komplettiert, wie zum Beispiel die Hawker Typhoon, ausgerüstet mit ungelenkten Luft-Bodenraketen zur Panzerbekämpfung.
Die 2nd Tactical Air Force und die 9th Air Force verfügten am 6. Juni 1944 zusammen über ca. 2.600 Flugzeuge, darunter Jagdflugzeuge, Jagdbomber, leichte und mittlere Bomber, Aufklärer und Artilleriebeobachter.
Strategische Luftflotten
Royal Air Force Bomber Command (Strategisches Bomberkommando der Royal Air Force, Oberbefehlshaber Arthur Harris) bestand am 6. Juni 1944 aus 82 Staffeln mit insgesamt 1.681 Flugzeugen.
8th Air Force, seit 22. Februar 1944 unter dem Befehl der United States Strategic Air Force (USSTAF) und deren Oberbefehlshaber General Carl Spaatz. Die Luftstreitmacht, die zu Deutsch als 8. US-Luftflotte und im amerikanischen Militärjargon als „Mighty Eighth“ (Mächtige Achte) bezeichnet wurde, war die größte aller beteiligten Luftflotten. Sie bestand aus über 2.800 Flugzeugen und verfügte auch über große Begleitjägerverbände.
Royal Air Force Coastal Command (Küstenkommando)
16th und 19th Group mit insgesamt 63 Staffeln, die am 6. Juni zusammen 678 einsatzbereite Flugzeuge umfassten, davon 549 aus Einheiten der Royal Air Force. Hauptaufgabe war die Durchführung der Operation Cork. Daneben wurden die alliierten Seestreitkräfte bei der Abwehr von Schnellbooten und anderen leichten Überwasserschiffen unterstützt und Nachschublinien an der Küste angegriffen.
Air Defence of Great Britain (ADGB)
Zur Verteidigung der britischen Inseln waren die 10th, die 11th, die 12th und die 13th Group mit insgesamt 45 Staffeln vorgesehen. Diese Einheiten wurden teilweise auch kurzfristig der 2nd Tactical Air Force unterstellt und nahmen an vielfältigen Operationen teil, die weit über die Verteidigung des britischen Luftraumes hinausgingen.
Verteidigungsplan der deutschen Luftwaffe
Die Rolle der Luftwaffe
Nach dem Kriegswinter 1943/44 kam es zu einer Vertrauenskrise zwischen dem Oberbefehlshaber der Luftwaffe Hermann Göring und Hitler. Göring, seit dem misslungenen Putsch 1923 engster Vertrauter Hitlers, hatte während des Krieges mehrfach leere Versprechungen gemacht. So wollte er 1940 das Britische Expeditionskorps in Dünkirchen durch die Luftwaffe vernichten, es gelang aber eine erfolgreiche Evakuierung von fast 340.000 alliierten Soldaten. Im August 1940 wollte er die Royal Air Force innerhalb von vier Tagen niederwerfen, scheiterte aber in der Luftschlacht um England auch damit. Die von ihm zugesagte Versorgung der eingeschlossenen 6. Armee in Stalingrad über den Winter 1942–43 aus der Luft versagte. Göring hatte sogar behauptet, das Reichsgebiet vor alliierten Luftangriffen vollständig schützen zu können.
Die Hoffnung auf starke Landstreitkräfte und die kapitalen Fehleinschätzungen Görings führten dazu, dass Hitler die Verteidigung der möglichen Invasionsstrände nicht der Luftwaffe übertrug. Er wählte dafür mit Generalfeldmarschall Erwin Rommel den Befehlshaber mit großen Erfahrungen im Bodenkampf gegen alliierte Truppen.
Den Einsatz der Luftwaffe, insbesondere den Einsatz von „Blitzbombern“ zur Bekämpfung gelandeter alliierter Truppen, gedachte Hitler selbst zu lenken. Die tatsächliche Aktivität der Luftwaffe beschränkte sich im Rahmen des Unternehmens Steinbock auf einzelne Nachtangriffe, wie am 29. April 1944 gegen Portsmouth mit 100 Bombern. Zusammen mit dem V-Waffeneinsatz bildete dies die sogenannte Fernkampfoffensive.
Abgeworfene Bombenlasten über England:
1943: 2.298 Tonnen
1944: 9.151 Tonnen (inklusive V-Waffen)
Die defensiven Vorkehrungen beschränkten sich auf die Verlegung von einigen Luftabwehrbatterien aus dem Reichsgebiet an die Atlantikküste. Mit der Verlegung von fliegenden Verbänden wollte man im Oberkommando der Wehrmacht „bis zum letzten Augenblick [warten].“
Die vom Oberkommando der Wehrmacht erwogenen Szenarien konzentrierten sich auf Feldschlachten gegen Luftlandetruppen und Heeresverbände der alliierten Invasionsarmee. Aspekte des Luftkrieges in diesem Zusammenhang wurden vernachlässigt. Generalfeldmarschall Erwin Rommel, der die Verteidigungsanlagen der zukünftigen Westfront inspizierte, stellte fest, dass eine Invasionsarmee von den Verteidigern noch vor der Brückenkopfbildung zurückgeschlagen werden müsse. Rommel selbst konzentrierte sich dabei auf die Bereitstellung von gepanzerten Verbänden und den Ausbau von Verteidigungsanlagen. Wie der Luftüberlegenheit des Gegners zu begegnen sei, blieb offen.
Ab April wurden die militärischen Voraussetzungen für eine Invasion auf alliierter Seite vom Oberkommando der Wehrmacht als gegeben betrachtet. Jede Verzögerung des Angriffs wurde als Vorteil für die Verteidiger gewertet, da diese die Zeit für die Aufstellung weiterer Heeresverbände und zum Ausbau von Verteidigungsanlagen nutzen könnten. Dass der Grund der Verzögerung möglicherweise mit der Flugwetterlage zu tun hatte, wurde zwar erkannt, es wurden aber keine Anstalten zur Sicherstellung der Luftüberlegenheit über den möglichen Kampfgebieten getroffen.
Verfügbare Einheiten zum Zeitpunkt der alliierten Invasion
Am 6. Juni 1944 waren für die Verteidigung der Kanalküste bei Tage außer den 39 veralteten Junkers Ju 88 des Zerstörergeschwaders 1 (ZG 1) lediglich die beiden dauerhaft dort stationierten Jagdgeschwader 2 (JG 2 „Richthofen“) und Jagdgeschwader 26 (JG 26 „Schlageter“) vorgesehen. Die Anzahl der einsatzbereiten Maschinen der beiden Geschwader betrug 119, was einer Einsatzbereitschaft von weniger als 50 % entspricht.
Außerdem befanden sich insgesamt 154 Horizontalbomber aus verschiedenen Kampfgeschwadern und 36 Jagdbomber des Schlachtgeschwaders 4 (SG 4) in Reichweite des Kampfgebietes.
Alliierte Operationen vor dem D-Day
Aufklärungsflüge
Um die Landung an den Stränden, das Bombardement und auch den Schiffsbeschuss besser koordinieren zu können, flogen die Alliierten regelmäßig Aufklärungsflüge über der Normandie. Damit die Aufklärungsflüge der Alliierten den Invasionsbereich nicht verrieten, flogen selbige allerdings drei Einsätze über dem Pas-de-Calais, während sie einen über der Normandie flogen.
Transportation Plan
Der „Transportation Plan“ war ein strategischer Plan von Professor Solly Zuckerman, einem Berater des Air Ministry während des Zweiten Weltkrieges.
Der Gedanke war, dass die Zerstörung aller Transporteinrichtungen im Besetzten Frankreich die deutsche Wehrmacht am ehesten daran hindern würde, die Invasion zurückzuwerfen. Das bedeutete die Zerstörung der französischen Eisenbahnknotenpunkte, der Verschubbahnhöfe und der Wartungsbetriebe. Es gab Kritik gegen diesen Plan unter anderem von Arthur Harris und Carl Spaatz, den Kommandeuren der Bombereinheiten. Ein damit konkurrierender Plan war der Oil Plan.
Der Plan wurde dennoch genehmigt, im April 1944 erteilte Charles Portal den direkten Befehl, die Einrichtungen der Eisenbahn in Trappes, Aulnoye, Le Mans, Amiens, Longueau, Courtrai und Laon anzugreifen. Anfang Juni waren aufgrund der Luftangriffe im Verlauf des Transportation Planes 1.500 der 2.000 Dampflokomotiven in Frankreich aktionsunfähig.
Eisenhower schrieb an Marshall und Roosevelt:
„I consider the Transport Plan as indispensable to the preparations to Overlord. There is no other way this tremendous Air Force can help us, during the preparatory period, to get ashore and stay there.“
(Deutsch: „Ich erachte den Transport-Plan als unverzichtbar für die Vorbereitungen zu Overlord. Es gibt keinen anderen Weg für diese fabelhafte Luftstreitmacht, uns in der Vorbereitungsphase zu helfen, an die Küsten zu gelangen, und uns dort zu halten“).
Operation Cork
Das Ziel der Operation Cork war, den Durchbruch von deutschen U-Booten vom Golf von Biscaya oder vom Atlantik zu den Landungsgebieten und der Kanalküste zu verhindern. Dazu wurde das Seegebiet zwischen Südirland, Cornwall und der Halbinsel von Brest bei Tag und bei Nacht von U-Boot-Jägern patrouilliert. Dabei wurden innerhalb von zwei Wochen nach Beginn der Invasion 20 U-Boote versenkt und mehrere weitere beschädigt. Sechs von sieben Zerstörern der deutschen Kriegsmarine, die in Brest oder Le Havre lagen, wurden ausgeschaltet und zahlreiche Schnellboote versenkt.
Der D-Day (6. Juni)
Luftlandungen
Kurz nach Mitternacht landete die britische 6. Luftlandedivision an der östlichen Flanke des Landungsgebietes der Invasion nördlich von Caen und östlich der Orne. Eine Flotte von 606 viermotorigen Transportflugzeugen und 327 Lastenseglern wurde dafür aufgeboten. Die Präzision beim Erreichen der geplanten „Abwurfzonen“ („Drop Zones“, DZ) war beachtlich, Leigh-Mallory bezeichnete die Aktion als die größte navigatorische Leistung des bisherigen Krieges. Bis vier Uhr früh waren alle operationellen Ziele der Luftlandedivision, die unter anderem aus der Sicherung zweier Brücken bestand, erreicht.
An der westlichen Flanke des Landungsgebietes zeichnete sich eine völlig andere Situation ab. Die 338 Douglas DC-3/C-47 Transporter und die 229 Lastensegler, die die 82. US-Luftlandedivision zu ihrer „Jump Zone“ („Absprungzone“) im Zentrum der Halbinsel bringen sollten, gerieten über der Küste unter heftigen Beschuss durch Flak. 23 C-47 und zwei Lastensegler wurden abgeschossen, viele wurden durch Ausweichmanöver abgedrängt. Dazu kam starker Rückenwind, was dazu führte, dass die Fallschirmspringer und die Lastensegler zwischen fünf und 40 Kilometer entfernt von ihrer „Jump Zone“ landeten. Dennoch konnten sich kleinere Gruppen zusammenfinden und ihre taktischen Aufgaben erfüllen, da die Verwirrung unter den deutschen Verteidigern groß war. Am zweiten Tag nach der Invasion waren erst 2000 von den 6000 abgesetzten Truppen mit ihrer Einheit vereint.
Der 101. US-Luftlandedivision erging es nicht besser als der 82. US-Luftlandedivision. Auch diese stark versprengten Einheiten, die von 443 C-47 und 82 Lastenseglern ans Ziel gebracht wurden, konnten ihre Aufgabe erfüllen, die unter anderem darin bestand, die Kleinstadt Sainte-Mère-Église zu erobern.
Die drei Luftlandedivisionen erlitten in den ersten drei Tagen der Invasion Verluste von zusammen mehr als 3000 Mann.
Unterstützung der Landungen und Einsatz schwerer Bomber
Zwischen drei und fünf Uhr morgens griffen über tausend britische Halifax-Bomber des Bomber Command 26 ausgewählte Küstenbatterien und andere befestigte Stellungen entlang der französischen Atlantikküste an. Von der 8th Air Force nahmen 2600 schwere Bomber an den weit verteilten Angriffen teil. Obwohl aus dem Blickfeld der Landungszonen davon wenig zu sehen war, konnten alle außer zwei der ausgewählten Küstenbatterien zerstört werden. Insgesamt gingen dabei 25 Maschinen beider strategischer Luftflotten verloren.
Eisenhower sagte bereits in seiner D-Day-Ansprache:
„Macht euch keine Sorgen wegen der Flugzeuge über euch. Es werden unsere eigenen sein.“
Der Einsatz strategischer Bomber zu taktischen Zwecken vor und während der Invasion wurde von den Befehlshabern der Bomberflotten teilweise mit Kritik kommentiert. Arthur Harris als Befehlshaber des britischen Bomber Command hielt eine Intensivierung des strategischen Luftkrieges gegen die Städte im Reichsgebiet für zielführend zur schnellen Beendigung des Krieges. Carl Spaatz als Oberbefehlshaber der amerikanischen strategischen Luftflotten war für eine Offensive gegen die Ölreserven des Deutschen Reiches („Oil Plan“) anstelle des Transportation Planes.
Im Verlauf der Invasion wurden jedoch auf Befehl Eisenhowers Flächenbombardements häufig zur Vorbereitung einer großen Offensive durchgeführt. Dieser Einsatz zeigte Erfolge, wenn auch viele alliierte Soldaten Opfer von ungenauen Bombenabwürfen wurden.
Küstenpatrouillen
Während der ersten drei Tage der Invasion wurde der Luftraum über den Landungsstränden dicht gestaffelt überwacht. Von der Oberfläche bis 600 Meter Seehöhe war der Luftraum in eine westliche Angriffszone (Western Assault Area, WAA) und eine östliche Angriffszone (Eastern Assault Area, EAA) aufgeteilt. Jeweils drei Geschwader der Royal Air Force oder der Royal Canadian Air Force überwachten das Western Assault Area und das Eastern Assault Area. Die Einheiten wurden aus Verbänden der 2nd Tactical Air Force und der Air Defence of Great Britain zusammengestellt. Über 600 Meter Seehöhe wurde der Luftraum über der gesamten Angriffszone ohne Unterbrechung von jeweils drei Geschwadern der 9th Air Force überwacht.
Für den D-Day war befohlen worden, dass in der Nacht ständig zwei Flugzeugstaffeln im Luftraum patrouillieren sollten. Hierbei musste darauf geachtet werden, dass die alliierten Flugzeuge auch als solche erkannt werden konnten, da die Schiffsbesatzungen auf jedes unbekannte Flugzeug schossen.
Allein am 6. Juni wurden 2300 Einzeleinsätze von etwa 650 Jagdflugzeugen zum Schutz der Angriffszonen über der Normandie geflogen.
Alle anderen taktischen Einheiten waren mit Einsätzen zur Unterstützung der Landungstruppen direkt gegen die Küstenverteidigung und gegen Nachschublinien im Hinterland im Einsatz.
Deutsche Reaktionen und erste Luftkämpfe
Aufgrund der Überraschung über den Ort der Invasion reagierten die Deutschen mit keinem großen Gegenangriff aus der Luft. Zur Zeit der Landung am Morgen des 6. Juni waren es genau zwei deutsche Flugzeuge, geflogen von Oberstleutnant Josef Priller und Feldwebel Heinz Wodarczyk, die die alliierten Landungstruppen angriffen (So auch 1962 dargestellt im Spielfilm "Der längste Tag"). Alle anderen Flugzeuge waren am 4. Juni ins Landesinnere verlegt worden, da man die bisherigen Flugplätze für zu bedroht ansah.
Der erste Luftkampf ereignete sich kurz vor Mittag südlich von Caen, der letzte im Luftraum über Évreux und Bernay gegen 21 Uhr.
Die Verluste der alliierten Luftstreitkräfte an diesem Tag beliefen sich auf 55 Jäger und 11 mittelschwere Bomber, außerdem 41 Truppentransporter und schwere Bomber. Von den 55 Jagdflugzeugen gingen 16 durch Luftkämpfe verloren, alle anderen durch Flak oder Unfälle.
Die Luftwaffe verlor am D-Day 18 Jäger und vier mittelschwere Bomber, außerdem 12 leichte Bomber des Musters Ju 87, welche sich auf einem Überstellungsflug befanden.
Der Luftkrieg in der Folgezeit
Der 7. Juni – Tag Eins nach dem D-Day
Organisierter Flugplatzbau
Bereits am zweiten Tag der Invasion brachten die Alliierten spezielle Einheiten in die Normandie, die mit der Errichtung und Verteidigung von Feldflugplätzen (englisch: Advanced Landing Grounds, ALGs) beauftragt waren. Auf britischer Seite waren das so genannte Service Command Units (SCUs, sinngemäß übersetzt: „Betriebs-Kommandoeinheit“). Diese Spezialeinheiten waren bereits ab 1942 in Nordafrika im Einsatz.
Sie brachten Lastwagen – beladen mit Zelten, Treibstoff, Munition und Flugabwehrgeschützen – zu vorbestimmten Geländeabschnitten, die zur Errichtung von vorgeschobenen Feldflugplätzen bestimmt waren. Zusammen mit den Service Command Units kamen Airfield Construction Groups (ACGs, sinngemäß übersetzt: „Flugplatz-Errichtungstrupps“), die etwa 800 Mann stark waren und schwere Ausrüstung wie Bulldozer, Walzen und große Rollen aus Gitterstahl mitführten. Sie konnten in kurzer Zeit ein Flugfeld mit den erforderlichen Elektroinstallationen, Mannschaftsräumen und Kommunikationseinrichtungen errichten, während Service Command Units das Gelände sicherten. Sobald die fliegende Einheit mit ihrer Infrastruktur das Flugfeld übernommen hatte, zogen die Service Command Units weiter und bereiteten die Errichtung des nächsten voll ausgerüsteten Flugplatzes (= Advanced Landing Ground) vor.
Am 7. Juni kamen zwei Airfield Construction Groups und vier Service Command Units mit den Landungstruppen an; die ersten Notlandebahnen waren noch am selben Tag betriebsbereit. Bis zum 10. Juni waren vier Advanced Landing Grounds fertiggestellt, innerhalb eines Monats waren es 25.
Die United States Army Air Forces brachte Engineer Aviation Bataillone als Kombination der schon genannten Service Command Units und Airfield Construction Groups ab 9. Juni in die Normandie. Die Bezeichnung erfolgte durchlaufend mit „B“ für die britischen und „A“ für die amerikanischen Flugplätze, also B.1, B.2, bzw. A.1, A.2 usw.
Die Möglichkeiten des taktischen Luftkrieges verbesserten sich für die Alliierten enorm durch den kurzen Anflug der Jagdbomber von den Advanced Landing Grounds. Der Druck und die Geschwindigkeit des alliierten Vorrückens wurden dadurch deutlich erhöht.
Schwerste Luftkämpfe der Normandie-Kampagne
Am Tag nach der Invasion wurden alle verfügbaren Jagdgeschwader aus dem Deutschen Reich an die Invasionsfront gebracht. Zudem verlegte man Jagdbomberstaffeln an die Küste, um die alliierte Landungsflotte bzw. den Nachschubweg selbiger zu bekämpfen. Während die Anzahl der Einzeleinsätze bei den alliierten Luftstreitkräften in etwa das Ausmaß des Invasionstages erreichte, verdoppelten sich die Einsätze der Luftwaffe. Die alliierten Verluste an diesem Tag waren mit 89 Jägern und Jagdbombern die schwersten der gesamten Normandie-Kampagne. Davon wurden 16 bei Luftkämpfen verloren, die Mehrzahl aber durch Flak oder Unfälle. Die Luftwaffe verlor 71 Flugzeuge, davon 13 mittlere Bomber des Musters Ju 88. Mit dem Verlust von 160 Flugzeugen auf beiden Seiten an einem Tag rangiert der 7. Juni 1944 an vierter Stelle der verlustreichsten Luftschlachten der Geschichte nach dem 7. Juli 1943 (ca. 350 Flugzeuge verloren, Unternehmen Zitadelle), dem 18. August 1940 (236 Flugzeuge verloren, davon 60 am Boden zerstört, Luftschlacht um England) und dem 19. August 1942 (165 Flugzeuge verloren, Operation Jubilee).
10. Juni – der RAF gelingt die Bombardierung eines deutschen Stabes
Tags zuvor war das Quartier nachrichtendienstlich ausgemacht worden und wurde danach von der Luftaufklärung bestätigt. Am Spätnachmittag bombardierten 40 Typhoons und 61 Bomber vom Typ B-25 Mitchell
„das Hauptquartier mit solcher Zielsicherheit, daß außer dem überraschten und wuttobenden Oberbefehlshaber wenig übrig blieb. Nach einem Augenzeugenbericht wurden ‚alle Stabsoffiziere getötet oder verwundet und die Funkwagen und die meisten anderen Fahrzeuge zerstört.‘ Erst nach 12 Stunden erfuhr die 7. Armee von dieser Katastrophe.“
Geyrs Stabschef, General von Dawans, und 17 andere Stabsoffiziere wurden in einem Bombenkrater bestattet. Wilmot bemerkt dazu: „Die Deutschen errichteten darüber ein riesiges Kreuz aus poliertem Eichenholz mit Adler und Hakenkreuz – ein angemessen eindrucksvolles Denkmal, denn dies war das Grab der Hoffnungen Rommels, einen starken Gegenangriff führen zu können, ehe es zu spät war. Der verwundete Geyr und sein zerschlagenes Hauptquartier wurden nach Paris zurück gebracht, und Oberkommandierender im Abschnitt Caen wurde wieder Dietrich. [Kommandeur des I. SS-Panzerkorps] Er legte Geyrs Angriffspläne sofort beiseite.“
Erste deutsche Düsenjäger kommen zu spät
Zum Zeitpunkt der Invasion war laut Führerbefehl jegliche Diskussion darüber verboten, ob die Düsenflugzeuge als Jäger oder als Bomber einzusetzen wären. Bei einer Vorführung der Me 262 im Dezember 1943 in Insterburg soll Hitler zu den Anwesenden Göring und Adolf Galland gesagt haben: „In diesem Flugzeug, das Sie mir hier als Jagdflugzeug präsentieren, erblicke ich den Blitzbomber, mit dem ich die Invasion in der ersten und schwächsten Phase abschlagen werde.“.
Hitler versäumte aber, diesen Entschluss, und vor allem die Umrüstung des als Jäger konzipierten Flugzeuges zum Bomber, per Führerbefehl zu erlassen. So stellte Hitler im April 1944 fest, dass bis dahin der Entwurf nicht geändert wurde, keine Vorrichtungen zum Tragen von Bomben angebracht wurden und sich die laufende Arbeit ausschließlich auf die Jägerversion bezog. Ab diesem Zeitpunkt stellte Hitler das Projekt unter seine persönliche Aufsicht. Zum Zeitpunkt der Invasion waren dadurch weder die Bomber- noch die Jägerversion einsatzbereit.
Erst am 30. August erreichte der Chef des Generalstabes der Luftwaffe, General Kreipe, die Verwendung jeder zwanzigsten Me 262 für Erprobungszwecke im Jagdsektor. Im Kampf um die Normandie konnten diese Flugzeuge daher nicht eingesetzt werden.
Einsatz von deutschen «Mistelgespannen»
Mitte Juni 1944 verlegten die Deutschen mehrere ihrer sogenannten Mistelgespanne in die Normandie. Diese Mistelgespanne bestanden aus einer unbemannten Junkers Ju 88, die anstelle einer Kanzel eine 2800 Kilogramm schwere Hohlladung mit Distanzzünder trug und über einen Strebebock mit einer Messerschmitt Bf 109 verbunden war. Aus dieser Messerschmitt-Maschine lenkte der Pilot die Junkers, koppelte dann seine Maschine ab und flog zurück. Der erste solcher Mistelgespann-Verbände, das Kampfgeschwader 101, kam in der Nacht vom 24. auf den 25. Juni zum Einsatz. Mit vier Flugzeugen flog der Kommodore der Einheit, Hauptmann Horst Rudat, in das Invasionsgebiet und lenkte mit den anderen Piloten seiner Einheit die mit Sprengstoff geladenen Maschinen auf alliierte Schiffe. Die HMS Nith, eine britische Fregatte der „River class“, wurde durch die Explosion einer in unmittelbarer Nähe auf dem Wasser auftreffenden Ju 88 erheblich beschädigt. Neun der Besatzungsmitglieder starben, während 26 weitere verwundet wurden. Die HMS Nith wurde nach der Beschädigung zurück nach England gebracht, um dort repariert zu werden.
Einsatz der alliierten Luftstreitkräfte bei der Schlacht um Caen
Die kanadische 1. und britische 2. Armee, mit etwa 115.000 Mann, saßen bei von deutschen Verbänden gehaltenen Dörfern nördlich von Caen fest, weshalb die Alliierten zunächst planten, am 7. Juli einen Bomberangriff auf die Dörfer zu fliegen, dies aber dann doch aufgrund der gefährlichen Nähe zu den eigenen Bodentruppen unterließen. Daraufhin wurde das zu bombardierende Gebiet weiter in Richtung Caen verschoben. 467 Flugzeuge der Alliierten flogen am Abend des 7. Juli bei klarem Wetter zum Zielgebiet und warfen etwa 2276 Bomben ab. Das Bombardement schadete den deutschen Verbänden wenig, umso mehr jedoch den nördlich der Stadt gelegenen Vororten, die größtenteils zerstört wurden, sowie den französischen Zivilisten, von denen etwa 3000 starben. Nachdem es den Deutschen gelang, mit einer Flak ein alliiertes Flugzeug abzuschießen, stürzten später drei weitere über alliiertem Luftraum ab. Zusätzlich zum Bombardement schoss die Schiffsartillerie von den Stränden aus auf die Stadt.
Alexander McKee sagte zu dem Bombardement am 7. Juli folgendes:
„Die 2500 Tonnen Bomben unterschieden in keiner Weise zwischen Freund und Feind. Sollten die britischen Befehlshaber geglaubt haben, dass sie die Deutschen einzuschüchtern vermochten, indem sie die Franzosen umbrachten, so hatten sie sich schwer getäuscht.“
Als am 8. Juli britische und kanadische Verbände zur Eroberung Caens ansetzten (Schlacht um Caen), wurden als Vorbereitung wieder strategische Bomber eingesetzt. Wie schon am D-Day und vor der Operation Epsom legten 800 Halifax-Bomber des Bomber Command einen Bombenteppich hinter der Hauptkampflinie, der so genannten „Bomb Line“. In 40 Minuten warfen sie 3000 Tonnen Sprengbomben ab. Anschließend wurden Jagdbomber der 2nd TAF zur Unterstützung der Bodeneinheiten und zur Abschirmung des Luftraumes gegen die Luftwaffe eingesetzt. Bis zum 11. Juli konnte die Stadtteile nordwestlich der Orne bis zum Orneufer eingenommen werden. Die deutschen Stellungen am südöstlichen Ufer waren zu diesem Zeitpunkt unerreichbar, da alle Brücken der Stadt zerstört waren.
Der Plan der Operation Overlord erforderte die unverzügliche Eroberung des Geländes zwischen Caen und Falaise, nicht zuletzt, weil sich dieses flache weitläufige Gelände am besten für die Errichtung neuer Feldflugplätze eignete. Am 18. Juli 1944 wurde deshalb ein 942 Flugzeuge umfassender Verband der Alliierten, bestehend aus Bombern und Jägern, damit beauftragt, fünf Dörfer im Bereich östlich von Caen anzugreifen, um der britischen 2. Armee die Operation Goodwood zu erleichtern. Die Angriffe fanden bei Dämmerung am Morgen des Tages und bei guten Wetterverhältnissen statt. Vier der Ziele waren durch Pfadfinderflugzeuge zufriedenstellend markiert, bei dem fünften Ziel mussten die Bombermannschaften auf anderem Weg das Ziel finden. Unterstützt von amerikanischen Bombern und Jägern warfen die britischen Flugzeuge ca. 6800 Tonnen Bomben über den Dörfern und dem umliegenden Gebiet ab. Zwei deutsche Einheiten, die 16. Feld-Division (L) und die 21. Panzer-Division, traf das Bombardement im Vergleich zu den restlichen deutschen Einheiten sehr hart. Insgesamt wurden sechs alliierte Flugzeuge von deutschen Flugabwehrgeschützen sowie anderen Bodentruppen, abgeschossen.
Ein walisischer Soldat sagte zu den Bombergeschwadern:
„Der gesamte nördliche Himmel war, so weit das Auge sehen konnte, von ihnen [den Bombern] gefüllt – Welle über Welle, eine über der anderen, die sich nach Osten und Westen ausdehnten, so dass man dachte, es ginge nicht mehr weiter. Jeder hatte jetzt sein Fahrzeug verlassen und starrte verwundert [in den Himmel], bis die letzte Welle von Bombern ihre Bomben abgeworfen hatte und den Rückflug antrat. Danach begannen die Geschütze, mit einem immer lauter werdenden Geschützfeuer das Werk der Bomber zu vollenden.“
Danach überschritten britische und kanadische Verbände die Orne über Brücken nordöstlich von Caen, die schon am D-Day erobert wurden. Die 600 Panzer der Alliierten trafen auf heftigen Widerstand durch die deutsche Wehrmacht, am ersten Tag der Operation gingen bereits 200 britische Panzer verloren. Als sich am 20. Juli das Wetter verschlechterte, kam die Operation Goodwood zum Stillstand.
„Friendly Fire“ bei der Operation Cobra
Durch die Öffnung des Hafens von Cherbourg kam es im Gebiet westlich von Caen zu einer starken Konzentration von amerikanischen Truppen. Diese sollten am 23. Juli bei Saint-Lô einen Großangriff in Richtung Süden starten, der die Operation Cobra einleiten sollte. Dieser Angriff musste wegen des Unwetters, das bereits die Operation Goodwood zum Stillstand gebracht hatte, auf den 24. Juli verschoben werden. An diesem Tag sollten Bomber der 8. US-Luftflotte den Angriff vorbereiten und Ziele bei Saint-Lô angreifen, der Großteil der Bomber wurde aber wegen unpassenden Wetters wieder zurückgerufen. 350 Bomber warfen dennoch ihre Bomben unter schwierigen meteorologischen Bedingungen ab. Dabei kam es zu Fehlwürfen auf der alliierten Seite der „Bomb Line“. Der alliierte Feldflugplatz A.5 (Chipelle) wurde getroffen und Teile der 30. US-Infanteriedivision.
Der Angriff der Bodeneinheiten verzögerte sich deshalb um einen weiteren Tag, auf den 25. Juli um 11 Uhr. Diesmal sollten mittlere Bomber der 9th Air Force den Angriff unterstützen, wieder kam es zu Fehlwürfen in die eigenen Verbände. Innerhalb von zwei Tagen der Operation Cobra hatte die 30. US-Infanteriedivision 700 Opfer durch eigene Bomben („Friendly Fire“) zu beklagen. Dennoch wurde die Operation Cobra zu einem großen Erfolg und führte zur Bildung des Kessels von Falaise.
Die deutsche Luftaufklärung und die Düsenmaschine Arado Ar 234
Am Morgen des 2. August 1944 startete von Juvincourt bei Paris aus der deutsche Leutnant Erich Sommer mit einem Prototyp des düsengetriebenen Bombers und Aufklärers Arado Ar 234. Er flog in einer Höhe von 9.200 bis 10.000 Metern (hier variieren die Quellen) mit einer Geschwindigkeit von etwa 740 Kilometer pro Stunde und sammelte während seines 90 Minuten dauernden Fluges mehr Informationen und Fotos über den alliierten Landekopf als die konventionellen Aufklärer der deutschen Luftwaffe in den vorangegangenen acht Wochen, wobei er den Landekopf von einem bis zum anderen Ende überflog. In der Folgezeit flogen Besatzungen der Arado-Maschinen regelmäßig Aufklärungsflüge, was jedoch keinen weiteren Einfluss auf den Kriegsverlauf mehr hatte, da die Alliierten schon eine feste Basis in Frankreich aufgebaut hatten.
Alliierte Abwehr des deutschen Gegenangriffs am 7. August
Das schnelle Vorrücken der amerikanischen und britischen Verbände von Saint-Lô nach Avranches eröffnete für die Verteidiger die Möglichkeit eines Gegenangriffs. Teile der 15. deutschen Armee, die bis dahin am Pas-de-Calais zurückgehalten worden waren, und Teile der 7. deutschen Armee starteten in der Nacht vom 6. bis zum 7. August einen Großangriff von Mortain aus in Richtung Westen, um die Flanke der Alliierten einzudrücken und in weiterer Folge große alliierte Verbände einzukesseln. Für diesen Angriff, der als Unternehmen Lüttich bezeichnet wurde, sollten 300 Jagdflugzeuge von deutschen Feldflugplätzen um Paris den alliierten Luftangriffen entgegenwirken.
Der Großangriff wurde von der alliierten Führung bereits früh erkannt und die Panzereinheiten bei Avranches durch zwei zusätzliche amerikanische Divisionen verstärkt. Die Führung der alliierten Luftstreitkräfte legte fest, dass die Typhoon-Jagdbomber der 2nd Tactical Air Force sich ausschließlich gegen die vorrückenden deutschen Panzer richten sollten, während die Jagdflugzeuge der 2nd Tactical Air Force, der 9th Air Force und der 8th Air Force einen Abwehrkorridor gegen deutsche Jagdflugzeuge errichteten.
Bis zum 7. August kam der deutsche Gegenangriff gut voran, Bodennebel begünstigte den Angriff und verhinderte den Einsatz der Typhoons. Die 30. US-Infanteriedivision wurde bei Mortain auf einer Anhöhe von den deutschen Panzerverbänden eingekesselt. Doch zu Mittag des 7. August lichtete sich der Nebel, und hervorragendes Flugwetter setzte ein. Nun trafen die Jagdbomber der 2nd Tactical Air Force erstmals in diesem Konflikt auf eine Konzentration von über 250 Panzern und gepanzerten Fahrzeugen. Die deutschen Jagdflugzeuge konnten nach heftigen und verlustreichen Kämpfen letztendlich vom Schlachtfeld abgedrängt werden. So konnten die Typhoons ungehindert die deutschen Panzereinheiten mit Raketen und Bordwaffen angreifen. Dabei zerstörten sie etwa zwei Drittel der Panzer. Damit war das Unternehmen Lüttich gescheitert.
Bei der Untersuchung der Wracks auf dem Schlachtfeld durch die Royal Air Force zeigte sich später, dass mehr Fahrzeuge von den Besatzungen vorzeitig evakuiert als zerstört wurden. Von den Fahrzeugen, die zerstört wurden, gingen mehr Fahrzeuge auf das Konto von Panzerabwehrkanonen als von Luft-Bodenraketen. Daraus schloss man auf die demoralisierende Wirkung von anfliegenden Typhoons, ähnlich der Wirkung, die man von den deutschen Sturzkampfflugzeug Junkers Ju 87 kannte.
Zur besonderen Wertschätzung der Leistung der Typhoon-Piloten wurde in Noyers-Bocage eine Typhoon-Gedenkstätte errichtet, welche, in schwarzem Marmor gemeißelt, die Namen der 151 von Mai bis August 1944 gefallenen Typhoon-Piloten zeigt.
Einsatz deutscher Vergeltungswaffen
Die in Peenemünde-West bei der Erprobungsstelle der Luftwaffe entwickelte flugzeugähnliche V1 wurde in der Nacht vom 12. auf den 13. Juni 1944 erstmals von Abschussanlagen an der Kanalküste gegen London eingesetzt. Bis zur Eroberung der Abschussanlagen („Schleudern“) am 6. September 1944 wurden ca. 8.000 V1 abgefeuert, von denen 29 % zum Ziel gelangten. Zur Abwehr wurden vor allem die schnellen Hawker Tempest eingesetzt. Durch den Einsatz der V1 gegen London starben 6.184 Zivilisten, weitere 17.981 wurden schwer verletzt.
Für die mit Überschallgeschwindigkeit fliegende V2 war eine Hauptabschussrampe in Saint-Omer geplant, diese konnte aber wegen andauernder Luftangriffe und der Eroberung durch Invasionstruppen nicht in Betrieb genommen werden. Am 8. September 1944 kam es zum ersten Einsatz einer V2 von einer mobilen Abschussrampe aus, zuletzt wurde die Rakete von holländischen Inseln aus gestartet. Bis zum letzten Abschuss am 27. März 1945 wurden 2.724 Personen durch V2 Raketen getötet und 6.467 schwer verletzt. Die Erwartung Hitlers, diese Waffe würde die britische Bevölkerung zermürben, wurde nicht erfüllt. Der Wille, Deutschland zu besiegen, wurde jedoch gestärkt.
26./27. August – Deutscher Luftangriff auf Paris
Nach der Befreiung von Paris am 25. August 1944 warfen in der Nacht des 26. auf den 27. August 50 deutsche Kampfflieger der in Reims stationierten Luftflotte 3 (Generaloberst Deßloch) Bomben über der französischen Hauptstadt ab. Knapp 600 Häuser gingen in Flammen auf. Durch den Bombenangriff kamen 213 Menschen ums Leben, während 914 weitere verwundet wurden.
Folgen
Vom 6. bis zum 30. Juni 1944 verloren die Alliierten Luftstreitkräfte 1284 Flugzeuge, hauptsächlich durch Flak. Insgesamt wurden in dieser Zeit 158.000 Einzeleinsätze geflogen.
Bis zur Auflösung des Kessels von Falaise Ende August 1944 stiegen die alliierten Verluste auf 4.099 Flugzeuge und 16.674 Flugzeugsoldaten. Unter den verloren gegangenen Flugzeugen gehörten 1.639 zur Klasse der Jagdflugzeuge, Jagdbomber oder mittleren Bomber.
Dem gegenüber verlor die deutsche Luftwaffe allein 1522 Jagdflugzeuge. Die Verlustrate bei den Jagdflugzeugen im direkten Luftkampf war 3:1 zugunsten der Alliierten, zwei von drei abgeschossenen alliierten Jagdflugzeugen und Jagdbombern waren Opfer der deutschen und im geringen Maße auch der alliierten Flugabwehrgeschütze. Die Verlustrate der Jagdflugzeuge erklärt sich dadurch, dass die deutschen Jäger hauptsächlich die alliierten Bomberverbände attackierten und dabei von den Eskorten ihrerseits angegriffen wurden. Die Verlustrate pro Einsatz war bei der Deutschen Luftwaffe sechsmal höher als bei den Alliierten.
Während die Alliierten ihre materiellen Verluste über intakte Nachschubwege ersetzen konnten, blieb der Verlust für die deutsche Luftwaffe größtenteils unersetzt.
Literatur
David Clark: Angels Eight: Normandy Air War Diary. Bloomington 1st Books, 2003, ISBN 1-4107-2241-4.
Percy E. Schramm (Hrsg.): Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht 1944–1945. Teilband 1, ISBN 3-7637-5933-6.
Tony Hall (Hrsg.): Operation „Overlord“, Motorbuch Verlag, 2004, ISBN 3-613-02407-1.
Weblinks
Webseite der Royal Air Force – Schlachtaufstellung der Luftwaffe (englisch)
Webseite der Royal Air Force – Chronologie Juni 1944 (englisch)
Kriegstagebuch des RAF Bomber Command (englisch)
Juni 1944
Juli 1944
August 1944
„Bombing the European Axis Powers: A Historical Digest of the Combined Bomber Offensive, 1939–1945“ von Richard G. Davis (PDF; 2,0 MB)
(PDF; 999 kB)
Quellen und Anmerkungen
Luftkrieg
!Overlord
Konflikt 1944 |
1401435 | https://de.wikipedia.org/wiki/Saathain | Saathain | Das 516 Einwohner zählende Saathain ist ein Ortsteil der Gemeinde Röderland im südbrandenburgischen Landkreis Elbe-Elster. Er befindet sich rechtsseitig der Mündung der Großen Röder in die Schwarze Elster an der südlichen Grenze zum Naturpark Niederlausitzer Heidelandschaft.
Die erste urkundliche Erwähnung des Dorfes ist für das Jahr 1140 in einem Vertrag des Bischofs Udo von Naumburg mit dem Markgrafen Konrad von Meißen nachgewiesen. Durch die Ansiedlung mehrerer Puppenspielerfamilien im 19. Jahrhundert gilt Saathain als eine Wiege des sächsischen Wandermarionettentheaters. Am 26. Oktober 2003 bildete Saathain mit den umliegenden Dörfern Haida, Prösen, Reichenhain, Stolzenhain, Wainsdorf und Würdenhain die Gemeinde Röderland. Das einstige Saathainer Rittergut ist mit zahlreichen Konzerten und Ausstellungen eines der kulturellen Zentren der Gemeinde und des Landkreises Elbe-Elster. Auf dem Gelände befindet sich unter anderem ein Rosengarten mit etwa 5000 Rosenstöcken, eine aus dem Jahr 1629 stammende Gutskirche sowie ein auf den Grundmauern des 1945 zerstörten Saathainer Schlosses errichtetes Sommer-Café.
Geographie
Geografische Lage und Naturraum
Saathain liegt im Norden der Gemeinde Röderland, rechtsseitig der Mündung der Großen Röder in die Schwarze Elster an der südlichen Grenze zum Naturpark Niederlausitzer Heidelandschaft, der ein 484 Quadratkilometer großes Gebiet im Landkreis Elbe-Elster und im Landkreis Oberspreewald-Lausitz umfasst. Der Ort ist vom etwa 6011 Hektar großen Landschaftsschutzgebiet Elsteraue umgeben, das in drei ökologische Raumeinheiten aufgeteilt ist, wobei das Teilgebiet Elsteraue II Saathain einschließt. Einer der Schutzzwecke des Landschaftsschutzgebietes ist „die Erhaltung des Gebietes wegen seiner besonderen Bedeutung für die naturnahe Erholung im Bereich des Kurortes Bad Liebenwerda.“
Der Verwaltungssitz der Gemeinde Röderland, Prösen, befindet sich etwa fünf Kilometer südöstlich des Dorfes.
Geologie
Saathain befindet sich im Breslau-Magdeburger Urstromtal, das wenige Kilometer östlich in der Niederung des Schradens zwischen Elsterwerda und Merzdorf mit sieben Kilometer Breite seine engste Stelle erreicht und dann nach Nordwesten schwenkt. Das heutige Landschaftsbild ist maßgeblich von der vorletzten Eiszeit geprägt. Eine mehrere hundert Meter mächtige Schicht Sand und Kies bedeckt das kristalline Grundgebirge, das Teil der Saxothuringischen Zone des variszischen Grundgebirges ist.
Klima
Saathain liegt mit seinem humiden Klima in der kühl-gemäßigten Klimazone, jedoch ist ein Übergang zum Kontinentalklima spürbar. Die nächsten Wetterstationen befinden sich in Richtung Nordosten in Doberlug-Kirchhain, westlich in Torgau und südlich in Oschatz und Dresden.
Der Monat mit den geringsten Niederschlägen ist der Februar, der niederschlagsreichste der Juli. Die mittlere jährliche Lufttemperatur beträgt an der etwa 20 Kilometer nördlich gelegenen Wetterstation Doberlug-Kirchhain 8,5 °C. Der Unterschied zwischen dem kältesten Monat Januar und dem wärmsten Monat Juli beträgt 18,4 °C.
Geschichte
Etymologie und erste urkundliche Erwähnung
Die erste urkundliche Erwähnung ist für das Jahr 1140 in einem Vertrag des Bischofs Udo von Naumburg mit dem Markgrafen Konrad von Meißen nachgewiesen. Saathain hieß zu dieser Zeit castrum Sathim (lat. befestigter Ort). Wahrscheinlich war Saathain Grenzfeste des zum Naumburger Besitz gehörenden Burgwards Strehla. Spätere Namensformen waren:
1197 (Uuernherus de) Satem
1199, 1210, 1221/22 (Wernerus de) Satem, Satim
1261 (Thymo de) Sathem
1285 Sathim
1289 Saten
1244, 1328 Satyn
1353 zcu dem Saten
1384 Sathan
1397 Sathen
1419 Sathan
1542 uffm Sattan
1555 Sathaynn, Sathan, Sahann
1575 Sathayn
Möglich ist, dass das castrum Sathim auf einer slawischen Siedlung oder Befestigungsanlage entstand. Der Name könnte vom slawischen Zatyme (Ort Hinter dem Sumpf) oder aus dem obersorbischen tymjo, tymjenja (Sumpf, Quellsumpf, Quelle) abgeleitet sein. Anhand der Namensformen kann man jedoch auch auf den deutschen Namen Sātheim schließen. Dazu kommen weitere Deutungen in Betracht, so könnte das Grundwort zum Beispiel aus dem Ostfälischen übertragen worden sein und damit die Saat, das Säen, den Samen, das geerntete Getreide, oder auch das mit Getreide bewachsene Land, das Saatfeld oder ein Stück Saatland gemeint sein.
Zu beachten ist, dass die benachbarten Elsterburgen in Wahrenbrück, Würdenhain, Liebenwerda, Mückenberg, und Elsterwerda deutsche Namen tragen. Auch die Form Dorf am Saatland, -feld ist denkbar. Weiterhin ist eine Ableitung vom mittelniederdeutschen Sāt, sate oder mittelhochdeutschen sāze für Stelle der Niederlassung, Sitz, Wohnsitz, friedlicher, ruhiger Ort möglich. Die Namensgebung Saathain erfolgte erst 1843.
Vom Spätmittelalter bis zum Kursächsischen Bauernaufstand
Saathain hatte eine der ältesten Wehranlagen an der Schwarzen Elster. Die Burg diente der Sicherung des Flussübergangs an der unweit gelegenen Einmündung der Großen Röder, die gleichzeitig die Grenze zum benachbarten Gau Nizizi darstellte sowie wohl auch dem Schutz und der Kontrolle der parallel zur Schwarzen Elster verlaufenden Heer- und Handelsstraßen. Nur etwa einen Kilometer flussabwärts befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Mündung die befestigte Anlage des in der Mitte des 15. Jahrhunderts zerstörten Schlosses von Würdenhain. Zur Herrschaft Saathain zählten neben Saathain auch die Orte Stolzenhain, Schweinfurth, Reppis, Gröditz und das 1935 in Kröbeln eingemeindete Mühldorf. Die Burg gehörte bis Mitte des 14. Jahrhunderts als Reichslehen dem Stift zu Naumburg. 1274 überließ Bischof Meinherr von Naumburg das Schloss Saathain Heinrich dem Erlauchten auf Lebenszeit. Zwei Jahre später wurde die Belehnung auch auf Heinrichs Sohn Friedrich Clem und dessen Nachkommen ausgedehnt.
Ab 1348 war in Saathain das Adelsgeschlecht derer von Köckritz ansässig. Die Köckritze blieben bis 1475 in Saathain und es folgten ihnen die Schleinitze. Das meißnische Adelsgeschlecht besaß zu dieser Zeit auch die etwa zwanzig Kilometer östlich gelegene Herrschaft Mückenberg, die über den sogenannten Schleinitzweg mit Saathain verbunden war. Dieses Adelsgeschlecht, deren meißnische Linie mit dem Tod des Hermann Otto von Schleinitz 1891 erlosch, blieb dort bis 1716 ansässig. In jenem Jahr erwarb der kursächsische Oberhofmarschall Freiherr Woldemar von Löwendal, der einst unter Einflussnahme der Gräfin Cosel nach Sachsen gekommen war und der 1708 schon die östlich angrenzende Herrschaft Elsterwerda erworben hatte, die Herrschaften Saathain und Mückenberg. 1777 kam Saathain in den alleinigen Besitz des sächsischen Kabinettsministers Detlev Carl von Einsiedel. Sein Vater Johann George von Einsiedel hatte es 1748 von der Witwe Löwendals erworben.
Ende August 1790 kam es auch im Gräflich Einsiedelschen Saathain zu Auswirkungen des Kursächsischen Bauernaufstandes, der einen Monat zuvor bei Waldheim und Wechselburg seinen Anfang genommen hatte und in der Lommatzscher Pflege bald mit Gewalt losbrach. Dabei forderten die aufrührerischen, meist mit Sensen, Mistgabeln und Beilen bewaffneten Bauern unter anderem die Auflösung der Frondienste und Zinsen. Auch ein Teil der Saathainer Bauern erhob sich und wollte den zu diesem Zeitpunkt in seiner Funktion als Minister in Bautzen weilenden Grafen von Einsiedel vorladen, der die Gerichtsherrschaft über sie ausübte. Die Unruhen wurden allerdings kurze Zeit später durch ein Kommando Dragoner, das vier Saathainer Bauern verhaftete und in Ketten gefesselt nach Dresden brachte, niedergeschlagen. Der Großenhainer Amtmann, der zunächst selbst nach Saathain gekommen war, um die aufrührerischen Bauern zu besänftigen, meldete bereits am 4. September 1790 Ruhe im Amt Großenhain, wo die Unruhen neben der Herrschaft Saathain unter anderem auch in den Herrschaften Frauenhain und Zabeltitz mit ihren dazugehörigen Gemeinden aufgeflammt waren.
Vom Wiener Kongress bis zum Zweiten Weltkrieg
Die Ablösung der Frondienste in Saathain erfolgte im Jahre 1821, als der Ort zum preußischen Staatsgebiet gehörte; 1815 waren Saathain und weitere Teile des Amtes Großenhain nach den Befreiungskriegen infolge der Bestimmungen des Wiener Kongresses vom Königreich Sachsen an das Königreich Preußen angegliedert worden und gehörten seither zur preußischen Provinz Sachsen. Mit Schweinfurth, Reppis und Gröditz verblieben allerdings einige Teile des einstigen Saathainer Herrschaftsgebietes bei Sachsen. Das 1834 noch 260 Einwohner zählende Gröditz entwickelte sich dank seiner verkehrsgünstigen Lage und des 1779 durch Detlef Carl von Einsiedel gegründeten Stahlwerks zu einer Stadt mit heute etwa 7500 Einwohnern.
Im Jahr 1852 begannen im wenige Kilometer flussabwärts gelegenen Zeischa Bauarbeiten zur Regulierung der Schwarzen Elster. Der Fluss, der bis dahin aus zahlreichen Fließen bestand, erhielt bis 1861 sein heutiges Bett und wurde eingedeicht. Die Röder, die vorher einige hundert Meter hinter dem Saathainer Schloss mündete, wurde in das alte Elsterbett geleitet, das als Alte Röder bekannt ist, und mündete am Prieschkaer Gänsewinkel in den neuen Flusslauf der Schwarzen Elster.
Etwa zur gleichen Zeit begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung der Region um Saathain. Den Ort selbst, in dem die Landwirtschaft die Haupterwerbsquelle blieb, betraf diese Entwicklung indirekt. Der Fischfang in den Flüssen Röder und Schwarze Elster wurde durch die zunehmende Verunreinigung, welche die neuentstandenen Industriebetriebe, wie das Zellstoffwerk in Gröditz, verursachten, weitgehend unmöglich gemacht. Viele Bewohner des Dorfes fanden außerhalb Saathains Arbeit, Gewerbetreibende und Politiker bemühten sich deshalb, dieser Entwicklung Rechnung zu tragen. Am 18. Dezember 1908 wurde auf ihre Initiative hin in der Liebenwerdaer Gaststätte Weißes Roß die genossenschaftlich organisierte Elektrische Überlandzentrale Kreis Liebenwerda und Umgebung gegründet. Den Saathainer Gutsbesitzer Otto Bormann wählte man zum Vorsitzenden des Vorstands. Wenige Jahre später erfolgte der Bau der ersten 110-kV-Leitung in Europa, die das Lauchhammerwerk mit den Stahlwerken in Gröditz und Riesa verbinden sollte. Sie nahm am 21. Januar 1912 den Betrieb auf. Am Gröditzer Schalthaus wurde eine 15-kV-Leitung über Prösen nach Stolzenhain abgezweigt, das damit am 25. Juni 1912 als erste Gemeinde im Kreis Liebenwerda elektrischen Strom erhielt. Von dort aus wurden Kabel weiter in die Orte der Umgebung verlegt; damit erhielt auch Saathain noch im gleichen Jahr einen Stromanschluss.
Vier Jahre später erfolgte die Regulierung der Großen Röder durch die Röderregulierungsgenossenschaft Saathain. Für die Bauarbeiten wurden größtenteils Kriegsgefangene eingesetzt. Der Fluss mündet seitdem wieder unweit von Saathain und Würdenhain in die Schwarze Elster.
Im Zweiten Weltkrieg blieb der Ort von unmittelbaren Kampfhandlungen verschont. Dennoch gingen die NS-Zeit und der Krieg nicht spurlos an Saathain vorüber. Der im September 1934 neu ins Amt eingeführte Saathainer Pastor Wolfgang Bastian übernahm von seinem Amtsvorgänger einen schon länger währenden Streit mit einem Kantor, der eine Zusatzvergütung verlangte, was der Gemeinde-Kirchen-Rat ablehnte. Die Auseinandersetzung endete damit, dass der Pfarrer bei den Behörden denunziert und von den Kirchenbehörden gemahnt wurde. Nach einer weiteren Denunzierung wurde der Pfarrer im März 1942 verhaftet und kam bei den Verhören durch die Gestapo in Torgau ums Leben.
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Elsterbrücke am 22. April 1945 zerstört, um den Einmarsch der vorrückenden Truppen der Ersten Ukrainischen Front der Roten Armee zu verhindern. In diesen Tagen kam es durch einen vorsätzlich gelegten Brand zur Zerstörung des Saathainer Schlosses, bei dem unter anderem auch das umfangreiche Archiv mit historischen Aufzeichnungen und Akten, die im Schloss eingelagerten Kunstschätze sowie die alten Kirchenbücher der Nachbarorte Würdenhain (mit den Eintragungen von Taufen, Trauungen und Beerdigungen der Jahre 1655 bis 1812) und Stolzenhain den Flammen zum Opfer fielen.
Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Der 587 Hektar umfassende Grundbesitz des zum Schloss gehörenden Rittergutes wurde im Rahmen der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone aufgeteilt. Dabei entfielen 489,91 Hektar auf insgesamt 281 Personen in den umliegenden Gemeinden Haida (72,83 ha), Reichenhain (124,80 ha), Saathain (181,33 ha), Stolzenhain (30,11 ha), Würdenhain (78,80 ha) und Kröbeln (2,04 ha). Die zerstörte Elsterbrücke wurde nach dem Krieg durch einen Neubau ersetzt, der in den Jahren 2003 und 2004 aufgrund erheblicher Schäden erneuert wurde.
In der Deutschen Demokratischen Republik gehörte Saathain bis zu dessen Auflösung im Jahr 1952 zum Land Sachsen-Anhalt, nach der Gründung der Bezirke bis zur Wiedervereinigung im Jahr 1990 zum Bezirk Cottbus.
Geprägt wurde der Ort in dieser Zeit durch das Wirken des Saathainer Bürgermeisters Heinz Dreißig, der dieses Amt 1951 übernommen hatte und es bis 1990 behielt. 1955 wurde zunächst mit dem Ausbau der Friedensstraße begonnen. Weitere Verbesserungen der Infrastruktur folgten später. Es entstand eine Sportplatzanlage mit Kegelbahn und Freilichtbühne. Das 1837 errichtete alte Schulhaus wurde zu einem Gemeindehaus mit Schwesternstation und Arztzimmer umgebaut. Nach der Auflösung der Dorfschule 1975 wurde im Jahr darauf im 1922 erbauten zweiten Schulhaus eine Konsumverkaufsstelle eingerichtet. Die Schlossruine wurde in eine Terrasse, der alte Gutspark in einen Rosengarten umgestaltet. An der Kirche wurden umfangreiche Sanierungsmaßnahmen in Angriff genommen. Das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz verlieh Heinz Dreißig 1991 für seine Verdienste den Deutschen Preis für Denkmalschutz. Dieser seit 1977 verliehene Preis, die höchste Auszeichnung auf diesem Gebiet in Deutschland, „gilt Persönlichkeiten und Personengruppen, die sich ehrenamtlich dem Schutz, der Pflege und der dauerhaften Erhaltung des baukulturellen und archäologischen Erbes widmen. Die Leistungen sollen in der Regel langfristig angelegt sein und in ihrer Bedeutung weit über sonst übliches Bürgerengagement hinausgehen.“
Nach der politischen Wende kam es am 15. Januar 1992 zunächst zur Bildung des Amtes Röderland, das aus den Gemeinden Saathain und den umliegenden Dörfern Prösen, Reichenhain, Stolzenhain, Wainsdorf und Haida mit dem Ortsteil Würdenhain bestand. Am 26. Oktober 2003 folgte im Zuge der Gemeindegebietsreform im Land Brandenburg der Zusammenschluss der amtsangehörigen Dörfer zur amtsfreien Gemeinde Röderland. Die Ortsteile der Gemeinde gehörten bis zur Kreisgebietsreform in Brandenburg im Jahr 1993 zum Landkreis Bad Liebenwerda, der am 6. Dezember 1993 mit den Landkreisen Herzberg und Finsterwalde in den Landkreis Elbe-Elster einging.
Im Zuge der Dorferneuerung in den 1990er Jahren wurde die Infrastruktur des Ortes, wie Straßen und Gehwege, die Räumlichkeiten für Kindergarten sowie der Jugendclub weitgehend modernisiert. Außerdem konnte im Juli 2001 die Rekonstruktion des Saathainer Gutes abgeschlossen werden, das noch bis zur Wende durch die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) landwirtschaftlich genutzt wurde.
Bevölkerungsentwicklung
Im Jahr 1486 wurden in Saathain 14 Gärtner gezählt, 1575 waren es 14 Hüfner und 15 Gärtner. 1835 zählte das Dorf 63 Wohnhäuser mit 412 Einwohnern. An Vieh wurden 27 Pferde, 237 Stück Rindvieh, 600 Schafe, 12 Ziegen und 109 Schweine gezählt. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Einwohnerzahl Saathains durch den Zuzug von Vertriebenen im Jahr 1946 bis auf 790. Sie erreichte damit ihren Höchststand. Bis 2010 sank die Zahl auf 535.
Politik
Ortsteilvertretung
Seit dem Zusammenschluss von Saathain mit den umliegenden Dörfern Haida, Prösen, Reichenhain, Stolzenhain, Wainsdorf und Würdenhain am 26. Oktober 2003 ist der Ort ein Ortsteil der Gemeinde Röderland. Vertreten wird Saathain nach der Hauptsatzung der Gemeinde durch den Ortsvorsteher und einen dreiköpfigen Ortsbeirat.
Ortsvorsteher in Saathain ist gegenwärtig (Stand: 2010) Dietmar Gebel (Freie Wählergemeinschaft Saathain); die beiden anderen Mitglieder des Ortsbeirats sind Detlef Scheibe (Freie Wählergemeinschaft Saathain) und Joachim Pfützner (Die Linke).
Kultur und Sehenswürdigkeiten
Kulturelle Veranstaltungen
Das einstige Saathainer Gut ist mit den zahlreichen Konzerten und Ausstellungen eines der kulturellen Zentren der Gemeinde und des Landkreises Elbe-Elster. Seit Mai 2006 wird angeboten, sich in der historischen Fachwerkkirche standesamtlich trauen zu lassen.
Seit 1953 kommt am Ostersonntag auf dem Sportplatz des Ortes der Osterhase zu Besuch. Meist von weiteren Artgenossen begleitet, verteilt er Süßigkeiten und Ostereier an die zahlreich erscheinenden Kinder.
Ein weiterer Höhepunkt ist das Sportfest im Juli.
Vereinsleben
Seit 1920 gibt es den Sportverein SG Röder 20. 1949 wurde der Klub in BSG Traktor Saathain umbenannt. Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten erfolgte 1992 die Rückbenennung. Neben der Sparte Fußball, deren erste Mannschaft gegenwärtig (2010) in der 1. Kreisklasse spielt, gibt es die Abteilungen Kegeln, Volleyball und Gymnastik.
Ein weiterer aktiver Verein ist der 1996 gegründete Förderverein Gut Saathain e. V. Der zunächst als Kirche, Park und Rosengarten Saathain e. V. gegründete Verein erhielt seinen Namen im Jahre 2008. Die gegenwärtig (2010) etwa 30 Mitglieder bemühen sich um die komplexe Förderung, den Erhalt und die Entwicklung des einstigen Gutes Saathain als Kulturzentrum.
Die Freiwillige Feuerwehr des Ortes wurde 1934 gegründet und sorgt seitdem für den Brandschutz und die allgemeine Hilfe. Das von 1957 bis 1959 errichtete Feuerwehrhaus befindet sich gegenüber der einstigen Dorfschule am Abzweig nach Neusaathain. Ausgestattet ist die Feuerwehr gegenwärtig (2010) mit einem Löschgruppenfahrzeug 8 (kurz: LF 8).
Sehenswürdigkeiten
Der Ort hat einige Baudenkmäler, die in die Denkmalliste des Landes Brandenburg aufgenommen wurden.
Der Park des einstigen Saathainer Schlosses wurde ab 1972 in einen Rosengarten mit etwa 5000 Rosenstöcken und mehr als 70 Rosenarten umgewandelt. Die Ruine des Schlosses wurde zu einer Terrasse umgestaltet, auf der sich ein Sommer-Café befindet und von der man das Areal des Gartens überblicken kann.
Der aus dem Jahr 1629 stammende Fachwerkbau der ehemaligen Gutskirche des Dorfes war auf dem Standort einer urkundlich 1575 erwähnten Schlosskapelle errichtet worden. Ihre heutige Gestalt erhielt sie durch Umbauarbeiten im Jahr 1816. Seit 1968 steht die Kirche unter Denkmalschutz. Nach umfangreichen Sanierungsmaßnahmen ist sie seit 1990 wieder für die Öffentlichkeit zugänglich. Unmittelbar hinter dem Bauwerk wurde auf einer Wiese im Mai 2004 ein Skulpturenpark eröffnet. Vor der Kirche befindet sich ein Gedenkstein für den Pastor Wolfgang Bastian, der 1942 in Torgau bei Verhören durch die Gestapo ums Leben kam.
Im einstigen Schlosspark befindet sich vor den Resten des Schlosses ein am 6. Juli 1958 eingeweihtes Denkmal in Form eines unbehauenen Granitfindlings. Ein Schild im oberen Teil trägt den Ortsnamen sowie einen Eichenbaum und eine Seerose, die an den gewässerreichen Röderwald erinnern soll. Darunter befinden sich einige chronologische Daten über die Entwicklung des Dorfes Saathain.
Auf dem Dorfplatz befindet sich ein denkmalgeschützter Springbrunnen aus dem Jahr 1930, dessen Standort sich ursprünglich vor dem Saathainer Schloss befand. 1953 erfolgte die Umsetzung auf seinem heutigen Standort auf dem Dorfplatz.
In der Breiten Straße ist ein Wohnhaus mit Auszugshaus, Scheune und Wirtschaftsgebäude unter Denkmalschutz.
Unter Denkmalschutz stand auch die alte Rödermühle im Süden des Ortes. Das historische Bauwerk, das 1974 den Betrieb einstellte, fiel im September 1997 einem Brand zum Opfer. Die Ruine der erstmals im 16. Jahrhundert erwähnten Wassermühle befindet sich am einstigen Flusslauf der Großen Röder in der Siedlung Neusaathain. Auf dem Gelände der Rödermühle befinden sich neben einer Baumschule eine 1998 eröffnete Galerie, ein kleiner Streichelzoo und ein Sommer-Café.
Saathain als Wiege des sächsischen Wandermarionettentheaters
Saathain gilt wie das Elbe-Elster-Land als eine Wiege des sächsischen Wandermarionettentheaters. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts sind in Saathain ansässige Vertreter dieser Kunst nachgewiesen. Der erste bekannte Marionettenspieler, der sich in der Siedlung Neu-Saathain niederließ, war Johann Georg Bille († 1832). Er erwarb dort 1803 vom Saathainer Rittergutsbesitzer, dem Reichsgrafen von Solms und Tecklenburg, für 200 Taler ein Wohnhaus mit Scheune und Stallung. Bille folgten weitere Puppenspieler; die bekanntesten Saathainer Namen von Puppenspielerfamilien sind Richter (seit 1832), Gassmann, Hähnel und Gierhold. Durch Eheschließungen zwischen den einzelnen Familien erwuchsen Familienbande zwischen fast allen sächsischen Puppenspielerfamilien. Diese waren den größten Teil des Jahres auf Wanderschaft und kamen nur nach Saathain, um dort den Winter bei ihren Verwandten zu verbringen.
Mit dem Aufkommen von Kino und Fernsehen im 20. Jahrhundert kam es weitgehend zur Aufgabe der einzelnen Spielbetriebe. Jedoch haben bis in die Gegenwart einzelne Familien diese Tradition bewahrt, wie die Familie Bille, die im 18. und 19. Jahrhundert allein etwa 12 eigenständige Bühnen besaß und damit eine der wichtigsten Marionettenspielerdynastien Europas war. Eine Dauerausstellung im Bad Liebenwerdaer Kreismuseum unter dem Titel Von der Schusterahle zum Marionettenzwirn beschäftigt sich seit Dezember 1998 mit der Geschichte des Marionettentheaters im Elbe-Elster-Gebiet. Kern der Ausstellung ist eine Marionettentheatersammlung des Dobraer Puppenspielers Karl Gierhold. Einer der vier Abschnitte dieser Ausstellung im Museum ist den Saathainer Marionettenspielern gewidmet.
Wirtschaft und Infrastruktur
Wirtschaft und Verkehr
Am 18. April 1958 wurde die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Neue Saat vom Typ I in Saathain gegründet. Zunächst bestand sie aus zwei landwirtschaftlichen Betrieben, die mit vier Mitgliedern 20,66 Hektar bewirtschaftete. Bereits am 9. Juni 1959 gehörten der Saathainer LPG fünf Betriebe mit neun Mitgliedern an, und die bewirtschaftete Fläche war auf 47,09 Hektar angewachsen. 1974/75 schloss sie sich mit der LPG Friedrich Engels in Stolzenhain zusammen. Der Sitz der 1991 aufgelösten Genossenschaft befand sich in Stolzenhain.
Die Landwirtschaft hat in Saathain ihre einstige Bedeutung weitgehend verloren. Einen großen Teil der landwirtschaftlichen Flächen in der Gemeinde Röderland bewirtschaftet die 1991 aus der LPG Friedrich Engels hervorgegangene Lawi GmbH mit Sitz in Stolzenhain. Im Ort sind einige mittelständische Unternehmen ansässig, wie die Baumschule Saathainer Mühle und die Bäckerei Pförtner. An der Alten Dorfstraße befindet sich das Gasthaus Zur Linde. Die dem Dorf am nächsten gelegenen Gewerbegebiete befinden sich in Elsterwerda, Haida und im ebenfalls zur Gemeinde Röderland gehörenden Prösen.
Saathain ist durch Verbindungsstraßen mit der Landesstraße 59 bei Stolzenhain und an die Elsterwerda tangierenden Bundesstraßen B 101 und B 169 angebunden. Die nächstgelegenen Bahnhöfe sind Bahnhof Elsterwerda (Bahnstrecken Berlin–Dresden und Riesa–Elsterwerda) sowie Elsterwerda-Biehla (Bahnstrecke Węgliniec–Falkenberg/Elster).
Mehrere befestigte Radwege entlang der Schwarzen Elster verbinden Saathain mit den Sehenswürdigkeiten des Umlandes, dem Naturpark Niederlausitzer Heidelandschaft und der wenige Kilometer östlich gelegenen Niederung des Schradens. Mit der Tour Brandenburg führt der mit 1111 Kilometern längste Radfernweg Deutschlands am Dorf vorbei. Weitere Radrouten sind der Fürst-Pückler-Radweg, der unter dem Motto 500 Kilometer durch die Zeit in die Projektliste der Internationalen Bauausstellung Fürst-Pückler-Land aufgenommen wurde, und der 108 Kilometer lange Schwarze-Elster-Radweg.
Bildung
Nach der Auflösung der Dorfschule im Jahr 1975 wurden die Kinder des Ortes zunächst in die Polytechnische Oberschule in Elsterwerda-Biehla eingeschult, aus der nach der Wende ein inzwischen wieder aufgelöstes Gymnasium und eine Grundschule hervorgingen. Gegenwärtig werden die Schüler des Ortsteils in die Grundschule Prösen eingeschult, die den Status einer Verlässlichen Halbtagesschule besitzt; Träger ist die Gemeinde Röderland. In Prösen befindet sich außerdem eine private Oberschule. Im unweit gelegenen Elsterwerda besteht eine Oberschule, ein Gymnasium sowie weitere Bildungseinrichtungen. Die nächstgelegenen Bibliotheken sind in Elsterwerda und Prösen.
Medien
Monatlich erscheinen in Saathain der Gemeindeanzeiger sowie das Amtsblatt für die Gemeinde Röderland. Der Kreisanzeiger des Landkreises Elbe-Elster erscheint nach Bedarf.
Die regionale Tageszeitung im Elbe-Elster-Kreis ist die zur Lausitzer Rundschau gehörende Elbe-Elster-Rundschau mit einer Auflage von etwa 99.000 Exemplaren. Die kostenlosen Anzeigenblätter Wochenkurier und SonntagsWochenBlatt kommen wöchentlich heraus.
Persönlichkeiten
Mit Saathain ist das Leben folgender Persönlichkeiten verbunden:
Walther von Köckritz (* in Saathain; † 1411), Domherr von Magdeburg, Merseburg und Meißen, Bischof von Merseburg
Samuel August Wagner (* 1734 in Saathain; † 1788 in Dresden), kursächsischer Mediziner und Lehrer
Karl Benedikt Suttinger (* 1746 in Saathain; † 1830 in Lübben), Dichter und Lehrer
Hans Wolfgang Bastian (* 21. Mai 1906 in Elsterwerda; † 18. März 1942 in Torgau), evangelischer Pfarrer, umgekommen bei Verhören durch die Gestapo
Heinz Dreißig (1925–2022), Saathainer Bürgermeister von 1951 bis 1990, bekam 1991 vom Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz für seine Verdienste den „Deutschen Preis für Denkmalschutz“ verliehen. Seit dem Jahre 2015 war Dreißig Ehrenbürger von Saathain.
Literatur
Weblinks
von Saathain auf der Gemeinde-Homepage von Röderland
Internetauftritt des „Fördervereins Gut Saathain e.V.“
Beitrag in der RBB-Sendung Landschleicher vom 24. November 2013
Einzelnachweise
Ort im Landkreis Elbe-Elster
Ort an der Schwarzen Elster
Geographie (Röderland)
Ehemalige Gemeinde (Landkreis Elbe-Elster)
Ersterwähnung 1140
Gemeindeauflösung 2003
Kirchdorf (Siedlungstyp) |
1502345 | https://de.wikipedia.org/wiki/Shotgun%20House | Shotgun House | Der Begriff Shotgun House, , bezeichnet eine vor allem im Süden der USA verbreitete Form von Einfamilienhäusern. Diese Häuser werden gelegentlich auch als Shotgun Shack, Shotgun Cottage, Shotgun oder als Railroad Apartment bezeichnet. Der im Deutschen gebräuchliche Begriff „Schießhütte“ hat mit diesen Gebäuden nichts zu tun. Häuser dieses Typs wurden erstmals zu Beginn des 19. Jahrhunderts, vor allem aber in der Zeit zwischen dem Amerikanischen Bürgerkrieg und den 1920er Jahren errichtet. Der Baustil entwickelte sich zunächst in New Orleans und breitete sich von dort bis nach Chicago und Kalifornien aus.
Kennzeichnend für Shotgun Houses ist ihre sehr schmale, lange, rechteckige Form. In traditioneller Bauweise errichtete Shotgun Houses haben keinen Flur; die zwei bis fünf Zimmer des Hauses sind direkt miteinander verbunden.
Im 19. Jahrhundert waren Shotgun Houses sowohl bei ärmeren Bevölkerungsgruppen als auch solchen mit mittlerem Einkommen beliebt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde diese Hausbauform jedoch zu einem Symbol der Armut.
In vielen Städten des US-amerikanischen Südens wurden und werden im Rahmen von Stadtsanierungen Shotgun Houses abgerissen; andernorts setzt man sich für ihre Renovierung und Erhaltung als Teil der amerikanischen Baukultur ein wie zum Beispiel in Key West, Florida. Dort stehen diese Häuser unter Denkmalschutz.
Namensherkunft und Begriffsverwendung
Vor allem in Reiseführern ist häufig zu lesen, dass sich der Begriff Shotgun für diesen Haustyp eingebürgert habe, weil der Schrot einer solchen vor der Haustür abgefeuerten Waffe bei offenen Türen (wegen deren geringen Abstandes) ungehindert durch das Haus fliegen und es durch seine rückseitige Tür wieder verlassen kann.
Von einigen Architekturhistorikern ist diese Begriffserklärung jedoch als Urbane Legende bezeichnet worden. Insbesondere der Ethnologe John Michael Vlach hat darauf hingewiesen, dass sowohl der Ursprung dieser Bauform als auch der Name sich nach Haiti und Afrika bis mindestens ins Jahr 1700 zurückverfolgen lässt. Die Bezeichnung für diese Bauform stammt nach seiner Ansicht von den Fon aus dem südlichen Dahomey (heute Benin) in Westafrika. Dort bedeutet to-gun Versammlungsort. Die Bezeichnung, die wahrscheinlich in New Orleans von afro-haitianischen Einwanderern verwendet wurde, wurde im englischen Sprachgebrauch dann volksetymologisch umgedeutet.
Im eigentlichen Sinne versteht man unter Shotgun House einen für städtische Bebauung typischen Haustyp. Eine ähnliche Bauform gab es bereits im antiken Römischen Reich, das sogenannte Streifenhaus. Gelegentlich wird der Begriff Shotgun House auch für Häuser gebraucht, die in ländlichen oder kleinstädtischen Gebieten der Südstaaten zu finden sind. Auch dabei handelt es sich um einstöckige, langgestreckte Häuser, die im Hausinneren keinen Flur aufweisen. Diese Häuser wurden gleichfalls mit Armut assoziiert und wurden errichtet, weil die natürliche Klimatisierung im Hausinneren das Leben in dieser warmfeuchten Region angenehmer machte. Sie finden sich heute vor allem entlang von Gewässern im ländlichen Louisiana.
Der Begriff “Double-barrel Shotguns” („doppelläufige Schrotflinten“) bezieht sich auf eine Bauvariante, bei der sich zwei Shotgun Houses eine Hauswand teilen.
Bauliche Charakteristika
Die Räume eines Shotgun House befinden sich direkt hintereinander. Die Eingangstür des Hauses führt normalerweise direkt in den als Wohnzimmer genutzten Raum, dahinter befinden sich ein oder zwei Schlafzimmer. Die Küche bildet den Abschluss der Zimmerfluchten. Die ältesten in diesem Stil errichteten Häuser besaßen keine sanitären Einrichtungen; die Toilette befand sich außerhalb des Hauses. Häufig wurde in späteren Jahren ein Badezimmer im Haus eingebaut, indem von dem vorletzten Zimmer ein Teil als Badezimmer abgetrennt wurde. Bei einer Reihe von Shotgun Houses wurde das Badezimmer auch seitlich an die Küche angebaut. In vielen Fällen wurde die ursprüngliche Bauform der Häuser so verändert, dass sie heute einen Flur aufweisen.
Das erste und zweite Zimmer hatten in der Regel jeweils eine Heizstelle, so dass sich diese Räume einen Schornstein teilen konnten. Ein zweiter Schornstein am Ende des Hauses wurde meist für den Küchenofen genutzt. Die Häuser sind grundsätzlich nicht unterkellert, sondern stehen gewöhnlich zwischen 60 Zentimeter und einem Meter über dem Erdboden erhöht. Einige Architekturhistoriker sehen darin ein weiteres Indiz, dass diese Bauform im hochwassergefährdeten New Orleans entstand.
Neben dem charakteristischen Baukonzept haben Shotgun Houses eine Reihe weiterer gemeinsamer Merkmale. Die Grundstücke sind immer sehr schmal und in der Regel zwischen 3,5 und 9 Meter breit. Die Häuser stehen sehr nahe an der Straße, haben häufig keinen oder einen nur sehr kleinen Vorgarten oder Veranda. Die Frontseite zur Straße weist üblicherweise nur eine Tür und ein Fenster auf. Ursprünglich führten hölzerne Treppen zu der Eingangstür hinauf. Diese sind heute meist durch haltbarere Betontreppen ersetzt. Auf der rückwärtigen Seite des Hauses befindet sich meist gleichfalls eine Tür. Wegen der im Allgemeinen sehr engen Bebauung der Grundstücke haben Shotguns an den Seitenwänden des Hauses normalerweise keine Fenster. Im Inneren des Hauses liegen die Türen hintereinander; die Verbindungstür zwischen dem ersten und dem dahinterliegenden Zimmer ist häufig etwas breiter und seitlich leicht versetzt.
Beim Bau von Shotgun Houses wurde normalerweise Holz als wesentliches Baumaterial verwendet. Nur sehr wenige wurden in einer Ziegelbauweise oder mit behauenen Steinen errichtet. Viele Shotgun Houses, insbesondere die aus der frühesten Bauphase, haben ein Flachdach, das mit der Hauswand endet. Bei Häusern, die nach 1880 errichtet wurden, ragt das Dach meist über die Vorderwand des Hauses hervor und weist einen leichten Giebel auf. Das Vordach wird meist durch hölzerne Stützen getragen. Der so entstehende Raum wird als Veranda genutzt. Häufig ist unter dem Vordach ein Ventilator eingebaut.
Die Räume sind verhältnismäßig groß und hoch. Vor allem die Raumhöhe unterstützt dabei die natürliche Klimatisierung der Räume. Sowohl die Wände als auch die Decken der Räume sind häufig dekoriert. Typisch ist die Verwendung von Holzleisten für den Übergangsbereich zwischen Raumdecke und -wand oder Schnitzereien an den Türstürzen. Während des Zeitraumes, in denen besonders viele Shotguns errichtet wurden, gab es in Städten wie New Orleans eine Reihe von Betrieben, die teilweise aufwändig gearbeitetes Zierwerk für diese Häuser in industriellem Maßstab anfertigten. Sie waren so preisgünstig, dass sie selbst für Hausbesitzer mit niedrigem Einkommen erschwinglich waren.
Bauvarianten
Ausgehend von dem ursprünglichen Grundriss – schmale Frontseite und mehrere aneinander gereihte Räume – weisen Shotgun Houses eine Reihe von baulichen Variationen auf. Einige Bauvarianten haben sich so stark durchgesetzt, dass man sie heute in einigen Städten häufiger antrifft als die ursprüngliche Bauform.
Als „Double Shotgun“ oder „Double-barrel Shotgun“ werden solche Shotguns bezeichnet, bei denen zwei Häuser sich eine Hauswand teilen. Dadurch ist pro Haus weniger Grundstücksfläche notwendig als beim traditionellen Shotgun und der Materialaufwand bei der Errichtung ist geringer. Diese Bauform wurde besonders häufig in armen Regionen genutzt. Häuser dieser Variation wurden erstmals in New Orleans im Jahre 1854 gebaut.
Ein „Camelback Shotgun“ (= Kamelrücken), gelegentlich auch als „Humpback Shotgun“ (= Buckel) bezeichnet, weist im hinteren Teil des Hauses ein zweites Stockwerk auf. Diese Bauform entwickelte sich in der späten Bauphase von Shotgun Houses. Die Raumanordnung und die Konstruktion gleicht weitgehend den traditionellen Shotgun Houses. Lediglich im letzten oder vorletzten Raum führt eine Treppe in die zweite Etage. Diese zweite Etage, auch als „hump“ bezeichnet, wies zwischen einem und vier Räumen auf. Da mit dieser Bauweise das Haus nur partiell zweistöckig war, wurde es in den meisten Städten als einstöckiges Haus versteuert. Dieser steuerliche Aspekt war auch der Hauptgrund für diese Konstruktionsweise.
Seltener als die anderen Bauvarianten sind „Double Width Shotguns“ anzutreffen. Es handelt sich um besonders breite Shotgun Houses, die auf zwei Baugrundstücken errichtet wurden. Ihre Entstehungsgeschichte ist meist darauf zurückzuführen, dass ein einzelner Bauherr zunächst einen ganzen Straßenblock erwarb, der als neue Baugrundstücke ausgewiesen wurde. Für sich selbst baute er dann ein besonders großes Haus und auf den restlichen Grundstücken errichtete er die mehr traditionellen Shotguns, um sie entweder zu verkaufen oder zu vermieten.
„North shore Houses“ werden die Shotguns genannt, die an drei Seiten des Hauses eine Veranda aufweisen. Sie tragen ihren Namen, weil sie meist an der nördlichen Seite von New Orleans Lake Pontchartrain gebaut wurden, wo sie wohlhabenden Weißen als Sommerhäuser dienten.
Innerhalb dieser Standardvarianten existieren weitere, allerdings nur noch selten zu findende Varianten. Dazu zählt das „Double Camelback shotgun“, bei dem beide Haushälften in der hinteren Hälfte eine zweite Etage haben. Gelegentlich findet man auch Shotguns, bei denen sich eine weitere Eingangstür an der Seite des Hauses befindet oder eine Veranda entlang der Hauslänge gebaut wurde.
Geschichtliche Entwicklung des Baustils
Der afrikanisch-haitianische Ursprung
Die Theorie, dass der Begriff Shotgun House eine Verballhornung eines Begriffs aus der Sprache der Fon ist, wird auch durch die geschichtliche Entwicklung dieses Baustils unterstützt.
New Orleans zog gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Reihe von neuen Siedlern an, die wegen des dortigen Sklavenaufstands die französische Kolonie Saint Domingue – heute Haiti – verließen. Die Pflanzer, Sklaven und freie Schwarze brachten nicht nur karibische Kultur und den Voodoo-Kult mit nach New Orleans, sondern führten in dem damals noch kleinen Städtchen auch neue Baustile ein.
1803 lebten 1355 nicht versklavte Schwarze in New Orleans. Im Jahre 1810 betrug ihre Zahl bereits 10.500, die Anzahl der weißen Einwohner New Orleans lag zu dieser Zeit bei etwa 4.500. Der Anstieg der Einwohnerzahl löste in New Orleans einen Bauboom aus. Viele der Erbauer und Bewohner der neu errichteten Häuser waren afrikanischen Ursprungs und über Haiti nach New Orleans gekommen. Historiker halten es für wahrscheinlich, dass sie ihre neuen Häuser entsprechend den Bauformen errichteten, die sie aus Haiti beziehungsweise aus Afrika kannten. Tatsächlich erinnern viele der heute noch existierenden haitianischen Gebäude aus dieser Zeit an die einstöckigen Shotgun Houses von New Orleans. Im haitianischen Port-au-Prince entsprechen sogar noch 15 Prozent der Bausubstanz diesem Haustypus. Die Theorie des afrikanischen Ursprungs wird daher von einer sehr großen Anzahl von Historikern geteilt.
Die frühesten Belege für Shotgun Houses in New Orleans finden sich für das Jahr 1832. Diese Nachweise lassen darauf schließen, dass die Shotgun Houses, die in den 1830er Jahren verkauft wurden, fünfzehn bis zwanzig Jahre früher errichtet wurden.
Billiger Mietraum für die Arbeiter
Mit der beginnenden Industrialisierung zogen immer mehr Personen in die US-amerikanischen Städte. New Orleans zählte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dabei zu den am schnellsten wachsenden Städten der USA. 1812 legte der erste Raddampfer im Hafen der Stadt an und läutete damit eine Ära ein, in der New Orleans eine immer größere Bedeutung als Hafenstadt gewann. 1840 lebten etwa 80.000 Menschen in der Stadt, und der Hafen in New Orleans war der nach New York zweitwichtigste der USA. 1860 waren es schon 35.000 Raddampfer, die jährlich an den Kais anlegten und New Orleans war mit 168.000 Einwohnern die größte Stadt der Südstaaten und die sechstgrößte der USA.
Aufgrund der nur begrenzten Verkehrsmöglichkeiten waren die neuen Zuzügler darauf angewiesen, möglichst fußläufig zu ihren Arbeitsstätten zu leben. Shotgun Houses wurden meist als Mietshäuser erbaut und befanden sich häufig in der Nähe von Fabrikationsstätten oder Eisenbahnknotenpunkten. Bauherren und Eigentümer waren sehr oft die Besitzer von Industriebetrieben, die damit für wenige Dollar im Monat ihren Arbeitern Unterkünfte zur Verfügung stellen konnten. Da ein Bauherr meist mehrere Häuser auf einmal errichtete, waren sie in ihrem Erscheinungsbild meistens sehr einheitlich. Ein Beispiel dafür sind die noch heute in der East Washington Street in Louisville, Kentucky befindlichen Shotguns.
Dem wachsenden Bedarf an Wohnraum wäre man allerdings auch mit anderen Hausformen als dem Shotgun House gerecht geworden. So entwickelte sich zum Beispiel im Nordosten der USA das sogenannte Brownhouse, ein Reihenhaustyp aus Ziegelsteinen. Eine Reihe unterschiedlicher Faktoren trugen jedoch dazu bei, dass sich das Shotgun House zur bevorzugten Bauform in den Südstaaten entwickelte. Da Grundstücksteuern in New Orleans nach der Breite eines Grundstückes erhoben wurden, trug ein Shotgun House mit seiner schmalen Hausfront erheblich dazu bei, die Steuerlast zu minimieren. Shotguns waren außerdem preisgünstig zu errichten: die schmale Front erhöhte die Anzahl der Häuser, die entlang einer Straße errichtet werden konnten und das Haus war einfach an die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten zu adaptieren. Insbesondere in den heißen Innenstädten des Südens setzte sich dieser Bautyp durch. In einigen Städten des US-amerikanischen Südens machen Shotguns heute immer noch 10 % des Häuserbestandes aus.
Symbol der Armut
Der Neubau von Shotgun Houses ließ mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nach und kam in den 1930er Jahren fast vollständig zum Erliegen. Zwei technische Innovationen machten die Vorzüge der Shotgun Houses zunehmend zunichte: Immer größere Teile der Bevölkerung konnten sich ein Auto sowie Klimaanlagen leisten. Dementsprechend zogen immer mehr Bevölkerungsgruppen, für die die Shotgun Houses einstmals akzeptable Wohnbedingungen boten, in die Vororte. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es nur noch die ärmsten Schichten, die bereit waren, in diese Häuser einzuziehen. Das grundlegende Baukonzept der Shotgun Houses – ein weitgehend standardisierter, einfacher und auf eine Etage ausgerichteter Grundriss – lebt allerdings in den Ranch-style Houses weiter, die vor allem in den 1950er und 1960er Jahren den vorherrschenden Bautyp in den Vorstädten darstellten.
Die Stadtteile, die einen hohen Bestand an Shotgun Houses aufwiesen, erlebten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts all jene Probleme, die in den USA typisch für Innenstädte waren und sind. Nachdem finanziell besser gestellte Bevölkerungsschichten in die Vorstädte ausgewichen waren, blieben die Bevölkerungsschichten in den Innenstädten zurück, die meistens nicht einmal hinreichend kreditwürdig waren, um Hypotheken für die Instandhaltung oder den Erwerb ihrer Shotgun Houses zu erhalten. Der dritte Faktor, der insbesondere bei Shotgun Houses zu ihrem Verfall beitrug, waren unklare Besitzverhältnisse. Shotgun Houses wurden häufig über mehrere Generationen einer Familie weitervererbt. Erbstreitigkeiten führten dazu, dass viele Häuser über mehrere Jahre unbewohnt blieben.
In der Öffentlichkeit wurden Shotgun Houses zunehmend als typische Wohnform der Ärmsten der afro-amerikanischen Bevölkerung im amerikanischen Süden wahrgenommen. Historisch gesehen ist dies nicht zutreffend. Viele der Shotgun Houses wurden während der Zeit der Rassentrennung in ursprünglich rein weißen Wohngegenden errichtet. Damals waren die Wohnverhältnisse verglichen mit ihrem späteren Verfall komfortabel. Als in den 1950er und 1960er Jahren diese Wohngegenden von Schwarzen bezogen wurden, konnten die weißen Vorbesitzer es sich erlauben, in die Vorstädte zu ziehen. Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung gibt es nach wie vor Wohngegenden mit einem hohen Bestand an Shotgun Houses, die überwiegend von Weißen bewohnt werden. Jedoch sind diese nicht mit den von Afro-Amerikanern bewohnten Shotgun Houses zu vergleichen. Bewohnt werden sie eher aufgrund von Armut und nicht wegen ihrer besonderen Bauart.
Unabhängig davon, welche Bevölkerungsgruppen in ihnen lebten, wurden Shotguns in der Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1980er Jahre als eine Wohnform angesehen, die keinen zeitgemäßen Wohnstandard mehr bot. Als Symbol der Armut wurden zahlreiche Shotguns im Rahmen von Stadterneuerungsprogrammen niedergerissen. Diese Praxis hat sich mittlerweile zum Teil geändert. Städte wie Houston und Charlotte haben in ihren Städten Shotgun Historic Districts etabliert, um diese für die US-Geschichte typische Wohnform zu erhalten. Shotgun Houses werden für ihre Bauqualität und ihre preisgünstige Bauweise gepriesen und als eine Bauform eingeordnet, die hilfreich bei der Wiederbelebung der häufig verwahrlosten US-amerikanischen Innenstädte sein könnte. Die Rice University in Houston, Texas veranstaltete unter dem Titel Shotguns 2001 sogar eine Ausstellung, auf der ausschließlich Gemälde dieser Häuser gezeigt wurden, um ihre Rolle in der Geschichte der Südstaaten zu würdigen. Die Ausstellung wurde von einer Vorlesungsreihe begleitet, die ebenfalls Shotgun Houses als Inhalt hatte. Einige Städte, wie beispielsweise Macon in Georgia haben versucht, über die Renovierung von Shotgun Houses Wohnraum für Bevölkerungsschichten mit niedrigem Einkommen zu schaffen. Allerdings haben diese Städte auch die Erfahrung gemacht, dass es preisgünstiger ist, die Shotgun Houses abzureißen und neue Wohngebäude zu errichten.
Viele der älteren Südstaatenstädte weisen in einigen Vierteln noch eine sehr hohe Dichte von Shotgun Houses auf. Dazu gehören beispielsweise die Stadtteile Bywater in New Orleans und Cabbagetown in Atlanta. Anders als zu der Zeit ihrer Errichtung stehen heute die meisten Shotguns im Eigentum ihrer Bewohner. So gehörten in den 1990er Jahren 85 % der Häuser in dem von Shotgun Houses dominierten Lower Ninth Ward von New Orleans ihren Bewohnern. In einigen von Shotgun Houses dominierten Vierteln sind die Grundstückspreise in den letzten Jahren stark gestiegen. Dies hat zu einem neuerlichen Wechsel in der Bevölkerungsstruktur dieser Viertel geführt: finanziell besser gestellte Bevölkerungsschichten kehren allmählich zurück. In der Stadtgeografie wird ein solcher Wechsel als „Gentrifizierung“ bezeichnet. Dabei kommt es nicht selten dazu, dass der neue Hauseigentümer beide Hälften eines Double Barrel Shotguns kauft und diese zu einem verhältnismäßig großen Haus vereint. Shotgun Houses werden auch häufig miteinander verbunden, um als Büro- oder Ladenräume genutzt zu werden.
Heutige Bedeutung
Gemäß einem in den Südstaaten verbreiteten Aberglauben fühlen sich Geister von Shotgun Houses angezogen, weil sie direkt durch sie hindurchgehen können. In einigen Häusern wurden die Türen bewusst leicht zueinander versetzt, um die Geister abzulenken.
Shotgun Houses werden häufig auch als Symbol des Lebens in den Südstaaten verwendet – ihr Auftauchen in Filmsequenzen ist zumindest für US-amerikanische Zuschauer der Hinweis für den Ort der Handlung. Eng verbunden sind Shotgun Houses auch mit der Musikgeschichte der Südstaaten: Elvis Presley kam in einem Shotgun House zur Welt, die Neville Brothers wuchsen in einem auf, und von Robert Johnson behauptet man, dass er in einem Shotgun gestorben sei.
Siehe auch
Geschichte der Architektur in den Vereinigten Staaten
Weblinks
Description on Great Buildings Online
Shotgun Homes and porches
Future of Shreveport's shotgun houses subject of public hearing
Einzelnachweise
!
Lokale Bauform
Bauform (Wohngebäude) |
2036723 | https://de.wikipedia.org/wiki/Finnische%20Sprachenpolitik | Finnische Sprachenpolitik | Die finnische Sprachenpolitik bezeichnet das Verhältnis des finnischen Staates zu den im Land gesprochenen Sprachen und den diese Sprachen sprechenden Volksgruppen. Zu den besonderen Zügen der finnischen Sprachenpolitik gehört seit dem 19. Jahrhundert die Zweisprachigkeit und das damit verbundene Ringen um die Kräfteverhältnisse zwischen der von einer Minderheit gesprochenen schwedischen und der finnischen Sprache.
Geschichte
Vorgeschichte
Das Gebiet des heutigen Finnland war seit etwa dem 12. Jahrhundert bis ins Jahr 1809 ein organischer Teil des Schwedischen Reiches. Als Verwaltungssprache des Staates diente im Wesentlichen die schwedische Sprache. Im Spätmittelalter wurde zusätzlich auch Latein und während der Zeit der Kalmarer Union in gewissem Umfang auch Dänisch verwendet. Die vom überwiegenden Teil der Bevölkerung gesprochene finnische Sprache hatte hingegen keinen offiziellen Status und war als Schriftsprache zunächst nicht existent.
Als Vater der finnischen Schriftsprache gilt heute Mikael Agricola, welcher spätestens im Jahr 1543 das erste Lesebuch in finnischer Sprache, das ABC-Buch, veröffentlichte. Am Anfang des 17. Jahrhunderts wurden die ersten Gesetze auch auf Finnisch veröffentlicht, und im Jahr 1759 wurde schließlich das gesamte Gesetzbuch des Landes in finnischer Sprache herausgegeben.
Während der schwedischen Zeit nahm der finnische Adel ebenso wie ein großer Teil des wohlhabenden Bürgertums die schwedische Sprache an. Der Bauernstand trug bei den Reichstagen wiederholt erfolglos die Bitte nach Dolmetscher- und Übersetzerdiensten vor und verlangte die Berücksichtigung der finnischen Sprache bei der Besetzung von Ämtern. Während sich jedoch an der Akademie zu Turku unter der Führung von Henrik Gabriel Porthan eine Bewegung von Liebhabern der finnischen Sprache, die sogenannten Fennophilen, bildete, war Porthan selbst der Ansicht, dass im Zuge der „weiteren Ausbreitung der Kultur“ die finnische Sprache letztlich verschwinden würde.
Großfürstentum Finnland
Nach der Loslösung Finnlands von Schweden und der Bildung des Großfürstentums Finnland unter der russischen Krone bewahrte sich das Schwedische seine Position als Amts- und Verwaltungssprache. Die russischen Herrscher erhofften sich jedoch durch eine Stärkung der finnischen Sprache eine Schwächung der Bindungen Finnlands an das bisherige Mutterland Schweden. So wurde die Regentenversicherung von Zar Alexander I. auf dem Reichstag von Porvoo sowohl auf Finnisch als auch auf Schwedisch veröffentlicht.
In der Zeit des Großfürstentums entstand, angefacht durch die in Europa aufgekommenen nationalen Ideen, eine neue finnische Identität. Diese finnische Nationalbewegung war zunächst nicht sprachpolitischer Natur. Von den zentralen Protagonisten der Bewegung schrieben zum Beispiel Johan Ludvig Runeberg und Zacharias Topelius auf Schwedisch und Johan Vilhelm Snellman benutzte beide Sprachen. Allerdings schrieben Elias Lönnrot und Aleksis Kivi auf Finnisch, und die Veröffentlichung von Lönnrots Sammlung Kalevala sowie Kivis Roman Die Sieben Brüder brachten der bisher geringgeschätzten finnischen Sprache und Kultur Respekt ein.
Die russische Sprache erreichte auch in der Zeit der russischen Herrschaft zu keinem Zeitpunkt einen wesentlichen Stellenwert, wenn auch seit dem Jahr 1818 von allen Amtsinhabern ein Zeugnis über die russische Sprachkenntnis verlangt wurde.
Diese Anforderung wurde für Pfarrer im Jahr 1824 aufgehoben. Von diesen wurde stattdessen in Gemeinden mit finnischsprachiger Bevölkerung finnische Sprachkenntnis verlangt.
Im Jahr 1828 wurde an der Universität das Amt des Lektors der finnischen Sprache und 1850 der Lehrstuhl für finnische Sprache und Literatur begründet. Die erste finnischsprachige Dissertation wurde 1858 veröffentlicht. Im gleichen Jahr wurde in Jyväskylä das erste Gymnasium gegründet, dessen Unterrichtssprache Finnisch war.
Gesetze und Verordnungen wurden auf Schwedisch und nach Bedarf auch auf Finnisch bekanntgemacht. Das seit 1860 erschienene finnische Verordnungsblatt wurde von Beginn an zweisprachig, im Zuge der in den 1880er Jahren begonnenen Russifizierungsbestrebungen in der kurzen Periode von 1903 bis 1905 auch auf Russisch veröffentlicht. Die Vorarbeiten zu den Gesetzen fanden grundsätzlich auf Schwedisch statt, und erst für die offizielle Gesetzesvorlage wurden finnische Übersetzungen angefertigt. Erst ab der Parlamentsreform von 1906 begann die finnischsprachige Gesetzesvorbereitung Raum zu gewinnen.
Fennomanen und Svekomanen
Die Bestrebungen zur Verbesserung der Stellung der finnischen Sprache und der sprachlichen Rechte der Finnischsprachigen führten in den 1840er Jahren zur Entstehung der Fennomanie als ideeller Bewegung. Deren Anhänger gründeten die Finnische Partei und gaben ab 1847 die erste in finnischer Sprache an ein gebildetes Publikum gerichtete Zeitung Suometar heraus.
Der prominenteste Fennomane war zunächst der Philosoph, Journalist und spätere Staatsmann Johan Vilhelm Snellman, welcher in Zeitungsartikeln beklagte, dass das finnische Volk gegenüber anderen Völkern geistig und materiell zurückgeblieben sei. Als Grund hierfür machte Snellman den Mangel an Nationalbewusstsein aus, welches man nur durch die Erhebung der finnischen Sprache zur Amts- und Bildungssprache fördern könne.
Die Gedanken Snellmans fanden ein weites Echo, und in der sich erweiternden Bewegung bildeten sich bald unterschiedliche Strömungen heraus. Während liberale Fennomanen wie Elias Lönnrot und Zacharias Topelius eine Zweisprachigkeit des Landes anstrebten, wollten vor allem die ab 1863 um Yrjö Koskinen formierten Jungfennomanen Finnisch unter Verdrängung des Schwedischen als einzige Kultur- und Amtssprache Finnlands etablieren. Radikalisierte Fennomanen entwickelten aus der Sprachfrage die Forderung nach einem die finnischsprachigen Völker umfassenden Großfinnland. Die Finnlandschweden bezeichneten sie als Fremde oder als Verräter ihrer finnischen Vorfahren.
Als Gegenreaktion zu den Fennomanen bildete sich eine die Stellung der schwedischen Sprache verteidigende Bewegung, die Svekomanen, deren führende Persönlichkeit Professor Axel Olof Freudenthal war und aus welcher die Schwedische Partei hervorging. In den schwedischsprachigen Zeitungen wurde argumentiert, dass die finnische Sprache als Kultursprache ungeeignet sei. Radikale Svekomanen vertraten die Ansicht, dass die Schweden bereits im Mittelalter den ansonsten entwicklungsunfähigen Finnen die westliche Kultur gebracht hätten.
Auch in Regierungskreisen herrschte eine der finnischen Sprache unfreundlich gesinnte Einstellung vor, von russischer Seite verstärkt durch die Besorgnis vor der Verbreitung revolutionären Gedankengutes im Volke. Daher wurde im Jahr 1850 durch die sogenannte Sprachverordnung die Veröffentlichung von finnischsprachigen Texten mit Ausnahme von religiösen und wirtschaftlichen Veröffentlichungen verboten. Die Verordnung wurde jedoch wenig befolgt und im Jahr 1860 auch formal wieder aufgehoben. Seit 1858 wurden im Binnenland tätige Amtsträger verpflichtet, eine mündliche finnische Sprachprüfung abzulegen.
Während der finnische Senat der finnischen Sprache gegenüber weiterhin skeptisch blieb, erzielten die Fennomanen im Jahr 1863 scheinbar einen Durchbruch, als Zar Alexander II. einen von Snellman unter Umgehung des Senates vorgelegten Verordnungsentwurf unterzeichnete, nach welchem Finnisch innerhalb von 20 Jahren gleichberechtigte Amts- und Gerichtssprache werden sollte.
Verschiebung der Kräfteverhältnisse
Als die von Alexander II. gesetzte Frist im Jahr 1883 ablief, versuchte der russische Generalgouverneur Fjodor Loginowitsch Heiden, das Finnische im Verordnungswege in den Stand der Amtssprache einzusetzen. Er scheiterte dabei jedoch zunächst am Widerstand des schwedisch gesinnten Senates wie auch des Prokurators Robert Montgomery, welcher das Finnische für eine „fremde Sprache“ hielt, die in den Gerichten nicht verwendet werden könne. Erst mit der Sprachverordnung vom 19. Juni 1902 wurde Finnisch Amtssprache.
Dieser Vorgang wurde überlagert von den Auswirkungen des im Jahr 1900 erlassenen Sprachmanifestes, durch welches im Zuge der angestrebten Russifizierung Finnlands die russische Sprache unter anderem als Sprache des Senats festgelegt wurde. In der Praxis blieben jedoch Schwedisch und Finnisch die im Senat verwendeten Sprachen, während die Protokolle und Beschlüsse lediglich ins Russische übersetzt wurden. Das Sprachmanifest wurde nach dem vorläufigen Ende der Russifizierungsbestrebungen im Jahr 1906 wieder aufgehoben.
Der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnene Aufbau eines finnischsprachigen Schulwesens führte bis zur Jahrhundertwende zur Bildung einer gebildeten finnischsprachigen Bevölkerungsschicht, und bis zum zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatte sich Finnisch zu einer vollwertigen Kultursprache entwickelt. Im gleichen Zuge verlor das Schwedische seine Stellung als alleinige Kultursprache. Während bisher Schwedisch die Sprache der gebildeten Schichten war, wurde es nun zunehmend als Sprache einer klaren Bevölkerungsminderheit empfunden. Dies führte auch dazu, dass sich die schwedischsprachigen Bevölkerungsteile deutlicher als zuvor als besondere Volksgruppe empfanden, zu welcher neben der alten Elite auch die schwedischsprachigen Teile der einfachen Bevölkerung gehörten. Diese Entwicklung zusammen mit dem wieder aufflammenden Sprachenstreit und den Bestrebungen von fennomanischen Kreisen, Finnisch zur einzigen Amtssprache des Landes zu machen, führte schließlich zur Gründung der Schwedischen Volkspartei als Interessenvertretung der sprachlichen Minderheit sowie der ersten explizit schwedischsprachigen Universität, der Åbo Akademi.
Ringen um die Sprachenpolitik des selbstständigen Finnland
Als Finnland im Jahr 1917 die Unabhängigkeit erlangte, hatten sich die Kräfteverhältnisse zwischen den Sprachen umgekehrt, und als entscheidende offene Frage verblieb der Status des Schwedischen im jungen Staat. Die um ihre Sprachrechte fürchtenden Finnlandschweden sahen sich lautstarken Forderungen der Fennomanen gegenüber, welche das Schwedische allenfalls als Minderheitensprache tolerieren wollten.
Radikale svekomanische Gruppierungen stellten die Theorie von zwei verschiedenen Nationalitäten auf und verlangten einen Autonomiestatus für die mehrheitlich schwedischsprachigen Gebiete, vergleichbar den später der Inselgruppe Åland zugestandenen Rechten. Zu diesem Zweck wurde im Frühjahr 1919 eine inoffizielle Volksvertretung der Finnlandschweden (Svenska Finlands folkting) gegründet. Die Schwedische Volkspartei, welche eine Schwächung der Gesamtstellung des Schwedischen im Lande fürchtete, lehnte diese Forderungen ab, und auch im Parlament konnte das Projekt keine bedeutende Zustimmung gewinnen.
Nach langen Verhandlungen einigte man sich schließlich auf einen Kompromiss und legte in der Verfassung von 1919 fest, dass Finnisch und Schwedisch gleichberechtigte Landessprachen sind. Das Sprachengesetz von 1922 bestimmte die Details des Gebrauchs der Landessprachen in Gerichten und Behörden, wobei die Rechte zur Benutzung der eigenen Sprache in erster Linie auf der Ebene der schriftlichen Korrespondenz garantiert wurden.
Die „wahren Finnen“
Der in den Verfassungsverhandlungen gefundene Kompromiss löste die im jahrzehntelangen Sprachenstreit verhärteten Fronten nicht auf. Die schwedische Sprache bewahrte sich noch für lange Zeit eine beherrschende Stellung in Bildungs- und Kulturkreisen, und finnische Bevölkerungskreise beschuldigten die Finnlandschweden wiederholt der Arroganz und des Elitedenkens.
Die radikale fennomanische Bewegung setzte sich in den Aktivitäten von verschiedenen Bevölkerungsgruppen fort, die bald als die „wahren Finnen“ (aitosuomalaiset) bekannt wurden. Ihre hauptsächlichen Stützpfeiler hatte die Bewegung einerseits in finnischsprachigen akademischen Kreisen, hier insbesondere unter Einfluss des nationalistischen Akademischen Karelien-Vereins (Akateeminen Karjala-Seura, AKS), andererseits in der finnischen Landbevölkerung, vertreten durch den Landbund (heutige Finnische Zentrumspartei). Der fortgesetzte Sprachenstreit führte zu häufigen Demonstrationen, aber auch zu einer regen Entwicklung des Kulturlebens auf beiden Seiten.
Der Sprachstreit spitzte sich Ende 1934 erneut zu, als die Regierung die Einführung einer Quote für schwedischsprachige Professuren an der Universität Helsinki plante. Dies wurde von den zu einer einsprachigen Universität strebenden „wahren Finnen“ um den Landbund und einen Teil der Nationalen Sammlungspartei vehement abgelehnt. Die Marathonreden der Gegner des Vorhabens verhinderten 1935 eine abschließende Behandlung der Vorlage während der Legislaturperiode des Parlaments, so dass die Frage zunächst offenblieb. Erst 1937 wurde der Streit im Grundsatz zugunsten der finnischen Sprache entschieden, die Quote für schwedischsprachige Professuren über den Umweg eines Ausführungsgesetzes aber dennoch eingeführt.
Nach dieser letzten Verschärfung der Sprachenfrage begannen die weltpolitischen Geschehnisse, den Sprachengegensatz in den Hintergrund zu drängen. Die Furcht vor der Sowjetunion und einem möglichen Krieg zwangen auch die fennomanisch orientierten Parteien zu einer stärkeren Hinwendung zu einer an den skandinavischen Westnachbarn orientierten Politik. Die nachfolgenden Kriege trugen dazu bei, das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl der Finnen zu stärken, und Sprachenstreite in der bisherigen Vehemenz gehörten damit der Vergangenheit an.
Sprachenpolitik in der Nachkriegszeit
Nach dem Krieg musste Finnland erhebliche Gebiete an die Sowjetunion abtreten, darunter Ostkarelien. Die Umsiedlung der betroffenen Bevölkerungsteile, welche 12 % der finnischen Gesamtbevölkerung ausmachten, warf auch sprachpolitische Fragen auf. Die Neuansiedlung der vorwiegend bäuerlichen Bevölkerung wurde durch das 1945 im Parlament verabschiedete Landerwerbsgesetz geregelt.
Auf Forderung des damaligen Ministerpräsidenten und späteren Präsidenten Juho Kusti Paasikivi wurden in das Gesetz auch sprachbezogene Bestimmungen aufgenommen. Diesen zufolge durften die Umsiedlungen die Sprachverhältnisse der betroffenen Gemeinden nicht ändern. Hierdurch wurde in der Praxis die Ansiedlung in schwedischsprachige oder zweisprachige Gebiete verhindert, da es schwedischsprachige Flüchtlinge nur sehr wenig gab.
Nach Paasikivis Ansicht hätten die Umsiedler die schwedischsprachige Besiedlung und Kultur gefährdet. Deren Erhaltung stelle aber sicher, dass das Interesse Schwedens, der nordischen Länder sowie mittelbar auch der gesamten westlichen Welt am Schicksal Finnlands nicht nachlasse. Anders als in der Vorkriegszeit wurde die Zweisprachigkeit in Finnland damit nicht mehr als innenpolitisches Problem, sondern als außenpolitischer Vorteil empfunden.
Finnisch und Schwedisch im heutigen Finnland
Gesetzliche Regelung der Sprachfrage
Das 1922 erstmals verabschiedete Sprachgesetz (finnisch kielilaki, schwedisch språklagen) ist in der Folge verschiedentlich reformiert worden, zuletzt im Jahr 2003. Kernregelungen des Gesetzes betreffen einerseits die Rechte der individuellen Person, andererseits den Sprachstatus von Gemeinden als Verwaltungseinheiten.
Jede Gemeinde ist entweder finnischsprachig, schwedischsprachig oder zweisprachig. Eine Gemeinde gilt als zweisprachig, wenn die sprachliche Minderheit von mindestens 3000 Einwohnern repräsentiert wird oder alternativ einen Bevölkerungsanteil von mindestens 8 % ausmacht. Nach der derzeitigen, bis zum Jahr 2022 gültigen Einteilung sind in Finnland 16 Gemeinden schwedischsprachig (sämtlich in der Provinz Åland) und 33 Gemeinden zweisprachig. Die übrigen 260 Gemeinden sind ausschließlich finnischsprachig.
Der Bürger hat das Recht, mit staatlichen Gerichten und Behörden in seiner Muttersprache, Schwedisch oder Finnisch, zu verkehren. Das Gleiche gilt für die kommunalen Behörden in zweisprachigen Gemeinden. In einsprachigen Gemeinden verwenden die kommunalen Behörden dagegen grundsätzlich nur die Gemeindesprache. Soweit aber ein Beteiligter in einer Sache, die er nicht selbst veranlasst hat, angehört werden muss, darf er auch seine Muttersprache verwenden. Nötigenfalls muss ein Dolmetscher hinzugezogen werden.
In den Gesetzen über die Besetzung von öffentlichen Ämtern ist festgelegt, dass jede Einstellung in den öffentlichen Dienst Finnlands den Nachweis von finnischen und schwedischen Sprachkenntnissen voraussetzt. Das Erlernen der jeweils anderen Landessprache ist in allen Schulen seit 1968 zwingend vorgeschrieben. Auch der Erwerb eines Hochschulabschlusses setzt jeweils den Nachweis von Kenntnissen der jeweils anderen Landessprache voraus.
In der finnischen Armee ist Finnisch aus praktischen Gründen ausschließliche Kommandosprache. Allerdings werden die meisten schwedischsprachigen Soldaten in einer gesonderten Brigade in Dragsvik ausgebildet.
In Åland gelten die finnischen Sprachengesetze nicht, stattdessen werden die Sprachfragen in dieser autonomen Provinz durch das Selbstverwaltungsgesetz geregelt. Åland ist ausschließlich schwedischsprachig, jedoch dürfen Finnen gegenüber den Behörden des finnischen Staates auch die finnische Sprache verwenden. Gegenüber den Behörden der Provinz oder ihrer Gemeinden kann nur Schwedisch verwendet werden.
Die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt Finnlands Yleisradio versorgt die schwedischsprachige Bevölkerung mit zwei Radiostationen. In den Fernsehprogrammen der Anstalt nehmen Sendungen in schwedischer Sprache einen Anteil von etwa 10 % ein.
Statistik
Während die absolute Zahl der schwedischsprachigen Finnen langfristig weitgehend unverändert geblieben ist, ist der relative Anteil an der Gesamtbevölkerung stetig zurückgegangen (siehe nebenstehende Tabelle). Dabei ist insbesondere in den zweisprachigen Gebieten eine zunehmende Vermischung der Sprachgruppen zu beobachten.
Es gehört zu den Besonderheiten der in Finnland praktizierten Zweisprachigkeit, dass die Sprachgrenzen in der Praxis kein relevantes Hindernis für die Formung von Lebensgemeinschaften darstellen. Hierzu mag beitragen, dass nach einer Untersuchung aus dem Jahr 1997 ein Anteil von 70 % der Finnen die schwedische Sprache als Teil der eigenen nationalen Identität betrachtet. In den zweisprachigen Familien werden 60 % der Kinder als schwedischsprachig registriert.
Der Sprachenstreit heute
Obwohl es seit den 1930er Jahren keine groß angelegten Sprachenstreite mehr gegeben hat, ist es um die Sprachenfrage doch nie ganz ruhig geworden. Die Diskussion entzündet sich heute regelmäßig vor allem an zwei Streitpunkten, nämlich der obligatorischen Sprachausbildung sowie den Quoten für schwedischsprachige Studenten.
Die Pflicht zur Erlernung der jeweils anderen Landessprache ist ständiger Kritik vor allem aus den Reihen der Finnischsprachigen ausgesetzt, insbesondere von Seiten der von der Lernpflicht betroffenen Schüler und Studenten. Das Thema wird unter dem Schlagwort „Zwangsschwedisch“ (finnisch pakkoruotsi) immer wieder zum Gegenstand von öffentlichen Kampagnen gemacht. Als zentrales Argument dient dabei, dass die schwedische Sprache weniger nutzbringend sei als das Erlernen von Fremdsprachen wie Englisch.
Unter den politischen Parteien des Landes herrscht derzeit jedoch ein klarer Konsens über die Beibehaltung des obligatorischen Schwedischunterrichts. Der Forderung nach dessen Abschaffung haben sich nur einige kleine rechtspopulistische Parteien angeschlossen. So wurde das neue Sprachengesetz 2003, welches in dieser Hinsicht keine Änderung brachte, vom Parlament mit 179 Stimmen bei nur drei Gegenstimmen angenommen.
Der zweite große Streitpunkt betrifft die quotenmäßige Besetzung von bestimmten Studien- und Ausbildungsplätzen mit schwedischsprachigen Studenten. So stehen in den Studiengängen der Rechtswissenschaft und der Medizin jeweils gesonderte Quoten für Studenten zur Verfügung, welche die schwedische Sprache beherrschen. Diese von manchen finnischsprachigen Finnen als diskriminierend empfundene Praxis wird damit begründet, dass das Sprachgesetz ein zureichendes Angebot an schwedischsprachigen Dienstleistungen erfordert und dass zu diesem Zweck auch eine ausreichende Ausbildung in schwedischer Sprache sichergestellt werden muss. Außerdem stehe die schwedischsprachige Ausbildung allen Finnen offen, welche die schwedische Sprache beherrschen, nicht etwa nur solchen Finnen, deren Muttersprache Schwedisch ist.
Trotz dieser Streitpunkte ist die auf dem Sprachgesetz beruhende Praxis inzwischen für die meisten Finnen zur Selbstverständlichkeit geworden und sprachliche Streitfragen sind nur noch selten Gegenstand einer breiteren öffentlichen Diskussion.
Stellung der samischen Sprachen
Besonders ab den 1990er Jahren wurde in der Sprachenpolitik Finnlands zunehmend auch auf andere Minderheitensprachen sowie auf das Recht der Sprecher dieser Sprachen an ihrer eigenen Sprache und Kultur Rücksicht genommen. In diesem Zusammenhang hat Finnland auch die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen ratifiziert.
Neben dem Schwedischen fallen in Finnland nur die samischen Sprachen unter die Charta. Seit dem Jahr 1992 haben diese einen offiziellen Status in den Heimatbezirken der Samen in den Gemeinden Enontekiö, Inari und Utsjoki sowie im Nordteil der Gemeinde Sodankylä.
Der Status der samischen Sprachen garantiert den Samen das Recht, diese als Verkehrssprache in Behörden und Krankenhäusern zu verwenden. Da die verschiedenen Varianten der samischen Sprache ebenfalls berücksichtigt werden, ist infolge der Neuerung aus Inari die einzige viersprachige Gemeinde Finnlands geworden. Dort werden alle öffentlichen Bekanntmachungen auf Nord-Sami, Inari-Sami, Skolt-Sami sowie auf Finnisch gemacht. In den Schulen einiger Gebiete ist Nord-Sami die erstrangige Schulsprache.
Zu den zentralen Anliegen der Sprachenpolitik der nordischen Länder gehört die Wiederbelebung der samischen Sprachen. Unter dem Druck der größeren Landessprachen spricht nur noch etwa die Hälfte der Samen eine samische Sprache. Zur Überwachung der Stellung der samischen Sprachen und zur Verwirklichung einer sprachlichen und kulturellen Selbstverwaltung wurde 1996 eine eigene parlamentarische Vertretung der Samen (sámediggi) gegründet.
Siehe auch
Liste der schwedisch- und zweisprachigen Gemeinden Finnlands
Literatur
Pentti Virrankoski: Suomen historia. SKS, Helsinki 2001, ISBN 951-746-321-9, ISBN 951-746-342-1.
Weblinks
(Kommission zur Vorbereitung des Sprachgesetzes 2003, finnisch und schwedisch)
Sprachenpolitik
Sprachpolitik
Finnlandschwedische Sprache |
2160741 | https://de.wikipedia.org/wiki/Preu%C3%9Fischer%20optischer%20Telegraf | Preußischer optischer Telegraf | Der Preußische optische Telegraf war ein zwischen 1832 und 1849 zwischen Berlin und der Rheinprovinz bestehendes telegrafisches Kommunikationssystem, das amtliche und militärische Nachrichten mittels optischer Signale über eine Entfernung von 588 Kilometern übermitteln konnte. Die Telegrafenlinie bestand aus bis zu 62 Telegrafenstationen mit Signalmasten, an denen jeweils sechs Telegrafenarme mit Seilzügen zur Bedienung befestigt waren. Die Stationen waren mit Fernrohren ausgestattet, mit denen die Telegrafisten speziell codierte Informationen von einer Signalstation ablasen und sofort an die nächste weitergaben. Drei telegrafische Expeditionen in Berlin, Köln und Koblenz ermöglichten die Entgegennahme, Chiffrierung, Dechiffrierung und Ausgabe von Staatsdepeschen (vgl. Postexpedition).
Die Anlage war zu ihrer Zeit die längste Telegrafenlinie Europas. Sie wird als Beginn der Telekommunikation in Deutschland bezeichnet, wenngleich schon 19 Jahre zuvor die französische Optische Telegrafenlinie Metz–Mainz durch späteres deutsches Gebiet führte. Die über die gesamte Linie synchronisierte „Berliner Zeit“ des preußischen optischen Telegrafen bildete bei einer Toleranz von rund einer Minute das erste einheitliche Zeitniveau über so große Distanz.
Nach Einführung der elektrischen Telegrafie wurde die Anlage überflüssig. Auch wenn heute keine Nachrichten mehr auf optischem Wege übermittelt werden, wird das Prinzip noch im Winkeralphabet und in stark vereinfachter Form bei Eisenbahnsignalen verwendet, die ein mechanisches Stellwerk steuert. Vergleichbar ist auch der Abfahrauftrag.
Geschichtlicher Hintergrund
Beim Bau der preußischen Telegrafenlinie war die Technik der optisch-mechanischen Telegrafie schon seit über 30 Jahren bekannt: Auf Basis der Konstruktion von Claude Chappe und seinen Brüdern war sie in Frankreich ab 1794 auf mehreren Telegrafenlinien im praktischen Einsatz. Auch Schweden, Dänemark und England betrieben bald darauf optische Telegrafen, während in Deutschland eilige Nachrichten weiterhin von Boten befördert wurden. Die am Ende des 18. Jahrhunderts auf deutschem Gebiet bestehenden Klein- und Teilstaaten brachten weder Interesse an einer das eigene Hoheitsgebiet überschreitenden Kommunikationstechnik auf, noch gab es die politischen Bedingungen für die erforderlichen Abkommen und Einigungen. In Staaten wie Schweden, England oder Frankreich war dagegen nicht nur die notwendige nationale Einheit für ein solches Projekt gegeben; sie waren auch mit politischen, militärischen und wirtschaftlichen Herausforderungen wie der Sicherung langer Küstenlinien, der Steuerung des Seehandels oder der politischen Lage nach der französischen Revolution konfrontiert und daher zum Aufbau telegrafischer Kommunikationsnetze motiviert und in der Lage.
Preußen, der damals zweitgrößte deutsche Flächenstaat, sah bis zu den territorialen Neuordnungen des Wiener Kongresses von 1814/1815 keine strukturelle oder politische Notwendigkeit für die Einführung der Telegrafie. Auch danach verzögerte sich die Umsetzung von Plänen zum Aufbau einer ersten Telegrafenlinie immer wieder durch Widerstand aus dem konservativen preußischen Militärwesen. Wenn überhaupt, zog man allenfalls im Rahmen einer mobilen Feldtelegrafie für den Kriegseinsatz den Einsatz dieser neuen Kommunikationstechnologie in Betracht. Gerade die Feldtelegrafie war von Napoléon Bonaparte mit Erfolg eingesetzt worden, was immerhin das Interesse der Militärs weckte.
Allerdings sah man sich zu Anfang der 1830er Jahre mit einer fragilen innenpolitischen Situation in den preußischen Westprovinzen konfrontiert – rheinische Liberale und Adelige opponierten gegen die Berliner Staatsverwaltung, in ihrer Verfassungsbewegung bestärkt durch die französische Julirevolution und die Belgische Revolution von 1830. Dringende Staatsdepeschen in dieser Lage mit der geringen Reisegeschwindigkeit berittener Boten zu übermitteln erschien den preußischen Militärs zunehmend unbefriedigend, weshalb sich die Fürsprecher einer festen Telegrafenlinie von Berlin über Köln nach Koblenz schließlich durchsetzen konnten.
Die technische Idee und Initiative zum Bau der damals längsten Telegrafielinie Mitteleuropas gingen vom Berliner Geheimen Postrat Carl Philipp Heinrich Pistor aus, der dem preußischen Generalstab im Dezember 1830 eine Denkschrift über den Entwurf zur Errichtung einer Telegrafenlinie in den Königlich Preußischen Staaten vorlegte. Pistors Konstruktion des Telegrafenapparats war von den Geräten des Engländers Barnard L. Watson inspiriert, der wiederum auf dem „Second Polygrammatic Telegraph“ von William Pasley basierte, einem Mast mit sechs Telegrafenarmen aus dem Jahre 1810. Pistor übernahm das sechsarmige Prinzip, überarbeitete die Mechanik der Konstruktion aber umfassend. Außerdem entwickelte seine Werkstatt die für den Betrieb notwendigen Fernrohre, die später auch von Pistor produziert wurden. Mit Kabinettsorder vom 21. Juli 1832 wurde der Bau der Anlage schließlich befohlen, was den Beginn der Telekommunikation in Deutschland markierte.
Die preußische Anlage blieb der einzige staatliche optische Telegraf auf deutschem Boden. Zwischen 1837 und 1850 betrieb der Altonaer Kaufmann Johann Ludwig Schmidt einen optischen Telegrafen zwischen der Elbmündung in Cuxhaven und Hamburg als Schiffsmeldedienst. Diese Anlage wurde ab 1841 von Friedrich Clemens Gerke, einem Pionier der Telegrafie, geleitet. Schmidt eröffnete 1847 auch einen optischen Telegrafen zwischen Bremen und Bremerhaven, der allerdings durch die Konkurrenz einer fast gleichzeitig in Betrieb genommenen elektrischen Telegrafenlinie auf gleicher Strecke schon 1852 außer Betrieb ging.
Aufbau und Funktion
Wie der spätere Betrieb lag auch der Aufbau der Anlage in der Zuständigkeit des preußischen Militärs. Den Bau leitete Major August O’Etzel. Der gelernte Apotheker und Doktor der Philosophie mit Studium in Berlin und Paris kannte das Rheinland, wo er zuvor bereits mit Vermessungsarbeiten betraut war. Neben der Bauleitung befasste er sich auch mit den zur telegrafischen Korrespondenz erforderlichen Codes und Methoden und schrieb die Codebücher der Telegrafenlinie. Als „Königlich Preußischer Telegraphendirektor“ leitete er schließlich auch den Betrieb der Anlage.
Strecke
Die Telegrafenlinie begann auf der alten Berliner Sternwarte in der Dorotheenstraße, der Station 1. Der erste Bauabschnitt mit 14 Stationen wurde bis zum November 1832 fertiggestellt. Die Strecke verlief über den Potsdamer Telegrafenberg und Brandenburg an der Havel bis Magdeburg.
Die Standorte der Stationen wurden von O’Etzel selbst ausgewählt. Dabei berücksichtigte er vorhandene Bauwerke wie beispielsweise den Turm der Dahlemer Dorfkirche (Station 2), oder er ließ entsprechend hohe Gebäude beziehungsweise Türme errichten.
Um den Sichtkontakt auf der Strecke zu gewährleisten, mussten mancherorts Bäume eingekürzt und gefällt werden. Bereits die französischen Telegrafenbetreiber gewannen die Erkenntnis, dass sich die Signalanlagen vor manchen festen Hintergründen schlecht, gegen den offenen Himmel jedoch gut erkennen und ablesen ließen. Wo notwendig, erbaute man die preußischen Stationen deshalb auf erhöhtem Gelände. Solche Orte wurden später nicht selten als „Telegrafenberg“ bezeichnet, so auch bei Glindow (Station 5) oder bei der Station 13, südöstlich von Biederitz. Da die Aufnahme und Ausgabe von telegrafischen Nachrichten nur durch die Expeditionen (Versandabteilung) am Beginn und Ende der Telegrafenlinie vorgesehen war, legte man auf den Anschluss von Ortschaften und Städten keinen großen Wert; häufig befanden sich die Telegrafenstationen außerhalb von besiedeltem Gebiet. Die letzte Station des ersten Abschnittes wurde auf der Johannis-Kirche in Magdeburg eingerichtet.
Zur Beschleunigung des zweiten, längeren Bauabschnitts zwischen Magdeburg und Koblenz wiesen der Finanzminister sowie der Minister des Inneren und der Polizei alle untergeordneten örtlichen Behörden zur umfassenden Kooperation mit der Bauleitung an, um langwierige Instanzenwege und Auseinandersetzungen zu vermeiden. War eine Einigung über den Grundstückserwerb zum Bau einer Telegrafenstation nicht möglich, konnte im schlimmsten Fall auch eine Enteignung von Privatpersonen vorgenommen werden. Die Linie verlief nördlich von Egeln (Schloss Ampfurth), Halberstadt, Goslar, Höxter zur Station 31 bei Entrup, wo sie nach der Durchquerung des Weserberglands vor Paderborn südwestlich abknickte. Anschließend verlief sie auf südlicher Seite entlang der Achse Salzkotten, Erwitte, Soest, Werl, Iserlohn, Hagen, Schwelm und Lennep und fand schließlich über die Stationen in Schlebusch (49) und Flittard (50) ihren Weg nach Köln. Von dort verlief die Strecke auf östlicher Seite parallel zum Rhein über Spich bis Ehrenbreitstein. Integriert in die dortige Festung bildete die Station 60 den vorgesehenen Endpunkt der Strecke. Nach der Fertigstellung und Inbetriebnahme der Gesamtanlage im Jahr 1833 stellte sich allerdings schnell heraus, dass die Fährüberquerung des Rheines nach Koblenz eine erhebliche Verzögerung im telegrafischen Verkehr darstellte, die nur durch die Erweiterung der Linie um eine Endstation in Koblenz vermieden werden konnte. Diese Station 61 platzierte man noch im gleichen Jahr, gemeinsam mit den Räumen für die Verwaltung des westlichen Streckenabschnittes, im damals als Kaserne genutzten Koblenzer Kurfürstlichen Schloss.
Mit den beiden Stationen Schladen (Nr. 22) und dem Stofenberg bei Liebenburg-Lewe (Nr. 23) führte die Telegrafenlinie auch ein Stück durch hannoversches Gebiet. Die Stationen 24–28 lagen auf dem Gebiet des Herzogtums Braunschweig. Mit beiden Regierungen führten Verhandlungen über Kauf oder Pacht von Grundstücken und den Bau von Stationen rasch zum Erfolg.
Dabei versuchte man, durch Erhöhung der Abstände zwischen den Stationen 23, 24 und 25 zwei Stationen auf braunschweigischem Gebiet einzusparen. Nach einjährigem Betrieb stellte man fest, dass der große Abstand bei trübem Wetter zu häufigen Unterbrechungen des Sichtkontaktes führte. Erst 1842 wurde dieses Problem durch den Bau einer Zwischenstation, der Nummer 24 a bei Altgandersheim, gelöst.
Die Strecke umfasste damit 62 Telegrafenstationen. Sie lagen durchschnittlich etwa 9,6 km auseinander, wobei die maximale Entfernung 16,0 km und die minimale 2,1 km betrug. Die gesamte Strecke überbrückte eine Luftlinie von 469 Kilometern, die tatsächliche Streckenlänge betrug 588 km.
Zunächst gab es nur an den beiden Endpunkten der Strecke je ein Expeditionsbüro (Versandbüro) – Koblenz war Sitz des Oberpräsidenten der Rheinprovinz und westliche Zentrale des preußischen Verteidigungswesens. In der mit rund 95.000 Einwohnern deutlich größeren und wirtschaftlich wie verkehrstechnisch bedeutenden Stadt Köln konnten weder Nachrichten empfangen noch abgesandt werden. Für Berlin bestimmte Nachrichten aus England oder Belgien, die in Köln eintrafen, mussten zunächst per Boten nach Koblenz übermittelt und dann von dort wieder über Köln nach Berlin telegrafiert werden, wodurch sie um einen Tag verzögert wurden. Daher eröffnete man im Jahre 1836 schließlich ein drittes Expeditionsbüro an der Kölner Telegrafenstation St. Pantaleon.
Stationen
Gemeinsames funktionales Element aller Telegrafenstationen war der etwa 6,30 Meter über einen Observationsraum herausragende runde Mastbaum aus Nadelholz. Er war Träger der sechs Telegrafenarme, auch Indikatoren genannt, und er führte auch die Steuerzüge. Mast und Steuerzüge wurden mit speziellen Abdichtungen gegen Regen durch das Dach des Observationsraumes geführt. Der Mast war am Bodengebälk des Observationsraumes mit einer gusseisernen Konstruktion befestigt und zusätzlich in der Dachöffnung fixiert. Zwischen den beiden oberen Indikatorenpaaren war ein Ring angebracht, an dem vier Sturmstangen befestigt waren, die an den Ecken des Stations- oder Turmdaches verankert waren. Diese Stangen verschafften dem Mast zusätzliche Stabilität.
Indikatoren und deren Ansteuerung
Die sechs beweglichen Telegrafenarme beziehungsweise Indikatoren waren paarweise am Mast angebracht und mit Gegengewichten aufgehängt, die eine leichte Einstellbarkeit gewährleisten. Jedes Paar bildete eine von drei Etagen. Die Zeiger maßen 1,74 × 0,33 m. Im Original sind heute nur noch zwei Indikatoren vorhanden, ausgestellt im Bördemuseum Ummendorf sowie im Museum für Kommunikation in Berlin. Diese lassen, ebenso wie erhaltene Konstruktionszeichnungen, darauf schließen, dass die Telegrafenarme aus hölzernen Rahmen bestanden, die im Inneren Holz- oder Blechjalousien aufwiesen, um dem Wind weniger Widerstand zu leisten.
Die Steuerung des Systems befand sich am unteren Teil des Mastes, im Observationsraum. Analog zu den Indikatoren gab es sechs paarweise angebrachte Stellhebel an Steuerungsscheiben, die über ein Drahtseil- und Zugstangensystem die Indikatoren ansteuerten. Ihre Position und Hebelstellung entsprach exakt dem Zeichenbild der Indikatoren oben am Telegraphen. Die Einstellhebel waren mit Zapfen in vier Stufen arretierbar, die genau den vorgesehenen Armstellungen entsprachen: 0° (Flügel hängt am Mast), 45°, 90° und 135°, jeweils vom Mast ausgehend.
Fernrohre
Jede Station verfügte über zwei Fernrohre zur Beobachtung der benachbarten Telegrafenstationen. Es handelte sich entweder um englische Modelle, Fernrohre aus der Pistor’schen Werkstatt oder, vor allem auf der Teilstrecke zwischen Köln und Koblenz, um Modelle des Münchner Optikers Georg Merz. Die Vergrößerungsleistung wird heute auf 40- bis 60fach geschätzt. Entsprechend der Bedeutung dieser Werkzeuge für die Anlage waren Konstruktion, Einrichtung, Benutzung, Aufbewahrung und Wartung der Fernrohre in den Instruktionen für den Telegrafiebetrieb sehr detailliert beschrieben. Allein das Kapitel 5 „Behandlung des Fernrohres“ enthielt zwölf Paragrafen.
Enthalten ist beispielsweise der Hinweis, beim Gebrauch nicht unablässig, sondern regelhaft lediglich vier- bis fünfmal pro Minute einige Sekunden lang durch das Glas zu schauen, um eine Überanstrengung des Auges zu vermeiden. Neben den 122 Fernrohren des ständigen Betriebes in den Stationen war die Anlage in den Inspektionen mit sechs Reserve-Fernrohren ausgestattet.
Stationsuhren und Zeitsignal
Maßgeblich für die gesamte Telegrafenlinie war die so genannte „Berliner Zeit“, die spätestens alle drei Tage zur Synchronisation aller Stationen von Berlin aus durchtelegrafiert wurde. In jeder Station hing, als Stationsuhr, eine Schwarzwälder Uhr mit Schlagwerk. Der Synchronisationsvorgang wurde bereits eine Stunde vorher durch Zeichen angekündigt, wodurch die Telegrafenbeamten veranlasst waren, die Nachbarstation aus Berliner Richtung zum Zeitpunkt der Synchronisation unablässig zu beobachten und das Zeitsignal B 4 unverzüglich weiterzuleiten. In Koblenz angekommen, wurde ein Signal zur Bestätigung sofort in Gegenrichtung ausgesandt. Bei guten Wetterbedingungen dauerte die Übermittlung eines Zeitsignals von Berlin nach Koblenz inklusive der Rückmeldung nach Berlin weniger als zwei Minuten. Der Zeitunterschied im Rahmen einer solchen Synchronisation betrug dann weniger als eine Minute. Damit war dieses Zeitsignal auf langer Strecke nicht nur das schnellste seinerzeit verfügbare Kommunikationssignal. Die „Berliner Zeit“ bildete mit einem Zeitunterschied von weniger als einer Minute zugleich das erste einheitliche Zeitniveau auf derart große Distanz.
Bautypen
Sofern die Telegrafenstationen nicht in bestehende Gebäude integriert wurden, baute man fünf verschiedene Grundtypen von Stationsgebäuden, zwischen denen in Abhängigkeit von der Lage, den zu erwarteten Bedürfnissen des Betriebes und auch von den Vorstellungen der abschnittsweise mit dem Bau beauftragten Garnisonsbaudirektoren gewählt und variiert wurde:
1) Kleine Stationshäuschen wurden vor allem im ersten Bauabschnitt errichtet. Sie dienten ausschließlich als Arbeitsplatz für zwei Telegrafisten.
2) Stationstürme mit vergleichbarem Grundriss boten ebenfalls nur Raum für die Ausübung des Telegrafendienstes. Sie entstanden aus Stationshäuschen, die man zur Vermeidung von Sichtbehinderungen durch Luftflimmern in Bodennähe aufstockte, oder sie wurden gleich mehrstöckig angelegt, um Hindernisse zu überragen.
Vor allem im zweiten Bauabschnitt wurden Wohnungen für die Telegrafisten und deren Familien in den Bau einbezogen, da viele Stationen abseits von Siedlungen erbaut wurden und man lange Anreisen zum Dienst ebenso vermeiden wollte wie eine Trennung der Beamten von ihrer Familie. Die Wohngebäude verfügten in der Regel über zwei Stuben, zwei Küchen und mehrere Kammern, da zwei Telegrafistenfamilien dort lebten. Zu solchen Stationen gehörte häufig auch ein Garten, der zur Selbstversorgung der dort beheimateten Menschen genutzt wurde. Stationen mit Wohngebäude gehörten zum
3) „Haus-Turm-Typ“ mit im Gebäude integriertem, geschlossenem Turm (wie in Flittard, siehe Abbildung am Artikelanfang)
4) „Satteldach-Typ“ mit angebautem oder freistehendem Turm
5) „Walmdach-Typ“, ebenfalls mit angebautem Turm, aber anderer Dachkonstruktion
Die Wohn- und Stationsgebäude waren, bis auf die nachträglich erbaute Station 24 a mit zwei Etagen, einstöckig. Der Dachboden war ausgebaut und bewohnbar. Abschnittsweise verfügten Stationen über Lagerräume für Ersatzteile der Zeigereinrichtung. Andere besaßen Stallungen für Pferde, mit denen Boten bei ausgefallener Sichtverbindung oder beschädigtem Telegraf Abschnitte der Strecke für dringende Nachrichten überbrücken konnten. Die Gebäude wurden in einfachem, funktionalem Stil errichtet, wobei die äußere Gestaltung und die Bauweise mit den örtlich verfügbaren Materialien und den von den Handwerkern beherrschten Techniken variierte: Fachwerk mit Ziegelsteinausmauerung, Bruchsteinbauweise und Ziegelmauerwerk mit und ohne Putzverkleidung kamen zur Anwendung. Wurde ein Außenanstrich aufgebracht, so verwendete man in der Regel Farben, die sich von der Umgebung abhoben, um die Erkennbarkeit der Station zu verbessern.
Neben den bereits erwähnten Telegrafenstationen in der alten Berliner Sternwarte, der Dahlemer Dorfkirche und der Magdeburger Johanniskirche wurden noch drei weitere Stationen in bestehende öffentliche oder kirchliche Gebäude integriert:
Station 16 auf dem Burgturm von Schloss Ampfurth
Station 51 auf dem Mittelturm der Kölner Kirche St. Pantaleon – das Kirchengebäude diente damals als evangelische Garnisonskirche. Das ermöglichte den Umbau des Turms, bei dem immerhin der komplette barocke Giebelhelm des Turmes entfernt und ein Observationszimmer darunter eingebaut wurde.
Station 61 auf dem Koblenzer Kurfürstlichen Schloss.
Betrieb
Alle Telegrafenstationen waren mit einem Ober- und einem Untertelegrafisten besetzt, die tagsüber bei ausreichendem Tageslicht den Telegrafendienst verrichteten.
Im Depeschenbetrieb wurden Nachrichten von den Telegrafenexpeditionen in Berlin, Koblenz und später auch in Köln aufgenommen. In den dortigen Chiffrierbüros verfügten die Beamten über geheime Codebücher für Staatsdepeschen, die heute nicht mehr erhalten sind. Die dort verschlüsselten Nachrichten wurden über die Telegrafenlinie versandt und erst im Chiffrierbüro des Zielortes wieder in Klartext umgewandelt und durch die Telegrafenexpedition zugestellt. Dabei fungierte jede Telegrafenstation wie ein Relais – Nachrichten wurden lediglich verschlüsselt abgelesen und ebenso weitergegeben. In den Stationen konnten Staatsdepeschen weder angenommen, chiffriert noch abgesandt werden, und auch die Dechiffrierung war nicht vorgesehen.
Betriebliche und dienstliche Nachrichten, z. B. Zustands- oder Störungsmeldungen, konnten dagegen unabhängig von den Staatsdepeschen zwischen den Telegrafenexpeditionen und den Stationen übermittelt werden. Hierfür stand den Telegrafisten aller Stationen jeweils ein „Wörterbuch für die Telegraphisten-Correspondenz“ der „Classe 5.2“ zur Verfügung.
Codierung
Aus sechs Telegrafenarmen, die mit den Winkeln 0° (Nullstellung, am Mast hängend), 45°, 90° und 135° jeweils vier Positionen einnehmen konnten, ergab sich rechnerisch die Möglichkeit, = 4096 Zeichen darzustellen, wobei die Nullstellung des gesamten Telegrafen (Ruhestellung) im Gebrauch kein eigenes Zeichen darstellte. Das Codesystem von O’Etzel nutzte das Zeichenrepertoire, indem die Armstellungen als Code-Zahlen von 0 bis 999 sowie als Kombinationen von zwei Ziffern (getrennt durch einen Punkt) geschrieben wurden:
Die Schreibweise des Codes ergibt sich aus zwei im Uhrzeigersinn drehenden Zeigern. Mit einem der beiden Arme eines Indikatorenpaars in der Nullstellung konnten durch den zweiten Indikator jeweils vier Stellungen (1, 2, 3, 0 bzw. 0, 4, 5, 6) eingenommen werden. Auf diese Weise wurden mit nur einem Indikator die Code-Ziffern 0 bis 6 dargestellt.
Für die Darstellung der Codeziffern 7 bis 9 wurden zwei Zeiger gleichzeitig verwendet: Der linke Telegrafenarm wurde in die Stellung für 6 und gleichzeitig der rechte Arm in die Stellung für 1, 2 oder 3 gebracht, was die Zeichenstellungen 7, 8 und 9 ergab.
Es gab auch Kombinationen von zwei Indikatoren, bei denen der rechte Arm 1, 2 oder 3 signalisierte, während der linke in die Stellung für 4 oder 5 gebracht wurde. Solche kombinierten Zeichen wurden als Doppelziffern abgelesen und mit einem Punkt getrennt aufgeschrieben, beispielsweise als „4.1“ oder „5.3“.
Zum Stellen und Ablesen bezeichnete man die drei Etagen mit A, B und C, wobei von unten nach oben gelesen wurde. Die Notation einer vollständigen Zeichenstellung lautete dann A [untere Etage] B [mittlere Etage] C [obere Etage], zum Beispiel „A5.3 B7 C4.3“ – im Beispiel bilden die mittleren Telegrafenarme die Code-Ziffer 7 während die oberen und die unteren jeweils eine Kombination (Doppelziffern) bilden. Jede Etage des Signalmastes stellte mit ihrer Indikatorstellung eine Ziffer oder Doppelziffer der Code-Zahl dar.
Einstellung
Die Telegrafensteuereinheit im Observationsraum bildete die Stellung der Telegrafenarme analog ab. Sie musste sowohl von der Berliner als auch von der Koblenzer Seite aus bedient werden und war von beiden Seiten nach Etagen (A. B, C) und vorgesehenen Stellungen der Telegrafenarme beschriftet. Die Stellungen der Steuerhebel (Indikatoren rechts vom Mast) auf der Berliner Seite waren mit 1, 2, 3, 0 und die der Koblenzer Seite mit 6, 5, 4, 0 beschriftet. Die Einstellung/Darstellung der Zeichen war gleich, unabhängig von der Übertragungsrichtung der Depesche. Das Ablesen von den Nachbarstationen musste jedoch von den Telegrafenbeamten in zwei spiegelbildlichen Richtungen beherrscht werden, da der Telegrafenverkehr in beide Richtungen lief. Dies erforderte eine intensive Einarbeitung und regelmäßiges Üben.
Betriebliche und dienstliche Nachrichten
Das „Wörterbuch für die Telegraphisten-Correspondenz“ der „Classe 5.2“. ist heute noch erhalten. Die Inspektoren und die Direktion nutzten das Wörterbuch zur administrativen Kommunikation mit den Telegrafisten, wozu sie mit Hilfe des Buches Nachrichten codierten und Meldungen der Stationen decodierten. Alle übertragenden Stationen konnten bei „Classe 5.2“ den Inhalt der Nachricht mitlesen. Das Codebuch enthielt Adressierungsmöglichkeiten, Teilebezeichnungen des Telegrafen, Orts- und Eigennamen, Silben, Worte, Sätze, Zahlworte und Zeiteinheiten. Der Beginn von Meldungen der Stationen der „Classe 5.2“ wurde eingeleitet mit einer Zeichenstellung, die auf den Etagen A und B die Stationsnummer und auf C die Doppelziffer 5.2 darstellte.
Die Codebücher waren thematisch gegliedert und verwendeten Tabellen zur Auflistung der Zeichen mit den zuhörigen Bedeutungen. Wo möglich, wurden codierfähige Worte und Satzteile daraus genutzt, um die zeitaufwändige Telegrafierung einzelner Silben und Buchstaben zu vermeiden. Diese kam dann nur bei Eigennamen oder selteneren, im Codebuch nicht enthaltenen Worten zum Einsatz. Die Texte wurden zuvor schon um die im damaligen Schriftverkehr üblichen langen Floskeln und Adelsprädikate gekürzt. Dabei konnte sich die Textlänge durchaus auf die Hälfte des Ursprungstextes reduzieren. Allerdings musste beim decodieren einer Nachricht ein Mindestmaß an Ausschmückungen wieder eingefügt werden. Interpunktionen wurden nur mittelegrafiert, wenn sie zum Satzverständnis unerlässlich waren.
Ein Beispiel aus dem Instructionsbuch für Telegraphisten zum Einüben dieses Prozesses gemäß der „Classe 5.2“:
Entwurf einer typischen Mitteilung
Kürzung
Entfernung von Floskeln, Adelsprädikaten und anderen Füllwörtern, die zum Textverständnis nicht erforderlich waren:
Optimierung
Worte, die nicht im Codebuch enthalten waren, wurden durch codierbare Synonyme ersetzt, wobei die ursprüngliche Aussage des Textes erhalten bleiben musste:
Codieren
Unter Nutzung einer Tabelle mit den Spalten A, B und C für die Etagen des Telegraphen und einer Spalte für die zugehörigen Worte, Sätze oder Silben wurde anhand des Codebuches die Meldung codiert. Ankündigungs-, Schluss- und andere notwendige Zeichen wurden ebenfalls hinzugefügt:
Protokoll und Ablauf
Die Übermittlung von Depeschen und der administrative Austausch zwischen Stationen und der Telegrafendirektion waren in einem Protokoll, dem zweiten Kapitel der „Instruction“ für die Telegrafisten, genau geregelt:
Beide Telegrafisten einer Station überwachten in regelmäßigen, kurzen Abständen die beiden Nachbarstationen. Bei ruhender Linie geschah die Überwachung im Minutentakt, während der geplanten Übermittlungsphasen mehrmals in der Minute. Ein ununterbrochenes Beobachten wurde vermieden, um die Augen nicht zu überlasten.
Bei der Nachrichtenübermittlung beobachtete ein Telegrafist die sendende Station und diktierte dem Kollegen die Signalstellung in der Reihenfolge von A nach C. Der Kollege stellte die Hebel entsprechend und kontrollierte dann die nachfolgende Station, ob sie sein Zeichen ebenfalls richtig empfangen und weitergegeben hatte. Anschließend wurde das Zeichen in das Stationsjournal eingetragen.
Jede Depesche führte neben dem Nachrichtentext auch Informationen über Datum und Zeit des Abgangs aus der Expedition.
Dringende Nachrichten waren mit dem Zeichen „B4.3 C4.3“ für „Citissime!“ (lat.: aufs schnellste!) gekennzeichnet. Sie waren bevorzugt zu behandeln und bei einem Ausfall von Abschnitten der Linie mit Boten zur nächsten funktionierenden Station zu befördern.
Zur Vermeidung von Überschneidungen waren feste stündliche Übermittlungszeiten von Koblenz in Richtung Berlin vorgesehen. Lag keine solche Nachricht mehr vor, wurde das Zeichen „A5.2 C5.2“ – „Nichts Neues“ versandt – dann sollten die Depeschen in umgekehrter Richtung telegrafiert werden. Leerlaufzeiten zwischendurch waren für administrative Nachrichten der Stationen vorgesehen.
Überschnitten sich dennoch zwei Nachrichten in entgegengesetzter Richtung, war das Prozedere an der betreffenden Station ebenfalls genau geregelt, so dass beide Nachrichten zunächst aufgenommen und dann nacheinander übermittelt werden konnten.
Für alle denkbaren Sonderfälle wie zum Beispiel den Ausfall einer Station, schlechte Sichtbedingungen oder fehlerhaft gestellte Zeichen hielt das Protokoll Verfahrensregelungen und Vorschriften über die Dokumentation des Vorfalles bereit.
Nachdem eine Nachricht durch ein Expeditionsbüro dechiffriert wurde, konnte sie von dort durch einen Boten an ihren Adressaten übermittelt werden. Den Expeditionen standen hierfür Adressbücher zur Verfügung.
Nutzung
Der Betrieb des preußischen optischen Telegrafen diente originär staatlichen Zwecken – eine private Nutzung war nicht vorgesehen und auch aus Kapazitätsgründen kaum möglich. Abgelehnt wurde ein Gesuch der Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin aus dem Jahre 1834, wenigstens wichtige Börsenkurse und Handelsnachrichten übertragen zu dürfen. Allerdings wurden Meldungen mit politischen Nachrichten, sofern sie Relevanz für den Handelsstand aufwiesen, nach Zustimmung des Kriegsministeriums sowie der Ministerien für Polizei und für auswärtige Angelegenheiten in der Preußischen Staatszeitung veröffentlicht.
Der staatliche Zweck der Telegrafenanlage umfasste zunächst ausschließlich die militärische innere und äußere Sicherung Preußens. Dem Ministerium des Inneren und der Polizei war die Mitbenutzung erst ab 1835 gestattet. Erst danach partizipierten auch das Finanz- und das Außenministerium an der Nutzung der Telegrafenlinie, die damit auch bald an ihre Kapazitätsgrenze gelangte.
Zum Ende der 1830er Jahre war eine begrenzte Öffnung des Telegrafensystems für die Presse wahrnehmbar, als Vereinbarungen mit der Kölnischen Zeitung und der Rhein-Mosel-Zeitung getroffen wurden, die bestimmte telegrafische Depeschen zum Abdruck erhalten und die Berliner Regierung im Gegenzug mit wichtigen internationalen Nachrichtenmeldungen via Telegraf versorgen sollten. Weil die Meldungen vor ihrer Freigabe der Zensur unterlagen und zusätzlich mit der Auflage einer monarchiefreundlichen Berichterstattung verbunden waren, ergaben sich für die Zeitungen keine wesentlichen Vorteile aus diesem Abkommen. Politisch brisante Meldungen wurden nicht veröffentlicht, bereitwillig stellte man den Zeitungen aber belanglose Meldungen, etwa über Reisen des Königs, zur Verfügung.
Immerhin ist aber eine telegrafische Meldung aus dem Vorfeld der Märzrevolution des Jahres 1848 überliefert, die der Kölnischen Zeitung zur Verfügung gestellt wurde. Am 17. März 1848 um 17 Uhr wurde in Berlin eine Nachricht abgesandt, die um 18:30 Uhr im Kölner Regierungspräsidium eintraf:
„An drei Abenden zog der Pöbel in Trupps durch die Straßen. Die Bürgerschaft wirkte beruhigend. Seit gestern ist alles ruhig und kein Zeichen der Erneuerung vorhanden“
Die Nachricht wurde in einem Extrablatt der Kölnischen Zeitung veröffentlicht, bevor einen Tag später die Märzrevolution in Berlin ausbrach. Die Chronik der Kölnischen Zeitung kommentierte diese Veröffentlichung mit den Worten:
„Man hatte bisher wohl zuweilen den Telegraphen hoch auf dem Turme seine langen Arme ausstrecken sehen, doch war seine Arbeit den Leuten ein Buch mit sieben Siegeln geblieben. So staunte man, als man das Extrablatt der Kölnischen Zeitung mit jener Depesche in den Händen hielt. Man wunderte sich, wie schnell das Ding schreiben konnte, zwar auch wie schlecht es seinen Aufsatz stilisiert hatte“.
Eines der wenigen erhaltenen Beispiele für den praktischen Nutzen zitiert Pieper in einer Anweisung von Innenminister Gustav von Rochow zur Behandlung des zum (bischofsgleichen) apostolischen Vikar in Hamburg ernannten belgischen Pfarrers Johannes Theodor Laurent, die er am 3. Februar 1840 an die Regierungspräsidenten in Köln, Aachen, Düsseldorf und Koblenz sandte:
Im Vergleich der Texte sind auch die Bearbeitungsschritte der Nachricht gut erkennbar. Das um 09:00 Uhr mit Kurier vom Berliner Innenministerium an die Telegrafenexpedition Dorotheenstraße überbrachte Telegramm wurde dort in etwa drei Stunden bearbeitet und chiffriert, bis es um 12:45 Uhr in Richtung Rheinprovinz telegrafiert wurde. Der tatsächlich durchtelegrafierte Text liegt nicht mehr vor, aber selbst die dechiffrierte und mit den nötigsten Floskeln versehene Kölner Version der Depesche lässt Rückschlüsse auf die erheblichen Kürzungen zu, die am Text vorgenommen wurden. Nach der Dechiffrierung in Köln erfolgte die Ausgabe an den Boten nach Aachen um 22:00 Uhr, also dreizehn Stunden nach Aufgabe der Depesche.
Leistung
Die tägliche Betriebszeit des optischen Telegrafen betrug aufgrund der Lichtverhältnisse im Sommer etwa sechs Stunden, im Winter etwa drei Stunden. Zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Systems ist zwischen Zeichengeschwindigkeit, Korrespondenzgeschwindigkeit und der sich aus der Depeschengeschwindigkeit ergebenden effektiven Leistung des Systems zu unterscheiden:
Zeichengeschwindigkeit
Die schnellste Möglichkeit, ein Zeichen über die gesamte Strecke zu übermitteln, wurde beim Synchronisieren der Stationsuhren erreicht: Bei guten Bedingungen war das Synchronisationszeichen B 4, für das nur ein Indikator gesetzt werden musste, weniger als eine Minute unterwegs, wofür allerdings höchste Aufmerksamkeit der Telegrafenbeamten und entsprechende Vorbereitung benötigt wurden. Im normalen Depeschenverkehr durchlief ein Zeichen die Strecke in 7 ½ bis 14 Minuten. Nach heutigem Kenntnisstand war diese Zeichengeschwindigkeit etwas geringer als beim französischen System.
Korrespondenzgeschwindigkeit
Erkenntnisse über die Geschwindigkeit, mit der Korrespondenzzeichen übermittelt wurden, stammen aus Aufzeichnungen von Franz August O’Etzel. Eine Station konnte im Durchschnitt 1,5 Zeichen pro Minute ablesen und stellen. Bei extrem guten Bedingungen waren zwei Zeichen pro Minute möglich. Im Vergleich habe laut O’Etzel der französische Telegraf bei befriedigender Sicht fast doppelt so viele Zeichen in der Minute übermittelt. Er ging davon aus, dass sein System über das zwanzigfache Zeichenrepertoire gegenüber dem französischen verfügte. Hierdurch habe das preußische System den Geschwindigkeitsnachteil der Korrespondenzzeichen ausgleichen, das Tempo des französischen Systems aber nicht übertreffen können. Der französische Telegraph nach Claude Chappe übermittelte tatsächlich zunächst nur einzelne Buchstaben und stellte nur 92 Signalkonstellationen dar. Durch die Kombination zwei aufeinander folgender Signalstellungen (Halbzeichen) waren später jedoch maximal 8464 Codierungen für Sätze, Worte, Orte, Buchstaben und Zahlen möglich. Das entsprach mehr als dem zweifachen Zeichenrepertoire des preußischen Systems, das hingegen in nur einem Schritt ein vollständiges Zeichen setzte. Der Vergleich der effektiven Korrespondenzgeschwindigkeiten beider Systeme ist noch unzureichend wissenschaftlich erforscht.
Depeschengeschwindigkeit und effektive Leistung
Verlässliche Aufzeichnungen über die Anzahl der täglich durchstellbaren Depeschen gibt es heute nicht mehr. Die Angaben schwanken zwischen zwei übermittelten Nachrichten täglich und den Aufzeichnungen des Telegrafendirektors O’Etzel, der bis zu sechs Nachrichten pro Tag nennt. Auf einen derart häufigen Gang der Depeschen deuten zumindest die stündlichen Übermittlungszeiten hin, die in den Instruktionen für Telegrafisten geregelt waren. Überlieferte Depeschen mit Zeitangaben deuten auf sehr unterschiedliche Übermittlungsleistungen, vermutlich in Abhängigkeit von Wetterbedingungen, hin:
2. Februar 1840 – Telegramm mit 210 Wörtern von Berlin nach Köln: 13 Stunden
17. März 1848 – Telegramm mit 30 Wörtern von Berlin nach Köln: 1,5 Stunden
11. August 1848 – Telegramm mit 60–70 Wörtern von Berlin nach Köln: 20:00 Uhr bis 10:30 Uhr des nächsten Tages nach Unterbrechung wegen Dunkelheit (Zeiten jeweils von Aufgabe bis zur Übergabe des Telegrammes an zustellenden Kurier).
Von den administrativen Nachrichten zwischen den Direktionen und den einzelnen Stationen ist die Laufzeit einer Nachricht bekannt:
7. September 1838 – Nachricht mit 29 Wörtern mit Glückwünschen zwischen Koblenz und Station 9 (Zitz Steinberg): 30 Minuten zwischen 7:00 Uhr und 7:30 Uhr
Sichtbehindernde Witterungen wie Nebel, Regen oder Schneefall konnten die Erkennbarkeit der Signalstellungen empfindlich beeinträchtigen oder sogar unmöglich machen. O’Etzel selbst beschrieb wochenlange wetterbedingte Unterbrechungen des Telegrafenverkehrs zwischen November 1840 und Januar 1841.
Im internationalen Telegrammverkehr benötigte eine Nachricht von Paris nach Berlin, die mittels des französischen Telegrafen nach Metz übermittelt wurde, von dort per Boten über Saarbrücken nach Koblenz gelangte und dann über den preußischen Telegrafen nach Berlin signalisiert wurde, etwa 30 Stunden.
Organisation
Das für den Betrieb der Anlage zuständige Telegraphen-Corps unterstand dem Chef des Generalstabes der Armee, Johann Wilhelm von Krauseneck. Das Korps bestand aus bis zu 200 Militärbeamten unter der Leitung des königlich-preußischen Telegraphendirektors. Nachdem der erste Direktor O’Etzel 1848 krankheitsbedingt kurzfristig aus dem Amt schied, übernahm für eine Übergangszeit der Generalmajor und Geodät Johann Jacob Baeyer seinen Posten. Noch im gleichen Jahr wurde er aber von August von Etzel, Sohn des ersten Telegraphendirektors, abgelöst, in dessen Amtszeit die Organisation der Telegrafenlinie vom Kriegsministerium an das Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten überging.
Die übergreifende Aufsicht und Kontrolle der Telegrafenlinie oblag zwei Oberinspektionen in Berlin und Koblenz. Die Linie selbst war in sieben Inspektionen unterteilt, die jeweils für den Betrieb von acht bis zehn Telegrafenstationen zuständig waren.
In jeder Station verrichteten je ein Ober- und ein Untertelegrafist den Dienst an der telegrafischen Anlage. Diese Beamten waren in der Regel altgediente Militärangehörige, oft vom Rang eines Unteroffiziers mit Anspruch auf Anstellung oder Versorgung. Einstellungsvoraussetzung war, neben einem guten technischen Verständnis, die Beherrschung der Kulturtechniken Schreiben, Lesen und Rechnen. Im ersten Teil der „Instruction“ für die Telegrafisten, der die Aufgaben der Telegrafenbeamten beschreibt, heißt es außerdem:
„Ein guter Telegraphenbeamter muß ein Mann von gesundem und unbefangenem Urtheil sein, dem Beobachtungsgeist nicht abgeht (…) Nüchternheit und ein in jeder Beziehung anständiges Betragen werden vorausgesetzt, als Eigenschaften ohne welche die oben erwähnten den größten Theil ihres Wertes verlieren würden“.
Unterstützt wurde der Betrieb von Reservetelegrafisten, Kanzleidienern und Telegrafenboten.
Die Dienstkonditionen der uniformierten, vereidigten und zur Verschwiegenheit verpflichteten Beamten waren für damalige Verhältnisse recht attraktiv. Neben der Besoldung und den guten Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb des Korps führte auch das Angebot, die Telegrafenstation als Wohnhaus für die Familie der Telegrafisten zu nutzen, zu einer hohen Nachfrage nach Stellen im Telegraphen-Corps.
Kosten
Der Jahresverdienst für einen Untertelegrafisten betrug bei Eröffnung der Linie 210 Taler, kurz vor der Stilllegung waren es 212 Taler. Der Obertelegrafist bezog zu diesen Zeitpunkten 285 beziehungsweise 312 Taler. Für einen Reservetelegrafisten waren 144 Taler angesetzt. Die Familien durften für 5 % des Jahresgehalts die Wohnräume der Telegrafenstationen nutzen. 1840 rechnete man für das Jahr mit Gehaltskosten von 500 Talern pro Station. Generalmajor O’Etzel erhielt ein reguläres Einkommen als Offizier in Höhe von 1900 Talern, das aufgrund seiner Aufgabe als Telegraphendirektor um 600 Taler aufgestockt wurde. Der Oberinspektor erhielt 1118 Taler, worin allerdings Reisekosten enthalten waren. Die Inspektoren wurden mit jeweils 818 Talern im Jahr vergütet.
Die Gesamtkosten der Anlage wurden für das Jahr 1834 mit 50178 Talern angegeben, für das Jahr 1849 waren es 53400 Taler. Bei einer durchschnittlichen Sendezeit von 1440 Stunden pro Jahr ergeben sich daraus für das Jahr 1849 für eine Sendestunde Kosten von rund 37 Talern.
Ablösung durch die elektrische Telegrafie
Der Preußische optische Telegraf war, trotz seiner im Vergleich zur persönlichen Beförderung von Nachrichten enormen Übertragungsgeschwindigkeit, eine teure und anfällige Technologie mit sehr beschränkter Übertragungskapazität. Insbesondere Dunkelheit und wetterbedingte Sichtbehinderungen schränkten die Nutzung erheblich ein. Auch wird von Hindernissen wie Neubauten oder nachgewachsenen Bäumen berichtet, die jeweils aufwändig und teilweise auch unter Zahlung von Schadensersatz beseitigt werden mussten. Ein gewisses Risiko dürfte auch von Anschlägen auf Telegrafenstationen ausgegangen sein – ein Angriff auf eine einzelne Station hätte die gesamte Linie lahmlegen können. Dokumentiert ist zumindest ein derartiger Vorfall, bei dem im Mai 1848 die Station 43 (Fröndenberg bei Iserlohn) von Freiheitskämpfern gestürmt und beschädigt wurde. Das Aufkommen weniger anfälliger, schnellerer und leistungsfähigerer Verfahren läutete den Abschied von der optischen Telegrafie ein.
Ab 1833 experimentierten Wilhelm Weber, Carl Friedrich Gauß und Carl August von Steinheil mit elektromechanischer Telegrafentechnik. Davon inspiriert führte ab 1837 auch der Preußische Telegrafendirektor O’Etzel erste – zunächst private – Versuche mit dem Steinheilschen Telegrafen durch. Im gleichen Jahr wurde der Fünfnadeltelegraf von William Fothergill Cooke und Charles Wheatstone bei der North-Western-Eisenbahn in der Nähe von London in Betrieb genommen.
Eine erste durch die Regierung gebilligte längere Versuchsstrecke wurde in Preußen im Jahre 1846 erbaut. Entlang der Eisenbahnlinie von Berlin nach Potsdam installierte man oberirdisch eine doppelte Drahtverbindung. Den Vorsitz der hierfür zuständigen Kommission zur Anstellung von Versuchen mit elektromechanischen Telegraphen hatte O’Etzel. Versuchsweise schaltete er die elektromechanische Anlage auch in die Linie des optischen Telegrafen ein. Bis 1848 wurden in den Versuchen auch die verfügbaren telegrafischen Apparaturen, der Morse’sche Schreibtelegraf sowie der Zeigertelegraf von August Kramer und Werner von Siemens, getestet. Den von der Kommission ausgeschriebenen Wettbewerb entschied der Zeigertelegraf für sich, der 1849 auf den neu erbauten elektromechanischen Telegrafenlinien zwischen Berlin und Frankfurt am Main sowie zwischen Berlin und Köln zum Einsatz kam. Letztere Linie nutzte den Versuchsaufbau bis Potsdam und verlief dann bis Köln unterirdisch. Mit ihrer Eröffnung am 1. Juni 1849 wurde der Betrieb des optischen Telegrafen auf gleicher Strecke eingestellt. Der elektromechanische Telegraf wurde von Köln aus zunächst nach Aachen ausgebaut; diese Strecke war bis August 1849 fertig. Zwischen Köln und Koblenz betrieb man die optische Telegrafie dagegen noch bis 1852. Am 12. Oktober 1852 nahm auch auf dieser Strecke der elektromechanische Telegraf seinen Betrieb auf und ersetzte den letzten Abschnitt des Preußischen optischen Telegrafen.
Heutige Situation
Die Stationen wurden nach Schließung der Telegrafenlinie meist verkauft. Viele sind heute durch Abriss, Feuer oder Kriegsschäden gar nicht mehr vorhanden, andere wurden zu Wohnhäusern oder Gaststätten umgebaut. Ein Fachwerkhaus der Station 33 aus Altenbeken wurde an einen anderen Standort transloziert. Mancherorts erinnern nur noch Straßenbezeichnungen wie „Am Telegraphen“ oder „Große Telegraphenstraße“ an die ehemaligen Telegrafenstationen.
Keine einzige Station ist heute vollständig im Originalzustand erhalten, es existiert kein Original einer Signalanlage. Einige Stationen und Masten wurden, oft auch nur symbolisch, nachgebaut. So gibt es etwa in Straßenhaus ein einfaches 1:1-Modell der ehemaligen Telegrafenstation mit symbolischer Zeigeranlage – die Gemeinde trägt bemerkenswerterweise eine stilisierte Telegrafenstation in ihrem Wappen. Auch in Iserlohn wurde der Mast der Station 43 mit Zeigeranlage nachgebaut. Historisch und technisch mehr oder weniger anspruchsvolle Rekonstruktionen und Restaurierungen von Telegrafenstationen:
Auf dem Telegraphenberg in Potsdam, Standort der Station 4, errichtete die „Interessengemeinschaft optischer Telegraph 4“ einen Nachbau der einstigen Signalanlage in Form eines freistehenden Mastes mit Indikatoren, die vom Erdboden aus eingestellt werden können.
Bei der ehemaligen Station 7 auf der Kuppe des Marienbergs/Brandenburg wurde am 31. März 2015 anlässlich der Bundesgartenschau 2015 die Nachbildung der früheren Signalanlage auf einem Hochbehälter der Brandenburger Wasser- und Abwasser GmbH aufgestellt.
Nahe der früheren Station 11 in Ziegelsdorf wurde 2011 eine Telegrafen-Attrappe mit einem neun Meter hohen, funktionsfähigen Mast aufgestellt. Außerdem gibt es Informationstafeln zur Telegrafenlinie, der Heimatverein Grabow bietet nach Absprache Führungen an.
Neuwegersleben im Landkreis Börde – die aus Bruchstein erbaute Station 18 war bereits zur Ruine verfallen, es standen nur noch die Grundmauern. Sie wurde am Original orientiert wieder aufgebaut, mit einem rekonstruierten Signalmast ausgestattet und zeitgenössisch eingerichtet. Die Station kann als Museum besichtigt werden und hat die Koordinaten .
Die Station 30 auf dem Hungerberg bei Vörden (Marienmünster) wurde Mitte des 19. Jahrhunderts abgerissen; auf ihren Grundmauern wurde die 1852 eingeweihte Marienkapelle errichtet. Im Mai 2008 wurde etwa 30 Meter vom ursprünglichen Standort der Station entfernt ein moderner Aussichtsturm erbaut. Die 26 Meter hohe Konstruktion aus Lärchenholz trägt einen symbolischen Signalanlagenmast in Stellung „H“ für Hungerberg.
Auch in Entrup (Nieheim) wurde im April 2012 auf dem 231 Meter hohen Lattberg an Stelle der nicht mehr existierenden Station 31 ein Aussichtsturm errichtet, der einen Telegrafen-Aufsatz erhält. Damit soll eine optische Verbindungslinie zwischen dem Aussichtsturm an Station 30 (Vörden/Huingerberg) und der rekonstruierten Station 32 geschlossen werden.
Oeynhausen – Station 32 wurde auf Initiative des Heimatvereins Oeynhausen in den Jahren 1983–1984 auf den alten Grundmauern rekonstruiert. Sie kann besichtigt werden und hat die Koordinaten: .
Köln-Flittard – Station 50 wurde bereits in den 1960er Jahren rekonstruiert. Sie besaß im Original einen vierstöckigen, in ein Wohnhaus integrierten Turm. Dieser wurde nach der Aufgabe der Telegrafenlinie um zwei Stockwerke abgetragen. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg verfiel das Gebäude stark. Zwischen 1964 und 1971 wurde es mit Unterstützung der Industrie- und Handelskammer von der Stadt Köln wieder hergerichtet und mit einem rekonstruierten, von der Lehrwerkstatt eines Kölner Bundesbahnausbesserungswerkes gefertigten Signalmast ausgestattet. Das Observationszimmer wurde zeitgenössisch ausgestattet, wobei aus Kostengründen an Stelle der Fernrohre Attrappen eingesetzt wurden, und der für den Betrieb im Winter unerlässliche Ofen entfiel. Auch wurde bei der Rekonstruktion nur eines der abgetragenen Stockwerke wieder aufgebaut, so dass die Anlage nicht die ursprüngliche Höhe erreicht. Die Signalanlage kommt dem Original in der Konstruktion nahe, wobei die Nullstellung der Indikatoren fälschlicherweise stehend statt am Mast hängend ausgelegt ist. Die Station wurde unter Obhut des Kölnischen Stadtmuseums als Außenstelle und „kleinstes Museum Kölns“ betrieben. Die Familie, die das Wohngebäude in Erbpacht bewohnte, übernahm dabei die Aufsicht vor Ort. Die Außenstelle wurde im Jahre 2005 aus Kostengründen geschlossen, und die Telegrafenstation ist der Öffentlichkeit nur noch unregelmäßig, etwa anlässlich des Tages des offenen Denkmals zugänglich. Nach der Schließung räumte das Stadtmuseum das museal ausgestattete Observationszimmer aus. Der ehemalige Pächter, inzwischen Besitzer des Gebäudes, hat Mast und Signalanlage im Jahr 2006 vollständig überholt und gangbar gemacht. Die Telegrafenstation mit den Koordinaten ist heute Teil des Kulturpfades Stammheim – Flittard – Kunstfeld und trägt eine entsprechende Tafel.
Museen und Literatur
Zeitgenössische Darstellungen in der Kunst, Schautafeln, Funktionsmodelle, multimediale Darstellungen und Originalbestandteile des Telegrafen werden heute in mehreren Museen ausgestellt: Im Börde-Museum Burg Ummendorf befindet sich der originale Indikator der Station 16 (Schloss Ampfurth) und die dortige Sonderausstellung „Geflügelte Worte quer durch den Bördekreis“ vom 1. Februar bis 11. März 2007 war dem Telegrafen gewidmet. Außerdem behandeln das Deutsche Technikmuseum Berlin sowie das Museum für Kommunikation Frankfurt und Museum für Kommunikation Berlin den Preußischen optischen Telegrafen. Das Berliner Kommunikationsmuseum stellt einen originalen Indikator aus, dessen Ursprung allerdings nicht bekannt ist. In Frankfurt ist das Pistor’sche Fernrohr der Station 45 bei Breckerfeld zu besichtigen, das einzige noch erhaltene Exemplar seiner Art.
Im Herbst 2012 erschien das Buch Preussens Telegraphenlinie Berlin–Koblenz, Telegraphenbuch III, herausgegeben von Manfred Menning und Andreas Hendrich, mit einer erstmals exakt recherchierten und lokalisierten Liste aller 62 Stationen. Menning bezeichnete im Vorwort die grundlegenden Werke von Herbarth (1978) und Beyer & Matthis (1995) als „Telegraphenbücher“ I und II.
Das „Wörterbuch für die Telegraphisten-Correspondenz“ sowie die Instruktionsbücher für die Bedienung der Anlage wurden von Wilfried Hahn in Fraktur- und Arialschrift vollständig neu gesetzt.
Im Rahmen des Projekts Scheinwerferlicht des Netzwerks „Preußen in Westfalen“ entstand 2020 der Comic Carla & Drees und die optische Telegrafie des Heimatvereins Oeynhausen, der an der dortigen Station 32 spielt.
Telegraphenradweg
Im Jahr 2016 wurde ein bundesweit aktiver Verein Optische Telegraphie in Preußen e. V. gegründet, der sich bemüht, die einstigen Stationen des optischen Telegraphen wieder bekannt zu machen. Hierzu soll auch ein „Telegraphenradweg“ entlang der ehemaligen Telegraphenlinie durch die Bundesländer eingerichtet werden. Eine beschilderte Wegführung mit einheitlicher Symbolik wird hierzu entwickelt. Der Radweg soll unter Einbeziehung von Sehenswürdigkeiten entlang der Route ein „kulturelles Band quer durch Deutschland“ schaffen. Das Projekt wird durch das Entwicklungsprogramm für den ländlichen Raum des Landes Sachsen-Anhalt 2014–2020 (EPLR) gemäß der Maßnahme „Unterstützung für die lokale Entwicklung LEADER (CLLD)“ aus Mitteln des Europäischen Landwirtschaftsfonds zur Entwicklung des ländlichen Raumes (ELER) und des Landes Sachsen-Anhalt unterstützt. Mit der Beschilderung in Sachsen-Anhalt wurde bereits begonnen.
Siehe auch
Optische Telegrafenlinie Metz–Mainz
Liste der Stationen des preußischen optischen Telegrafen
Hamburger optischer Telegraph
Literatur
Dieter Herbarth: Die Entwicklung der optischen Telegrafie in Preußen. Köln 1978, ISBN 3-7927-0247-9.
Hermann Kellenbenz: Die historische Bedeutung der Telegraphenstation in Köln-Flittard. In: Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln: Die Telegraphenstation Köln-Flittard. Eine kleine Geschichte der Nachrichtentechnik. Köln 1973, S. 9–20, ISBN 3-933025-19-2.
Klaus Beyrer und Birgit-Susann Mathis (Hrsg.): So weit das Auge reicht: Die Geschichte der optischen Telegrafie. (Publikation des Museums für Post und Kommunikation, Frankfurt am Main, anlässlich der gleichnamigen Ausstellung vom 27. April bis 30. Juli 1995), ISBN 3-7650-8150-7.
Manfred Menning, Andreas Hendrich (Hrsg.): Preußens Telegraphenlinie Berlin–Koblenz und Beiträge zur Geschichte und Geologie des Potsdamer Telegraphenbergs und seiner Umgebung/Telegraphenbuch III. Potsdam 2012, ISBN 978-3-00-039730-1
Hans Pieper: Aus der Geschichte der Nachrichtentechnik von der Antike bis zur Gegenwart – unter besonderer Berücksichtigung der optischen Telegraphie in Frankreich und Preußen. In: Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln: Die Telegraphenstation Köln-Flittard. Eine kleine Geschichte der Nachrichtentechnik. Köln 1973, S. 21–58, ISBN 3-933025-19-2.
Karl-Heinz Göttert: Anschlag auf den Telegraphen. Historischer Kriminalroman. Köln 2004, ISBN 3-89705-336-5.
Jürgen Bräunlein: Die optische Telegrafenlinie Berlin – Koblenz. Von der Pioniertat zum Kulturdenkmal. Das Archiv, Heft 1, 2012, S. 6–11, .
Weblinks
Optischer Telegraph in Preußen – Station 4 (Telegrafenberg Potsdam) mit Informationen über die optische Telegrafie, den Telegrafenberg in Potsdam und seine Umgebung sowie viele der 62 Stationen
Optischertelegraph23.de – Informationen zur Linie
OpenStreetMap-Themenkarte mit Layer der Telegraphen
Einzelnachweise und Anmerkungen
Optischer Telegraf
Optisches Signalgerät
Telegraf
Rheinprovinz
Provinz Westfalen
Berliner Geschichte (19. Jahrhundert)
Köln im 19. Jahrhundert
Geschichte (Koblenz)
Telekommunikationsgeschichte (Deutschland)
Militärische Informations- und Kommunikationstechnologie |
2580284 | https://de.wikipedia.org/wiki/Useless | Useless | Useless ist ein Album des englischen Musikers T. V. Smith aus dem Jahr 2001, das einen Querschnitt seines musikalischen Werkes seit 1977 bietet. Fast alle Titel wurden ursprünglich von Smiths ehemaligen Gruppen The Adverts und Cheap oder von ihm als Solist veröffentlicht, jedoch gemeinsam mit der Düsseldorfer Band Die Toten Hosen für diese Produktion neu eingespielt.
Entstehungsgeschichte
T. V. Smith gehört zu den Musikvorbildern aus der englischen Punkszene, zu denen Die Toten Hosen 1991 für ihr Album Learning English Lesson One den Kontakt suchten. Nachdem Smiths Bands sich aufgelöst hatten, seine Plattenfirma in Konkurs gegangen war und sich kein Produzent mehr für seine Musik fand, sank sein Bekanntheitsgrad. Seine frühen Platten mit den Adverts und sein Soloalbum March of the Giants waren auf dem Markt nicht mehr erhältlich, und die Songs schienen vollkommen in Vergessenheit zu geraten. Dieser Entwicklung wollten Die Toten Hosen entgegenwirken, und so kam es wiederholt zur Zusammenarbeit mit Smith für dieses Album, welches als sogenanntes Best-of-Album des Künstlers herausgebracht wurde, jedoch eine eigene, arbeitsintensive und neue Produktion darstellt.
Als die Band im Oktober 2000 wegen einer Verletzung ihres Sängers Campino ihre damalige Tour abbrechen musste, nutzte man die Lücke, um dieses bereits länger geplante Projekt zu verwirklichen. Die übrigen Bandmitglieder Andreas von Holst und Michael Breitkopf spielten an den E-Gitarren, Andreas Meurer am E-Bass, Vom Ritchie am Schlagzeug, und Campino wirkte beim Hintergrundgesang mit. An den Aufnahmen zum Album war zusätzlich der ehemalige Keyboarder der Adverts, Tim Cross, beteiligt. Melodien und Texte der Originalversionen wurden prinzipiell nicht verändert. Im Gegensatz zur minimalen Begleitung bei der Erstveröffentlichung steuert hier die sechsköpfige Begleitband einen kräftigeren „Rocksound“ bei. Die älteren Stücke profitieren darüber hinaus von den in der Zwischenzeit verbesserten Möglichkeiten der Aufnahmetechnik.
Das Coverfoto von Slavica Ziener zeigt einen, trotz des trüben Himmels, gut besuchten Badestrand am Meer, und das Begleitheft enthält neben sämtlichen Liedtexten, Schwarzweißportraits der Bandmitglieder während der Studioarbeit, aufgenommen von Donata Wenders.
Themen und Titelliste
T. V. Smith beschäftigt sich in seinen Liedern mit den sozialen Umständen und den politischen Gedanken des „kleinen Mannes“, benennt was ihn stört deutlich beim Namen, verwendet jedoch Metaphern und Wortspiele, die nicht selten eine Portion Galgenhumor enthalten.
Musikalisch benutzt er unterschiedliche Stilmittel aus Punk, Rock und Blues. Die Musikstücke des Albums sind weder chronologisch nach Datum der Erstveröffentlichung, noch thematisch geordnet. Schnellere Stücke wechseln sich mit ruhigeren Titeln ab. Die Lieder setzen sich jedoch alle mit menschlichen Wertvorstellungen in verschiedenen Bereichen auseinander.
Ästhetische Maßstäbe
One Chord Wonders stammt noch aus der Zeit, als Smith Mitglied der Adverts war und bedient sich musikalisch sämtlicher Punkrock-Klischees. Das Lied beginnt mit einem einzigen übersteuerten E-Gitarrenton. Es folgt die klassische Taktvorgabe, „Eins, zwei, drei, vier“, ersetzt durch die Worte: “One, chord, won, – ders”. Danach setzen Schlagzeug und Gitarre ein und schlagen einen energischen Rhythmus, zu dem Smith den Text brüllt. Anstelle eines Refrains wird das letzte Wort des jeweiligen Absatzes lang über mehrere Höhen und Tiefen gedehnt. Der Text treibt ein Spiel mit dem englischen Wort “wonder”, welches man als Substantiv mit „Wunder“ übersetzt. Hier wird es zusätzlich als Verb gebraucht um etwas in Frage zu stellen. Die Gruppe, die sich mit diesem Lied vorstellt, fragt sich, ob sie nicht doch noch etwas üben sollte und im nächsten Jahr mit New Wave wiederkommen sollte, um dann den Geschmack des Publikums sicher zu treffen. Die Musiker kommen jedoch zu dem Schluss, dass es ihnen egal wäre, ob man Gefallen an ihnen finden würde oder nicht. Diese Meinung bringen sie im letzten Satz, der am Ende des Liedes zwölfmal wiederholt wird, deutlich zum Ausdruck:
Als zweiter Song im Album wird die 24 Jahre jüngere, hier erstmals veröffentlichte Komposition Only One Flavour gegenübergestellt. Der melodische Rocksound und ein eingängiger Refrain lassen das Lied ausgereifter wirken, während sich der Text mit nahezu demselben Thema befasst. Es geht dabei um den Albtraum einer überkonformen Gesellschaft, in der jeder die gleiche Musik hört, dieselbe Kleidung trägt und nur eine Richtung vorgegeben ist, die jeder einzuschlagen hat.
Jugend
Bored Teenagers hat Smith im Alter von achtzehn Jahren geschrieben, als er selbst noch auf dem Land lebte und dort keine Möglichkeit sah, seine Fähigkeiten frei zu entfalten. Seinen Unmut darüber wird er in diesem knapp zweiminütigen Punksong los. Wolfgang Büld wählte das Stück als Titelmelodie für seinen deutschen Fernsehfilm Brennende Langeweile aus dem Jahr 1979, in dem Smith als Sänger der Adverts eine Rolle übernahm.
Gather Your Things and Go hat mit seinem ruhigen, gleichmäßigen Sound, den Charakter eines Roadsongs und auch die Textzeile: lässt zunächst an Bikerfreiheit denken. Die Handlung liegt jedoch fernab von dieser Romantik, denn es geht um arbeitslose Sechzehnjährige, die von den Behörden mit den Worten: „Haut ab! (On yer bike!)“ vor die Tür gesetzt werden. Hintergrund des Liedes ist Teil einer Rede des konservativen Politikers Norman Tebbit aus den achtziger Jahren. Tebbit äußerte, dass er in den dreißiger Jahren mit einem arbeitslosen Vater aufgewachsen sei, der schließlich auch nicht rebelliert, oder die Hände in den Schoß gelegt hätte, sondern sich auf sein Fahrrad setzte und so lange nach Arbeit gesucht hätte, bis er welche gefunden hatte. So entstand der Slogan ”On yer bike!“, mit dem arbeitslosen Jugendlichen jegliche Unterstützung verweigert wurde.
In Generation Y, in der ursprünglichen Aufnahme 1998, eine rein mit akustischen Instrumenten gespielten Ballade, bringt Smith seine Enttäuschung über die Ende der siebziger Jahre Geborenen zum Ausdruck, die kein Ziel für irgendeinen politischen Einsatz vor Augen haben. Smith äußert sich wie folgt zu diesem Thema:
Macht und Geld
Das schwungvolle Lied My String Will Snap spielt Smith jedes Mal, nachdem er während eines Konzerts eine neue Gitarrensaite aufziehen muss. Im Booklet witzelt er darüber, dass er es eigens zu diesem Zweck geschrieben hat. Tatsächlich geht es jedoch um den Geduldsfaden, der ihm reißen würde, wenn die Regierenden weiterhin so an ihm zerrten. Er warnt vor der Energie, die dann frei werden würde. Ein treibender schneller Rhythmus und der Einsatz aller Instrumente unterstreichen den rebellischen Text.
Ready for the Axe to Drop begleitet ein aggressiver Rocksound und warnt alle Staatsoberhäupter, die aus lauter Ehrgeiz und Machthunger Krieg anzetteln. Sie sollen schon mal ihren Hals für das Fallbeil frei machen, das sie treffen wird, wenn sie danach in den Minenfeldern stehen und zurückgeschossen wird.
In Immortal Rich kritisiert Smith, mit welcher Dekadenz wir in den wohlhabenden westlichen Industrieländern unseren Reichtum „genießen“ und in unserer Überflussgesellschaft den wahren Wert der Dinge vergessen haben. Wir denken, alles sei mit Geld zu bezahlen. Die Musik ist sehr rockig, mit einer eingängigen Melodie, die im Refrain vom „Hosenchor“ unterstützt wird.
Naturwissenschaft und Technik
Der Erzähler in Gary Gilmore’s Eyes wacht nach einer Hornhautverpflanzung im Krankenhaus auf und nimmt wahr, dass ihm ein Organ des hingerichteten Gary Gilmore verpflanzt wurde. Er kann es nicht verkraften, dass er fortan durch die Augen eines Mörders blickt und befürchtet, dass diese von ihm Besitz ergreifen würden. Er beschließt die Lider für immer geschlossen zu halten. Das Lied beginnt zur Tempovorgabe des Schlagzeugs mit einem geheimnisvoll geflüsterten: “Gary Gilmore’s eyes”. Nach ein paar Gitarrenklängen und einer deutlichen Betonung auf dem ersten Wort des Satzes “I ’m lying in a hospital”, setzt die Musik ein, die den energisch gesungenen Text lediglich rhythmisch unterstützt. Der Titel war einer der ersten Erfolge der Adverts und wurde bereits 1991 von den Toten Hosen für ihr Album Learning English Lesson One unter Teilnahme Smiths gecovert.
The Day We Caught the Big Fish hat den Charakter eines Shantys, wobei das Keyboard ein Schifferklavier ersetzt. Es wird die groteske Geschichte von ein paar Fischern erzählt, die kräftig zupacken müssen, als ihnen eines Tages ein kleines Atom-U-Boot ins Netz geht. Nach diesem Tag wurden sie nie wieder gesehen. Im amerikanischen Musikmagazin Goldmine stand am 12. Juni 1996 folgendes über den Song:
Runaway Train Driver ist die fiktive Geschichte eines Lokführers, der sich im Leben einflusslos und unbedeutend fühlt. Bei einem Castortransport, im Text mit den Worten: “It’s a loaded son of a gun with the hammer cocked” beschrieben, sieht er die Möglichkeit, sich einen „Namen“ in der Öffentlichkeit zu machen und entscheidet sich, die Geschwindigkeit der Lok zu steigern und den Zug einem fatalen Ende entgegenzusteuern. Die Musik gibt den Rhythmus eines Zuges wieder, der über die Gleise donnert. Es gibt zweierlei Refrains: und . Die deutsche Übersetzung für „Runaway Train“ ist „Zug außer Kontrolle“. Der Zug hat kein grünes Licht und darf nicht mit Höchstgeschwindigkeit fahren. 2002 erschien ein Cover des Stückes auf der B-Seite der Single Nur zu Besuch von den Toten Hosen und 2007 in der Neuauflage von Crash-Landing.
Verlierer der Gesellschaft
Der Mann, der in Expensive Being Poor von sich selbst erzählt, hat auch in schlechten Lebensverhältnissen seinen Humor nicht verloren und betont im Refrain, dass er gut aussieht, wenn er verzweifelt ist. Weil der preisgünstige Supermarkt zu weit entfernt ist, bezahlt er für seine Lebensmittel mehr. Das Auto wäre sicher längst aus dem Verkehr gezogen worden, wenn er denn je eines besessen hätte. Sein Fernseher ist kaputt und den Eintritt für das Kino kann er sich nicht leisten. Trotzdem macht er „gute Miene zum bösen Spiel“ und schlägt sich „gerade mal so“ durchs Leben. Begleitet wird die Aufzählung seiner faden Alltagsprobleme von monotonen Gitarren- und Schlagzeugklängen, einem wie Weihnachtsglöckchen klingenden Keyboard und dezentem Chorgesang. Lediglich während des Refrains gewinnt der Sound etwas an Höhen und Tiefen. Dennoch klingt die Musik hier etwas kräftiger als in der ursprünglich 1998 erschienenen, rein akustischen Version des Songs. Wim Wenders nahm den Titel in den Soundtrack des Films Land of Plenty auf.
Auch die märchenhafte Lyrik in Lion and the Lamb, einer poetischen Ballade, hat Bezug zur Überschrift des Albums. Selbst wenn dein Leben bisher von wenig Erfolg gekrönt ist, bist du trotzdem wertvoll: Weiter heißt es im Text, dass man nicht aus jedem Kampf als Sieger hervorgehen könne, manchmal wäre man eben das Opferlamm. Dies sei Plan der Natur und nicht zu ändern. Jedoch dürfe man sich nicht mit allem abfinden und müsse sich um seine Belange selbst kümmern, denn es würde kein Erlöser kommen, der das Leben für einen in die Hand nimmt. Das predigt Smith im nächsten Titel Lord’s Prayer, der englischen Bezeichnung für das Vaterunser, das hier allerdings die gegenteilige Aussage hat. Im Begleitheft schreibt Smith über den Titel: Smith hatte die Komposition an The Lords of the New Church verkauft, die den Titel 1985 auf ihrem Album Killer Lords veröffentlichten.
Im abschließenden Titelsong Useless, der einen Bluescharakter hat, begleitet sich Smith einzig mit der akustischen Gitarre und singt mit heiserer Stimme, wie wertlos man sich vorkommt, wenn man sich jahrelang im Geschäftsleben redlich bemüht hat, dann wegen der schlechten Wirtschaftslage seinen Arbeitsplatz verliert und durch das soziale Netz fällt. Als Überschrift hierfür schreibt Smith im Booklet:
Video und Vinyl
Im Musikvideo Only One Flavour des Regisseurs Sven Offen aus dem Jahr 2001 spielen die Toten Hosen an einem verregneten Tag auf dem Dach der ehemaligen Diamantmehl-Fabrik im Hafen von Düsseldorf. T. V. Smith singt im Vordergrund und bewegt sich lebhaft zur Musik, während sich Campino, der sonst dominante Frontmann der Toten Hosen, weitgehend im Hintergrund hält und optisch durch eine getönte Brille und das schwarze längere Haar kaum wiederzuerkennen ist.
2004 veröffentlichte das Bochumer Label Dirty Faces Records das Album Useless als Schallplatte und zusätzlich auf farbig gesprenkeltem Vinyl in limitierter Auflage von 525 Stück. Eine weitere Ausgabe des Albums in pinkfarbenem Vinyl erschien im Jahr 2017 bei Drumming Monkey Records.
Wirkung
Die „Useless-Tour“, durch Deutschland, Österreich und die Schweiz, auf der die Toten Hosen in Düsseldorf und Zürich ein Gastspiel gaben, war gut besucht. Bei den großen Radiostationen fand das Album kaum Beachtung, und in den Chartlisten sucht man vergeblich danach. Dennoch fand die deutsche Clubszene Interesse an T. V. Smith und es gelang ihm, dort Fuß zu fassen. Auch bei kleineren Radiostationen und Fanzines ist Smith bis heute ein gern gesehener Gast. Er verkauft im deutschsprachigen Raum inzwischen mehr Platten als in Großbritannien.
Stephan Hageböck schreibt auf laut.de über Useless von einem Album, das den Bogen von 1977 über die 1980er Jahre hin zu dem spannt, was man in Deutschland im Jahre 2001 für Punk hält, und er meint weiterhin Punk sei 1979 nicht wirklich gestorben und es hätte ihn schon vor den Sex Pistols gegeben. Punk sei in all denen, die ihn leben wollen, vielleicht sogar in manchem Highschool-Pickel-Kid. In diesem Sinne sei Useless sicherlich kein großes, aber dennoch ein gutes, wichtiges Album.
Der Rezensent im Artikel Immer Punk geblieben im Musikmagazin Access! meinte, es sei „erstaunlich wie frisch sich dieser Haufen altgedienter Punkrocker auf Useless präsentiere“. Useless sei „eine durchweg gelungene Werkschau mit vielen Highlights aus dem über 20-jährigen Songwriterschaffen, die der querköpfige Brite mit den Toten Hosen als Backing Band einspielte – als gäbe es in England nicht genug Punkrock-Youngster, die etliche Gliedmaßen dafür gäben, einmal mit einem T. V. Smith auf der Bühne stehen zu dürfen.“
Henning Richter bezeichnete das Album in der Zeitschrift Metal Hammer als „eine saftige Punkproduktion voll melodiöser Hämmer.“ Smiths Songs kämen „ohne Schnörkel daher, aber immer auf den Punkt“. Zudem würde „es Spaß machen, sich mit den kritischen Texten des ungezähmten Überlebenden der alten Garde auseinander zu setzen.“
Weblinks
Songtexte auf der offiziellen Website von T. V. Smith
Musikvideo zu Only one Flavour auf der Webpräsenz des New Musical Express.
Einzelnachweise
Album (Rock)
Album (Punk)
Album 2001
T. V. Smith
Die Toten Hosen |
2655245 | https://de.wikipedia.org/wiki/Potsdam | Potsdam | Potsdam [] ist die Hauptstadt des Landes Brandenburg mit Einwohnern (). Sie ist eine kreisfreie Stadt und die bevölkerungsreichste Stadt des Landes. Das an der Havel gelegene Potsdam grenzt südwestlich an Berlin und zählt zu den prosperierenden Orten in dessen Ballungsraum, der rund 4,7 Millionen Einwohner umfasst.
Die Stadt ist bekannt für ihr Vermächtnis als ehemalige Residenzstadt der Könige von Preußen mit zahlreichen Schloss- und Parkanlagen und der bedeutenden bürgerlichen Kernstadt. Die Kulturlandschaften wurden 1990 von der UNESCO als größtes Ensemble der deutschen Welterbestätten in die Liste des Weltkultur- und Naturerbes der Menschheit aufgenommen. Seit 2019 ist Potsdam UNESCO-Filmstadt im Netzwerk der kreativen Städte.
Das in Potsdam 1912 als erstes großes Filmatelier der Welt gegründete Studio Babelsberg zählt zu den modernsten Zentren der Film- und Fernsehproduktion in Deutschland und Europa.
Potsdam entwickelte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem europäischen Wissenschaftszentrum. Drei öffentliche Hochschulen und mehr als 30 Forschungsinstitute sind in der Stadt ansässig.
Geographie
Lage
Potsdam befindet sich südwestlich von Berlin, an das es direkt angrenzt, am Mittellauf der Havel in einer Wald- und Seenlandschaft. Sie ist geprägt durch den Wechsel von breiten Talniederungen und Moränenhügeln, wie dem südlich gelegenen Saarmunder Endmoränenbogen. Die höchste Erhebung im Stadtgebiet ist der Kleine Ravensberg mit 114,2 Metern. Die tiefste Stelle ist der mittlere Wasserspiegel der Havelgewässer mit . Das Stadtgebiet besteht zu rund 75 Prozent aus Grün-, Wasser- und Landwirtschaftsfläche, 25 Prozent sind bebaut.
Insgesamt befinden sich über 20 Gewässer in Potsdam. Im urbanen Zentrum sind dies unter anderem der Heilige See, der Aradosee, der Templiner See, der Tiefe See und der Griebnitzsee. In den ländlich geprägten Außenbereichen befinden sich unter anderem der Sacrower See, der Lehnitzsee, der Groß Glienicker See, der Fahrlander See und der Weiße See.
Zu den Gewässern gehören neben der Potsdamer Havel, die viele der Seen verbindet, der Sacrow-Paretzer Kanal, der Teltowkanal, die Nuthe und die Wublitz. Die Potsdamer Havel fließt am Strandbad Babelsberg bei . Ablagerungen der Nuthe bildeten früher Teile der Freundschaftsinsel.
Potsdam und Berlin sind neben Wiesbaden und Mainz die einzigen beiden Landeshauptstädte deutscher Bundesländer mit einer gemeinsamen Stadtgrenze.
Im Stadtgebiet befinden sich fünf ausgewiesene Naturschutzgebiete (Stand: 2018) und mehr als 50 Naturdenkmale.
Region
Potsdam liegt innerhalb der Agglomeration Berlin, einem Einzugsgebiet von rund 4,7 Millionen Einwohnern (Stand: 2020). Es gehört damit auch der europäischen Metropolregion Berlin-Brandenburg an, deren Außengrenze mit der des Landes Brandenburg identisch ist.
Folgende Städte und Gemeinden grenzen an Potsdam, Auflistung im Uhrzeigersinn, beginnend im Nordosten:
Berlin sowie Stahnsdorf, Nuthetal, Michendorf, Schwielowsee (Geltow, Caputh, Ferch) und Werder (Havel) im Landkreis Potsdam-Mittelmark sowie Ketzin/Havel, Wustermark und Dallgow-Döberitz im Landkreis Havelland.
Stadtgliederung
Die Stadt Potsdam ist in 32 Stadtteile gegliedert, die sich in 86 statistische Bezirke unterteilen.
Es wird unterschieden zwischen den älteren Stadtteilen, die aus Arealen der historischen Stadt und spätestens 1939 eingemeindeten Orten gebildet wurden – das sind die Innenstadt, die westlichen und nördliche Vorstädte, Bornim, Bornstedt, Nedlitz, Potsdam-Süd, Babelsberg sowie Drewitz, Stern und Kirchsteigfeld –, und den nach 1990 eingegliederten Gemeinden, die seit 2003 als Ortsteile gemäß Potsdamer Hauptsatzung eigene, von der Bevölkerung gewählte Ortsbeiräte und einen Ortsvorsteher besitzen – das sind Eiche, Fahrland, Golm, Groß Glienicke, Grube, Marquardt, Neu Fahrland, Satzkorn und Uetz-Paaren. Die neuen Ortsteile liegen im Wesentlichen im Norden der Stadt. Zum geschichtlichen Verlauf aller Eingemeindungen siehe den entsprechenden Abschnitt zu Ein- und Ausgliederungen.
Gliederung mit statistischer Nummerierung:
Zu Potsdam gehören 56 Ortsteile, Gemeindeteile und sonstige Siedlungsplätze.
Zum Ende des Jahres 2019 erfolgte eine Änderung der Gebietsstruktur:
Der Stadtteil 41 wurde umbenannt: bisher Nördliche Innenstadt, nun Historische Innenstadt.
Der Stadtteil 42 (Südliche Innenstadt) wurde in die zwei Stadtteile 43 (Zentrum Ost und Nuthepark) und 44 (Hauptbahnhof und Brauhausberg Nord) geteilt. Die Nummer 42 entfiel damit.
Einige sehr dünn besiedelte Stadtteile wurden aufgelöst:
Der Stadtteil 33 (Wildpark) wurde dem Stadtteil 32 (Potsdam-West) angegliedert.
Der Stadtteil 66 (Industriegelände) wurde dem Stadtteil 64 (ehemals: Waldstadt I ) angegliedert. Der Stadtteil wurde daraufhin in Waldstadt I und Industriegelände umbenannt.
Der Stadtteil 67 (Forst Potsdam Süd) wurde dem Stadtteil 61 (Templiner Vorstadt) angegliedert.
Ein- und Ausgliederungen
Das Stadtgebiet Potsdams war bis Ende des 19. Jahrhunderts noch relativ klein. Zur Stadt Potsdam zählten außer der Innenstadt nur die Teltower, Brandenburger, Berliner, Jäger- und Nauener Vorstadt. Durch das Anwachsen der Bevölkerung und Bebauung musste das Stadtgebiet mehrmals erweitert werden. Dies geschah in mehreren Abschnitten mit der Eingliederung von benachbarten Rittergütern beziehungsweise Teilen davon. Damit wuchs das Stadtgebiet von 893 Hektar im Jahr 1836 auf 1350 Hektar im Jahr 1905. 1928 wurde der Park von Sanssouci mit den Schlössern sowie ein großer Teil der Insel Tornow (später: Hermannswerder) sowie sechs Gutsbezirke mit Brauhaus- und Telegrafenberg in das Stadtgebiet eingegliedert. Danach betrug die Stadtfläche 3206 Hektar. 1935 wurden Bornim, Bornstedt, Eiche und Nedlitz eingemeindet, 1939 folgten die Industriestadt Babelsberg und weitere Dörfer. 1952 wurden die meisten dieser Gemeinden im Rahmen der Gebietsreform der DDR wieder selbstständig. Im Oktober 2003 erreichte das Stadtgebiet nach zwei neuen Eingemeindungsprozessen im Rahmen der landesweiten Kreisgebietsreform seine heutige Ausdehnung. Dabei kam unter anderem Groß Glienicke hinzu; die Fläche Potsdams wurde allein durch Eingemeindungen von 2003 um 60 % vergrößert, die Einwohnerzahl stieg jedoch nur um 12 %.
Übersicht
Hinweis: Die nicht mehr zu Potsdam gehörenden Orte werden kursiv dargestellt.
Klima
In Potsdam herrscht ein gemäßigtes Klima, das sowohl von Norden und Westen her vom atlantischen Klima als auch vom kontinentalen Klima aus Osten beeinflusst wird. Wetterextreme wie Stürme, starker Hagel oder starke Schneefälle sind selten. Die Stadt liegt in der jahresdurchschnittlich wärmsten und niederschlagärmsten Region Deutschlands.
Der Temperaturverlauf entspricht ungefähr dem bundesdeutschen Durchschnitt. Die jahreszeitlichen Temperaturschwankungen sind geringer als im üblichen kontinentalen Klima, aber höher als im ausgeglicheneren Meeresklima der Küstenregionen. Die Niederschlagsmenge ist mit einer Jahressumme von 590 mm relativ gering. So liegt diese zum Beispiel in Barcelona ebenfalls bei 590 mm, in München hingegen bei etwa 1000 mm. Seit Beginn der Aufzeichnungen erlebte Potsdam ungefähr jedes vierte Jahr weiße Weihnachten. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts schwanken die Jahresmitteltemperaturen zwischen 6,5 °C und 11 °C.
Die Klimaforschung ist seit etwa 1874 auf dem Telegrafenberg in Potsdam ansässig. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung prognostiziert im Rahmen der globalen Erwärmung eine Zunahme der durchschnittlichen Temperaturen und eine weitere Abnahme des Niederschlages für die nächsten Jahrzehnte in der Region Brandenburg.
Geschichte
Die ältesten urkundlichen Belege des Namens der Stadt sind aus den Jahren 993 Poztupimi, 1317 postamp sowie um 1500 Potstamp. Sie gehen auf Slawisch zurück und beschreiben die „Siedlung eines Mannes namens Potstampin“. Die verbreitete Namendeutung „unter den Eichen“ (aus slawisch pod „unter“ und dubimi „Eiche“) ist wissenschaftlich nicht haltbar. Andere Erklärungen (z. B. der Vergleich mit Sorbisch „Vorstufe“ oder „Vorposten“) gelten als fragwürdig.
Entstehung und Entwicklung im Mittelalter
Das heutige Stadtgebiet Potsdams war wahrscheinlich seit der frühen Bronzezeit besiedelt. Nach den Völkerwanderungen errichtete im 7. Jahrhundert der slawische Stamm der Heveller gegenüber der Einmündung der Nuthe eine Burganlage an der Havel.
Die erste urkundliche Erwähnung des Ortes als „Poztupimi“ erfolgte in einer Schenkungsurkunde König Ottos III. an das Stift Quedlinburg am 3. Juli 993. Die Bedeutung des Ortes beruhte auf der Beherrschung des Havelübergangs.
Im Jahr 1157 eroberte Albrecht der Bär die Stadt und gründete die Mark Brandenburg. Durch Albrecht kamen Teile der ehemaligen Nordmark als Mark Brandenburg auch faktisch zum Heiligen Römischen Reich. Potsdam war der südöstliche Eckpfeiler der Mark bis zum Ende des 12. Jahrhunderts. Am Havelübergang wurde eine deutsche steinerne Turmburg erbaut. Im Jahr 1317 wurde die Stadt erstmals als Burg und vor allem Stadt urkundlich unter dem Namen Postamp erwähnt. 1345 erhielt Potsdam das Stadtrecht und blieb die nächsten Jahrhunderte eine kleine Marktstadt. Von 1416 an bis zum Ende des Ersten Weltkrieges im Jahr 1918 und dem damit verbundenen Untergang der Monarchie in Deutschland verblieb Potsdam im Besitz der Hohenzollern. Der verheerende Dreißigjährige Krieg und zwei Großbrände verwüsteten die Stadt.
Preußische Residenzstadt und Aufschwung
Mit dem kurmärkischen Landtag 1653, auf dem der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm die Macht des Landadels einschränkte, begann die absolutistische Zeit in Brandenburg. Seine Regierungszeit war eine der einflussreichsten in der Geschichte Potsdams. Er kaufte die einzelnen verpfändeten Stadtgebiete zusammen und entschloss sich, die Stadt zu seiner zweiten Residenz neben Berlin auszubauen. Mit dem Ausbau des Stadtschlosses und der Verschönerung der Umgebung entstand ab 1660 ein Entwicklungsschub.
Erst mit Hilfe des Toleranzediktes von Potsdam im Jahr 1685 konnten aufgrund steigender Immigration die Landstriche neu bevölkert werden. Vor allem die verfolgten, protestantischen Hugenotten aus Frankreich flohen in den Schutz der brandenburgischen Gebiete. Etwa 20.000 Menschen folgten dem Angebot und verhalfen der Wirtschaft mit ihrem Fachwissen zum Aufschwung.
Unter dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. wurde die Stadt ein wichtiger Garnisonsstandort. Dies führte zu einem starken Anwachsen der Bevölkerung und dem Bau neuer Wohnquartiere in der ersten und zweiten Barocken Stadterweiterung. Weiter ordnete er den Bau der Garnisonkirche, der Kirche St. Nikolai und der Heilig-Geist-Kirche an, die fortan das Stadtbild prägten. Im neugeschaffenen Militärwaisenhaus in der Breiten Str. wurden Kinder Militärangehöriger verpflegt, unterrichtet und später ausgebildet.
Sein Sohn Friedrich II. („der Große“) schätzte die Gedanken der Aufklärung und reformierte den preußischen Staat. Er entschied sich endgültig, Potsdam auch vom Stadtbild her zur Residenzstadt zu machen und veranlasste daraufhin massive Umbauten am Aussehen von Straßen und Plätzen. So wurden unter anderem der Alte Markt komplett neu gestaltet und die Bürgerhäuser erhielten neue Barockfassaden. Friedrich II. ließ auch den späteren Park Sanssouci umgestalten. Ab 1745 entstand hier sein Sommersitz, das Schloss Sanssouci. Später folgte dann noch das Neue Palais. Das Stadtschloss und der Lustgarten in der Stadtmitte wurden zu seinem Wintersitz gestaltet, besonders hervorzuheben war hier die Leistung des Architekten Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff. Ab 1793 entstand das Königliche Schauspielhaus.
1806 erreichte Napoleon mit seinen Truppen die Stadt Potsdam. Die nachhaltige Wirkung der Besatzungszeit führte zu Reformen im Staatswesen. Nach dem Ende der napoleonischen Besatzung entwickelte Friedrich Wilhelm III. die Stadt ab 1815 zu einem Verwaltungszentrum. Es siedelten sich zahlreiche Regierungsbeamte in Potsdam an. 1838 ging mit der Strecke Potsdam-Berlin die erste Eisenbahnlinie Preußens in Betrieb.
Die zunehmenden Spannungen des Vormärzes entluden sich in der Märzrevolution von 1848. Das Volk kämpfte auf den Barrikaden in Berlin für eine liberale Verfassung. Im März siedelte der König Friedrich Wilhelm IV. in die vermeintlich ruhigere Nachbarstadt Potsdam um. Als sich meuternde Soldaten vor dem Neuen Palais versammelten und versuchten, gefangene Kameraden zu befreien, wurde der Aufstand schnell von preußischen Elitetruppen niedergeschlagen. Nach den Wirren der unvollendeten Revolution war die Restauration der alten Machtverhältnisse das vorherrschende Ziel. Es wurden zahlreiche ambitionierte Bauprojekte vorangetrieben, so auch die Nikolaikirche und die katholische Kirche St. Peter und Paul. Seit 1911 hatte Potsdam einen Luftschiffhafen an der Pirschheide.
Im Jahr 1914 unterzeichnete der letzte preußische König und deutsche Kaiser Wilhelm II. im Neuen Palais die Generalmobilmachung gegen die Entente-Mächte. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs endete auch die Ära der Monarchie mit der Novemberrevolution und Wilhelm II. floh 1918 in die Niederlande. Die Stadt Potsdam verlor damit ihren Status als Residenzstadt endgültig.
Weimarer Republik und Nationalsozialismus
Nach dem Ersten Weltkrieg 1918 ging das umfangreiche Eigentum der Hohenzollern in Potsdam zum größten Teil in Staatseigentum über. Die Zeit der Weimarer Republik war gekennzeichnet durch zahlreiche Auseinandersetzungen zwischen den politischen und paramilitärischen Kräften im Staat. Die Stadtgemeinde hingegen blieb weiterhin ein von wohlhabenden Bürgern getragener Ort.
Zu Beginn der Zeit des Nationalsozialismus fand am 21. März 1933 der Tag von Potsdam statt. Bei dem inszenierten Staatsakt reichte der Reichspräsident Paul von Hindenburg dem neuen Reichskanzler Adolf Hitler die Hand. Dies sollte als symbolische Geste für ein Bündnis der alten Ordnung mit dem Nationalsozialismus verstanden werden. Die konstituierende Sitzung des Reichstags fand ohne die Sozialdemokraten und Kommunisten in der Garnisonkirche statt. Das Ereignis wurde landesweit im Rundfunk übertragen.
Hans Friedrichs ließ in Potsdam zahlreiche Siedlungen und Kasernen errichten.
Das Stadtzentrum Potsdams wurde am 14. April 1945 in der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges durch einen alliierten Bombenangriff stark beschädigt. Besonders betroffen war das Gebiet zwischen der Havel, dem Alten Markt und dem Bassinplatz. Hauptbahnhof, Stadtschloss, Langer Stall und Garnisonkirche brannten vollkommen aus. Ähnlich beschädigt wurden auch weite Teile der nordöstlichen Vorstadt in der Nähe der Glienicker Brücke. Weitgehend erhalten blieben jedoch das Gebiet um den Neuen Markt, das Holländische Viertel und die nördlichen Teile der Altstadt. In den Kämpfen der letzten Kriegstage wurden weitere Gebäude beschädigt, so die Heilige-Geist-Kirche und das Alte Rathaus. Am 27. April 1945 wurde Potsdam durch die Rote Armee eingenommen.
Potsdam war Abwurfziel besonders vieler Bomben in Deutschland. Bis in die Gegenwart hinein werden neu entdeckte Blindgänger entschärft und die in der Gegend wohnende Bevölkerung zu solchen Anlässen evakuiert.
Besatzungszeit und deutsche Teilung
Im Schloss Cecilienhof, dem Wohnsitz des letzten deutschen Kronprinzen Wilhelm von Preußen, fand vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 die Potsdamer Konferenz der Siegermächte Vereinigte Staaten, Vereinigtes Königreich und Sowjetunion statt. Die Konferenz endete mit dem Potsdamer Abkommen, das die deutsche Teilung und Besetzung in vier Zonen besiegelte.
In der DDR war Potsdam von 1952 bis 1990 Verwaltungssitz des neugegründeten Bezirkes Potsdam. Die sozialistische Regierung hatte ein gespaltenes Verhältnis zum Erbe Preußens. Einerseits wurden die kulturellen und künstlerischen Leistungen anerkannt, andererseits sollten zahlreiche Bauwerke ein Ausdruck des Militarismus sein. 1951 wurde die Pädagogische Hochschule Karl Liebknecht gegründet, aus der später die Universität Potsdam hervorging. Aufgrund des Wohnungsmangels entstanden vor allem im Süden der Stadt neue Stadtviertel wie der Schlaatz, die Waldstadt II und Drewitz.
Mit dem Berliner Mauerbau verlor Potsdam im Jahr 1961 seinen direkten Anschluss zur Nachbarstadt (West-)Berlin, während Ost-Berlin nur über ländliche Umwege erreichbar war und „weit entfernt“ erschien. Damit unterbrach die Mauer auch in Potsdam das städtische Leben zu einem erheblichen Teil. Die kleine Berliner Exklave Steinstücken verblieb isoliert in Babelsberg. Der Übergang an der Glienicker Brücke wurde während des Kalten Krieges zum Austausch von Spionen genutzt.
Während der 1960er Jahre befand sich in Potsdam ein bezirkliches Aufnahmelager für Westflüchtlinge. Als die Einwanderung in die DDR abnahm, wurde die Aufnahmestätte abgerissen.
Im Jahr 1966 wurde das Alte Rathaus umgebaut und erweitert und dann als Kulturhaus eröffnet und unter dem Namen Hans Marchwitza-Haus der Öffentlichkeit übergeben. Darin waren Veranstaltungssäle, Vortragsräume, ein Kinosaal und eine Gaststätte untergebracht und es diente damit verschiedenen gesellschaftlichen Vereinigungen und Einzelpersonen als Treffpunkt.
Nach der deutschen Wiedervereinigung
Mit der deutschen Wiedervereinigung und der Wiedergründung des Landes Brandenburg im Jahr 1990 wurde Potsdam dessen Landeshauptstadt.
Im Jahre 1990 wurden weite Teile der Potsdamer Kulturlandschaft zum UNESCO-Welterbe ernannt. 1993 konnte die Stadt dann ihr tausendjähriges Bestehen feiern und war im Jahre 2001 unter dem Motto „Gartenkunst zwischen gestern und morgen“ Gastgeber der Bundesgartenschau. Zu diesem Anlass wurde in der Yorckstraße das erste, etwa 300 Meter lange Teilstück des in den 1960er Jahren zugeschütteten Stadtkanals wieder freigelegt. 2004 erhielt die Stadt die Goldmedaille beim Bundeswettbewerb Unsere Stadt blüht auf.
In den Jahren 1999, 2006 und 2021 wurden die stadtpolitischen Entscheidungen getroffen, die Potsdamer Mitte zum Sanierungsgebiet zu erklären und die Innenstadt in Grund- und Aufriss an die Situation vor 1945 anzunähern. Die im Jahre 1990 beschlossene „Wiederannäherung an das charakteristische, gewachsene historische Stadtbild“ soll u. a. mit der Rekonstruktion des Glockenturms der Garnisonkirche realisiert werden. Am Wiederaufbau der Gebäude-Carees nach historischen Vorbild rund um die Nikolaikirche am Alten Markt wird bis 2029 gearbeitet.
Bevölkerung
Bevölkerungsentwicklung
Die Stadt Potsdam blieb seit der Ersterwähnung 993 bis in die frühe Neuzeit eine kleine Stadt mit geringer und relativ konstanter Einwohnerzahl. Aufgrund der Verwüstungen und der Hungersnöte des Dreißigjährigen Krieges fiel die Einwohnerzahl auf einen Tiefpunkt von 700 im Jahr 1660. Nach der Entwicklung als brandenburgische Residenzstadt stieg die Einwohnerzahl deutlich an. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert verdreifachte sich die Bevölkerung bis 1900 auf 60.000. Am 1. April 1939 wurde Potsdam durch die Eingemeindung der ca. 30.000 Einwohner zählenden Stadt Babelsberg und anderer Orte zur Großstadt. Während des Zweiten Weltkrieges sank die Einwohnerzahl, in den folgenden Jahren stieg sie jedoch wieder an.
Seit der deutschen Wiedervereinigung sank die Potsdamer Bevölkerung bis 1999 zunächst um 13.000 auf 129.000 Einwohner ab. Seit 2000 ist hierbei durch Zuzug und eine vergleichsweise hohe Geburtenzahl aber eine beständige Erholung zu verzeichnen. Eingemeindungen im Jahre 2003 setzten die Einwohnerzahl dabei auch auf eine höhere Basis. In den 2010er Jahren hat sich das Bevölkerungswachstum dann noch einmal verstärkt fortgesetzt. 2008 wurde der 150.000ste Einwohner gezählt, 2017 dann der 175.000ste. Nach Bevölkerungsprognosen geht die Stadt Potsdam seit 2019 davon aus, dass die Einwohnerzahl bis zum Jahr 2030 auf über 200.000 steigen wird.
Neben den Einwohnern mit Hauptwohnsitz sind zusätzlich 5.758 Menschen mit Nebenwohnsitz gemeldet (Stand: 31. Dezember 2020). In Potsdam lebten Ende 2020 17.452 Ausländer, was einem Anteil von rund 9,58 % entspricht.
Bevölkerungsgruppen
Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund und der Anteil der Ausländer ist in Potsdam relativ gering, besonders im Vergleich zu westdeutschen Städten, steig aber kontenuierlich seit 1992. Während im Jahr 1992 nur 1,3 % der Bevölkerung Ausländer waren, waren es 2022 schon über 12,0 %. Im Jahr 2021 hatten 15,7 % der Bevölkerung in Potsdam einen Migrationshintergrund.
Religion
Laut Statistischem Jahresbericht waren im Jahr 2011 in der Landeshauptstadt Potsdam 14,5 % der Einwohner evangelisch, 4,6 % römisch-katholisch und 80,8 % konfessionslos, gehörten einer anderen Religionsgemeinschaft an oder machten keine Angabe. Ende 2020 waren 12,7 % evangelisch, 4,9 % katholisch und 82,5 % gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder machten keine Angabe.
Die Geschichte des Christentums in der Stadt Potsdam ist geprägt von einem Nebeneinander der Glaubensgemeinschaften. Die Stadt Potsdam gehörte anfangs zur christlichen Propstei Spandau des 949 gegründeten Bistums Brandenburg. Im Jahr 1541 führte der Kurfürst von Brandenburg die Reformation ein, die Stadt war damit über Jahrhunderte eine überwiegend protestantisch geprägte Stadt. Vorherrschend war das lutherische Bekenntnis, jedoch gehörten Herrscher und Hof seit 1613 der reformierten Kirche an. Ab 1723 gab es eine Französisch-Reformierte Gemeinde, die 1753 die Französische Kirche erhielt.
Im Jahr 1817 wurden die beiden evangelischen Konfessionen innerhalb Preußens zur Evangelischen Kirche in Preußen vereinigt („uniert“). Den Anfang machten die lutherische Gemeinde und die reformierte Gemeinde an Potsdams Garnisonkirche. Das Oberhaupt (summus episcopus) war der König von Preußen als Landesherrliches Kirchenregiment. Nach weiteren Namensänderungen 1846 und 1875 nannte sich die Landeskirche ab 1922 Evangelische Kirche der Altpreußischen Union, deren märkische Kirchenprovinz sich 1947 als Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg verselbstständigte. 2004 fusionierte diese Kirche mit der Evangelischen Kirche der schlesischen Oberlausitz, die ebenfalls aus einer altpreußischen Kirchenprovinz hervorgegangen war, zur Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Die evangelischen Kirchengemeinden Potsdams gehören zum Kirchenkreis Potsdam, dessen Sitz (Superintendentur) sich ebenfalls in Potsdam befindet. Seit 2010 gibt es den Sprengel Potsdam, der das nordwestliche Gebiet der Landeskirche umfasst und seinen Sitz in der Landeshauptstadt hat.
Als Reaktion auf die Vereinigung der lutherischen und reformierten Kirchen zur unierten Kirche setzte sich in der Evangelisch-Lutherischen Kirche Preußens die ursprüngliche lutherische Kirche in Preußen fort, welche sich jedoch erst 1841 nach langer Verfolgungszeit seitens der unierten evangelischen Landeskirche und des preußischen Staates konstituieren konnte. Diese Kirchengemeinde gehört zum Kirchenbezirk Berlin-Brandenburg der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche.
Neben den landeskirchlichen Gemeinden gibt es mehrere Freikirchen, wie die Herrnhuter Brüdergemeine.
Da Potsdam Garnisonsstadt war, gab es zahlreiche katholische Soldaten. 1868 entstand die katholische Kirche St. Peter und Paul. 1821 wurde die Fürstbischöfliche Delegatur für Brandenburg und Pommern errichtet. 1930 wurde das Bistum Berlin als Suffraganbistum von Breslau errichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gebiet der Kirchenprovinz Breslau getrennt und damit exemt, es unterstand geradewegs dem Papst. Im Zuge der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurde 1994 das Bistum Berlin zum Erzbistum Berlin erhoben, zu dem die beiden Pfarrgemeinden Potsdams gehören.
Die russisch-orthodoxe Kirchengemeinde entstand in Potsdam nach 1716 durch Schenkungen Russischer Riesen von Peter dem Großen an Friedrich Wilhelm I. für dessen Lieblingsregiment der „Langen Kerls“. Der König ließ 1734 den nördlichen Kopfbau des Langen Stalls als turmlose Garnisonkirche für die inzwischen 300 Gemeindemitglieder einweihen. Sie existierte, immer weiter zusammenschmelzend, bis 1809. Mit der Errichtung der Russischen Kolonie Alexandrowka in Potsdam kam es zur Neugründung einer russisch-orthodoxen Gemeinde um die Alexander-Newski-Gedächtniskirche. Sie gehört zur Berliner Diözese des Moskauer Patriarchats und umfasst etwa 1000 Gläubige.
Der Anteil der Christen verringerte sich während der Zeit der DDR erheblich (siehe dazu: Christen und Kirchen in der DDR). 2014 lebten in Potsdam mehr als 30.000 Christen verschiedener Konfessionen, dies entspricht 20 Prozent der Bevölkerung. Davon gehören etwa 25.000 den 22 evangelischen und rund 5000 den beiden katholischen Gemeinden der Stadt an. Die verschiedenen freien Kirchengemeinschaften zählen zusammen ebenfalls mehrere Tausend Gläubige.
In Potsdam gibt es zwei jüdische Gemeinden. Eine gehört dem Zentralrat der Juden in Deutschland an und hat in den 2010er Jahren etwa 400 Mitglieder. Die zweite Gemeinde ist vom Zentralrat unabhängig und nennt sich Gemeinde gesetzestreuer Juden. Zudem ist Potsdam Sitz des liberalen Abraham-Geiger-Kollegs, des bislang einzigen Rabbinerseminars im Deutschland der Nachkriegszeit. Die Alte Synagoge in Potsdam wurde während der Novemberpogrome 1938 geplündert. Endgültig zerstört wurde das Gebäude durch Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg. Seitdem gab es keine Synagoge in der Stadt. Im Rahmen der Neugestaltung der Potsdamer Mitte wurde 2018 der Wiederaufbau einer Synagoge in der Schloßstraße beschlossen. 2021 wurde eine weitere Synagoge als Teil des Zentrums für Jüdische Gelehrsamkeit der Universität Potsdam eröffnet.
Aktuelle Zahlen der in Potsdam lebenden Muslime, Buddhisten oder der Angehörigen weiterer Glaubensbekenntnisse liegen im Jahr 2015 nicht vor. Eine muslimische Gemeinde existiert seit 1998. Historisch war Preußen tolerant in religiösen Angelegenheiten. Der preußische König Friedrich der Große erklärte 1740: „alle Religionen Seindt gleich und guht, wan nuhr die leute, so sie profesieren [öffentlich bekennen], Erliche leute seindt, und wen Türken und Heiden Kähmen und Wolten das Landt Pöplieren [bevölkern], so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen.“ Zwar baute Friedrich später keine Moscheen, jedoch hatte sein Vater Friedrich Wilhelm I. schon im Jahr 1739 ein Zimmer des Militärwaisenhauses als Gebetssaal für 22 muslimische „Lange Kerle“ und damit die erste Moschee auf deutschem Boden einrichten lassen. Die nur wenige hundert Meter entfernte „Potsdamer Moschee“ aus dem 19. Jahrhundert war dagegen nie ein sakrales Gebäude, sondern seit jeher ein profanes Maschinenhaus in der äußeren Gestalt einer Moschee.
Politik
Verwaltungsgeschichte
An der Spitze der Stadt stand seit 1345 ein Consul beziehungsweise ab 1450 ein Bürgermeister. Ein Stadtrat ist ab 1465 nachweisbar. Im 16. und 17. Jahrhundert hatte der Rat vier bis fünf Mitglieder, darunter auch den Bürgermeister. Später hatte der jeweilige Landesherr einen starken Einfluss auf die Stadtverwaltung. Ab 1722 gab es für die Altstadt und die Neustadt einen Magistrat, an der Spitze stand ein Stadtdirektor. 1809 wurde Potsdam eine kreisfreie Stadt mit einem Oberbürgermeister an der Spitze sowie mit einer Stadtverordnetenversammlung als gewähltem Gremium.
In der Zeit des Nationalsozialismus wurde diese aufgelöst und der Oberbürgermeister von der NSDAP eingesetzt.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bildete die sowjetische Besatzungsmacht 1945 den Rat der Stadt mit einem Oberbürgermeister neu. Der Rat wurde durch eine Einheitsliste der Nationalen Front in unfreien Wahlen bestimmt.
Nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 wurde Potsdam Standort verschiedener Landes- und Bundesbehörden, darunter die Direktion III der Generalzolldirektion, das Bundespolizeipräsidium und eine Außenstelle des Bundesrechnungshofs, sowie zahlreicher Körperschaften des öffentlichen Rechts.
Stadt Potsdam
Potsdam ist seit 1990 eine kreisfreie Stadt im Land Brandenburg. Die Potsdamer Stadtverwaltung hat ihren Sitz im Stadthaus in der Friedrich-Ebert-Straße. Die Stadt Potsdam tritt offiziell unter der Bezeichnung Landeshauptstadt Potsdam auf.
Der Oberbürgermeister wird alle acht Jahre, die Stadtverordnetenversammlung alle fünf Jahre bei den Kommunalwahlen gewählt. Oberbürgermeister von Potsdam ist seit dem 28. November 2018 Mike Schubert (SPD).
Der kommunale Schuldenstand der Stadt gehörte 2014 zu den geringsten in Deutschland.
Wappen und Flagge
Die Flagge der Stadt Potsdam ist „zweistreifig Rot-Gelb mit dem in der Mitte aufgelegten Wappen“.
Städtepartnerschaften
Potsdam ist aus seiner Vergangenheit heraus eine international geprägte Stadt, dies zeigt sich auch in der Vielfalt der Städtepartnerschaften. Es lassen sich stets Gemeinsamkeiten in der Historie, Architektur oder Bedeutung zu den Partnerstädten entdecken. Bemerkenswert – bereits zur damaligen Zeit – war seit 1988 die Partnerschaft zur seinerzeit westdeutschen Hauptstadt Bonn, noch während der Zeit der deutschen Teilung. Potsdam unterhält Partnerschaften mit den folgenden Städten:
Kommunale Themen
Die Gestaltung des Stadtbildes, insbesondere der Wiederaufbau der historischen Mitte, wird seit 1990 vielschichtig diskutiert. Nach 2014 gab es Kontroversen um die zukünftige Nutzung des Lustgartenareals und den Abriss verschiedener Gebäude im Stadtgebiet.
Mit der 2012 eingeführten Umweltorientierten Verkehrssteuerung sollen Grenzwertüberschreitungen bei Stickstoffdioxid und Feinstaub vermieden werden.
Zu den wirtschafts- und baupolitischen Problemen der Stadt Potsdam zählt die – trotz zunehmender Nachfrage nach Wohnraum – abnehmende Zahl an Baugenehmigungen und der dadurch eingebrochene Wohnungsbau (Stand: 2018–2020). Darüber hinaus haben die Stadtwerke in bestimmten Bereichen mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen.
Land Brandenburg
Potsdam ist die Landeshauptstadt des Landes Brandenburg. Der Landtag Brandenburg hat seinen Sitz in der Stadt. Die Landesregierung und der Ministerpräsident Brandenburgs sind in der Brandenburgischen Staatskanzlei untergebracht und haben ihren Standort in der Heinrich-Mann-Allee 107 bezogen. Zahlreiche Ministerien sind im Stadtgebiet verteilt. Das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg befindet sich in der Jägerallee 9–12.
Der Landtag Brandenburg hatte seinen Sitz seit der Wiederbegründung des Landes 1990 im Gebäude der ehemaligen königlichen Kriegsschule auf dem Brauhausberg. Da das Gebäude den Ansprüchen an ein modernes Parlament nicht mehr genügte, beschloss der Landtag einen Neubau auf dem Gelände des ehemaligen Stadtschlosses am Alten Markt. Nachdem der TV-Moderator Günther Jauch 2002 mit dem Neubau des Fortunaportals ein erstes Zeichen gesetzt hatte, beschloss die Stadtverordnetenversammlung 2005 den Wiederaufbau. Seit 2010 wurde das Stadtschloss weitgehend mit der originalgetreuen Fassade von Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff, die der SAP-Gründer Hasso Plattner gespendet hat, wieder aufgebaut. 2014 wurde der Landtag mit dem im Inneren modern entworfenen Neubau offiziell eröffnet.
Sicherheitsbehörden
Potsdam hat seit dem Ende des 17. Jahrhunderts eine wechselhafte Vergangenheit als Standort für militärische Einrichtungen. Die jeweiligen Befehlshaber waren zahlreich: von der preußischen über die kaiserliche Armee, Reichswehr, Wehrmacht, Roter Armee bis zur NVA und nun zur Bundeswehr.
Als zweite Residenz der preußischen Könige (neben Berlin) wurde die Stadt durch den Soldatenkönig zur Garnisonsstadt ausgebaut und die Soldaten überwiegend in Bürgerhäusern einquartiert. Zeitweise stellten Soldaten fast die Hälfte der Potsdamer Einwohner. Militärische Anlagen prägten lange Zeit das Stadtbild und die Struktur der Bevölkerung, so dass Alexander von Humboldt die Stadt 1854 als „öde Kasernenstadt“ bezeichnete. Bekannt wurden die Langen Kerls, die preußischen Gardesoldaten mit überdurchschnittlicher Körpergröße, das 1. Garde-Regiment zu Fuß und das Infanterie-Regiment 9, aus letzterem sich viele Mittäter des Attentat vom 20. Juli 1944 rekrutierten.
1945 übernahm die Rote Armee – und später die Nationale Volksarmee – die Mehrzahl der Kasernen. Bis 1991 war Potsdam zudem Standort der 34. Artilleriedivision der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Nach der deutschen Wiedervereinigung war eine Armee in der bisherigen Größe nicht mehr erforderlich. Die zahlreichen, zum großen Teil historisch und architektonisch bedeutenden, Kasernen und Militäranlagen wurden seitdem einer neuen Nutzung zugeführt.
Seit 2001 hat das Einsatzführungskommando der Bundeswehr direkt am Wildpark vor der Stadtgrenze in Geltow seinen Sitz. Dort sind ca. 500 Generalstabsoffiziere beschäftigt.
Seit 2013 residiert das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) in der Villa Ingenheim am Havelufer. Hier wird militärgeschichtliche Forschung zur deutschen Geschichte betrieben; das ZMSBw hat rund 120 Mitarbeiter. Dem ZMSBw ist auch das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden unterstellt.
Seit 2008 hat das Bundespolizeipräsidium seinen Sitz in Potsdam. Die Bundesoberbehörde ist dem Bundesministerium des Innern unmittelbar nachgeordnet und übt die Dienst- und Fachaufsicht über die Bundespolizei aus.
Wirtschaft
Kennzahlen
Im Jahr 2016 erwirtschaftete Potsdam, auf seinem Stadtgebiet, ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 6,67 Milliarden Euro und belegte damit Rang 53 in der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung. Die Stadt hat damit einen Anteil von zehn Prozent an der brandenburgischen Wirtschaftsleistung. Das BIP lag im selben Jahr bei 39.293 Euro pro Kopf (Brandenburg: 26.887 Euro, Deutschland 38.180 Euro) und damit über dem regionalen und nationalen Durchschnitt. Je Erwerbstätigem betrug es 60.422 Euro, deren Zahl ca. 110.400. Aufgrund der Nähe zu Berlin entwickelt sich die Wirtschaft sehr dynamisch. 2016 wuchs das BIP der Stadt nominell um 3,1 %, im Vorjahr betrug das Wachstum 4,7 %. Potsdam ist Teil der Metropolregion Berlin-Brandenburg, die ein BIP von mehr als 180 Milliarden Euro erwirtschaftet. Die integrierte Gesamtverschuldung der Stadt betrug Ende 2021 rund 1,05 Milliarden Euro (5750 Euro/Kopf).
Etwa 81.500 Potsdamer hatten im selben Jahr einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz, rund 1200 mehr als im Vorjahr. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 5,6 % und damit unter dem Durchschnitt von Brandenburg von 5,9 %. Die durchschnittlich verfügbaren Einkommen und die Gewerbesteuerrealeinnahmen steigen seit dem Jahr 2000 beständig.
Über 100 junge Firmen sind im Jahr 2021 in der Landeshauptstadt ansässig. Mit einer Quote von 38,4 Unternehmensgründungen pro 100.000 Personen zwischen 2019 und 2021 rangiert Potsdam nach Berlin, München und Heidelberg bundesweit auf Platz 4 unter allen deutschen Großstädten.
Standort und Lebensqualität
Die positive Entwicklung Potsdams seit 1990 kann u. a. auf den Standort als Kultur-, Dienstleistungs- und Forschungszentrum zurückgeführt werden, der die Anpassung an die Erfordernisse einer modernen Marktwirtschaft mit höheren Ausbildungsniveaus ermöglichte. Der Wirtschaftsstandort ist einer von 15 Regionalen Wachstumskernen im Land Brandenburg und wird dadurch gezielt gefördert. Zudem ist die geografische Lage im Ballungsraum von Berlin attraktiv für Firmenansiedlungen. Der Anschluss an Infrastrukturen wie Autobahn, Zugstrecken, Brücken und Flughafen wird stetig ausgebaut.
Im sogenannten „Zukunftsatlas“ aus dem Jahr 2019 belegte die kreisfreie Stadt Potsdam Platz 92 von 401 Landkreisen, Kommunalverbänden und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Orten mit „gewissen Zukunftschancen“ und belegt den ersten Platz innerhalb Brandenburgs. In einer Studie des ZDF zur Lebensqualität in 401 deutschen Landkreisen und kreisfreien Städten belegte Potsdam im Jahr 2018 den vierten Platz.
Technologie und Gewerbe
In Potsdam waren 2016 mehr als 13.000 Gewerbe angemeldet, was einem Zuwachs von knapp 380 gegenüber 2015 entspricht. Forschungsnahe Unternehmen haben sich aufgrund der Vielzahl der Forschungsinstitute in und um Potsdam angesiedelt. Die Region ist einer der führenden Biotech-Standorte in Deutschland. Potsdam ist Sitz der international tätigen Medizintechnikfirma Christoph Miethke.
Die Firma Oracle investierte im Jahr 2001 in eine Zweigniederlassung in der Stadt. Daneben entstand eine von weltweit drei VW-Designzentralen. Das Konsortium Toll Collect hat einen Standort in Potsdam. Die Firma Katjes errichtete 2006 am Produktionsstandort Babelsberg eine „gläserne Bonbonfabrik“. In den 2020er Jahren soll in Potsdams Südlicher Innenstadt ein Standort der IT-Wirtschaft entwickelt werden.
Zu den größten Arbeitgebern in Potsdam zählen 2018 u. a. die Universität Potsdam, die Stadt Potsdam, die Stadtwerke Potsdam, die AOK Nordost, die Mittelbrandenburgische Sparkasse, das Land Brandenburg sowie die Investitionsbank des Landes Brandenburg.
Medien
Das 1911 gegründete Filmstudio Babelsberg in Babelsberg ist das älteste Großfilmstudio der Welt und gleichzeitig das flächenmäßig größte Filmstudio in Europa. Das Studio ist jedoch seit 2022 mehrheitlich im Besitz eines US-Immobilienkonzerns.
Die UFA, ein Tochterunternehmen des international tätigen Medienkonzerns Bertelsmann, zählt zu den gegenwärtig umsatzstärksten deutschen Firmen im Bereich der Fernsehfilm- und TV-Produktionen und hat ihren Sitz in Potsdam. Das Medienboard Berlin-Brandenburg, ein Filmförderungsunternehmen der Länder Berlin und Brandenburg, ist ebenfalls in der Stadt ansässig.
In Potsdam erscheinen als Tageszeitung die Potsdamer Neuesten Nachrichten, die Märkische Allgemeine Zeitung mit Potsdamer Regionalteil und die Regionalausgabe des Tagesspiegels.
Der Rundfunk Berlin-Brandenburg sendet vom Standort Potsdam-Babelsberg. Dort werden unter anderem die Radiosender Antenne Brandenburg, Radio Fritz und Radio Eins sowie die Fernsehsendungen Brandenburg aktuell und zibb produziert. Außerdem gibt es in Potsdam den lokalen Fernsehsender Hauptstadt.TV, den Privatradiosender BB Radio sowie den Lokalradiosender Radio Potsdam und den Kindersender Radio Teddy.
Seit 1997 erscheint monatlich das Magazin events, das Veranstaltungen und Gastronomietipps enthält. Seit 2004 gibt es das monatlich erscheinende Familienmagazin PotsKids!, seit 2010 das Monatsmagazin friedrich.
Tourismus
Der Tourismus hat für Potsdam große Bedeutung. Von 1995 bis 2019 stieg die Zahl der Besucher kontinuierlich an.
2016 übernachteten mehr als 400.000 Besucher zusammen über eine Million Mal in der Stadt. 2018 gab es 58 Hotels und Pensionen mit etwa 5900 Betten in Potsdam.
In der Medienstadt Babelsberg befindet sich der Filmpark Babelsberg, ein Themenpark, der den Besuchern mit der Studiotour über das Gelände, sowie mit Ausstellungen, Stuntshows, Kulissen und Requisiten aus zahlreichen bekannten Produktionen die Welt des Films näher bringt. 330.000 zahlende Besucher verzeichnete der Filmpark im Jahr 2016. Mit ebenfalls etwa 330.000 Besuchern jährlich ist der Park Sanssouci der zweite große Anziehungspunkt in Potsdam.
Potsdam hat sich außerdem zu einem beliebten Ort für Tagungen, Kongresse und Hochzeitsfeierlichkeiten entwickelt.
Verbände
Die IHK Potsdam hat ihren Hauptsitz in Potsdam und vertrat im Jahr 2018 insgesamt 77.738 Mitgliedsunternehmen in Westbrandenburg. Die Handwerkskammer Potsdam vertritt die Interessen von 17.463 Handwerksbetrieben (Stand: 2021) im Kammerbezirk Potsdam.
Infrastruktur
Nachdem seit den 1990er Jahren in Potsdam überwiegend vorhandene Bausubstanz saniert wurde, gilt seit 2010 das Integrierte Leitbautenkonzept, nach dem die Stadt an vielen Stellen durch Wiedererrichtungsprojekte ihren früheren, klassizistisch geprägten, Stadtkern zurückerhalten soll. 2017 begann der Wiederaufbau von Teilen der Garnisonkirche. Langfristig soll auch der Stadtkanal wieder freigelegt werden.
Die Stadtentwicklungsgebiete am Bornstedter Feld und in der Speicherstadt befinden sich im Bau (Stand: 2018). Im Stadtteil Krampnitz sollen in den 2020er Jahren kohlendioxidneutrale Wohnsiedlungen für 7000 Einwohner entstehen. Im Jahr 2018 gab es in Potsdam 20.737 Wohngebäude. Die Anzahl der Wohnungen in der Stadt belief sich im selben Jahr auf 90.111 (+1.581 im Vergleich zum Vorjahr).
Für die lokale Umsetzung der UN-Konvention über „die Rechte des Kindes“ trägt die Stadt seit 2017 das UNICEF-Siegel Kinderfreundliche Kommune.
Straßenverkehr
Potsdam ist im Westen und Süden durch den Berliner Ring der A 10 mit dem Autobahndreieck Potsdam und im Osten durch die A 115 (im Berliner Stadtgebiet auch als AVUS bezeichnet) an das Bundesautobahnnetz angeschlossen.
Mehrere Bundesstraßen verlaufen durch das Stadtgebiet, so die B 1, B 2 und B 273. Die Stadt liegt an der deutsch-niederländischen Ferienstraße Oranier-Route.
Die Potsdam mit den Bundesstraßen B 101, B 96 und B 179 verbindende Landesstraße L 40 erschließt das südliche Berliner Umland über Stahnsdorf, Teltow, Mahlow, Schönefeld nach Berlin (Treptow-Köpenick) und trägt im Potsdamer Stadtgebiet die Bezeichnung Nuthe-Schnellstraße.
Die Dichte an privaten Personenkraftwagen (Pkw) in der Stadt lag mit 376 Pkw pro 1000 Einwohner im Jahr 2014 unter dem Brandenburger Durchschnitt von 510 Pkw pro 1000 Einwohner. Insgesamt waren 82.830 Kraftfahrzeuge in Potsdam im Jahr 2017 zugelassen (+10.306 im Vergleich zu 2010).
Fahrradverkehr
Die Stadt verfolgt seit 2008 ein Radverkehrskonzept, das immer wieder erneuert wird. 2017 wurden zwölf Prozent aller Wege in Potsdam per Fahrrad zurückgelegt (in Berlin: 15 %, im Land Brandenburg: 11 %, in Deutschland insgesamt: 11 %). Auch im Jahr 2017 besaßen 83 % der Potsdamer Bevölkerung ein eigenes Fahrrad (in Berlin: 77 %, in Brandenburg: 85 %; in Deutschland insgesamt: 77 %). Innerhalb der Stadt sind 177 km mit Radspuren oder Radwegen ausgestattet (Stand: 2016). Am Hauptbahnhof gibt es ein Parkhaus für Fahrräder. In der ganzen Stadt zerstreut gibt es über 30 Stationen mit insgesamt mehr als 300 Fahrrädern, die rund um die Uhr zum Verleih bereitstehen.
Potsdam ist an einige Radfernwege angeschlossen, unter anderem an den Europaradweg R1 (verläuft von Frankreich bis Russland), den Fernradweg Amsterdam-Berlin, den Havelradweg (verläuft von der Quelle bis zur Mündung), an den Berliner Mauerradweg (verläuft entlang der ehemaligen Berliner Mauer einmal um das damalige West-Berlin), den Radweg Alter Fritz (Rundtour zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt) und an die F1-Havelseetour.
ÖPNV
Der Nahverkehr in Potsdam umfasst, neben der S-Bahn Berlin (Linie S7), verschiedene Angebote der Verkehrsbetriebe Potsdam (ViP): sieben Straßenbahnlinien, diverse Stadtbuslinien und eine Fährlinie, die Hermannswerder mit den Wohngebieten auf dem nordwestlichen Havelufer verbindet. Hinzu kommen die Regionalbuslinien, welche Potsdam mit dem Umland verbinden: die Linien der Havelbus Verkehrsgesellschaft verkehren in den Landkreis Havelland, die Linien der Regiobus Potsdam-Mittelmark in den Landkreis Potsdam-Mittelmark und die Linien der Verkehrsgesellschaft Teltow-Fläming in den Landkreis Teltow-Fläming.
Durch den PlusBus des Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg verkehren folgende Verbindungen ab Potsdam:
Linie X1: Potsdam ↔ Güterfelde ↔ Stahnsdorf ↔ Teltow
Linie 580: Potsdam ↔ Werder ↔ Lehnin ↔ Golzow ↔ Bad Belzig
Linie 643: Potsdam ↔ Michendorf ↔ Neuseddin ↔ Beelitz
Linie 715: Potsdam ↔ Nudow ↔ Ahrensdorf ↔ Ludwigsfelde
Nachts ist Potsdam vom Berliner S-Bahnhof Nikolassee mit der Nachtbuslinie N16 erreichbar. Auch innerhalb der Stadt Potsdam verkehren in jeder Nacht durchgehend mehrere Nachtbuslinien.
Auf der Südseite des Hauptbahnhofs befindet sich ein größerer Busbahnhof, an dem zwischen vielen Stadt- und Regionalbuslinien sowie zwischen den Nachtbuslinien umgestiegen werden kann. Zentraler Umsteigepunkt im Straßenbahnnetz ist der Platz der Einheit.
Alle Angebote des Nahverkehrs können zu einheitlichen Tarifen im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) genutzt werden.
Eisenbahnverkehr
Durch das Stadtgebiet führen mehrere Eisenbahnstrecken. Die Verbindungen zwischen Potsdam und Berlin sind die von Berufspendlern meistfrequentierten Strecken in der Metropolregion Berlin-Brandenburg.
Die Berlin-Potsdamer Eisenbahn (Stammbahn) war die erste Eisenbahnstrecke Preußens (1838). Sie schuf eine Verbindung zwischen Berlin und Potsdam über Zehlendorf. 1845 wurde die Strecke bis nach Magdeburg fortgeführt. Auf Potsdamer Gebiet liegen an dieser Strecke und der parallelen S-Bahn-Strecke fünf Bahnhöfe und Haltepunkte: Griebnitzsee, Babelsberg, Potsdam Hauptbahnhof, Charlottenhof und Park Sanssouci.
Die 1879 eröffnete Berlin-Blankenheimer Eisenbahn (Wetzlarer Bahn) berührt das Stadtgebiet im Osten mit dem Bahnhof Potsdam Medienstadt Babelsberg und den an der Potsdamer Stadtgrenze liegenden Bahnhof Potsdam-Rehbrücke. An dieser Strecke liegt auch der wichtige Rangierbahnhof Seddin südlich von Potsdam. Ihr östlichstes Teilstück führt schnurgerade durch den Grunewald und hat über den Bahnhof Berlin-Charlottenburg Anschluss an die Berliner Stadtbahn. Nachdem 1945 die Stammbahn zwischen Berlin-Zehlendorf und Griebnitzsee unterbrochen wurde, läuft der gesamte Regional- und Fernverkehr zwischen Berlin und Potsdam über die Stadtbahn.
Die Wannseebahn wurde 1874 als Vorortstrecke angelegt, auf dem Abschnitt zwischen dem Bahnhof Berlin-Wannsee und der heutigen Stadtgrenze verläuft parallel dazu die Fernstrecke der Berlin-Blankenheimer Eisenbahn. 1891 wurden die Vorortgleise der Wannseebahn komplett von den Ferngleisen getrennt. Seit 1902 ist Potsdam über Vorortgleise der Grunewaldstrecke mit direkten Vorortzügen von der Berliner Stadtbahn aus zu erreichen. Im Jahr 1928 wurde auf den Vorortgleisen der elektrische S-Bahn-Betrieb aufgenommen.
Die Bahnstrecke Jüterbog–Nauen als Teil der Umgehungsbahn ging im Potsdamer Raum zwischen 1902 und 1908 in Betrieb. Die Strecke kreuzte die Bahnstrecke nach Magdeburg im Bahnhof Park Sanssouci (früher: Wildpark). Ihr Abschnitt nördlich des Bahnhofs Golm ging im Berliner Außenring auf. Nach 1945 entstand eine Verbindungskurve, die direkte Fahrten aus Richtung Süden zum Bahnhof Potsdam Stadt (seit 1999 Potsdam Hauptbahnhof) möglich machte. Der Abschnitt zwischen Potsdam und der Kreuzung mit der Berlin-Blankenheimer Eisenbahn bei Seddin wurde zur Hauptbahn ausgebaut, über die zeitweise sogar Transitzüge von Süddeutschland nach Westberlin fuhren.
Der Berliner Außenring mit seinem Damm durch den Templiner See wurde 1956 eröffnet. Hier liegt der (1999 geschlossene) obere Teil des zeitweiligen (1960–1993) Potsdamer Hauptbahnhofs (seit 1993: Potsdam Pirschheide). Weitere Stationen am Außenring auf Potsdamer Gebiet sind der Bahnhof Golm und der Haltepunkt Marquardt. Die Anbindung Potsdams an den Eisenbahnfernverkehr ist stark eingeschränkt, seit die meisten Fernzüge seit Mitte der 2000er Jahre über die Schnellfahrstrecke Hannover–Berlin geführt werden.
Von der Stadt aus führen Regionalexpress- und Regionalbahnlinien in folgende Richtungen:
Ab Hauptbahnhof (teilweise auch ab Charlottenhof, Park Sanssouci und Golm)
Berlin (RE 1, z. T. RB 21/22) – Frankfurt (Oder) (RE 1)
Brandenburg an der Havel – Magdeburg (RE 1)
Golm – Hennigsdorf – Oranienburg (RB 20)
Golm – Wustermark – Berlin-Spandau (RB 21)
Golm – Flughafen BER – Königs Wusterhausen (RB 22)
Golm / Berlin – Flughafen BER (RB 23)
Beelitz – Jüterbog (RB 33)
Ab Medienstadt Babelsberg und Rehbrücke:
Berlin – Flughafen BER – Senftenberg: RE 7
Bad Belzig – Dessau: RE 7
Beelitz: RB 37
Liste der Potsdamer Bahnhöfe
Schiffsverkehr
Potsdam wird tangiert von der Unteren Havel-Wasserstraße. Sie ist die wichtigste Ost-West-Verbindung der Binnenschifffahrt zwischen der Oder, Berlin und der Elbe. Die Frachtschifffahrt benutzt den Sacrow-Paretzer Kanal. Der Hafen an der Langen Brücke in Potsdam wird von den Schiffen des Unternehmens Weisse Flotte Potsdam und Gastliegern von Schifffahrtsunternehmen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern genutzt. In der Saison gibt es einen täglichen Linienverkehr vom Hafen an der Langen Brücke nach Berlin-Wannsee, Spandau–Lindenufer und der Greenwichpromenade am Tegeler See. sowie in Richtung Caputh, Ferch und Werder. In der Alten Fahrt der Havel an der Freundschaftsinsel stehen Anleger für den privaten Wassersport zur Verfügung.
Luftverkehr
Potsdam ist über den rund 40 Kilometer in östlicher Richtung entfernten Flughafen Berlin Brandenburg (BER) an den nationalen und internationalen Luftverkehr angeschlossen.
Der Flughafen ist mit der Regionalbahnlinie RB22 und der Schnellbuslinie BER2 bzw. über die Schnellstraße Potsdam–Schönefeld erreichbar.
Bildung
Hochschulen
Potsdam ist eine international renommierte Universitätsstadt mit drei öffentlichen Hochschulen. Im Wintersemester 2020/21 sind 26.555 Studenten in den Hochschulen eingeschrieben. 2019 hatten 26,3 Prozent der Einwohner einen Fachhochschul- oder Hochschulabschluss oder Promotion (Bundesdurchschnitt von 18,5 Prozent).
Die Universität Potsdam wurde 1991 als Universität des Landes Brandenburg gegründet. Die Universität ist auf die drei Hauptstandorte Am Neuen Palais, Golm und Griebnitzsee verteilt und hat insgesamt über 20.000 Studenten. Die gemeinsam von der Universität Potsdam und dem Hasso-Plattner-Institut gegründete Digital Engineering Fakultät ist die erste privat finanzierte Fakultät einer öffentlichen Universität in Deutschland.
Die Filmuniversität Babelsberg ist die älteste und größte Medienhochschule Deutschlands und seit 2014 Universität. Sie wurde 1954 als Deutsche Hochschule für Filmkunst gegründet und trug seit 1985 den Namen Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“. Der Campus der Universität befindet sich auf dem Gelände des Filmstudios Babelsberg und wird aktuell von etwa 800 Studenten besucht. An der Hochschule werden die jährlichen Sehsüchte, ein internationales Studentenfilmfestival, organisiert. Die EMS Electronic Media School bildet Journalisten aus.
Die Fachhochschule Potsdam ist eine junge Hochschule, die 1991 in Trägerschaft des Landes Brandenburg gegründet wurde. Sie wird von über 3500 Studenten besucht.
Neben den staatlichen Hochschulen gibt es in der Stadt auch die privat geführte Fachhochschule für Sport und Management Potsdam, die kirchliche beziehungsweise private Hochschule Clara Hoffbauer Potsdam und die private HMU Health and Medical University.
Forschung
Die Stadt Potsdam hat sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Forschungsstandort entwickelt. In keiner deutschen Stadt gibt es mehr Forschungseinrichtungen je Einwohner als in Potsdam. Das wissenschaftliche Potenzial erstreckt sich auf mehr als 30 Forschungseinrichtungen in den Bereichen Geist und Gesellschaft, Geowissenschaften und Umwelt, Biologie und Leben sowie Physik und Chemie, darunter drei Max-Planck-Institute und zwei Fraunhofer-Institute. Viele der Institute sind an die Universität Potsdam angegliedert.
Zu den Forschungsinstituten zählen unter anderem das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, das Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung, das Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung, das Max-Planck-Institut für molekulare Pflanzenphysiologie, das Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut), das Geoforschungszentrum Potsdam, das Leibniz-Institut für Astrophysik, das Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und das Zentrum für Zeithistorische Forschung. Im benachbarten Bergholz-Rehbrücke liegt außerdem das Deutsche Institut für Ernährungsforschung.
Schulen
Laut Daten des Statistischen Bundesamts erlangen in keiner anderen deutschen Großstadt mehr Schüler eines Jahrgangs die allgemeine Hochschulreife als in Potsdam. Im Jahr 2017 schlossen 1942 Schüler an Potsdamer weiterführenden Schulen 1124 mit einem Abitur ab, was einer Abitur-Quote von 58 Prozent entsprach. Der deutschlandweite Durchschnitt lag bei rund 34 Prozent.
Architektur
Welterbe
Bereits 1990 wurden die Potsdamer Schlösser und Parks auf gemeinsamen Antrag beider deutscher Staaten zum UNESCO-Welterbe erklärt. Seitdem gehören die Parkanlagen Sanssouci, Neuer Garten, Babelsberg, Glienicke und die Pfaueninsel mit ihren Schlössern sowie seit 1992 Schloss und Park Sacrow mit der Heilandskirche zum Weltkulturerbe. 1999 wurde das Potsdamer Welterbe um 14 Denkmalbereiche erweitert, darunter Schloss und Park Lindstedt, die russische Kolonie Alexandrowka, das Belvedere auf dem Pfingstberg, der Kaiserbahnhof und die Sternwarte am Babelsberger Park. Insgesamt erstreckt sich das Welterbe im Potsdamer Stadtgebiet auf 1337 ha Parkanlagen mit 150 Gebäuden aus der Zeit von 1730 bis 1916. Die Berlin-Potsdamer Kulturlandschaft (mit Gesamtfläche von 2064 ha) ist damit die drittgrößte der deutschen Welterbestätten.
Das Ensemble erfüllt die Ansprüche gemäß den Kriterien I, II und IV der UNESCO. Es ist zuerst eine einzigartige künstlerische Leistung, ein Meisterwerk des schöpferischen Geistes (I). Es hat beträchtlichen Einfluss auf die Entwicklung der Architektur, des Städtebaus und der Landschaftsgestaltung ausgeübt (II). Zudem ist es ein herausragendes Beispiel von architektonischen Ensembles oder einer Landschaft, die bedeutsame Abschnitte in der menschlichen Geschichte darstellen (IV).
Schlösser und Gärten
Potsdam ist vor allem als Stadt der Schlösser und Gärten bekannt. Die Berlin-Potsdamer Kulturlandschaft umfasst fast 20 Schlösser oder Palais. Die prominenteste Sehenswürdigkeit und Wahrzeichen der Stadt ist das Schloss Sanssouci mit seinen Parkanlagen. Nach eigenen Skizzen ließ der preußische König Friedrich der Große in den Jahren 1745–1747 ein kleines Sommerschloss im Stil des Rokoko errichten. Die Lage des Sommersitzes im Südwesten der Residenzstadt Berlin erinnert an die Funktion von Versailles im Verhältnis zu Paris.
Das Neue Palais ist das größte Schloss der Stadt Potsdam. Es befindet sich am westlichen Ende des Parks Sanssouci. Der Bau wurde 1763 nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges durch Friedrich den Großen begonnen und bereits 1769 fertiggestellt. Es gilt als letzte bedeutende Schlossanlage des preußischen Barocks. Friedrich plante es allein zu Repräsentationszwecken. Über 200 Räume, vier Festsäle und ein Rokokotheater standen bereit. Über 400 Statuen aus der antiken Götterwelt schmücken die Fassade und die Dachbalustrade.
Das Orangerieschloss auf dem Höhenzug zwischen Klausberg und Schloss Sanssouci ließ der „Romantiker auf dem Thron“, Friedrich Wilhelm IV. in den Jahren von 1851 bis 1864 erbauen. Die Errichtung des Orangerieschlosses stand in Verbindung mit der Planung einer Triumphstraße. Am Triumphtor sollte die Prachtstraße beginnen und am Belvedere auf dem Klausberg enden. Höhenunterschiede sollten durch Viadukte ausgeglichen werden. Wegen der politischen Unruhen der Märzrevolution und der fehlenden finanziellen Mittel wurde das gigantische Projekt jedoch nie vollendet. Das Orangerieschloss wurde mit einer Frontlänge von 300 Metern im Stil der italienischen Renaissance errichtet, nach dem architektonischen Vorbild der Villa Medici in Rom und der Uffizien in Florenz.
Im Potsdamer Neuen Garten, dicht am Ufer des Heiligen Sees, ließ Friedrich Wilhelm II. in den Jahren 1787–1792 das Marmorpalais errichten. Die Architekten Carl von Gontard und ab 1789 Carl Gotthard Langhans schufen ein Schlossgebäude im Stil des Frühklassizismus. Das aus rotem Backstein errichtete Marmorpalais ist ein zweigeschossiges Gebäude mit quadratischem Grundriss. Wegen der schönen Aussicht wurde auf das flache Dach des kubischen Baukörpers ein Rundtempel gesetzt. Als Blickfang dient unter anderem das weiße Schloss auf der Pfaueninsel.
Auch das italienisch anmutende Schloss Belvedere auf dem Pfingstberg im Potsdamer Norden ist ein bedeutender Bestandteil der Potsdamer Schlösserlandschaft. Zwischen 1847 und 1863 nach Plänen Friedrich Wilhelms IV. erbaut, bietet es aus 100 Metern Höhe eine Aussicht über die Potsdam umgebende Kulturlandschaft bis hin zum Berliner Fernsehturm. In der Zeit der Teilung Deutschlands war es aufgrund der Lage nahe der KGB-Zentrale am Fuße des Pfingstberges geschlossen worden und verfiel. Erst die späteren Gründer des Förderverein Pfingstberg in Potsdam e. V. sorgten ab 1987 mit ihrem unermüdlichen Engagement dafür, dass es wiederhergestellt werden konnte.
Neben den Schlössern verfügt Potsdam über sieben Parklandschaften. Die bekannteste Gartenanlage ist der Park Sanssouci. Auf Anweisung Friedrichs des Großen wurde der Wüste Berg 1744 durch die Anlage von Weinterrassen kultiviert. Durch die Ausweitung nach Westen, bildete sich bis zum Neuen Palais eine schnurgerade rund 2,5 Kilometer lange Hauptallee. Die Sehenswürdigkeiten im Park Sanssouci sind zahlreich. Neben Schlossgebäuden, Pavillons, Tempeln und Skulpturen befindet sich auch der Botanische Garten auf dem Areal, sowie die Historische Mühle, um die sich eine Legende spannt.
Der Neue Garten entstand ab 1787. Er sollte dem Zeitgeist entsprechend ein gartenarchitektonisch modernes Bild wiedergeben und sich von den Formen des barocken Parks Sanssouci abheben. Der freien Natur nachgebildet, betonte man in der Gestaltung den landschaftlichen Charakter. Die Bäume und Pflanzen sollten ungeschnitten in freier Wuchsform natürlich erscheinen. Die bekanntesten Gebäude sind das Schloss Cecilienhof und das Marmorpalais, aber auch eine kleine Pyramide, eine Sphinx am Ägyptischen Portal der Orangerie und ein Obelisk sind zu entdecken.
Peter Joseph Lenné und Fürst Hermann von Pückler-Muskau gestalteten den Park Babelsberg. Das zur Havel abfallende, hügelige Gelände wurde ab 1833 in eine Parklandschaft umgewandelt. Neben den zwei Schlössern im Park bietet der 46 Meter hohe Flatowturm eine Aussicht über die Stadt. Den tiefsten Einschnitt erfuhr der Park durch den Bau der Berliner Mauer 1961. Das Grenzgebiet durfte nicht betreten werden und verwilderte, es ist wieder kultiviert und zugängig. In dem Park befindet sich ein Studentenwohnheim der Universität Potsdam.
Das Jagdschloss Stern wurde von 1730 bis 1732 unter dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. erbaut, der leidenschaftlicher Anhänger der Parforcejagd war. Zu diesem Zweck ließ dieser ein riesiges Jagdgebiet – die Parforceheide – vor den Toren Potsdams einhegen, das mit 16 Schneisen durchzogen wurde, die alle von einem Kreuzungspunkt ausgingen. An diesem Wegestern ließ er durch niederländische Baumeister ein kleines Jagdschloss im Stile holländischer unverputzter Ziegelsteinhäuser errichten. Dabei sammelte man nebenbei auch Erfahrungen für den späteren Bau des Holländischen Viertels auf dem sandigen Potsdamer Baugrund. Es blieb der einzige Schlossbau des Soldatenkönigs in Potsdam.
Die Freundschaftsinsel mit Freilichtbühne, Ausflugslokal, Ausstellungspavillon und einem Schau- und Sichtungsgarten für Stauden- und Rosenpflanzungen liegt im Zentrum der Stadt zwischen den beiden Havelarmen Alte und Neue Fahrt.
Der älteste Garten der Stadt Potsdam ist der Lustgarten, den der Große Kurfürst 1660 vor dem ehemaligen Stadtschloss anlegen ließ. Im Rahmen der Bundesgartenschau 2001 wurde er in moderner Form wieder hergerichtet.
Der Wildpark Potsdam gilt als „Lennés vergessener Garten“. Er wurde 1843 eingerichtet und ist über 875 Hektar groß. Erreichbar ist er über die Bahnstation Potsdam Park Sanssouci mit dem bekannten Kaiserbahnhof.
Der Volkspark Potsdam ist der neueste Park in der Stadt. Er wurde zur Bundesgartenschau 2001 auf einem ehemaligen militärisch genutzten Gelände in Potsdam-Bornstedt angelegt. Die dort errichtete Biosphäre ist eine Tropenhalle mit rund 20.000 Gewächsen.
Im Stadtteil Bornim befindet sich der öffentlich zugängliche Karl-Foerster-Garten des Staudenzüchters und Garten-Philosophen Karl Foerster.
Viertel und Plätze
Seit dem Ausbau als Residenzstadt ist Potsdam eine europäisch geprägte Stadt. Dies spiegelt sich auch in der Kultur und Architektur wider. Neben zahlreichen Baustilen aus unterschiedlichen Epochen finden sich auch Wohnhäuser nach dem Vorbild niederländischer und russischer Bauweise, die für ehemalige Siedler errichtet wurden. Dem Zeitgeist entsprachen exotische Gebäude wie das Chinesische Haus aus dem 18. Jahrhundert oder die Schweizerhäuser in Klein Glienicke aus dem 19. Jahrhundert. Im norwegischen Stil wurde die Matrosenstation Kongsnæs errichtet (1945 größtenteils zerstört) und im englischen Landhausstil das Schloss Cecilienhof im Neuen Garten. Obwohl die Stadt eine über eintausendjährige Geschichte hat, sind keine Bauten aus dem Mittelalter erhalten. Die jeweiligen Regenten zeigten mit ihren ambitionierten Bauvorhaben ihre Vorliebe für Kultur und technische Leistungsfähigkeit.
Um niederländische Handwerker nach Potsdam zu locken, ließ der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. zwischen 1733 und 1740 das Holländische Viertel errichten. Der zu den ersten Siedlern gehörende Baumeister Jan Bouman bekam die Leitung übertragen. Das zentral gelegene und in sich geschlossene Quartier besteht aus 134 Häusern aus rotem Ziegelstein, die durch zwei Straßen in vier Blöcke aufgeteilt werden. Das Viertel wird durch das Nauener Tor und die Peter-und-Paul-Kirche begrenzt.
Im Norden der Stadt entstand in den Jahren 1826/1827 die russische Kolonie Alexandrowka für die letzten zwölf russischen Sänger eines Chores. Peter Joseph Lenné gab der Anlage die Form eines Hippodroms mit eingelegtem Andreaskreuz. Durch die verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Häusern Hohenzollern und Romanow wurde die Kolonie als Denkmal der Erinnerung nach dem 1825 verstorbenen Zar Alexander I. benannt. Die Siedlung besteht aus insgesamt dreizehn Fachwerkhäusern. Die Außenwände der freistehenden ein- und zweigeschossigen Giebelhäuser sind mit halbrunden Baumstämmen verkleidet und erinnern an russische Blockhäuser. Die für die Kolonisten erbaute russisch-orthodoxe Alexander-Newski-Gedächtniskirche steht in der Nähe auf dem Kapellenberg. Direkt gegenüber, im Volkspark, befindet sich noch eins der letzten Lenindenkmäler in Deutschland.
Das Weberviertel Nowawes im heutigen Babelsberg mit der Friedrichskirche in seiner Mitte, ließ Friedrich der Große 1751 für böhmische Protestanten errichten. Friedrich II. gewährte den Glaubensflüchtlingen Steuer- und Religionsfreiheit. Die meist fünfachsigen Weberhäuser wurden von je zwei Familien bewohnt. Der König gab die Anweisung Nussbäume zu pflanzen, um das Holz für die Produktion von Gewehren zu nutzen. Ab 1780 pflanzte die Forstverwaltung Maulbeerbäume für die Seidenraupenzucht.
Der Alte Markt ist das historische Zentrum der Stadt. Hier wurden einst die Bauten des Stadtschlosses mit Marstall und Lustgarten, der Nikolaikirche, des Alten Rathauses und des Palasts Barberini errichtet. Während der DDR-Zeit entstanden hier zusätzlich ein markantes Hotelhochhaus. Das zerstörte Stadtschloss hinterließ in dieser Zeit eine große Stadtlücke, die aber durch dessen Wiederaufbau, durch den wiedererrichteten Palast Barberini und das neu erbaute Humboldt Quartier wieder geschlossen werden konnte. Auch eine neue Bittschriftenlinde steht wieder inmitten dieses Ensembles.
Der Neue Markt aus dem 17. und 18. Jahrhundert ist einer der besterhaltenen Barockplätze Europas. In seiner Mitte errichtete Jan Boumann die Ratswaage. Im Südwesten des Platzes steht der ehemalige Kutschstall, in dem sich das Haus der Brandenburg-Preußischen Geschichte befindet. Das Kabinetthaus am Neuen Markt 1 war ein Stadtpalais. In ihm wurden der spätere König Friedrich Wilhelm III. und Wilhelm von Humboldt geboren. Es befinden sich in den Gebäuden am Neuen Markt eine Reihe kultureller und wissenschaftlicher Einrichtungen. Der Neue Markt liegt versteckt hinter Häuserreihen.
Der Luisenplatz verbindet die Fußgängerzone der Brandenburger Straße mit der Allee zum Eingang des Parks Sanssouci am Grünen Gitter. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Luisenplatz durch Peter Joseph Lenné gärtnerisch gestaltet und mit einem Brunnenbecken mit Fontäne in der Mitte versehen. Die Gartenanlage wich in den 1930er Jahren einem Umbau zum Parkplatz und der damit verbundenen Pflasterung. Zwischen dem Luisenplatz und der Brandenburger Straße steht seit 1770 das kleine Brandenburger Tor, ein paar Meter östlich davon die Spieluhrenskulptur von Gottfried Höfer.
Stadttore
Als Garnisonstadt verfügte Potsdam über eine Stadtmauer, die aber nicht der Befestigung diente, sondern vor allem die Desertion der Soldaten und den Warenschmuggel verhindern sollte. Die Stadtmauer verband die Stadttore, von denen noch drei erhalten sind: das Brandenburger Tor, das Nauener Tor und das Jägertor. Die Grenze der sogenannten Accise- und Desertations-Communikation wurde erst im Jahr 1718 unter Friedrich Wilhelm I. erbaut. Es sind nur wenige Reste der Stadtmauern erhalten. Drei Stadttore sind nicht mehr erhalten. Das Teltower Tor stand an der südöstlichen Seite der Langen Brücke. Das ehemalige Berliner Tor wurde 1945 fast völlig zerstört, erhalten blieb nur eine Seitenwand. Vom Neustädter Tor ist nur noch ein einzelner Obelisk erhalten geblieben.
Das Brandenburger Tor, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Berliner Wahrzeichen, wurde 1770 errichtet. Nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges wurde das ursprüngliche Tor abgetragen und durch einen monumentalen Neubau als Zeichen des Sieges ersetzt. Als Vorbild diente auf Anweisung Friedrichs II. unter anderem der Konstantinsbogen in Rom. Das Tor hat zwei Baumeister und daher auch zwei Gesichter. Carl von Gontard entwarf die Stadtseite, sein Schüler Georg Christian Unger übernahm die Feldseite.
Das älteste erhalten gebliebene Tor ist das Jägertor. Es wurde 1733 errichtet und bildete einen der Ausgänge nach Norden. Seinen Namen erhielt es nach dem vor der Stadt liegenden kurfürstlichen Jägerhof. Architrav und Bekrönung bestehen aus Sandstein, während die rustizierten Pfeiler aus verputztem Ziegelmauerwerk errichtet wurden.
Das wesentlich größere Nauener Tor stammt aus dem Jahr 1755 und entstand auf direkte Anordnung Friedrichs II. Ob dieser damit eines der ersten Beispiele der von England ausgehenden Neogotik auf dem europäischen Kontinent schaffen, oder an „sein“ Schloss Rheinsberg erinnern wollte, ist unklar. Der Platz vor dem Nauener Tor ist mit vielen Cafés, Restaurants und Bars ein Treffpunkt der Potsdamer und deren Gäste. Direkt hindurch führt eine Straßenbahnlinie.
Kultur
Historie
Aus der Zeit der ersten Besiedelung bis zum Mittelalter sind nur wenige kulturelle Spuren erhalten geblieben. Bei Ausgrabungen am Alten Markt wurden die Reste einer slawischen Burg und weniger Häuser gefunden. Auch nach der deutschen Eroberung blieb Potsdam eine kleine Stadt mit lokalem Handwerk. Ein kultureller Aufschwung ging einher mit dem Aufbau als zweite Residenzstadt durch den Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm ab dem 17. Jahrhundert. Zu den ältesten erhaltenen Gebäuden zählt deshalb der Marstall des Stadtschlosses aus dem Jahr 1669.
Die Zuwanderung von gut ausgebildeten französischen Hugenotten förderte ab 1685 die kulturelle Entfaltung in Brandenburg und Preußen. In der Stadt Potsdam wurde ein französisches Viertel errichtet. Aus dieser Zeit erhalten blieb die Französische Kirche.
Potsdam entwickelte sich neben Berlin zu einem kulturellen Zentrum in Preußen. Friedrich der Große schätzte die Gedanken der Aufklärung und förderte die Wissenschaft und Kunst. So beendete er als erster in Europa die Zensur für nichtpolitische Teile der Zeitungen und stellte fest, dass „Gazetten wenn sie interreßant seyn sollten nicht geniret werden müsten“. Der bedeutende Philosoph der Aufklärung Voltaire wurde auf Wunsch des Königs 1750 an den Hof von Sanssouci eingeladen und blieb bis 1757.
Nach 1945 wurde Potsdam ein Zentrum der Kultur und Wissenschaft der DDR, deren sozialistische Staatsregierung allen Bürgern Zugang zum kulturellen und gesellschaftlichen Leben ermöglichen wollte. Laut Programm sollte die Gesellschaft nach dem Vorbild der UdSSR erzogen werden. In allen Bereichen der Gesellschaft sollte Ausbeutung und Profitstreben beendet werden. Historische Gebäude und Traditionen wurden vernachlässigt.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 entwickelte sich das kulturelle Leben in Potsdam nach anfänglichem Zögern dynamisch voran. Dabei wirkte die Nähe zur Kulturmetropole Berlin belebend. Das zunehmende Interesse an der Stadt führte zu zahlreichen Wiederaufbauinitiativen, die auch durch ein ausgeprägtes Mäzenatentum ihren Ausdruck fanden. So konnte sich die Kulturlandschaft stetig weiterentwickeln.
Film
Potsdam ist seit der Weimarer Zeit eines der bedeutendsten Filmzentren in Deutschland und in der Welt. Die UFA produzierte dort Werke der Filmgeschichte wie etwa Metropolis, Melodie des Herzens, Der blaue Engel oder Die Feuerzangenbowle. Die DEFA stellte später Filme wie Der Untertan, Spur der Steine oder Die Legende von Paul und Paula her.
Seit dem späten 20. Jahrhundert widmen sich die Filmstudios in Babelsberg und zahlreiche Filmproduktionsfirmen mit Sitz in Potsdam vor allem nationalen und internationalen Kino-, Serien- und Fernsehproduktionen wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten, Sonnenallee, Wege zum Glück, Dark oder Babylon Berlin.
Durch die hohe Anzahl der in Potsdam beheimateten Filmunternehmen hat sich der Standort zu einem Zentrum der Popkultur in Europa entwickelt.
Museen und Sammlungen
Die Potsdamer Museen decken eine breite Themenvielfalt ab. Die Stadt verfügt über eine Vielfalt an Bildender Kunst in Form von Gemälden und Skulpturen.
Die Hauptwerke sind in den Schlössern oder Museen zu besichtigen. Die Gemälde verteilen sich vor allem auf die Bildergalerie. Die Bildergalerie wurde auf Wunsch des Königs Friedrich II. in den Jahren 1755 bis 1764 erbaut. Sie befindet sich östlich des Schlosses Sanssouci und ist der älteste erhaltene freistehende fürstliche Museumsbau in Deutschland. Der Galeriesaal ist prachtvoll gestaltet mit reich vergoldeter Ornamentik an der leicht gewölbten Decke. Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf Gemälden des Barock, des Manierismus und der Renaissance. Berühmte italienische und flämische Maler wie Peter Paul Rubens, Anthonis van Dyck, Antoine Watteau und Caravaggio sind mit ihren Werken vertreten.
Neben den bestehenden Museumshäusern erweiterten in den letzten Jahren einige Neugründungen die Museumslandschaft. Dazu zählt das Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, das 2003 gegründet wurde. Das 1981 gegründete Filmmuseum Potsdam im Marstall am Alten Markt zeigt die Entwicklung der Filmgeschichte mit Betonung auf den Standort der Filmstudios in Babelsberg.
Weitere Museen umfassen die Gedenkstätte zum Attentat vom 20. Juli 1944 und die Gedenkstätte Lindenstraße 54/55 im ehemaligen Untersuchungsgefängnis der DDR-Staatssicherheit (MfS) mitten im Zentrum der Stadt. Auf dem Hof der weitgehend originalgetreu erhaltenen Untersuchungshaftanstalt des MfS ist seit einigen Jahren eine Plastik von Wieland Förster aufgestellt. Das Jan Bouman Haus präsentiert die Geschichte und Architektur des Holländischen Viertels. Am Park Sanssouci befindet sich das Mühlenmuseum in der Historischen Mühle, mit mühlenkundlicher Ausstellung und praktischer Darstellung des Mahlvorgangs. Die Gedenk- und Begegnungsstätte im ehemaligen KGB-Gefängnis Potsdam dokumentiert die Geschichte des KGB in der DDR.
Das 2017 im wiederaufgebauten Palast Barberini eröffnete Museum Barberini präsentiert ausgehend von der Kunstsammlung der Hasso-Plattner-Förderstiftung wechselnde Ausstellungen mit Leihgaben aus internationalen Museen und Privatsammlungen. Das ebenfalls von der Hasso-Plattner-Stiftung betriebene Kunsthaus Das Minsk präsentiert Kunst aus der DDR und Künstler der Gegenwart.
Das Potsdam Museum – Forum für Kunst und Geschichte am Alten Markt bietet eine Dauerausstellung zur Stadtgeschichte sowie Sonderausstellungen. Es befindet sich im Alten Rathaus, das durch ein modernes Gebäude mit dem Knobelsdorffhaus verbunden ist. Die Nowaweser Weberstube im Weberviertel zeigt die wechselhafte Geschichte der Weberkolonie Nowawes im heutigen Stadtteil Babelsberg.
Das Naturkundemuseum Potsdam hat mehr als 220.000 Objekte zur Tierwelt Brandenburgs zusammengetragen. Das Museum ist im ehemaligen Ständehaus der Zauche untergebracht. Es wurde 1770 nach Plänen von Georg Christian Unger erbaut und gehört zu einem Ensemble mit dem Großen Militärwaisenhaus in der Innenstadt.
Im Museum FLUXUS+ in der Schiffbauergasse, einem Museum für moderne Kunst, sind unter anderem Werke von Wolf Vostell, Emmett Williams, Christo, Niki de Saint Phalle zu sehen. Auf dem rbb-Gelände in Babelsberg befindet sich ein Standort des Deutschen Rundfunkarchivs (DRA).
Kai Desinger öffnete im April 2012 mit der Garage du Pont eine Mischung aus Restaurant und Automuseum. In den Räumen einer ehemaligen Tankstelle sind einige alte Autos ausgestellt, wobei der Schwerpunkt bei französischen Klassikern liegt. Ende 2019 wurde der Betrieb vorübergehend eingestellt. Im Juni 2020 wurde über die Wiedereröffnung berichtet.
Theater und Musik
Seit 2006 ist das Hans-Otto-Theater in der Schiffbauergasse mit seiner neuen Hauptspielstätte beheimatet. Das Ensemble spielt aber auch im historischen Rokokotheater im Neuen Palais, welches zu den schönsten erhaltenen Theaterräumen des 18. Jahrhunderts zählt. Es nimmt die beiden oberen Stockwerke des Südflügels ein.
Es gibt mehrere Orchester in Potsdam: die Kammerakademie Potsdam (bestehend aus dem Ensemble Oriol und dem Persius-Ensemble), das Collegium musicum Potsdam, das Neue Kammerorchester Potsdam (als ein Ensemble der Musik an der Erlöserkirche), das Junge Orchester Potsdam und das Jugendsinfonieorchester. Das Deutsche Filmorchester Babelsberg ist das einzige professionelle Orchester für Filmmusik in Deutschland. Der Nikolaisaal wurde als Konzert- und Veranstaltungshaus 2000 neu eröffnet; die Kammerakademie Potsdam ist das Hausorchester des Nikolaisaals.
Der SG Fanfarenzug Potsdam e. V. ist ein Fanfarenorchester aus Brandenburg, das auf dem Gebiet der reinen Naturfanfarenmusik aufgrund seiner zahlreichen Auszeichnungen international bekannt wurde. Der Fanfarenzug zieht regelmäßig musizierend durch Potsdam.
Bekannte Bands aus Potsdam sind u. a. Ruffians, Subway to Sally oder Krogmann. Musikalische Festivals und Partys, finden im Lindenpark und im Bahnhof Potsdam Pirschheide statt. Daneben haben sich diverse Clubs und Tanzbars etabliert.
Potsdamlied
Das Potsdamlied wurde im April 2004 beim Sender PotsdamTV und im RBB in der Sendung Sonntagsvergnügen mit Ekkehard Göpelt uraufgeführt. Gesungen hat es Holger Hillmann, die Melodie stammt von Christoph Wirsching, verfasst wurde es von Jens Erdmann. Lob und Anerkennung gab es von Bürgermeister Jann Jakobs und dem Ministerpräsidenten Matthias Platzeck. Auch der in Potsdam geborene Modedesigner Wolfgang Joop äußerte sich positiv über das Lied für seine Geburtsstadt.
Szene und Gastronomie
Seit den 1990er Jahren entwickelte sich das Gebiet um die Schiffbauergasse in der Berliner Vorstadt, auf dem John B. Humphreys im 19. Jahrhundert Raddampfer baute, zum populären Kulturzentrum in Potsdam. Vor Kultureinrichtungen wie die fabrik Potsdam, das T-Werk, der Kunstraum Potsdam, die Schinkelhalle und das Waschhaus liegt dort das Theaterschiff Potsdam, wo sich der Tiefe See wieder zur Havel verengt.
In der Innenstadt Potsdams befinden sich außerdem seit 2019 zwei Restaurants, die mit je einem Stern im Guide Michelin geführt werden.
Sport und Freizeit
Der Olympiastützpunkt Potsdam ist eine sportart- und länderübergreifende Beratungs- und Betreuungseinrichtung für den Spitzen- und Nachwuchsleistungssport in Verbindung mit der Sportschule „Friedrich Ludwig Jahn“. Die Schule trägt den offiziellen Titel Eliteschule des Sports, der ihr 2006 vom Deutschen Olympischen Sportbund verliehen wurde. Die Schule und der Olympiastützpunkt liegen am Ufer des Templiner Sees, neben der Potsdamer Ruder-Gesellschaft und dem Brandenburgischen Schwimmzentrum, das seit 2017 auch Bundesstützpunkt Schwimmen des Deutschen Olympischen Sportbunds ist.
2021 hatte sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin beworben. 2022 war die Stadt als Gastgeber für Special Olympics Australien ausgewählt worden. Damit wurde Potsdam Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns.
In Potsdam sind rund 130 Sportvereine mit insgesamt fast 20.000 Mitgliedern ansässig. Der SC Potsdam ist der mitgliederreichste Verein in der Stadt und im Land Brandenburg. Der 1. FFC Turbine Potsdam gehört zu den erfolgreichsten Vereinen im deutschen Damen-Bundesliga. Während seiner Erstligazeit wurde der Verein in den Jahren 2004 bis 2012 sechsmal Deutscher Meister und konnte dreimal den DFB-Pokal gewinnen. Im Jahr 2005 konnte der UEFA Women’s Cup gewonnen werden und 2010 wurde der 1. FFC Turbine erster Gewinner der neu eingeführten UEFA Women’s Champions League. Die Herren-Mannschaft des SV Babelsberg 03 beziehungsweise die BSG Motor Babelsberg spielte sowohl in der DDR-Liga und 2. Bundesliga, der jeweils zweithöchsten Spielklasse. Seit der Saison 2018/19 spielt der Verein in der Regionalliga.
Der Kanu-Club Potsdam zählt zu den erfolgreichsten Kanurennsportvereinen der Welt und hat bereits zahlreiche Olympiasieger und Weltmeister hervorgebracht. Im Volleyball spielt der SC Potsdam in der ersten Bundesliga der Frauen, der Handballverein 1. VfL Potsdam in der dritten Liga. Die Wasserballer des OSC Potsdam spielen in der Deutschen Wasserball-Liga, der 1. Bundesliga. Der USV Potsdam war mehrere Spielzeiten in der 1. Rugby-Bundesliga vertreten.
Die Potsdam Royals sind eine American-Football-Mannschaft, die seit 2018 in der höchsten deutschen Liga spielt. Im Judo kämpft der UJKC Potsdam bei den Herren in der 1. Bundesliga. Die Damen wurden 2005, 2007 und 2008 Deutsche Mannschaftsmeister.
Die Gewichtheber des AC Potsdam treten ab der Saison 2022/23 erneut in der 1. Bundesliga an. Im Triathlon ist Triathlon Potsdam sowohl bei den Herren als auch bei den Damen mit je einem Team in der 1. Bundesliga vertreten.
Jährlich im April wird in Potsdam auf einem Rundkurs mit Start und Ziel auf der Glienicker Brücke einer der wenigen Drittelmarathon-Läufe in Deutschland ausgetragen.
Die bedeutendsten Sportstätten in der Stadt sind das Karl-Liebknecht-Stadion mit einer Zuschauerkapazität von 10.787 Plätzen, Heimspielstätte des SV Babelsberg 03 und des 1. FFC Turbine Potsdam, das Stadion am Luftschiffhafen, die MBS Arena Potsdam und die Schwimmhalle im Blu-Bad.
Seit 2008 gibt es auf dem Telegrafenberg mit dem Abenteuerpark Potsdam den größten Kletterwald Brandenburgs. Auf sieben Parcours mit 115 Elementen, darunter einer 200 Meter langen Seilrutsche, können sich Kletterer bis zu zwölf Metern hoch hinaus wagen.
Veranstaltungen
Die alljährliche Potsdamer Schlössernacht findet in den verschiedenen Schlössern und Parks statt. Sie öffnet zur abendlichen Stunde ihre Tore und bietet Einblicke in die Räumlichkeiten. Hunderte Künstler treten zu der Veranstaltung in den Parkanlagen auf.
Außerdem werden jährlich das Internationale Filmfest Potsdam sowie die Sehsüchte, das größte internationale Studentenfilmfestival Europas, abgehalten. Im Holländischen Viertel finden jahreszeitlich der Weihnachtsmarkt Sinterklaas und das Tulpenfest nach niederländischem Brauch statt. Darüber hinaus haben sich zahlreiche weitere Veranstaltungen, wie die im Mai stattfindenden Potsdamer Tanztage, das Literaturfest LIT:potsdam oder das Theaterfestival UNIDRAM, etablieren können.
Das M100 Sanssouci Colloquium ist ein jährliches internationales Medientreffen in den Schlössern und Gärten der Stadt. Der Prix Europa ist eines der größten trimedialen Festivals in Europa und ein Wettbewerb für Fernseh-, Hörfunk- und Online-Produktionen. Seit 2018 findet die Preisverleihung in Potsdam statt.
Persönlichkeiten
Baumeister und Landschaftskünstler
Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff war als Baumeister beeinflusst durch den französischen Barock-Klassizismus. Mit seinen Bauten schuf er die Grundlage für das friderizianische Rokoko. Er gestaltete unter anderem das Schloss Sanssouci und das Stadtschloss. Karl Friedrich Schinkel zählt zu den herausragenden Architekten der klassizistischen Architektur des 19. Jahrhunderts. Sein erster realisierter Entwurf ist der Pomonatempel auf dem Pfingstberg. Seine bedeutendsten Werke in Potsdam sind das Schloss Charlottenhof und die Nikolaikirche. Mit dem Schloss Babelsberg entwarf er ein Gebäude im Stil der englischen Neogotik. Ludwig Persius war ein Schüler und enger Mitarbeiter Schinkels und Vertreter der Schinkelschule. Charakteristisch sind seine einfache Formensprache und Elemente der Neugotik. Zu seinen Bauwerken zählen die Heilandskirche am Port von Sacrow, die Friedenskirche und das Dampfmaschinenhaus im Park Babelsberg. Sein wohl außergewöhnlichstes Gebäude ist das Dampfmaschinenhaus im Stil einer maurischen Moschee. Jan Bouman war ein niederländischer Zuwanderer. Er leitete unter anderem den Bau des Holländischen Viertels, des Alten Rathauses, der Friedrichskirche in Babelsberg und zahlreicher Bürgerhäuser. Boumann war maßgeblich am Umbau des Potsdamer Stadtschlosses beteiligt.
Der Garten- und Landschaftskünstler Peter Joseph Lenné prägte fast ein halbes Jahrhundert die Gartenkunst in Preußen. Er gestaltete weiträumige Parkanlagen nach dem Vorbild englischer Landschaftsgärten mit vielfältigen Sichtachsen und wirkte in der Stadtplanung, indem er Grünanlagen für die Naherholung der Bevölkerung schuf. Lenné war seit 1863 Ehrenbürger der Stadt und starb 1866 in Potsdam. Fürst Hermann von Pückler-Muskau machte sich in Potsdam um die Vollendung des Parks Babelsberg verdient, dessen Gestaltung Peter Joseph Lenné begonnen hatte. Karl Foerster war ein deutscher Gärtner, Staudenzüchter und Garten-Schriftsteller. Sein Name ist verbunden mit dem Karl-Foerster-Garten in Potsdam-Bornim und dem auf seine Anregung hin nach Entwürfen seines Mitarbeiters Hermann Mattern angelegten Sicht- und Schaugarten auf der Freundschaftsinsel. Mit der Entstehung und Erhaltung der Potsdamer Gartenlandschaft beschäftigten sich zahlreiche Gartendirektoren und Hofgärtner, wie die Gartendirektoren Johann Gottlob Schulze und Ferdinand Jühlke und die Hofgärtnerfamilien Sello, Nietner und Fintelmann. Hans Kölle leitete von 1907 bis 1945 die öffentlichen Grünanlagen der Stadt, von denen er viele anlegte.
Mit Potsdam verbunden
Zu den bekannten Persönlichkeiten, die in Potsdam geboren sind, gehören u. a. Wilhelm von Humboldt, Hermann von Helmholtz, Ernst Haeckel und Peter Weiss. Der Modedesigner Wolfgang Joop, der frühere brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck, Entertainer Bürger Lars Dietrich, der mehrfache Bob-Olympiasieger Kevin Kuske und die Moderatorin Enie van de Meiklokjes zählen zu den bekannten lebenden Söhnen und Töchtern der Stadt.
Potsdam ist Wohn- und Arbeitsort weiterer Prominenter, von denen sich einige privat für die Stadt engagieren. Dazu zählen u. a. der Fernsehmoderator Günther Jauch, der Manager Mathias Döpfner, das Model Franziska Knuppe, die Eiskunstlauf-Olympiasiegerin Katarina Witt, Georg Friedrich Prinz von Preußen, die Schauspielerin Nadja Uhl und der Dirigent Christian Thielemann (Stand: 2019).
Zu den Ehrenbürgern der Stadt Potsdam gehören der Naturforscher Alexander von Humboldt (1849), der Landschaftsarchitekt Peter Joseph Lenné (1863), der Reichspräsident Paul von Hindenburg (1933), der Gärtner Karl Foerster (1959), der Dichter Hans Marchwitza (1960) und Hasso Plattner (2017).
Zitate
Weitere Zitate zu Potsdam
Literatur
Allgemeines
Im friderizianischen Potsdam, sechzehn Steinzeichnungen von Konrad Elert, mit einem Einführungstext von Otto Ernst Hesse, Furche-Verlag, Berlin 1920.
Gustaf von Dickhuth-Harrach: Potsdam. Mit 48 Federzeichnungen und einem farbigen Umschlagbild von Otto H. Engel sowie 12 Tafeln. Velhagen & Klasing, Bielefeld/Leipzig 1925.
Manfred Hamm, Hans-Joachim Giersberg: Potsdam. Die Stadt, die Schlösser und die Gärten. Berlin 1993, ISBN 3-87584-429-7.
Geschichte
Elke Fein et al.: Von Potsdam nach Workuta – Das NKGB/MGB/KGB-Gefängnis Potsdam-Neuer-Garten im Spiegel der Erinnerung deutscher und russischer Häftlinge. Potsdam 2002, ISBN 3-932502-19-1.
Peter-Michael Hahn: Geschichte Potsdams. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Beck Verlag, München 2003, ISBN 3-406-50351-9.
Erich Konter, Harald Bodenschatz: Potsdam: Von der Residenz zur Landeshauptstadt. Berlin 2011, ISBN 978-3-86922-116-8.
Bernhard R. Kroener (Hrsg.): Potsdam – Staat, Armee, Residenz in der preußisch-deutschen Militärgeschichte. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bernhard R. Kroener unter Mitarbeit von Heiger Ostertag. Propyläen, Frankfurt am Main / Berlin 1993, ISBN 3-549-05328-2.
Joachim Nölte: Potsdam. Wie es wurde, was es ist. Die Geschichte der Stadt in 10 Kapiteln. terra press Verlag, Berlin 2018, ISBN 978-3-942917-35-3.
Mehrere Autoren: Potsdamer Ge(h)schichte. 6 Bde. Edition Q, Be.Bra-Verlag, Berlin 2005–2007.
Stadtbilder
Im friderizianischen Potsdam. Sechzehn Steinzeichnungen von Konrad Elert, mit einem Einführungstext von Otto Ernst Hesse, Furche Verlag, Berlin 1920.
Ulrike Bröcker: Die Potsdamer Vorstädte 1861–1900. von der Turmvilla zum Mietwohnhaus (= Forschungen und Beiträge zur Denkmalpflege im Land Brandenburg. 6). Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 2004, ISBN 3-88462-208-0.
Horst Drescher, Renate Kroll: Potsdam – Ansichten aus drei Jahrhunderten. Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1981.
Mandy Kasek (Hrsg.): Luftbildatlas Potsdam. DOM publishers, Berlin 2011, ISBN 978-3-86922-140-3.
Otto Zieler: Potsdam – ein Stadtbild des 18. Jahrhunderts. Verlag Weise & Co., Berlin 1913.
Stadt- und Architekturführer
Ingrid Bartmann-Kompa, Aribert Kutschmar u. a.: Architekturführer DDR. Bezirk Potsdam. Berlin 1981.
Uta Keil: Architekturführer Potsdam. Berlin 2015, ISBN 978-3-86922-185-4.
Joachim Nölte: Potsdam. Der illustrierte Stadtführer. Edition Terra, 7. Aufl. Berlin 2019, ISBN 978-3-9810147-6-1.
Paul Sigel, Silke Dähmlow, Frank Seehausen, Lucas Elmenhorst: Architekturführer Potsdam. Architectural Guide to Potsdam. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-496-01325-7.
Heimatkunde
Einzelaspekte
Christine Anlauff: Die schönsten Sagen und Legenden aus Potsdam. be.bra verlag, Berlin 2014, ISBN 978-3-86124-684-8.
Weblinks
Offizielle Webpräsenz der Landeshauptstadt Potsdam
Potsdam-ABC, Portal für Potsdam
Einzelnachweise
Gemeinde in Brandenburg
Kreisfreie Stadt in Brandenburg
Deutsche Landeshauptstadt
Deutsche Universitätsstadt
Masterplan-Kommune
Ehemalige Kreisstadt in Brandenburg
Ort an der Havel
Deutscher Ortsname slawischer Herkunft
Ersterwähnung 993
Stadt als Namensgeber für einen Asteroiden
Weinort in Brandenburg |
2872669 | https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%B6mische%20Villa%20Haselburg | Römische Villa Haselburg | Die Römische Villa Haselburg war ein Gutshof (sogenannte Villa rustica) aus der Zeit der Besiedlung des Odenwalds durch die Römer. Die nach archäologischen Ausgrabungen in weiten Teilen sichtbare Anlage in der Nähe der Ortschaft Hummetroth bei Höchst im Odenwald in Hessen ist als Freilichtmuseum gestaltet und frei zugänglich.
Die Villa rustica „Haselburg“ gehört zu den mehreren hundert bekannten Gutshöfen aus der Römerzeit in Hessen. Sie ist die bislang größte bekannte und am weitesten durch Grabungen erforschte Anlage dieser Art.
Entstehung
Die heute Haselburg genannte Anlage entstand – verglichen mit anderen Villen des Dekumatlandes – erst verhältnismäßig spät in der Regierungszeit Kaiser Hadrians (117–138 n. Chr.). Der Umstand erklärt sich aus Umstrukturierungen im Gebiet des Odenwaldes, insbesondere der Vorverlegung des römischen Odenwaldlimes Wörth am Main – Bad Wimpfen zur neuen Limeslinie Miltenberg – Lorch um 159 n. Chr. Mit dem Übergang an die zivile Verwaltung setzte schnell eine zivile Besiedlung des möglicherweise zuvor militärisch genutzten Gebietes ein. Innerhalb der Civitas Auderiensium entstanden um 130 n. Chr. der Hauptort Dieburg und mit ihm in der Dieburger Senke und am nördlichen Rand des Odenwalds in Südhessen zahlreiche Villae Rusticae, so auch die Haselburg, was Fundstücke, vorwiegend Keramikfunde aller Art, belegen.
Anlage
Um die annähernd quadratische Hoffläche der Haselburg mit einer Kantenlänge von 183,5 mal 185,5 Metern befand sich eine Mauer von durchschnittlich 0,75 bis 1,00 Meter Stärke. Die Mauerecken sind annähernd auf die Himmelsrichtungen ausgerichtet. In der Mitte der Nordwestseite befand sich das Zugangstor mit einer Durchfahrtsbreite von 3,60 Metern. 1880 berichtete der Ausgräber Heinrich Gieß von „zwei mächtigen Sandsteinquadern mit eingelassenen Torpfannen“, die dort ausgebrochen wurden. Besonders im südöstlichen, talseitigen Abschnitt war die Mauer am Hang abgerutscht und bildete eine bis zu 3,80 Meter breite Versturzschicht.
Innerhalb der Umfriedung befanden sich ein ungewöhnlich großes Haupt- oder Herrenhaus, ein sich daran anschließender Wirtschaftstrakt, ein aufwändiges Badegebäude und ein etwas abseits des Wohnbereichs gelegenes Heiligtum des Jupiter. Letzteres lag fast zentral auf der Hoffläche, während der von der Größe her dominante Hauptwohnkomplex einen Bereich östlich davon einnahm.
Haupt- oder Herrenhaus
Das während seines Bestehens mehrfach umgebaute und erweiterte Hauptgebäude erreichte man durch einen repräsentativen Eingangsbereich in Form eines dreiseitigen Säulenvorbaus. Unmittelbar daran schlossen sich dem Wohnbereich zugehörige Bauten wie das Bad und der Wirtschaftstrakt an, die später angefügt wurden. So entstand am Ende der baulichen Entwicklung ein Innenhof, den man sich als dreiseitig mit Säulengang umgebenen Hof vorstellen muss, der den Weg zwischen den Gebäudeteilen vor Wind und Wetter schützte. Die kleineren Apsiden an den Seiten des sich unmittelbar an das Haupthaus anschließenden Säulengangs waren möglicherweise zur Aufstellung von Statuen vorgesehen. Die Fundamentstärke des eigentlichen Wohngebäudes belegt, dass es innerhalb des Baukomplexes dominierend gewesen war und eine wesentlich größere Raumhöhe besessen haben muss als die umliegenden Gebäude. Dass es mehrstöckig war, ist unbelegt.
Von den fünf ausgegrabenen Räumen war der mittlere ein Speise- und Empfangsraum (oecus), in dessen Apsis die typisch halbrunde Anordnung von Speisesofas stand (Triclinium). Im Bereich, der zum Eingang lag, öffnete sich der Raum zu einer Art Halle. Die Apsis und der sich westlich anschließende Raum waren beheizbar, wie die gefundenen und teilrekonstruierten Hypokausten einer Fußboden- und Wandheizung belegen. Der zu dieser Art der Heizung gehörende Feuerungsgang (praefurnium) befand sich außerhalb der Apsis in Form eines kleinen Raums. In diesem konnte ein Feuer in Gang gehalten werden, dessen heißer Rauch durch die Sogwirkung unter dem Fußboden der Räume hindurch und über Hohlziegel (tubuli) durch die Wände nach oben abgeleitet wurde. Auch der sich östlich an den Speisesaal anschließende Raum war teilweise hypokaustiert. Ein großes Tor mit erhaltener Schwelle öffnete den Empfangsraum zum Innenhof hin. Dort ist der originale Schwellenstein aus Sandstein mit Aussparungen für die Türpfosten zu sehen, der sich in Originallage (in situ) fand und in die Rekonstruktion einbezogen wurde.
Außen war das Gebäude weiß und der Sockel rot verputzt. Auch an den Innenwänden zeugen Reste von strukturierenden Wandbemalungen und Glasfenstern von einem gewissen Wohnkomfort. Zahlreiche gefundene Putzfragmente und Bruchstücke von römischem Ziegelestrich (opus signinum) zeigen dies ebenfalls. Es hatte mit durchschnittlich 22,08 mal 14,68 Metern einen sehr regelmäßigen Grundriss, die Außenkanten ein Verhältnis von 1:1,5. Das entspräche 50:75 Fuß des pes monetalis (0,2957 m) oder 44:66 Fuß des pes Drusianus (0,3327 m).
Wirtschaftstrakt
Die bauliche Anbindung des sich östlich an den Innenhof anschließenden Wirtschaftstrakts variierte in den verschiedenen Bauphasen stark. Fester Bestandteil des Bereichs war ein Keller- und Küchengebäude, das wohl vor allem wegen der Brandgefahr aus dem eigentlichen Wohnkomplex ausgelagert wurde. Im Keller des Gebäudes befand sich der zerborstene Ofen, der nach Aufgabe des Gebäudes wohl durch die Kellerdecke gebrochen war.
Für die Rekonstruktion des Areals, das vor allem wegen Küche und Keller als Wirtschaftstrakt angesprochen wird, gibt es zwei Deutungen: Weniger wahrscheinlich ist die Rekonstruktion mit einem großen Dach über dem gesamten Wirtschaftsbereich. Mehrere Sockelsteine in gleichmäßigem Abstand zur Mauer könnten auf einen Portikus ähnlich wie vor dem Hauptwohngebäude hindeuten, oder sie waren Teil einer Dachkonstruktion. Im ersten Falle dürfte der große, südöstlich davor gelegene Hofbereich als Kräutergarten für die Küche gedient haben. Im Freilichtmuseum ist nördlich des Wirtschaftstraktes eine Anpflanzung von Kräutern ausgestellt, die in Absprache mit der archäobotanischen Abteilung des Landesamtes für Denkmalpflege in Hessen nachgewiesene Küchenkräuter zeigt.
Badehaus
Das übliche, im Verhältnis zum Ausmaß der Gesamtanlage ungewöhnlich große Badegebäude (14,31 mal 11,29 Meter) schloss sich südwestlich an den Innenhof an. Vom Vorhof des Hauptgebäudes kommend, betrat man zunächst den Umkleideraum (apodyterium), an den sich die typischen drei Räume für verschieden temperierte Baderäume angliederten: Das Kaltbad (frigidarium) mit Kaltwasserwanne, das Laubad (tepidarium) und das Warmbad (caldarium) mit Warmwasserwanne. Bei einem weiteren beheizbaren Raum in Nachbarschaft zum caldarium bleibt unklar, ob es sich um ein Dampfschwitzbad (sudatorium) oder ein Winter-apodyterium handelte.
An das Warmbad war, wie am Hauptgebäude, ein Heizungsraum (praefurnium) im Westen angebaut, der Lau-, Warm- und Schwitzbad über ein Hypokaustum mit Wärme versorgte.
Die rekonstruierte Latrine erreichte man über einen vom Badebetrieb separierten Korridor neben dem Eingang zum Bad. Die Toilette wurde durch das ablaufende Wasser der Kaltbadewanne gespült.
Der gesamte Gebäudekomplex wurde über kleine Kanäle, die sehr zahlreich nördlich (Zulauf) und südlich (Abwasser) davon bei den Ausgrabungen gefunden wurden, mit fließendem Wasser versorgt. Hierzu wurde vermutlich eine Quelle nördlich der Anlage gefasst und über Holz- oder Tonrohre das Wasser zum Gebäude geleitet. In Gebäudenähe wurde es unterirdisch in kleinen gemauerten Kanälen mit leichtem Gefälle geführt, die sich sehr häufig bei römischen Badeanlagen nachweisen lassen. Brunnen konnten auf dem gesamten Gelände nicht nachgewiesen werden.
Jupiterheiligtum
Auf dem Areal der Haselburg, 30 Meter westlich des Hauptgebäudes, befinden sich die Fundamente eines kleinen Temenos (17 mal 10 Meter), den eine Zwischenmauer in einen Hauptraum und einen später hinzugefügten Vorhof teilt. Im Zentrum des Haupthofs stand eine Jupitergigantensäule, deren Bruchstücke im Umfeld des Bauwerks gefunden wurden. In einer nahe gelegenen Grube fand man die oberste, geschuppte Säulentrommel. Vier kleine Gruben an den Ecken des Säulenstandorts werden als Teile des Gerüsts (Eingrabung von Holzbalken) zur Aufrichtung der ehemals über zehn Meter hohen Säule in der Antike angesehen.
Die bauliche Abgrenzung der Säule zum übrigen Hofbereich in dieser Art ist selten, wenngleich Jupitergigantensäulen häufig in zivilem Kontext, also besonders in der Nähe von Villae rusticae, gefunden werden.
Nebengebäude
Außer dem Hauptgebäude-Komplex gab es noch verschiedene kleinere Nebengebäude, die als Wohnung für die Bediensteten, Ställe für die Tiere oder Lagerraum genutzt wurden. In der südwestlichen Hofecke wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts von H. Gieß ein weiteres Wohngebäude aufgedeckt. Der Befund wurde in den 1990er Jahren nochmals geophysikalisch untersucht, aber nicht in dem heutigen Freilichtmuseum rekonstruiert.
Südöstlich des Wirtschaftstraktes befindet sich ein weiteres Wohngebäude innen an die Hofmauer angelehnt. Es setzt sich nach Süden mit Sockelsteinen und Pfostenstandspuren entlang der Mauer fort. Anscheinend hatte man dort eine Art Schuppen an die Hofmauer angesetzt. Weitere Hinweise auf Nebengebäude sind vorhanden, es ergaben sich aber häufig aufgrund von Erosionserscheinungen an der Hanglage keine kompletten Grundrisse. Ein Gebäuderest südlich des Badegebäudes ist zu nennen, dessen talseitige Mauer bei der Freilegung allerdings nicht mehr angetroffen wurde. Ein weiteres Mauereck erschien in der geophysikalischen Messkarte südwestlich des Jupiterheiligtums in einer Bodensenke. Eine Sondage 2005 zeigte aber, dass das Areal durch mittelalterliche oder neuzeitliche Kalkmutungen zu stark gestört war, um einen Grundriss zu rekonstruieren.
Vorrömische Funde
Während der Grabungen wurden 1985 mehrere vorgeschichtliche Befunde freigelegt. Zum einen handelt es sich um ein sogenanntes Hockergrab aus dem Endneolithikum, das nahe der Westecke unter der Umfassungsmauer gefunden wurde. Das Grab lag geringfügig unterhalb des Mauerfundaments und wurde von den Römern nur um Zentimeter verfehlt. Es handelt sich um einen der frühesten Funde einer sesshaften Besiedlung des Odenwaldes. Durch Radiokohlenstoffdatierung ließ sich feststellen, dass der Tote mit einer Wahrscheinlichkeit von 68,2 % in der Zeit zwischen 2865 und 2605 v. Chr. gelebt hat.
Wenige Meter nordwestlich des Jupiterheiligtums wurde ein Kreisgraben als Teil eines Grabhügels entdeckt. Der Grabhügel enthielt zwei Bestattungen der frühkeltischen Zeit (4./3. Jahrhundert v. Chr.) mit Trachtbestandteilen aus Eisen und Bronze, darunter ein Scheibenhalsring mit Koralleneinlagen. Es gibt aber keine Hinweise darauf, ob der Hügel zur Römerzeit noch sichtbar war. Überlegungen zu einer Kontinuität wegen des benachbarten Heiligtums sind deshalb spekulativ.
Gesamtbestand und Bewertung
Der ausgeprägte Wohnkomfort und die teilweise sehr ausgefeilte Planung (Maße des Hauptwohngebäudes, Wasserkanal, dreiseitige Portikus), legen nahe, dass große Teile von einem Architekten entworfen wurden. Gegenüber dem ausgeprägt luxuriösen Wohnkomfort, der in der damaligen Zeit nur einer kleinen Oberschicht vorbehalten war, erscheinen Gebäude, die einer wirtschaftlichen Funktion zuzuordnen sind, unterrepräsentiert. Das spiegelt sich vor allem in der Dimension der Gebäude wider. Das Badegebäude übertrifft zahlreiche Kastellbäder, die für eine ganze Truppe errichtet waren. Die Funde weisen in die gleiche Richtung, etwa durch die häufige Anwesenheit von Importwaren im Fundmaterial oder die Größe der Jupitergigantensäule.
Auch unter den bisher bekannten Villengebäuden der Region nimmt die Haselburg eine Sonderstellung ein. Namentlich die bekannten römerzeitlichen Fundstellen des Odenwaldes und der näheren Umgebung weisen meist keine besondere bauliche Ausstattung auf und sind wesentlich kleiner. Badegebäude oder Hypokausten sind mit Ausnahme des Arnheiter Hofs sonst überhaupt nicht belegt. Besitzer einer luxuriösen Anlage wie der Haselburg konnten es sich vermutlich leisten, einen Großteil der Arbeit auf andere abhängige Höfe auszulagern.
Daran wird deutlich, dass die Haselburg nicht autark als Wirtschaftsbetrieb existiert hat. Der große Empfangsraum im Hauptgebäude, die repräsentative Gestaltung des Heiligtums und des Hauptwohnkomplexes sowie die Größe des Bades legen nahe, dass hier gewisse Verwaltungsfunktionen des ländlichen Raums ausgeübt wurden. Eine derartige Nutzung wird unterstützt durch den Bautyp des Hauptgebäudes, der auch Vorläufer in der militärischen Architektur besitzt. Wahrscheinlich wird hier das in den schriftlichen Quellen nur sporadisch zu fixierende Patronatssystem greifbar, das besonders in ländlichen Regionen des Reichs sehr ausgeprägt war und in der hohen Kaiserzeit wieder an Bedeutung gewann. Die Anlage übernahm damit eine Zentralfunktion innerhalb des ländlichen Verwaltungsbezirks (Pagus), der Besitzer war vermutlich magister, wenn er nicht sogar gleichzeitig eine höhere Funktion in der Civitas- oder Provinzverwaltung innehatte. Die tägliche Arbeit auf dem Gut wurde von sogenannten Kolonen geleistet, halbfreien Arbeitern, denen es in der Regel an eigenem Grundbesitz mangelte.
Verfall
Die Fundstücke auf dem Areal der Haselburg belegen, dass sie wahrscheinlich nicht mehr als 100 Jahre bestanden hat, was aber zur damaligen Zeit immerhin drei Generationen entspricht. Spätestens 260 n. Chr., als sich germanische Übergriffe auf das Grenzland häuften und das Limessystem die Sicherheit solcher Anlagen nicht mehr gewährleisten konnte (Limesfall), war sie bereits verlassen. Danach verfiel die Anlage. Teilweise wurde sie als Steinbruch benutzt, trotzdem ragten ihre Trümmer nach Berichten aus den Jahren 1880 bis 1886 noch über einen halben Meter hoch. Eine landwirtschaftliche Nutzung war oft nur eingeschränkt möglich und auf den Mauerresten wuchsen deshalb Haselsträucher, wovon die Anlage ihren heutigen Namen hat. Im 20. Jahrhundert scheinen auch diese Überreste vor allem durch maschinelles Pflügen verschwunden zu sein. Lediglich der Bereich des Haupt- und Badegebäudes war bis Ende der 1970er Jahre aufgrund des Gebäudeschutts nicht zu beackern.
Forschungsgeschichte
Frühe Forschungen
Nach der Aufgabe der Anlage durch die römischen Bewohner geriet sie in Vergessenheit. Ab einem nicht bestimmbaren Zeitpunkt tauchte der Name Haselburg oder auch Hasselburg in älteren Katasterplänen auf. Erst Franz I. zu Erbach-Erbach (1754–1823) beauftragte mit der Untersuchung der Haselburg seinen gräflichen Regierungsrat Johann Friedrich Knapp, der irrtümlich vermutete, ein römisches Kastell vor sich zu haben. Seine Beschreibungen vermittelten aber einen guten Zustandsbericht der Anlage zu Beginn des 19. Jahrhunderts, während seine archäologischen Befunde aufgrund der falschen Voraussetzungen zu vernachlässigen waren.
Knapp beschrieb nicht nur recht exakt die äußeren Maße der Anlage, sondern auch die Höhe der Wall- oder Umfassungsmauerreste mit jetzt noch drei bis vier Schuh hoch, das sind mindestens 75 Zentimeter (Schuh = Fuß), legt man das im Großherzogtum Hessen-Darmstadt damals übliche Maß für einen Fuß von 25 Zentimetern zugrunde. Weiter berichtete Knapp von Ruinen zweier römischer Bäder und noch zwei andere Erhöhungen der Erde, wobei sich später herausstellte, dass das zweite Bad das Herrenhaus war. Ferner bemerkte Knapp bereits, dass von vier Zimmern jedes einen Fuß tiefer lag, als das andere; vielleicht um das Wasser aus einer nahe dabei befindlichen Quelle desto leichter von einem Gemach in das andere leiten zu können. Dies konnte bei späteren Ausgrabungen belegt werden, als man einen Wasserkanal fand, der genau der von Knapp beschriebenen Anordnung der Räume folgte. Es wurden nicht nur Fundamente und Fundamentreste freigelegt, sondern auch zahlreiche Keramikfragmente gesichert. So fand man 1839 in der Hypokaustenanlage des Hauptgebäudes einen Deckziegel mit eingeritzten Schriftzeichen. Knapp veröffentlichte diesen Fund 1841. 1986 diente dieses Fundstück im Rahmen einer Forschungsarbeit an der TH Darmstadt dazu, erstmals die chemische Zusammensetzung römischer Ziegel zerstörungsfrei zu bestimmen.
Die Interpretation dieser forschungsgeschichtlich sehr frühen Ausgrabungen für die moderne Bodenforschung ist größtenteils schwierig, so behauptete Knapp, Mosaiken entdeckt zu haben. Im Fundmaterial der Grabungen von 1979 bis 1986 ist Derartiges leider nicht vorhanden.
Grabungen unter Heinrich Gieß und die Widerlegung der Kastelltheorie
Erst 1880, 1882, und 1886 führte Heinrich Gieß im Auftrag des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine wieder Grabungen im Haselburggelände und an den Umfassungsmauern durch. Er veröffentlichte die Ergebnisse seiner Untersuchungen regelmäßig in den Quartalsblättern des Historischen Vereins für das Großherzogtum Hessen. 1880 und 1882 bezeichnete er die Anlage noch als Castell, 1886 als «Kastell» und 1893 nach Ende seiner Grabungen schließlich als die grösste der bürgerlichen Niederlassungen, die man bis jetzt im Odenwalde kennt und fährt fort: Sie ist schon über ein halbes Jahrhundert beliebtes Objekt der Forscher und wurde bis zum Jahr 1886 für ein grosses Kastell angesehen. Die Kastelltheorie war mit diesen Grabungen also glaubhaft widerlegt.
Ausgrabungen 1979 bis zur Gegenwart
In der Folgezeit wurde die Haselburg zwar immer wieder von bekannten Archäologen wie Friedrich Kofler, Eduard Anthes, Fritz Behn und dem Heimatforscher Friedrich Mössinger erwähnt, in das Interesse der Öffentlichkeit geriet die Anlage aber erst wieder 1973, als die Planungen für eine Ferngasleitung, die das Gelände durchschneiden sollte, bekannt wurden. Hatten die Forschungen Gießens keine Erkenntnisse über die genaue Lage der schon aufgedeckt gewesenen und wieder zugeschütteten Räume erbracht, traten deren Grundmauern beim Ausheben des Schachtes für die Ferngasleitung MEGAL I 1979 zu Tage.
Durch die Außenstelle Darmstadt des Landesamtes für Denkmalpflege Hessen wurde erreicht, dass das Gasrohr ohne Graben mithilfe eines Schutzrohrs unter den Fundamenten des Herrenhauses hindurchgepresst wurde. So blieb die Substanz des Herrenhauses erhalten. Unter der Leitung von Reinhard Andrae wurden 1984 die Grundmauern des Wohngebäudes, des Bads, des Vorhofs, des angrenzenden Hofbereichs mit einem Keller und eines Stücks der Umfassungsmauer ausgegraben und aufgemauert.
Wenige Jahre später begannen im Rahmen der Verlegung von MEGAL II, einer zweiten Ferngasleitung durch das Gelände der Haselburg, weitere Sicherungsmaßnahmen durch das Landesamt für Denkmalpflege. In einer großen Flächengrabung legte man einen breiten Streifen um die bereits gefundenen Relikte frei und fand dabei erneut Teile der Umfassungsmauer, ihrer Westecke, eines Tores, eines Maueranbaus und des Heiligtums mit dem Fundament für die Jupitergigantensäule und Teile von ihr. 1993 deckten Grabungen des Landesamts die drei restlichen Ecken der Umfassungsmauer auf, die ebenfalls durch Aufmauerung sichtbar gemacht wurden. Die übrigen Teile sind durch eine Hecke angedeutet. Ebenfalls seit den 1990er Jahren wird das Gelände geophysikalisch untersucht.
Der heutige Zustand der Anlage geht im Wesentlichen auf die Grabungen und Rekonstruktionen dieser Jahre zurück.
Im Jahr 2005 fand eine Sondage des Landesamtes zusammen mit der Universität Frankfurt statt, die eine Geländestufe an der südwestlichen Umfassungsmauer untersuchte. Die geophysikalischen Messungen zeigten hier Mauerecken, die sich bislang nicht einem Gebäude zuordnen ließen. Eine davon konnte freigelegt werden, es zeigte sich aber, dass der gesamte Bereich durch eine große mittelalterliche oder neuzeitliche Kalkschürfung gestört war.
Bodenfunde
Bei allen Ausgrabungen wurden nicht nur Gebäudefundamente freigelegt, sondern auch zahlreiche Kleinfunde gesichert, die einerseits über die Ausstattung der Räume als solche und andererseits über den Zeitabschnitt ihrer Nutzung Aufschluss geben. Wie bei Siedlungsgrabungen üblich, besteht der größte Teil der Kleinfunde aus keramischen Erzeugnissen wie Ziegel oder Tongefäße. Die bedeutendsten Steinfunde bestehen aus Fragmenten der Jupitergigantensäule.
Jupitergigantensäule
Bei Grabungen westlich des Badegebäudes in einem Baukörper, der später als Jupiterheiligtum erkannt wurde, fanden sich 1986 in oberflächennahen, vom Pflug gestörten Schichten zahlreiche Bruchstücke der Jupitergigantensäule. Daneben liegen einige Gesimsfragmente sowie kleinere Teile des Viergöttersteins vor, alle aus Sandstein. Die oberste Trommel der für diese Steindenkmäler üblichen Schuppensäule fand sich nördlich des Heiligtums in einer Grube verlocht, wurde also vermutlich in späterer Zeit zum Zwecke der landwirtschaftlichen Nutzung beiseitegeschafft. Ihre Krümmung erlaubte es annähernd, die ehemalige Säulenhöhe mit über 10 Metern zu rekonstruieren. Sie führten zur Ansprache des Baukörpers als Jupiterheiligtum. Dokumentiert wurde bei der Grabung auch der Säulenstandort mittig im zweiten Hof. Trotz dieser anschaulichen Befunde liegen von der Substanz der Säule insgesamt höchstens 5 % im Fundmaterial vor. Die Kleinteiligkeit der Bruchstücke lässt vermuten, dass es sich nicht um eine rituelle Zerstörung, sondern um eine aus recht praktischen Gründen (Wiederverwertung der Steine als Baumaterial) handelt, denn vielfach finden sich überstehende Teile der Reliefs und Gesimsbruchstücke abgeschlagen.
Aus diesem Grund sind wohl auch besonders viele Bruchstücke der bekrönenden Reitergruppe erhalten: Mund- und Kinnpartie des Jupiter, mehrere Teile des Mantels, beide Hände, linker Oberarm, linkes Knie und beide Unterschenkel, rechter Fuß des Jupiter. Vom Pferd sind Teile des Körpers, der linke Hinterlauf und ein Teil des rechten Vorderlaufs erhalten, vom Giganten acht Bruchstücke, deren Zuordnung unsicher ist. Wir erkennen daraus, dass es sich um den reitenden Jupiter mit wehendem Mantel handelt. Der Gigant liegt unter dem Pferd, unsicher ist, ob auf dem Bauch oder Rücken. Der Durchmesser des Knies (8 cm) belegt, dass die Plastik nicht ganz Lebensgröße, aber doch eine wesentlich größere Ausführung als bei vergleichbaren Säulen erreichte, wie auch die Größe der Säule insgesamt dem Vorbild der Mainzer Jupitersäule nahekommt.
Neben vielen Bruchstücken von Architekturteilen der Säule ist ein Bruchstück des Reliefs vom Viergötterstein bemerkenswert, das wohl einen Löwenkopf darstellt. Es wird als Beleg für eine Herculesdarstellung gewertet. Von den anderen Reliefs der Säulenbasis ist nichts bekannt, ebenso wie von der Inschrift, die eine solche Säule in der Regel an der Vorderseite trug.
Keramik
Neben den sehr zahlreichen Ziegeln, die Auskunft über die bauliche Gestaltung des Gebäudes geben, besteht die Masse der Keramikscherben aus tongrundiger Gebrauchskeramik der römischen Kaiserzeit. Dazu zählen Töpfe, Teller, Krüge, Schüsseln und Reibschüsseln, seltener Sonderformen wie Räucherkelche oder sogenannte „Honigtöpfe“. Das feinere Tischgeschirr bestand aus sogenannter Terra Sigillata und umfasst vor allem Schüsseln, Teller, Näpfe und ein paar Reibschüsseln. Die gefundenen Terra Sigillata-Scherben entstammen in der Masse mittel- und ostgallischen Manufakturen, Ware aus Rheinzabern (Tabernae) ist hier stark vertreten. Getrunken wurde meist aus Bechern sogenannter Glanztonware, die einen braunen bis schwarzen Überzug besitzt und oft plastische Verzierungen aus Tonschlicker (sogenannte Barbotine) oder einen „Griesbewurf“ aus grobkörnigem Material aufweist, das ein Abrutschen aus der Hand verhindern sollte.
Eine Sondergruppe innerhalb der keramischen Fundstücke stellen die Amphoren dar. Sie lassen Rückschlüsse auf die Ernährungsgewohnheiten der Bewohner zu. Auffällig ist am Fundmaterial der Haselburg, dass hier stärker Importprodukte (z. B. südspanisches Olivenöl) konsumiert wurden als an anderen vergleichbaren römischen Fundplätzen.
Das Material weist insgesamt in das fortgeschrittene zweite und frühe dritte Jahrhundert n. Chr. Spätere Formen sind noch vertreten, allerdings nicht mehr so zahlreich. Die Anlage könnte demnach die Ereignisse in Germanien des Jahres 233 überstanden haben. Zum Ende des Limes um 259/260 n. Chr. scheint sie schon verlassen gewesen zu sein.
Ziegel
Unter den Ziegelfunden ist zunächst zu unterscheiden zwischen Dachziegeln (tegulae und imbrices), Ziegeln, die zur Hypokaustanlage gehören (Ziegelsäulen, Kapitell- und Deckziegel), sowie den hier gefundenen Verkleidungsziegeln im Innenbereich.
Viele Ziegel von der Haselburg weisen „Wischmarken“ auf – kleine Symbole, die Ziegelstreicher zur Abrechnung auf den Ziegeln hinterließen. Auf der Haselburg ist das häufig eine Schleife, manchmal ein omega-förmiger Bogen. Die ausführenden Handwerker waren anscheinend Analphabeten.
Verkleidungsziegel
Damit der Innenputz besser auf den Wandflächen haftete und wohl auch zur besseren Isolierung, bediente man sich 82,5 mal 57,5 Zentimeter großer, rechteckiger Verkleidungsziegel von etwa 3 Zentimetern Stärke. Die Ziegel, in die einseitig mithilfe eines Rollenstempels quadratische Muster erhaben eingelassen waren, wurden vor dem Verputzen mit T-förmigen Nägeln an der Wand befestigt. Diese aufwändige Bautechnik, die nur für kurze Zeit in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts in dem begrenzten Raum des heutigen Südhessen angewendet wurde, fand sich auch in den Räumen des Herrenhauses der Haselburg, in denen eine große Zahl von Verkleidungsziegeln entdeckt wurde.
1903 verlegte man noch in Unkenntnis ihrer tatsächlichen Bestimmung Nachahmungen dieser Verkleidungsziegel als Fußbodenbelag in der Saalburg und im Mainfränkischen Museum in Würzburg. Erst einige Jahre später belegten weitere Funde in situ oder mit anhaftenden Putzresten, dass es sich nicht um Fußbodenfliesen, sondern um Wandziegel handelte. 1988 erschien erstmals eine Typisierung der in Südhessen gefundenen Wandziegel nach Form und Ausbildung der aufgestempelten Muster. Nach den Fundorten benannt unterschied man fünf Typen: Stockstadt, Semd, Dieburg, Saalburg und Haselburg.
Deckziegel
Unter den zahlreichen erhaltenen Deckziegeln der Hypokaustenanlage des Hauptgebäudes fand man 1839 einen, der zusätzlich zum üblichen Zeichen des Ziegelstreichers (in der Haselburg eine Schleife) folgende, in die noch weiche Masse eingeritzte Inschrift in römischer Kursivschrift:
stratura tertia
laterc[u]li capit[u]lares
n(umerus) CCCLXXV
(Übersetzung: „Dritte Lage Kapitellziegel 375 Stück“).
Es handelt sich hierbei wahrscheinlich um den letzten Ziegel einer Charge, der als Abrechnung des Ziegelstreichers der Lieferung beigefügt wurde. Dass dieser mit der Inschrift nach unten in das Hypokaustum eingebaut worden war, zeigt die dunkle Rußfärbung um die Inschrift herum. Das Stück befindet sich aufgrund seiner Bedeutung (es handelt sich um einen der frühesten Belege für Schriftlichkeit aus der hessischen Geschichte) heute im Hessischen Landesmuseum Darmstadt.
Wandbemalungen
Die Innenwände und Decken aller Räume der Haselburg waren verputzt. Bei den Ausgrabungen fand man im Bodenbereich der Wände zahlreiche erhaltene Putzstücke, die in einigen Räumen einfache, mit rotbrauner Farbe aufgetragene Verzierungen in Form von geraden Linien verschiedener Stärke aufwiesen. In den Raumecken bildeten die aufeinandertreffenden Linien rechte Winkel, sodass Wände und Decken architektonisch stärker untergliedert und Flächen besonders betont wurden.
Glas
Wie die Funde zahlreicher Fensterglasfragmente belegen, dürften die meisten Fenster der Anlage verglast gewesen sein. Sie sind farblich meist grün- oder bräunlich sowie in der Regel auf der einen Seite rau, da man das Glas bei der Herstellung zum Erkalten in den Sand legte. Fragmente von Glasgefäßen liegen besonders aus dem Badegebäude vor, da man sie häufig als Salbgefäße verwendete.
Heutige Situation
Ende 1983 wurde der Verein zur Förderung des Freilichtmuseums „Römische Villa Haselburg“ e.V. gegründet, der sich seither für die Erforschung, Erhaltung und Erweiterung der Anlage einsetzt. Er macht die Villa der Öffentlichkeit zugänglich und veranstaltet Führungen, die es kostenlos nach Vereinbarung gibt und jährlich am Tag des offenen Denkmals (meist Anfang September). Einmal im Jahr findet auf dem Gelände ein „Römerfest“ statt, 2016 zum zwölften Mal.
Das Haselburggelände steht unter Denkmalschutz. Somit wurden unerwünschte Eingriffe in die Substanz des Bodendenkmals unmöglich gemacht. Das gesamte Areal der römischen Villa wurde von der Gemeinde Höchst im Odenwald gekauft. Die Ausgrabungen mit ihren rekonstruierten Grundmauern wurden mit Schautafeln und angemessener Begrünung versehen. Haselburgverein, Gemeinde sowie der Odenwaldkreis wenden zur Erhaltung der Anlage erhebliche Mittel auf.
Seit 2003 wird die Haselburg im Rahmen einer Doktorarbeit an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main mit dem Ziel bearbeitet, eine zitierfähige Monografie dieser bedeutenden Ausgrabungsstätte zu erstellen.
Im Verbund mit dem Verein Museumsstraße Odenwald-Bergstraße strebten die beteiligten Körperschaften durch die weitere Erforschung der Haselburg-Geschichte und den Ausbau der Anlage an, neben der Saalburg ein zweites Römermuseum in einer Ausgrabungsstätte in Hessen zu etablieren. 2011–2012 entstand ein neues Besucherzentrum, das die provisorische Holzhütte auf dem Gelände ersetzte. Darin können auch größere Gruppen wie Schulklassen empfangen, Fundstücke ausgestellt und die Veranstaltungen auf dem Gelände unabhängiger vom Wetter durchgeführt werden. Die Fertigstellung des neuen Museumsgebäudes erfolgte Anfang September 2012.
Einzelnachweise
Literatur
Dietwulf Baatz: Hummetroth. Röm. Gutshof Haselburg. In: Fritz-Rudolf Herrmann und Dietwulf Baatz (Hrsg.): Die Römer in Hessen. Lizenzausgabe der Auflage von 1982, Hamburg 1989, ISBN 3-933203-58-9, S. 360–362.
Helmut Castritius: Der Odenwald und die Römer. In: Der Odenwald, Zeitschrift des Breuberg-Bundes 47/3. Breuberg-Bund, Breuberg-Neustadt 2000, S. 87–94.
Heinrich Gieß: Schloss Breuberg im Odenwald und die germanischen und römischen Denkmäler in seiner Umgebung. Allendorf, Heppenheim 1893.
Fritz-Rudolf Herrmann: Die villa rustica „Haselburg“ bei Hummetroth. 2. erweiterte und ergänzte Auflage. Landesamt für Denkmalpflege Hessen, Wiesbaden 2001. (Archäologische Denkmäler in Hessen, 55), ISBN 3-89822-055-9.
Werner Jorns: Neue Bodenurkunden aus Starkenburg. Bärenreiter, Kassel 1953, S. 112–145.
Johann Friedrich Knapp: Römische Denkmale des Odenwaldes, insbesondere der Grafschaft Erbach und Herrschaft Breuberg (1813, 1814²,1854³).
Jörg Lindenthal: Kulturelle Entdeckungen. Archäologische Denkmäler in Hessen. Jenior, Kassel 2004, S. 107–109. ISBN 3-934377-73-4
Marion Mattern: Römische Steindenkmäler aus Hessen südlich des Mains sowie vom bayerischen Teil des Mainlimes. Corpus Signorum Imperii Romani. Deutschland Bd. 2,13, Mainz 2005, Verlag des Romisch-Germanischen Zentralmuseums; In Kommission bei Habelt, Bonn, ISBN 3-88467-091-3, S. 178–186.
Friedrich Mössinger: Die Römer im Odenwald. Südhessische Post, Heppenheim 1954. (Schriften für Heimatkunde und Heimatpflege im südhessischen Raum, 13/14).
Michael Müller: Die „Haselburg“ bei Höchst-Hummetroth. In: Vera Rupp, Heide Birley (Hrsg.): Landleben im römischen Deutschland. Theiss, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8062-2573-0, S. 154f.
Michael Müller: Denkmal: Villa rustica Haselburg. Römische Lebensart in zugiger Höhe. In: Archäologie in Deutschland. Heft 6, 2006, S. 71–72.
Michael Müller: Vorgeschichte und Römerzeit in Höchst und Umgebung. In: Beiträge zur Geschichte von Höchst im Odenwald. Höchst i. Odw. 2006, S. 9–20.
Vera Rupp: Die ländliche Besiedlung und Landwirtschaft in der Wetterau und im Odenwald während der Kaiserzeit (bis 3. Jahrhundert einschließlich). In: H. Bender, H. Wolff (Hrsg.): Ländliche Besiedlung und Landwirtschaft in den Rhein-Donau-Provinzen des römischen Reiches. Passau/Espelkamp 1991/1994, S. 237–253 (Passauer Universitätsschriften zur Archäologie 2).
Egon Schallmayer: Der Odenwaldlimes. Entlang der römischen Grenze zwischen Main und Neckar. Theiss, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-8062-2309-5, S. 53–56.
Bernd Steidl: Welterbe Limes – Roms Grenze am Main. Begleitband zur Ausstellung in der Archäologischen Staatssammlung München 2008. Logo, Obernburg 2008, ISBN 3-939462-06-3, S. 117f.
Weblinks
Darstellung des Vereins zur Förderung des Freilichtmuseums Römische Villa Haselburg e.V.
Freilichtmuseum in Hessen
Villa rustica in Germania superior
Bodendenkmal in Hessen
Römisches Bauwerk in Hessen
Romische Villa
Archäologischer Fundplatz im Odenwaldkreis
Archäologischer Fundplatz in Europa
Museum im Odenwaldkreis
Geographie (Höchst im Odenwald) |